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German Pages 936 [956] Year 2014
Enzyklopädie des Märchens Band 14
Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung Begründet von Kurt Ranke Mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich, Göttingen zusammen mit Heidrun Alzheimer, Bamberg Hermann Bausinger, Tübingen · Wolfgang Brückner, Würzburg Daniel Drascek, Regensburg · Helge Gerndt, München Ines Köhler-Zülch, Göttingen · Klaus Roth, München Hans-Jörg Uther, Göttingen Redaktion Doris Boden ⫺ Susanne Friede ⫺ Ulrich Marzolph Ulrike-Christine Sander ⫺ Christine Shojaei Kawan, Göttingen Band 14 Vergeltung · Zypern ¯ bı¯ · Zombie Nachträge: A
2014 De Gruyter
Lieferung 1 (2011) Vergeltung⫺Wanderer Lieferung 2 (2012) Wanderer⫺Wolf Lieferung 3 (2013) Wolf⫺Zwerg ¯ bı¯⫺Zombie Lieferung 4 (2014) Zwerghirsch⫺Zypern, Nachträge: A
ISBN 978-3-11-040244-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040828-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040843-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2011/2012/2013/2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Gefördert mit Mitteln der Bund-Länder-Finanzierung/Akademienprogramm
HINWEISE FÜR DEN BENUTZER Anordnung der Stichwörter Die Stichwörter sind in alphabetischer Reihenfolge geordnet. Die Umlaute ä, ö, ü, äu werden wie a, o, u, au behandelt, der Buchstabe ß gilt als ss. Bei manchen Stichwörtern folgen Singularund Pluralformen direkt aufeinander, woraus sich geringfügige Abweichungen von der alphabetischen Anordnung ergeben (Baum, Bäume, Baumann). Die Schreibung richtet sich grundsätzlich nach den Regeln der alten Duden-Rechtschreibung. Die Benutzer werden gebeten, die Möglichkeit einer Schreibvariante von sich aus in Betracht zu ziehen (c unter k, ae unter ä, f unter ph etc.). Dem Familiennamen vorangehende Zusätze werden in der landesüblichen Weise alphabetisiert (Friedrich von der Leyen unter: Leyen, Friedrich von der; Carl Wilhelm von Sydow unter: Sydow, Carl Wilhelm von; Aulnoy, Marie Catherine d’; dagegen: De Gubernatis, Angelo). Transkriptionen Namen, Werktitel und Begriffe aus Sprachen, die nicht das lateinische Alphabet benutzen, sind nach den heute wissenschaftlich gebräuchlichen Transkriptionssystemen umgeschrieben (siehe Schürfeld, C.: Kurzgefaßte Regeln für die alphabetische Katalogisierung an Institutsbibliotheken. Bonn 41970). Abkürzungen Das jeweilige Stichwort wird innerhalb des Artikels abgekürzt. Alle anderen Abkürzungen sind im Verzeichnis der Abkürzungen aufgelöst; Flexionsendungen können den abgekürzten Substantiven angefügt sein. Ethnische, geographische und Religionsgemeinschaften betreffende Adjektive werden um die Endungen gekürzt, soweit sie nicht eigens im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt sind. Für die biblischen Bücher und außerkanonischen Schriften ist das in Die Religion in Geschichte und Gegenwart (31957) t. 1, p. XVI sq. verwendete Abkürzungssystem maßgebend. Die für wichtige Sammlungen, Nachschlagewerke, Buchreihen und Zeitschriften gebrauchten Kurztitel können anhand des Verzeichnisses 2 aufgeschlüsselt werden. Literaturangaben und Anmerkungen Weiterführende Literatur ist am Ende jedes Artikels, bei längeren Artikeln auch unter einzelnen Abschnitten in einem chronologisch oder nach Ethnien geordneten Verzeichnis angegeben. Anmerkungen zu einzelnen Textstellen sind mit hochgestellter Zahl gekennzeichnet. Manche Autoren verwenden auch die Kurzzitierweise (Autor, Jahr, Seite), die anhand der Literaturangabe aufgeschlüsselt werden kann. Was Erzähltypen und -motive betrifft, so richtet sich die EM nach den Anordnungsprinzipien und dem Nummernsystem des international verwendeten Typenkatalogs Aarne-Thompson (AaTh) bzw. Aarne-Thompson-Uther (ATU), des Motiv-Index von Stith Thompson (Mot.) und der zahlreichen Regionalverzeichnisse. Die Angaben von Typen und Motivnummern im Text oder in den Anmerkungen sind als weiterführende Hinweise zu verstehen. Werktitel, Erzähltypen und -motive werden im Text kursiv wiedergegeben. Verweise auf andere Artikel sind durch Pfeile (Verweiszeichen: J) angezeigt.
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN* 1. Allgemeine Abkürzungen Abb. Abhdlg a. Chr. n. afrik. ags. ahd. Akad. allg. amerik. Anh. anthropol. app. aram. Art. Assoc. A. T. Aufl. Aug. Ausg. Ausw.
Abbildung Abhandlung ante Christum natum afrikanisch angelsächsisch althochdeutsch Akademie allgemein amerikanisch Anhang anthropologisch appendix aramäisch Artikel Association Altes Testament Auflage August Ausgabe Auswahl
ead., eaed. ed., edd.
Bearb., bearb. Beitr. Ber. bes. betr. Bibl. bibl. Bibliogr., bibliogr.
Bl., Bll. bret. bulg. byzant. bzw.
Bearbeitung, bearbeitet Beitrag Bericht besonders, besondere(r) betreffend Bibliothek biblisch Bibliographie, bibliographisch; bibliography, bibliographic etc. Biographie, biographisch; biography, biographic etc. Blatt, Blätter bretonisch bulgarisch byzantinisch beziehungsweise
ca cf. chin. col.
circa confer chinesisch columna
d. Ä. Dez. d. Gr. d. h. Dict. Diss. d. J. dt.
der Ältere Dezember der Große das heißt Dictionary, Dictionnaire Dissertation der Jüngere deutsch
Biogr., biogr.
erg. erw. etc. ethnol. ethnogr. etymol. europ.
eadem, eaedem edidit, ediert von, edited, editio, editor(s) etc. Einleitung Encyclop(a)edia, encyclope´die, Enzyklopädie etc. ergänzt erweitert et cetera ethnologisch ethnographisch etymologisch europäisch
Faks. Febr. Festschr. fol. Forts. frz.
Faksimile Februar Festschrift folio Fortsetzung französisch
geb. gedr. geogr. germ. Ges. gest. G. W.
geboren gedruckt geographisch germanisch Gesellschaft gestorben Gesammelte Werke
H. Hb., Hbb. hebr. hist. Hl. hl. Hs., Hss. hs. Hwb.
Heft Handbuch, Handbücher hebräisch historisch Heilige(r) heilig Handschrift, -en handschriftlich Handwörterbuch
ibid. id., iid. ide. idg. i.e. ill. indon. Inst. internat. isl. ital.
ibidem idem, iidem indoeuropäisch indogermanisch id est illustriert indonesisch Institut international isländisch italienisch
Einl. Enc., Enz.
* Hier nicht aufgelöste Abkürzungen siehe Verzeichnisse in den vorherigen Bänden.
VII
Verzeichnis der Abkürzungen J. Jahrber. Jan. jap. Jb., Jbb. Jg Jh.
Journal Jahresbericht Januar japanisch Jahrbuch, Jahrbücher Jahrgang Jahrhundert
Kap. kgl. Kl. Kl.(re) Schr.
Kapitel königlich Klasse Kleine(re) Schriften
lat. Lex. Lfg Lit. literar.
lateinisch Lexikon Lieferung Literatur literarisch
MA., ma. masch. mhd. Mittlg Monogr., monogr. Ms., Mss. mündl. mythol.
Mittelalter, mittelalterlich maschinenschriftlich mittelhochdeutsch Mitteilung Monographie, monographisch Manuskript, -e; manuscript, -s etc. mündlich mythologisch
Nachdr. ndd. ndl. N. F. nördl. norw. not. Nov. N. R. N. S. N. T. num. n. u. Z.
Nachdruck niederdeutsch niederländisch Neue Folge nördlich norwegisch nota November Neue Reihe Neue Serie, New Series etc. Neues Testament numerus nach unserer Zeitrechnung
Okt. Orig. österr. östl.
Oktober Original österreichisch östlich
p. pass. p. Chr. n. phil. philol. port. Proc. Progr. prov. Pseud. psychol. Publ.
pagina passim post Christum natum philosophisch philologisch portugiesisch Proceedings Programm provenzalisch Pseudonym psychologisch Publikation, publication etc.
Qu. Quart.
Quelle Quarterly
rätorom. Reg. rev. Rez. rom.
rätoromanisch Register revidiert, revised Rezension romanisch
s. a. Sb. Schr. schriftl. schweiz. Sept. skand. s. l. Slg slov. Soc. sog. soziol. sq., sqq. St. südl. Suppl. s. v.
sine anno Sitzungsbericht Schriften schriftlich schweizerisch September skandinavisch sine loco Sammlung slovenisch Socie´te´, society etc. sogenannt soziologisch sequens, sequentes Sankt, Saint etc. südlich Supplement sub verbo (voce)
t. Tab. theol. typol.
tomus Tabelle theologisch typologisch
u. a. Übers. übers. u. d. T. ukr. ung. Univ. Unters. u. ö.
und andere, unter anderem Übersetzer, Übersetzung übersetzt unter dem Titel ukrainisch ungarisch Universität, university etc. Untersuchung und öfter
V. v. Var. verb. Verf. Veröff., veröff. Verz. vietnam. Vk. Vorw. v. u. Z.
Vers vide Variante verbessert Verfasser Veröffentlichung, veröffentlicht Verzeichnis vietnamesisch Volkskunde Vorwort vor unserer Zeitrechung
Wb., Wbb. westl. Wiss., wiss.
Wörterbuch, Wörterbücher westlich Wissenschaft, wissenschaftlich
Z. ZA. z. B. Zs., Zss. z. T. Ztg
Zeile Zeitalter zum Beispiel Zeitschrift, -en zum Teil Zeitung
VIII
Verzeichnis der Abkürzungen
2. Lexika, Motiv- und Typenkataloge, Textausgaben, Fachliteratur, Reihentitel und Zeitschriften AaTh Acta Ethnographica ADB Afanas’ev Amades Andreev Angelopoulou/Brouskou
Angelopoulou/Kaplanoglou/ Katrinaki
Aprile Ara¯js/Medne ArchfNSprLit. Arewa ARw. AS Äsop/Holbek ATU Babrius and Phaedrus/Perry Balys Barag Basset Baughman Bausinger Bebel/Wesselski Benfey Berze Nagy BFP
Birkhan
Aarne, A./Thompson, S.: The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography. Second Revision (FFC 184). Helsinki 1961 (41987). Acta Ethnographica Academiae Scientiarum Hungaricae. Allgemeine Deutsche Biographie 1⫺56. Leipzig 1875⫺1912. Afanas’ev, A. N.: Narodnye russkie skazki 1⫺3. ed. V. Ja. Propp. Moskva 1957. Amades, J.: Folklore de Catalunya. Rondallı´stica. Barcelona 1950. Andreev, N. P.: Ukazatel’ skazocˇnych sjuzˇetov po sisteme Aarne. Leningrad 1929. Angelopoulou, A./Brouskou, A.: Epexergasia paramythiako¯n typo¯n kai parallago¯n AT 700⫺749 (Überarbeitung von Märchentypen und Varianten zu AaTh 700⫺749). Athen 1994; eaed.: Epexergasia paramythiako¯n typo¯n kai parallago¯n AT 300⫺499 (Überarbeitung von Märchentypen und Varianten zu AaTh 300⫺499) 1⫺2. Athen 1999. Angelopoulou, Anna/Kaplanoglou, Marianthi/Katrinaki, Emmanouela: Epexergasia paramythiako¯n typo¯n kai parallago¯n AT 500⫺559 (Überarbeitung von Märchentypen und Varianten zu AaTh 500⫺559) Athen 2004; eaed.: Epexergasia paramythiako¯n typo¯n kai parallago¯n AT 560⫺ 699 (Überarbeitung von Märchentypen und Varianten zu AaTh 560⫺ 699) Athen 2007. Aprile, R.: Indice delle fiabe italiani popolari di magia. 1: AT 300⫺451. (Berlin 1995) Firenze 2000. Ara¯js, K./Medne, A.: Latviesˇu pasaku tipu ra¯dı¯ta¯js (The Types of the Latvian Folktales). Rı¯ga 1977. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Arewa, E. O.: A Classification of the Folktales of the Northern East African Cattle Area by Types. Diss. Berkeley 1966. Archiv für Religionswissenschaft. Acta Sanctorum. N. F. Paris 1864 sqq. Holbek, B.: Æsops levned og fabler 1⫺2. Christiern Pedersens oversættelse af Stainhöwels Æsop. København 1961/62. Uther, H.-J.: The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography, Based on the System of Antti Aarne and Stith Thompson 1⫺3 (FFC 284/285/286). Helsinki 2004 (22011). Babrius and Phaedrus. ed. B. E. Perry. London/Cambridge, Mass. 1965. Balys, J.: Lietuviu˛ pasakojamosios tautosakos motyvu˛ katalogas. Motif-Index of Lithuanian Narrative Folk-Lore. Kaunas 1936. Barah, L. R. [Barag, L. G.]: Sjuzˇe˙ty i matyvy belaruskich narodnych kazak. Minsk 1978. Basset, R.: Mille et un Contes, re´cits et le´gendes arabes 1⫺3. Paris 1924⫺26. Baughman, E. W.: Type and Motif-Index of the Folktales of England and North America. The Hague 1966. Bausinger, H.: Formen der Volkspoesie. Berlin (1968) 21980. Wesselski, A. (ed.): Heinrich Bebels Schwänke 1⫺2. München/Leipzig 1907. Benfey, T.: Pantschatantra 1⫺2. Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen. Leipzig 1859 (Nachdruck Hildesheim 1966). Berze Nagy, J.: Magyar ne´pmesetı´pusok 1⫺2. Pe´cs 1957. Daskalova-Perkowska, L./Dobreva, D./Koceva, J./Miceva, E.: Katalog na bu˘lgarskite folklorni prikazki. Sofia 1994 (dt. Fassung: DaskalovaPerkowski, L./Dobreva, D./Koceva, J./Miceva, E.: Typenverzeichnis der bulgarischen Volksmärchen. ed. K. Roth [FFC 257]. Helsinki 1995). Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400. t. 1⫺6. ed. H. Birkhan/K. Lichtblau/C. Tuczay. Berlin/New York 2005⫺ 2006.
Verzeichnis der Abkürzungen Bjazyrov
Boberg Bødker, Indian Animal Tales Boggs BP
Brückner
Camarena/Chevalier Chauvin Chavannes
Child Childers Childers, Tales Choi Christiansen, Migratory Legends
Cifarelli Cirese/Serafini ˇL C Clarke Coetzee
Cosquin Cross D’Aronco, Italia D’Aronco, Toscana Dadunashvili DBF
Dekker/van der Kooi/Meder
Del Monte Ta`mmaro Delarue Delarue/Tene`ze Dh. Dicke/Grubmüller
IX
Bjazyrov, A. C.: Opyt klassifikacii osetinskich narodnych skazok po sisteme Aarne-Andreeva. In: Izvestija jugo-osetinskogo naucˇno-issledovatel’skogo instituta Akademii nauk Gruzinskoj SSR 9 (1958) 310⫺346. Boberg, I. M.: Motif-Index of Early Icelandic Literature. København 1966. Bødker, L.: Indian Animal Tales. A Preliminary Survey (FFC 170). Helsinki 1957. Boggs, R. S.: Index of Spanish Folktales (FFC 90). Helsinki 1930. Bolte, J./Polı´vka, G.: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 1⫺5. Leipzig 1913⫺32 (Nachdruck Hildesheim 1963 u. ö.). Brückner, W. (ed.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Berlin 1974. Camarena, J./Chevalier, M.: Cata´logo tipolo´gico del cuento folklo´rico espan˜ol 1 sqq. Madrid 1995 sqq. Chauvin, V.: Bibliographie des ouvrages arabes 1⫺12. Lie`ge 1892⫺1922. Chavannes, E.: Cinq cents Contes et apologues extraits du Tripitaka chinois et traduits en franc¸ais 1⫺4. Paris 1910⫺35 (Neudruck Paris 1962). Child, F. J.: The English and Scottish Popular Ballads 1⫺5. (Boston/ New York 1882⫺98) New York 31965. Childers, J. W.: Motif-Index of the Cuentos of Juan Timoneda. Bloomington 1948. Childers, J. W.: Tales from the Spanish Picaresque Novels. A MotifIndex. Albany 1977. Choi, I.-H.: A Type Index of Korean Folktales. Seoul 1979. Christiansen, R. T.: The Migratory Legends. A Proposed List of Types with a Systematic Catalogue of the Norwegian Variants (FFC 175). Helsinki 1958. Cifarelli, P.: Catalogue the´matique des fables e´sopiques franc¸ais du XVIe sie`cle. Paris 1993. Cirese, A. M./Serafini, L.: Tradizioni orali non cantate. Roma 1975. ˇ esky´ lid. C Clarke, K. W.: A Motif-Index of the Folktales of Culture Area 5, West Africa. Diss. Bloomington 1958. Coetzee, A./Hattingh, S. C./Loots, W. J. G./Swart, P. D.: Tiperegister van die Afrikaanse Volksverhaal. In: Tydskrif vir Volkskunde en Volkstaal 23 (1967) 1⫺90. Cosquin, E.: Contes populaires de Lorraine 1⫺2. Paris 1886. Cross, T. P.: Motif-Index of Early Irish Literature. Bloomington 1952. D’Aronco, G.: Le fiabe di magia in Italia. Udine 1957. D’Aronco, G.: Indice delle fiabe toscane. Firenze 1953. Dadunashvili, E.: Typologie des georgischen Zaubermärchens. Baltmannsweiler 2007. Briggs, K. M.: A Dictionary of British Folk-Tales in the English Language. Part A: Folk Narratives 1⫺2. London 1970; Part B: Folk Legends 1⫺2. London 1971. Dekker, T./Kooi, J. van der/Meder, T.: Van Aladdin tot Zwaan kleef an. Lexicon van sprookjes: ontstaan, ontwikkeling, variaties. Nijmegen 1997. Del Monte Ta`mmaro, C.: Indice delle fiabe abruzzesi. Firenze 1971. Delarue, P.: Le Conte populaire franc¸ais 1. Paris 1957. Delarue, P./Tene`ze, M.-L.: Le Conte populaire franc¸ais 2 sqq. Paris 1964 sqq. Dähnhardt, O. (ed.): Natursagen 1⫺4. Leipzig/Berlin 1907⫺12 (Nachdruck Hildesheim 1983). Dicke, G./Grubmüller, K.: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987.
X DJbfVk. DNP Dömötör DSt. DVldr DVLG Dvorˇa´k DWb. Eberhard/Boratav Eberhard, Typen EI1 EI2 El-Shamy, Folk Traditions El-Shamy, Types EM ERE E˙rgis Erk/Böhme Espinosa FFC FL Flowers Frenzel, Motive Frenzel, Stoffe Frey/Bolte Gasˇparı´kova´ Gesta Romanorum Ginzberg Goldberg Gonza´lez Sanz Gonzenbach Granger Grimm DS Grimm, Mythologie Grimm, Rechtsalterthümer GRM Guerreau-Jalabert Gullakjan
Verzeichnis der Abkürzungen Deutsches Jahrbuch für Volkskunde. (Fortgesetzt unter dem Titel:) Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte. Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike 1⫺16. Stuttgart u. a. 1996⫺ 2003. ´ .: A magyar protesta´ns exemplumok katalo´gusa. Budapest Dömötör, A 1992. Danske Studier. Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien 1⫺4. Berlin 1935⫺59; t. 5 sqq. Freiburg 1965 sqq. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Dvorˇa´k, K.: Soupis starocˇesky´ch exempel. Praha 1978. Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm u. a. Leipzig 1854 sqq. Eberhard, W./Boratav, P. N.: Typen türkischer Volksmärchen. Wiesbaden 1953. Eberhard, W.: Typen chinesischer Volksmärchen (FFC 120). Helsinki 1937. Enzyclopaedie des Islam 1⫺5. Leiden/Leipzig 1913⫺38. The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Leiden/London 1960 sqq. El-Shamy, H. M.: Folk Traditions of the Arab World. A Guide to Motif Classification 1⫺2. Bloomington/Indianapolis 1995. El-Shamy, Hasan: Types of the Folktale in the Arab World. A Demographically Oriented Tale-Type Index of the Arabian World. Bloomington/Indianapolis 2004. Enzyklopädie des Märchens. Hastings, J. (ed.): Encyclopaedia of Religion and Ethics 1⫺13. Edinburgh 1908⫺26. E˙rgis, G. U. (ed.): Jakutskie skazki 2. Jakutsk 1967. Erk, L./Böhme, F. W.: Deutscher Liederhort 1⫺3. Leipzig 1893/94. Espinosa, A. M.: Cuentos populares espan˜oles 1⫺3. Madrid 21946⫺47. Folklore Fellows Communications. Helsinki u. a. 1907 sqq. Folklore. Flowers, H. L.: A Classification of the Folktales of the West Indies by Types and Motifs. (Diss. Bloom. 1952). New York 1980. Frenzel, E.: Motive der Weltliteratur. Stuttgart 1976. Frenzel, E.: Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart (1963) 71988. Jacob Freys Gartengesellschaft (1556). ed. J. Bolte. Tübingen 1896. Gasˇparı´kova´, V.: Katalo´g slovenskej l’udovej pro´zy/Catalogue of Slovak Folk Prose 1⫺2. Bratislava 1991/92. Oesterley, H.: Gesta Romanorum. Berlin 1872 (Nachdruck Hildesheim 1963). Ginzberg, L.: The Legends of the Jews 1⫺7. Philadelphia 1909⫺38 (21946⫺59). Goldberg, H.: Motif-Index of Medieval Spanish Folk Narratives. Tempe 1998. Gonza´lez Sanz, C.: Cata´logo tipolo´gico de cuentos folklo´ricos aragoneses. Zaragoza [ca 1996]. Gonzenbach, L.: Sicilianische Märchen 1⫺2. Leipzig 1870. Granger, B. H.: A Motif Index for Lost Mines and Treasures Applied to Redaction of Arizona Legends, and to Lost Mine and Treasure Legends Exterior to Arizona (FFC 218). Helsinki/Tucson 1977. Deutsche Sagen. t. 1⫺2 ed. H.-J. Uther; t. 3 ed. B. Kindermann-Bieri. München 1993. Grimm, J.: Deutsche Mythologie 1⫺3. ed. E. H. Meyer. Gütersloh/ Berlin 1876/78. Grimm, J.: Deutsche Rechtsalterthümer 1⫺2. ed. A. Heusler/R. Hübner. Leipzig 1899. Germanisch-Romanische Monatsschrift. Guerreau-Jalabert, A.: Index des motifs narratifs dans les romans arthuriens franc¸ais en vers (XIIe⫺XIIIe sie`cles). Genf 1992. Gullakjan, S. A.: Ukazatel’ sjuzˇetov armjanskich volsˇebnych i novellisticˇeskich skazok. Erevan 1990.
Verzeichnis der Abkürzungen Günter 1949 György Haboucha Hahn Hansen Haring HDA HDM HDS Herbert Hervieux HessBllfVk. Hodne Hodscha Nasreddin Hoffmann Honti Höttges Hubrich-Messow
IFA Ikeda Jacques de Vitry/Crane JAFL Jason Jason, Indic Oral Tales Jason, Iraq Jason, Types Jauhiainen
XI
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XII
JFI Jolles JSFO Kecskeme´ti/Paunonen Keller Keller/Johnson Kerbelyte˙ Kerbelyte˙, LPTK KHM/Rölleke KHM/Uther Kippar Kirchhof, Wendunmuth Kirtley Klapper, MA. Klintberg Klipple Kl. Pauly KNLL Köhler/Bolte Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959 van der Kooi Krzyz˙anowski Kurdovanidze Lambrecht Laport LCI Legenda aurea/Benz Legenda aurea/Graesse Legros Liungman Liungman, Volksmärchen LKJ
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Verzeichnis der Abkürzungen Lo Nigro Loorits Lo˝rincz LThK Lüthi, Märchen MacDonald Martinez Marzolph Marzolph, Arabia ridens Marzolph/van Leeuwen MdW Megas Megas u. a., Magic Folktales Megas/Puchner
de Meyer, Conte de Meyer/Sinninghe MGH Mifsud-Chircop MNK Montanus/Bolte Moser-Rath, Predigtmärlein Moser-Rath, Schwank Mot. MPG MPL MSFO Müller/Röhrich Nascimento NDB Neugaard Neuland Neuman
XIII
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XIV
Verzeichnis der Abkürzungen
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XV
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XVI Toldo 1901⫺1909
Tomkowiak TRE Tubach Verflex. Virsaladze de Vries Wander Ward Waterman Wesselski, Arlotto Wesselski, MMA Wesselski, Theorie WF Wickram/Bolte ZDMG ZfdA ZfVk.
Verzeichnis der Abkürzungen Toldo, P.: Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 1 (1901) 320⫺353; 2 (1902) 87⫺ 103, 304⫺353; 4 (1904) 49⫺85; 5 (1905) 337⫺353; 6 (1906) 289⫺333; 8 (1908) 18⫺74; 9 (1909) 451⫺460. Tomkowiak, I.: Lesebuchgeschichten. Erzählstoffe in Schullesebüchern 1770⫺1920. Berlin/New York 1993. Theologische Realenzyklopädie. ed. G. Krause/G. Müller. Berlin/New York 1977 sqq. Tubach, F. C.: Index Exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales (FFC 204). Helsinki 1969. Stammler, W./Langosch, K. (edd.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1⫺5. Berlin 1933⫺55; zweite, völlig neu bearbeitete Auflage ed. K. Ruh u. a. Berlin/New York 1978 sqq. Virsaladze, E.: Zgaarta sinzˇetebis sadziebeli (Aarne Andreevis mixesvit) (Typenverzeichnis georgischer Tiermärchen [Nach dem System AarneAndreev]). In: Literaturuli dziebani 13 (1961) 333⫺363. Vries, J. de: Volksverhalen uit Oost-Indie¨ 1⫺2. Zutphen 1925/28. Wander, K. F. W.: Deutsches Sprichwörter-Lexicon 1⫺5. Leipzig 1867⫺80 (CD-ROM Berlin 2001). Ward, H. L. D.: Catalogue of Romances in the Department of Manuscripts in the British Museum 1⫺2. London 1883⫺93 (Nachdruck 1961⫺62). (Band 3 J Herbert). Waterman, P. P.: A Tale-Type Index of Australian Aboriginal Oral Narratives (FFC 238). Helsinki 1987. Wesselski, A. (ed.): Die Schwänke und Schnurren des Pfarrers Arlotto 1⫺2. Berlin 1910. Wesselski, A.: Märchen des Mittelalters. Berlin 1925. Wesselski, A.: Versuch einer Theorie des Märchens. Reichenberg i. B. 1931. Western Folklore. Georg Wickrams Werke 3 (Rollwagenbüchlein. Die Sieben Hauptlaster). ed. J. Bolte. Tübingen 1903 (Nachdruck Hildesheim 1974). Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde (Fortgesetzt unter dem Titel:) Zeitschrift für Volkskunde.
3. Verlagsorte Amst. Antw. B. Berk. Bloom. Bud. Buk. Cambr. Chic. Fbg Ffm. Hbg Hels. Kop.
Amsterdam Antwerpen Berlin Berkeley Bloomington Budapest Bukarest Cambridge Chicago Freiburg im Breisgau Frankfurt am Main Hamburg Helsinki Kopenhagen
L. L. A. Len. Lpz. M. Mü. N. Y. Ox. P. Phil. SPb. Stg. W. Wash.
London Los Angeles Leningrad Leipzig Moskau München New York Oxford Paris Philadelphia St. Petersburg Stuttgart Warschau Washington
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Vergeltung: Die zehnfache V.
Vergeltung: Die zehnfache V. (AaTh/ATU 1735), schwankhafte Erzählung von bestrafter Habgier (des Geistlichen) und glücklicher Einfalt (des Gläubigen). Sie steht im Umfeld der Predigtschwänke. Ein armer Bauer (arme Frau), der nur eine Kuh besitzt, hört eine Predigt über die Tugend der J Barmherzigkeit: Was man Armen (Geistlichen, Klöstern) schenke, gebe Gott hundertfach (doppelt, zehnfach) zurück. In der Hoffnung auf reichen Gewinn beschließt der Arme (mit seiner Frau), dem J Pfarrer, der auch eine Kuh (sechs, 50 Kühe) besitzt, seine Kuh zu schenken. Der Pfarrer bindet die Tiere zusammen, um sie auf die Weide zu schicken; abends führt die Kuh des Bauern die andere (mehrere andere, 100 Kühe verschiedener Besitzer) in den Stall ihres früheren Herrn. Als der Pfarrer seine Kühe zurückfordert, erinnert der Bauer ihn an seine Predigt (bezeichnet die Kuh des Pfarrers als erste Rate der versprochenen Belohnung: weitere Kühe sei Gott ihm noch schuldig); der Pfarrer muß mit leeren Händen abziehen (der Bischof spricht die Kühe dem Bauern zu).
Ältestes Zeugnis des Erzähltyps ist ein altfrz. Fabliau von Jean Bodel (ca 1200)1. Der Prediger verspricht hier, Gott werde Almosen doppelt zurückerstatten. Der Bauer schenkt seine Kuh auch deshalb her, weil sie nur wenig Milch gibt. Der habgierige Priester hat nur eine Kuh, so daß sich der Besitz des Armen verdoppelt, wie der Prediger versprochen hatte. Der kurze Text (72 V.e) endet mit der Moral, Reichtum könne nicht durch Anstrengung, sondern nur durch Glück oder durch Gottes Gnade erworben werden. Seit dem 13. Jh. findet sich die Geschichte in zahlreichen Exempelsammlungen, so u. a. bei J E´tienne de Bourbon (num. 143) und John J Bromyard (Summa predicantium E 3,47); auch in späteren Schwank- und Novellensammlungen begegnet sie häufig2, so bei J Poggio, J Philippe de Vigneulles, Johannes J Pauli, Martin J Montanus, Otho J Melander und in zahlreichen weiteren Slgen des 17. und 18. Jh.s3. Die Naivität des Bauern wird dabei mit herablassendem Spott, aber eher wohlwollend betrachtet, während die Habgier des Geistlichen getadelt wird: Die meisten Mönche und Priester, so Montanus, predigen lediglich, ,was ihrem Bauch guttut‘4. Nur im span. J Libro de los e(n)xemplos (num. 139) findet sich eine erbauliche Var., die wohl als Umdeutung des Schwanks zu seelsorgerischen Zwecken entstanden sein dürfte:
2
Eine arme Frau aus England, die nur eine Kuh besitzt, hört eine Predigt, in der hundertfältiger Lohn für Barmherzigkeit versprochen wird; sie verkauft ihre Kuh, verteilt den Erlös unter die Armen und erwartet ihre Belohnung. Als sie mit anderen Bedürftigen vor dem Bischofspalast auf milde Gaben wartet, sieht der Bischof von seinem Fenster aus, daß sie von wunderbarem Licht umgeben ist (cf. Mot. F. 574.3); er läßt sie zu sich rufen, hört ihre Geschichte und schenkt ihr 100 Kühe (Mot. Q 21.1).
Das Lichtwunder beweist, daß der naive Glaube der Armen Gott wohlgefällig ist (cf. AaTh/ATU 827: J Heiligkeit geht über Wasser), obwohl auch hier der versprochene himmlische Lohn mit der Erwartung materiellen Gewinns verwechselt wird. Statt der habgierigen Prediger steht der Protagonistin der fromme Bischof als Werkzeug der göttlichen Gnade gegenüber. Auf die bibl. Verheißung hundertfacher V. (Mt. 19,29; Mk. 10,29⫺30) nimmt auch ein Exemplum Bezug, das erstmals bei dem byzant. Mönch J Johannes Moschos bezeugt ist5: Bischof Synesios von Kyrene (Anfang 5. Jh.) gelingt es, den befreundeten heidnischen Philosophen Euagrius zum Christentum zu bekehren, obwohl Euagrius zunächst die Lehre, gute Werke würden nach dem Tod hundertfach vergolten, als absurd bezeichnet. Nach der Taufe spendet er eine große Summe für die Armen und verlangt einen Schuldschein mit der Zusicherung hundertfacher Rückerstattung, den Synesius ihm auch ausstellt. Gemäß seinen Anweisungen wird Euagrius später mit diesem Schuldschein in der Hand bestattet; drei Tage nach seinem Tod erscheint Euagrius dem Bischof im Traum und fordert ihn auf, den Schuldschein, auf dem er die vollständige Rückzahlung quittiert hat, aus seinem Grab zu holen.
Auf einer späteren griech. Fassung (Chronik des Georgios Monachos, 9. Jh., nach Johannes Moschos) basiert die lat. Version in zwei Exempelsammlungen des 13. Jh.s (Hss. aus Salzburg und Admont), die Synesius durch Johannes Eleemosynarius ersetzt6. Lat. Predigten und Exempelsammlungen (Jacques de Vitry, Odo of Cheriton, E´tienne de Bourbon)7 bieten eine Kurzfassung, in der die Söhne des Euagrius nach seinem Tod das gespendete Geld vom Bischof zurückfordern, da ihr Vater die versprochene V. nicht erhalten habe; sie verzichten, da man entweder den quittierten Schuldschein in der Hand des Toten findet ´ tienne de Bourbon, kein oder (wenn, wie bei E
3
Vergeltung: Die zehnfache V.
Schuldschein ausgestellt wurde) seine Stimme aus dem Grab die Rückzahlung bestätigt. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen dem Euagrius-Exempel und dem Schwank von der zehnfachen V. stellt der Bezug auf Jesu J Christi Verheißung dar, all jene, die ihm folgten, erwarte hundertfacher Lohn. Die Euagrius-Geschichte, die keinerlei schwankhafte Elemente enthält, wäre eher mit Exempeln und Sagen von der Rückkehr Verstorbener aus dem Jenseits zu verbinden (cf. AaTh/ATU 470: J Freunde in Leben und Tod): Während die meisten derartigen Erzählungen „der Veranschaulichung von Höllen- und Fegefeuerqualen und der Ermahnung zu einem christl. Lebenswandel“8 dienen, kann Euagrius (der gerade wegen seiner anfänglichen Skepsis höchst glaubwürdig ist) aus eigener Erfahrung bezeugen, daß der Lohn, den die Frommen im Jenseits zu erwarten haben, alle Mühen und Entbehrungen auf Erden wert ist. Aus mündl. Überlieferung ist die Erzählung vom Bauern (armer Mann), der die Kuh des Pfarrers für sich beansprucht, in weiten Teilen Europas (Skandinavien, Irland, Pyrenäenhalbinsel, Frankreich, Italien, Deutschland, Balkan, Osteuropa), im Vorderen Orient, in Ägypten, außerdem in Kanada und Lateinamerika9 nachgewiesen10. Vielfach ist sie mit folgender Fortsetzung versehen: Pfarrer und Bauer kommen überein, daß alle Kühe dem gehören sollen, der dem anderen am nächsten Tag als erster einen guten Morgen wünscht. Der Bauer versteckt sich im Pfarrhaus, um seinen Kontrahenten zu überraschen, und sieht, wie dieser mit der Magd schläft. Um sich sein Schweigen zu erkaufen, verzichtet der Pfarrer auf die Kühe11.
AaTh/ATU 1735 scheint von den zahlreichen Stellen im N. T. (oder in den heiligen Schriften anderer Religionen) inspiriert, die reichen Lohn für frommes und mildtätiges Verhalten versprechen12: Dem, der seine Familie verläßt oder seinen Besitz aufgibt, um Christus nachzufolgen, wird dies hundertfach vergolten werden ⫺ natürlich dadurch, daß er nach seinem Tod ins Paradies eingeht. Der einfältige Protagonist versteht die Verheißung himmlischen Lohns falsch und handelt nicht aus Nächstenliebe (cf. Mt. 25,45), sondern aus Berechnung (daß er die Kühe des Pfarrers gelegentlich als Abschlag auf die verheißene Rendite seiner Spende versteht, ist bezeichnend).
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Allerdings scheint das Gewinnstreben des Armen letztlich weniger verwerflich als die Habgier des Geistlichen; wenn dieser des Armen „zimblich mageres Kühlein“ ohne Zögern annimmt, obwohl er selbst schon 50 Kühe hat13, erinnert er an den reichen Mann, der in Nathans Gleichnis für David (2. Sam. 12,1⫺ 4) das Schaf des Armen raubte. Daß der Bauer seine Predigt J wörtlich nimmt, macht den Pfarrer zum betrogenen J Betrüger, der der Schadenfreude des Lesers gewiß sein kann. An Dummenschwänke wie AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel erinnert, daß der Arme seinen einzigen Besitz unbedacht weggibt, was ihm aber wunderbarerweise zum Vorteil ausschlägt. 1 Gier, A. (ed.): Fabliaux. Frz. Schwankerzählungen des HochMA.s. Stg. 1985, 216⫺221. ⫺ 2 Angaben bei Tubach, num. 176, 4089. ⫺ 3 Moser-Rath, Schwank, 291, 439; cf. EM 10, 19 (Nicolas de Troyes [num. 53 A] ⫽ AaTh/ATU 1735 B, nicht AaTh/ATU 1735 wie dort angegeben). ⫺ 4 Montanus/Bolte, num. 108. ⫺ 5 Tubach, num. 176; cf. Swietek, F. R.: The Alms Repaid a Hundredfold. In: Fabula 17 (1976) 169⫺181. ⫺ 6 ibid., 174. ⫺ 7 Tubach, num. 176, 4089. ⫺ 8 EM 11, 881. ⫺ 9 Ergänzend zu ATU: Nascimento. ⫺ 10 Texte (Ausw.): Rausmaa, SK 6, num. 384; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Hels. 1920, num. 328 (Var. 6); Böhm, M.: Lett. Schwänke und verwandte Volksüberlieferungen. Reval 1911, num. 8; Cappeller, C.: Litau. Märchen und Geschichten. B. 1924, num. 30; Massignon, G.: Contes corses. Aix-en-Provence 1963, num. 89; Kristensen, E. T.: Vore Fædres Kirketjeneste. Aarhus 1899, num. 275, 453; Be´aloideas 35⫺36 (1967⫺ ´ Duilearga, S.: 68) 279⫺290, 377 sq., num. 50 (ir.); O ´ Conaill’s Book. Stories and Traditions from Sea´n O Iveragh. Dublin 1981, num. 38; Vermast, A.: Vertelsels uit West-Vlaanderen. Gent 1892, 136⫺139; Clement, K. J.: Der Lappenkorb von Gabe Schneider aus Westfrisland, mit Zuthaten aus Nord-Frisland. Lpz. 1846, 160⫺164; Kuckei, M./Hellwig, W.: Wagrien. Sagen, Märchen und Geschichten. Neustadt 1926, num. 62 (aus Holstein); Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 1963, num. 231; Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 5; Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 286; Vrcˇevic´, V.: Srpske narodne pripovijetke. Belgrad 1988, num. 261; Bosˇkovic´-Stulli, M.: Narodne ˇ endej, I.: pripovijetke. Zagreb 1963, num. 96; C Skazki Verchoviny. Zakarpatskie ukrainskie narodnye skazki. Uzˇgorod 1959, num. 19; Lemieux, G.: Les Vieux m’ont conte´ 9. Montre´al/P. 1977, num. 11, cf. num. 20 (frankokanad.); Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y de Nuevo Me´jico 2. Stanford [1957], num. 463 (53); Paredes, A.: Folktales of Mexico. Chic./L. 1970, num. 66. ⫺
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11 Rausmaa, SK 6, num. 383; Hackman (wie not. 10) num. 328 (Var. 1⫺4, 7, 8, 14, 22); Segerstedt, A.: Svenska Folksagor och Äfventyr. Stockholm 1884, 114⫺121 (Pastor stiehlt den Kohl des Nachbarn); Säve, P. A./Gustavson, H.: Gotländska sagor 1. Uppsala 1952, num. 53; Liungman, Volksmärchen, num. 392; Olsen, O. T.: Norske Folke-eventyr og sagn samlet i Nordland. Kristiania 1912, 167⫺169 (Pastor beim Bierbrauen beobachtet); Kvideland, R.: Glunten og riddar rev. Eventyr fra˚ Nord-Norge. Oslo 1977, num. 15; Qvigstad, J.: Lappiske eventyr og sagn 1. Oslo 1927, num. 48; Kamp, J.: Danske folkeæventyr. Kop. 1891, num. 6; Kristensen (wie not. 10) num. 450, 452, 454, 455; Rittershaus, A.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle 1902, num. 104; Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales de Leo´n 2. Madrid 1991, num. 249; Kooi, J. van der/ Meerburg, B. A. G.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 99; Mont, P. de/Cock, A. de: Vlaamsche volksvertelsels. Zutphen 1927, num. 42; Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, num. 529 (hess.); Krauss, V. S.: Anthropophyteia 2. Lpz. 1905, num. 436 (südslav.); Crews, C. M.: Contes jude´o-espagnols des Balkans. ed. A. Angelopoulos. P. 2009, 66⫺68; Afanas’ev, A. N.: Russkie zavetnye skazki. SPb. 1994, num. 49 (⫽ Krypta´dia 1 [1883] 158⫺163); Moldavskij, D. M.: Russkaja satiricˇeskaja skazka. M./Len. 1955, 57⫺59; Pomeranceva, E˙. V.: Pesni i skazki Jaroslavskoj oblasti. Jaroslavl 1958, num. 17; Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1951, num. 9. ⫺ 12 cf. Hödl, L.: V. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 1518⫺ 1520. ⫺ 13 Moser-Rath, Schwank, 387 sq.
Bamberg
Albert Gier
Vergessen und Erinnern 1. Grundsätzliches ⫺ 2. Mnemotechnik ⫺ 3. Gedächtnis und Erzähler ⫺ 4. Kontinuitätsfragen ⫺ 5. V. und E. in Volkserzählungen
1 . G ru nd sä tz li ch es. V. und E. sind zentrale Begriffe für das Verständnis individueller und kollektiver Geschichte. Ihr Verhältnis ist prozeßhaft, V. ist nicht das bloße Gegenteil von E. Für Psychologie, Geschichtswissenschaft und kulturwiss. Erzählforschung zählen beide Kategorien zu den unveräußerlichen Grundlagen. Nur was erinnert wird, kann hist. und politisch wirksam werden und zur Sprache kommen. Obwohl Begriffe wie soziales, kollektives oder kulturelles Gedächtnis (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein) verbreitet sind, sind methodisch unmittelbar zugänglich stets einzelne Menschen, die über ein Gedächtnis verfügen1.
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Weil nicht alle Ereignisse eines Lebens in Erinnerung bleiben können, sind V. und E. stets ein Ergebnis von bewußten oder unbewußten Selektionsvorgängen (J Unbewußtes), die aus persönlichen Interessen (cf. J Interessendominanz) oder Prozessen der J Identifikation resultieren. Einzelne Ereignisse, Situationen oder Stimmungen bleiben individuell nur dann präsent, wenn sie aus dem Alltäglichen herausragen. Die Neurologie spricht hier vom episodischen Gedächtnis2. Dieses hält Erinnerungen an einzelne Ereignisse zusammen mit dem Situationskontext in Form von Geschichten fest. Dabei prägen Stimmungen und Atmosphären3 während eines Ereignisses sowohl die Qualität der Wahrnehmung und des Erlebens als auch die Form des späteren E.s als bewußte Gedächtnisleistung, plötzlich aufsteigende Gedanken oder J Träume. Beim E. wirken Prozesse der Selektion, Umformung und Neugestaltung mit. E. ist ein schöpferischer Akt, bei dem alte Erfahrungen und aktuelles Wissen unter dem Einfluß von J Phantasie, Glücks- oder Schuldgefühlen (J Rechtfertigungsgeschichten) korrigiert oder neu organisiert werden. Die Routinen des Alltags hingegen werden nicht als Einzelfall rekapituliert, sondern in Form von Themenfeldern, Regeln oder Stimmungsqualitäten abstrahierend im Modus typisierter Erfahrungs- und Erinnerungskomplexe4 als allg. Ereignis5 z. B. vom Typ ,Sonntagsspaziergang‘ oder ,Flugreise‘. Wenn Geschehnisse eines Lebens unter dem Eindruck des sozialen Kontexts erinnert und vermittelt werden, werden allg. Ereignisse ⫺ im Gegensatz zu den Erzählungen des episodischen Gedächtnisses ⫺ vor allem in Form von Beschreibungen, Erklärungen und Meinungen kommuniziert6. Der Einfluß von Gefühlen auf den Erinnerungsvorgang ist schon früh in der belletristischen Lit. und in der Wiss. beschrieben und analysiert worden7, ebenso die Dauerhaftigkeit von Sinneswahrnehmungen in der Erinnerung. Sinneseindrücke werden ganzheitlich gemeinsam oder auf einen einzelnen Sinn bezogen erinnert. Schopenhauer hatte vom Geruch als dem spezifischen ,Sinn des Gedächtnisses‘ gesprochen8, und Marcel Proust setzte dem Thema in A la Recherche du temps perdu 1 (1913) ein literar. Denkmal: Hatten ältere Auffassungen von Sinneswahrnehmung und -erin-
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nerung dem Gesichtssinn die zentrale Rolle zugesprochen, hob er die Bedeutung der ,niederen Sinne‘ hervor, des Geruchs- und Tast-, vor allem aber des Geschmackssinns9. A. Hartmann hat prägende Geschmackserinnerungen gesammelt und in ihrer lebensgeschichtlichen Nachhaltigkeit analysiert10. Ob Ereignisse des Lebens wirklich vergessen werden, muß für die Kulturwissenschaften eine offene Frage bleiben, zumal hier neuropathologische Zustände oder Krankheiten wirksam werden. Die Hypothesen der J Psychoanalyse über lebensgeschichtlich bedingte Formen des V.s und über das Unbewußte behalten ihre Erklärungskraft in der empirisch orientierten Kulturwissenschaft und in der Erzählforschung (cf. J Oral History): Ein Lieblingsmärchen der Kindheit kann bis ins Erwachsenenalter einen hohen Grad der Identifikation bewirken, so daß es als Teil einer erlebten Wirklichkeit bzw. ,Deckerinnerung‘ im Gedächtnis bleibt11; das Ärgerliche und Peinliche eines Lebens wird ins Unbewußte verdrängt und wirkt dort weiter, kann aber durch Befragungs- und Interpretationstechniken wieder in Erinnerung kommen und seine pathogene Wirkung verlieren. Für die gegenwärtige Gedächtnis- und Erzählforschung sind Fotos, Filme, Videos, das Internet12 und Gegenstände13 bedeutsam, die als ,externe Gedächtnisspeicher‘14 bei der Erinnerung an Erlebnisse, aber auch an Moden und an technische Entwicklungen helfen15. Das Gedächtnis ist ein sehr unzuverlässiger Erinnerungsspeicher, wenn es gilt, eine Wahrheit zu vermitteln. Subjektive Erfahrungen, ,Erfahrungen erster Hand‘, werden fortwährend mit ,Erfahrungen zweiter Hand‘, mit Gehörtem und Gelesenem, assoziativ verknüpft. Gedächtnisleistungen haben holistischen Charakter, sie aktualisieren Ansichten von der jeweiligen Gegenwart aus16. Während E. im alltäglichen Bewußtsein und in Erziehung und Politik vor allem positiv gesehen wird, wird V. als anthropol. Defizit qualifiziert. Demgegenüber hat Nietzsche das V. zu den Notwendigkeiten des Lebens und der Kultur erklärt: Die Fülle des angehäuften Wissens zwinge den einzelnen zur Selektion und zum V.17 Schon die griech. Dichtung hatte Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung, Lethe, die Göttin des V.s, gegenübergestellt18;
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der Unterweltfluß Lethe spendete den Seelen der Verstorbenen die Gnade des V.s. Auf dieser Grundlage hat H. Weinrich versucht, einer Gedächtniskunst (ars memoria) eine Kunst des V.s (ars oblivionis) gegenüberzustellen19. Wenn gravierende individuelle Schuld oder ein Verstoß gegen allg. geltende soziale oder menschenrechtliche Normen vorliegen, läßt sich eine Apologie des V.s jedoch schwerlich tolerieren. 2 . Mne mo te ch ni k. Weite Verbreitung erlangte die Gedächtniskunst, die es ermöglicht, lange Texte zu memorieren. Sie basiert auf der Verräumlichung des Gedächtnisses: Vorstellungsbilder werden an individuell vertrauten Orten (realen oder imaginären Häusern) abgelegt und abgerufen, indem man die Orte in der Vorstellung aufsucht. Der antike Ursprungsmythos der rhetorischen Mnemotechnik beruht auf einer Erzählung aus den Schr. der Rhetoriker Cicero und Quintilian20: Der griech. Dichter Simonides von Keos (ca 557⫺ ca 467 a. Chr. n.) nimmt an einem Fest teil. Als er die Festhalle für kurze Zeit verläßt, stürzt sie ein, und die Feiernden werden getötet. Später gelingt es Simonides, die zur Unkenntlichkeit entstellten Toten zu identifizieren, da er sich der Festtafel und des Platzes jedes einzelnen Gastes erinnern kann.
3 . G ed äc ht ni s u nd Er zä hl er. Die Erzähler von Märchen und Sagen im Europa des 19. Jh.s waren vielfach Analphabeten21 oder Bauern und Arbeiter, die im Stadium ,primärer‘ Mündlichkeit lebten22. Daher hat man in der Erzählforschung vorausgesetzt, daß oral tradierende Menschen über bewundernswerte Gedächtniskräfte verfügten, die im ZA. der Schriftlichkeit verlorengingen23. Eine der letzten großen finn. Erzählerpersönlichkeiten, Marina Takalo (1890⫺1970), war eine Spezialistin mit einem unerschöpflichen ,oralen Gedächtnis‘24. Bylinensänger, die „über tausende von Strophen“ verfügt haben sollen25, standen meist in einer familiären Tradierungskette (J Familientradition). Die westafrik. Griots und die nigerian. Manama eignen sich Erzählungen stets mit Hilfe von Regeln, Formeln, Reimen und anderen Memoriertechniken systematisch an26. Die Hauptvertreter der J Formeltheorie, M. J Parry und A. B. J Lord, haben gezeigt, daß mündl. Dichtung (J Oral Poetry) durch formelhafte Diktion, eine syste-
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matische, vorgefertigte und auf die Erfordernisse des mündl. Vortrags zugeschnittene Form des Ausdrucks, geprägt ist und wie diese tradiert wurde. Das kulturelle Gedächtnis hatte immer seine speziellen Träger27 und Meistererzähler (cf. J Erzählen, Erzähler, Kap. 4.1). Möglicherweise haben die ,alten‘ Sammler die Erklärung der Erzähler, am vorgegebenen Text „dürfe nichts geändert werden“28, zu unkritisch übernommen. Heute stellt sich die Frage, wie die Spezialisten der mündl. Überlieferung ihr Wissen erwarben und es in Erinnerung behielten, welche Bedeutung ihren normalen und ihren ,wiss.‘ Zuhörern zukam und welche wirtschaftlichen und sozialen Motive hinter ihrer Gedächtnisarbeit standen. 4 . Kon ti nu it ät sf ra ge n. Die kulturelle Dimension von V. und E. (kulturelles Gedächtnis) wird in der Erzählforschung wie der kulturtheoretischen Forschung mit dem Problem der Generationen in Verbindung gebracht29. K. J Ranke betonte, daß „das Traditionsverhältnis zwischen Großeltern und Enkeln das natürlichere“ sei als das zwischen Eltern und Kindern30. Erinnerungen an Erlebnisse bleiben in Familien und anderen Institutionen selten länger als zwei bis drei Generationen (80⫺100 Jahre) lebendig. Dieser ,Erfahrungsraum der Zeitgenossen‘31, der von Kulturwissenschaftlern und Historikern als kommunikatives Gedächtnis bezeichnet wird, deckt sich mit den Erzählgattungen der Erinnerungsgeschichte oder des Memorats. Was älter ist als die letzten Ohrenzeugen32, lebt nicht mehr im Modus erfahrener und erzählter Geschichten33, sondern im kulturellen Gedächtnis, im Zustand einer ,überlieferten Ordnung‘34. Aus Memoraten können dabei Sagen werden, aus der Erfahrungsgeschichte des Politischen Mythen. Was dergestalt in Erinnerung bleibt, wird durch Schrift, Bilder und Denkmäler (J Denkmalerzählungen) tradiert. Wenn seit langem schriftl. vorliegende Erzählungen reoralisiert werden, beweist das, daß die Grenzen zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis durchlässig sind. Ist der Ursprung eines Denkmals in V.heit geraten, kann durch Phantasie und Kausalitätsbedürfnis35 eine neue Erklärung (J Ätiologie) und eine neuartige narrative Wirklichkeit
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entstehen. Erzählungen von traumatischen Erlebnissen (lebensbedrohliche Krankheiten36; Krieg; Attentat auf das World Trade Center, 11.9.2001) sind geeignet, das individuelle und das kollektive Erleben in deutlich voneinander abgegrenzte Zeitabschnitte einzuteilen. Vorher-Nachher-Geschichten helfen dabei, individuelle und kollektive Epochenschwellen narrativ zu definieren und zu vermitteln37. Träume zählen nicht nur zu den Ursachen für die Entstehung von Volkserzählungen38, sie zeigen auch, wie Erfahrungen in Erinnerung bleiben und in spätere Epochen eines Lebens hineinwirken39. In der Analyse des Erzählens zwischen den Generationen40 und darüber hinaus41 liegen wichtige Aufgaben für die Erforschung von Prozessen der Vermittlung persönlicher und kultureller Erfahrungs- und Deutungsmuster. Forschungen zu einer Erfahrungsgeschichte und die Erzählforschung ohne Zeitzeugen42 haben sich auf die Zeit des J Nationalsozialismus, auf Kriegs- und Nachkriegsereignisse, die kulturelle Erinnerung an erzwungene43 oder freiwillige44 Migrationsprozesse, die Zeit des Realsozialismus und der Teilung Europas45 und vor allem auf die Tradierung des Wissens über die Shoa unter den Nachkommen der Opfer und Täter konzentriert46. Dabei wirken neben der oralen Tradition Filme und Fernsehdokumentationen sowohl als Informationsmedien als auch als Thema J alltäglichen Erzählens auf die Erzählkultur ein. Das Erzählen über V. und Vergeßlichkeit ist ein beliebtes Thema im privaten und öffentlichen Leben. Es kann als Erkenntnis eines Defizits geäußert oder auch in manipulativer Absicht verwendet werden, eine Entschuldigung, Ausrede oder Beleidigung darstellen oder als solche empfunden werden. In Gerichtsprozessen wird das V. als bewußte ,Taktik‘ von einfachen Leuten eingesetzt (cf. auch AaTh/ATU 1585: J Pathelin)47, und es ist bis heute bes. bei Personen des öffentlichen Lebens in Rechtfertigungsgeschichten über Kriegsschuld, politische Verbrechen oder Mißstände verbreitet. Das V.wollen unangenehmer Erfahrungen scheint eine Universalie zu sein48. 5 . V. u nd E. in Vo lk se rz äh lu ng en. Im allg. begegnet das V. in Volkserzählungen meist in Schwänken oder im Zaubermärchen.
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In dem Schwank AaTh/ATU 1628: Der gelehrte J Bauernsohn hat der Protagonist seine Muttersprache vergessen oder gibt vor, nur noch Latein sprechen zu können. Aus dem Schwank- und Witzrepertoire des 18. Jh.s stammt AaTh/ATU 1687: Das vergessene J Wort: Ein Junge sucht ein vergessenes Wort auf dem Boden, und ein anderer, der ihn beobachtet, sagt es zufällig. In AaTh/ATU 2012: Die sonderbare J Woche erkennt der Vergeßliche den Wochentag anhand seiner Pflichten oder reduziert ein ganzes Leben von der Geburt bis zum Tod auf einige Stunden. Paart sich Vergeßlichkeit mit J Dummheit, entstehen absurd-komische Situationen, so in AaTh/ ATU 1287: cf. Sich nicht J zählen können oder in AaTh/ATU 1332*: Forgetfulness (Aimlessness) Causes Useless Journey: Der Dumme hat sich ohne sein Pferd auf die Reise gemacht; als er beinahe am Ziel ist, bemerkt er dies und kehrt um, um das Reittier zu holen. In dem Predigtschwank AaTh/ATU 1834: J Pfarrer mit der feinen Stimme erinnert der Gesang des Pfarrers eine alte Frau an ihren Esel. Im Zaubermärchen trifft der magische ,Bann des V.s‘ den Protagonisten, der entgegen dem Wunsch seiner J Braut (Bräutigam) seine Mutter (Eltern) küßt und die Auserwählte vergißt. Dieses Motiv ist in mehreren Erzähltypen vertreten, so in AaTh/ATU 313 sqq.: J Magische Flucht, AaTh/ATU 425 B: cf. J Amor und Psyche, AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, AaTh/ATU 884: cf. J Frau in Männerkleidung und in Fassungen von AaTh /ATU 510 A: cf. J Cinderella. Der lange Weg bis zur Wiedervereinigung und vom V. zum E. symbolisiert die durch Umsicht und Beharrlichkeit erreichte Lösung einer schwierigen Lebenssituation. Mitunter wird das V. durch einen J Zaubertrank ausgelöst, so schon in der Odyssee (J Homer): Die Zauberin J Circe mischt den Freunden des J Odysseus vor deren Verwandlung in Schweine betörende Säfte in den Wein, ,damit sie der Heimat gänzlich vergäßen‘ (10,234). J Helena gibt den Gefährten des Menelaos einen V.strank, der alle Leiden aus dem Gedächtnis tilgen soll (4,220⫺239). In AaTh 676 ⫹ 954/ATU 954: J Ali Baba und die vierzig Räuber vergißt der gierige Bruder des Protagonisten den Spruch zum Öffnen
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der Höhle und wird darin von den Räubern gefunden und getötet. Redensarten über V. und E. gehen teilweise auf traditionelle Erzählungen zurück. ,Vergiß das Beste nicht!‘ ⫺ heute in Gebrauch, um jemanden, der das Haus verläßt, daran zu erinnern, sein Geld mitzunehmen ⫺ geht auf Märchen49 und Schatzsagen zurück: Der Habgierige denkt nur an die Schätze, vergißt den Schlüssel in der Höhle und kann den Eingang ein zweites Mal nicht wiederfinden50. ,Vergeben und vergessen‘ ist als V.sgebot für schuldhafte Kriegshandlungen seit dem 17. Jh. in Form der Bestimmung ,in Vergeß stellen‘ (mettre en oubli) bekannt51. Mit dem V. in Zusammenhang stehen auch Redensarten, die auf Alltagsbeobachtungen zurückgehen, wie ,Gedächtnis wie ein Sieb‘52 oder ,Aus den Augen, aus dem Sinn.‘53 1 Bönisch-Brednich, B./Brednich, R.-W./Gerndt, H. (edd.): E. und V. Göttingen 1991. ⫺ 2 Singer, W.: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Ffm. 2002, 77⫺86, hier 82. ⫺ 3 Böhme, G.: Atmosphäre. Ffm. 1995; Hauskeller, M.: Atmosphären erleben. Phil. Unters.en zur Stimmungswahrnehmung. B. 1995; Tellenbach, H.: Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes. Salzburg 1968; Lehmann, A.: Reden über Erfahrung. Kulturwiss. Bewußtseinsanalyse des Erzählens. B. 2007, 67⫺98. ⫺ 4 id.: Wald als „Lebensstichwort“. Zur biogr. Bedeutung der Landschaft, des Naturerlebnisses und des Naturbewußtseins. In: Bios 9 (1996) 143⫺154, hier 146. ⫺ 5 Schacter, D. L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek 1999, 151. ⫺ 6 Koselleck, R.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Ffm. 1979, 148; Lehmann (wie not. 3) 9 sq. ⫺ 7 WeiserAall, L.: Vk. und Psychologie. B./Lpz. 1937, 73; Zender, M.: Volkserzählungen als Qu. für Lebensverhältnisse vergangener Zeiten. In: Rhein. Jb. für Vk. 12 (1973) 114⫺169, hier 121; De´gh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962, 91 sq. ⫺ 8 Schopenhauer, A.: Werke. 10: Parerga und Paralipomena. ed. A. Hübscher. Zürich 1979, 662. ⫺ 9 Proust, M.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Ffm. 1979, 63⫺67; Weinrich, H.: Lethe ⫺ Kunst und Kritik des V. s. Mü. 1997, 187⫺193. ⫺ 10 Hartmann, A.: Zungenglück und Gaumenqualen. Geschmackserinnerungen. Mü. 1994; Tellenbach (wie not. 3). ⫺ 11 Holbek, B.: Betrachtungen zum Begriff „Lieblingsmärchen“. In: Uther, H.-J. (ed.): Märchen in unserer Zeit. Mü. 1990, 149⫺158; Röhrich, L.: Sage und Märchen. Fbg 1976, 275; Lehmann (wie not. 3) 37. ⫺ 12 Schneider, I.: Erzählen im Internet. In: Fabula 37 (1996) 8⫺27; Hengartner, T.: Volkskundli-
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kundliche Qu. und als Art der Volksprosa. In: Jb. für ostdt. Vk. 17 (1974) 27⫺50; Schuhladen, H./ Schroubek, G. (edd.): Nahe am Wasser. Eine Frau aus dem Schönhengstgau erzählt aus ihrem Leben. Mü. 1989. ⫺ 33 Assmann (wie not. 18) 82. ⫺ 34 Schmidt, L.: Die Vk. als Geisteswiss. In: Gerndt, H. (ed.): Fach und Begriff ,Vk.‘ in der Diskussion. Darmstadt 1988, 55⫺91, hier 61. ⫺ 35 Röhrich, L.: Orale Traditionen als hist. Qu. In: Ungern-Sternberg, J. von (ed.): Vergangenheit mündl. Überlieferung. Stg. 1988, 79⫺99. ⫺ 36 Wiebel-Fanderl, O.: Herztransplantation als erzählte Erfahrung. Münster u. a. 2003. ⫺ 37 Gerndt, H.: Kulturvermittlung. In: ZfVk. 86 (1990) 1⫺13. ⫺ 38 Laistner, L.: Das Rätsel der Sphinx. Grundzüge einer Mythengeschichte 1⫺2. B. 1889, t. 1, 39, 49 sq., t. 2, 47. ⫺ 39 Beradt, C.: Das Dritte Reich des Traums. Ffm. 1981; Rieken, B.: Die Individualpsychologie Alfred Adlers und ihre Bedeutung für die Erzählforschung. In: Fabula 45 (2004) 1⫺32; Lehmann (wie not. 3) 75. ⫺ 40 id.: Erzählen zwischen den Generationen. Über hist. Dimensionen des Erzählens in der Bundesrepublik Deutschland. In: Fabula 30 (1989) 1⫺ 26. ⫺ 41 Koch, T./Welzer, H.: Weitererzählforschung. Zur seriellen Reproduktion erzählter Geschichten. In: Leben ⫺ Erzählen. Beitr.e zur Erzähl- und Biogr.forschung. Festschr. A. Lehmann. B. 2005, 165⫺182. ⫺ 42 Wierling, D.: Erzählen ohne Zeitzeugen. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. In: Bios 21 (2008) 28⫺36. ⫺ 43 Lehmann, A.: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland. Mü. 21993; Faulenbach, B.: Flucht und Vertreibung in der individuellen, politischen und kulturellen Erinnerung. In: Bios 21 (2008) 104⫺133; Plato, A. von/Meinicke, W.: Alte Heimat ⫺ neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjet. Besatzungszone und in der DDR. B. 1991. ⫺ 44 Bönisch-Brednich, B.: Auswandern. Destination Neuseeland. B. 2002. ⫺ 45 Niethammer, L./Plato, A. von/Wierling, D.: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. B. 1991; Löden, S.: Der Elefant und die Ameise. Erinnerungen von staatlichen Leitern im realsozialistischen Betrieb. In: Bios 16 (2003) 209⫺235; Neumann, T. W.: „Wir sind keine schlechten Leute geworden“. Elterngespräche nach der Wende. ibid. 6 (1993) 93⫺106. ⫺ 46 Oberländer, F. A.: Zwischen den Stühlen. Zur Problematik kathol. Deutscher jüd. Herkunft dargestellt am Fallbeispiel des Pfarrers Fuchs. ibid. 2 (1990) 189⫺ 223; Schmitz-Emans, M.: Erzählen als Selbstbehauptung und Gespensterbeschwörung. Ruth Klügers autobiogr. Buch „weiter leben“. ibid. 9 (1996) 1⫺29; Schütze, Y.: Warum Deutschland und nicht Israel. Begründung russ. Juden für die Migration nach Deutschland. ibid. 10 (1997) 186⫺208; Roseman, M.: E. und Überleben. Wahrheit und Widerspruch im Zeugnis einer Holocaust-Überlebenden. ibid. 11 (1998) 263⫺279; Neander, J.: Seife aus Judenfett. Zur Wirkungsgeschichte einer zeitgenössischen Sage.
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Vergewaltigung
In: Fabula 46 (2005) 241⫺256. ⫺ 47 Göttsch, S.: ,Alle für einen Mann …‘ Leibeigene und Widerständigkeit in Schleswig-Holstein im 18. Jh. Neumünster 1991, 289. ⫺ 48 z. B. HDA 7 (1936⫺37) 1363 (ostafrik. Brauch: Schuh rückwärts über den Kopf werfen, um etwas zu vergessen). ⫺ 49 KHM 94, AaTh/ATU 875; KHM 116, AaTh/ATU 562; KHM 135, AaTh/ATU 403. ⫺ 50 Grimm DS, 9, 315; Röhrich, Redensarten 1, 185. ⫺ 51 Weinrich (wie not. 9) 217. ⫺ 52 Röhrich, Redensarten 4, 1471. ⫺ 53 ibid. 1, 117.
Hamburg
Albrecht Lehmann
Vergewaltigung. Die Substantivbildung V. ist seit dem 14. Jh. in der Bedeutung von ,in seine Gewalt bringen‘ belegt1. Der Begriff ,Gewalt‘ erscheint in der Tradition der beiden lat. Begriffe potestas und violentia in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und Diskursen und erfährt dementsprechend eine vielfältige Bewertung. Im MA. und in der frühen Neuzeit dominiert zunächst die mit dem lat. potestas verbundene positive Konnotation, welche die erfolgreiche Übernahme und Ausübung einer Ordnungsfunktion beschreibt (Souveränität), so etwa in der Wendung ,seines Amtes (ge)walten‘2. Seit dem Spätmittelalter gibt es zunehmend Belege dafür, daß V. im Sinne des lat. violentia den unrechtmäßigen Gebrauch physischer Gewalt einschließt. Vor allem das Verb ,vergewaltigen‘ nimmt „gern eine üble Nebenbedeutung an“3. Allg. kann V. sich gegen Individuen oder eine Gruppe (Besiegte, Minderheit, Familie) richten. Sie kann Vorgänge der Unterwerfung oder Vertreibung eines Volkes oder der Expansion bezeichnen oder einen Glauben bzw. eine Religion oder einen abstrakten Wert (Norm, Gesetz, Moral, Ehrvorstellungen) betreffen; auch Dinge wie Besitz und Güter können vergewaltigt werden. Forschungen widmeten sich dem Thema im Zusammenhang mit körperlicher und psychischer Gewalt im Prozeß der Herausbildung des Nationalstaates4, mit Ungleichheiten und ihren Folgen für Krieg und Frieden zwischen Ländern (strukturelle Gewalt)5 und zwischen Menschen (V. als Ausdruck des Sieges bzw. der Überlegenheit, V. durch Sprache)6, mit häuslicher Gewalt in der Familie (cf. auch J Inzest) sowie dem Mißbrauch von Abhängigen und Schutzbefohlenen7 oder mit den systemati-
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schen massenhaften V.en von Frauen durch feindliche Soldaten8. Eine weitgehende Verengung des Begriffs V. auf sexuelle Gewalt erfolgte im Zusammenhang der Frauenbewegung der 1970er Jahre, wobei normalerweise ein Mann den geschlechtlichen Umgang mit einer Frau gegen deren Willen erzwingt (Notzucht). V. wurde als Ausdruck und Demonstration männlicher Macht (Patriarchat) und Ohnmacht (im Sinne einer Ersatzhandlung bei Machtverlust bzw. als Imponiergehabe angesichts verletzten Selbstwertgefühls) verstanden9. In traditionellen Erzählungen erscheint V. nur selten als durch physische Gewalt erzwungener Vollzug des Geschlechtsverkehrs, so etwa in der Geschichte J Wielands des Schmieds, der sich für seine Verstümmelung u. a. durch V. der Königstochter Bödwild rächt10. Meist handelt es sich eher um einen ohne aktives Einverständnis der Frau vollzogenen oder trickreich erlisteten Beischlaf (J Koitus, J Verführung). Im weiteren Sinn kann auch J Nekrophilie als eine Form der V. aufgefaßt werden. Da die Verbalisierung konkret realisierter Sexualität (J Erotik, Sexualität) Tabus unterliegt, wird die Gewalttat der V. oft in eine Phantasiewelt des Unrealen entrückt: Das Opfer befindet sich in einem Zustand des getrübten Bewußtseins, und seine J Erlösung legitimiert die V. Das Märchenmotiv des Geschlechtsverkehrs mit einer schlafenden Frau ohne deren aktives Einverständnis erscheint etwa in AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit, AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter, AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens oder AaTh/ATU 562: J Geist im blauen Licht. In dem in J Tausendundeine Nacht enthaltenen arab. Ritterroman von ¤Umar ibn an-Nu¤ma¯n wird die J Heldenjungfrau Abrı¯za betäubt, um sie im Zustand mangelnder Selbstkontrolle zu vergewaltigen11. Auch im altnord. Mythos begegnet das Motiv der in einen J Zauberschlaf versenkten (verwünschten, verzauberten) Frau (Brynhild), die von einem Mann (J Sigurd, Siegfried) durch (in der Darstellung symbolisch verschlüsselten) Beischlaf aus ihrem Zustand erlöst wird. Im Zaubermärchen AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger vergewaltigt der Held eine schlafende Prinzessin und sammelt Ge-
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Vergewaltigung
genstände ein, mit denen er sich später ausweisen kann (J Erkennungszeichen). Als die Prinzessin den Vater ihres Kindes sucht, kommt es zur Wiederbegegnung und Heirat mit ihm. Die V. ist hier Teil einer männlichen Selbstfindung bzw. Bewährung und wird in eine Folge von anderen Heldentaten eingeordnet. Die kriminellen bzw. verbotenen Aspekte der V. werden durch die vielfältigen Maßnahmen ausgedrückt, welche die V. begleiten: V. geschieht in der Regel nicht spontan triebgesteuert, sondern vorsätzlich. Vor allem in schwankhaften V.sgeschichten gehören J Täuschung und Betrug stereotyp zur Handlung. So versuchen Vergewaltiger sich in weiblicher Verkleidung oder als angebliche Frau (cf. J Geschlechtswechsel) Zugang zu der oder den Begehrten zu verschaffen. In AaTh/ATU 1545 A: J Schlafenlernen gibt sich der Unhold als schwangere Frau aus, die Hilfe bei der Entbindung sucht; der Ausruf der Geschädigten ,Es ist ein Mann‘ läßt die Familie glauben, es sei ein männliches Kind geboren worden. Vergleichbare listige V.en finden sich in AaTh/ ATU 1563: J „Beide?“, AaTh/ATU 1542: J Peik oder AaTh/ATU 1545: J Junge mit vielen Namen. Während die V. hier von verschiedenen in unmittelbarer Nähe anwesenden Personen nicht erkannt wird, kann ein unerwarteter Zeuge am Schauplatz von Nutzen sein: In AaTh/ATU 672 C: cf. J Schlangenkrone, -stein verhilft eine magische Schlange der vergewaltigten Frau zur Ehe mit dem Täter. J Frauen in Männerkleidung können die J Verleumdung einer (angeblichen) V. dadurch entkräften, daß sie ihr wahres Geschlecht offenbaren, so in Var.n von AaTh 884 A/ATU 884: The Forsaken Fiance´e: Service as Menial. Schwankhafte Erzählungen bedienen sich des Motivs der V. in oft obszöner Situationskomik. Der durch eine Bagatelle entfachte Ehestreit in AaTh/ATU 1351: J Schweigewette kann dazu führen, daß ein Eindringling die Ehefrau vor den Augen des Ehemanns vergewaltigt. Verdrängte sexuelle Wünsche stehen bei Witzen über V.en von alten Jungfern oder Nonnen im Vordergrund12. Der Schwank AaTh/ATU 1731: J Schuhe angeboten enthält auch die V. eines Mannes durch einen Mann. Möglicherweise kann dieses Motiv als Ausdruck von „Männerphantasien, die […] Ra-
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chegefühle gegenüber einem Mitglied der Gemeinschaft kompensieren“, gedeutet werden13. Auch für Tiere bzw. in Tiergestalt erscheinende Götter ist V. belegt. Um einer menschlichen Frau beizuwohnen, verwandelt sich der Göttervater J Zeus gerne in ein Tier (Stier, Schwan). Der Geschlechtsverkehr einer Frau mit einem Tier (J Sodomie), etwa einem Bären in der Erzählung vom J Bärensohn oder in einer türk. Var. von AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans14, ist nach populärer Vorstellung primär durch V. denkbar. Eine Tiererzählung reflektiert auch die Existenz durchlässiger Zwischenwelten mit einer anderen Sexualmoral: In dem seit dem 12. Jh. überlieferten Erzähltyp AaTh/ATU 36: J Fuchs vergewaltigt die Bärin wird das stärkere durch das schwächere Tier vergewaltigt. Während derlei Geschichten anhand des V.smotivs eher Fragen von Dominanz und Macht durch körperliche oder intellektuelle Überlegenheit behandeln, wird umgekehrt auch der sexuelle Aspekt der V.sproblematik symbolisch verschlüsselt. Das verbreitete Symbol der geknickten J Rose steht seit der Renaissance oft für gewaltsam erzwungenen Geschlechtsverkehr bzw. Entjungferung (J Jungfrau, Jungfernschaft). Bei den Brüdern J Grimm heißt es etwa in KHM 111, AaTh/ATU 304 euphemistisch, daß der Held das Mädchen ausschließlich betrachtet15; in KHM 50, AaTh/ATU 410 findet nur ein Kuß statt. Das ,Verschlingen‘ in AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen wurde als V., die Farbe der Kopfbedekkung der Titelheldin als Symbol für eine Bluttat mit sexuellem Hintergrund gedeutet, die ein Mädchen im familiären Umfeld vertrauter Personen erleidet16. Eine V. hat oft die Zeugung außerordentlicher Gestalten zur Folge. Als ,Ursprungsmythos‘ für Heldenfiguren erklärt die V. deren bes. Eigenschaften, die durch eine biologische Vaterschaft des regulären (Ehe-)Partners der Mutter nicht befriedigend erklärt werden können. Die Geburt des sagenhaften König Artus (J Artustradition) erfolgt mit Hilfe der kupplerischen Zauberkraft des weisen Sehers J Merlin, der einem vergeblich um die glücklich verheiratete spätere Mutter des Artus werbenden Mann die Gestalt ihres Ehemannes verleiht (cf. J Gestalttausch)17. Ähnlich hatte bereits J Zeus der Alkmene in Gestalt ihres Ehe-
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Vergewaltigung
mannes J Amphitryon beigewohnt (cf. J Usurpator). Auch Merlin selbst ist ,vaterlos‘ gezeugt; seine Mutter berichtet, ein Luftgeist habe sie nächtlich vergewaltigt18. In späteren Var.n, so bei Robert de Boron (ca 1200), wird diese Erzählung deutlicher christianisiert: Ein J Teufel soll aufgrund des Beschlusses eines Höllenkonzils die fromme Mutter Merlins vergewaltigen; die diabolische Absicht, eine böse Parallelfigur zu J Christus hervorzubringen, wird durch die Unterstützung der Kirche reduziert19. V. durch den Teufel spielt auch in zahlreichen anderen Erzählungen eine Rolle, in denen sie u. a. zur Dämonisierung weiblicher Gestalten (J Hexe) führt. Freilich wurde Frauen bei der ,Teufelsbuhlschaft‘, die in den Hexenprozessen eine Rolle spielte, eine gegenseitige Beziehung vorgeworfen20. V. wird oft (von männlicher Seite) verharmlost, lächerlich gemacht oder entschuldigt. Bereits ein ma. Exemplum unterstellt der vergewaltigten Frau ein implizites Einverständnis21. In religiös motivierten Erzählungen stellt sie jedoch meist ein schweres Vergehen dar, das kategorisch als J Frevel verurteilt wird. Ein weiter Begriff der V. liegt zahlreichen Heiligenviten zugrunde, in denen die Leiden beschworen werden, die die Protagonisten als J Märtyrer in der Nachfolge Christi um ihres Glaubens willen durch körperliche Gewalt erleiden. Zahlreiche populäre Erzählungen behandeln die Verteidigung der weiblichen Ehre. So feiert der Motivkomplex der unschuldig verfolgten J Frau (Kap. 3. 1.2) das Leitbild der unverbrüchlichen weiblichen J Treue in der Ehe, das sich in J Keuschheit über erotische Versuchungen, angedrohte oder erlittene Gewalt und andere Gefahren hinwegsetzt. Die angesichts der Heeresfolge ihres Mannes allein zurückgebliebene J Genovefa etwa muß sich der versuchten V. durch den zu ihrem Schutz eingesetzten Vertrauten ihres Gatten erwehren (cf. auch AaTh/ATU 712: J Crescentia; AaTh/ ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen)22. Demgegenüber begeht J Lucretia nach erlittener V. zur Wiederherstellung ihrer Ehre J Selbstmord. Verschiedene Erzählungen belegen schwere Körperstrafen für Vergewaltiger23. Die Frau gilt nicht erst seit der ma.-christl. Geschlechteranthropologie als das triebhafte Geschlecht, das seine sexuellen Bedürfnisse
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weniger als der Mann kontrollieren kann24. Dieser Logik entsprechen Erzählungen, in denen eine von dem begehrten Mann zurückgewiesene Frau diesen verleumdet, sie vergewaltigt zu haben, wobei sie ihre Anschuldigung oft durch Spuren untermauert, die sie sich bei der Verteidigung ihrer Keuschheit zugezogen habe (zerrissene Kleidung, zerkratztes Gesicht). Die älteste Erzählung mit diesem Grundmuster ist die alttestamentliche von der Frau des Potiphar und dem keuschen J Joseph (Gen. 39,7⫺20). Aus derselben Konstellation bezieht der weltweit verbreitete Erzählzyklus der J Sieben weisen Meister das zentrale Spannungselement seiner Rahmenerzählung, verbunden mit der Lebensgefahr für den unschuldigen Sympathieträger, der sich aufgrund einer schicksalhaften Wendung zeitweilig nicht selbst verteidigen kann. Im christl. Kontext kreisen Erzählungen oft einerseits um die Verhinderung der V., so wenn die Frau sich selbst entstellt, um sich weniger begehrenswert zu machen (AaTh/ATU 706 B: Die keusche J Nonne). In dem bes. in pietistischen Quellen vertretetenen Erzähltyp ATU 770 A*: cf. J Schutzgeister wird das weibliche Vergewaltigungsopfer durch einen unsichtbaren Engel vor dem potentiellen Angreifer geschützt. Andererseits wird bei beabsichtigter oder nach erfolgter V. die Sühne thematisiert: Ein Mann mit V.sabsichten verunglückt tödlich; das Opfer betet für seinen Schädiger, der aus der Hölle zurückkehrt und bereut25. Auch in der Erzählung von der vergewaltigten und beraubten jungen Frau, die ihren Peiniger mit kochendem Wasser übergießt, wird abschließend die Reue der sich rächenden Vergewaltigten thematisiert (AaTh/ATU 956 E*: The Young Woman’s Revenge on the Robber). Abgesehen von als Verbrechen aufgefaßten V.en unter Androhung oder Anwendung von Gewalt ist V. auch (z. T. in subtileren Formen) im Alltag präsent, vor allem in Arbeitsverhältnissen oder anderen Situationen sozialer Unterlegenheit durch Abhängigkeit und tägliche Auslieferung an einen Mann. In Moritaten wird etwa die V. eines Dienstmädchens durch ihren Hausherrn angeprangert26. Bes. wenn die V. zur J Schwangerschaft führte, ergaben sich Folgeprobleme für die alleinstehende Mutter: drohende Entlassung, Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung ließen die Tötung des
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Neugeborenen oft als bessere Alternative erscheinen (J Kindsmörderin). Daß es ein ,Recht der ersten Nacht‘ (J Ius primae noctis) gegeben habe, bei dem der Herr eine Abhängige vor der Eheschließung entjungfern durfte, wird in Erzählungen immer wieder thematisiert, doch gibt es für eine entsprechende Rechtsgrundlage keine hist. Belege27. In den Bereich der Kompensationsphantasie dürfte die moderne Sage verweisen, nach der sich eine Frau an ihrem Vergewaltiger durch J Kastration rächt28. 1 DWb. 12,1 (1956) 429. ⫺ 2 cf. allg. Schwerhoff, G. u. a.: Gewalt. In: Enz. der Neuzeit 4. Stg. 2006, 787⫺803; Ulbrich, C. u. a. (edd.): Gewalt in der Frühen Neuzeit. B. 2005. ⫺ 3 DWb. 12,1, 428. ⫺ 4 Foucault, M.: Surveiller et punir. P. 1957 (dt.: Überwachen und Strafen. Ffm. 1976). ⫺ 5 cf. Galtung, J.: Strukturelle Gewalt. Reinbek 1975. ⫺ 6 TrömelPlötz, S. (ed.): Gewalt durch Sprache. Die V. von Frauen in Gesprächen. Ffm. 1984. ⫺ 7 Heiliger, A./ Engelfried, C.: Sexuelle Gewalt. Ffm. 1995; Schweikert, B.: Gewalt ist kein Schicksal. Baden-Baden 2000. ⫺ 8 Seifert, R.: Krieg und V. Mü. 1993; Kappeler, S.: V., Krieg, Nationalismus. Mü. 1994. ⫺ 9 cf. Brownmiller, S.: Gegen unseren Willen. V. und Männerherrschaft. Ffm. 1978, 224 sq. ⫺ 10 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 30. ⫺ 11 Marzolph/van Leeuwen 1, 431, num. 39. ⫺ 12 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 172 sq., 199. ⫺ 13 EM 12, 219. ⫺ 14 Eberhard/Boratav, Anlage C 3, C 6. ⫺ 15 Scherf, 409⫺413. ⫺ 16 Zipes, J.: The Trials and Tribulations of Little Red Riding Hood. (South Hadley 1983) N. Y./L. 21993, 81; id.: A Second Gaze at Little Red Riding Hood’s Trials and Tribulations. In: id. (ed.): Don’t Bet on the Prince. N. Y. 1986, 231 sq. ⫺ 17 Lundt, B.: Melusine und Merlin im MA. Mü. 1991, 214⫺218. ⫺ 18 ibid., 203⫺248, bes. 207⫺ 214. ⫺ 19 ibid., 249⫺272, bes. 255⫺257. ⫺ 20 Behringer, W. u. a.: Hexe. In: Enz. der Neuzeit 5. Stg. 2007, 425⫺442. ⫺ 21 Tubach, num. 4035. ⫺ 22 Staritz, S.: Geschlecht, Religion und Nation. Genovefa-Lit.en 1775⫺1866. St. Ingbert 2005. ⫺ 23 Uther (wie not. 10) 18. ⫺ 24 Mazo Karras, R.: Sexualität im MA. Düsseldorf 2006. ⫺ 25 Johannes Gobius, Scala celi, num. 959. ⫺ 26 Cheesman, T.: The Shocking Ballad Picture Show. German Popular Literature and Cultural History. Ox. 1994, 38⫺43. ⫺ 27 Boureau, A.: Das Recht der ersten Nacht. Zur Geschichte einer Fiktion. Düsseldorf 1996; Wettlaufer, J.: Das Herrenrecht der ersten Nacht. Hochzeit, Herrschaft und Heiratszins im MA. und in der Frühen Neuzeit. Ffm. 1999. ⫺ 28 Brednich, R. W.: Die Maus im Jumbo-Jet. Mü. 1991, num. 65.
Flensburg
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Vergil
Bea Lundt
Vergil 1. Leben und Werk ⫺ 2. Rezeption ⫺ 3. Der Zauberer V.
1 . L eb en un d Wer k. V. (Publius Vergilius Maro), * Mantua 15. 10. 70 a. Chr. n., † Brundisium (Brindisi) 21. 9. 19 a. Chr. n., röm. Dichter1, bis ins 20. Jh. einer der in der westl. Welt meistgelesenen und einflußreichsten antiken Autoren2. Kaum etwas von dem, was antike (seit Sueton3) und ma. Viten4 über das Leben V.s mitteilen, kann als gesichert gelten. V. gehörte offensichtlich dem Ritterstand (equites Romani) an, lebte in Rom und Neapel, war sowohl mit politisch einflußreichen Persönlichkeiten wie Maecenas (dem er die Georgica widmete) als auch mit Dichterkollegen (z. B. J Horaz) befreundet und mit Augustus persönlich bekannt5. Er verfaßte (ausnahmslos in Hexametern) zunächst die Bucolica, zehn Hirtengedichte (Eklogen, ca 39⫺37), dann die Georgica, ein Lehrgedicht über den Ackerbau (4 Bücher, ca 36⫺30), und zuletzt die Aeneis, das röm. Nationalepos (12 Bücher, ca 29⫺19, nicht ganz vollendet)6. Die in der sog. Appendix Vergiliana zusammengefaßten angeblichen Jugendgedichte V.s sind wahrscheinlich spätere Zuschreibungen7. Schon früh fand man in den drei Werken V.s die Stufen menschlicher Entwicklung (vom Hirten über den Bauern zum Krieger) dargestellt8; im MA. standen sie idealtypisch für die drei Stilarten (Bucolica: niederer, Georgica: mittlerer, Aeneis: hoher Stil; schematisch dargestellt in der sog. Rota Virgilii)9. Demnach erscheint in V.s Dichtung die Totalität des Lebens und der Kunst gespiegelt. Mit den zehn (je zur Hälfte dialogischen und monologischen) Eklogen der Bucolica ist V. Begründer der lat. Hirtendichtung10. Anders als sein griech. Vorgänger Theokrit (ca 310⫺250) verlegt er die Schäferwelt nach Arkadien, ins ,Land des vergoldeten Alltags‘11 und in die sagenhafte Vorzeit des Goldenen J ZA.s, spielt aber zugleich häufig auf aktuelle politische Ereignisse an. Die 4. Ekloge, die infolge der Geburt eines rätselhaften Kindes Glück und Wohlstand für das Röm. Reich verheißt12, wurde seit Laktanz (ca 250⫺ca 325) von christl. Schriftstellern als Hinweis auf J Christus gedeutet13.
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Vergil
Das Thema der Landwirtschaft ist in den Georgica nicht mehr als ein Vorwand, um phil., kulturgeschichtliche oder politische Fragen zu erörtern14. Die vier Bücher sind der Feldbestellung (1), der Pflege von Ölbaum und Weinstock (2), der Pferde-, Rinder- (3) und Bienenzucht15 (4) gewidmet (also Bücher 1⫺2: Pflanzen, 3⫺4: Tiere). Das 4. Buch (V. 315⫺ 558) nennt Aristaeus als den ersten Imker; nach dem Tod Eurydikes (sie wurde von einer Schlange gebissen, als sie vor dem zudringlichen Aristaeus floh; in diesem Zusammenhang wird von J Orpheus’ Abstieg in die J Unterwelt erzählt, V. 453⫺527) töten die Nymphen aus Rache seine Bienenvölker; von seiner Mutter Cyrene lernt Aristaeus, daß J Bienen aus einem verwesenden Rind entstehen können (Mot. B 713.1). Die Aeneis (J Äneas) erzählt die Vorgeschichte der Gründung Roms und führt die Genealogie des Princeps Augustus auf Ascanius/Iulus, den Sohn des Äneas, zurück16. Wichtigster Bezugspunkt des gelehrten Dichters sind die Epen J Homers17. Der (von Äneas im Rückblick geschilderte) Untergang Trojas (Buch 2; J Trojan. Pferd), Didos Liebe zu Äneas (Buch 4), die Katabasis in die Unterwelt (Buch 6), Figuren wie die J Heldenjungfrau Camilla, Orakel und Vorausdeutungen auf künftige Ereignisse (Buch 8: J Romulus und Remus) haben vielfältige direkte und indirekte Spuren in der epischen Dichtung der Spätantike, des MA.s und der frühen Neuzeit (J Ariosto, J Camo˜es) hinterlassen und sind bis heute im kulturellen Gedächtnis Europas verankert. Mit der Aeneis zeigt sich V. als Propagandist der Romidee18. Nach dem Vorbild der Römer V.s führten zahlreiche Völker und Städte bis ins 16. Jh. ihren Ursprung auf Troja-Flüchtlinge zurück (J Troja-Roman). 2 . Rez ep ti on. Schon seit dem 1. Jh. a. Chr. n. waren V.s Werke Schullektüre19, wurden häufig kommentiert (z. B. Servius, ca 400) und allegorisch gedeutet (seit Fulgentius, ca 500)20. Die Cento-Technik, bei der kurze Fragmente aus einem gegebenen Werk zu einem neuen Text zusammengefügt werden, wurde in der Antike ausschließlich auf die Dichtungen V.s angewandt (als obszöne Parodie: Ausonius; als christl. Kontrafaktur: Proba
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[beide 4. Jh.]). Bis ins 17. Jh. sind die meisten einschlägigen Beispiele V.-Centonen21. Während des gesamten MA.s wurde V. kontinuierlich rezipiert22: Als freie Bearbeitung (Liebesroman statt Staatsepos23) der Aeneis entstand ca 1160 der altfrz. Roman d’E´ne´as24, die Vorlage des mhd. Eneas Heinrichs von Veldeke (vollendet vor 1190); stoffliche Entlehnungen, Einflüsse von Stil und dichterischer Technik des im Schulunterricht ,allgegenwärtigen‘25 V. sind bei fast allen ma. Ependichtern feststellbar26. J Dante wählt in der Divina commedia seinen Lieblingsdichter (cf. Inferno 1,85) V. zum Führer durch Hölle und Läuterungsberg, da der Abstieg des Äneas in die Unterwelt (Aeneis 6) die von Dante geschilderte J Jenseitswanderung vorweggenommen hatte. Während die Antike die Werke Homers als unerreichbaren Gipfelpunkt der Dichtung betrachtete, stellen frühneuzeitliche Poetiken seit M. H. Vida (1516) zunehmend den ,klassischregelmäßigen‘ V. über den ,archaischen‘ Homer27. Seit der frz. Querelle des Anciens et des Modernes (Ende 17. Jh.; J Perrault) wurde die Vorbildhaftigkeit der antiken Lit. grundsätzlich in Frage gestellt; die Gestalten der Aeneis blieben jedoch als Sujets der bildenden Kunst28 sowie als Protagonisten von Dramen und Opern (cf. bes. die Dido-Episode29) allgegenwärtig. Nur in Deutschland ging der (durch J. J. Winckelmann propagierte) Griechenkult nach 1800 mit einer Abwertung V.s wie der lat. Lit. überhaupt einher30. In Lit. und Theater des 19. Jh.s31 ist eine produktive Rezeption antiker Stoffe selten. Hector Berlioz (1803⫺69), dem die Aeneis von Kindheit an vertraut war, schrieb jedoch (auf der Grundlage der Bücher 1, 2 und 4) Text und Musik der Oper Les Troyens32. Andre´ Gide stellt in Paludes33 (1895) den Hirten Tityre (1. Ekloge) als in alltäglicher Routine erstarrten und dabei glücklichen Menschen dar. Das 20. Jh. hat keine bedeutenden Gestaltungen vergilischer Stoffe hervorgebracht; Hermann Brochs umfangreicher Roman Der Tod des V. (1945) schildert die letzten Stunden des Dichters und fragt dabei nach dem Verhältnis des Intellektuellen (V.) zur Macht (Augustus)34. T. S. Eliot bezeichnete V. als den (einzigen) ,Klassiker von ganz Europa‘35.
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3 . D er Za ub er er V. Wie anderen Gelehrten (Aristoteles, Pythagoras, J Albertus Magnus, J Faust, J Paracelsus etc.) wurden dem Dichter V. im MA. magische Fähigkeiten zugeschrieben36. Schriftl. Zeugnisse37 finden sich seit dem 12. Jh., so bei Johannes von Salisbury (1159)38, Konrad von Querfurt (1196), Alexander J Neckam, J Gervasius von Tilbury und vielen anderen39. Im Dolopathos des J Johannes de Alta Silva (ca 1200) trägt der weise Lehrer des Prinzen den Namen V. In Erzählungen über V. erlernte er etwa die Zauberkunst von Dämonen, die er aus einer Flasche befreite (cf. AaTh/ATU 331: J Geist im Glas)40. In Neapel und Rom soll er eine Reihe von Wunderwerken geschaffen haben (J Automat)41: In Neapel u. a. eine eherne Fliege und eine Zikade aus Metall, die Fliegen und Zikaden von der Stadt fernhielten; die eherne Statue eines Bogenschützen, welche die Stadt bei einem Ausbruch des Vesuv schützte; eine Metzgerei, in der das Fleisch der Schlachttiere wochenlang frisch blieb; die Heilbäder bei Pozzuoli und Bajae; eine Glasflasche mit einem Bild Neapels: Solange sie heil bleibt, droht der Stadt keine Gefahr42; in Rom z. B. die J Bocca della verita` oder die Salvatio Romae, Holzfiguren mit Glocken, welche die röm. Provinzen darstellten: Sobald sich eine Provinz gegen Rom erhob, läutete die entsprechende Glocke. Die dt. Lit. kennt eine Anzahl eigener V.-Anekdoten und -Mirabilien43. Die ma. Überlieferung (z. B. J Jansen Enikel) läßt den nach antiken Quellen schüchternen (und nur Knaben liebenden44) V. um eine verheiratete Frau (die Kaiserstochter, so z. B. Sercambi, num. 48) werben, die ihm schließlich verspricht, ihn nachts in einem Korb in ihr Turmzimmer hochzuziehen; statt dessen läßt sie ihn jedoch bis zum Morgen auf halber Höhe hängen und gibt ihn dem Spott der ganzen Stadt preis (Mot. K 1211, K 1343.1)45. Anders als die übrigen von Frauen genarrten ,Minnesklaven‘46 (cf. AaTh/ATU 1501: J Aristoteles und Phyllis) rächt sich V., indem er mittels seiner Zauberkunst alle Feuer in der Stadt verlöschen läßt; künftig kann Feuer nur noch unmittelbar am nackten Hintern (der Scham) der Spröden entzündet werden. V. im Korb und (seltener) die demütigende Zurschaustellung der Dame wurden auch bildlich, u. a. auf Tapisserien, dargestellt47. Nach einem
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ndl. Märchen (ohne Nennung V.s) formte Ernst Ludwig Freiherr von Wolzogen den Stoff zum Libretto Feuersnot für Richard Strauss (1901; hier flammen die Feuer wieder auf, nachdem sich die Frau dem Zauberer hingegeben hat)48. Dem zur J Kristallisationsgestalt49 gewordenen V. werden zahllose Zauberkunststücke (cf. AaTh/ATU 987: J Augenverblendung, AaTh/ATU 861: J Rendezvous verschlafen), die Errichtung von Bauwerken (J Lügenbrücke, Lügenfluß), J Statuen (J Bild, Bildzauber; cf. AaTh/ATU 921 A: J Focus: Teilung des Brotes oder Geldes), wunderbare Erfindungen (J Schiff) etc. zugeschrieben. Im 16. Jh. entstand das frz. Volksbuch Les Faictz merveilleux de Vergille50, das als Vorlage für freie ndl. und engl. Bearb.en diente. Vor allem in Neapel, aber auch in Apulien und Sizilien51 sind Geschichten vom Zauberer V. in die mündl. Überlieferung eingegangen. Vieles stammt eindeutig aus der (durch populäre Lesestoffe vermittelten) ma. Tradition, die gelegentlich frei weitergesponnen wurde; als Spuren älterer, gar antiker Überlieferungen werden die im 19./20. Jh. aufgezeichneten Sagen und Lieder kaum gelten können. 1 Büchner, K.: P. Vergilius Maro. In: Pauly/Wissowa 1,16 (1958) 1021⫺1486; Klingner, F.: Virgil. Zürich/ Stg. 1967; Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. 2,31: Sprache und Lit. 1⫺2. ed. W. Haase. B./ N. Y. 1980⫺81 (Bibliogr.n: 3⫺358, 395⫺499, 1265⫺ 1357); Della Corte, F. u. a. (edd.): Enc. Virgiliana. 1⫺5. Rom 1984⫺91; Martindale, C. (ed.): The Cambridge Companion to Virgil. Cambr. 1997; Suerbaum, W.: Vergilius 4. In: DNP 12,2 (2002) 42⫺59; Holzberg, N.: V. Der Dichter und sein Werk. Mü. 2006. ⫺ 2 cf. Albrecht, M. von: V. ⫺ bewundert, aber ungeliebt? Probleme der Poetologie, Anthropologie und Hermeneutik im Lichte der ,V.rezeption‘. In: Jb. für internat. Germanistik 29 (1997) 38⫺58. ⫺ 3 V.: Landleben. ed. J. und M. Götte. Mü./Zürich 51987, 214⫺229. ⫺ 4 cf. Suerbaum, W.: Von der Vita Vergiliana über die Accessus Vergiliani zum Zauberer Virgilius. In: Haase (wie not. 1) 1156⫺1262. ⫺ 5 Pöschl, V.: V. und Augustus. ibid., 707⫺727. ⫺ 6 Datierungen nach Suerbaum (wie not. 1) 42. ⫺ 7 Clausen, W. V. u. a. (edd.): Appendix Vergiliana. Ox. 1966; Büchner (wie not. 1) 1061⫺1180; cf. Richmond, J.: Recent Work on the „Appendix Vergiliana“ (1950⫺ 1975). In: Haase (wie not. 1) 1112⫺1154. ⫺ 8 cf. Suerbaum (wie not. 1) 43. ⫺ 9 Quadlbauer, F.: Die antike Theorie der genera dicendi im lat. MA. Wien 1962, 11⫺13 und pass. ⫺ 10 Suerbaum (wie not. 1) 55. ⫺
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11 Snell, B.: Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: id.: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europ. Denkens bei den Griechen. Göttingen 41975, 257⫺274, bes. 263. ⫺ 12 Kraus, W.: V.s vierte Ekloge. In: Haase (wie not. 1) 604⫺645, hier 637. ⫺ 13 Benko, S.: V.s Fourth Eclogue in Christian Interpretation. ibid., 646⫺705; cf. LCI 4, 415 sq. (zu bildlichen Darstellungen des ,Propheten‘ V. ). ⫺ 14 Suerbaum (wie not. 1) 47. ⫺ 15 Dahlmann, H.: Der Bienenstaat in V.s Georgica. Wiesbaden 1954, 547⫺562. ⫺ 16 Suerbaum (wie not. 1) 50. ⫺ 17 Knauer, G. N.: V. and Homer. In: Haase (wie not. 1) 870⫺918. ⫺ 18 cf. Rieks, R.: V.s Dichtung als Zeugnis und Deutung der röm. Geschichte. ibid., 728⫺868. ⫺ 19 Klopsch, P. u. a.: V. im MA. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1522⫺ 1530, hier 1523; Worstbrock, F. J.: V. In: Verflex. 10 (21999) 247⫺284, hier 251 sq. ⫺ 20 cf. Courcelle, P.: Lecteurs paı¨ens et lecteurs chre´tiens de l’E´ne´ide 1⫺ 2. P. 1984. ⫺ 21 Glei, R. F.: V. am Zeug flicken. Centonische Schreibstrategien und die „Centones ex Virgilio“ des Lelio Capilupi. In: id./Seidel, R. (edd.): „Parodia“ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lat. Lit. der Frühen Neuzeit. Tübingen 2006, 287⫺301. ⫺ 22 Comparetti, D.: Virgilio nel medio evo 1⫺2. Florenz 21896; Virgilio nel medio evo. Turin 1932; Klopsch u. a. (wie not. 19); Worstbrock (wie not. 19). ⫺ 23 Kern, P.: Beobachtungen zum Adaptationsprozeß von V.s „Aeneis“ im MA. In: Wolfram-Studien 14 (1996) 109⫺133, hier 110. ⫺ 24 Schöning, U.: Thebenroman ⫺ Eneasroman ⫺ Trojaroman. Studien zur Rezeption der Antike in der frz. Lit. des 12. Jh.s. Tübingen 1990. ⫺ 25 Klopsch u. a. (wie not. 19). ⫺ 26 Ziltener, W.: Chre´tien und die Aeneis. Eine Unters. des Einflusses von V. auf Chre´tien von Troyes. Graz/Köln 1957. ⫺ 27 VogtSpira, G.: Warum V. statt Homer? Der frühneuzeitl. Vorzugsstreit zwischen Homer und V. im Spannungsfeld von Autorität und Historisierung. In: Poetica 34 (2002) 323⫺344. ⫺ 28 Llewellyn, N.: Virgil and the Visual Arts. In: Martindale, C. (ed.): Virgil and His Influence. Bristol 1984, 117⫺140; Liversidge, M. J. H.: Virgil in Art. In: Martindale (wie not. 1) 91⫺103. ⫺ 29 Frenzel, Stoffe, 126⫺128; Leube, E.: Fortuna in Karthago. Die Aeneas-DidoMythe V.s in den rom. Lit.en vom 14. bis zum 16. Jh. Heidelberg 1969; Koch, K. D.: Die Aeneis als Opernsujet. Konstanz 1990; Binder, G. (ed.): Dido und Aeneas. V.s Dido-Drama und Aspekte seiner Rezeption. Trier 2000; Kailuweit, T.: Dido ⫺ Didon ⫺ Didone. Eine kommentierte Bibliogr. zum Dido-Mythos in Lit. und Musik. Ffm. 2005; Theisohn, P.: Dido und Aineas. In: Moog-Grünewald, M. (ed.): Mythenrezeption. Stg./Weimar 2008, 216⫺ 229. ⫺ 30 Suerbaum (wie not. 1) 54; Weinreich, O.: Virgil im Wandel der Jh.e [1930]. In: id.: Ausgewählte Schr. 2. ed. G. Wille. Amst. 1973, 282⫺ 297. ⫺ 31 Vance, N.: Virgil and the Nineteenth Century. In: Martindale (wie not. 28) 169⫺192. ⫺ 32 cf. Koch
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(wie not. 29). ⫺ 33 Ziolkowski, T.: V. and the Moderns. Princeton 1993, 62 sq. ⫺ 34 ibid., 203⫺222. ⫺ 35 Eliot, T. S.: Was ist ein Klassiker? [1944]. In: id.: Essays 1. Ffm. 1988, 241⫺268. ⫺ 36 Comparetti (wie not. 22) t. 2; Spargo, J. W.: V. the Necromancer. Cambr. 1934; Weiser-Aall, L.: Virgil. In: HDA 8 (1936⫺37) 1665⫺1672; Wood, J.: V. and Taliesin. The Concept of the Magician in Medieval Folklore. In: FL 94 (1983) 91⫺104; Petzoldt, L.: Virgilius Magus. Der Zauberer V. in der literar. Tradition des MA.s. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 549⫺568; Worstbrock (wie not. 19) 274⫺279. ⫺ 37 cf. Comparetti (wie not. 22) t. 2, 185⫺324; cf. Vietor, W.: Der Ursprung der Virgilsage. In: Zs. für rom. Philologie 1 (1877) 165⫺ 178. ⫺ 38 Worstbrock (wie not. 19) 275. ⫺ 39 Petzoldt (wie not. 36) 550⫺552; Maaz, W.: Ein alliterierendes Orakel in Hs. Wien, ÖNB lat. 1625 (saec. XIII/XIV). Zu einem unbekannten Detail der Sage vom Vergilius Magus. In: Scrinium Berolinense. Festschr. T. Brandis. B. 2000, 1011⫺1020, hier 1011⫺1013. ⫺ 40 Wood (wie not. 36) 94. ⫺ 41 HDA 8, 1666⫺1670; Petzoldt (wie not. 36) 560⫺ 564. ⫺ 42 Maaz (wie not. 39) 1012 sq. ⫺ 43 Worstbrock (wie not. 19) 277; Schanze, F.: Virgils Fahrt zum Magnetberg. In: Verflex. 10, 377⫺379. ⫺ 44 cf. Götte (wie not. 3) 216 sq. (Vita Suetons). ⫺ 45 Worstbrock, F. J.: Virgil im Korb. In: Verflex. 10, 379⫺381. ⫺ 46 Maurer, F.: Der Topos von den „Minnesklaven“. In: DVLG 27 (1953) 183⫺206. ⫺ 47 ibid.; Petzoldt (wie not. 36) 553⫺559. ⫺ 48 cf. Franke, R.: Richard Strauss, Feuersnot. In: Dahlhaus, C. u. a. (edd.): Pipers Enz. des Musiktheaters 6. Mü./Zürich 1997, 81⫺83. ⫺ 49 Maaz (wie not. 39) 1012. ⫺ 50 Spargo (wie not. 36) 60⫺68. ⫺ 51 Bronzini, G. B.: Contes mythiques et fantastiques sur Virgile, entre tradition orale et tradition e´crite. In: Calame-Griaule, G./Görög-Karady, V. (edd.): Le Conte, pourquoi? comment? Folktales, Why and How? P. 1984, 615⫺628; id.: Tradizione culturale e cotesto sociale delle leggende virgiliane nell’Italia meridionale. In: Cultura e scuola 82 (1982) 67⫺93.
Bamberg
Albert Gier
Vergleich 1. Allgemeines ⫺ 2. V. als Stilmittel ⫺ 3. V. als Erzählmotiv ⫺ 4. V. als Erzähltechnik ⫺ 5. V. als Gattungsmerkmal ⫺ 6. V. in der Erzählforschung
1 . All ge me in es. Vergleichen ist eine Tätigkeit, die zwei oder mehrere Phänomene (gedanklich) nebeneinanderhält, um zwischen ihnen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszustellen. Terminologisch entstammt der V. der antiken Rhetorik und Argumentationslehre; in der Poetik ist er grundlegend u. a. für
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J Metapher, J Parabel oder J Exemplum1. Als notwendige Bedingung des V.s gilt, daß alle Einheiten, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, auf der gleichen Begriffsebene liegen bzw. zumindest hinsichtlich eines Gesichtspunkts (Tertium comparationis) übereinstimmen. Erkenntnistheoretisch liegt die Problematik der Vergleichbarkeit in der Bestimmung dessen, was als ähnlich oder gleich, als übereinstimmend oder analog anzusehen ist. Der V. ist ein allgegenwärtiges Sprachmuster und ein wirkmächtiger Faktor menschlichen Denkens. Das Herausarbeiten von J Kontrasten gibt Dingen erst Kontur und schafft Kategorien. Der V. gehört zu den strukturierenden Elementen des Diskutierens, Argumentierens, Bewertens, Erkennens und Beurteilens. Vergleichen fördert das Erinnern und dient der Veranschaulichung. Der V. besitzt psychol., phänomenologische, pragmatische und methodologische Funktionen. Sein Gegenstand ist nicht immer nur das Vergleichbare, sondern auch das Besondere oder Auffallende: Bekanntes im Unbekannten, Dauerhaftes im Wandelbaren, Invariantes innerhalb von Var.n (J Stabilität, J Variabilität). Es gibt zahlreiche Versuche, die Arten des V.s zu differenzieren2. So spricht T. Schieder vom paradigmatischen (Bestätigung des Gleichen), analogischen (Erschließung des Unbekannten) sowie generalisierenden, individualisierenden und synthetischen V. (Feststellung von Übereinstimmungen unter verschiedenen Aspekten)3. Ein inhaltsanalytischer V. (J Inhaltsanalyse) kann quantitativ gestützt sein4. Anders als der quantitative (statistische) V. ist der qualitative nicht streng normierbar. In der J Hermeneutik bleibt die vergleichende Methode bis zu einem gewissen Grade immer an das erkennende Subjekt gebunden; V.e können anderen Personen als nicht plausibel (,hinkend‘, ,schief ‘) erscheinen. Gleichwohl lassen sich Erzählungen und Erzählmotive bezüglich ihrer Inhalte, Strukturen oder Funktionen vergleichen, und zwar bevorzugt nicht im regionalen, sondern im interkulturellen oder weltweiten V.5 V. J Zˇirmunskij differenziert zwischen dem hist.-typol., dem hist.-genetischen V. und dem V. ,aufgrund kultureller Wechselbeziehungen‘6. Demgegenüber unterscheidet H. Gerndt zwischen dem hist., dem typol. und dem symbolischen V., wobei eine hist.-verglei-
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chende Deutung (z. B. der Diffusion und Tradierung von Erzählungen und Erzählmotiven) stets alle geschichtlichen Zusammenhänge zu bedenken hat, während eine typol.-vergleichende sich allein auf die isolierten Erscheinungsformen bezieht und eine symbolisch-vergleichende J Interpretation unterschiedliche Phänomene mit ähnlicher Bedeutung zueinander in Beziehung setzt7. 2 . V. a ls St il mi tt el. Als rhetorische Figur steigert der V. die Anschaulichkeit einer Aussage und verdichtet deren Bedeutung. Stilistisch (J Stil) wird die Plastizität von Eigenschaften mittels sprachlicher Bilder und der formalen Wendung ,so … wie …‘ erhöht (,sein Herz war so finster wie die Nacht‘). Ohne die Partikel ,wie‘ wird der V. zur Metapher. Während Metaphorik verdichtend wirkt, faltet der V. auseinander. Er entspricht damit ⫺ wie M. J Lüthi betont8 ⫺ eher der Vorliebe des europ. Volksmärchens für die Reihung, weshalb sich V.e in Märchen deutlich häufiger finden als Metaphern. Ferner kennen Märchen meist nur jeweils einen V.sbezug, im Gegensatz zur Anhäufung von V.en in Dichtermärchen, wie z. B. bei J Basile oder im Katha¯saritsa¯gara des J Somadeva9. Wenn bestimmte Situationen und Handlungen durch V. mit analogen Vorgängen aus einem anderen Lebensbereich veranschaulicht werden (,Das Urteil traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel‘), kann von einem Gleichnis als einer ,Großform‘ des V.s gesprochen werden: Ein Sachverhalt wird durch unmittelbare Verknüpfung mit seiner Ausdeutung erhellt. 3 . V. a ls Er zä hl mo ti v. Wo es um verschiedene Formen des J Wettkampfs geht, ist der V., das Ermitteln des Stärkeren oder Schnelleren, Klügeren, Listigeren, aber auch Schöneren (AaTh/ATU 709: J Schneewittchen), ein inhaltliches Element. Der J Rangstreit beinhaltet ebenfalls einen V. Indirekt lebt auch das Motiv der J Verkehrten Welt vom V. Explizit formulierte V.e finden sich z. B. in nicht nachprüfbaren Lösungen für die Aufgaben im Schwankmärchen AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt (z. B. ,so viele Sterne am Himmel wie Sandkörner am Strand‘). 4 . V. a ls Er zä hl te ch ni k. Der V. ist eine kulturelle Grundtechnik des Gesprächs, mit
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dessen Hilfe die Welt erklärt wird10 und den man als eine ,einfache Form‘ der J Kommunikation verstehen kann11. In den Medien wird er sprachlich und bildlich unterschiedlich eingesetzt. Auch in Sprichwort, Redensart, Witz und Rätsel, die mit Korrespondenzen und Analogien spielen (,wie du mir, so ich dir‘) und sich auf eine Parallelität von Handlungen und Reaktionen sowie auf J Stereotypen und Ähnlichkeiten stützen, begegnet der V. häufig12. Er wirkt untergründig im dualistischen Denken (J Dualismus) und in der J Verfremdung, wenn z. B. in der Karikatur Tiere mit menschlichen Eigenschaften und Handlungen auftreten. In der Erzählsituation kann ein ,objektivierter‘ V. die Anschaulichkeit oder Glaubwürdigkeit einer Geschichte unterstützen (,so wie mein Daumen‘). 5 . V. a ls Ga tt un gs me rk ma l. Parabel oder Fabel vermitteln allg. sittliche Wahrheiten oder Erkenntnisse durch V., einen Analogieschluß also, in dem Situationen auftreten, die der Realität entsprechen oder ⫺ in der Tierfabel ⫺ wenigstens in einem V.spunkt auf menschliche Sitten und Verhältnisse übertragen werden können. Das Exemplum verdeutlicht Sachverhalte an einem konkreten Fall. Der Stoff dafür entstammte ursprünglich Mythen, später der Geschichte. Auf Grund seines Geschichtsbezugs unterschied J Isidor von Sevilla das Exemplum von anderen Arten des V.s; Hegel differenzierte in den Vorlesungen über die Ästhetik (1835) danach, ob in einem V. mit dem ,Äußerlichen‘ begonnen (Fabel, Parabel, Sprichwort) oder zuerst die unterlegte Bedeutung verbildlicht wird (Rätsel, Allegorie, Metapher)13. Die Gattungsstile z. B. von Sage und Märchen sind mittels des V.s herausgearbeitet worden, insbesondere von Lüthi14. A. J Lehmann postuliert den V. als eine eigenständige Erzählgattung, als ein „meistens zweigliedriges, meistens kurzes, thesenhaft abstrahierendes, in Oppositionen angelegtes Mittel zur Erkenntnis, der Klärung von moralischen oder rechtlichen Positionen, der Veranschaulichung und Unterhaltung in Gesprächssituationen“15. In Unters.en von Autobiographien ist Lehmann dem Schicksalsvergleich näher nachgegangen16, ferner dem Generationen- und dem Nationenvergleich (cf. auch J Stereotypen, ethnische)17, auch dem Länder-
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vergleich in Migrationsgeschichten sowie schließlich Preis-Leistungs-Geschichten und dem Epochenvergleich in der Biographie18. 6 . V. i n d er Er zä hl fo rs ch un g. Vom V. als einer elementaren Erkenntnishilfe ist die vergleichende Methode zu unterscheiden, die seit dem Beginn des 19. Jh.s in zahlreichen Wiss.en ausgebildet worden ist (J Komparatistik)19. Auch in bezug auf die Erzählüberlieferung entwickelten sich spezielle Forschungsrichtungen: die vergleichende Mythen- (A. J Kuhn), Märchen- (A. J Aarne), Sagen- (L. J Röhrich) und Sprichwortforschung (A. J Taylor, M. J Kuusi, W. J Mieder) und bes. die J geogr.-hist. Methode. 1 Schenk, G./Krause, A.: V. In: Hist. Wb. der Philosophie 11. ed. S. Ritter/K. Gründer/G. Gabriel. Basel 2001, 676⫺680, hier 677; Knapp, F. P.: V. In: RDL 3 (2003) 755⫺757. ⫺ 2 cf. Gerndt, H.: Kultur als Forschungsfeld. Über volkskundliches Denken und Arbeiten. Mü. 21986, 168⫺193, bes. 177⫺179, 242 (Reg.). ⫺ 3 Schieder, T.: Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswiss. In: id.: Geschichte als Wiss. Mü./Wien 1965, 187⫺211. ⫺ 4 cf. Schwibbe, M. H.: Das Bild der Frau bei Wilhelm Busch. Ein inhaltsanalytischer V. zu Bilderromanen, Schwänken, Märchen und Sagen. Göttingen 1988. ⫺ 5 z. B. Chang, C.-G.: Der Held im europ. und korean. Märchen. Ein lit.wiss. V. unter bes. Berücksichtigung der Handlung. Basel 1981; Schnyder, M.: Die „Wunderfügnisse“ der Welt. Zur Bedeutung von Metapher und V. in der dt. und pers. Dichtung des 17. Jh.s. Bern u. a. 1992; Luginbühl, M.: Menschenschöpfungsmythen. Ein V. zwischen Griechenland und dem Alten Orient. Bern u. a. 1992; Schmidt, S.: Hänsel und Gretel in Afrika. Märchentexte aus Namibia im internat. V. Köln 1999; Stamer, B./Zingsen, V.: Schlangenfrau und Chaosdrache in Märchen, Mythos und Kunst. Schlangen- und Drachensymbolik im Kulturvergleich. Stg./Zürich 2001; Wekenon Tokponto, M.: Dt.-benin. Märchenforschung am Beispiel von Märchen in der Fon-Sprache mit phonetischer Transkription, Studie und Darstellung der Hauptfiguren und Themenvergleich. Ffm. 2003. ⫺ 6 Schirmunski, V.: Vergleichende Epenforschung 1. B. 1961, 8. ⫺ 7 Gerndt (wie not. 2) 182. ⫺ 8 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Göttingen 21990, 127. ⫺ 9 ibid. ⫺ 10 Bönisch-Brednich, B.: Auswandern. Destination Neuseeland. Eine ethnogr. Migrationsstudie. B. 2002, 272. ⫺ 11 Lehmann, A.: Reden über Erfahrung. Kulturwiss. Bewußtseinsanalyse des Erzählens. B. 2007, 181. ⫺ 12 Lenk, C.: Wenzel und Michel. Die Lesbarkeit nationaler Stereotypen am Beispiel dt. und tschech. Karikaturen. In: Gleiche Worte ⫺ gleiche Bilder. ed.
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Vergleichende Erzählforschung ⫺ Verhaltensforschung
P. Becher. Mü. 1997, 14⫺21. ⫺ 13 EM 10, 548. ⫺ 14 Lüthi, M.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Diss. Bern 1943. ⫺ 15 Lehmann, A.: Der Schicksalsvergleich. Eine Gattung des Erzählens und eine Methode des Erinnerns. In: Bönisch-Brednich, B./Brednich, R.-W./Gerndt, H. (edd.): Erinnern und Vergessen. Göttingen 1991, 197⫺207, hier 198; id.: Vergleichen ⫺ „Eine Jämmerlichkeit alles Irdischen“? In: Bayer. Jb. für Vk. (2005) 13⫺19. ⫺ 16 id. 1991 (wie not. 15). ⫺ 17 id.: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiogr. Unters.en. Ffm./N. Y. 1983, 72⫺82. ⫺ 18 id. (wie not. 11) 189⫺197; cf. Bönisch-Brednich (wie not. 10) 272⫺313. ⫺ 19 Gerndt, H.: Vergleichende Vk. Zur Bedeutung des V.s in der volkskundlichen Methodik. In: ZfVk. 68 (1972) 179⫺195; id. (wie not. 2) 168⫺193.
München
Helge Gerndt
Vergleichende Erzählforschung J Geographisch-historische Methode, J Komparatistik, J Philologische Methode
Verhaltensforschung (Ethologie) ist dem engeren wiss. Wortsinn nach mit dem Begriff Verhaltensbiologie synonym. Sie untersucht die biologisch selektierten Grundlagen tierischen und menschlichen Verhaltens. Einem erweiterten Verständnis nach lassen sich neben dem Behaviorismus auch ethnol., soziol.1, psychol. oder hist.2 Beobachtungen des menschlichen Verhaltens unter dem Terminus V. subsumieren. Hierbei stehen die Phänomenkomplexe der J Performanz und der sozialen J Interaktion im Vordergrund. Subdisziplin der (vergleichenden) V. ist die Humanethologie, die den Menschen als biologische Spezies in den Blick nimmt und die ererbten Verhaltensprägungen und -dispositionen sowie die dadurch erfüllten evolutionären Funktionen erforscht3. Das Erkenntnisinteresse zielt dabei auf die physischen, psychischen, moralischen, ästhetischen und sozialen J Universalien auf phylogenetischer und ontogenetischer Ebene. Aus humanethologischer Sicht umgreifen diese Universalien alle Felder des menschlichen Daseins und sind in sämtlichen Bereichen des Alltagslebens präsent. Zu nennen sind etwa die räumlich-territorialen und zeitlich-rhythmisierten Ordnungen des Verhaltens sowie das Agieren in kommunikativen, sozialen und ökonomischen Austauschbeziehungen. Die Hu-
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manethologie bemüht sich um generalisierbare, essentialistische Antworten und steht einer dezidiert kulturalistischen und konstruktivistischen Begründung des menschlichen Handelns kritisch gegenüber. Dabei geht es um die unterschiedlichsten Fragen, wie etwa die nach den Wurzeln des Revierverhaltens, nach den evolutionären Ursachen von J Gut und Böse4, nach dem J Inzestverbot oder der Partnerwahl5, der biologischen Logik der J Lüge6 oder nach der Begründung von Solidarität und Altruismus7. Einige Forscher bemühen sich, zwischen dem ethologischen und dem kulturanthropol. Ansatz zu vermitteln. Nach ihrem Verständnis geht es darum, daß in der Tat alle Menschen die gleichen grundlegenden Lebensfragen und Probleme haben, daß unterschiedliche Kulturen aber jeweils andere Antworten geben bzw. bevorzugen8. Da in populären Erzählgattungen Menschen (oder deren tierische Stellvertreter) agieren, miteinander kommunizieren, sich in sozialen Beziehungen und in Umwelten sowie im Rahmen moralischer (gut/böse) und ästhetischer (schön/häßlich) Kategorien bewegen, ergibt sich auf den ersten Blick ein breites Feld an thematischen Überschneidungen zwischen V. und Volkserzählung. Insofern die Erzählforschung im Gegensatz zur Humanethologie jedoch auf die kulturellen, sozialen und hist. Formungen, d. h. auf Differenzen und Spezifikationen von Erzählstoffen zielt, stellt sich die Frage, inwiefern sich narratologische und ethologische Erkenntnisse wechselseitig zu befruchten vermögen. Der Umstand etwa, daß eine Stiefmutter keine eigenen Gene mit ihrer Stieftochter teilt, ist für das kulturwiss. Verständnis der komplexen Thematik der innerfamiliären Beziehungen in Volkserzählungen bestenfalls von marginalem Gewinn. Dennoch ist unstrittig, daß literar. und volksliterar. Erzählkonstellationen regelmäßig auf anthropol. Grundmuster rekurrieren (J Anthropol. Theorie, J Elementargedanke). So geht I.-M. J Greverus in ihrer literaturanthropol. Studie zum Heimatphänomen von der ontologischen und bereits in der Tierwelt elementar gegebenen Verhaltensdimension der Territorialität aus und verbindet diese mit dem phänomenologisch geprägten Lebensweltkonzept9. Derartige Rückgriffe auf ethologische Befunde sei-
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tens der Erzählforschung haben sich in der Folge allerdings nicht etablieren können. Auch für Humanethologen stellt die Unters. von Erzählstoffen und -motiven eine seltene Ausnahme dar10. Wenn z. B. mittels des Erzählens in der Gruppe Rangordnungen markiert oder ausgehandelt werden, sind es neben den Inhalten und Sujets die performativen Akte selbst, die sich für humanethologische Studien eignen könnten. V. Heeschen postuliert die Existenz eines Erzählinstinkts und gibt damit einen Hinweis auf die evolutionären Grundlagen des Erzählverhaltens11. Die hist. V. überträgt das in der Evolutionsbiologie tragende Modell einer Merkmalsselektion, die durch Anlage-Umwelt-Interaktionen generiert wird, in den Bereich der Geschichte. Nicht die angeborenen, sondern die sozial erworbenen und kulturell überlieferten Verhaltensprogrammierungen stehen hier im Mittelpunkt. Die Gesamtheit der zu einer bestimmten Zeit und bei einer bestimmten Gruppe existenten Verhaltensprägungen stellt demnach das mentale und psychische Inventar einer Gesellschaft dar. A. Nitschke12 fokussiert die hist. V. auf die Unters. der Motivierungen und Konsequenzen von konkreten Handlungen hist. Akteure13. Mit Hilfe einer spekulativen Kombinatorik konstruiert er Kontinuitäten bis ins Jungpaläolithikum hinein (J Altersbestimmung des Märchens). Dem Märchen von der Unke (KHM 105, AaTh/ ATU 285, 285 A: J Kind und Schlange) etwa schreibt er durch Vergleich mit Tierdarstellungen von Lascaux und Altamira einen steinzeitlichen Ursprung zu14. Auf der Grundlage nicht weniger gewagter Analogieschlüsse sieht er z. B. im Aschenputtelmärchen (KHM 21, AaTh/ATU 510 C. cf. J Cinderella) die Gesellschaftsverhältnisse des nacheiszeitlichen Mittelmeerraumes konserviert15. Höchst problematisch ist hier nicht nur die fiktive Kontinuitätskonstruktion, sondern auch die klischeehafte Nationalcharakterologie, die dieses methodische Verfahren hervorbringt. In der Erzählforschung wurde dieser Ansatz der hist. V. als wiss. unseriös abgelehnt16. 1
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Verirren
Goffman, E.: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Ffm. 62002. ⫺ 2 Nitschke, A.: Hist. Verhaltensforschung. Analysen gesellschaftlicher Verhaltensweisen. Stg. 1981; Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation 1⫺2. Ffm.
1998. ⫺ 3 Eibl-Eibesfeldt, I.: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. Mü. 21986, 22. ⫺ 4 Lorenz, K.: Das sog. Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Mü. 201995; Wuketits, F.: Warum uns das Böse fasziniert. Die Natur des Bösen und die Illusion der Moral. Stg. 2000. ⫺ 5 Bischof, N.: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. Mü. 52001. ⫺ 6 Sommer, V.: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch. Mü. 21993. ⫺ 7 Sober, E./Wilson, D. S.: Unto Others. The Evolution and Psychology of Unselfish Behaviour. Cambr. 42003; Voland, E.: Eigennutz und Solidarität. Das konstruktive Potenzial biologisch evolvierter Kooperationsstrategien im Globalisierungsprozess. In: Zs. für internat. Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik (2003) 15⫺20. ⫺ 8 cf. Hall, E. T.: The Silent Language. Garden City 1959; Kluckhohn, F. R./Strodtbeck, F. L.: Variations in Value Orientations. N. Y. 1961. ⫺ 9 Greverus, I.-M.: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropol. Versuch zum Heimatphänomen. Ffm. 1972. ⫺ 10 Bischof, N.: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. Mü./Zürich 32004. ⫺ 11 Heeschen, V.: Die Angst des Linguisten vor der Humanethologie oder Mythen und Märchen in der Biologie des menschlichen Verhaltens. In: Sütterlin, C./Salter, F. K. (edd.): Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Zu Person und Werk. Ffm. u. a. 2001, 144⫺153. ⫺ 12 Nitschke (wie not. 2). ⫺ 13 id.: Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen 1⫺2. Stg.-Bad Cannstatt 1976/77. ⫺ 14 ibid. t. 1, 31⫺35. ⫺ 15 Nitschke, A.: Aschenputtel aus der Sicht der hist. Verhaltensforschung. In: Brackert, H. (ed.): Und wenn sie nicht gestorben sind … Perspektiven auf das Märchen. Ffm. 1980, 71⫺88. ⫺ 16 Rez. H. Gerndt in ZfVk. 76 (1980) 148. 22
Münster
Florian Greßhake Andreas Hartmann
Verirren 1. Phänomen und Problem ⫺ 2. Hist. Verschiebungen ⫺ 3. Ursachen ⫺ 4. Hilfs- und Rettungsmittel
1 . P hä no me n u nd Pr ob le m. Die ,Fehlleistung‘ oder ,Fehlhandlung‘1 des V.s beruht auf einer Irritation des Orientierungssinns und der Wahrnehmung im Zusammenhang mit zielgerichteter räumlicher Bewegung, also auf einer Irritation des Ortssinns und (meist damit verbunden) des Zeitsinns. 1785⫺90 spricht der ,Erfahrungsseelenkundler‘2 Karl Philipp Moritz von „verrückten [i.e. ver-rückten] Ortsund Zeitideen“3. Über die Funktionsweise des
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Verirren
menschlichen und tierischen Orientierungssinns scheint wenig bekannt zu sein: Zugeigenschaften von Fischschwärmen, Zugvögeln und Brieftauben dürften am intensivsten erforscht sein, aber schon die zoologischen Mitteilungen über die Orientierung der dem Menschen genetisch verhältnismäßig nahestehenden Haustiere verlieren sich ins Sagenhafte4. Dabei ist das Phänomen des V.s seit jeher dicht an der alltäglichen Realität. Jeder kennt Geschichten von Menschen, die sich im Wald, in fremden Treppenhäusern, Kauf- und Krankenhäusern, großstädtischen Bahnhöfen, UBahn-Stationen oder mit dem Auto auf der Straße (bis hin zur lebensgefährlichen Situation des ,Geister-‘ oder ,Falschfahrers‘)5 verirren6. Auch in Sagen und Märchen begegnet das V. häufig (cf. J Raumvorstellung, J Richtungssymbolik). Wie exakt Alltagsrealität gespiegelt wird, zeigen nicht zuletzt landschaftlich gebundene Erzählungen, in Küstenlandschaften etwa Strandungsgeschichten (das Schiff wird ,verirren gemacht‘)7, in Berggebieten Geschichten vom Versteigen (z. B. von Kaiser Maximilian in der Martinswand)8. Die emotionale Bedeutung des V.s könnte nicht unterschiedlicher dargestellt sein, und die dem V. jeweils zugeordneten Gefühle und Empfindungen lassen sich den klassischen Erzählgenres nicht immer eindeutig zuordnen. In sagenartigen Erzählungen steht häufig die Erfahrung des Unheimlichen, des namenlosen Schreckens im Vordergrund. Dies betrifft bes. Ber.e, in denen das „Moment der unbeabsichtigten Wiederholung“, „welches das sonst so Harmlose unheimlich macht“9, bis auf die extreme Figur ,die ganze Nacht auf der Stelle im Kreis gehen und dabei ein Loch in die Erde trampeln‘ verdichtet sein kann10. Diese pessimistische Fassung wird häufiger durch eine optimistische ergänzt oder ersetzt, welche mit einer glücklichen J Rettung endet. Rettungsgeschichten sind insofern der Normalfall, als die Erzählungen in der Regel einen Erzähler voraussetzen, der seinem bösen Schicksal entronnen ist. Sie sind gelegentlich zu einem ,glücklichen V.‘ gesteigert11. Doch darf diese Variation nicht mit dem vor allem im Märchen erscheinenden Zug verwechselt werden, demzufolge das V. in ein zwar ungesuchtes, aber letztlich doch ertragreiches Ziel führt ⫺ umstandslos und bewußt-
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seinslos. Dabei wird zwar vom V. gesprochen, das Problem ist aber nicht thematisiert; denn die dem Nacht- oder Schlafwandeln angedichtete traumtänzerische Sicherheit des Zielfindens, wie sie dem Märchen eigentümlich ist (z. B. AaTh/ATU 425, 425 A: cf. J Amor und Psyche; AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder; AaTh/ATU 552: J Tierschwäger; AaTh/ATU 709: J Schneewittchen; AaTh/ ATU 410: J Schlafende Schönheit), ist doch gerade das Gegenteil des gewöhnlichen, des unheimlichen und verstörenden V.s. Ohnehin sind neben Ambivalenzen auch Überschneidungen mit angrenzenden Begriffen zu bedenken. Denn es gibt zahlreiche andere Irritationen der Wahrnehmung im Zusammenhang mit zielgerichteter räumlicher Bewegung: etwa Verwandlung oder J Verschwinden eines Geistes auf dem J Weg vor dem Wanderer12; Beschwerung des eigenen Körpers, des Zugtiers oder Fahrzeugs durch Aufhocker13; Festgebanntsein (J Festbannen)14; Wegversperrung durch Geister15; unerwartetes Zu-Fall-gebracht-Werden16; Empfindung von Schlägen oder schrecklichem Lärm17; Zwang, ungewollt einen Weg gehen zu müssen (Folgezwang; ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln)18; Entführung durch die J Wilde Jagd19; J Entrückung; J Luftreisen mit Landung an ungewolltem Ort etc.20 2 . H is t. Ve rs ch ie bu ng en. Schon in klassischen Erzählungen wie der J Odyssee und der Äneis (J Äneas) wurde das Motiv des V.s phantasievoll ausgestaltet, es begegnet aber auch in J Sindbad der Seefahrer und J Brandans Seefahrt. V. ist also ein Problem aller Zeiten, aber es hat insofern seine Geschichte, als sich der Umgang mit dem Problem verändert. In der Vormoderne gilt das V. als alltägliches Ereignis und als Zeichen der Normalität ⫺ darüber darf auch nicht die unterschiedliche Einschätzung in Märchen (gewissermaßen gelassener Umgang) und sagenhaften Erzählungen (eher panischer Umgang, etwa in J Schreckmärchen für Kinder oder Warnsagen) hinwegtäuschen. Erst in der Moderne wird das V. peinlich, weil es mit seinem verschwenderischen Zeitbedarf sowohl neuen Vorstellungen von Zeitökonomie (,Zeit ist Geld‘), die in protestant. Territorien durch die kulturellen Ten-
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Verirren
denzen zum ,Auskaufen der Zeit‘ schon seit dem 16. Jh. vorbereitet wurden21, als auch der neuen mythischen Bewertung der knappen J Zeit als ,Heilserwartungsrest‘ widerspricht22. Vor allem aber kränkt die Erfahrung des V.s den Wahn einer zunehmenden Omnipotenz des Menschen. Die Lit. an der Wende vom 18. zum 19. Jh. mit ihrem gesteigerten Interesse an den Erfahrungen der J Reise reagiert auf diesen kulturellen Umschwung mit verstärkter Reflexion auf Modalitäten und mögliche subjektive Ursachen des V.s, die erst mit zeitlicher Verzögerung auch das alltägliche Erzählen erreicht. Beispiele sind Geschichten über V. mit Straßen- oder Eisenbahn (die einen unfehlbar ans Ziel bringen müßten ⫺ vorausgesetzt, man ist in den richtigen Zug eingestiegen)23 und mit dem Auto (ein V., das wegen organisatorischer und technischer Vorkehrungen eigentlich obsolet sein sollte: Autobahn mit Einbahnregelung; Wegweisersystem; Straßenkarten; Navigationsgerät)24. 3 . U rs ac he n. Zumal in Sagen erscheint das V. fast immer als Folge einer objektiven Einwirkung von außen: Durch bestimmte Pflanzen (Irrkraut [cf. J Farn], Irrwurzel), Steine (Irrstein), Wegstellen oder Gespenster (Wegespuk, Irrwische, Irrlichter) werden Menschen ,ver-führt‘, d. h. ,verirren gemacht‘. Das Ausgesetztwerden (J Aussetzung) ist nur eine der Vernunft besser nachvollziehbare Ursache. Erst spät erscheint im populären Erzählen die Vorstellung vom Irrgang als einer Wirkung unbekannter Vorgänge in der eigenen Psyche: Das V. gilt dann nicht mehr als Indiz für objektive (auch organische) Kräfte, sondern für subjektive seelische Wirkmächte (die Menschen selbst verirren sich). Erzählungen von der ,blinden Stunde‘25, aber auch vom V. im eigenen Haus, das als Vorbote baldigen Todes galt, mögen Ahnungen solcher Zusammenhänge mit dem Unbewußten gewesen sein26. 4 . H il fs - u nd Re tt un gs mi tt el. So wie Erzählungen von Zuständen wissen, welche die Orientierung erschweren (Nebel, Nacht, tiefer Wald, die Fremde, Blindheit, in Sagen oft Trunkenheit), kennen sie auch Hilfs- und Rettungsmittel in unterschiedlichster Form. Verlobung an einen Heiligen und Gelübde einer Wallfahrt begegnen in kathol., Gebete
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auch in protestant. Frömmigkeit. Daß Irrlichter oder Feuermänner sowohl in die Irre führen als auch den richtigen Weg weisen können, hängt damit zusammen, daß sie als umgehende unerlöste Seelen (J Wiedergänger, J Fegefeuer, Kap. 3.4) aufgefaßt werden: Einmal wollen sie sich rächen und schaden27, ein andermal zeigen sie sich dankbar für Belohnung und für freundliche, erlösende Behandlung (cf. auch J Rübezahl)28. Anweisungen, die Schuhe und Kleider zu wechseln oder verkehrt anzuziehen29, verdanken sich wohl vorzugsweise der Vorstellung, man könne sich unkenntlich und dadurch unangreifbar machen. Sowohl numinose als auch von der realen Erfahrung gespeiste Ideen liegen den zahlreichen Hinweisen auf Rettung durch das morgendliche J Glockenläuten zugrunde. Im Märchen (das die eigentümliche Fähigkeit voraussetzt, ,instinktiv‘ den richtigen Weg zu finden) wird die Anweisung erteilt, immer ,geradeaus‘ zu gehen (z. B. KHM 57, AaTh/ ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter), den Hut zu werfen (z. B. KHM 111, AaTh/ ATU 304: Der gelernte J Jäger) oder einen Pfeil abzuschießen und ihm dann zu folgen (z. B. AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, AaTh/ATU 402: J Maus als Braut, AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt). In AaTh/ ATU 441: J Hans mein Igel hilft der Protagonist drei im Wald verirrten Königen. Märchen und Ursprungslegenden von Wallfahrten kennen vielfach J wegweisende Tiere. Ariadne ermöglicht es J Theseus, mittels eines Garnknäuels den Weg aus dem Labyrinth des Minotaurus zu finden (AaTh/ATU 874*: J Ariadne-Faden). Auch in Schatzsagen taucht dieses Motiv auf, wenn ein Schatzsucher den Weg aus einer Höhle zurückfinden will30. Mitunter werden die Protagonisten angewiesen, einem Knäuel zu folgen (KHM 49, AaTh/ ATU 451). Fast ausschließlich im Märchen erscheint das Legen einer Spur aus Hirse, Linsen, Erbsen, Bohnen, Brotkrümeln oder Steinen, die den Rückweg zeigen soll (J Wegmarkierung), dann aber nicht wiedergefunden werden kann (cf. AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel). Im Wald verschaffen sich Menschen und Tiere einen Überblick, indem sie auf einen Baum klettern (z. B. AaTh/ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft). Landkarten, die zu
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Verjüngung
den neuzeitlichen Orientierungshilfen gehören, scheinen nur vereinzelt erwähnt zu sein (KHM 93, AaTh/ATU 400 ⫹ AaTh/ATU 401: J Prinzessin als Hirschkuh ⫹ AaTh/ATU 518: J Streit um Zaubergegenstände). In sagenartigen Geschichten häufig anzutreffende indirekte Empfehlungen, das Licht des Morgens abzuwarten, sich auszuruhen, sich zu besinnen und dann die Wegsuche erneut zu beginnen31, zeugen nicht nur von der Einsicht in den Wert der Alltagserfahrung, sondern verweisen auch auf die Ahnung, daß das V. nicht zuletzt eine Produktion des Unbewußten sein könnte. 1
Freud, S.: Zur Psychopathologie des Alltagslebens [1904]. In: id.: G. W. 4. ed. A. Freud u. a. Ffm. 4 1964. ⫺ 2 cf. Moritz, K. P.: Aussichten zu einer Experimentalseelenkunde. B. 1782; Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte 1⫺10. ed. K. P. Moritz/K. F. Pockels/S. Maimon. B. 1783⫺93. ⫺ 3 Moritz, K. P.: Anton Reiser. ed. W. Martens. Stg. 1986, 373. ⫺ 4 Merkel, F. W.: Orientierung im Tierreich. Stg./N. Y. 1980, 230⫺232. ⫺ 5 Scharfe, M.: Wegzeiger. Zur Kulturgeschichte des V.s und Wegfindens. Marburg 1998, 39 sq. ⫺ 6 z. B. Brednich, R. W.: Pinguine in Rückenlage. Mü. 2004, num. 16. ⫺ 7 Peuckert, W.-E.: Dt. Sagen 1⫺2. B. 1961, 171 sq. ⫺ 8 Prem, S. M.: Die Legende vom Kaiser Max auf der Martinswand. In: Zs. des Dt. und Oesterreich. Alpenvereins 21 (1890) 182⫺192. ⫺ 9 Freud, S.: Das Unheimliche [1919]. In: id.: G. W. 12. ed. A. Freud u. a. Ffm 31966, 227⫺ 268, hier 250. ⫺ 10 z. B. Mackensen, L.: Sagen der Deutschen im Wartheland. Posen 1943, num. 341; Endrös, H./Weitnauer, A.: Allgäuer Sagen. Kempten 2 1954, 229. ⫺ 11 z. B. Reichard, H. A.: Malerische Reise durch einen großen Theil der Schweiz vor und nach der Revolution. Jena 1805, 356 („das Ohngefehr einer glücklichen Verirrung“); Birlinger, A./Buck, M. R.: Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Fbg 1861, num. 6 a (Kind verirrt sich im Paradies). ⫺ 12 ibid., num. 87. ⫺ 13 Röhrich, R.: Homo homini daemon. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 346⫺361. ⫺ 14 z. B. Böck, E.: Sagen aus der Hallertau. Mainburg 1975, 14. ⫺ 15 Peuckert (wie not. 7) 2, num. 289. ⫺ 16 Scharfe, M.: Stolpern und Stürzen. In: Naumann, P. (ed.): Sturz in den Himmel. Kulturwiss. Betrachtungen zur Karikatur der Moderne. Marburg 2002, 49⫺63; Müller, J.: Sagen aus Uri 2. Basel 1929, num. 770. ⫺ 17 z. B. Cammann, A./Karasek, A.: Donauschwaben erzählen 2. Marburg 1977, 151; Peuckert (wie not. 7) 2, num. 325. ⫺ 18 z. B. Böck (wie not. 14) 11⫺13. ⫺ 19 Isler, G.: Die Sagen vom Wilden Jäger und von der Wilden Jagd im Alpengebiet. In: Jungiana A 6 (1996) 109⫺148. ⫺ 20 z. B. Endrös/Weitnauer (wie not. 10) 469. ⫺
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Scharfe, M.: Über die Religion. Köln/Weimar/ Wien 2004, 101. ⫺ 22 Blumenberg, H.: Lebenszeit und Weltzeit. Ffm. 1986, 243⫺248. ⫺ 23 Freud (wie not. 1) 252⫺255; Klintberg, B. af: Die Ratte in der Pizza. Kiel 21990, num. 33; Brednich (wie not. 6) num. 24. ⫺ 24 Scharfe (wie not. 5); Brednich (wie not. 6) num. 48, 50. ⫺ 25 Sartori, P.: Irregehen. In: Zs. des Vereins für rhein. und westfäl. Vk. 27 (1930) 86⫺88. ⫺ 26 ibid., 87 sq. ⫺ 27 Veckenstedt, E.: Wend. Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Graz 1880, 207 sq., 212 sq. ⫺ 28 z. B. Böck (wie not. 14); cf. Veckenstedt (wie not. 27) 56. ⫺ 29 Sartori (wie not. 25) 87; Wuttke, A.: Der dt. Volksaberglaube der Gegenwart. B. 21869, 383. ⫺ 30 cf. z. B. Endrös/Weitnauer (wie not. 10) 61 sq., 284 sq., 536. ⫺ 31 Sartori (wie not. 25) 87.
Marburg
Martin Scharfe
Verjüngung. Dem Altern Einhalt gebieten oder gar die Lebensuhr zurückdrehen zu können, gehört zu den ältesten Wunschvorstellungen der Menschen (J Altern; J Utopie, J Utopia)1. In den zahlreichen Erzählungen, in denen das Motiv der V. vorkommt, können an seine Stelle auch andere Vorstellungen um die Erneuerung des menschlichen Lebens treten, z. B. der J Wunsch nach jugendlicher Schönheit, Genesung von Krankheit, Wiedergewinnung weiblicher Unschuld oder Überwindung des Todes (J Wiederbelebung, J Unsterblichkeit). Im Alten Orient waren unter vielen Völkern Vorstellungen von der Existenz eines an entlegenem Ort befindlichen J Lebens- oder Paradiesbaumes verbreitet, dem lebenserhaltende und verjüngende Kräfte zugeschrieben wurden2. Die hier zu behandelnde Auswahl der wichtigsten Erzählkomplexe zum Thema V. folgt im wesentlichen einer Gliederung nach dem vermutlichen Alter der zugrundeliegenden Vorstellungen darüber, wie die V. erreicht werden kann. Ein gemeinsames Charakteristikum vieler Erzählungen ist das Motiv, daß die dem Menschen verliehene kostbare Gabe der V. durch Nachlässigkeit wieder verspielt wird. Das Motiv der V. durch ein J Lebenskraut ist bereits im J Gilgamesch-Epos bezeugt. Darin wird erzählt, daß Gilgamesch von Utnapisˇtim die Lebenspflanze ,Jung wird der Mensch als Greis‘ (Mot. H 1333.2.1) gewinnt; sie wird von einer J Schlange gestohlen, die
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Verjüngung
sich häutet und dadurch an seiner Stelle die Gabe der V. erringt (Mot. D 1889.6). Für Schlangen ist seither die Verbindung mit der Fähigkeit der V. zentral: Die Vorstellung, daß die Schlangen in den Besitz des von Gott den Menschen zugedachten V.smittels gekommen seien, findet sich auch im Abschnitt über Schlangenbisse in der Abhdlg Theriaka des griech. Arztes Nikandros (2. Jh. a. Chr. n.): Einer in den Text eingeschalteten Erzählung zufolge haben die Götter den Sterblichen die Gabe der V. geschenkt. Aber die Menschen waren zu faul, das kostbare Gut selbst zu tragen, banden es einem Esel auf den Rücken, der es einer Schlange um den Preis eines kühlen Trunks überließ. Seitdem ist die Schlange durch Häuten im Besitz der ewigen Jugend, während die Menschen vom Alter geplagt werden3. Ma. Vorstellungen zufolge waren manche J Alchemisten im Besitz geheimer Wundermittel, mit denen sie V. und Langlebigkeit erzielen konnten4. In neuzeitlichen Sagen vom sog. Alterswunder5 sind Berichte über langlebige Schwarzkünstler erhalten, so z. B. vom Franzosen Nicolas Flamel (geb. ca 1330), der noch gegen 1700 in Indien gesichtet worden sein soll6. Auch J Freimaurern wurde ein legendäres Alter zugeschrieben, etwa dem Grafen Saint Germain (gest. 1780). Er soll in der Herstellung eines Tees bewandert gewesen sein, welcher dem Alter die Kraft und die Schönheit der Jugend zurückgab, und in der Zubereitung eines Balsams, der siebzigjährigen Frauen das Aussehen einer Siebzehnjährigen verlieh; eine alte Dame habe zuviel davon genommen und sei in einen Embryo zurückverwandelt worden. Der Kutscher jenes Grafen soll in Dresden auf die Frage, ob sein Herr wirklich 400 Jahre alt sei, erwidert haben, er wisse es nicht genau, aber seit 130 Jahren habe er sich nicht im geringsten verändert7. In J Goethes J Faust verabreicht eine Hexe dem Teufelsbündner einen aphrodisierenden V.strank, der ihn „Helenen in jedem Weibe“ sehen läßt8. Im Volksbuch vom Zauberer J Vergil mißlingt dessen V.9 Auch der Motivkomplex der V. durch J Zerstückelung, Kochen, Reihung der J Knochen und abschließende Wiederbelebung (Mot. D 1885) ist seit der Antike bezeugt (J Pelops). Von der griech. Zauberin J Medea ist überliefert, sie habe ihren Schwiegervater
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Äson verjüngt, indem sie ihn in Stücke schnitt und kochte. Darauf habe sie die Töchter des Pelias überredet, diese Prozedur bei ihrem Vater anzuwenden, der Versuch der Wiederholung mißlang allerdings. Das hier auftretende Motiv der fatalen J Imitation ist auch Bestandteil vieler jüngerer Überlieferungen zum Thema10. Im MA. wird von J Paracelsus erzählt, er habe sich in der Hoffnung auf V. zerstückeln lassen und sei durch einen Fehler bei der Prozedur in einen Embryo verwandelt worden11. Eine Spur des Zerstückelungsmythos läßt sich noch in einem rezenten estn. Schwank zu J Petrus als fatalem Nachahmer von J Christus feststellen12. Die Vorstellung, daß ein Mensch zerstückelt und gekocht oder gebraten werden kann, um danach verjüngt aus dem J Feuer wiederaufzuerstehen, erinnert an schamanistische Überlieferungen (J Schamanismus), wie sie in Nordasien weit verbreitet sind. Die Initianden erleiden während der Vorbereitung auf ihre spätere Funktion die sog. Schamanenkrankheit13; in ihren Fieberphantasien erleben sie, wie sie von den Ahnengeistern zerstückelt, aufgegessen und aus den Knochen wiederbelebt werden. Bei der V. im Jungbrunnen (Mot. D 1338.1.1) geht es im Gegensatz zu den Überlieferungen vom J Lebenswasser, das Unsterblichkeit verleiht14, um ein legendäres J Bad, das den Menschen wieder jung werden läßt15. Dieses Motiv wurzelt im MA. und ist zuerst bezeugt im Brief des J Priesters Johannes, der eine wohlriechende Quelle am Olymp beschreibt, die alte Menschen nach dreimaligem Trinken in ihr 32. Lebensjahr zurückversetzt und ihnen die Auferstehung am Jüngsten Tag sichert. Durch Übertragung des Briefes in die Volkssprachen hat die Vorstellung vom Jungbrunnen Eingang in die mhd. Lit. gefunden. Sie wird u. a. im J Parzival des Wolfram von Eschenbach, im Jüngeren Titurel und im Wolfdietrich erwähnt16; Hans J Sachs hat sie 1548 zu einem Schwankgedicht ausgestaltet17. In der frz. Lit. verschwistert sich die Vorstellung vom Jungbrunnen schon im 13. Jh. mit der vom Pays de Coquaigne (AaTh/ATU 1930: J Schlaraffenland). Wie schon im ma. J Alexanderroman liegt der Jungbrunnen bei Jean de J Mandeville im fernen Indien18. Über die ma. Lit. rezipiert, entstehen am frz. Hof zahlreiche
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Verjüngung
Miniaturen und Elfenbeinschnitzereien zu dieser Vorstellung, teilweise mit erotischen Konnotationen. Von hier aus ist das Bildmotiv auch in die dt. Kunst übernommen worden19. Auch im Märchen hat die Idee des verjüngenden Bades Niederschlag gefunden: In AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue geht der Held aus dem Bad in einer magisch gekühlten siedenden Flüssigkeit, oft Stutenmilch (Mot. D 1338.4), verjüngt hervor, während der König darin umkommt. Da die Heilkraft von Stutenmilch allg. anerkannt war, ist in diesem Fall offensichtlich an eine Widerspiegelung realer Heilpraxis zu denken20. Die Idee von der verjüngenden Kraft des Quellwassers findet sich auch im dt. Volkslied21. Nach einer weiteren Vorstellung, die ebenfalls alt und in zahlreichen Volkserzählungen anzutreffen ist, können Lebewesen durch Verbrennen einem V.sprozeß unterworfen werden (Mot. D 1886)22. Auf spätantike Wurzeln geht der Mythos von der V. des Vogels J Phönix im Feuer zurück23. In ganz Europa findet sich das Motiv von der V. im Feuer vor allem in dem Legendenschwank AaTh/ATU 753: J Christus und der Schmied. Dort wird erzählt, daß Christus (ein Heiliger, der Teufel) einen alten Mann jung schmiedet. Ein Begleiter will die Prozedur an einer weiblichen Person wiederholen. Dies mißlingt allerdings, so daß Christus den Schaden wiedergutmachen muß24. Schon in den frühneuzeitlichen Belegen der Erzählung bei Hans Sachs, Hans Folz und Johann J Fischart ist der Schwank mit der Ätiologie zur Entstehung der J Affen verbunden. Das Jungschmieden im Glutofen hat auch in Flugblättern des 16. Jh.s seinen Niederschlag gefunden25. In AaTh/ATU 877: Die geschundene J Alte wird eine alte Frau durch gewaltsames Häuten (J Schinden, Schinder) verjüngt (Mot. D 1889.6). In dem schon bei Basile (1,10) bezeugten Erzähltyp erklärt eine durch die Hilfe von Feen wieder jung gewordene Frau ihrer ebenfalls auf V. bedachten Schwester, sie habe ihr jugendliches Alter durch Abziehen der Haut erreicht, und empfiehlt ihr einen Besuch beim Barbier. Durch die Prozedur kommt die Schwester ums Leben. Die V. durch Zermahlen alter Frauen und Männer (J Altweibermühle)26 besitzt keinen glaubensmäßigen Hintergrund mehr, ist als
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Thema hauptsächlich in der populären Druckgraphik beheimatet und gehört ebenso wie die Motive vom Jungglühen und Schinden in den jüngeren Bereich der humoristischen Gestaltung des V.sgedankens. Wenn in der modernen Welt von V. die Rede ist, dann denkt man primär an Schönheitschirurgen, Kuraufenthalte oder Hormonpräparate27. Selbst in diesem Umkreis spielt noch immer das Motiv der Übertreibung mit fatalem Ausgang eine Rolle, so z. B. in der modernen Sage von der Frau im Sonnenstudio, die durch zu häufige Anwendung ihre Eingeweide garkocht28. 1
Hejlik, A.: Ein Menschheitstraum. Das V.smotiv im Denken, Dichten und Leben der Völker. Diss. (masch.) Prag 1933; Gobyn, L.: V.smotive im Märchen und in der volkstümlichen Bilderkunst. In: Heindrichs, U. und H.-A. (edd.): Die Zeit im Märchen. Kassel 1989, 116⫺141, 179⫺190. ⫺ 2 Wünsche, A.: Die Sagen vom Lebensbaum und Lebenswasser. Altoriental. Mythen. Lpz. 1905, 1⫺14. ⫺ 3 Gow, A. S. F./Scholfield, A. F. (edd.): Nicander. The Poems and Poetical Fragments. Cambr. 1953, 51 sq., V. 343⫺358. ⫺ 4 HDA 8 (1936⫺37) 1671. ⫺ 5 HdS 1 (1961⫺63) 465⫺467. ⫺ 6 Lucas, P.: Voyage dans la Gre`ce, l’Asie Mineure, la Mace´doine et l’Afrique 1. Amst. 1714, 85⫺89; cf. Schmieder, K. C.: Geschichte der Alchemie. Halle 1832, 90. ⫺ 7 Kopp, H.: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit 2. Heidelberg 1886, 20. ⫺ 8 Goethe, J. W. von: Werke 1,7,1. ed. A. Schöne. Ffm. 1994, 101⫺111. ⫺ 9 HDA 8, 1671 sq. ⫺ 10 cf. Radermacher, L.: Mythos und Sage bei den Griechen. Brünn 21943, 332, not. 587. ⫺ 11 Müller, F.: Siebenbürg. Sagen. Wien/Hermannstadt 1885, num. 173. ⫺ 12 Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 157. ⫺ 13 Findeisen, H.: Die ,Schamanenkrankheit‘ als Initiation. Augsburg 1957. ⫺ 14 Hejlik (wie not. 1) 95⫺103. ⫺ 15 Hopkins, E. W.: The Fountain of Youth. In: J. of the American Oriental Soc. 26 (1905) 1⫺67. ⫺ 16 Rapp, A.: Der Jungbrunnen in Lit. und bildender Kunst des MA.s. (Diss.) Zürich 1976. ⫺ 17 Sachs, H.: Werke 1. ed. E. Goetze. Tübingen 21953, num. 115. ⫺ 18 Mandeville, J. de: Reisen. ed. E. Bremer/K. Ridder. Hildesheim u. a. 1991, 292 sq. ⫺ 19 Döring-Mohr, K.: Die ikonographische Entwicklung des Jungbrunnens und sein inhaltlicher Wandel in der bildenden Kunst des 14. bis 16. Jh.s. Diss. (masch.) Aachen 1999; Bringe´us, N.-A.: Die Kunst wieder jung zu werden. In: Ethnologia Scandinavica (1980) 5⫺30. ⫺ 20 Gobyn (wie not. 1) 136. ⫺ 21 Erk/Böhme 1, num. 429 a; cf. auch Arnim, A. von/ Brentano, C.: Des Knaben Wunderhorn 1. ed. H. Rölleke. Stg. 1979, 200 sq. ⫺ 22 Dh. 2, 154⫺171; Marstrander, C.: Deux Contes irlandais. In: Miscellany to H. Meyer. Halle 1912, 371⫺486; Amades, J.:
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Verkauf
El pecador regenerado y el anciano rejuvenecido. In: Revista del centro de lectura 57 (1957). ⫺ 23 Edsman, C.-M.: Ignis divinus. Le Feu comme moyen de rajeunissement et d’immortalite´. Lund 1949, 178⫺ 203. ⫺ 24 Gobyn (wie not. 1) 131⫺135. ⫺ 25 Meyer, M. de: V. im Glutofen. Altweiber- und Altmännermühle. In: ZfVk. 60 (1964) 161⫺167. ⫺ 26 Gobyn (wie not. 1) 120⫺125; Smith, J. B.: Grinding Old People Young. A Continental Theme in Irish and English Tradition. In: Ulster Folklife 37 (1991) 62⫺ 70. ⫺ 27 Stoff, H.: Ewige Jugend. Konzepte der V. vom späten 19. Jh. bis ins Dritte Reich. Köln/ Weimar/Wien 2004. ⫺ 28 Brunvand, J. H.: Curses! Broiled Again. N. Y./L. 1989, 29⫺36.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Verkauf. Als V. bezeichnet man allg. die oft durch J Vertrag geregelte privat oder gewerblich betriebene Aufgabe eines Besitzanspruchs zugunsten einer ⫺ meist geldwerten ⫺ Gegengabe (J Gold, Geld). Gegenstand des Handels können sowohl materielle als auch immaterielle Güter sowie Dienste sein. Gewinnträchtiges Handeln schafft materiellen Wohlstand; bei V.s- und Tauschgeschäften sind die Agierenden zumindest auf Besitzstandswahrung, häufiger noch auf Vergrößerung ihres materiellen Besitzes bedacht (J Wirtschaft). In vielen narrativen Kontexten begegnen Figuren (Kaufleute, reisende Händler, Krämer und Hausierer), die mit den Gesetzen des Handels vertraut sind. Die Erzählungen aus J Tausendundeine Nacht, einem Werk, das sich zu großen Teilen an ein kaufmännisches Publikum richtet, vermitteln die Werte einer Gesellschaft, für die Handel im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Denkens steht, zu einem solchen Maß, daß das Werk (in Analogie zur Gattung des Fürstenspiegels [J Speculum principum]) als ,Kaufmannsspiegel‘ bezeichnet wurde1. Demgegenüber spielt kaufmännische Tätigkeit etwa in den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm nicht unbedingt eine handlungsbestimmende Rolle. Der reiche oder verarmte J Kaufmann ist oft der Vater der Heldin (AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella; AaTh/ATU 425 C: cf. J Amor und Psyche). V.e werden häufig mit handwerklichen Tätigkeiten und deren Produktion verknüpft. Die Protagonisten (Schmied, Bäcker, Schuster, Schneider, Müller; cf. J Beruf, Berufsschwänke) werden in der Wunder- und Trick-
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welt der Gattung eher als J Handwerker denn als Händler dargestellt. Umgekehrt werden Amtspersonen (J Advokaten, J Richter etc.) als profitgierige Geschäftsleute charakterisiert, die ihre Dienste gewissenlos für teures Geld verkaufen (J Bestechung). Trickster schlüpfen gerne in die Rolle des schlauen Verkäufers, der betrügerische Geschäfte abwickelt (Mot. K 100⫺K 299). In AaTh/ATU 1631: J Pferd geht nicht über Bäume verkauft ein Händler ein Tier, das z. B. hölzerne Brücken nicht betritt. Da listenreich auf den verborgenen Mangel hingewiesen wurde, ist der Vertrag rechtskräftig. Die Erzählung basiert auf dem Verständnis, daß sowohl nach röm. als auch nach islam. Recht ein Kauf rückwirkend ungültig wird, wenn Mängel des Kaufgutes wissentlich verheimlicht wurden2. Ein anderer Gauner entwendet ein Maultier, färbt es und bietet es dem Eigentümer wiederum zum Kauf an (AaTh/ATU 1631 A: Mule Painted and Sold Back to Owner). In AaTh/ATU 1529: J Dieb als Esel entwenden zwei Diebe einen Esel. Dem Besitzer erzählen sie, einer von ihnen sei einst als Strafe für seine Sünden in einen Esel verwandelt worden, habe nun aber seine Menschengestalt zurückerlangt. Der Besitzer findet sich daraufhin mit dem Verlust ab. Ein vorgeblich Studierter verkauft Fieberzettel, die nur einen belanglosen Satz verzeichnen (AaTh/ATU 1845: The Student as Healer; cf. J Amulett). In der fries. Überlieferung tritt J Eulenspiegel als betrügerischer Milchkaufmann und Pferdehändler auf; der Schelm Japik Ingberts agiert als durchtriebener Betrüger, der eine wertlose Kiste in stets neuer Verkleidung so lange kauft und verkauft, bis ein reicher Mann auf den Trick hereinfällt und sie ⫺ in der Überzeugung, sie sei sehr wertvoll ⫺ um den vierfachen Preis erwirbt3. Eulenspiegel macht ein riesiges Geschäft als Schuhverkäufer, der bes. J Schuhe für Tiere (AaTh/ATU 1695) feilhält. Der kluge J Peik (AaTh/ATU 1542) hält einen König zum Narren, indem er ihm Wertloses verkauft. Marktschreier, Zahnbrecher und Quacksalber düpieren eine ganze Käuferschar, indem sie ihr Flohpulver ohne Gebrauchsanweisung verkaufen. Hinterher heißt es, die Käufer müßten die Flöhe fangen, ihnen den Mund aufsperren und ein Körnlein von dem Pulver hineinwerfen (AaTh/ATU 1862 A: J Flohpulver). Der
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Verkauf
Trickster versteht es auch, eine Reihe von Tauschgeschäften mit dem für ihn ertragreichsten Ergebnis enden zu lassen (AaTh/ ATU 170, 1655: Der vorteilhafte J Tausch). Betrügerisches Handeln wird stereotyp Angehörigen gewisser ethnischer Minderheiten (J Zigeuner, Zigeunerin; cf. J Stereotypen, ethnische), allzu große Geschäftstüchtigkeit den J Juden zugeschrieben. Viele Texte warnen davor, in fremden Ländern Geschäfte zu machen. In AaTh/ATU 978: J Stadt der Gauner investiert ein Kaufmann sein ganzes Vermögen in eine Ware, die er in Übersee mit großem Profit zu verkaufen hofft. Dort angekommen, macht ein Listiger ihn aber glauben, seine Ladung sei von geringem Wert, worauf der Kaufmann seine gesamte Handelsware für etwas Wertloses hergibt. Umgekehrt verkaufen Glückspilze ihre unbekannten Tiere oder Werkzeuge in einem fremden Land für teures Geld (AaTh/ATU 1281, 1651: J Katze als unbekanntes Tier; AaTh/ATU 1650: Die drei glücklichen J Brüder). J Sindbad gilt als der Prototyp des skrupellosen, erfolgreichen Händlers. V.sgegenstände sind zunächst profane Güter wie Kleider, Nahrung und Gegenstände, die zum täglichen Leben gebraucht werden. Da Reichtum und Klassenzugehörigkeit sich in einer bäuerlichen Umwelt wohl am deutlichsten im Besitz von Nutztieren spiegeln, setzt der Wunsch nach sozialem Aufstieg oft beim Erwerb bzw. gewinnträchtigen V. eines solchen Tieres an. Dies verdeutlicht auch das umgekehrte Beispiel von AaTh/ATU 1533: J Ochse für fünf Pfennig: Der Protagonist verspricht aus einer großen Notlage heraus, sein wertvolles Tier ohne persönlichen Gewinn zu verkaufen; er bietet es schließlich trickreich zusammen mit einem kleinen Haustier an, für das er einen sehr hohen Preis verlangt. Der arme Bauer aus AaTh/ATU 1535: J Unibos behauptet, durch den V. einer Tierhaut reich geworden zu sein, und animiert so seinen leichtgläubigen Gegenspieler, sein ganzes Vieh zu schlachten, wodurch dieser sich wirtschaftlich ruiniert. In vielen Erzähltypen begegnet der Gang zum Markt als einleitendes Motiv. Als wirtschaftliches Zentrum ist bes. die nahe Stadt auch für den Bauern ein wichtiger Anziehungspunkt. Es liegt dabei auf der Hand, daß
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der weltfremde Mann vom Lande in seiner Begegnung mit den gewieften Marktleuten übers Ohr gehauen wird: So wird ihm eine ihm unbekannte Frucht als Ei eines Nutztieres verkauft, das er zu Hause ausbrüten soll (AaTh/ ATU 1319: J Eselsei ausbrüten). In einer fläm. Var. zu ATU 1339 F: J Speisen unbekannt mißversteht der Bauer die Anweisung der Fischverkäuferin, wie er den Hering zubereiten soll, läßt ihn versehentlich fallen und ißt statt dessen einen Frosch, der auf dem Boden herumhüpft4. Oft wird der Protagonist aber auch als der schwanktypisch unerfahrene junge Held charakterisiert, der zum ersten Mal aus der Geborgenheit seines Zuhauses tritt und in der Welt der Erwachsenen tätig werden soll. Er wird von seiner Mutter oder seinem Vater auf den Markt geschickt, um seine Waren zu verkaufen oder Einkäufe zu tätigen. Schon auf dem Weg dorthin fällt er auf einen törichten Handel herein: Betrüger machen ihn mit einem Trick glauben, seine Ware sei wenig wert (cf. AaTh/ATU 1551: J Wettbetrug), und überreden ihn, sie billig oder sogar umsonst abzugeben (Mot. K 132). Nicht selten löst der einleitende törichte Handel einen Reifungsprozeß aus (cf. AaTh/ATU 1538: J Rache des Betrogenen; AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit). In AaTh/ATU 559: J Mistkäfer läßt der einfältige Sohn sich dreimal dazu verführen, das ihm vom Vater für den Kauf von Kälbern zugesteckte Geld für scheinbar wertlose Tiere (summende Mistkäfer, Tanzmaus, Grille) auszugeben. Der Erwerb dieser Tiere ermöglicht ihm schließlich jedoch seinen sozialen Aufstieg. In AaTh/ATU 900: J König Drosselbart muß die Königstochter als Krämersfrau Töpferwaren und in KHM 111, AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger als Fischersfrau Fische feilbieten. Der Geschirr- bzw. Fischverkauf und schließlich das Vernichten des V.sstands mitsamt der Ware symbolisieren anschaulich die bewußte Demütigung der heiratsunwilligen königlichen Protagonistin. In Zaubermärchen bringen Held oder Heldin zwar auf vielfältige Weise magische Gegenstände in ihren Besitz, erwerben sie aber nur selten durch Kauf oder Tausch. Die treue Heldin verkauft der falschen Braut begehrenswerte Dinge gegen drei Nächte (J Nächte er-
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Verkauf
kauft), welche ihr die Wiedervereinigung mit ihrem verlorenen Gatten ermöglichen (AaTh/ ATU 425 A: cf. Amor und Psyche; AaTh 313 C/ATU 313: cf. J Magische Flucht). In anderen Märchenepisoden werden auf ähnliche Weise der Weg in ein Schloß, Gunstbezeigungen (cf. AaTh/ATU 570: J Hasenhirt; AaTh/ ATU 850: cf. J Rätselprinzessin), eine Stelle als Dienerin im Palast (AaTh/ATU 510 B: cf. Cinderella) erkauft5. Im Schwank werden pseudomagische Gegenstände oder Tiere, die das Gegenstück zu ähnlichen Requisiten im Zaubermärchen bilden, dagegen von zwielichtigen Geschäftemachern für teures Geld an den Mann gebracht: Dazu gehören u. a. eine Tierhaut, die alles weiß oder Ehebruch ans Licht bringt (cf. AaTh/ATU 1535), ein Zaubertopf, der von selber kocht (J Topf), ein Esel, der Gold produziert (cf. AaTh/ATU 1542), und ein Hut, der alles bezahlt (cf. AaTh/ATU 1539). Auch Menschen erscheinen in unterschiedlichen Erzählungen als Handelsware. Einer der ältesten Erzählstoffe ist der von J Joseph, der von seinen neidischen Brüdern als Sklave verkauft wurde (Gen. 37,26⫺36, 39,1; Mot. K 2111). Die erwünschte Ehefrau muß mit Silber oder Gold aufgewogen oder mit phantastisch hohen Geldsummen gekauft werden; zu ihrer Aufnahme schließt der Held dann einen ungünstigen Rückzahlungsvertrag mit seinem Gläubiger ab (cf. AaTh/ATU 890: J Fleischpfand). Ein böses Weib dagegen gilt als unverkäuflich, davon ist sogar der Teufel in AaTh/ ATU 1170: Böses J Weib als schlechte Ware überzeugt. In AaTh/ATU 879 A: J Fischer als Ehemann der Prinzessin wird die hochmütige Prinzessin von ihrem Ehemann vor der Hinrichtung erst gerettet, nachdem sie ihr Leben für einen Pfennig feilgeboten hat. In zahlreichen Erzählungen werden Kinder von ihrem Vater dem Teufel verkauft (J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen). Dieser internat. weitverbreitete Motivkomplex bildet als typische Spannungsformel den Anfang ganz unterschiedlicher Erzählzusammenhänge. In den KHM wird manchmal sogar ein Vertrag mit Schrift und Siegel abgeschlossen6. In AaTh/ ATU 700: J Däumling und AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler geschieht der V. nicht aus einer Notsituation heraus, sondern er ist Teil eines Gaunerstücks von Vater und Sohn. Während sich in AaTh/ATU 325 das Kind vor
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dem V. in ein Tier verwandelt und dann flieht, behält der kleine Sohn in AaTh/ATU 700 stets seine Menschengestalt. Er läßt sich u. a. an Diebe verkaufen, um ihnen entweder zu helfen oder sie zu verraten, bevor er sie selbst ausraubt. In der Sage verpfändet der Teufelsbündner (J Teufelspakt) seine eigene Seele, manchmal sogar mit Blutunterschrift. Auch auf dem Liebesmarkt regiert das Geld: Schwanklieder erzählen, wie Alte sich Junge kaufen7, buhlerische Geistliche erkaufen die Geheimhaltung eines Fehltritts8, Betrügerinnen verschwinden mit dem Preis ihrer verkauften Unschuld9. Innerliches Glück dagegen ist ⫺ wie der Erzähltyp AaTh/ATU 844: J Hemd des Glücklichen lehrt ⫺ ein absolut unveräußerlicher Wert. Auch der Protagonist von AaTh/ATU 1415: J Hans im Glück tätigt auf seinem Heimweg nur Tauschgeschäfte, die zwar materiell zu seinen Ungunsten ausfallen, aber jeweils sein persönliches Glücksgefühl und Wohlbefinden steigern.10 Es gibt viele Schwänke, in denen minderwertige bzw. unsinnige Tausch- und Handelsgeschäfte thematisiert werden, die durchaus zum Vorteil für den Tauschenden/Kaufenden ausgehen können (AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel; AaTh/ATU 1696: J „Was hätte ich sagen [tun] sollen?“). Ein Tölpel befolgt den Rat seiner Mutter, mit Leuten, die zu viel reden, keine Geschäfte zu machen, wörtlich und verkauft seine Waren einer Statue, die einen Schatz birgt (AaTh/ATU 1643: J Geld im Kruzifix). Ein Mann und eine Frau versprechen sich gegenseitig, nur noch beim Abschluß eines Handels zu trinken. Weil ihnen die Abstinenz zu schwer fällt, verkaufen sie einander tagtäglich ihren Esel, um Alkohol trinken zu können (AaTh/ATU 1447: J Trinken nach dem Handel). Verspottet wird auch die J Dummheit der Frauen, die in Abwesenheit ihrer Ehemänner einen unsinnigen V. oder Tausch tätigen. In AaTh/ATU 1387: J Kluge Else gibt die Protagonistin einen Goldschatz gegen Geschirr her11. Statt der Bezahlung für drei Kühe nimmt die naive Bäuerin eine der Kühe als Pfand (AaTh/ATU 1385: J Pfand der dummen Frau); eine Frau gibt eine alte Zauberlampe für eine neue Lampe her (AaTh/ATU 561: J Alad[d]in). Ähnlich einfältig verhält sich die Marktfrau aus AaTh/ATU 1382: Der törichte
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J Kuhhandel. Sie nimmt u. a. die Anweisung ihres Mannes, ihre Ware für das, ,was der Markt zahlt‘, zu verkaufen, wörtlich und verkauft alles an einen Kunden, der sich ,Markt‘ nennt (cf. AaTh/ATU 1541: Für den langen J Winter). Ein V.sgeschehen ist häufig Gegenstand von Witzen12 oder modernen Sagen13. Auch in diesen Gattungen erfolgt eine ethnische, politische oder regionale Kontextualisierung des Handels, wenn sich z. B. zwei jüd. Kaufleute unterhalten: „Wie ging heute dein Geschäft? ⫺ Na ja, es hat am Vormittag schwach begonnen und am Nachmittag stark nachgelassen.“14 In den modernen Sagen vom ,spottbilligen Wagen‘ ist ein tadelloses Auto günstig zu haben, weil die verkaufende Ehefrau testamentarisch verpflichtet ist, den Gewinn an die Geliebte des verstorbenen Mannes auszuzahlen15. Marzolph/van Leeuwen 2, 642⫺646. ⫺ 2 Marzolph, U.: Philogelos arabikos. Zum Nachleben der arab. Witzeslg in der ma. arab. Lit. In: Der Islam 64,2 (1987) 185⫺230, hier 194, § 18. ⫺ 3 cf. van der Kooi 1635* (num. 22, 25), 1525 Z* (num. 12). ⫺ 4 Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, num. 53. ⫺ 5 Cox, M. R.: Cinderella. L. 1893, 55, num. 140. ⫺ 6 KHM 31, 92; cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 118; Möhlenkamp, A.: Rechtsinstitute und Vertragstypen in Grimms Märchen. In: Lox, H./Lutkat, S./Kluge, D. (edd.): Dunkle Mächte im Märchen und was sie bannt ⫺ Recht und Gerechtigkeit im Märchen. Krummwisch 2007, 234⫺253; Jessen, J. C.: Das Recht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Diss. Kiel 1979, 29⫺33, 68 sq. ⫺ 7 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, E 15. ⫺ 8 ibid., D 46, D 48. ⫺ 9 ibid., D 43, D 48. ⫺ 10 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B. 2008, 191⫺195, bes. 191 sq. ⫺ 11 BP 1, 521⫺528. ⫺ 12 Landmann, S.: Jüd. Witze, Mü. 71962, 144⫺153; Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 283. ⫺ 13 Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1999, num. 12; id.: Das Huhn mit dem Gipsbein, Mü. 1993, num. 124. ⫺ 14 Mittlg R. W. Brednich. ⫺ 15 id. 1999 (wie not. 13) num. 13; cf. Brunvand, J. H.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara/Denver/Ox. 2001, 316 sq. 1
Mariakerke
Harlinda Lox
Verkehrte Welt 1. Begriff ⫺ 2. V. W. als Gegenordnung zur bestehenden Welt ⫺ 3. Einzelmotive ⫺ 4. Die bestehende Welt als V. W. ⫺ 5. Festkultur und Verkehrungsriten ⫺ 6. Soziale und politische Krisen als V. W.
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1 . B eg ri ff. Im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Verbs verkehren (umkehren)1 bezeichnet der Begriff der V.n W. in der Erzählforschung den Motivkomplex der J Umkehrung (inversio) der Ordnungen und Regeln der bekannten Welt (cf. engl.: the world turned upside down; ital.: il mondo alla rovescia; frz.: le monde renverse´; span.: el mundo al reve´s). Vorstellungen von einer V.n W. tauchen in humoristischen und satirischen, aber auch in lehrhaften und moralischen Zusammenhängen auf. Sie sind bereits vielfach in der Antike belegt2 und lassen sich als Ausdruck einer für die menschliche Phantasie grundlegenden Fähigkeit verstehen, die Verhältnisse anders zu denken, als sie tatsächlich sind, eine Grundvoraussetzung für die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen (J Utopie, Utopia). 2 . V. W. a ls Ge ge no rd nu ng zu r b es te h en de n Wel t. Das Motiv der V.n W. ist Teil sehr unterschiedlicher Redeweisen und literar. Erscheinungsformen. Seit alters gehört es in den Zusammenhang der jüd.-christl. Prophetie und des Messianismus: Entworfen wird dabei eine Zukunftsvision, in der die (soziale) Ordnung der Welt umgekehrt wird, die „Gewaltigen vom Thron gestoßen, die Niedrigen erhöht“ (Lk. 1,52) oder in der „die ersten die letzten und die letzten die ersten“ (Mt. 19,30) sein werden. Ähnliche Elemente einer alternativen Ordnung der Dinge sind in Vorstellungen von einem Goldenen J ZA. eingegangen (Harmonie von Löwe und Lamm, selbsttätig fruchtbare Erde etc.)3. Auch in J Jenseitsvisionen und J Jenseitswanderungen begegnen solche Vorstellungen von einer der irdischen diametral entgegengesetzten Welt4. Literar. konstitutiv wird die Rede von der V.n W. in AaTh/ATU 1935: Topsy Turvy Land. In Liedern5, Gedichten, Märchen6, Predigten7, phantastischen Reiseberichten, Flugblättern bzw. Flugschriften8 und Bilderbogen9 wird dabei von einem Land berichtet, in dem alles ,anders‘ ist, wobei die z. T. unglaublichen und absurden Verdrehungen die bestehende Welt wie in einem Zerrspiegel erscheinen lassen10 (J Topographie, fiktive). Den Texten fehlt in der Regel eine kohärente Handlung; statt dessen werden die einzelnen ,Verkehrungen‘ in immer neuen Variationen aneinandergereiht. Manchmal erreichen die Texte dabei die Qualität ei-
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ner frühen J Nonsens-Poesie („Ein Dorf in einem Bauren saß,/ Der gerne Milch und Löffel aß/ Mit eime großen Wecke […]“)11. Insgesamt ist die Lügengeschichte von der V.n W. räumlich weit verbreitet; entsprechende Belege finden sich im gesamten europ. Raum, darüber hinaus z. B. in Ägypten, Korea und Japan12. Eine wichtige Rolle spielen Vorstellungen von der V.n W. für den Erzählkomplex AaTh/ ATU 1930: J Schlaraffenland. Hier steht weniger die Freude an Absurditäten als der Entwurf einer erträumten ,Wonnewelt‘ im Mittelpunkt (J Wunschdichtung). In den Bildern von exorbitanter Fruchtbarkeit, sozialer Gleichheit, sexueller Libertinage und einem Leben ohne Arbeit, Krankheit und Tod wird ein kritisches Kontrastprogramm zur Welt, wie sie ist, entworfen. Die V. W. wird damit zur populären Utopie13. 3 . E in ze lm ot iv e. Bes. Beliebtheit erfreuen sich bei der Darstellung der V.n W. Verkehrungen in der Welt der Tiere (J Esel als Lautenspieler)14, der Beziehungen zwischen Tieren und Menschen (der Hase jagt den Jäger; cf. J Struwwelpeter)15 oder zwischen Erwachsenen und Kindern16, in den sozialen Ordnungen (J Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit; J Sozialkritik; J Stark und schwach)17 und im Verhältnis der Geschlechter untereinander (AaTh/ ATU 1408: J Hausarbeit getauscht; J Frau in Männerkleidung)18. Dabei können solche Einzelmotive in den verschiedensten erzählerischen und figurativen Zusammenhängen auftauchen. Mittelbar in den Komplex der V.n W. gehören auch der J Frosch-Mäuse-Krieg und der sog. Katzen- und Mäusekrieg19, wobei es dort allerdings ⫺ wie häufig bei Tiererzählungen ⫺ eher um die persiflierende Übertragung kriegerischer Auseinandersetzungen aus der Welt der Menschen in diejenige der Tiere geht. 4 . D ie be st eh en de We lt al s V. W. Anders akzentuiert, wenngleich im einzelnen motivlich durchaus verwandt, kann von der bestehenden Welt als einer in Wahrheit V.n W. die Rede sein. Dieses Motiv erscheint seit dem MA.20 in Zeitklage und Moralsatire, nicht zuletzt, wenn es um den Vergleich von Einst und Jetzt21 geht: „Florebat olim studium,/ Nunc
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vertitur in tedium“, klagt schon ein Lied der Carmina Burana (1,6) über die Verkehrung der (studentischen) Sitten. Bes. beliebt ist das Motiv in satirischen Texten des 16. und 17. Jh.s22. Die scheinbar richtige Welt ist demnach in Wahrheit eine verkehrte: eine Welt, in der es drunter und drüber geht und in der vor allem die (erwünschten) moralischen Ordnungen auf dem Kopf stehen. Charakteristisch für diese Sichtweise (und wohl auch einflußreich für die Popularisierung des Begriffs der V.n W.) ist J Grimmelshausens Moralsatire Des Abenteuerlichen Simplicii V. W. (1673)23. Auch in der Narrenliteratur ⫺ pointiert z. B. in Sebastian J Brants Narrenschiff (1494) ⫺ klingt das Motiv an: Der J Narr erscheint dann als der typische Repräsentant der bestehenden Ordnung in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Dramatische Werke (z. B. Ludwig Tieck, Die V. W. [1798])24 und komische Opern25 greifen das Motiv auf, wobei Moralisches nicht mehr im Mittelpunkt stehen muß, sondern auch der spielerische Charakter der Verkehrung betont werden kann. In der US-amerik. Science-fiction-Filmtrilogie um die ,Matrix‘ (Matrix, Matrix Reloaded, Matrix Revolutions; 1999/2003/ 2003) wird der Geist der Menschen in der virtuellen Welt einer komplexen Computersimulation gefangengehalten, die ihnen ihr Leben und ihre Welt vorspiegelt, während ihr Körper intelligenten Maschinen als Energiequelle dient26. 5 . Fes tk ul tu r u nd Ve rk eh ru ng sr it en. Versteht man das J Fest mit M. Bachtin strukturell als Gegensatz zum Alltag27, liegt es nahe, auch dessen Ordnung als Gegenordnung zu jener des Alltags zu deuten. Dies gilt in ganz bes. Weise für den Karneval und die karnevalesken Feste, deren Abläufe, Riten und Symbolsprache nach dem Muster der V.n W. interpretiert werden können28. Auffallende Übereinstimmungen zwischen literar. Topoi und Festbräuchen legen den Schluß nahe, diese Bräuche als ,Verkehrungsriten‘ und den Karneval insgesamt als eine Art ,gelebte V. W. auf Zeit‘ zu verstehen29. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Verkehrung der Geschlechter-30 und der Altersrollen („Der man verkert sich in ein frauen/ Die frauen sich in mannes gestalt,/ Das junk geschaffen macht sich alt“)31, die Verkehrung der sozialen Ränge
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und Hierarchien (Knecht als Herr, Kind als Bischof)32 und ganz allg. das zeitweilige Außerkraftsetzen der alltäglichen Lebensordnungen. 6 . S oz ia le un d p ol it is ch e Kri se n a ls V. W. Bilder der V.n W. werden seit alters auch herangezogen, wenn es um die Beschreibung von Krisen- und Ausnahmesituationen in Bereichen der sozialen oder politischen Wirklichkeit geht. V. W. wird dann zu einer Art naivem Schlüssel für das Verstehen der unerhörten Ereignisse. Dies gilt seit J Boccaccios Beschreibung der Pest in Florenz (Decamerone, Einl. zum 1. Tag) für die kollektive Erfahrung von Epidemien, welche die gewohnte menschliche Ordnung nicht nur außer Kraft setzen, sondern geradezu in ihr Gegenteil zu verkehren scheinen33. Auch Kriege34 und Revolutionen35 werden in diesem Sinn als Verkehrungssituationen erfahren. Bei revolutionären Ereignissen können auch karnevaleske Verkehrungsriten wiederbelebt und als Symbolhandlungen zur Charakterisierung der ,neuen‘ Verhältnisse zelebriert werden: so als 1525 die aufständischen Bauern in Heilbronn die Deutschordensritter zwangen, sie mit gezogenem Hut bei Tisch zu bedienen36, oder als im November 1918 die revolutionären Massen die Wäschekammern der Hohenzollern im Berliner Stadtschloß plünderten und sich als Adlige maskierten37. Das Motiv der V.n W. erscheint dabei als Chiffre einer populären Umsturzphantasie, in der sich der Wunsch nach Veränderung der bestehenden Verhältnisse als symbolische Inversion38 zeichenhaft artikulieren kann. DWb. 25, 627. ⫺ 2 Kenner, H.: Das Phänomen der v.n W. in der griech.-röm. Antike. Klagenfurt/Bonn 1970. ⫺ 3 Cocchiara, G.: Il mondo alla rovescia. Turin (1963) 1981, 27⫺37, 58⫺69. ⫺ 4 Mühlmann, W. E.: Das Mythologem von der v.n W. In: Kölner Zs. für Soziologie und Sozialpsychologie 13 (1961) 614⫺624; Kruger, P. A.: Symbolic Inversion in Death. Some Examples from the Old Testament and the Ancient Near Eastern World. Pretoria 2005. ⫺ 5 Erk/Böhme, num. 1100⫺1113. ⫺ 6 BP 3, 244⫺258, 302⫺305; Kamp, J.: Danske Folkeæventyr. Kop. 1891, 100⫺106; Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 298⫺304; Afanas’ev 3, num. 426; Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 1. MdW 1923, num. 14 a; Lambertz, M.: Alban. Volksmärchen. Wien 1922, num. 56. ⫺ 7 Moser-Rath, Predigt1
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märlein, num. 190. ⫺ 8 Grant, H. F.: El mundo al reve´s. In: Hispanic Studies. Festschr. J. Manzen. Ox. 1972, 119⫺137; Pinon, R.: From Illumination to Folksong. The Armed Snail, a Motif of TopsyTurvy-Land. In: Folklore Studies in the Twentieth Century. ed. V. J. Newall. Woodbridge/Totowa 1980, 76⫺113; Kunzle, D.: World Upside Down. The Iconography of an European Broadsheet Type. In: Babcock, B. A.: The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society. Ithaca/L. 1978, 39⫺94; Cocchiara (wie not. 3) 250⫺258. ⫺ 9 Sytowa, A. S. (ed.): Lubok. Russ. Volksbilderbogen. 17. bis 19. Jh. Len. 1984, num. 48, 161; Heurck, E. H. van/Boekenoogen, G. J.: Histoire de l’imagerie populaire flamande. Brüssel 1910, 114⫺116. ⫺ 10 cf. Müller-Fraureuth, C.: Die dt. Lügendichtungen bis auf Münchhausen. Halle 1881 (Nachdr. Hildesheim 1965); Lafond, J./Redondo, A. (edd.): L’Image du monde renverse´ et ses repre´sentations litte´raires et paralitte´raires de la fin du XVIe sie`cle au milieu du XVIIe. P. 1979; Jones, M.: Mundus perversus. Monde renverse´, Verkehrte Welt, World turned upside down. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): MA. Mythen 5. Konstanz 2008, 633⫺638. ⫺ 11 Erk/Böhme, num. 1102. ⫺ 12 cf. ATU 2, 495 sq.; Cocchiara (wie not. 3) 42⫺57. ⫺ 13 Richter, D.: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie. Ffm. 1995, 49⫺53. ⫺ 14 Curtius, E. R.: Europ. Lit. und lat. MA. Bern 1948, 106 sq.; Cocchiara (wie not. 3) 200⫺208. ⫺ 15 ibid., 189⫺208. ⫺ 16 Boesch, H.: Kinderleben in der dt. Vergangenheit. Lpz. 1900, 78⫺81. ⫺ 17 Geest, S. van der: De veroordelde als rechter. Een antropologische visie op raedselverhalen. In: Volkskundig bulletin 25,1 (1999) 71⫺78. ⫺ 18 Zapperi, R.: L’uomo incinto. La donna, l’uomo e il potere. Cosenza 1979. ⫺ 19 Hunger, H.: Der byzant. Katz-Mäuse-Krieg. Theodoros Prodomos, Katomyomachia. Graz/Wien/Köln 1968; Weiler, I.: Der Katzen-Mäuse-Krieg in der Johanneskapelle auf der Pürgg. In: Zs. des Hist. Vereins für Steiermark 61 (1970) 71⫺82. ⫺ 20 Curtius (wie not. 14) 104⫺109. ⫺ 21 Behrendt, M.: Zeitklage und laudatio temporis acti in der mhd. Lyrik. B. 1935 (Nachdr. Nendeln/ Liechtenstein 1967). ⫺ 22 Lazarowicz, K.: V. W. Vorstudien zu einer Geschichte der dt. Satire. Tübingen 1963; Kuper, M.: Zur Semiotik der Inversion. V. W. und Lachkultur im 16. Jh. B. 1993. ⫺ 23 Welzig, W.: Ordo und V. W. bei Grimmelshausen. In: Zs. für dt. Philologie 78 (1959) 424⫺430. ⫺ 24 cf. Schnell, R.: Die v. W. Literar. Ironie im 19. Jh. Stg. 1989. ⫺ 25 Georg Philipp Telemann, Die v. W. (1728; Libretto: Johann Philipp Praetorius); Antonio Salieri, Il mondo alla rovescia (1795; Libretto: Caterino Mazzola` nach Carlo Goldoni). ⫺ 26 cf. Haber, K. (ed.): Das Geheimnis der Matrix. Mü. 2003. ⫺ 27 Bachtin, M.: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Ffm. 1987, 144⫺146. ⫺ 28 Schindler, N.: Karneval, Kirche und die v. W. Zur Funktion der Lachkultur im 16. Jh. In: Jb. für Vk., N. F. 7 (1984) 9⫺58; Moser, D.-R.: Fastnacht, Fasching, Karneval: das Fest der ,v.n W.‘. Graz 1986; Röcke,
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Verkleidung
W.: Das verkehrte Fest. Soziale Normen und Karneval in der Lit. des SpätMA.s. In: Neohelicon 17 (1990) 202⫺231; Kraus, J.: Metamorphosen des Chaos. Hexen, Masken und v. W.en. Würzburg 1998. ⫺ 29 Scribner, B.: Reformation, Carnival and the World Turned Upside-Down. In: Social History 3 (1978) 303⫺329; Burke, P.: Helden, Schurken und Narren. Europ. Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stg. 1981, 202. ⫺ 30 Davis, N. Z.: Woman on Top. Symbolic Sexual Inversion and Political Disorder in Early Modern Europe. In: Babcock (wie not. 8) 147⫺192; Breton, S.: La Mascarade des sexes. Fe´tichisme, inversion et travestissement rituels. P. 1989. ⫺ 31 Keller, A. von: Fastnachtspiele aus dem 15. Jh. 1. Stg. 1853, 383. ⫺ 32 Rochholz, E. L.: Alemann. Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz. Lpz. 1857 (Nachdr. Genf 1979), 501⫺503. ⫺ 33 Boehncke, H.: Die Pest. Sprachspiel und Sünde. In: Romahn, C./ Schipper-Hönicke, G. (edd.): Das Paradoxe. Lit. zwischen Logik und Rhetorik. Würzburg 1999, 152⫺172. ⫺ 34 Schulte, R.: Die v. W. des Krieges. Ffm. 1998. ⫺ 35 Geyer, M. H.: V. W. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914⫺1924. Göttingen 1998. ⫺ 36 Burke (wie not. 29) 203. ⫺ 37 Machtan, L.: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen. B. 2008, 297 sq. ⫺ 38 Babcock (wie not. 8); zum Verhältnis von ,symbolischen‘ zu ,realen‘ Veränderungen cf. Davis (wie not. 30) 171⫺183.
Bremen
Dieter Richter
Verkleidung, Anlegen einer bes. Form der J Kleidung, die die eigene Identität verhüllen, körperliche, gesellschaftliche oder moralische ,Defekte‘ verdecken, eine gewünschte andere Identität vortäuschen (J Täuschung, J Verstellung) und so einen Wechsel der J Rolle ermöglichen soll. Kleidung dient neben ihrer Schutzfunktion ⫺ also der Gebrauchsfunktion im weitesten Sinne ⫺ als Schmuck und erfüllt zudem eine soziale Funktion1. Sie verweist in politischen, religiösen und alltäglichen Kontexten auf den Status und die Rolle ihres Trägers in der jeweiligen Gemeinschaft. Kleidung ist daher vor allem Zeichen der Identität und Zugehörigkeit (J Erkennungszeichen), aber auch Ausschlußkriterium2. In Antike und MA. standen, gestützt durch zu weiten Teilen festgeschriebene Kleiderordnungen in allen sozialen Bereichen, feste Rollenzuschreibungen im Vordergrund3. In der gegenwärtigen Kultur scheint demgegenüber eher die ephemere, rollenverändernde Ausdruckskraft der Klei-
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dung ⫺ und damit potentiell die V. ⫺ an Bedeutung zu gewinnen. Dies bringen etwa die Phänomene des Cross-Dressings und der Geschlechtermaskerade (Camouflage)4 wie auch allg. die zunehmende Möglichkeit der Selbstinszenierung durch im Alltag spielerisch genutzte V.en zum Ausdruck5. Kleidung wird als Ausdrucksmittel verstanden, das in der Lage ist, eine gesellschaftlich geforderte Anpassung ,aufzuheben‘, und dem in einer durchrationalisierten und entemotionalisierten Alltagswelt eine zunehmend befreiende Funktion zufallen kann6. Vor diesem Hintergrund übernimmt V. in vielfältigen hist., ethnischen und situativen Zusammenhängen unterschiedliche Funktionen. Diese treten vor allem in den im Brauch ritualisierten Formen der V. hervor. Dabei spielen je nach Kontext das den ganzen Körper bedeckende Kostüm oder die nur das Gesicht und damit die entscheidenden individuellen Erkennungsmerkmale bedeckende Maske eine Rolle7. Unabhängig von hist. und militärischen Kontexten ist gegenwärtig eine Tendenz zur Uniformierung zu erkennen8, indem die von der Modeindustrie saisonal produzierte Trendkleidung die Orientierung an einer kollektiven Identität fördert. Rituelle, über lange Zeit bestehende Anlässe zur V. haben in der Regel kontinuitätsstiftende und entlastende Funktion. Dies gilt bes. für den zentralen Anlaß zur V. im europ. und europ. beeinflußten Brauch: den Karneval bzw. die Fastnacht, die zumeist eine J Verkehrte Welt evozieren9. Rituelle V.en sind häufig an Feste im Jahreslauf (Weihnachten, Nikolaustag, Erntefest) oder im Lebenslauf (Hochzeit) gebunden10. In der Kultur der Gegenwart werden, z. B. durch die Etablierung des Halloween-Fests in Europa und sog. Live-Rollenspiele (Live Action Role Playing), neue rituelle und kommunikationsstiftende Anlässe zur V. und zum spielerisch verstandenen Rollenwechsel geschaffen11. Anlässe zur V. werden ⫺ auch in Anlehnung an Theater- und andere Bühnenereignisse ⫺ zunehmend medial inszeniert12. Während die temporäre V. im rituellen Brauch der Umwelt als solche bewußt ist, ohne daß ihre Funktion dadurch gestört würde, beruht die Darstellung der V. in der Volkserzählung in aller Regel darauf, daß die verkleidete Person nicht als solche erkannt
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wird. Darüber hinaus kann die V. hier nicht immer klar vom J Gestalttausch oder der J Verwandlung abgegrenzt werden, auch wenn jene anders als die V. oft nicht durch eigenes und damit freiwilliges Handeln herbeigeführt werden. Ein Sonderfall der V. ist der J Kleidertausch, der häufig als abgeschwächte Form des J Geschlechtswechsels aufgefaßt werden kann. In Volkserzählungen können V.smotive in unterschiedlicher Funktion und Stilisierung erscheinen; allerdings weisen bestimmte Gattungen bes. Affinitäten auf. Im mythol. Erzählen der Antike überwiegt anstelle der V. der Gestalttausch, der mit Motiven des J Doppelgängers und des J Stellvertreters verknüpft wird (J Amphitryon). Als Leukippos, als Frau verkleidet, an einem Fest der Nymphen teilnimmt, wird er nackt gebadet und, als Mann erkannt, von den Nymphen zerrissen (J Geschlechtsproben)13. In ma. Fassungen der Erzählung von der Zeugung des J Artus wird der Gestalttausch von Uther Pendragon mit Igernes Mann Gorlois durch die zauberischen Kräfte des J Merlin motiviert. Die Darstellung läßt in diesem Fall offen, inwieweit die Täuschung Igernes durch Uthers Anlegen von Gorlois’ Kleidung und Insignien oder durch eine tatsächliche Verwandlung bewirkt wird14. Bibl. taucht das Motiv der V. nur vereinzelt auf: J Jakob verkleidet sich als sein Bruder J Esau, um den Segen des Vaters zu erhalten (Gen. 27,1⫺40); Saul verkleidet sich, als er eine Wahrsagerin aufsucht, und wird entdeckt (1. Sam. 28,8⫺12); Tamar, die Schwiegertochter von Juda, verkleidet sich als Prostituierte (Gen. 38,14⫺19). Ein legendentypisches Motiv ist die V. von Gott oder J Christus als Bettler (J Erdenwanderung der Götter). So kümmert sich in AaTh/ATU 751 A*: A Man Invites God to His House ein Mann um die Vorbereitungen für den Besuch Gottes, nicht jedoch um einen Bettler, als der verkleidet Gott in sein Haus kommt. In AaTh/ATU 751 C*: Wealth Leads to Pride weist ein Mann, der auf wunderbare Weise reich wurde, einen Bettler und damit Gott, seinen Wohltäter, ab. Auch der J Teufel15 verkleidet sich in Erzählungen über die Bewährungsproben der Frommen, die er in menschlicher Gestalt (Mönch16, Tänzer, Spieler, Priester; cf. AaTh/ATU 815*: The Shoe-
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maker who Made Shoes for the Devil, AaTh/ ATU 839 A*: The Hermit and the Devils) in J Versuchung führt. In Sagen und Märchen wird häufig von einem J Herrscher (J Alexander d. Gr., J Ha¯ru¯n ar-Rasˇ¯ıd, J Alter Fritz, J Matthias Corvinus) berichtet, der sich ⫺ in Verkehrung seiner sozialen Position ⫺ verkleidet unter sein Volk mischt, um dessen Nöte zu erfahren oder für Gerechtigkeit zu sorgen (Mot. K 1812.1717). Inkognito unter Soldaten (AaTh/ ATU 1736 A: Der hölzerne J Säbel, AaTh/ ATU 952: J König und Soldat) oder Räubern (AaTh/ATU 951 A⫺C: J König und Räuber) prüft der Herrscher den Charakter seiner Untertanen oder deckt Mißstände auf. Im Lager des Feindes erfährt er dessen Taktik18. In lehrhaften Erzählungen, z. B. in Var.n von AaTh/ATU 1558: J Kleider machen Leute, ist an das Motiv der V. die Mahnung geknüpft, J Schein und Sein nicht zu verwechseln (cf. AaTh/ATU 123 B: J Wolf im Schafspelz); dabei wird jedoch gerade die Gleichsetzung von Kleidung und sozialer Stellung demonstriert. Einen moralischen Ausgang nimmt auch AaTh 750 G*, 831/ATU 831: J Pfarrer als Teufel: Ein Priester verkleidet sich mittels einer Tierhaut als Teufel, um einem armen Mann einen Schatz abzunehmen. Er kann sie danach jedoch nicht mehr ablegen, bis er den Schatz wieder zurückgegeben hat19. Im Zaubermärchen ist die V. in der Regel nur funktional motiviert, um das Nichterkennen einer Figur zu gewährleisten (cf. J Kopfbedeckungen vertauscht). Die Protagonistin kommt in merkwürdiger V. an den Hof des Prinzen (cf. AaTh/ATU 510 B: cf. J Cinderella). In der Regel wird die V. nicht detailliert geschildert, sie ist rein akzessorisch (J Braut, Bräutigam, Kap. 6). Oft scheint die V. wie in KHM 57, AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter als bloße Voraussetzung für die entscheidende Erzählsequenz des Wiedererkennens erwähnt und erweist sich so als J retardierendes Moment. Trotz fehlender Detailschilderungen ist das Motiv der V. häufig mit einer Situation verknüpft, die für den Märchenhelden von existentieller Bedeutung ist. So bringt die V. des Wolfs als Großmutter die Protagonistin in AaTh/ATU 330: J Rotkäppchen in Lebensgefahr; in AaTh/ATU 705 A: Vom J Fisch gebo-
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ren ermöglicht die V. den J Inzest, indem die Mutter in der Rolle ihrer Schwiegertochter mit ihrem Sohn schlafen kann. In AaTh/ATU 311: cf. J Mädchenmörder kann die Braut nur durch eine V. aus Teer und Federn geschützt der Bedrohung durch den Unhold entkommen. Bes. häufig kommt V. in der schwankhaften Volkserzählung vor; sie kann hier daher als eines der typischen Merkmale gelten. Sie dient sowohl zum Schutz vor Erkennen als auch dem Erlangen eines Vorteils (Gunst, Informationen, Zugang zu bestimmten Bereichen und Personen)20. Allg. wird häufig die V. einer Frau als Mann (J Frau in Männerkleidung) thematisiert, doch kommt auch umgekehrt die des Mannes als Frau vor; beides kann als schwankhaft stilisierte Form des Geschlechtswechsels aufgefaßt werden. So verkleidet sich in AaTh/ATU 1538: J Rache des Betrogenen der Geschädigte zunächst als Bettelweib. Er kann seinen Betrüger überreden, sich an einen Baum binden zu lassen, und ihn verprügeln. Als der Betrüger wegen der Verletzungen einen Arzt aufsuchen will, verkleidet sich der Betrogene als Arzt und schlägt ihn nochmals. Die V. als Arzt wird allg. häufig gewählt, so auch in AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend (cf. auch AaTh/ATU 566: J Fortunatus, AaTh/ ATU 881*: J Frau als Doktor, AaTh/ATU 879: J Basilikummädchen, AaTh/ATU 883 B: Der bestrafte J Verführer). Daneben verkleiden sich Männer vor allem zum Zwecke der J Verführung, und zwar als weiblicher Zögling, Kammerzofe, Dienstmädchen, Verwandte oder Nebenbuhler21, als eigener Untergebener (AaTh/ATU 1542*: Sailor Substitute) und sogar als Schwangere (AaTh/ ATU 1545 A: cf. J Schlafenlernen)22. Der Übergang von wirklicher V. zu bloßer Rollenzuschreibung kann fließend sein, z. B. wenn der sich als Priester ausgebende Mann in AaTh/ATU 1410: J Beichte der Ehefrau seiner Frau die Beichte abnimmt, weil er sie des Ehebruchs verdächtigt. Die V. erlaubt zudem, unerkannt eine Prüfung vorzunehmen, wie z. B. in AaTh/ATU 1451⫺1461: cf. J Brautproben, wenn ein Schwiegervater als Bettler verkleidet das Haus seiner zukünftigen Schwiegertochter besucht und dort Armut, Unsauberkeit oder Hartherzigkeit vorfindet.
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Charakteristisch für schwankhaftes Erzählen ⫺ allerdings nicht ausschließlich ⫺ sind auch die vielfältigen V.en von Räubern oder Dieben. Diese verkleiden sich als (alte) Frauen oder Bettler (AaTh/ATU 958 D*: Robber Disguised as a Woman, AaTh/ATU 958 E*: Deep Sleep Brought on by a Robber, ATU 958 F*: cf. J Apfelprobe, AaTh/ATU 1525 A: cf. J Meisterdieb), als Kaufleute (AaTh/ATU 954: J Ali Baba und die vierzig Räuber), Reiche oder Edelleute (AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam, AaTh/ATU 956 B: Das tapfere J Mädchen und die Räuber) oder als Bauern (AaTh/ATU 1528 [1]: J Neidhart mit dem Veilchen). Auffällig ist weiterhin, daß in Schwankerzählungen durch die V. auch ontologische Grenzüberschreitungen thematisiert werden, wenn die Figuren als Engel, Geister oder Tote auftreten. In AaTh/ATU 1740 B: Thieves as Ghosts verkleiden sich Diebe bei verschiedenen Gelegenheiten und zu verschiedenen Zwecken als Geister; in AaTh/ATU 1737: J Pfarrer im Sack erklärt ein als Engel (Heiliger) verkleideter Dieb dem Pfarrer, er solle ihn in den Himmel bringen. Ein Freier soll als Engel verkleidet in AaTh/ATU 940: Das hochmütige J Mädchen auf dem Friedhof Totenwache halten. In AaTh 835*, 835 A*/ATU 1706 D: J Säufer kuriert schwört ein Mann, den seine Frau betrunken als Toten verkleidet hatte (AaTh/ATU 1284, 1314⫺1320: Irrige J Identität), dem Alkohol ab. Im Kontext von V. stehen im übrigen Erzählungen wie AaTh/ATU 1091, 1092: J Frau als unbekanntes Tier und AaTh/ATU 214 B: J Esel in der Löwenhaut (cf. J Federhemd, -kleid). V. ist konstitutiv für das Erzählschema des J Brautraubs, vor allem für die sog. ,Kaufmannsformel‘, die u. a. in Var.n von AaTh/ ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue, AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes und AaTh 513 C/ATU 513: J Sohn des Jägers vorkommt: Dabei verkleiden sich der Protagonist und seine Helfer als Kaufleute, um die Braut auf ein Schiff zu locken und zu entführen. Durch eine bes. große Ausdifferenzierung der V.en zeichnen sich die Var.n von AaTh/ ATU 900: J König Drosselbart aus. Hier verkleidet sich ein abgewiesener Freier, um die hochmütige Prinzessin Demut zu lehren; die V. ermöglicht auf diese Weise die Prüfung und
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Läuterung der künftigen Braut. Wenngleich die häufigste V. die des Bettlers ist, tritt der Prinz nach Art der Spielmannsepen auch als Harfner, Geiger oder Sänger, als Hofnarr, Orgel- oder Flötenspieler auf. In weiteren Var.n übt er eine Vielzahl von Berufen aus und verkleidet sich u. a. als Barbier, Maler, Maurer, Landstreicher, Hirt, Koch, Bäcker oder Köhler23. 1
cf. bes. Lunin, V.: Kleid und V. Diss. Zürich 1954, 1⫺22. ⫺ 2 Giannone, A.: Kleidung als Zeichen. Ihre Funktion im Alltag und ihre Rolle im Film westl. Gesellschaften. B. 2005; Ellwanger, K./Müller, S./ Reinbold, M.: Kleider machen Politik. Zur Repräsentation von Nationalstaat und Politik durch Kleidung in Europa vom 18. bis zum 20. Jh. Ausstellungskatalog Oldenburg 2002; Becker, S.: Gewand und Stand. In: Kirche im ländlichen Raum 3 (2002) 22⫺28; Brückner, W.: Menschen und Moden. Bekleidungsstudien zu Kommunikationsweisen. Würzburg 2000; Kleider und Leute. Ausstellungskatalog Landesausstellung. Bregenz 1991. ⫺ 3 Schwinger, R. C./Schorta, R.: Fashion and Clothing in Late Medieval Europe/Mode und Kleidung im Europa des späten MA.s. Basel 2010; Scott, M.: Kleidung und Mode im MA. Darmstadt 2009; Olson, K.: Dress and the Roman Woman: Self-presentation and Society. L. u. a. 2008; Köb, A./Riedel, P. (edd.): Kleidung und Repräsentation in Antike und MA. Mü. 2005; Medieval Clothing and Textiles 1 sqq. (2005 sqq.); Chausson, F. (ed.): Costume et socie´te´ ˆ ge. P. 2003; dans l’Antiquite´ et le haut Moyen A Böhme-Schönberger, A.: Kleidung und Schmuck in Rom und den Provinzen. Stg. 1997. ⫺ 4 Hansson, K.: Camouflage. In: Ethnologia Europaea 35,1⫺2 (2005) 136⫺140. ⫺ 5 Fischer, H.: Rollentausch. In: Cox, H. L./Haverkamp, D.-M.: Kleidung oder V. ⫺ Brauch oder Tradition? Siegburg 2006, 7⫺24; Lehnert, G.: Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Lit. und Geschichte. Mü. 1997. ⫺ 6 cf. Giannone (wie not. 2); Brückner, W.: Kleiderpsychologie der Literaten. In: Kleider und Leute (wie not. 2) 17⫺32; Horn, K.: Das Kleid als Ausdruck der Persönlichkeit. In: Fabula 18 (1977) 75⫺104. ⫺ 7 Mentges, G.: Uniform ⫺ Kostüm ⫺ Maskerade. In: ead./Neuland-Kitzerow, D./Richard, B. (edd.): Uniformierungen in Bewegung. Vestimentäre Praktiken zwischen Vereinheitlichung, Kostümierung und Maskerade. Münster u. a. 2007, 13⫺ 28; Leifeld, M./Boden, A.: Uniformierte Narren. In: Cox/Haverkamp (wie not. 5) 45⫺57; Hänel, D.: Uniformiertes Verkleiden. ibid., 119⫺136; Hoffmann, K.: Masken ⫺ eine Bestandsaufnahme. B. 2004; Olschanski, R.: Maske und Person. Göttingen 2001, 11⫺60. ⫺ 8 Mentges (wie not. 7) 13. ⫺ 9 Sund, H./Beitl, K. (edd.): Fas(t)nacht in Geschichte, Kunst und Lit. Konstanz 1984; Röcke, W.: Soziale Normen und Karneval in der Lit. des SpätMA.s. In: Neoheli-
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con 17,1 (1990) 203⫺223; Mezger, W.: Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Konstanz 1991; Herborn, W.: Die ma. Kölner Fastnachtsturniere. In: Cox/Haverkamp (wie not. 5) 25⫺44; Helsloot, J.: Sich verkleiden in der ndl. Festkultur. Der Fall des „Zwarte Piete“. ibid., 137⫺154. ⫺ 10 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 2. Wien 1880, num. 234 (Hochzeit), 1167 a, 1167 b, 1170 (Weihnachten), 1485 (Erntefest); Birlinger, A.: Volkstümliches aus Schwaben 2. Fbg 1862, num. 1, 7 (Nikolaustag). ⫺ 11 Genath, P. : Fantasy und Rollenspiel. In: Cox/Haverkamp (wie not. 5) 93⫺118; Elpers, S.: Herbst, Horror und Heidi. ibid., 77⫺92; Arens, J.: Karneval im Sommer? Der Kölner Christopher Street Day 2005 in der lokalen Tagespresse. ibid., 61⫺76. ⫺ 12 cf. z. B. Fenske, M.: Abenteuer Geschichte. Zeitreisen in der Spätmoderne. In: Hardtwig, W./Schug, A. (edd.): History Sells! Stg. 2009, 79⫺90. ⫺ 13 Graves, R.: The Greek Myths. Harmondsworth 1955, 78. ⫺ 14 cf. Wace: La Partie arthurienne du Roman de Brut (extrait du ms. B. N. fr. 794). ed. I. D. O. Arnold/M. M. Pelan. P. 1962, V. 187⫺192. ⫺ 15 EM 13, 395 sq. ⫺ 16 EM 9, 780. ⫺ 17 Marzolph/van Leeuwen 2, 540 sq. ⫺ 18 Bartsch (wie not. 10) num. 399; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 1⫺2. Glogau 1868/71, t. 1, num. 587; t. 2, num. 257, 811, 914. ⫺ 19 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm. u. a. 1979, num. 181, 182, 232, 388, 431, 436. ⫺ 20 Lunin (wie not. 1) 29⫺31, 44⫺ 76. ⫺ 21 Wehse (wie not. 19) num. 102, 111, 112, 173, 331, 355. ⫺ 22 cf. Geißler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1955, 166⫺173; Fehling, D.: Die Eingesperrte (,Inclusa‘) und der verkleidete Jüngling (,Iuvenis femina‘). Neues zur Traditionsgeschichte zweier antiker Komödienmotive [...]. In: Mittellat. Jb. 21 (1986) 186⫺207. ⫺ 23 Philippson, E.: Der Märchentypus von König Drosselbart. Greifswald 1923, 19⫺21.
Göttingen
Susanne Friede
Verkovicˇ, Stefan Ilija, *Ugljara 5. 3. 1821, † Sofia 30. 12. 1893, in Bosnien geborener Folklorist und Ethnograph kroat. Herkunft1. V., Zögling des Franziskanerklosters in Sutjeska (1833⫺37), studierte als Mönch Ilija am Bischofslyzeum in Zagreb Theologie, brach das Studium jedoch 1843 ab und verließ den Orden. Von Belgrad aus übernahm V. im Dienst der serb. Regierung geheime politische Missionen in den Balkanregionen, die noch unter osman. Herrschaft standen, und lebte 1850⫺77 (bis zum Ausbruch des Russ.-Türk. Kriegs) in Seres. Unter dem Einfluß der Ideen der Romantik und des Illyrismus unterstützte
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Verleumdung
V. die nationalen Bewegungen der slav. J Mazedonier gegen die Gräzisierungspolitik des griech. Patriarchen. Während seiner zahlreichen Reisen in Mazedonien und Thrakien sammelte V. u. a. antike Münzen, ma. slav. Hss., ethnogr. und demographische Materialien sowie Volksüberlieferungen. 1877⫺91 hielt er sich in Rußland (Moskau und St. Petersburg) auf, danach lebte er bis zu seinem Tod in Bulgarien (Plovdiv und Sofia). V.s umfangreicher Nachlaß befindet sich in Sofia, Zagreb, Belgrad, Skopje und St. Petersburg. Für die Folkloristik ist V. als einer der ersten Sammler und Herausgeber der Volksüberlieferungen Mazedoniens wichtig (Lieder, Märchen, Sagen, Glaubensvorstellungen, Bräuche, Rätsel, Sprichwörter)2, denen er große Bedeutung als hist. Qu.n zumaß. Seine Publ. Narodne pesme makedonski bugara (Volkslieder der mazedon. Bulgaren) stellt eine seiner ersten größeren Slgen dar3. Viele seiner Aufzeichnungen erschienen erst posthum4. Mit seiner Ausg. bulg. Volkslieder aus angeblich vorchristl. Zeit5 wollte V. den Beweis dafür liefern, daß die Bulgaren das älteste slav. Volk seien, dessen direkte Wurzeln in Indien zu finden seien. Die Slg rief in akademischen Kreisen eine heftige Diskussion über die Authentizität der Lieder hervor. I. D. J Sˇisˇmanov stellte fest, daß es sich bei der Slg um eine Mystifizierung durch I. Gologanov, einen Mitarbeiter V.s, handelt6. Zum gleichen Ergebnis kam auch M. J Arnaudov7. V. ist darüber hinaus die älteste Märchensammlung aus Südmazedonien zu verdanken8. Sie wurde jedoch erst 1932 von P. A. Lavrov und J. J Polı´vka aus V.s hs. Nachlaß mit komparatistischen Kommentaren Polı´vkas versehen herausgegeben9. Die Slg enthält 133 u. a. in den Regionen um Saloniki, Seres und Nevrokop aufgezeichnete Texte, vor allem Zauber- und Novellenmärchen sowie einige Sagen und ätiologische Erzählungen10. Penusˇliski, K.: S. I. V. ⫺ zˇivot i dejnost (S. I. V. ⫺ Leben und Werk). In: V., S. I.: Makedonski narodni pesni. ed. K. Penusˇliski. Skopje 1961, IX⫺MLVI; V., S. I.: Narodni pesni na makedonskite ba˘lgari (Volkslieder der mazedon. Bulgaren). ed. P. Dinekov. Sofia 1966, 5⫺26 (Vorw.); Dinekov, P.: Ba˘lgarski folklor (Bulg. Folklore). Sofia 41990, 92⫺95; V., S. I.: Makedonski narodni umotvorbi (Mazedon. Volksüberlieferungen) 1⫺5. ed. K. Penusˇliski. Skopje 1985,
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ˇ ivot i hier t. 1, 7⫺55 (Vorw.); Doklestic´, L.: S. V. Z djelo (1821⫺1894) (S. V. Leben und Werk [1821⫺ 94]). Zagreb 2007. ⫺ 2 V. 1985 (wie not. 1) t. 1⫺5. ⫺ 3 id.: Narodne pesme makedonski bugara (Volkslieder der mazedon. Bulgaren). 1: Zˇenske pesme (Frauenlieder). Belgrad 1860 (Nachdr. Sofia 1980, 2000); cf. auch id. 1961, 1966 (wie not. 1); id. 1985 (wie not. 1) t. 1. ⫺ 4 Bibliogr.n: Bogdanov, I.: Veda Slovena i nasˇeto vreme (Veda Slovena und unsere Zeit). Sofia 1991, 107⫺109; V. 1985 (wie not. 1) t. 5, 391. ⫺ 5 cf. id.: Veda Slovena (Veda der Slaven). t. 1: Ba˘lgarski narodni pesni ot predistoricˇno i predchristijansko doba (Bulg. Volkslieder aus vorgeschichtlicher und vorchristl. Zeit). Belgrad 1874; t. 2: Obrjadni pesni ot jazicˇesko vremja (Brauchtumslieder aus heidnischer Zeit). SPb. 1881; Christov, B. (ed.): Veda Slovena 1⫺2. Sofia 1997. ⫺ 6 Sˇisˇmanov, I. D.: Glück und Ende einer berühmten literar. Mystifikation: Veda Slovena. In: Archiv für slav. Philologie 25 (1903) 580⫺611; id.: Frenskata nauka i „Veda Slovena“. In: Festschr. L. Le´ger. Sofia 1925, 33⫺108. ⫺ 7 Arnaudov, M.: V. i „Veda Slovena“. Prinos ka˘m istorijata na ba˘lgarskija folklor i na ba˘lgarskoto va˘zrazˇdane v Makedonija s neizvestni pisma, dokladi i drugi dokumenti ot 1855 do 1893 g. (V. und „Veda Slovena“. Beitr. zur Geschichte der bulg. Folklore und der bulg. Wiedergeburt in Mazedonien mit unbekannten Briefen, Berichten und weiteren Dokumenten 1855⫺93). Sofia 1968; cf. Christov (wie not. 5) t. 2 (Beitr.e von Sˇisˇmanov, Arnaudov, Bogdanov, relevante Korrespondenz V.s, Zusammenfassung der kontroversen Diskussion). ⫺ 8 BP 5, 118. ⫺ 9 Lavrov, P. A./Polı´vka, J. (edd.): Lidove´ povı´dky Jihomakedonske´. Z rukopisu˚ St. Verkovicˇovy´ch (Südmazedon. Volkserzählungen. Aus den Hss. S. V.s). Prag 1932; spätere Ausg.n: V., S. I.: Juzˇnomakedonski narodni prikazni (Südmazedon. Volksmärchen) 1⫺2. ed. T. Sazdov. Skopje 1977; id. 1985 (wie not. 1) t. 4. ⫺ 10 cf. Popvasileva, A.: Tipolosˇko podreduvanje na prikaznite od zbornikot na Lavrov-Polı´vka (Typol. Ordnung der Märchen aus dem Sammelband von Lavrov/Polı´vka). In: Makedonski folklor 16 (1983) 213⫺254; BFP.
Sofia
Doroteja Dobreva
Verleumdung. Bei V.en (Mot. K 2100⫺K 2199) in Volkserzählungen sind grundsätzlich zwei Kategorien zu unterscheiden: einerseits die intrigante und mißgünstige verleumderische Person mit der von ihr aktiv propagierten V. und andererseits die Opfer, deren passiv erlittenes Schicksal meist im Vordergrund steht. Allg. gehören V.en zu den J Prüfungen, denen die Helden und Heldinnen populärer Erzählungen (bes. von Zauber- und Novellenmär-
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Verleumdung
chen) sowie mythische oder religiöse Gestalten (z. B. J Buddha oder die christl. Heiligen) ausgesetzt sind. Die Verleumder sind von Mißgunst, J Eifersucht, J Rache oder J Neid getriebene Antagonisten, oft Mitglieder der eigenen Familie. Wenn die Wahrheit schließlich doch ans Licht kommt, erleiden sie oft grausame J Strafen; Geduld, Tugend und J Unschuld triumphieren. Thematisch betreffen V.en vorrangig die Moral der Verleumdeten, bes. ihr Sexualverhalten. Dies kann sich einerseits auf angebliche außereheliche (J Ehebruch) oder sonst als unziemlich angesehene sexuelle Aktivitäten (etwa J Sodomie) beziehen; andererseits werden junge J Mütter der Kindstötung (J Kindsmörderin), des Kannibalismus oder der Geburt eines Monstrums (J Tiergeburt) beschuldigt. Auch erscheinen V.en wegen angeblichen Diebstahls oder Zauberei. In der ersten großen Gruppe von Erzählungen werden Männer wie Frauen beschuldigt, sie hätten eine Person verführen oder vergewaltigen wollen, die ihnen in Wirklichkeit selbst Avancen gemacht hatte und von ihnen verschmäht worden war (J Verführung, J Vergewaltigung). Unschuldig verleumdete Männer erscheinen bereits im Ägypt. J Brüdermärchen (AaTh 870 C*, 302 B/ATU 870, 302 B), später in der alttestamentlichen Erzählung vom keuschen J Joseph und der Frau des Potiphar (Gen. 39,7⫺20) und in der griech. Mythologie (J Peleus, J Bellerophon, Tennes, Hippolytos)1. Dieses Thema, das oft eine inzestuöse (J Inzest) bzw. ödipale Komponente hat, greift später J Heliodoros auf (Aithiopika 1,9⫺11)2. Eine ähnliche Konstellation ist prägend für die Rahmengeschichte des internat. wirkungsmächtigen Romans von den J Sieben weisen Meistern (AaTh/ATU 875 D*: The Prince’s Seven Wise Teachers). Die Volksüberlieferung nutzt das Thema in verschiedenen Erzähltypen: In AaTh/ATU 567 A: cf. Das wunderbare J Vogelherz führt die Anklage der Stiefmutter, der Held habe sie verführen wollen, dazu, daß der junge Mann zum Tode verurteilt wird. Auf gleiche Weise will sich in AaTh/ATU 514**: cf. J Frau als Doktor eine verheiratete Königin an einem jungen Mann rächen, der sie verschmäht hat; als sich zeigt, daß es sich in Wirklichkeit um eine J Frau in Männerkleidung handelt, wird die Verleumderin hingerichtet. In oriental.
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Var.n von AaTh/ATU 712: J Crescentia wird die als Mann verkleidete Protagonistin fälschlich des sexuellen Umgangs mit der Prinzessin beschuldigt; während der Mob diese tötet, kann die Protagonistin sich durch Aufdeckung ihres wahren Geschlechts retten3. Auch in zahlreichen Var.n von AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen) bildet ein angeblicher Ehebruch den Grund dafür, daß der Held getötet werden soll. V. betrifft vor allem angebliches sexuelles Fehlverhalten von J Frauen (Kap. 3. 1.2). In den europ. Lit.en sind derartige Erzählungen bes. seit dem MA. verbreitet: Die Mutter des Kaisers J Octavian bezichtigt ihre Schwiegertochter des Ehebruchs, worauf ihr Mann sie mit ihren neugeborenen Zwillingen verstößt. Ähnlich wird Crescentia von ihrem abgewiesenen Schwager oder die tugendhafte Ehefrau in AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline von einem Freund ihres Mannes des Ehebruchs bezichtigt. Die verleumdeten Heldinnen in AaTh/ ATU 896: The Lecherous Holy Man and the Maiden in a Box und AaTh/ATU 881: cf. Frau in Männerkleidung werden in einer Kiste ins Meer geworfen, da ihr Vater (Ehemann) der verleumderischen Behauptung glaubt, sie seien unkeusch gewesen. Ebenso soll die Tochter in AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen auf Befehl ihres Vaters umgebracht werden, wird jedoch von ihrem mitleidigen Bruder verschont (cf. J Tierherz als Ersatz), und die Prinzessin in AaTh/ATU 892: cf. Cymbeline muß ihrem Bruder beweisen, daß sie ihre Jungfernschaft nicht verloren hat. J Keuschheit bzw. Unkeuschheit ist auch ein zentraler Gegenstand von Heiligenlegenden. Wie Crescentia werden J Kunigunde und J Genovefa des Ehebruchs beschuldigt. Männlichen Heiligen wird unterstellt, sie hätten ein uneheliches Kind gezeugt; dieses spricht dann allerdings im Mutterleib und nennt den wahren Vater (J Kind spricht [weint] im Mutterleib). Eine zweite große Gruppe von Erzählungen betrifft die Mutterrolle der Protagonistinnen. Da Mutterschaft für die Reproduktion der Gemeinschaft und damit für die gesellschaftliche Stellung der Frau eine große Bedeutung besitzt, bildet sie eine wichtige Etappe auf dem (Initiations-)Weg der Heldinnen; Ablehnung und Verweigerung der Mutterschaft oder eine
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Verleumdung
gesellschaftlich als nicht adäquat angesehene Ausfüllung gelten als inakzeptabel. Daher behaupten Schwestern, Schwiegermütter oder andere Personen (J Hebamme), die jungen Müttern schaden wollen, diese hätten Monstren (Tiere) geboren, die Neugeborenen getötet (Mot. K 2116.1.1) oder Kannibalismus an ihnen begangen (Mot. K 2116.1.1.1). Angebliche Monstergeburten finden sich schon in einer Reihe ma. Romane. In der J Schwanenritterüberlieferung beschuldigt die Schwiegermutter die von ihr nicht akzeptierte Schwiegertochter nach der Geburt ihrer Kinder, sie habe Welpen (Drachen) geboren. Auch im ma. frz. Roman La Belle He´le`ne de Constantinople wird J Helena von ihrer Schwiegermutter beschuldigt, sie habe zwei Ungeheuer geboren; hier muß Helena zudem anfangs vor ihrem eigenen Vater fliehen, der sie heiraten will. Verwandt ist die Erzählung AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände, in der ebenfalls die väterliche Begierde und die V. der Heldin bei der Geburt ihrer Kinder vorkommen. Inzestvorwurf und Monstergeburt sind dabei imaginär in einer Ursache- und Wirkungsbeziehung miteinander verbunden4. Eine angebliche Monstergeburt ist auch im Zaubermärchen AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne konstitutiv. Hier tauschen die bösen Gegenspielerinnen die neugeborenen Kinder gegen Tierjunge aus. Sporadisch erscheint eine ebensolche V. auch in Var.n von AaTh 433/ ATU 433 B: cf. J König Lindwurm. Das angebliche Scheitern der Frau in ihrer Mutterrolle wird noch verstärkt, wenn sie beschuldigt wird, ihre Kinder getötet oder gar verspeist zu haben. Die Heldinnen von AaTh/ ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder, AaTh/ATU 706 C: The Father Who Wanted to Marry His Daughter und AaTh/ATU 710: J Marienkind werden aufgrund dieser V. schwer bestraft, verstoßen oder sogar zum Tode verurteilt. Manchmal ist die Beschuldigung des Kindsmordes durch die des Kannibalismus ersetzt, die für AaTh/ATU 894: J Geduldstein charakteristisch zu sein scheint; sie findet sich auch in AaTh/ATU 652: J Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen. Die zu Unrecht angeklagten Frauen werden am Ende allerdings als liebevolle Mütter und Ehefrauen erkannt, als Heldinnen, die ihren Status verdienen.
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Neben diesen beiden großen Kategorien von V.en erscheinen vereinzelt zahlreiche weitere V.smotive: In einer Erzählung der J Ja¯takas (num. 194) beschuldigt der König Brahmadatta, der sich in die Gattin des Bodhisattva verliebt, diesen des Diebstahls und verurteilt ihn zum Tode. In AaTh/ATU 612: Die drei J Schlangenblätter bezichtigt die Frau ihren Ehemann des Diebstahls, um mit ihrem Liebhaber zusammenleben zu können. Erzählungen aus der oriental. Überlieferung kennen auch eine doppelte Verleumdung: Ein Neider warnt den Berater, der König verabscheue seinen stinkenden J Atem; als der Berater daraufhin vom König Abstand hält, verleumdet der Neider ihn beim König, er tue dies wegen des schlechten Mundgeruchs des Königs (Mot. K 2135). AaTh/ATU 1353: Böses J Weib schlimmer als der Teufel erzählt davon, wie eine intrigante Person durch V. die sich ursprünglich innig zugetanen Eheleute entzweit. Das Thema des mißgünstigen Karrieristen erscheint schon in den antiken Fassungen von AaTh/ATU 922 A: J Achikar: Der Neffe Achikars, von diesem als Nachfolger vorgeschlagen, verleumdet ihn beim König, er wiegle das Volk auf. Eine ähnliche Verknüpfung von V. mit Undankbarkeit findet sich auch in AaTh/ ATU 160: J Dankbare Tiere, undankbarer Mensch: Hier beschuldigt der undankbare Mann seinen früheren Lebensretter des Diebstahls; die Undankbarkeit der Menschen wird damit der Dankbarkeit der Tiere (die von dem Mann zuvor ebenfalls gerettet worden waren) gegenübergestellt, die sich damit als moralisch überlegen zeigen. Eifersucht, Neid, Undankbarkeit und unwahre Behauptungen sind auch in anderen Erzählungen Triebkräfte der Intrige. In AaTh/ ATU 328: J Corvetto, AaTh 513 C/ATU 531: J Sohn des Jägers und AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue will eine mißgünstige Person den Helden ins Verderben schicken und veranlaßt den König dazu, von ihm die Erfüllung überaus schwieriger J Aufgaben zu fordern, die angeblich nur der Held bewältigen könne. In AaTh/ATU 328 sind die Verleumder die Brüder des Helden, die jener zuvor vor dem Oger gerettet hat. Auch in AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens sind es die neidischen Brüder, die den Jüngsten verleumden. In AaTh/ATU 571 B: cf. J Liebha-
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Verlobung
ber bloßgestellt ist das Stellen schwieriger Aufgaben mit der Beschuldigung durch die Ehefrau, der Held betreibe Zauberei, verbunden. Aus der Perspektive der Erzähler bzw. Zuhörer werden V.en immer moralisch verurteilt, und die Verleumder werden bestraft. Nach christl. Auffassung ist V. eine J Sünde, ein teuflisches Verhalten, so wie der J Teufel selbst ein Verleumder ist (griech. diabolos: Verleumder, Widersacher). Dies illustrieren ma. Exempla. Eines erzählt z. B., daß eine Verleumderin vom Teufel besessen ist5. Andere beschreiben das Schicksal der Verleumder: Eine Frau wird vom Blitz erschlagen6; ein Priester wird nach seinem Tod vom göttlichen Richter verurteilt7; die Zunge eines anderen hängt bis zum Boden und verbrennt ihm den Mund8. Der Verleumder in AaTh 882B*/ATU 760 A: J Klapperhannes findet nach seinem Tod keine Ruhe, bevor nicht seine Sünde vergeben ist. 1 Graves, R.: Les Mythes grecs 1⫺2. P. 1967, t. 1, 271⫺273, 378⫺383; t. 2, 288. ⫺ 2 Ke´renyi, K.: Die griech.-oriental. Romanlit. in religionsgeschichtlicher Bedeutung. Darmstadt 21962, 251⫺253. ⫺ 3 cf. Marzolph, U.: Crescentia’s Oriental Relatives. The „Tale of the Pious Man and His Chaste Wife“ in the „Arabian Nights“ and the Sources of Crescentia in Near Eastern Narrative Tradition. In: Marvels & Tales 22 (2008) 240⫺258, hier 243 sq. ⫺ 4 Dundes, A.: The Psychoanalytic Study of the Grimms‘ Tales with Special Reference to „The Maiden without Hands“. In: The Germanic Review 62 (1987) 50⫺65. ⫺ 5 Wenz, D.: Lehrreiches Exempelbuch 3. Augsburg 1757, 92. ⫺ 6 Tubach, num. 3046. ⫺ 7 Alsheimer, R.: Das Magnum Speculum Exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Ffm. 1971, 134, num. 66. ⫺ 8 ibid., num. 67.
Athen
Manouela Katrinaki
Verlobung (Mot. T 61). Der Begriff V. bezeichnet einerseits ein Eheversprechen (J Ehe), das mit oder ohne rechtliche Formalitäten eingegangen und vielfach durch Tausch von J Ringen sowie eine Feier besiegelt wird, andererseits die Bindung selbst sowie deren zeitliche Dauer. Seit der Antike als Rechtsinstitut bezeugt, bedurfte die V. der Zustimmung des J Vaters bzw. stellte einen Vertrag zwischen dem Vater (Vormund) der J Braut und dem Bräutigam dar (z. T. mit Widerspruchs-
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recht der Braut). Als Zeit der Probe, deren Dauer nicht selten festgelegt war, konnte die V. teilweise (auch einseitig) gelöst werden, teilweise bedeutete sie eine einklagbare Verpflichtung1. Im christl. Kontext bildet die V. eine Metapher für die mystische Liebe zum himmlischen Bräutigam: In umfassender Sicht ist die Kirche die Braut J Christi (cf. 2. Kor. 11,2)2, individualisiert veranschaulicht in den Viten jungfräulicher Heiliger (z. B. Agnes3, J Dorothea, J Katharina von Alexandrien, J Kümmernis, ´ vila4), die sich der Ehe verweiTheresia von A gerten und Christus als Braut anverlobten (cf. auch die geistliche V. der J Nonnen). In der älteren Lit. und der traditionellen Erzählüberlieferung werden reale V.spraktiken in vielfältiger Weise aufgegriffen und als Katalysatoren der Handlung eingesetzt. V.sszenen sind in einer Reihe von Zaubermärchen geschildert, u. a. in Var.n von AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder, in denen der König seine künftige Frau im Wald findet und um ihre Hand bittet, oder in Fassungen von AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen5. In der ma. Lit. ist des öfteren der Ringwechsel6 bei der V.sfeier7 bezeugt. Eine aristokratische Gepflogenheit greifen die altfrz. J Berta-Überlieferungen sowie Märchen auf, in denen dem Verlobten eine noch nicht (oder nur durch ein Bild) bekannte Braut zugeführt wird (AaTh/ ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf ). Hier ermöglicht die Hinterlist der Begleiterinnen die Vertauschung der rechtmäßigen Verlobten. Ein großes Potential an Schwierigkeiten birgt auch die Festsetzung einer Frist zwischen V. und Heirat8: In Isländersagas des 13. Jh.s kann ein Zauber (Korma´ks saga) oder eine Verletzung (Gunnlaugs saga) den Helden von der rechtzeitigen Erfüllung seines Ehevertrags abhalten, oder er kann bei Untreue in der V.szeit von der Verführerin später magisch am Vollzug der Ehe gehindert werden (Nja´ls saga)9. Im Zaubermärchen setzt der Held, der mit einer Prinzessin zu einer verlöbnisähnlichen Vereinbarung (oft nach einem Rettungs- oder Liebesakt) gelangt ist (festgelegte Frist: z. B. ein Jahr und ein Tag), häufig seine Abenteuerfahrt fort und kehrt erst im letzten Moment zur J Hochzeit zurück, wobei er vielfach einen J Usurpator zu entlarven hat
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Verlobung
(z. B. AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter, Kap. 9; AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder)10. In Märchen mit Liebesthematik verursacht meist das Fehlverhalten des einen (oft gesellschaftlich niedriger stehenden) Partners schwierige Wiederfindungsprozesse, die von der inoffiziellen zur offiziellen Bindung führen (AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau; AaTh/ ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche; AaTh/ ATU 408). Von patriarchalen Strukturen zeugen Märchen, in denen Väter ohne Konsultation der Betroffenen ihre Töchter einem Monster versprechen (AaTh/ATU 552: J Tierschwäger; AaTh/ATU 425 C: cf. Amor und Psyche; AaTh/ATU 441: J Hans mein Igel; cf. AaTh/ATU 1440: Das unterschobene J Tier) oder unerwünschte Verlobte fortschicken, um die Tochter anderweitig zu verheiraten (AaTh/ ATU 885 A: J Scheintote Prinzessin). Heimlich Verlobte greifen ihrerseits zu Tricks, um den väterlichen Willen zu umgehen11. Vergessene oder verlassene Bräute kämpfen mit Phantasie und Ausdauer um ihren Verlobten, den sie endlich zurückerobern können (AaTh 313 C/ATU 313: cf. J Magische Flucht; AaTh/ ATU 870: J Prinzessin in der Erdhöhle; KHM 67, AaTh/ATU 884: cf. J Frau in Männerkleidung)12. Ein eher seltenes Beispiel für das Aufgeben älterer Ansprüche (hier von männlicher Seite) bietet AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung. Weit verbreitet sind Erzählungen über V.en im Kindesalter: Häufig verloben die Eltern die Kinder13 (selbst ungeborene oder nur als Teil der Zukunftsplanung existierende Sprößlinge14), aber die V. wird oft aufgesagt, oder man versucht, sich des unerwünschten Verlobten zu entledigen (AaTh/ATU 611: J Geschenke der Zwerge), weil einer der Väter verarmt oder eine der Partien als unstandesgemäß empfunden wird15. In anderen Fällen verloben die Kinder (Jugendlichen) sich selbst, werden aber getrennt16. Nach vielen Jahren führt der junge Mann (AaTh/ATU 885: Die scherzhafte J Trauung; AaTh/ATU 926 C*: The Betrothed Children) oder die junge Frau die Wiedervereinigung herbei (AaTh/ATU 870). Eine himmlische Fügung deuten Erzählungen an, in denen die verlobten Kinder am gleichen Tag bzw. in der gleichen Nacht geboren sind (J Floire et Blancheflor)17; doch auch wenn sie unwillkom-
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men ist, führt eine vom Schicksal bestimmte V. unausweichlich zur Ehe (AaTh/ATU 930 A: Die vorbestimmte J Frau; männliches Gegenstück: Haboucha **930 E: The Fated Marriage). Allg. scheint in der traditionellen Erzählüberlieferung eine konservative Tendenz zu überwiegen: Die V. ist endgültig, bewährt sich und führt zur (glücklichen) Ehe; frühere Bindungen behaupten sich gegenüber den neueren. Ein negatives Bild zeichnen allerdings Märchen, die von der gefährlichen V. mit einem Verbrecher (AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam; AaTh/ATU 956 B: Das tapfere J Mädchen und die Räuber; analog zur gefährlichen Ehe: AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder) oder von der lebensbedrohenden Rückkehr des toten Verlobten handeln (AaTh/ ATU 365: J Lenore). Das wohl wichtigste zeitgenössische Genre, in dem die V. als Zeit des Übergangs und der Initiation eine Rolle spielt, ist der (vorwiegend kommerzielle) Film. Das Thema ist hier meist burlesk gestaltet, wobei es u. a. um unentschlossene, eifersüchtige oder untreue Verlobte, um Turbulenzen in der V.szeit aufgrund von Problemen mit der Familie oder um vorgetäuschte bzw. fiktive V.en geht18. 1
Mammen, J. von: Zur Frage des Verlöbnisses im alten griech. Recht. Diss. Würzburg 1972; Kaser, M./ Knütel, R.: Röm. Privatrecht. Mü. 172003, 356 sq.; Schereschewsky, B.-Z.: Betrothal. In: Enc. Judaica 3. Detroit u. a. 22007, 539⫺541; Kroeschell, K.: V., Verlöbnis. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1549; Frimannslund, R./La´russon, M./Hafström, G.: Festerma˚l. In: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder 4. Kop. u. a. 1959, 233⫺241; Schwab, D.: Verlöbnis. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 5. B. 1998, 764⫺767; Dombois, H.: Verlöbnis. In: RGG 6 (31962) 1360 sq.; Sohm, R.: Das Recht der Eheschließung. (Weimar 1875) Neudruck Aalen 1966, 22⫺106; Siffert, R.: V. und Trauung. Die geschichtliche Entwicklung des schweiz. Eheschliessungsrechts. Zürich 2004; Bächtold, H.: Die Gebräuche bei V. und Hochzeit mit bes. Berücksichtigung der Schweiz. Basel 1914. ⫺ 2 LThK 2 (21958) 660⫺ 662. ⫺ 3 Legenda aurea/Benz, 133 sq. ⫺ 4 LThK 10 (21965) 98. ⫺ 5 Shojaei Kawan, C.: Einige Gedanken zur internat. Märchenforschung, anhand von drei Orangen. In: Vk. in Niedersachsen 17,1 (2000) 41⫺ 54, hier 50. ⫺ 6 Boberg T 61.4.5; Birkhan T 61.4.5; Bordman T 61.4.5.1; Guerreau-Jalabert T 61.4.5, T 61.4.5.1. ⫺ 7 Birkhan T 61, T 61.4; Bordman T 61, T 61.4.2; Cross T 61; Guerreau-Jalabert T 61. ⫺ 8 Birkhan T 61.2; Bordman T 61.2, T 61.2.1, T 61.2.2 (7 Jahre); Guerreau-Jalabert T 61.2.3 (1 Jahr); Child,
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Verlorener Sohn ⫺ Vermehrung
´ . (ed.): I´slenzk num. 17 (7 Jahre). ⫺ 9 Sveinsson, E. O fornrit 8. Reykjavı´k 1939, 222⫺224 (Korma´ks saga); Jo´nsson, G./Nordal, S. (edd.): I´slenzk fornrit 3. Reykjavı´k 1938, 58⫺60, 83⫺98 (Gunnlaugs saga ´ . (ed.): I´slenzk fornrit Ormstungu); Sveinsson, E. O 12. Reykjavı´k 1954, 20⫺23 (Brennu-Nja´ls saga). ⫺ 10 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 229 sq., cf. 226⫺228; Bru, J.: Contes doubles et double mariage ou Penser/classer la litte´rature orale. In: Fabula 38 (1997) 210⫺223, hier 212, 215. ⫺ 11 z. B. Kristensen, E. T.: Bindestuens saga. Kop. 1897, num. 5. ⫺ 12 cf. ferner Child, num. 53; Rotunda T 56.3.*; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 1. Helsingfors 1917, 454, num. 9. ⫺ 13 El Shamy, Folk Traditions T 61.5.0.1§; Marzolph/ van Leeuwen 1, 165, num. 549; Hackman (wie not. 12) 453 sq., num. 8; EM 6, 463 (not. 10). ⫺ 14 El Shamy, Folk Traditions T 61.5.3; Marzolph/van Leeuwen 1, 317⫺319, num. 22; Hackman (wie not. 12) 453, num. 7. ⫺ 15 EM 13, 1051 (turkmen.). ⫺ 16 Boberg T 61.5.2; Birkhan T 61.5.2; Hackman (wie not. 12) 451⫺453, num. 2⫺4, 7. ⫺ 17 cf. ferner Cross T 61.5*. ⫺ 18 cf. z. B. Father of the Bride. USA 1950 (Regie Vincente Minnelli) und 1991 (Regie Charles Shyer); Die Zürcher V. Deutschland 1956/57 (Regie Helmut Käutner); Guess Who’s Coming to Dinner. USA 1967 (Regie Stanley Kramer); French Kiss. USA/Großbritannien 1995 (Regie Lawrence Kasdan); While You Were Sleeping. USA 1995 (Regie Jon Turteltaub); Addicted to Love. USA 1997 (Regie Griffin Dunne); Runaway Bride. USA 1999 (Regie Garry Marshal); Meet the Parents. USA 2006 (Regie Jay Roach).
Göttingen Rom
Christine Shojaei Kawan Michael Chesnutt
Verlorener Sohn J Heimkehr des verlorenen Sohnes
Vermehrung bedeutet meist eine Vervielfältigung vorhandener Sachwerte. Sie resultiert oft aus persönlichem Geschick, kann aber auch auf J Glück oder J Zufall beruhen; in der Regel benötigt sie eine gewisse Zeit. Wenngleich die realistische V. dem traditionellen Erzählgut nicht völlig fremd ist, handelt es sich hier bei V. primär um ein übernatürliches bzw. wunderbares Ereignis, bei dem das Vorhandene unter Umgehung des individuellen Einsatzes sowie der dafür aufzuwendenden Zeit entweder spontan vermehrt bzw. vervielfältigt wird oder sich trotz Verbrauchs nicht erschöpft. Damit bringt das Motiv der V. mär-
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chentypisches Wunschdenken (J Wunschdichtung) dergestalt zum Ausdruck, daß selbst unendlicher Überfluß als prototypische Versinnbildlichung materieller Sicherheit ohne individuelle Leistung zu erreichen ist (cf. auch AaTh/ATU 1930: J Schlaraffenland). Weit verbreitet sind in der religiösen Überlieferung V.swunder, bei denen eine kleine Nahrungsmenge zur Sättigung einer oft großen Anzahl von Personen ausreicht (J Speisewunder; Mot. D 1652.1.0.1). Derartige Massenspeisungen, vor allem die wundersame Brotvermehrung (J Brotlegenden, Kap. 1), sind manifestes Zeichen göttlicher Wirkmächtigkeit. Zahlreiche christl. Heiligenviten behandeln V.swunder (Mot. D 2106.1), mit denen nicht nur Hunger und Durst, sondern auch die materielle und seelische Not der Bedürftigen behoben wird. Wunderbare V.en von Speisen oder Getränken sind bereits aus der Antike überliefert. So sollen sich J Pausanias (6,26) zufolge an den Festtagen die Kessel in den Dionysostempeln von Elis und Andros unaufhörlich mit J Wein gefüllt haben1. J Herodot (8,137) erzählt in der makedon. Urgeschichte davon, wie sich das J Brot des zukünftigen Herrschers, des jüngsten von drei Brüdern, auf wunderbare Weise vergrößert2. Von J Buddha heißt es, daß er mit einem einzigen Brot seine 500 Jünger, dazu noch alle Insassen eines Klosters sättigte und daß zudem noch zwölf Körbe voll Brot übrigblieben3. Der Prophet J Elias segnet Mehltopf und Ölkrug einer gastfreundlichen Witwe mit Unerschöpflichkeit (1. Kön. 17,8⫺16; Mot. D 1470.2.3)4; auch sein Jünger Elisa vermehrt Öl (2. Kön. 4,1⫺7) und Brot (2. Kön. 4,42⫺44). Bes. reich bezeugt sind Massenspeisungen durch Jesus J Christus mit geringen Brot- und Fischmengen im N. T. (Mk. 6,30⫺44; Lk. 9,12⫺17; Mt. 14,13⫺21; Joh. 6,1⫺15; Mk. 8,1⫺10; Mt. 15,32⫺39). Nach islam. Überlieferung sollen sich in Anwesenheit des Propheten J Mohammed geringe Nahrungsmengen so vermehrt haben, daß sie für eine große Zahl Anwesender ausreichten5. Einmal soll Mohammed 1000 Männer mit einem einzigen Schaf gesättigt haben6. Darüber hinaus werden zahlreichen weiteren verehrten Personen der islam. Überlieferung V.swunder zugeschrieben, sowohl von Nahrungsmitteln (Brot, Melonen, Äpfel, Milch,
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Vermehrung
Datteln etc.) als auch etwa von Tinte oder Geldstücken7. Unter dem Einfluß der bibl. Berichte wurden V.swunder ein häufiges Motiv der christl. Überlieferung. Speisenvermehrung: Mönche, die ihr Brot (Mehl) Bedürftigen gegeben haben, finden ihre Kisten um so reichlicher gefüllt8. Bei einer Hungersnot im Jahr 1197 werden im Kloster des Abtes Gerardus die Mehlsäcke nicht leer, und kleine Teiglaibe gehen zu mächtigen Broten auf 9; ähnlich werden die Kornsäcke des frommen Bäckers zu Reinhardsbrunn nicht leer10. J Nikolaus läßt 100 Maß Weizen von einem Schiff abladen, um ihn an die hungernde Bevölkerung zu verteilen, wobei sich die Fracht nicht mindert; von dem Getreide wird nicht nur das ganze Land zwei Jahre lang gespeist, sondern es bleibt auch noch genug zur Aussaat übrig11. Die Jungfrau Maria vergrößert Mönchen die Portionen12. Laurentius betet zunächst ein Weißbrot im Backofen herbei; dieses mehrt er dann so, daß es allen seinen Kirchenbauarbeitern zehn Tage lang zur Nahrung genügt13. Das von J Elisabeth an die Armen verschenkte Korn reicht, unabhängig von der zur Verfügung stehenden Menge, immer für deren jeweiligen Tagesbedarf 14. Getränkevermehrung: J Brigitta von Kildare vermehrt u. a. Milch und Bier15. Remigius füllt einer armen Frau durch Gebet ein Faß mit Wein bis zum Überfließen16. Odilo von Cluny löscht mit dem Rest Wein in seinem Glas den Durst vieler17. Geldvermehrung: Agnes besitzt einen sich immer wieder von selbst füllenden Geldbeutel (Mot. D 1451); dem Evodius vermehrt sich das Geld in der Tasche, und Goswinus kann das gleiche Wunder in den Börsen der Armen vollbringen18. Sonstige V.swunder: Laurentius läßt einen zu kurz geratenen Holzbalken so wachsen, daß er ein ganzes Stück zu lang wird (cf. AaTh/ATU 1244: J Balkenstrecken)19. Als J Genovefa während der Austreibung eines Dämons das Salböl zur Neige geht, füllt sich die Flasche auf wundersame Weise wieder von selbst20.
In einigen weltweit verbreiteten Märchen stehen J Zaubergaben im Mittelpunkt, die ihre Besitzer unbegrenzt mit Speisen und Getränken oder auch mit Geld versorgen (AaTh/ ATU 563: J Tischleindeckdich; AaTh/ATU 564: J Provianttasche; AaTh/ATU 565: J Wundermühle; AaTh/ATU 569: J Ranzen, Hütlein und Hörnlein); steht der materielle Gewinn im Vordergrund, ist oft der J Teufel im Spiel (AaTh/ATU 360: J Handel mit dem Teufel; AaTh/ATU 361: J Bärenhäuter). Der unsachgemäße Gebrauch der Zaubergegenstände kann allerdings ⫺ wie in AaTh/ATU 565 der Topf mit dem überquellenden Brei ⫺ eine bedrohliche Situation schaffen, die erst durch
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das Eingreifen einer kundigen Person beendet werden kann (cf. auch J Zauberlehrling). Darüber hinaus erscheinen V.swunder in einer Reihe weiterer Märchen und Sagen. In KHM 93, AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau kann der Held im Haus einer Jenseitigen so viel Brot, Fleisch und Wein zu sich nehmen, wie er will, ohne daß die Nahrungsmittel weniger werden. Die geizige Frau in AaTh/ATU 751 A⫺B: J Bäuerin als Specht versucht, für einen hungrigen Bettler möglichst wenig Teig zu verbrauchen bzw. nur ein winziges Brot zu backen; dies mißlingt ihr, da der Teig auf wunderbare Weise immer mehr bzw. das Brot immer größer wird (Mot. D 1652.1.2). In einer Erzählung nordamerik. Indianer kann der hungrige Held so viel Speise aus einem Kessel nehmen, wie er will, ohne daß der Behälter leer wird21. Der Protagonist eines litau. Märchens findet einen Brotlaib, der sich von selbst wieder ergänzt, wenn er zur Hälfte geschnitten wird, und eine Flasche Wasser, die sich immer wieder füllt22. Ein Priester bewirtet in einem chin. Märchen seine zahlreichen Gäste mit einer einzigen Kanne Wein23. In einem korean. Märchen besitzt ein alter Mann einen Stein, mit dem er jeden Gegenstand verdoppeln kann24. In europ. Sagen vermehrt sich der Gegenstand (Flachs, Getreide, Geld), zu dem ein J Schlangenstein gelegt wird25. AaTh/ATU 750 A: cf. Die drei J Wünsche verknüpft das V.swunder mit dem Motiv der fatalen J Imitation: Gott belohnt die gastliche Frau, indem er die erste Tätigkeit, die sie nach seinem Weggang beginnt, bis zum Abend fortdauern läßt (Mot. J 2072.3); da sie Leinwand abmißt, wird sie reich. Die neidische Nachahmerin will eigentlich Geld zählen, muß dann aber zuerst noch ihre Notdurft verrichten. Eine schwankhafte Behandlung des V.smotivs findet sich auch in AaTh/ATU 1381 D: cf. Die geschwätzige J Frau: Um die Verschwiegenheit seiner Frau zu testen, gibt der Mann vor, er habe ein Ei gelegt. Die Frau erzählt den Vorfall unmittelbar weiter, und beim weiteren Tratsch wird die Zahl der Eier durch J Übertreibung ständig größer. Als Strukturprinzip erscheint die V. in J Kettenmärchen, in denen die einzelnen Kettenglieder beliebig vervielfacht werden können, wobei in jedem neuen Glied auf den Inhalt des vorhergehenden zurückgegriffen wird.
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1 Halliday, W. R.: The Magical Vine of Nysa and the Dionysiac Wine Miracle. In: The Classical Review 42 (1928) 19; Günter 1949, 34. ⫺ 2 Aly, W.: Volksmärchen, Sage und Novelle bei Herodot und seinen Zeitgenossen. Göttingen 1921 (21969), 196 sq. ⫺ 3 Günter, H.: Buddha in der abendländ. Legende? Lpz. 1922, 214. ⫺ 4 Labahn, M.: Offenbarung in Zeichen und Wort. Unters.en zur Vorgeschichte von Joh 6,1⫺25a und seine Rezeption in der Brotrede. Tübinø adı¯the gen 2000, 165⫺171. ⫺ 5 Bülow, G. von: H über Wunder des Propheten Muhø ammad insbesondere in der Traditionsslg des Buh˚a¯rı¯. Diss. Bonn 1964, 32⫺50, 137. ⫺ 6 Schimmel, A.: Und Muhammad ist sein Prophet. Die Verehrung des Propheten in der islam. Frömmigkeit. Düsseldorf 1981, 79. ⫺ 7 Gramlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Theologien und Erscheinungsformen des islam. Heiligenwunders. Wiesbaden 1987, 328⫺331. ⫺ 8 Tubach, num. 766. ⫺ 9 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 4,54; cf. HDA 8 (1936⫺37) 222. ⫺ 10 Bechstein, L.: Thüringer Sagenbuch 1. Lpz. 21885, 280, 146. ⫺ 11 Legenda aurea/Benz, 28. ⫺ 12 Tubach, num. 3863. ⫺ 13 Legenda aurea/Benz, 571. ⫺ 14 ibid., 879; cf. auch Reber, O.: Die Gestaltung des Kultes weiblicher Hll. im SpätMA. Hersbruck 1963, 139, not. 74; Toldo 1909, 458. ⫺ 15 EM 2, 791. ⫺ 16 Legenda aurea/Benz, 113. ⫺ 17 EM 1, 77. ⫺ 18 EM 1, 75. ⫺ 19 Legenda aurea/Benz, 571. ⫺ 20 Hartmann-Petersen, G.: Genovefa von Paris. Kiel 2007, 74. ⫺ 21 Knortz, K.: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas. Mü. 1979, num. 39. ⫺ 22 Schleicher, A.: Litau. Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder. Weimar 1857, 27⫺35, bes. 30. ⫺ 23 Wilhelm, R.: Chin. Volksmärchen. MdW 1914, num. 34. ⫺ 24 Arnous, H. G.: Korean. Märchen und Legenden […]. Lpz. [1896], num. 33. ⫺ 25 Kühnau, R.: Schles. Sagen 2. Lpz. 1911, num. 989; Graber, G.: Sagen und Märchen aus Kärnten. Graz 1944, 119; Haiding, K.: Österreichs Sagenschatz. Wien 1965, num. 123, 313.
Mariakerke
Harlinda Lox
Vermittlung 1. Allgemeines ⫺ 2. Inhalte ⫺ 3. Vermittler ⫺ 4. Medien ⫺ 5. Kontexte der V. ⫺ 5. 1. Makroebene ⫺ 5. 2. Mikroebene
1 . All ge me in es. Für die Kulturwissenschaften, also auch für die Erzählforschung, steht die kommunikative V. von „kulturalen Werten in Objektivationen und Subjektivationen“1 bzw. die V. von Bewußtseinsinhalten durch Sprache, Bilder oder andere Zeichensysteme im Mittelpunkt (J Kommunikation). Dieses symbolische Handeln wird als wesentli-
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cher Bestandteil jeglicher Kultur gesehen2. Auf die in Politik und Recht übliche Verwendung des Begriffs V. im Sinne von Mediation zwischen Konfliktparteien3 kann hier nicht eingegangen werden, wiewohl Erzählen dabei oft eine große Rolle spielt, z. B. in Afrika in der traditionellen Form des Palavers (cf. auch J Dilemmageschichten, -märchen)4. 2 . I nh al te. Im Hinblick auf Erzählen und Erzählungen lassen sich die Inhalte oder Gegenstände der V. in vier Gruppen gliedern. Es sind (1) die Erzählungen selbst, also die textuellen und bildlichen Objektivationen. In ihnen und durch sie können (2) zumeist im Prozeß der J Sozialisation bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden, nämlich die des Verstehens, Zuhörens, Fragens, Interagierens und Debattierens sowie auch des Erzählens oder Singens (cf. J Formelhaftigkeit, Formeltheorie; J Oral Poetry); für Kleinkinder spielen Märchen, formelhafte Erzählungen oder J Fingererzählungen eine große Rolle beim Spracherwerb, Zählenlernen und bei der Entwicklung sensomotorischer Fähigkeiten5. Auch die V. von sozialen Verhaltensweisen und Umgangsformen ist wichtig, wie überhaupt das Lernen durch Lieder6 und Erzählungen, bes. Märchen, Sagen und Exempel (J Didaktisches Erzählgut), stets zentraler Teil der Erziehung war und ist (cf. auch J Erziehung [in der Erzählung]). (3) Inhalte der J kognitiven V. durch Erzählungen sind neben Nachrichten und Neuigkeiten (J Sensation) bes. hist.7, genealogisches8, lokales, soziales und kulturelles Wissen ebenso wie Geheimwissen (etwa in Geheimbünden [J Freimaurer] oder in Handwerken) oder Nachrichten über fremde, unbekannte, utopische oder phantastische Welten (J Exotik, Exotismus; J Utopie, Utopia; J Topographie, fiktive; J Reiseberichte; J Science Fiction; J Phantasie, Phantastik, Kap. 4). (4) Vermittelt werden schließlich durch Erzählungen die für jedes kulturelle System grundlegenden J Weltbilder, Ideen und Konzepte9, J Werte, J Normen und Orientierungen, Glaubensvorstellungen und Ideologien ebenso wie die ,Bilder in den Köpfen‘ (J Stereotypen; J Stereotypen, ethnische; J Vorurteil). Auch J Gefühle wie Liebe und Haß, Angst und Mut können durch Erzählungen vermittelt werden.
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Vermittlung
Märchen, Sagen, Lieder sowie die komischen Gattungen wurden oft angeprangert wegen der V. von Werten, Verhaltensweisen, Botschaften und Bildern, die der offiziellen Ideologie zuwiderliefen. Kirche und Staat suchten über Jh.e die V. unerwünschter Inhalte durch J Zensur zu unterbinden; seit der J Aufklärung hat man die V. von ,Aberglauben‘ (z. T. bei gleichzeitiger Tradierung durch Beispielmaterial)10, im 19. Jh. die V. erotischer Inhalte (J Erotik, Sexualität)11 bekämpft. In neuerer Zeit wurde die V. von J Grausamkeit (als Erziehung zur Gewalt und zum Bösen) und von traditionellen J Rollenbildern der Geschlechter im Märchen12 sowie von ethnischen und geschlechtsspezifischen Vorurteilen durch J Witze kritisiert13. 3 . Ver mi tt le r. Die Vermittler von Erzählungen über größere räumliche, sprachliche und kulturelle Distanzen hinweg waren über Jh.e Vertreter von Handel und Seefahrt, Pilger und Reisende, Soldaten und Sklaven, Eroberer und Kolonisatoren, Auswanderer und Arbeitsmigranten ebenso wie Ehepartner fremder Herkunft14. Im engeren regionalen Rahmen fanden als Vermittler von Erzählgut und Liedern die Angehörigen bäuerlicher und unterbäuerlicher Schichten, mobile Gewerbetreibende und Nichtseßhafte bes. Aufmerksamkeit (J Erzählen, Erzähler). Im lokalen und familialen Kontext erzählten zumeist alte Leute den jungen. Die V. durch professionelle und halbprofessionelle Erzähler und Sänger (cf. J Bänkelsang; J Gaukler) war bes. im Orient15 und Fernen Osten (J China, Kap. 3. 4.1 u. ö.)16, in Afrika17 sowie Süd- und Südosteuropa18 verbreitet. Viel besprochen, aber kaum untersucht ist die V. von Erzählungen und Liedern über Sprachgrenzen hinweg, teils durch Erzähler und Sänger, die zwischen verschiedenen Sprachcodes vermitteln konnten19, teils aufgrund der Mehrsprachigkeit der Zuhörer, teils aufgrund diffusen Sichverstehens20. Manche Inhalte stagnieren allerdings an kulturellen Grenzen oder sind nur durch Umformung über sie hinweg vermittelbar21. Ähnlich wie mündl. Vermittler wirkten bei schriftl. Texten Kompilatoren und Autoren, Bearbeiter und Übersetzer, Verleger und Kolporteure (J Kolportageliteratur) als Vermittler von Erzählstoffen an das Lesepublikum (J Lesen; J
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Lit. und Volkserzählung). In der Rolle der Vermittler an Zeitgenossen oder die Nachwelt finden sich schließlich auch (wiss.) Sammler von Volksüberlieferungen sowie Erzählforscher; für viele von ihnen ist die V. an das ,Volk‘, die Jugend oder an kommende Generationen explizites Anliegen oder ,nationale Aufgabe‘ (J Patriotismus). Jh.elang galten Frauen als Hauptträgerinnen des Märchens (cf. J Ammenmärchen), bis die Forschung Männer als Erzähler entdeckte und ihnen teilweise Priorität zuerkannte22; Unters.en von Überlieferungslinien stellten Erzählerinnen z. T. als Repräsentanten einer an ihr Ende gelangten männlichen Tradition dar23. Inzwischen wurde eine solche männliche Vorrangstellung unter Hinweis auf die Umstände der Aufzeichnung, V.sbedingungen, geschlechtsspezifische Gattungs- und Themenpräferenzen sowie kulturspezifische Unterschiede relativiert24. 4 . Med ie n. Ebenso vielfältig wie die vermittelnden Personen sind die Medien der V. In früheren Zeiten war für die Masse der Bevölkerung die mündl. Überlieferung (J Orale Tradition) die vorrangige Form der V. von Erzählinhalten25; doch kamen schon in einigen Gesellschaften der Antike für die gebildeten Schichten schriftl. Weitergabe (J Schriftlichkeit) und Lesen hinzu. Mit dem Buchdruck erlangte seit dem späten 15. Jh. die V. durch J Lesestoffe jeglicher Art ebenso wie das (öffentliche) Vorlesen immer größere Relevanz. Schon früh nutzten Kirche, Staat und Aufklärer Erzählungen26 und Lieder27 für die gezielte V. religiöser, politischer und ideologischer Inhalte (J Ideologisierung; J Nation). Nicht zu vernachlässigen ist neben der schriftl. die visuelle V. durch Bilder und plastische Darstellungen (J Bildquellen, -zeugnisse; J Illustration; J Visualisierung). Eine wichtige Rolle spielt ferner die V. von Erzählinhalten durch Spiel und Tanz (J Märchenballett; J Oper; J Puppentheater; J Schattenspiel; J Volksschauspiel). Die J Werbung nutzt Märchen, Sagen, Sprichwörter und Lieder zur V. kommerzieller oder ideologischer Inhalte. Im 20. Jh. kamen als neue Medien der V. J Film, J Rundfunk und Fernsehen (J Television) sowie unterschiedliche J Tonträger hinzu (J Medien, audiovisuelle). Seit dem
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Ende des 20. Jh.s spielt das Internet eine immer wichtigere Rolle bei der V. von Erzählinhalten28. Angewendet wird der Begriff V. auch auf die Kommunikation zwischen Medien und Genres. J Buchmärchen müssen einer bestimmten ,Erzählgrammatik‘ gehorchen, um Teil der mündl. Überlieferung werden zu können29; auch bestimmte J Eingangs- und J Schlußformeln in Märchen verweisen auf den V.saspekt. 5 . Kon te xt e d er V. Aus theoretischen und forschungsgeschichtlichen Gründen ist es sinnvoll, zwischen V.sprozessen auf der Makroebene, also der V. von Erzählungen über zeitliche, räumliche und soziale Distanzen hinweg, und solchen auf der Mikroebene der konkreten J Performanz zu unterscheiden, auch wenn sich die Bereiche teilweise überlappen. Während sich die Erzählforschung bis etwa 1960 fast ganz auf die Makroebene konzentrierte, steht seither die Mikroebene im Vordergrund, wobei es zur Anwendung und Weiterentwicklung von kommunikationstheoretischen Ansätzen mit Blick auf gegenwärtige und hist. Performanzvorgänge kam. 5 .1 . Mak ro eb en e. Die V. von Erzählinhalten in der Zeit (J Tradition) als Weitergabe von hist., mythischem und anderem Wissen, das Teil des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses ist (J Vergessen und Erinnern), sichert die Stabilität einer Gruppe oder Gesellschaft. Die Erbtheorien des 19. Jh.s nahmen bei der V. von Erzählstoffen über die Zeiten und Generationen hinweg eine lange, z. T. überlange J Kontinuität an, so die J Mythol. Schule und die J Ide. Theorie (für das 20. Jh. cf. C. W. von J Sydow). Diese Einschätzungen wurden in der 2. Hälfte des 20. Jh.s in Frage gestellt30. Die V. im Raum, also die J Diffusion, J Verbreitung oder Wanderung von Erzählstoffen über weite Entfernungen, hat die Forschung seit dem 19. Jh. intensiv beschäftigt und angeregt. Theorien, die die Wanderung von Erzählstoffen im Raum erklären wollen, gehen ⫺ im Gegensatz zu J Polygenese-Vorstellungen ⫺ davon aus, daß die weitläufige Existenz ähnlicher bzw. derselben Erzählmo-
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tive, -stoffe und -inhalte das Ergebnis von großräumigen und langfristigen V.sprozessen ist (J Ind. Theorie; J Wandertheorie), wobei der Transport über die etablierten Wege der Kultur verlief 31. Diesen Prozeß stellten Gegner der J geogr.-hist. Methode als J Automigration in Frage32. Zur Erklärung von Gesetzmäßigkeiten der V. im Rahmen der Wandertheorie dienen die J Wellentheorie, die J Conduit-Theorie und das Gesetz der J Selbstberichtigung (cf. auch J Experimentelle Erzählforschung). Neben der räumlich-zeitlichen wurde schon früh auch die gesellschaftliche V. von Erzählstoffen erforscht. Diese beginnt mit der Sozialisation und Enkulturation der Kinder und Jugendlichen durch die älteren Generationen oder ⫺ in didaktisierter Form ⫺ in Institutionen wie Kindergarten und Schule33. Ein wesentlicher und früh erkannter Prozeß ist die V. zwischen Sozialschichten oder sozialen Gruppen. Schon bevor H. J Naumann seine These vom J gesunkenen Kulturgut formulierte, findet sich im 19. Jh. der Gedanke, daß „in der Volksdichtung nur das vorkomme, was von den herrschaftlichen Tischen herab gefallen sei und was das Volk in seiner geistigen Armut imstande war zu verarbeiten“34. Zu konstatieren ist in der Tat bes. seit dem 18. Jh. eine Fülle literar. J Bearb.en in Form von Kürzungen sowie sprachlichen und inhaltlichen Vereinfachungen für die ,kleinen Leute‘ bzw. das ,einfache Volk‘, womit zumeist die ,weniger gebildete‘ Landbevölkerung gemeint war. Gerade im Bereich der Volksüberlieferungen gab es jedoch auch eine beachtliche V. von Erzählungen ,nach oben‘, zum einen durch Dienstpersonal in adligen und bürgerlichen Haushalten und zum anderen seit dem 17./18. Jh. durch die Sammlung und Publ. von Märchen durch und für die gebildeten Schichten (cf. J Conte de[s] fe´es). Belege für einen solchen sozialen Aufstieg des Erzählguts aus dem Volk finden sich in zahlreichen Aussagen von Dichtern und Schriftstellern, ihnen seien Erzählungen durch Ammen und Kindermädchen vermittelt worden (z. B. J Pusˇkin; J Heine35; J Gor’kij36). Ein wesentlicher Aspekt der sozialen V. von Erzählstoffen ist die V. zwischen verschiedenen Ethnien (J Interethnische Beziehungen), zwischen Sprachen und Dialekten (J Überset-
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zung; J Adaptation), Kulturen (J Akkulturation) sowie zwischen Religionen, wobei stets auch eine Anpassung der Werte und Normen stattfindet (cf. Christoph von J Schmid)37. 5 .2 . Mik ro eb en e. Auf der Ebene der Performanz, d. h. der direkten oder medialen Kommunikation, gestaltet sich die V. von Erzählungen oder Liedern je nach sozialem und situativem Kontext anders. Die systematische Beschreibung der V.sinstanzen im ländlichen Frankreich durch D. Fabre und J. Lacroix scheint auch allg. für das Erzählen in der traditionellen europ. Bauerngesellschaft weitgehende Gültigkeit zu besitzen38. Nach Fabre und Lacroix sind die V.sinstanzen der bäuerlichen Gesellschaft durch umfassende J Kollektivität gekennzeichnet: Sie sind nicht Medien, sondern Orte und Gelegenheiten der Kommunikation von Texten unter direkter Kontrolle der Gemeinschaft, die ein festes, streng eingehaltenes V.ssystem perpetuiert39. Dieses ist geprägt durch (1) Trennung der Geschlechter, (2) Trennung nach Altersklassen (Kindheit, Jugend, Reife, Alter) und (3) den Turnus der Jahreszeiten40. Kriterien der Unterscheidung sind ferner private und öffentliche, inner- und außergemeinschaftliche, alltägliche und festtägliche V.sinstanzen (letztere zu differenzieren nach Jahreslauf- und Lebenslauffesten) sowie spontanes und vorbereitetes Erzählen41. Von der Geschlechtertrennung und dem Rhythmus des Jahreslaufs ausgenommen sind V.sinstanzen, die sich an Kleinkinder richten und vor allem von Großmüttern bzw. älteren Frauen vertreten werden; die Geschlechtertrennung ist darüber hinaus auch in der wichtigsten V.seinrichtung der tradititionellen bäuerlichen Gesellschaft, den Zusammenkünften an Winterabenden (J Spinnstube), aufgehoben, die meistens auch gemeinschaftlichem Arbeiten dienten42. Neben dem häuslichen Bereich, auf den im großen und ganzen die Frauen beschränkt blieben43, bildeten u. a. Wirtshaus, Poststation, Mühle, Jagd, Holzfällen, Viehhüten, Märkte, Wallfahrten, Wanderschaft, Krieg, Militärdienst, Krankenhaus und Gefängnis Orte und Gelegenheiten der V.44 Bestimmte Anlässe waren inhaltlich mehr oder weniger stark auf spezielle Themen oder Gattungen fokussiert: Hochzeiten vor allem auf Schwänke, Lieder und Rätsel mit zweideutigem oder erotischem Inhalt oder auf Autobiographisches, oft mit initiierender Wirkung auf die anwesende Jugend45; Totenwachen u. a. auf Geistergeschichten oder makabre Märchen46; die Dreschzeit auf Dreschmärchen (J Dreschen); das Schlachtfest z. B. auf Schwänke vom Pfarrer, dem ein Schwein gestohlen wird bzw. der selbst als Schweinedieb agiert, etc.47
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Neben direkter mündl. V. ist auch in traditionellen ländlichen Erzählgemeinschaften mit literar. und semiliterar. Quellen zu rechnen48. Einige Forscher konstatierten jedoch, daß das aus Büchern oder Kalendern Erlernte weniger gut sitzt, leichter vergessen wird oder für weniger wert gehalten wird als mündl. Vermitteltes49. Aufschlußreich für die V. von Märchen und anderen traditionellen Stoffe in der gebildeten (meist gehobenen) Bürgerschicht sind frühe Bildungserlebnisse der Schriftsteller: Für Thomas Manns künstlerische Produktion wurden J Andersens Märchen und das Vorlesen seiner Mutter aus Fritz Reuters Stromtid wirksam50; Hermann J Hesse evoziert ein Kontrastprogramm aus Bibelgeschichten und klassischer Bildung im Elternhaus sowie ein außerhäusliches bzw. verbotenes populäres Horror- und Verbrechensrepertoire51; Simone de Beauvoir konsumierte lesend neben dem Märchenkanon, griech. Mythologie, frz. Epik und Geschichte sowie Klassikern der Jugendliteratur die gängigen Werke der kathol. J Erbauungsliteratur52. Nur ansatzweise untersucht ist bisher das Nacherzählen von Romanen, Filmen und Fernsehserien53. Während die Massenmedien eher passiv konsumiert werden, erlauben Telefon54 und SMS55 sowie das Internet einen aktiven Austausch, letzteres allerdings als ein „diffuser, eigentümlich unbelebter Kontext“56. 1
Falkensteiner Protokolle. ed. W. Brückner. Ffm. 1971, 303. ⫺ 2 cf. Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen 1⫺3. (B. 1923/25/29) Hbg 2010; Leach, E.: Culture and Communication. The Logic by which Symbols Are Connected. Cambr. 1976; Geertz, C.: The Interpretation of Cultures. N. Y. 1973. ⫺ 3 cf. Köstler, A.: Mediation. Mü. 2010; Bhatia, V. K./Candlin, C./Gotti, M. (edd.): The Discourses of Dispute Resolution. Bern u. a. 2010; Bercovitch, J./Gartner, S. S.: Internat. Conflict Mediation. L./N. Y. 2009; Baranova, A.: Wirtschaftsmediation als alternative Methode der Konfliktlösung. Ffm. 2009. ⫺ 4 Helfrich, A. K.: Afrik. Renaissance und traditionelle Konfliktlösung: das Beispiel der Duala in Kamerun. Berlin 2005, 72. ⫺ 5 Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1. P. 1974, 115⫺118. ⫺ 6 cf. Brednich, R. W.: Lieder als Lebensschule. Gesang als Vermittler von Volksbildung an der Wende vom 18. zum 19. Jh. In: Festschr. W. Suppan. Tutzing 1993, 221⫺238. ⫺ 7 Campbell, J. F.: Popular Tales of the West Highlands 1. Edinburgh 1860, xlii sq. ⫺ 8 von Sydow, 77 sq.; Liestøl, K.:
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Vermittlung
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Vernaleken, Theodor
toricism in Nordic Folktale Research. In: id. (ed.): Telling Reality. Folklore Studies in Memory of Bengt Holbek. Kop./Turku 1993, 235⫺253, bes. 238 sq. ⫺ 33 Pentikäinen, J.: Oral Transmission of Knowledge. In: Calhoun, C. J./Ianni, F. A. (edd.): The Anthropological Study of Education. Den Haag 1976, 11⫺ 28. ⫺ 34 Simonides, D.: Der Einfluss der Brüder Grimm auf die slaw. Volksdichtung. In: Festschr. Uther (wie not. 28) 133⫺144, hier 141 (Zitat R. W. Berwin´ski, 1854); cf. ferner Hoffmann-Krayer, E.: Naturgesetz im Volksleben? In: HessBllfVk. 2 (1903) 57⫺64, hier 60. ⫺ 35 BP 4, 89, cf. ferner 88 u. ö. ⫺ 36 Weitere Belege für russ. Schriftsteller bei Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1964, 593 sq. ⫺ 37 cf. Roth, K. und J.: Christoph von Schmids ,Die Ostereier‘ in Südosteuropa. Zum Problem der Übers. von popularen Lesestoffen. In: Festschr. Schenda (wie not. 10) 599⫺613. ⫺ 38 Fabre/Lacroix (wie not. 5) 107⫺163; cf. De´gh (wie not. 22); Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1980, 47⫺51; Nagy, O.: Personality and Community as Mirrored in the Formation of Kla´ra Gyo˝ri’s Repertoire. In: Studies in East European Folk Narrative. ed. L. De´gh. Bloom. 1978, 473⫺557; Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1968, 582⫺584; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, 411⫺414; Jech (wie not. 29) 439⫺450; Merkelbach-Pinck, A.: Lothringer ´ Su´illeaMärchen. Saarbrücken [1936], 10⫺35; O bha´in, S.: Storytelling in Irish Tradition. Cork 1973, 10⫺12. ⫺ 39 Fabre/Lacroix (wie not. 5) 111. ⫺ 40 ibid., 112 sq.; ferner z. B. Marin, L.: Les Contes traditionnels en Lorraine. Institutions de transfert des valeurs morales et spirituelles. P. 1964. ⫺ 41 Fabre/Lacroix (wie not. 5) 162. ⫺ 42 ibid., 113. ⫺ 43 Holbek (wie not. 22) 171. ⫺ 44 Asadowski, M.: Eine sibir. Märchenerzählerin (FFC 68). Hels. 1926, 25; De´gh (wie not. 22) 72⫺85; Holbek (wie not. 22) 169⫺171; Viidalepp (wie not. 38) 412⫺414; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 21981, 620 sq.; Kerbelyte˙ (wie not. 24) 383, 387; Barag (wie not. 38) ´ 582 sq. ⫺ 45 Fabre/Lacroix (wie not. 5) 150. ⫺ 46 O Su´illeabha´in, S.: Irish Wake Amusements. Cork 1976; Bosˇkovic´-Stulli, M.: Das Erzählen über Erzählungen. In: Festschr. Schenda (wie not. 10) 55⫺67; hier 57⫺59; Merkelbach-Pinck (wie not. 38) 34. ⫺ 47 Fabre/Lacroix (wie not. 5) 144. ⫺ 48 De´gh (wie not. 22) 147⫺161, 191 sq.; Fabre/Lacroix (wie not. 5) 227⫺249; Nagy (wie not. 38) 543⫺550; Neumann, S.: Eine mecklenburg. Märchenfrau. B. 1974, 21⫺27. ⫺ 49 Merkelbach-Pinck (wie not. 38) 38 sq.; Kerbelyte˙ (wie not. 24) 384. ⫺ 50 Mann, T.: Autobiographisches. ed. H. Bürgin. Ffm. 1968, 228. ⫺ 51 Shojaei Kawan, C.: Erzählen und Erzähler um Neunzehnhundert: Volkskundliche Impressionen bei Hermann Hesse. In: Fabula 32 (1991) 216⫺233, hier 216⫺221. ⫺ 52 ead. (wie not. 12) 29⫺34. ⫺ 53 Brednich, R. W.: Nacherzählen. Moderne Medien als Stifter mündl. Kommunikation. In: Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ed. L. Röhrich/C. Lindig. Tübingen 1989, 177⫺186; Neumann (wie not. 48) 21 sq. ⫺ 54 Schneider 1996 (wie
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not. 28) 11. ⫺ 55 Domokos, M.: Folklore and Mobile Communication. SMS and Folklore Text Research. In: Fabula 48 (2007) 50⫺59. ⫺ 56 Roth (wie not. 28) 108; cf. ferner Erdmann, E.: Der Podcast. Kinderfilm im 21. Jh. In: Gölysz, C./Hoff, K./Tippner, A. (edd.): Filme der Kindheit ⫺ Kindheit im Film. Ffm. u. a. 2010, 45⫺61.
München Göttingen
Klaus Roth Christine Shojaei Kawan
Vernaleken, Theodor, *Volkmarsen (Westfalen) 28. 1. 1812, † Graz, 27. 2. 1907, dt. Pädagoge, Volkskundler und Erzählforscher, der vorwiegend in der Schweiz und in Österreich lebte und wirkte. Das Studium der Theologie und Philosophie am Lyzeum in Fulda (1830⫺ 34) brach V. ab und zog in die Schweiz, um in Küsnacht und Münchenbuchse mit Schülern J. H. Pestalozzis in Verbindung zu treten. 1834⫺37 lehrte V. in Küsnacht und besuchte Vorlesungen an der Hochschule in Zürich. 1837⫺46 war er Lehrer an einer Sekundarschule in Winterthur, 1846 Redakteur der Schweiz. Bll. für Erziehung und Unterricht in Zürich, wo er als Privatgelehrter auch öffentliche literarhist. und mythol. Vorlesungen hielt. Auf Anregung Ludwig J Uhlands und J. J Grimms, mit denen er in Briefkontakt stand, begann V. mit der Sammlung von Volkserzählungen in der dt.sprachigen Schweiz. 1850 nahm er seinen Wohnsitz in Wien, unterrichtete Deutsch an verschiedenen Schulen, engagierte sich intensiv für die Entwicklung des österr. Schulwesens und war auch für das Unterrichtsministerium tätig. 1869 wurde V. zum Bezirksschulinspektor und 1870 zum Direktor der Kaiserlich-Kgl. Lehrerbildungsanstalt bei St. Anna in Wien ernannt. Nach seiner Pensionierung übersiedelte V. 1877 nach Graz, wo er bis zu seinem Tode lebte1. V.s wiss. Œuvre umfaßt Schriften zur Pädagogik sowie zur dt. Philologie und zur Vk., bes. zur Mythologie. Als engagierter Pädagoge legte er zahlreiche Lehr- bzw. Schulbücher zur dt. Sprache2 vor und stellte ⫺ z. T. mehrfach aufgelegte ⫺ Lesebücher für den Lit.unterricht zusammen, in die auch seine mythol. Interessen Eingang fanden3. In seiner Wiener Zeit veröffentlichte V. darüber hinaus wiederholt grundsätzliche Schriften zur Unterrichtslehre4. Als Ergebnis langjähriger Recherchen, vielfach auch von Feldforschungen, legte V. bin-
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Verne, Jules
nen weniger Jahre drei umfangreiche Slgen mit Märchen und Sagen aus Österreich, der Schweiz, Böhmen und Mähren vor: Alpensagen. Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich (Wien 1858); Mythen und Bräuche des Volkes in Oesterreich. Als Beitr. zur dt. Mythologie, Volksdichtung und Sittenkunde (Wien 1859); Kinder- und Hausmärchen, dem Volke treu nacherzählt (Wien 1864; Wien/Lpz. 31896). V. war bes. von J. Grimm und dessen Dt. Mythologie stark beeinflußt, z. B. wenn er die These vertrat, der Teufel sei aus „der Verkehrung der heidnischen Götter und Riesen entstanden“5. In V.s Diktion ist das Vorbild der Brüder J Grimm mit deutlichen Bezügen zur J Naturpoesie zu erkennen6. V.s mythol. Interesse und der Einfluß der Dt. Mythologie zeigen sich auch in der Anordnung des Materials in den beiden Sagenausgaben, in denen etwa Wuotan/Odin und der J Wilden Jagd eigene Abschnitte gewidmet sind. Mit der Bearb. und Deutung der mitgeteilten Texte hält sich V. nach eigenen Angaben zurück: „Treue, wörtliche Wiedergabe des gefundenen war mein erstes Gesetz, Vorsicht in der Deutung mein zweites. […] Ich sehe den Inhalt als historische Urkunde an, die man nicht fälschen darf.“7 Konsequent prangert V. auch die zeittypische Versifizierung von Sagen an8. Über die konkrete Sammelarbeit gibt V. nur spärlich Auskunft. Für seine Alpensagen habe er zwölf Jahre lang die meisten Alpentäler zwischen Bern und Wien zu Fuß bereist, für die Mythen und Bräuche stamme vieles „aus lebendiger Quelle“9. Lehrer wie Schüler hätten ihm vor allem beim Sammeln von Brauchbeschreibungen geholfen. Quellenangaben macht V. nur in den Alpensagen. Als Nachweis findet sich oft die Angabe ,mündl.‘, gelegentlich werden auch Hinweise auf Erzähler gegeben, z. B. „von einer alten Frau in Salzburg“10, oder „Wörtlich von einem Berner: S. Stucki“11. Wiederholt gibt V. auch schriftl. Quellen wie Chroniken und Ztgen an. Beide Sagenbände enthalten ferner Schilderungen von Bräuchen, die Mythen und Bräuche auch Angaben zu Volksglaubensvorstellungen, etwa über die Alraune oder über Prophezeiungen. Die 60 mitgeteilten ,Kinder- und Hausmärchen‘ sammelte V. „vorzüglich in Niederöster-
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reich, Böhmen und Mähren“12. Mehr noch als bei seinen Sagensammlungen konzentrierte V. sich somit auf wenig erforschte Regionen. Er erzählte die Texte in Anlehnung an den Grimmschen Stil nach. Ergänzende Hinweise auf Var.n sind meist Kombinationen oder Versionen bekannter Erzähltypen oder -motive. Gemeinsam mit F. Branky gab V. 1873 eine Slg von Kinderfolklore heraus13. Bis ins hohe Alter war V. wiss. tätig und trat mit kurzen Mittlgen zur Mythologie und Vk.14 in Erscheinung. 1 Wurzbach, C. von: Biogr. Lex. des Kaiserthums Oesterreich 49. Wien 1884, 129⫺134. ⫺ 2 z. B. V., T.: Dt. Beispielgrammatik. St. Gallen/Bern 1840; id.: Formenlehre der dt. Sprache 1⫺2. Wien 1858/62; id.: Dt. Syntax 1⫺2. Wien 1861/63; id.: Dt. Sprachbuch. Mit einem kleinen Wb. für Rechtschreibung. Wien 5 1855; id.: Kurzes orthographisches Wb. Wien 1869. ⫺ 3 z. B. id.: Dt. Lit.buch. St. Gallen 1850; id.: Lit.buch. Dt. Lesebuch nebst Anfängen der Lit.geschichte, Mythologie und Poetik. Wien 31855. ⫺ 4 z. B. id.: Über die österr. Realschulen und das Erlernen fremder Sprachen. Wien 1861; id.: Hauptgrundsätze aus der allg. Unterrichtslehre. Wien 1871. ⫺ 5 id.: Mythen und Bräuche des Volkes in Oesterreich. Wien 1859, 367. ⫺ 6 z. B. id.: Alpensagen. Wien 1858, VI. ⫺ 7 ibid. ⫺ 8 id.: Kinder- und Hausmärchen. Wien 1864, III. ⫺ 9 id. (wie not. 6) VII. ⫺ 10 ibid., num. 4. ⫺ 11 ibid., num. 6. ⫺ 12 id. (wie not. 8) V. ⫺ 13 V., T./ Branky, F.: Spiele und Reime der Kinder in Österreich. Wien 1873. ⫺ 14 z. B. V., T.: Die Hundskirchen in Österreich. In: Zs. für österr. Vk. 3 (1897) 363⫺ 366; weitere Angaben bei Wurzbach (wie not. 1) 132⫺134.
Innsbruck
Ingo Schneider
Verne, Jules, *Nantes 8. 2. 1828, † Amiens 24. 3. 1905, frz. Schriftsteller1. V., der älteste Sohn eines Juristen, studierte 1848⫺51 in Paris Jura (ohne Abschluß), war 1852⫺55 Sekretär am The´aˆtre Lyrique und danach Börsenmakler. Nachdem V. sich erfolglos als Theaterdichter versucht hatte, veröffentlichte der Verleger P.-J. Hetzel 1863 seinen Roman Cinq Semaines en ballon, der ihn schlagartig berühmt machte2. Seither konnte V. vom Schreiben leben und legte jährlich zwei bis drei umfangreiche Romane seiner insgesamt 54 Bände umfassenden Reihe Voyages extraordinaires vor3.
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Verne, Jules
V., der für seine Romane die geogr., geologischen, physikalischen, technischen und astronomischen Kenntnisse der Zeit sorgfältig recherchierte4, gilt als Pionier, sogar Erfinder der J Science Fiction, auch als Utopist5. Allerdings entsprachen die meisten der von ihm vorgestellten ,Innovationen‘ als Extrapolationen bekannter Errungenschaften durchaus dem damaligen Stand der Technik6. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die zu Klassikern gewordenen Romane Voyage au centre de la terre (1864), De la Terre a` la lune (1865), Vingt mille Lieues sous les mers (1870), Le Tour du monde en quatre-vingt jours (1873) und Michel Strogoff (1876). Die meisten Romane erschienen zunächst kapitelweise in der von Hetzel herausgegebenen Familienzeitschrift Magasin d’e´ducation et de re´cre´ation, in der kurze Erzählungen belehrenden, oft rührseligen Tenors sich speziell an Kinder wandten. Später wurden die Romane in Buchform veröffentlicht, teils bebildert, teils in preiswerten unbebilderten Ausg.n, die auch einem weniger begüterten Publikum den Kauf ermöglichten7. Absicht des Erfolgsautors war es, alle Kenntnisse der Wiss. zusammenzufassen und die Geschichte des Universums in der ihm eigenen ansprechenden Art nachzuempfinden8. In Verbindung mit einer spannenden Handlung erreichte er so ein breites bildungshungriges Publikum, bes. die männliche Jugend in Frankreich, dem übrigen Europa und den USA9. Auf V.s Mss. nahm sein Verleger als ,kompromißloser Zensor‘ starken Einfluß10; auch duldete Hetzel keinen schlechten Ausgang der Romane11. V.s Anti-Utopie Paris au XX e sie`cle (1863), deren Publ. Hetzel abgelehnt hatte, erschien erst 199412. V.s mit Abstand größter Erfolg wurde gleich beim Vorabdruck (ab 6.11.1872 in der Tageszeitung Le Temps) der relativ kurze Roman Le Tour du monde en quatre-vingt jours (in Buchform 1873). Allein zu Lebzeiten des Autors wurden von der unbebilderten Ausg. 121000 Exemplare gedruckt13; die Bühnenfassung feierte in Paris wie im Ausland Triumphe und machte V. reich14. Für die hist. und vergleichende Erzählforschung ist der Roman vor allem deshalb interessant, da er stilistische und strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem europ. Zaubermärchen aufweist. Hierzu gehören die J Isolation des Helden Phileas Fogg sowie
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seine scheinbare Gefühlsarmut (J Flächenhaftigkeit) ebenso wie sein Aufbruch in die Fremde zur Bewältigung einer scheinbar unlösbaren J Aufgabe, die Ahnungslosigkeit angesichts seines Gegenspielers oder die überraschenden positiven Wendungen der Handlung im letzten Augenblick15. Mit dem Helden Fogg, der Helfergestalt Passepartout, dem Widersacher Fix und der Heldin Aouda hat V. klar wertbare Typen von märchenhafter Naivität geschaffen16. Weitere märchenhafte Motive (etwa J Kleiner Fehler, kleiner Verlust; J Magische Flucht)17 setzte V. in zahlreichen seiner frühen Romane ⫺ von S. Vierne als Initiationsromane gedeutet18 ⫺ ein. Durch diese Märchenhaftigkeit erzielte V. großen Erfolg beim zeitgenössischen Publikum19, zuletzt noch 1879 in Les Tribulations d’un Chinois en Chine. Danach wurde V.s Grundhaltung pessimistischer, biogr. nachvollziehbar durch den Bruch mit seinem einzigen Sohn Michel, eine Verletzung durch das Revolverattentat seines Neffen Gaston und den Tod Hetzels 1886. V.s Werke verloren erzähltechnisch an Spannung20, was auch zu geringeren Verkaufszahlen führte. Ein satirisches Kunstmärchen V.s erschien 1891 in der Tageszeitung Le Figaro: In Les Aventures de la famille Raton. Conte de fe´e spielt V. mit dem frz. Wortstamm rat (Anagramm von art) und flicht autobiogr. Anspielungen ein21. V.s Romane werden bis in die Gegenwart vielfältig rezipiert, so durch internat. J. V.-Ges.en und ihre Publ.sreihen oder auf speziellen Seiten im Internet22. In weit über 100 Filmen wurden zahlreiche seiner Romane, teils mehrfach, visuell aufbereitet23. Seit Oktober 2008 zeigt eine Dauerausstellung im Science Fiction-Museum Maison d’Ailleurs im schweiz. Yverdon eine V.-Slg mit über 20000 Objekten. Eine kritische Gesamtausgabe des Werks liegt bislang nicht vor24. 1
Dekiss, J.-P.: J. V. l’enchanteur. P. 1999, 387⫺391; Dehs, V.: J. V. Eine kritische Biogr. Düsseldorf/Zürich 2005; Butcher, W.: J. V. The Definitive Biogr. N. Y. 2006; Angelier, F.: Dict. J. V. Me´moire, personnages, lieux, œuvres. P. 2006; Paumier, J.-Y.: J. V. Voyageur extraordinaire a` la de´couverte des mondes connus et inconnus. Grenoble 2008. ⫺ 2 Dehs (wie not. 1) 135. ⫺ 3 Dekiss (wie not. 1) 160; Junkerjürgen, R.: Spannung. Narrative Verfahrensweisen der
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Veronika, Hl.
Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von J. V. Diss. Ffm. u. a. 2002, 75. ⫺ 4 Compe`re, D./Scheinhardt, P.: J. V. als Schriftsteller. In: J. V. Stimmen und Deutungen zu seinem Werk. ed. V. Dehs/R. Junkerjürgen. Wetzlar 2005, 38⫺55; Dehs (wie not. 1) 374, 461. ⫺ 5 Bosse, M.: V., J.: In: LKJ 3 (1979) 709⫺712, hier 709; Dehs (wie not. 1) 459; Alpers, H. J.: V. und Wells ⫺ zwei Pioniere der Science Fiction? In: Science Fiction. ed. E. Barmeyer. Mü. 1972, 244⫺258, hier 244; cf. Kümmerling-Meibacher, B.: Klassiker der Kinder- und Jugendlit. 2. Stg. 1999, 1129; Stach, R.: J. Gabriel V. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lex. 4,1,2. Meitingen 2000, 1⫺25. ⫺ 6 Kuhnle, T.: Das Fortschrittstrauma. Tübingen 2005, 51; cf. allg. Mustie`re, P. (ed.): J. V. Les machines et la science. Nantes 2005; Zimmermann, R. E.: Die außerordentlichen Reisen des J. V. Zur Wiss.s- und Technikrezeption im Frankreich des 19. Jh.s. Paderborn 2006; Reffait, C. (ed.): J. V. ou les inventions romanesques. Amiens 2007. ⫺ 7 Jauzac, P.: J. V., Hetzel et les cartonnages illustre´s. P. 2006. ⫺ 8 Compe`re/Scheinhardt (wie not. 4) 39; Pech, K.-U.: Der Wettlauf mit der Zeit. J. V.s „Reise um die Erde in 80 Tagen“. In: Klassiker der Kinder- und Jugendlit. [1]. ed. B. Hurrelmann. Ffm. 1995, 175⫺190, hier 178. ⫺ 9 Gobrecht, B.: J. V. und das Märchen. Zum 100. Todestag. In: Märchenspiegel 17,1 (2006) 50⫺54, hier 50. ⫺ 10 Dumas, O.: Unter entwürdigender Fuchtel. Die Korrespondenz Hetzel ⫺ V. In: Dehs/Junkerjürgen (wie not. 4) 56⫺67, hier 56; z. B. P. J. Hetzel. De Balzac a` J. V. Un grand e´diteur du XIXe sie`cle. Ausstellungskatalog P. 1966, 56, num. 216; Dehs, V.: Bibliogr. Führer durch die J.-V.-Forschung 1872⫺2001. Wetzlar 2002, 392, 401 sq. ⫺ 11 Junkerjürgen (wie not. 3) 100; Dehs (wie not. 1) 151. ⫺ 12 Gondolo della Riva, P.: Pre´face. In: J. V. Paris au XXe sie`cle. P. 1994, 11⫺27, hier 13⫺17; Junkerjürgen (wie not. 3) 77. ⫺ 13 Junkerjürgen (wie not. 3) 297. ⫺ 14 Dehs (wie not. 1) 224; Dekiss (wie not. 1) 212. ⫺ 15 Gobrecht, B./Straub, E.: J. V.s Erfolgsromane und die Struktur des Volksmärchens. In: Fabula 23 (1982) 185⫺197, hier 188⫺192; cf. Junkerjürgen (wie not. 3) 146, 133; Gobrecht (wie not. 9) 53. ⫺ 16 Gobrecht/Straub (wie not. 15) 196; Dehs (wie not. 10) 16 sq.; cf. Junkerjürgen (wie not. 3) 131 sq., 150. ⫺ 17 Gobrecht, B.: Märchenelemente im Werk von J. V. Magisterarbeit (masch.) B. 1979, bes. 71⫺74, 91. ⫺ 18 Vierne, S.: J. V. et le roman initiatique. P. 1973. ⫺ 19 Gobrecht/Straub (wie not. 15) 197. ⫺ 20 Junkerjürgen (wie not. 3) 303. ⫺ 21 Gobrecht (wie not. 9) 53 sq.; Dehs (wie not. 1) 196, 329⫺349, 346 sq. ⫺ 22 cf. id. (wie not. 10) 407⫺ 416. ⫺ 23 Filmographie u. a. in der Internet Movie Database. ⫺ 24 Dehs (wie not. 1) 454⫺458; Junkerjürgen (wie not. 3) 337.
Gebenstorf
Barbara Gobrecht
Veronika, Hl., *Paneas (Caesarea Philippi, Palästina), † Rom 70, legendäre Heilige (Fest: 4. Febr. [kathol.], 12. Juli [orthodox]), Für-
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sprecherin der Sterbenden und Verwundeten, Patronin der Leineweber und -händler, der Wäscherinnen und Weißnäherinnen1. V. wird gewöhnlich mit der von J Christus geheilten blutflüssigen Frau des N. T.s (Mt. 9,20⫺22; Mk. 5,25⫺34; Lk. 8,43⫺48) identifiziert, seltener mit Martha von Bethanien2. Ihr griech. Name Ber(e)nike (makedon. Var. zu Pherenike: Siegbringerin) ist in den lat. Texten zu Veronica geworden3, was seit J Gervasius von Tilbury (Otia Imperalia 3,25) als Anagramm von ,vera icon‘ (wahres Bild) interpretiert wird. Die Entwicklung der Figur ist mit dem Zyklus um Pontius Pilatus verbunden4. V. kommt erstmals in den auf das 5./6. Jh. zu datierenden Teilen der Pilatusakten (7) vor, in denen eine Frau namens Berenice vor dem Statthalter Zeugnis ablegt und sich als die Blutflüssige zu erkennen gibt. In dem kopt. Buch der Auferstehung Jesu Christi, unseres Herrn (5./ 6. Jh.), das dem Apostel Bartholomäus zugeschriebenen wird, erscheint Berenice/die Blutflüssige unter den Frauen, die das Grab Christi besuchen5. Nach Eusebius (Historia ecclesiastica 7,18) befand sich in Paneas eine die Heilung der Blutflüssigen darstellende Gruppe von Skulpturen. Die im 7./8. Jh. kompilierte Vindicta Salvatoris schreibt V./der Blutflüssigen den Besitz eines Schweißtuchs (Sudarium) mit dem Abbild von Christi Antlitz6 zu: Der kranke Kaiser Tiberius läßt Jesus suchen, dessen Ruhm als Heiler ihm zu Ohren gekommen ist. Er schickt Volusianus nach Jerusalem, der V. begegnet und ihr das Leintuch raubt (8). Nach anderer Lesart begleitet V. Volusianus nach Rom. Als der Kaiser die J Reliquie ansieht, wird er wieder gesund (24⫺33).
Eine ähnliche Version der Geschichte erscheint in der Cura sanitatis Tiberii, die in einer Gruppe von Mss. als Anhang zu den Pilatusakten überliefert ist. In der frühestens im 5. Jh. verfaßten Mors Pilati wird V. nicht mit der blutflüssigen Frau identifiziert. Hier ist sie eine Matrone aus Jerusalem und Jüngerin Christi, die einen Maler beauftragen will, den Erlöser zu porträtieren. Auf dem Weg zum Haus des Künstlers kommt der Herr ihr entgegen, bittet um das Tuch und drückt ihm seine Züge auf. Wie in der Vindicta wird der Kaiser Tiberius mit Hilfe der Reliquie geheilt. Durch
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Verortung ⫺ Verrat
Aufnahme in die J Legenda aurea (Kap. 53) fand die Erzählung weite Verbreitung. Es gibt zahlreiche volkssprachliche Versionen, in denen die Handlung z. T. erweitert ist. In den ital. Fassungen vermacht die Heilige das Tuch Papst Clemens und seinen Nachfolgern7. Tatsächlich befindet sich im Petersdom in Rom seit 705 eine Ikone, die das von der Heiligen vermachte ,wahre Bild‘ sein soll, das dort auch legendarisch und ikonographisch mit dem J Abgar-Bild in Zusammenhang gebracht wird8. Die frz. Fassungen machen aus V. die Ehefrau des Zachäus (Lk. 19,2⫺10) und Freundin der Jungfrau Maria. Als Zachäus unter dem Namen Amadour Einsiedler wird, missioniert V. zusammen mit Martial Südfrankreich. Nach ihrem Tod wird sie in Soulac beigesetzt; ihre Reliquien befinden sich in der Kirche St. Seurin in Bordeaux9. Seit der Bible en franc¸ois des Roger d’Argenteuil (13. Jh.; 17,18⫺24) findet die Begegnung V.s mit Christus auf dem Weg zur J Kreuzigung statt: V. reicht dem Erlöser ein Tuch, damit er Blut und Schweiß abtrocknen kann, und dieser hinterläßt dabei auf dem Stoff den Abdruck seiner Gesichtszüge. Der Name V.s erscheint in einigen ags. Beschwörungen lat. Sprache, verbunden mit Christus10 und mit Blutungen11. Die Gestalt der V. steht möglicherweise auch in Zusammenhang mit der gleichnamigen zentralen Figur einer span. modernen Sage und einem entsprechenden Ritual: Das Bild des im Spiegel erscheinenden Geists eines gewaltsam verstorbenen Mädchens verursacht den Tod derer, die ihn anrufen. Über den Namen hinaus legen die Übereinstimmungen von zwei Schlüsselelementen (Bild, Blut) eine mögliche Verbindung nahe12. 1 Krüger, K. H.: V. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1569; Emminghaus, J. H.: V. In: LCI 8 (1976) 543. ⫺ 2 Bocian, M. (unter Mitarbeit von U. Kraut/ I. Lenz): Lex. der bibl. Personen. Stg. 1989, 503⫺ 505. ⫺ 3 Solin, H.: Von Berenike zu Veronica und Verwandtes. In: Latin vulgaire ⫺ latin tardif 6 (2003) 401⫺418. ⫺ 4 Santos Otero, A. de: Ciclo de Pilato. In: id. (ed.): Los evangelios apo´crifos. Madrid 61987, 388⫺529; Geith, K.-E.: V. I. In: Verflex. 10 (21999) 293⫺297; Schanze, F.: V. II. ibid., 297⫺299. ⫺ 5 Wallis Budge, E. A.: Coptic Apocrypha in the Dialect of Upper Egypt. Ox. 1913, 187 sq.; cf. allg. Westerhoff, M.: Auferstehung und Jenseits im kopt. „Buch der Auferstehung Jesu Christi, unseres Herrn“. Wiesbaden 1999. ⫺ 6 Osteneck, V.: Suda-
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rium. In: LCI 4 (1972) 223 sq. ⫺ 7 AS Febr. 1, 449⫺ 457, hier 451. ⫺ 8 Kuryluk, E.: Veronica and Her Cloth. Cornwall 1991, 115; Bocian (wie not. 2). ⫺ 9 AS Febr. 1, 453. ⫺ 10 Jolly, K. L.: Popular Religion in Late Saxon England. Elf Charms in Context. Chapel Hill, N. C./L. 1996, 150. ⫺ 11 Grattan, J. H. G./Singer, C.: Anglo-Saxon Magic and Medicine Illustrated Specially from the Semipagan Text „Lacnunga“. L. 1952, 34, 50; Storms, G.: Anglo-Saxon Magic. Den Haag 1948, 56, 233. ⫺ 12 Gonza´lez Terriza, A. A.: Vero´nica, la virgen del espejo y las tijeras. In: Estudos de literatura oral 7⫺ 8 (2001/02) 131⫺160, 9⫺10 (2003/04) 129⫺153.
Ca´ceres
Alejandro Arturo Gonza´lez Terriza
Verortung J Lokalisierung
Verrat 1. Definition ⫺ 2. Bibel ⫺ 3. Mythos ⫺ 4. Epos ⫺ 4. 1. Europ. Epos ⫺ 4. 2. Arab. Epos ⫺ 5. Andere Gattungen
1 . D ef in it io n. Der dt. Begriff V. steht dem ,Verraten‘ im Sinne der Preisgabe eines J Geheimnisses nahe, beinhaltet allerdings vorrangig einen Treubruch (J Treue und Untreue) und damit zusammenhängende Handlungen wie Hintergehen, Ausliefern und das Sinnen auf Verderben. Der Treubruch kann willentlich geschehen, z. B. weil der Verräter den Besitz eines anderen oder dessen J Belohnung begehrt, oder unwillentlich, etwa bei J Manipulation durch Dritte. V. hat meist niedere Beweggründe und kann aktiv (z. B. durch Geheimnisverrat, Intrige, J Betrug, J Lüge, J Verleumdung oder J Verstellung) oder passiv (z. B. durch Nichtunterstützung einer Person, Gruppe oder Sache oder Distanzierung von ihr) geschehen. V. erscheint moralisch bes. verwerflich, wenn der Verräter den Treubruch nicht offen anzeigt, sondern mit willentlicher J Täuschung fortdauernde Treue heuchelt. 2 . B ib el. Bereits das A. T. kennt zahlreiche Fälle von V. im engeren Sinne von Treubruch1: So schickt etwa König David den ihm treu ergebenen Uria, den Mann der von ihm geschwängerten Bathseba, an die vorderste Front, wo er getötet wird (2. Sam. 11,1⫺27; cf. AaTh/ATU 930: J Uriasbrief ). Exemplarisch werden V. und Treue an der Josephsgeschichte
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Verrat
(Gen. 37,18⫺35) vorgeführt: Josephs neidische Brüder verraten das Treueverhältnis zu ihrem (Halb-)Bruder, die Treuepflicht gegen ihren Vater und den Bund mit Gott. Joseph hingegen ist das Musterbeispiel des Treuen: Indem er sich den Annäherungsversuchen der Frau des Potiphar widersetzt (J Joseph: Der keusche J.), vermeidet er den zweifachen V. an seinem Dienstherrn und an Gott (Gen. 39,11⫺ 20). Die zentrale V.sgeschichte des N. T.s betrifft den V. des J Judas Ischarioth an Jesus J Christus (Mt. 10,4; 26,25; 27,3). Auch andere Jünger Jesu verraten ihn: So verleugnet J Petrus seinen Herrn nach dem Abendmahl dreimal, noch bevor der Hahn gekräht hat (Mt. 26,69⫺75; Mk. 14,66⫺72; Lk. 22,54⫺62; Joh. 18,25⫺27). Möglicherweise hat Jesus selbst in seiner Verzweiflung am Kreuz geglaubt, Gott habe ihn verraten: „Vater, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt. 27,46; Mk. 15,34). Durch seine zentrale Stellung in der Passionsgeschichte ist Judas in der westl. Kultur zum Inbegriff des Verräters geworden2. Demgegenüber sieht ein Teil der neueren Hermeneutik in Judas einen Adjuvanten des narrativen Programms der Gnosis oder theol. gewendet ein notwendiges Instrument in Gottes Heilsplan und keinen Opponenten des Helden oder Agenten des J Teufels3. 3 . Myt ho s. Auch im Mythos spielt V. eine Rolle. Der Titanensohn Prometheus verrät die Götter, indem er entgegen ihrem Befehl den Menschen zum Feuer und dessen Beherrschung verhilft (J Feuerraub). Ariadne, Tochter des Königs Minos von Kreta, verrät ihr Land, indem sie J Theseus hilft, den Weg aus dem Labyrinth zu finden (AaTh/ATU 874*: J Ariadne-Faden); Theseus allerdings läßt Ariadne auf der Insel Naxos zurück und übt so wiederum V. an ihr. Die Zauberin J Medea straft den V. des J Jason an ihr mit dem V. an ihren eigenen Kindern, die sie tötet. Unter den Verräterfiguren der germ. Mythologie ragt der Trickster J Loki heraus: Er verrät das Vertrauen von Balders Mutter Frigg, indem er Balders blinden Bruder Höd veranlaßt, diesen mit einem scheinbar harmlosen Mistelzweig zu töten. Im mythol. Teil des pers. Nationalepos Sˇa¯hna¯me (Königsbuch; J Firdausı¯) begeht der
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ˇ amsˇ¯ıd V. an Gott, indem er durch Herrscher G seine Großtaten selbstherrlich wird (J Hybris); dies führt zu einer Reihe folgender V.e seiner ursprünglichen Verbündeten, durch die sein Reich zunehmend bedroht wird4. Der ihm nachfolgende Herrscher Z˙ahø hø a¯k verrät das Treueverhältnis zu seinem eigenen Vater, indem er einen Pakt mit Iblı¯s eingeht: Indem Iblı¯s ihm auf den Schultern Schlangen wachsen läßt, die täglich mit Menschenhirn gefüttert werden müssen, ist Z˙ahø hø a¯k gezwungen, ständig V. an seinem Volk zu begehen5. 4 . E po s. Im traditionellen Erzählgut erscheint V. vor allem im Epos. Vor dem Hintergrund der zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen stellt Treue einen zentralen Wert dar, und V. kann system- wie existenzbedrohende Konsequenzen haben6. 4 .1 . E ur op . E po s. Der herausragende V. in der ma. europ. Epik findet sich in der Nibelungensage: Im J Nibelungenlied heuchelt Hagen gegenüber Kriemhild, ihren Mann Siegfried (J Sigurd, Siegfried) schützen zu wollen, worauf sie ihm ahnungslos dessen einzige verwundbare Stelle (cf. J Achillesferse) verrät. Hagen tötet Siegfried, indem er ihn bei der Jagd hinterhältig durchbohrt. Aus J Rache für den Mord an ihrem Mann verrät Kriemhild das Geschlecht der Burgunder, indem sie das Werben des Hunnen Etzel akzeptiert und die Großen ihres eigenen Reiches, unter ihnen Hagen, in den sicheren Tod führt. Die Situation ist überaus komplex, denn Siegfried selbst hat das Unheil ausgelöst, indem er als unsichtbarer Helfer (J Stellvertreter) Gunthers dessen Verbindung mit Brünhilde (J Heldenjungfrau) ermöglicht hat. Gunther seinerseits hat von Anbeginn seiner Beziehung zu Brünhilde das künftige Treueverhältnis der Ehe durch Betrug verraten. Indem Hagen Siegfrieds Beihilfe zum V. des Gunther sühnen will, ist er einerseits bestrebt, die Ordnung wiederherzustellen, wird dadurch aber andererseits selbst zum Verräter.
Die germ. und skand. Heldenepik kennt zahlreiche weitere, wenngleich weniger komplexe Fälle von V.7 In dem verlorenen Heldenlied, das hinter dem Bericht des Widukind von Corvey (Rerum gestarum Saxonicarum libri tres; 973 p. Chr. n.) steht, verrät der Thüringer Iring seinen König; er wird dann aber vom Frankenkönig als Verräter, der kein Vertrauen verdient, verstoßen und rächt sich daraufhin
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Verrat
an den Franken8. Die aus den Gesta Danorum des J Saxo Grammaticus rekonstruierbaren Heldenerzählungen um Starkad zeigen ebenfalls einen Verräter, der sich von den Feinden seines Königs kaufen läßt9. Indem Ganelon V. an J Roland begeht, verrät er damit auch die Treue zu J Karl. d. Gr.: Aus niederen Beweggründen verbündet sich Ganelon mit dem Sarazenenkönig Marsilie und lockt die von Roland geführte Nachhut der Truppen Karls d. Gr. heimtückisch ins Tal von Roncevaux, wo sie von den Sarazenen angegriffen werden. In Ganelons V. kommen der V. an Kaiser und Land und derjenige an der Religion zusammen. Roland ist demgegenüber bis zum Schluß treu: Er weigert sich, Karls Truppen zur Rettung zurückzurufen, und stirbt auf verlorenem Posten. V. spielt auch in den sog. Aufrührerepen eine Rolle10. Ein positiv gewertetes Gegenstück zum V. des Ganelon ist jener der Orable in J Guillaume d’Orange (12./13. Jh.): Guillaume ist in Nordafrika gefangen und wird von Orable, der Frau des Sarazenenkönigs, bewacht. Die beiden verlieben sich ineinander und fliehen, die Frau läßt sich taufen und ändert ihren Namen. Ähnliche Erzählungen waren im Rahmen der J Kreuzzüge verbreitet. So verhilft etwa die Tochter des Sultans dem gefangenen Grafen von Gleichen gegen das Versprechen, sie zu ehelichen, zur Flucht; obwohl der Graf bereits verheiratet ist, gestattet der Papst nach der Taufe der Heidin die Vermählung11. Der V. der Frau an ihrem Land und ihrer Religion wird hier allerdings nicht als solcher dargestellt, da Treueverhältnisse zu J Heiden bzw. ihrer Religion aus der Sicht des damaligen Christentums Treue zur Unwahrheit, ja zum Teufel bedeuteten und daher kein Existenzrecht hatten. Hier zeigt sich, wie auch in anderen Fällen, daß der Begriff des V.s oft eine Sache der Perspektive ist. Das Motiv des verräterischen christl. Paktierers mit den muslim. Sarazenen findet sich in zahlreichen epischen Erzählungen bis ins Spätmittelalter: In Gormont et Isembart (ca 1130) verrät Isembart sein Land und seine Religion aus Rache für gekränkten Ehrgeiz12; in der span. Chronica Gothorum (11. Jh.) läuft der beleidigte christl. Berberführer Olian zu den Mauren über, was zum Untergang des letzten Westgotenkönigs Rodrigo führt13; im
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Prosaepos Loher und Maller (1437) der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken verleugnet der sich als Loher ausgebende verräterische Ott bei der Niederlage gegen die Muslime sein Christentum, um am Leben zu bleiben14. 4 .2 . Arab. Ep os. Vor allem in den älteren, im Stammesmilieu spielenden arab. Heldenerzählungen (J Arab.-islam. Erzählstoffe, Kap. 7) spielt der verräterische Bruch von Bündnissen eine große Rolle. Kulturgeschichtlich aufschlußreich ist der ¤Antar-Roman, in dem ¤Antar ibn Sˇadda¯d (ca 11./12. Jh.)15, der Sohn einer abessin. Sklavin und eines arab. Stammesfürsten, um seine rein arab.blütige Cousine ¤Abla wirbt. Dies wird im Stamm als V. am vorislam. Ehrenkodex gewertet, und ¤Antar wird auf schwierige Missionen in sein vermeintlich sicheres Verderben geschickt. Die islam. Überformung des vorislam. Stoffs reichert die Sage von den Taten des schwarzen Helden mit der fundamental egalitären Ideologie des Islam an ⫺ vor Gott gelten nicht Abstammung (nasab), sondern Taten (hø asab) ⫺ und stellt ¤Antar zudem als einen Wegbereiter des Propheten J Mohammed dar. So werden aus den Vertretern der alten Ordnung, die ¤Antar des V.s an ihr anklagen, im Laufe des Epos zugleich Verräter an dem aufgrund seiner Taten voll in den Stamm integrierten Helden wie an der kommenden neuen Ordnung. Auch hier stellt sich also wieder die Frage der Perspektive. Zu den jüngeren, dem Stammesmilieu ferneren Epen gehört u. a. das Epos um den Mamlukensultan Baibars I. (14.⫺16. Jh.). Es beginnt in einer Reihe von Versionen mit dem V. des (schiit.) Wesirs an dem letzten (sunnit.) Kalifen von Bagdad im Moment des Mongolensturms (hist. im Jahr 1258)16. Von Interesse ist hier vor allem die komplexe Verˇ awa¯n, der sich beim Sultan räterfigur des Priesters G Baibars als Oberrichter einschleicht, um dessen Verˇ awa¯n ist von der Vorsehung derben zu bewirken. G dazu bestimmt, Zwietracht und Blutvergießen unter die Menschen zu tragen und am Ende grausam hingerichtet zu werden. In an die griech. Sagenwelt geˇ awa¯n, seinem Schickmahnender Tragik versucht G sal zu entrinnen, und verstrickt sich dadurch nur ˇ awa¯ns V. ist allerdings nicht einfach noch mehr. G zu verurteilen17, denn er verrät, um am Leben zu bleiben.
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Vers, Verse
5 . And er e G at tu ng en. In Fürstenspiegeln (J Speculum principum), die den zukünftigen Herrscher auf seine Rolle vorbereiten und u. a. vor Falschheit und V. warnen wollen, spielt das Thema gattungsgemäß eine wichtige Rolle. In J Kalila und Dimna verkehrt der Schakal Dimna als J Ratgeber des Löwen (Herrschers) durch eine Intrige die (naturwidrige) J Freundschaft des Löwen mit einem Stier in Feindschaft. Dimna ist allerdings nur vordergründig ein Verräter, denn durch den V. wird auch die gewissermaßen natürliche Ordnung, die durch eine regelwidrige Verbindung ,verraten‘ worden war, wiederhergestellt. In europ. Tiererzählungen ist der J Fuchs der stereotype Verräter und Betrüger. Ein V. des Herrschers äußert sich in Märchen etwa im Motiv der unlösbaren J Aufgaben, durch die der Herrscher den Untertanen aus dem Weg räumen will, um sich dessen Frau anzueignen (AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt; AaTh/ATU 513 C: J Sohn des Jägers). Auffällig oft betrifft V. im Märchen familiäre, also gewissermaßen naturgegebene Loyalitäten (Mot. K 2210⫺K 2219). Im Bereich der Familie übt häufig die verräterische, treulose Mutter (AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter) oder Schwester (AaTh/ATU 315: Die treulose J Schwester) V. an ihren Kindern bzw. Geschwistern. Verräterische Brüder erscheinen z. B. in AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter oder AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens. Im Eheverhältnis ist V. weitgehend gleichbedeutend mit J Ehebruch, wie er etwa exemplarisch die Rahmenerzählung von J Tausendundeine Nacht prägt. Ein verräterischer enger Verwandter (Schwager, Onkel) erscheint in AaTh/ATU 712: J Crescentia und AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen (cf. auch J Genovefa). Auch das inzestuöse Verlangen des Vaters nach seiner eigenen Tochter stellt einen V. dar (J Inzest). Verräter kann mitunter ein Weggefährte sein, der Freundschaft nur anfänglich vortäuscht (AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer). Scheinheiliges Vortäuschen von Freundschaft und lauteren Absichten findet sich auch in Tiermärchen. So verbirgt der Fuchs in AaTh/ATU 50: Der kranke J Löwe seine wahre Absicht vor dem Esel; in AaTh/ATU
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161: J Augenwinken wird der Fuchs selbst von einem Menschen, der ihn zu beschützen vorgibt, verraten. Oft wird eine verräterische Handlung Angehörigen bestimmter ethnischer bzw. religiöser Minderheiten zugeschrieben (J Stereotypen, ethnische), so etwa einem Juden in AaTh/ATU 936*: J Hasan von Basra. 1
cf. Betz, W.: V. In: Burkhardt, H. u. a.: Das große Bibellex. 3. Wuppertal/Zürich 1990, 1637; Trummer, P.: Verleugnen. In: Görg, M./Lang, B.: Neues BibelLex. 3. Düsseldorf 2001, 1012 sq. ⫺ 2 Sys, S. J.: Judas Iscariote, arche´type du traıˆtre. In: Pollet, J.-J./ Sys, J.: Figures du traıˆtre. Les repre´sentations de la trahison dans l’imaginaire des lettres europe´ennes et des cultures occidentales. Arras 2007, 13⫺20; Deproost, S. P.-A.: Apostulus apostatus. La figure du traıˆtre dans la poe´sie latine chre´tienne. ibid., 39⫺55; Pollet, J.-J.: La Reconnaissance de Judas. Lecture du „Judas de Le´onard“ de Leo Perutz. ibid., 145⫺ 163. ⫺ 3 The Gospel of Judas. ed. R. Kasser. Wash. 2007, 56 und pass. ⫺ 4 Ferdowsi, A.: Shahnameh. The Persian Book of Kings. Übers. D. Davis. N. Y. u. a. 2006, 7 sq. ⫺ 5 ibid., 9⫺27. ⫺ 6 cf. Heintze, M.: König, Held und Sippe. Unters.en zur Chanson de geste des 13. und 14. Jh.s und ihrer Zyklenbildung. Heidelberg 1991, 413⫺447. ⫺ 7 Birkhan 6, 222⫺ 228. ⫺ 8 Widukind von Corvey: Sächs. Geschichten. Übers. P. Hirsch. Lpz. 1931, 25. ⫺ 9 Saxo Grammaticus: Gesta Danorum. ed. A. Holder. Straßburg 1896, 264 sq.; id.: The History of the Danes. Übers. P. Fisher. Cambr. 1979, 244 sq. ⫺ 10 cf. EM 7, 993 sq. ⫺ 11 Grimm DS 581. ⫺ 12 Gormont et Isembart. ed. A. Bayot. P. 31931, IX sq. ⫺ 13 Frenzel, Motive (51999) 792. ⫺ 14 Roloff, H.-G.: Loher und Maller. In: Lex. des MA.s 5. Stg./Weimar 1999, 2083 sq.; cf. Bloh, U. von: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrükken. Tübingen 2002. ⫺ 15 cf. Heath, P.: The Thirsty Sword. Sı¯rat ¤Antar and the Arabic Popular Epic. Salt Lake City 1996; Herzog, T.: Wild Ancestors. Bedouins in Medieval Arabic Popular Literature. In: Leder, S./Streck, B. (edd.): Shifts and Drifts in Nomad-Sedentary Relations. Wiesbaden 2005, 421⫺ 441. ⫺ 16 id.: Geschichte und Imaginaire. Entstehung, Überlieferung und Bedeutung der Sı¯rat Baibars in ihrem sozio-politischen Kontext. Wiesbaden 2006, 333⫺339. ⫺ 17 cf. id.: Une Version ,chre´tienne‘ de la Sı¯rat Baybars. Le manuscrit de Wolfenbüttel. In: Arabica 51 (2004) 103⫺120, hier 116⫺119.
Bern
Thomas Herzog
Vers, Verse. Unter einem Vers (V.) versteht man allg. nach Maßverhältnissen bzw. nach Äquivalenzen geordnete bzw. gebundene, gra-
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Vers, Verse
phisch (in einer schriftl. fixierten Zeile) oder phonisch (in einem gesprochenen oder gesungenen Vortrag) repräsentierte Sprache. V.e können u. a. in unterschiedlichen Strophenoder Gedichtformen oder umfangreichen V.erzählungen miteinander verbunden sein. Bis zum Aufkommen des freien V.es und prosaischer V.e (ca 1900), die sich nicht mehr an tradierte metrische Muster halten bzw. nur noch an der typographischen Festlegung des Zeilenschlusses als V.e zu bestimmen sind, waren metrische Schemata und deren Erfüllungen voneinander zu unterscheiden. Die allg. Metrik kennt hierbei drei grundlegende Versifikationsprinzipien, nämlich nach Silben gezählt (syllabisch; z. B. mordwin. Volkslied)1, nach Größen geordnet (z. B. quantitierende altgriech. Metrik) und durch Reime gebunden (z. B. freier Knittelvers in dt. V.erzählungen und Gedichten des 16. Jh.s)2. Diese Versifikationsprinzipien sind je für sich oder in Kombination anzutreffen, so daß sich insgesamt sieben metrische Typen voneinander unterscheiden lassen: Neben den drei bereits genannten finden sich der nach Silben gezählte und nach Größen geordnete Typus (z. B. lat. Odendichtung), der durch Silbenzählung und Reimbindung bestimmte Typus (ital. oder frz. V.dichtung), der nach Größen ordnende und durch Reimbindung bestimmte Typus (altgerm. Stab- und Endreimdichtung, dt. Volkslied)3 und der silbenzählende, nach Größen ordnende und durch Reimbindung charakterisierte Typus (klassische chin. V.literatur, dt. Barockdichtung seit Martin Opitz). In Zauber-, Tier- und Formelmärchen wie auch in Sagen kommen V.e in unterschiedlichen Formen und in zahlreichen Funktionen im betonten Kontrast zur insgesamt dominierenden Prosa vor, seltener konstituieren sie solche Erzählungen als Ganzes. Je nachdem, ob die V.form die in einer Kultur dominierende Gestaltungsweise von Erzählungen ist, in die lediglich Prosapassagen eingefügt werden, oder ob die Prosaform dominiert, in die V.passagen eingefügt werden, unterscheidet man zwischen Versiprosa und Prosimetrum bzw. versiprosaischen und prosimetrischen Texten4. Prosimetrische bzw. versiprosaische Formen lassen sich weltweit von der Antike bis in die Gegenwart finden, in den kelt. Lit.en ebenso wie in den afrik., chin., arab., pers.
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oder türk. Lit.en5. Aus der ma. frz. Lit. ist mit J Aucassin et Nicolette ein Text überliefert, der durch das sonst im Altfranzösischen unbekannte Alternieren von V.- und Prosapassagen heraussticht und der vom Autor selbst als J cantefable bezeichnet wurde6. Allg. scheint für orale Lit.en und die phonische Repräsentation von Sprache zu gelten, daß V.e für Gesang und Singvortrag bestimmt sind, während Prosa gesprochen wird7. Bei V.en in Prosatexten kann man V.vorkommen zunächst nach Anfangs-, Mittel- oder Schlußversen voneinander unterscheiden. V.e in neuzeitlichen mitteleurop. Erzählungen haben als J Eingangsformeln häufig die Funktion, die Aufmerksamkeit der Hörer zu erregen; zudem zeigen sie an, daß es sich bei der folgenden Erzählung um eine nicht alltägliche und von pragmatischen Konsequenzen entlastete Rede im poetischen Spiel oder im Lustmodus handelt: „Ich erzähl ein Märchen/ Vom Dippel-Dappel-Därchen,/ Von der DippelDappel-Fledermaus,/ Blas’ der Katz das Schwänzchen aus!“8. Derartige V.e weisen zugleich die typische einfache Struktur auf: Dominierend sind paargereimte Kurzzeilen. Die V.e sind häufig durch unmittelbare Wort- oder Silbenwiederholungen und die Verwendung onomatopoetischer oder sinnloser bzw. unverständlicher Formulierungen geprägt. Sie zeigen formale Übereinstimmungen zur J Kinderfolklore: So liegt in KHM 141, AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen ein Abzählreim vor, der Ähnlichkeiten mit oft in Märchen und Sagen verwendeten Formeln aufweist9. J Schlußformeln in V.en weisen eine funktionale Entsprechung zu den Anfangsversen auf („Snipp, snapp, snut,/ Nu’s dei Geschicht ut“10; KHM 108, AaTh/ATU 441: J Hans mein Igel: „Mein Märchen ist aus/ Und geht vor Gustchen sein Haus“); auch hier begegnen Abzählreime bzw. Kinderverse (KHM 198, AaTh/ATU 870: J Prinzessin in der Erdhöhle)11. Das Spektrum der Funktionen weitet sich allerdings mit den Mittelversen, die nicht formelhaft lediglich Anfang und Schluß des Erzählten signalisieren, sondern sich auf die Handlung beziehen12. M. J Lüthi betont mit Blick auf die Mittelverse im dt. Buchmärchen z. B., sie seien „der jeweiligen Situation angepaßte Verse, insofern also nicht formelhaft,
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nicht ohne weiteres in andere Märchentypen einsetzbar ⫺ als geformte Sprachelemente aber doch dem formelhaften Gesamtstil des Volksmärchens sich einordnend“13. Hinsichtlich des performativen Modus können gesungene V.e (KHM 28, AaTh/ATU 780: J Singender Knochen; KHM 47, AaTh/ATU 720: J Totenvogel) von gesprochenen unterschieden werden14. Singverse stehen typischerweise an zentralen Stellen eines Märchens15. Ihre Realisierung erfolgt auf unterschiedliche Weise: In Papua-Neuguinea werden in Märchen eingeschobene Gesänge von allen Zuhörern mitgesungen; in einigen norddt. Gegenden sangen diese, nachdem das Märchen erzählt war, ein Lied, das den gleichen Stoff behandelt16. Singverse im oder zum Märchen erinnern also an einen grundlegenden performativen Aspekt von Volkserzählungen17. Gesungene oder gesprochene V.e markieren die Sprache von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, aber auch von Geistern, unheimlichen Wesen oder vom Teufel18. Ihre Funktion ist vor allem, die Kommunikation zwischen Menschen und Jenseitigen oder Verzauberten zu ermöglichen19: „Wenn ein Geist (Teufel, Zwerg, Toter usw.), ein Tier, ja irgendein Gegenstand anfängt zu sprechen, so redet er nicht in Prosa, sondern in Versen. Auch umgekehrt: Die Menschen wagen nicht, im Verkehr mit der Geisterwelt, bei einem Anliegen, einer Bitte, oder auch einer Drohung die Sprache des Alltags anzuwenden, sondern sie sprechen in Versen.“20 Klagen unerlöster und Freudengesänge böser Geister werden in V.en vorgetragen. So klagt in AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen die Ehefrau bzw. Braut in Gestalt eines Vogels in V.en21. Ein verstorbener Grenzsteinverrücker sagt angesichts seiner Ruhelosigkeit: „O Steen, o Steen/ Wo drückst du min Been!/ Wo hart is de Stell,/ Doch harter de Hell.“22 Das Rumpelstilzchen (KHM 55, AaTh/ATU 500: J Name des Unholds) schreit triumphierend: „Heute back’ ich, morgen brau’ ich,/ übermorgen hol’ ich der Königin ihr Kind;/ ach wie gut, daß niemand weiß,/ daß ich Rumpelstilzchen heiß!“ Der Bär in KHM 161, AaTh/ATU 426: J Mädchen und Bär spricht ebenso in V.en wie die Tauben in KHM 21, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella, und Aschenputtel spricht umgekehrt mit den Tauben in V.en, so auch der Fischer in KHM 19, AaTh/ATU 555: J Fischer und seine Frau, wenn er mit dem Butt redet. Der in einen Frosch verwandelte Königssohn ⫺ selbst nach seiner Erlösung ⫺ und sein Diener in KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig verwenden V.e: „Heinrich, der Wagen bricht./ Nein, Herr, der Wagen nicht,/ es ist ein Band von meinem Herzen,/
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das da lag in großen Schmerzen,/ als ihr in dem Brunnen saßt,/ als ihr eine Fretsche (Frosch) was’t (wart).“
Im Novellenmärchen AaTh/ATU 879: J Basilikummädchen ist die Wechselrede in V.en ein Beispiel für die V.rede unter Menschen. Hier spiegelt zudem die Zunahme an V.zeilen den intensiver werdenden Dialog zwischen den auf unterschiedlichen sozialen Stufen stehenden Figuren, dem Prinzen und dem einfachen Mädchen23. Die V.e werden hier als Scherzfragen („Rusidda ntontoronto`,/ Quantu pampini cc’e` ,nta lu basilico`?“) oder als Spott („Lu culu a la mula lu vasa`stivu;/ Ma la cintura nun l’avistivu“) verwendet24. Daneben begegnen häufig Gedichte als Einzelrede, die in Volkserzählungen integriert und als volksliterar. Formen der Lyrik zu bezeichnen sind. In Märchen haben sie oft die Funktion von Zauber- oder Beschwörungsformeln25. In KHM 40, AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam haben V.e eine Warn- oder Offenbarungsfunktion; in KHM 21, AaTh/ATU 510 A werden mit ihnen Wunder vollbracht; in KHM 130, AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein dienen sie als Schlafverse26. V.e können auf dem Höhepunkt der Handlung den Durchbruch zu einem glücklichen Ende bringen27. Das Ende eines Spuks wird häufig durch V.rede der Geister markiert28. Solche V.e lassen sich als Abschiedsverse bezeichnen; sie werden oft auch Zwergen in den Mund gelegt29 und begegnen im Kontext von J Wechselbalgerzählungen30. Nicht selten dienen sie zugleich der Verfluchung von Menschen. In Reim- und Rätselmärchen geben sich Menschen wechselseitig Rätsel in V.en auf oder machen Reimwettspiele. Bekannt ist die Reimprobe, nach der Ortsschulze werden solle, wer den besten Vers mache; der alte Hildebrand, der als Bewerber auftritt, bringt seinen Reim nicht zusammen und sagt: „Ik heite Johannes Hillebrand/ und stelle meynen Stock an de ⫺ Müre“31 (AaTh/ATU 1268*: cf. J Bürgermeisterwahl). Zumeist zeichnen sich solche Einzel- und Wechselreden in V.en strukturell dadurch aus, daß sie durch Verben des Singens oder Sagens eingeleitet und insofern als fiktionsintern separiert und von der Prosa unterschieden gekenn-
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zeichnet werden; es gibt jedoch auch Fälle, in denen V.e unvermittelt in Prosa übergehen oder umgekehrt Prosa in V. e. So wechseln in KHM 183, AaTh/ATU 1049: J Wettstreit mit dem Unhold ⫹ AaTh/ATU 1053: J Tausend mit einem Schuß ⫹ AaTh/ATU 1051: cf. J Baum biegen, fällen, tragen der Erzähler und die Figuren (Riese und Schneider) ohne bes. Markierung von der Prosa- in die V.rede. Auch in einigen finn. und dän. Erzählungen geht die V.rede ohne Markierung in Prosarede über32. G. Kahlo präsentierte überdies Beispiele außereurop. Erzählungen, die durch einen stetigen unmotivierten Wechsel zwischen V.en und Prosa gekennzeichnet sind33. Er bezeichnet diese als ,ind.‘ und unterscheidet sie von der (funktional motivierenden) ,modernen europ.‘ Form der Beziehung zwischen V.en und Prosa. Neben Erzählgattungen, in denen V.e und Prosa vermischt werden34, gibt es aber auch Gattungen, in denen die V.form zumindest in manchen Phasen ihrer Geschichte konstitutiv ist. Außer für Ballade, Märe oder Spruchdichtung gilt dies bes. für Fabel und Epos. Die Geschichte der Fabel führt über griech. und vor allem lat. Korpora in V.form wie in Prosa, die seit der Spätantike (mit Bezug auf den mythischen Gattungsbegründer J Äsop vor allem bei J Babrios, J Phädrus, J Avianus und Pseudo-Romulus [J Romulus]) entstanden und durch das MA. hindurch tradiert wurden, in die frühe Neuzeit. Im Esopus des Heinrich J Steinhöwel liegen äsopische Fabeln in dreierlei Gestalt vor: in lat. Prosa, in dt. ProsaÜbers. sowie in lat. V.en. Die dt.sprachigen Fabeln des 16. Jh.s (u. a. Burkart J Waldis, Hans J Sachs, Erasmus J Alberus) sind überwiegend in Knittelversen gehalten. Vermutlich im Anschluß an die wiederentdeckten V.fabeln des Phädrus (1596) und die lat. V.fabeln des Italieners Gabriele Faerno markieren die Fabeln Samuel Rowlands (um 1600) ein erwachendes Interesse an der V.fabel in der engl. Fabelliteratur. In Frankreich prägte Gilles Corrozet u. a. in Les Fables du tresancien Esope (1542) den Typus der ,Emblemfabel‘. Seine Slg zeichnet sich durch einen Reichtum an metrischen Formen aus, der sie zu einem Modellbuch metrischer Kunst der Zeit und Corrozet zum bedeutendsten frz. Fabeldichter noch vor dem eleganten V.erzähler J La Fon-
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taine machte. In der dt. Lit. stellen erst J Lessings Fabeln (1756) einen grundsätzlichen Bruch mit der Tradition der V.fabel dar, die gleichwohl bis in die Gegenwart fortbesteht (u. a. Reiner Kunze Das Ende der Fabeln, 1969; Robert Gernhardt Katz und Maus, 1987; Fröhliche Vögel, 1987). Das Epos als Großform erzählender Dichtung in gleichmäßigen V.en oder Strophen ist zunächst eine mündl. überlieferte und dargebotene Kunstform35. V.e und Reime übernehmen hierbei (neben anderen formelhaften Elementen wie epitheton ornans, Gleichnis, Sentenz, Anruf der Götter) die Funktion von ,Gedächtnisstützen‘ für den Vortrag (J Formelhaftigkeit, Formeltheorie, Kap. 1; J Oral Poetry). So werden in der Ilias und in der Odyssee (J Homer) viele Tausend V.e als Ganzes wiederholt oder aus wiederholenden Wendungen gebildet36. Die ältesten Epen verarbeiten zumeist hist. Erfahrungen einer Kultur im Übergang von mythischer Weltsicht zu einem eigenen Geschichtsbewußtsein37. Die Liedertheorie (J Fragmententheorie) verstand Epen im Anschluß an die frühe Homerphilologie und unter dem Einfluß der literar. Romantik als aus liedhaften Vorstufen ,zusammengesungen‘, die von gelehrten Bearbeitern zu Zyklen kompiliert worden seien. Diese These gilt seit Beginn des 20. Jh.s als widerlegt, man geht vielmehr von einem bewußt gestaltenden Dichter aus (anonym oder halbmythisch stilisiert wie Homer)38. Überlieferung und Vortrag der frühen Epen erforderten sachverständige Spezialisten: zunächst Sänger, später deklamierende Rhapsoden39. Die sukzessive Verschriftlichung der europ. Epen führte zu Variationen der Gattung bis hin zur Auflösung unterscheidender Grenzen zwischen Epos und anderen Formen der V.erzählung. Seit dem 12. Jh. stellt sich der paargereimte höfische Roman neben das V.epos. Mit dem Vordringen der Prosa in allen narrativen Formen seit dem 14. Jh. erhält die V.form der V.epik eine andere systematische Funktion: V.e markieren nunmehr stilistisch eine herausgehobene Position. Seit der Renaissance dominiert dabei das kunst- und literaturbewußte Buchepos (u. a. bei J Dante, J Ariosto, Tasso, J Camo˜es), seit dem 19. Jh. wird das Epos durch Prosaroman und Erzählprosa verdrängt. Belebungsversuche finden sich in Form von Nationale-
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pen (z. B. J Pusˇkins Ruslan i Ljudmila, 1820; J Kalevala; J Kalevipoeg) und lyrisch-epischer Gedankendichtung (z. B. Carl Spittelers Olympischer Frühling, 1900⫺05). In der jüngeren Lyrik werden nicht selten ursprünglich in Prosa gehaltene Volkserzählungen in V.formen überführt, wie in der sog. Märchenlyrik (Börries von Münchhausen, Christine Busta, Marie Luise Kaschnitz, Sarah Kirsch, Franz Fühmann etc.)40. In V.en werden aber auch Haus- oder Grabinschriften41 sowie Sprichwörter oder Schwüre formuliert, z. B.: „Ek stae up Alshüscher Eren/ Dat will ek den Sebekschen afsweren.“42 In der Kinderfolklore finden sich vielfach V.e, die mitunter an Eingangs- oder Schlußformeln von Märchen erinnern: „Once upon a time when birds ate lime/ And monkeys chewed tobacco,/ The pigs took snuff to make them tough/ And that’s the end of the matter.“43 1
Jakobson, R./Lotz, J.: Axiome eines Versifikationssystems, am mordwin. Volkslied dargelegt. In: Ihwe, J. (ed.): Lit.wiss. und Linguistik 3. Ffm. 1972, 78⫺ 85. ⫺ 2 Wagenknecht, C.: Dt. Metrik. Mü. 52007, 30 sq.; Wimsatt, W. K. (ed.): Versification. Major Language Types. N. Y. 1972; Küper, C.: Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des V.es. Tübingen 1988; Holder, A.: Rethinking Meter. A New Approach to the Verse Line. Lewisburg/L. 1995; Gasporov, M. L.: A History of European Versification. Ox. 1996. ⫺ 3 See, K. von: Germ. V.kunst. Stg. 1967; Bertau, K. H.: Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mhd. Lyrik am Beispiel des Leichs. Göttingen 1964. ⫺ 4 cf. Hanson, K./Kiparsky, P.: The Nature of Verse and Its Consequences for the Mixed Form. In: Harris, J./Reichl, K. (edd.): Prosimetrum. Crosscultural Perspectives on Narrative in Prose and Verse. Cambr. 1997, 17⫺ 44. ⫺ 5 cf. Harris/Reichl (wie not. 4). ⫺ 6 cf. auch Nicolaisen, W. F. H.: The Cante Fable in Occidental Folk Narrative. ibid., 183⫺212. ⫺ 7 cf. ibid., 1⫺ 16. ⫺ 8 Kahlo, G.: Die V.e in den Märchen und Sagen. (Diss. Jena) Lpz. 1919, 26 (aus Hessen-Nassau). ⫺ 9 Shojaei Kawan, C.: Grimms V. e. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 423⫺442, hier 434 sq. ⫺ 10 Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen. Norden 1891, 19 (aus Pommern). ⫺ 11 Shojaei Kawan (wie not. 9). ⫺ 12 Wildhaber, R.: Über die Verfügbarkeit von Sagenmotiven, gezeigt am Beispiel des Altersverses. In: Jb. für Volksliedforschung 27⫺28 (1982/83) 75⫺83; id.: Der Altersvers des Wechselbalges und die übrigen Altersverse (FFC 235). Hels. 1985. ⫺ 13 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Göttingen 21990, 62. ⫺ 14 Moser, D.R.: Märchensingverse in mündl. Überlieferung. In:
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Jb. für Volksliedforschung 13 (1968) 85⫺122; id.: Singverse im Märchen. In: Märchenspiegel 3 (1991) 6⫺11. ⫺ 15 Leidecker, K.: Zauberklänge der Phantasie. Musikalische Motive und gesungene V.e im europ. Märchengut. Diss. Saarbrücken 1983, 111⫺239, bes. 112. ⫺ 16 Kahlo (wie not. 8) 32. ⫺ 17 cf. aber Kova´cs, A.: Rhythmus und Metrum in ung. Volksmärchen. In: Fabula 9 (1967) 169⫺243. ⫺ 18 Leidekker (wie not. 15) 218 sq., 226. ⫺ 19 Kahlo (wie not. 8) 36⫺102; Amades, 90; Karlinger, F.: Die Funktion des Liedes im Märchen der Romania. Salzburg/Mü. 1968, 9 sq., 12 sq., 40; Lüthi (wie not. 13) 40; Horn, K.: „Do köhm de Butt answemmen un säd …“ Die Sprache der Tiere, Pflanzen und Dinge im Märchen. In: Jacobsen, I./Lox, H./Lutkat, S. (edd.): Sprachmagie und Wortzauber/Traumhaus und Wolkenschloß. Krummwisch 2004, 63⫺81. ⫺ 20 Kahlo (wie not. 8) 33. ⫺ 21 cf. Shojaei Kawan (wie not. 9) 436 sq. ⫺ 22 Arndt, E. M.: Märchen und Jugenderinnerungen 2. Lpz. 3 1845, 26 (aus Pommern). ⫺ 23 Gobrecht, B.: „Was sich liebt, das neckt sich“. Die Sprache von Brautleuten und Ehepaaren in Märchen und Schwänken. In: Jacobsen u. a. (wie not. 19) 82⫺97, hier 88. ⫺ 24 Pitre`, G.: Fiabe, novelle e racconti popolari siciliane 1. Palermo 1875, num. 5. ⫺ 25 Kahlo (wie not. 8) 4; Karlinger (wie not. 19) 10; Lüthi (wie not. 13) 102; Amades, 91; Leidecker (wie not. 15) 217, 221, 226; cf. Just, G.: Magische Musik im Märchen. Ffm. 1991; Bleckwenn, H.: Formel, V. und Lied. Über magische Sprache in oriental. und europ. Märchen. In: Jacobsen u. a. (wie not. 19) 45⫺62; Heindrichs, U.: Von den magischen V.en im Märchen. ibid., 25⫺44. ⫺ 26 Leidecker (wie not. 15) 226. ⫺ 27 Moser (wie not. 14) 88; Leidecker (wie not. 15) 218 sq., 226. ⫺ 28 Kahlo (wie not. 8) 42⫺ 48. ⫺ 29 z. B. KHM 39. ⫺ 30 wie not. 12. ⫺ 31 Kahlo (wie not. 8) 6. ⫺ 32 ibid., 21 sq. ⫺ 33 ibid., 7⫺31. ⫺ 34 cf. Grambo, R.: Verses in Legends. Some Remarks on a Neglected Area in Folklore. In: Fabula 12 (1971) 48⫺64. ⫺ 35 Lord, A. B.: The Singer of Tales. Ox. 1960. ⫺ 36 Parry, M.: The Making of Homeric Verse. ed. A. Parry. Ox. 1971 (Nachdr. ´ pithe`te traditionnelle dans Ho1987), 13; id.: L’E me`re. Diss. P. 1928; id.: Les Formules et la me´trique d’Home`re. Diss. P. 1928. ⫺ 37 Bowra, C. W.: Heroic Poetry. L. 1952. ⫺ 38 Ker, W. P.: Epic and Romance. L. 1897; Heusler, A.: Lied und Epos in germ. Sagendichtung. Dortmund 1905. ⫺ 39 Schrott, R.: Zur Ilias. In: Homer: Ilias. Übers. R. Schrott. Kommentar P. Mauritsch. Mü. 2008, V⫺XL, bes. XVIII sq. ⫺ 40 cf. Karlinger, F.: Ein Märchen der Brüder Grimm als Vorlage einer Ballade. In: Rivista de istorie søi teorie literata˘ 29 (1980) 305⫺312; Mieder, W.: Grimms Märchen ⫺ modern. Stg. 1995. ⫺ 41 Kahlo (wie not. 8) 5. ⫺ 42 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Lpz. 1845, 206. 43Opie, I. und P.: The Lore and Language of Schoolchildren. L./Ox./N. Y. 1959, 22. ⫺
Wuppertal
Rüdiger Zymner
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Verschlafen der Erlösung ⫺ Verschwender
Verschlafen der Erlösung J Erlösung
Verschlingermärchen J Fressermärchen
Verschmelzungstrieb (norw.: Sammensmeltningsdrift), eines der von M. J Moe formulierten J epischen Gesetze, erstmals 1889 in einer Vorlesungsreihe vorgestellt und posthum von seinem Nachfolger K. J Liestøl veröffentlicht. Die dt. Übersetzung V. stammt von W. A. J Berendsohn1. Der V. beschreibt die Tendenz zur J Variabilität, die sich beim Zusammentreffen traditioneller Erzählgegenstände mit anderen J Stoffen oder Gruppen traditionellen Erzählmaterials unter dem Einfluß des neuen Materials ergibt. Moe unterscheidet zwischen Verschmelzung einerseits und Anpassung (J Adaptation) bzw. Umschmelzung2 andererseits, je nachdem, ob die Veränderung des Materials auf den gegenseitigen Einfluß der Stoffe oder auf veränderte hist. oder kulturelle Bedingungen zurückgeht (J Akkulturation). Der V. betrifft nach Moe die Verbindung von Motiven und Erzählungen, während der Anpassungs- bzw. Umschmelzungstrieb weniger das Motiv an sich als vielmehr die äußeren Details wie Szenerie oder kulturelle Elemente betrifft (z. B. heidnische und christl. Vorstellungen). Er selbst räumt ein, daß V. und Anpassungstrieb nur schwer zu unterscheiden seien, weil eine Vermischung immer einen gewissen Grad an Anpassung und Umformung mit sich bringe. Gegenbegriffe sind nach Moe Zusammenziehungs- und J Auflösungstrieb, bei denen es sich um eine Reduzierung des Erzählmaterials durch Wegfall überflüssiger Episoden bzw. die Aufspaltung komplexer Geschichten in mehrere selbständige Geschichten handle. Moes epische Gesetze wurden zwar von Vertretern der J geogr.-hist. Methode wie A. J Olrik, A. J Aarne oder K. J Krohn aufgegriffen3, aber das differenzierte System hat sich nicht durchgesetzt. Im Hinblick auf die Anziehungskraft zwischen Stoffen, Motiven oder Motivkomplexen spricht man statt dessen auch von J Affinität. Verschmelzungserscheinungen werden umfassender als J Assimilationen oder J Kontaminationen bezeichnet.
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Neben der Verbindung von narrativen Elementen oder Erzähltypen lassen sich hauptsächlich zwei weitere Arten der Verknüpfung unterscheiden: die Aneinanderreihung, bei der Erzählungen mit demselben Handlungsträger (z. B. Fuchs und Wolf) miteinander verbunden werden (J Konglomerat, Konglomeratmärchen), und die Übertragung von verschiedenen, zunächst selbständigen Erzählungen oder Erzählmotiven auf bestimmte J Kristallisationsgestalten. 1 Liestøl, K.: Episke grundlove. In: Edda 1⫺2 (1914) 1⫺16, 233⫺249, hier 234 sq.; Berendsohn, W. A.: Epische Gesetze der Volksdichtung. In: HDM 1 (1930⫺33) 566⫺572, hier 566. ⫺ 2 cf. Liestøl (wie not. 1) 9. ⫺ 3 Olrik, A.: Episke love i folkedigtningen. In: DSt. (1908) 69⫺89 (dt.: Epische Gesetze der Volksdichtung. In: ZfdA 51 [1909] 1⫺12); Aarne, A.: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung (FFC 13). Hamina 1913, 23⫺39; Krohn, K.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo u. a. 1926.
Niestetal
Rita Boemke
Verschwender. Verschwendung (lat. luxus) ist der Verbrauch von Ressourcen, der das kulturspezifisch als notwendig erachtete Maß deutlich übersteigt. Sie wird in der Regel auf materiellen Besitz bezogen. Luxusgüter sind aufgrund ihres hohen Tauschwerts einem kleinen Teil der Gesellschaft vorbehalten und dienen daher u. a. als Statussymbol1. Verschwendungssucht wird traditionell bes. Frauen vorgeworfen2, im Lauf der Geschichte wurden damit allerdings Männer ebenso wie Frauen in Zusammenhang gebracht (z. B. Nero, Ludwig XIV., Marie-Antoinette, Jean-Be´del Bokassa, Imelda Marcos, Jacqueline Kennedy Onassis). Aus ethischer Sicht wird die Zurschaustellung von Überfluß und Reichtum verurteilt, in religiösen Kontexten als J Sünde aufgefaßt. Die kathol. Morallehre verortet sie im Umfeld des Kardinallasters der Zügellosigkeit (intemperantia) und der Kardinalsünde der Völlerei (gula; J Vielfraß; J Tugenden und Laster)3. Der V. ist der Gegenpart zum auf übertriebene Sparsamkeit bedachten J Geizhals. Allerdings kann der übermäßige Verbrauch von eigenen Mitteln, wenn er zugunsten anderer geschieht, als Selbstlosigkeit oder Altruismus positiv gesehen werden.
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Verschwender
Auch in der Erzählüberlieferung findet die negative Bewertung von Verschwendungssucht ihren Niederschlag. So weist die pseudohist. Anekdote AaTh/ATU 1446: Laßt sie J Kuchen essen! die Unkenntnis grundlegender Fakten als Kehrseite von Verschwendungssucht aus und wird damit als Sozialkritik lesbar4. V. haben ihren Reichtum meist nicht selbst erwirtschaftet. Dieser ist ererbt oder angeheiratet, oder es handelt sich überhaupt um den Besitz anderer. Die Verurteilung von Verschwendungssucht äußert sich in der Bekehrung oder Bestrafung des V. s. Prototypisches Beispiel hierfür ist das bibl. Gleichnis (Lk. 15,11⫺32) von der J Heimkehr des verlorenen Sohns (AaTh/ATU 935). Daß Verschwendungssucht zu Armut führt, verdeutlichen Exempla und später moralische Geschichten, wobei abgesehen von einer Erzählung, in der das Baden in J Tau als Luxus angesehen und mit Krankheit bestraft wird5, eher die Verschwendung im Kleinen und das Lob von J Fleiß6 und Sparsamkeit illustriert werden7 sowie Zeitverschwendung durch ,unnütze‘ Tätigkeiten angeprangert wird8. In Sagen nimmt der V. in der Regel ein schlimmes Ende, z. B. holt ihn der J Teufel9. Mancher V. schließt einen J Teufelspakt, um so wieder auf einen grünen Zweig zu kommen, und wird dann vom Teufel geholt10; seltener kann er sich der Vertragserfüllung durch List entziehen11. In einer niedersächs. Sage kommt die Protagonistin durch das verschwenderische und ausschweifende Leben ihres Onkels um ihren Besitz, kann aber durch Fleiß und Glück sozial wieder aufsteigen12. Märchentypisch führt die Verschwendungssucht des Protagonisten oft erst zu der J Mangelsituation, welche die Handlung auslöst (J Dynamik)13. Diese Konstellation begegnet bereits in der älteren oriental. Lit.: Zahlreiche Geschichten von J Tausendundeine Nacht beginnen damit, daß der Sohn eines reichen Kaufmanns sein Erbe verschwendet und ⫺ von seinen falschen Freunden verlassen ⫺ beschließt, in die Fremde zu ziehen (Mot. W 131.1)14. Auch in einer Erzählung des J Vikramacarita (num. 12) findet sich diese Struktur. In Var.n von AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht gerät ein Mann durch seine Verschwendungssucht in eine Notlage, aus der ihn ein dämonisches Wesen befreit; als Gegengabe
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vermacht der Mann diesem sein Kind (cf. J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen)15. In einer zu AaTh 552 A/ATU 552 (1): cf. J Tierschwäger zählenden Erzählung von Johann Karl August J Musäus muß der verarmte V. seine drei Töchter an drei Tiere verheiraten, in deren Revier er wildern wollte. In einer schwed. Var. von AaTh/ATU 402: J Maus als Braut berauben und verjagen die beiden verschwenderischen älteren Brüder den jüngsten, wodurch er seiner zukünftigen Frau begegnen kann16. V. werden in Märchen in der Regel nicht bestraft: Der leichtsinnige und verschwenderische Protagonist in den Märchenvarianten von AaTh/ATU 935 kommt zur Einsicht und erlangt das verlorene Vermögen durch Glück, Klugheit und List (cf. auch AaTh/ATU 1556: Die doppelte J Pension; AaTh/ATU 1182: Der gestrichene J Scheffel)17 wieder18, oder das vorausschauende Handeln seines Vaters wie in AaTh/ATU 910: J Schatz hinter dem Nagel ermöglicht dem V. Besserung und erhält ihm ein Großteil seines Erbes. In pers. Var.n zu AaTh/ ATU 836: J Hochmut bestraft verwendet ein reicher Kaufmann Safran als Baumaterial; als er verarmt ist, erhält er Geld von dem Safranverkäufer, um sein Geschäft erneut aufbauen zu können19. In Ferdinand J Raimunds ,Original-Zaubermärchen‘ Der V. (Uraufführung 1834) wird dem Protagonisten ein übernatürliches Wesen an die Seite gestellt, das ihm wiederholt als Bettler begegnet und ihm, als er seinen gesamten Besitz verschleudert hat und einsichtig wird, seine großzügigen Almosen und damit ein beträchtliches Vermögen zurückgibt. Freigebigkeit wird, auch wenn sie den Helden um den letzten Pfennig bringt, in Märchen nicht als Verschwendung aufgefaßt und stets belohnt, so in AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke oder AaTh/ATU 665: J Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwamm (cf. auch AaTh 505⫺508/ATU 505, 507: J Dankbarer Toter)20. In schwankhaften Erzählungen werden hedonistische V. eher in provokativer Art dargestellt21. So sagt in einer Fazetie von J Poggio ein V. beim Anblick einer Hochzeitsgesellschaft, das Brautpaar vollziehe das Matrimonium, er habe dies mit dem Patrimonium (Erbe) schon längst getan22. In einer anderen verpraßt ein Mann das Vermögen seines Mün-
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dels; als er angeben soll, wo dessen Besitz geblieben sei, zeigt er auf seinen Mund und seinen Hintern und sagt, da sei es hinein- und da hinausgegangen23. Frauen dagegen werden dem Spott preisgegeben, wenn ihre Faulheit (AaTh/ATU 1451: cf. J Brautproben) oder Dummheit (AaTh/ATU 1386⫺1387 A, 1450: Die J kluge Else; AaTh/ATU 1291: cf. J Ausschicken von Gegenständen oder Tieren; AaTh/ ATU 1291 B: Filling Cracks with Butter) zur sinnlosen Verschwendung von Gütern oder Nahrungsmitteln führt (cf. auch J Frevel, Frevler). In dem Ehebruchschwank AaTh/ ATU 1355 A: cf. J Herr über uns müssen die Liebhaber der Frau für die Verschwendungssucht des zur Unzeit heimgekehrten Mannes aufkommen. In Sprichwörtern und Redewendungen wird Verschwendung zum einen durch Verdopplung (,Da ist Speck in Butter gebraten‘) und durch Vergleiche deutlich gemacht (,Faß ohne Boden‘), zum anderen kommt der Aspekt der Vernichtung von materiellen Werten zum Ausdruck (,zum Fenster hinauswerfen‘; ,vertane Liebesmüh‘). 1
Reith, R./Meyer, T. (edd.): Luxus und Konsum. Münster 2003. ⫺ 2 EM 5, 121, 125 sq. ⫺ 3 cf. Hersche, P.: Muße und Verschwendung. Europ. Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter 1. Fbg u. a. 2006, bes. 528⫺600. ⫺ 4 Campion-Vincent, V./Shojaei Kawan, C.: Marie-Antoinette and Her Famous Saying. In: Fabula 41 (2000) 13⫺41. ⫺ 5 Tubach, num. 1666. ⫺ 6 Kirchhof, Wendunmuth 2, num. 145; ibid. 7, num. 122. ⫺ 7 Alzheimer-Haller, H.: Hb. der narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780⫺1848. B./N. Y. 2004, Reg. s. v. Verschwendung, cf. auch Maßhalten/Unmäßigkeit. ⫺ 8 ibid., Reg. s. v. Zeitverschwendung. ⫺ 9 cf. z. B. Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 583; Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1. Dresden 1855, num. 460, 515, 594; id.: Sagenbuch des preuß. Staates 1⫺2. Glogau 1868/71, hier t. 1, num. 142, 644; t. 2, num. 41, 155, 293 b, 315, 729; Mttlgen der Ges. für jüd. Vk. 2 (1898) 31⫺33; Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. (Luxemburg 1883) Neudruck Esch-Alzette 1963, num. 770; Croker, T. C.: Fairy Legends and Traditions of the South of Ireland. L. 1825, num. 18. ⫺ 10 cf. z. B. Grässe 1868 (wie not. 9) num. 652. ⫺ 11 cf. z. B. Kuhn, A.: Märk. Sagen und Märchen. B. 1843, num. 144; Jb. für rom. Lit. 8 (1866) 393. ⫺ 12 Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen. Hannover 1854, num. 12. ⫺ 13 cf. z. B. ZfVk. 9 (1899) 415⫺ 418. ⫺ 14 Marzolph/van Leeuwen 2, 808. ⫺ 15 Cardigos 313; Noia Campos, C.: Cata´logo tipolo´xico do
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conto galego de tradicio´n oral. Vigo 2010, num. 313 A; Camarena Laucirica, J.: Cuentos traditionales recopilados en la Provincia de Ciudad Real. Ciudad Real 1984, num. 53⫺55 (AaTh/ATU 313 C); id. Cuentos tradicionales de Leo´n 1. Madrid 1991, num. 82 (AaTh/ATU 313). ⫺ 16 Hylte´n-Cavallius, G./Stephens, G.: Schwed. Volkssagen und Märchen. Wien 1848, num. 15. ⫺ 17 cf. auch Kirchhof, Wendunmuth 2, num. 147. ⫺ 18 cf. auch Gonzenbach 2, num. 60, 72. ⫺ 19 Marzolph *735 D*. ⫺ 20 cf. auch Leskien, A.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 2 (bulg.); Poestion, J. C.: Isl. Märchen. Wien 1884, num. 33. ⫺ 21 cf. auch Kirchhof, Wendunmuth 2, num. 147; 7, num. 122. ⫺ 22 Poggio, num. 8. ⫺ 23 ibid., num. 194; cf. auch Pauli/Bolte, num. 356.
Göttingen
Doris Boden Rebecca Stengel
Verschwinden. Das V. von Menschen oder Gegenständen hat in Volkserzählungen unterschiedliche Ursachen und Funktionen. Magisches V. (Mot. D 2095) oder J Unsichtbarmachung ist in Legende, Zaubermärchen und Sage eine ubiquitäre Erscheinung. Im Märchen dient das V. von Personen dazu, J Konflikte der diesseitigen mit der jenseitigen Welt hervorzurufen und damit die Märchenhandlung in Gang zu bringen (J Dynamik). In der Sage dagegen hat das V. von Menschen, Jenseitigen oder Gegenständen in der Regel zeichenhafte Bedeutung im Sinne von Warnung oder J Strafe. In Märchen gehen sowohl Handlungsträger als auch Nebenfiguren der Handlung nur selten verloren; sie werden meist zeitweilig in andere Zeiten und Räume entführt (J Entführung), entrückt (J Entrückung), von dämonischen Gestalten geraubt oder haben sich verirrt (J Verirren), um nach einer J Trennung durch die J Suchwanderung von Held oder Heldin wieder gefunden zu werden. Hierzu gehören etwa die Erzähltypen AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen, AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Büder oder AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne. Nur in den sagenhaften Erzählungen von der Ehe mit einer jenseitigen Ehefrau verschwindet diese endgültig, wenn ihr Mann ein Tabu gebrochen hat, indem er versucht, ihr Geheimnis zu ergründen, oder sie beleidigt, beschimpft oder verflucht (J Mahrtenehe: Die gestörte M. ).
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Verschwinden
In Legenden und Legendenschwänken pflegen J Christus und seine Begleiter regelmäßig zu verschwinden, wenn sie als J Helfer eine gute Tat vollbracht haben1. Von Eva (J Adam und Eva) wird erzählt, sie habe versucht, ihre zahlreichen Kinder vor Gott zu verbergen. Gott habe darauf gesagt: ,Verbirgst du sie, so sollen sie dir verborgen bleiben‘; sie verschwinden und werden zu J Unterirdischen und Bergtrollen (cf. AaTh/ATU 758: Die ungleichen Kinder J Evas)2. In Sagen besitzen vor allem dämonische Gestalten die Fähigkeit, sich aus der diesseitigen Welt zu entfernen bzw. sich quasi in Nichts aufzulösen. Die Dämonen verschwinden aber meist nicht ohne triftigen Grund, sondern werden durch Unwissenheit oder List der Menschen dazu veranlaßt oder sogar gezwungen. Am bekanntesten ist das europaweit verbreitete Motiv vom Auszug der J Zwerge (Mot. F 451.5.10.9), die für ihre Dienste bei den Menschen unwissentlich ausgelohnt werden, z. B. durch ein Geschenk von Kleidern oder Schuhen3. In anderen Fällen heißt es, die Zwerge seien nach der Einführung des Christentums verschwunden4 oder weil sie des Diebstahls überführt wurden5. In Montansagen werden die dem Bergmann unter Tag behilflichen Bergmännchen durch Fluchen, Beten, Kreuzeszeichen, Musik, Pfeifen oder Glockenläuten vertrieben6 oder wenn sie bei ihrer Arbeit beobachtet oder überrascht werden (Mot. C 311.1.5). In dämonologischen Sagen wird häufig erzählt, daß der J Teufel von der Bildfläche verschwindet, sobald er sich durch die Menschen geprellt sieht (cf. AaTh/ATU 1130: J Grabhügel). Auch der krähende J Hahn am Morgen (Mot. G 303.17.1.1) oder christl. Symbole und Handlungen vertreiben den Teufel (Mot. G 303.16.4), und oft verschwindet er unter Zurücklassung eines grauenhaften Gestanks (Mot. G 303.17.2.8). Ein Teufelsbuch, dessen Lektüre einen Schwarm von Krähen herbeiruft, muß rückwärts gelesen werden, um die Vögel zum V. zu bringen7. Die J Wilde Jagd verschwindet oft so schnell, wie sie gekommen ist (Mot. D 2188). Weiße Frauen verschwinden, wenn in ihrer Nähe geflucht wird8, und von Nixen (J Wassergeister) wird häufig erzählt, daß sie nach einem Aufenthalt bei den Menschen im See verschwinden, sobald man
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sie am nassen Saum ihrer Kleider als Jenseitige erkannt hat9. J Rübezahl verschwindet, nachdem er den Menschen einen seiner Streiche gespielt hat. J Gespenster lösen sich häufig bei Tagesanbruch in Nichts auf. Einen J Wechselbalg kann die Mutter des entführten Kindes zum V. bringen, wenn sie ihn zum Lachen bringt10. Ein häufiges Motiv in der Schatzsage ist das V. der unterirdischen Reichtümer, wenn die Schatzheber ein Tabu brechen. Zu den bekanntesten Alpensagen gehört die Erzählung vom J Frevel übermütiger Sennhirten mit Nahrungsmitteln auf der Blümlisalp im Berner Oberland. Die Sünder werden für ihren Übermut bestraft, indem die Alp verschwindet und mit ewigem Eis oder Schnee bedeckt wird (J Versinken)11. Auch das Reich der Riesenkönigin Frau Hütt verschwindet, und sie wird wegen Brotfrevels in Stein verwandelt (J Versteinerung)12. Den eher übernatürlich begründeten Erzählungen über außergewöhnliche Phänomene des V.s stehen solche gegenüber, in denen das V. von Menschen aus ihrem normalen Alltag tief in die Lebensschicksale eingreift. Wann immer dies geschieht, löst es bei den davon Betroffenen Angst, Ratlosigkeit und verzweifeltes Suchen nach einer Erklärung aus13. Hierauf beruht z. B. das über Jh.e anhaltende Interesse am V. der Kinder aus der Stadt Hameln (ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln), zu dem die Forschung die unterschiedlichsten Erklärungsversuche vorgelegt hat. Das Schicksal des Segelschiffs Mary Celeste hat als jüngeres Ereignis der Schiffahrtsgeschichte viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Celeste, eine zweimastige Brigantine, wurde im Dezember 1872 im Atlantik intakt, aber ohne Mannschaft und Passagiere vor sich hin treibend aufgefunden14. Arthur Conan Doyle hat 1873 mit seiner Kurzgeschichte J. Habakuk Jephson’s Statement, die einem angeblichen Überlebenden der Mary Celeste in den Mund gelegt war15, die lange Reihe der Rezeption des Ereignisses in Lit. und Medien eingeleitet. Nicht zuletzt hat die Celeste auch die Entstehung des Mythos vom BermudaDreieck16 begünstigt, in dem seit den 1950er Jahren immer wieder auf unerklärliche Weise Schiffe und Flugzeuge verschwunden sein sollen oder tatsächlich verschwunden sind. Auch
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Versinken
die Geschichten vom V. des Unterseeboots Dakar gehören in diese Kategorie17. Späte Nachfahren derartiger Erzählungen sind ⫺ z. T. auf reale Ereignisse zurückgehende ⫺ Berichte von verlassenen, im Meer treibenden Jachten, deren Besatzungen angeblich schwimmen gingen und ertranken, weil sie wegen einer vergessenen Aufstieghilfe nicht mehr an Bord zurückkehren konnten18. Wenngleich es hist. gesehen nicht außergewöhnlich ist, daß Menschen unauffindbar werden, weil sie Gewaltverbrechen oder Unglücksfällen zum Opfer gefallen sind oder sich an unbekanntem Ort eine neue Identität zugelegt haben, trifft dieses Phänomen auch bes. für die moderne, von Globalisierung, Mobilität und Flexibilität der Menschen geprägte Welt zu. In Deutschland verschwinden laut Statistik jährlich ca 20000 Menschen19. In den USA werden jährlich Tausende von Kindern als vermißt gemeldet, wobei Kidnapping durch Ehepartner, zur Prostitution und Pornographie die am häufigsten genannten Erklärungen für das V. darstellen20. Die modernen Sagen interessieren sich vor allem für spektakuläre und geheimnisumwitterte Fälle. Ein Klassiker ist die Erzählung von der Anhalterin (Mot. E 332.3.3.1), die unter Zurücklassung eines Kleidungsstücks aus einem Auto verschwindet21. In Orle´ans u. a. frz. Städten sollen seit 1969 zahlreiche Mädchen und junge Frauen in Umkleidekabinen von Damenmoden-Geschäften spurlos verschwunden sein, von denen einige später angeblich als Prostituierte oder Haremsdamen in Nordafrika wieder aufgetaucht sein sollen22. In Europa gelten blonde Frauen als bes. gefährdet, zumal bei Urlaubsreisen nach Nordafrika, wo die Basare als gefährliche Orte beschrieben werden23. Männlichen Personen kann es angeblich passieren, daß sie entführt und später unter Verlust einer Niere aufgefunden werden24. Auch von einem V. von Kindern in Vergnügungsparks25 oder Möbelhäusern26 wird immer wieder berichtet. Dh. 3, 493. ⫺ 2 Dh. 1, 247. ⫺ 3 KHM 39; HDA 9 (1938⫺41) Nachträge 1096⫺1106; Künzig [, J.]: Ausgelohnt. In: HDM 1 (1930⫺33) 152⫺154. ⫺ 4 Grohmann, J. V.: Sagen aus Böhmen. Prag 1863, 190. ⫺ 5 Grimm DS 153, 154. ⫺ 6 Heilfurth, G. (unter Mitarbeit von I.-M. Greverus): Bergbau und Bergmann in der dt.sprachigen Sagenüberlieferung Mitteleuro1
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pas. Marburg 1967, 1002⫺1004. ⫺ 7 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogthum Oldenburg 1. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, 357 sq. ⫺ 8 Kuhn, A.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1. Lpz. 1859, num 21. ⫺ 9 Grässe, J. G. T.: Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Dresden 2 1874, num. 396; Grohmann (wie not. 4) 143. ⫺ 10 Wildhaber, R.: Der Altersvers des Wechselbalgs und die übrigen Altersverse (FFC 235). Hels. 1985. ⫺ 11 HDA 1 (1927) 1434; Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 17, cf. num. 16; Vernaleken, T.: Alpensagen. Wien 1858, num. 18; Heyl, J. A.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 588; Lüthi, M.: Aspekte der Blümlisalpsage. In: SAVk. 76 (1980) 229⫺243; Brunold-Bigler, U.: Überlegungen zum soziohist. Gehalt von Bündner Sagen. In: Dona folcloristica. Festschr. L. Röhrich. Ffm. u. a. 1990, 33⫺47, hier 40⫺43. ⫺ 12 Grimm DS 234. ⫺ 13 Rooth, A. B.: The Awe and Horror of „Disappearances“. In: Meddelanden. Etnologiska institutionen vid Uppsala universitet 23 (1985) 69⫺ 76. ⫺ 14 Hicks, B.: Ghost Ship. The Mysterious True Story of the Mary Celeste and Her Missing Crew. N. Y. 2004, 5. ⫺ 15 Conan Doyle, A.: J. Habakuk Jephson’s Statement. L. 1884; cf. Begg, P.: Mary Celeste. The Greatest Mystery of the Sea. Harlow u. a. 2005, 140⫺168. ⫺ 16 Ebon, M. (ed.): The Riddle of the Bermuda Triangle. N. Y. 1975; Zier, W. (ed.): Die Welt des Unerklärlichen. Spurlos verschwunden. Das Bermuda-Dreieck und andere rätselhafte Orte und Ereignisse. Rastatt 41995. ⫺ 17 Shenhar, A.: The Disappearance of the Submarine Dakar. In: Fabula 32 (1991) 204⫺215. ⫺ 18 Brednich, R. W.: Die Maus im Jumbo-Jet. Mü. 1991, num. 51. ⫺ 19 Statistisches Jb. für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2007, 62. ⫺ 20 Rooth (wie not. 13) 70⫺72. ⫺ 21 Brunvand, J. H.: The Vanishing Hitchhiker. N. Y./ L. 1984, 24⫺46; Shenhar, A.: Israel. Fassungen des Verschwundenen Anhalters (Mot. E 332.3.3.1). In: Fabula 20 (1985) 245⫺253; Brunvand, J. H.: Urban Legends. Santa Barbara u. a. 2001, 463⫺465. ⫺ 22 Morin, E.: La Rumeur d’Orle´ans. P. 1969. ⫺ 23 Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990, num. 39, 40. ⫺ 24 id. (wie not. 18) num. 57; Campion-Vincent, V.: Organ Theft Legends. Jackson, Miss. 2005. ⫺ 25 Brednich, R. W.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, num. 27. ⫺ 26 Goldstuck, A.: The Rabbit in the Thorn Tree. Modern Myths and Urban Legends of South Africa. Johannesburg 1990, 44⫺49; Brednich, R. W.: Pinguine in Rückenlage. Mü. 2004, num. 120.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Versinken meint das Sinken in die Tiefe (auch das Überdecktwerden) von Lebewesen, Gebäuden, Siedlungen und Gegenständen. Versunkenes ist dem Auge entzogen. An seiner
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Stelle kann man gegebenenfalls Wasser, Fluß, Teich, Pfuhl, Sumpf, Morast wahrnehmen; eine Höhle, ein Bergsturz und Erd- oder Geröllaufschüttungen erinnern oft an Naturkatastrophen, die sich aus topographischen, klimatischen, demographischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen erklären (cf. J Katastrophenmotive)1. Im internat. Erzählgut bilden sie sich als realer Kern und geschichtliches Wissen ab; damit verbundene bedrohliche Aussagen werden durch unterschiedliche Deutungen bewältigt (cf. auch J Realitätsbezüge, J Verschwinden)2. In zahlreichen europ. sagenhaften Erzählungen wird das V. als hist. Vorgang an erkennbaren Indizien vorgestellt: Danach sind im Flachland Dörfer und Städte in der Erde3, in Berg und Hügel4 oder Wasser5, Fluß6 und See7 verschwunden, im alpenländ. Raum in Wasser und See8, in Eis9, Felsspalt10 und Schlucht11 und im Bergsturz12. Greifbar werden die Vorfälle, wenn ein Kastell13, eine Burg14 oder ein Schloß15 in der Erde, in einem Gewässer oder Sumpf untergegangen sein sollen. Ähnlich verhält es sich mit Kirchen und Kapellen, die in einer Wassergrube16, in einem Teich oder Weiher17 oder in einem Gletscher18 verschwanden. Mit den kirchlichen Gebäuden versanken deren J Glocken, die sich an Pfingsten, an jedem Marientag, am Johannistag oder in der Christnacht durch Läuten melden19. Wohl auf Unfälle verweisen Spukgeschichten, die von einem mitsamt Kutscher (J Fuhrmann) und Reisenden versunkenen Wagen20, von einer Postkutsche21, einem Wagen mit der Kriegskasse und verschwundenen Kosaken und Soldaten22 berichten. Viele Erzählungen liefern Begründungen und Erklärungen für das V. von Siedlungen und Gebäuden samt ihrer Bewohner; mit Hilfe von Ätiologien werden Ortsnamen erklärt. Hist. Befunde erfahren auf diese Weise eine Deutung: Der ,Kirchenversunk‘ z. B. verweise auf eine Kirche, die Gott versinken ließ, um Heiden abzuwehren23. Am ,Klockpütz‘ würden Glocken gegossen und im Brunnen versenkt24. Im ,Entenpfuhl‘ sei ein Schloß nach einem wüsten Fest in der Fastenzeit verschwunden, im ,Ungeheuersbruch‘ eine Stadt25. Burg und Schloß seien wegen des gotteslästerlichen Lebens26, der Leuteschinderei27 und des Raubrittertums28 ihrer Besitzer
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(AaTh/ATU 960 B: cf. J Sonne bringt es an den Tag) versunken. Mörderische Herren gehen wegen ihrer Übeltaten unter29. Die Rache des Himmels trifft vor allem diejenigen, die Priester und Mönche überfallen, beraubt und getötet haben30. Geweihte Kirchen und Kapellen, so heißt es, versanken in Tümpel und Sumpf, bevor die Hussiten sie zerstören oder menschlicher Spott sie beleidigen konnte31. Andererseits würden Klöster wegen des ruchlosen und unfrommen Lebens der Mönche und Nonnen vom Wasser bedeckt32. Gottlosigkeit und Gotteslästerung werden unerbittlich bestraft (J Strafe)33, ebenso wie Hochmut und Übermut34. Es gibt keine schlechte menschliche Eigenschaft, die in der Sage nicht das V. bewirken kann. Ungerechte Richter werden von der Erde verschluckt35. J Geiz und J Hartherzigkeit der Reichen bewirken deren Untergang36. Im gesamten europ. Raum findet sich das Motiv der versunkenen Stadt37 oder Insel (z. B. Atlantis38; cf. auch J Topographie, fiktive). Im jüd., christl. und islam. Bereich sind J Sodom und Gomorrha zum Topos für sündige untergegangene Städte geworden. In Chroniken und Sagensammlungen erscheinen Untergangssagen z. B. über das sagenhafte Vineta an der südöstl. Ostseeküste (auch Atlantis des Nordens genannt) und Rungholt in der Nordsee. Die Stadt Vineta etwa verschwand im Meer, weil die gottlosen Bewohner ein hochmütiges und verschwenderisches Leben führten, mit J Brot die Löcher in den Hauswänden stopften und ihren Kindern mit Semmeln den Hintern abwischten39. Ähnliches widerfuhr der Stadt Arkona, die allerdings gelegentlich aus der Ostsee emporsteigen soll40. Der reiche Hafenort Rungholt auf der nordfries. Insel Strand ging unter, weil die Menschen in ihrem Übermut das Abendmahl verspotteten (cf. J Blasphemie)41. Im Hochgebirge steht die Blümlisalpsage für Erzählungen mit Katastrophenmotiven: Die Sennen sind hartherzig, leben in Sünde und verspotten Gott. Die schöne Alm geht mit den Menschen in einem Bergsturz zugrunde42. Solche Untergangsgeschichten halten Menschen den moralischen Spiegel vor. Eigenschaften und Handlungsweisen werden als sündhafte Verfehlungen und J Frevel benannt und beschrieben und mit der Strafe des V.s ge-
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ahndet. Wer flucht, wird von Gott mit V. bestraft (J Fluch, Fluchen, Flucher)43. Von Verfluchung und Untergang werden diejenigen betroffen, die Arme und Geistliche verspotten und Bedürftigen weder Brot noch Obdach geben44. Die jähzornige Mutter, die ihre ungebärdigen Kinder verflucht, versinkt mit ihrem Haus45. Die Entheiligung von Feiertagen durch Arbeit, Jagdgier und Tanzvergnügen hat ebensolche Folgen (ATU 779 J*: Breaking the Sabbath)46. Die Mißachtung des Brotes zieht in Volkserzählungen harte Strafen nach sich (AaTh/ATU 962**: The Girl Who Played with the Bread). Die Mißachtung der Mutter sowie Streit und Betrug unter Verwandten bewirken den Untergang der Alm, der Burg, des Dorfes und der Stadt47. Eine Beziehung zu dämonischen und dämonisch gedachten Gestalten hat in Sagen verhängnisvolle Folgen. Schloßherren, Mönche, Bauern und geldgierige Dörfler, die sich mit dem Teufel einlassen (cf. J Teufelspakt), verschwinden mit Burg, Kloster, Haus und Dorf 48. Zauberer verfluchen eine Stadt in den Abgrund49. Eine Hexe, die beim Betteln abgewiesen wurde, verhext ein Dorf in den See50. Der Spuk treibt einen Wanderer ins Wasser51. Gelegentlich wird das V. vorausgesagt52. Manche Legenden erzählen davon, wie J Christus und Heilige unerkannt um ein Almosen bitten, abgewiesen werden und die Hartherzigen bestrafen53, indem sie sie versinken lassen (cf. auch J Philemon und Baucis). In Mirakelgeschichten werden Menschen, die im Fluß unterzugehen drohen, durch die Fürbitte von Heiligen gerettet54. Im Märchen AaTh/ ATU 500: J Name des Unholds versinkt der Dämon in der Erde. Das verwunschene Schloß geht unter (AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens) und verschwindet mit der verwünschten Prinzessin im See oder in der Asche55. Erzählungen vom V. verweisen auf das menschliche Bedürfnis, die Wirklichkeit wahrzunehmen und zu erkennen. Sie verbinden reale Sachverhalte mit wechselnden Erklärungen im Zusammenhang vielfach hist. Tatbestände. Es handelt sich um Katastrophen, die zumeist als Reaktion auf ein frevelhaftes und unsoziales Verhalten von Menschen folgen. Insgesamt bilden sie einen Katalog schlechter menschlicher Eigenschaften und Handlungen ab und fordern eine Bestrafung heraus. Nach
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dem Untergang ist die soziale Ordnung wiederhergestellt und die pädagogische Absicht erfüllt. 1
Hugger, P.: Elemente einer Ethnologie der Katastrophe in der Schweiz. In: ZfVk. 86 (1990) 25⫺36, hier 25. ⫺ 2 Jeggle, U.: Tödliche Gefahren. Ängste und ihre Bewältigung in der Sage. ibid., 53⫺66, hier 55. ⫺ 3 Kuhn, A.: Märk. Sagen und Märchen. B. 1843, num. 13; Dietz, J.: Aus der Sagenwelt des Bonner Landes. Bonn 1965, num. 48. ⫺ 4 Kuhn (wie not. 3) num. 131; Graf, K.: Sagen rund um Stuttgart. Karlsruhe 1995, 26. ⫺ 5 Fischer, H.: Sagen des Westerwaldes. Montabaur 72004, num. 88. ⫺ 6 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogthum Oldenburg 2. Oldenburg 1867, num. 594. ⫺ 7 Temme, J. D. H.: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. B. 1840, num. 166⫺168; Böck, E.: Sagen aus dem Neuburg-Schrobenhauser Land. Neuburg 1989, num. 239; Büttner, H.: Sagen, Legenden und Geschichten aus der Fränk. Schweiz. Erlangen 8 2001, num. 142. ⫺ 8 Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Oberwallis. Basel/Bonn 1979, num. 6. ⫺ 9 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺4. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 21989/31989/90/ 92, hier t. 2, 496 sq. ⫺ 10 ibid. ⫺ 11 ibid., t. 3, 666. ⫺ 12 Müller, J.: Sagen aus Uri. 1⫺ 2. ed. H. Bächtold-Stäubli; t. 3. ed. R. Wildhaber. Basel 1926/29/45, hier t. 1, num. 58, 66, 68; t. 3, num. 1366, 1367. ⫺ 13 Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 278. ⫺ 14 Graf (wie not. 4) num. 180; Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. ed. S. Neumann/K.-E. Tietz. Bremen/Rostock 1999, num. 268. ⫺ 15 Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 1897, 444, num. 50; Dittmaier, H.: Sagen, Märchen und Schwänke von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 70, 71; Fischer (wie not. 5) num. 494. ⫺ 16 Jahn (wie not. 14) num. 237; Baumgartner, H.: Bair. Sagen. Kassel 1983, num. 184; Maier, E./Tietz, K. E./Ulbricht, A.: Aus dem Sagenschatz Vorpommerns 1. Uckerland 2008, 21. ⫺ 17 Wehrhan, K.: Westfäl. Sagen. Lpz. 1934, num. 215; Böck (wie not. 7) num. 306; Top, S.: Limburgs Sagenboek. Löwen 2004, num. 290. ⫺ 18 Büchli (wie not. 9) t. 1, num. 579. ⫺ 19 Strackerjan (wie not. 6) num. 594; Wehrhan (wie not. 17) num. 215; Jahn (wie not. 14) num. 229, 255, 264, 285. ⫺ 20 Peuckert, W.-E.: Schles. Sagen. Düsseldorf/Köln 21966, 285; Staudt, G./Peuckert, W.-E.: Nordfrz. Sagen. B. 1968, num. 261; Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 239, 240. ⫺ 21 Bodens (wie not. 13) num. 274; Peuckert, W.-E.: Dt. Sagen 2. B. 1962, num. 410; Seebach, H.: Sagen in der Pfalz. Mainz 1996, num. 66. ⫺ 22 Baumgartner (wie not. 16) num. 186; Dittmaier (wie not. 15) num. 29; Seebach (wie not. 21) num. 78; Zender (wie not. 20) num. 241. ⫺ 23 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg 1. Wien 1879, num. 379. ⫺ 24 Korth, L.: Volksthümliches aus dem Kreise Bergheim. In: Annalen des Hist. Vereins für den Nie-
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Version ⫺ Verstand für einen Pfennig
derrhein 52 (1891) 1⫺60, hier 53. ⫺ 25 Lohmeyer, K.: Die Sagen von der Saar […]. Saarbrücken 31935, num. 416, 620. ⫺ 26 Sondermann, D.: Emschersagen. Bottrop 2006, num. 72, 99. ⫺ 27 Fischer (wie not. 5) num. 48; Groeteken, F. A.: Sagen des Sauerlandes. Fredeburg 51991, 81. ⫺ 28 Schell (wie not. 15) 354, num. 56; Haller, R.: Natur und Landschaft. Sagen aus dem Bayer. Wald. Grafenau 1983, num. 345; Wolfersdorf, P.: Westfäl. Sagen. Kassel 1987, num. 197. ⫺ 29 Dietz (wie not. 3) num. 527; Temme (wie not. 7) num. 159; Guntern, J.: Walliser Sagen. Olten/ Fbg 41974, num. 4; Fischer (wie not. 5) num. 104. ⫺ 30 Wehrhan (wie not. 17) num. 155; Top (wie not. 17) num. 291; Sondermann (wie not. 26) num. 58. ⫺ 31 Büttner (wie not. 7) num. 576; Fischer (wie not. 5) num. 144. ⫺ 32 Wehrhan (wie not. 17) num. 157; Lohmeyer (wie not. 25) num. 170; Bodens (wie not. 13) num. 272⫺275; Jahn (wie not. 14) num. 243. ⫺ 33 Temme (wie not. 7) num. 264; Staudt/Peukkert (wie not. 20) num. 263, 264; Müller, F.: Siebenbürg. Sagen. ed. M. Orend. Göttingen 1972, num. 3; Groeteken (wie not. 27) 43, 76. ⫺ 34 Vernaleken, T.: Alpensagen. Wien 1858, num. 43; Jahn (wie not. 14) num. 293; Guntern (wie not. 29) num. 37; Cammann, A.: Turmberg-Geschichten. Marburg 1980, 192 sq. ⫺ 35 Grimm DS 102. ⫺ 36 Bartsch (wie not. 23) num. 385; Fischer (wie not. 5) num. 282; Guntern (wie not. 8) num. 19, 20, 176, 186, 187, 190⫺193; Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln/Bonn 1978, num. 82. ⫺ 37 Peter, H.: Geschichtliches Volkssagengut in den Sudetenländern. Marburg 1978, 129; Tettau, W. A. J. von/Temme, J. D. H.: Die Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens. B. 1837, num. 252; Bartsch (wie not. 23) num. 378, 392, 394; Temme (wie not. 7) num. 167⫺170; Kuoni, J.: Sagen des Kantons St. Gallen. St. Gallen 1903, num. 13; Heyl, A. J.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 27, num. 29, 398, num. 84, 654, num. 126; Guntern (wie not. 8) num. 177⫺181, 185. ⫺ 38 Ellis, R.: Imagining Atlantis. N. Y. 1998; Nesselrath, H.G.: Platon und die Erfindung von Atlantis. Mü./Lpz. 2002; Vidal-Naquet, P.: Atlantis. Geschichte eines Traums. Mü. 2006. ⫺ 39 Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche […]. Lpz. 1848, num. 34; Haas, A.: Sagen und Erzählungen von den Inseln Usedom und Wollin. Stettin 21924, 121, 168 sq.; Temme (wie not. 7) num. 14; Burkhardt, A.: Vineta. Sagen und Märchen vom Ostseestrand. Rostock 62006, 5⫺9; cf. allg. Goldmann, K./ Wermusch, G.: Vineta. Die Wiederentdeckung einer versunkenen Stadt. Bergisch-Gladbach 22001. ⫺ 40 Jahn (wie not. 14) num. 224. ⫺ 41 Lübbing, H.: Fries. Sagen. Jena 1928, 8⫺10; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, num. 192; Quedens, G.: Die Halligen, Nordstrand und Pellworm erzählen. Münsterdorf [1969], 6 sq.; cf. allg. Duerr, H. P.: Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt. Ffm./Lpz. 2005; Rieken, B.: „Nordsee ist Mordsee“.
130
Münster u. a. 2005, 171⫺195. ⫺ 42 Lüthi, M.: Aspekte der Blümlisalpsage. In: SAVk. 76 (1980) 229⫺243; Uther, H.-J.: Zauberhafte Landschaften. In: Heindrichs, U. und H.-A. (edd.): Zauber Märchen. Mü. 1998, 69⫺97, hier 82. ⫺ 43 Heyl (wie not. 37) num. 129; Peuckert (wie not. 20) 270; Vildomec, V.: Poln. Sagen. B. 1979, num. 205; Assion, P.: Weiße, Schwarze, Feurige. Karlsruhe 1972, num. 257; Fischer (wie not. 36) num. 80; Büttner (wie not. 7) num. 133. ⫺ 44 von Tettau/Temme (wie not. 37) num. 251; Haller (wie not. 28) num. 25; Vildomec (wie not. 43) num. 232. ⫺ 45 Schell (wie not. 15) 398, num. 4. ⫺ 46 Staudt/Peuckert (wie not. 20) num. 102, 265; Bartsch (wie not. 23) num. 384; Assion (wie not. 43) num. 103, 169, 170, 286; Graf (wie not. 4) num. 136; Dietz (wie not. 3) num. 259; Sondermann (wie not. 26) num. 62. ⫺ 47 Müller (wie not. 12) t. 3, num. 1383; Karlinger, F./Wolf, R.: Nordital. Sagen. B. 1978, num. 22; von Tettau/ Temme (wie not. 37) num. 241; Reiser, K. A.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 1. Kempten 1895, num. 80; Böck (wie not. 7) num. 72; Haller (wie not. 28) num. 16. ⫺ 48 Wehrhan (wie not. 17) num. 154; Peuckert (wie not. 20) 269; Sondermann (wie not. 26) num. 55; Fischer, H.: Volkserzählungen an Rhein und Sieg. Siegburg 2006, num. 275. ⫺ 49 Kuhn (wie not. 3) num. 207; Jahn (wie not. 14) num. 273. ⫺ 50 Büchli (wie not. 9) t. 3, 43. ⫺ 51 Top (wie not. 17) num. 103. ⫺ 52 Sann, H. von der: Sagen aus der grünen Mark. Graz 41952, 265⫺267; Müller (wie not. 12) t. 1, num. 76, 78, 79; Büchli (wie not. 9) t. 2, 250, 520. ⫺ 53 Zingerle, I. V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 21891, num. 639; Alpenburg, J. N. von: Dt. Alpensagen. Wien 1861, num. 230. ⫺ 54 Holder-Egger, O. (ed.): Vita Adelheidis Abbatissae Vilicensis. Hannover 1888, 754⫺763, hier 763; Mittler, M. (ed.): Libellus de translatione Sancti Annonis. Siegburg 1966, num. 53; Kleine, U.: Gesta, Fama, Scripta. Rhein. Mirakel des HochMA.s […]. Stg. 2007, 136. ⫺ 55 Kuhn (wie not. 3) num. 155.
Hennef
Helmut Fischer
Version J Variante
Versprechen J Eid, Meineid, J Gelübde, J Mirakel
Verstand für einen Pfennig (AaTh/ATU 910 G), vorwiegend literar. überlieferte Erzählung aus dem Zyklus AaTh/ATU 910, 910 A⫺B: Die klugen J Ratschläge: Ein verheirateter Kaufmann hat ein außereheliches Verhältnis. Als er zu einer Handelsreise aufbricht, bittet ihn die Geliebte um reiche Geschenke.
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Verstecken ⫺ Versteckwette
Die Ehefrau, die unter der Untreue ihres Mannes leidet, will dagegen nur, daß er ihr für einen Pfennig (andere kleine Münze) V. (einen Beutel voll V.) mitbringe, und gibt ihm auch das Geld dafür. Auf der Suche nach dem V. erhält der Kaufmann von einem Gastwirt (Händler, alter Mann, Geistlicher, Betrunkener) den Rat, bei seiner Heimkehr zu behaupten, er sei völlig verarmt; manchmal erhält er zu diesem Zweck ein Bündel mit Lumpen. Als der Mann nacheinander den beiden Frauen gegenübertritt, verstößt ihn die Geliebte; die Ehefrau hingegen nimmt ihn barmherzig auf und erklärt sich bereit, ihm bei der Bezahlung der (angeblichen) Schulden behilflich zu sein. Der Kaufmann erkennt die aufrichtige Liebe seiner Frau, gesteht ihr die Wahrheit und verspricht ewige Treue; zudem gibt er ihr die ursprünglich für seine Geliebte bestimmten Geschenke.
Frühester Beleg für den Erzähltyp ist das Fabliau La Bourse pleine de sens des Jean le Galois (2. Hälfte 13. Jh.)1, dessen Vorlage möglicherweise ein lat. Predigtexempel war. In Frankreich folgte im 15. Jh. eine anonyme Prosanovelle2. Die Inhaltsangabe in Claude Fauchets Recueil de l’origine de la langue et poe´sie franc¸oise (1581) bildete die Grundlage für mehrere frz., eine ital. und eine dt. Fassung3. Die dt. Textüberlieferung beginnt ca Mitte des 14. Jh.s mit dem Märe Der Hellerwertwitz des Ulmer Stadtschreibers Hermann Fressant, der eine (für die Handlung irrelevante) zweite Geliebte einführt und den Umfang der Geschichte erheblich erweitert4. Dieses zweifache Liebesverhältnis findet sich in fast allen dt. Bearb.en des 14./15. Jh.s und auch in einem Predigtexempel von Gottschalk J Hollen5. Anfang des 17. Jh.s wurde die Erzählung in das Magnum speculum exemplorum (J Speculum exemplorum) aufgenommen, von dem wiederum Impulse für die mündl. Tradition ausgingen6. In der engl. Überlieferung, an deren Beginn die mittelengl. Fassung A Peniworth of Witte (ca 1330)7 steht, war der Stoff seit dem 18. Jh. als Ballade beliebt und häufig auf Flugschriften verbreitet. Er wurde 1796 von John Davy in seiner Oper A Pennyworth of Wit, or the Wife and the Mistress bearbeitet8. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s sind zu AaTh/ATU 910 G relativ wenige Belege aus Europa (vor allem Südeuropa), dem Vorderen Orient (türk., armen., oriental. Juden) und der Karibik verzeichnet. Die in den Typenkatalogen angeführten Nachweise entsprechen allerdings nur bedingt der Beschrei-
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bung des Erzähltyps. In einem russ. Text etwa erwirbt der Mann von einem Betrunkenen für 700 Rubel ein Lumpenbündel; bei seiner Rückkehr kommt er auf die Idee, sich als Bettler auszugeben9. Sehr oft handelt es sich um Belege für andere Erzähltypen mit dem verbindenden Motiv des Kaufs von Verstand oder guten Ratschlägen10. 1
Montaiglon, A. de/Raynaud, G. (edd.): Recueil ge´ne´ral des fabliaux des XIIIe et XIVe sie`cles 3. P. 1878, num. 68; Noomen, W./Boogard, N. van den (edd.): Nouveau Recueil complet des fabliaux 2. Assen 1984, 138⫺149; cf. allg. Rosenfeld, H.-F.: Mhd. Novellenstudien. 1: Der Hellerwertwitz. Lpz. 1927; Poe, E. W.: Fabliaux as Fair Exchange. Boivin de Provins and La Bourse pleine de sens. In: The Old French Fabliaux. ed. K. L. Burr/J. F. Moran/N. J. Lacy. Jefferson, N. C. 2008, 19⫺29. ⫺ 2 Langlois, E. (ed.): Nouvelles franc¸aises ine´dites du XVe sie`cle. P. 1908, num. 6. ⫺ 3 Rosenfeld (wie not. 1) 128⫺131. ⫺ 4 ibid., 44⫺70; id.: Fressant, Hermann. In: Verflex. 2 (21980) 910⫺ 913. ⫺ 5 id. (wie not. 1) 103⫺106, 152 sq.; Fischer, H. (ed.): Eine Schweizer Kleinepikslg aus dem 15. Jh. Tübingen 1965, num. 7 (nur eine Geliebte); Rosenfeld, H.-F.: Ein dt. Predigtexempel vom Hellerwertwitz. In: ZfdA 102 (1973) 239⫺250; id.: Der Pfennigwertwitz. In: Verflex. 7 (21989) 563 sq. ⫺ 6 id. (wie not. 1) 124⫺ 126, 151 sq.; zur späteren Rezeption cf. Somma, M.: Cento racconti raccolti. Neapel 1858, num. 28; Simrock, K.: Dt. Märchen. Stg. 1864, num. 17. ⫺ 7 Kölbing, E.: Kleine Publ.en aus der Auchinleck-Hs. 1⫺2. In: Engl. Studien 7 (1884) 111⫺117. ⫺ 8 cf. ferner Rosenfeld (wie not. 1) 153⫺157; Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm. u. a. 1979, num. 430. ⫺ 9 z. B. Sokolov, B. und J.: Skazki i pesni Belozerskogo kraja. M. 1915, num. 11. ⫺ 10 z. B. DBF A 2, 238⫺240 (Narr will einen Topf Gehirn [Klugheit] kaufen und gewinnt die Hand einer Frau ⫺ für ihn die einzige Möglichkeit, Klugheit zu bekommen [Mot. J 163.2.1]); Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales and Their Folkloristic Relevance. Detroit 1966, num. 6 (AaTh/ATU 923 B ⫹ AaTh/ATU 910 B [Mot. J 163.4]); Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales de Leo´n 2. Madrid 1991, num. 212 (⫹ cf. AaTh/ ATU 1535: Armer Bauer verkauft mißgünstigen Nachbarn ihren eigenen Kot als ,Wahrheit‘).
Graz
Bernd Steinbauer
Verstecken J Verbergen
Versteckwette (AaTh/ATU 329), Zaubermärchen über eine stolze Prinzessin, deren unlösbar scheinende J Aufgaben von einem J
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Versteckwette
Freier gelöst werden (cf. z. B. AaTh 850, 851, 851 A/ATU 850, 851: J Rätselprinzessin). (1) Die Tochter eines Herrschers (Zauberers) will nur denjenigen heiraten, der sich vor ihr so gut verstecken (J Verbergen) kann, daß sie ihn nicht entdeckt. Das Mißlingen der Aufgabe müssen die Freier mit ihrem Leben bezahlen. Alle Versuche von Freiern enden mit der Todesstrafe, bis sich (2) ein junger Mann (jüngster von drei Brüdern) findet, der sich der Aufgabe stellt. Weil er sich zuvor dreimal durch uneigennützige Hilfe den Dank von Tieren (eines alten Mannes) erworben hat, versteckt ihn z. B. ein Fisch in seinem Bauch, ein Adler hinter den Wolken (der Sonne), ein Fuchs unter der Erde. Da die Umworbene einen Zauberspiegel (Zauberbuch, zwölf Glasfenster) besitzt (hellsichtig ist), entdeckt sie ihn jedesmal. (3) Nach zwei (drei) vergeblichen Versuchen versteckt er sich hinter dem Zauberspiegel (unter ihrem Sitz) oder verwandelt sich (wird verwandelt) und sitzt als kleines Tier (Rose) in ihrem Haar etc. Die junge Frau findet ihn nicht, gibt sich geschlagen und muß ihn heiraten.
Der von I. Hartmann1 ausführlich untersuchte Erzähltyp ist seit Mitte des 19. Jh.s in vielen Teilen der Welt aufgezeichnet worden, der Schwerpunkt der Überlieferung liegt laut Hartmann in Südosteuropa2. Ältere Motivparallelen ergeben sich nur zu der vermutlich aus dem Spätmittelalter stammenden färö. Ballade Lokka ta´ttur (veröff. zuerst 1822)3. Dort muß ein Bauer seinen Sohn aufgrund einer verlorenen Wette einem Riesen übergeben, es sei denn, dem Sohn gelänge es, sich vor dem Riesen zu verbergen. Die von dem Bauern zu Hilfe gerufenen Götter Odin und Hoenir schaffen es nicht, den Jungen vor dem Wettpartner zu verstecken, erst der listige J Loki hat Erfolg. Die von J. J Haltrich 1856 veröff. siebenbürg. Fassung4 nahm W. J Grimm kurz nach Erscheinen in das Korpus der J Kinder- und Hausmärchen (1857: KHM 191) auf, benannte das Märchen nach dem dritten Helfertier Das Meerhäschen (siebenbürg.-sächs.: Mierhäsken ⫽ Kaninchen) und bearbeitete die Vorlage, bes. durch stärkere Einführung der direkten Rede5. AaTh/ATU 329 beginnt mit der Erwähnung vergeblicher Versuche und der ungewöhnlich hohen Strafe. Dies entspricht der Neigung des Märchens zu J Extremen wie dem Aufstecken der J Köpfe auf Pfählen6 oder der Kastration7; die Ausführung der Strafe obliegt der Prinzessin selbst oder dem eifersüchtigen Va-
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ter8. Zentral ist das Motiv der J dankbaren (hilfreichen) Tiere, die dem Freier bei der Lösung seiner Aufgaben zur Seite stehen. Mittels eines J Verwandlungszaubers oder einer List kann er dem durchdringenden Blick der stolzen Prinzessin entgehen und sich so verbergen, daß sie ihn nicht findet: Als Laus verwandelt befindet sich der Freier z. B. auf dem Kopf der jungen Frau (frz., rumän.)9, als Rosmarinblatt in ihrem Ohr (kroat.)10: Die Königstochter sieht zwar das Entfernteste, das Nächstliegende aber nicht11. Die Prinzessin muß ihn heiraten, „wohl kaum eine Liebesheirat, wohl aber ein märchenhaftes Happy End“12. AaTh/ATU 329 ist vereinzelt mit anderen Erzähltypen verbunden, wenn z. B. der Tierhelfer ein sprechendes Pferd ist (AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue)13 oder wenn die Befreiung einer jungen Frau aus der Gewalt eines Unholds verlangt wird (AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen14; AaTh/ATU 316: J Nixe im Teich15). Daß anstelle der dankbaren Tiere eine Dienerin oder der J Teufel die Hilfeleistung erbringen, kommt vereinzelt in osteurop. Var.n vor16. Die schwierigen Freierproben wurden von L. J Röhrich im Zusammenhang mit apotropäischen oder initiatorischen Hochzeitsbräuchen gesehen17. Nach W. J Scherf geht die Handlung des Märchens von einer erstarrten Tochter-Vater-Bindung und der Liebesunfähigkeit der Königstochter aus: Zwar verfüge die junge Frau über eine todbringende Scharfsichtigkeit, empfinde aber gleichzeitig eine panische Angst vor ihrer Weiblichkeit. „Diese jedoch aus der scheinbar endgültigen Verdrängung zu lösen, gelingt nur einem gutmütigen, der leidenden Kreatur zugewandten jungen Mann.“18 1
BP 3, 365⫺369; Hartmann, I.: „Das Meerhäschen“. Eine vergleichende Märchenunters. Diss. (masch.) Göttingen 1953. ⫺ 2 ibid., 139. ⫺ 3 Lyngbye, H. C.: Færøiske qvæder om Sigurd Fofnersbane […]. Randers 1822, 500⫺505; Olrik, A.: Loke i nyere folkeoverlevering. In: DSt. (1908) 193⫺207; cf. auch Grundtvig, S.: Gamle danske minder i folkemunde. Kop. 1854, num. 2. ⫺ 4 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. B. 1856, num. 38. ⫺ 5 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./ N. Y. 2008, 389⫺391. ⫺ 6 Lichtblau, K.: Maduc. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Verführer, Schur-
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Versteinerung
ken, Magier. St. Gallen 2001, 567⫺577. ⫺ 7 z. B. Wlislocki, H. von: Märchen und Sagen der transsilvan. Zigeuner. B. 1886, num. 47. ⫺ 8 Hahn, num. 61. ⫺ 9 Soupault, R.: Frz. Märchen. MdW 1963, num. 36; Schott, A. und A.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. ed. R. W. Brednich/I. Talos¸. Buk. 1971, num. 12. ⫺ 10 Valjavec, M. K.: Narodne pripovjesti u Varazˇdinu i okolici. Zagreb 21890, num. 24. ⫺ 11 cf. allg. Horn, K.: Das Große im Kleinen. Eine märchenspezifische Übertreibung. In: Fabula 22 (1981) 250⫺271. ⫺ 12 Solms, W.: Angst weckende Situationen im Märchen. In: Märchenspiegel 18,3 (2007) 17⫺24, hier 20. ⫺ 13 Asbjørnsen, P./Moe, J.: Norw. Volksmärchen. B. 1847, num. 37; Amades, num. 46. ⫺ 14 z. B. Asbjørnsen/Moe (wie not. 13). ⫺ 15 Megas, G. A.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 25. ⫺ 16 cf. BP 3, 366 sq. ⫺ 17 cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 111; Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987, 408⫺411. ⫺ 18 Scherf, 860⫺863, hier 863.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Versteinerung. Im naturwiss. Sinne bezeichnet der Begriff V. oder Petrifizierung das Resultat einer Substanzumwandlung von organischem Hartmaterial (z. B. Holz, Knochen) in anorganischen J Stein. Der erdgeschichtlich sehr weit zurückreichende Prozeß setzt die Einbettung von tierischer oder pflanzlicher Materie in luftdicht abgeschlossene Sedimentschichten voraus, in denen die ursprünglichen Strukturen des versteinerten Materials in Fossilien fixiert bleiben1. V.en von Menschen, Tieren und Gegenständen sind als Erzählmotive in Mythen, Sagen und Märchen weltweit verbreitet2. Die V. eines lebendigen Wesens bedeutet Bewegungsunfähigkeit, Unverrückbarkeit, Unbequemlichkeit, Gefühllosigkeit und Sprachlosigkeit3. Die V., Resultat einer Verfluchung, Bestrafung oder schadenzauberischen Handlung, erscheint ähnlich wie J Festbannen als ein Zustand, der nach Aufhebung ruft und auf J Wiederbelebung und J Erlösung warten läßt. Ebenfalls in Erzählungen begegnet der Vergleich ,wie versteinert‘ im übertragenen Sinn bei Betroffenen als Ausdruck für Schock und Entsetzen4 oder bezieht sich umgekehrt auf hartherzige Menschen (,versteint in ihrem Herzen‘)5. Fossile V.en, unter denen sich Skelettreste riesiger Urtiere wie Saurier oder Mammute befanden, wurden bereits in der Antike von Em-
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pedokles, Pausanias, J Plinius u. a.6 beschrieben ⫺ später u. a. von A. J Kircher auf sizilian. Fundstätten bezogen7 ⫺ und regten offenkundig zu Vorstellungen von Riesenmenschen, Drachen, Einhörnern und Monstern an8. Möglicherweise liegt z. B. der Vorstellung des einäugigen J Riesen (AaTh 1135⫺1137/ ATU 1135, 1137: J Polyphem) die als Augenhöhle gedeutete Nasenöffnung eines fossilen Elefantenschädels zugrunde9. In der griech. Mythologie heißt es über die J Gorgo Medusa, sie könne andere allein durch ihren Blick zu Stein werden lassen. J Perseus entgeht diesem Schicksal, indem er sie über das Spiegelbild in seinem Schild anschaut und besiegen kann. Mit dem in einer magischen Tasche als Trophäe aufbewahrten Gorgonenhaupt versteinert er danach seine Gegner, unter ihnen den gewalttätigen König Polydektes, der Perseus auf die lebensgefährliche Fahrt ausgeschickt hatte10. Öfter dient V. als Mittel der Bestrafung. Niobe z. B. beleidigt die Göttin Leto, die daraufhin deren Kinder töten läßt; Niobe lebt ein ärmliches Leben, bis die Götter sie aus Mitleid in einen Marmorblock verwandeln, aus dem das Wasser wie Tränenströme fließt11. Weil die phäak. Ruderer J Odysseus zu schnell nach Ithaka gebracht haben, werden sie von Poseidon bestraft, indem er ihr Schiff auf der Rückfahrt versteinert; es wird im Fels Kolovri vor Korfu gesehen (Homer, Odyssee 13,163; Plinius, Naturalis historia 4,19,53)12. Das A. T. kennt das V.smotiv im Zusammenhang mit der Zerstörung von J Sodom durch Gott, als Lots Frau bei der Flucht der Familie entgegen der Warnung der Engel zurückblickt und zur Salzsäule erstarrt (Gen. 18,16⫺19,29). Ältere Interpretationen sahen darin eine Bestrafung für Ungehorsam bzw. einen Tabubruch; neuere psychologisierende Deutungen ziehen die Schädlichkeit des Rückblicks auf das eigene Leben bzw. das traumatische Entsetzen über den Untergang und Verlust der Heimat in Betracht13. Lokalisiert wurde diese Steinsäule auch in einer salzhaltigen Felsenregion im Südbereich des Toten Meeres14. Die Vorstellung einer plötzlichen V. durch mineralische Brunnen und Gewässer, die „ohne alle Zweifel eine VersteinerungsKraft“ in sich haben und Holz innerhalb eines Tages petrifizieren (Mot. F 934.3), hielt noch
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Versteinerung
die Enzyklopädistik der Aufklärungszeit für real15. Bei nordamerik. Indianern haben sich Mythen um Großfossilienfunde gebildet und sind bis heute dokumentiert16. Die Sioux betrachten die aus alttertiären Sedimentgesteinen herausgewitterten Knochen großer Huftiere als ,Donnerpferde‘, die während starker Gewitter vom Himmel herabgefallen seien, die Bisons für die Jäger zusammengetrieben hätten und anschließend in der Erde verschwunden seien17. Um das Vorhandensein von versteinerten Bäumen zu erklären, wurde bei den Apachen erzählt, daß in der Urzeit die Menschen ohne Feuer leben mußten, da die Bäume, ähnlich wie Steine, unbrennbar waren. Der J Coyote band eine Fackel an seinen Schwanz, lief durch die Welt und entzündete die Wälder. Eine Baumart übersah er; sie behielt ihre Feuerresistenz und blieb daher ,versteinert‘18. Fossilfunde von Menschen, Pferden und Elefanten, die zusammengenommen als Beweis für die besungene große Schlacht angesehen wurden, lagen offensichtlich Erzählelementen im J Maha¯bha¯rata und entsprechenden Tempelskulpturen zugrunde19. Kleinfossilien führten zu regionalen Vorstellungen: In den Nördl. Kalkalpen galten die Abdrücke fossiler Muscheln in Geröllblöcken unter Almhirten als versteinerte Kuhtritte20; am ung. Plattensee wurden Congerien (Muscheln) in ihrer eigentümlichen Form und Massenhaftigkeit als versteinerte Ziegenklauen betrachtet, die Überbleibsel großer Ziegenherden seien, deren Besitzer von König Andreas I. wegen Verweigerung von Hilfe verflucht worden sei21. Lokalsagen, oft mit ätiologischem Charakter, binden sich auch an anthropomorphe Stein-, Fels- oder Bergformen. So soll das Bergrelief des bayer. Watzmann auf einen grausamen König gleichen Namens zurückgehen: Mit seinem wilden Gefolge habe er eine friedliche Hirtenfamilie getötet, worauf Gott die Angreifer in die Gipfel und Zacken des Bergmassivs verwandelt habe22. Auch kleinere anthropomorphe Steinformationen werden als versteinerte Menschengruppen aufgefaßt: z. B. ein Steinkreis in Südengland als Überbleibsel einer am Sonntag tanzenden Hochzeitsgesellschaft, die den Kirchenbesuch versäumt habe (cf. auch ATU 779 E*: J Tänzersage)23. In der Bretagne und anderswo wird über gewaltige
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Steinreihen erzählt, sie seien die Überbleibsel von ungehorsamen Feen oder ungläubigen Soldaten. Frz. Invasoren in England seien durch eine Hexe in Steine verwandelt worden, als sie siegessicher ihr Hügelterritorium betraten, doch würden sie eines Tages wieder lebendig werden und das Land erobern24. Auffällige Steine stehen für bestrafte Einzelpersonen: Felsblöcke im Fluß Regen für einen Ritter mit Pferd, der eine junge Frau verfolgte (J Jungfernsprung)25; ein Stein im mecklenburg. Rosenberg für eine Frau, die sonntags arbeitete26; ein Stein im Garten des örtlichen Schulrektors für ein Mädchen, das nicht ärmlich gekleidet in die Kirche gehen wollte und daher von der Mutter verflucht wurde27, oder für einen jungen Mann, der die Jungfrau Maria verflucht hatte: Nach Aufhebung des Fluchs zerfällt sein Stein zu Asche (cf. AaTh/ATU 760: Das unruhige J Grab). Bei Guelma (Algerien) findet sich eine Formation aus z. T. von Menschenhand aufgerichtetem vulkanischen Felsgestein. Nach dem Volksglauben soll hier ein junger Mann für die Heirat mit seiner Schwester zur Strafe von Gott versteinert worden sein28. J Brot wird z. B. versteinert, wenn das Nahrungsmittel in der Hungersnot mißbraucht oder nicht geteilt wird (ATU 751 G*: Bread Turned to Stone). Eine hartherzige Frau, die ihrer Schwester kein Brot abgibt, wird durch die V. selbst zum Betteln gezwungen29. In Mythen, Sagen und Legenden ist der Grund der V. vielfach eine J Freveltat, ihr Vollstrecker ein strafender Gott. Der Vorgang der V. erfährt bloße Nennung ohne erzählerische Ausschmückung. Die V. erscheint endgültig, da die damit verbundenen Steinphänomene auch bestehen bleiben. In Märchen gehört der Zustand der V. zu den J retardierenden Momenten und wird durch ein dämonisches Wesen mit dem Ziel erwirkt, den Helden auf der Reise oder Suche dauerhaft festzusetzen (z. B. AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne) oder ihn einer Prüfung zu unterziehen. Teil der Erzählhandlung, gleichsam eine Bewährungsprobe für den Helden, ist es, die Aufhebung der V. zu bewirken. Das Mittel hierzu stammt vom Unhold selbst oder aus einer Opferung. In AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder z. B. begegnet der zur Rettung des Bruders ausgezogene Held einer Hexe, die Menschen mit Hilfe ihrer Haare in
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Versteinerung
Stein verzaubert; er zwingt sie dazu, in Sälen mit versteinerten Menschen nach dem Bruder zu suchen und ihn mit einer Salbe wiederzubeleben30. In AaTh/ATU 303 A: J Brüder suchen Schwestern werden die Helden ähnlich verwandelt; der Jüngste erlöst seine beiden in Steine verwandelten Brüder mit dem Blut eines Vogels, in dem das Herz des dämonischen alten Widersachers verborgen ist (J External soul). In einer ital. Var. von AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen31 steigt der Held auf der Suche nach der Braut in einen Brunnen; dort findet er Statuen, die er durch Salben wiederbelebt. Der treue J Johannes (AaTh/ATU 516), der seinem Herrn ein Geheimnis offenbart, opfert sich auf, indem er bewußt die angekündigte stufenweise V. auf sich nimmt; sie ist u. a. rückgängig zu machen durch die Opferung der Kinder des Herrn, mit deren Blut (J Kinderblut) die Statue bestrichen werden muß32. Alternativ kann die Erlösung auch durch Lebenswasser, die Tränen der Königin oder als Abschwächung der Opferung durch die bloße Berührung durch das Kind bewirkt werden. Eine Nacht oder mehrere Nächte in einem versteinerten Schloß zu verbringen, ohne sich durch die dämonischen Bewohner einschüchtern zu lassen (J Qualnächte), ist die zentrale Bewährungsprobe in AaTh/ATU 410*: The Petrified Kingdom. Ein skurriles V.smotiv kennt die südafrik. Nama-Tradition: Eine Hexe sperrt Menschen in ihr Haus ein, das durch Furzen zu Stein wird, tötet und beraubt sie; der Held besiegt sie, indem er sich in den Gegenwind stellt, die Schlafende mit einem Gabelstock würgt und darauf achtet, nicht von ihren Fürzen getroffen zu werden33. 1
Stirrup, M./Heierli, H.: Grundwissen in Geologie. Thun 41996, 78⫺84; Murawski, H.: Geologisches Wb. Stg. 1992, 62. ⫺ 2 Mot., Reg. s. v. Petrification, Petrified, Stone; ATU, Reg. s. v. Petrifaction, Petrified, Stone. ⫺ 3 cf. auch Sakaog˘lu, S.: Anadolu-Türk efsanelerinde tas¸ kesilme motifi ve bu efsanelerin tip katalog˘u (V.smotive in anatol.-türk. Sagen und Typenkatalog dieser Sagen). Ankara 1980. ⫺ 4 z. B. Basile 3,5; Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 172, 375. ⫺ 5 ibid., num. 158. ⫺ 6 Mayor, A.: The First Fossil Hunters. Paleontology in Greek and Roman Times. Princeton 2001. ⫺ 7 Kircher, A.: Mundi Subterranei 2. Amst. 1665, 7,2, 48⫺69. ⫺ 8 Thenius, E./Va´vra, N.: Fossilien im Volksglauben und im Alltag. Stg. 1996, 7⫺32; Dermitzakis, M. D./Papado-
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poulou, E.: Giants, Dragons, Saints and Geological Phaenomena. In: Bulletin of the Geological Soc. of Greece 23 (1989) 75⫺100. ⫺ 9 Abel, O.: Vorzeitliche Tierreste im dt. Mythus, Brauchtum und Volksglauben. Jena 1939, 101; cf. Thenius/Va´vra (wie not. 8) 19, 21; Mayor (wie not. 6) 35 sq.; Agnesi, V./Di Patti, C./Truden, B.: Giants and Elephants of Sicily. In: Piccardi, L./Masse, W. B. (edd.): Myth and Geology. L. 2007, 263⫺270. ⫺ 10 Ranke-Graves, R. von: Griech. Mythologie. Reinbek 1984, 216⫺218; Kere´nyi, K.: Die Mythologie der Griechen 2. Mü. 141994, 48; Moormann, E. M./Uitterhoeve, W.: Lex. der antiken Gestalten. Stg. 1995, 287 sq. ⫺ 11 ibid., 483. ⫺ 12 Hansen, W. F.: Homer and the Folktale. In: Morris, I./Powell, B. B. (edd.): A New Companion to Homer. Leiden/N. Y./Köln 1997, 442⫺462, hier 455 sq. ⫺ 13 Haaken, J.: Pillar of Salt. Gender, Memory, and the Perils of Looking Back. New Brunswick/L. 1998, 45, 266⫺275; Bremmer, J. N.: Don’t Look Back. From the Wife of Lot to Orpheus and Eurydice. In: Noort, E./Tigchelaar, E. (edd.): Sodom’s Sin. Genesis 18⫺19 and Its Interpretations. Leiden/Boston 2004, 131⫺145. ⫺ 14 Bentor, Y. K.: Geological Events in the Bible. In: Terra Nova 1 (1990) 326⫺338, hier 331 sq. ⫺ 15 Zedler, J. H.: Grosses vollständiges Universal-Lex. aller Wissenschafften und Künste 47. Lpz./Halle 1746, 2037⫺ 2039. ⫺ 16 Mayor, A.: Fossil Legends of the First Americans. Princeton 2005; ead.: Place Names Describing Fossils in Oral Tradition. In: Piccardi/Masse (wie not. 9) 245⫺261. ⫺ 17 Thenius/Va´vra (wie not. 8) 21⫺22. ⫺ 18 Mayor (wie not. 6) 161; Opler, M. E.: Myths and Tales from the Jicarilla Apache Indians. (N. Y. 1938) Nachdr. Lincoln 1994, 269⫺ 272. ⫺ 19 Geer, A. van der/Dermitzakis, M./Vos, J. de: Fossil Folklore from India. The Siwalik Hills and the Maha¯bha¯rata. In: FL 119 (2008) 71⫺92. ⫺ 20 Thenius/Va´vra (wie not. 8) 35. ⫺ 21 ibid., 35 sq. ⫺ 22 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 1000; ähnlich [Aurbacher, L.:] Ein Volksbüchlein. Mü. 21835, num. 33.2. ⫺ 23 Grinsell, L. V.: Some Aspects of the Folklore of Prehistoric Monuments. In: FL 48 (1937) 245⫺259, hier 254. ⫺ 24 Tschumi, O.: Megalithbauten. In: HDA 6 (1934⫺ 35) 78⫺89, hier 86 sq.; cf. auch Se´billot, P.: Le FolkLore de France 1. P. 1904, 302 sq. ⫺ 25 Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 1. Mü. 1852, num. 56. ⫺ 26 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 592. ⫺ 27 Tettau, A. W. J. von/Temme, J. D. H.: Die Volkssagen Ostpreußens, Lithauens und Westpreußens. B. 1837, num. 188. ⫺ 28 Scelles-Millie, J.: Contes myste´rieux d’Afrique du Nord. P. 2002, 221 sq.; cf. ferner De´jeux, J.: Femmes d’Alge´rie. Le´gendes, traditions, histoire, litte´rature. P. 1987, 17⫺47. ⫺ 29 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, num. 225. ⫺ 30 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, bes. 270. ⫺ 31 Karlinger, F.: Ital. Märchen. MdW 1973, num. 3. ⫺ 32 cf. Rölleke, H.: „Johannes war leblos herab-
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Verstellung
gefallen und war ein Stein“. V. und Wiederbelebung in der Volkslit. In: Mayer, M./Neumann, G. (edd.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos […]. Fbg 1997, 517⫺530; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinderund Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 15⫺18. ⫺ 33 Schmidt, S.: Märchen aus Namibia. MdW 1980, num. 9.
Köln
Thomas Geider
Verstellung, Form der J Täuschung, die J Lüge, J List, J Verrat und Betrug (J Betrüger) nahesteht. V. gilt in den meisten Gesellschaften und Religionen als Verletzung zentraler J Werte (J Norm und Normverletzung), vor allem des Gebots der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit (J Schein und Sein; J Wahrheit). Im Christentum ist V. die Verletzung einer der ,fundamentalsten ethischen Grundhaltungen‘1, in Not- und J Konfliktsituationen allerdings als ,Verschleierung der Wahrheit‘ zulässig2. Analog ist V. im Islam bei drohender Gefahr erlaubt: Sie berechtigt so zu tun, als ob man einen anderen Glauben als den tatsächlich gepflegten praktiziere, was bes. von Schiiten gegenüber sunnit. Machthabern erfolgte3. Bei der V. kann es sich um die absichtliche und zielgerichtete, oftmals defensive Vortäuschung einer anderen Identität oder eines anderen Charakters aus Eigeninteresse handeln; in diesem Sinne ist sie seit der Antike ein wichtiges literar. Motiv4 und verliert auch im MA.5 nicht an Bedeutung. In der frühen Neuzeit wird das J Verbergen von Identitäten und Gedanken dann aber nicht nur zu einem zentralen Motiv in Lit.6 und Theater7, sondern des gesamten gesellschaftlichen Lebens8, so daß das 16. und 17. Jh., in denen in (West-)Europa Maskeraden9, J Verkleidung und andere Formen der V. eine große Rolle spielten, als ZA. der V.10 bezeichnet werden11. Die Kunst der V. wurde ebenso gelehrt wie die Kunst, die V. anderer Menschen zu durchschauen12; einen Wandel brachte erst das ZA. der Aufklärung13. In Drama und Oper dient die V. oft der Überwindung sozialer Schranken oder der Infragestellung von Moral oder persönlicher Integrität und wird Auslöser komischer Verwechslungen oder tragischer Konflikte. Der falsche Heilige14, der betrügerische Thronprätendent (J Usurpator) ebenso wie der falsche Arzt (J Scharlatan) und der Hochstapler sind beliebte
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literar. Figuren. Auch die J Ironie, bei der zum Schein das Gegenteil des eigentlich Gemeinten behauptet wird, ist eine Form der V. In populären Lesestoffen15 und in Volkserzählungen16 ist die V. ein überaus häufiges und vielgestaltiges Motiv. Der V. haftet in der Volksüberlieferung nur selten ein moralischer Makel an, sie ist vielmehr eine akzeptable und oft erfolgreiche Strategie, die nur, wenn sie durchschaut wird, bestraft oder durch andere Listen konterkariert wird. Der Täuschungsstrategie des Täters stehen entweder die J Naivität und Einfalt des Opfers oder aber dessen J Klugheit und Listigkeit gegenüber17. Wiewohl es, je nach den herrschenden Vorstellungen von Identität, Grenzfälle gibt, ist doch zu trennen zwischen Strategien der V., durch die der Täter eine andere personale Identität annimmt bzw. usurpiert und als eine andere Person wahrgenommen wird, und Strategien des Vortäuschens von J Charaktereigenschaften oder Qualitäten. Die elementarste Form der V. ist das Annehmen einer anderen Gestalt (J Gestalttausch; J Verwandlung), das im wesentlichen Göttern (cf. J Amphitryon) oder anderen jenseitigen Wesen vorbehalten ist; vor allem der J Teufel kann sich auf vielerlei Art als Mensch oder Tier verstellen, wobei er allerdings oft an verräterischen Merkmalen erkannt wird. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen J Kleidung und sozialer Identität ist die Verkleidung ein wichtiges Mittel der V. Frauen geben sich als Männer (J Frau in Männerkleidung) und Männer als Frauen (Mot. K 1836) aus. Häufiger ist jedoch die Vortäuschung anderer sozialer Positionen und Berufe. Herrscher verkleiden sich als einfache Leute, wie J Ha¯ru¯n ar-Rasˇ¯ıd, der unerkannt die Probleme seiner Untertanen erlauscht (Mot. K 1812.17); der Diener zwingt seinen Herrn zum J Kleidertausch und nimmt dessen J Rolle ein, während der Herr gezwungen ist, sich als Diener auszugeben (AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue), die Magd verstellt sich als Herrin (AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf ), die häßliche Frau gibt sich als die wahre Braut aus (AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen; AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut), eine Schwester behauptet, die Heldin zu sein (AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella). Eine weitere Strategie
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Verstellung
besteht darin, durch V. der J Stimme eine andere Identität vorzutäuschen. Der Wolf in AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein ahmt die Stimme der Mutter nach; die Hexe in AaTh/ ATU 327 A: J Hänsel und Gretel oder in AaTh/ATU 327 C: J Junge im Sack der Hexe verstellt ihre Stimme, um die Kinder anzulokken. Ein anderes Mittel ist die Imitation einer fremden Handschrift, um einen Befehl aufzuheben oder auszustellen (cf. AaTh/ATU 930: J Uriasbrief ). Versucht ein Akteur, Eigenschaften oder Qualitäten vorzutäuschen, werden oft Strategien der Überzeugung und Überredung verwendet. Unter den Tieren beherrscht der J Fuchs die Kunst der V. am besten (J Reineke Fuchs; J Roman de Renart). In AaTh 61 A/ ATU 20 D*: J Fuchs als Beichtvater überzeugt er den Hahn, daß er fromm geworden sei, und frißt ihn auf. Ähnlich gibt sich ein altes Tier als asketischer Heiliger aus, um das Vertrauen der Mäuse zu gewinnen (AaTh/ATU 113 B: J Scheinbüßende Tiere), der alte Löwe stellt sich zahm (AaTh/ATU 51 A: J Fuchs hat Schnupfen), und die Katze täuscht mit matter Stimme Altersschwäche vor18. Böse Menschen geben sich friedfertig, um ihr Ziel zu erreichen, etwa der J Mädchenmörder (AaTh/ATU 311, 312) oder die verräterische J Kupplerin, die sich als vertrauenswürdige Ratgeberin ausgibt, um ein heimliches Treffen zu arrangieren. Mann oder Frau stellen sich verliebt19, eine junge Frau täuscht Fleiß vor (AaTh/ATU 501: Die drei J Spinnfrauen) oder gibt sich bescheiden (AaTh/ATU 1373 A: Die schwache J Esserin), um einen Ehemann zu gewinnen. Im Kontext von männlicher Verführung begegnet V. in unterschiedlicher Ausprägung: Der abgewiesene Verführer verleumdet die Protagonistin, Ehebruch begangen zu haben (J Genovefa; AaTh/ ATU 712: J Crescentia); um die Untreue einer Frau zu beweisen, wird eine gelungene Verführung vorgetäuscht (AaTh/ATU 882, 892: J Cymbeline). Arme versuchen durch bestimmte Kleidung reich (AaTh/ATU 859: J Prahlerei des Freiers; AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater), Reiche arm zu erscheinen. Ein beliebtes Motiv ist das Simulieren dauerhafter physischer oder psychischer Defekte. J Hamlet täuscht Wahnsinn vor, um der Ermordung durch seinen Stiefvater zu entgehen, und der gefährdete J Jüngste stellt sich dumm, um
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Anschläge seiner älteren Brüder zu vermeiden. Ein Junge stellt sich stumm20, wie überhaupt das Vortäuschen körperlicher Gebrechen in der frühen Neuzeit Thema zahlreicher Erzählungen war (Taubheit und Stummheit [ATU 900 C*: Die halbe J Birne]21, Schwerhörigkeit, Blindheit, Gehbehinderung)22. Ein wichtiges Thema ist auch das Simulieren von Krankheiten oder anderen Notlagen: Die Frau stellt sich krank, um ihren Sohn (AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter), Bruder (AaTh/ATU 315: Die treulose J Schwester) oder Ehemann fortzuschicken (AaTh/ATU 1360 C: Der alte J Hildebrand) oder ihren Sohn zu töten (AaTh/ATU 314: J Goldener), und der Ehemann stellt sich blind (AaTh/ATU 1380: J Blindfüttern)23. Eine extreme Form der V. ist das Totstellen (J Tot: Sich totstellen). In Epen und Balladen, etwa in den engl. und schott. Volksballaden über die Grenzkriege zwischen beiden Ländern24, gibt es nahezu jede Form der V. ⫺ etwa die heuchlerische V. des Feindes als Freund, des Knappen als Herr, des Bettlers als blind und lahm, die Fälschung der Handschrift und häufig die Verkleidung. Gunther und Hagen wenden sich gegen ihren früheren Verbündeten J Waltharius (J Verrat). Im J Nibelungenlied hat J Siegfrieds V., der Brünhild gegenüber vorgibt, Gunther zu sein (J Stellvertreter), eine handlungsauslösende Funktion. Die Erzählung von J Tristan und Isolde thematisiert die V. der Liebenden, die u. a. in der Vortäuschung von Isoldes Unschuld besteht. Im Kontext von Ehebruch und Verführung sind das Vortäuschen von Blindheit (AaTh/ATU 1380) und Krankheit (AaTh/ ATU 1360 C) weitverbreitete Balladenthemen25. In Sprichwörtern wird die V. geradezu als Voraussetzung zur Erlangung von Macht und Erfolg dargestellt, andererseits „hält keine Verstellung lang aus“26. 1
cf. Müller, G.: Wahrheitsethos. In: LThK 10 (21965) 920 sq. ⫺ 2 ibid. ⫺ 3 cf. Strothmann, R./Djebli, M.: Takø iyya. In: EI2 10 (2000) 134⫺136. ⫺ 4 Nickel, R.: Disguising Helen. The Polymorphous Wife in the Odyssey. In: Boldt-Irons, L. u. a. (edd.): Disguise, Deception, Trompe-l’œil. N. Y. 2009, 3⫺19; Merriam, C. U.: The Seductiveness of Deception. Ovid’s Advice to Lovers. ibid., 21⫺37. ⫺ 5 Blakeslee, M. R.: Love’s Masks. Identity, Intertextuality, and Meaning in the Old French Tristan Poems. Cambr. 1989. ⫺ 6 Guenova, V.: La Ruse dans le „Roman de Renart“ et dans les œuvres de Franc¸ois Rabelais.
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Verstümmelung ⫺ Versuchung
Orle´ans 2003; Geisenhanslüke, A.: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und V. in der europ. Lit. Darmstadt 2006; Geitner, U.: Die Sprache der V. Studien zum rhetorischen und anthropol. Wissen im 17. und 18. Jh. Tübingen 1992. ⫺ 7 Bouvier Cavelot, A.: Masques, the´aˆtre et modalite´s de la repre´sentation. P. 2004; Gerum, K.: Das Motiv der V. Analyse eines zentralen Phänomens der engl. Restaurationskomödie. Mü. 1979; Müller, H.-J.: Disimular und Fingir oder die listige V. auf dem span. Theater des „siglo de oro“. Innsbruck 1972. ⫺ 8 Snyder, J. R.: Dissimulation and the Culture of Secrecy in Early Modern Europe. Berk. 2009, 1⫺26. ⫺ 9 cf. Blakeslee (wie not. 5); Geisenhanslüke (wie not. 6); Bouvier Cavelot (wie not. 7). ⫺ 10 Snyder (wie not. 8) xiii. ⫺ 11 cf. Boldt-Irons (wie not. 4); Soboczynski, A.: Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der V. B. 2008. ⫺ 12 Geitner (wie not. 6) 10⫺50. ⫺ 13 cf. Soboczynski, A.: Versuch über Kleist. Die Kunst des Geheimnisses um 1800. B. 2007, 59 sq. ⫺ 14 Se´billot, P.: Contes populaires de la Haute-Bretagne. P. 1881, num. 34; Zarri, G.: Finzione e santita` tra medioevo ed eta` moderna. Turin 1991. ⫺ 15 cf. Alzheimer-Haller, H.: Hb. zur narrativen Volksaufklärung. B. 2004, 312 sq. (Notlage vorgetäuscht); Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, Reg. s. v. Simulant, Simulation. ⫺ 16 cf. ATU, Reg. s. v. disguise, feign, pretending, sham; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, Reg. s. v. Täuschung; Marzolph/van Leeuwen, Reg. s. v. disguise. ⫺ 17 cf. Uther (wie not. 15) 96. ⫺ 18 1001 Nacht 6, 11⫺14; Dicke/Grubmüller, num. 422; Marzolph/van Leeuwen 1, 305 sq. ⫺ 19 1001 Nacht 5, 146. ⫺ 20 Uther (wie not. 15) 58 sq. ⫺ 21 cf. ibid., 92. ⫺ 22 ibid., 58 sq., 68⫺72, 76, 91⫺96, 139. ⫺ 23 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1. Wiesbaden 1988, 274⫺277, 286; Alzheimer-Haller (wie not. 15) 312 sq. ⫺ 24 Kreusch, F.: V., Heuchelei, Hinterlist und Verrat in den engl.schott. Volksballaden. Halle 1908. ⫺ 25 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. M. 1978, num. D 33/E 35, D 39/E 37. ⫺ 26 Wander 4, 1610.
München
Klaus Roth
Verstümmelung J Grausamkeit, J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung, J Strafe
Versuchung 1. Allgemeines ⫺ 2. Religionsgeschichtlich ⫺ 3. Märchen
1 . All ge me in es. Im allg. Sprachgebrauch bezeichnet V. den Reiz, ein J Verbot zu übertreten bzw. etwas nach den jeweils gültigen J
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Normen als anstößig oder moralisch verwerflich Angesehenes zu tun. Ebenso wie gesellschaftliche Koexistenz selbstverständlich durch normative Vorstellungen geregelt ist, scheint es ein allg.menschliches Bedürfnis zu sein, derartige Normen in Frage zu stellen bzw. der V. einer Übertretung zu erliegen. Dabei reicht die Bandbreite der Sachverhalte, die V.en auslösen, von Banalitäten (Schokolade als ,süße V.‘) über sexuelle Aspekte (J Verführung) bis hin zur V. der Macht, wie sie etwa in Werken der populären Lit. ⫺ so J. R. R. J Tolkiens Herr der Ringe ⫺ ausgestaltet ist. 2 . Rel ig io ns ge sc hi ch tl ic h. V. ist ein Begriff und Motivfeld in Judentum, Christentum und Islam wie auch in anderen Religionen1. V. entsteht, wenn in einer Entscheidungssituation (mit grundsätzlicher Willensfreiheit) das Böse als faszinierende, verlockende Überredung auftritt (häufig als ,Einflüsterung‘). Zu unterscheiden sind nach Subjekt und Objekt der V. einerseits die V. durch Menschen, durch die Gottheit (als Prüfung), durch Dämonen und Geister sowie andererseits die V. der Gottheit durch Menschen. In traditionellen Gesellschaften wird V. meist als Werk einer dämonischen, listigen und polymorphen Macht interpretiert, während in der jüngeren Moderne der personale Aspekt der V. regelmäßig entfällt. In bibl. Kontexten werden in einer V. die J Treue, der J Gehorsam, das Vertrauen und der Glaube von Menschen auf die Probe gestellt: V.ssituationen sind J Bewährungsproben. Im A. T. sind J Abraham und J Hiob exemplarische Gestalten, die sich in V.en bewähren. Demgegenüber erliegen J Adam und Eva der V. durch die J Schlange (Gen. 3)2; ,die eine verbotene Tat‘ wird hier zur prototypischen V.3 Die bibl. Weisheitsliteratur sieht V.en als Mittel der Erziehung und Läuterung (Dtn. 8,2; 8,16; Prov. 3,11 sq.; Sir. 2,1⫺5 etc.) und warnt u. a. vor der V. durch eine ,fremde Frau‘ (Prov. 7). Die durch Gott selbst Versuchten sind immer zugleich Erwählte. Die V. (Herausforderung) Gottes durch Menschen gilt dagegen als vermessene, sündhafte Tat (Ex. 17,1⫺7; Num. 14,22 [mit symbolischer Zehnzahl]; J Hybris). Im N. T. ist eine V. auch „jede harte Erprobungssituation, die die Gefahr des Verrats am Evangelium mit sich bringt“4 (cf. die 6. Bitte des J Vaterunsers
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Versuchung
und Passagen wie Mk. 14,38; 1. Kor. 10,13; Jak. 1,13; Apk. 3,10 etc.). Das Judentum kennt zahlreiche V.en Abrahams, die oft in Reihen aufgelistet sind (schon Jubiläenbuch 17,17 sq.; 19,3,8; dort ist der Dämon Mastema anstelle Gottes der Versucher; cf. auch Mischna Avoth 5,3) und vielfach erzählerisch entfaltet werden (z. B. Apokalypse Abrahams 12 sq.; Midrasch Bereschit Rabba 55 sq.)5. Die ma. Scholastik (wichtig u. a. Petrus Lombardus, Sententiae 2,21⫺24; Thomas von Aquin, Summa theologica 3,41,1⫺4) unterscheidet die von außen (etwa durch den J Teufel) an den Menschen herantretende tentatio exterior und die aus der Seele stammende tentatio interior (cf. schon Jak. 1,14; 4,1⫺3)6. Diskutiert wird, ab wann die innere V. selbst sündhafter Art sein kann. Grundsätzlich macht erst der consensus, die willentliche Zustimmung, die V. zur J Sünde; die Schuldhaftigkeit des Nachgebens wird um so größer, je geringer die V. ist. Theistische Religionen diskutieren, ob Gott den Menschen direkt oder nur indirekt ,versucht‘ (i.e. prüft). Der Koran kennt Versucher wie den Sˇaitøa¯n (Satan) im J Paradies (Sure 2,36; 7,20; 20,120) oder Sa¯mirı¯, den Schöpfer des Goldenen Kalbes (20,85⫺97). Entsprechend ist die Überwindung der V., die von Iblı¯s (Satan) und seinen Dämonen ausgeht, ein zentrales religiöses Anliegen (4,119 sq.; 7,17; 16, 63). Iblı¯s ist der ,Einflüsterer‘ par excellence (114). In vielen Religionen gibt es Erzählungen über eine V. ihres Stifters durch eine personifizierte Macht des Bösen vor Beginn seines Wirkens: Jesu (J Christus) V. durch den Teufel (Mk. 1,12 sq.; Mt. 4,1⫺11; Lk. 4,1⫺13; Hebr. 4,15 u. ö.; Justinus, Dialogus cum Tryphone 103,6; 125,4)7, J Buddhas V. durch Ma¯ra (wörtlich der ,Tod‘ als Bindung an die sinnliche Welt) und seine Töchter (cf. z. B. As´vaghosøa, Buddhacarita 13; Pali-Kanon, Samyutta-Nika¯ya 4,3,5), Zarathustras V. durch Angra Mainyu bzw. Bu¯iti (Vendidad 19) etc. Die buddhist. Göttin Vajrayogı¯ni, die Mönche als attraktive Branntweinverkäuferin in V. führt, vermittelt zugleich magische Fähigkeiten8. Als ,qualifizierender Test‘9 steht die V. Jesu antitypisch den V.en Adams im Paradies und Israels in der Wüste gegenüber. Auch in arab.islam. Quellen wurde die V. Jesu narrativ aus-
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˙ azza¯lı¯ (gest. 1111)10. gestaltet, z. B. von al-G Eine durch volkstümliches Erzählgut vermittelte weitläufige Abhängigkeit der V. Jesu von indoiran. Traditionen11 ist nicht ausgeschlossen, u. a. da weltliche Macht als Gegenstand der V. des Heilbringers dem Judentum fremd ist. Athanasius (Vita Antonii 5,2) definiert erstmals die später stereotyp wiederholte (an den V.en Jesu orientierte) Trias von V.en durch Gaumenlust, Ehrgeiz und Geldgier12. J Gebet, Askese, J Fasten und J Demut gelten als Waffen im Kampf gegen die V. Diese bleibt auch in der evangel.-luther. Tradition ein zentrales theol. Motiv, eine Gewährleistung für die Lebendigkeit des Glaubens im Sinne einer militia Christiana (Eph. 6,16 sq.); ,Heilmittel‘ gegen die V. ist jetzt bes. die Bibel. Dies wird in Predigten, geistlicher Dichtung, Erbauungsbüchern, casus-conscientiae-Lit., Emblematik etc. entfaltet13, nicht zuletzt auch im J Pietismus. Im röm.-kathol. Bereich wird die V. in die tridentinische Gnadenlehre eingezeichnet; bes. Bedeutung gegen die V. haben hier die kirchlichen Gnadenmittel, die J Sakramente und Sakramentalien. V. konkretisiert sich narrativ in exemplarischen Szenen, in denen der V. entweder widerstanden oder aber nachgegeben wird. Das Motivfeld der V. grenzt zwar an dasjenige der Probe bzw. J Prüfung, doch ist in dieser das Element des Nachweises von Fertigkeiten stärker, während der (oft mit Hinterlist vorgebrachten) V. vor allem widerstanden werden muß. Von Prüfungen im engeren Sinn unterscheidet sich die V. auch dadurch, daß der Held bzw. die Heldin sich ihr unerwartet und ohne Vorbereitungszeit stellen muß. Die V. kann punktueller Art sein (in einem Augenblick an den Menschen herantreten) oder ihn über längere Zeit begleiten. Angrenzend an das Motivfeld der V. ist auch das allgemeinere der Anfechtung, bei dem das Moment der Attraktivität des Bösen zurücktritt. Durchgehend gelten V. und Anfechtung als Chance spiritueller Entwicklung. Verwandt ist demgemäß auch das Szenario der J Initiation: Der aus der V. hervorgegangene Mensch gewinnt neue spirituelle Macht oder Einsicht14. Die J Heiligen müssen ihre J Tugend in V.en bewähren ⫺ ein zentrales Thema der J
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Versuchung
Hagiographie15. Diese V.en sind meist erschreckender (Dämonenerscheinungen, oft in Gestalt wilder Tiere) oder libidinöser Art. Auch der Verzweiflung nachzugeben16 oder Macht anzustreben kann Inhalt einer V. sein. Burleske Ausgestaltungen erotischer V.sszenarien von Klerikern, Mönchen und Einsiedlern sind seit dem MA. häufig (tendenziell schon Gregor d. Gr., Dialogi 3,7; cf. AaTh/ATU 816*: Devil Tempts the Pope und AaTh/ATU 839 A*: The Hermit and the Devils); sie stehen oft zwischen Märchen und Exemplum17. Sehr häufig sind Erzählungen, in denen ein J Einsiedler oder Heiliger vom Teufel in Gestalt einer schönen Frau versucht wird (Mot. T 330⫺ T 338.1; cf. z. B. die V. des hl. J Antonius). Die Erzählung ist sowohl in einer eher schlichten Grundform (V.sszene ⫺ heftiger, oft autoaggressiver Widerstand ⫺ Befreiung von der V.) vielfach belegt18 als auch in Bekehrungsund Bußgeschichten eingebettet19. Die (oft plötzliche) Befreiung von V. kann als göttliche Gnade beschrieben werden. Hinter allen V.sgeschichten steht die Einsicht, daß die wahre, oft verborgene Identität bzw. der Charakter eines Menschen erst zutage treten, wenn er oder sie auf eine unerwartete Herausforderung reagieren muß. Einer V. wird meist wider besseres Wissen nachgegeben. Der V. zu widerstehen, verleiht dem Menschen bes. Kräfte, so etwa in der chassid. Legende von der Fürbitte des Trunkenbolds20. 3 . M är ch en. Während die zahlreichen Proben und Prüfungen im Märchen dem Nachweis von Kulturfertigkeiten, Charakterfestigkeit, Mut und Stärke dienen (cf. etwa J Freier, Freierproben), ist der erfolgreiche Widerstand gegen eine V. eine sittliche Leistung und eher märchenuntypisch (cf. etwa die Wirtshausepisode in AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter). Psychol. Vertiefungen der V.ssituation sind der Volkserzählung an und für sich fremd, finden sich aber gelegentlich in der Legende21, ansatzweise auch in der Sage22. In Märchentexten des 18./19. Jh.s kommt zwar das Wortfeld V. nicht selten vor23, es gehört aber eher zur literar. Gestaltung als zur narrativen Struktur, zumal es als christl.-theol. Interpretament gegenüber einem Erzählzusammenhang oft eine deutende
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Metaebene bildet. Allerdings kennen auch Märchen Szenen, die Analogien zu einer V. aufweisen. In dem manipulativen Gespräch zwischen Wolf und J Rotkäppchen (AaTh/ATU 333) kommen die verbalen Verführungskünste des Wolfs zum Tragen. Die Protagonistin von AaTh/ATU 709: J Schneewittchen wird durch attraktive Gegenstände (Kamm, Gürtel etc.) in V. geführt; das Essen des Apfels kann dabei als weitläufige Anspielung auf Gen. 3 verstanden werden. Eine Speise ist auch in der Eingangsepisode AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm Objekt der V. Die in einer Notsituation angebotene Hilfe des Rumpelstilzchens (AaTh/ATU 500: J Name des Unholds) ist gleichfalls eine V. In AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel überredet die Stiefmutter den Vater, die Kinder im Wald auszusetzen, und wird damit zur Versucherin; das Lebkuchenhaus der Hexe inszeniert eine infantile V.ssituation durch die überreiche Kompensation des täglich empfundenen Mangels.
Bei der Lösung einer Aufgabe (einer der Grundsequenzen des Zaubermärchens)24 kann die V. als J retardierendes Moment auftreten. Je kategorischer ein Verbot ist, desto größer ist der Reiz der Übertretung, so beim Motiv des verbotenen J Zimmers25. Allerdings kann auch der Mangel an Verboten die V. steigern26. Kulturgeschichtlich sind nicht nur die psychosexuellen Anteile des Verbots zu bedenken, sondern auch die aus der Spätantike stammende moralphil. Desavouierung der J Neugierde, die sich im Märchen ⫺ gegen herrschende Fortschrittsdiskurse ⫺ fortsetzt. Anknüpfungen an bibl. Stoffe beziehen sich meist entweder auf Gen. 3 (Mot. C 621: Forbidden Tree)27 oder auf die V. des keuschen J Joseph durch Potiphars Frau. Beide Szenarien haben das europ. Erzählgut vielfach beeinflußt. AaTh/ATU 1416: Die neue J Eva veranschaulicht die Vorstellung, daß es Teil der menschlichen Natur ist, V.en zu erliegen. Ein Leben ohne V. kann es nicht wirklich geben (AaTh/ ATU 1545 B, 1678: J Junge weiß nichts von Frauen). Der Teufel ist der Versucher schlechthin (cf. auch J Teufelspakt)28. Gelegentlich ist die These vertreten worden, das Zaubermärchen insgesamt sei aus der symbolischen erzählerischen Umsetzung von Prüfungs- und Bewährungssituationen entstanden (V. Ja. J Propp; M. J Eliade; tendenziell auch M. J Lüthi)29, wie sie kulturgeschichtlich in Initiationen oder in J Gottesur-
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Vertauschen der Braut ⫺ Vertauschung schlafender Ehepaare
teilen30 vorliegen. Damit dürfte allerdings die V. als ein Teilelement des Märchens hermeneutisch zu stark in den Mittelpunkt rücken. 1
cf. Willmes, B. u. a.: V. In: LThK 10 (32001) 737⫺ 742; Seesemann, H.: Peira, peirao etc. In: Theol. Wb. zum N. T. 6. Stg. 1959, 23⫺33; Aurelius, E./Klein, M. u. a.: V. In: TRE 35 (2003) 44⫺70; Wilson, A. (ed.): World Scripture. A Comparative Anthology of Sacred Texts. N. Y. 1991, 309⫺315, 444⫺449, 657⫺ 661. ⫺ 2 Kvam, K. E. u. a. (edd.): Eve and Adam. Jewish, Christian and Muslim Readings on Genesis and Gender. Bloom. u. a. 1999; Westermann, C.: Genesis 1. Genesis 1⫺11. Neukirchen-Vluyn 41974; Seebaß, H.: Genesis 1. Urgeschichte (1,1⫺11,26). Neukirchen-Vluyn 22007. ⫺ 3 cf. u. a. Frazer, J. G.: Folk-Lore in the Old Testament 1. L. 1919, 45⫺77, bes. 51 sq. ⫺ 4 Reiser, M.: V. 2: N. T. In: LThK 10 (32001) 738. ⫺ 5 Ginzberg 1, 217, 221, 272; 5, 218, 338. ⫺ 6 cf. Landgraf, A. M.: Dogmengeschichte der Frühscholastik 1,2. Regensburg 1952, 111⫺135; Lottin, O.: Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe sie`cles 2. Gembloux 1948, 493⫺589; Ernst, S.: V. In: Lex. des MA.s 8. Stg. u. a. 1999, 1586 sq. ⫺ 7 cf. Davies, W. D./Allison, D. C.: The Gospel according to Saint Matthew 1. Edinburgh 1988, 350⫺374; Eitrem, S.: Die V. Christi. Kristiania 1924. ⫺ 8 Haussig, W. H. (ed.): Wb. der Mythologie 5. Stg. 1984, 492 sq. ⫺ 9 Siegert, F.: Das Leben Jesu. Eine Biogr. aufgrund der vorkanonischen Überlieferungen. Göttingen 2010, 44, not. 25. ⫺ 10 Khalidi, T.: The Muslim Jesus. Sayings and Stories in Islamic Literature. Cambr., Mass. u. a. 2001, 168. ⫺ 11 cf. Watkins, C.: How to Kill a Dragon. Aspects of Indo-European Poetics. N. Y. 1995, 330⫺334. ⫺ 12 Steiger, J. A.: V. 3: Kirchengeschichtlich. In: TRE 35 (2003) 52⫺64, hier 52 sq. ⫺ 13 cf. EM 7, 1215. ⫺ 14 EM 4, 668. ⫺ 15 Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 187 (not. 140; dämonische und erotische V.en in Heiligenlegenden). ⫺ 16 Tubach, num. 208, 3217. ⫺ 17 Tubach, num. 4732⫺4752. ⫺ 18 Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neuausg. Esch-Alzette 1963, num. 766; cf. EM 8, 43. ⫺ 19 EM 10, 1446. ⫺ 20 Eliasberg, A.: Sagen poln. Juden. Mü. 1916, num. 38. ⫺ 21 Loomis (wie not. 15). ⫺ 22 z. B. Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 68, 70, 86, 87, 909, 984; Graesse, J. G. T.: Sagenbuch des preuß. Staates 1⫺ 2. Glogau 1868, num. 190, 471, 648, 664, 741; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, num. 360; Schöppner, A.: Sagenbuch des Bayer. Landes 1⫺3. Mü. 1852 sq., num. 949. ⫺ 23 cf. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004. ⫺ 24 Propp, V.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975, 100 sq. ⫺ 25 cf. z. B. Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 1. MdW 1923, num. 25; Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num.
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20. ⫺ 26 cf. die psychoanalytisch sensibilisierte Deutung bei Tatar, M.: The Hard Facts of Grimms’ Fairy Tales. Princeton 22003, 156⫺178; ead.: Secrets Beyond the Door. The Story of Bluebeard and His Wives. Princeton 2004. ⫺ 27 Berger, H.: Mythologie der Zigeuner. In: Haussig (wie not. 8) 812. ⫺ 28 cf. auch EM 9, 868. ⫺ 29 EM 11, 3 sq. ⫺ 30 cf. Frenschkowski, M.: Ordal. In: RAC (im Druck).
Hofheim
Marco Frenschkowski
Vertauschen der Braut J Braut, Bräutigam Vertauschung schlafender Ehepaare (AaTh/ ATU 905 A*, 1367), Bezeichnung für ein Novellenmärchen und einen Schwank vom unfreiwilligen nächtlichen J Bettplatztausch. Der thematisch zu AaTh/ATU 900⫺909: The Obstinate Wife Learns to Obey zu rechnende Erzähltyp AaTh/ATU 905 A*: The Wicked Queen Reformed by Whipping by a Cobbler hat folgende Normalform: Eine hartherzige Königin wird im Schlaf an die Stelle der demütigen (ständig von ihrem Mann verprügelten) Frau eines Handwerkers gelegt, die Handwerkersfrau dafür an ihren Platz. Während die Handwerkersfrau das ungewohnte Ambiente genießt, wähnt sich die Königin beim Erwachen in der Hölle. Der Handwerker bessert sie durch J Schläge, so daß sie von nun an ihrem Ehemann gehorcht.
Die Aufzeichnungen dieser Erzählung stammen überwiegend aus dem 19./20. Jh.; eine bildliche Darstellung der Geschichte ist jedoch schon auf einem poln. Bilderbogen aus dem 18. Jh. zu finden1. Verbreitungsgebiet ist bes. Nord- und Osteuropa mit finn.2, lett.3, litau.4, dt.5, poln.6, tschech.7, slovak.8, weißruss., ukr., russ.9 und sibir.10 Var.n. Außerdem sind Fassungen der ung. Roma11 und der Ungarndeutschen12 sowie aus Italien13 bekannt. Die hartherzige Frau stammt meistens aus dem Adel; anstelle der Handwerkersfrau erscheint u. a. die Frau eines Kaldaunenverkäufers14 oder eine Gerbersfrau15. Als übernatürliche Initiatoren dieser scherzhaften Vertauschung agieren Gott selbst und J Petrus16, ein von Gott beauftragter Engel17, J Christus und Petrus18, Feen19 oder zwei Geister20. In derselben Rolle treten als irdische Akteure drei Gesellen21, drei Studenten22, ein Handwerksbursche23, Reisender24 oder Soldat25 auf. Zumeist finden sich die vertauschten Paare mit
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Vertrag
den neuen Verhältnissen ab26, während ein Rücktausch der teilweise geläuterten Ehefrauen nur selten ist27. Wie in Eheschwänken und -witzen ist das Vorrecht des Mannes, seine Frau verprügeln zu dürfen, durch patriarchalische Strukturen legitimiert. Der zu AaTh/ATU 1350⫺1379: Stories about Married Couples gehörende Schwank AaTh/ATU 1367: Trickster Shifts Married Couples in Bed beginnt durchweg mit der Konstellation eines gegensätzlichen Ehepaars, hier allerdings auf das Alter der Eheleute bezogen. Durch den nächtlichen Tausch werden die gleichaltrigen Partner zusammengeführt. Eine junge Frau ist mit einem alten Mann und ein Jüngling mit einer Alten verheiratet, worüber alle vier unglücklich sind. Ein Trickster (Zauberer), der einem Adligen seine Fähigkeiten zeigen will, ordnet die schlafenden Paare neu. Am Morgen sind die jungen Leute glücklich und wollen beieinander bleiben, das alte Paar hingegen ist unzufrieden und bittet den Adligen, den Fall zu entscheiden ⫺ in der Regel findet jedoch kein Rücktausch statt.
Seit der 2. Hälfte des 15. Jh.s in verschiedenen Erzählgattungen (Meisterlied, Fabel, Fastnachtspiel)28 belegt, erscheint dieser Eheschwank29 vereinzelt im 19./20. Jh. als (ung.) Komödie30 und in der liv.31, dt.32, ung.33 oder serb.34 Volksüberlieferung. Die Auftraggeber für diesen Streich, z. B. der Markgraf von Rom35, ein Schneider, der sich als Graf ausgibt36, oder ein Dieb37, spielen nur eine Nebenrolle. Unter den Hauptakteuren finden sich hingegen J Kristallisationsgestalten wie der Meisterdieb Elbegast38 oder J Matthias Corvinus39. Sonst ist es ein Zauberer40 oder ein als Soldat verkleideter König41. Verschiedentlich ist AaTh/ATU 1367 mit anderen schwankhaften Erzählungen verknüpft, z. B. mit AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt 42, AaTh/ATU 950: J Rhampsinit 43, AaTh/ATU 951: J König und Räuber 44, AaTh/ATU 1009: J Tür bewacht, AaTh/ATU 1386: J Kluge Else, AaTh/ATU 1653: J Räuber unter dem Baum45 oder AaTh/ATU 1736: Die auferstandene J Wiese46. Thematisch nur bedingt hierher gehört ein Text aus den J Cent nouvelles Nouvelles (num. 53): Erzählt wird lediglich, wie ein einäugiger Priester bei der Trauung die Partner verwechselt und zwei ungleiche Paare traut, die weder im Alter noch im sozialen Status miteinander
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harmonieren (cf. Mot. J 414). Der eigentliche Handlungskern des Erzähltyps, der absichtliche Tausch ungleicher Paare im Schlaf, fehlt, denn die Gleichaltrigen kommen nicht zusammen. 1 Barag. ⫺ 2 Rausmaa, SK 2, num. 122. ⫺ 3 Ara¯js/ Medne. ⫺ 4 Kerbelyte˙, LPTK 2. ⫺ 5 Plenzat, num. 900⫺904; Bll. für pommersche Vk. 9 (1901) 60. ⫺ 6 Krzyz˙anowski 757 A. ⫺ 7 Tille, Soupis 2,2, 184⫺ 188. ⫺ 8 Polı´vka 4, 274⫺276; Gasˇparı´kova´, V.: Ostrovtipne´ prı´behy i velike´ ciga´nstva a zˇarty. Humor a satira v rozpra´vaniach slovenske´ho l’udu. Bratislava 1981, 16. ⫺ 9 SUS. ⫺ 10 Soboleva. ⫺ 11 MNK 10,1. ⫺ 12 Zenker-Starzacher, E.: Eine dt. Märchenerzählerin aus Ungarn. Mü. 1941, 77⫺ 79. ⫺ 13 Busk, R. H.: The Folk-Lore of Rome. L. 1874, 348⫺354. ⫺ 14 ibid. ⫺ 15 Polı´vka 4, 274⫺ 276. ⫺ 16 Zenker-Starzacher (wie not. 12). ⫺ 17 Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, 412⫺ 414. ⫺ 18 Polı´vka 4, 274⫺276. ⫺ 19 Busk (wie not. 13). ⫺ 20 Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, 374⫺376. ⫺ 21 Polı´vka 4, 274⫺276. ⫺ 22 Csenki, S./Vekerdy, J.: Ilona Tausendschön. Kassel 1980, 144⫺146 (ung.). ⫺ 23 Toeppen, M.: Aberglauben aus Masuren. Danzig 1876, 165 sq. ⫺ 24 Bll. für pommersche Vk. (wie not. 5). ⫺ 25 Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1964, 558 sq. ⫺ 26 Bll. für pommersche Vk. (wie not. 5); Polı´vka 4, 274⫺276; Barag (wie not. 17); Toeppen (wie not. 23). ⫺ 27 z. B. Busk (wie not. 13); Jech (wie not. 20). ⫺ 28 cf. Köhler/Bolte 2, 305⫺307; BP 3, 394; Brunner, H./Wachinger, B.: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jh.s 4. Tübingen 1988, num. 1Kel/3/502; EM 3, 473. ⫺ 29 EM 3, 1071, 1097. ⫺ 30 Anderson, W.: Kaiser und Abt (FFC 42). Hels. 1923, 364. ⫺ 31 Setälä, E. N.: Näytteitä liivin kielestä. ed. V. Kyrölä. Hels. 1953, num. 23. ⫺ 32 Behrend, P.: Märchenschatz. Danzig 1908, num. 10, 17. ⫺ 33 Krı´za, I.: Ma´tya´s, as igazsa´gos. Bud. 1990, 99 sq. ⫺ 34 Vrcˇevic´, V.: Srpske narodne pripovijetke ⫺ ponajvisˇe kratke i sˇaljive. Belgrad 1868, 133 sq. ⫺ 35 cf. Köhler-Bolte 2, 306 sq.; BP 3, 394. ⫺ 36 Behrend (wie not. 32) num. 17. ⫺ 37 ibid., num. 10. ⫺ 38 Bartsch, K.: Meisterlieder der Kolmarer Hs. Stg. 1862, 303; Köhler/Bolte 2, 305⫺307; BP 3, 394; Brunner/Wachinger (wie not. 28); cf. EM 3, 473. ⫺ 39 Anderson (wie not. 30); Krı´za (wie not. 33). ⫺ 40 cf. KöhlerBolte 2, 306 sq.; BP 3, 394. ⫺ 41 Behrend (wie not. 32) num. 17. ⫺ 42 Anderson (wie not. 30). ⫺ 43 Behrend (wie not. 32) num. 10. ⫺ 44 ibid., num. 17; BP 3, 394. ⫺ 45 Setälä (wie not. 31). ⫺ 46 Krı´za (wie not. 33).
Sterup
Gundula Hubrich-Messow
Vertrag. In juristischer Terminologie ist ein V. ein Rechtsgeschäft, das aus der erklärten Willensübereinstimmung von mindestens zwei
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Vertrag
Parteien über die Herbeiführung eines Rechtserfolges besteht1. Die Erzählforschung hat dem Vorkommen und der Ausgestaltung von V.en bisher vor allem im Zusammenhang mit dem J Teufelspakt Aufmerksamkeit gewidmet (cf. auch J Rechtsvorstellungen)2. Derartige Unters.en müßten die literaturgeschichtlichen Befunde zur Rechtsgeschichte dieser Institution mit ihren Stationen vom röm. Recht bis zum frühneuzeitlichen Naturrecht in Beziehung setzen. Die folgende knappe Übersicht kann dagegen nur eine vorläufige Prüfung des Bestands populärer Erzählungen, in denen der (sehr abstrakte) Begriff selbst naturgemäß nicht erscheint3, vor dem Hintergrund des heutigen Verständnisses von V. liefern. Zwei wesentliche Merkmale der modernen Rechtsauffassung, nämlich die V.sfreiheit (zu der die Abschlußfreiheit gehört) und die Konsensualität, setzen Gleichheit zwischen den sich gegenüberstehenden Parteien voraus4. Eine derartige Gleichheit liegt in zahlreichen Fällen vertragsähnlicher Rechtsverhältnisse, wie sie in Volkserzählungen dargestellt werden, nicht vor. Sie besteht einerseits nicht in der Beziehung zwischen Gott und Mensch (Mot. A 185.9, M 201.0.1.1)5, weshalb hier besser von ,Bund‘ (engl. covenant) statt von V. gesprochen wird. Sie ist andererseits zunächst auch nicht zwischen Mensch und Tier gegeben, wenngleich die ,Tierverträge‘, von denen Legenden erzählen, sich unter christl. Einwirkung vom einseitigen Diktat zu einer Vereinbarung zwischen gleichberechtigten Parteien wandeln können6. Komplex sind die Verhältnisse in den zahlreichen Märchentypen, die von Geschäften zwischen Mensch und J Dämon (Kap. 5) handeln7. Hier steht dem Helden eine, anders als im Fall Gottes, letztlich oft übelwollende und, anders als im Fall des Tiers, durchweg überlegene Partei entgegen. Derartige V.e, die von menschlicher Seite z. T. unter Einschränkung des freien Willens (Todesfurcht, Gefangenschaft)8 geschlossen werden und zudem nicht selten unter dem Verdacht der Sittenwidrigkeit stehen (cf. AaTh/ATU 890: J Fleischpfand; J Schuldner und Gläubiger), sind vor allem für die Entwicklung der Handlung von konstitutiver Bedeutung (J Dynamik). Für Fälle aus dem Typenbereich der Zaubermärchen, in denen die Übereignung einer Person an einen
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Jenseitigen oder der J Dienst beim Dämon frühzeitig eine glückliche Wendung nehmen (J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen), ist die Frage einer eventuellen Sittenwidrigkeit allerdings weniger bedeutsam; ähnliches gilt für AaTh/ATU 500: J Name des Unholds. In der Regel sind V.sabschlüsse in Märchen bindend, auch wenn sie wie in AaTh/ ATU 440: J Froschkönig mit einem Tier abgeschlossen werden. Selbst wenn einer der V.spartner sich nicht mehr an den V. gebunden sieht (z. B. KHM 113, AaTh 313 C/ATU 313: cf. J Magische Flucht) oder ihm die Einhaltung unter veränderten Umständen widerstrebt (AaTh/ATU 850: cf. J Rätselprinzessin), wird der V. letztlich anerkannt9. Die Problematik der Zulässigkeit von (Schuld-)V.en mit einem Dämon (oder Dienstherrn) schlägt sich in der Vielzahl von Märchen und Schwänken nieder, in denen der Kontrakt vom Schwächeren mit Trug umgangen (z. B. AaTh/ATU 927: J Halslöserätsel; J Rechtsfälle, Kap. 3; J Tod, Kap. 5.6; J Todesart wählen) oder mit List ,gewonnen‘ wird (z. B. AaTh/ATU 851: cf. Rätselprinzessin; AaTh 927 A*: J Alten-Sattel; AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung; AaTh/ATU 1170: Böses J Weib als schlechte Ware; Mot. K 100 ⫺ K 299). Es ist wohl die gleiche Freude am Sieg der J Gerechtigkeit über das V.srecht, die auch als Motivation hinter Erzählungen anzunehmen ist, in denen der (tricksterähnliche) Held die andere V.spartei mit Dreistigkeit schädigt (AaTh/ATU 1562 A: J „Scheune brennt!“) oder sich ihr eingangs sogar noch selber aufdrängt (AaTh/ATU 1544: Der schlaue J Gast im Nachtquartier). Komplexere Erzähltypen mit ähnlichem Gehalt sind AaTh/ATU 1000: J Zornwette und AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit, bes. letzterer geradezu eine Momentaufnahme aus dem ,gesellschaftlichen Kriegszustand‘. Im Vergleich dazu überraschend heitere Erzählungen über das Thema (Kauf-)V.e (J Verkauf) stellen die komplementär aufeinander beziehbaren Erzähltypen AaTh/ATU 1415: J Hans im Glück und AaTh/ATU 1655: Der vorteilhafte J Tausch dar sowie der Schwank AaTh/ATU 1447: J Trinken nach dem Handel, in dem der V. den Charakter eines bloßen Alibis erhält. Unter strukturalistischer Perspektive wird der Begriff des V.s bei A. J. J Greimas zu ei-
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Verwandlung
nem Kernstück des Märchens10. Anregungen von C. J Le´vi-Strauss aufgreifend, koppelt Greimas mehrere der von V. Ja. J Propp postulierten J Funktionen (Kap. 2.1) zu einer generalisierenden Matrix ,Einrichtung/Bruch des V.es‘. Anfang und Ende des Märchens werden sodann mit ,Verbot/Verletzung des Verbots‘ (J Verbot) sowie ,Hochzeit und Thronbesteigung‘ als Instanzen eines V.s erfaßt. Da Greimas zugleich die Prüfungen des Mittelteils jeweils „ihrerseits mit einem V.sabschluß“ beginnen sieht11, gewinnt hier der Begriff des V.s ⫺ neben dem der Mitteilung ⫺ essentielle Bedeutung für die Handlungs- und Sinnstruktur nicht nur der Zaubermärchen des Proppschen Korpus, sondern des Erzählens als menschlicher Kulturleistung überhaupt. 1
Nanz, K.-P.: Die Entstehung des allg. V.sbegriffs im 16. und 18. Jh. Mü. 1985, 1; Brox, H.: V. In: Staats-Lex. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft 5. Fbg/ Basel/Wien 71989, 723⫺728, hier 724. ⫺ 2 cf. aber Möhlenkamp, A.: Rechtsinstitute und Vertragstypen in Grimms Märchen. In: Lox, H./Lutkat, S./Kluge, D. (edd.): Dunkle Mächte in Märchen und was sie bannt/Recht und Gerechtigkeit im Märchen. Krummwisch 2007, 234⫺253. ⫺ 3 ibid., 237⫺245 (differenziert V.stypen). ⫺ 4 Mückenberger, U.: V. In: Görlitz, A. (ed.): Handlex. zur Rechtswiss. Mü. 1972, 497⫺504, hier 497 sq. ⫺ 5 Gen. 9,8⫺17; 17, 1⫺ 14; Dtn. 5,1⫺3; Jos. 24,19⫺27; cf. Alles, G. D.: V. 2. In: RGG 8 (42008) 1075 sq. ⫺ 6 Junge, L.: Die Tierlegenden des Hl. Franz von Assisi. Lpz. 1932, 52⫺ 60. ⫺ 7 Zelger, R.: Teufelsverträge. Märchen, Sage, Schwank, Legende im Spiegel der Rechtsgeschichte. Ffm. u. a. 1996. ⫺ 8 Maeyer-Maly, T.: V. (privatrechtlich). In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 5. B. 1998, 841 sq.; Hagemann, H.-R.: V. A 2. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1588⫺1590, hier 1589. ⫺ 9 cf. Diederichsen, U.: Juristische Strukturen in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Kassel 2008, 25 sq., 38⫺43. ⫺ 10 Greimas, A. J.: Se´mantique structurale. Recherche de me´thode. P. 1966, 192⫺213. ⫺ 11 Meletinskij, E.: Zur strukturell-typol. Erforschung des Volksmärchens. In: Propp, V. Ja.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975, 241⫺276, hier 258.
Neu Wulmstorf
Günter Dammann
Verwandlung (Mot. D 500⫺D 599)1. Die Fähigkeit, die eigene Gestalt oder die Gestalt anderer zu verwandeln, ist ein Zeichen übernatürlicher Kraft. Die V. wird dabei als ober-
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flächliche Veränderung aufgefaßt, der eine wesensmäßige Kontinuität zugrundeliegt und die daher meist rückgängig gemacht werden kann. Entsprechend wird die J Erlösung verwandelter Erzählfiguren vielfach an ihrer physischen Rückverwandlung sichtbar. In Ursprungsmythen ist jeder Akt der J Schöpfung (cf. J Erde, Kap. 1) eine V.: Entweder entsteht etwas aus dem Nichts, oder etwas wird zu etwas anderem. So soll die Welt aus einem J Ei entstanden sein (Mot. A 655). Osteurop., asiat. und amerik. Schöpfungsmythen zufolge holt der Erdtaucher Schlamm vom Grund des Urmeers herauf; aus ihm entsteht die Erde (Mot. A 812)2. Nach anderen Erzählungen werden die Körperteile von Riesen, Menschen oder Tieren zu Flüssen und Bergen (Mot. A 614) oder Pflanzen (Mot. A 2611⫺A 2617). Menschen (Mot. A 1240⫺A 1268) und Tiere (Mot. A 1710⫺A 1727) sollen aus unterschiedlichen Substanzen, z. B. aus Lehm, Steinen, Pflanzen und anderen Tieren, entstanden sein. Darüber hinaus werden in Mythen, Sagen und Märchen Menschen oder übernatürliche Wesen in J Sterne verwandelt (Mot. A 761⫺A 788). In Erzählungen aus Afrika, Indien und Südamerika verläßt ein Mann die Erde und wird zur J Sonne (Mot. A 711)3. Götter können ihre Gestalt nach Belieben ändern4. J Zeus kann nicht nur die Gestalt zahlreicher Tiere annehmen, sondern verwandelt sich u. a. in goldenen Regen (cf. J Danae), eine Wolke oder Donner5. Die Fähigkeit zu schnell aufeinanderfolgenden V.en (Mot. D 610 sqq.) wird u. a. dem griech. Meeresgott Proteus zugeschrieben6. Gott erscheint dem J Moses im brennender Dornbusch (Ex. 3,2⫺6). Die V. ist zentrales Thema eines der meistrezipierten Werke der antiken Lit., der Metamorphosen J Ovids, die 250 V.sgeschichten enthalten7: Hier werden Figuren in Tiere (z. B. Calisto, Hecuba), Pflanzen (Blumen: Adonis, Daphne, Narziß, Syrinx, Myrrha; Bäume: J Philemon und Baucis) oder J Steine (Niobe [J Versteinerung]) verwandelt; alles was J Midas (AaTh/ATU 775) anfaßt, wird zu J Gold. Die Nymphe Thetis versucht, sich J Peleus durch V. zu entziehen. Außer in Mythen kommen V.en in Sagen und Märchen vor. Sie stellen eine Grundthematik des Zaubermärchens dar8. V.en werden an einer Person vollzogen, um diese zu bestra-
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Verwandlung
fen (J Verzauberung), und gehen dann häufig auf eine J Verwünschung zurück. Sie werden von einer Person an sich selbst durchgeführt, u. a. um andere zu täuschen (J Täuschung), etwa indem mit der Gestalt auch die Rolle einer anderen Figur übernommen wird (cf. J Gestalttausch, J Usurpator) oder um sich auf der J Flucht zu J verbergen. Die sicher häufigste Form der V. ist die J Tierverwandlung (z. B. AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen). Derartige V.en können mit magischen Mitteln wie J Zauberspruch oder J Zauberstab erfolgen. Internat. verbreitet ist das Motiv des V.swettkampfs (AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler), bei dem zwei J Zauberer die Gestalt unterschiedlicher Tiere annehmen, während sie einander angreifen oder jagen. Dabei verwandelt sich am Ende einer von beiden in etwas Kleines (z. B. ein Samenkorn) und wird vom anderen gefressen9. Dieses Handlungselement erscheint in den auf J Perraults Fassung zurückgehenden Var.n von AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater in verkürzter Form: Der Kater bringt einen Oger dazu, sich in eine Maus zu verwandeln, die er dann tötet und auffrißt10. Der Themenbereich V. berührt sich vielfach mit J Wiedergeburt bzw. Reinkarnation (J Seelenwanderung). Daß ein verwandeltes Wesen verschluckt und wiedergeboren wird (Mot. E 607.2), ist ein in verschiedenen Teilen der Welt belegtes Erzählmotiv: Im ägypt. J Brüdermärchen verwandelt sich Bata in einen Stier. Als dieser geschlachtet wird, wachsen zwei Bäume aus seinem Blut. Batas Frau verschluckt einen Splitter ihres Holzes und gebiert einen Knaben, der wiederum Bata ist. In nordamerik. Indianererzählungen verwandelt sich ein übernatürliches Wesen während einer Zeit der Finsternis in etwas Kleines (z. B. ein Blatt), das von einer Frau verschluckt wird; sie schenkt später einem Knaben das Leben, der das Licht stehlen wird11. In einer ma. walis. Erzählung liegt eine frühe Var. eines Verwandlungswettkampfs vor, der mit dem Motiv von Verschlingen und Wiedergeburt kombiniert ist, um die Geburt des berühmten Barden Taliesin zu erklären12.
Eine Abfolge von V.en (Mot. E 670) erscheint auch in AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen. In Subtyp A stirbt die Heldin bei einem Mordversuch nicht; sie wird ein Fisch, von dem nach seiner Tötung nur eine Gräte
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oder Schuppe übrig bleibt; daraus wächst ein Baum. Als dieser gefällt wird, verwandelt sich ein Span oder Splitter davon zurück in die Schöne (cf. J Pars pro toto). In Subtyp B wird die Protagonistin in einen Vogel verwandelt. In AaTh/ATU 313 sqq.: J Magische Flucht liegen zwei Formen von gewöhnlich dreifacher V. vor. Bei der V.sflucht nimmt ein Paar nacheinander die Gestalt mehrerer Personen und Gegenstände an, z. B. Garten/Gärtner, Priester/Kirche etc. Bei der Hindernisflucht wirft ein Fliehender Gegenstände zu Boden, die zu schwer überwindbaren Hindernissen in der Landschaft werden (z. B. Wald, See, Berg). In Zaubermärchen kommt auch die V. von Menschen in Pflanzen vor. In dem vor allem im Baltikum, Ost- und Südosteuropa verbreiteten Erzähltyp AaTh/ATU 425 M: cf. J Amor und Psyche werden nach dem Tod des Schlangenmanns die Kinder, welche die Identität ihres Vaters und seine Zauberformel verraten haben, von ihrer Mutter zur Strafe in Bäume verwandelt13. J Grabpflanzen scheinen eine zeitweilige Erscheinungsform der Toten auf einer anderen Seinsebene darzustellen. Wird die Pflanze gepflückt, kann der Tote eine Wiedergeburt erfahren. Ein solcher Übergangszustand begegnet auch in posthumen V.en (AaTh/ATU 720: J Totenvogel, AaTh/ ATU 780: J Singender Knochen). Weniger verbreitet als die im Zaubermärchen allgegenwärtigen J Tierbräute oder -bräutigame sind Liebespartner in Pflanzengestalt. So verliebt sich in südeurop. Märchen ein junger Mann in ein schönes Mädchen, das einer J Blume entsteigt (in einer/als Blume lebt) und schließlich in menschliche Gestalt (zurück)verwandelt wird (AaTh 652 A/ATU 407: J Myrte, AaTh/ATU 407: J Blumenmädchen). In AaTh/ATU 442: The Old Woman in the Forest wird ein in einen Baum verwandelter Prinz aus seiner Verzauberung erlöst; in AaTh/ATU 652: J Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen verwandelt der Protagonist seine Liebste in eine Blume und später wieder zurück in ihre menschliche Gestalt. Dämonische Wesen (z. B. J Hexe, J Peri [Pari], J Hausgeister) wandeln ihre Gestalt. Bes. der J Teufel ist fähig, sich in nahezu jedes Lebewesen oder Ding zu verwandeln. Aber auch J Schamanen und einigen menschlichen
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Verwandlung
Helden, wie dem schott. Balladenhelden Tam Lin14, wird diese Fähigkeit zugeschrieben. J Versteinerung kann entweder V. in eine Statue (AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes) oder in natürlichen Stein bedeuten (Mot. A 973⫺A 974). Ähnlich wird Lots Frau in eine Salzsäule verwandelt (Gen. 19,26; J Sodom und Gomorrha). Im einleitenden Teil einiger Var.n von AaTh/ATU 408 verwandelt eine Ogerin den nach der Orangenprinzessin Suchenden in einen Haushaltsgegenstand (Nadel, Besen, Krug etc.), um ihn vor ihren menschenfressenden Familienmitgliedern (Mann, Söhne) zu schützen (J Menschenfleisch riechen)15. Häufiger werden Abbilder von Menschen, etwa Statuen (J Pygmalion), Marionetten (J Pinocchio), J Puppen16 und Bilder, zum Leben erweckt (Mot. D 435). Auch eine wunderbare J Geburt (Mot. T 540 sqq.) kann mit V. verbunden sein. Z. B. ist der BlutklumpenJunge, ein starker Mann in Erzählungen aus Asien, Afrika und Nordamerika, aus gekochtem Tierblut gemacht (Mot. T 541.1.1, cf. auch Mot. D 436 sqq.). In einer ndd. Var. von AaTh/ATU 327 C: J Junge im Sack der Hexe verwandelt sich eine Torfsode in ein Kind17, in Var.n von AaTh/ATU 700: J Däumling eine Kichererbse, ein Hirsekorn oder eine Knoblauchzehe18. V.en eines Gegenstands wie in Perraults Fassung von AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella, in der die Feenpatin einen Kürbis in eine Kutsche verwandelt, kommen in Volkserzählungen selten vor. Vor allem im religiösen Erzählgut begegnet Substanzveränderung (Mot. D 470 sqq.). Zu den Wundern, wie sie Heiligen zugeschrieben werden, gehört die V. von Gegenständen in Nahrung (J Speisewunder), so die V. von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana als eines der Wunder Jesus J Christi (Joh. 2,1⫺ 11; J Wasser wird Wein). Im weiteren Sinne ist hierzu auch das Dogma der Transsubstantiation der J Hostie und von Wasser und Wein in Christi Fleisch und Blut (J Sakramente) zu zählen. Umgekehrt wird J Brot in Stein (ATU 751 G*: Bread Turned to Stone), Blumen oder unbedeutende Gegenstände (J Rose, Rosenwunder) verwandelt19. Vor allem in Sagen werden wertlose Gegenstände zu J Gold (Kap. 2.1; J Alchemist; J Stein der Weisen), Gold und J Schätze zu J Exkrementen
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(Mot. F 342.1), Sterne zu Geld (ATU 779 H*: J Sterntaler). Der J Kontrast zwischen J Schönheit und Häßlichkeit ist ein verbreitetes Thema von Märchen, und V.en können genutzt werden, um dieses Thema zu verstärken. In der ma. brit. Tradition von Sir J Gawein und der Loathly Lady (Mot. D 732) verwandelt sich die außerordentlich häßliche Frau nach ihrer Hochzeit in eine junge Schönheit20. In Var.n von AaTh/ATU 314: J Goldener und AaTh 532/ATU 314: Das hilfreiche J Pferd wird ein heruntergekommenes Tier zu einem starken, prächtigen Roß. In AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen wird das gute Mädchen verschönt (z. B. Stern auf der Stirn) und das unfreundliche häßlicher gemacht (u. a. Eselsschwanz, der aus der Stirn wächst), während in AaTh/ATU 711: Die schöne und die häßliche J Schwester ein häßliches Mädchen Schönheit erlangt. Aschenputtels (AaTh/ATU 510 A) ,V.‘ wird durch schöne J Kleidung verursacht. J Verjüngung impliziert eine V. von (häßlichem) Alter in (schöne) Jugend. In Zusammenhang mit den J Schönheitskur-Erzählungen (AaTh/ATU 8, AaTh 8 A/ATU 8, AaTh/ATU 152; AaTh/ATU 877: Die geschundene J Alte) verspricht ein Trickster eine solche V.; die Behandlung führt jedoch zu Qualen oder sogar zum Tod. V. ist ein verbreitetes Thema auch in populärer Lit., bes. im Bereich der Fantasy-Lit., und ihren medialen Adaptationen. So erwerben in Joanne K. Rowlings Harry PotterRomanen (1997⫺2007) angehende Zauberer entsprechende Fähigkeiten im Unterrichtsfach V. In im Fernsehen ausgestrahlten Hexenserien für Teenager und Kinder ist die V. von Menschen, Tieren und Gegenständen eines der Hauptelemente, meist um Komik zu erzielen, implizit auch um zu belehren21. Im weiteren Sinne zählen zu V.en auch Zustandsänderungen aller Art. Sie können übernatürlichen Charakter haben, wenn etwa J Tote ins Leben zurückgeholt (J Wiederbelebung) und unheilbar Kranke wieder gesund werden (J Heilen, Heiler, Heilmittel). Aber auch Änderungen der Lebensumstände, etwa durch J Initiation, J Hochzeit, Verarmung oder plötzlichen Reichtum (J Arm und reich), können als V. in einem übertragenen Sinne angesehen werden. Als solche sind V.en zentrale
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Verwandtschaft ⫺ Verwechslung der Tiere
Handlungselemente und Themen von populären Erzählungen. Für das Phänomen der V. hat die Erzählforschung vielfache Deutungsmöglichkeiten angeboten. Frühe Erzählforscher waren der Ansicht, V. sei eine Manifestation primitiven Denkens (J Archaische Züge im Märchen, J Animismus, J Fetischismus, J Magisches Weltbild)22. Die Idee der V. wurde als Metapher zur Erörterung der J Symbolik im Märchen herangezogen23. 1 MacCulloch, J. A.: The Childhood of Fiction. L. 1905, 149⫺187; HDA, Reg. s. v. V. 2Johns, A.: Slavic Creation Narratives. In: Fabula 46 (2005) 257⫺ 290. ⫺ 3 cf. Schmidt, num. 34. ⫺ 4 MacCulloch, J. A. (ed.): The Mythology of All Races 13. N. Y. 1964, Reg. s. v. transformation, shapeshifting, metamorphosis; Eliade, M. (ed.): Enc. of Religion 13. N. Y. 1987, 225⫺229. ⫺ 5 Cook, A. B.: Zeus. A Study in Ancient Religion 1⫺3. Cambr. 1940. ⫺ 6 Pindar, Nemea 4,62⫺65; Roscher, W. H.: Ausführliches Lex. der griech. und röm. Mythologie 1⫺6. Lpz. 1916⫺ 24, hier t. 3, 3172⫺3178; ibid. 5, 785⫺799. ⫺ 7 ibid. 1, 70⫺72, 954 sq.; ibid. 3, 10⫺15; ibid. 4, 1642⫺ 1644. ⫺ 8 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987, 208, 254 sq., 440⫺447; cf. auch Marzolph/van Leeuwen 2, 721⫺724, hier ´ tudes 724. ⫺ 9 Scherf 2, 1438⫺1441; Cosquin, E.: E folkloriques. P. 1922, 570⫺584; Clouston, W. A.: Popular Tales and Fictions. ed. C. Goldberg. Santa Barbara 2002, 210⫺237. ⫺ 10 Delarue/Tene`ze 545 (III B 6, B 7). ⫺ 11 Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Bloom. 1966, 22⫺24, 282 (not. 44). ⫺ 12 Ford, P. K.: The Mabinogi and Other Medieval Welsh Tales. Berk. u. a. 1977, 159⫺181, bes. 161, 164; Wood, J.: The Folklore Background of the Gwion Bach Section of Hanes Taliesin. In: Bulletin of the Board of Celtic Studies 29 (1982) 621⫺634; Cosquin (wie not. 9) 598. ⫺ 13 Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche. Lund 1955, 340⫺342 (Subtyp M, VI M 4). ⫺ 14 Child, num. 39. ⫺ 15 Goldberg, C.: The Tale of the Three Oranges (FFC 263). Hels. 1997, 24 sq., 125. ⫺ 16 Swahn (wie not. 13) 293⫺295; Goldberg, C.: Dilemma Tales in the Tale Type Index. The Theme of Joint Efforts. In: J. of Folklore Research 34 (1997) 173⫺193, hier 187⫺189; BP 3, 54⫺ 57. ⫺ 17 Scherf, W.: Die Herausforderung des Dämons. Mü. 1987, 106⫺111, hier 106. ⫺ 18 Oriol, C.: Thumbling (ATU 700). A Folktale From Early Childhood. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 223⫺244. ⫺ 19 Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 78⫺82. ⫺ 20 Withrington, J./Field, P. J. C.: The Wife of Bath’s Tale. In: Correales, R. M./Hamel, M. (edd.): Sources and Analogues of the Canterbury Tales 2. Woodbridge/ Rochester, N. Y. 2005, 405⫺448; Child, num. 31. ⫺
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21
Shojaei Kawan, C.: Hexen, Engel, Heilige. Über das Wunderbare und das Dämonische im Unterhaltungsfilm. In: Erzählkulturen im Medienwandel. ed. C. Schmitt. Münster u. a. 2008, 139⫺156, hier 142⫺ 144. ⫺ 22 Yearsley, M.: The Folklore of the FairyTale. L. 1924, 58 sq., 70⫺73; Hegar, W.: Die V. im Märchen. In: HessBllfVk. 28 (1927) 110⫺140. ⫺ 23 Vaz da Silva, F.: Metamorphosis. The Dynamics of Symbolism in European Fairy Tales. N. Y. u. a. 2002.
Los Angeles
Christine Goldberg
Verwandtschaft J Familie
Verwechslung der Tiere (AaTh/ATU 1311, 1312). Die unter diesem Stichwort zusammengefaßten, überwiegend mündl. überlieferten Schwänke des 19./20. Jh.s erzählen im weitesten Sinn von einem J Mißverständnis, bei dem die Realität verkannt bzw. falsch eingeschätzt wird. Sie stehen den Erzähltypen AaTh/ATU 1314⫺1320: Irrige J Identität und AaTh/ATU 1231: J Sieben Schwaben nahe, unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf die handelnden Tiere und haben folgende Grundform: Ein gefährliches wildes Tier wird für ein harmloses Haustier gehalten. Durch die V. erkennt der Besitzer die drohende Gefahr nicht (er läßt das wilde Tier selbst zur Herde), und das wilde Tier kann (in seiner Abwesenheit) über die Haustiere herfallen.
Unter AaTh/ATU 1311: The Wolf Taken for a Foal sind wenige, noch dazu verschiedenartige Erzählungen katalogisiert, die vornehmlich aus Nordosteuropa und dem Baltikum stammen. In finn. Var.n wird ein Pferd von Wölfen gefressen. Der Besitzer kommt hinzu, hält die Wölfe für Fohlen und läßt sie gewähren (geht Zaumzeug für den Nachwuchs holen)1. In weißruss.2, tscheremiss.3, poln.4 und frz.5 Fassungen wird ein Wolf für einen Schäferhund (Pferd, Widder, Ziegenbock) gehalten und zur Herde gelassen (in den Schaf- bzw. Schweinestall gesperrt). Er frißt die Schafe (Ziegen; Schweine und den Bauern) auf. Zu AaTh/ATU 1311 gestellte dt. Fassungen aus dem 16./17. Jh. und aus späterer Zeit weichen von diesem Handlungsschema ab: Statt einer V. der T. führen abergläubische Vorstellungen zu falschen Schlußfolgerungen. Ein
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Verwünschung
Bauer hält einen ihm entgegenkommenden Hasen für einen Vorboten des Unglücks und verschiebt die mit dem Knecht geplante Arbeit (Holzeinschlag). Am nächsten (dritten) Tag begegnet beiden ein Wolf, den der Bauer für ein gutes Omen hält. Der Knecht findet nach getaner Arbeit den Wolf bei den Überresten des Pferdes vor und kommentiert spöttisch, die Einschätzung seines Herrn wörtlich auf die reale Situation übertragend: ,Das Glück sitzt in dem Pferd‘6. AaTh/ATU 1311 tritt oftmals in Verbindung mit anderen Erzähltypen auf. So finden sich weitere zu AaTh/ATU 1311 gestellte frz.7, liv.8 und ung.9 Fassungen, in denen ein Schelm Leichtgläubige durch eine bewußte J Täuschung zum eigenen Vorteil betrügt (z. B. ung.: Verkauf eines Wolfs als goldenes Lamm), als Episoden innerhalb von AaTh/ATU 1535: J Unibos und AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit; weißruss. und tscheremiss. Var.n treten in Verbindung mit AaTh/ATU 1680: The Man Seeking a Midwife und AaTh/ ATU 1875: J Junge am Bären(Wolfs)schwanz auf 10. In einem finn. Schwank unterstreicht die Kombination mit AaTh/ATU 1332*: Forgetfulness (Aimlessness) Causes Useless Journey die Torheit des Geschädigten. In Verbindung mit AaTh/ATU 1910: J Bär (Wolf) im Gespann zwingt der Mann den Wolf, ihm anstelle des gefressenen Pferdes als Reittier zu dienen, und erscheint noch dümmer, weil er seinen Verlust gar nicht bemerkt11. Die unter AaTh/ATU 1312: The Bear Taken for a Dog klassifizierten heterogenen Schwänke, die noch seltener als AaTh/ATU 1311 dokumentiert sind, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe entspricht dem Handlungsverlauf der Grundform. So wird in zwei finn. Var.n ein Bär für einen Hund gehalten, in anderen finn. Erzählungen hält ein Mann einen Bären für sein Pferd12. In der zweiten Gruppe wird ein domestiziertes Tier für ein gefährliches wildes Tier gehalten, ein Wolfshund mit einem Wolf bzw. ein Hund mit einem Bären verwechselt (dt., ung.)13. Daneben findet sich nur noch eine dominikan. Var., in der ein Dummkopf einen Löwen mit einer Ziege verwechselt. Seine Familie wird von dem Löwen verschlungen14. Ansonsten erleiden Menschen durch die V. keinen unmittelbaren Schaden; das verwechselte Tier
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wird mitunter getötet. Die Geschädigten sind oft Bewohner einer bestimmten Region oder eines bestimmten Ortes und gehören sozial niedrig gestellten Gruppen an. Der Spott resultiert daraus, daß die Tierbesitzer die Realität verkennen und aus Angst ein harmloses Tier töten bzw. sich vor ihm fürchten. Die lokale Verankerung rückt die Geschichten in den Bereich des Nachbarschaftsspotts (J Ortsneckerei) und erklärt die begrenzte Verbreitung der Erzählungen. 1 Rausmaa, SK 4, num. 78, 79; cf. auch Aarne, A.: Finn. Märchenvar.n (FFC 5). Hamina 1911, 1311; Ara¯js/Medne. ⫺ 2 Barag. ⫺ 3 Kecskeme´ti/Paunonen; Lewy, E.: Tscheremiss. Texte 2. Hannover 1925, num. 2. ⫺ 4 Krzyz˙anowski 1312. ⫺ 5 Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 2. P. 1973, num. 42. ⫺ 6 Pauli/Bolte, num. 152; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 1965, num. 38; Nimtz-Wendlandt, W.: Erzählgut der Kur. Nehrung. Marburg 1961, num. 105; Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. B. 1889, num. 639; cf. auch Krzyz˙anowski 1312. ⫺ 7 cf. Fabre/Lacroix (wie not. 5); Krzyz˙anowski. ⫺ 8 Setälä, E. N./Kyrölä, V.: Näytteitä liivin kielestä. Hels. 1953, num. 13. ⫺ 9 MNK. ⫺ 10 cf. Barag; Kecskeme´ti/Paunonen. ⫺ 11 Rausmaa, SK 4, num. 78, 79. ⫺ 12 Rausmaa, SK 4, num. 80. ⫺ 13 Peuckert, W.-E.: Hochwies. Sagen, Schwänke und Märchen. Göttingen 1959, num. 181; MNK 1312 A*. ⫺ 14 Hansen **1312; Andrade, M. J.: Folklore from the Dominican Republic. N. Y. 1930, num. 93.
Göttingen
Rita Boemke
Verwünschung 1. Begriff ⫺ 2. Kultureller und religiöser Referenzrahmen ⫺ 3. Märchen und Sage
1 . B eg ri ff. Der im Deutschen seit dem 16. Jh. belegte Terminus V. wird seit dem 18. Jh. vorrangig in bezug auf Märchen benutzt. Auch bei weiterem Gebrauch evoziert er den Referenzrahmen des Märchens oder bezieht sich in metaphorischer Verwendung darauf 1. In gewisser Hinsicht ist die V. eine märchenspezifische Var. des J Fluchs bzw. des J Zauberspruchs (cf. auch J Schadenzauber, J Verzauberung), in der das Wortfeld J Wunsch antithetisch mitschwingt2. Andere Sprachen verwenden hier das nicht märchenspezifische Wortfeld des Fluchs (cf. Mot. M 400⫺M 499).
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Verwünschung
In den Sprach- und Lit.wissenschaften sowie in der Ethnologie wird der Begriff V. weithin synonym mit Verfluchung verwendet3. Alle Kulturen kennen ein reiches Repertoire an Fluchformeln4, die man im Deutschen gleichermaßen als V.en bezeichnen könnte5; bes. reich an V.en scheint die kelt. Tradition zu sein6. Auch die Drohung kann die Gestalt einer potentiellen V. annehmen. Eine bes. Nähe zum Fluch besteht in jenen Fällen, in denen zu dessen Verwirklichung keine übermenschliche Kraft, kein Numen angerufen wird. 2 . Kul tu re ll er un d r el ig iö se r Ref er en zr ah me n. Die V. steht in einem weiteren Umfeld magisch-performativer Sprache, zu dem auch J Segen, J Eid (religionsgeschichtlich eine bedingte Selbstverfluchung; cf. schon Plutarch, Quaestiones Romanae 44,275 D), Bindezauber (defixio; J Bann, J Festbannen), Beschwörung, J Gelübde und bes. Fluch (cf. auch Böser Blick7) gehören. V. wie Fluch reagieren auf vermutetes oder geschehenes Unrecht, wenn andere Mittel des Ausgleichs nicht möglich sind. Wenngleich der V. meist das Moment einer expliziten Übereignung an dämonische Mächte fehlt, wird der Begriff religionswiss. auch für Fluchtexte aus weiteren Kontexten verwendet (Prozeß- oder Liebeszauber etc.)8, z. B. für die V. der Artemisia (4. Jh. a. Chr. n.)9. Der bibl. Bileam-Zyklus (Num. 22⫺24; J Bileams Eselin) ist die Geschichte einer von Gott in Segen verwandelten öffentlichen V. Ähnlich erzählt Plutarch (Alkibiades 22,5) von einer Priesterin, die eine öffentliche V. verweigert. Wichtig ist, daß im bibl. Kontext auch Gegenstände verflucht bzw. verwünscht werden können, so etwa der Ackerboden (Gen. 3,17) oder ein Feigenbaum (Mk. 11,13 sq.). Kulturgeschichtlich bestehen Beziehungen zwischen V.en und kulturellen Realien älterer Gesellschaften etwa in Hinsicht auf Rituale feierlicher und öffentlicher Verfluchung (z. B. von Feinden) bzw. in gesellschaftlichen Bestrafungsakten, bes. wenn diese mit Bannformeln inauguriert werden (J Strafe als Übereignung an ein dämonisches Numen, Fixierung in einem unerwünschten Zustand). Im bibl.-christl. Sprachgebrauch ist auch das sakralrechtliche Anathema (Kirchenbann), das z. B. die
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Sprachform kathol.-kirchlicher Lehrentscheidungen prägt, mit der V. verwandt10. Zum Zustand des Verwünschtseins gehört oft die Isolation an einem bes. Ort. Mythol. Vorbilder hierfür sind etwa die Erzählung von Endymion, der durch Selenes Zauber in einer Höhle in Latmos schläft (J Zauberschlaf)11, oder die von Epimenides, der 57 Jahre in einer Höhle schläft (Plinius, Naturalis historia 7,175). Diesen antiken Erzählungen fehlt allerdings das Märchenschema von V. und J Erlösung, das zwar in Frühformen von Erzählungen wie AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche bereits vorliegt, aber vielleicht erst unter christl. Einfluß zum wesentlichen Element des europ. Märchens geworden ist. 3 . M är ch en un d S ag e 1 2. Die Definition des Verwünschens als ,einen Wunsch gegen jemanden aussprechen‘13 vereint drei konstitutive Elemente: den Wunsch, das Aussprechen und die gegen eine andere Person gerichtete Absicht. Im Aussprechen können sich imperativische Elemente14 mit solchen der prophezeienden Ansage und der Erlösungsbedingung verbinden. Im Kontext von Erzählungen erscheint der dt. Begriff V. schon bei J. J Praetorius15 und ist dann im literar. gestalteten Märchen des 18. Jh.s, so etwa bei J Musäus16, geläufig. ,Verwünschen‘ ist geradezu ein Lieblingswort mancher Märchen- und Sagensammler des 19. Jh.s, u. a. L. J Bechsteins, U. J Jahns und A. J Kuhns, selbstverständlich immer in den Fußstapfen der J Grimmschen Slgen17. In den dt. Märchensammlungen des 19./20. Jh.s ist das Wortfeld häufig und mit spezifischen Konnotationen verbunden, bes. mit dem Element einer vorübergehenden Fixierung in einem Zustand der Ohnmacht und des Wartens, und insofern nicht einfach ein Synonym des Fluchs. Die Welt des Märchens wird auch durch das Adjektiv verwünscht/verwunschen evoziert, das die Betonung auf das Resultat im statischen Sinn einer Zustandsbeschreibung legt. Verwünschte Orte im Sinne verzauberter, gefährlicher, der Zeit entrückter Plätze kennen viele Kulturen18; verwünschte Burgen oder Schlösser (AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen; AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens etc.), ein kleines verwünschtes Haus im Wald (AaTh/ ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder [Sub-
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Verwünschung
typ 2]), eine verwünschte Mühle (AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans) etc. sind in europ. Märchen und Sagen sehr häufig19. Sie sind Orte der Begegnung mit Jenseitigen, oft auch einer spezifischen J Prüfung. Häufig berühren sich verwünschte Plätze, die ,nicht ganz richtig sind‘ (J. Grimm)20, motivlich mit ,heiligen‘ Bezirken oder sind von diesen kaum zu unterscheiden; sie können nicht oder nur zu einer bestimmten Zeit betreten werden. Die Bedeutung der V. im Märchen ergibt sich nicht zuletzt aus der Vorliebe der Gattung, Motivationen immer als äußere Handlung darzustellen (J Isolation), sowie seinem Hang zu J Extremen. Hier läßt sich mit gewissem Recht auch eine Unterscheidung zwischen V. und Fluch durchführen, die aber immer aus den genrespezifischen Eigenarten von Märchen, Sage und anderen Formen mündl. oder populärer Erzählung resultiert: Die V. des Märchens ist im Gegensatz zum Fluch der Sage nur eine zeitweise Verzauberung, oft eine J Verwandlung, die eher den Helden als den Frevler trifft21. Im Gegensatz zur Metamorphose der antiken ätiologischen Erzählung (J Ovid) steht die Verwandlungsform der verwünschten Figur dabei nicht notwendigerweise in einer inneren Beziehung zu ihrem Charakter22. Die V. bewirkt ohne weitere Bemühung, was sie ausspricht. Wie der Segen kann sie nicht zurückgenommen werden; allerdings ist es möglich, sie zu mildern (AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit). Als Spezialfall der Verwandlung verurteilt die V. eine Figur zur äußersten Passivität, die nur durch das Eingreifen einer anderen Figur aufgelöst werden kann; verwünschte (passive) und erlösende (aktive) Figur bilden dabei eine handlungskonstituierende Einheit. In ihrer szenischen Umsetzung ist die V. oft eine Fixierung im Statischen, eine (tatsächliche oder metaphorische) J Versteinerung, die keine größere Bewegung oder Veränderung erlaubt: Ein ungehorsamer Knabe wird von seinem Vater zum ,Stehen‘ verwünscht und kann drei Jahre seinen Platz im Zimmer nicht verlassen23; der in eine Bergschlucht verwünschte Prinz kann „nicht vorwärts und rückwärts“ (KHM 97, AaTh/ATU 551); der verwünschte Königssohn muß in einem Wald in einem großen Eisenofen sitzen (KHM 127, AaTh/ATU
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425 A: cf. Amor und Psyche); die verwünschten Zwerge werden zu einer Felsgruppe24. Im Prinzip kann jede Figur eine V. aussprechen: eine J Hexe oder böse J Fee, die J Stiefmutter, J Riesen25, ein geschädigter Mann26. Häufig wird nicht gesagt, von wem die V. ausgeht oder wodurch sie veranlaßt sein könnte27: Der in einen Fisch verwünschte Prinz (KHM 19, AaTh/ATU 555: J Fischer und seine Frau) teilt selbst mit, wer er ist, ohne zu sagen, wer ihn verwünscht hat. Im Märchen ist die V. weniger sittlich fragwürdige oder verwerfliche Handlung, sondern eher J Dynamik erzeugende Veranlassung des weiteren Geschehens. Daher trifft auch die unabsichtliche V. ein28. In den Einleitungsepisoden von AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen und AaTh/ATU 451 [Subtyp 3] ist die V. J Strafe für Übermut und ungebärdiges Verhalten. Auch eine die V. auflösende Handlung kann zufällig geschehen, sie muß jedenfalls nicht unbedingt durch ein moralisches Handeln veranlaßt sein. In KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig wird die V. nur nebenbei, im Zuge ihrer Aufhebung durch Erlösung, zur Sprache gebracht. Doch sind solche Minimierungen eher Ausnahmen. Meist folgt die V. auf J Frevel, J Tabubruch, absichtliches oder unabsichtliches Fehlverhalten, bes. solches, das nicht durch öffentliche Rechtsprechung geahndet werden kann. Es kann auch vorkommen, daß eine Person sich selbst verwünscht (Mot. M 411.0.1)29 oder auf eigenen Wunsch hin verwünscht wird30. Im Märchen versetzt die Aufhebung der V., meist als Erlösung dargestellt, die ehemals verwünschte Figur in den Zustand zurück, den sie vor der V. innehatte31. Zuweilen hebt sie auch das angehaltene Fortschreiten der Zeit wieder auf 32. In Sage und Legende kann die Auflösung eines verwünschungsähnlichen Zustandes hingegen dazu führen, daß die Figur stirbt oder zu Staub zerfällt (cf. AaTh/ATU 766: J Siebenschläfer). Auffällig oft werden im Märchen Kinder von ihren Eltern verwünscht (Mot. M 411.1; z. B. AaTh/ATU 451 [Subtyp 3]; cf. auch J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen)33. Schon in den antiken Lit.en sind V.en von Kindern durch ihre Eltern belegt34. Im griech. Mythos wünscht Althaia ihrem Sohn J Meleager (AaTh/ATU 1187), J Theseus sei-
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Verwüstung ⫺ Verzauberung
nem Sohn Hippolytos den Tod, während Amyntor Phoinix mit Ehelosigkeit und Unfruchtbarkeit belegt (Platon, Leges 11,931e). Oft ist die V. der Kinder unüberlegt35 und daher gefolgt von J Reue. Mentalitätsgeschichtlich kann das Motiv der Kinder-V. eine Ventilfunktion einnehmen: Die Volkserzählung lebt aus, was Eltern sich üblicherweise versagen36. 1 DWb. 12,1 (1956) 2381⫺2390; Zedler, J. H.: Grosses vollständiges Universal-Lexicon 48. Halle 1746, 196⫺198; 64 (1750) 953. ⫺ 2 Lüthi, M.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Diss. Zürich 1943, 80; cf. EM 4, 1325. ⫺ 3 cf. Weinhold, K.: Die altdt. V.sformeln. B. 1895; Helmeke, T.: Beteuerungen und V.en bei Chaucer. Diss. Kiel 1913; Kröll, H.: Fluch- und V.sformeln im Portugiesischen. In: Lusorama 32 (1997) 50⫺61; Rösing-Diederich, I.: V.en gegen den Feind. Schwarze Gebete eines Callawaya-Medizinmannes. In: An˜o 19 (1987) 37⫺41. ⫺ 4 z. B. Mees, B./Drogin, M.: Anathema! Medieval Scribes and the History of Book Curses. Montclair, N. J. 1983; Nordh, K.: Aspects of Ancient Egyptian Curses and Blessings. Uppsala 1996; Morschauser, S.: Threatformulae in Ancient Egypt. Baltimore 1991; Rawson, H.: A Dict. of Invective. A Treasury of Curses, Insults, Put-downs, and Other Formerly Unprintable Terms from Anglo-Saxon Times to the Present. L. 1991; Kratz, C. A.: Genres of Power. A Comparative Analysis of Okiek Blessings, Curses and Oaths. In: Man 24 (1989) 636⫺656; Hockings, P.: Counsel from the Ancients. A Study of Badaga Proverbs, Prayers, Omens, and Curses. B. u. a. 1988. ⫺ 5 Spamer, A.: Romanusbüchlein. B. 1958, 318 (Gerichtszauber von den ,drei toten Männern‘ als ,V.sspruch‘). ⫺ 6 Mees, B.: Celtic Curses. Woodbridge u. a. 2009. ⫺ 7 Dundes, A. (ed.): The Evil Eye. N. Y. u. a. 1981. ⫺ 8 Graf, F.: Fluch und V. In: Thesaurus cultus et rituum antiquorum 3. L. A. 2005, 247⫺270 (auch zum Fluch als einer Gebetsform im Griechischen); Speyer, W.: Fluch. In: RAC 7 (1969) 1160⫺1288; Eidinow, E.: Oracles, Curses and Risk among the Ancient Greeks. Ox. 2007. ⫺ 9 Jördens, A.: Die sog. V. der Artemisia. In: Texte aus der Umwelt des A. T.s. N. F. 4. ed. T. Abusch u. a. Gütersloh 2008, 429 sq. ⫺ 10 Beinert, W./Krämer, P.: Anathema. In: LThK 1 (31993) 604 sq. ⫺ 11 Scheer, T.: Endymion. In: DNP 3 (1997) 1027. ⫺ 12 Lüthi (wie not. 2) 80⫺82; Köhler-Zülch, I.: Zur imperativen V. im Märchen. In: Der Wunsch im Märchen/Heimat und Fremde im Märchen. ed. B. Gobrecht u. a. Kreuzlingen/Mü. 2003, 26⫺41; Boesebeck, H.: V. und Erlösung des Menschen in der dt. Volkssage der Gegenwart. In: Ndd. Zs. für Vk. 5 (1927) 89⫺119, 134⫺164, 216⫺237; 6 (1928) 15⫺29, 90⫺111, 159⫺178; Malthaner, J.: Die Erlösung im Märchen. Diss. Heidelberg 1934, 28⫺44. ⫺ 13 Strakkerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909,
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472. ⫺ 14 cf. Köhler-Zülch (wie not. 12). ⫺ 15 DWb. 12,1, 2386. ⫺ 16 Musäus, J. K. A.: Volksmärchen der Deutschen. ed. N. Miller. Mü. 21976, 324, 743 u. ö. ⫺ 17 Belege cf. Uther, H.-J. (ed.): Dt. Märchen und Sagen. CD ROM B. 2003. ⫺ 18 cf. z. B. Nagel, T.: Mohammed. Leben und Legende. Mü. 2008, 886; Wellhausen, J.: Reste arab. Heidentums. B. 31961, 156 und pass. ⫺ 19 cf. Grimm, Mythologie 2, 819⫺ 821. ⫺ 20 ibid., 819. ⫺ 21 Lüthi (wie not. 2) 80. ⫺ 22 cf. Reber, U.: Formenverschleifung. Zu einer Theorie der Metamorphose. Mü./Paderborn 2009, 89⫺164. ⫺ 23 Grimm DS 231. ⫺ 24 Grimm DS 32. ⫺ 25 Wolf, J. W.: Dt. Hausmärchen. Göttingen/Lpz. 1851, 96. ⫺ 26 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, num. 166. ⫺ 27 cf. Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 71981, 11, 44. ⫺ 28 Krohn, K.: Mann und Fuchs. Hels. 1891, 35. ⫺ 29 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1854, num. 241. ⫺ 30 Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 1184. ⫺ 31 cf. Thompson, S.: The Folktale. N. Y. 1946, 258⫺ 260. ⫺ 32 Hartland, E. S.: The Science of Fairy Tales. L. 1891, 161⫺254; Lüthi (wie not. 2) 20. ⫺ 33 cf. z. B. BP 1, 228, 231, 430; 2, 344, 561; 3, 534. ⫺ 34 cf. Graf (wie not. 8) 253 sq. ⫺ 35 cf. Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden […] 1. Karlsruhe 1851, 230, num. 239. ⫺ 36 Grimm DS 227.
Hofheim
Marco Frenschkowski
Verwüstung J Zerstörung
Verzauberung, J Zauber, der eine Person (Sache) meist unfreiwillig in einen anderen, wesensfremden Zustand versetzt, aus dem sie sich nicht allein befreien kann1. Seltener sind hilfreiche oder auf sich selbst gerichtete V.en. V. setzt primär zauberkundiges Wissen voraus, über das manche Jenseitige (J Elfen, J Fairies, J Feen, J Zwerge) und J Zauberer sowie J Hexen verfügen oder das von Menschen (cf. J Zaubergaben) erworben werden kann2. In Volkserzählungen wird V. oft synonym mit J Verwünschung verwendet. Als Erzählelement kommt V. in Märchen, Mythen, Sagen, Epen und Romanen vor. Im Volksglauben existiert die Vorstellung, daß verzaubertes Vieh keine J Milch mehr gibt, krank oder unfruchtbar wird (J Schadenzauber)3. Bewirkt werden V.en durch Worte (J Fluch, Fluchen, Flucher; J Zauberspruch),
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Verzauberung
magische Gegenstände (J Zauberstab), Getränke und Speisen (J Zaubertrank) oder Blicke. Häufige Arten von V.en sind J Verwandlungen, wie J Tierverwandlung oder J Versteinerung, J Festbannen, oder das Versetzen in einen J Zauberschlaf. Zu anderen Formen zählen Sinnestäuschungen (J Augenverblendung), Liebeszauber (J Liebe) und das Auslösen zwanghafter Handlungen wie des Dauertanzens (AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke; J Tänzersage). V.en von Menschen kennt schon die antike Mythologie. Die V. ist vor allem J Strafe für Fehlverhalten, ein Akt der J Rache oder reiner J Bosheit4; sie ist in der Regel dauerhaft, wie in Ätiologien oder Erzählungen über Metamorphosen. So wird Niobe als Strafe für ihren Hochmut versteinert (J Homer, Ilias 24,602⫺617; J Ovid, Metamorphosen 6,303⫺ 312), und J Circe verwandelt Picus in einen Specht (Ovid, Metamorphosen 14,386⫺395). Seltener ist die zeitlich begrenzte V.: Circe verwandelt J Odysseus’ Gefährten durch einen Zaubertrank in Schweine (Homer, Odyssee 10,135⫺407; Ovid, Metamorphosen 14,254⫺ 307). In den Metamorphosen des J Apuleius wird u. a. beschrieben, wie sich ein Mensch mittels einer Hexensalbe in einen Esel verwandelt und durch den Verzehr eines Gegenmittels seine menschliche Gestalt zurückbekommt (J Eselmensch). In den Romanen des MA.s, bes. den Artusromanen (J Artustradition), gehören Zauberhandlungen und V.en zur alltäglichen Erfahrungswelt. Zauberkundige Wesen (z. B. J Merlin) verleihen anderen Menschen in helfender oder schädigender Absicht eine fremde Gestalt (J Gestalttausch) oder verwandeln sie in ein Tier5. In Sagen6 erscheint die V. hauptsächlich als Folge des Eingreifens einer höheren Macht (Gott). Seltener sind die Urheber Hexen und Zauberer oder Menschen der Alltagswelt, z. B. ein Elternteil7, ein Mönch8 oder ein abgewiesener Freier9. Die V. geschieht meist durch Fluch oder Verwünschung und dient als Strafe für Hochmut10, Ungehorsam11, Habgier oder schlechten Lebenswandel12. Die Verzauberten der Sage sind versteinert13, in ein Tier verwandelt14 oder an einen bestimmten Ort gebannt, z. B. in einen Berg oder einen See15. Zu bestimmten Zeiten können sie während ihrer V.
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den Ort verlassen oder ihre menschliche Gestalt wieder annehmen, um Hilfe zu erbitten16. Im Gegensatz zum Märchen ist die V. in der Sage meist endgültig; die Möglichkeit zur J Erlösung ist zwar gegeben, der potentielle Erlöser scheitert aber an Bedingungen, denen er nicht gewachsen ist (J Schlangenkuß)17. Im Märchen werden Held, Heldin oder deren Angehörige (Geschwister, zukünftiger Ehepartner) durch eine schicksalhafte Macht (AaTh/ATU 440: J Froschkönig) oder Personen mit übernatürlichen Kräften verzaubert, wie z. B. Hexen, die oftmals in Person der J Stiefmutter in die Familie integriert sind, Zauberer oder Feen. Auch Eltern können durch einen unvorsichtig geäußerten Wunsch ihr eigenes Kind verzaubern (AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder). Die V. kann nicht nur die Heldinnen und Helden betreffen, sondern auch ihre Brüder (AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen; AaTh/ATU 451), Partner (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe) oder Helfer (AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter). Sie ist in der Regel zeitlich begrenzt und durch Entzauberung aufhebbar. Gründe für die V. im Märchen können sein: Mißachtung einer Gefahr (AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes; AaTh/ATU 405: J Jorinde und Joringel), Strafe (AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne; AaTh/ATU 567: Das wunderbare J Vogelherz; AaTh/ATU 652: J Prinz, dessen Wünsche in Erfüllung gingen), Eifersucht und Machtsicherung (AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut) oder Böswilligkeit (AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder). Bei V.en durch ein Familienmitglied sind innerfamiliäre Konflikte (Eifersucht, Rivalität) die Ursache (AaTh/ATU 403, 450). Hintergrund für die V. durch Außenstehende (Hexe, Fee, Zwerg) ist Bösartigkeit oder Machtdemonstration. Die V. löst die J Suche nach dem Partner aus und führt zu J Bewährungsproben der Heldin (AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche). Verschiedene Objekte (Mot. D 1364⫺D 1364.32) oder Handlungen (Mot. D 1962⫺D 1962.5) können einen Menschen in einen Zauberschlaf versetzen und den Helden von seinem Vorhaben oder seiner Aufgabe abhalten. Das wohl bekannteste Märchenbeispiel hier-
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Veselovskij, Aleksandr Nikolaevicˇ
für ist AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit. Selbstverzauberungen (in Tiere, Pflanzen, Gebäude und Teile der Landschaft) kommen hauptsächlich in Märchen des Erzähltyps AaTh/ATU 313 sqq.: J Magische Flucht vor. In Var.n von AaTh/ATU 329: J Versteckwette zeigt ein Tierhelfer dem Jüngling eine magische Quelle, die ihn in ein Tier verwandelt und dadurch die gestellte Aufgabe bestehen läßt. Die Fähigkeit zur Selbstverzauberung gehört zum Wesen des Zauberers (AaTh/ATU 405; AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater). Im Verwandlungswettstreit (AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler) wird dieses Motiv der V. aufgegriffen. V. und Entzauberung sind strukturell gesehen notwendige Handlungselemente, die die J Dynamik des Märchens steigern. Der Akzent liegt daher im Märchen weniger auf der V. selbst als auf der individuellen oder kollektiven Erlösung verzauberter Menschen oder Gegenstände18. 1
cf. zur Definition DWb., s. v. verzaubern; Anacker, T.: V. und Erlösung im dt. Volksmärchen. Königsberg/B. 1941, 6. ⫺ 2 cf. Grimm, Mythologie 2, 861: „Mittelwesen zwischen ihnen [gesunkenen Göttern] und menschen, vielkundige riesen, listige elbe und zwerge zaubern“; Götter können durch Willenskraft verwandeln, bedürfen dazu aber keiner Magie, cf. Brunner Ungricht, G.: Die Mensch-Tier-Verwandlung. Bern u. a. 1998, 25. ⫺ 3 cf. EM 6, 972⫺975. ⫺ 4 z. B. Ovid, Metamorphosen 6,139⫺145 (Pallas verwandelt Arachne durch den Saft eines Krauts in eine Spinne); cf. Brunner Ungricht (wie not. 2) 29⫺32; Habiger-Tuczay, C.: Magie und Magier im MA. Mü 1992, 26⫺30. ⫺ 5 ibid., 291⫺326; Guerreau-Jalabert, Reg. s. v. enchanted, transformation. ⫺ 6 Beispiele cf. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004; id.: Märchen der Welt. CD-ROM B. 2006. ⫺ 7 Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staats 1⫺2. Glogau 1867/71, hier t. 1, num. 194; t. 2, num. 447. ⫺ 8 ibid., t. 1, num. 583. ⫺ 9 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 32. ⫺ 10 ibid.; Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 2. Dresden 1874, num. 626; id. (wie not. 7) t. 1, num. 123. ⫺ 11 ibid. 3, t. 2, num. 447. ⫺ 12 ibid., t. 1, num. 583; Grässe (wie not. 10) num. 626. ⫺ 13 cf. Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1⫺ 2. Wien 1879/80, hier t. 1, num. 589, 590, 592, 594; Bechstein (wie not. 9) num. 1000; cf. auch Beth, K.: Verwandlung. In: HDA 8 (1936⫺37) 1623⫺1652, hier 1636⫺1638. ⫺ 14 cf. Bartsch (wie not. 13) t. 1, num. 352, 360, 636; t. 2, num. 447; Bechstein (wie
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not. 9) num. 32. ⫺ 15 Bartsch (wie not. 13) t. 1, num. 352, 357, 360, 546; Grässe (wie not. 7) t. 2, num. 626. ⫺ 16 Bartsch (wie not. 13) t. 1, num. 351, 352, 354, 357, 358, 360, 546. ⫺ 17 cf. EM 4, 209⫺212 (Beispiele für geglückte Erlösung). ⫺ 18 cf. Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Göttingen 1975, 69.
Göttingen
Rita Boemke
Veselovskij, Aleksandr Nikolaevicˇ, *Moskau 4.(16.) 2. 1838, † St. Petersburg 10.(23.) 10. 1906, russ. Lit.historiker und Folklorist. V. studierte 1854⫺58 bei F. J. J Buslaev, O. M. Bodjanskij und P. N. Kudrjavcev an der Univ. Moskau westeurop., byzantin. und slav. Lit. Danach war er etwa ein Jahr lang Privatlehrer des russ. Botschafters Fürst Golicyn in Madrid. Im Anschluß ging er nach Berlin, wo er u. a. bei H. J Steinthal Vorlesungen zur germ. und rom. Philologie hörte. 1863 studierte V. Slavistik in Prag, danach verbrachte er einige Jahre in Florenz1, wo er u. a. G. Carducci, A. J D’Ancona, D. J Comparetti und G. J Pitre` begegnete. Nach seiner Promotion (1870) mit der Diss. Slavjanskie skazanija o Solomone i Kitovrase i zapadnye legendy o Merol’fe i Merline ([Die slav. Erzählungen über Salomon und Kitovras und die westl. Legenden über Merolf und Merlin]. SPb. 1872) war er zunächst Dozent, ab 1872 Professor an der Univ. St. Petersburg. 1876 wurde er korrespondierendes und 1881 ordentliches Mitglied der Russ. Akad. der Wiss.en. V.s Nachlaß befindet sich im Inst. für russ. Sprache und Lit. (Pusˇkin-Haus) der Russ. Akad. der Wiss.en in St. Petersburg. V. war einer der Begründer der hist.-vergleichenden Lit.wissenschaft (J Philol. Methode)2 und vor V. Ja. J Propp Wegbereiter der strukturalen Anthropologie (cf. J Strukturalismus). Er arbeitete aus volkskundlicher und literaturwiss. Perspektive zur Theorie des Motivs3 und legte den Grundstein für die hist. Poetik, eine Theorie der Lit.entwicklung4. Auf der Basis von V.s Unters.en entwickelte Propp seinen Begriff der J Funktion. Als einer der ersten russ. Wissenschaftler verglich V. Daten aus Lit. und Ethnologie5. Eine Reihe von V.s materialreichen Unters.en befaßt sich mit der Entstehung von Gattungen (Ritterroman, Heldenepos, religiöse Dichtung)6. In seiner
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Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯
Diss. verfolgte V. die Wanderung der alten Erzählungen über J Salomo bis zu ihrem Nachhall in der russ. religiösen Dichtung und in Westeuropa und verdeutlichte damit die Vermittlerrolle von Byzanz zwischen Ost und West. Er ging dem Ursprung der Dichtkunst nach (Synkretismus7, Chorgesänge, Verbindung von Volksbrauch und Musik8) und zeigte Kontinuitäten hinsichtlich der später entstandenen Großgattungen Epik, Lyrik und Dramatik auf. V. war zunächst Anhänger der J Mythol. Schule, näherte sich dann jedoch der J Ind. Theorie von T. J Benfey und später der Theorie der J Polygenese (J Generatio aequivoca) an9. Seine Unters.en basieren auf der von ihm ausgearbeiteten philol. Theorie10 und der Beschäftigung mit poetischer Sprache11 sowie auf Studien über das Schaffen von Dichtern12. Ende des 20./Anfang des 21. Jh.s wurden V.s Arbeiten neu aufgelegt13 und seine unpublizierten dt.sprachigen Studien ins Russische übersetzt14. 1
cf. V., A. N.: Neskol’ko geograficˇeskich i e˙tnograficˇeskich svedenij o drevnej Rossii iz rasskazov ital’jancev (Einige geogr. und ethnogr. Ber.e über das alte Rußland aus den Erzählungen der Italiener). SPb. 1870; Giovanni da Prato: Il Paradiso degli Alberti 1⫺3. ed. A. Wesselofsky. Bologna 1867; V., A. N.: Villa Alberti. Novye materialy dlja charakteristiki literaturnogo i obsˇcˇestvennogo pereloma v ital’janskoj zˇizni 14⫺15 stoletija (Neue Materialien zur Charakterisierung des literar. und gesellschaftlichen Umbruchs im ital. Leben des 14.⫺15. Jh.s). M. 1870; cf. id.: Sobranie socˇinenij (G. W.) 1⫺6, 8, 16. SPb./M./Len. 1908⫺38, hier t. 3⫺6 (Arbeiten zu Boccaccio, Petrarca, Dante etc.). ⫺ 2 Jakobson, L.: V., A. N. In: Literaturnaja e˙nciklopedija 2. M. 1929, 194⫺201. ⫺ 3 V. 1908⫺38 (wie not. 1) t. 2,1 (1913) 9, 11. ⫺ 4 id.: Tri glavy iz istoricˇeskoj poe˙tiki (Drei Kap. aus der hist. Poetik). SPb. 1899; cf. auch Istoricˇeskaja poe˙tika. Literaturnye e˙pochi i tipy chudozˇestvennogo soznanija. (Hist. Poetik. Lit.epochen und Typen des künstlerischen Bewußtseins). ed. P. A. Grincer M. 1994; Bronzini, G. B.: Matrice romantica e sviluppi antropologici della „poetica storica“ di A. N. V. In: La ricerca folklorica 33 (1996) 3⫺10. ⫺ 5 cf. Meletinskij, E. M.: Poe˙tika mifa (Poeˇ irmunskij, V. M.: tik des Mythos). M. 1976, 123; Z Istoricˇeskaja poe˙tika A. N. Veselovskogo (Die hist. Poetik von A. N. V. ). In: id. (ed.): Istoricˇeskaja poe˙tika. Len. 1940, 3⫺37, hier 13; cf. Tschitscherow, W.: Russ. Volksdichtung. B. 1968, 36⫺39. ⫺ 6 cf. V., A. N.: Zametki i somnenija o sravnitel’nom izucˇenii srednevekovogo e˙posa (Anmerkungen und Zweifel über die vergleichende Erforschung des ma. Epos).
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In: Zˇurnal Ministerstva narodnogo prosvesˇcˇenija (1868) H. 140, 281⫺359; id.: Sravnitel’naja mifologija i ee metod (Die vergleichende Mythologie und ihre Methode). In: Vestnik Evropy (1873) H. 5, 637⫺ 680, hier 657 (Rez. zu De Gubernatis, A.: Zoological Mythology. L. 1872); id.: Novye issledovanija o francuzskom e˙pose (Neue Unters.en über das frz. Epos). In: Zˇurnal Ministerstva narodnogo prosvesˇcˇenija (1885) H. 238, 239⫺285; cf. auch id.: Istorija e˙posa (Die Geschichte des Epos). SPb. 1882; id.: Juzˇnorusskie byliny (Die südruss. Bylinen). SPb. 1881⫺84; id.: Otryvki vizantijskogo e˙posa v russkom (Fragmente des byzant. Epos im Russischen). In: Vestnik Evropy (1875) H. 2, 750⫺777, num. 4; id.: Istorikoliteraturnye zametki. 2: Ob odnom e˙pizode iz bylin o Svjatogore (Hist.-literar. Aufzeichnungen. 2: Über eine Episode aus den Bylinen von Svjatogor). In: Filologicˇeskie zapiski (1876) 1⫺12, num. 6; id.: Rez. Zˇdanov, I.: K literaturnoj istorii russkoj bylevoj poe˙zii (Zur Lit.geschichte der russ. Bylinenpoesie). Kiev 1881. In: Zˇurnal Ministerstva narodnogo prosvesˇcˇenija (1884) H. 231, 359⫺396; V., A. N.: Melkie zametki k bylinam (Kleinere Anmerkungen zu den Bylinen). ibid. (1885) H. 242, 176⫺186; ibid. (1889) H. 263, 32⫺46; ibid. (1890) H. 268, 1⫺10, 20⫺26, 35⫺ 55; cf. Meletinskij, E. M.: Vvedenie v istoricˇeskuju poe˙tiku e˙posa i romana (Einführung in die hist. Poetik des Epos und des Romans). M. 1986. ⫺ 7 id.: Istoricheskaia Poetica (A Historical Poetics) Chapter 1, Section 8. In: New Literary History 32,2 (2001) 409⫺428; cf. Shaitanov, I.: A. V.s Historical Poetics. ibid., 429⫺433. ⫺ 8 cf. auch Frejdenberg, O. M.: Mif i literatura drevnosti (Mythos und Lit. des Altertums). M. 1978, 76; Meletinskij (wie not. 6) 138. ⫺ 9 cf. V. 1908⫺38 (wie not. 1) t. 16 (1938) 212⫺230. ⫺ 10 cf. Gacak, V. M.: Iz lekcij A. N. Veselovskogo po istorii e˙posa (Aus den Vorlesungen A. N. V.s über die Geschichte des Epos). In: id. (ed.): Tipologija narodnogo e˙posa. M. 1975, 287⫺319. ⫺ 11 cf. z. B. V., A. N.: Izbrannoe. Istoricˇeskaja poe˙tika (Ausgewähltes. Hist. Poetik). M. 2006, 171⫺535. ⫺ 12 id./Zˇukovskij, V. A.: Poe˙zija cˇuvstva i „serdecˇnogo voobrazˇenija“ (Poesie des Gefühls und der „Einbildungen des Herzens“). SPb. 1904. ⫺ 13 V., A. N.: Istoricˇeskaja poe˙tika (Hist. Poetik). M. 1989; Zaborov, P. R. u. a. (ed.): Nasledie Aleksandra Veselovskogo (Das Erbe A. V.s). SPb. 1992; V. (wie not. 11); id.: Narodnye predstavlenija slavjan (Populäre Vorstellungen der Slaven). M. 2006. ⫺ 14 id.: Raboty o fol’klore na nemeckom jazyke (1873⫺1894) (Arbeiten über Folklore in dt. Sprache [1873⫺1894]). Übers. T. Goven’ko. M. 2004.
Moskau
Nikita Petrov
Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯ (Die 25 Erzählungen des Leichendämons [Veta¯la]), populäre ind. Slg von Rätselerzählungen (J Rätselmärchen). Die J Brøhatkatha¯, deren Überliefe-
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Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯
rungsumfeld die V. angehört, soll ursprünglich von Gunø a¯dø hya in der Pais´a¯cı¯-Sprache (Sprache der ,Dämonen‘) im frühen 1. Jahrtausend verfaßt worden sein1; es ist allerdings fraglich, ob die V. Teil des ursprünglichen Korpus der Brøhatkatha¯ war. Die erhaltenen Sanskritfassungen der V. stammen aus dem 11.⫺15. Jh. Die frühesten finden sich in zwei der großen Werke der ind. Erzählliteratur (J Katha¯-Literatur): in der Brøhatkatha¯man˜jarı¯ des Ksøemendra (VK; 9,2,19⫺1221)2 und in J Somadevas Katha¯saritsa¯gara (VS; Kap. 75⫺99)3. Beide sind Versdichtungen, die im 11. Jh. in Kaschmir abgefaßt wurden und die man daher als zu einer gemeinsamen Texttradition gehörig betrachten kann4. Die erfolgreichste selbständige Fassung der V. wurde vor dem 15. Jh. in einer Mischung aus Sanskritversen und Prosa von S´ivada¯sa verfaßt (VS´) und könnte die ursprüngliche Form der Slg darstellen5. Eine andere Sanskritversion, die Vallabha¯da¯sa zugeschrieben wird (VV), ist nur in wenigen Hss. erhalten; M. Emeneau tut sie als von S´ivada¯sa abgeleitete Fassung ab, was er hinsichtlich ihrer Eigenständigkeit bereits als Aufwertung versteht6. Eine weitere unabhängige Fassung, die fast ausschließlich in Prosa verfaßt ist und vom Ende des 15. Jh.s datiert, ist die V. des Jambhaladatta (VJ). Von den Fassungen Jambhaladattas und S´ivada¯sas liegen kritische Ausg.n vor7, eine vergleichende Ausg. aller fünf Sanskritfassungen steht aus. Die J Rahmenerzählung der V. besteht aus einer ausgedehnten Unterhaltung zwischen dem legendären König Vikrama (cf. J Vikramacarita) und einem Veta¯la; dieser wohnt in einer J Leiche, die der König forttragen soll. Diese sonderbare Grundkonstellation ergibt sich aus folgenden Umständen: Jeden Tag kommt ein geheimnisvoller Asket namens Ksøa¯ntis´¯ıla an Vikramas Hof und überreicht dem König eine Bilva-Frucht. Dies wiederholt sich so lange, bis eines Tages eine der Früchte aufgeht und in ihrem Inneren ein kostbarer Edelstein sichtbar wird. Alle vorher überreichten Früchte enthalten ebenfalls Juwelen. Als der erstaunte König den Asketen nach einer Erklärung fragt, bittet dieser den König um seine Hilfe bei einem geheimen tantrischen Ritual: Der König soll einen von einem Veta¯la belebten Leichnam holen, der auf dem Friedhof an einem Baum hängt, da Ksøa¯ntis´¯ıla durch dessen Opferung große magische Kräfte erlangen werde. Vikrama ist einverstanden und findet die Leiche; sie kehrt jedoch jedesmal auf magische Weise auf den Baum zurück,
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wenn Vikrama mit dem Veta¯la spricht. Um Vikramas J Schweigen zu brechen (und damit seinem Zugriff zu entkommen), erzählt der Veta¯la eine Reihe von Geschichten, die jedesmal mit einem Rätsel enden, das der König lösen muß. Kaum hat er die Antwort ausgesprochen, kehrt die von dem Veta¯la besessene Leiche wieder auf den Baum zurück, und Vikrama muß sie erneut holen. Dies wiederholt sich, bis der Veta¯la schließlich eine Rätselgeschichte erzählt, zu der es keine Lösung gibt, so daß beide den Rest des Wegs schweigend zurücklegen. Beeindruckt von Vikramas edlem Charakter warnt der Veta¯la den König: der Asket wolle sowohl den Veta¯la als auch Vikrama während des tantrischen Rituals enthaupten. Vikrama überlistet den Asketen, tötet ihn und erlöst den Veta¯la von dem auf ihm lastenden Fluch.
Die V. zeigt Einflüsse ma. hinduist., buddhist. und jainist. religiöser Überlieferungen (cf. J Buddhist. Erzählgut; J Jainas); M. Winternitz zufolge ist die Slg „auf dem Boden des Tantrismus entstanden“8. Meist bilden die angeführten religiösen Praktiken und Glaubensvorstellungen jedoch nur den kulturellen Hintergrund der Erzählungen, deren eigentliches Thema die Vergnügungen und Ängste einer höfischen Kultur im frühma. Indien sind. Dargestellt wird eine Welt verführerischer Kurtisanen und überempfindlicher Prinzessinnen, reicher Kaufleute und widerlicher Halunken. Zu einer Reihe kulturspezifischer Motive in den Erzählungen der V. (z. B. J Geschlechtswechsel; J Gestalttausch; die Motivik von J Lachen und Weinen) liegen separate Unters.en vor9. In zwei der Erzählungen (VS´, num. 14; VJ, num. 22) spielt Mu¯ladeva, eine bekannte J Meisterdiebgestalt (cf. AaTh/ATU 1525 sqq.) der südasiat. Überlieferung, eine Rolle10. Der hervorstechendste Zug der V. ist das Phänomen der Rätselerzählung, bei der den phantastischen Ereignissen ein normativer ethischer Diskurs gegenübersteht, der sich aus dem jeweiligen Rätsel ergibt. Viele der Rätsel sind J Rechtsfälle, die der König beurteilen muß. So handelt die erste Erzählung, eine Var. von AaTh 516 A/ATU 861: J Rendezvous verschlafen, von den Liebesabenteuern eines Prinzen, dem es gelingt, die rätselhaften Gebärden einer von ihm begehrten Prinzessin zu entschlüsseln. Er kommt heimlich zu ihr und gibt sich mit ihr den Freuden der Liebe hin. Dadurch daß der Prinz ihren Vater glauben läßt, sie sei eine Hexe, wird die Prinzessin verstoßen, worauf die beiden Verliebten in der Stadt des Prinzen heiraten. Das zugehörige Rätsel („Wer hat
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Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯
Schuld am Tod ihrer untröstlichen Eltern?“) verlangt nach einer Lösung, welche die Normen der ma. ind. Gesellschaft bekräftigt: Die Schuld liegt direkt beim Herrscher des Königreichs, weil er bestimmte unerlaubte Handlungen in seinem Reich nicht in Erfahrung gebracht bzw. unterbunden hat.
Außer den Sanskritfassungen existieren Übers.en des Gesamtkorpus der V. ins Hindi, Marathi, Tamilische und andere moderne südasiat. Sprachen. Einige der Erzählungen sind in pers. (und davon abhängigen türk.) Fassungen des J Papageienbuchs enthalten (VS´, num. 3, 4, 5, 6, 9, 14, 17); verwandte Geschichten finden sich auch in J Tausendundeine Nacht (VS´, num. 1, 9) und in der türk. Slg J Vierzig Wesire (VS´, num. 1, 9, 19). Mit dem Buddhismus gelangte die V. ferner nach Nepal, Tibet und in die Mongolei, wo die Rahmenerzählung sowie einige Erzählungen und Motive im J Siddhi Kür erscheinen11. Die V. enthält auch eine Version der weitverbreiteten buddhist. Sage von Jı¯mu¯tava¯hana (VS´, num. 15), in der ein selbstloser Prinz bereit ist, sich anstelle einer Schlange von dem Riesenvogel Garudø a fressen zu lassen12. In den europ. Lit.en finden sich Parallelen zu den Erzählungen der V. u. a. in J Basiles Pentamerone (5,7 ⫽ VS´, num. 2) und J Boccaccios Decamerone (8,8 ⫽ VS´, num. 3b; 10,5 ⫽ VS´, num. 9); auch J Chaucers Franklin’s Tale entspricht VS´, num. 9; eine nur bei Vallabhada¯sa enthaltene Geschichte (num. 24) ist eine Var. von AaTh/ATU 926: cf. J Salomonische Urteile13. Einige Geschichten gehören zum weitverbreiteten Zyklus der drei (vier) rivalisierenden Brüder, die herausfinden wollen, wer von ihnen der klügste bzw. der dümmste ist (VS´, num. 2, 5, 21, 23; VJ, num. 21; cf. AaTh/ATU 1332: cf. J Narrensuche)14. Die meisten Fassungen der V. enthalten trotz des Titels nur 24 Erzählungen; als 25. gilt die Rahmenerzählung. N. M. J Penzer hat die internat. verbreiteten Parallelen der Erzählungen, Themen und Motive der V. ausführlich dokumentiert15. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (nach VS´): Rahmenerzählung ⫽ Edelsteine in Früchten (Mot. F 813.0.1); der Gegner wird dazu gebracht, sich selbst in die Position zu begeben, in der er den Protagonisten töten will (Mot. K 715). ⫺ num. 1 (VJ/VS/VK 1) ⫽ AaTh 516 A/ATU 861: Rendezvouz verschlafen. ⫺ 2 (VJ/VS/VK 2) ⫽ AaTh/ATU 653 B: cf. Die
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vier kunstreichen J Brüder. ⫺ 3 (VJ/VS/VK 3) (a) ⫽ cf. AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam; (b) ⫽ AaTh/ATU 1417: Die abgeschnittene J Nase. ⫺ 4 (VJ/VS/VK 4) ⫽ AaTh 949: The Faithful Servitor (cf. AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes). ⫺ 5 (VJ/ VK 6, VS 5) ⫽ AaTh/ATU 653: cf. Brüder: Die vier kunstreichen B. ⫺ 6 (VJ 8, VS 6, VK 7) ⫽ cf. AaTh/ ATU 774 A, 1169: J Köpfe vertauscht (4). ⫺ 7 (VJ/ VS/VK 9) ⫽ Tabu: Heirat außerhalb der eigenen Gruppe (Kaste) (Mot. C 162.3); cf. AaTh/ATU 921 A: J Focus: Teilung des Brotes oder Geldes. ⫺ 8 (VJ/ VS 7, VK 8) ⫽ AaTh/ATU 1889 H: cf. J Unterwasserwelt. ⫺ 9 (VJ/VS/VK 10) ⫽ AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung. ⫺ 10 (VJ/VS/VK 11) ⫽ Überempfindlichkeit hoher Damen (cf. AaTh/ATU 704: J Prinzessin auf der Erbse)16. ⫺ 11 (VS/VK 12) ⫽ Wunschbaum (Mot. F 162.3.2); cf. AaTh/ATU 1889 H. ⫺ 12 (VJ 12, VS/VK 13) ⫽ Von Vogel weggetragene Schlange läßt Gift in Milch tropfen und vergiftet die davon Trinkenden (Mot. N 332.3). ⫺ 13 (VS/VK 14) ⫽ AaTh 951 C/ATU 951 A: cf. J König und Räuber; Lachen und Weinen zur selben Zeit (Mot. F 1041.11). ⫺ 14 (VJ 13, VS/VK 15) ⫽ cf. Ting 881 B: Prince Disguised as a Girl; Geschlechtswechsel: Mann wird Frau; als Frau verkleideter Mann im Wohnbereich der Frauen (Mot. K 1321.1); als Frau Verkleideter von anderem Mann geheiratet (Mot. K 1321.3). ⫺ 15 (VJ 24, VS/VK 16) ⫽ Sage von Jı¯mu¯tava¯hana: Einem Ungeheuer werden periodische Opferungen dargebracht (Mot. S 262); Ersatzopfer (Mot. K 1853). ⫺ 16 (VJ 14, VS/VK 17) ⫽ Ohnmacht beim Anblick außergewöhnlicher Schönheit (Mot. T 24.2.3). ⫺ 17 (VJ 15, VS/VK 18) ⫽ durch Zauber erbaute Stadt (Mot. D 2178.1); Verlust der magischen Kräfte (Mot. D 1741). ⫺ 18 (VJ 16, VS/VK 19) ⫽ ausgesetztes Kind an fremdem Hof erzogen (Mot. S 354). ⫺ 19 (VJ 17, VS/VK 20) ⫽ Kind als Opfer für Dämon (Mot. S 273); Kind lacht bei seiner bevorstehenden Opferung (cf. Mot. S 261.1). ⫺ 20 (VJ 18, VS/VK 21) ⫽ Tod durch übergroße Freude (Mot. F 1041.1.5); Tod durch gebrochenes Herz (Mot. F 1041.1.1); Tod durch Liebesschmerz (Mot. T 81). ⫺ 21 (VJ 19, VS/VK 22) ⫽ vier Brüder beleben einen Löwen aus seinen Knochen wieder; dieser frißt sie auf (cf. AaTh/ATU 653 B). ⫺ 22 (VJ 20, VS/VK 23) ⫽ Asket überträgt seine Seele in den Leichnam eines früh verstorbenen Jünglings (J Seelenwanderung); Lachen und Weinen zur gleichen Zeit. ⫺ 23 (VJ/VK 5, VS 8) ⫽ AaTh/ATU 655: cf. Die scharfsinnigen J Brüder. ⫺ 24 (VJ 25, VS/VK 24) ⫽ Rätsel über ungewöhnliche Verwandtschaftsbeziehungen (Mot. H 795). 1
Winternitz, M.: Geschichte der ind. Litteratur 3. Lpz. 1920, 312⫺315. ⫺ 2 Shivadatta, M./Parab, K.: Brøhatkatha¯man˜jarı¯ of Ks´emendra. (Bombay 1931) Nachdr. Neu Delhi 1982, 287⫺385; Vetalapantschavinsati. Übers. H. Uhle. Mü. 1924, 11⫺129. ⫺ 3 Tawney, C. H.: The Ocean of Story 1⫺10. ed. N. Penzer. L. 21924⫺28, hier t. 6, 164⫺221; t. 7, 1⫺
183
Vexiermärchen
196; Uhle (wie not. 2) 133⫺186. ⫺ 4 Emeneau, M.: Ksøemendra as kavi. In: J. of the American Oriental Soc. 53 (1933) 124⫺143. ⫺ 5 Winternitz (wie not. 1) 331. ⫺ 6 Emeneau, M.: A Story of Vikrama’s Birth and Accession. In: J. of the American Oriental Soc. 55 (1935) 59⫺88, hier 59. ⫺ 7 id.: Jambhaladatta’s Version of the Veta¯lapan˜cavim ø s´ati. New Haven ø c¸atikaˆ in den 1934; Uhle, H.: Die Vetaˆlapan˜cavim Recensionen des C ¸ ivadaˆsa und eines Ungenannten. Lpz. 1881. ⫺ 8 Winternitz (wie not. 1) 332. ⫺ 9 Bloomfield, M.: On Recurring Psychic Motifs in Hindu Fiction, and the Laugh and Cry Motif. In: J. of the American Oriental Soc. 36 (1916) 54⫺89; id.: On the Art of Entering Another’s Body. A Hindu Fiction Motif. In: Proc. of the American Philosophical Soc. 56 (1917) 1⫺43; id.: On False Ascetics and Nuns in Hindu Fiction. In: J. of the American Oriental Soc. 44 (1924) 202⫺242; Brown, W. N.: Change of Sex as Hindu Story Motif. ibid. 47 (1927) 3⫺ 24. ⫺ 10 Bloomfield, M.: The Characters and Adventures of Mu¯ladeva. In: Proc. of the American Philosophical Soc. 52 (1913) 616⫺650. ⫺ 11 ø s´atika Francke, A. H.: Zur tibet. Veta¯lapan˜cavim (Siddhikür). In: ZDMG 77 (1923) 239⫺254; Riccardi, T.: A Nepali Version of the Veta¯lapan˜cavim øs´ati. New Haven 1971; Schlepp, W.: Cinderella in Tibet. In: Asian Folklore Studies 61 (2002) 123⫺ 147. ⫺ 12 Bosch, F. D. K.: De legende van Jı¯mu¯tava¯hana in de Sanskrit-litteratuur. Leiden 1914. ⫺ 13 Eggeling, J.: Catalogue of the Sanskrit Mss. in the Library of the India Office 2. L. 1887, 1564 sq. (Ms. 4096). ⫺ 14 Brown, N.: The Silence Wager Stories. In: American J. of Philology 43 (1922) 289⫺317, hier 295, 298; cf. Goldberg, C.: Dilemma Tales in the Tale-type Index. The Theme of Joint Efforts. In: J. of Folklore Research 34 (1997) 179⫺193. ⫺ 15 Tawney (wie not. 3) t. 6, 225⫺294; t. 7, 199⫺270. ⫺ 16 Shojaei Kawan, C.: The Princess on the Pea. Andersen, Grimm and the Orient. In: Fabula 46 (2005) 89⫺115, hier 92⫺94.
Vancouver
Adheesh Sathaye
Vexiermärchen. Die Bezeichnung V. (vexieren: veraltet für irreführen, quälen, necken) verwendet die volkskundliche Erzählforschung gelegentlich1 für Erzählungen, welche die Erwartung des Rezipienten gezielt enttäuschen2. Vor die Auflösung der eingangs aufgebauten Spannung rückt eine ins Endlose fortschreitende Aufzählung des immer Gleichen oder eine in anderer Weise unabschließbare Sequenz. Im lebendigen Performanzvorgang besteht die Funktion von V. für die Erzähler auch darin, anzuzeigen, daß sie nicht mehr weitererzählen wollen3. Im Sinne eines Schlußpunkts setzten ähnlich die Brüder J Grimm
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V. an das Ende des 1. und 2. Bandes der J Kinder- und Hausmärchen (KHM 86, AaTh/ ATU 227: J Fuchs und Gänse; KHM 200, AaTh/ATU 2260: The Golden Key). Hier sollen die V. aber auch die Lust auf weitere Märchen wecken. Als Synonym für den Begriff V. findet sich der Terminus Neckmärchen bzw. Neckerzählung4, z. B. im Zusammenhang mit KHM 2005. Der Begriff V. wurde zuerst von den Brüdern Grimm 1812 im Kommentar zu KHM 86 ⫺ allerdings ohne Erläuterung ⫺ eingeführt; dabei nannten sie Beispiele u. a. aus der ital. und span. Novellistik, der ma. frz. Kurzerzählung und aus dem dt. Sprachgebiet6. In dem Tierschwank erbitten Gänse vom Fuchs als letzte Gnade ein Gebet (AaTh/ATU 1199: J Gebet ohne Ende). Das Ende bleibt offen: „Und wenn sie [die Gänse] ausgebetet haben, so soll das Märchen weiter erzählt werden, sie beten aber alleweile noch immer fort.“ Als V. wurden mitunter auch Erzählungen wie AaTh/ ATU 2300: J Endlose Erzählung bezeichnet, in denen eine große Zahl von Schafen (Ziegen, Gänsen) in endloser Folge einzeln über eine Brücke geführt bzw. in einem kleinem Boot übergesetzt werden, wobei der Schluß ebenfalls offen bleibt7. Im Mittelpunkt stehen die Reaktion des Zuhörers und die Gegenreaktion des Erzählers; dabei wird ein komischer Effekt erzeugt, der bis hin zum virtuosen Spiel mit dem Verwechseln von Erzählzeit und erzählter Zeit gehen kann. Die ,vexierende‘ Wirkung solchen Erzählens wird in einem „Spiel mit einer Volkserzählung“8 auf diese Weise zum Gegenstand literar. Amüsements. Allg. zählen V. zu den formelhaften Erzählungen (J Kettenmärchen)9. Gemeinsames Merkmal ist das Fehlen märchenhafter Elemente10. Innerhalb der von A. J Taylor vorgenommenen Einteilung sog. Formelmärchen lassen sich V. zwei Unterkategorien zuordnen: einerseits den J Fragemärchen, die „das Kind zu einer bestimmten Frage […] verleiten, die dann eine witzige Antwort hervorruft“, andererseits den als Neckmärchen bezeichneten ,Märchen ohne Schluß‘11. Im internat. Typenkatalog finden sich V. innerhalb der Kategorien AaTh/ATU 2200⫺2299: Catch Tales sowie AaTh/ATU 2300⫺2399: Other Formula Tales.
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Vicente, Gil
Die Ursache für die klassifikatorische Uneindeutigkeit der Kategorie V.12 ist darin zu suchen, daß der Terminus V. bes. den Wirkungsaspekt des Erzählens betont, während die anderen Begriffe, die den Bereich der Formelmärchen untergliedern, eher auf strukturelle Merkmale abzielen. Deshalb sind V. nur schwer von Erzählformen abgrenzbar, die bei den Brüdern Grimm als Neckereien13 oder von M. J Lüthi als Abwimmelmärchen bzw. Neckspiel14 bezeichnet wurden. In anderer Weise als das V. spielt das Vexierlied, das vor allem dem Bereich des erotischen Volksliedes angehört15, mit den Erwartungen der Zuhörer. Hier löst ein Reimwort eine obszöne Reimassoziation aus, die sich dann nicht verwirklicht, weil ein harmloses, nicht reimendes Wort an ihre Stelle tritt. 1
z. B. Anderson, W.: Ein V. aus San Marino. In: ZfVk. 46 (1938) 15⫺21. ⫺ 2 Lüthi, M.: Cervantes’, Avellanedas und Mozarts Spiel mit einer Volkserzählung. In: id.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 147⫺161, 221⫺223, hier 152; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 407. ⫺ 3 Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1. P. 1974, 133⫺135. ⫺ 4 BP 3, 456; Taylor, A.: Formelmärchen. In: HDM 2 (1934⫺40) 154⫺191, hier 189; Uther (wie not. 2) 196. ⫺ 5 cf. EM 12, 86 sq.; Leyen, F. von der: Das dt. Märchen und die Brüder Grimm. MdW 1964, 359. ⫺ 6 Lüthi (wie not. 2) 152⫺158. ⫺ 7 KHM (1812) LVI sq.; BP 2, 209; Lüthi (wie not. 2). ⫺ 8 ibid., 147. ⫺ 9 Bødker, L.: Folk Literature (Germanic). Kop. 1965, 113 (ohne bibliogr. Angaben). ⫺ 10 HDM 2, 165. ⫺ 11 HDM 2, 189. ⫺ 12 HDM 2, 165. ⫺ 13 Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen 2. B. 21819, L. ⫺ 14 Lüthi (wie not. 2) 149. ⫺ 15 Brednich, R. W.: Erotisches Lied. In: id./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volksliedes 1. Mü. 1973, 609 sq.
München
Tobias Bulang
Vicente, Gil, *Guimara˜es (oder Lissabon) ca 1465, † Lissabon (oder E´vora) ca 1536, port. Dichter und Dramatiker. V. war als mestre da re´torica das representac¸o˜es verantwortlich für die Organisation der Feste am kgl. Hof, doch vor dieser Zeit ist sein Leben schwer faßbar1. Zwischen 1502, dem Jahr seiner ersten Produktion, und 1536 führte er seine Stücke hauptsächlich am Hof der port. Könige Manuel I. (1469⫺1521) und Johann III. (1502⫺
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57) auf 2, wobei es sich entweder um kgl. Auftragsarbeiten oder um Werke eigener Konzeption handelte. Das Korpus der Werke V.s besteht aus 50 Schauspielen, die sein Sohn Luı´s und seine Tochter Paula in der 1562 veröff. Copilac¸a˜o de Todalas Obras zusammenstellten3. Sie umfaßt vier Bücher: religiöse Werke, Tragikomödien, Komödien, Farcen sowie eine eklektische Slg vermischter Arbeiten, die u. a. Gelegenheitsgedichte, Klagelieder und Psalmenparaphrasen enthalten. V. schrieb in port. und span. Versen und verwendete oft beide Sprachen in demselben Schauspiel. Abgesehen von eigenen Schöpfungen griff V. für seine Stücke auf drei narrative Hauptquellen zurück: die religiöse (meist bibl.) Überlieferung, Ritterromane und Volkserzählungen. Beispiele für diese drei Qu.nbereiche sind: der Auto da Cananeia (1534), der die bibl. Erzählung vom kanaanä. Weib (Mk. 7,24⫺31; Mt. 15,21⫺28) dramatisiert; Don Duardos (1522), die Bearb. einer Episode des kastil. Ritterromans Primaleo´n (Salamanca 1512); und der Auto da I´ndia (1509), der Motive und Erzählmuster aus Schwank und Abenteuerroman kombiniert. Manchmal fallen die Qu.nbereiche zusammen, wie im Auto da Mofina Mendes (1534), einem Weihnachtsspiel, dessen erster, profaner Teil eine Adaptation von AaTh/ATU 1430: cf. J Luftschlösser enthält: Die Schäferin Mofina Mendes, die sich aufgeregt den aus dem Verkauf eines Topfs mit Olivenöl erwarteten Erlös ausmalt, tanzt achtlos dahin, bis der Topf auf den Boden fällt und zerbricht. Obwohl V. als Autorität bei seinen Zeitgenossen anerkannt war, die ihn oft als Schriftsteller und Dramatiker rühmten und seiner meisterhaften sprachlichen Gestaltung Lob zollten, erwuchs ihm daraus auch Neid. So wurde V. einmal des Plagiats bezichtigt. Zur Entkräftung der Vorwürfe erklärte er sich bereit, aus dem populären Sprichwort „Mais quero asno que me leve do que cavalo que me derrube“ ein eigenes Stück zu machen. Ergebnis war der Auto (oder Farsa) de Ineˆs Pereira (1523), die Geschichte einer jungen Frau, die gegen den Rat ihrer Mutter einen gutaussehenden und vornehmen Mann heiratet. Der Gatte erweist sich als Tyrann, der sie zu Hause wie eine Gefangene hält. Als er im Krieg umkommt, beschließt sie, sich erneut zu verheira-
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Viehmann, Katharina Dorothea ⫺ Vielfraß
ten, diesmal mit einem Bauern, der bereit ist, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Er geht dabei so weit, sie zum Stelldichein mit einem früheren Liebhaber zu tragen, zusätzlich beladen mit zwei schweren Steinen, die sie sich für ihr Heim wünscht (Cardigos *1424: Wife Has Husband Carry Her on His Back to Lover Where She Makes Fun of Husband). In dem Maispiel O Triunfo do Inverno (1529) veranschaulicht V. die lange und harte Winterzeit anhand einer kurzen Episode, in der eine alte Jungfer barfuß auf dem verschneiten Berg umherwandert, um einen Burschen als Ehemann zu gewinnen (AaTh/ATU 1479*: Die J Alte auf dem Dach). V. bearbeitete auch populäres Material aus der schriftl. Überlieferung4, so in seinem letzten Stück, Floresta de enganos (1536), die Szene, in der ein alter Richter sich in eine junge Magd verliebt; diese macht ihn lächerlich, indem sie es einrichtet, daß er, als alte Negerin verkleidet, Mehl für sie siebt (Mot. K 1214.1). Hierbei handelt es sich um eine Variation einer Erzählung aus den J Cent nouvelles Nouvelles (num. 17). 1
Braamcamp Freire, A.: Vida e obras de G. V., „trovador, mestre da balanc¸a“. (Porto 1919) Lissabon 2 1944; Vasconcelos, C. M. de: Notas Vicentinas. Lissabon 1949; Stathatos, C. C.: A G. V. Bibliogr. t. 1: 1940⫺1975. L. 1980; t. 2: 1975⫺1995. Bethlehem 1997; t. 3: 1995⫺2000. Kassel 2001; t. 4: 2000⫺2005. Kassel 2007. ⫺ 2 Wilpert, G. von: Lex. der Weltlit. Stg. 21975, 1683; Oliveira, J. de: G. V. nasceu em 1470. Arquitectura litera´ria para a biografia do ourives-poeta e criador do teatro portugueˆs. Lissabon 1975. ⫺ 3 V., G.: Copilac¸am de Todalas Obras. ed. ´ lvares. Lissabon 1562; id.: Copilac¸am de Todalas J. A Obras de G. V. ed. A. Lobato. Lissabon 1586; id.: Auto de Ineˆs Pereira […]. s. l. s. a. (Druck 16. Jh., Madrid, Bibl. Nacional de Espan˜a, Signatur R4.051); As Obras de G. V. 1⫺5. ed. J. Camo˜es. Lissa´ lvarez Bla´zquez, X. M.: G. V. e Galibon 2002. ⫺ 4 A cia. 1: O conto das du´as lousas. In: Grial 2 (1964) 235⫺39; Guerreiro, M. V.: G. V. e os motivos populares. Um conto na ,Farsa de Ineˆs Pereira‘. In: Revista lusitana 2 (1981) 31⫺60.
Lissabon
Jose´ Camo˜es
Viehmann, Katharina Dorothea J Kinderund Hausmärchen Vielfraß, Person, die mehr Nahrung zu sich nimmt, als sie zum Leben braucht. Nach
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christl. Lehre zählt die Völlerei (gula) zu den Todsünden (J Sünde). Übermäßige Nahrungsaufnahme wird in Erzählungen daher vielfach verurteilt. Im MA. warnen Exempla vor den verhängnisvollen Folgen der Völlerei: Eine Stimme aus dem Himmel ermahnt einen verfressenen Einsiedler, von seinem Laster abzulassen1; in einen anderen V. fährt der Teufel2. In nordeurop. ätiologischen Erzählungen weigert sich die Kuh (Pferd), Gott (dem hl. Petrus) zu Diensten zu ein, da sie gerade fresse; deshalb trifft sie der Fluch, auf immer fressen zu müssen (Mot. A 2231.1.1). Demgegenüber verkörpert der V. in Sagen, Märchen und Schwänken den Wunschtraum unzureichend ernährter Menschen (J Hunger, Hungersnot), sich einmal nach Herzenslust sattessen zu können (J Wunschdichtung). In MA. und früher Neuzeit stand dem alltäglichen Mangel sorgsam ersparter Überfluß an Speise und Trank zu festlichen Anlässen (Karneval, Familienfeiern) gegenüber3. Gästen, denen bei solchen Gelegenheiten das begrenzte Fassungsvermögen des eigenen Magens schmerzlich bewußt wurde, mag die Unersättlichkeit des V.es beneidenswert erschienen sein4. Kultur- und gattungsübergreifend kann ein V. Mensch, Tier oder Dämon sein; er vertilgt nicht nur Unmengen von J Speisen, sondern vermag auch lebende Tiere (AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein), Menschen (AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen)5 und sogar Steine6 zu verschlingen. Leicht zu erklären ist der übermäßige Appetit bei J Riesen (J Gargantua, J Paul Bunyan) oder Menschen, die über außergewöhnliche J Stärke verfügen (AaTh/ ATU 650 A: J Starker Hans). Auch Jonathan J Swifts Gulliver erscheint den Bewohnern von Lilliput als V. (J Proportionsphantasie). In ma. arab. Schwänken verspeist ein V., bevor er sich mit seinen Gästen zum Mahl setzt, schon 84 Lämmer7, ein anderer 80 Fische mit 80 Broten8, ein dritter seinen eigenen Esel9. Die Gedanken des V.es kreisen nur ums Essen10, und er läßt sich bei seiner Lieblingsbeschäftigung durch nichts und niemanden stören (cf. AaTh/ATU 2040: J Häufung des Schreckens)11. Im mongol. J Siddhi-Kür verzehrt ein gefräßiger Mann alles, was er bekommen kann (num. 17). Der Held eines serb. Märchens tut sich am Abendessen eines Dra-
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Vielfraß
chen ⫺ „zwei gebratene Ochsen, Brot aus zwei vollen Backöfen und zwei Eimer Wein“ ⫺ gütlich12. Der J Wolf im Keller (AaTh/ATU 41) frißt sich so voll, daß er den Raum nicht mehr durch das Loch verlassen kann, durch das er hereingekommen war. Nach menschlichem Maßstab ist das Verhalten des V.es, der sich mit Essen vollstopft, ohne zu fragen, ob für andere etwas übrigbleibt, oft extrem unhöflich (J Grobheit), was man ihn gelegentlich auch spüren läßt: In einem ma. arab. Schwank wird ein angeblich magenkranker V. gebeten, nach der Heilung nicht zurückzukommen (Mot. J 1468). In den J Cent nouvelles Nouvelles (num. 83) verspottet eine Kammerfrau einen verfressenen Mönch, der mit einer obszönen Anspielung kontert. Von einem Hausherrn, der einen V. ermuntert, auch Besteck, Teller und Möbel zu vertilgen, nachdem er alle aufgetragenen Speisen rasch heruntergeschlungen hat, wird in einem pers. Schwank berichtet13. Wer auf Fremde einen guten Eindruck machen will, sollte sich beim Essen zügeln. In Var.n von AaTh/ATU 1691: Der hungrige J Pfarrer warnt der Brautwerber einen Bräutigam14 bzw. eine Ehefrau ihren Mann15, bei seinen (zukünftigen) Schwiegereltern nicht so viel zu essen wie gewöhnlich; oder ein junger Mann16 (Bräutigam17, Mutter18) ermahnt seinen verfressenen Bruder (Sohn), ihn vor ihren Wirtsleuten (Eltern seiner Braut, Tante) nicht zu blamieren. Einmal fordert ein Ehemann seine Frau auf, sich im Wirtshaus beim Essen zurückzuhalten19. In AaTh/ATU 1373 A: cf. Die schwache J Esserin suchen Frauen ihre Heiratschancen zu erhöhen (ihren Ehemann zu beindrucken), indem sie vorgeben, stets nur sehr wenig zu essen, werden aber als Lügnerinnen entlarvt. In AaTh/ATU 1741: J Priesters Gäste verspeist die Frau (Köchin) den Braten und gibt vor, der Gast habe ihn gestohlen. Dagegen fällt einer Ehefrau (Magd) ein ansehnliches Erbe zu, weil sich ihr sterbender Mann (Dienstherr) in mehrdeutigen Worten über ihre Verfressenheit beklagt hat (AaTh/ ATU 1407 A: „Everything!“; J Testamentsschwänke, Kap. 3). In märchenhaften Erzählungen können die bes. Eigenschaften und Fähigkeiten des V.es freilich auch nützlich sein: Schon die antike Überlieferung nennt unter den J Argonauten,
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die J Jason helfen, in Kolchis das Goldene Vlies zu gewinnen, einen V. Auch in AaTh/ ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt und AaTh/ATU 513 B: J Schiff zu Wasser und zu Lande nimmt der Held häufig einen V. in seine Dienste, der die Aufgabe bewältigt, ungeheure Mengen Nahrung zu vertilgen (Mot. H 1141.1). In KHM 134, AaTh/ATU 513 A trinkt der ,Dicke‘ das Rote Meer aus (Mot. H 1142.2), damit der Ring der bösen Zauberin geborgen werden kann, verspeist 300 Ochsen „mit Haut und Haar, Knochen und Hörnern“ (Mot. H 1141.2) und trinkt 300 Fässer Wein dazu (Mot. H 1142.1); zuletzt spuckt er auf den Weg, so daß ein See entsteht, in dem die den Helden und seine Braut verfolgenden Soldaten ertrinken. Der V. wird häufig aufgefordert, seine Unersättlichkeit im Rahmen einer J Wette unter Beweis zu stellen. Der V. in einem arab. Schwank vermag selbst einen Elefanten im Freßwettstreit zu besiegen20. Ein Herr in Livland wettet, daß ,Dickwanst‘ einen riesengroßen Fisch auf einmal aufessen kann; obwohl dieser vorher schon einen Kübel Erbsen verspeist hat, schafft er es und ißt noch vier Kilo Heringe und drei Laib Brot hinterher21. Ein Wettstreit um Essen und/oder Trinken (AaTh/ ATU 1088: J Trinkwette) ist häufig Teil der Erzählungen vom J Wettstreit mit dem Unhold; hier allerdings wird der dumme V. von einem Trickster überlistet. V.e begegnen in den unterschiedlichsten Medien. In Bertolt Brechts Opernlibretto Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1929) frißt sich Jakob Schmidt, dessen hemmungslose Gier lächerlich, aber auch erschreckend ist, buchstäblich zu Tode. Die Protagonisten in Marco Ferreris Film La grande Bouffe (1973) wollen kollektiven Selbstmord begehen, indem sie sich systematisch überfressen. Eine Erzählung des neuseeländ. Schriftstellers Frank Sargeson (1903⫺82) handelt von einer Wette, die über einen V. abgeschlossen wird, ohne daß dieser davon weiß: Es wird bezweifelt, daß er an einem Tag ein halbes Kalb vertilgen könne. Der V. ißt das Kalb, lehnt jedoch einen Nachschlag mit der Begründung ab, er habe von einer Wette gehört, derzufolge er vor Sonnenuntergang noch ein ganzes Kalb essen solle22. In den Asterix-Comics (1959 sqq.) von Rene´ Goscinny und Albert Uderzo pflegt Obelix zu
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Vielgeburten ⫺ Vierzehn Nothelfer
jeder Mahlzeit mehrere Wildschweine zu verspeisen. Der stets hungrige Außerirdische ALF in der gleichnamigen amerik. Fernsehserie (1986⫺90) frißt ⫺ aus Unkenntnis, aber mit Genuß ⫺ Katzen, Insekten, Watte etc. Unstillbar ist auch der Appetit von Homer Simpson, einem der Protagonisten der amerik. Zeichentrickserie The Simpsons (1989 sqq.). Wettbewerbe und Weltrekordversuche (in der Hoffnung, Eingang ins Guinness-Buch der Rekorde zu finden) im Hot Dog-, Hamburgeroder Pfannkuchen-Essen finden regelmäßig Erwähnung in der Tagespresse. Im modernen Witz begegnet der V. vermutlich deshalb eher selten, weil ein gesteigertes Gesundheitsbewußtsein unbeschwertes (oder auch schadenfrohes) Lachen über Freßsucht und Fettleibigkeit kaum noch zuläßt; als Quelle von Komik dürfte der Diätwahn an deren Stelle getreten sein. 1 Tubach, num. 2303. ⫺ 2 Tubach, num. 2300. ⫺ 3 cf. Bakhtine, M.: L’Œuvre de Franc¸ois Rabelais et la ` ge et sous la Renaisculture populaire au Moyen A sance. P. 1970, 277⫺301. ⫺ 4 Stroescu, num. 4984, 4984 A (Popen bei Totenfeiern); cf. Haas, A.: Sagen und Erzählungen von den Inseln Usedom und Wollin. Stettin 1904, num. 251 (Bauern bei Hochzeit). ⫺ 5 Koch-Grünberg, T.: Geister aus Roroima. IndianerMythen, -Sagen und -Märchen aus Guyana. Kassel 1956, 123⫺125; Szabo´, L.: Kolalapp. Volksdichtung. Göttingen 1966, num. 19. ⫺ 6 z. B. Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 1. Glogau 1867, num. 160; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1146; Cheesman, T.: Gluttony Artists. Carnival, Enlightenment and Consumerism in Germany on the Threshold of Modernity. In: DVLG 66 (1992) 641⫺666.⫺ 7 cf. Marzolph, Arabia ridens 2, num. 762. ⫺ 8 ibid., num. 763. ⫺ 9 ibid., num. 765. ⫺ 10 ibid., num. 11, 12. ⫺ 11 ibid., num. 305. ⫺ 12 Leskien, A.: Balkanmärchen. MdW 1919, num. 24. ⫺ 13 Christensen, A.: Contes persans en langue populaire. Kop. 1918, num. 20. ⫺ 14 Knoop, O.: Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben, Gebräuche und Märchen aus dem östl. Hinterpommern. Posen 1885, num. 242; Cammann, A.: Turmberg-Geschichten. Ein Beitr. zur westpreuß. Landes- und Vk. Marburg 1980, 201; Jb. für ostdt. Vk. 18 (1975) 157. ⫺ 15 cf. u. a. Böhm, M.: Lett. Schwänke und verwandte Volksüberlieferungen. Reval 1911, num. 36. ⫺ 16 Hallgarten, P.: Rhodos. Die Märchen und Schwänke der Insel. Ffm. 1929, 154⫺ 158; Marichal, W.: Volkserzählgut und Volksglaube in der Gegend von Malmedy und Altsam. Würzburg 1942, 127⫺129. ⫺ 17 Andrade, M. J.: Folk-Lore from the Dominican Republic. N. Y. 1930, num. 7⫺ 9. ⫺ 18 Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 146. ⫺
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Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 1070. ⫺ 20 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 764. ⫺ 21 Böhm (wie not. 15) num. 1. ⫺ 22 Sargeson, F.: Shower. In: id.: Collected Stories 1935⫺1963. Auckland 1964, 252⫺254; cf. Brednich, R. W.: Neuseeland macht Spaß. B. 2003, 102⫺104.
Bamberg
Albert Gier
Vielgeburten J Mehrlingsgeburten
Vier J Zahl
Vierzehn Nothelfer, Gruppe einer doppelten J Siebenzahl von J Heiligen (J Helfer), die in bes. Nöten und Anliegen angerufen werden1. Frühe N.reihen sind dargestellt auf Fresken der Dominikaner- und Minoritenkirche in Regensburg (um 1320) sowie auf Glasfenstern im dortigen Dom (um 1360)2. Von Regensburg bzw. vom süddt. Raum, wo für die Mehrzahl der Heiligen der Reihe frühe Kultzeugnisse vorliegen ⫺ J. Dünninger spricht von „örtliche[r] Kultbefestigung“3 ⫺, dürfte die Verehrung der V. N. ausgegangen sein; ungeklärt bleibt die Frage eines angeblich 1284 für Krems in einer Ablaßurkunde genannten Altars der V. N., da die Urkunde nicht mehr auffindbar ist4. Weitere Zentren des Kults ebenfalls schon im 14. Jh. sind Nürnberg und die Diözesen Bamberg und Würzburg. Anfangs sind Zahl und Ausw. der N. variabel. Um 1400 nennen Gebete (Merkverse) in zwei Hss.5 die später kanonische Reihe in der seither üblichen Reihenfolge (aufgeführt hier mit Gedenktag und bes. Privileg [Zuständigkeit]): J Georg (23.4.; Kriegsgefahr), Blasius (3.2.; Halsleiden), J Erasmus (2.6.; Leibschmerzen), Pantaleon (27.7.; Kopfweh), J Vitus (15.6.; Epilepsie, ,Veitstanz‘), J Christophorus (24.7.; jäher Tod), Dionysius (9.10.; Gewissensangst), J Cyriakus (8.8.; Anfechtungen des bösen Feindes, Besessenheit), Achatius (22.6.; Trübsal und Kummer), Magnus (6.9.; Ungeziefer), Eustachius (J Placidas, 20.9.; Schicksalsschläge), Ägidius (1.9.; Verlassenheit), J Margarete (20.7.; Geburtsnöte), J Barbara (4.12.; Todesnot), J Katharina (25.11.; Lernschwierigkeiten).
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Vierzehn Nothelfer
Zu letzteren lautet ein baier. Merkvers: „Margareta mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm und Katharina mit dem Radl sind die drei heiligen Madl.“ Mit Hinzutreten von Dorothea erscheinen sie gelegentlich auch als die vier ,virgines capitales‘. Magnus ⫺ ehedem als Epitheton zum Heiligennamen verstanden ⫺ ist der 15. N., um den die Reihe erst im nachhinein, wohl unter dem Zwang der Zahlensymbolik, reduziert wurde6. Im altbaier. und Nürnberger Raum wurde Cyriakus bis etwa 1520 fast durchweg durch J Leonhard ersetzt. Oft finden sich in der Reihe auch J Nikolaus und Papst Sixtus, auch J Sebastian, vereinzelt J Oswald, Pankratius, Wolfgang, in der Diözese Augsburg vor allem Magnus. Entscheidend für den Aufschwung, die Festigung der Reihe und die weitere Verbreitung des V. N.-Kultes wurde seine Verortung in Frankenthal, dem späteren Vierzehnheiligen bei Staffelstein (Oberfranken). Dort hatte der Sohn des Klosterschäfers der Zisterzienserabtei Langheim in den Jahren 1445/46 wiederholt Erscheinungen7. In einer dritten Vision sah er das Jesuskind, umgeben von 14 Kindern, welches ihm den ,Kinderkranz‘ als die V. N. offenbarte, die am Erscheinungsort verehrt zu werden begehrten8. Das Kindergebet „Abends, wenn ich schlafen geh‘, vierzehn Engel bei mir steh’n …“ könnte in der Vision des Kinderkranzes, gesehen als Engelreigen, sein Vorbild haben9. Die entstehende J Wallfahrt von Vierzehnheiligen löste starke Kultwellen und zahlreiche Sproßwallfahrten vornehmlich im dt. Sprachgebiet und in angrenzenden Ländern aus10. Eine Vielzahl von Mirakelberichten ist in Vierzehnheiligen überliefert11. Wallfahrtslieder künden von den Erscheinungen und vom Ruhm der V. N.12 Die Verehrung gewann seither mit Meßformularen und Tagzeitengebet (Offizium) auch liturgische Form13. In Sagensammlungen fanden Berichte vom Verschwinden einer Geistererscheinung nach dem Verlöbnis und der Feier einer Messe zu Ehren der V. N. Eingang14; in der Wallfahrtskirche zu Enslingen wurden ,drei seltsame Heilige‘ wegen ihrer für die Bauern schwer verständlichen Namen vernachlässigt und einzig die V. N. auf ihrem Altar verehrt15. Eine Kapelle zu den V. N.n in Kaaden (Böhmen) verdankt ihre Erbauung der Sage, daß ein zum
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Tod durch den Strang verurteilter Verbrecher am Galgen hängen blieb, ohne zu sterben, weil er sich den V. N.n anempfohlen hatte16. An der Stelle einer Wallfahrtskapelle in Heiligen (Böhmen) soll ein großer Stein gelegen haben, auf dem zur Nachtzeit 14 kleine Lichter gesehen wurden, die man als Zeichen der V. N. deutete. Ein frevelhafter Ritter, der gegen die Lichter anritt, wurde von der Erde verschlungen; nur sein Helm und die Sporen blieben zurück und wurden später in der Kapelle aufbewahrt17. Einem Betrunkenen, der ein Pferd besteigen wollte und dabei die V. N. anrief, auf der anderen Seite jedoch wieder herunterfiel, wird die Bemerkung zugeschrieben, daß 14 der N. zu viele seien und sieben Helfer auch genügt hätten18. Anfänglich galten die V. N. insgesamt als Helfer in jeglicher Not und als Fürbitter zur Seligkeit (alter Bittruf: „Ihr 14 Heiligen groß bei Gott, o helfet uns in Not und Tod“)19. Die Legenden der meisten von ihnen erzählen, daß sie vor dem Martyrium (bis auf Ägidius sind alle J Märtyrer) die Zusicherung erhielten, ihre Bitten für ihre Verehrer würden erhört werden. Erst gegen Ende des 15. Jh.s kamen die bes. Privilegien dazu, abgeleitet zumeist aus der Vita bzw. Legende. Mit Ausnahme von Achatius sind die Legenden der V. N. in Der Heiligen Leben (Ende 14. Jh.)20 enthalten. In der J Legenda aurea fehlen Achatius, Erasmus und Eustachius; Barbara findet sich erst in der elsäss. Übers. 1 Wrede [, A.]: N. In: HDA 6 (1934⫺35) 1153⫺1155; Dünninger, J.: V. N. In: LCI 8 (1976) 546⫺550; Gerstl, D.: N. In: Bäumer, H. (ed.): Marienlex. 4. St. Ottilien 1992, 644⫺647; Wimmer, E.: N. In: Lex. des MA.s 6. Stg./Weimar 1993, 1283⫺1285; Guth, K.: N., V. In: TRE 24 (1994) 661⫺664; Kirchhoff, H.: N. In: LThK 7 (31998) 924 sq.; Schreiber, G.: Die V. N. in Volksfrömmigkeit und Sakralkultur. Innsbruck 1959; Pölnitz, S. von: Vierzehnheiligen. Weißenborn 1971; Termolen, R./Lutz, D.: Patrone in allen Lebenslagen. Lindenberg 2003; Campana, L.: Die 14 Hl.n N. Lauerz 22008; Fürst, H.: Die V. N., unsere Freunde. Ihre Verehrung von den Anfängen bis zum Dreißigjährigen Krieg. Petersberg 2008. ⫺ 2 Dünninger (wie not. 1) 547 sq. ⫺ 3 id.: Sprachliche Zeugnisse über den Kult der V. N. im 14. und 15. Jh. In: Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte. Festschr. M. Zender 1. Bonn 1972, 336⫺ 346, hier 337. ⫺ 4 cf. Pötzl, W.: Die Verehrung der V. N. vor 1400. In: Jb. für Vk. N. F. 25 (2000) 157⫺ 186, hier 161 mit not. 4; Fürst (wie not. 1) 16 sq. ⫺
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Vierzig ⫺ Vierzig Wesire
Dünninger (wie not. 3) 344 sq. ⫺ 6 cf. Pötzl (wie not. 4) 182 sq.; Fürst (wie not. 1) 60⫺62. ⫺ 7 Dünninger, J.: Die Wallfahrtslegende von Vierzehnheiligen. In: Festschr. W. Stammler. B. 1953, 192⫺205; Guth, K.: Vierzehnheiligen und die Anfänge der N.verehrung. In: Staffelstein. Die Geschichte einer Stadt. Staffelstein 1980, 233⫺252, bes. 240⫺247; Geldner, F.: N.verehrung vor, neben und gegen Vierzehnheiligen. In: Ber.e des Hist. Vereins Bamberg 89 (1948/49) 36⫺47; Ruderich, P.: Die Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt zu Vierzehnheiligen. Bamberg 2000, bes. 19⫺48. ⫺ 8 Dünninger (wie not. 7) 197⫺ 201 (,Rastsage‘). ⫺ 9 cf. Reuschel, K.: Ein altes Kindergebet und seine Entstehung. In: Euphorion 9 (1902) 273⫺280. ⫺ 10 Lutz, D.: Wallfahrt nach Vierzehnheiligen. Staffelstein 1989 (Kultverbreitung heute); cf. Termolen/Lutz (wie not. 1) 185⫺205 (Verbreitung der Darstellungen). ⫺ 11 Harmening, D.: Fränk. Mirakelbücher. In: Würzburger Diözesangeschichtsbll. 28 (1966) 25⫺240, hier 158⫺163. ⫺ 12 Ditfurth, F. W.: Fränk. Volkslieder 1. Lpz. 1855, num. 78⫺86. ⫺ 13 Fürst (wie not. 1) 237⫺242; Termolen/Lutz (wie not. 1). ⫺ 14 Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes. (Luxemburg 1883) Nachdr. Esch-Alzette 1963, num. 355. ⫺ 15 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. Meersburg/ Lpz. 1930, num. 882. ⫺ 16 Reinsberg-Düringsfeld, O.: Fest-Kalender aus Böhmen. Prag 1864, 376. ⫺ 17 ibid., 376 sq. ⫺ 18 EM 5, 797. ⫺ 19 Fürst (wie not. 1) 246 sq. ⫺ 20 Kunze, K.: Der Hl.n Leben. In: Verflex. 3 (1981) 617⫺625. 5
Würzburg
Erich Wimmer
Vierzig J Zahl
Vierzig Wesire. H ø ika¯yet-i Qırq Vezı¯r (Erzählung von den 40 Wesiren) ist die gängige Bezeichnung einer auch unter anderen Titeln bekannten türk. Geschichtensammlung, deren Rahmenerzählung dem Modell des pers. Sindba¯d-na¯me (J Sieben weise Meister) folgt1. Das Werk gibt sich toposhaft als Übers. bzw. Adaptation eines verschollenen arab. oder pers. Werks mit dem arab. Titel Arba¤ ¯ın søaba¯hø wa-masa¯Å (40 Morgen und Abende) aus. Es ist möglicherweise bereits im 14. Jh. entstanden; das älteste datierte Ms. stammt aus dem Jahr 1446. Bislang sind 72 Mss. mit z. T. variierendem Inhalt bekannt2; eine kritische Edition liegt nicht vor. Als Übersetzer bzw. Autor des Werks wird in den Mss. teils Sˇeyh˚ -za¯de, teils Ahø med-i Mısørı¯ genannt, wobei die Sˇeyh˚ -za¯de-Redak-
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tion eine Erzählung über Sultan Mahø mu¯d von ˙ azna vorschaltet. Die sprachlichen bzw. stiliG stischen Differenzen beider Redaktionen werden als unterschiedlich gravierend eingeschätzt3. Möglicherweise geht der in der osman. Lit.geschichte ansonsten unbekannte Name Ahø med-i Mısørı¯ auf einen Kopistenfehler zurück: Aus dem in der Sˇeyh˚ -za¯de-Redaktion gelegentlich als Adressat angeführten ,Herrscher der Zeit‘ (türk.: sultøa¯n-ı ¤asør) könnte aufgrund eines Schreibfehlers der ,Herrscher von Ägypten‘ (sultøa¯n-ı Mısør) und in Anlehnung hieran der fiktive Ahø med-i Mısørı¯ (der Ägypter Ahø med) geworden sein. Sˇeyh˚ -za¯de ist wahrscheinlich zu identifizieren als Sˇeyh˚ og˙lı Sø adr ud-Dı¯n Musøtøafa¯ (geb. ca 1340)4, der u. a. bekannte pers. Werke ins Türkische übersetzt hat, so das Marzba¯n-na¯me (Buch des Marzba¯n) des Sa¤d-e Vara¯vı¯nı¯ und das Qa¯bu¯s-na¯me (Buch des Qa¯bu¯s) des ¤Onsøor al-Ma¤a¯lı¯ Kei-Ka¯Åu¯s. Die von ihm verfaßte (oder übersetzte) Slg V. W. ist möglicherweise nach seinem Tod von einem anderen Literaten sprachlich modifiziert und dem Sultan Murad II. (1421⫺51) dargereicht worden, wobei der Beiname Sˇeyh˚ og˙lı in iranisierter Form als Sˇeyh˚ -za¯de erwähnt wurde. Nach M. Götz wirkte Sˇeyh˚ -za¯de zur Zeit dieses Sultans5. Die unterschiedlichen Fassungen der V. W. enthalten zusammen weit mehr als 100 Einzelerzählungen6. Die ältesten Mss. bringen nach Einl. und Rahmenerzählung insgesamt 82 Geschichten. Einführung: Damit man sich an ihn erinnere, wird Sultan Mahø mu¯d geraten, als Mäzen ein Buch in Auftrag zu geben. Der hiermit beauftragte J Firdausı¯ verfaßt das Sˇa¯h-na¯me (Buch der Könige). Beginn der Rahmenerzählung: Die junge zweite Ehefrau des Herrschers von Persien verliebt sich in ihren Stiefsohn. An der Konstellation der Sterne erkennt der Erzieher des Prinzen, daß die bevorstehende Zeit für diesen ungünstig verlaufen werde. Er rät ihm, 40 Tage lang nicht zu sprechen, und versteckt sich. Als die J Stiefmutter versucht, den Prinzen zu verführen (J Verführung), verwahrt jener sich, worauf sie ihn der versuchten J Vergewaltigung beschuldigt (cf. J Joseph: Der keusche J. ). Der erzürnte Herrscher befiehlt, seinen Sohn umgehend hinzurichten. Hauptteil: Nacheinander erzählen nun jeweils einer der 40 Wesire und die Königin Geschichten. Während die Erzählungen der Wesire meist von der Tücke der Frauen handeln und für einen Aufschub der J Hinrichtung argumentieren, erzählt die Köni-
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Vierzig Wesire
gin von ungeratenen Söhnen, Usurpatoren und (hinter)listigen Wesiren, um eine möglichst rasche Hinrichtung zu erreichen. Schluß der Rahmenerzählung: Als nach Ablauf der 40 Tage die Konstellation der Sterne wieder günstig für den Prinzen ist, gestattet der Lehrer ihm, seine Sicht der Geschehnisse zu erzählen. Die verleumderische Frau wird am Schwanz eines Esels zu Tode geschleift.
Die große Zahl der erhaltenen Mss. und der Drucke spricht für eine hohe Wertschätzung ˇ elebi, der seinen Reisebedes Buchs. Evliya C richt gegen Ende des 17. Jh.s verfaßte, erwähnt die Slg bei seiner Darstellung eines Qırq Vezı¯r genannten Heiligengrabs in Damaskus7. Noch in spätosman. Zeit wurden einzelne Geschichten der Slg von professionellen Geschichtenerzählern vorgetragen8. Der erste (Teil-)Druck der Slg erschien 1812. Er enthält die Einführungs- und Rahmenerzählungen sowie je 20 Erzählungen der Wesire und der Königin9. Während hier die archaische frühosman. Sprache nicht modifiziert wurde, ist der Text in den in Istanbul und Ägypten angefertigten Drucken vom Ende des 19./Anfang des 20. Jh.s (8 Drucke seit 1280/ 1863⫺64) sprachlich modernisiert. Die einzige lateinschriftl. Ausg. ist sprachlich und inhaltlich stark umgeformt; sie enthält außer der Rahmenerzählung je 32 Erzählungen der Wesire und der Königin10. Eine erste frz. (Teil-)Übers. ⫺ gelegentlich fälschlich A. J Galland zugeschrieben11 ⫺ wurde 1707 von F. Pe´tis de la Croix vorgelegt12 und bereits 1708 ins Englische übertragen13. Einige der darin enthaltenen Erzählungen fanden Anfang des 19. Jh.s Eingang in erw. Ausg.n der großen oriental. Erzählsammlungen, so in die J Tausendundeine NachtAusg.n von E´. Gauttier (P. 1822/23) und G. Weil (Stg./Pforzheim 1838⫺41)14 oder die J Tausendundein Tag-Ausg. von F. H. von der J Hagen (1827⫺32). Auch die erste dt. Übers. der V. W. wurde nach dem Französischen angefertigt15. Heute maßgeblich sind die Übers.en von A. W. F. Behrnauer (dt.)16 und E. J. W. Gibb (engl.)17. Während Behrnauer nur die 82 Erzählungen des Dresdner Ms.s übersetzte, legte Gibb einen nicht datierten Istanbuler Druck zugrunde, dem er Material aus anderen Qu.n hinzugefügte (insgesamt 112 Erzählungen). Wahrscheinlich nach einem osman.
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Druck wurden die V. W. von Qayyu¯m Nasøirı¯ ins Kasan-Tatarische übersetzt (gedr. 1868)18. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.)19: num. 94 ⫽ AaTh/ATU 681: J Relativität der Zeit20. ⫺ 95 ⫽ cf. AaTh/ATU 838: J Sohn am Galgen. ⫺ 96 ⫽ AaTh/ATU 1422: cf. J Ehebruch verraten. ⫺ 97 ⫽ Arzt erkennt an der Hautfarbe des Prinzen, daß er außerehelich gezeugt ist (Mot. J 1661.1; cf. J Scharfsinnsproben). ⫺ 98 ⫽ König wählt Nachfolger, indem er seine drei Söhne probeweise regieren läßt21; bei Amtsniederlegung läßt der König die Beerdigungsriten für sich vollziehen (Mot. P 16.1.1). ⫺ ¯ gˇ (cf. J Achilles100 ⫽ J Moses tötet den Riesen ¤U ferse). ⫺ 101 ⫽ Trickster erbittet lange Frist für unmögliche Aufgabe, den Heiligen J Chadir zu holen (Mot. M 291); Berater sprechen Urteile auf der Grundlage ihrer beruflichen Ausbildung (Marzolph *1641 E)22. ⫺ 103 ⫽ Gieriger Zauberlehrling will Meister umbringen; dieser durchschaut ihn und läßt ihn töten. ⫺ 104 ⫽ AaTh/ATU 612: cf. Die drei J Schlangenblätter. ⫺ 104bis ⫽ cf. AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn. ⫺ 105 ⫽ Sohn eines Räubers wird am Königshof erzogen; dennoch setzen sich später die durch seine Herkunft bedingten Anlagen durch (cf. AaTh/ATU 217: J Katze und Kerze). ⫺ 107 ⫽ Verliebter Spatz prahlt vor der Spätzin, er wolle den Palast des J Salomo zerstören23. ⫺ 108 ⫽ Auf dem Höhepunkt seiner Macht fällt der Wesir in Ungnade; als sein Unglück kaum noch schlimmer sein kann (im Gefängnis läuft ihm eine Maus über sein Essen), merkt er, daß bald eine Besserung eintreten wird24. ⫺ 110 ⫽ AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung. ⫺ 112 ⫽ AaTh 924 A⫺B/ATU 924: J Zeichendisput. ⫺ 113 ⫽ Hund beißt Menschen, der ihn gepflegt hat, weil es seiner Natur entspricht25. ⫺ 117 ⫽ König befiehlt aus einer Laune heraus, den von ihm geliebten Sohn des Wesirs zu töten; als er wieder nüchtern ist, ist er froh, daß sein Befehl nicht ausgeführt wurde26. ⫺ 118 ⫽ cf. AaTh/ATU 839: Die drei J Sünden des Eremiten. ⫺ 119 ⫽ Angebliches Gespräch der Eulen belehrt Tyrannen (Mot. J 816.1; J Vogelsprache). ⫺ 120 ⫽ AaTh/ATU 1620: J Kaisers neue Kleider. ⫺ 122 ⫽ Charaktereigenschaften der Söhne entsprechen dem Fleisch des Tiers (Hammel, Pferd, Maultier), das ihr Vater vor der Zeugung gegessen hat. ⫺ 124 ⫽ AaTh/ATU 1351: J Schweigewette. ⫺ 126 ⫽ J Luqma¯n überlebt jahrelange Gefangenschaft durch Zauberpille (Mot. D 1652.1.8.). König soll durch J Blut (Kap. 3.2) seines eigenen Sohnes geheilt werden; er gesundet aus Freude darüber, daß sein Sohn noch am Leben ist (Mot. K 1889.2). ⫺ 129 ⫽ cf. AaTh/ATU 50 A: Fußspuren vor der J Löwenhöhle. ⫺ 131 ⫽ cf. J Adam und Eva. ⫺ 132 ⫽ Junger Mann verstümmelt sich selbst, um den Nachstellungen einer Frau zu entgehen (Mot. K 521.2.2, K 541; cf. AaTh/ATU 706 B: Die keusche J Nonne). ⫺ 136 ⫽ AaTh/ATU 910: cf. Die klugen J Ratschläge. ⫺ 138 ⫽ cf. AaTh/ATU 1215: J Asinus vulgi. ⫺ 139 ⫽ AaTh/ATU 910 C: J Barbier des Kö-
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Vietnam
nigs. ⫺ 140 ⫽ Durch Zwiebel verursachte Tränen für Zeichen von Trauer gehalten. ⫺ 141 ⫽ Umfangreiche Bibl. des Königs von Indien wird auf vier Maximen reduziert. ⫺ 145 A, C ⫽ AaTh/ATU 930: J Uriasbrief. ⫺ 145 B ⫽ Verleumdung: Favorit meidet Nähe zum König wegen dessen übelriechenden Atems (Lepra; Mot. K 2135; cf. AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer [Kalkofen]). ⫺ 146 ⫽ cf. AaTh/ATU 910 D: J Schatz hinter dem Nagel. ⫺ 147 ⫽ AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler. ⫺ 148 ⫽ Frau hat zwei Ehemänner, die sich aufgrund unterschiedlicher Arbeitszeiten zunächst nicht begegnen (Mot. T 482). ⫺ 149 ⫽ Gutschein für sechs Ladungen Schnee im Sommer eingelöst (Mot. K 1661). ⫺ 154 ⫽ AaTh/ATU 1164: J Belfagor. ⫺ 157 ⫽ König darf nicht lachen, während Avicenna die Mäuse durch eine Trauerprozession aus der Stadt führt (cf. ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln). ⫺ 159 ⫽ AaTh/ATU 1423: Der verzauberte J Birnbaum. ⫺ 161 ⫽ Streit um Kleinigkeit (hier: Preis der Ziege) führt zum Krieg (cf. AaTh/ATU 2036: A Drop of Honey Causes Chain of Accidents). ⫺ 162 ⫽ cf. AaTh/ATU 678: J Seelentier. ⫺ 163 ⫽ Kurtisane fordert Geld für Besuch im Traum (AaTh/ATU 1804 A: cf. J Scheinbuße). ⫺ 170 ⫽ Ehebrecherin ißt vom Hundeteller (Mot. Q 478.2). ⫺ 176 ⫽ cf. Adam und Eva. ⫺ 178 ⫽ Sklave vergiftet Herrn, der seinen Sohn getötet hat (cf. ATU 844*: J Rache des Kastrierten). ⫺ 179 ⫽ Arche J Noah. 1 Kızıltan, M.: Kırk Vezir Hikaˆyeleri (Die Erzählungen der V. W.). Diss. (masch.) Istanbul 1991. ⫺ 2 Duda, H. W.: Die Sprache der Qyrq-Vezir-Erzählungen 1. Lpz. 1930, 13⫺28; Götz, M.: Verz. der oriental. Hss. in Deutschland. 13,4: Türk. Hss. Wiesbaden 1979, 480 sq.; Kavruk, H.: Eski Türk Edebiyatında Mensur Hikaˆyeler (Prosaerzählungen in der alten türk. Lit.). Istanbul 1998, 109⫺116; Kızıltan, M.: Kırk Vezir (V. W. ). In: Diyanet I˙slam Ansiklopedisi 25. Ankara 2002, 474 sq. ⫺ 3 Duda und Kavruk (wie not. 2). ⫺ 4 Burrill, K.: S heyk h-og hlu. In: EI2 9 (1997) 418 sq.; cf. auch ead.: S heyk h-za¯de. ibid., 419. ⫺ 5 Götz (wie not. 2). ⫺ 6 Kavruk (wie not. 2) 116 (aufgrund von 10 Mss. in türk. Bibl.en). ⫺ 7 Evliya C ¸ elebi Seyahatnamesi (Der Reiseber. des Evliya C ¸ elebi) 9. ed. R. Dankoff u. a. Istanbul 2007, 285. ⫺ 8 Nutku, Ö.: Meddahlar ve Meddah Hikaˆyeleri (Professionelle Erzähler und ihre Geschichten). Ankara 1977, 91. ⫺ 9 Belleteˆte, M.: Contes turcs en langue turque, extraits du roman intitule´ „Les quarante Vizirs“. P. 1812 (nach einem Ms. der Bibl. Nationale in Paris). ⫺ 10 Hafızog˘lu, T.: Kırk Vezir Hikayeleri (Die Erzählungen der V. W.). Istanbul 2004 (anscheinend nach dem Druck von 1885). ⫺ 11 cf. Chauvin 8, 19 sq. ⫺ 12 Chauvin 8, 19, num. *54 A.*; Histoire de la sultane de Perse, et des visirs. Contes turcs. Composez en langue turque par Che´c Zade´. Übers. F. Pe´tis de la Croix. P. 1707; Pe´tis de la Croix: Histoire de la sultane de Perse et des vizirs
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[…]. ed. R. Robert. P. 2006, 13⫺209, 1273⫺1282 (Resümees). ⫺ 13 Chauvin 8, 20, num. *57 A.*; Turkish Tales, Consisting of Several Extraordinary Adventures; with the History of the Sultaness of Persia, and the Viziers. L. 1708. ⫺ 14 Marzolph/van Leeuwen 1, 187 sq., num. 434. ⫺ 15 Chauvin 8, 20 (not. 1); Historie der Sultanin aus Persien und Ihrer Veziere, Oder angenehme Türck. Historien. Lpz. (1717) 21738; cf. Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 35. ⫺ 16 Behrnauer, A. W. F.: Die Vierzig Veziere oder weisen Meister. Ein altmorgenländ. Sittenroman. Lpz. 1851. ⫺ 17 Gibb, E. J. W.: The History of the Forty Vezirs or the Story of the Forty Morns and Eves Written in Turkish by Sheykh-Zada. L. 1886. ⫺ 18 C ¸ agatay, S.: Abd-ülKayyum Nasırıˆ. In: Dil ve Tarih-Cog˘rafya Fakültesi Dergisi 10 (1952) 147⫺160, hier 148; cf. allg. Lemercier-Quelquejay, C.: Abdul Kayum al-Nasyri. A Tatar Reformer of the 19th Century. In: Central Asian Survey 1,4 (1983) 109⫺132. ⫺ 19 Nach Chauvin 8, 112⫺167. ⫺ 20 cf. Nöldeke, T.: Das arab. Märchen vom Doctor und Garkoch. B. 1891, bes. 6 sq.; Gramlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Wiesbaden 1987, 282 sq.; Tietze, A.: ¤Azı¯z Efendis Muhayyelat. In: Oriens 1 (1948) 248⫺329, hier 267 sq. (not. 27). ⫺ 21 cf. Taylor, A.: „What Bird Would You Choose to Be?“ ⫺ a Medieval Tale. In: Fabula 7 (1964⫺65) 97⫺114, hier 99 sq. ⫺ 22 cf. ibid., 99. ⫺ 23 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1164. ⫺ 24 Marzolph/van Leeuwen 1, 440 sq., num. 391. ⫺ 25 cf. Marzolph, Arabia ridens 2, num. 96. ⫺ 26 cf. Chauvin 2, 103 sq., num. 65.
Ankara
Semih Tezcan
Vietnam. Das im östl. Südostasien gelegene V. grenzt an J China, Laos (J Laoten) und J Kambodscha. Bis zum Ende der chin. TangDynastie war das Siedlungsgebiet der Vietnamesen (Vieˆt bzw. Kinh) etwa ein Jahrtausend lang (207 v. u. Z.⫺938 n. u. Z.) in das chin. Reich eingegliedert. Lange Zeit regierten wechselnde Dynastien einheimischer Herrscher das Land, bis es im 19. Jh. frz. Kolonie wurde (Südvietnam: 1859; Nord- und Mittelvietnam: 1885). Mit der auf den Indochinakrieg (1946⫺54) folgenden Unabhängigkeit (1954) wurde das Land in das kommunistische Nordvietnam und das prowestliche Südvietnam geteilt. Nach dem unter maßgeblicher Beteiligung der USA geführten V.krieg (1964⫺ 73) sind die beiden Landesteile seit 1976 als Sozialistische Republik V. vereint. Die Vieˆt bilden die Mehrheitsbevölkerung des Landes (ca 85 %). Das Vietnamesische ge-
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Vietnam
hört zur Familie der austroasiat. Sprachen, ist jedoch stark vom Chinesischen beeinflußt, wie überhaupt das kulturelle Beispiel Chinas für die vietnam. Kultur prägend war. Dieser Einfluß findet sich sowohl in der sog. Hoch- als auch in der Volksliteratur. Seit der Wende zum 20. Jh. erreichte zudem der Einfluß frz. geprägter westl. Bildung größere Schichten der Bevölkerung. Die volkstümliche Überlieferung V.s zeugt darüber hinaus von interkulturellen Beziehungen zu den benachbarten Völkern1. Chin. Einfluß findet sich in Inhalt, Form und Motivik der Volksdichtung. Motive sind manchmal unverändert übernommen, meist jedoch in veränderter Anordnung aus verschiedenen chin. Vorlagen neu kombiniert worden. Auch die ethisch-moralische Grundhaltung vieler Geschichten zeugt von einer chin. Prägung, bes. dem Einfluß des Mahayana-Buddhismus (J Buddhist. Erzählgut), des Konfuzianismus und des Taoismus (J Taoist. Erzählgut). Formale Aspekte der Märchen, so etwa die Formulierung der Moral einer Geschichte in Versform oder die Einfügung von Versen in den Text, gehen gleichfalls auf chin. Vorbild zurück. Ein typisches Genre ist das sino-vietnam. oder vietnam. Sprichwortmärchen, in dem eine Redewendung oder ein Sprichwort durch ein Märchen erklärt wird. Die Gattungsterminologie der westl. Erzählforschung ist nur bedingt auf die vietnam. Überlieferung zu übertragen. Wenngleich man versucht hat, den Gattungsbegriff Märchen (truyeˆn coˆ tich) von dem allgemeineren Begriff ,alte Volkserzählung‘ (truyeˆn coˆ daˆn gian) abzugrenzen, können letztlich viele vietnam. Erzählungen sowohl als Märchen wie auch als Sagen oder Legenden betrachtet werden2. Allg. enthalten die heute überlieferten vietnam. Märchen magische oder wunderbare Elemente nur in stark eingeschränkter bzw. reduzierter Form; viele Erzählungen wurden mit der Zielvorstellung einer Spiegelung realer Verhältnisse gestrafft. Die Rezeptionsgeschichte zeigt, daß enge Wechselbeziehungen zwischen der sog. Hochund der Volksliteratur bestanden. Konfuzian. Gelehrte haben in V. seit dem 10. Jh. Volkserzählungen gesammelt und schriftl. niedergelegt. Diese (nur selten erhaltenen) Lesestoffe wurden einerseits Vorlage für weitere schriftl.
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Bearb.en, flossen andererseits aber auch (wieder) in die mündl. Erzähltradition ein. Zu den frühen Werken, die Geschichten aus der vietnam. Überlieferung enthalten, gehören das 1329 fertiggestellte Vieˆt Íieˆn U Linh (Geheimnisvolle Mächte im Land der Vieˆt) von Ly Teˆ Xuyeˆn3 sowie die von unterschiedlichen, mehr oder weniger umstrittenen Verf.n des 15.⫺ 18. Jh.s kompilierte Slg Linh Nam Chich Quai (Wunder, aufgesammelt in Lingnan)4. Beide Werke enthalten Kurzgeschichten in klassischem Chinesisch, die mythische Ereignisse bzw. Helden oder Orte im Gebiet des heutigen Nord- und Mittelvietnam behandeln. Unter den Erzählungen von übernatürlichen Ereignissen sind auch Texte, die als Zaubermärchen aufgefaßt werden können. Weitere wichtige Quellen für die vietnam. Autoren des MA.s waren die Werke chin. Historiographen sowie Regionalchroniken, die heute teilweise nicht mehr erhalten sind. Reale hist. Ereignisse wurden in ihren Erzählungen mit Details ausgeschmückt und im Hinblick auf die Abgrenzung des Reichs der Vieˆt vom Reich der Mitte akzentuiert. Allg. besteht ein Zusammenhang zwischen der Abfassung offizieller Annalen zum Zweck der dynastischen Legitimierung und der Sammlung von Geschichten über Nationalhelden zur offiziell sanktionierten rituellen Verehrung5. Im 19. Jh. begannen frz. Kolonialbeamte und Wissenschaftler, vor allem A. Landes6, mit Hilfe einheimischer Gelehrter und Dolmetscher Märchen der Vieˆt und in V. ansässiger ethnischer Minoritäten (etwa der Cham) nach westl. wiss. Gesichtspunkten aufzuzeichnen. Ihre Arbeiten bildeten den Grundstock für spätere umfassende Slgen aus V. Die bisher umfangreichste und systematischste Darstellung der Märchen der Vieˆt ist das Werk von Nguyeˆn Íoˆng Chi (1915⫺84), der 200 charakteristische Märchen in mehr als 1000 Var.n zusammengetragen hat; neben lokalen vietnam. Var.n verweist er auch auf Erzählungen benachbarter Völker (Laoten, Khmer und Burmesen [J Birma]) sowie ethnischer Minoritäten in V.7 Bes. für die Gattung der ,wundersamen Geschichten‘ (vietnam. truyeˆn ky, chin. chuanqi) spielen direkte Entlehnungen aus der chin. Prosaliteratur eine Rolle. Die chin. Novellensammlungen bzw. einzelne ihrer Geschichten
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Vietnam
zirkulierten in V. sowohl im chin. Orig. als auch in Übers.en in die alte vietnam. Schriftsprache (Noˆm) sowie in vietnam. Adaptationen oder Nachahmungen in Chinesisch oder Noˆm, wobei nicht selten die Handlung oder einzelne Motive aus China nach V. verlegt wurden. Auch chin. Prosaromane, wie z. B. Xiyouji (Die Reise nach Westen) von Wu Cheng’en (ca 1500⫺82)8, dienten als Vermittlungsinstanz von Erzählstoffen. So kennen vietnam. Märchen den Affenkönig, den Kampf ˆ ng But) mit den Teufeln oder des J Buddha (O seinen Sieg über den Riesen Pham Nhi, den Störenfried am himmlischen Hof des Jadekaisers, der zur Strafe in einen Tiger verwandelt und auf die Erde verbannt wird9. Noch häufiger ist die Vereinfachung chin. Märchen oder die Kombination von Märchenmotiven unterschiedlicher Herkunft. Das berühmte vietnam. Märchen von Thach Sanh verknüpft aus unterschiedlichen Zaubermärchen bekannte Motive miteinander (starker Knabe, Sohn nach langer Kinderlosigkeit der Eltern geboren, unerschöpfliche Reisschalen, Menschenopfer für ein Ungeheuer, Sieg des Helden über das Ungeheuer und Heirat mit der Prinzessin; cf. AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter) und betont konfuzian. Tugenden (Pietät, Gatten- und Freundestreue, Verachtung des Handelsstandes)10. Der ,Wasserkönig‘ (bzw. sein Sohn) ist eine lokale Var. des chin. Drachenkönigs, der in der vietnam. Mythologie vor allem im Delta des Roten Flusses eine bes. Bedeutung als lokale Schutzgottheit hat; hiermit vergleichbare Motive finden sich auch bei den ethnischen Minoriäten im Norden V.s11. Der Jadekaiser tritt bei den Vieˆt als himmlischer Richter auf, oft jedoch in einer furchteinflößenden oder zerstörerischen Rolle12. Buddha erscheint durchweg als übernatürlicher Helfer und guter Geist in Gestalt eines alten Mannes mit weißem Haar, weißen Brauen, roten Wangen und einem weißen Bart13. Außer von Werken der chin. Lit. ist das Erzählgut V.s z. T. auch von der ind. Überlieferung geprägt, so etwa dem J Pan˜catantra, dem J Ra¯ma¯yanø a oder den J Ja¯takas. Ein derartiger Einfluß ist sowohl denkbar über China als auch auf direktem Weg aus Indien (z. B. durch ind. Mönche und Händler) oder über die indisierten Völker der Cham und
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Khmer, die auf dem allmählichen Vormarsch der Vieˆt nach Süden seit dem 10. Jh. integriert und z. T. auch assimiliert wurden14. Vietnam. Tiermärchen, bes. die sog. Hasenmärchen, weisen zahlreiche Übereinstimmungen mit ähnlichen Märchen anderer ost- und südostasiat. Erzähltraditionen auf. Ihr Held ist schlau und gerissen sowie spöttisch bis zur Bösartigkeit; er treibt mit Vorliebe Schabernack mit größeren Tieren (z. B. Büffel, Krokodil oder Tiger), wofür er auch öfter Prügel bezieht; letztlich setzt er sich aber immer durch. Der J Hase ist damit die vietnam. Ausprägung des J Tricksters bzw. des schwachen, armen, aber listenreichen Protagonisten, der über den starken, reichen, aber dummen Gegenspieler siegt (J Stark und schwach)15. Vietnam. Schwankmärchen wie der Zyklus um den Helden Cuoˆi sind ähnlich auch von den Khmer bekannt16. Der auf die angeblichen Taten des hist. Nguyeˆn Quynh bzw. Trang Quynh (17. Jh.) bezogene Schwankmärchenzyklus weist Übereinstimmung mit Texten der Laoten bzw. der Khmer auf 17. Ein beliebtes Schwankmotiv ist die Überlistung der chin. Gesandten oder des chin. Kaisers selbst18. In vietnam. Märchen ist die Ehefrau zumeist klug (oft gescheiter als ihr Mann), treu, aufopferungsvoll bis zur Selbstverleugnung und erfolgreich im Berufsleben (Handel, Handwerk), ja ihrem Mann überlegen. Sie treibt den Mann zum Studium an, ist ihm auch darin eine ebenbürtige Partnerin, denn nur durch ihre Festigkeit, ihr Wissen und ihre Anleitung kann er etwa die Mandarinprüfung bestehen19. Die häufig angesprochenen Naturkatastrophen, Hungersnöte und Aufstände sowie guten Taten (einer Ehefrau oder eines Mandarins; z. B. Reisverteilung an die Hungernden) sind offenbar den bes. hist.-geogr. Bedingungen Nord- und Nordmittelvietnams geschuldet. In der vietnam. Überlieferung sind u. a. die folgenden internat. Erzähltypen vertreten20: AaTh/ ATU 160: J Dankbare Tiere, undankbarer Mensch. ⫺ AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau. ⫺ AaTh/ATU 402: J Maus als Braut. ⫺ AaTh/ATU 460 B: cf. J Reise zu Gott (zum Glück). ⫺ AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella. ⫺ AaTh/ATU 554: cf. J Dankbare (hilfreiche) Tiere. ⫺ AaTh/ATU 566: J Fortunatus. ⫺ AaTh/ ATU 670: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch. ⫺
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Viidalepp, Richard
AaTh/ATU 759 C: J Mehl der Witwe. ⫺ AaTh/ATU 834: cf. J Schatz des armen Bruders. ⫺ AaTh/ATU 921: J König und kluger Knabe. ⫺ AaTh/ATU 924: cf. J Zeichendisput. ⫺ AaTh/ATU 926 C: cf. J Salomonische Urteile. ⫺ AaTh/ATU 1336: cf. J Spiegelbild im Wasser. ⫺ AaTh/ATU 1476: cf. Der gefoppte J Beter. ⫺ AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit. ⫺ AaTh/ATU 1696: J „Was hätte ich sagen (tun) sollen?“
Bes. anhand der mythischen Märchen bzw. Ursprungssagen der Vieˆt lassen sich die engen Beziehungen zum Erzählgut der umliegenden Völker verdeutlichen. So ist das Motiv des sich dreimal aufrichtenden Baumes auf dem Berg Tan Vieˆn vergleichbar bei den Muong belegt21. Die in unterschiedlicher Form auch bei Burmesen und Muong nachgewiesene Erzählung von der zauberkräftigen goldenen J Schildkröte steht bei den Vieˆt im Kontext einer hist. Sage, welche die Eingliederung des Landes der Vieˆt in das Reich der Mitte zur Zeit der chin. Qin-Dynastie schildert. Die goldene Schildkröte tritt hier (ebenso wie der alte Mann mit weißem Bart und roten Bäckchen) als Abgesandte des Wasserkönigs auf, der als Bewahrer der Dynastie und nationalen Eigenständigkeit verehrt wird22. Allgemeingut der chin. bzw. südostasiat. Überlieferung sind Drachen und J Schlangen als Wassergeister; diese sichern einerseits Flüsse oder Meeresmündungen, müssen andererseits aber befriedet werden, damit das Volk in Sicherheit dem Reisanbau nachgehen kann23. Weit verbreitet ist auch das Motiv der Abstammung verschiedener miteinander verwandter Völker von Eiern aus einem Beutel (Vietnamesen als Nachkommen der Paarung von Drache und Fee) bzw. aus einer Kürbisfrucht. Vor allem in Nordvietnam kennt man das Motiv der J Schwanjungfrau: Ein Mann verliebt sich in eine badende Fee, die später in den Himmel zurückkehrt; aus Sehnsucht folgt ihr der Mann dorthin, wo die beiden wiedervereint werden (cf. AaTh/ATU 400)24. 1 cf. allg. Nha-Trang Coˆng-Huyeˆn-Toˆn Nu: Vietnamese Folklore. An Introductory and Annotated Bibl. Berk. 1970. ⫺ 2 Toˆng taˆp Van hoc daˆn gian nguoi Vieˆt (G. W. der Volkslit. der Vieˆt). 6: Truyeˆn coˆ tich thaˆn ky (Zaubermärchen). Hanoi 2004; 7: Truyeˆn coˆ tich loai vaˆt. Truyeˆn coˆ tich sin hoat (Tiermärchen. Lebensmärchen). Hanoi 2005. ⫺ 3 Ly Teˆ Xuyeˆn: Vieˆt Íieˆn U Linh. Hanoi 1971; id.: Vieˆt Íieˆn U Linh. Saigon 1974. ⫺ 4 Linh Nam Chich Quai. Hanoi/Sai-
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gon 1960. ⫺ 5 Langlet, P.: La Me´moire e´crite de l’e´tat national vietnamien, des origines a` la fin de la dynastie des Leˆ. In: Vieˆt Hoc Nieˆn San/Annalen der Hamburger Vietnamistik (2005) H. 1, 11⫺48. ⫺ 6 Landes, A.: Contes et le´gendes annamites. Saigon 1886; id.: Contes tjames. Saigon 1887. ⫺ 7 Nguyeˆn Íoˆng Chi: Kho tang truyeˆn coˆ tich Vieˆt Nam (Schatzkammer der vietnam. Märchen) 1⫺5, 7. Hanoi 1975⫺76/82. ⫺ 8 EM 2, 1322 sq. ⫺ 9 Nguyeˆn Íoˆng Chi (wie not. 7) t. 7, num. 155. ⫺ 10 ibid. 2, num. 67; Klindera, O.: Der hundertknotige Bambus. Alte Volkserzählungen aus V. Lpz. 1975, 19⫺24. ⫺ 11 cf. Nguyeˆn Íoˆng Chi (wie not. 7) t. 2, 277⫺279. ⫺ 12 ibid. 4, num. 135. ⫺ 13 cf. Vu Thanh Som: Cac vi thanh thaˆn soˆng Hoˆng (Die Schutzgeister des roten Flusses). Hanoi 2002, 316⫺320. ⫺ 14 Nguyeˆn Íoˆng Chi (wie not. 7) t. 5, 499⫺550; cf. auch ibid. 3, num. 119; Linh Nam Chich Quai (wie not. 4) num. 20. ⫺ 15 Nguyeˆn Íoˆng Chi (wie not. 7) t. 5, num. 85⫺ 87. ⫺ 16 ibid. 3, num. 59. ⫺ 17 Sacher, R.: A Chej. Ein kambodschan. Schelmenroman. Lpz./Weimar 1981; Raendchen, O.: Siang Miang. Ein laot. Schelmenzyklus. B. 1997. ⫺ 18 Nguyeˆn Íoˆng Chi (wie not. 7) t. 4, num. 62, 66. ⫺ 19 Chu Xuaˆn Dieˆn/Leˆ Chi Queˆ: Tuyeˆn taˆp truyeˆn coˆ tich Vieˆt Nam (Ausw. vietnam. Märchen). Hanoi 1987, 87. ⫺ 20 cf. Ranke, K.: Typen- und Motivreg. In: Karow, O.: Märchen aus Vietnam. MdW 1972, 271 sq. ⫺ 21 Íe Iaˆt, Ie nuoc. Su thi Muong (Die Geburt von Land und Wasser. Versepos der Muong). Hanoi 1988, 352⫺366, 368 sq. ⫺ 22 Linh Nam Chich Quai (wie not. 4) num. 13; Klindera (wie not. 10) 24⫺33; cf. Íe Iaˆt, Ie nuoc (wie not. 21) 278 sq. ⫺ 23 Nguyeˆn Íoˆng Chi (wie not. 7) t. 1, num. 27. ⫺ 24 ibid. 4, num. 126.
Hamburg
Jörg Engelbert
Viidalepp, Richard (bis 1935 Viidebaum1), *Nurmsi (Kreis Jerwen) 23. 1. 1904, † Tartu 3. 6. 1986, estn. Folklorist. V. studierte 1925⫺ 40 Vk., Ethnographie, estn. Philologie und Archäologie an der Univ. Tartu2. 1929⫺47 arbeitete er am Tartuer Eesti Rahvaluule Arhiiv (Estn. volkskundliches Archiv, seit 1940 Abteilung Folklore des Lit.museums). 1947 wechselte er ans Inst. für Sprache und Lit. nach Tallinn, dessen Abteilung für Folklore er 1952⫺62 leitete und an dem er bis 1979 tätig war. In seiner Diss. Eesti rahvajuttude laadist, funktsioonist ja jutustajatest ( [Über die Art und Funktion der estn. Volksmärchen und Erzähler]. Tartu 1964 [22004] ) befaßte er sich mit Erzählsituationen und Erzählern. V. ist bes. als Feldforscher und Sammler von Volkserzählungen hervorgetreten. Bereits 1927
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Viidalepp, Richard
hatte er ⫺ mit einem Stipendium, das ihm von M. J. J Eisen verliehen worden war ⫺ in seinem Heimatort über 15000 Seiten an volkskundlichem Material zusammengetragen3. Im volkskundlichen Archiv betreute V. die Feldforschungen zur Volksüberlieferung nach den Prinzipien von J. J Hurt4. Von dem in einem Altenheim lebenden, blinden Meistererzähler Kaarel Jürjenson zeichnete er über 550 Seiten Volkserzählungen auf und analysierte die Aufnahmesituation, die Herkunft des jeweiligen Repertoires sowie den Stil des Erzählers5. In weiteren Unters.en beschäftigte er sich mit Erzählsituationen ⫺ in der bäuerlichen Gesellschaft, im Familienkreis, beim gemeinsamen Arbeiten ⫺ sowie bes. mit der Gattung Rätsel6. Ähnlich wie bei M. K. J Azadovskij zielte V.s Interesse weniger auf typol. und textanalytische Aspekte als auf den Erzähler7. Nach dem Vorbild von W. J Anderson befaßte sich V. mit ,Randerscheinungen‘ der Volkserzählung wie der Stadtfolklore und Gerüchten8; in den 1930er Jahren sammelte er mit Hilfe von Fragebögen, die er an Schulen verteilte, Informationen zur Kinderfolklore und zur lokalen Erzählüberlieferung9. V. plädierte für die systematische Unters. des in Feldforschungen zusammengetragenen Materials10 und verfaßte selbst entsprechende Abhandlungen zu Sagentypen, Volksglaubensvorstellungen und Brauch. So befaßte er sich mit der Beziehung zwischen russ. und estn. Heldensagen11. Er arbeitete zu Funktionen von Volkserzählungen: Neben der didaktischen und unterhaltenden sah V. als grundlegende Funktion von estn. (wie in anderen finno-ugr.) Volkserzählungen die magische Funktion für Jagd und Viehzucht an12; er beschäftigte sich mit in Ich-Form erzählten Märchen, die er mit bestimmten Schwanktypen in Verbindung brachte13, und legte eine Analyse über die Erzählerin Ann Pilberg vor, die traditionelle Erzählungen mit ihren persönlichen Erfahrungen verbunden hatte14. Zusammen mit O. J Loorits stellte V. eine statistische Übersicht zu estn. Slgen zusammen15; er beschäftigte sich mit dem Problem der Authentizität von Aufzeichnungen16 und publizierte das erste estn. Hb. zur Sammlung von Volksüberlieferung17. V. veröffentlichte zentrale Überblicksdarstellungen zur estn. Er-
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zähltradition18 und darüber hinaus zahlreiche Abhandlungen über estn. Folkloristen, u. a. über Hurt19. 1
Buschmann, U.: Pilk R. V.a perekonnaloole ja kodukohale (Zu R. V.s Familiengeschichte und Heimatort). In: Mäetagused 25 (2004) 235⫺252, hier 235. ⫺ 2 V., R.: Iseloomustavat Eesti ohvrikividest (Charakterisierung der estn. Opfersteine). Magisterarbeit Tartu 1940. ⫺ 3 Tedre, Ü.: R. V. 23. I 1904⫺ 3. VI 1986. In: Keel ja kirjandus 9 (1986) 567 sq. ⫺ 4 V., R.: ERA-nimelise rahvaluulekogu kujunemisest (Die Entwicklung der Folkloresammlung ERA). In: Rahvapärimuste koguja 7 (1970) 54⫺62. ⫺ 5 id.: Von einem großen estn. Erzähler und seinem Repertoire. In: Acta ethnologica 2 (1937) 158⫺173 (⫽ Studies in Estonian Reflexive History. ed. K. Kuutma/T. Jaago. Tartu 2005, 259⫺272). ⫺ 6 id.: Rahvajutustaja rahva hulgas (Der Märchenerzähler inmitten des Volkes). In: Etnograafia Muuseumi Aastaraamat 16 (1959) 275⫺299; id.: Kihnu üläljo˜stmine kui abielu sissejuhatus (Das Treffen auf der Insel Kihnu als Einführung in die Ehe). In: Rahvaluulest. ed. H. Ahven. Tallinn 1987, 238⫺254. ⫺ 7 Hiiemäe, M.: A Folklorist with an Ethnological Inclination. In: Kuutma/Jaago (wie not. 5) 243⫺ 258. ⫺ 8 V., R.: Eesti rahvajuttude laadist, funktsioonist ja jutustajatestid (Von der Art, der Funktion und den Erzählern estn. Volksmärchen). Tartu 22004, 7⫺ 11 (Vorw. R. Hiiemäe). ⫺ 9 id.: Valimik muistendeid koolide kogumisvo˜istluselt 1939 (Sagenauswahl aus dem Sammelwettbewerb der Schulen 1939). Tartu 1939. ⫺ 10 Remmel, M.: Rahva ja luule vahel (Zwischen Volk und Dichtung). ed. K. Tamm/A. Tuisk. Tartu 1997, 139. ⫺ 11 id.: Ilja Muromets ja Dobro˜nja Kuremäe ümbruses (Ilja Muromets und Dobro˜nja in der Umgegend von Kuremäe). In: Keel ja Kirjandus 9 (1968) 551⫺ 557. ⫺ 12 id.: Das Erzählen der Volksmärchen als arbeitsfördernder magischer Ritus. In: Trudy VII mezˇdunarodnogo kongressa antropologicˇeskich i e˙tnograficˇeskich nauk 6. M. 1969, 259⫺265. ⫺ 13 id.: Mina-vorm muinasjuttudes ja naljandites ⫺ Rahvasuust kirjapanekuni (Die Ich-Form in den Märchen und Schwänken ⫺ Vom Volksmund bis zum Aufschreiben). In: Emakeele Seltsi Toimetised 17 (1985) 69⫺81. ⫺ 14 id.: Jutustaja Ann Pilberg (Die Erzählerin Ann Pilberg). In: Emakeele Seltsi Aastaraamat 16 (1970) 273⫺284. ⫺ 15 Viidebaum, R./Loorits, O.: Eesti rahvaluulekogude statistiline ülevaade (Statistische Übersicht über die estn. Folkloreslgen). In: Vanavara vallast. Spetatud Eesti Seltsi Kirjad 1 (1932) 193⫺219. ⫺ 16 cf. V., R.: Jakob Hurt ja Hans Anton Schultz (Jakob Hurt und Hans Anton Schultz). In: Keel ja Kirjandus 5 (1982) 252⫺261; Kikas, K.: Rahva (ja) luule piiril. Hans Anton Schults Oskar Looritsa ja R. V.a käsitluses (Zwischen Volk und Dichtung. Hans Anton Schultz in der Behandlung von Oskar Loorits und R. V.), 71⫺ 92. ⫺ 17 V., R.: Tööjuhiseid rahvaluulekogujaile (Ar-
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Vikramacarita
beitsregeln für Folkloresammler). Tartu 1940. ⫺ 18 id./Mälk, V./Raudsep, L./Tedre, Ü.: Eesti rahvaluule ülevaade (Überblick über die estn. Folklore). Tallinn 1959, 353⫺446; V., R.: Recht und Brauchtum. In: Moora, H./Viires, A. (edd.): Abriß der estn. Vk. Tallinn 1964, 213⫺235; id.: Eesti muinasjutud (Estn. Märchen). Tallinn 1967 (dt. Estn. Volksmärchen. B. 1980 [Mü. 1990]). ⫺ 19 z. B. id.: Jakob Hurt ⫺ geniaalne rahvaluulekoguja (Jakob Hurt ⫺ der geniale Folkloresammler). Tartu 1939.
Tartu
Risto Järv
Vikramacarita (Die Abenteuer des Vikrama), ind. Slg von Geschichten aus dem späten 13. oder frühen 14. Jh.1 Im Mittelpunkt steht eine quasihist. Persönlichkeit, König Vikrama von Ujjain (auch Vikrama¯ditya, Vikrama¯rka oder Sa¯hasa¯n˙ka genannt). Dieser soll 58/57 v. u. Z. die Vikrama-Ära begründet haben, auf die sich eine z. T. heute noch für religiöse Zwecke genutzte Zeitrechnung bezieht; wie König J Artus stellt Vikrama ein Herrscherideal dar2. Die früheste erhaltene Version des V. ist in Sanskrit abgefaßt; sie liegt in fünf verschiedenen Fassungen vor, die von F. Edgerton kritisch ediert und übersetzt wurden3. Der ursprüngliche Autor ist unbekannt; bestimmte Fassungen werden Ksøeman˙kara oder Vararuci zugeschrieben, über die ansonsten nichts weiter bekannt ist. Die Mss. tragen eine Reihe unterschiedlicher Titel; die Bezeichnung V. wurde von Edgerton lediglich der Einfachheit halber gewählt. Andere Titel sind Vikrama¯rka-carita, Vikrama¯ditya-carita, der häufigste jedoch lautet Sim ø ha¯sana-dva¯trim ø s´ika¯ (Die 32 Thronerzählungen)4. Dieser Name bezieht sich auf die J Rahmenerzählung des V., die nach Edgertons Rekonstruktion wie folgt verläuft: In der Rahmenerzählung unterhält der Gott S´iva seine Frau Pa¯rvatı¯ mit Geschichten über Vikramas großen Thron, der von 32 Statuetten getragen wird. Vikrama ist der jüngere Bruder von König Bhartrøhari von Ujjain. Als ein Brahmane dem König eine unsterblich machende Frucht (Mot. D 1346.6) schenkt, gibt dieser sie an seine geliebte Frau weiter, da er sie nicht überleben will. Seine Frau schenkt sie ihrem geheimen Liebhaber, der sie seiner Geliebten schenkt; so wird die Frucht weitergereicht, bis der König eines Tages ein Dienstmädchen sieht, das sie in einem Korb Mist trägt. Bhartrøhari befragt seine Frau und findet die Wahrheit heraus. Aller Illusionen beraubt, dankt er ab, setzt seinen Bruder Vi-
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krama als Herrscher ein und zieht sich als Asket in den Wald zurück (Mot. V 462.0.1). Vikrama gewinnt die Gunst eines belebten Leichnams (veta¯la), indem er einen Asketen überlistet, der seine Hilfe bei einem tantrischen Opfer des veta¯la nachts auf dem Friedhof erbeten hatte. Dies entspricht der Rahmengeschichte der J Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯, einem älteren Zyklus von Rätselerzählungen aus der J Brøhatkatha¯-Tradition, in dem Vikrama ebenfalls eine Rolle spielt. Nachdem Vikrama ein fachkundiges Urteil in einem Tanzwettbewerb am Hof des Götterkönigs Indra gefällt hat, wird er von diesem mit einem prachtvollen, von 32 Statuetten getragenen Thron belohnt, den er in seiner Hauptstadt aufstellt (cf. Mot. F 785.1). Wie am Ende der Erzählung enthüllt wird, waren die Statuetten einstmals himmlische Dienerinnen Pa¯rvatı¯s, die von ihrer eifersüchtigen Herrin verwünscht wurden und ihre Stellung erst wiedererhalten sollten, nachdem sie in späteren Zeiten das V. erzählt haben würden. Einige Rezensionen schildern an dieser Stelle, wie der Brahmane Bhatøtøi Vikramas vertrauter Minister wird. Schließlich folgt der Bericht über Vikramas Tod durch die Hand S´a¯liva¯hanas, eines Prinzen aus dem Nachbarkönigreich Pratisøtøha¯na, Sohn des Schlangenfürsten S´esøa und eines zweieinhalbjährigen Mädchens (Mot. B 244.1). Nach Vikramas Tod wird niemand für würdig befunden, auf seinem Thron zu sitzen, den man daraufhin auf einem Feld unter einem Erdhügel begräbt. Viele Jh.e später, während der Herrschaft von König Bhoja (der für den hist. Parama¯ra-König Bhoja von Dha¯ra [1018⫺60] gehalten wird), kommt das Feld in den Besitz eines Brahmanen, der zur Bewachung seiner Ernte eine Plattform über dem Erdhügel errichtet. König Bhoja kommt einmal an dem Feld vorbei und bemerkt, daß der Brahmane großzügig und höflich ist, solange er sich auf dem Erdhügel befindet; geht er hinunter, wird er habgierig und streitlustig. Der König selbst klettert auf den Hügel und wird von Gefühlen der Großmut überwältigt. Er ersteht das Feld und gräbt den Hügel auf, wobei der Thron freigelegt wird. Bhoja läßt ihn in seiner Hauptstadt aufstellen. Als er sich anschickt, ihn zu besteigen, erwacht eine Statuette zum Leben und erklärt, auf dem Thron dürfe nur ein Mann sitzen, der ebenso edel wie Vikrama sei. Auf Bhojas Verlangen erzählt dann jede Statuette eine Geschichte, die Vikramas Großherzigkeit veranschaulicht. Diese Geschichten bilden die 32 Thronerzählungen.
Die relativ kurzen und einfachen Erzählungen stellen eher Novellen als Märchen dar. Die meisten folgen einem von drei typischen Mustern. Typ 1 (num. 9, 10, 12, 13, 18, 19, 20, 21): Vikrama erhält ⫺ von Spionen oder Botschaftern, Pilgern oder anderen Besuchern am Hofe oder von seinen Priestern bzw. seinem Minister ⫺ einen Bericht über ein übernatürliches
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Vikramacarita
Ereignis. Er geht der Sache nach und muß einen Bösewicht besiegen oder eine körperliche Herausforderung bestehen. Nach Erfüllung der Aufgabe erweist ihm eine Gottheit oder ein anderes Himmelswesen eine Wohltat oder schenkt ihm einen magischen Gegenstand (Mot. Q 21, Q 39.1, V 410). Das Erhaltene schenkt er selbstlos weiter, gewöhnlich an Brahmanen. Typ 2 (num. 2, 7, 8, 11, 15, 17, 22, 25, 27, 28): Während er dem übernatürlichen Ereignis nachgeht, wird Vikrama gezwungen, sich selbst einem Gott, einer Göttin oder einem Dämon als Opfer anzubieten (Mot. S 263.5, W 28). Im allerletzten Augenblick greift die Gottheit ein (Mot. S 255) und belohnt den König entweder mit einer Wohltat oder einem magischen Gegenstand, den Vikrama wiederum an Bedürftige weitergibt. In einigen Fällen belebt die Gottheit den bereits toten Vikrama wieder. Typ 3 (num. 3, 4, 5, 6, 16, 23, 26, 29, 30): Während er typischen königlichen Tätigkeiten wie dem Hofhalten, dem Jagen (cf. Mot. H 1222, N 771) und dem Liebesspiel nachgeht oder an religiösen Opfern bzw. Festen teilnimmt, wird Vikramas Großherzigkeit in verschiedener Weise geprüft. Z. B. erfüllt ein Diener eine Aufgabe nicht (num. 3), entführt ein Brahmane seinen Sohn (num. 4) oder bittet um eine große Menge Gold für die Hochzeit seiner Tochter (num. 16; Mot. H 1552). In allen Fällen erweist sich Vikramas edler Charakter durch seine selbstlosen Taten (Mot. W 11.2, W 11.5, W 21). Die erste und die letzte Erzählung (num. 1, 32) enthalten lediglich ein Lob Vikramas; andere ergänzen Vorkommnisse der Rahmenerzählung, indem sie von Vikramas Begegnung mit dem veta¯la (num. 31) und seinem Konflikt mit König S´a¯liva¯hana (num. 24) erzählen. Num. 14 bietet u. a. eine von Vikrama selbst erzählte Geschichte. Der V. verschmilzt so in der Person des Vikrama Themen von Mut und Großherzigkeit. Vielfach scheint das ständig wiederholte Motiv, daß Vikrama seine Belohnung weiterschenkt, einer ansonsten einfachen Abenteuererzählung angehängt worden zu sein; einige Forscher vermuteten daher, es handle sich dabei um eine spätere Interpolation5. Die Geschichten vom Typ 2 betreffen jedoch alle
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Handlungen der Selbstaufopferung ⫺ ein Motiv, das Mut und Großherzigkeit verbindet ⫺, während die Geschichten vom Typ 3 keine offenkundigen Akte der Tapferkeit enthalten. Es ist daher zu anzunehmen, daß Großmut immer ein wesentliches Thema des V. war. Vielleicht war Vikrama aus diesem Grunde für die religiöse Kultur der J Jainas von großer Bedeutung, und viele dieser Geschichten könnten ihren Ursprung in der jainist. und buddhist. J Katha¯-Lit. des 1. Jahrtausends n. u. Z. haben. Omnipräsent im V. ist mit Alchemie, Magie und Blutopfer auch der Tantrismus. Neben der frühesten Sanskritfassung des V. gibt es populäre Fassungen in Persisch (1574 am Hofe des Moghulkaisers Akbar verfaßt), Tamilisch, Hindi bzw. Urdu, Bengalisch, Gujarati und Newari6. Diese Fassungen enthalten zahlreiche neue Erzählungen und haben oft auch eine andere Rahmenerzählung. In den Hindi- und Newari-Fassungen z. B. entdeckt Bhoja den Thron, nachdem auf dem Erdhügel spielende Knaben eine schwierige Frage in Zusammenhang mit einem Juwelendiebstahl gelöst haben. Außerhalb Indiens finden sich Fassungen des V. in tibet. und mongol. Sprache (J Ardschi Bordschi)7. Im Gegensatz zu anderen ind. Erzählsammlungen scheint der V. nicht nach Westen gewandert zu sein. Wenngleich der V. keine nach dem AaTh/ATU-System klassifizierbaren Erzähltypen enthält, weisen einige der enthaltenen Motive internat. Verbreitung auf 8: E rz äh lm ot iv e ( Au sw.): num. 2 ⫽ Waschwasser zeigt Charakter der Waschenden an. ⫺ 3 ⫽ Zauberjuwelen schaffen Geld, Speisen, ein Heer und prächtige Kleidung herbei. ⫺ 5 ⫽ König schenkt dem treuen Boten die überbrachten Edelsteine. ⫺ 7 ⫽ König will sein eigenes Haupt opfern, um zwei kopflose Leichname wiederzubeleben. ⫺ 9, 12 ⫽ Junge Frau aus der Macht eines Dämons befreit (Mot. R 111.1.11). ⫺ 10 ⫽ Magische Frucht befreit von Alter und Tod. ⫺ 11, 20 ⫽ Magische Reise mit Zaubersandalen (Mot. D 1520.10.1; cf. J Siebenmeilenstiefel). ⫺ 11, 17, 28 ⫽ Jahreszeitliches Menschenopfer (Mot. S 262). ⫺ 12 ⫽ Sohn eines reichen Kaufmanns verschwendet gesamten Besitz (Mot. N 9.1, W 131.1). ⫺ 14 ⫽ Königswahl durch Elefanten (Mot. H 171.1, N 683)9. ⫺ 15 ⫽ Herrscher durch Bad in siedendem Öl erwählt (Mot. F 872.2). ⫺ 16 ⫽ Gelübde: heiratsfähige Tochter wird in Gold aufgewogen. ⫺ 18 ⫽ Zauberring verschafft Gold. ⫺ 19 ⫽ Herrscher gelangt auf der Jagd in unterirdisches
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Vila, Vilen ⫺ Villeneuve, Gabrielle-Suzanne Barbot de
Königreich (Mot. N 773); Zaubertrank verwandelt Metall in Gold, befreit von Alter und Tod (cf. auch J Stein der Weisen). ⫺ 20 ⫽ Zaubergegenstände: Kreide erfüllt Wünsche, Zauberstab ruft Armee herbei, Tuch beschafft alle Dinge (cf. AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich). ⫺ 21 ⫽ Unterwasserwelt. ⫺ 23 ⫽ Traum als böses Vorzeichen. ⫺ König teilt Nachlaß unter seinen vier Söhnen auf, indem er ihnen vier Gefäße mit Erde (Symbol für Land), Stroh (Getreide), Kohle (Gold), Knochen (Vieh) hinterläßt (J Testamentsschwänke, Kap. 4.2); bewußtlose Soldaten durch Lebenswasser wiederbelebt. ⫺ 26 ⫽ Wunscherfüllende Kuh (Mot. B 184.2.1.3). ⫺ 27 ⫽ Glücksspieler ist dem Schicksal ausgeliefert. ⫺ 29 ⫽ Scharfsinniger kann Schicksal aus physischen Merkmalen der Menschen erkennen (Mot. H 50; cf. AaTh/ ATU 934 D: cf. J Todesprophezeiungen). ⫺ 30 ⫽ Gaukler läßt Herrscher glauben, er sei bei einer Schlacht im Himmel getötet worden. 1 Sternbach, L.: Note on the Origin of some Vikramacarita Stanzas. In: J. of the American Oriental Soc. 84 (1964) 411⫺416, hier 414. ⫺ 2 Edgerton, F.: Vikrama’s Adventures, or The Thirty-Two Tales of the Throne 1⫺2. Cambr., Mass. 1926, hier t. 1, xxvi; cf. auch id.: A Hindu Book of Tales. The Vikramacarita. In: American J. of Philology 33 (1912) 249⫺ 284. ⫺ 3 id. 1926 (wie not. 2); cf. auch Weber, A.: ø ha¯sanadva¯trim ø c¸ika¯. In: Ind. Studien 15 Über die Sim (1878) 185⫺453. ⫺ 4 Edgerton 1926 (wie not. 2) t. 2, xlix⫺lii. ⫺ 5 Winternitz, M.: Geschichte der ind. Litteratur 3. Lpz. 1920, 338 sq.; cf. Törzsök, J.: ,Friendly Advice‘ by Na¯rayanø a and ,King Vikrama’s Adventures‘. N. Y. 2007, 549. ⫺ 6 Lescallier, D.: Le Troˆne enchante´. N. Y. 1817 (pers.); Grundriß der iran. Philologie 2. ed. W. Geiger/E. Kuhn. Straßburg 1896, 353⫺355; Zvelebil, K.: On the Tamil Vikramacarita. In: Archı´v orienta´lnı´ 64 (1996) 201⫺210; id.: The Tamil Vikrama¯ditya. In: J. of the American Oriental Soc. 117 (1997) 294⫺305; Pritchett, F.: Marvelous Encounters. Folk Romance in Urdu and Hindi. Neu Delhi 1985, 56⫺78; Stark, U.: An Empire of Books. The Naval Kishore Press and the Diffusion of the Printed Word in Colonial India. Delhi 2007, 41; Jørgensen, H.: Batı¯saputrika¯katha¯. The Tales of the Thirty-two Statuettes. Kop. 1939 (Newari). ⫺ 7 Raghu Vira: Araji Booji. Stories of King Vikrama¯ditya as Told in Mongolian, together with the Unpublished Tibetan Version. Neu Delhi 1961; Lohia, S.: The Mongol Tales of the 32 Wooden Men. Wiesbaden 1968. ⫺ 8 cf. Röll, J.: Der Vikramacarita. Eine Unters. zur vergleichenden Erzähl- und Märchenforschung. Würzburg 1989. ⫺ 9 Edgerton, F.: Pan˜cadivya¯dhiva¯sa or Choosing a King by Divine Will. In: J. of the American Oriental Soc. 33 (1913) 158⫺166.
Vancouver Vila, Vilen J Samovila
Adheesh Sathaey
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Villeneuve, Gabrielle-Suzanne Barbot de, *Paris 28. 11. 1685, † ebenda 29. 12. 1755, frz. Schriftstellerin. Die Familie Barbot, der V. entstammte, gehörte dem niederen Amtsadel an; V.s Vater war Advokat am Parlement de Paris. 1706 heiratete V. den Oberstleutnant der Infanterie Jean-Baptiste Gaalon de V., der 1711 starb. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen sie dazu, eine Stelle als Gouvernante bei dem Dramatiker, Akademiemitglied und kgl. Zensor Prosper Jolyot de Cre´billon anzunehmen1. V. verfaßte mehrere preziöse Romane, deren bekanntester La Jardinie`re de Vincennes ou Les Caprices de l’Amour et de la Fortune (P. 1753) ist; daneben schrieb sie Texte mit einer Rahmenhandlung, die nach dem Vorbild von J Boccaccios Decamerone den Anlaß für das Erzählen von Geschichten bietet. In La Jeune Ame´ricaine et les contes marins (Den Haag 1740/41) werden einem jungen Mädchen, das zu seiner Hochzeit nach Santo Domingo reist, drei Märchen erzählt: La Belle et la Beˆte (AaTh/ATU 425 C: cf. J Amor und Psyche), Les Naı¨ades (cf. AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen) und Le Temps et la Patience (cf. AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder); in Les Belles solitaires (Amst. 1745) dienen die Geschichten PapaJoli, Mirliton und Histoire du roi santon (AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich) der Zerstreuung zweier junger Frauen, die sich aufs Land zurückgezogen haben. Die Binnenerzählungen sind Zaubermärchen, die in der für die Lit. des 17./18. Jh.s charakteristischen Weise ausgestaltet werden. Im Mittelpunkt steht die bedrohte Liebe zwischen einem Prinzen und einer Prinzessin. Das Erzählschema wird oft durch romanhafte Retrospektiven verkompliziert, die zur Reinterpretation der Fakten zwingen. So wird in La Belle et la Beˆte in zwei erläuternden Berichten enthüllt, daß die zunächst als Kaufmannstochter eingeführte Heldin in Wirklichkeit eine Königstochter und die Nichte einer Fee ist. Vielfach begegnen J Tierverwandlungen: Menschen werden zu Monstren, Affen, Vögeln, Flöhen oder Hunden. V. fügt eine stark moralisierende Note hinzu, indem sie ihre Protagonisten mit überragenden Tugenden, Redlichkeit, Respekt vor den anderen und Großzügigkeit ausstattet.
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Vincent de Beauvais
Die Märchen V.s bezeugen die enge Verbindung, die bei einigen frz. Autoren zwischen Lit. und marginalisierter mündl. Überlieferung bestand. Der Rückgriff auf populäre Quellen, wie er sich häufig bei den frühen Autoren des frz. J Conte de fe´es findet, z. B. bei Madame d‘J Aulnoy, J Perrault oder Mademoiselle J L’He´ritier, war im 18. Jh. weniger verbreitet. V.s Werk belegt daher, daß diese Verbindung nicht unterbrochen war. Während Le Temps et la Patience und Les Naı¨ades stark bearbeitete Fassungen populärer Erzählungen darstellen, folgen V.s bekannteste Erzählung La Belle et la Beˆte, die später durch eine vereinfachte Form im Magasin des enfans (1756) von Madame J Le Prince de Beaumont weite Verbreitung fand2, und die Histoire du roi santon dem Schema der Volkserzählung sehr genau. Dies ist insofern bemerkenswert, als V. mit der Histoire du roi santon ⫺ anders als im Märchen La Belle et la Beˆte, für das der Einfluß von Madame d’Aulnoys Le Mouton nicht ausgeschlossen werden kann3 ⫺ die originelle Bearb. eines populären Sujets geschaffen hat und sich nicht an einer literar. Quelle orientierte: Die einzige vorherige schriftl. Fassung, J Basiles Märchen L’uerco (1,1), weist deutliche Unterschiede zur Histoire du roi santon auf. 1 Hearne, B.: Beauty and the Beast. Visions and Revisions of an Old Tale. With an Essay by L. De Vries. Chic. 1989; Swiderski, M. L. G.: La Belle ou la Beˆte? Madame de V., la me´connue. In: Femmes savantes et femmes d’esprit. Women Intellectuals of the French Eighteenth Century. ed. R. Bonnel/C. Rubinger. N. Y./Bern/P. 1994, 99⫺128; Robert, R.: Le Conte de fe´es litte´raire en France de la fin du XVIIe a` la fin du XVIIIe sie`cle. P. 2002, bes. 78 sq., 158⫺161, 163⫺166; Gaillard, A.: Le Corps enchante´ chez Mme de V. et Mlle de Lubert. Exploration du corps amoureux et invention poe´tique de quelques contes de 1740. In: Le Conte merveilleux au XVIIIe sie`cle. ed. R. Jomand-Baudry/J.-F. Perrin. P. 2002, 295⫺309; Madame de V.: La Jeune Ame´ricaine et les contes marins […]. ed. E´. Biancardi. P. 2008. ⫺ 2 Robert (wie not. 1) 157⫺161; cf. Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 459 sq. ⫺ 3 Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche (Aarne-Thompson 425 ⫹ 428). Lund 1955, 297 sq.
Le Grau-du-Roi
Raymonde Robert
Vincent de Beauvais (Vincentius Bellovacensis), *bei Beauvais ca 1190, † ca 1264, frz. Do-
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minikaner, dessen nähere Lebensumstände weitgehend unbekannt sind. Offenbar trat er nach dem Studium in Paris 1218 in den Orden ein. Er war sicher 1225 an der Gründung des Klosters Beauvais beteiligt, an dem er das Amt des Subpriors innehatte. Um 1243⫺45 begegnete er König Ludwig dem Heiligen, 1246 erhielt er das Amt des Lektors in der Abtei Royaumont. Die von V. de B. verfaßten Werke lassen sich drei Schaffensperioden zuordnen1. (1) vor 1244: Liber fratris Vincentii de penitentia2, De laudibus beati Iohannis evangelistae, Tractatus de sancto Iohanne evangelista3, De laudibus beatae Mariae virginis, Opusculus laudum virginis Marie4, Expositio salutationis angelicae5, Expositio orationis dominice edita6; (2) 1244⫺58: erste Ausg. des Speculum maius (zweiteilige Fassung)7, Liber de sancta Trinitate8, De eruditione filiorum nobilium9; (3) nach 1258: Speculum maius (dreiteilige Fassung)10, Memoriale omnium temporum11, Liber consolatorius ad Ludovicum regem de morte filii (1260)12, De morali principis institutione (1261⫺63)13. Im Zentrum des Gesamtwerks steht das Speculum maius mit seinen drei Teilen Speculum naturale, Speculum doctrinale und Speculum historiale14; als vierter Teil wurde das oft unter dem Namen V.s de B. laufende J Speculum morale noch im 13. Jh. von einem unbekannten Verf. ergänzt. Das Speculum maius ist unstreitig die umfassendste ma. Enz.; sie steht in der Nachfolge der Etymologiae des J Isidor von Sevilla, der Schule der Naturbeschreibungen im 12. Jh. und der Organisationsbestrebungen der Kanoniker von St.-Victor. Durch Berücksichtigung neuer Quellen aus den griech.-arab. Wiss.en brachte das Werk das für das Studium bei den Dominikanern autorisierte Wissen auf den aktuellen Stand. Das Speculum maius war bis ins 17. Jh. äußerst erfolgreich. Das Speculum naturale (32 Bücher, 3708 Kap., über 150 zitierte Autoren und Werke) stellt, geordnet nach sechs Schöpfungstagen, das Wesen der Dinge und des Menschen in Leib und Seele vor. Das Speculum doctrinale (17 Bücher, 2354 Kap., über 150 zitierte Autoren und Werke) ist den Wiss.en und Künsten gewidmet, durch die der Mensch teilweise wiederzuerlangen vermag, was er durch die Erbsünde verloren hat (Künste des Triviums, moralische und politische Wiss.en,
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Vincent de Beauvais
mechanische Künste und Medizin, Naturphilosophie, Künste des Quadriviums, Theologie). Das Speculum historiale (31 Bücher, 3793 Kap., über 180 zitierte Autoren und Werke, zusätzlich zahlreiche Auszüge aus den Vitae sanctorum) entfaltet das Tun und Treiben der Menschheit auf dem Weg zum Heil der Schöpfung beim Jüngsten Gericht (der hist. Diskurs reicht je nach Fassung des Werks bis 1244 oder 1254)15. Es liegt jeweils eine Übers. in frz., span., katalan., dt. und fläm. Sprache vor. In der Einl. des Speculum doctrinale gibt V. de B. ⫺ über den Wunsch hinaus, seinen Lesern einen Überblick über die Gesamtheit des zeitgenössischen Wissens in Form eines handlichen Werks zu verschaffen ⫺ eine vornehmere Absicht bekannt: die Wiederaufrichtung des menschlichen Geschlechts nach dem Sündenfall durch die doctrina, d. h. durch das, was über den Geist vermittelt wird. Entsprechend bezieht V. alles ein, was die Welt betrifft, vom Religiösen bis zum Profanen ⫺ das, was den Menschen in seinen Beziehungen zur Welt berührt, jedoch primär bezogen auf die materia. Er legt so dar, wie der Mensch die Materie beherrschen kann, indem er sich zunächst darum bemüht, sie zu verstehen. Hierdurch gewinnt der durch die Urschuld auf den Rang der Materie herabgesetzte Mensch sein Gleichgewicht wieder, seine Vormacht über die Welt, in der er lebt, und erlangt erneut Anteil am Göttlichen. Die offensichtliche apologetische Intention erhellt aus dem Aufbau des Speculum doctrinale. Nachdem es den Sündenfall ins Gedächtnis gerufen hat, legt es die verschiedenen Mittel dar, die der Mensch nacheinander zu seiner Wiedererhebung anwendet: l in gu is ti sc he Mittel zur Inbesitznahme der Wirklichkeit durch die Sprache; m or al is ch e Mittel, durch die der Mensch sein eigenes Handeln in Übereinstimmung mit dem idealen Handeln bringt (was ihm die Entdeckung des Begriffs der Schuld erlaubt) und danach seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen definieren kann; t ec hn is ch e Mittel, die ihm erlauben, die Besitzergreifung der Wirklichkeit durch konkrete Veränderungen anzugehen und sich in vollem Umfang seiner Beziehung zu der ihn umgebenden Welt bewußt zu werden; i nt el le kt ue ll e Mittel, anhand derer er schließlich zur Inbesitznahme der Wirklichkeit durch Entdeckung
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und Verständnis der sie bestimmenden Theorien gelangt. Damit kann sich eine Rückkehr zur durch den Sündenfall getrübten Vorstellung von Gott vollziehen, der über die mannigfaltigen Fragen des Menschen zu sich selbst und über die Welt erneut in Erscheinung tritt. Dies führt in den Bereich der theol. Reflexion und davon ausgehend zu der Feststellung, daß kein Aspekt des Wissens oder der Welt vernachlässigt werden darf. Der Autor führt seinen Leser damit zur Entdeckung der Intention einer Inbesitznahme des Wahrnehmbaren durch ein Wissen, das keinen Aspekt davon verwirft, denn es hieße der Macht Gottes eine fast frevelhafte Beschränkung beizumessen, wollte man die Welt allein auf das durch menschliche Mittel Erkennbare begrenzen. Erscheinungen, die dem Menschen die Existenz von Dingen bewußt machen können, die jenseits unserer Wahrnehmungen oder unserer Wiss. liegen, sind daher nicht zu vernachlässigen. Das Werk wird so mit Elementen gefüllt, die über den Anwendungsbereich der Wiss. hinausgehen und sich dem Wunderbaren nähern. Dies folgt als Ergebnis freier Rezeption von Informationen, die z. T. offenbar keiner Überprüfung unterlagen, ob nun aufgrund fehlender Möglichkeiten oder fehlender Motivation. Daher legt V. dem Leser vor allem nahe, sich der Grenzen der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit bewußt zu werden und die demütige Bereitschaft zu der Einsicht zu haben, daß große Teile der Wirklichkeit der Erkenntnis nicht direkt zugänglich sind. Der Autor führt den Leser an die Grenzen des Zugänglichen und sogar darüber hinaus. Als Mann des Glaubens ist er zutiefst von der Überzeugung durchdrungen, daß es angesichts des menschlichen Unvermögens, die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit intellektuell zu erfassen, absurd ist, die eine oder andere wenig glaubwürdige Information allein aufgrund ihrer Unüberprüfbarkeit zu verwerfen, zumal derartige Mitteilungen durch vertrauenswürdige Persönlichkeiten verbürgt sein können. Mit dieser Haltung stellt das Speculum maius eines der reinsten Beispiele einer ma. Enz. dar16. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß das Speculum historiale zahlreiche Erzählungen von Mirakeln und Mirabilien enthält17. Ihre Unters. ermöglicht einerseits
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Vincent de Beauvais
eine umfassende Typologie derartiger Manifestationen, wobei sich andererseits Reflexionen über Probleme der Verschriftlichung und narrativer Techniken ebenso anbieten wie die Erörterung theol. Fragestellungen. Dabei darf die Arbeit des Verf.s oder der von ihm zitierten Autoritäten nicht auf den Aspekt der Kompilation reduziert werden; denn einerseits ist die schiere Anzahl der als miracula bzw. mirabilia bezeichneten Vorfälle überwältigend groß, andererseits sind zahlreiche Erzählungen so komplex, daß sie unterschiedliche Nutzungen nahelegen. Vor allem verschaffen die Texte dem Leser zunächst eine unmittelbare ästhetische Befriedigung, bevor sie ihn zur Meditation oder zum Nachdenken bringen. Dergestalt vereinigt das Speculum maius die beiden Wirkweisen des Spiegels, die Aufnahme des Bilds wie auch seine Vervielfältigung18. Überlieferungsgeschichtlich ist das Speculum historiale das erfolgreichste Werk des V. de B.19, das in mehr als 200 Hss. überdauert hat. Es wirkte u. a. nach bei Ge´raud de Frachet (1205⫺71), im Mare historiarum von Johannes Colonna (1298⫺1344), in den Flores chronicorum von Bernard Gui (gest. 1332), der Historia ecclesiastica des Ptolemäus von Lucca (1236⫺1327), der Chronik des Antonino da Firenze (ca 1440) oder dem von Jaume Dome`nech (gest. 1384) und Anton Ginebreda (gest. 1394) verfaßten katalan. Compendi historial. Darüber hinaus findet es häufig Erwähnung unter den Quellen der Berichte von Frater Felix Fabri (um 1438/39⫺1502) oder Bernhard von Breidenbach (um 1440⫺97) über ihre Reisen ins Heilige Land (1480⫺83 bzw. 1483) sowie unter denen der hagiographischen Kompilationen von Petrus Calo (gest. 1348) und Bernard Gui, ferner im Tripartitus moralium (ca 1342⫺44) des J Konrad von Halberstadt. Außerdem wurde das Speculum maius oft als Quelle von Exempla genutzt, so in den Moralitatis exempla des Robert Holkot (gest. 1349), im Liber de exemplis des Giovanni di San Geminiano (gest. 1333) und noch im J Speculum exemplorum20. Texte aus diesen Werken wurden wiederum in den europ. Volkssprachen aufgegriffen und adaptiert, wobei meist ein pädagogisches Interesse im Vordergrund stand21. Die Texte des Speculum maius bilden hier den Ausgangspunkt der Arbeit des
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Predigers wie auch des Autors, der die Geschichte an sein Publikum vermitteln wollte. Das Speculum maius wurde im 14. Jh. zum Standardwerk und behielt diesen Status bis zur Renaissance22. Die frz. Übers. des Jean de Vignay (ca 1325) verlieh ihm fast offiziellen Charakter; der tatsächliche Titel des als Manuel de Philippe VI de Valois bekannten Werks lautet Petites croniques abrege´es sur V.; und der Verf. des Miroir historial abre´ge´ de France (Mitte 15. Jh.) schrieb ganze Kapitel des Speculum historiale ab23. Die klösterlichen Chroniken des 14. Jh.s finden in ihm hist. Stoff und chronologischen Rahmen, so etwa die Traite´s des Gilles li Muisit (1272⫺1353)24. In Spanien ist das von Alfons dem Weisen (1252⫺82) initiierte historiographische Unternehmen der Primera cronica general de Espagna weitgehend dem Speculum historiale verpflichtet, und auch die ital. Chronisten machen umfangreichen Gebrauch davon, so Benzo d’Alessandria (1270⫺1335) in seinem Chronicon. Aus dem westl. Mitteleuropa sind etwa die Annales historiae illustrium principum Hannoniae des Jacques de Guise (1334⫺99), das Chronicon Nobilissimorum Ducum Lotharingiae Brabantiaeque et Regium Francorum des Edmond de Dynther (gest. 1449), die von Jean Wauquelin (gest. 1452) übersetzte Histoire d’Alexandre oder die Chronique des Philippe de Vigneulles (1471⫺ 1527/28) zu nennen. In Deutschland diente das Speculum historiale ebenfalls als Quelle volkssprachlicher Geschichtsschreibung25. Hagiographische Slgen entnahmen V. de B. einen Teil ihrer Stoffe, so das Sanctilogium des Abts von Saint-Denis, Gui de Chartres (gest. 1342), und der Catalogus sanctorum des Pierre Natalis (gest. ca 1400). Die Florilegien führten ihrerseits zur Entstehung von Handbüchern, wie der Annotatio brevis quorumdam doctorum (Mitte 14. Jh.) oder des Catalogus scriptorum ecclesiae (ca 1360⫺78) von Henri de Kirkestede26. Für die hist. und vergleichende Erzählforschung besitzt das Werk V.s de B. Bedeutung als zentrale Vermittlungsinstanz zahlreicher Geschichten. Aus der Fülle der im Speculum maius enthaltenen narrativen Texte kann hier nur auf einige häufig wiederkehrende Erzähltypen und -motive verwiesen werden27: B er üh mt e P er sö nl ic hk ei te n: Historiale Buch 4 ⫽ J Alexander d. Gr. (46⫺60: Reise nach Indien
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Vincent de Beauvais
und seine Wunder). ⫺ 6,64⫺66 und 72⫺95; 7,75⫺78 ⫽ Maria (81⫺113: Mirakel28; 7,90⫺92: Die keusche Kaiserin). ⫺ 13,5⫺8 ⫽ Hl. J Katharina. ⫺ 14,7⫺ 63 ⫽ J Barlaam und Josaphat. ⫺ 20,30⫺49 und 21,74 ⫽ J Merlin. ⫺ 21,69⫺70 ⫽ J Theophilus. ⫺ 21,81 und 93⫺97 ⫽ Hl. J Brandan. ⫺ 23,41⫺47 ⫽ J Mohammed. ⫺ 24,1⫺85 ⫽ J Karl d. Gr. (4⫺5: Befreiung des Heiligen Landes; 15⫺16: J Rolands Kampf gegen den Riesen Ferragut). ⫺ 27,88⫺104: Visio Tnugdali (J Vision, Visionsliteratur). ⫺ 29,118 ⫽ J Wilde Jagd. Fab el we se n: Naturale 16 ⫽ Vögel (32⫺37: Adler, 40: Baumvögel, 74: Phönix, 91⫺93: Kranich kämpft gegen Pygmäen). ⫺ 17 ⫽ Seeungeheuer (100: Wal für eine Insel gehalten; cf. auch Historiale 22,98). ⫺ 19 ⫽ Landtiere (34: Hirsch; 90: Mantikora [Mischwesen mit Menschenkopf, Löwenkörper und Skorpionschwanz]; 65: J Lamia; 95: Onager; 114: Einhorn). ⫺ 30 ⫽ Schlangenwesen (24: Basilisk; 29⫺ 32: Drache [cf. auch Historiale 20,53; 21,57; 22,8 etc.]; 63: Salamander). ⫺ 31 Monstren (112: Lemuren; 122: Werwolf [J Wolfsmenschen]; 125: Riesen, Koloß; 127⫺128: Menschenähnliche Wesen). ⫺ 109⫺113 ⫽ Delphin. ⫺ 119 ⫽ J Leviathan. ⫺ 127 ⫽ Serra (Schwertfisch, der den Boden der Schiffe abschneiden kann). E rz äh lt yp en un d - mo ti ve: Naturale 2,109 ⫽ Verwandlung eines Menschen in einen Esel (Mot. D 132.1; J Eselmensch). ⫺ 3,104 ⫽ AaTh/ATU 754: J Glückliche Armut. ⫺ 16,136 ⫽ AaTh/ATU 221: J Königswahl der Tiere. ⫺ 19,10 ⫽ AaTh/ATU 34 A: cf. J Spiegelbild im Wasser. Doctrinale29 3,113 ⫽ AaTh 41*/ATU 41: J Wolf im Keller. ⫺ 3,114 ⫽ AaTh/ATU 278: cf. J Tiere aneinander gebunden; AaTh/ATU 111 A: J Wolf und Lamm. ⫺ 3,115 ⫽ AaTh/ATU 34 A: cf. Spiegelbild im Wasser. ⫺ 3,116 ⫽ AaTh/ATU 51: J Löwenanteil; AaTh/ATU 76: J Wolf und Kranich. ⫺ 3,117 ⫽ AaTh/ATU 50 C: The Donkey Boasts of Having Kicked the Sick Lion; AaTh/ATU 57: J Rabe und Käse; AaTh/ATU 214: J Esel will den Herrn liebkosen. ⫺ 3,118 ⫽ AaTh/ATU 70: J Hasen und Frösche. ⫺ 118 ⫽ AaTh/ATU 77: cf. Die eitlen J Tiere. ⫺ 3,119 ⫽ AaTh/ATU 277 A: Der aufgeblasene J Frosch. ⫺ 3,120 ⫽ AaTh/ATU 75: J Hilfe des Schwachen. ⫺ 3,121 ⫽ AaTh/ATU 48*: Flatterer Rewarded, Honest One Punished; 121 ⫽ AaTh/ATU 222 A: cf. J Krieg der Tiere. ⫺ 3,122 ⫽ AaTh/ATU 280 A: J Grille und Ameise; AaTh/ATU 293: J Magen und Glieder. ⫺ 3,123 ⫽ AaTh/ATU 50 A: Fußspuren vor der J Löwenhöhle; AaTh/ATU 59: J Fuchs und saure Trauben; AaTh/ATU 201: Der freie J Wolf (Hund). Historiale 1,8 ⫽ AaTh/ATU 767: J Kruzifix gefüttert. ⫺ 3,11 ⫽ ATU 756 G*: cf. J Glaube versetzt Berge. ⫺ 6,118 ⫽ AaTh/ATU 826: J Sündenregister auf der Kuhhaut. ⫺ 7,86 ⫽ Schwangere Äbtissin gebiert mit Hilfe Marias heimlich Kind (Mot. T 401.1). ⫺ 7,90⫺92 ⫽ AaTh/ATU 712: J Crescentia. ⫺ 7,104 ⫽ Maria weigert sich, einer Frau gegen die fromme Geliebte ihres Mannes zu helfen (Mot. T 285). ⫺ 8,99 ⫽ AaTh/ATU 767: Kruzifix gefüt-
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tert. ⫺ 8, 104 ⫽ Bild der Maria hält einen Maler in der Luft, als Teufel Gerüst umwerfen will (Mot. D 1639.2). ⫺ 9,5 ⫽ AaTh/ATU 1515: Die weinende J Hündin. ⫺ 15,12 ⫽ AaTh/ATU 150: Die drei J Lehren des Vogels. ⫺ 15,17 ⫽ J Jahreskönig. ⫺ 23,162⫺ 166,169: AaTh/ATU 516 C: J Amicus und Amelius. ⫺ 26,10 ⫽ ATU 779 E*: J Tänzersage. ⫺ 29,54 ⫽ Tuch im Grab ist alles, was toter König mitnehmen konnte (Mot. J 912.1). 1 Bibliogr. von J. B. Voorbij im Internet; cf. ferner die Internet-Ressource ARLIMA (Archives de Litte´ˆ ge) s. v. V. de B.; im folgenden rature du Moyen A werden nur die wichtigsten Hss. genannt. ⫺ 2 Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 3214. ⫺ 3 Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 7605. ⫺ 4 ibid. ⫺ 5 Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 14958. ⫺ 6 ibid. ⫺ 7 Paulmier-Foucart, M./Lusignan, S.: V. de B. et l’histoire du „Speculum Maius“. In: J. des Savants (1990) 97⫺124. ⫺ 8 Basel, Univ.sbibl., Ms. B. IX. 5. ⫺ 9 Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 16390; Vincentius Bellovacensis: De eruditione filiorum nobilium. ed. A. Steiner. Cambr., Mass. 1938. ⫺ 10 Bibliotheca Mundi seu Speculi maioris Vincentii Burgundi […]. Douai 1624 (Nachdr. Graz 1964/65) (mit dem nicht authentischen „Speculum morale“). Zugang zum Text des „Speculum maius“ (Ms. Douai 797) und kleinerer Werke von V. de B. bietet die Website des Atelier V. de B. am Centre de Me´die´vistique Jean Schneider in Nancy. ⫺ 11 Vincentii Bellovacensis „Memoriale omnium temporum“ (MGH SS 24). ed. O. Holder-Egger. Hannover 1879, 154⫺167. ⫺ 12 Paris, Bibl. Nationale, Ms. lat. 16390. ⫺ 13 Oxford, Bodleian Library, Ms. Rawlinson C 398; Vincentii Belvacensis „De morali principis institutione“. ed. R. J. Schneider. Turnhout 1995. ⫺ 14 Lusignan, S./Paulmier-Foucart, M./Nadeau, A. (edd.): V. de B. Intentions et re´ceptions ˆ ge. Saintd’une œuvre encyclope´dique au Moyen A Laurent/P. 1990. ⫺ 15 Paulmier Foucart, M.: V. de B. et le Grand Miroir du monde. Turnhout 2004. ⫺ 16 cf. Ribe´mont, B.: Les Encyclope´dies me´die´vales, une premie`re approche du genre. In: Comprendre le XIIIe sie`cle. Festschr. M.-T. Lorcin. Lyon 1995, 237⫺259, hier 243. ⫺ 17 Tarayre, M.: Miracles et merveilles chez V. de B. et comparaison avec des textes en langue vernaculaire. Diss. Montpellier 1997. ⫺ 18 Lusignan, S.: Pre´face au „Speculum Maius“ de V. de B. Re´fraction et diffraction. Montre´al/P. 1979. ⫺ 19 Weigand, R.: Elements of the „Speculum historiale“ in German Universal Chronicles of the Late Middle Ages. In: Lusignan u. a. (wie not. 14) 391⫺ 411. ⫺ 20 cf. Alsheimer, R.: Das Magnum Speculum Exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Ffm. 1971, 114. ⫺ 21 cf. Zink, M.: La Pre´dication en langue romane avant 1300. P. 1976. ⫺ 22 cf. Brincken, A. D. von den: Geschichtsbetrachtung bei Vincenz von B. In: Dt. Archiv für Geschichte des MA.s 34 (1978) 410⫺ 499; Voorbij, J. B.: Het „Speculum Historiale“ van
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Virgil Vergil ⫺ Virsaladze, Elene
V. de B. Diss. Groningen 1991. ⫺ 23 Daly, K.: The „Miroir historial abre´ge´ de France“ and „C’est chose profitable“. A Study of Two Fifteenth Century Texts and Their Context. Diss. (masch.) Ox. 1983. ⫺ 24 cf. Lusignan, S.: La Re´ception de V. de B. en langue d’oı¨l. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Lit. im MA. ed. N. R. Wolf. Wiesbaden 1987, 34⫺45. ⫺ 25 Weigand, R.: Vinzenz von B. Scholastische Universalchronik als Qu. volkssprachlicher Geschichtsschreibung. Hildesheim u. a. 1991. ⫺ 26 cf. Paulmier Foucart (wie not. 15). ⫺ 27 Nach der Ausg. Douai 1624 (wie not. 10). Zu weiteren Parallelen cf. Wesselski, A.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 44, 54, 102, 113, 116, 119, 124, 149, 150; Brückner, Reg. s. v. V. de B. ⫺ 28 Tarayre, M.: La Vierge et le miracle. Le „Speculum historiale“ de V. de B. P. 1999. ⫺ 29 cf. Dicke/Grubmüller, Reg. 878 (Übersicht). Die meisten Erzählungen aus „Doctrinale“ sind auch in „Historiale“ (Buch 3) enthalten.
Be´ziers
Michel Tarayre
Virgil J Vergil
Virsaladze, Elene, *Tiflis 29. 6. 1911, † ebenda 11. 3. 1977, georg. Erzählforscherin1. V. studierte 1927⫺30 georg. Philologie an der Univ. Tiflis. Sie setzte ihr Studium 1932⫺ 35 bei M. K. J Azadovskij an der Univ. Leningrad fort und wurde 1936 mit einer Arbeit zur Genese des georg. Märchens promoviert. Seit 1935 arbeitete sie in Tiflis als wiss. Mitarbeiterin in der georg. Abt. der Akad. der Wiss.en der UdSSR sowie als Dozentin an der Univ. und als wiss. Mitarbeiterin am Inst. für georg. Lit. der Akad. der Wiss.en Georgiens. 1937⫺43 war V. im Zuge der stalinistischen Verfolgungen in einem Arbeitslager interniert; eine vollständige Rehabilitierung erfolgte erst 19582. 1943/44 arbeitete V. als wiss. Mitarbeiterin in der Hss.abteilung des Nationalmuseums in Tiflis. Seit 1945 war sie als wiss. Mitarbeiterin am Inst. für georg. Lit. tätig, gleichzeitig unterrichtete sie westeurop., georg. und russ. Folkloristik an der Univ. Tiflis (1943⫺ 50), am Pädagogischen Inst. in Gori (1943⫺ 48) und am Pädagogischen Inst. in Tiflis (1947⫺54). 1963 habilitierte sie sich mit einer Studie zum georg. Jagdepos3. 1971 wurde sie zur Professorin für Folkloristik ernannt. Wenngleich V.s Diss. nicht erhalten ist, läßt sich ihr Inhalt anhand anderer Publ.en rekonstruieren4. Danach betrachtet V. einfache,
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kurze Erzählungen, welche die Beziehungen zwischen Menschen und übernatürlichen Wesen zum Thema haben, als eine frühere Form des Märchens. Solche Erzählungen sind ihrer Meinung nach in der Regel für Gesellschaften charakteristisch, die sich auf einer niedrigen Stufe ihrer sozialwirtschaftlichen Entwicklung befinden5. Allerdings weist V. darauf hin, daß Märchen in denjenigen Bergregionen Georgiens, in denen die alten Formen der gesellschaftlichen Organisation noch anzutreffen sind, nur selten vorkommen; hingegen konstatiert sie für die übrigen Regionen Georgiens, in denen die sozioökonomische Entwicklung rascher vor sich ging, eine deutlich höhere Popularität von Märchen. Auf dieser Grundlage geht sie davon aus, daß das georg. Material als exemplarisch für die gattungsgeschichtliche Entwicklung des Märchens angesehen werden kann6. V. erstellte u. a. eine typol. Systematik georg. Tiermärchen nach dem von N. P. J Andreev an die Bedürfnisse der russ. Märchen angepaßten internat. Typensystem von A. J Aarne7. Im Zentrum ihrer Studien zum georg. Jagdepos8 steht der Mythos über intime Beziehungen zwischen Jäger und Jagdgöttin. Auf der Grundlage einer vergleichenden Analyse der entsprechenden Texte aus verschiedenen Regionen Georgiens diskutierte V. die typol. Nähe des georg. Jagdmythos zu sumer.-babylon., griech. und röm. Mythen. 1948 wies V. zum ersten Mal auf die im 17. Jh. durch den ital. Missionar Bernardo aus Neapel aufgezeichneten georg. Märchen hin, die eine bes. Bedeutung für die hist. und vergleichende Erforschung des georg. Erzählguts besitzen9; mittlerweile sind 13 Texte aus dieser Slg veröffentlicht worden10. Als Herausgeberin ist V. auch mit einer Ausg. georg. Märchen11 sowie einen Sammelband zur Volksdichtung der Bergstämme Georgiens12 hervorgetreten. Viele der von ihr herausgegebenen Texte hat sie selbst bei Feldforschungen aufgezeichnet. 1
Zandukeli, P.: V., E. In: Kartuli sabcˇota encikø lopø edia (Georg. Sowjetenz.) 4. Tiflis 1979, 418 sq. ⫺ 2 Tiflis, Archiv der Georg. Akad. der Wiss., 10⫺2⫺ 223⫺18. ⫺ 3 V., E.: Kartuli samonadireo eposi. Dagupø uli monadiris cikli (Das georg. Jagdepos. Der Zyklus vom gestorbenen Jäger). Tiflis 1964; ead.:
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Vision, Visionsliteratur
Gruzinskij ochotnicˇnij mif i poe˙zija (Der georg. Jagdmythos und die georg. Jagdlyrik). M. 1976. ⫺ 4 ead.: Kartuli zgapø ati (Das georg. Märchen). In: ead.: Rcˇeuli kartuli xalxuru zgapø rebi 1⫺2 (Ausgewählte georg. Volksmärchen). Tiflis 1949/58, hier t. 1, 6⫺34; ead.: Zgapø ari (Das Märchen). In: Kartuli xalxuri pø oetøuri sˇemokmedeba. Tiflis 1960, 363⫺411; ead.: Skazka (Märchen). In: Gruzinskoe narodnoe poe˙ticˇeskoe tvorcˇestvo. Tiflis 1972, 228⫺267. ⫺ 5 ead. 1949 (wie not. 4) 14 sq. ⫺ 6 ibid., 12 sq. ⫺ 7 V., E.: Zgapø arta siuzˇetøebis sadziebeli (Aarne Andreevis mixedvit) (Typenverz. georg. Tiermärchen [nach dem System Aarne/Andreev]). In: Litøeratøuruli dziebani 13 (1960) 333⫺363. ⫺ 8 ead. 1964 und 1976 (wie not. 3); cf. auch ead.: Die Amiranisage und das grusin. Jagdepos. In: Acta ethnographica 10 (1961) 363⫺387. ⫺ 9 ead.: Masalebi kartuli folkø loris istoriisatvis (Materialien zur Geschichte der georg. Folklore). In: Litøeˇ ikovani, ratøuruli dziebani 4 (1948) 363⫺383. ⫺ 10 C M.: XVII saukunesˇi cˇacø erili kartuli zgapø rebi (Im 17. Jh. aufgezeichnete georg. Märchen). In: Mravaltavi 1 (1964) 59⫺205. ⫺ 11 V. 1949/58 (wie not. 4); cf. auch ead.: Gruzinskie narodnye predanija i legendy (Georg. Sagen und Legenden). M. 1973. ⫺ 12 ead.: Kartvel mtielta zepø irsitøkø viereba (Die Volksdichtung der Bergstämme Georgiens). Tiflis 1958.
Tiflis
Elguja Dadunashvili
Vision, Visionsliteratur 1. Allgemeines ⫺ 2. Abendländ. Kontexte ⫺ 2.1. Religiöse Kontexte, Visionsliteratur ⫺ 2.2. Populäres Erzählgut ⫺ 3. Außereurop. Kontexte
1 . All ge me in es. Die Vision (V.) ist eine innere Schau und als solche ein Erfahrungsmodus, der in vielen religiös-kulturellen Kontexten begegnet, allerdings mit gesellschaftlich stark divergierender Akzeptanz und sehr unterschiedlichem Umfeld bzw. sozialer Verortung verbunden ist1. Anders als bei der eidetischen Halluzination (J Eidetik) bzw. bei Derealisationsphänomenen weiß der Visionär, daß er eine bes., für andere nicht unmittelbar zugängliche Erfahrung durchlebt; diese kann von kurzen Bildsequenzen bis zu langen ,visionären Reisen‘ (J Jenseitsvisionen, J Jenseitswanderungen) reichen. Im Gegensatz zum Träumenden ist der Visionär wach. Die Grenze zwischen J Traum und V. verschwimmt in erzählenden Quellen zwar oft (bes. im Bereich luzider Träume, bei denen der Träumende weiß, daß er träumt), in theoretischen Texten wird jedoch deutlich zwischen
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beiden unterschieden (öfter wird auch über den unterschiedlichen religiösen Wert von Traum und V. diskutiert)2. In Zeugnissen ma. Kunst liegt der Träumer mit geschlossenen Augen auf einem Bett, während Visionäre sitzend oder stehend mit weit geöffneten Augen dargestellt werden3. Bei Inspirationserfahrungen und Auditionen4 steht nicht wie bei der V. das optische Element im Vordergrund, doch ist auch die V. oft von auditiven, taktilen und olfaktorischen Eindrücken (auch Synästhesien) begleitet. Sehr häufig sind Licht- und Glanzerscheinungen; auffällig ist eine Affinität zu Nahtoderlebnissen (cf. J Scheintod)5. Unterschiedlich ausgeprägt ist bei V.en der ekstatische Anteil (i.e. die Ausschaltung des gewöhnlichen Wachbewußtseins, als kataleptische oder kinetische Trance)6, woraus sich auch eine Typologie der V. entwickeln läßt7. Insgesamt ist visionäres Sehen überaus häufig und tatsächlich ein Normalfall religiöser Erfahrung. In der älteren Forschung nicht seltene Pathologisierungen sind heute aufgegeben, obwohl es selbstverständlich Übergänge zu wahnhaften Wahrnehmungsformen gibt. Visionäre Bildsprache ist meist deutlich traditionsverhaftet, in ihrer kulturellen Bedeutung eindeutig und (im Gegensatz zum Traum) durchaus ,rational‘. Biogr. signalisiert die V. oft eine Krisen- und Übergangserfahrung. Die V. kann dabei durch Askese (Fasten, Schlafentzug, Enthaltsamkeit), Reinigungsriten, Gebete, Musik, Rituale etc. vorbereitet werden, den Visionär aber auch unerwartet ,überfallen‘ ⫺ so bes. in V.en, die eine religiöse Bekehrung initiieren, z. B. mehrfach im Liber visionum des Otloh von St. Emmeram (11. Jh.)8. Drogengebrauch, religionsgeschichtlich vielfach belegt, spielt in der christl. V.stradition keine Rolle. Stabiler Teil eines rituellen Zusammenhanges ist die V. in christl. Kontexten nicht. Sie wird (im Unterschied zum Tagtraum) durchgehend als extern verursachtes, tief bewegendes Geschehen, meist als göttliche Gnade, erfahren. Neben die V. als Modus religiöser Erfahrung tritt die V. als literar. oder erzählerisches Motiv, für das in vielen Fällen kaum ein Erfahrungshintergrund erschlossen werden kann. Andererseits verfügen viele Gesellschaften, so die ma.-europ. wie auch die sibir.-schamanistische, über ausgeprägte V.skulturen, in
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Vision, Visionsliteratur
denen Visionäre hohes gesellschaftliches Ansehen genießen und V.en als Legitimationsszenarien an stabil definierten sozialen Orten anzutreffen sind. Oft bedarf die V. einer eigenen Deutung bzw. einer Dechiffrierung symbolischer Anteile, die meist durch einen übernatürlichen Boten geschieht (,Angelus interpres‘; cf. bereits Sach. 1,7⫺6,15); sie wird dann zur Allegorie. Die Rolle des deutenden Begleiters können u. a. auch Heilige (z. B. J Jacobus)9 übernehmen. 2 . Abe nd lä nd . Kon te xt e 2 .1 . Rel ig iö se Ko nt ex te , V.s li te ra tu r. Im abendländ. Kontext wirkten bes. die zahlreichen V.en der bibl. Überlieferung als Legitimation und Vorbild für V.sliteratur. Die J Propheten und Apokalyptiker der alttestamentlichen und antik-jüd. Tradition sind meist Visionäre10. Bes. Berufungserfahrungen wurden als V.en geschildert (nachgeahmt in der Berufung des ältesten engl. Dichters Caedmon zum Dichter eines Schöpfungshymnus)11. Im N. T. wird das österliche Geschehen als V. erzählt (1. Kor. 15,1⫺11, cf. 9,1; Mk. 16; Mt. 28; Lk. 24; Joh. 20⫺21). Allerdings stößt der Begriff V. hier an seine Grenzen: In einer Gesellschaft, die V.en kannte und respektierte (cf. 2. Kor. 12,1⫺5), wurde Ostern doch als etwas Singuläres erlebt. Daneben wirkten in christl. Texten antike V.en wie die des Er aus Pamphylien nach (Platon, Res Publica 10, 614B⫺ 621B). Antike Katabasis- und Nekyia-Schilderungen (J Unterwelt, Kap. 3.1⫺3.3) waren zwar meist nicht als V.en gedacht, beeinflußten aber spätere Jenseitsschilderungen. Alte Kirche (J Apokryphen, J Acta martyrum et sanctorum) und MA. entwickelten eigene Formen meist traditionsverhafteter V.en bes. als Jenseitsreisen der J Seele. Wegweisend für eine theol. Reflexion wurde Augustins V.stheorie (De Genesi ad litteram 12,6⫺32)12; eine eher schlichte Fassung am Beginn des MA.s bietet J Isidor von Sevilla (Etymologiae 7,8,37⫺41). Unter den bibl. Texten, die das Imaginarium der populären Jenseitsvisionen beeinflußt haben, wirkte neben den alttestamentlichen Prophetenbüchern (bes. Jesaja, Ezechiel, Daniel, Amos, Sacharja) und der neutestamentlichen Johannesoffenbarung (cf. J Neues Te-
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stament, Kap. 5) bes. die Erzählung vom armen J Lazarus (Lk. 16,19⫺31)13 nach. Einflußreiche Einzeltexte aus der Zeit der Alten Kirche sind der Hirt des Hermas (ca 140 p. Chr. n.)14 und die Visio Pauli15, die um 400 bereits ein individuelles Gericht der Seele nach dem Tod kennt. In den ab dem 4. Jh. verbreiteteten J Viten von Mönchen, Asketen und Bischöfen liegen visionäre und hellseherische Begabung dicht beieinander. Wichtig werden Fragen einer Unterscheidung gottgesandter und dämonischer V.en. Inhalt ausführlicherer V.en sind J Strafen im J Jenseits, die J Hölle, das J Fegefeuer, der J Himmel, das J Jüngste Gericht, J Christus (Kap. 5), Maria, die Heiligen, der J Teufel etc. Das christl. Imaginarium wird durch populäre V.sschilderungen im Volk verankert, dient aber bes. im MA. auch einer oft erstaunlich massiven Sozial- und Kirchenkritik16. Für das psychomentale Profil der Religiosität, die sich in diesen V.en ausdrückt, ist der divergierende Anteil an Himmels- und Höllenschilderungen aufschlußreich: Die Johannesoffenbarung entfaltet imaginativ fast nur den Himmel, während in Spätantike und MA. Höllenschilderungen immer detaillierter werden. Seit dem Hochmittelalter steigt dann der im engeren Sinn mystische Anteil an V.en. In der frühen Neuzeit wird der Anteil prognostisch-apokalyptischer V.en, die eigene Verbreitungs- und Publikationsformen haben, wieder deutlich ausgeprägter. Viele Jenseitsvisionen tradieren älteres (antikes, z. B. orphisch-pythagoreisches, kelt., germ.) Erzählgut (J Arsenius), und die wichtigste Slg paganen Traditionsgutes in Island, die Lieder-Edda (J Edda, Kap. 3.1), beginnt mit der Vo˛lospa, der V. einer Seherin, die von der Kosmogonie (J Schöpfung) bis zur J Eschatologie reicht. Germ. und christl. Elemente verbindet die ags. Traumvision Dream of the Rood (8. Jh.?), in der das J Kreuz Jesu als sprechende Figur auftritt17. Zwischen Antike und MA. stehen die zahlreichen V.en bei J Gregor d. Gr. Im Schatten dieser sich stabilisierenden Tradition bes. der Jenseitsvisionen bildet sich das Genre des V.sbuches heraus, als dessen erstes lat. Beispiel oft die Visio Baronti (678/79) aus dem Kloster Longoretus (Bistum Bourges) gesehen wird. Wichtige spätere Texte18 sind die Visio Wettini
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Vision, Visionsliteratur
des Walahfried Strabo (824), die in fast alle europ. Sprachen übersetzte und bis ins 17. Jh. rezipierte Visio Tnugdali (Visio Tundali) eines ir. Ritters, die der ir. Wandermönch Marcus in Regensburg 1147/48 literar. fixierte19, die Visio Godescalci (1189) eines holstein. Bauern (unabhängig voneinander von zwei Geistlichen aufgezeichnet), die V.en der Hildegard von Bingen, J Birgitta von Schweden, Christina von Stommeln, Mechthild von Magdeburg, Margery Kempe oder Katharina von Siena, die Visio Thurkilli eines engl. Bauern von 1206 (Motiv der J Seelenwaage)20 und das ˚ steson21. Draumkvæde des Olaf A Empfänger von V.en sind oft Sterbende22, bes. J Märtyrer, gelegentlich Laien (dann oft im Rahmen einer Bekehrungsgeschichte), häufiger Mönche und andere Kleriker, seit dem Hochmittelalter stetig zunehmend Frauen (wie gelegentlich schon in der Alten Kirche). Die V. war damit über lange Zeit eine wesentliche Ausdrucksform kreativer weiblicher Spiritualität. Übers.en ins Deutsche beginnen im 12. Jh., ins Altenglische schon im 9. Jh., ins Irische noch früher. V.en können konkreten Zwecken wie der Legitimierung von Reliquien, Kirchenbauten oder Klostergründungen wie auch politischer Propaganda dienen. Die Einführung des Fronleichnamfestes 1264 beruht auf den V.en der Juliana von Lüttich. Slgen wie die des J Caesarius von Heisterbach (Dialogus miraculorum distinctio 8, De diversis visionibus mit 97 Kap.n), die J Legenda aurea, das J Speculum exemplorum23 oder das J Alphabetum narrationum enthalten zahlreiche Jenseitsvisionen mit stabiler, oft stereotyper Topik. Dies setzt sich fort in den Exempelsammlungen des 16. Jh.s bis hin zur unterhaltenden Kompilationsliteratur des 17./18. Jh.s, oft mit eigenen Teilsammlungen von V.en (Tilmann J Bredenbach, Johannes J Mathesius, Benignus J Kybler etc.), und Prodigiensammlungen (Conrad J Lycosthenes, Johann J Herold). Überhaupt sind erzählerisch reduzierte Formen in Exempelsammlungen und in der Mirakelliteratur häufig (Speculum exemplorum, J Tabula exemplorum, J Speculum laicorum)24. Exempla werden oft als kurze visionäre Botschaften aus dem Jenseits ausgegeben (klassisch: William von Malmesbury, Gesta regum Anglorum 3,237). In Predigt und Katechese verlieren
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V.en ihren Platz im 17.⫺19. Jh. nur sehr allmählich. Durchaus nicht alle V.en sind der J Mystik verpflichtet (manche Mystiker haben V.en eher verachtet), doch haben viele Mystikerinnen des MA.s und der Neuzeit ihre Botschaften im Modus der V. und ihrer nachträglichen (oft wie bei Hildegard von Bingen viele Jahre dauernden) Reflexion erfahren und als V.sbuch gestaltet25. Im Protestantismus sind V.en seltener als in der kathol. Tradition, aber keineswegs unbekannt (J. Böhme26, E. Swedenborg)27. Religiöse V.en dienen weniger der Übermittlung von Geheimnissen, sondern stützen einen imaginativen Symbolkosmos, in dem der Mensch sich spirituell beheimatet. Spezielle Typen von V.en mit eigenen Gesetzmäßigkeiten sind die Heautoskopie (J Doppelgänger), die jenseitige Visio beatifica (unmittelbare, beseligende Gottesschau), die nach kathol. Lehre das eigentliche Ziel menschlicher Existenz ist, die in der russ. Orthodoxie wichtige reine Lichtvision (,Taborlicht‘) oder die ,totale V.‘, in der ein Mensch die Welt in ihrer Gesamtheit sieht28. 2 .2 . P op ul är es Er zä hl gu t. Im Märchen sind V.en eher selten. Zwar treten Geister, Dämonen, Engel oder andere numinose Wesen als handelnde Figuren auf, aber es wird kaum je auf einen bes. Bewußtseinszustand des Wahrnehmenden rekurriert, und das technische Vokabular der Erscheinungen fehlt gewöhnlich. Die im europ. Märchen überaus häufigen Jenseits- und Anderweltreisen werden meist als ,Reisen in eine äußerste Ferne‘ vorgestellt und sind insofern keine Jenseitsvisionen, obwohl sie sich mit diesen motivlich vielfach berühren29 (cf. J Luftreisen). Die ,Realität‘ der V. kann durch aus ihr verbleibende Gegenstände (wie in AaTh/ATU 737: cf. J Orakel)30 gesichert oder durch den Gang über eine J Brücke veranschaulicht werden. Viele Erzählungen handeln ,real‘ in Himmel oder Hölle ohne jeden Rekurs auf Visionäres (AaTh/ATU 475: J Höllenheizer; AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels). Auch abenteuerliche Reisen wie die Navigatio Sancti Brendani (J Brandans Seefahrt) sollten nicht als V.en bezeichnet werden31. Ein märchenhaft-direkter Zugang zum Jenseits kann in größere Erzählzusammenhänge
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Vision, Visionsliteratur
eingebettet erscheinen (AaTh/ATU 470: J Freunde in Leben und Tod). Auch die religiöse V.serzählung kann gelegentlich in eine ,reale‘ Jenseitswanderung übergehen (Erzählungen vom Fegefeuer des hl. J Patrick)32. Populäre Jenseitsvisionen weisen nicht selten Unterschiede zu kirchlich tradierten Jenseitsszenarien auf 33. Politische Zukunftsvisionen sind bis ins 20. Jh. oft mit den Namen volkstümlicher Seher verbunden (J Prophezeiungen)34. V.en einer hist. Vergangenheit sind in populärem Erzählgut sehr selten35; nur in apokalyptischer V.sliteratur begegnen öfter Überblicke zukünftigen Geschehens (cf. ex eventu-Prophezeiungen)36. Die Grenze zwischen Erscheinung und V. ist fließend: Eine Mutter sieht ihr totes Kind (AaTh/ATU 769: J Tränenkrüglein). In AaTh/ ATU 681: J Relativität der Zeit ist der Erfahrungsmodus V. für die Handlung entscheidend: Wie ähnlich in vielen Geschichten von J Entrückungen verläuft die Zeit in der V. anders als in der Realität. In AaTh/ATU 934 D: cf. J Todesprophezeiungen dient die V. einer Einsicht in die Zusammenhänge des J Schicksals. Märchenhaft ist es, wenn magische Gegenstände (Speise, Kraut, Öl zur Salbung der Augen) die Fähigkeit zur Schau Jenseitiger verleihen (Mot. F 235.4, D 1331.1; cf. auch AaTh/ATU 836 F*: The Miser and the Eye Ointment)37. Dieses Motiv findet sich z. B. oft in brit. Erzählungen über J Fairies und ist schon bei J Gervasius von Tilbury belegt (Otia imperialia 3,85). In AaTh/ATU 726: Die drei J Alten verschwindet die Fähigkeit visionärer Schau mit einem Essen. Diese Fähigkeit kann zum Habitus werden, zum ,zweiten Gesicht‘, wie es traditionell bestimmten Familien oder Volksgruppen zugesprochen wird38. Doch ist der Inhalt der Schau eines ,zweiten Gesichts‘ meist die Zukunft, etwas räumlich Entferntes (Hellsehen) oder (selten) etwas Vergangenes, nicht aber eine jenseitige Welt. Häufiger sind V.en in Erzählungen, die sich zwischen religiösem Exemplum und Volkserzählung bewegen (AaTh/ATU 826: J Sündenregister auf der Kuhhaut). Hierher gehören auch Erzählungen, in denen eine V. nicht sofort als solche erkannt wird oder eine symbolische Repräsentation verschiedener Jenseitsgeschicke nachträglicher Erklärung bedarf (cf. AaTh/ATU 840: J Strafen im Jenseits; AaTh/
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ATU 840 B*: The Judgments in this World; AaTh/ATU 471: J Brücke zur anderen Welt) und die damit einen Spezialfall der allegorischen, deutungsbedürftigen V. darstellt (cf. visionäre Allegorien von Charaktertypen39 oder die V. der ,Frau Welt‘40). Immer wieder wird vor ,falschen‘, dämonischen oder illusionären V.en gewarnt41. Als religiöses Motiv sind V.en in religiös beeinflußten populären Erzählungen häufiger, was auch z. B. für die islam. Überlieferung gilt42. Sehr häufig ist in allen europ. Erzählkulturen die schwankhafte Verwendung von Motiven und Stoffen aus der religiösen V.sliteratur43, die z. T. ma. Parodien auf diese fortsetzen44 und etwa von vorgetäuschten V.en erzählen45. Aspekte einer V. besitzt auch der Traum des nörglerischen Schusters in AaTh/ ATU 801: J Meister Pfriem. Trotz ihrer Traditionsbezogenheit unterliegen V.en kulturellen Moden. Die große Blütezeit von populären Marienvisionen etwa war neben dem MA. das 19./20. Jh.; allerdings finden sich entsprechende Erzählungen im rom. und lateinamerik. Raum bis in die Gegenwart46. Die gesellschaftliche Akzeptanz einzelner V.stypen divergiert in den europ. Regionen stark, was z. B. selbst für Erzählungen von Geistererscheinungen47 (als eine Minimalform der V.) gilt. Eine weitgehende Zurückführung von märchenhaftem, sagenhaftem oder auch sonst phantastischem Erzählgut auf V.en verkennt, daß V.en kaum je religiös oder mythol. innovativ sind, sondern sich fast ausschließlich in kulturell vorgegebenen Bahnen bewegen. Der Eindruck einer ,überbordenden‘, psychedelischen Fülle ergibt sich nur, wenn V.en ihrem kulturellen Kontext entnommen und in einen anderen verpflanzt werden. Umgekehrt verkennt eine Interpretation visionärer Bilder als J Archetypen oft die breiten, kulturübergreifenden Tradierungswege von V.serzählungen. 1
cf. Benz, E.: Die V. Stg. 1969; Dinzelbacher, P.: V. und V.slit. im MA. Stg. 1981; id.: An der Schwelle zum Jenseits. Sterbevisionen im interkulturellen Vergleich. Stg. 1989; id.: Ma. V.slit. Darmstadt 1989; id. (ed.): Wb. der Mystik. Stg. 21998; id. u. a.: Visio(n), -slit. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1734⫺ 1747; Frenschkowski, M.: V. 1⫺5. In: TRE 35 (2003) 117⫺147; id.: Traum 1⫺5. In: TRE 34 (2002) 28⫺ 46. ⫺ 2 id.: Offenbarung und Epiphanie 1⫺2. Tübin-
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gen 1995/97, hier t. 1, 286 sq. ⫺ 3 Dinzelbacher, P.: Himmel, Hölle, Heilige. V.en und Kunst im MA. Darmstadt 2002; Zehnpfennig, M.: ,Traum‘ und ,V.‘ in Darstellungen des 16. und 17. Jh.s. Hannover 1979. ⫺ 4 cf. Frenschkowski, M. u. a.: Auditions, Auditory Experiences. In: Enc. of the Bible and Its Reception 3. B. u. a. 2010 (im Druck). ⫺ 5 cf. Zaleski, C.: Otherworld Journeys. Accounts of NearDeath-Experience in Medieval and Modern Times. N. Y. 1987; Dinzelbacher, P.: V. und moderne Sterbeforschung. In: Kühnel, J. u. a. (edd.): Psychologie in der Mediävistik. Göppingen 1985, 9⫺49. ⫺ 6 cf. Tuczay, C. A.: Ekstase im Kontext. Ma. und neuere Diskurse einer Entgrenzungserfahrung. Ffm. 2009, 199⫺249. ⫺ 7 Frenschkowski 2003 (wie not. 1) 117⫺ 122. ⫺ 8 cf. Vollmann, B. K.: Otloh von St. Emmeram. In: Verflex. 11 (22004) 1116⫺1152, bes. 1130⫺ 1132. ⫺ 9 EM 7, 462. ⫺ 10 cf. Behrens, A.: Prophetische V.sschilderungen im A. T. Münster 2002; Haeussermann, F.: Wortempfang und Symbol. Eine Unters. zur Psychologie des prophetischen Erlebnisses. Gießen 1932; Horst, F.: Die V.sschilderungen der alttestamentlichen Propheten. In: Evangel.Theologie 20 (1960) 195⫺205; Koch, K.: Vom profetischen zum apokalyptischen V.sbericht. In: Hellholm, D. (ed.): Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East. Tübingen 31989, 192⫺202; Frenschkowski, M.: Prophet. In: Coenen, L./Haakker, K. (edd.): Theol. Begriffslex. zum N. T. 2. Wuppertal/Neukirchen 22000, 1468⫺1480; id.: Prophet, Prophetie. In: Horn, F. W./Nüssel, F. (edd.): Taschenlex. Theologie und Religion 3. Göttingen 2008, 952⫺955. ⫺ 11 Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum 4,24. ⫺ 12 cf. Frenschkowski 2003 (wie not. 1) 139. ⫺ 13 id. (wie not. 2) t. 1, 360 sq. ⫺ 14 Der Hirt des Hermas. ed. N. Brox. Göttingen 1991. ⫺ 15 Visio Sancti Pauli. ed. T. Silverstein. L. 1935; Apocalypse of Paul. ed. id./A. Hilhorst. Genf 1997. ⫺ 16 EM 4, 974. ⫺ 17 Sauer, H.: Dream of the Rood. In: Lex. des MA.s 3. Stg./Weimar 1999, 1370 sq. ⫺ 18 Dinzelbacher 1981, 1989 (wie not. 1); Gardiner, E.: V.s of Heaven and Hell before Dante. N. Y. 1989 (Anthologie); id.: Medieval V.s of Heaven and Hell. N. Y. 1993 (Bibliogr.); Toldo 1903; Kampenhausen, H. J.: Traum und V. in der lat. Poesie der Karolingerzeit. Ffm. 1975; Gaster, M.: Hebrew V.s of Heaven and Hell. In: J. of the Royal Asiatic Soc. of Great Britain and Ireland (1893) 584⫺604. ⫺ 19 Bernardt, G.: Dramen. 2: Tundalus redivivus (1622). ed. F. Rädle. Amst. 1985; Palmer, N. F.: Visio Tnugdali […]. The German and Dutch Translations and Their Circulation in the Later Middle Ages. Mü. 1982; Düwel, K.: Die „Visio Tundali“. Bearb.stendenzen und Wirkungsabsichten volkssprachiger Fassungen im 12. und 13. Jh. In: Iconologia Sacra. Festschr. K. Hauck. B./N. Y. 1994, 529⫺545; Verdeyen, R.: Hieronymus Bosch en het visionen van Tondalus. In: Revue des langues vivantes 15 (1950) 504⫺508. ⫺ 20 Schmidt, P. G.: Die V. des Bauern Thurkill. Lpz./Weinheim 1987. ⫺
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21
Barnes, M. P.: Draumkvæde. Oslo u. a. 1974; Jonsson, B. R.: Om Draumkvæde och dess datering. In: Sumlen (1994/95) 9⫺153 (mit engl. Resümee); ˚ steson. Stg. 2006. ⫺ 22 TuDas Traumlied des Olaf A bach, Reg., s. v. deathbed visions. ⫺ 23 cf. Matuszak, J.: Das Speculum exemplorum als Qu. volkstümlicher Glaubensvorstellungen des SpätMA.s. Siegburg 1967, 48⫺52. ⫺ 24 Tubach, F. C.: A Girl’s V. of Heaven and Hell (V 511,2). In: Laographia 22 (1965) 576⫺580; Tubach, Reg., s. v. visions. ⫺ 25 cf. Ruh, K.: Geschichte der abendländ. Mystik 1⫺4. Mü. 1990⫺99; Ruhbach, G./Sudbrack, J. (edd.): Christl. Mystik. Mü. 1989. ⫺ 26 Peuckert, W.-E.: Das Leben Jakob Böhmes. Jena 1924. ⫺ 27 cf. Frenschkowski 2003 (wie not. 1) 142⫺145. ⫺ 28 cf. EM 10, 1052; Gregor d. Gr., Dialogi 2,35,2⫺2 und 7 (Benedikt von Nursia). ⫺ 29 cf. Karlinger, F.: Jenseitswanderungen in der Volkserzählung. In: id.: Menschen im Märchen. Wien 1994, 91⫺102. ⫺ 30 cf. auch Scherf 1, 22⫺25 (Ring). ⫺ 31 Gegen EM 2, 654. ⫺ 32 DBF 2,2, 460⫺464; Wright, T.: St. Patrick’s Purgatory. L. 1844; cf. auch Haren, M./Pontfarcy, Y. de (edd.): The Medieval Pilgrimage to St. Patrick’s Purgatory. Lough Derg and the European Tradition. Enniskillen 1988; Tuczay (wie not. 6) 209⫺212. ⫺ 33 DBF 2,2, 520 (fälschlich als Traum bezeichnet). ⫺ 34 Peuckert, W.-E.: Prophet, Prophetie. In: HDA 7 (1935⫺36) 338⫺366; id.: Weissager. ibid. 9 (1938⫺41) 358⫺387; id.: Propheten, dt. ibid., Nachträge, 66⫺100; Bergdolt, K./Ludwig, W. (edd.): Zukunftsvoraussagen in der Renaissance. Wiesbaden 2005. ⫺ 35 DBF 2,2, 592 sq. ⫺ 36 EM 10, 1424. ⫺ 37 Zum magischen Salböl für die Augen (Mot. F 35.4.1) cf. Evans-Wentz, W. Y.: Fairy-Faith in Celtic Countries. Ox. 1911, 175 sq. u. ö.; Hartland, E. S.: The Science of Fairy Tales. L. 1891, 59⫺67; cf. allg. Hazlitt, W. C.: Faiths and Folklore of the British Isles 2. L. 1905, 537⫺539. ⫺ 38 cf. Campbell, J. G.: The Gaelic Otherworld. Edinburgh 2005, 240⫺270 und pass.; Davidson, H. E. (ed.): The Seer in Celtic and Other Countries. Edinburgh 1989; Hunter, M.: The Occult Laboratory. Magic, Science and Second Sight in Late 17th-Century Scotland. Woodbridge 2001 (Quellenslg). ⫺ 39 Tubach, num. 2134 u. ö. ⫺ 40 Tubach, num. 5390. ⫺ 41 Tubach, num. 2544. ⫺ 42 El-Shamy, Folk Traditions, 385 sq. ⫺ 43 EM 6, 1045. ⫺ 44 Patch, H. R.: Some Elements in Mediaeval Descriptions of the Otherworld. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. 33 (1918) 601⫺743, hier 606 sq. ⫺ 45 EM 11, 489 (Reineke Fuchs); cf. auch Cervantes, Don Quixote 2, Kap. 41 und 70. ⫺ 46 Apolito, P.: Visions mariales sur Internet a` la fin du XXe sie`cle. In: Ethnologie franc¸aise 33,4 (2003) 641⫺647. ⫺ 47 Pons, C.: Le Spectre et le voyant. Les e´changes entre morts et vivants en Islande. P. 2002.
Hofheim
Marco Frenschkowski
3 . Auß er eu ro p. Ko nt ex te. In außereurop. Kontexten gelten V.en weithin als wahr
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(außerim Buddhismus). Sie geschehen vor allem im J Traum, an sakralen Orten, in der Einsamkeit, in der Wildnis, unter Entbehrungen und J Fasten, in Meditation und Ekstase, aber auch als Tagträume im Alltag. Jedoch entspricht nicht jeder Traum einer V. Vielmehr geht es bei der V. eher um den Einblick in eine andere Wirklichkeit. Bei allem Eingebungscharakter, der V.en zugeschrieben wird, sind sie doch in der Regel von der jeweiligen kulturellen Tradition geprägt. Zwar gibt es ,visionäre Spezialisten‘ wie die Schamanen (J Schamanismus), aber V.en können prinzipiell von jedem erlebt werden. V.en können unter dem Einfluß halluzinogener Drogen und Rauschmittel (J Narkotika) entstehen, wie des Fliegenpilzes bei den westsibir. Wogulen und Ostjaken und den nordostsibir. Paläoasiaten, des Peyote-Kaktus in Teilen Nord-und Mittelamerikas, von Ayahuasca in Südamerika, von Iboga in Westafrika oder auch von Wein in Gebieten von Westasien bis in den Fernen Osten. In Nordasien und Nordamerika sind Drogen allg. nicht von essentieller Bedeutung für V.en1. Im visionären Geschehen wird der gesamte religiös-mythische Kosmos erfahrbar. Hierzu gehören bes. die sakralen ,Erzählungen der Frühzeit‘, d. h. der Zeit vor dem hist. Gedächtnis, die bei vielen Völkern von jüngeren Sagenberichten unterschieden werden. In diesem Sinn sind Mythen, Heldenepen und Märchen, die auf Mythen beruhen, V.en, die vom Erzähler zusammen mit seinen Zuhörern immer wieder erlebt werden. Auch V.en von Begegnungen mit Gottheiten und anderen übernatürlichen Wesen bestätigen ständig das jeweilige traditionelle Weltbild. So findet eine dauernde Wechselwirkung zwischen visionärem Erleben, Tradition und mündl. Überlieferung statt. V.en aus Mythologie und Volksliteratur sind auch bildlich auf Felsbildern (z. B. J Schwanjungfrau2, Fliegenpilzmädchen3), auf Trommel und Gewand des Schamanen (z. B. J Weltenbaum) oder in Tempelmalereien dargestellt oder werden durch sakrale Plastiken, Rituale, Masken und Tierverkleidungen ausgedrückt. Auch hierbei sind Wechselwirkungen mit der Erzählkultur anzunehmen. Beim Vortrag von Märchen und Mythen begibt sich der Erzähler, ähnlich dem Schamanen, in einem tranceähnlichen Zustand in eine
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andere Welt, was der Wiedergabe einer V. gleichkommt. V. meint hier nicht willkürliches Variieren oder ausuferndes Umformen der Erzählstoffe; im Gegenteil wird gerade bei den geheiligten ,Erzählungen der Frühzeit‘ in der Regel keine Variation erlaubt, wobei der Vortragende auf Fehler hingewiesen werden darf. Schilderungen von V.en kommen zudem in allen anderen Gattungen der erzählenden Volksliteratur vor. Wenn ⫺ so in einem orotschon. Märchen ⫺ einem verzweifelten Vater bei der Rettung seines Kindes die Feuergottheit in Gestalt einer alten Frau erscheint und mit ihrem Rat hilft4 oder die verletzte, erzürnte Feuergottheit in einer von Finnland bis Ostsibirien vorkommenden Sage Rache ankündigt5, sind dies V.en der gleichen Gottheit in unterschiedlichen Rollen. Ebenso offenbaren sich häufig die Herren der Jagdtiere (J Herr der Tiere), der Flüsse und Berge, sei es in helfender, belohnender, warnender oder strafender Weise, nicht selten auch mit erotischen Absichten6. Die Erd- bzw. Lebensmutter erscheint im jakut. Epos und in der altägypt. Überlieferung aus dem Welten- bzw. Lebensbaum, um den Helden bzw. den jungen Pharao mit ihrer Milch zu stärken7; eine chin. Erzählung des 12. Jh.s gibt eine akustische V. (sog. Audition) wieder, bei welcher eine himmlische J Weisung einer Sünderin ihre Strafe erläßt8. Figuren aus der Mythologie nordamerik. Indianer werden im Alltag ,angetroffen‘9, und ein kasach. Schwanjungfrau-Märchen schildert, wie ein Hirte das Geschehen als zwischen Traum, Tagtraum und Wachbewußtsein schwankend erlebt10. Häufiges Thema von V.en ist die existentielle Frage, was nach dem J Tod kommt. Oft liegt das Land der Verstorbenen weit entfernt, es ist das Land der Ahnen, jenseits eines Wassers, am Unterlauf eines Flusses, unter der Erde gelegen (J Unterwelt) oder im J Himmel, ohne Züge von J Paradies oder J Hölle, jedoch oft als J verkehrte Welt gesehen, wo die Toten weiterleben wie im Diesseits11. Ein gewöhnlicher Sterblicher kann ,aus Versehen‘ dorthin geraten12 oder sich dorthin begeben, um rituelles Wissen zu erlangen13, aber die Rückführung von J Seelen ist nur dem Schamanen möglich14. Die Thematik von J Orpheus und Eurydike erfreut sich auch bei den
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indian. Völkern Nord-15 wie Südamerikas16 großer Popularität. In der indo-iran. Tradition existiert, wohl bedingt durch die ausgeprägt dualistische Weltsicht (J Dualismus), seit frühester Zeit die V. einer unter der Erde gelegenen Stätte ewiger J Qualen für Sünder bzw. eines himmlischen Paradieses (in Ansätzen bereits im altägypt. Weltbild vorhanden). Diese Vorstellung wurde später für weite Teile Asiens bestimmend, prägte Mazdaismus, Hinduismus und Buddhismus, vermischte sich z. T. mit dem Schamanismus und wurde auch von Christentum und Islam übernommen17. So besucht etwa eine Schamanin eine buddhist. Hölle18, und ein beliebtes Thema buddhist. geprägter Erzählungen ist die Rettung von Seelen aus den Höllenqualen19. Neben diesen oft abschreckenden V.en gibt es solche mit einer großartigen Schau des gesamten Kosmos mit dem Weltenbaum und allen Gestirnen, wie in mandschur. Mythen und Märchen20, oder eine an den ,Traum des Scipio‘ (Somnium Scipionis; Cicero, De re publica 6) erinnernde schamanistische Weltvision21. Himmelsvisionen sind in Amerika bes. für die Algonkin-Indianer typisch, mit einem Himmelsbild „voll Wesen, die darauf warten, dem Menschen zu helfen“22. Allg. kann man von einer ausgeprägten indian. V.skultur in Nordamerika sprechen, die auf der ,V.ssuche‘ durch Fasten und Entbehrungen, in Wildnis und Einsamkeit beruht. Die V.ssuche als Element der J Initiation und Schutzgeistsuche wird von Jugendlichen geübt und bis ins hohe Alter als eine Art Lebenshilfe praktiziert23. Von den Schauenden gewöhnlich geheimgehalten, sind diese V.en in Erzählstoffen nur schwer direkt nachzuweisen24. Der ,visionäre Spezialist‘ schlechthin ist der Schamane. Jede schamanische Jenseitsfahrt stellt eine visionäre Reise dar (J Jenseitsvisionen, J Jenseitswanderungen). Bei seiner Initiation erlebt der Schamane die eigene J Zerstückelung25, und seine Seele durchwandert, zuweilen unter der Führung eines Lehrers, die verschiedenen Jenseitsbereiche26 und lernt dort manchmal personifizierte Krankheiten kennen27. Die Parallelen zu mazdait. (Buch des Arda¯ Vı¯ra¯z), sinobuddhist.28 und christl. Jenseitswanderungen sind offensichtlich. Ebenso findet die V. von der Ersteigung der Himmels-
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leiter durch J Jakob, J Mohammed oder eine chin. Kaiserin (J Sou shen ji, num. 251) in der schamanistische Himmelsreise ihre Entsprechung. Vom Buddhismus werden V.en allg. als ,Trugbilder des Geistes‘ gebrandmarkt. Dennoch lebten im populären Buddhismus V.en von detailliert ausgemalten furchtbaren Höllenstrafen fort, die denen des christl. europ. MA.s an Grausamkeiten in nichts nachstehen; sie sind jedoch wie beim christl. Fegefeuer temporärer Natur29. V.en von einem ,westl. Paradies‘ (sanskr. sukha¯vatı¯: Glücksland; chin. jingtu, jap. jo¯do: reines Land) in Verbindung mit dem Buddha Amita¯bha (,der unermeßliches Licht besitzt‘) spielen im Volksbuddhismus Ostasiens eine große Rolle30. Das Tibet. Totenbuch mit V.en des ,Zwischenzustandes‘ zwischen Tod und Reinkarnation (cf. auch das Ägypt. Totenbuch)31 zeigt als Nachtodvision Verwandtschaft mit weltweit bekannten Nahtodvisionen (cf. J Scheintod)32. Das Thema der V. des eigenen zukünftigen Lebens in einem kurzen Traum (im weiteren Sinn zu AaTh/ATU 681: J Relativität der Zeit gehörig), wurde für westasiat. Ursprungs gehalten33, zeigt aber eher buddhist. Denken und ist in Tibet, der Mongolei und Ostasien bes. populär34. Als sehr visionsfreundlich läßt sich der chin. Taoismus charakterisieren. So werden vom Adepten etwa V.en der im eigenen Körper wohnenden Gottheiten verlangt35. V.en taoist. Höhlenparadiese und Glücksorte oder taoist. Gottheiten wie der Königinmutter des Westens haben chin. Dichtung, Novellen und Romane inspiriert36. Taoist. Jenseitswanderungen und Reisen in der Sternenwelt verraten schamanistische V.smuster37. In einer initiatorischen Prüfung verlangt ein taoist. Priester von seinem Adepten die Verleugnung und Überwindung der eigenen Gefühle, dergestalt, daß er auch angesichts furchtbarer V.en ⫺ wie Angriffen wilder Tiere, der Zerstückelung seiner Frau durch ihn selbst und Erduldung schlimmster Höllenqualen ⫺ keinen Laut von sich geben darf. Erst beim Anblick seines von ihm selbst in einem Jähzornsausbruch zerschmetterten Sohnes entfährt ihm ein Laut des Entsetzens, und er scheitert38. Wiewohl der Islam nicht allg. visionsfreundlich genannt werden kann und alle Rauschmit-
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tel verpönt sind, wurden hier Paradiesvisionen bes. populär39. Im mystischen Islam erscheinen Heilige in V.en, und von V.en sind SufiDichtung und Erzählstoffe der verschiedenen islam. Völker inspiriert40. Die austral. ,Traumzeit‘-V.en können von jedem Initiierten im Traum erlebt werden, und in Ritualen werden sie reaktualisiert. Sie handeln von der Entstehung der Landschaft, des Lebensraumes und der Lebewesen in der Urzeit41. Von einer apokalyptischen Endzeit (J Eschatologie) wissen dagegen V.en nicht weniger asiat. und amerik. Völker. Sie wurden z. T. von J Weltzeitmythen der Hochkulturen beeinflußt, sind aber auch unter dem Eindruck des verheerenden Auftretens der Europäer, bes. in Nord- und Südamerika sowie in Australien, aufgekommen42. 1 Harner, M. (ed.): Hallucinogens and Shamanism. L./Ox./N. Y. 1973; Sˇapovalov, A. V.: K voprosu ob ispol’zovanii galljucinogenov v sˇamanskoj praktike narodov Severnoj Azii (Zur Frage des Gebrauchs halluzinogener Drogen in der schamanistischen Praxis der Völker Nordasiens). In: Archeologija, e˙tnografija i antropologija Evrazii 14,2 (2003) 139⫺147; Rätsch, C.: Medizin aus dem Regenwald. Augsburg 1997. ⫺ 2 Evers, D.: Felsbilder ⫺ Botschaften der Vorzeit. Lpz./Jena/B. 1991, 35⫺37; De˙vlet, E. G. und M. A.: Mify v kamne. Mir naskal’nogo iskusstva Rossii (Mythen im Stein. Die Welt der Felsbildkunst Rußlands). M. 2005, 180⫺183. ⫺ 3 ibid., 186⫺203; Menovsˇcˇikov, G. A.: Skazki i mify naroˇ ukotki i Kamcˇatki (Märchen und Mythen der dov C Völker Tschukotkas und Kamtschatkas). M. 1974, 47, 629, num. 189. ⫺ 4 Bäcker, J.: Märchen aus der Mandschurei. MdW 1988, num. 26. ⫺ 5 Doerfer, G.: Sibir. Märchen 2. MdW 1983, num. 42 (negidal.), 66 (orok.), cf. auch Loorits, O.: Das mißhandelte und sich rächende Feuer. Tartu 1935. ⫺ 6 Alekseenko, E. A.: Mify, predanija, skazki ketov (Mythen, Sagen und Märchen der Keten). M. 2001, num. 58⫺64; Doerfer (wie not. 5) num. 43 (negidal.); D’jakonova, V. P.: O znacˇenii reki i vody v kul’ture tjurkojazycˇnych narodov Sajano-Altaja (Über die Bedeutung von Fluß und Wasser in der Kultur der turksprach. Völker des Sajan-Altai-Gebiets). In: Reki i narody Sibiri. ed. L. R. Pavlinskaja. SPb. 2007, 127⫺150, hier 144, 147. ⫺ 7 Holmberg, U.: Der Baum des Lebens. Hels. 1922, 57⫺65; Butterworth, E. A. S.: The Tree at the Navel of the Earth. B. 1970, 1, 14; cf. ferner Duerr, H. P.: Traumzeit. Ffm. 1985, 329, not. 105. ⫺ 8 SchmidtGlintzer, H.: Geschichte der chin. Lit. Mü. 1990, 359. ⫺ 9 Müller, W.: Indian. Welterfahrung. Ffm./B./ Wien 1981, 37 sq. ⫺ 10 Jiao, Shaye/Zhang, Yunlong: Hasakezu minjian gushi (Kasach. Volkserzählungen). Umrumtschi 1982, 258⫺260. ⫺ 11 Halifax, J.:
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Shamanic Voices. L. 1979; Alekseev, N. A.: Tradicionnye religioznye verovanija tjurkojazycˇnych narodov Sibiri (Die traditionellen Glaubensvorstellungen der turksprachigen Völker Sibiriens). Novosi˚ .: The North American Inbirsk 1992; Hultkrantz, A dian Orpheus Tradition. Stockholm 1957; Cipolletti, M. S.: Jenseitsvorstellungen bei den Indianern Südamerikas. B. 1983. ⫺ 12 Doerfer (wie not. 5) num. 16, 24 (ewenk.). ⫺ 13 ibid., num. 26 (ewenk.); cf. Findeisen, H.: Schamanentum. Stg. 1957, 91 sq. ⫺ 14 Nisˇan saman-i bithe (Das Buch über die NischanSchamanin). ed. E. N. Volkova. M. 1962. ⫺ 15 Hultkrantz (wie not. 11). ⫺ 16 Cipolletti, M. S.: El espejo deformante. In: ead./Langdon, E. J. (edd.): La muerte y el ma´s alla´ en las culturas indı´genas latinoamericanas. Quito 1992, 157⫺178, hier 163. ⫺ 17 Gardiner, E. (ed.): Visions of Heaven and Hell before Dante. N. Y. 1989. ⫺ 18 Volkova (wie not. 14). ⫺ 19 Mair, V. H.: Notes on the Maudgalya¯yana Legend in East Asia. In: Monumenta Serica 37 (1986⫺87) 83⫺93; Heissig, W.: Helden-, Höllenfahrts- und Schelmengeschichten der Mongolen. Zürich 1962; id.: Geschichte der mongol. Lit. Wiesbaden 1972, 87⫺100; Sazykin, A. G.: Die mongol. Erzählung über Güsˇü-Lama. In: Zentralasiat. Studien 16 (1982) 111⫺141. ⫺ 20 Bäcker, J.: Mandschur. Göttinnen und iran. Teufel. Wiesbaden 1997, 54 sq.; id. (wie not. 4) num. 16. ⫺ 21 Pereverzeva, O. V.: Otkrovenija Michaila Duvana kak projavlenie archaicˇeskogo soznanija (Die Offenbarungen des Michail Duvan als Ausdruck des archaischen Bewußtseins). In: Tradicionnaja kul’tura Vostoka Azii 2. Blagovesˇcˇensk 1999, 239⫺244. ⫺ 22 Müller, W.: V.smuster und ihre Areale. In: id.: Neue Sonne ⫺ Neues Licht. ed. R. Gehlen/B. Wolf. B. 1981, 68⫺79; Tedlock, D. und B.: Über den Rand des tiefen Canyon. Lehren indian. Schamanen. Mü. 1978. ⫺ 23 Müller, W.: Die Religionen der Waldlandindianer Nordamerikas. B. 1956, 55⫺68. ⫺ 24 Bierhorst, J.: Die Mythologie der Indianer Nordamerikas. Mü. 1988, 72⫺74. ⫺ 25 EM 11, 1203. ⫺ 26 Findeisen (wie not. 13) 68⫺70. ⫺ 27 Alekseev, N. A.: Sˇamanizm tjurkojazycˇnych narodov Sibiri (Der Schamanismus der turksprachigen Völker Sibiriens). Novosibirsk 1984, 120. ⫺ 28 Gignoux, P.: Le Livre d’Arda Vira¯z. P. 1984; Duyvendak, J. J. L.: A Chinese „Divina Commedia“. Leiden 1952. ⫺ 29 Mair, Heissig und Sazykin (wie not. 19). ⫺ 30 Mylius, K.: Geschichte der altind. Lit. Mü. 1988, 354; Haas, H.: Amida Buddha, unsere Zuflucht. Lpz. 1910; Bauer, W.: China und die Hoffnung auf Glück. Mü. 1971, 224⫺232. ⫺ 31 Coleman, G./Thupten Jinpa: The Tibetan Book of the Dead. L. 2005; Das ägypt. Totenbuch. ed. G. Kolpaktchy. Mü. 1973. ⫺ 32 Moody, R. A.: Leben nach dem Tod. Mü. 1977; Dinzelbacher, P.: An der Schwelle zum Jenseits. Sterbevisionen im interkulturellen Vergleich. Fbg 1989. ⫺ 33 Ting, N.-t.: Years of Experience in a Moment. A Study of a Tale Type in Asian and European Literature. In: Fabula 22 (1981) 183⫺213. ⫺
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cf. Riftin, B. L.: Tipologija i vzaimosvjazi srednevekovych literatur (Typologie und Wechselbeziehungen der ma. Lit.en). In: Tipologija i vzaimosvjazi srednevekovych literatur Vostoka i Zapada. ed. id. M. 1974, 9⫺116; Chen, Ganglong: Shenmi de heima yu tan shi jing meng (Das geheimnisvolle schwarze Pferd und ein erschreckender Traum voll Weltschmerz). In: Zhang, Yu’an/Chen, Ganglong (edd.): Dongfang minjian wenxue bijiao yanjiu. Peking 2003, 485⫺502. ⫺ 35 Maspero, H.: Le Taoı¨sme et les religions chinoises. P. 1971, 310⫺313. ⫺ 36 z. B. Ge, Zhaoguang: Xiangxiangli de shijie (Eine Welt aus Vorstellungskraft). Peking 1990. ⫺ 37 Robinet, I.: Randonne´es extatiques des Taoistes dans les astres. In: Monumenta Serica 32 (1976) 159⫺273. ⫺ 38 Der Fremde mit dem Lockenbart. ed. T. Thilo. B. 1989, 245⫺255; cf. Chen, Yinchi: Cong ,lieshi chuanshuo‘ dao ,Du Zichun gushi‘ (Von der ,Märtyrersage‘ zur Erzählung über Du Zichun). In: Minjian wenyi jikan (1987) H. 4, 90⫺105 (ind. Ursprung). ⫺ 39 Kremers, D.: Islam. Einflüsse auf Dantes „Göttliche Komödie“. In: Heinrichs, W. (ed.): Neues Hb. der Lit.wiss. 5: Oriental. MA. Wiesbaden 1990, 202⫺215; Gruber, C./Colby, F. S. (edd.): The Prophet’s Ascension. Cross-cultural Encounters with the Islamic Mi¤ra¯j Tales. Bloom./Indianapolis 2010. ⫺ 40 Schimmel, A.: Sufismus. Eine Einführung in die islam. Mystik. Mü. 2000; ead.: Die Träume des Kalifen. Mü. 1998; ead.: Auf dem Weg … Begegnungen mit Sufis und Derwischen. Mü. 1999. ⫺ 41 z. B. Voigt, A./Drury, N.: Das Vermächtnis der Traumzeit. Leben, Mythen und Traditionen der Aborigines. Mü. 1998; Hume, L.: Ancestral Power. The Dreaming Consciousness and Aboriginal Australians. Melbourne 2002. ⫺ 42 Galin, D.: Das entfesselte Ungeheuer. V.en der Naturvölker zum Weltende. Mü. 1998.
Gummersbach
Jörg Bäcker
Visualisierung 1. Allgemeines ⫺ 2. Bildliches Erzählen ⫺ 3. Erzählbilder ⫺ 4. Bildgeschichten ⫺ 5. Filmerzählungen ⫺ 6. Erzähltheater
1 . All ge me in es. V. bedeutet, mit dem Auge nicht erfaßbare Phänomene, also Gedanken und Vorstellungen sowie Texte und entfernte, verborgene oder undurchschaubare Sachkomplexe und Abläufe, dem Sehsinn zugänglich zu machen. Dabei lassen sich drei Aspekte unterscheiden: (1) das Sichtbarmachen, d. h. den Augen verschlossene Erscheinungen für die visuelle Wahrnehmung technisch aufzubereiten, z. B. über Makro- oder Mikrophotographie, Seismo- oder Sonographie; (2) das ,Veranschaulichen‘, d. h. ab-
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strakte Ideen und karge Aussagen in optischer Form auszubreiten, z. B. als Zeichnung, Schema oder szenische Darstellung; (3) das ,Verbildlichen‘, d. h. Phänomene in die Gestalt eines Bildes zu transformieren, z. B. in realitätsnahe Abbilder, Landkarten oder Diagramme. Öfter wird der Begriff V. auch über den Bereich des Sehens hinaus verwendet, z. B. für Lautmalerei oder Geräusche, die beim Zuhörer innere Bilder entstehen lassen. Im Umkreis des Erzählens ist V. wesentlich ein Vorgang, der der Erzeugung, Aufbereitung, Aneignung und Weitergabe von Erzählinhalten, Wissensbeständen und Phantasien mit bildlichen Mitteln dient. Mündl. oder schriftl. Texte sowie geistige Vorstellungen von Figuren, Handlungen und Spielräumen werden durch V. ,ins Bild gesetzt‘: in eine tendenziell flächige, synchrone und ,gerahmte‘ Darstellungsform1. V. und ihr Ergebnis, die Bilder, lassen sich nicht trennen. Im folgenden bleiben Bilder als Objekt und als Erzählmotiv ausgeklammert (J Bild, Bildzauber; J Bilder vom Himmel), ebenso Bilder als Auslöser für mündl. Erzählungen (J Denkmalerzählungen; J Heiligenbild; Fernsehbilder2) und als eine Art Traditionsspeicher (der Erzählmotive bewahrt), etwa für Legenden3, ferner quellenkritische Aspekte bildlichen Erzählens (J Bildquellen, -zeugnisse). Hier wird vor allem die V. von Erzählungen als ein Prozeß behandelt, der äußere Bilder hervorbringt, sowie die Rolle solcher sinnlich wahrnehmbaren Bilder im manifest gewordenen Erzähltext aus Bild und Wort und in der Erzählpraxis4. Bereits die Speicherung von mündl. Erzählungen durch Schrift kann man als einen V.sprozeß ansehen. Im engeren Sinne verbildlicht werden Erzählungen vor allem mittels J Illustration, wobei Erzähltexte visuell ergänzt werden und die Ergänzungen sowohl von den medialen Bedingungen samt den medienimmanenten Mechanismen (gelenkter Blick, bewegendes Vorbild, gefällige Belehrung5) als auch den künstlerischen Moden abhängig sind. Schon im MA. und in der frühen Neuzeit wurden häufig epische Erzählstoffe (z. B. J Tapisserien) und nicht selten auch sagenhafte Gestalten und Fabeln in dreidimensionaler Form verbildlicht (rom. Bauplastiken, got. Holzskulpturen)6. Die in der Moderne stei-
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gende Menge und Vielfalt der bildlichen Reproduktionstechniken haben Bildcharakter und Bildgebrauch tiefgreifend verändert7. Auf dem gegenwärtigen ,Weltmarkt der Bilder‘8 ⫺ in Zeitungen und Zeitschriften, auf Werbeplakaten und Sammelbildern, in J Film und Fernsehen (J Television), auf Websites und in Fantasy-Spielen des Internets ⫺ finden sich Erzählinhalte, meist fragmentiert und bunt vermischt, in einer häufig stereotypisierten (J Stereotypen), verfremdeten (J Verfremdung), überspitzten und verzerrten Form (J Parodie; J Travestie). Der interaktive Umgang mit virtueller Realität im Computer hat den Prozeß der V. noch weiter ausgedehnt. Die V. erweitert aber nicht nur die Wahrnehmungsfelder und die Anschauungs- und Denkmöglichkeiten, sondern erzeugt auch neue Wahrnehmungsweisen9. 2 . B il dl ic he s E rz äh le n. Das Erzählen ist, obwohl es zumindest im Kopf durch innere Bilder stets auch eine bildliche Komponente, d. h. Bildhaftigkeit, besitzt (J Stil), primär ein sprachlicher Vorgang. Strenggenommen können Bilder nicht erzählen, sondern nur (bekannte) Erzählungen oder (spontane, oft vorbildlose) Phantasiegeschichten (cf. J Fabelwesen) evozieren, die von jedem Betrachter unterschiedlich imaginiert werden10. L. Giuliani unterscheidet, die Überlegungen J Lessings weiterführend11, zwischen einem beschreibenden und einem narrativen Modus in der Ikonographie12, L. J Kretzenbacher versteht ein erzählendes Bild-Umdeuten als Ikonotropie13. Allg. spricht man von ,erzählender Malerei‘14, ,erzählendem Bild‘15 oder Bildergeschichten16. Es erscheint daher sinnvoll, Erzählungen, die sich optisch manifestieren (gleichgültig, ob es dazu Textvorlagen gibt oder nicht), unter dem übergreifenden Begriff der ,Bilderzählung‘ zusammenzufassen17. Sprach- oder Traumbilder, die unsichtbar bleiben, gehören nicht dazu, insbesondere auch deshalb nicht, weil Erzählen eine zeitliche Struktur verlangt, in der Anfang und Ende sowie konsekutive Bezüge (zumindest andeutend) markiert sind18. Die Bilderzählung läßt sich grob in vier Untergruppen differenzieren: Sie wird (1) durch zeichenhafte Ausdrucksmittel ⫺ darunter auch Buchstaben ⫺ in Einzelbilder komprimiert (⫽ Erzählbild) oder (2) als eine ⫺ oft
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mit Worten und Texten verflochtene ⫺ Bilderfolge entfaltet (⫽ Bildgeschichte); sie wird ferner (3) in ,laufenden Bildern‘ als Filmerzählung fixiert oder (4) als ein mit Bildelementen szenisch entfaltetes Erzähltheater präsentiert. Sprachliche und bildliche Ausdrucksmöglichkeiten unterscheiden sich. Wort und Bild werden darum oft kombiniert19. Neben Illustrationen, die das im Text Erzählte interpretierend quasi verdoppeln, gibt es Bebilderungen von eigenem Wert (cf. der autonom wirkende Graphikzyklus von David Hockney zu sechs Märchen der J Kinder- und Hausmärchen)20 und vielfältige Wort-Bild-Synthesen (cf. J Emblem, Kap. 5)21. Während sich die Sprache bes. für eine präzise Weitergabe von Informationen ⫺ vor allem was Zeitverhältnisse, Motivationen, Begründungen und Folgerungen angeht ⫺ oder für gedankliche Reflexionen eignet, veranschaulichen Bilder vor allem Figuren und Handlungsräume, vermitteln Gesamteindrücke, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, wecken spontane Emotionen und geben unmittelbar zu empfindende Grundstimmungen und Gefühle wieder. Bilder stützen, wie z. B. wortlose Bilder- und Zeichenlitaneien der Barockzeit22, auch die Erinnerung, fördern Memorieren und Meditieren. Im Gegensatz zu den eher bedeutungsbezogenen Assoziationen sprachlichen Mitdenkens tendiert das ,Lesen‘ erzählender Bilder zur betrachtenden Einfühlung in Linienführungen, Raumformen, Farbflächen, Beleuchtungen. Eine verbildlichte Erzählung läßt der Rezeption viel Freiraum, denn Zeichnen und Betrachten sind weniger kongruent als Schreiben und Lesen. Ob allerdings einfache Leute in hist. Zeit überhaupt Bild-Codes (etwa Kirchenfresken) ,lesen‘ konnten, wird z. T. skeptisch beurteilt23. Auch die Frage, inwieweit dieselben Erzählstoffe in verschiedenen Kulturen oder Epochen unterschiedlich visualisiert und Verbildlichungen unterschiedlich verstanden wurden und werden, ist systematisch noch wenig untersucht24. 3 . E rz äh lb il de r. Erzählbilder sind in der Regel Bilder, die im zeitgenössischen Kontext bekannte Erzählungen wiedergeben. Die Textüberlieferung besitzt Priorität; die jeweilige Bilddarstellung bedeutet Textauslegung und wird bei einer erzählenden Vergegenwärtigung
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des Bildinhalts abermals interpretiert. In Europa waren es insbesondere bibl. Geschichten, Apokryphen und Heiligenlegenden, die auf Kirchenfresken, Legendentafeln und Ikonen abgebildet wurden25. Kunsthist. werden bei religiösen Bildern des MA.s und der frühen Neuzeit narrative und argumentative Bilder ⫺ oder Erzähl- und Lehrbilder ⫺ unterschieden26. Häufig aber sind Bilder polyfunktional; W. J Brückner hat z. B. für luther. Bekenntnisbilder gezeigt, daß sie zugleich Erzähl-, Erinnerungs- und Argumentationsbilder darstellen27. Die vielen Erscheinungsformen der Biblia pauperum oder Schnorr von Carolsfelds Bibel in Bildern (1852⫺60)28 lassen sich ebenso wie Werke der Historienmalerei29, die neben mythischen und christl. Themen bes. geschichtliche Ereignisse repräsentieren, als Erzählbilder auffassen. Der Spielraum des Künstlers für seine Darstellung der zugrundeliegenden Überlieferungen und Ereignisse ist vielfältigen Bedingungen unterworfen und hat speziell unter Historikern eine entsprechende Deutungsvielfalt ausgelöst30. Formal können Erzählbilder in einszenische Darstellungen (mit eher ,dramatischer‘ Attitüde) und mehrszenische (epische) Repräsentationen unterschieden werden. Aus pädagogischer Sicht werden figurenreiche Bilder, die auf keine konkrete Erzählung verweisen, sondern die kindliche Erzählphantasie anregen sollen, ebenfalls als Erzählbilder bezeichnet31. Hier ließen sich verwandte Formen, die alltägliches Erzählen inspirieren können, und zwar Such- und Vexierbilder sowie auch Bilderrätsel (J Rätsel), anschließen, deren Entschlüsselung in kürzere oder längere Erzählformen gerinnen kann32. Generell gibt es im modernen Alltag zahlreiche ,potentielle‘ Erzählbilder, z. B. Fotografien von privaten Festen oder Reisen, über die bei bestimmten Gelegenheiten miterlebte oder tradierte Erinnerungsgeschichten und Anekdoten ausgetauscht werden. 4 . B il dg es ch ic ht en. Diese in der Regel neu kreierten Erzählungen werden in wichtigen Aspekten visuell konzipiert und in einem Bild oder häufig in mehreren bis zahlreichen Bildern (daher auch ,Bildergeschichten‘) dargestellt. Sie kommen öfter ohne Worte aus, enthalten jedoch meist mehr oder weniger um-
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fangreiche sprachliche Zutaten. Vorläufer der modernen Bildgeschichte, die seit der Wende vom 19. zum 20. Jh. vor allem durch den J Comic repräsentiert wird, finden sich bereits im J Flugblatt der frühen Neuzeit33, in William Hogarths (1697⫺1764) gesellschaftskritischen Kupferbildserien, in Rodolphe Töpffers (1799⫺1846) komischen Bilderromanen, die er als ,Lit. im Bilde‘ verstand, und in den Bildepen oder Bildverserzählungen von Wilhelm J Busch34. Die zahlreichen, durchweg massenhaft und in Serien produzierten Comic-Genres35, ferner Fotoerzählungen in Illustrierten, aber auch Bildgedichte36 und ⫺ in jüngster Zeit zunehmend ⫺ gezeichnete Romane (graphic novels)37 sind Beispiele für die Vielfalt der Bildgeschichten. Eine Sonderform stellt das Storyboard dar, eine sequentielle Folge graphisch stark vereinfachter Bildskizzen, die als Erinnerungs- wie auch als Analysehilfe dienen38 oder im Filmdrehbuch den Handlungsablauf mit den zugehörigen Bildeinstellungen fixieren. Als Kurzformen der Bildgeschichte kann man die zugespitzte Darstellung komischer Alltagssituationen im Bildwitz39 oder Cartoon40 ansehen, aber auch die J Karikatur, die ihren sozialen oder politischen Kommentar nicht selten in verbildlichte Sprichwörter und Redensarten einkleidet. Während Bildsymbole, auf eindeutige Begriffe verweisende Bildchiffren (z. B. J Allegorien wie Justitia als Frau mit verbundenen Augen und Waage in der Hand) und bes. die wortsprachlichen Elemente in einer Bildgeschichte der Präzisierung des raum-zeitlichen und sozialen Kontexts sowie der Pointierung der Aussage und der Zuspitzung der Komik dienen, also visuelle Vieldeutigkeit abbauen, prägt die Visualität bes. das Erscheinungsbild und veranschaulicht über Gesichtsausdruck und Gebärden auch Wesen oder Gemütslage der handelnden Figuren. Die Erfindung einer Bildgeschichte nimmt oft von einer graphischen Geste oder einer bildhaften Gestalt ihren Ausgang, die entweder dem ,Leitstrahl‘ der Wort-Sprache folgend oder auf dem ,graphischen Weg‘ weiter ausgeformt wird, so daß die Bilderzählung sukzessiv aus einer Summe von Bildelementen zur Sinneinheit erwächst41. Anders verläuft der Prozeß, wenn Märchen und Sagen nur formal als Bildgeschichten präsentiert werden, z. B. in den eher illustrierenden
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Bilderbogen des 18./19. Jh.s 42, wohingegen neuere Formen von Märchen-Comics und Märchen-Cartoons durch ihre auch im Visuellen komischen und parodistischen Elemente einer originären Bildgeschichte näher stehen43. 5 . Fil me rz äh lu ng en. Filmerzählungen beruhen auf einer technisch eng verkoppelten Bilderfolge, die ⫺ im Gegensatz zu einem einzelnen Bild oder einer Bilderreihung ⫺ Zeitabläufe als solche vermitteln kann. Im Film, der generell als zeitlich begrenzter Bildvortrag dem Wortvortrag des Erzählens analog erscheint, potenzieren sich die Erzählmöglichkeiten, die einerseits in der visuellen Bildgestaltung samt deren Verknüpfung mit Sprache und Ton und andererseits in den Wahrnehmungsmodalitäten des Rezipienten liegen; dessen Miterleben wird durch dreidimensionale Verfilmungen noch gesteigert. Auch das Erzählen in ,laufenden Bildern‘ kann man grob zweiteilen. Zum einen existieren Erzählungen, die bekannte oder erkennbare Geschichten visuell illustrierend nacherzählen: Sie bieten der Imagination des Rezipienten einen ausgewählten und mittels Montage und Schnitt spezifisch angeordneten Bilderschatz an, z. B. bei der Verfilmung klassischer Märchen oder Romane. Zum anderen findet sich eine neue, betont visuelle Art des Erzählens, die mit originär visuellen Mitteln wie Lichteffekten und Farbkontrasten die Zuschauerphantasie in eine von Bildeindrücken dominierte Welt entführt und auf diese Weise emotional überwältigt. Die Übergänge sind freilich, auch innerhalb eines Films, fließend. In den Zeichentrickfilmen Walt J Disneys gibt es eindrucksvolle Beispiele, wenn etwa ⫺ angeregt von Motiven der europ. Kunst ⫺ in Snow White and the Seven Dwarfs (1937; AaTh/ATU 709: J Schneewittchen) die Titelheldin durch einen Wald rennt, in dem die Äste der Bäume nach ihr greifen44. In der neueren volkskundlichen Erzählforschung gibt es zunehmend Studien über die Transformation von Märchen und Sagen in die Form des Films45 sowie über märchenhafte Strukturen im Unterhaltungsfilm46. Das Filmdrehbuch erscheint generell als „eine andere Art des Erzählens“47, in der eine Geschichte aufgrund eines komplexen Produktionsvorgangs als Film manifest wird. Bilder, Töne und
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Sprache verdichten sich zu der sinnlich-suggestiven Einheit der Filmerzählung48. Das Forschungsinteresse gilt hier u. a. dem visuellen Arrangement von Ort und Zeit des Geschehens, der Figurenpräsentation und der Verknüpfung der Erzähleinheiten, wobei z. B. auch die Wirkung kollektiver Erinnerungen auf die Wahrnehmung mit zu bedenken ist. Es geht um Bildstrategien und bes. um Art und Auswirkung der Bilderrezeption. Wenn z. B. Kinder bestimmte Märchen zweifach aufnehmen ⫺ einmal einem Erzähler zuhörend, das andere Mal Filme betrachtend ⫺ entsteht bei ihnen eine bemerkenswerte Verunsicherung49. Das liegt wohl nicht nur an der Andersartigkeit der Filmfiguren, des Handlungsgeschehens und der Überlappung der Bilder, sondern auch daran, daß sprachliche und visuelle Momente widersprüchliche Empfindungen auslösen; hier ereignet sich offenbar ein „Zusammenstoß zweier entgegengesetzter affektiver Korrelate, in dessen Folge gleichsam ein Zusammenbruch der emotionalen Ordnung erfolgt“50. 6 . E rz äh lt he at er. Wenn erzählende Texte in speziellen szenischen und gestischen Formen (J Fingererzählungen) verbildlicht werden, die einen Erzählvortrag mit theatralem Spiel verschränken, läßt sich von Erzähltheater sprechen51, bei dem man u. a. auch künstliche Figuren verwenden kann (cf. J Puppentheater; J Schattenspiel). Hierzu gehört in gewisser Weise auch der durch Gesten und z. T. mit Musik begleitete (gesungene) Vortrag vor Moritatenschildern (J Bänkelsang) und Guckkastenbildern52 sowie ⫺ freilich eher metaphorisch ⫺ die gelegentlich durch eine Erzählerstimme vom Tonband untermalte dreidimensionale V. in J Märchenparks. In J Märchenspiel, Märchenoper (J Oper) und Märchenfilm erscheint dagegen das Erzählen ganz in den Präsentationsakt eingeschmolzen. Erzähltheater im engeren Sinne ist stets an die ausdrucksstarke Performanz eines oder mehrerer Erzähler(innen) gebunden, bei der in szenischem Arrangement z. B. auch Bilder im Augenblick des Erzählens gemalt, gezeichnet, geklebt oder auf andere Weise geschaffen und aktiv eingesetzt werden, so daß sich Bildobjekte quasi in Akteure verwandeln und der ursprünglich Agierende zurücktritt53. Im jap.
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Tischtheater aus Papier, dem Kamishibai, zeigt der vorführende Erzähler zu kurzen Geschichten Bilder in einem bühnenähnlichen Rahmen54. Verwandte Formen einer solchen Erzähl-Performance gibt es auch in Europa55. Das moderne ,Bildertheater‘ auf großen und kleinen Bühnen hingegen vermittelt keine kausallogisch entwickelten Geschichten, sondern schafft assoziativ und ganzheitlich wirkende Bildwelten56. 1 Boehm, G. (ed.): Was ist ein Bild? Mü. 2006; Belting, H.: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwiss. Mü. 2001; Mitchell, W. J. T.: Bildtheorie. Ffm. 2008. ⫺ 2 Wienker-Piepho, S.: Das Ende der alten Geschichten? Fernsehen und Erzählkultur. In: Die Kunst des Erzählens. Festschr. W. Scherf. Potsdam 2002, 124⫺139. ⫺ 3 Kretzenbacher, L.: Bilder und Legenden. Erwandertes und erlebtes Bilder-Denken und Bild-Erzählen zwischen Byzanz und dem Abendlande. Klagenfurt 1971, 49⫺74. ⫺ 4 Gerndt, H.: Mit Bildern erzählen. Skizze für ein enzyklopädisches Stichwort. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 309⫺325. ⫺ 5 cf. Warncke, C.P.: Sprechende Bilder ⫺ sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987. ⫺ 6 EM 2, 329⫺335. ⫺ 7 Brückner, W.: Massenbilderforschung. Eine Bibliogr. bis 1991/1995. Würzburg 2003. ⫺ 8 Pörksen, U.: Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype. Stg. 1997; Holert, T. (ed.): Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit. Köln 2000. ⫺ 9 Köck, C.: Bilderfolgen. Wahrnehmungswandel im Wirkfeld Neuer Medien. In: Gerndt, H./Haibl, M. (edd.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwiss. Münster u. a. 2005, 199⫺209. ⫺ 10 Gerndt, H.: Können Bilder erzählen? Bemerkungen zur „V. des Narrativen“. In: Leben ⫺ Erzählen. Festschr. A. Lehmann. B. 2004, 99⫺117. ⫺ 11 Lessing, G. E.: Laokoon. ed. H. Blümner. B. 2 1880, bes. 248⫺274. ⫺ 12 Giuliani, L.: Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griech. Kunst. Mü. 2003. ⫺ 13 Kretzenbacher, L.: Ikonotropie zu Kultbildern und Fresken in Südosteuropa. In: Südost-Forschungen 29 (1970) 249⫺266. ⫺ 14 Burckhardt, J.: Über erzählende Malerei. In: id.: Vorträge. 1844⫺1887. ed. E. Dürr. Basel 31919, 250⫺265. ⫺ 15 Kretzenbacher, L.: Volkskundliche Feldforschung nach dem „erzählenden Bilde“. In: Erzählen über Orte und Zeiten. Festschr. H. Gerndt/ K. Roth. Münster u. a. 1999, 345⫺362. ⫺ 16 [Bernstein, F. W.:] Bernsteins Buch der Zeichnerei. Zürich 1989, 56, 64, 86, 116, 134, 308, 334, 366, 398, 416, 502. ⫺ 17 cf. Becker, S.: Bilderzählung. Narrativistik, Visuelle Anthropologie, Wahrnehmungsforschung. In: SAVk. 97 (2001) 53⫺65; Riha, K.: Bilderbogen, Bildergeschichte, Bilderroman. Zu unterschiedlichen Formen des ,Erzählens‘ in Bildern. In: Haubrichs, W. (ed.): Erzählforschung. Theorien, Methoden und
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Modelle der Narrativik 3. Göttingen 1978, 176⫺192; Karpf, J.: Strukturanalyse der ma. Bilderzählung. Ein Beitr. zur kunsthist. Erzählforschung. Marburg 1994. ⫺ 18 cf. Gombrich, E. H.: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. B. 1967, bes. 190⫺194. ⫺ 19 Bringe´us, N.-A.: Bild und Text. Einführung in ein Problemfeld. In: Petzoldt, L./ Schneider, I./Streng, P. (edd.): Bild und Text. Ffm. 1995, 26⫺36; Harms, W. (ed.): Text und Bild, Bild und Text. Stg. 1990. ⫺ 20 Hockney, D.: Sechs Märchen der Brüder Grimm. 39 Radierungen. ed. B. Kling. Marburg 2008. ⫺ 21 cf. EM 7, 47⫺73. ⫺ 22 Kretzenbacher, L.: Wortlose Bilder- und Zeichen-Litaneien im Volksbarock. Zu einer Sondergattung ordensgelenkter Kultpropaganda im Mehrvölkerraum der Ostalpen. Mü. 1991. ⫺ 23 Schenda, R.: Bilder vom Lesen ⫺ Lesen von Bildern. In: Internat. Archiv für Sozialgeschichte der dt. Lit. 12 (1987) 82⫺106. ⫺ 24 cf. Giuliani (wie not. 12). ⫺ 25 Kretzenbacher (wie not. 3); id.: Malbild-Erzählungen aus dem Apokryphenwissen des MA.s. In: Fabula 20 (1979) 96⫺106. ⫺ 26 Büttner, F.: „Argumentatio“ in Bildern der Reformationszeit. In: Zs. für Kunstgeschichte (1994) H. 1, 23⫺44; Hofmann, W.: Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte. Mü. 1998, bes. 51⫺65. ⫺ 27 Brückner, W.: Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jh.s. Die ill. Confessio Augustana. Regensburg 2007, 30. ⫺ 28 Nagy, S.: Julius Schnorr von Carolsfelds „Bibel in Bildern“ und ihre Popularisierung. Würzburg 1999. ⫺ 29 Gaethgens, T. W./Fleckner, U. (edd.): Historienmalerei. B. 1996. ⫺ 30 Haskell, F.: Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit. Mü. 1995. ⫺ 31 Altenberg, E.: Schreiben zu Erzählbildern. Heidelberg 21998. ⫺ 32 Oker, E.: Bilderrätsel. Rund um den Rebus. Mü. 1994. ⫺ 33 Brednich, R. W.: Zur europ. Vorgeschichte der Comics. In: Freiburger Univ.sbll. 53/54 (1976) 57⫺68. ⫺ 34 Schnackertz, H. J.: Form und Funktion medialen Erzählens. Narrativität in Bildsequenz und Comicstrip. Mü. 1980. ⫺ 35 Knigge, A. C.: Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer. Reinbek 1996; id.: 50 Klassiker: Comics. Von Lyonel Feininger bis Art Spiegelman. Hildesheim 2004. ⫺ 36 cf. z. B. Gernhardt, R.: Vom Guten, Schönen, Baren. Bildergeschichten und Bildgedichte. Zürich 1997. ⫺ 37 cf. z. B. Satrapi, M.: Persepolis. Wien 2005. ⫺ 38 Labrie, V.: The Itinerary as a Possible Memorized Form of the Folktale. In: Arv 37 (1981) 89⫺102. ⫺ 39 Röhrich, L.: Der Witz. Mü. 1980, 292⫺300; Horn, K.: Märchenmotive und gezeichneter Witz. In: ÖZfVk. 86 (1983) 209⫺237; Wehse, R.: Schneewittchen hatte sieben Zwerge. Oder: Märchen in Bilderwitz und Karikatur. In: Fahrenberg, W. P./Klein, A. (edd.): Der Grimm auf Märchen. Marburg 1985, 97⫺109. ⫺ 40 cf. Gernhardt, R.: Lichtenberg ⫺ ein verhinderter Cartoonist? In: id.: Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen. 99 Sudelblätter zu 99 Sudelsprüchen von Georg Christoph Lichtenberg. Zürich 1999, 205⫺214. ⫺
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Vita
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Criegern, A. von: Vom Text zum Bild. Wege ästhetischer Bildung. Weinheim 1996, 178⫺193. ⫺ 42 EM 2, 348⫺356. ⫺ 43 Kastner, P.: Traumprinzen. Märchen-Cartoons. Ffm. 1992; Berner, R. S.: MärchenComics. B. 2008. ⫺ 44 Girveau, B./Diederen, R. (edd.): Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europ. Kunst. Mü. 2009, hier 40, 156⫺ 163. ⫺ 45 Schmitt, C.: Adaptionen klassischer Märchen im Kinder- und Familienfernsehen. Ffm. 1993; id. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster u. a. 2008, 87⫺212; Tomkowiak, I.: Disneys Märchenfilme. In: Bendix, R./Marzolph, U. (edd.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europ. Vergleich. Baltmannsweiler 2008, 209⫺233; Greenhill, P. (ed.): Fairy Tale Films. Logan, Utah 2010; Zipes, J.: The Enchanted Screen. The Unknown History of Fairy-Tale Films. N. Y. 2011. ⫺ 46 Shojaei Kawan, C.: Filmmärchen für Erwachsene. Z. B. „Chocolat“. Bendix/Marzolph (wie not. 45) 159⫺183. ⫺ 47 Brunow, J. (ed.): Schreiben für den Film. Das Drehbuch als eine andere Art des Erzählens. Mü. 1988. ⫺ 48 Ostermann, E.: Die Filmerzählung. Acht exemplarische Analysen. Mü. 2007; Bordwell, D.: Narration in the Fiction Film. Madison 1985. ⫺ 49 Wardetzky, K.: Projekt Erzählen. Baltmannsweiler 2007, 145⫺163. ⫺ 50 ibid.,162. ⫺ 51 Waechter, F. K.: Erzähltheater. Ffm. 1997, 9 sq. ⫺ 52 Füsslin, G. u. a. (edd.): Der Guckkasten. Stg. 1995; Scheele, F. (ed.): Rrrr! Ein ander Bild! Guckkastenblätter des 18. Jh.s aus der graphischen Slg. Oldenburg 1999. ⫺ 53 Baeseke, J.: Erzähltheater ⫺ Fragen an eine Form. In: Festschr. Scherf (wie not. 2) 42⫺50; Wardetzky, K.: Erzähler spielen oder Erzähler sein? Über Erzähltheater und textgebundenes Erzählen. ibid., 51⫺61; ead.: Erzähltheater. In: Wb. der Theaterpädagogik. ed. G. Koch/M. Streisand 2003, 90 sq. ⫺ 54 Schüler, H.: Sprachkompetenz durch Kamishibai. Dortmund 2009. ⫺ 55 Baesecke, J./Rost, H.: Höher als der Himmel, tiefer als das Meer. Ein Erzähl- und Theater-Werkbuch. Ffm. 2007. ⫺ 56 Simhandl, P.: Bildertheater. In: Koch u. a. (wie not. 53) 47⫺50; id.: Bildertheater. Bildende Künstler des 20. Jh.s als Theaterreformer. B. 1993.
München
Helge Gerndt
Vita 1. Antike Anfänge der Textform ⫺ 2. Hagiographische Viten: Spätantike und MA. ⫺ 3. Von der V. zur neuzeitlichen Biogr. ⫺ 4. V. und Märchen
1 . Ant ik e Anf än ge de r Tex tf or m. Eine biogr. Lit., die ein menschliches Leben als Einheit erfassen und literar. gestalten will, entsteht zuerst im hellenist. ZA. Zwar kennt schon das alttestamentliche Erzählgut biogr. Passagen von großer Gestaltungskraft wie die
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Geschichten Sauls, J Davids und J Salomos, aber diese sind immer Teil größerer Geschichtswerke, deren Gegenstand das Volk, nicht der einzelne ist. In der griech.-hellenist. Lit. wird über ein anekdotisches Interesse an großen oder interessanten Menschen hinaus das Leben als Einheit im Widerstreit zwischen Charakter und Schicksal zum Gegenstand erzählender Texte (Hermippos von Smyrna, 3. Jh. a. Chr. n.). Allerdings sind diese frühen Biogr.n nur fragmentarisch überliefert1. Terminus technicus wird bios (,Leben‘; seit Cornelius Nepos [ca 100⫺28 a. Chr. n.] auch lat. vita), während griech. biographia erst in der V. Isidori des Neuplatonikers Damaskios (ca 462⫺538 p. Chr. n.) erscheint2. Nicht als Geschichtsschreibung im engeren Sinn angesehen (Plutarch, Alexander 1,2), verbindet sich die Textsorte leicht mit Elementen des Enkomions und der J Legende. Als zu schematisch gilt heute F. Leos lange verbindliche Unterscheidung zweier Grundtypen: die nach Sachkategorien ordnende (Beispiel Sueton) und die chronologisch-erzählende Biogr. (Beispiel Plutarch)3. Erstere orientiere sich an empirischen Materialsammlungen, letztere am peripatetischen Ethos-Begriff. Heute rechnet die Forschung eher mit einem kohärenten, aber variablen Genus der biogr. Erzählung, das moralphil. Fragen (Charakter, Bewährung der Tugend) öfters mit einer Lust am Anekdotischen, an Skandalgeschichten, an ungeschönter Detailfülle verbindet. Höhepunkt der griech. Biogr. sind die Bioi paralle¯loi (Parallelviten) des J Plutarch4, die jeweils einen Griechen und einen Römer parallel zur Darstellung bringen (wie ähnlich bei Varro und Cornelius Nepos). Im lat. Sprachraum etablierte sich das Genre vor allem durch politische Viten (Kaiserviten Suetons; Tacitus, Agricola), doch wurden auch Lebensbeschreibungen von Dichtern, Künstlern, Philosophen etc. abgefaßt (oft in Sammelwerken wie denen des Diogenes Lae¨rtios oder des Eunapios, die auch Doxographisches einfließen lassen). Für die Erzählforschung bes. interessant sind die populären Beispiele antiker Biogr.n, etwa die Lebensbeschreibungen des J Homer, J Äsop und Secundus5, die auch Spruchweisheit, Fabeln und Rätsel integrieren. Stärker religiös akzentuiert und tendenziell Werbeschriften sind die einflußreichen Bioi des Pythagoras (vier antike
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Vita
Fassungen sind erhalten) und Philostrats Bios des Apollonius von Tyana (Abfassungszeit ca 218⫺235 p. Chr. n.), der den Rahmen der Biogr. mit phil. Belehrungen und Elementen des abenteuerlichen Reiseromans (Indien-, Spanienreise) füllt. Im Judentum rezipiert das Genre z. B. Philon von Alexandrien in seiner Biogr. des J Mose (1. Hälfte 1. Jh. p. Chr. n.) und anderen Schr. Die Grenzen zum Roman sind fließend (Moses-Roman des Artapanos, 2. Jh. a. Chr. n.). Es ist heute weithin Konsens, daß auch die neutestamentlichen Evangelien im Kontext antiker populärer Biogr.n zu lesen sind und Konventionen aus diesen übernehmen6. Der Kölner Mani-Kodex ist eine V. Manis, des Religionsstifters des Manichäismus7. Die Gattung Bios bzw. V. hat sich in Gestaltung, Zielsetzung und Leitfragen seitdem vielfach deutlich verändert. Die Biogr.forschung kann aus ihrer Geschichte die Wandlungen des gesellschaftlichen Konstruktes Biogr. (als kulturelles Narrativ) ablesen und dokumentieren. 2 . H ag io gr ap hi sc he Vi te n: Sp ät a nt ik e u nd MA . 8 Mit der Ausbreitung des Christentums einher geht eine Verlagerung der Produktion von Vitenliteratur ins Religiöse (J Hagiographie, J Acta martyrum et sanctorum)9. Diese Viten von J Heiligen, J Märtyrern, Äbten, Bischöfen10 etc. wollen dabei weniger über Historisches informieren als ethisch-religiöse Vorbilder beschreiben und für ein religiöses, vor allem monastisches Leben werben bzw. dieses stützen. Viele Viten besitzen eine legitimierende Nebenagenda, etwa zur Sicherung lokalpatriotischer Interessen oder solcher einzelner Klöster (vielfach werden sie an Festtagen der Heiligen verlesen)11. Angrenzende Textformen sind einmal die vor allem am Tod der Märtyrer orientierten Passiones bzw. Märtyrerakten, die teils einem dokumentarischen Aktenstil, teils einer Dramatisierung des Geschehens, in jedem Fall aber festen Erzählschemata verpflichtet sind, andererseits die Gesta, bei denen eindrückliche Taten im Mittelpunkt stehen (J Vitae patrum)12. Sie alle bilden zusammen einen ,hagiographischen Diskurs‘, der Modelle idealer Biogr. gestaltet. Die letzte Lebensphase und der Tod eines Heiligen bleiben jedoch auch ein bevorzugtes Thema christl. Viten13; so konzentriert sich die erste einer christl. Frau gewidmete (griech.)
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Biogr., die V. Macrinae des Gregor von Nyssa, weithin auf diesen Aspekt14. Eher aus dem populären spätantiken Roman sind die apokryphen Apostelgeschichten hervorgegangen, deren früheste Vertreter (Thomasakten, Paulusakten, Johannesakten) ins 2. Jh. p. Chr. n. zurückgehen (J Apokryphen) und die zur wichtigsten Inspiration für den volkstümlichen christl. Roman etwa ab dem 3. Jh. wurden. Dieser umfaßt oft Elemente einer V. (PseudoClementinen, Nilus-Roman)15. Heiligenleben im engeren Sinn existieren sowohl in der lat. als auch der griech. kirchlichen Lit. des MA.s, in oriental. Sprachen (syr., kopt., armen., arab. etc.) und ausnahmslos auch in den europ. Volkssprachen, sobald diese zu Schriftsprachen wurden. Das Formen- und Motivrepertoire bleibt dabei lange sehr dicht an den altkirchlichen Vorbildern. Die hagiographische Form V. hat durchaus Aspekte von religiöser Unterhaltungsliteratur. Das ist bereits bei den immens einflußreichen Mönchsviten des J Hieronymus sichtbar (V. S. Pauli primi eremitae [J Paulus Eremita, Hl.], V. S. Hilarionis, V. Malchi, zwischen 376 und 390)16, die auch von Liebeszauber oder Wagenrennen erzählen. Sie waren formstiftend, wie ähnlich das Asketen- und Einsiedlerleben des Athanasius, V. Antonii ([J Antonius Eremita, Hl.] ursprünglich griech., wirksam aber bes. durch die lat. Übers. des Euagrius von Antiochia, 373). Einflußreiche Viten am Übergang zum MA. sind Sulpicius Severus, V. S. Martini (J Martin von Tours, Hl.), J Gregor d. Gr., V. Benedicti (Dialogi 2 [J Benedikt von Nursia, Hl.]) und Eugippius, Commemoratorium vitae S. Severini. Ab dem Frühmittelalter spezialisierten sich manche monastischen Autoren auf die Abfassung von Viten (Aelfric, Vitae sanctorum, 39 Leben), die einen wesentlichen Teil kirchlicher Erzählliteratur bilden. Auch Frauen werden Gegenstand von Viten, vor allem wenn allerlei Wunderbar-Mirakulöses von ihnen berichtet werden kann. Ältere lat. Beispiele sind die dem Gerontius zugeschriebene V. Sanctae Melaniae17 und die V. S. Genovefae ([J Genovefa] 5./6. Jh.)18. Formal bestehen die Vitae des MA.s meist aus Einzelepisoden, die weniger ein Charakter- als ein Tugendbild ergeben. Viele dieser Episoden sind formal Legenden.
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Zahlreiche Viten enthalten Material, das populäres Erzählgut berührt19. Der Kampf mit einem Meeresungeheuer im Fluß Ness bei Adamna´n (Vita Columbae 2,27) etwa wurde (fälschlich) als frühester Beleg der Vorstellung eines ,Ungeheuers von Loch Ness‘ reklamiert20. Auch Konversionstopik (J Bekehrung), J Wunder und J Jenseitsvisionen sind nicht selten. Das gewaltige Korpus der spätantiken und ma. Heiligenviten21 wird seit dem 17. Jh. in vielbändigen Textsammlungen aufbereitet und ediert22. Fast unmittelbar mit der Entstehung volkssprachlicher Lit.en in Europa wird die Textform V. in diese umgesetzt; auch Nachdichtungen sind häufig23. Neben Viten, die als individuelle schriftstellerische Leistungen gesehen wurden, blühte eine anonyme Vitenproduktion, deren Texte oft in vielen Var.n existieren. Unter den ma. literar. Slgen von Heiligenleben ragt die J Legenda aurea des J Jacobus de Voragine hervor. Selbstverständlich werden auch zu allen Zeiten Fürstenviten geschrieben; diese enthalten meist ein Element der Laudatio oder des Panegyricus. Suetons Kaiserviten finden eine stilistische Fortsetzung etwa in Einhards V. Caroli Magni ([J Karl d. Gr.] um 830); ein anderes Vorbild ist die V. Constantini des Eusebius (ca 260⫺339). Papstviten sammelt der Liber pontificalis (an dem vom 6./7. bis ins 15. Jh. geschrieben wurde). Ein Gegentyp sind Viten moralisch-religiös verwerflicher Figuren; schon bei Plutarch sind einige Viten als Negativbeispiele aufgenommen. Eine Steigerung ins Mythische sind die bis ins Spätmittelalter beliebten Leben des Antichrist. Analoge Bildungen zur ma. V. kennen auch andere Kulturen, die etwa die Biogr. der Religionsstifter schriftl. niedergelegt haben, vom Islam (Grundform der Biogr. J Mohammeds bei Ibn Hisˇa¯m [gest. ca 828]24) über Zoroastrismus25, Buddhismus (J Ja¯kata), Jainismus (J Jainas) etc. Auch hier stehen Säkularisationsformen neben religiösen Lebensbeschreibungen. 3 . Von de r V. z ur ne uz ei tl ic he n B io g r. 2 6 Weniger die Textsorte V. als das Genre der gesammelten Heiligenleben setzt sich ungebrochen bis in die Gegenwart fort. So stand in vielen brit. Haushalten Butler’s Lives of the Saints27. Die zahlreichen kathol. und mittler-
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weile auch ökumenischen Heiligenlexika (z. T. mit Aufl.n in Bestsellerhöhe) sind Derivate der Vitensammlungen28. Hier überleben Konventionen der Textform V., die sonst durch die neuzeitliche Biogr. verdrängt wurde. Mit der veränderten Konstituierung des Individuums im neuzeitlichen Diskurs entstand aus der ma. V. die neuzeitliche Biogr. Neben Leichenpredigt, Autobiographie, Tagebuch, Brief und Bildungsroman wird sie zu einem wichtigen Medium, in dem das Leben eines Menschen als individuelles Geschehen zum Ausdruck kommt. Dabei verschiebt sich ihr Gegenstand: Auch Bürgerleben, Frauenleben etc. werden zunehmend ,biographiewürdig‘, daneben schon in der Renaissance bevorzugt solche von Künstlern, Schriftstellern etc., oft als essayistische Charakterskizzen. Seit dem 17. Jh. entstehen zudem umfangreiche Romanwerke, die am Leben des einzelnen die Welt in ihrer Gänze zur Darstellung bringen wollen (J Cervantes, J Don Quijote; J Grimmelshausen, Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch). Biogr.n wie J Voltaires Histoire de Charles XII (1731) oder James Boswells Life of Johnson (1791) rücken das Genre ins Zentrum des öffentlichen Lesegeschmacks, eine Entwicklung, die mit Schwankungen ungebrochen bis in die Gegenwart anhält und seit dem 18. Jh. zunehmend von biogr. Romanen flankiert wird. Leichenreden bzw. -predigten bildeten seit dem 16. Jh. als Nachrufe auf die Verstorbenen das zentrale Element des Bestattungsrituals. In ihrer gedruckten Form entwickelten sie sich zu einem Teil der Gedächtniskultur29. Die klassische Form der V. erlebte eine späte Blüte in der russ. Orthodoxie des 15./16. Jh.s., wo sie u. a. Legitimationszwecken diente: Heiligen- und Fürstenviten bedienten sich eines gemeinsamen kunstvollen Huldigungsstils. Für die Erzählforschung sind Viten vor allem wegen der Tradierung populärer Erzählmotive, aber auch wegen Anspielungen auf sonst nicht literar. bezeugtes Erzählgut relevant. 4 . V. u nd Mä rc he n. In der hist. und vergleichenden Erzählforschung hat bes. das Heldenleben (J Held, Heldin) Beachtung gefunden. Als ,welthaltige Abenteuererzählung‘ (M. J Lüthi)30 umfaßt das Märchen oft größere
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Etappen eines Menschenlebens, etwa vom Vorfeld der Geburt bis zur Hochzeit. Dabei inszeniert es vor allem Prüfungen und Übergänge zwischen Lebensphasen (J Initiation). Dennoch gibt es kaum weitergehende Bezüge zwischen der literar. Textsorte V. und der Erzählform Märchen: Dieses nimmt weder das Individuum in den Blick noch will es (wie etwa das biogr. ausgebaute Exempel) religiös oder moralisch erziehen. Der J Tod des Helden oder der Heldin ist im europ. Märchen ⫺ mit Ausnahme der J Schicksalserzählungen ⫺ selten. Es ist also nicht allein die J Fiktionalität des Märchens, die es von der V. trennt, sondern der divergierende Blick auf das Leben als solches. Dennoch dient auch das Märchen als deutendes Narrativ für Lebenssituationen und -abläufe, die dem Menschen ,märchenhaft‘ vorkommen. Hans Christian J Andersen nannte seine erste Autobiographie Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung (1847). ,Wie ein Märchen‘ (,like a fairytale‘) und Parallelen sind im 20./21. Jh. häufige Interpretamente31 für phantastische und glückhafte Lebensabläufe. 1
Jacoby, F.: Die Fragmente der griech. Historiker. 4: Biogr., History of Literature and Antiquarian Literature 1 sqq. ed. G. Schepens. Leiden 1998 sqq.; Momigliano, A.: The Development of Greek Biogr. Cambr., Mass. 1971. ⫺ 2 Görgemanns, H./Berschin, W.: Biogr. In: DNP 2 (1997) 682⫺689. ⫺ 3 Leo, F.: Die griech.-röm. Biogr. nach ihrer literar. Form. Lpz. 1901 (Nachdr. Hildesheim 1990). ⫺ 4 cf. Frenschkowski, M.: Plutarch. In: Biogr.-bibliogr. Kirchenlex. 14. Hamm 1998, 1363⫺1372. ⫺ 5 cf. Hansen, W. (ed.): Anthology of Ancient Greek Popular Literature. Bloom. u. a. 1998 (dazu Rez. M. S. Jensen. in Fabula 40 [1999] 154⫺156); West, M. L.: Homeric Hymns. Homeric Apocrypha. Lives of Homer. Cambr., Mass. u. a. 2003; Legende von Homer dem fahrenden Sänger. Übers. W. Schadewaldt. Lpz. 1942. ⫺ 6 Burridge, R. A.: What Are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biogr. Grand Rapids, Mich. 22004; Frickenschmidt, D.: Evangelium als Biogr. Tübingen 1997; Becker, E.-M.: Das Markusevangelium im Rahmen antiker Historiographie. Tübingen 2006. ⫺ 7 Koenen, L./Römer, C. (edd.): Der Kölner Mani-Kodex. Opladen 1988. ⫺ 8 cf. Berschin, W.: Biogr. und Epochenstil im lat. MA. 1⫺5. Stg. 1986⫺2004; Rist, J.: Vitae Sanctorum. In: DNP 12,2 (2002) 257⫺259; Baumeister, T.: V. In: Lex. der antiken christl. Lit. ed. S. Döpp/W. Geerlings. Fbg/ Basel/Wien 32002, 721⫺724; Nahmer, D. von der: Die lat. Hl.nvita. Darmstadt 1994; Baumeister, T.: Biogr. 2 (spirituelle). In: RAC Suppl. 1 (2001) 1088⫺
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1364; Cox, P.: Biogr. in Late Antiquity. Berk. 1983. ⫺ 9 White, C.: Early Christian Lives. L. 1998. ⫺ 10 Haarländer, S.: Vitae episcoporum. Stg. 2000. ⫺ 11 cf. auch Graus, F.: Volk, Herrscher und Hl. im Reich der Merowinger. Prag 1965, bes. 127, 357. ⫺ 12 Vollmann, B. K.: V. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 1751 sq. ⫺ 13 Pannewick, F. (ed.): Martyrdom in Literature. Visions of Death and Meaningful Suffering […]. Wiesbaden 2004. ⫺ 14 Gregoire de Nysse: Vie de sainte Macrine. ed. P. Maraval. P. 1971. ⫺ 15 Die ,Erzählung‘ des Pseudo-Neilos. Ein spätantiker Märtyrerroman. ed. M. Link. Mü./Lpz. 2005. ⫺ 16 Leclerc, P./Morales, E. u. a. (edd.): Trois Vies de moines. P. 2007; Greschat, K./Tilly, M. (edd.): Die Mönchsviten des hl. Hieronymus. Wiesbaden 2009; cf. Koch, H.: Hagiographie als christl. Unterhaltungslit. Studien zum Phänomen des Erbaulichen anhand der Mönchsviten des hl. Hieronymus. Göttingen 1977; Fuhrmann, M.: Die Mönchsgeschichten des Hieronymus ⫺ Formexperimente der erzählenden Lit. In: Cameron, A. (ed.): Christianisme et formes litte´raires de l’antiquite´ tardive en Occident. Genf 1977, 41⫺89. ⫺ 17 Gorce, D.: Vie de sainte Me´lanie. P. 1962. ⫺ 18 MGH Scriptores rerum Merovingicarum 3 (1910) 215⫺238; cf. Heinzelmann, M./ Poulin, J.-C.: Les Vies anciennes de sainte Genevie`ve de Paris. P. 1986; Wittern, S.: Frauen, Heiligkeit und Macht. Lat. Frauenviten aus dem 4.⫺7. Jh. Stg. 1994. ⫺ 19 cf. Bray, D. A.: A List of Motifs in the Lives of the Early Irish Saints (FFC 252). Hels. 1992; Günter 1910; Günter 1949. ⫺ 20 Adomna´n’s Life of Columba. ed. A. O. Anderson u. a. Ox. 2 2002, 132⫺135; cf. Meurger, M.: Le Monstre du Loch Ness. Du folklore a` la zoologie spe´culative. In: Scientifictions 1,2 (1997) 135⫺254. ⫺ 21 Mehr als 3000 Viten sind allein in der griech. Hagiographie bekannt: Rist (wie not. 8); cf. Holl, K.: Die schriftl. Form des griech. Hl.nlebens. In: id.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte 2. Tübingen 31928, 249⫺269. ⫺ 22 Die beiden wichtigsten Sammelwerke zum Thema sind: AS; Bibliotheca Sanctorum 1 sqq. Rom 1961 sqq.; cf. Subsidia hagiographica 1 sqq. Brüssel 1886 sqq.; cf. ferner Vite dei Santi. 1⫺4. ed. C. Mohrmann. Mailand 1974⫺75 (31981 sqq.); Histoire des saints et de la saintete´ chre´tienne 1⫺11. ed. F. Chiovaro u. a. P. 1986⫺88; Hagiographies 1 sqq. Turnhout 1994 sqq.; Hagiographica 1 sqq. P. 1994 sqq. ⫺ 23Kunze, K.: V. In: RDL 3 (32003) 766⫺789; Asperti, S.: Vidas und razos. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 1635 sq. ⫺ 24 Nagel, T.: Mohammed. Leben und Legende. Mü. 2008. ⫺ 25 Le Livre de Zoroastre (Zaraˆtusht-naˆma) de Zarthusht-iBahraˆm ben Padjuˆ. SPb. 1904. ⫺ 26 Hähner, O.: Hist. Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswiss. Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jh. Ffm. u. a. 1999; Gradmann, C.: Hist. Belletristik. Populäre hist. Biogr. in der Weimarer Republik. Ffm. u. a. 1993; Viehöver, V.: Biogr. In: Jaeger, F. (ed.): Enz. der Neuzeit 2. Stg. 2005, 268⫺ 270. ⫺ 27 Butler, A.: The Lives of the Fathers, Mar-
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tyrs, and Other Principal Saints 1⫺2. L. 1756/59 (ed. H. J. Thurston. L. 21956 u. ö.). ⫺ 28 cf. z. B. Keller, H. L.: Reclams Lex. der Hl.n und der bibl. Gestalten. Stg. 81996; Torsy, J./Kracht, H.-J.: Der große Namenstagskalender. Fbg 2002; Wimmer, O. u. a.: Lex. der Namen und Hl.n. Innsbruck 61988 (Nachdr. Hbg 2002; auch im Internet); Farmer, D. H. (ed.): The Oxford Dict. of Saints. L. 21986. ⫺ 29 cf. den Gesamtkatalog dt.sprachiger Leichenpredigten (GESA; Univ. Marburg) im Internet. ⫺ 30 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Tübingen/Basel 112005, 77. ⫺ 31 Der Suchdienst Google bot am 4. 1.2011 insgesamt 3020000 Fundorte für die dt. Redensart ,wie ein Märchen‘, 29700 für ,ein Leben wie ein Märchen‘ sowie 2830000 für ,like a fairytale‘ bzw. 6450000 für ,like a fairy tale‘.
Hofheim
Marco Frenschkowski
Vitae patrum, eine in ihrem Corpus variierende Slg von Lebensbeschreibungen, Lehrgesprächen und Aussprüchen der ersten christl. Eremiten (J Einsiedler) und Mönchsgemeinschaften in der ägypt., syr. bzw. palästinens. Wüste. Im MA. wurde die Slg durchgehend unter dem vulgärlat. Titel Vitas patrum (Vitaspatrum) tradiert1. Die in den V. p. gesammelten Texte gehören zu den grundlegenden Schriften der monastischen Bewegung innerhalb der christl. Kirche. Im 4./5. Jh. zunächst fast ausschließlich auf Griechisch verfaßt, wuchs die Slg im Laufe ihrer über tausendjährigen Tradierung zum umfassenden Kompendium an. Neben den griech. Originalen gab es eine frühe syr. und kopt. Rezeption; auch in der slav., georg. und armen. Mönchsliteratur sind die Texte der Wüstenväter rezipiert worden2. Die Texte und Textgruppen des ältesten Bestandes lassen sich drei Gattungen zuordnen. (1) Im 4. Jh. entstanden umfangreiche Einzelviten (J Hagiographie) der ersten Eremiten und Klostergründer, an ihrer Spitze die Vita des J Antonius Eremita, die Athanasius gleich nach dessen Tod (356) verfaßte und die um 370 durch Evagrius von Antiochien ins Lateinische übertragen wurde. Ihr folgten ca 370⫺390 die von J Hieronymus verfaßten Viten des J Paulus Eremita, Hilarion und Malchus, die wohl einzigen originär lat. Texte der V. p. Im 5. Jh. kamen weitere Eremiten- und Mönchsleben hinzu, etwa die von Simeon Stylites, Abraham Eremita, dem Klostergründer Pachomius und dem Einsiedler J Onuphrius, sowie Viten von Einsiedlerinnen und Büßerinnen wie Pelagia, Thais, J Maria
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Aegyptiaca, Maria, der Nichte Abrahams, etc.3 (2) Ebenfalls seit dem 4. Jh. in den V. p. tradiert sind kurze Mönchsbiographien und Schilderungen des eremitischen und monastischen Lebens in der Wüste in Form von Reise- oder Erfahrungsberichten. Hierzu gehört als ältester Text die Historia monachorum in der lat. Bearb. des Rufinus von Aquileia (spätes 4. Jh.), in der sieben Mönche vom Ölbergkloster die ägypt. Wüste durchwandern und vom vorbildlichen asketischen Leben der dort ansässigen Eremiten und Mönche berichten. Mit ähnlichem Erzählmuster berichtet die ursprünglich griech. Historia Lausiaca (ca 419/20) des Palladius von Helenopolis von ägypt. und palästinens. Asketen und Asketinnen. (3) Den V. p. gehören auch Slgen von kurzen Lehrgesprächen, Beispielerzählungen und Aussprüchen der Wüstenväter an, die unter Bezeichnungen wie Apophthegmata patrum oder Verba seniorum bekannt sind (J Apophthegma).
Die zumeist alphabetisch nach den Namen der betreffenden Wüstenväter geordneten Slgen wurden in den im 6. Jh. erstellten lat. Übers.en systematisch nach den Topoi mönchischer Lebensordnung umorganisiert, etwa De profectu patrum, De quiete etc. Die umfangreichste und wirkmächtigste ist die von Pelagius Diaconus und Johannes Subdiaconus (die wohl mit den Päpsten Pelagius I. und Johannes III. identisch sind) übersetzte Slg Adhortationes sanctorum patrum (Verba seniorum) mit über 800 Sprüchen, Lehrgesprächen und Exempla. Der Liber geronticon in der lat. Übertragung des Pascasius von Dume enthält 358 Einzeltexte. Die ebenfalls weitverbreiteten Commonitiones sanctorum patrum bringen eine Kompilation der beiden vorgenannten Slgen. Einen weiteren Sammlungstyp innerhalb dieser Gattung vertreten die Sententiae patrum Aegyptiorum in der lat. Bearbeitung des Martin von Braga, die ⫺ wie der Titel andeutet ⫺ nur knappe, sentenzenhafte Dicta der Wüstenväter enthalten. Zwar gibt es aus dem 5.⫺7. Jh. keine Überlieferung, indirekte Zeugnisse ⫺ wie etwa die Benediktregel oder das Decretum Gelasianum (6. Jh.) ⫺ belegen jedoch, daß die Einzelviten und die Historia monachorum wie auch die Apophthegmata schon früh in je verschiedenen Corpuszusammensetzungen gemeinsam tradiert wurden. Bemerkenswert ist, daß die V. p. trotz des Anwachsens der Slg im Laufe ihrer Tradierung und trotz ihrer offenen Corpusstruktur ihr östl. Gepräge in vollem Umfang beibehielten. Wenngleich von seiten
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westl. Kirchenschriftsteller wiederholt Versuche unternommen wurden, etwa nach regionalen Bedürfnissen Viten neuer Asketen hinzuzufügen oder den asketischen Vorbildern aus dem Osten auch westl. entgegenzustellen, blieb dies letztlich ohne Erfolg. Die Überlieferungsgeschichte des Gesamtwerks der lat. V. p. ist bis zum Ausgang des MA.s durch starke Fluktuation in der Zusammensetzung des Textcorpus gekennzeichnet. Die Gesamtzahl der Textzeugen beträgt insgesamt über tausend Hss. (mit häufigen Überschneidungen)4. Die V. p. liefern die spirituellen Grundlagen für das abendländ. Mönchtum. Ihr wichtigster Vermittler in den Westen, Johannes Cassianus, stellt sich mit seiner Lehre und der literar. Form seiner Conlationes5 ganz in die Tradition der Wüstenväter, indem er die Dialog- und Erzählformen der V. p. übernimmt. In den ersten Ordensstatuten des Westens, der sog. Regula magistri und der Benediktregel, werden die V. p. als Grundwissen für den Ordensalltag vorgeschrieben. Bei Ordensgründungen und -reformen, die einen spirituellen Neuanfang durch die Rückbesinnung auf die Wurzeln des Mönchtums anstreben, kommt ihnen eine herausragende Rolle zu. Die Rezeptionsgeschichte der lat. V. p. ist unüberschaubar. Unter Bezug auf die V. p. als literar. Vorbild für Ordenschroniken sind etwa die Vitasfratrum des Dominikaners Gerard von Fracheto (13. Jh.) und des Augustinereremiten Jordan von Quedlinburg (gest. 1370/80) entstanden. Selbstverständlich fanden die Viten der Wüstenväter ihren Weg in die großen Legendare des MA.s wie die J Legenda aurea, die Beispielerzählungen wiederum in die großen J Exempelsammlungen, etwa des J E´tienne de Bourbon, J Caesarius von Heisterbach, Johannes J Herolt, Johannes J Pauli oder in den Großen J Seelentrost6. Die V. p. wurden im MA. auch in mehrere europ. Volkssprachen übersetzt, am häufigsten ins Deutsche7. Die erste dt. Übers. ist das versifizierte Väterbuch (Ende 13. Jh.)8. Dieses älteste dt. Verslegendar wurde von einem anonymen Dichter ostmitteldt. Herkunft wahrscheinlich für die Laienbrüder des Dt. Ordens verfaßt. In über 40000 Versen bietet der Autor die großen Viten mit der Historia monachorum und Exem-
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peln der Wüstenväter und legt sie in quellenunabhängigen Pro- und Epilogen sowie Kommentaren und Exkursen aus, in denen der Bezug zur Lebenswelt des Deutschordens deutlich in Erscheinung tritt. Die ältesten und wirkmächtigsten der im 14./15. Jh. entstandenen dt. Prosaübersetzungen der V. p. sind die Alemann. Vitaspatrum. Von anonymen Übersetzern angefertigt, entstanden die beiden Slgen zunächst separat, wenngleich räumlich (im dt. Südwesten) und zeitlich (1. Hälfte 14. Jh.) nahe beieinanderliegend als Viten- und Verba seniorum-Slgen. Es liegen 84 Hss. sowie zwölf hochdt., eine niederdt. und drei ndl. Drucke vor9. Die Viten-Slg enthält sieben Einzelviten und die Historia monachorum, die Verba-Slg besteht aus 365 Beispielerzählungen. Im 14. Jh. wurden die Übers.en noch getrennt und vor allem die Verba häufig im Verbund mit Texten der dt. dominikan. J Mystik tradiert, so daß die frühe Verbreitung (und möglicherweise auch die Entstehung der Übers.en) in mystisch interessierten Kreisen anzunehmen ist. Mit ihrer Präsenz im ganzen dt.sprachigen Raum sowie in den Niederlanden sind die Alemann. Vitaspatrum eines der am breitesten tradierten volkssprachlichen Werke des späten MA.s überhaupt. Über den primären monastischen Rezipientenkreis (Klosterfrauen, Laienbrüder) hinaus erreichten sie nach Ausweis der Überlieferung auch Laien.
Um 1400 entstanden die sog. Bair. Verba seniorum im bair./fränk. Grenzgebiet. Die mit 789 Sprüchen weit umfangreichere Verba seniorum-Übers. basiert auf der lat. Slg von Pelagius und Johannes. Der anonyme Übersetzer bettet die Verba in ein übergreifendes dreiteiliges Werkkonzept ein. Den Verba folgen ein Eucharistietraktat, eine Engellehre sowie eine gekürzte Übers. der angelologischen Passagen aus der J Michaelslegende der Legenda aurea. Jeder Text wird von einem Prolog eingeleitet; die Einheit stellt nach dem Prolog des Übersetzers das Fundament einer an die simplices adressierten vita spiritualis dar10. Die Melker Verba seniorum wurden wahrscheinlich durch den Novizenmeister und Prior Johannes von Speyer (1. Drittel 15. Jh.) im österr. Benediktinerstift Melk verfaßt. Das Corpus besteht aus ca 500 Sprüchen, hauptsächlich aus den Verba seniorum des Johannes und Pelagius und aus dem Liber geronticon. Der Übersetzer bemüht sich um eine fast wörtliche Wiedergabe der lat. Vorlage, fügt aber ge-
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legentlich erklärende Kommentare hinzu oder übergeht ihm allzu radikal erscheinende Aussagen der Wüstenväter11. Zu den Übers.en kleineren Umfangs zählen diejenige von Heinrich Haller aus der Tiroler Kartause Schnals (Autograph 1467)12 sowie die aus dem Dominikanerinnenkloster Marienzell in Brünn bezeugten Olmützer Verba seniorum (spätes 15. Jh.)13. Aus dem ndl. Sprachraum sind im MA. zwei umfangreiche V. p.-Übers.en bezeugt14. Die Südmittelndl. V. p. sind kurz nach 1360 entstanden. Ihr Verf. ist wahrscheinlich Petrus Naghel (gest. 1395), Prior der südbrabant. Kartause Herne15. Das Werk besteht aus zwei jeweils mit einem eigenen Prolog versehenen Teilen, dem zuerst entstandenen Viten-Teil und dem Verba seniorum-Teil. Der Viten-Teil (Der vader boec) umfaßt neben der Historia monachorum 16 Einzelviten und zwei Legenden frz. Provenienz. Der Verba seniorum-Teil (Der vader collacien) basiert auf einer stark gekürzten und vielfach umgestellten Redaktion der von Pelagius und Johannes verfaßten Adhortationes. Beiden Teilen liegt eine lat. Vorlage zugrunde, die aus der Kartause Herne stammt. In den Prologen erklärt der Verf., seine Übers. für des Lateinischen unkundige Klosterleute verfaßt zu haben, denen er die Wüstenväter als Vorbilder empfiehlt. Während die Verbreitung der Verba-Slg auf den ndl. Süden beschränkt blieb, wurde der Viten-Teil in den gesamten Niederlanden sowie im benachbarten dt. Sprachgebiet (bes. im Kölner Raum) rezipiert. Die Nordmittelndl. V. p. (vor 1417) basieren auf einer lat. Redaktion der V. p., die nur aus Verba und Slgen von kurzen Mönchsbiographien besteht, in der die großen Viten jedoch fehlen16. An der ndl. Übertragung, deren Teile erst in der Inkunabel von 1480 vereinigt wurden, waren mehrere Autoren beteiligt, vielleicht auch Wermbold van Buscop (gest. 1413), der Mitbegründer des Utrechter Tertiarinnenkapitels. Im rom. Bereich17 ⫺ zu dem im 12. Jh. auch England zählt ⫺ wurde die älteste (Teil-) Übers. (nach 1170) wohl durch einen Londoner Geistlichen für die illiteraten Templer in Bruer (Lincolnshire) angefertigt18. Wauchier de Denain (gest. 1212) widmete seine Vies des pe`res Philippe de Namur19. Ein Anonymus
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verfaßte eine umfangreiche Prosaübertragung (vor 1229) für Blanche de Navarre. Vom Dominikaner Domenico Cavalca (gest. 1342) und seinen Mitarbeitern stammt die erste ital., für ihre Sprache gerühmte freie V. p.-Übertragung Vite dei Santi Padri (nach 1320), die breit rezipiert wurde20. Von der Iber. Halbinsel sind in katalan. Sprache eine V. p.und eine Verba seniorum-Übers. aus dem späten 14. Jh. bezeugt21; eine kastil. Version des 15. Jh.s durch Gonzalo Garcı´a de Santa Marı´a wurde mehrfach gedruckt. In England waren die Einzeltexte der V. p. in Legendaren und Predigtsammlungen im Umlauf, eine umfassende Übers. auf der Grundlage eines frz. Frühdrucks lieferte jedoch erst William Caxton (Erstdruck 1495)22. Aus Skandinavien stammen die um 1300 anonym entstandene altwestnord. Übertragung Heilagra manna søgur und die wohl in Vadstena verfertigte altschwed. Übers. Helga manna leverne (Ende 14. Jh.)23. Aus dem slav. Sprachraum ist eine tschech. Prosaübersetzung (1. Hälfte 15. Jh.) bezeugt24. Auch kroat. Übers.en sind erhalten25. Im dt. Raum finden sich Stoffe, Auszüge und Zitate aus den V. p., die im MA. entweder den vorhandenen dt. Fassungen entnommen oder neu übersetzt wurden, in unzähligen Legendaren, Predigten, Traktaten und Exempelsammlungen. Bes. intensiv wurden die V. p. innerhalb der dt. Mystik rezipiert. Vor allem Heinrich Seuse (gest. 1366) stellte die Altväterspiritualität ins Zentrum seiner Lehre. Er übersetzte in seiner Vita 40 Altvätersprüche, die auch unabhängig von der Vita rezipiert wurden. Im Horologium sapientiae stellte er den Altvater J Arsenius als den höchsten Philosophen dar, dessen Lehre den ,Kern aller Vollkommenheit‘ enthalte26. Auch Johannes Tauler (gest. 1361) machte von den Altvätersprüchen in seinen Predigten Gebrauch27. Die Exempla der Wüstenväter wurden in dt. Exempelsammlungen aufgenommen, umgekehrt wurden die Verba seniorum auch durch Exempla anderer Provenienz erweitert28. Die Wirkung der V. p. reicht weit über das MA. hinaus. J Luthers Haltung war zwiespältig: Er lehnte zwar die strenge Askese der Altväter ab, erkannte jedoch den erbaulichen Wert der Erzählungen für die Predigt an. Er veranlaßte eine ,bereinigte‘ Neuausgabe der
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lat. V. p. durch Georg J Major (1544) und lieferte hierzu ein wiss. Vorwort29. Eine dt. Übers. dieser Ausg. erfolgte 1604 durch Sebastian Schwan. Die V. p. wurden sowohl durch protestant. Predigt- und Exempelbücher30 als auch in der kathol. Neurezeption der J Gegenreformation durch die Jesuiten weitertradiert31. Sowohl direkt als auch indirekt konnte so die große Fülle der in den V. p. enthaltenen Erzählmotive in die mündl. Überlieferung einfließen. Die Ausw.bearbeitung des Pietisten G. Arnold32 wurde von J Wieland, Johann Heinrich J Jung-Stilling, Karl-Philipp Moritz, J Herder und J Goethe rezipiert. Auch in den Legenden von Hermann J Hesse finden die V. p. Verwendung. Ihre Bedeutung als einer der Grundtexte christl. Spiritualität haben die V. p. bis heute nicht verloren. Für den modernen Rezipienten werden sie etwa als ,Lebenshilfe aus der Wüste‘ angeboten, wobei die alten Mönchsväter zu Therapeuten umfunktioniert sind33. Somit bleiben sie, wie am Anfang, Modell für radikal alternative Lebensformen. Für die hist. und vergleichende Erzählforschung stellen die V. p. eine Fundgrube gattungstypischer Motive dar. Vergleichbar mit Legendaren wird das Einsiedlerleben als eine zur Vollkommenheit und Heiligkeit führende ideale Lebensform herausgestellt. Die folgende Übersicht greift einige der wichtigsten, für das Eremitenleben konstitutiven Erzählmotive auf. Typ en un d Mot iv e ( Au sw.).: Viten34: J Paulus Eremita, Kap. 10 ⫽ Rabe bringt Paulus täglich ein halbes Brot; als Antonius Eremita ihn besucht, bringt er ein ganzes (J Speisewunder; Tubach, num. 280); 12 ⫽ Löwen scharren Grab (Mot. B 431.2). ⫺ Antonius 9 ⫽ Im Kampf gegen J Teufel wird Antonius durch Licht vom Himmel gerettet (Tubach, num. 283); 27 ⫽ Aus den Tränen des betenden Antonius entsteht für durstige Reisende ein Brunnen in der Wüste; 32 ⫽ AaTh/ATU 827: J Heiligkeit geht über Wasser; 45 ⫽ Antonius disputiert mit Philosophen, die ihn als ungelehrt verspotten, darüber, was zuerst war: Verstand oder Buchstabe (Tubach, num. 276). ⫺ Abraham 5⫺9 ⫽ Abraham bekehrt bes. hartnäckige Heiden, wird von ihnen wiederholt verprügelt, gewinnt sie mit Geduld; 12 ⫽ Teufel erscheint in göttlichem Licht und lobt Abraham, der die List aber durchschaut; 13 ⫽ Teufel greift Zelle mit Axt an; 14 ⫽ Teufel verbrennt Teppich, auf dem Abraham betet; 15 ⫽ Teufel erscheint als Kind, dann
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mit Kerze, singt Psalmen etc. ⫺ Maria (Nichte Abrahams) 2 ⫽ Die fromme Einsiedlerin wird von einem Einsiedler verführt, prostituiert sich in der Stadt; 3⫺ 7 ⫽ Abraham rettet sie in Verkleidung eines Freiers (Tubach, num. 2564); 8 ⫽ Maria wird Büßerin (cf. J Maria Aegyptiaca). ⫺ Thais ⫽ Abt Paphnutius bekehrt die Dirne Thais, die als Einsiedlerin ihre Sünden büßt; der Antonius-Jünger Paulus sieht im Traum ein von Gott für Thais bestimmtes schön geziertes Bett im Himmel. ⫺ Marina ⫽ In Verkleidung als Mönch Marinus lebt Marina im Kloster, wird fälschlich der Vaterschaft beschuldigt und stirbt in Schande; nach Entdeckung ihres wahren Geschlechts begraben die Mönche sie in der Kirche (Tubach, num. 3380). Historia monachorum35: 1,1,10⫺25 ⫽ Wüstenvater Johannes heilt kranke Frau durch Erscheinen im Traum; hilft Schwangerer durch Gebet bei der Geburt ihres Kindes, das später Mönch wird; heilt eine Blinde durch geweihtes Öl zum Bestreichen der Augen (J Wunderheilung); 1,4 ⫽ Sich vollkommen wähnender Mönch wird vom Teufel in Gestalt einer schönen Frau verführt, fällt in Sünde, verzweifelt und geht in die Welt (cf. Tubach, num. 912). ⫺ 2,7 ⫽ Or hat nicht lesen gelernt, kann aber durch Gottes Gnade die schwierigsten Texte, auch die Hl. Schrift, lesen. ⫺ 6,4 ⫽ Theon bannt Räuber mit Gebet fest; als er sie wieder freiläßt, tun sie Buße. ⫺ 7,2 ⫽ Apollonius befreit sich vom Hochmut, indem er sich mit Gottes Hilfe ein schwarzes Kindlein, den Teufel des Hochmuts, vom Nacken entfernt, es tötet und begräbt (cf. Tubach, num. 1534); 7,3 ⫽ Engel befreit ihn und jungen Mönch durch Erdbeben aus dem Gefängnis; 7,10 ⫽ Gott sendet Apollonius und seinen Brüdern zu Ostern wunderbare Speisen, die bis Pfingsten reichen. ⫺ 8,9⫺12 ⫽ Ammon zähmt Drachen und bekehrt mit deren Hilfe Räuber; 8,13⫺16 ⫽ Er tötet einen Drachen mit Worten. ⫺ 9,4 ⫽ Der bekehrte Räuber Pater Mutius befiehlt der Sonne still zu stehen, um zum sterbenden Bruder zu gelangen (Tubach, num. 4680); 9,7,9⫺15 ⫽ Copres geht unversehrt durch das sich teilende Feuer, Ketzer verbrennt darin (Tubach, num. 3156); 9,7,18⫺20 ⫽ Gestohlenes Gemüse kann nicht gekocht werden, Wasser bleibt kalt (cf. Mot. D 1318.7.1.1). ⫺ 11,9,1⫺2 ⫽ Helenus trägt glühende Kohlen unversehrt im Schoß (cf. Mot. D 1841.3); 11,9,10⫺14 ⫽ Von Helenus gezähmtes Krokodil trägt ihn und Priester über Wasser, muß danach sterben; Helenus zeichnet Kreis (J Zauberkreis) um Zelle eines Bruders zur Abwehr von Teufeln. ⫺ 15,1 ⫽ Schmied Apelles wehrt Teufel ab, indem er mit bloßer Hand das glühende Eisen greift (cf. Mot. D 1841.3.2.3); 15,2,1⫺3 ⫽ Johannes steht drei Jahre auf einem Stein, schläft im Stehen, ernährt sich ausschließlich von der Kommunion. ⫺ 16,1⫺3 ⫽ Abt Paphnutius wird von Gott zu drei Laien gesandt, die ihm im gottgefälligen Leben gleich sind: ein Spielmann, ein Richter, ein Kaufmann. Nicht geistliches Gewand, sondern frommes Gemüt und gute Werke vor Gott entscheidend; 16,2,11 ⫽ AaTh/ATU 827. ⫺ 19 ⫽ Apollonius und
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Vitae patrum
Philemon sollen verbrannt werden, Wolke löscht Feuer. ⫺ 30,3 ⫽ Schwacher Esel trägt schweres Weinfaß des Ammon in die Wüste, nicht eingesetztes starkes Kamel wird von der Last des Fasses erdrückt und stirbt. ⫺ 31,18⫺20 ⫽ Paulus Simplex heilt Kranke, die selbst Antonius nicht heilen kann. In seiner Einfalt droht er Gott, nicht mehr zu essen, wenn Gott einen Kranken nicht heile: Gott läßt ihn gewähren. ⫺ 32,3⫺6 ⫽ Bei Kommunion schreibt Engel die Namen einiger Brüder nicht auf. Piammon ermahnt die Betreffenden, sich zu bessern: Beim nächsten Mal werden auch deren Namen aufgeschrieben. Exempel36: 3,24 ⫽ Kranker Mönch, der von einer Frau gepflegt wird, bittet Brüder, seinen Stab nach seinem Tod aufs Grab zu stecken. Der Stab grünt, bringt Frucht und bezeugt so sein reines Gewissen (cf. AaTh/ATU 756: Der grünende J Zweig). ⫺ 5,5,37 ⫽ Einsiedler widersteht Versuchung, indem er sich Finger an einem Licht verbrennt. Frau, die ihn verführen wollte, stirbt, wird aber auf seine Bitte von Gott wiedererweckt, bekehrt sich und bleibt fortan keusch. ⫺ 5,18,3 ⫽ Einsiedler, der nicht an Wandlung glaubt, sieht beim Abendmahl statt Brot ein Kind, das in Stücke zerschnitten wird; mit dem Blut wird der Kelch gefüllt (Tubach und Dvorˇa´k, num. 2689 c; J Hostie, Hostienwunder). ⫺ 5,18,19 ⫽ Einfache Küchenmagd ist von überragender Heiligkeit (cf. J Geistliche Hausmagd). ⫺ 6,2,13 ⫽ Abt Sisoi erweckt unbeabsichtigt totes Kind, das er für lebendig hält. ⫺ 6,4,10 ⫽ Armer Mann führt seine zwei Frauen nackt im Zuber auf dem Schiff zum Markt. Die eine bedeckt ihre Scham mit einem Tuch und geht aus dem Zuber, die andere schilt sie wegen ihrer Nacktheit und nimmt dabei die eigene nicht wahr. ⫺ 6,4,37 ⫽ Eremit tötet Vater, den er für den Teufel hält (Tubach und Dvorˇa´k, num. 2570). ⫺ 7,19,3 ⫽ Eulogius pflegt den aussätzigen Elephantiosus 15 Jahre, bis jener, vom Teufel aufgestachelt, seine Hilfe ablehnt und den Wohltäter beschimpft. Antonius zeigt beiden den rechten Weg. ⫺ 7,24,2 ⫽ Reuige Dirne folgt ihrem Bruder, einem Einsiedler, barfuß in die Wüste, stirbt unterwegs; ihre Seele wird gerettet (Tubach, num. 2458). ⫺ 7,36,3 ⫽ J Arsenius hat Vision des unsinnigen menschlichen Treibens: Einer schöpft Wasser in ein durchlöchertes Faß, ein anderer lädt immer mehr auf eine schon untragbare Last Holz, zwei Reiter wollen einen Balken quer durch ein Tor bringen (AaTh/ATU 1180: cf. J Danaiden; AaTh/ATU 1242: J Holzladung; AaTh/ATU 801: J Meister Pfriem). 1 Frank, K. S.: V. p. In: LThK 10 (32006) 824; Solignac, A.: Verba seniorum und V. p. In: Dict. de spiritualite´ 16. P. 1994, 383⫺392, 1029⫺1035; Williams, U.: V. p. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1765⫺1768. ⫺ 2 cf. Schulz-Flügel, E.: Zur Entstehung der Corpora „V. p.“ In: Critica, Classica, Orientalia, Ascetica, Liturgica (Studia Patristica 20). ed. E. A. Livingstone. Löwen 1989, 289⫺300, hier
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289 sq.; Die lat. Übers. der Historia Lausiaca des Palladius. ed. A. Wellhausen. B. 2003, 42⫺53, XXV⫺XXXIV (Bibliogr.). ⫺ 3 cf. Vitae patrum sive Historiae eremiticae libri decem. ed. H. Rosweyde. Antw. 1615 (31628) (behandelt 16 Männer und 11 Frauen). ⫺ 4 Gesamtausg.: ibid. (auch in MPL 73⫺ 74 und MPL 21, 387⫺426); Einzelwerke (Ausw.): Tyrannius Rufinus: Historia monachorum sive De vita sanctorum patrum. ed. E. Schulz-Flügel. B./ N. Y. 1990; Batlle, C. M.: Vetera nova. Vorläufige kritische Ausg. bei Rosweyde fehlender Vätersprüche. In: Festschr. B. Bischoff. Stg. 1971, 32⫺42; Freire, J. G. (ed.): A versa˜o latina por Pasca´sio de Dume dos Apophthegmata Patrum 1⫺2. Coimbra 1971; id. (ed.): Commonitiones Sanctorum Patrum. Uma nova colecc¸a˜o de apotegmas. Coimbra 1974; Barlow, C. W.: Martini episcopi Bracarensis Opera omnia. New Haven, Conn. 1950, 30⫺51; Wilmart, A.: Le Recueil latin des apophthegmes. In: Revue be´ne´dictine 34 (1922) 184⫺198; cf. allg. Oldfather, W. A. (ed.): Studies in the Text Tradition of St. Jerome’s Vitae patrum. Urbana, Ill. 1943; Batlle, C. M.: Die ,Adhortationes sanctorum patrum‘ (,Verba seniorum‘) im lat. MA. Münster 1972. ⫺ 5 Iohannis Cassiani Conlationes 23. ed. M. Petschenig. Wien 1866. ⫺ 6 cf. Reitzenstein, R.: Historia monachorum und Historia Lausiaca. Eine Studie zur Geschichte des Mönchtums und der frühchristl. Begriffe Gnostiker und Pneumatiker. Göttingen 1916; Bousset, W.: Apophthegmata. Studien zur Geschichte des ältesten Mönchtums. Tübingen 1923 (Nachdr. 1969); Freire, J. G.: Traductions latines des Apophthegmata Patrum. In: Festschr. C. Mohrmann. Utrecht/Antw. 1973, 164⫺171; Philippart, G.: V. p. Trois Travaux re´cents sur d’anciennes traductions latines. In: Analecta Bollandiana 92 (1974) 353⫺365; Kech, H.: Hagiographie als christl. Unterhaltungslit. Studien zum Phänomen des Erbaulichen anhand der Mönchsviten des hl. Hieronymus. Göppingen 1977; Petitmengin, P. (ed.): Pe´lagie la pe´nitente. Me´tamorphoses d’une le´gende 1⫺2. P. 1981/84; Berschin, W.: Biogr. und Epochenstil im lat. MA. 1. Stg. 1986. ⫺ 7 Williams, U./Hoffmann, W. J.: Vitaspatrum. In: Dict. de spiritualite´ 16 (1992) 1043⫺1048, hier 1043⫺1045; iid.: Vitaspatrum. In: Verflex. 10 (21999) 449⫺466; Williams (wie not. 1). ⫺ 8 Borchardt, D./Kunze, K.: Väterbuch. In: Verflex. 10 (21999) 164⫺170; Das Väterbuch. ed. K. Reissenberger. B. 1914 (Nachdr. Dublin/Zürich 1967). ⫺ 9 Die Alemann. Vitaspatrum. ed. U. Williams. Tübingen 1996. ⫺ 10 cf. Blumrich, R.: Überlieferungsgeschichte als Schlüssel zum Text. Angewandt auf eine spätma. bair. Übers. der „V. p.“ In: Freiburger Zs. für Philosophie und Theologie 41 (1994) 188⫺222. ⫺ 11 Klein, K.: Vitaspatrum. Überlieferungsgeschichtliche Unters. zu den Prosaübers.en im MA. Diss. Würzburg 1984. ⫺ 12 Bauer, E.: Haller, Heinrich. In: Verflex. 3 (21981) 415⫺418. ⫺ 13 Die „Olmützer Verba seniorum“. ed. C. Schütz-Buckl. In: Studie o rukopisech 28 (1991) 57⫺123. ⫺ 14 Williams/Hoffmann 1992 (wie not. 7) 1045⫺1048; iid. 1999 (wie
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Vitus, Hl.
not. 7) 457⫺466. ⫺ 15 Kors, M. M.: Bijbelvertaler van 1360. In: Verflex. 11 (22004) 249⫺256; Hoffmann, W. J.: Die „Vitaspatrum”-Übers. des Bibelvertalers und ihr Verhältnis zu seiner Übers. der „Legenda aurea“. Dargestellt am Beispiel der Thais-Legende. In: Berteloot, A./van Dijk, H./Hlatky, J. (edd.): „Een boec dat men te Latine heet Aurea legenda.“ Beitr.e zur ndl. Übers. der „Legenda aurea“. Münster 2003, 217⫺259. ⫺ 16 Williams/Hofmann 1999 (wie not. 7) 459⫺461; cf. Vooys, C. G. N.: Middelnederlandse legenden en exempelen. Groningen/ Den Haag 21926, 10 sq., 181 (Auszüge). ⫺ 17 cf. allg. Meyer, P.: Versions en vers et en prose des Vies des Pe`res. In: Histoire litte´raire de la France 33. P. 1906, 258⫺328. ⫺ 18 Sinclair, K. V.: The Translations of the „Vitas patrum“ […] Made for Anglo-Norman Templars. In: Speculum 72 (1997) 741⫺762; Vitas patrum. A Thirteenth-Century Anglo-Norman Rimed Translation of the Verba seniorum. ed. B. A. O’Connor. Wash. 1949. ⫺ 19 L’Histoire des moines d’E´gypte, suivie de La Vie de Saint Paul le Simple. ed. M. Szkilnik. Genf 1993. ⫺ 20 Busetto, G.: Cavalca, Domenico OP. In: Lex. des MA.s 2. Stg./Weimar 1999, 1588 sq. ⫺ 21 Batlle, C. M.: L’antiga versio´ catalana de la Vita Pauli monachi del ms. Montserrat 810. In: Analecta Montserratensia 9 (1962) 297⫺324; id.: Dues versiones medievals catalanes d’Apoftegmes. In: Studia monastica 18 (1976) 55⫺66; id.: Apoftegmes des les Vitas patrum catalanes. In: Capelletra 3 (1988) 9⫺ 24; Mattoso, J.: Le Portugal de 950 a` 1550. In: Philippart, G. (ed.): Hagiographies. Histoire internat. de la litte´rature hagiographique latine et vernaculaire, en Occident, des origines a` 1550. t. 1⫺2. Turnhout 1994/96, t. 2, 83⫺102, hier 93 sq. ⫺ 22 Görlach, M.: Middle English Legends 1220⫺1530. In: Philippart (wie not. 21) t. 1, 429⫺485, hier 479 sq.; Rosenthal, C. L.: The Vitae Patrum and Middle English Literature. Phil. 1936. ⫺ 23 Unger, C. R. (ed.): Heilagra Manna Søgur. Fortællinger og Legender om Hellige Mænd og Kvinder. Christiania 1877; Tveitane, M.: Den lærde stil. Oversetterprosa i den norrøne versjonen av V. p. Bergen/Oslo 1968; Mattson, O.: Helga manna leverne. Studier i den fornsvenska översättningen av V. p. Hels./Kop. 1957. ⫺ 24 Smetanka, E. (ed.): Starocˇeske´ zˇivoty svaty´ch otcu˚v. Prag 1909. ⫺ 25 Petrovic´, I.: Les „V. p.“ dans la ˆ ge. In: „Scribere Sanclitte´rature croate du Moyen A torum Gesta“. Festschr. G. Philippart. Turnhout 2005, 283⫺307. ⫺ 26 Williams-Krapp, W.: Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der „Vita“ Heinrich Seuses. In: Festschr. W. Haug/B. Wachinger 1. Tübingen 1992, 405⫺421; id.: Heinrich Suso’s „Vita“ between Mystagogy and Hagiography. In: Mulder-Bakker, A. (ed.): Seeing and Knowing. Women and Learning in Medieval Europe. Leiden 2004, 35⫺47; Blumrich, R.: Die gemeinu´ ler des „Büchleins der ewigen Weisheit“. In: Blumrich, R./ Kaiser, P. (edd.): Heinrich Seuses „Philosophia spiritualis“. Wiesbaden 1994, 49⫺70, bes. 65⫺68; Williams, U.: Vatter ler mich. Zur Funktion von Verba
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und Dicta im Schrifttum der dt. Mystik. ibid., 173⫺ 188. ⫺ 27 Gnädinger, L.: Das Altväterzitat im Predigtwerk Johannes Taulers. In: Unterwegs zur Einheit. Festschr. H. Stirnimann. Freiburg (Schweiz) 1980, 253⫺267. ⫺ 28 cf. allg. Kunze, K./Williams, U./Kaiser, P.: Information und innere Formung. Zur Rezeption der V. p. In: Wolf, N. R. (ed.): Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Lit. im MA. Wiesbaden 1987, 123⫺142; Klein, K.: Frühchristl. Eremiten im SpätMA. und in der Reformationszeit. Zur Überlieferung und Rezeption der dt. V. p.Prosa. In: Grenzmann, L./Stackmann, K. (edd.): Lit. und Laienbildung im SpätMA. und in der Reformationszeit. Stg. 1984, 686⫺695. ⫺ 29 Schäufele, W.-F.: Evangel. Wüstenheilige? Georg Major (1502⫺1574) und die „V. p.“ In: Ebernburg-Hefte 40 (2006) 27⫺ 52. ⫺ 30 cf. Brückner, 525⫺540. ⫺ 31 Rosweyde (wie not. 3). ⫺ 32 Arnold, G.: V. p. oder das Leben der Altväter und anderer gottseeliger Personen. Halle 1700. ⫺ 33 Sartory, G. und T.: Lebenshilfe aus der Wüste. Die alten Mönchsväter als Therapeuten. Fbg 61996; cf. ferner Brückner, W.: Das alternative Väterleben. Zur V. p.-Rezeption in nachma. Zeit. In: Volkskultur und Heimat. Festschr. J. Dünninger. Würzburg 1986, 294⫺309, hier 305⫺ 309. ⫺ 34 Nach MPL (wie not. 4). ⫺ 35 Nach Tyrannius Rufinus (wie not. 4). ⫺ 36 Nach MPL (wie not. 4).
Gröbenzell
Ulla Williams
Vitus, Hl. (dt. Veit; Fest 15.6. [28.6.]). Nach dem Martyrologium Hieronymianum (Mitte 5. Jh.) stammte V. aus Mazzara del Valla (Sizilien) und wurde dort mit seinem Erzieher Modestus und seiner Amme Crescentia 304/305 unter Diokletian erst von seinem Vater, dann von dem Präfekten Valerian und zuletzt von Diokletian selbst gemartert, um ihn vom christl. Glauben abzubringen1. Eine lat. Legende (entstanden um 600)2 enthält die geläufigen Motive und Wunder einer J Märtyrerlegende (Bekenntnis zum Christentum, Geißelung, Ölmarter und Folter3, Verschonung durch ein wildes Tier, verschiedene Heilungswunder4, Speisung durch Adler5). Eine aus Lukanien stammende überarbeitete Fassung der Legende (Ende 7. Jh.) war Ausgangspunkt aller späteren Redaktionen6. Die Gebeine des erst zwölf-, in manchen Fassungen siebenjährigen Heiligen wurden erst in Lukanien bestattet, 755/56 ins Kloster St. Denis und 836 ins Kloster Corvey übertragen. Sein Haupt kam 1355 in den Prager Veitsdom. Heute beanspruchen mehr als 150 Orte, Reliquien des Heiligen zu besitzen7.
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Vitus, Hl.
Ausgehend von Corvey verbreitete sich der Kult des Heiligen in ganz Deutschland und Österreich, wovon zahlreiche Patronatskirchen und Ortsnamen künden. Auch die seit dem 14. Jh. belegte Aufnahme des V. in die Gruppe der J Vierzehn Nothelfer zeugt von seiner Bekanntheit und Bedeutung. Außer in den großen ma. Legendendichtungen (u. a. J Legenda aurea, Passional [13. Jh.], Der Heiligen Leben [um 1400], Buch der Märtyrer [um 1440]) sind zahlreiche dt. Vers- und Prosafassungen der Legende überliefert, die Ausdruck der Verehrung des hl. V. sind. Von bes. Interesse ist dabei eine aus Corvey stammende norddt. Versfassung (15. Jh.), die durch vier Translations- und 18 Mirakelberichte (darunter ein Schiffwunder)8 sowie die Gründungsgeschichte von Corvey erweitert wurde9. V. wird als Schutzpatron zahlreicher Berufsgruppen (Apotheker, Bergleute, Bierbrauer, Gastwirte, Küfer, Winzer) und als Helfer bei einer Reihe von Krankheiten angerufen, wobei meist die Arten seiner Marter den Anknüpfungspunkt bieten. So gilt er wegen des Gefäßes, in dem er die Ölmarter ertrug und mit dem er häufig dargestellt wurde, u. a. als Patron der Kupferschmiede. Dasselbe Attribut mag ihn auch zum Schutzpatron der Bettnässer gemacht haben. Daß er auch bei allen Formen von J Besessenheit wie Epilepsie, Hysterie und Chorea angerufen wurde, führte in Verbindung mit dem im späten MA. auftretenden Phänomen der J Tanzwut zu der Bezeichnung dieser Erscheinungen als Veitstanz10. Diese Zuständigkeit des hl. V. ist schon früh in der Kaiserchronik (Mitte 12. Jh.) belegt (V. 6469⫺6472); ihr Grund war möglicherweise die Heilung des von einem Dämon besessenen Sohns von Diokletian durch V.11 Auch ganze Länder und Gegenden wie Böhmen, Niedersachsen, Pommern, Rügen und Städte wie Prag, Höxter, Mönchengladbach, Ellwangen, Veitshöchheim und Krems kennen V. als Schutzpatron. Von Viktor von Scheffel wurde der hl. V. von Staffelstein in mehreren Gedichten besungen. Das bekannteste („Wohlauf die Luft geht frisch und rein […]“, 1859) wird heute als Frankenlied bezeichnet. Seit dem Ende des 13. Jh.s galt der Veitstag als längster Tag des Jahres und als eigentliche
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Sonnenwende. Das führte zu Bauern- und Wetterregeln, z. B. „Veit, scheid’t die Zeit“; „O heiliger Veit, o regne nicht, dass es uns nicht an Gerst’ gebricht“12. Die Ikonographie des Heiligen zeigt ihn meist mit den Attributen seiner Marter. Seine Darstellung mit einem Hahn könnte auf die Legende des Bischofs Otto von Bamberg zurückgehen: Dieser soll bei der Bekehrung der den slav. Gott Svantevit, dessen Attribut ein Hahn war, verehrenden Pommern ein von einem Hahn gekröntes V.-Reliquiar eingesetzt haben13. Auffällig ist darüber hinaus die lautliche Analogie zwischen dem Namen der Gottheit und der Bezeichnung des Heiligen in den slav. Sprachen (z. B. poln. S´wie˛ty Wit, kroat./serb. Sveti Vid, russ. Svjatoj Vit). Der St.-V.-Tag (Vidovdan) hat in den slav. Ländern14, vor allem in Serbien, eine bes., nationale Bedeutung: 1389 fand an diesem Tag die Schlacht auf dem Kosovo pole (Amselfeld) statt, in der die Serben den Osmanen unterlagen. In der Folge wurde der V.-Tag in Serbien wiederholt mit politischen Ereignissen von nationaler Tragweite verbunden15. AS Nov. 2, 2, 319 sq. ⫺ 2 Bibliotheca hagiographica Latina antiquae et mediae aetatis 2. Brüssel 1901, 8711⫺8723; AS Junii 2, 1013⫺1042. ⫺ 3 z. B. Günter 1949, 155. ⫺ 4 ibid., 271 sq. ⫺ 5 cf. Legenda aurea/ Benz, 404; Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 17; Günter 1949, 130. ⫺ 6 Königs, H.: Der hl. V. und seine Verehrung. Münster 1939, 6. ⫺ 7 Oswald, J.: V. In: LThK 10 (21965) 825⫺827; Hensel, F.: V. In: LCI 8 (1976) 579⫺583; Wenneker, E.: V. In: Biogr.-bibliogr. Kirchenlex. 12. Hamm 1997, 1530⫺1533; Krüger, K. H.: V. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1781 sq.; cf. Russis, T. de: Iconografia di San Vito martire in Puglia, in Italia, nel mondo. Bari 2002; Messana, P.: San Vito. Erice 2008. ⫺ 8 cf. Günter 1906 (wie not. 5) 17, cf. 30. ⫺ 9 Geith, K.-E.: Veit. In: Verflex. 10 (21999) 199⫺202, hier 201. ⫺ 10 Strasser, G. F.: Sankt V. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Herrscher, Helden, Heilige. St. Gallen 1996, 559⫺565. ⫺ 11 z. B. Günter 1949, 155. ⫺ 12 Sartori [, P.]: V., hl. In: HDA 8 (1936⫺37) 1540⫺1544, hier 1542 sq.; LCI 8, 579⫺583. ⫺ 13 z. B. Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 362; HDA 3 (1930⫺31) 1331; cf. LThK 10, 826. ⫺ 14 cf. Richter, A.: Rückgriffe auf den Vidovdan-Mythos in literar. Werken des 20. Jh.s. In: Behring, E./Richter, L./ Schwarz, W. F. (edd.): Geschichtliche Mythen in den Lit.en und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas. Stg. 1999, 381⫺392. ⫺ 15 cf. z. B. Radosavljevic´, M.: Vidovdan i Kosovo u srpskom narodu (Vidovdan und das Kosovo im serb. Volk). Gracˇanica 2007. 1
Sexau
Karl-Ernst Geith
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Vogel
Vogel 1. Allgemeines ⫺ 2. Narrative Leitfunktionen ⫺ 3. Der V. als soziales Wesen
1 . All ge me in es. Die weltweit verbreitete lungenatmende, warmblütige Wirbeltierklasse der V.1 hat aufgrund auffälliger Charakteristika, die zumindest in ihrer Kombination keinen weiteren Tieren zukommen, die erzählende und symbolschaffende Phantasie stets angeregt2. V. sind in allen Erzählgattungen ⫺ Sage, Tiermärchen (AaTh 220⫺249**/ATU 220⫺248 A*), Fabel3, Exemplum4, Mythos und Legende ⫺ vielfältig präsent: Sie sind mit Schnabel, oft buntem J Federkleid (J Feder), in der Regel mit Schwanz ausgestattet, eierlegend (cf. J Ei; cf. AaTh/ATU 240: J Eiertausch der V.), nestbauend (cf. AaTh/ATU 236: J Nestbau der V.), oft zu gesangsähnlichen Tönen fähig und meist flugfähig. In Redensarten und Sprichwörtern haben sich all diese Eigenschaften eingeschrieben (z. B. ,Jedem V. gefällt sein Nest‘, ,Wie der V., so das Ei‘; ,den V. fliegen lehren‘). Weitere Redensarten vermitteln das Seltsame oder Geistesgestörte eines Menschen (,ein seltener V.‘, ,einen V. haben‘)5. Bei alledem betrifft das Erzählen über V. zu einem nicht unbeträchtlichen Teil weniger den V. im allgemeinen als einzelne symbolund erzählgeschichtlich, ikonographisch oder redensartlich profilierte V.arten wie z. B. J Kuckuck, J Nachtigall, J Schwalbe oder J Storch6. Auf deren oft markanten Charakteristika beruhen z. B. die zahlreichen ätiologischen Sagen, die auffällige, nicht selten im Vergleich zu anderen V.n als untypisch, ausnahmehaft oder defizitär erfahrene Eigenschaften erklären (z. B. die Flugunfähigkeit des Huhns [J Hahn, Huhn] oder die Schwanzlosigkeit der Wachtel)7. Oft auf einzelne V.arten bezogen sind auch die Zuschreibungen des Volksglaubens (z. B. J Eule als Unheilbringerin) oder die im J Physiologus bzw. in dessen Nachfolge formulierten christl. Allegoresen, die kaum auf den V. schlechthin intendiert sind, sondern auf so verschiedene V.arten wie den Pelikan (das Blut der Pelikanmutter belebt ihre toten Kinder, wie J Christi Blut die Menschen erlöst8) oder das Bläßhuhn (wie jenes soll auch der Mensch nur einen einzigen Ruheplatz haben: die hl. Gemeinde Gottes)9.
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In den Vorstellungen und Erzählungen vom V. im allg. ist er in erster Linie das fliegende Wesen, dem Himmel, dem Element Luft10 und dem Licht zugehörig, Symbol der Freiheit und der grenz- und hindernisüberschreitenden Bewegungen, hierdurch Projektionsfläche menschlicher Sehnsüchte11. Auf dem uralten Menschheitstraum, vogelgleich fliegen zu können, gründen zahlreiche Erzählmotive und -themen (AaTh/ATU 575: J Flügel des Königssohnes; J Fluggeräte; AaTh/ATU 665: J Mann, der wie ein V. flog und wie ein Fisch schwamm). Auch das Volkslied kennt die Sehnsucht, scheinbar mühelos wie ein V. trennende Abstände zu überwinden, z. B. in dem Liebeslied Wenn ich ein Vöglein wär12. Wie gefährlich, gar tödlich es sein kann, dem Wunsch zu fliegen, nachzugeben, zeigen der Mythos von J Dädalus und Ikarus oder die Fabeln AaTh/ATU 225, 225 A: cf. J Fliegen lernen. Im N. T. werden die freien und sorglosen ,V. des Himmels‘ (Mt. 6,26), die sich nicht unnötig um ihre Nahrung sorgen, zum Sinnbild der gütigen Fürsorge Gottes und des vorbildhaften Gottvertrauens. Der V. im Käfig hingegen hat vielfältige, zumeist negative symbolische Bedeutungen13: Wo er, das freie Wesen schlechthin, in der Emblematik (die ihn häufig, mit mannigfaltigen Bedeutungen ausgestattet, als gefangenes oder aus der Gefangenschaft fliehendes Wesen zeigt) freiwillig im Käfig bleibt, steht er für die Liebe oder die Macht der Gewohnheit14. In der ma. Tierallegorese ist der versehrte, behinderte und flugunfähige V. Sinnbild der ans Irdische gefesselten Seele15. Der aus einem Krug entflogene V. macht in Var.n von AaTh/ATU 1416: Die neue J Eva einen Tabubruch offenkundig: Die dergestalt entlarvte Frau hat gegen das ausdrückliche Verbot, das Gefäß zu öffnen, verstoßen16. Die Flugfähigkeit des V.s unberücksichtigt zu lassen, kennzeichnet in Narrenerzählungen den Tölpel: Dummköpfe stürzen einen V. zur Bestrafung von einer Klippe (AaTh/ATU 1310 C: Throwing the Bird from a Cliff as Punishment) oder schließen das Stadttor, damit der entwichene V. nicht entkommt (AaTh/ATU 1213: The Pent Cuckoo). Zugleich ist der V. so sehr das gefiederte Wesen, daß die Frage nach einem ,V. federlos‘ ⫺ auf einen blattlosen Baum geflogen, dort von einer mundlosen Frau gefressen ⫺
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Vogel
paradox anmutet und ein wohl aus einem antiken Zauberspruch entstandenes Rätsel begründet; die Lösung: Es ist der Schnee, der von der Sonne gefressen wird17. Nicht zuletzt begegnen V. in der Erzählliteratur aber auch als singende bzw. rufende Wesen. Ihre Stimmen werden in zahlreichen ätiologischen Sagen gedeutet18. Vielfach wird der Gesang des V.s als magisch erfahren19. Im Predigtmärlein AaTh/ATU 471 A: J Mönch und Vöglein entrückt der süße Gesang eines V.s einen Mönch so sehr, daß er ⫺ in der prototypischen Version ⫺ erst nach 300 Jahren, die für ihn nur Augenblicke sind, ins Kloster zurückkehrt, um dort nach Empfang des Abendmahles (d. h. der Gnade Gottes) sofort zu Staub zu zerfallen20. Oft sind V. klein, schwach, zerbrechlich, bedroht und vielfältigen Nachstellungen ausgesetzt ⫺ z. B. im Tiermärchen durch größere Tiere (AaTh 56⫺56 C/ATU 56⫺56 B: J Fuchs und V.junge) oder in Fabeln durch Menschen wie den V.steller (AaTh 233/ATU 233 A⫺D: J V. und Netz), dem sie nur durch gemeinschaftliche Kraftaufbietung oder durch List entfliehen können. Als kleine trauliche Hausgenossen dienten V. Kindern immer wieder auch als Spielzeug21. Nicht von ungefähr mahnen die moralischen Geschichten der Volksaufklärung nicht nur Kinder zu respektvoller Fürsorge für ihre Schutzbefohlenen und prangern die (letztlich bestrafte) Grausamkeit gegenüber V.n an22. In biogr. Erzählungen männlicher Jugendlicher wird deren Weg zu sexueller Identität durch das Aufspüren von V.n, vor allem das Ausheben von V.nestern ⫺ Unternehmungen mit Schlüsselstellung im Leben der Heranwachsenden ⫺ markiert23. Gern wird die Kleinheit des V.s, bes. seines Schnabels, für religiöse und metaphysische Exempla genutzt. So steht das wenige Wasser aus dem Meer, das der V.schnabel zu fassen vermag24, in muslim. nachkoranischen Theodizee-Legenden (AaTh/ATU 759: J Engel und Eremit) für das menschliche Wissen, das Meer für die Weisheit Gottes25. Die lange Zeit, in der ein V. mit seinem kleinen Schnabel einen großen Berg abträgt, bedeutet nicht mehr als eine Sekunde der J Ewigkeit (cf. KHM 152, AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt). 2 . Nar ra ti ve Le it fu nk ti on en. Zwar begegnen V. vielfach in eher seltenen und auch
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disparaten Erzählmotiven ohne eingängige Symbolik. Auffälliger ist jedoch die deutliche Dominanz einiger weniger Leitfunktionen26 im europ. wie außereurop. Erzählen27, mit meist stark handlungsdynamisierender Wirkung, die vor allem im (Zauber-)Märchen augenfällig wird. So werden V. für den (magischen) Transport genutzt28: Im ind. Mythos dienen sie als Tragetiere von Göttern (Brahma reitet auf einer J Gans bzw. einem J Schwan, Visønø u auf dem Garudø a [J Phönix])29. J Salomo ⫺ durch außergewöhnliche Fähigkeiten im Umgang mit Menschen, Tieren und Pflanzen hervorgehoben ⫺ kann in der nachbibl. Überlieferung von einem J Adler durch die Lüfte getragen werden. Wie der V. Greif in KHM 88, AaTh/ ATU 425 A: cf. J Amor und Psyche fungieren V. im Märchen häufig als Fluchthelfer. In der Kinder- und Jugendliteratur ermöglichen sie den Helden phantasievoll ausgeschmückte, abenteuerliche J Luftreisen30. Eine völlig anders intendierte Art des Transports liegt vor, wenn diebische V. (J Elster) geraubten Schmuck davontragen (cf. J Magelone; AaTh/ ATU 434: Der gestohlene J Spiegel)31. Als fliegende Tiere, die sich aus der Luft einen Überblick über den Gang der Dinge verschaffen können, sind V. bes. geeignet, anderen den Weg zu weisen (J Wegweisende Gegenstände und Tiere). Auf mannigfaltige Weise übermitteln V. Nachrichten. Sie treten ⫺ zwischen dem Himmel, dem imaginierten Sitz der Götter, und der Erde fliegend ⫺ insbesondere als Boten der Götter auf (cf. J Taube)32 und künden auch von hl. Handlungen wie der altägypt. Krönung33. In religiösem Erzählgut, etwa in Heiligenlegenden, bringen V. frommen Männern Speisen (cf. J Antonius Eremita, Hl.)34. Im Volksglauben sind V. Vorboten des Unheils, aber auch glücklicher Ereignisse35 und zeigen Wetteränderungen sowie den Wechsel der Jahreszeiten an36. Im Augurium, der V.schau der Römer, dienten sie als Orakeltiere (J Divination)37; die Prodigienvögel der röm. Lit. sind Umgestaltungen griech. V.donen38. In einer südosteurop. Bauopfersage verkündet ein V. den nahen Tod der Frau des Baumeisters, die ausersehen ist, durch ihren Opfertod (J Einmauern) Schaden von der zu errichtenden Brücke abzuwenden39. Vor allem kommt V.n
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Vogel
auch die J Prophezeiung künftiger Hoheit (AaTh/ATU 517)40 zu. Nicht nur hier, sondern überall dort, wo es gilt, die Mitteilungen und Botschaften, Geheimnisse oder Warnungen der V. zu verstehen, bedarf es eines J tiersprachenkundigen Menschen (AaTh/ATU 670, 670 A, 671, 673) oder, spezieller noch, eines der J V.sprache Mächtigen. V. erinnern auch an die vergessene J Braut (Kap. 6; cf. AaTh 313 C/ ATU 313: J Magische Flucht)41. Sie offenbaren die Wahrheit, indem sie bislang unentdeckte und ungesühnte Missetaten aufdecken (z. B. als einzige Zeugen eines Mordes: AaTh/ ATU 960 A: J Kraniche des Ibykus; AaTh/ ATU 960, 960 B: J Sonne bringt es an den Tag), nicht selten als Seelenvögel (z. B. KHM 96, AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne). Häufig sind sie hierbei zugleich unerbittliche Rächer oder Richter (cf. z. B. AaTh/ ATU 720: J Totenvogel)42. Auch in Erzähltypen, in denen der rächende V. nicht als ,V. der Wahrheit‘43 auftritt, z. B. in AaTh/ATU 248: J Hund und Sperling, agiert er, seine beschränkten körperlichen Möglichkeiten optimal nutzend, zumeist märchentypisch grausam. Nicht nur, weil sie viel gesehen haben, sind V. klug und weise; sie vermitteln den Menschen Lebensweisheiten und dienen ihnen als des phil. Denkens mächtige J Ratgeber (AaTh/ATU 150: Die drei J Lehren des V.s). Im Märchen fungieren sie als warnende Schicksalskünder, wissen um das alleinige Mittel der Rettung, mit dem ein drohendes, von ihnen selbst geweissagtes Unheil abgewehrt werden kann (z. B. AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes). Sie sind mit den Heilkräften der Natur, etwa der Blindheit behebenden Wirkung des Taus, vertraut (AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer): Nicht nur hier wird durch sie das Ziel des Märchens, eine gestörte Weltordnung wieder einzurenken, erfüllt. Auch im Volksglauben vermögen V. Krankheiten zu heilen44 und schützen vor der Pest45. Zugleich übertragen sie jedoch auch Krankheiten; diese kann man dem Volksglauben nach durch eine frühe Speise (,V.betrug‘) abwehren, um den V.n nicht nüchtern-hilflos zu begegnen46. Unter den Tieren, in die Menschen in Mythen und Märchen verwandelt werden (J Tierverwandlung), nehmen V. eine prominente Stellung ein (cf. Figuren wie die J Schwan-
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jungfrau). AaTh/ATU 432: J Prinz als V. ist mit dem zentralen Motiv des Liebhabers, der V.gestalt annimmt (Mot. D 641.1), ein charakteristisches Beispiel für den häufigen Bezug des V.s zu Liebe, Erotik und Sexualit. Diese Themen ⫺ oft narrativ vermittelt durch das Motiv des J Ehebruchs ⫺ finden sich im übrigen in der Rahmenerzählung des J Papageienbuchs sowie in manchen Papageienwitzen (J Papagei). J Verwandlungen von Menschen in V. sind bedingt durch J Verwünschungen oder J Verzauberungen wie in AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder. Beim Verwandlungswettkampf zwischen J Zauberer und Schüler (AaTh/ATU 325) wird während der Verfolgungsjagd gern auch der V. als schnelles flug- und fluchtfähiges Wesen gewählt. In Mythos und Märchen begegnen V. als J Seelentiere47. Unstatthaft vereinnahmende Interpretationen liegen jedoch vor, wenn nahezu jeder Märchenvogel als Jenseitsbewohner verstanden wird, weil Märchen einseitig-verfälschend als Erzählungen von einer chthonischen Seelenreise gedeutet werden48. Die J Sirenen der griech. Mythologie sind anderslautender Deutung49 zum Trotz ebenfalls keine Seelenvögel. Auch auf andere Weise sind V. häufig sowohl auf das Leben wie auf den J Tod bezogen, hierbei oft in die Polarität zwischen beiden eingespannt. Sie stehen für Weiterleben, Wiedergeburt (Phönix) und Belebung. So werden z. B. in einer apokryphen J Kindheitslegende Jesu, die in jüd., christl. und islam. Überlieferung begegnet, durch den jungen Jesus V. aus Lehm zum Leben erweckt (Mot. A 1714.3): ein früher Hinweis auf seine spätere Wundertätigkeit50. In wundersam-grotesken Schilderungen der Heiligenlegenden werden tote ⫺ gebratene oder bereits verzehrte ⫺ V. von Heiligen wieder zum Leben erweckt (ATU 960 C: J Bratenwunder): ein Beleg für die Allmacht Gottes51. Für das erwachende saisonale Leben stehen in Volksliedern Zugvögel als Frühlingsboten52. Das vorausgegangene Überwintern der Schwalbe wird im Volksglauben an meist wunderlichen Orten, z. B. unter Eis, imaginiert53. V. begegnen überdies in zahlreichen Märchen als ⫺ oft aus Dankbarkeit ⫺ hilfreiche Tiere (AaTh/ATU 554: cf. J Dankbare [hilf-
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Vogel
reiche] Tiere) bei der Lösung schwieriger oder für den Menschen unlösbar erscheinender Aufgaben. Finden sich mehrere Tierhelfer, so kann wie in KHM 17, AaTh/ATU 673 ⫹ 554 jedem Element ein Tier, so der Luft der V., zugeordnet sein: Hier fliegen die Raben ans Ende der Welt, um den goldenen Apfel vom Baum des Lebens zu holen. Als V. des Wassers ⫺ eine in erzähl- wie symbolgeschichtlicher Hinsicht oft vernachlässigte lebensräumliche Zuordnung des V.s ⫺ tauchen sie helfend nach einem versunkenen Schlüssel (KHM 62, AaTh/ATU 554). Artbedingte Fertigkeiten setzen V. auch ein, wenn sie für die Heldin Linsen lesen (AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella). Im J Etana-Mythos (AaTh/ATU 537) dient der dankbare Adler dem Helden als Flugtier. Wenn der in Bedrängnis geratene Märchenheld die Federn, die ihm der helfende V. gegeben hat, zwischen seinen Fingern reibt, eilt dieser unverzüglich herbei, um ihn zu retten (AaTh/ATU 552: J Tierschwäger; J Pars pro toto). Aufgrund von Charakteristika wie Flugfähigkeit und Himmelsnähe oder von Leitfunktionen wie der des Heilens mag V. ohnehin schon eine wundersame Aura umgeben; eindeutig als Zauber- und Wundervögel ausgewiesen sind sie aber erst in Erzähltypen und -motiven des Zaubermärchens, etwa wenn der Verzehr des wunderbaren J V.herzens (AaTh/ ATU 567) zu Golderwerb führt oder der Gesang des goldenen Vogels heilen kann (AaTh/ ATU 550: J V., Pferd und Königstochter). Genuine Wundervögel, zugleich Riesenvögel sind auch Phönix, V. Greif, Garudø a und Simorg˙. In Mythen und Naturvölkermärchen stiften und wahren V. überdies Ordnungen kosmischer wie zivilisatorischer Art. So ermöglichen sie als J Kulturheroen oder J Trickster von kosmogonischer Wirkung den Menschen durch Eingriffe in die Natur ein Überleben in einer vordem uneingeschränkt lebensfeindlichen primordialen Welt (J Rabe). Im J Weltenbaum des Mythos ⫺ Zentrum der Welt und Symbol der kosmischen Ordnung ⫺ sitzen V. von schwer definierbarer Funktion, doch sind sie wie der Adler in der germ. Weltesche Yggdrasil weise und aufgrund ihrer Positionierung von eindeutig herausgehobenem Status54. 3 . D er V. al s s oz ia le s Wes en. Nicht wenige Erzähltypen und -motive thematisieren
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das Zusammenleben der V. untereinander oder mit anderen Tieren, das nicht nur friedlich verläuft, sondern auch konfliktbetont sein kann. So treffen sich im J Tierepos (Kap. 4.3) V. zu V.versammlungen, zum V.rat oder zum J Parlament der V. (AaTh/ATU 220). Die Königswahl der V. (J Königswahl der Tiere; J Tierkönig) in Fabel und Tiermärchen endet erfolglos oder durch Wahl des Kleinsten, des listigen J Zaunkönigs55. Profilierte Unterschiede zwischen einzelnen V.n spielen auch eine wichtige Rolle in AaTh/ATU 920 B: J V.wahl der Königssöhne. Dem Erzähltyp ATU 224: Bird [Beetle] Wedding werden vielfach mit sexuellen Zweideutigkeiten versehene V.hochzeitslieder zugeordnet (J V.hochzeit; cf. J Tierhochzeit)56. Über den Kreis der V. hinaus weisen AaTh/ATU 238: J Taube und Frosch streiten und AaTh 104/ATU 103, AaTh/ ATU 222: cf. J Krieg der Tiere um den Krieg zwischen V.n und Vierfüßlern, der von den V.n durch List gewonnen wird. In AaTh/ATU 85: J Maus, V. und Bratwurst weigert sich der V., wie bislang das Brennholz für die gemeinsame Nahrungszubereitung herbeizutragen, und verschuldet nach erfolgtem Rollentausch den Tod aller: eine Warnung vor den desaströsen Folgen naturwidrigen Verhaltens. 1 Grzimek, B. (ed.): Grzimeks Tierleben. V. 1⫺3. Zürich 1968⫺70. ⫺ 2 Dh., Reg. (s. v. V. und einzelne V.arten); Keller, O.: Die antike Tierwelt 2. Lpz. 1913 (Nachdr. Hildesheim 1963), 1⫺246; Knortz, K.: Die V. in Geschichte, Sage, Brauch und Lit. Mü. 1913; Kre˙ve˙ Mickevicˇius, V.: Mu¯su˛ pauksˇcˇiai liaudies padavimuose (Unsere V. in Volkserzählungen). In: Mu¯su˛ tautosaka 7 (1933) 329; Armstrong, E. A.: The Folklore of Birds. An Enquiry into the Origin & Distribution of Some Magico-Religious Traditions. N. Y. 21970; Pollard, J.: Birds in Greek Life and Myth. L. 1977; Röhl, A.: Geflügelte über uns. Der V. in Mythos und Geschichte, in Natur- und Geisteswiss. Stg. 21978 (anthroposophisch); Tillhagen, C.H.: Fa˚glarna i folktron. Stockholm 1978, 16⫺42; id.: The Birds in Legends and Myths. In: Folklore on Two Continents. Festschr. L. De´gh. Bloom. 1980, 93⫺103; Yapp, W. B.: Birds in Medieval Mss. L. 1981; Dunduliene˙, P.: Pauksˇcˇiai senuosiuose lietuviu˛ tike˙jimuose ir mene˙ (Die V. im litau. Volksglauben und in der litau. Kunst). Vilnius 1982; Gattiker, E. und L.: Die V. im Volksglauben. Wiesbaden 1989, 13⫺33; Lurker, M. (ed.): Wb. der Symbolik. Stg. 5 1991, 797 sq.; Albert-Llorca, M.: L’Ordre des choses. Les Re´cits d’origine des animaux et des plantes en Europe. P. 1991, Reg. 1 (s. v. einzelne V.arten); Amades, J.: L’Origine des beˆtes. ed. M. Albert-
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Vogel Greif
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Berlin Vogel Greif J Phönix
Werner Bies
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Vogel, Pferd und Königstochter
Vogel, Pferd und Königstochter (AaTh/ATU 550), Zaubermärchen aus der Gruppe der Märchen mit übernatürlichen J Helfern (AaTh/ATU 500⫺559). Die Handlung wird von der J Suche nach einem Zaubervogel bestimmt: Charakteristisch für den Erzähltyp ist die J dreimalige Wiederholung, in der ein Mißerfolg bei der Lösung einer Aufgabe zur nächsten Aufgabe führt1. (1.) Einleitung. (1.1) Ein goldener Vogel stiehlt nachts die kostbaren Äpfel aus dem Garten des Königs. Seine drei Söhne versuchen, den Vogel zu fangen. Während die beiden ältesten einschlafen, kommt der J jüngste beim Versuch, den Vogel zu erlegen, in den Besitz einer seiner Federn. (1.2) Alternativ kann ein kranker König nur durch den Gesang des goldenen Vogels (J Phönix) geheilt werden. (2.) Die drei Söhne des Königs machen sich auf die Suche nach dem goldenen Vogel. Die beiden ältesten begegnen einem J Fuchs (J Wolf), den sie erschießen wollen. Der Fuchs warnt sie davor, ein bestimmtes J Wirtshaus aufzusuchen, und entkommt. Die Brüder betreten das Wirtshaus, vergnügen sich dort und vergessen darüber ihre Aufgabe. Der jüngste Bruder ist freundlich zu dem Tier (gibt ihm sein Pferd zu fressen), woraufhin es ihn zu dem Ort trägt, an dem sich der Vogel befindet (J Dankbare [hilfreiche] Tiere). Entgegen dem Rat des Helfers nimmt der Prinz auch den goldenen Käfig mit und wird ertappt. Der König, dem der Vogel gehört, verspricht ihm die Freiheit, falls er ihm ein Zauberpferd bringt. Wieder hört der Held nicht auf den Rat seines Helfers, nimmt auch das kostbare Zaumzeug mit und wird nochmals erwischt. Diesmal kann er der Strafe nur entgehen, wenn er eine Prinzessin holt. Jetzt übernimmt der Tierhelfer die Aufgabe selbst und ist erfolgreich. Held und Helfer betrügen die Besitzer des Pferdes und des Vogels um die verlangten Objekte und fliehen mit der Prinzessin. Schließlich treffen sie die beiden älteren Brüder wieder, die aufgrund ihrer Ausschweifungen in Bedrängnis geraten sind. Gegen den Rat des Fuchses befreit der Held sie (rettet sie vor dem Erhängen; J Mitleidsverbot). Sie werfen ihn jedoch in einen Brunnen (töten ihn) und bringen dem König die Kostbarkeiten. Der Helfer rettet den Prinzen (J Wiederbelebung mit J Lebenswasser). Der Held kehrt mit seinem Helfer zu seinem Vater zurück. Vogel, Pferd und Prinzessin erkennen ihn als ihren Retter (der Prinz heiratet die Prinzessin; die Brüder werden bestraft; der Tierhelfer, ein verzauberter Mensch, wird erlöst).
Da in vielen Var.n der Vogel oder sein Gesang als J Heilmittel fungieren, werden die Grenzen zu AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens als fließend angesehen2. AaTh gibt eine
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gemeinsame Inhaltsangabe von AaTh/ATU 551 und AaTh/ATU 550. Vielfach sind Texte nicht eindeutig einem der beiden Erzähltypen zuzuordnen. Dies erklärt sich aus ihrer Textgeschichte3. Die meisten Texte mit einem heilenden Vogel, die aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s stammen, gehen aller Wahrscheinlichkeit nach auf Christoph Wilhelm Günthers Fassung (1787) zurück4. Der Vogel selbst stellt eine spätere Motivvariante des Lebenswassers dar. In der Fassung der Brüder J Grimm (KHM 57) wurde er zu einem ,goldenen Vogel‘ ohne Bezug zum früheren Phönix verselbständigt. Mißverständnisse in der Abgrenzung des Erzähltyps entstanden, da A. J Aarnes Beschreibung vorwiegend auf der Grimm-Fassung basiert. AaTh/ATU 550 wurde als mündl. Vorläufer des von Penninc verfaßten und von Pieter Vostaert vollendeten mittelndl. Artusromans De Walewein (13. Jh.) angesehen5. Walewein (J Gawein) wird von König Arthur beauftragt, ein schwebendes Schachbrett zu beschaffen. Nach einem Drachenkampf kommt Walewein an den Hof von König Wonder, der ihm das Schachbrett verspricht, wenn er ihm ein magisches J Schwert besorge, das sich nur dem vollendeten Ritter unterwirft. Sein Besitzer, König Amoraen (Amorijs), gibt es Walewein, der diesem Ideal entspricht. Als Gegenleistung muß Walewein aber die schöne Ysabele aus dem fernen Indien holen. Unterwegs trifft Walewein den in einen Fuchs verwandelten Prinzen Roges. Walewein wird von Ysabeles Vater gefangengenommen und von Ysabele, die sich in ihn verliebt hat, befreit. Bei ihrer Flucht hilft ihnen der Geist eines Ritters, dem Walewein zu einem christl. Begräbnis verholfen hatte (cf. AaTh/ATU 505: cf. J Dankbarer Toter). Als sie in Amoraens Schloß eintreffen, ist dieser tot, und Walewein kann Schwert und Königstochter behalten. Unterwegs zu König Wonder wird Ysabele dem schlafenden Walewein von J Lancelots Bruder Estor geraubt. Der Fuchs weckt Walewein, der Ysabele zurückgewinnt. Am Hof von König Wonder erhält Roges seine menschliche Gestalt zurück, und Walewein übergibt das Schwert als Gegengabe für das schwebende Schachbrett.
Die Besonderheiten des Epos gegenüber dem Märchen werden gewöhnlich mit der veränderten Zielgruppe des Epos, der adligen Ritterschaft, erklärt6. Diese Erklärung setzt allerdings voraus, daß dem Epos eine mündl. Überlieferung voranging. Eine solche ist jedoch erst um die Mitte des 19. Jh.s belegt. Zu-
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Vogel, Pferd und Königstochter
dem steht diese Deutung der Dynamik mündl. Überlieferung entgegen, die erst durch schriftl. Fixierung Stabilität über mehrere Generationen erlangt. Die Ähnlichkeiten zwischen Epos und Märchen, bes. in den Märchenvarianten mit einem dankbaren Toten7, sind dennoch so ausgeprägt, daß von einem Einfluß des Epos auf die späteren Märchen ausgegangen werden muß. Möglich ist z. B., daß das Epos in anderen hs. Versionen, Übers.en oder sogar nichtidentifizierten Drucken erhalten blieb8. Ebenfalls möglich ist, daß Elemente aus dem Epos nach der Wiederentdeckung des ndl. Ms.s im späten 18. Jh. oder nach Erscheinen der Druckfassung9 von Kompilatoren in Erzählsammlungen übernommen oder im 19. Jh. gelegentlich mündl. wiedergegeben wurden10. Als literar. Vorläufer von AaTh/ATU 550 wird auch ein Predigtexempel aus der Scala coeli (num. 538) des J Johannes Gobi Junior angesehen11. Hier muß der Held einer Reihe von J Versuchungen widerstehen, bevor er das Wasser und die Jungfrau, die es hütet, gewinnt; das Exemplum enthält auch die erste Erwähnung der Geschwisterrivalität (AaTh/ ATU 551). Bei J Straparola (3,2) finden sich dann alle wesentlichen Elemente von AaTh/ ATU 550 (Geschwisterrivalität, Tierhelfer, Pferd, Wiederbelebung). Gegen Ende des 16. Jh.s wurde der Stoff von Lorenzo Selva adaptiert, wobei der Autor auch Elemente verwendete, die auf Johannes Gobis Fassung zurückgehen12. In dieser Erzählung muß der Held Früchte und eine Frau beschaffen. Er hat verschiedene menschliche Helfer, und es kommt ein geflügeltes Pferd vor13. Die Geschichten aus Selvas Buch, das 1611 ins Französische übersetzt wurde, erfuhren ihrerseits verschiedene Bearb.en; ein Textvergleich läßt vermuten, daß sich der anonyme Autor der Erzählung La petite Grenouille verte (1731) hiervon inspirieren ließ14. Der Vogel erscheint erstmals in einer vermutlich frz. Var. aus der 1. Hälfte des 17. Jh.s, die AaTh/ATU 551 zuzuordnen ist; diese thematisiert ebenfalls die Rivalität der Brüder15. In seiner heutigen Form begegnet AaTh/ATU 550 seit dem späten 18. Jh. in einem russ. Text16, in Günthers Kindermährchen und in einem im 19. Jh. kompilierten Ms. von J Tausendundeine Nacht17. Erzählungen, die im 19./20. Jh. in ganz Europa18 und Asien, in Nord- und Südamerika
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sowie Nord- und Ostafrika aufgezeichnet und als AaTh/ATU 550 klassifiziert wurden, sind hinsichtlich ihres Inhalts und ihres Zusammenhangs mit literar. Überlieferungen zu überprüfen. Es ist davon auszugehen, daß sich die osteurop. Var.n von den west- und nordeurop. dadurch unterscheiden, daß erstere als Tierhelfer einen Wolf und letztere einen Fuchs kennen. Charakteristisch für die Wolf-Var.n ist das Vorhandensein eines Wegzeichens (J Wegkreuzung)19; der Wolf verwandelt sich in die Wesen, die beschafft werden sollen (Prinzessin, Pferd, Vogel), um so deren Verlust zumindest zeitweise zu verbergen; der Prinz wird durch das Lebenswasser wiederbelebt. Manchmal verwandelt sich der Tierhelfer in ein beliebiges Transportmittel20. In den Fuchs-Var.n betrügt der Held die Besitzer von Pferd und Vogel um die kostbaren Objekte. Eine Heilsalbe als Wiederbelebungsmittel kann in den von Günther abhängigen Texten vorkommen. Auch die Fassung der Brüder Grimm21 basiert aller Wahrscheinlichkeit nach auf Günther, doch fehlt das Motiv des Heilmittels22; hier und in den auf KHM 57 basierenden Var.n überlebt der Held den Anschlag seiner Brüder23. In einigen Var.n aus dieser Gruppe sind Elemente aus KHM 57 (1812) erhalten24, andere stehen der Version Günthers nahe, doch ist der Fuchs hier ein dankbarer Toter, dem der Prinz geholfen hatte. Der Hintergrund dieser Texte liegt eher in einem religiösen (kathol.) als in einem geogr. Zusammenhang25. Der Vogel kann eine weiße Amsel (frz., österr.)26, ein psalmodierender Vogel (ung.)27 oder ein Sperling (bosn., rumäniendt.)28 sein. In einigen südosteurop. Var.n wird er mit dem Bau einer Kirche oder Moschee in Verbindung gebracht29. In einer türk. Fassung macht sich der Held auf die Suche nach einer Nachtigall für die neugebaute Moschee30. Kombinationen von Elementen von AaTh/ATU 550 mit Elementen anderer Typen liegen meist im Kontext von J Suchwanderungen vor. Thematische Ähnlichkeiten weist bes. AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen auf: Mißgünstige Gefährten lassen den Protagonisten in einem Brunnen zurück31. AaTh/ATU 550 ist als Ausdruck einer schamanistischen Weltsicht verstanden worden32. Diese Auffassung steht in Widerspruch zu den
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Vogel, Pferd und Königstochter
christl. Deutungsoptionen der Erzählung, die als Metapher für die Stärke des Glaubens und seinen Lohn gelesen werden kann: W. J Scherf hat AaTh/ATU 550 als Märchen „von der Gewinnung eines dreifältigen höchsten Gutes“33 bezeichnet; vertretbar ist jedoch auch der Standpunkt, daß das ursprüngliche Ziel die Erlangung des Zaubervogels ist, der als christl. Symbol (Phönix) aufgefaßt werden kann, während die Suche nach den beiden anderen Objekten sekundär ist. Auch die Wiederbelebung/-geburt des Helden kann in christl. Sinne gedeutet werden. Die entsprechende Szene bei Straparola läßt sich allerdings direkt mit einer Passage in der J Argonautensage in Verbindung bringen34. Das Versmärchen Konek-gorbunok (Das bucklige Pferdchen) des russ. Dichters Petr Pavlovicˇ J Ersˇov geht u. a. auf AaTh/ATU 550 zurück. Parallelen zur Eingangsepisode von AaTh/ATU 550, in welcher der goldene Vogel gefangen werden soll, finden sich in Igor ˇ ar-Ptica ([Der FeuervoStravinskijs Ballett Z gel]. 1910)35. 1
cf. allg. Draak, A. M. E.: Onderzoekingen over de roman van Walewein. (Haarlem 1936) Groningen/ Amst. 21975; BP 1, 503⫺515; Cosquin 1, 208⫺222; Wesselski, A.: Ein dt. Märchen des 18. Jh.s und die Historie om Kong Edvard af Engelland. In: Acta philologica Scandinavica 13 (1938/39) 129⫺200, hier 129 sq. ⫺ 2 Liljeblad[, S.]: Fahrt nach dem Heilmittel. In: HDM 2 (1934⫺40) 6⫺8; Ranke 2, 191⫺ 194. ⫺ 3 Ble´court, W. de: ,De gouden vogel‘, ,Het levenswater‘ en de Walewein. Over de sprookjestheorie van Maartje Draak. In: Tijdschrift voor Nederlandse taal- en letterkunde 124,4 (2008) 259⫺277. ⫺ 4 Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 204. ⫺ 5 cf. Draak (wie not. 1) 12⫺18. ⫺ 6 Dekker/van der Kooi/Meder, 153. ⫺ 7 bes. Maly´, J. B.: Na´rodnı´ cˇeske´ poha´dky a poveˇsti. Prag 1838, 42 sq.; cf. Tille, Soupis, 177 sq.; Cosquin 1, 214 sq.; Gordon, H. G.: The Grateful Dead. L. 1908, 135⫺ 143. ⫺ 8 Bruford, A.: Gaelic Folktales and Mediaeval Romances. Dublin 1969, 158 sq.; cf. auch EM 7, 1154. ⫺ 9 Penninck/Pieter Vostaert: Roman van Walewein. ed. W. J. A. Jonckbloet. (Leiden 1846) ed. G. A. van Es. Culemborg 31976 (engl. ed. D. F. Johnson. N. Y. 1992). ⫺ 10 cf. z. B. Zingerle, I. V.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol. Innsbruck 1859, 446⫺450. ⫺ 11 Wesselski, MMA, 80 sq. ⫺ 12 Wesselski (wie not. 1); Magnanini, S.: Three Fairy Tales from Lorenzo Selva’s Della Metamorfosi (1582). In: Marvels & Tales 25 (2011) (im Druck). ⫺ 13 cf. auch Angelopoulou/Kaplanoglou/Katrinaki (Var. 4, 16, 29, cf. 44). ⫺ 14 Wesselski (wie not. 1) 195⫺197; Robert,
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R.: Le Conte de fe´es litte´raire en France. P. 22002, 334. ⫺ 15 St. Niklaesgift [1647]. In: Meder, T./Hendriks, C. (edd.): Vertelcultuur. Amst. 2005, 735⫺743; Draak, A. M. E.: St. Niklaesgift. In: Tijdschrift voor Nederlandse taal- en letterkunde 62 (1943) 81⫺105, bes. 98; Liungman, Volksmärchen, 159. ⫺ 16 Dedusˇkiny progulki. SPb. 1786, num. 3, 9; Afanas’ev 1, num. 168; cf. auch Draak (wie not. 1) 49. ⫺ 17 Marzolph/van Leeuwen 1, 261 sq., num. 375. ⫺ 18 Ergänzend zu ATU: Angelopoulou/Kaplanoglou/Katrinaki. ⫺ 19 cf. z. B. Nikiforov, A. J.: Severnorusskie skazki. M./Len. 1961, num. 98; Paasonen, H./Karaha, E.: Mischhärtatar. Volksdichtung. Hels. 1953, num. 2; Fähnrich, H.: Märchen aus Georgien. MdW 1995, num. 6. ⫺ 20 cf. jedoch auch Hodne; Campbell, J. F.: Popular Tales of the West Highlands 2. Edinburgh 21994, 90⫺115. ⫺ 21 Rölleke, H.: Die Marburger Märchenfrau. Zur Herkunft der KHM 21 und 57. In: Fabula 15 (1974) 87⫺94; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 140⫺143. ⫺ 22 Wesselski (wie not. 1) 129⫺144; Bluhm, L.: Wilhelm Christoph Günther, die Brüder Grimm und die Marburger Märchenfrau. Zur Entstehung von KHM 57 ,Der goldene Vogel‘. In: Märchen in der Lit.wiss. ed. S. Jung. Lpz. 2001, 10⫺ 19. ⫺ 23 Campbell, M.: Tales from the Cloud Walking Country. Bloom. 1958, 70⫺77; cf. Curtin, J.: Irish Folk-Tales. Dublin 1944, 15⫺26; Carlos, S.: Grimms’ Tales in the Indian Narrative Situation. In: Fabula 41 (2000) 53⫺75, bes. 69⫺75. ⫺ 24 Kennedy, P.: Irish Fireside Stories. Dublin 1870, 47⫺56; Jacobs, J.: More Celtic Fairy Tales. L. 1894, 110⫺124; Eberhard/Boratav, num. 76; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, num. 23. ⫺ 25 Webster, W.: Basque Legends. L. 1879, 182⫺187; Romero, S.: Contos populares do Brasil. ed. L. da Caˆmara Cascudo. Rio de Janeiro 1954, num. 10; Piprek, J.: Poln. Volksmärchen. Wien 1918, 92⫺94. ⫺ 26 cf. z. B. Webster (wie not. 25); Millien, A./Delarue, P.: Contes du Nivernais et du Morvan. P. 1953, num. 4; Joisten, C.: Contes populaire du Dauphine´ 1. Grenoble 1971, num. 30; Geramb, V. von: Kinder- und Hausmärchen aus der Steiermark. (Graz/Wien 1948) ed. K. Haiding. Graz 41967, num. 12; Reiffenstein, I.: Österr. Märchen. MdW 1979, num. 33. ⫺ 27 De´gh, L.: Hungarian Folktales. The Art of Zsuzsanna Palko´. N. Y./L. 1995, 165⫺178 (verkürzte Var., die auf einer literar. Fassung aus dem späten 19. Jh. beruht). ⫺ 28 Krauss, F. S.: Tausend Märchen und Sagen der Südslaven 1. Lpz. 1914, num. 96; Stephani, C.: Märchen der Rumäniendeutschen. MdW 1991, num. 40. ⫺ 29 Kremnitz, M.: Rumän. Märchen. Lpz. 1882, num. 18; Leskien, A.: Balkanmärchen. Jena 1915, num. 51 (alban.); Archiv für Siebenbürg. Landeskunde 33 (1905/06) 634⫺639, num. 116; Schütz, J.: Volksmärchen aus Jugoslawien. MdW 1960, num. 20 (serbokroat.). ⫺ 30 Eberhard/Boratav, num. 206. ⫺ 31 ´ Duilearga, S.: Irish Folktales. cf. z. B. Curtin, J./O Dublin 31953, 15⫺26; Boratav, P. N.: Contes turcs.
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Vogel Roc ⫺ Vögel und Netz
P. 1955, num. 22; Taube, E.: Tuwin. Volksmärchen. B. 1978, num. 33. ⫺ 32 EM 11, 1213. ⫺ 33 Scherf 1, 513. ⫺ 34 Clausen-Stolzenburg, M.: Märchen und ma. Lit.tradition. Heidelberg 1995, 137. ⫺ 35 Bendix, R.: The Firebird. From the Folktale to the Ballet. In: Fabula 24 (1983) 72⫺85.
Sicklehatch
Willem de Ble´court
Vogel Roc J Phönix
Vögel und Netz (AaTh/ATU 233 A, B), Fabeln bzw. Tiermärchen, in denen meist Vögel durch eine gemeinsame Anstrengung oder mittels einer List dem Tod entkommen. Beide Erzähltypen sind vor allem in Süd- und Zentralasien verbreitet und gehen möglicherweise auf ind. Qu.n zurück. AaTh/ATU 233 A: The Birds Escape by Shamming Death hat folgende Normalform: Ein Schwarm Vögel (Papageien) handelt entgegen dem Ratschlag ihres weisen Anführers und wird von einem Jäger gefangen. Nun folgen die Tiere dem Rat des klugen Vogels sich J totzustellen. Der Jäger befreit sie aus dem Netz, und alle fliegen gleichzeitig davon.
Eine AaTh/ATU 233 A zuzuordnende Erzählung findet sich bereits bei dem pers. Mystiker J Rumi (Masnavi 1, 327⫺335): Ein Papagei bittet seinen Besitzer, auf Reisen seine Artgenossen zu grüßen. Diese fallen, als sie die Grüße vernehmen, wie tot um. Als der Besitzer dem Papagei davon berichtet, stellt sich auch dieser tot, wird von seinem Besitzer aus dem Käfig geholt und dadurch befreit.
Erzählungen, in denen ein einzelner Papagei sich totstellt (krankstellt, krankhungert) und daraufhin von seinem Besitzer (Fänger) unbeabsichtigt (aus seinem Käfig) befreit wird, sind in der pers. Lit. seit dem 12. Jh. bekannt1. Sie begegnen darüber hinaus bei J Berechja haNakdan2, Alexander J Neckam (De naturis rerum, num. 37) sowie in J Chaucers Canterbury Tales3 und in einer dt. Fabel aus dem 16. Jh.4 Eingebettet in die Rahmenerzählung des mongol. J Ardschi Bordschi findet sich eine der Normalform entsprechende Erzählung5; im J Papageienbuch stellen sich Vogeljunge tot, um einer Gefahr zu entgehen6. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde die Erzählung über den Vogelschwarm,
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der die Freiheit wiedererlangt, bei Mongolen7, Indern8 und Singhalesen9 aufgezeichnet, die Erzählung über einen einzelnen Vogel, der sich aus seinem Käfig befreit, bei Tadschiken10, Burjaten11, Afghanen12 und Indern13. In einer Erzählung aus Indonesien liegt eine Kombination aus beiden Formen vor: Nachdem sich alle Vögel bis auf einen durch Totstellen befreien konnten, entkommt dieser auf die gleiche Weise aus einem Käfig14. Eine Kombination von AaTh/ATU 233 A mit AaTh/ATU 516 A: The Sign Language of the Princess und AaTh/ATU 1352 A: J S´ukasaptati ist aus der mongol. Überlieferung belegt15. Parallelen zu AaTh/ATU 233 A liegen in Erzählungen vor, in denen sich andere Tiere totstellen, um sich aus einer mißlichen Lage zu befreien (Mot. K 522). So wird dies im J Hitopades´a von einem Reh erzählt; derartige Erzählungen finden sich auch in der ind. mündl. Überlieferung16. Auch in AaTh/ATU 233 B: The Birds Fly Off with the Net geraten Vögel in Gefangenschaft: Vögel (Tauben) werden von einem Jäger in einem Netz gefangen. Es gelingt ihnen zu entkommen, indem sie alle gleichzeitig auffliegen. Später werden sie von einer Maus aus dem Netz befreit.
Diese Erzählung findet sich in altind. Qu.n. Im Pali-Ja¯taka (J Ja¯taka)17, im J Maha¯bha¯rata und im chin. J Tripitøaka18 geht die Geschichte für die V. schlecht aus: Die V. streiten sich und können nicht in dieselbe Richtung davonfliegen. Im Maha¯bha¯rata (5,64) folgt eine Moral, in der die streitenden V. mit Herrschern verglichen werden, die sich uneins sind und dadurch ,wie die V. in die Hände des Feindes fallen‘. Einen positiven Ausgang nimmt die Erzählung im J Pan˜catantra19, im Hitopades´a (1,1) und in J Kalila und Dimna (Kap. 2). Vermutlich wurde sie über die lat. Übers. von Kalila und Dimna durch J Johannes von Capua (13. Jh.) nach Europa vermittelt, wo sie in ma. und frühneuzeitlichen Fabeln und Erzählungen20, u. a. bei Hans Wilhelm J Kirchhof 21, begegnet. AaTh/ATU 233 B findet sich in der dt. Lit. darüber hinaus bei Ludwig J Bechstein22. Aus mündl. Überlieferung wurde der Erzähltyp in Algerien23, von Kurden24, Tadschiken25, Usbeken26 sowie aus Indien27 und China28 aufgezeichnet. Auch die Erzählung
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Vögel aus Ton beleben ⫺ Vogelherz: Das wunderbare V.
mit dem für die Vögel negativen Ausgang aufgrund ihres Streits, in welcher der moralische Impetus bes. stark zum Tragen kommt, findet sich in der mündl. Überlieferung29. In einigen kambodschan. Texten sind lediglich der Streit und das tragische Ende einer Gruppe von Vögeln als abschreckendes Beispiel für andere Vögel dargestellt30. Kombinationen von AaTh/ATU 233 B liegen mit AaTh/ATU 41: J Wolf im Keller und AaTh/ATU 44: J Eid aufs Eisen31 sowie mit AaTh/ATU 75: J Hilfe des Schwachen32 vor. 1 Marzolph, Arabia ridens 1, 99 sq.; cf. auch id.: Der Schieler und die Flasche. In: Oriens 32 (1990) 124⫺ 138, hier 125 sq. ⫺ 2 Schwarzbaum, Fox Fables, 365⫺369; Adrados, F. R.: History of the GraecoLatin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. S. 302. ⫺ 3 Friend, A. C.: The Tale of the Captive Bird and the Traveler. Nequam, Berechiah and Chaucer’s Squire’s Tale. In: Medievalia et Humanistica 1 (1970) 57⫺65, hier 62. ⫺ 4 Dicke/Grubmüller, num. 453. ⫺ 5 Jülg, B.: Mongol. Märchen-Slg. Die neun Märchen des „Siddhi-Kür“. Nach der ausführlichen Redaction und die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan. Innsbruck 1868, 106⫺110. ⫺ 6 Hatami, M.: Unters.en zum pers. Papageienbuch des Nah˚ sˇabı¯. (Diss. Mainz) Fbg 1977, num. 7. ⫺ 7 Lo˝rincz, num. 17; E¨ndon, D.: Skazocˇnye sjuzˇety v pamjatnikach tibetskoj i mongol’skoj literatur. M. 1989, 148 sq.; Mostaert, A.: Folklore ordos. Peking 1947, num. 194. ⫺ 8 Bødker, Indian Animal Tales, num. 500⫺502. ⫺ 9 Parker, H.: Village Folk-Tales of Ceylon 1. L. 1910, num. 34. ⫺ 10 STF, num. 153 (Vogel stellt sich krank). ⫺ 11 Lo˝rincz, num. 17 a; Smolev, S. Ja.: Burjat legendy i predanija. In: Trudy Troickosavsko-Kjachtinskogo Otdelenija Priamurskogo Otdela Imperatorskogo Russkogo Geograficˇeskogo Obcˇestva 6,1 (1903) 142⫺144; Sˇadaev, A. I.: Burjat-Mongol aradaj ontochonuud. Ulan-Ude 1950, 112⫺114; Badmaev, N.: Burjat arataj aman zochiooloj tuuberi. Ulan-Ude 1960, 387 sq. ⫺ 12 Lebedev, K. A.: Die Teppichtasche. ed. M. Lorenz. Kassel 1986, 191. ⫺ 13 Bødker, Indian Animal Tales, num. 508, 510 (Wachtel hungert in Gefangenschaft). ⫺ 14 de Vries 2, num. 131. ⫺ 15 Mostaert (wie not. 7). ⫺ 16 Bødker, Indian Animal Tales, num. 503, 504 (Rehe), 506 (Fisch), 512 (Frosch). ⫺ 17 Chalmers, R.: The Jataka 1. L. 1895, num. 33. ⫺ 18 Chavannes 4, num. 182. ⫺ 19 Hertel, J.: The Panchatantra. Cambr., Mass. 1908, 126 sq. ⫺ 20 Dicke/Grubmüller, num. 556; Cifarelli, num. 429. ⫺ 21 Kirchhof, Wendunmuth, num. 101 (Tauben fliegen mit dem Netz davon), 102 (Maus befreit Tauben aus dem Netz). ⫺ 22 Bechstein, L.: Neues dt. Märchenbuch. ed. H.-J. Uther. MdW 1997, num. 56. ⫺ 23 Petigny, F.: Contes alge´riens. Nathan 1957, 238⫺ 254; El-Shamy, Folk Traditions. ⫺ 24 Hadank, K.:
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Mundarten der Guˆraˆn. B. 1930, 315. ⫺ 25 STF, T 386. ⫺ 26 Afzalov, M./Rasulev, H./Chusainova, Z.: Uzbekskie narodnye skazki 1. Taschkent 1963, 9⫺ 20. ⫺ 27 Jason, Indic Oral Tales; Thompson/Roberts; Bødker, Indian Animal Tales, num. 735, cf. 700 (Elefanten). ⫺ 28 Ting. ⫺ 29 Bødker, Indian Animal Tales, num. 1056; El-Shamy, Types. ⫺ 30 Sacher, R.: Märchen der Khmer. Lpz. 1979. 80 sq.; Gaudes, R.: Kambodschan. Volksmärchen. B. 1987, num. 21. ⫺ 31 Afzalov u. a. (wie not. 26) 30 sq. ⫺ 32 ibid., 9⫺20.
Moskau
Aleksandra Arkhipova Artem Koz’min
Vögel aus Ton beleben J Kindheitslegenden Christi
Vogelbäume J Baumvögel
Vogelherz: Das wunderbare V. (AaTh/ATU 567), internat. verbreitetes Zaubermärchen mit dem konstitutiven Motiv der wunderbaren J Eigenschaften eines Huhns (J Hahn, Huhn). Die Erkenntnisse von A. J Aarnes detaillierter Studie (1908)1 sind nach wie vor weitgehend gültig. Demnach verläuft die Grundform von AaTh/ATU 567: The Magic Bird-Heart (von Aarne als J Urform bezeichnet)2 wie folgt: Ein Mann findet (erhält von einer alten Frau als Belohnung für seine Hilfe) eine Henne, die kostbare J Eier (aus Gold und Silber, Juwelen) legt. Ein Neider (Käufer der Eier; oft Jude) weiß um die zauberkräftigen Eigenschaften der Körperteile des Vogels: Wer den Kopf ißt, wird Herrscher; wer das J Herz (andere Innereien) ißt, findet nach dem Schlafen Gold (Juwelen) unter seinem Kopf (kann Gold oder Juwelen spucken). Während der Abwesenheit des Mannes will sich der Neider diese Eigenschaften aneignen. Er bringt die Frau (durch ein Liebesverhältnis) dazu, ihm den Vogel zuzubereiten. Versehentlich essen jedoch die beiden Söhne der Frau dessen zauberkräftige Teile. Bevor der Neider die Mutter dazu bringen kann, ihre Söhne zu töten, fliehen diese. Unterwegs trennen sich die Brüder. Der ältere wird in einem fremden Land König. Der jüngere läßt sich mit einer schönen Frau ein, deren Dienste er mit seinem Gold bezahlt. Als sie ihm sein Geheimnis entlockt hat, bringt sie ihn dazu, das V. auszuspukken, und ißt es selbst. Durch eine Pflanze, deren Verzehr die Frau in einen Esel verwandelt (J Eselmensch, Kap. 7), macht er sie sich gefügig (erhält das V. zurück) und verwandelt sie danach wieder in ihre menschliche Gestalt.
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Vogelherz: Das wunderbare V.
Die Brüder werden wieder vereint und holen ihren Vater zu sich. Die Mutter und der Neider werden bestraft.
Der wunderbare Umstand, daß ein Knabe jeden Morgen Gold unter seinem Kopf findet und schließlich Herrscher wird, spielt bereits in einem weitgehend identisch in J Somadevas Katha¯sa¯ritsa¯gara und in Ksøemendras Brøhatkatha¯man˜jarı¯ (J Brøhatkatha¯; beide 11. Jh.) enthaltenen Märchen eine Rolle; hier sind die Gaben allerdings von einem Gott verliehen3. Die älteste bekannte ausgeformte Var. von AaTh/ATU 567 steht als letzte Erzählung im pers. J Papageienbuch des Nah˚ sˇabı¯ (verfaßt 1329⫺30)4; ob sie auch schon in der wenige Jahre zuvor verfaßten pers. Vorlage Nah˚ sˇabı¯s enthalten war, läßt sich aufgrund der unvollständigen einzigen Hs. dieses Werks nicht feststellen5. Bei Nah˚ sˇabı¯ erscheint nur ein Sohn, der den Kopf des Vogels ißt; er erlangt durch die Tötung eines J Drachen (cf. AaTh/ ATU 300) die Prinzessin und wird Nachfolger des Herrschers. Die mongol. Slg J Siddhi Kür (num. 2) enthält eine mit AaTh/ATU 518: J Streit um Zaubergegenstände kombinierte Erzählung, in der zwei Freunde durch Verzehr magischer Kröten Gold bzw. Edelsteine spukken und schließlich Herrscher bzw. Minister werden; auch die (durch Wälzen auf einem zauberkräftigen Papier erreichte und hier dauerhafte) Verwandlung der betrügerischen Frau(en) in Esel wird ausgeführt6. In idealtypischer Prägung findet sich die Erzählung ⫺ bislang in der Forschung kaum beachtet ⫺ offenbar zuerst im J Katha¯ratna¯kara (num. 57) des Hemavijaya: Hier weiß ein Mönch, daß derjenige, der den Kamm eines Hahns verspeist, König wird; wer den Schildknorpel ißt, dem fällt jeden Morgen ein unermeßlich wertvoller Edelstein aus dem Mund. Im weiteren Verlauf besorgt sich die Kupplerin der Geliebten des zweiten Sohns den Schildknorpel durch ein Laxiermittel. Danach ist der Diebstahl von zauberkräftigen Sandalen eingeschaltet (AaTh/ATU 518; J Siebenmeilenstiefel), der sich aber als blindes Motiv erweist, da der junge Mann sich nochmals von der Kupplerin bestehlen läßt. Die Verwandlung in einen Esel wird ebenso wie die Rückverwandlung durch Riechen an einer Wurzel erreicht.
Ganz ähnlich steht diese Vollform auch in der Slg Cˇehel tøutøi (Vierzig Papageien), einer Ende des 18./Anfang des 19. Jh.s verfaßten pers. Volksbuchfassung des Papageienbuchs,
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in der der betrogene Bruder seine Geliebte zunächst mit dem von den Söhnen des betrügerischen Juden gestohlenen fliegenden J Teppich entführt, bevor sie ihm diesen entwendet und flieht7. Bereits im 17. Jh. wurde der Erzähltyp von dem ital. Missionar Bernardo aus Neapel aus mündl. Überlieferung in Georgien aufgezeichnet8. In Westeuropa begegnet die Fassung mit zwei Brüdern offenbar zuerst in der ironischen Fassung der Fe´eries nouvelles (1741) des durch seine orientalisierenden Erzählungen bekannten Comte de Caylus, in der die beiden Brüder aufgrund ihres als unverdient angesehenen Aufstiegs in einen Stand, der ihnen nicht zusteht, den Tod finden9. Ein weiterer literar. Frühbeleg liegt in Christoph Wilhelm Günthers anonym erschienener Slg Kindermährchen (1787) vor10. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 567 für ganz Europa, den Vorderen Orient, Süd-, Südost- und Ostasien sowie vereinzelt für Nord- und Mittelamerika sowie Ost- und Südafrika belegt11. Auf dem ind. Subkontinent hat die Erzählung durch das populäre Büchlein Sit Basant (Sit und Basant) Verbreitung gefunden12. Vor allem bei der Prägung des 2. Teils haben vermutlich Einflüsse eng verwandter Zaubermärchen eine Rolle gespielt, so bes. der 2. Episode von AaTh/ATU 566: J Fortunatus13; gelegentlich dient AaTh/ATU 567 auch als Einleitung zu AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder14. Der ind. Ökotyp AaTh/ATU 567 A: The Magic BirdHeart and the Separated Brothers unterscheidet sich von AaTh/ATU 567 nur minimal in den Abenteuern des zweiten Bruders. Aarne hat die Zusammenfassung seiner ausgiebigen Var.ndiskussion15 nach folgenden Aspekten gegliedert: Empfänger der Zaubergegenstände; Verkauf der Eier des Vogels; Art des Vogels; Zauberkraft des Vogels; Stelle der Zauberkraft im Vogel; Erscheinungsart des Goldes; Zauberschrift (auf dem Vogel); der Neider; Verzehrer des Vogels; Ort, wo der Vogel verzehrt wird; Mordplan; Wahl zum Herrscher; Abenteuer des Goldschläfers.
Mit AaTh/ATU 567 liegt einer der Fälle vor, in denen die leibliche J Mutter ihre Kinder töten will, wobei als Movens üblicherweise das unkontrollierbare sexuelle Verlangen sowie der (hierdurch noch verminderte) geringe Ver-
Vogelhochzeit ⫺ Vogelsprache
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stand der Frau angeführt werden, die sie leicht zu einem Opfer für zielgerichtete Intriganten machen16. Dies steht in Einklang mit dem vorherrschenden Thema von AaTh/ATU 1352 A: J S´ukasaptati, der misogynen Rahmenerzählung des Papageienbuchs, dessen unterschiedliche Versionen am ehesten für die von Osten nach Westen verlaufende Verbreitung des Erzähltyps verantwortlich sein dürften. 1 Aarne, A.: Vergleichende Märchenforschungen. Hels. 1908, 143⫺200. ⫺ 2 ibid., 124 sq., 187. ⫺ 3 ibid., 190 sq.; Tawney, C. H.: The Ocean of Story 1. ed. N. M. Penzer. L. 21924⫺28 (Nachdr. Delhi u. a. 1968), 18⫺24 (Kap. 3, num. 1B); cf. auch Steermann-Imre, G.: Unters. des Königswahlmotivs in der ind. Märchenlit. Pann˜cadivya¯dhiva¯sa. Wiesbaden 1977, 178⫺195. ⫺ 4 Hatami, M.: Unters.en zum pers. Papageienbuch des Nah˚ sˇabı¯. (Diss. Mainz 1977) Fbg 1977, num. 83; Nah˚ sˇabı¯, 5.: Tøutøi-Na¯me. ˙.A ¯ rya¯. Teheran 1372/1993, 425⫺ ed. F. Mogˇtaba¯Åi/G 436; cf. Scherf, 265⫺268, 514⫺517, 577⫺581. ⫺ 5 Hatami (wie not. 4) 20. ⫺ 6 Aarne (wie not. 1) 189, 193. ⫺ 7 Christensen, A.: Pers. Märchen. MdW 1958, num. 13; Marzolph, U.: Die vierzig Papageien. Walldorf 1979, num. 6. ⫺ 8 EM 5, 1042; Virsaladze, E.: Masalebi kartuli folkø loris istoriisatvis (Materialien zur Geschichte der georg. Folklore). In: Litøeraˇ itøuruli dziebani 4 (1948) 363⫺383, hier 370⫺374; C kovani, M.: XVII saukunesˇi xacerili kartuli zgapø rebi (Im 17. Jh. aufgezeichnete georg. Märchen). In: Mravaltavi 1 (1964) 59⫺205, hier 67⫺71. ⫺ 9 Grimm, KHM 3 (31856) 307; Aarne (wie not. 1) 199; cf. Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 56 sq. ⫺ 10 [Günther, C. W.:] Kindermährchen. Erfurt 1787, num. 1; Grätz (wie not. 9) 204; cf. auch Dammann, G.: Über Differenz des Handelns im Märchen. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik, Beiheft 8 (1978) 71⫺106. ⫺ 11 Ergänzend zu ATU: Nascimento. ⫺ 12 Pritchett, F. W.: Marvelous Encounters. Folk Romance in Urdu and Hindi. Neu Delhi 1985, 124⫺143; Steermann-Imre (wie not. 3). ⫺ 13 cf. Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung (FFC 96). Hels. 1931, 44⫺48; Ohno, C.: Der Krautesel. Eine Analyse der Motive und des Ursprungs dieses Märchens und des Märchentyps AaTh 567. In: Fabula 34 (1993) 24⫺44; Scherf, 755⫺758. ⫺ 14 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 31⫺36. ⫺ 15 Aarne (wie not. 1) 172⫺187. ⫺ 16 cf. Friedl-Loeffler, E.: Folk Tales from a Persian Tribe. 24 Tales from Sisakht in Luri and English. Dortmund 2007, num. 41.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Vogelhochzeit J Tierhochzeit
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Vogelsprache. Vögel spielen im Volksglauben eine wichtige Rolle, wobei sie z. T. nach Arten und Eigenschaften unterschieden werden1. Wie andere Tierlaute auch wird der Gesang der Vögel mitunter in Form von Wörtern, Phrasen, Versen oder Dialogen, die auch Erzählungen bilden können, in menschliche Sprache übersetzt (AaTh/ATU 106: J Unterhaltung der Tiere, AaTh/ATU 240: J Eiertausch der Vögel; J Kuckuck)2. Weltweit werden Vogelrufe oft als Voraussage des Wetters oder Prophezeiungen von Zukunft, Schicksal oder Tod gedeutet3. Nach populären Glaubensvorstellungen besitzen auserwählte Menschen die Kenntnis der V.(n) oder können diese erwerben4. In Mythen und Sagen wird diese Fähigkeit u. a. den griech. Sehern Melampos und Teiresias, J Salomo, J Sigurd oder dem Warnenkönig Hermegisklus zugeschrieben5. Nach mythol. Erzählungen erhalten die Menschen ihre Sprache von einem Vogel oder von Vögeln6. In Sagen und Märchen erscheinen Vögel oft als Vermittler verborgenen Wissens7. Dies gilt bes. für den Erzählkomplex AaTh/ATU 670, 670 A, 671, 673: J Tiersprachenkundiger Mensch8. Verwandt hiermit ist der Erzähltyp AaTh/ATU 517, 725: J Prophezeiung künftiger Hoheit, in dem der Held für einen König u. a. den Familienstreit dreier Raben deutet. In AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes hört der Freund (Diener) des Protagonisten im Gespräch der Vögel, welche Gefahren diesem drohen; von wunderbaren Heil- oder Zaubermitteln erfährt der Protagonist in AaTh/ATU 567: Das wunderbare J Vogelherz und AaTh/ ATU 613: Die beiden J Wanderer. Auf gleiche Weise wird in AaTh/ATU 781: cf. J Kindsmörderin ein Mord aufgedeckt. In Var.n von AaTh/ATU 653: Die vier kunstreichen J Brüder erfährt der vogelsprachenkundige Bruder, wo sich ein Schatz und die Prinzessin befinden9. Auch in humoristischem Kontext erscheint die ⫺ dann angebliche ⫺ Kenntnis der V. gelegentlich, so in einem arab. Schwank, in dem ein Trickster sich durch den angeblichen Ratschlag der Vögel den Beischlaf mit der Frau seines Onkels erschleicht10. In einer seit dem 10. Jh. in den vorderoriental. Lit.en (arab., pers., türk.) verbreiteten Erzählung (Mot. J 816.1) wird die angebliche
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Vogelwahl der Königssöhne
Kenntnis der V. genutzt, um den ungerechten Herrscher zu ermahnen: Der Berater des Herrschers gibt vor, die V. zu verstehen. Auf dessen Geheiß übersetzt er das angebliche Gespräch zweier Eulen. Der Eulenmann erwidert auf die Forderung der Eulenfrau nach Ruinen als Brautgabe, solange dieser Herrscher bleibe, gebe es mehr Ruinen als genug.
In der ältesten belegten Fassung bei dem arab. Historiker al-Mas¤u¯dı¯ (gest. 956) wird das Geschehen mit dem Sassanidenherrscher Bahra¯m (273⫺76) verbunden11. In der Folgezeit ist die Wanderanekdote über unterschiedliche Herrscher erzählt worden, von H ˚ osrou Anusˇirva¯n (531⫺578) bei J Nezø a¯mi über die Kalifen ¤Abdalmalik ibn Marwa¯n (684⫺685) bei J Damı¯rı¯ oder al-MaÅmu¯n (813⫺833) bei J Ibsˇ¯ıhı¯ bis hin zu dem Mogulherrscher Akbar (1556⫺1605) in modernen Ausg.n der Anekdoten zu dem ind. Weisen Narren Birbal. Über den Conde Lucanor des Don J Juan Manuel ist sie auch in einer westl. Lit. zugänglich12. 1
Gattiker, E. und L.: Die Vögel im Volksglauben. Wiesbaden 1989; Armstrong, E.: The Folklore of Birds. L. 1958; cf. Fabre, D.: La Voie des oiseaux. In: L’Homme 99 (1986) 7⫺40; id.: Le Maıˆtre et les oiseleurs. In: Perbosc, A.: Le Langage des beˆtes. Mimologismes populaires d’Occitanie et de Catalogne. ed. J. Bru. Carcassonne 1988, 9⫺51. ⫺ 2 Tene`ze, M.L.: Mimologismes. In: Delarue/Tene`ze 3, 17⫺29; Cornelissen, J. u. a.: De Taal der Vogelen. In: Ons Volksleven 1 (1889) 96 sq.; 7 (1895) 33, 57 sq.; 8 (1896) 11 sq.; 10 (1898) 194; Rea, A.: Wings in the Desert. A Folk Ornithology of the Northern Pimans. Tucson 2007, 149, 157⫺159, 186, 189, 196, 201, 225, 244 sq. ⫺ 3 Hopf, L.: Thierorakel und Orakelthiere in alter und neuer Zeit. Stg. 1888, 87⫺180; Grimm, Mythologie 2, 557⫺569, 944⫺951, 1017; ibid. 3, 325⫺328, 401, 403; Swainson, C.: The Folk Lore and Provincial Names of British Birds. L. 1886; Saxby, J.: Birds of Omen in Shetland […]. N. Y. 1982; Kunstmann, J.: The Hoopoe. A Study in European Folklore. (Diss. Chic.) Chic. 1938, 16 sq., 20 sq.; Se´billot, P.: Le Folk-Lore de France 3. P. 1968, 160⫺165, 180⫺183, 195⫺202, 222⫺227; Pitre`, G.: Usi e costumi, credenze e pregiudizi del popolo siciliano 3. Palermo 1889, 372⫺404; Laugaste(Treu), E.: Die estn. Vogelstimmendeutungen (FFC 97). Hels. 1931; Gura, A. V.: Simvolika zˇivotnych v slavjanskoj narodnoj tradicii (Die Symbolik der Tiere in der slav. Volksüberlieferung). M. 1997, 527⫺745; Nikitina, A. V.: Kukusˇka v slavjanskom fol’klore (Der Kuckuck in der slav. Folklore). SPb. 2002, 11⫺63, 130⫺136; Bynon, J.: North African Bird Lore. In: FL 98,2 (1987) 152⫺174; Kassagam,
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J. K.: „What Is this Bird Saying?“ A Study of Names and Cultural Beliefs about Birds amongst the Marakwet Peoples of Kenya. Nairobi 1997; Godfrey, R.: Bird-lore of the Eastern Cape Province. Johannesburg 1941; Sibree, J.: The Folk-lore of Malagasy Birds. In: Folklore 2,3 (1891) 336⫺366; Laufer, B.: Bird Divination among the Tibetans. In: T’oung Pao 15 (1914) 1⫺110; Les Messagers divins. Aspects esthe´tiques et symboliques des oiseaux en Asie du Sud-Est/Divine Messengers. Bird Symbolism and Aesthetics in Southeast Asia. ed. P. Le Roux/B. Sellato. P. 2006; Hadden, D.: Birds and Bird Lore of Bougainville and the North Solomons. Alderley 2004, 263, 266; Muse, C. und S.: The Birds and Birdlore of Samoa. Walla Walla 1982, 33, 79, 129, 133; Boas, F.: Current Beliefs of the Kwakiutl Indians. In: JAFL 45 (1932) 177⫺260, num. 434, 437⫺442; Rea (wie not. 2) 179, 213, 223; LaBastille Bowes, A.: Birds of the Mayas. Big Moose 1964, 6, 19; Plath, O.: Lenguaje de los pa´jaros chilenos. Santiago de Chile 1976, 15⫺148, 209⫺212. ⫺ 4 Stefa´nsson, V.: Icelandic Beast and Bird Lore. In: JAFL 19 (1906) 300⫺308; Rea (wie not. 2) 178. ⫺ 5 Pauly/Wissowa 29 (1931) 392⫺405, 9 (1903) 129⫺132; Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca 2002, 462⫺469; Ginzberg 4, 142 sq.; Prokop: Gothenkrieg 4,20. ed. D. Coste. Lpz. 1885, 276 sq. ⫺ 6 Tyler, H.: Pueblo Birds and Myths. Norman, Okla 1979, 219⫺221; Deusen, K. van: Raven and the Rock. Storytelling in Chukotka. Seattle 1999, 31. ⫺ 7 Taylor, A.: V. In: HDA 8 (1936⫺37) 1683 sq.; Bloomfield, M.: On Overhearing as a Motif of Hindu Fiction. In: American J. of Philology 41,4 (1920) 309⫺335; Se´billot (wie not. 3) 211 sq.; BP 2, 532⫺535; Krauss, F.: Slav. Volkforschungen. Lpz. 1908, 95; cf. auch Ro´heim, G.: The Language of Birds [1953]. In: id.: Fire in the Dragon. Princeton 1992, 171⫺180. ⫺ 8 Reichl, K.: Märchen ˇ erkaaus Sinkiang. MdW 1986, num. 33 (kasach.); C sova, M.: Skazki narodov Kitaja. M. 1961, 121⫺ 123; Minford, J.: Favourite Folktales of China. Peking 1983, 74⫺80. ⫺ 9 Morlini, num. 80; Straparola 7,5; Basile 5,7. ⫺ 10 Hodscha Nasreddin, num. 384; Marzolph/van Leeuwen 1, 321 sq., num. 197. ⫺ 11 Marzolph, Arabia ridens 1, 145 sq.; ibid. 2, num. 414; Würsch, R.: König No¯sˇ¯ırwa¯n und die Kauzentochter. In: Asiat. Studien 48,3 (1994) 973⫺986; Marzolph/van Leeuwen 1, 280 sq., 437; Lakhnavi, G./Bilgrami, A.: The Adventures of Amir Hamza. Übers. M. A. Farooqi. N. Y. 2007, 56 sq.; Pantulu, G. R. S.: Folk-Lore of the Telugus. Madras 1991, num. 5. ⫺ 12 cf. auch Wesselski, MMA, num. 34.
San Francisco
Andreas Johns
Vogelwahl der Königssöhne (AaTh/ATU 920 B), Novellenmärchen aus dem Bereich der Weisheitsproben. Eine Unters. des Erzähltyps hat A. J Taylor vorgelegt1.
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Vogelwahl der Königssöhne
Ein König hat drei Söhne. Um einen würdigen Nachfolger zu ermitteln, fragt er jeden von ihnen, welcher Vogel er sein wollte, wenn er ein Vogel wäre. Die Älteren wählen den Adler als König der Vögel bzw. den Falken als Vogel der Edlen, der J Jüngste entscheidet sich für den Star (Sperling), weil er friedlich in Gemeinschaft mit den anderen lebt und Ratschläge von ihnen annimmt (Kranich [Reiher, Schwan], der einen langen Hals hat, weshalb er länger braucht, um Worte zu artikulieren und diese deswegen besser bedenken könne). Der König macht den Jüngsten zu seinem Nachfolger.
Der älteste Beleg für die Erzählung ist eine hist. Sage aus einer anonymen anglonormann. Reimchronik des 13. Jh.s, in der Wilhelm dem Eroberer anhand der V. das Schicksal seiner Söhne vorhergesagt wird; Wilhelm hinterläßt seinen älteren Söhnen daraufhin Ländereien, dem Jüngsten Reichtümer, die Länder seiner Brüder fallen ihm aufgrund seiner Weisheit und Friedfertigkeit später zu2. Die Wahl des königlichen Nachfolgers aufgrund einer zu beantwortenden Frage findet sich in ma. Exempelsammlungen in unterschiedlichen Ausprägungen: Im J Speculum laicorum wird dem jüngsten Sohn kein Land zugestanden, da er Vermögen aufgrund seiner Weisheit erlangen werde; der Sohn wird zum Obersten Richter Englands3. In stark gekürzter Form findet sich diese Fassung auch im J Speculum exemplorum4. Bei J Johannes Gobi Junior5, John J Bromyard6, J Pelba´rt von Temesva´r und Johannes J Pauli7 wird der jüngste Sohn direkt als Nachfolger bestimmt. Bei Don J Juan Manuel (num. 24) müssen die Söhne je einen Tag ausreiten und von ihren Beobachtungen berichten; nur der jüngste beweist den Blick eines Herrschers, indem er Expansionsmöglichkeiten für das Königreich erkundet8. Als von der Exempeltradition abhängig sieht Taylor die Fassung in den Fabulae Aesopi (1571 u. ö.) des Lüneburger Gymnasiallehrers und -rektors Lucas Lossius (1508⫺82) an9; Anspielungen auf die Erzählung liegen in einer Reihe weiterer Werke vor10. Das Motiv der Königswahl findet sich auch in anderen narrativen Zusammenhängen, so in einem isl. Ms. aus dem 14./15. Jh.11: Ein Prinz, ein Ritter und ein Koch bereisen ein fremdes Königreich. Sie geben sich dem König jedoch nicht zu erkennen. Seine Tochter befragt sie nacheinander, was für ein Vogel, Fisch und Baum sie gerne wären. Der Koch nennt Rebhuhn und Lachs, aus denen edle Speisen hergestellt werden, und die
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Birke, die schnell Feuerholz liefere, der Ritter mit Falke und Hecht räuberische Tiere und die Esche, die waffentaugliches Holz liefere, der Prinz die Schwarmtiere Spatz und Hering sowie den Efeu, der andere Bäume festhalte. Anhand der Antworten bestimmt die Prinzessin den Rang der Befragten; sie heiratet den Prinzen.
Ähnlichkeiten mit dieser Erzählung weist das spätma. niederdt. Ritterepos Crane (vor 1267) von Berthold von Holle auf; hier verliebt sich eine Prinzessin aufgrund der V. in einen von drei Prinzen12. Belege aus mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s liegen vereinzelt aus England, Slovenien, dem Nahen Osten, Südostasien13 und Nordafrika vor14. Die engl. mündl. Var.n gehen offenbar auf die Exempeltradition zurück15. In einer slov. Var. erfolgt die Auswahl des Nachfolgers anhand eines Geschenks, das dem König von seinen Söhnen überreicht wird16, in einer libyschen haben die Söhne den Auftrag, etwas von einer Reise mitzubringen17. Die Einl. eines jemenit. Drachentötermärchens verbindet AaTh/ATU 920 B mit einer J Deszendenzprobe18: Ein König hat zwei eheliche Söhne und einen unehelichen. Um festzustellen, ob alle drei seine leiblichen Kinder sind, fragt er sie nach dem besten Geruch und der besten Stimme. Dabei erweist sich nur der uneheliche als leiblicher Sohn (cf. J Knabenkönig); im weiteren Verlauf der Handlung löst er alle Aufgaben, an denen seine ,Brüder‘ scheitern und wird König. 1
Taylor, A.: „What Bird Would You Choose to Be?“ ⫺ a Medieval Tale. In: Fabula 7 (1965) 97⫺114 (mit Texten). ⫺ 2 Michel, F. (ed.): Chroniques anglonormandes 1. Rouen 1836, 80⫺89; cf. Taylor (wie not. 1) 108. ⫺ 3 Le Speculum laicorum. ed. J. T. Welter. P. 1914, 103, num. 536; Taylor (wie not. 1) 100 sq. ⫺ 4 Speculum exemplorum 9,105; Major, J.: Magnum speculum exemplorum. Antw. 1607, 502; Taylor (wie not. 1) 102 sq. ⫺ 5 Polo de Beaulieu, M.A. (ed.): La Scala coeli de Jean Gobi. P. 1991, num. 618; Taylor (wie not. 1) 103. ⫺ 6 Bromyard, J.: Summa praedicantium. [Nürnberg 1485] 7,30; Taylor (wie not. 1) 104. ⫺ 7 Pauli/Bolte 1, num. 677; Taylor (wie not. 1) 105. ⫺ 8 Chauvin 2, 154, num. 24. ⫺ 9 Lossius, L.: Fabulae Aesopi Phrygis. Ffm. 1571, num. 494 (2 Var.n); Taylor (wie not. 1) 106 sq. ⫺ 10 ibid., 105, 110 sq. ⫺ 11 ibid., 97 sq.; cf. Gering, H.: Islendzk Æventyri 2. Halle 1883, num. 79. ⫺ 12 Bolte, J.: Zum Crane Bertholds von Holle. In: Jb. des Vereins für ndd. Sprachforschung 18 (1892) 114⫺119, hier 116; cf. Bartsch,
Vogler, Georg ⫺ Voigt, Vilmos
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K. (ed.): Berthold von Holle. Nürnberg 1858, 24; Taylor (wie not. 1) 108⫺110. ⫺ 13 Lecle`re, A.: Contes laotiens et contes cambodgiens. P. 1903, num. 18 (4 Prinzen sollen eine Frau wählen). ⫺ 14 Nicht zu AaTh/ATU 920 B zu rechnen ist die bei El-Shamy, Types aufgeführte palästin. Var. in Schmidt, H./Kahle, P.: Volkserzählungen aus Palästina 2. Göttingen 1918/30, num. 94. ⫺ 15 DBF B 2, 129 sq. ⫺ 16 Bolhar, A.: Slovenske narodne pravljice. Ljubljana 71974, 61⫺63. ⫺ 17 Campbell, D. G.: Told in the Market-Place. L. 1954, 151⫺160. ⫺ 18 Noy, D.: Jefet Schwili erzählt. B. 1963, num. 29.
München
Alexander Rasumny
Vogler, Georg J Katechismus Voigt, Vilmos, *Szeged 17. 1. 1940, ung. Komparatist und Erzählforscher. 1958⫺63 studierte V. bei G. J Ortutay, L. J De´gh und T. J Dömötör ung. Phil. und Vk. an der Univ. Budapest. Daneben beschäftigte er sich mit Keltologie, Slavistik, Skandinavistik, Finnougristik, Archäologie und Kunstgeschichte. In seiner Diplomarbeit befaßte sich V. aus kommunikationstheoretischer Sicht mit ung. Märchen1. Seit 1963 lehrt er an der Univ. Budapest und wurde dort 1972 mit einer Studie zur Ästhetik der Folklore promoviert2. 1995 habilitierte er sich mit der Schrift A Folklorizmus (Der Folklorismus; ungedr.) und wurde im selben Jahr mit einer Arbeit über balt.-finn. Folklore Doctor scientiarum der Ung. Akad. der Wiss.en3. 1979 erhielt er den Lehrstuhl für Folkloristik an der Univ. Budapest (Emeritierung 2010) und wurde zugleich Direktor des Inst.s für Vk.4 V. hatte zahlreiche Gastprofessuren im Ausland inne. Unter seinen wiss. Funktionen sind die Gründungspräsidentschaften der Ung. sowie der Internat. Finnougr. Ges. für Semiotik und seine Tätigkeit als UNESCO-Fachberater für Volkskulturpflege hervorzuheben; in dieser Funktion verfaßte er 1989 das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. V. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den GyulaOrtutay- (1989) und den Istva´n-Györffy-Preis (1999), die Ung. Hochschulverdienstmedaille (2004) und das Sze´chenyi-Stipendium für Professoren (1998). 2008 wurde er Ehrendoktor der Univ. Bukarest, 2010 Ehrendoktor der Univ. Tartu. Er unterhielt enge Kontakte zu
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zahlreichen ausländischen Forschern, bes. aus dem slav. Bereich; 1989 war er einer der Organisatoren des Budapester Kongresses der ISFNR, dessen Akten er mitherausgab5. Von Anfang an gehört V. zu den Mitarbeitern der EM. Ihm wurden mehrere Festschr.en gewidmet6. V.s Publ.liste umfaßt über 2100 Titel zu fast allen Gebieten der Erzählforschung, darunter viele, die zu ihrer Zeit als bahnbrechend galten7. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen J Theorien, J Terminologie und Textologie der Erzählforschung, ihre J Gattungsprobleme, J Morphologie und J Ästhetik; außerdem verfaßte er zahlreiche komparatistische und hist. Untersuchungen. V. behandelte alle Gattungen der Volksüberlieferung, bes. jedoch Märchen. Seine Arbeiten zeichneten sich bereits früh durch die Anwendung neuer Methoden (J Strukturalismus, computergestützte Analyse von Erzähltexten [J Computertechnik und -analyse]8) aus; so war er auch einer der ersten internat. bekannten Semiotiker9. Er legte der Analyse von Märchen und kurzen Prosagattungen (Sprichwörter10, mündl. Rätsel11) strukturalistische Methoden zugrunde; andere Unters.en sind ikonologisch angelegt und zudem paradigmatische Beispiele der vergleichenden Ethnosemiotik12. V. entwickelte ein System zur Analyse und Klassifizierung, in dem die Unterscheidung zwischen literar. Werk, Folkloreschöpfung und Folklorevarianten stärker betont wurden. Die von ihm geschaffene Begriffsreihe Sagenmotiv ⫺ Sagentyp ⫺ Sagenstoff ⫺ Sagenthema ⫺ Sagenkomplex, die auch auf den hierarchisch unterschiedlichen Grad an schöpferischer Tätigkeit zielt, sollte als Grundlage für die Erstellung von Katalogen dienen13. V. führte den Begriff der ,Gattungshierarchie‘ ein, den er auf die Volkserzählung allg. anwandte. Jede Gattung der Volkserzählung hängt ihm zufolge mit den anderen zusammen, so daß ein differenziertes übergeordnetes Gattungssystem anzunehmen sei, das die Stellung der Einzelgattung koordiniert. Die Gattungshierarchie unterscheidet sich nach V. für die Volksüberlieferung der einzelnen Ethnien und kann sich auch hist. verändern14. Dabei bezog sich V. auf V. Ja. J Propp15, C. J Le´vi-Strauss und A. J. J Greimas16. Die Systematisierung von R. J Jakobson und D. Hymes weiterentwickelnd, skiz-
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Voigt, Vilmos
zierte er ein Modell der alltäglichen J Kommunikation, der Volkserzählung und der professionellen mündl. Dichtung17. Im Fokus von V.s zahlreichen theoretischen18 und hist. Studien19 zur Volksmärchenforschung steht u. a. die Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Realität. Bei der Bearb. hist. Themen bemühte sich V., die ung. Folkloristik vor romantischen Vorstellungen zu bewahren: Die ung. Heldenepik aus der Zeit der Landnahme, der ma. Schamanismus, die Balladendichtung oder die Liebeslyrik vor der Renaissance kommen ⫺ da Nachweise fehlen ⫺ in seiner Geschichte der Volksüberlieferung nicht vor. Im Unterschied zur vorangehenden phantasievollen Etymologisierung ordnet V. z. B. das ung. Wort mese (Märchen) durch neuere sprachgeschichtliche Erkenntnisse der finnougr. Sprachfamilie zu; er legt dar, daß es vor dem 19. Jh. im Sinne von ,Rätsel‘ benutzt wurde20. V. verfaßte zahlreiche Lehrbücher21 und legte Überblicksdarstellungen zur Geschichte der ung. und internat. (bes. der finn. und finnougr.) Folkloristik vor22, wobei das 19. Jh. im Fokus der hist. Arbeiten steht. Er beschäftigte sich mit dem Lebenswerk vieler Forscher, vor allem mit dem des Autors der ersten ung. Volksmärchensammlung, G. von J Gaal23. Einflußreich waren auch seine Arbeiten über die Quellen zum Wiener ,Patriotenkreis‘ um J. von Hormayr24, über die ersten ung. Sagensammlungen25 sowie über die Wirkung von J Grimms Märchen in Ungarn26. V. publizierte zahlreiche Quellentexte wie die Reihe Magyar Ne´pkölte´si Gyu˝jteme´ny (Ung. Volksdichtungssammlung)27, für die er auch die textologischen Regeln ausarbeitete28, und internat. Märchensammlungen. 1
V., V.: A magyar ne´pmese stı´lusa´nak ke´rde´sei (Fragen des Stils der ung. Volksmärchen). Diplomarbeit (masch.) 1972. ⫺ 2 id.: A folklo´r eszte´tika´ja´hoz (Zur Ästhetik der Folklore). Bud. 1972. ⫺ 3 id.: Irodalom e´s ne´p e´szakon. A balti finn ne´pek folklo´rja mint az euro´pai folklo´r re´sze (Lit. und Volk im Norden. Die Folklore der balt.-finn. Völker als Teil der europ. Folklore). Bud. 1997. ⫺ 4 cf. Folklore in 2000. Festschr. V. V. Bud. 2000, 15⫺17; Bernard, J.: Preface. For V. V. In: Semiotica 128, 3⫺4 (2000) 199⫺204. ⫺ 5 V., V./Nagy, I. (edd.): Folk Narrative and Cultural Identity 1⫺2. Bud. 1995 (⫽ Artes populares 4⫺5 [1979]). ⫺ 6 Folklore in 2000 (wie not. 4); Folklorisztika 2000-ben (Folkloristik in 2000). Festschr. V. V.
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1⫺2. Bud. 2000; Semiotica 128 (2000); Artes populares 18 (2001); Voigtloristica. Festschr. V. V. Bud. 2010; Ne´prajzi La´to´hata´r 19,1 (2010). ⫺ 7 V., V.: Könyve´szete (Bibliogr.). ed. E. Bartha. Debrecen 2010. ⫺ 8 id.: From Folklore Digitalization to Ethnography and Morphodynamics. In: Dara´nyi, S. (ed.): homo 2003 ⫺ Conference on the Higher Order Morphologies’ Observer. CD-ROM Bud. 2003. ⫺ 9 id.: Bevezete´s a szemiotika´ba (Einführung in die Semiotik). Bud. 2008; cf. Bernard (wie not. 4). ⫺ 10 V., V.: Var.nschichten eines ung. Proverbiums. In: Proverbium 15 (1970) 541⫺544; id.: A szo´la´sok va´ltozatainak szintjei (Var.nschichten der Redewendungen). In: Magyar Nyelvo˝r 95 (1971) 29⫺34; id./Szemerke´´ .: The Connection of Theme and Language in nyi, A Proverb Transformations. In: Acta Ethnographica 21 (1972) 95⫺108. ⫺ 11 V., V.: Kishegyesi fonorejtve´nyek (Phonetische Rätsel aus Kishegyes). In: A Hungarolo´giai Inte´zet Tudoma´nyos Közleme´nyei 7,23⫺24 (1975/76) 169⫺ 187; id.: Egy közösse´g tala´lo´ske´rde´sei (Rätselfragen einer Gemeinschaft). In: Kiss, L./Pataki, S. (edd.): Mezo˝csa´t ne´pi kultu´ra´ja´bo´l (Aus der Volkskultur von Mezo˝csa´t). Mezo˝csa´t 1971, 200⫺241. ⫺ 12 id.: La Belle Dame sans Merci [1991/92]. In: id.: Suggestions Towards a Theory of Folklore. Bud. 1999, 237⫺270; id.: Zwischen Ungarn und Indonesien. Analyse zweier traditioneller Kunstmotive [1984]. In: id.: Europ. Linien. Studien zur Finnougristik, Folkloristik und Semiotik. Bud. 2005, 53⫺83; id.: A szerelem kertje´ben. Szempontok lı´rai ne´pdalszövegeink kialakula´sa´nak e´s alkota´smo´dja´nak vizsga´lata´hoz (Im Garten der Liebe. Gesichtspunkte zu Unters.en über die Herausbildung und Entstehung von lyrischen Volksliedtexten) 1⫺3. In: Ethnographia 80 (1969) 235⫺275, 81 (1970) 28⫺54, 92 (1981) 513⫺ 532; id.: Ma´sfe´l e´vtized a szerelem kertje´ben (Anderthalb Jahrzehnte im Garten der Liebe). In: Hoppa´l, M./Szepes, E. (edd.): A szerelem kertje´ben. Erotikus jelke´pek a mu˝ve´szetben e´s a folklo´rban. Bud. 2001, 90⫺104. ⫺ 13 id.: Die strukturell-morphologische Erforschung der Sagen. In: Röhrich, L. (ed.): Probleme der Sagenforschung. Fbg 1973, 65⫺85; id.: Glaube und Inhalt. Drei Studien zur Volksüberlieferung. Bud. 1976, 9⫺46; id.: Versuch der gattungsmäßigen Klassifikation der Sagen. Sagenmotiv ⫺ Sagentyp ⫺ Sagenstoff ⫺ Sagenthemen ⫺ Sagenkomplex. In: id. 2005 (wie not. 12) 84⫺103, hier 102 sq. ⫺ 14 id.: Struktu´ra a folklo´rban (Egy meghata´roza´s magyara´zata) (Struktur in der Folklore [Erklärung einer Definition]). In: Törte´nelem, re´ge´szet, ne´prajz. Festschr. J. Farkas. Debrecen 1991, 271⫺ 278, hier 276; cf. id.: A mu˝fajhierarchia e´s a struktura´lis elemze´s kommunika´cio´-elme´leti megközelı´te´se (Die Gattungshierarchie und die kommunikationstheoretische Annäherung an die strukturelle Analyse). In: Filolo´giai Közlöny 17 (1971) 103⫺119; id.: A folklo´r alkota´sok elemze´se (Analyse der Folkloreschöpfungen). Bud. 1972, 84⫺87; id.: Towards a Theory of Theory of Genres in Folklore. In: id. 1999 (wie not. 12) 26 sq.; id.: Hierarchy of Genres. In: On-
305
Völkergedanke ⫺ Völkerpsychologie
goum, L.-M./Tcheho, I.-C. (edd.): Litte´rature orale de l’Afrique contemporaine. Ontara/Yaounde´ 1989, 623⫺626. ⫺ 15 id.: Propp e´s e´letmu˝ve (Propp und sein Lebenswerk). In: Propp, V. Ja.: A mese morfolo´gia´ja. Bud. 2005, 199⫺214. ⫺ 16 Hoppa´l, M./V., V. (edd.): Struktura´lis folklorisztika (Strukturelle Folkloristik) 1⫺2. Bud./Szolnok 1971/72; cf. Holbek, B.: Formal and Structural Studies of Oral Narrative. Kop. 1977. ⫺ 17 V., V.: Modella´la´si kı´se´rletek a folklo´risztika´ban (Modellierungsversuche der Folklore). In: Ethnographia 80 (1969) 355⫺390; id. 1972 (wie not. 14) 310 sq. ⫺ 18 id.: Folktale or Tale of Folk? In: Arv 36 (1980) 77⫺83; id.: A magyar mesei tulajdonnevek kis onomasztika´ja (Kleine Onomastik der Eigennamen ung. Märchen). In: Ne´vtani E´rtesı´tö 10 (1985) 116⫺127; id.: The Text of the Folktale and Its Semantics. In: Calame-Griaule, G./Görög-Karady, V./Chiche, M. (edd.): Le Conte, pourquoi? comment? ⫺ Folktales, why and how? P. 1984, 169⫺184; id.: Sur les Niveaux de variantes de contes. In: Görög-Karady, V. (ed.): D’un Conte … a` l’autre. La variabilite´ dans la litte´rature orale ⫺ From one Tale … to the Other. Variability in Oral Literature. P. 1990, 403⫺413; id.: Semantics and Meaning in Folktales. In: Arv 40 (1984) 153⫺161. ⫺ 19 id.: A magyar ne´pmese (Das ung. Volksmärchen). In: Ethnographia 100 (1989) 384⫺409; id.: Mi a mese? (Was ist das Märchen?) In: A Magyar Tudoma´nyos Akade´mia Nyelv- e´s Irodalomtudoma´nyi Oszta´lya´nak Közleme´nyei 33 (1984) 97⫺102. ⫺ 20 id.: Hungarian mese: „riddle“ > „tale“. In: Folklore on Two Continents. Festschr. L. De´gh. Bloom. 1980, 175⫺179; id.: Das ung. Wort „mese“. In: id. 2005 (wie not. 12) 48⫺52. ⫺ 21 id. (ed.): A magyar folklo´r (Die ung. Folklore). Bud. 1998; id. (ed.): Folklorisztika e´s etnolo´gia Magyarorsza´gon a XX. sza´zad elso˝ fele´ben (Folkloristik und Ethnologie in der ersten Hälfte des 20. Jh.s in Ungarn) 3. Bud. 2000; id. (ed.): Magyar folklo´r szöveggyu˝jteme´ny (Ung. Folkloretextslg). Bud. 2005; id.: A valla´s megnyilva´nula´sai. Bevezete´s a valla´studoma´nyba (Die Manifestation der Religion. Einführung in die Religionswiss.). Bud. 2006; id.: Meseszo´. Tanulma´nyok mese´kro˝l e´s mesekutata´sro´l (Märchenwort. Studien über Märchen und Märchenforschung). Bud. 2009. ⫺ 22 id.: Vila´gnak kezdete´to˝l fogva (Vom Anfang der Welt an). Bud. 2000; id.: A folklo´rto´l a folklorizmusig (Von der Folklore bis zum Folklorismus). Bud. 2001; id.: A valla´si e´lme´ny törte´nete (Geschichte des religiösen Erlebnisses). Bud. 2004; id.: Magyar, magyarorsza´gi e´s nemzetközi (Ungarn, Ungarisches und Internationales). Bud. 2004. ⫺ 23 id.: Gaal György. In: Kapcsolatok e´s konfliktusok Köze´p-Euro´pa vide´ki e´lete´ben. Festschr. K. Gaa´l. Szombathely 1997, 205⫺216. ⫺ 24 id.: A magyar mese- e´s mondakutata´s be´csi tria´sza (Die Wiener Trias der ung. Märchen- und Sagenforschung). In: Jankovics, J. u. a. (edd.): A magyar nyelv e´s kultu´ra a Duna völgye´ben 1. Bud./Wien 1989, 375⫺379; id.: A magyar ne´pmesekutata´s a mu´lt sza´zad elso˝ fele´ben (Die ung. Volksmärchenfor-
306
schung in der ersten Hälfte des vergangenen Jh.s). In: Krı´za, I. (ed.): Krı´za Ja´nos e´s a korta´rsi eszmea´ramlatok. Bud. 1982, 139⫺150. ⫺ 25 id.: Reformkori monda´k Magyarorsza´gon (Sagen aus der Reformzeit Ungarns). In: id. 2001 (wie not. 22) 133⫺ 147. ⫺ 26 id.: Aus Deutschland über Österreich nach Ungarn. Der Grimmsche Einfluß auf das ung. Volksmärchen. In: id. 2005 (wie not. 12) 104⫺113. ⫺ 27 z. B. A ta´ltos kanca e´s a libapa´sztorla´ny. Hı´res magyar mesemondo´k mese´i (Die ta´ltos-Stute und die Gänsehirtin. Märchen berühmter ung. Märchenerzähler). Bud. 1989. ⫺ 28 id./Balogh, L.: A ne´pkölte´si (folklo´r) alkota´sok kritikai kiada´sa´nak szaba´lyzata (Regeln zur kritischen Herausgabe von Schöpfungen der Volksdichtung [Folklore]). Bud. 1974; cf. id.: Ergebnisse und Fehler bei der Bearb. von ,heutigen‘ mündl. Texten. In: Heissig, W./Schott, R. (edd.): Die heutige Bedeutung oraler Traditionen. Ihre Archivierung, Publ. und Index-Erschließung. Opladen/Wiesbaden 1998, 63⫺74.
Budapest
Ilona Nagy
Völkergedanke J Elementargedanke, J Ethnologische Theorie
Völkerpsychologie, Seitenzweig der Völkerkunde, der sich um die Mitte des 19. Jh.s herausbildete und heute eher von hist. Interesse ist. Die V. beschäftigte sich mit den Elementen und Gesetzen des geistigen Volkslebens der verschiedenen Völker und der Frage, wie sich bei unterschiedlichen Völkern gemeinsame soziokulturelle Spezifika herausbildeten, die zum Völkervergleich herangezogen werden konnten. Das Konzept V. geht auf den Sprachwissenschaftler M. Lazarus zurück, der den Begriff 1851 prägte1. Lazarus definierte V. als die „Wissenschaft vom Volksgeiste“, „von den Elementen und Gesetzen des geistigen Völkerlebens“2. Der hierdurch abgesteckte Rahmen wurde von Lazarus und H. J Steinthal in ihrer 1860 gegründeten Zs. für V. und Sprachwissenschaft weiterentwickelt mit dem Ziel, „das Wesen des Volksgeistes und sein Thun psychologisch zu erkennen; die Gesetze zu entdecken, nach denen die innere, geistige oder ideale Thätigkeit eines Volkes ⫺ in Leben, Kunst und Wissenschaft ⫺ vor sich geht […]; es gilt, die Gründe, Ursachen und Veranlassungen, sowohl der Entstehung als der Entwickelung und letztlich Unterganges der Eigenthümlich-
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Völkerpsychologie
keiten eines Volkes zu enthüllen“3. Die Idee zu einer vergleichenden V. wurde bereits Ende des 18. Jh.s von W. von Humboldt entwickelt. Danach sollte diese Disziplin „die Eigenthümlichkeiten des moralischen Charakters der verschiedenen Menschengattungen neben einander aufstellen und vergleichend beurtheilen“4. Als Grundlage der Forschung sollte dabei hauptsächlich die Sprache dienen, denn sie sei „gleichsam die äusserliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache“5. Diese Auffassung basierte wiederum auf Anregungen von J. G. J Herder, der eine Völkerkunde entwikkeln wollte, die den Volksgeist in seinen Objektivationen als Mythos, Volkslied und Brauch kulturenübergreifend sammeln, vergleichen und dokumentieren sollte6. Bei Lazarus und Steinthal blieb die V. ⫺ wie schon der Titel ihrer Zs. erkennen läßt ⫺ eng mit der Sprachwissenschaft verknüpft, denn die Sprache sei „das erste geistige Erzeugniß, das Erwachen des Volksgeistes“7. Als V. wurde so im ausgehenden 18. Jh. erstmals ein Theoriefeld beschrieben, das ähnlich wie die später von P. W. A. J Bastian vertretene Lehre der J Elementargedanken von der Annahme ausgeht, daß bei unterschiedlichen Völkern und Kulturen eine gemeinsame überindividuelle Einheit von sozialen und kulturellen Anschauungen nachweisbar sei (J Universalie, Universalismus)8. Darüber hinaus galt Volksüberlieferung in Gestalt von Mythologie, Sage und Volksdichtung als wichtige Quelle, „weil sich hier, wie nirgends sonst, die Processe der Apperception und Verschmelzung in den großartigsten Zügen studiren lassen“9. W. J Wundt versuchte demgegenüber, Psychologie und Ethnologie miteinander zu verbinden. Er rechtfertigte sein Vorhaben mit der romantischen Vorstellung, daß das von ihm benutzte ethnogr. Material auf kollektiver statt individueller Kreativität beruhe (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Seine zehnbändige V.: eine Unters. der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte (Lpz., 1900⫺21) markiert den Höhepunkt der einschlägigen Forschungen. Das Werk leitet nach Wundt in die Betrachtung der verschiedenen Stufen geistiger Entwicklung der Menschheit ein, in eine Art Psychogenese, die von primitiven Zuständen ausgeht und über eine kontinu-
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ierliche Reihe von Zwischenstufen bis hin zu entwickelten höheren Kulturen führt. V. sei im eigentlichen Sinne des Wortes Entwicklungspsychologie10. Wenngleich der Begriff V. danach allmählich aus den Humanwissenschaften verschwand, wirken diese Ansätze jedoch bis heute in Forschungsrichtungen wie Ethnopsychologie und Ethnopsychoanalyse11, Mentalitätsforschung, Interkulturelle Kommunikation12 und bei der Erforschung von ethnischen J Stereotypen nach. Bes. hervorzuheben sind die Arbeiten der Ethnopsychoanalytiker M. Erdheim13 und M. Nadig14, die zwar nicht direkt auf Wundt zurückgehen, aber nach den Bezügen zwischen unbewußten individuellen, gesellschaftlichen und soziokulturellen Handlungsweisen und Glaubenssätzen suchen15. Verbindungen zur Erzählforschung bestehen hauptsächlich in dem hist.-vergleichenden Ansatz (J Komparatistik) zur Analyse kultureller Objektivationen. In der J Psychologie sind immer wieder Tendenzen zu erkennen, die V. und auch die Arbeiten Wundts im Zusammenhang einer Kulturpsychologie16 neu zu diskutieren17. 1
Lazarus, M.: Ueber den Begriff und die Möglichkeit einer V. [1851]. In: id.: Grundzüge der V. und Kulturwiss. ed. C. Köhnke. Hbg 2003, 3⫺25; cf. Mukai, N.: Minzoku seishin no ,kaiho¯‘. 19 seiki doitsu ni okeru ,minzoku shinrigaku‘ no kokoromi kara (Die Befreiung des ,Volksgeistes‘. Über den Versuch einer ,V.‘ im 19. Jh.). In: Neue Beitr.e zur Germanistik 5 (2006) 58⫺73 (dt. Resümee 74⫺77). ⫺ 2 Lazarus, M.: Ueber das Verhältniß des Einzelnen zur Gesammtheit [1883]. In: id. (wie not. 1) 39⫺129, hier 54. ⫺ 3 id./Steinthal, H.: Einleitende Gedanken über V. als Einladung zu einer Zs. für V. und Sprachwiss. [1860]. In: Steinthal, H.: Kleine sprachtheoretische Schr. ed. W. Bumann. Hildesheim 1970, 307⫺379, hier 313. ⫺ 4 Humboldt, W. von: Plan einer vergleichenden Anthropologie [1795]. In: id.: Schr. zur Anthropologie und Geschichte. ed. A. Flitner/K. Giel. Darmstadt 1969, 337⫺375, hier 337. ⫺ 5 id.: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830⫺1835]. In: id.: Schr. zur Sprachphilosophie. ed. A. Flitner/K. Giel. Darmstadt 1963, 368⫺756, hier 414 sq. ⫺ 6 Mühlmann, W. E.: Geschichte der Anthropologie. Wiesbaden 4 1986, 64. ⫺ 7 Lazarus/Steinthal (wie not. 3) 40. ⫺ 8 Harris, M.: The Rise of Anthropological Theory. N. Y. 1968, 137, 265; Bargatzky, T.: Ethnologie. Eine Einführung in die Wiss. von den urproduktiven Gesellschaften. Hbg 1997, 5. ⫺ 9 ibid., 45. ⫺ 10 Wundt,
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Volksbuch
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W.: Elemente der V. Grundlinien einer psychol. Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Lpz. 21913, 4. ⫺ 11 Devereux, G.: Ethnopsychoanalyse. Ffm. 1978; Reichmayr, J.: Einführung in die Ethnopsychoanalyse. Ffm. 1995. ⫺ 12 Moosmüller, A. (ed.): Interkulturelle Kommunikation. Konturen einer wiss. Disziplin. Münster u. a. 2007. ⫺ 13 Erdheim, M.: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den psychoanalytischen Prozeß. Ffm. 1982. ⫺ 14 Nadig, M.: Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko. Ffm. 1986. ⫺ 15 Reichmayr (wie not. 11). ⫺ 16 Cole, M.: Cultural Psychology. A Once and Future Discipline. Cambr., Mass./L. 1997; Chakkarath, P.: Kultur und Psychologie. Zur Entwicklung und Standortbestimmung der Kulturpsychologie. Hbg 2003; Klausmeier, R.-G.: Völkerpsychol. Probleme in Kinderbüchern. Bonn 1963. ⫺ 17 Heuse, G. A.: La Psychologie ethnique. P. 1953; Hellpach, W.: Kulturpsychologie. Stg. 1953; Holzner, B.: V. Leitfaden mit Bibliogr. Würzburg [1961]; Beuchelt, E.: Ideengeschichte der V. Meisenheim am Glan 1974; Oelze, B.: Wilhelm Wundt. Die Konzeption der V. Münster/N. Y. 1991; Davies, M./Stone, T. (edd.): Folk Psychology. The Theory of Mind Debate. Ox./Cambr., Mass. 1995; Eckardt, G. (ed.): V. ⫺ Versuch einer Neuentdeckung. Texte von Lazarus, Steinthal und Wundt. Weinheim 1997.
berliteratur, religiöse Schr., hist. Darstellungen und Sensationsberichte. Aufgrund seiner Unschärfe ist der Begriff in den philol. und hist. Disziplinen umstritten. Der dt. V.begriff strahlte auf andere Lit.en aus2; das Phänomen gibt es unter entsprechenden Bezeichnungen in zahlreichen Ländern (J chapbooks, livres populaires, volksboeken, folkebøger, folksböcker, literatura de cordel, ca˘rt¸i populare, kniha lidove´ho cˇtenı´, narodnaja kniga etc.). Die in den V.ern behandelten Stoffe sind in der Regel gemeineurop., wirkten aber in den einzelnen Ländern unterschiedlich nach3. Die Bezeichnungen heben teils auf die Ausstattung, teils auf die Verbreitungsform, teils auf den Inhalt ab4. Die Implikationen, die dem Begriff in Deutschland von seinem Entstehungskontext her anhaften, fehlen meist in der außerdt. Lit.; der Gebrauch dort ist eher weiter, weil der V.begriff z. T. auch andere Kriterien in Betracht zieht, wie z. B. die hs., manchmal selbst mündl. Verbreitung der Texte5, die unterschiedlichen Bedingungen der Druckgeschichte6 oder abweichende Ausstattungs- und Verbreitungsmerkmale7.
Wellington
1.1 De fi ni to ri sc he s. In der wiss. Diskussion lassen sich drei Verwendungsweisen unterscheiden8: eine buchgeschichtliche, eine volkskundliche und eine literaturwiss.-ästhetische. Diese drei Aspekte werden nicht immer klar auseinandergehalten. Die erste betrifft einen bestimmten Buchtypus: billig, einfach ausgestattet, meist von anspruchslosem Inhalt. In diesem Sinne ist der V.begriff in der Buchwissenschaft akzeptiert9: Mit der Verbreitung des Buchdrucks setzte etwa seit dem 16. Jh. eine massenhafte Produktion billiger Drucke auf schlechtem Papier in relativ hoher Stückzahl ein, die auch wenig begüterten Schichten den Zugang zur Schrifttradition eröffnete10. Diese Drucke wurden, unabhängig von ihrer tatsächlichen Leserschaft, als V.er bezeichnet. Vielfach wurden sie abseits des üblichen Buchmarktes als Jahrmarktausgaben oder von Kolporteuren (J Kolportageliteratur) vertrieben, oft ohne Angabe von Drucker und Druckort (,gedruckt in diesem Jahr‘) (J Lieddrucke). Die zweite Verwendung meint massenhaft ,im Volk‘ verbreitete und ,für das Volk‘ bestimmte Texte aller Art, fiktionale wie nicht-
Brigitte Bönisch-Brednich
Volksbuch 1. Allgemeines ⫺ 1.1. Definitorisches ⫺ 1.2. Begriffsgeschichte ⫺ 2. Literatursoziol. Implikationen ⫺ 3. Typen von V.ern ⫺ 4. V. und populäre Lesestoffe
1 . All ge me in es. Der Begriff V. wurde 1807 durch J. J Görres in die literaturgeschichtliche Diskussion in Deutschland eingeführt1. Seither wird darunter ein Korpus gedr. Texte verstanden, die seit Beginn des Buchdrucks über einen längeren Zeitraum rezipiert wurden, nach Inhalt, Anspruch und Ausstattung sich nicht an die kulturellen Eliten, sondern an das allg. Publikum wandten und massenhaft verbreitet waren. Die Texte sind in der Regel unfest, d. h. immer neuen Bearb.en und Adaptationen ausgesetzt. Die Stoffe speisen sich aus einem internat. Fundus. Das Korpus ist nicht scharf abgegrenzt, sondern umfaßt unterschiedliche Gattungen und Texttypen in Bearb.en für ein Massenpublikum: Erzählungen und Sachtexte, Unterhaltungs- und Ratge-
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Volksbuch
fiktionale: erzählende, wissensvermittelnde, katechetische, religiös-erbauliche und ähnliche Schr. für ein Publikum ohne spezielle Vorbildung. Häufig gehen die Texte auf mündl. Überlieferung zurück; oft sind sie ursprünglich in eine schriftlose Alltagskultur eingebettet. Sie können in mündl. Überlieferung rücküberführt werden (z. B. durch Vortrag vor einem Publikum)11. Als ihr Träger, manchmal auch als ihr Ursprung galt das Kollektiv ,Volk‘ (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Diese Annahme hat die jüngere Vk. als literatursoziol. zu pauschal kritisiert: Das Publikum kann stärker agrarisch bestimmt sein (z. B. in Rumänien)12 oder stärker urban (z. B. in Italien)13; es ist nach Altersgruppen und Ständen differenziert; zumindest zu Beginn gehörten die sozialen und kulturellen Eliten zu den Rezipienten14. Bes. in Deutschland ist der Terminus V. ideologisch nicht unbelastet, da mit problematischen Vorstellungen von ,Volk‘ verknüpft15. R. J Schenda hat daher den wertneutralen allerdings auch andere Texte umfassenden Begriff der populären J Lesestoffe vorgeschlagen16. Der dritte Begriffsgebrauch bezeichnet bes. in der Germanistik einen als ursprünglichschlicht oder aber als ästhetisch minderwertig angesehenen Typus von Dichtung, häufig eingegrenzt auf frühneuzeitliche Prosaerzählungen zwischen Kleinepik/Kleinepiksammlungen und Roman. Gemeint ist ein Typus von Texten unterhalb des geltenden ästhetischen Kanons, mit geringem poetischen Anspruch. Dieser Typus wurde mit literatursoziol. Annahmen verknüpft: das Publikum sei nicht die soziale und bildungsmäßige Elite, sondern das ,Volk‘. Die schlichte Faktur konnte je nach Perspektive als ursprünglich-naiv oder als abgesunken-verdorben betrachtet werden (J Gesunkenes Kulturgut). Da viele Texte dieser Art ⫺ im Unterschied z. B. zu Spanien und Italien, wo Verse dominieren ⫺ in Prosa abgefaßt waren17, wurde V. zum literaturwiss. Gattungsbegriff für die frühneuzeitliche Erzählprosa. Diese Verwendung wird inzwischen abgelehnt, der Terminus V. durch spezifischere Begriffe (Prosaroman, J Schwankbücher etc.) ersetzt18. 1 .2 . B eg ri ff sg es ch ic ht e. Das dt. V.konzept ist, wie H. J. Kreutzer für Görres gezeigt
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hat19, ein Kind der J Romantik. Görres sammelte unter dieser Bezeichnung Erzählliteratur, J Reiseberichte, Historisches, Naturkundliches, Medizinisches, J Erbauungs- und J Ratgeberliteratur, überwiegend in Prosa20. Die Schr. gehen teilweise auf ältere Romanliteratur zurück, auch auf Legenden (J Genovefa), Sagen (J Rübezahl, AaTh/ATU 777: J Ewiger Jude), auf vorliterar.-mündl. Überlieferung, aber auch ursprünglich lat. Wissensliteratur (Secreta mulierum, De virtutibus herbarum, 13. Jh.). Eingeschlossen sind anfangs auch Rätsel und Sprüche. Görres stützte sich überwiegend auf zeitgenössische Publ.en, die er in Clemens J Brentanos Bibl. in Heidelberg fand, wählte darunter allerdings nur solche mit einer langen Rezeptionsgeschichte aus, die gelegentlich über die Anfänge des Buchdrucks hinausreichte. Dagegen überging er Frühdrucke ohne spätere Tradierung, Texte mit Verf.namen, gelehrt-humanistische Werke oder aufwendig ausgestattete Bücher21. Ehemals pragmatische Funktionen der Texte (Wissensvermittlung, Anweisung für den Alltag) waren im Laufe der Zeit in den Hintergrund getreten, so daß die Texte als ,poetischer‘ Ausdruck dessen, was im Volk gedacht und geglaubt wurde, lesbar waren. Görres prägte den Begriff des V.s als schriftliterar. Typus in Analogie zum mündl. J Volkslied und zum Volksmärchen. Jedesmal sollte eine aus der Mitte des Volkes stammende und vom ,Volk‘ über Jh.e weitergegebene Überlieferung der intellektualistischen Kultur der Eliten entgegengesetzt werden22. Der kollektive Ursprung ist eine Mystifikation, denn viele V.er gehen nachweislich auf hochliterar. Muster zurück; doch beschrieb Görres für seine eigene Zeit durchaus zutreffend einen Typus anspruchslosen Schrifttums. Seit dem Ende des 16. Jh.s gab es in den meisten europ. Ländern auf die Herstellung billiger Drucke populärer Lesestoffe (Romane, Almanache, religiöses Schrifttum, Schr. für den Unterricht, Anweisungen für die Alltagspraxis etc.) spezialisierte Offizinen, in Frankreich z. B. in Troyes die Hersteller der J Bibliothe`que bleue23. Diese produzierten eine anspruchslose J Unterhaltungsliteratur für eine Leserschaft aus allen Ständen, nicht zuletzt auch für die Jugend. J Goethe berichtete in Dichtung und Wahrheit, wie er als Kind die bil-
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Volksbuch
ligen Heftchen las24. Nach dem Vorbild der Bibliothe`que universelle des romans veröffentlichte A. O. Reichard in Deutschland ab 1778 seine Bibl. der Romane, die Inhaltsangaben, Exzerpte und Kommentare enthält. In Band 20 erschien dort ein Verz. einer ,Bibliothe`que bleue oder Volks-Bibl. dt. Nation‘, deren Titel Görres’ Slg vorwegnehmen25. Gegen diese meist als schlecht und nutzlos qualifizierte Lektüre, die nur gelegentlich für eine kritische Erziehung des Volkes instrumentalisiert werden konnte26, forderten Volksaufklärer praktisch-belehrende und nützlich-unterhaltende V.er, die gezielt das Bildungsniveau der unteren Stände, bes. der Landbevölkerung, heben sollten. In diesem Sinne verstand etwa R. Z. Becker sein Noth- und Hülfsbüchlein (1788/98) für den Landmann als ein V.27 Dieser aufklärerische Typus wurde terminologisch vom Volksroman abgesetzt, der ältere Erzählstoffe aktualisieren sollte28. Mit der Aufklärungskritik am Ende des 18. Jh.s bereitete sich im Gefolge von Herders Volksgeisttheorie dagegen gerade für den letzteren Typus eine Aufwertung vor, die in Görres’ Schrift ihren Höhepunkt erreichte. Mit Görres’ V.begriff konkurrierte Goethes Konzept eines Nationalbuchs (1808)29. Der Plan war vom bair. Schulreformer F. I. Niethammer angeregt und stand in Zusammenhang mit Goethes Konzept von Weltliteratur. Das V. sollte Ausschnitte aus Dichtungen aller Völker und Zeiten enthalten. Von einem lyrischen V. ist die Rede, dessen Zweck die charakterliche Bildung des ,Volks‘, d. h. einer bildungsfähigen Menge unter Einschluß der Jugend, sein sollte30. Was 1808 ein kaum durchführbares Programm war, wurde im Laufe des 19. Jh.s in Anthologien für eine breite Leserschaft, Jugendbüchern und J Lesebüchern für die Schule, aber auch in billigen ,Volks‘Ausg.n von Klassikern und in Unternehmen wie Reclams Universalbibliothek realisiert31. Diese schieden jedoch aus der V.diskussion im engeren Sinne aus. Der V.begriff war bei Görres wie bei Goethe mit einem Programm der Volksbildung verknüpft. Solch ein volkspädagogisches Interesse lag noch den V.sammlungen von L. J Aurbacher32, G. J Schwab33, G. O. J Marbach34 und K. J Simrock35 zugrunde, die alle eine beträchtliche Vielfalt an Gattungen (Ro-
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man, Legende, Sage, Märchen, Exempel, Schwank) und Provenienzen (dt. MA., 16.⫺ 18. Jh., fremdsprachige Lit.) einschließen. Die Texte sind vereinheitlichend ,volkstümlich‘ bearbeitet (so etwa J Hartmanns von Aue Armer Heinrich durch Schwab). Die Slgen unterschieden sich erheblich in ihrer ⫺ stärker religiös, ma.-literarhist. oder auf aktuelle Leserinteressen bezogenen ⫺ Textauswahl36. Gemeinsames Ziel aber war, „einem breiten Lesepublikum eine anspruchsvolle Unterhaltungs- und Erbauungsliteratur an die Hand zu geben“37. Anfangs schloß dies klassische Dichtung durchaus noch ein; so enthält das 2. Heft der von Marbach herausgegebenen V.reihe (Alte und neue Lieder in Leid und Lust. Lpz. 1838) neben anonymen Volksliedern (O Tannenbaum u. a.) auch als ,volkstümlich‘ angesehene Gedichte von Matthias Claudius, Goethe, J Schiller (Lied von der Glocke) u. a. Das volkspädagogische Ziel stand noch im Hintergrund, wenn im Zuge der Revolution von 1848, unter dem harmlosen Titel Dorfgespräche als V.heftchen getarnt, revolutionäre Agitation betrieben wurde38. Es wirkte bis ins 20. Jh. fort, indem einige Texte zu Jugendbüchern umgearbeitet wurden (J Eulenspiegel, J Schildbürger)39. Im 19. Jh. konkurrierte die Bedeutung von V. als Sammelname für ,volkstümliche‘ Lit. insgesamt40 mit einer zunehmenden Verengung auf anonyme oder anonymisierte Erzählliteratur. Zu den seit dem 16./17. Jh. kontinuierlich neu aufgelegten Texten, die im Fokus von Görres’ Interessen standen, traten Prosaerzählungen verwandten Inhalts und ähnlicher Faktur, wobei die Sachliteratur zunehmend ausgegrenzt wurde41. Selbst nur hs. oder gar unikal überlieferte Texte wurden gelegentlich V.er genannt42. In diesem Sinne meint V. bei R. J Benz und L. J Mackensen eine stilistisch schlichte Prosa. Für Benz, der 1911⫺27 dt. V.er in ,erneuerter‘ Form herausgab, galten in der Tradition des auf Herder zurückgehenden romantischen V.konzepts V.er ohne Rücksicht auf Entstehung und Verbreitung als Produkte des ,Volksgeistes‘ und als solche der literar. Kultur einer individualistischen Elite weit überlegen43. Mackensen dagegen unterschied, um literatursoziol. Unterschieden Rechnung zu tragen, unter den V.ern noch einmal zwischen Volksromanen „mit volkstümlichem In-
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halt und volkstümlich gewordener Form“ und volkstümlichen J Ritterromanen, die anfänglich in der Oberschicht kursierten und erst nachträglich ,im Volk‘ verbreitet wurden44. Die Einsicht, daß die „Mehrzahl der sogenannten Volksbücher“ in der frühneuhochdt. Erzählprosa wurzele, an deren Entstehung das ,Volk als solches‘ keinen Anteil gehabt habe, fand schon Eingang in das RDL; in der frühen Neuzeit sei erstmals die Kultur der Eliten Sache des ,ganzen Volkes‘ geworden45. Dagegen liegt der Textauswahl in der Dt. Lit. in Entwicklungsreihen, die überwiegend Romane (bzw. Ausschnitte daraus) enthält, noch die inzwischen obsolete Ausweitung des V.begriffs auf angeblich schlichte Prosaerzählungen aller Art zugrunde, auch solche, die Görres noch nicht unter die V.er gezählt hatte46. Eine ähnliche Ausw. fand sich bereits in der Bibliogr. von P. Heitz und F. Ritter (1924)47. Sie bestimmt im Kern noch deren Neufassung durch B. Gotzkowsky (1991/94)48. Dieses V.konzept wurde nach dem 2. Weltkrieg nur noch ausnahmsweise außerhalb Deutschlands vertreten49. Der frühe Prosaroman schied aus der V.diskussion aus; für die kürzere Erzählprosa bürgerte sich der Terminus J Volkserzählung (cf. J Lit. und Volkserzählung) ein50. 2 . L it er at ur so zi ol . I mp li ka ti on en. Schon bei Görres bedeutet Volk eher ,Gesamt der Nation‘ als Unterschicht. Der Begriff bezeichnet eine organische Ganzheit, in der alle Gegensätze von Stand, Klasse, Bildung und Interessen unterschiedlicher sozialer Gruppen aufgehoben sind. Dies machte die V.stoffe für poetische Neubearbeitungen durch Autoren wie Arnim, Brentano, Friedrich Baron de la Motte J Fouque´, Ludwig J Tieck oder Adelbert von J Chamisso attraktiv, es ließ sich aber auch politisch ausmünzen. V.er hatten die Einheit der J Nation zu befördern, indem sie auf ihre hist. Wurzeln zurückgingen. V. wurde zum positiv konnotierten Gegenbegriff zum ,Schund‘ einer ,trivialen‘ Massenliteratur (J Trivialliteratur). Dabei schlich sich ein reaktionäres Bild vom Volk, seinen Vorlieben, Haltungen, Normen, intellektuellen Fähigkeiten und literar. Ansprüchen ein. Vor allem in der 1. Hälfte des 20. Jh.s verdichtete sich dieses Bild zum nationalistischen Ressentiment (J Patriotismus) 51. Diese Idealisierung des ,Vol-
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kes‘ und seines ,gesunden Empfindens‘ konnte zur J Diskriminierung von Fremden und Randgruppen, aber auch künstlerischen Avantgarden führen. Kollektive Entstehung wurde mit der sterilen Selbstbezogenheit des künstlerischen Subjekts, die Volksgemeinschaft mit der Zerrissenheit des modernen Individuums konfrontiert. Spiegelbildlich hierzu steht das Konzept von V. als gesunkenem Kulturgut52, wobei der von H. J Naumann geprägte Begriff auf die spätma. Erzählliteratur übertragen wurde. Mangel an ästhetischer Durchformung, ein verändertes Anspruchsniveau, andere weltanschauliche Einstellungen interpretierte man als Hinweise auf literatursoziol. Verschiebungen zu einem ungebildeten, ,traditionslosen‘ Lesepublikum. An die Stelle beider Konzepte trat seit den 1960er Jahren die These einer ,Verbürgerlichung‘53 der Lit. im Spätmittelalter. Ihr stehen nicht nur Daten zu Buchbesitz und Lektüre im 15./16. Jh. entgegen54, sondern der Begriff ,bürgerlich‘ entspricht eher modernem als spätma. Verständnis von Bürgertum55. Eine Sonderentwicklung durchlief der V.begriff in der DDR und überhaupt in den sozialistischen Ländern. Hier wurde die nationalistische Volkstumsideologie durch das Modell einer ,demokratischen‘ Lit. in bürgerlichen Unter- und Mittelschichten sowie im Bauernstand ersetzt56. Diese Umbewertung geht letztlich auf F. Engels zurück57, der, was das diffuse Textkorpus, die ästhetische Wertung, die Entstehungszeit und den Rezeptionskontext des V.s betrifft, in der Tradition der Romantik stand, die Texte jedoch nach ihrem ,volkserzieherischen Nutzwert‘ und ihrer Tauglichkeit für den politischen Kampf befragte58, weshalb er etwa im Gegensatz zum Gehörnten J Siegfried oder den J Haimonskindern Erzählungen wie AaTh/ATU 887: J Griseldis, Genovefa oder J Hirlanda ausschied59. Insofern ergibt sich eine überraschende Kontinuität marxistischer V.forschung zur romantisch-konservativen Tradition60. ,Volkstümlichkeit‘ wird zu ,progressiver Volkstümlichkeit‘61 umgedeutet. Einige Texte wie z. B. das Schildbürgerbuch oder bes. der Eulenspiegel kommen dieser Tendenz entgegen. So wehre sich dessen ,plebejischer‘ Held, einer der wenigen Helden, „die wirklich aus dem Volke kamen“, gegen Unterdrückung
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und Ausbeutung62. Der emanzipatorischen Tendenz entspreche die anspruchslose Aufmachung. Jedoch wird der V.begriff häufig über diesen Typus hinaus auf die gesamte frühneuzeitliche Erzählprosa ausgedehnt, die der ma. Adelsliteratur als ,realistisch‘63 entgegengesetzt wird. Der Realismusbegriff ist von der normativen Ästhetik des J Marxismus geprägt64. Eine in der DDR erschienene Slg von V.ern folgt grosso modo diesem Konzept65, das gelegentlich den Zusammenbruch der DDR überdauert hat66. 3 . Typ en vo n V.e rn. Einige Texte aus der heterogenen Gruppe der V.er sind schon ihrer Struktur nach für ein weniger lesekundiges Publikum geeignet, indem sie sich aus einzelnen kleinen Leseabschnitten zusammensetzen. Für sie ist Herkunft aus der Mündlichkeit wie mündl. Verbreitung leicht denkbar. Andere gehen auf umfangreiche ma. Romane und Heldenepen zurück, die in Prosa umgesetzt wurden. Neue Prosaromane wie der J Fortunatus (AaTh/ATU 566) oder die Texte Georg J Wickrams kommen hinzu. Es ist mit sehr unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen zu rechnen. Hist. differenzierte lesersoziol. Unters.en haben gezeigt, daß für die Frühzeit des Buchdrucks andere Verhältnisse gelten als für die spätere Rezeptionsgeschichte67. Nur ein Teil der frühneuzeitlichen Unterhaltungsliteratur wird zur anspruchslos aufgemachten Massenlektüre. Unterschiedlich ist auch die Einbettung in die populäre Kultur. Einige V.er stehen einer mündl. Erzählkultur noch nahe. Zu diesen gehören auch Schwankbücher wie der Eulenspiegel, eine biogr. angeordnete Schwanksammlung, die der Vorrede zufolge ausdrücklich nicht zum Vorlesen, sondern zum freien Weitererzählen (Fabulieren) bestimmt ist68. Strukturell verwandt ist das J Lalebuch; hier sind die Schwänke über ein närrisches Gemeinwesen freilich auf einen schriftliterar.-gelehrten Rahmen, die humanistische Staatstheorie und -satire, bezogen, wie sie in der Utopia des Thomas Morus vorliegt (J Utopie, Utopia). Einige V.er können als unterhaltsame Wissensliteratur charakterisiert werden, so etwa das J Faustbuch (1587) und der J Lucidarius69. Dabei bezieht das Faustbuch sein Wissen auch aus anspruchsvollen Werken wie der
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Weltchronik (1493) des Hartmann Schedel. Hier kommen vorliterar. kolportierte Magieranekdoten mit traktathafter religiöser Unterweisung und Wissensbeständen unterschiedlicher Provenienz zusammen, so daß das Themenspektrum von Görres’ V.sammlung vorweggenommen scheint. Für die Geschichte des literar. Typus ist es freilich charakteristisch, daß die wissensvermittelnden Passagen im Zuge der Druckgeschichte abgestoßen werden. Übrig bleibt der Faszinationstypus, wie ihn J Lessing oder Goethe kennenlernten. Texte wie J Melusine oder Fortunatus weisen zwar in einzelnen Zügen auf mündl.-vorliterar. Überlieferung zurück; beide Romane erreichten wohl aber erst etwa seit Mitte des 16. Jh.s in kleinformatigen, einfach ausgestatteten Drucken eine größere Leserschaft. Sie waren ursprünglich schriftliterar. Texte für ein oberschichtiges Publikum. Den MelusineDrucken ging eine anspruchsvoll ausgestattete hs. Überlieferung voraus70. Der Autor war ein Berner Patrizier, die frühesten nachweisbaren Rezipienten stammten aus Stadt- und Landadel, der Gegenstand ist eine Geschlechtermythologie71. Im Laufe des 16. Jh.s trat das Interesse an dem dort vermittelten hist. Wissen zurück72; übrig blieb die Sensationsgeschichte von der unglücklichen Verbindung zwischen einem Menschen und einem außermenschlichen Wesen (J Mahrtenehe: Die gestörte M.), die in billigen Ausg.n in Augsburg, Straßburg und vor allem Frankfurt nachgedruckt wurde. Im 17. Jh. galt sie als Bestseller bei Ungebildeten73, im 19. Jh. wurde sie zum Inbegriff der von der Romantik aufgewerteten Volksliteratur und regte wieder hochliterar. Aneignungen an. Auch im Fortunatus (keine vorausgehende hs. Überlieferung) weisen einige Motive auf vorliterar. Tradition, doch der Erstdruck von 1508 mit Holzschnitten von Jörg Breu ist ein sorgfältig komponiertes Buchkunstwerk. Auch hier änderte sich die Rezeptionssituation im 16. Jh.: Es erschienen schlichte Nachdrucke; die enge Text-Bild-Bindung ging verloren; pragmatische Informationen, wie sie der Erstdruck noch enthielt, fielen weg. Aus einer raffinierten Darstellung des Mechanismus frühneuzeitlicher Geldwirtschaft wurde im 17. Jh. bei J Grimmelshausen eine moralische Fabel74, für die Romantiker ein Märchen.
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Bes. spektakulär vollzog sich der Wandel zum V. bei der J Magelone. Ursprünglich eine für den Französischunterricht bei Hof bestimmte Übers. eines frz. Prosaromans durch Veit Warbeck, kam sie 1535 anonym auf den Markt, angekündigt als eine moralisch-exemplarische Erzählung für alle christl. Familien. In billigen Nachdrucken, oft wahllos ausgestattet mit Bildmaterial unterschiedlichster Provenienz75, wurde die Liebesgeschichte mit glücklichem Ende zur Massenlektüre. Die schlichte Erzählung regte die Phantasie der Romantik an: Tieck erzählte sie neu, erweitert um (später von Brahms vertonte) Lieder, die den Stimmungen der Protagonisten Ausdruck verleihen76. Eine Reihe weiterer Prosahistorien durchlief im 16. Jh. wenigstens zu Beginn einen ähnlichen Prozeß der Verbreitung. Seit der Jh.mitte tat sich bes. das Frankfurter Verlagshaus Gülfferich-Han mit billigen Nachdrukken hervor, die den Buchtypus V. vorwegnehmen77. Aber es erschien beim Frankfurter Verleger Feyerabend auch noch einmal in Folio eine repräsentative, offenbar für ein oberschichtiges Publikum bestimmte Slg von Prosaromanen, das Buch der Liebe (1587), ein Markstein für die Trennung von V. und sonstiger Unterhaltungsliteratur: Während das Buch der Liebe durch die 24 dickleibigen Bände des J Amadis abgelöst wurde, der immer Oberschichtenlektüre blieb, wurde ein Teil der in ihm versammelten Historien zu V.ern, über die man sich aus der Perspektive der ,hohen‘ Lit. lustig machte78. War der Text nicht von vornherein anonym, ging der Name des Autors oder Übersetzers oft verloren. Die ⫺ ursprüngliche oder sekundäre ⫺ J Anonymität förderte den Eindruck einer kollektiven Verf.schaft des ,Volkes‘, wie sie Görres voraussetzte. Für die meisten Prosaromane des 16. Jh.s endete die Druckgeschichte im 17. Jh., von Ausnahmen abgesehen (J Pontus und Sidonia). Die Entwicklung zum V. kam vorzeitig ins Stocken. Doch machten auch einige auf ma. Adelsliteratur zurückgehende Texte wie z. B. der über den Kaiser J Octavian die Entwicklung mit. Die vier Haimonskinder kam sogar erst im 17. Jh. hinzu, nicht in der repräsentativen Übers. einer Chanson de geste durch den Grafen Johann
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II. von Pfalz-Simmern (1535), sondern in der Adaptation einer ndl. Vorlage (1604). 4 . V. u nd po pu lä re Le se st offe. Dadurch, daß die V.sammlungen des 19. Jh.s durchweg anonymisiert waren, wurden deren Texte ununterscheidbar von solchen, die in ähnlicher Form auftraten, aber keine Phase hochliterar. Formung und Rezeption durchlaufen hatten, von Sagen, Legenden, Sensationsberichten etc., Texten, die sich um faszinierende Figuren (AaTh/ATU 470 A: J Don Juan, J Ahasver, Rübezahl, AaTh/ATU 1231: J Sieben Schwaben etc.) oder bemerkenswerte Ereignisse (Heldentat, Mirakel, Schlacht) kristallisierten: Auch diese Texte setzen einen Autor voraus, der aber ganz hinter ihnen zurücktritt; sie können bei ihrer Verbreitung immer wieder neuen Zielgruppen und neuen Kommunikationssituationen angepaßt werden. Ihr Publikum ist nicht auf Unterschichten und bildungsferne Rezipienten einzuschränken, jedoch überschreitet es umgekehrt immer schon die sozialen und bildungsmäßigen Grenzen, die der Lit. gewöhnlich gesetzt sind. V. wird bis heute umgangssprachlich für Bücher gebraucht, von denen man sich Breitenwirkung verspricht. Über eine rein quantitative Bestimmung hinaus79, die nur auf die Zahl der Rezipienten abhebt, sollte der V.begriff allerdings sinnvollerweise zumindest auf typische Ausstattungsmerkmale und Bearb.sformen sowie ⫺ allerdings schwer festzumachen ⫺ bestimmte Inhalte und formale Inszenierungen bezogen werden80. Empfehlenswert wäre darüber hinaus eine Einschränkung des Terminus auf ältere Texte mit einer längeren Rezeptionsgeschichte und damit eine Abgrenzung von moderner Massenliteratur, die, in Heftchen, Taschenbüchern und dergleichen verbreitet, buchgeschichtlich verwandt ist. Für sie ist der auf Schenda zurückgehende weitere, doch neutrale Begriff ,populäre Lesestoffe‘ vorzuziehen. Auch billige Ausg.n von Lit. ,für das Volk‘ sollten nicht als V.er bezeichnet werden, ebensowenig wie reine Sachliteratur. 1 Görres, J. von: Die teutschen V.er. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Artzneybüchlein […]. Heidelberg 1807 (Nachdr. Hildesheim/ N. Y. 1982). ⫺ 2 cf. Lackner, I.: Der germanistische V.begriff und die V.konzeption in der rumän. V.forschung. In: Studien zur rumän. Sprache und Lit. 6
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(1984) 43⫺71, hier 46⫺55. ⫺ 3 Karlinger, F./Lackner, I.: Rom. V.er. Darmstadt 1978, 3⫺21; Cirese, A. M.: Ital. V.er. Bemerkungen zu Gramsci, Santoli, Fernow, Müller, Wolff. In: Europ. Volkslit. Festschr. F. Karlinger. Wien 1980, 48⫺59; Schenda, R.: Ital. Volkslesestoffe im 19. Jh. Einführung und Bibliogr. zur Slg ital. V.lein im Museo Pitre`, Palermo. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 7 (1966) 210⫺ 230; id./Tomkowiak, I.: Istorie bellissime. Ital. Volksdrucke des 19. Jh.s aus der Slg Reinhold Köhlers in Weimar. Wiesbaden 1993; Rosenfeld, H.: Der Ackermann aus Böhmen. Von scholastischer Disputation zum spätma. V., Volksschauspiel, Volkslied und Märchen. In: Europ. Volkslit. Festschr. F. Karlinger. Wien 1980, 161⫺170; Velculescu, C.: Die rumän. Leser eines V.s kret. Herkunft. Der „Erotocrit“. ibid., 184⫺193; Chit¸imia, I. C./Simonescu, D.: Ca˘rt¸ile populare ˆın literatura romıˆneasca˘ 1⫺2. Buk. 1963; Moraru, M./Velculescu, C.: Bibliografia analitica˘ a ca˘rt¸ilor populare laice 1. Buk. 1978; Birner, A. (ed.): V. ⫺ Spiegel seiner Zeit? Salzburg 1987; Schenda, R.: Tausend frz. V.lein aus dem 19. Jh. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1969) 779⫺952; Nisard, M. C.: Histoire des livres populaires 1⫺2. P. 1854; Bäckström, P. O.: Svenska Folkböcker 1⫺2. Stockholm 1845/48; Heurck, E. H. van: De vlaamsche volksboeken. Antw. 1943; Neuburg, V. E.: Chapbooks. Guildford/L. 21972; Schotel, G. D. J.: Volksboeken en volkssprookjes 1⫺2. Haarlem 1874; Skowronski, M.: Die bulg. V.er und ihre Erforschung. In: Beitr.e zum 2. internat. BulgaristikKongreß in Sofia 1986. t. 2. Neuried 1986, 345⫺368; Spies, O.: Türk. Volksmärchen. MdW 1982, 301⫺ 308 (Nachwort); Boratav, P. N.: Türk. Volkserzählungen und die Erzählerkunst 1⫺2. Taipei 1975. ⫺ 4 Skowronski, M./Marinescu, M.: Die „V.er“ Bertoldo und Syntipas in Südosteuropa. Ffm. u. a. 1992, 34. ⫺ 5 Velculescu, C.: V.er und rumän. Lit. In: Ber.e im Auftrag der Internat. Arbeitsgemeinschaft für Forschung zum rom. V. Salzburg 1983, 259⫺275 (Resümee ihrer Diss. Cart¸i populare s¸i cultura romaˆneasca˘. Buk. 1984). ⫺ 6 cf. Roth, K. (ed.): Südosteurop. Popularlit. im 19. und 20. Jh. Mü. 1993; Marzolph, U.: Da¯sta¯nha¯-ye sˇirin. 50 pers. V.lein aus der 2. Hälfte des 20. Jh.s. Stg. 1994. ⫺ 7 Skowronski/ Marinescu (wie not. 4) 37. ⫺ 8 Müller, J.-D.: V./Prosaroman im 15./16. Jh. ⫺ Perspektiven der Forschung. In: Internat. Archiv für Sozialgeschichte der Lit. Sonderheft 1 (1985) 1⫺128, hier 5⫺9. ⫺ 9 cf. Schmitt, A.: Die dt. V.er. Ein Beitr. zur Begriffsgeschichte und zur Tradierung im Zeitraum der Erfindung der Druckkunst bis 1550. t. 1⫺2. Diss. (masch.) B. 1973, 134 u. ö. ⫺ 10 Chartier, R./Lüsebrink, H.-J. (edd.): Colportage et lecture populaire. Imprime´s de large circulation en Europe, XVIe⫺ XIXe sie`cles. P. 1996. ⫺ 11 Schenda 1966 (wie not. 3) 210 sq.; cf. Röhrich, L./ Lindig, E. (edd.): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989. ⫺ 12 Lackner (wie not. 2) 57; Velculescu (wie not. 5) 264. ⫺ 13 Schenda 1966 (wie not. 3) 211, 214. ⫺ 14 Müller
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(wie not. 8) 41⫺50; cf. z. B. Velculescu (wie not. 5) 261, 268 sq. ⫺ 15 Raitz, W.: Zur Soziogenese des bürgerlichen Romans. Eine lit.soziol. Analyse des ,Fortunatus‘. Düsseldorf 1973, 123⫺145. ⫺ 16 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770⫺1910. Mü. 21977. ⫺ 17 cf. z. B. Karlinger/Lackner (wie not. 3) 7, 17; Schenda/Tomkowiak (wie not. 3) 137. ⫺ 18 Müller (wie not. 8) 9⫺15; cf. Bausinger, 195; Schenda (wie not. 16) 301. ⫺ 19 Kreutzer, H. J.: Der Mythos vom V. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen dt. Romans seit der Romantik. Stg. 1977. ⫺ 20 ibid., 16⫺35. ⫺ 21 ibid., 23⫺26. ⫺ 22 ibid., 28⫺34. ⫺ 23 Morin, A.: Catalogue descriptif de la Bibliothe`que bleue de Troyes (almanachs exclus). Genf 1974; Mandrou, R.: De la Culture populaire aux 17e et 18e sie`cles. La Bibliothe`que bleue de Troyes. P. 1975; Chartier, R.: Lectures et lecteurs dans la France de l’Ancien Re´gime. P. 1987. ⫺ 24 Goethe, J. W.: Werke. 9,1: Autobiogr. Schr. ed. E. Trunz/L. Blumentahl. Hbg 1955, 57. ⫺ 25 Kreutzer (wie not. 19) 37⫺41. ⫺ 26 Röcke, W.: Joseph Görres’ ,Teutsche V.er‘ und Georg Friedrich Rebmanns ,Empfindsame Reise nach Schilda‘. Zur widersprüchlichen Deutungsgeschichte eines ,V.s‘. In: Daphnis 33 (2004) 745⫺757. ⫺ 27 Kreutzer (wie not. 19) 42⫺46. ⫺ 28 ibid., 46, 50. ⫺ 29 ibid., 60⫺65; Schanze, H.: Lit.geschichte und Lesebuch. Ansätze zu einer hist. orientierten Lit.didaktik. Mit einem Anh.: Goethes V. von 1808. Düsseldorf 1981, 55⫺71, 81⫺83, 85⫺94. ⫺ 30 Kreutzer (wie not. 19) 63. ⫺ 31 Schanze, H.: Tendenzen der Lit.vermittlung im 19. und frühen 20. Jh. Vom „Lyrischen V.“ zum „Kinderbuch“. In: Korte, H./Rauch, M. (edd.): Lit.vermittlung im 19. und frühen 20. Jh. Ffm./Mü. 2005, 183⫺191. ⫺ 32 Aurbacher, L.: V.lein 1⫺2. Mü. 1827/ 29 (21835/39). ⫺ 33 Schwab, G.: Die dt. V.er. Für jung und alt wieder erzählt 1⫺2. Stg. 1836/37. ⫺ 34 Marbach, G. O.: V.er 1⫺34. Lpz. 1838⫺42. ⫺ 35 Simrock, K.: Die dt. V.er. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt 1⫺13. Ffm./Mü. 1845⫺67. ⫺ 36 Kreutzer (wie not. 19) 86⫺ 97. ⫺ 37 Röcke (wie not. 26) 748. ⫺ 38 Kreutzer (wie not. 19) 92⫺94. ⫺ 39 Scherf, W.: V. und Jugendlit. Oder: Welche V.er spielen im 19. Jh. und auch heutzutage noch eine Rolle als Jugendlektüre in dt. Sprache? Mü. 1976. ⫺ 40 cf. Bobertag, F. (ed.): V.er des 16. Jh.s. Stg. 1890. ⫺ 41 Kreutzer (wie not. 19) 100; Müller, U.: „Wahrhaftige Historie vom ärgerlichen Leben des span. Ritters Don Juan und wie ihn zuletzt der Teufel holt“ (1854). In: Europ. Ethnologie und Folklore im internat. Kontext. Festschr. L. Petzoldt. Ffm. u. a. 1999, 401⫺417. ⫺ 42 Müller (wie not. 8) 2; cf. Szöve´rffy, J.: Das V. ⫺ Geschichte und Problematik. In: Der Deutschunterricht 14,2 (1962) 5⫺28, hier 8 sq. ⫺ 43 Benz, R.: Die dt. V.er. Jena 1913; id.: Geschichte und Ästhetik des dt. V. s. Jena 21924. ⫺ 44 Mackensen, L.: Die dt. V.er. Lpz. 1927, 11. ⫺ 45 Liepe, W.: V. In: RDL 3 (1928/29) 481⫺485, hier 481; cf. id.:
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Volksdichtung
Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Entstehung und Anfänge des Prosaromans in Deutschland. Halle 1920; cf. aber Müller (wie not. 8) 50⫺54. ⫺ 46 Kindermann, H.: V.er vom sterbenden Rittertum. Lpz. 1928; Podleiszek, F.: V.er von Weltweite und Abenteuerlust. Lpz. 1936. ⫺ 47 Heitz, P./Ritter, F.: Versuch einer Zusammenstellung der dt. V.er des 15. und 16. Jh.s nebst deren späteren Ausg.n und Lit. Straßburg 1924. ⫺ 48 Gotzkowsky, B.: „V.er“, Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibl. der dt. Drucke 1⫺2. BadenBaden 1991/94; cf. Flood, J. L.: The Survival of German ,V.er‘. L. 1980. ⫺ 49 Delbono, F.: Il ,V.‘ tedesco. Arona 1961. ⫺ 50 Szöve´rffy, J.: Volkserzählung und V. In: Fabula 1 (1958) 3⫺18. ⫺ 51 Bollenbeck, G.: Das ,V.‘ als Projektionsformel. Zur Entstehung und Wirkung eines Projektionsbegriffs. In: MA.rezeption. […] Die Rezeption ma. Dichter und ihrer Werke in Lit., Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jh.s. ed. J. Kühnel u. a. Göppingen 1979, 141⫺171; Kreutzer (wie not. 19) 123⫺141. ⫺ 52 Liepe 1920 (wie not. 45) 37 sq.; Makkensen (wie not. 44) 13 sq. ⫺ 53 Roloff, H.-G.: Stilstudien zur Prosa des 15. Jh.s. Die Melusine des Thüring von Ringoltingen. Köln/Wien 1970, 15⫺18, 96 sq., 112 sq., 194 sq. u. ö.; Brandstetter, A.: Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdt. Prosaroman. Ffm. 1971, 136, 172 u. ö.; Melzer, H.: Trivialisierungstendenzen im V. Ein Vergleich der V.er ,Tristrant und Isalde‘, ,Wigoleis‘ und ,Wilhelm von Österreich‘ mit den mhd. Epen. Hildesheim 1972, 152, 175, 178 u. ö. ⫺ 54 Beyer, H.: Die V.er und ihr Lesepublikum. Diss. Ffm. 1962; Müller (wie not. 8) 41⫺44. ⫺ 55 id.: Melusine in Bern. Zum Problem der ,Verbürgerlichung‘ höfischer Epik im 15. Jh. In: Kaiser, G. (ed.): Lit. ⫺ Publikum ⫺ hist. Kontext. Bern 1977, 29⫺77, hier 31⫺33, 35⫺40. ⫺ 56 Entner, H. u. a. (edd.): Grundpositionen der dt. Lit. im 16. Jh. B./Weimar 21976; Weimann, R.: Einl. In: id. (ed.): Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. B./Weimar 1977, 5⫺46; Spriewald, I.: Historien und Schwänke. Die dt. Erzählprosa von ,Till Eulenspiegel‘ bis Doktor Faustus. ibid., 359⫺436; Schmitt, A.: V. In: Bentzien, U./Strobach, H. (edd.): Dt. Volksdichtung. Lpz. 21987, 295⫺323; cf. allg. Michailov, A. D.: Ritterroman und V.er. In: Weimann, R. u. a. (edd.): Renaissancelit. und frühbürgerliche Revolution. Studien zu den sozial- und ideologiegeschichtlichen Grundlagen der europ. Nationallit.en. B./Weimar 1976, 122⫺130. ⫺ 57 Oswald, F. [i.e. Engels, F.]: Die dt. V.er [1839]. In: Engels, F./ Marx, K.: Schr., Mss., Briefe bis 1844. Ergänzungsband. B. 1967, 13⫺21. ⫺ 58 Voigt, G.: Friedrich Engels und die dt. V.er. In: DJbfVk. 1 (1955) 65⫺108, hier 85, 104⫺108. ⫺ 59 cf. Cirese (wie not. 3). ⫺ 60 Müller (wie not. 8) 98⫺102. ⫺ 61 Schmitt (wie not. 56) 298. ⫺ 62 ibid., 304. ⫺ 63 Spriewald, I.: Vom ,Eulenspiegel‘ zum ,Simplicissimus‘. Zur Genesis des Realismus in den Anfängen der dt. Prosaerzählung. B. 1974 (21978) 8, 12, 18, 21
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u. ö. ⫺ 64 Kreutzer (wie not. 19) 12 sq. ⫺ 65 Suchslandt, P.: Dt. V.er 1⫺3. B. 1968. ⫺ 66 Schmitt, A.: Tradition und Innovation von Lit.gattungen und Buchformen in der Frühdruckzeit. In: Tiemann, B. u. a. (edd.): Die Buchkultur im 15. und 16. Jh. 2. Halbband. Hbg 1999, 8⫺120. ⫺ 67 Schenda, R.: Die Lesestoffe der kleinen Leute. Mü. 1976; id. (wie not. 16) 93⫺107. ⫺ 68 Suchslandt (wie not. 65) t. 2, 7. ⫺ 69 Podleiszek (wie not. 46) (zu diesem Typus gehören auch „Brandans Seefahrt“, Kalender, Prognostiken). ⫺ 70 cf. Schneider, K. (ed.): Thüring von Ringoltingen: Melusine. B. 1968, 7⫺17 (Einl.). ⫺ 71 Müller (wie not. 55) 47⫺56. ⫺ 72 id.: Augsburger Drucke von Prosaromanen im 15. und 16. Jh. In: Gier, H./Janota, J. (edd.): Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Wiesbaden 1997, 337⫺352, hier 350. ⫺ 73 id. (wie not. 8) 48 sq.; id.: Ma. Erzähltradition, frühneuhochdt. Prosaroman und seine Rezeption durch Grimmelshausen. In: Breuer, D./Tüske´s, G. (edd.): Fortunatus, Melusine, Genovefa. Internat. Erzählstoffe in der dt. und ung. Lit. der Frühen Neuzeit. Bern/B. u. a. 2010, 105⫺130, hier 126⫺129. ⫺ 74 ibid., 121⫺125. ⫺ 75 id. (wie not. 72) 351 sq. ⫺ 76 Romane des 15./16. Jh.s: Melusine, Hug Schapler (1500), Hug Schapler (1537), Fortunatus, Wickram, Knabenspiegel, Faustbuch. Nach den Erstdrucken mit Kommentar und Einführung. ed. id. Ffm. 1990, 1235⫺1239. ⫺ 77 Schmidt, I.: Die Bücher aus der Frankfurter Offizin Gülfferich-Han-Weigand-HanErben. Eine literarhist. und buchgeschichtliche Unters. zum Buchdruck in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. Wiesbaden 1996. ⫺ 78 Wahrenburg, F.: Funktionswandel des Romans und ästhetische Norm. Die Entwicklung seiner Theorie in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jh.s. Stg. 1976, 11⫺23. ⫺ 79 Schenda, R.: Lese- und Lesestoff-Forschung. In: Grundriß der Vk. ed. R. W. Brednich. B. 32001, 543⫺561, hier 547. 80 cf. Scherf, W.: V. und Jugendliteratur. Mü. 1976.
München
Jan-Dirk Müller
Volksdichtung. In seinem letzten Lebensjahr, 1803, spricht J Herder in der von ihm allein geschriebenen Zs. Adrastea über den Volksgesang. Er bezieht sich zunächst auf die griech. Mythologie und deren gräßliche Schreckbilder und bezeichnet in diesem Zusammenhang „das Grausenhafte“ als „die Lieblingsfarbe der Volksdichtung“1. Der Begriff V. fungiert hier wie häufig im späteren Gebrauch als Sammelbezeichnung für poetische Formen, die man in der Volkstradition verankert sah. Der Parallelbegriff Volkspoesie taucht schon früher als Zusammenfassung für J Volkslied, Volksgesang, Volksfabel auf; wie diese Benennungen geht auch er auf Herder zurück, der nicht nur eine Anthologie Volkslieder (1778/
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Volksdichtung
79) herausgab, sondern sich auch theoretisch zu diesen Überlieferungen äußerte. Herders Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker (1771) weist dabei zurück auf die engl. Beitr.e zur alten Poesie, J. Macphersons J Ossian (1760) und T. J Percys Reliques of Ancient English Poetry (1765)2. In Frankreich hatte Montaigne schon im 16. Jh. von ,poe¨sie populaire‘ gesprochen3, und auch in anderen europ. Ländern ist mindestens seit der Zeit des J Humanismus das Interesse an Volksüberlieferungen bezeugt4. Herder und seine Zeitgenossen standen mit ihrer Hinwendung zur Volkspoesie also in einer längeren Tradition praktischen Umgangs und theoretischen Interesses; aber erst bei ihnen scheint sich das Bedürfnis ergeben zu haben, für einzelne Gattungsformen wie für die Gesamtheit solcher Überlieferungen feste Begriffe zu schaffen. V. erweist sich dabei ebenso wie Volkspoesie nicht als präziser Begriff. Vielmehr haben gerade seine Prägnanz und Vieldeutigkeit dazu beigetragen, daß er sich als Sammelname für einen Bereich anbot, dessen Kriterien und Grenzen sich immer wieder verschoben. V. trägt wie andere Bezeichnungen mit dem Bestimmungswort ,Volk‘ die Hypotheken dieses Begriffs; seine Facetten spiegeln sich in verschiedenen Auffassungen und Akzenten von V., die alle schon in der Zeit Herders aufscheinen5. So knüpft Herders Idee der V. an die Vorstellung einer nationalen Prägung der Menschen an (J Nation), die in der staatlichen Neuordnung der napoleon. Ära an Bedeutung gewann. Wenn Herder von ,Nationalliedern‘ spricht und „arabische von Eseltreibern, italienische von Fischern, amerikanische aus der Schneejagd, item lappländische, grönländische und lettische“ anführt6, geht er allerdings nicht nur von der Staatsnation aus, sondern auch von ethnischen Gruppierungen; außerdem deutet sich eine Orientierung an den unteren Bevölkerungsschichten an. Dieser Akzent wurde immer wieder betont, bes. ausdrücklich in der marxistischen Folkloristik (J Marxismus); V. galt hier als Äußerung „der werktätigen Klassen und Schichten“ (H. J Strobach, J. M. J Sokolov, W. J Steinitz)7. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs Volk hat sich bis heute gehalten; sie kam z. B. in den beiden zentralen Slogans der dt. Wiedervereinigung
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„Wir sind das Volk!“ und „Wir sind ein Volk!“ zum Ausdruck. Die Bedeutungsnuancen von V. sind damit aber noch nicht erschöpft. Das Wort wurde zunächst gleichbedeutend mit J Naturpoesie verwendet; wie diese wurden V. und Volkspoesie als Gegensatz und gleichzeitig als Quellgrund der gehobenen Dichtung verstanden. V. ist damit ein Wertbegriff, der von Äußerungen des ,Pöbels‘ abgesetzt wurde8 ⫺ eine Trennung, die später in der Unterscheidung von Volkskultur und Massenkultur fortlebte. Der bes. Wert wurde aber auch an stilistischen Charakteristika festgemacht, allg. etwa an der J Naivität oder auch spezieller mit dem Hinweis auf ,Sprünge‘ und ,kühne Würfe‘, der bei Herder, J. von J Görres und F. D. Gräter auftaucht9. Die mit dem Begriff V. und verwandten Begriffen transportierte Qualitätserwartung hat allerdings dazu geführt, daß bei allen Bekenntnissen zu Originalität und Objektivität keineswegs die ganze volkspoetische Realität festgehalten wurde, daß man vielmehr ignorierte oder ausschied, was dem ästhetischen oder auch moralischen Anspruch nicht genügte. Oft ist mit dem Begriff der V. auch die Annahme rein mündl. Überlieferung (J Orale Tradition) und im Zusammenhang damit die Annahme der J Anonymität verbunden (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Da man aber die V. als Anregung und Vorbild für die Dichtung sah, wurden bei der Sammel- und Publ.spraxis auch bekannte Autoren namentlich oder anonymisiert mit ihren Produkten berücksichtigt, in Herders Volksliedsammlung ebenso wie in Des Knaben Wunderhorn (Achim von J Arnim, Clemens J Brentano). Damit geriet auch die Problematik der J Popularisierung, die teils als Anpassung an den unterlegenen Volksgeschmack, teils aber auch als Schöpfung aus dem ,popularen Denken‘10 heraus verstanden wurde, ins Umfeld der V. Die später meist synonym zu ,populär‘ verwendete Bezeichnung ,volkstümlich‘ bezog sich in der Prägung F. L. Jahns und bis in die 2. Hälfte des 19. Jh.s auf die nationale Eigenart. In der neueren internat. Forschung werden Sachverhalte, die im dt.sprachigen Kontext unter den Begriff V. subsumiert wurden, als J Folklore bezeichnet. Dieser Neologismus aus der Mitte des 19. Jh.s setzte sich in vielen Län-
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Volkserzählung
dern rasch durch, wurde in dt.sprachigen Publ.en aber lange Zeit gemieden oder in einer Sonderbedeutung auf fragwürdige erfundene oder stilisierte Elemente der Volkskultur bezogen. Erst in der 2. Hälfte des 20. Jh.s wurde er vom überwiegend negativ konnotierten Begriff des J Folklorismus abgerückt und im Zeichen der stärkeren Internationalisierung der Forschung auch hier gebräuchlich11. Von V. unterscheidet sich Folklore dadurch, daß damit nicht nur Formen der sprachlichen Überlieferung, sondern auch andere Traditionsbestände erfaßt werden. Aber auch innerhalb des als V. umschriebenen Bereichs ergeben sich Unterschiede. Folklore kann sich zwar auf nationale Mythenbildung und Besonderheiten beziehen, aber der nationale Gehalt ist dem Wort nicht eingeschrieben; das englische ,folk‘ zielt nicht auf ein einzelnes Staatsvolk. Dies macht den Begriff tauglicher für internat. Unters.en. Er ist auch weniger hist. aufgeladen und bezieht einen gewissen Wertanspruch weniger aus der Traditionalität der Gegenstände als aus ihrer Dignität; er ist prinzipiell offener für die aktuelle Kultur. Die Diskussion um Mündlichkeit und Anonymität wird auch unter dem Stichwort Folklore geführt12. Dabei ist man entschiedener von der Verbindlichkeit dieser Kriterien abgerückt, als dies lange bei der V. der Fall war. Zwar gilt auch für Folklore, daß sie im Prinzip nur als J Variante existiert und daß die mündl. Weitergabe großen Anteil an der Variation (J Variabilität) hat, aber der starke Einfluß schriftl. und gedr. Fassungen wird für alle Gattungen der V. unterstellt (z. B. J Buchmärchen, J Lit. und Volkserzählung). Dabei gibt es durchaus auch Gattungen, bei denen Variation wie Konstanz (J Stabilität) ständig über J Schriftlichkeit vermittelt werden13. Auch die wechselseitige Bedingtheit von Mündlichkeit und Anonymität wurde in Frage gestellt. Vor allem von der amerik. Folkloristik ging die Anregung aus, V. als ,verbal art‘14 oder ,artistic communication‘15 zu verstehen; damit wird der Blick auf die einzelnen Traditionsträger und ihre Kunst gelenkt. Dies trifft sich mit früheren Beschreibungen und Sammlungen, die einzelne J Erzähler oder Erzählerinnen in den Mittelpunkt stellten, aber auch mit den ästhetischen Analysen, die von M. J Lüthi16 und anderen zur V. vorgelegt wurden.
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1
Herder, J. G.: Sämmtliche Werke 24. ed. B. Suphan. B. 1886, 264; DWb. 12,2 (1951) 478. ⫺ 2 DWb. 6 (1891) 159⫺207, cf. 718⫺722 (Kommentar); cf. Lohre, H.: Von Percy zum Wunderhorn. Beitr.e zur Geschichte der Volksliedforschung in Deutschland. B. 1902; Schmitz, R.: Das Problem ,Volkstum und Dichtung‘ bei Herder. B. 1937; Bausinger (21980), 11⫺16. ⫺ 3 Montaigne, M. de: Essais 1. ed. M. de Eyquem. P. 1969, 371 (Kap. 54). ⫺ 4 cf. Greverus, I.-M.: Sammlung ⫺ Pflege ⫺ Forschung. In: Die Freundesgabe 1 (1963) 27⫺38. ⫺ 5 cf. Schmitz (wie not. 2); Schrader, M.: Epische Kurzformen. Theorie und Didaktik. Königstein 1980, 21. ⫺ 6 cf. Lohre (wie not. 2) 10. ⫺ 7 Strobach, H.: Zur Geschichte und Theorie der dt. V., insbes. des Volksliedes. Habilitationsschrift (masch.) B. 1978, VII sq. ⫺ 8 Herder (wie not. 1) t. 25 (1885) 323. ⫺ 9 cf. Schepping, W.: Lied- und Musikforschung. In: Brednich, R. W. (ed.): Grundriß der Vk. B. 32001, 587⫺616, bes. 598. ⫺ 10 Greiling, J. G.: Theorie der Popularität. Magdeburg 1805 (Nachdr. Stg. 2001), 36. ⫺ 11 Bausinger, H.: Zum Begriff des Folklorismus. In: id.: Der blinde Hund. Anmerkungen zur Alltagskultur. Tübingen 1991, 92⫺103. ⫺ 12 id.: Mündlich. In: Bosˇkovic´-Stulli, M. (ed.): Folklore and Oral Communication/Folklore und mündl. Kommunikation. Zagreb 1981, 11⫺15. ⫺ 13 Simonides, D.: Kann schriftl. Überlieferung Folklore sein? ibid., 147⫺ 153. ⫺ 14 Bascom, W. R.: Continuity and Change in African Cultures. Chic. u. a. 1968, 497. ⫺ 15 BenAmos, D.: Toward a Definition of Folklore in Context. In: Paredes, A./Bauman, R. (edd.): Toward New Perspectives in Folklore. Austin 1972, 3⫺15, hier 13 (dt.: Zu einer Definition der Folklore im Kontext. In: Jb. für Volksliedforschung 26 [1981] 15⫺30). ⫺ 16 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. (Düsseldorf/ Köln 1975) Göttingen 21990.
Tübingen
Hermann Bausinger
Volkserzählung, Oberbegriff für die wichtigsten Erzählgattungen der Volksüberlieferung wie J Märchen, J Sage, J Legende, J Schwank, J Witz, J Anekdote etc. Bezeichnet wird also einerseits eine bestimmte Gruppe der Prosagattungen der J Volksdichtung; andererseits rückt die V. mitunter als Oberbegriff für die unterschiedlichen Prosaerzählgattungen und als Sammelbegriff für künstlerische Prosaformen vor- und außerliterar. Tradition (J Lit. und V.) auf dieselbe hierarchische Ebene wie die Volksdichtung. Nicht eingeschlossen sind erzählende Versformen (wie z. B. J Volkslied, episches Lied, J Ballade, J Moritat, J Bänkelsang etc.). Ähnliche Begriffe
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Volkserzählung
wie V. finden sich ⫺ mitunter im Umkreis von breiter angelegten Termini wie Volksliteratur, die auch nichterzählende Formen der Volksdichtung meint ⫺ in anderen Sprachen (z. B. engl. folk narrative, ndl. volksverhalen); in vielen Sprachen (bzw. in der entsprechenden Forschung) fehlt jedoch eine vergleichbare Bezeichnung. In der Forschungsgeschichte hat sich weder eine klare Definition der V. noch eine verbindliche Abgrenzung von verwandten oder ähnlichen Begriffen des Erzählens herausgebildet. Einzig die tschech. Folkloristik hat den Begriff aus der dt. Erzählforschung direkt und früh übernommen (lidove´ vypra´veˇnı´)1, auch wenn tschech. Folkloristen später eher die Benennungen für einzelne Erzählgattungen verwendeten. Der Parallelbegriff Volksprosa bzw. ,epische Volksdichtung‘ ist vor allem in der osteurop. Forschung verbreitet; und bemerkenswerterweise herrschten auch in der DDRFolkloristik, die im allg. neuer Terminologie gegenüber aufgeschlossen war, die alten Begriffe (bes. Volksdichtung, aber auch Volksprosa bzw. die eingebürgerten Gattungsbezeichnungen wie Sage, Märchen, Schwank etc.) weiterhin vor2, während das Wort V. kaum gebraucht wurde. Relativ klar stellt sich das Verhältnis zwischen der V. und dem Bereich des J alltäglichen Erzählens dar. Anders als die V. ist jenes nur selten durch die traditionellen Gattungen des Erzählens erfaßbar und in der Regel nicht wie die V. in Slgen verschriftlicht. Die Frage nach der kollektiven (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein) oder der individuellen Realisierung als definitorischem Merkmal ist für die V. bisher nicht systematisch gestellt worden. Im Dt. Wb. der Brüder J Grimm wird V. als ,volksthümliche Erzählung‘ bestimmt3. Im Deutschen sind Komposita mit dem Bestandteil ,Volks-‘ seit Beginn des 19. Jh.s verbreitet. Sie hängen eng mit dem dt. Volksbegriff 4 zusammen (J Volksbuch, Volksdichtung, Volkslied, Volksmärchen; cf. auch J Folklore, Folkloristik)5; der Terminus V. wirkt demgegenüber als fachspezifischer Terminus ideologiefrei. In den dt. Publ.en der Zwischenkriegszeit hat man die Gattungen (Märchen, Sage, Legende, Schwank etc.) eher getrennt dargestellt oder (auch später) das Wort Volksdichtung als Sammelbegriff benutzt.
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C. W. von J Sydow ordnete in seiner einflußreichen Skizze Kategorien der Prosa-Volksdichtung die Gattungen nach zoologisch-botanischem Muster an6: Märchen und Sage, Fabel und Fiktion werden als Teile eines Gattungssystems kategorisiert, der Terminus V. dabei aber nicht gebraucht. Auch in Popular Prose Traditions and Their Classification geht von Sydow nicht auf den Begriff ein, sondern spricht kommentarlos von ,traditional tales‘ und ,natural tradition groups‘7. Von Sydow reflektierte die Theorie der J Einfachen Formen von A. J Jolles. Die dt. Erzählforschung hat diese Theorie der Erzählformen weitergeführt8. K. Wagner verstand unter V. jedoch keine abstrahierten, textlich faßbaren Formen, sondern Formen des mündl. Erzählens9. In seinem Überblick faßte A. Spamer die traditionellen Gattungen unter der Bezeichnung V. zusammen10. Ende der 1950er Jahre etablierte K. J Ranke die Bezeichnung V., so im Titel des Kongresses in Kiel und Kopenhagen (1959), als ,neutralen und vielbedeutenden‘ Begriff für die sich damals entwickelnde internat. Forschung11. 1959 wurde die Hauptstelle für dt. Erzählforschung (gegründet 1936) unter der Benennung Zentralarchiv der dt. V. in das neugegründete Marburger Inst. für mitteleurop. Volksforschung eingebunden. Der Terminus fand auch in die Bezeichnung der 1962 gegründeten Internat. Soc. for Folk Narrative Research Eingang. Beim Kongreß in Kiel und Kopenhagen wurde der Begriff jedoch weder definiert noch diskutiert12. M. Hain hat in ihrem Forschungsbericht (1971) V. als gattungsübergreifenden Oberbegriff eingeführt13. Auch in jüngeren Publ.en wird der Terminus häufig übergreifend verwendet14. Er taucht in den volkskundlichen Hbb. mehr oder weniger regelmäßig auf. Die Verwendung der Bezeichnung V. für verschiedene Sachverhalte und die Definitions- und Abgrenzungsprobleme blieben jedoch zumeist ohne Einfluß auf die eigentliche Gattungsbetrachtung und -beschreibung. Obwohl die Benennung als V. die Bedeutung des Erzählens, also die lebendige Überlieferung, betont, verblieb diese weiterhin im Rahmen der theoretischen Oppositionen (z. B. zwischen Märchen und Sage: ,poetisch‘ bzw. ,realistisch‘, ,zeit- und ortlos‘ bzw. ,zeit- und ortsbestimmt‘ etc.). Wichtig in diesem Zusammen-
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Volkserzählung und Literatur ⫺ Volkslied
hang ist H. J Bausingers Unterscheidung zwischen ,Sprachformeln‘, zu denen er Sprichwort, Spruch, Rätsel und Witz rechnet, und ,Erzählformen‘, die hier die eigentlichen Erzählgattungen Märchen, Sage, Legende, Schwank, Anekdote etc. erfassen15. Die Bezeichnung V. dient in Publ.en von Volksdichtung als einfache, funktional verstandene Benennung für Märchen, Sagen etc.16. In Sammelbänden umfaßt der Begriff alle Themenbereiche der Veröffentlichung. So stellt L. J Schmidt eine Geschichte der Volkserzählforschung dar, ohne jedoch V. näher zu bestimmen. V. ist hier das Produkt der Lebensweise einer Volkskultur17. In einigen Publ.en überschneidet sich der Begriff V. mit Volksbuch oder J Trivialliteratur. Aus hist. Perspektive können alle Texte, die für die Erzählforschung bedeutsam sind, als V. bezeichnet werden18. 1
cf. Benesˇ, B.: K typologii lidove´ho vypra´veˇnı´ (Zur Typologie der V. ). In: Slovensky´ na´rodopis 24 (1976) 347⫺356. ⫺ 2 cf. z. B. Sirova´tka, O.: Neˇktere´ ota´zky studia lidove´ pro´zy (Einige Fragen zum Stuˇ L 47 (1960) 68⫺71; Ba˘ldium der Volksprosa). In: C garska narodna poezija i proza 1⫺7. Sofia 1981⫺83; Etnografija na Ba˘lgarija 3 (1985) pass.; Röhrich, L.: Erzählforschung. In: Brednich, R. W. (ed.): Grundriß der Vk. Ffm. 32001, 515; Strobach, H. u. a. (edd.): Dt. Volksdichtung. Lpz. 21987, 5⫺27. ⫺ 3 DWb. 26 (1951) 479. ⫺ 4 cf. z. B. Freudenthal, H.: Wiss.stheorie der dt. Vk. Hannover 1955, bes. 133⫺ 164. ⫺ 5 cf. Kaindl, R. F.: Die Vk. Ihre Bedeutung, ihre Ziele und ihre Methode. Lpz./Wien 1903, 19⫺ 28; Brückner, W.: Vk. kontra Folklore im Konversationslex. seit 1887. In: id.: Kultur und Volk. Begriffe, Probleme, Ideengeschichte. Würzburg 2000, 237⫺ 248; id.: ,Vk.‘ im Spiegel der Konversationslexika. ibid. 249⫺278. ⫺ 6 Sydow, C. W. von: Kategorien der Prosa-Volksdichtung [1934]. In: von Sydow, 60⫺ 88; cf. Peuckert, W.-E.: Das Erzählen des Volkes. In: id./Lauffer, O.: Vk. Qu.n und Forschungen seit 1930. Bern 1951, 123⫺129, bes. 123⫺126. ⫺ 7 Sydow, C. W. von: Popular Prose Traditions and Their Classification [1938]. In: von Sydow, 127⫺145, hier 128 sq. ⫺ 8 Ranke, K.: Einfache Formen. In: Kongreß Kiel/Kopenhagen, 1⫺11. ⫺ 9 Wagner, K.: Formen der V. In: Volkskundliche Ernte. Festschr. H. Hepding. Gießen 1938, 150⫺260. ⫺ 10 cf. Spamer, A.: Die V. In: Germ. Philologie. Festschr. O. Behaghel. Heidelberg 1934, 445⫺457 (zu Märchen und Schwank); id. (ed.): Die dt. Vk. 2. Lpz. 21935, 453 und Anh., 38 sq. ⫺ 11 Kongreß Kiel/Kopenhagen. ⫺ 12 cf. auch Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968 (nur in zwei von 29 der Abteilung ,V.‘ zugeordneten
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Beitr.en wird der Begriff V. erwähnt). ⫺ 13 Hain, M.: Die V. Ein Forschungsber. über die letzten Jahrzehnte (etwa 1945⫺1970). In: DVLG 45, Sonderheft (1971) 243*⫺274*, bes. 268*⫺274*. ⫺ 14 cf. z. B. Schenda, R.: V. und Sozialgeschichte. In: Confronto letterario 1,2 (1984) 265⫺279. ⫺ 15 Bausinger (21980) 95⫺149, 150⫺237. ⫺ 16 cf. z. B. de Vries. ⫺ 17 Schmidt, L.: Die V. Märchen, Sage, Legende, Schwank. B. 1963, 13⫺20; id. (ed.): Wunder über Wunder. Gesammelte Schr. zur V. Wien 1974. ⫺ 18 cf. z. B. Brückner.
Budapest
Vilmos Voigt
Volkserzählung und Literatur J Literatur und Volkserzählung
Volksetymologie J Etymologie
Volkslied 1. Definition und Charakteristik ⫺ 2. Erzähllied ⫺ 3. Qu.n und Zeugnisse ⫺ 4. Sammlung und Erforschung ⫺ 4.1. Romantik ⫺ 4.2. Textphilol. und hist. V.forschung ⫺ 4.3. Empirische V.forschung ⫺ 4.4. 20. Jh.
1 . D ef in it io n u nd Ch ar ak te ri st ik. Die Bezeichnung V. umfaßt die heterogenen Erscheinungen des populären Singens im textlichen wie musikalischen Bereich vom einfachen Kinderlied bis zum popularisierten Kunstlied seit der Frühzeit bis zur Gegenwart. Unter der Bezeichnung sind nach Inhalt, Funktion, Alter und Herkunft zu unterscheidende Lieder subsumiert, die Stilmerkmale der mündl. Überlieferung aufweisen und von Einzelpersonen oder einer Gruppe gesungen werden. Ein V. ist demnach jedes einfache Lied, das mit einer eingängigen Melodie verbunden ist, über einen längeren Zeitraum hinweg überliefert und als Allgemeinbesitz betrachtet wird. Der folgende Artikel behandelt das Phänomen V. paradigmatisch für den dt.sprachigen Bereich. Sprache und Satzbau des V.s sind einfach und schließen sich der Strophengliederung an. Die häufigste Strophenform des dt. V.s ist die vierzeilige, aus der dt. ma. Heldenepik (Hildebrandston) hervorgegangene Strophe mit Drei-, z. T. auch Viertaktern, Kreuzreim und
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Volkslied
weiblich-männlich wechselnder Kadenz (sog. V.strophe); Verwendung findet diese Strophenart hauptsächlich in Volksballaden1. Obwohl Text und Melodie ein Ganzes bilden und die meisten V.er mit ein und derselben Melodie verbreitet sind, muß diese nicht permanent an einen bestimmten Text gebunden sein, sondern kann von Lied zu Lied wandern, wobei sie dem jeweiligen Inhalt angepaßt wird2. Vielfach entstehen V.er durch Unterlegung eines Textes mit einer populären Melodie (bes. Kinder-, Soldaten-, hist.-politische Lieder). V.er sind in der Regel Schöpfungen eines einzelnen bzw. eines Dichters und eines Komponisten. Wenngleich weitgehend von der jeweils zeitgenössischen Dichtung und Musik beeinflußt, ist das V. keine konstante, auf eine bestimmte kulturelle Epoche fixierbare Größe, sondern unterliegt der Verzahnung zwischen mündl. Überlieferung, literar. und musikalischen Strömungen sowie gesellschaftlichen Verhältnissen. Hauptmerkmal des V.s ist die Tendenz zur textlichen und musikalischen Umstilisierung des Individualliedes als Ergebnis kollektiver Aneignung und Tradierung (Popularisierung, Folklorisierung; J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Bei längerem Umlauf unterliegen die Lieder mehr oder weniger starken Wandlungen. Die häufigsten Umgestaltungen sind formaler Art: Textkürzung, seltener -erweiterung, Strophenumstellung, Vereinfachung unbekannter Wörter und Namen, Wiederholung und Refrainbildung (J Formelhaftigkeit, Formeltheorie). Änderungen inhaltlicher Art bestehen in: Tilgung von Eigennamen sowie des lyrischen Ichs, J Stereotypisierung des Individuellen, Anpassung von Figuren an nationale Kontexte (J Lokalisierung), Hinzufügung neuer Strophen bei stofflicher Analogie oder Ähnlichkeit der Melodie, Vermischung von Liedern ähnlichen Inhalts, gleichen Metrums oder gleicher Melodie, Aufnahme sprichwörtlicher Redensarten3 und formelhafter Incipits (Symbolzeilen, Wanderstrophen4; cf. J Wandermotive), Anpassung an die politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Verhältnisse oder deren Persiflierung (J Parodie). V.er werden von der Forschung nach Inhalt, Singanlaß oder Liedträgern differenziert (in neuerer Zeit: Liebeslied, Heimatlied, Wanderlied, Trinklied, Soldatenlied, Jägerlied, Weih-
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nachtslied etc.)5. Die einzelnen Gattungen haben unterschiedlich starke Neigung zur Kontinuitätsbildung. So sind z. B. Gassenhauer, Schlager, Flugblatt- (Zeitungs-) oder hist. Ereignislieder relativ kurzlebig, können aber aktualisiert werden (Rahmenlieder)6. Im ZA. moderner Medien hat sich die Adaptions- und Rezeptionsphase von Liedern im Vergleich bis zur Mitte des 20. Jh.s deutlich verkürzt. Da nur wenige V.er über Generationen hinweg bekannt sind, existiert das V. ,an sich‘ nicht7. Obwohl das V. in den Medien erfolgreich kommerzialisiert wird8, wirkt es heute antiquiert9. V.er sind wie andere Texte der Volksüberlieferung einem Wandel unterworfen. Zugleich ist ihre thematische Bandbreite recht stabil: Die V.er aller Kulturen beinhalten Grundthemen des menschlichen Daseins (Leben, Liebe, Familie, Heimat, Trennung, Abschied, Tod) je nach religiösem und kulturellem Umfeld in spezifischer Sichtweise. Häufig findet sich eine kontrastive Darstellung (J Dichotomie). Zwischen V.ern verschiedener Ethnien liegen vielfach typol. und motivische Ähnlichkeiten vor. Vor allem durch Kolonialisierung und Auswanderungswellen10, aber auch durch andere J interethnische Beziehungen wurden zahlreiche V.er über ethnische Grenzen hinaus verbreitet11. Ab ca 1830 zogen Sängerfamilien und Musikanten durch ganz Europa (z. B. Salontiroler12) und verbreiteten die Lieder und Folklore ihrer Heimat. Seit dem frühen 20. Jh. übernahmen dies Musikkapellen13. In der 2. Hälfte des 20. Jh.s erfolgte die Vermittlung von V.ern auch durch bekannte Interpreten (Heino, Elvis Presley14, Mireille Matthieu) oder Personen des öffentlichen Lebens. Seit Mitte der 70er Jahre expandierte (als Gegenbewegung zur Beat-Welle) die zunächst in TVSeniorenprogrammen (z. B. Musikantenstadl) angesiedelte Volksmusikszene, bei der Interpreten in Trachten- oder ähnlichen Kostümen mit Schlagern vor einer folkloristisch zusammenmontierten Heimatkulisse auftreten. Diese kommerzielle (Pseudo-)Volksmusik, die den Sendern hohe Einschaltquoten sichert, hat den Grand prix der Volksmusik hervorgebracht15. Eine überaus bedeutsame Rolle kam dem V. in den als ,Singende Revolution‘ bezeichneten nationalen Bewegungen in den balt. Ländern
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(1987⫺92) zu, die zu deren staatlicher Unabhängigkeit führten16. 2 . E rz äh ll ie d. Unter allen Liedgattungen des V.s nimmt das Erzähllied (J Ballade) mit seinen Stoff- und Motivanalogien zu Sage, Legende, Schwank und Märchen den breitesten Raum ein17. Die meisten Parallelen weist die Volksballade zur Sage auf (z. B. ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln; Wilhelm J Tell; J Tannhäuser; J Räuber, Räubergestalten; AaTh/ATU 365: J Lenore) , die geringste zum Märchen18 (z. B. AaTh/ATU 311, 312: J Mädchenmörder19). Schwankballaden bzw. Schwänke in Liedform vermitteln komische Erzählstoffe20. Motive und Themen der ma. Heldenepik und spätma. Volksballaden begegnen als sog. J Schwundstufen im Küchenlied des 19. Jh.s, im Soldatenlied, im Handwerkerlied, im erotischen Stammtischlied21 oder im Kinderlied (J Kinderfolklore)22. In der Gegenwart werden Balladenthemen und -motive in Schlager, Folksong und Chanson adaptiert, so wie das einst verbreitete Rätsellied (cf. z. B. AaTh/ATU 927: J Halslöserätsel)23 im 19. Jh. vom volkstümlichen Kinderlied abgelöst wurde („Ein Männlein steht im Walde“). Die folgende Zusammenstellung führt exemplarisch traditionelle Erzählstoffe aus dem dt.sprachigen Raum auf: E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Aus w. ) 2 4: Erk/ Böhme, num. 1 ⫽ Wassermann (J Wassergeister). ⫺ 8 ⫽ AaTh/ATU 780: J Singender Knochen. ⫺ 9 ⫹ 10 ⫽ AaTh/ATU 407: J Blumenmädchen. ⫺ 11 ⫽ AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue ⫹ J Pfaffenköchin. ⫺ 12 ⫽ J Wechselbalg. ⫺ 14 ⫽ ATU 570*: Rattenfänger von Hameln. ⫺ 26 ⫽ Heinrich der Löwe (ATU 156 A: J Löwentreue). ⫺ 30 ⫽ Dollinger. ⫺ 32 ⫽ Wilhelm Tell. ⫺ 50 ⫽ AaTh/ATU 939 A: J Mordeltern. ⫺ 52 ⫹ 53 ⫽ AaTh/ATU 311, 312: Mädchenmörder. ⫺ 55 ⫽ cf. J Genovefa. ⫺ 56 ⫽ AaTh/ATU 765, 781: J Kindsmörderin. ⫺ 65 ⫽ cf. AaTh/ATU 927: Halslöserätsel. ⫺ 145 ⫽ Mann, der an einem Seil ins Zimmer einer Frau gezogen werden will, wird öffentlichem Spott preisgegeben (Mot. K 1343.1; J Vergil), aus Rache bringt er sie in ein Freudenhaus. ⫺ 149 ⫽ AaTh/ATU 1359 B: cf. J Ehebruchschwänke und -witze. ⫺ 152 ⫽ AaTh/ATU 1355 A: cf. J Herr über uns. ⫺ 153 ⫽ AaTh/ATU 1440: Das unterschobene J Tier. ⫺ 163 ⫹ 165 ⫽ AaTh/ATU 65: J Freier der Frau Füchsin. ⫺ 187 ⫽ AaTh/ATU 980: Der undankbare J Sohn. ⫺ 197 ⫽ AaTh/ATU 365: Lenore. ⫺ 209 ⫽ cf. AaTh/ATU 751 G*: Bread Turned to Stone. ⫺ 213 ⫽ AaTh/ATU 710: J Marienkind. ⫺
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214 ⫽ Grenzsteinverrückung (J Frevel, Frevler). ⫺ 217 ⫹ 218 ⫽ Sonntagsfrevel. ⫺ 219 ⫽ Pfaffenköchin. ⫺ 220 ⫽ J Faust25. ⫺ 334 ⫽ J Alter Fritz26. ⫺ 1098⫺1117 ⫽ J Verkehrte Welt27. ⫺ 1398 ⫽ AaTh/ATU 927: Halslöserätsel. ⫺ 1760 ⫽ J Adam und Eva. ⫺ 2086⫺2089 ⫽ J Michael. ⫺ 2090 ⫽ J Petrus, Hl. ⫺ 2091 ⫽ J Jakobspilger. ⫺ 2096 ⫽ AaTh/ATU 768: J Christophorus. ⫺ 2097⫺2099 ⫽ J Georg, Hl. ⫺ 2101 ⫽ J Martin von Tours, Hl. ⫺ 2102 ⫽ J Nikolaus, Hl. ⫺ 2104 ⫽ J Johannes von Nepomuk, Hl. ⫺ 2013⫺2014 ⫽ J Odilia, Hl. ⫺ 2115 ⫽ J Maria Magdalena. ⫺ 2116⫺2119 ⫽ J Katharina von Alexandrien, Hl. ⫺ 2120 ⫽ J Dorothea, Hl.; J Theophilus. ⫺ 2130⫺2132 ⫽ AaTh/ATU 2340: J Kartenspiel. DVldr, num. 1 ⫽ Jüngeres Hildebrandslied (J Vater-Sohn-Motiv). ⫺ 2 ⫽ J Dietrich von Bern. ⫺ 3 ⫽ AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes. ⫺ 6 ⫽ cf. AaTh/ATU 1542: J Peik. ⫺ 9 ⫽ J Tristan und Isolde. ⫺ 10 ⫽ J Herzog Ernst. ⫺ 11, 12 ⫹ 13 ⫽ J Alexius; AaTh/ATU 974: J Heimkehr des Gatten. ⫺ 14 ⫽ AaTh/ATU 888: Die treue J Frau. ⫺ 15 ⫽ Tannhäuser. ⫺ 16 ⫽ AaTh/ATU 992: J Herzmäre. ⫺ 19 ⫽ ATU 899 A: J Pyramus und Thisbe. ⫺ 20 ⫽ AaTh/ATU 666*: J Hero und Leander. ⫺ 39 ⫽ ATU 779 E*: J Tänzersage. ⫺ 41 ⫽ AaTh/ATU 311, 312: Mädchenmörder. ⫺ 38 ⫽ AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline. ⫺ 51 ⫽ AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter. ⫺ 66 ⫽ J Elisabeth, Hl. ⫺ 2, 90 sq. ⫽ J Berta. ⫺ 72 ⫽ Die wiedergefundene Schwester (J Erkennungszeichen, Kap. 4). ⫺ 80, 82 ⫽ Drei Hexen (J Herz). ⫺ 85 ⫽ AaTh/ATU 939 A. ⫺ 95 ⫽ Königstochter im Heeresdienst (cf. J Frau in Männerkleidung). ⫺ 98 ⫽ AaTh/ATU 888: Frau: Die treue F. ⫺ 104 ⫽ Genovefa. ⫺ 105 ⫽ cf. Genofeva. ⫺ 122 ⫽ AaTh/ATU 769: J Tränenkrüglein. ⫺ 123 ⫽ AaTh/ATU 980: Sohn: Der undankbare S.
3 . Q u. n u nd Ze ug ni ss e. Das V. der Antike und des MA.s ist nur indirekt, durch überlieferte Bezeichnungen (Antike: cantica poetarum vulgarium, rustica carmina; MA.: musica vocalis usualis, cantus vulgi, vulgares cantilenae, carmina diabolica, cantica rustica, psalmi plebei; winileod, scofleod liet, liod, leich, lais) sowie durch Sekundärquellen und -schriften belegt, da V.er nur aufgezeichnet wurden, wenn sie in andere Musiktraditionen (geistliche Musik, Minnesang) eingingen. Als Nachweise dienen daher Kontrafakturen in Gesangbüchern und Repertoire-Hss. von Minnesängern28. Frühe Qu.n sind die Lieder der Carmina burana (1225/30), über deren Wirkung jedoch wenig bekannt ist29, und bes. die Mondsee-Wiener Hs. (14. Jh.) mit Gesängen des Mönchs von Salzburg (z. B. „Joseph, lie-
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ber Joseph mein, hilf mir wiegen mein Kindelein“)30. Die durch Aufzeichnungen gesicherte Überlieferung des V.s beginnt erst im 15./ 16. Jh. mit den Liederhandschriften bürgerlicher Kreise sowie dem J Lieddruck. Weitere Zeugnisse der Epoche sind geistliche Kontrafakturen aus der Zeit der Reformation und Gegenreformation sowie sekundäre Qu.n (Predigten, Traktate, Urkunden, Zensurbestimmungen). In den schreib- und lesekundigen Gesellschaftsschichten wurden im MA. und Spätmittelalter (Klerus, Adel, städtisches Bürgertum des 15./16. Jh.s; Scholaren, Studenten) sowie seit dem 19. Jh. (Soldaten, Seeleute, Handwerksburschen) Liederhandschriften gepflegt31. Obwohl sie selten traditionelle V.er enthalten, sondern eher neue, seltene oder schwer zugängliche Texte, die dem Schreiber gefielen oder etwas bedeuteten32, offenbaren diese privaten Slgen ein realistischeres Bild der populären Liedkultur als gedruckte, der Zensur oder den Präferenzen von Herausgebern unterliegende Liederbücher. Je nach Epoche, Gesellschaftsschicht, Alter und Nutzungszweck umfassen Liederhandschriften ein sehr unterschiedliches Repertoire. So unterscheiden sich die Studentenhandschriften des 17./ 18. Jh.s mit Rokokolyrik, Schäferliedern, anakreontischen Liedern und erotischen Liebesliedern etc. (Sperontes’ Singende Muse an der Pleiße. Lpz. 1736⫺47) wesentlich von den Soldatenhandschriften des 18./19. Jh.s, die neben Soldaten- und Kriegsliedern unter anderem hist.-politische Lieder, Soldatenklagen (J Klagen) und Abschiedslieder enthalten33, oder von Mädchen- und Frauenliederhandschriften mit vorwiegend lyrischen Texten sowie Liebesliedern34. Aus dem 15./16. Jh. liegen Hss. in dt. Sprache vor, die als zuverlässige Qu.n für V.er angesehen werden können35. Aus dem 17. Jh. sind nur wenige solcher Hss. bekannt36; bes. Johannes Werlins Liederbuch (1646) aus dem Kloster Seeon enthält zahlreiche geistliche und weltliche Lieder37. Die Hss. des 18. Jh.s stammen in der Hauptsache aus studentischen Kreisen38. Erst im 19. Jh. kam es zu einem enormen Anstieg an individuellen Liedersammlungen39. Mit der Erfindung des Buchdrucks wurden nicht nur Fixierung und visuelle Aufnahme sowie rasche und weite Verbreitung von V.ern
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ermöglicht, sondern V.er wurden auf diesem Wege auch kommerzialisiert und dienten der Beeinflussung bestimmter Gruppen von Rezipienten, bes. durch religiöse und politische Propaganda (J Vermittlung). Mündl. Überlieferung und neugeschaffene, durch Medien popularisierte Überlieferung verlaufen seither parallel40 und befruchten sich gegenseitig. Stoffe und Motive ma. Heldenepen, der J Spielmannsdichtung und des Minnesangs sowie deren bildhafte Sprache (Blumenmetaphorik; Farbensymbolik) sind bis heute im V. überliefert41 (obgleich viele stereotype Wendungen zur weitgehend unverstandenen Formel erstarrt sind)42. Darüber hinaus kam es seit dem 19. Jh. zu einer wellenförmigen Repopularisierung älterer Lieder, sowohl in Slgen aus der Romantik43 als auch durch die Wandervogel- und Jugendbewegung um die Wende zum 20. Jh. (F. Jöde, W. Hensels Finkensteiner Bund)44 bis hin zur Verbreitung durch die elektronischen Medien der Gegenwart45. 4 . S am ml un g u nd Er fo rs ch un g. Die Geschichte der V.forschung ist im 19. Jh. eng mit der Geschichte der Philologie verbunden. Allg. sind drei Phasen zu differenzieren: die romantische, die textphilol. und hist. sowie die empirische V.forschung. 4 .1 . Rom an ti k. Inspiriert von James Macphersons J Ossian-Dichtungen und Thomas J Percys Reliques of Ancient English Poetry, begann Johann Gottfried J Herder in der 2. Hälfte des 18. Jh.s mit der Sammlung von V.ern. Herder war es auch, der 1773 die Bezeichnung V., die Lehnübersetzung von engl. popular song, als Gegensatz zur Kunstdichtung prägte46. In der zweibändigen Anthologie V.er (Lpz. 1778/79), die ins Deutsche übersetzte Lieder als nationale und ethnische Identitätsträger der meisten europ. Nationen enthält, ist seine noch vage V.konzeption erkennbar. Diese ist dem Gedankengut einer Zeit verpflichtet, in der das ,Volk‘ als Kulturträger entdeckt wurde und das von den Ideen epochemachender Sprach-, Natur- und Geschichtsphilosophen geprägt war (Jean-Jacques Rousseau, Johann Georg Hamann, Friedrich Carl von Savigny): Herder versteht unter V.ern sowohl die Lieder ,wilder‘ Völker und solche der Unterschichten zivilisierter
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Völker (jedoch nicht des ,Pöbels‘) als auch die in Anlehnung an deren Natürlichkeit und Ursprünglichkeit entstandenen Lieder literar. Ursprungs; er unterscheidet also nicht grundsätzlich zwischen Dichtung und V.47 Seinem Ideal konnte Herder selbst nur ansatzweise entsprechen: Von J Goethes elsäss. Balladenaufzeichnungen48 und wenigen Liedern aus mündl. Überlieferung abgesehen, enthält die Slg vorwiegend Texte aus älteren literar. Qu.n (weshalb J Musäus Herder als ,Volksliedler‘ und Kompilator alter Kalendergeschichten verspottete49). Mit seiner diffusen Begriffsbestimmung rief Herder bei den Zeitgenossen einen lebhaften Streit um Bedeutung und Wert des V.s hervor, der sich zwischen begeisterter Zustimmung der jungen Dichtergeneration (Göttinger Hain; Gottfried August J Bürger50; J Sturm und Drang) und strikter Ablehnung durch die Aufklärer (F. D. Gräter, Musäus, F. Nicolai51) bewegte, auf jeden Fall aber dazu beitrug, daß sich die Wortprägung V. relativ schnell verbreitete52. Bereits im frühen 19. Jh. wurde der Begriff ⫺ mit seinem ursprünglich internat. Ansatz ⫺ von der jungen Dichter- und Gelehrtengeneration, welche die kulturelle Vergangenheit des eigenen Volkes im politischen Kontext um 1800 für sich entdeckte, auf das dt.sprachige (alte) Lied eingeengt. Die Auffassung von J Volksdichtung als J Naturpoesie und Nationaldichtung, wie sie u. a. durch die Brüder J Grimm vertreten wurde, sollte die Sammlung und Erforschung des V.s lange Zeit prägen. Bes. Bedeutung kommt hierbei Achim von J Arnims und Clemens J Brentanos Slg Des Knaben Wunderhorn (Heidelberg 1805⫺ 08) zu. Ihr liegt der erste große Sammelaufruf zugrunde (5000 Einsendungen), an welchem sich u. a. die Brüder Grimm53, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Justinus J Kerner beteiligten. Doch enthält das Werk kaum mündl. Aufzeichnungen (als Qu. dienten bes. Liedflugschriften) und ist mit der Redaktion seiner Texte stark vom individuellen Stil seiner Herausgeber geprägt54. Seit H. J Röllekes Edition (Stg. 1975⫺78) herrscht Klarheit darüber, daß das Wunderhorn nicht als Slg von V.ern, sondern als Anthologie von teilweise stark überarbeiteten Liedern und Individualdichtungen aufgefaßt werden muß.
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Im 19. Jh. entwickelte sich europaweit ein starkes Interesse an populärer Überlieferung55. Bereits aus der 1. Hälfte des Jh.s stammen österr. und schweiz.56 sowie griech.57 und schwed. V.sammlungen58. Um die Jh.mitte wurde die früheste amtliche Sammelaktion innerhalb Europas in Frankreich durchgeführt59; T. Hersart de La Villemarque´60 und J. Tiersot61 betonten Herders Verdienste und beriefen sich auf die Brüder Grimm. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s entstanden in ganz Europa bedeutende Publikationen62, u. a. F. J. J Childs Slg engl. und schott. Balladen63. 4 .2 . Tex tp hi lo l. un d h is t. V. fo rs ch un g. Während die frühe V.bewegung der Vorromantik und Romantik von liedästhetischen Vorstellungen (Anciennität, Dignität und Oralität als wesentliche Kennzeichen des V.s) geleitet war64 und sich bes. mit dem alten, vornehmlich gedr. Qu.n entnommenen Lied befaßte, begann Mitte des 19. Jh.s mit den Slgen und Arbeiten von Hoffmann von Fallersleben65, F. W. Freiherr von Ditfurth66, K. J Simrock, L. Erk, E. H. J Meier und R. Freiherr von Liliencron die textphilol. und hist. V.forschung (ca 1840⫺ca 1890)67. Neu sind die Hinwendung zur zeitgenössischen Liedkultur, Versachlichung der Sammelkonzeption, Aufzeichnung von Text- und Melodievarianten, Texttreue sowie beginnende Spezialisierung in einzelne Fachbereiche und Liedgattungen. Mit der Abhdlg Alte hoch- und ndd. V.er 1⫺2 (Stg. 1844/45), der ersten hist.-philol. Edition, legte Ludwig J Uhland den Grundstein für die textkritische Qu.nforschung, in deren Rahmen er durch Var.nvergleich die J Urform der V.er rekonstruieren wollte. Hoffmann von Fallersleben schuf mit seinem Herkunftsverzeichnis zahlreicher populärer Lieder vom MA. bis ins 19. Jh.68 die Basis für J. Meiers J Rezeptionstheorie. Der wichtigste dt. Sammler des 19. Jh.s ist der Musikpädagoge Erk69. Seine Slg stellt mit ca 30000 Belegen aus mündl. Überlieferung die größte Privatsammlung des dt.sprachigen Raums dar; auf ihrer Basis entstand der von F. M. Böhme edierte Dt. Liederhort 1⫺3 (Lpz. 1893/94), der zugleich eine textbezogene Klassifikation des V.s nach inhaltlichen und funktionellen Kriterien liefert, die bis ins 20. Jh. nachwirkte70. 4 .3 . E mp ir is ch e V.f or sc hu ng. Gegen Ende des 19. Jh.s wurden vor dem geistesge-
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schichtlichen Hintergrund des Positivismus und der Entwicklung der empirischen Wiss.en Wesen und Genese des V.s debattiert71. J. Pommer72 begründete die J Produktionstheorie (,Wiener Schule‘), die vom Ursprung des V.s im Volk ausging und damit romantische Vorstellungen wiederbelebte. Mit seiner Slg V.er von der Mosel und Saar (mit C. Köhler. Halle/Saale 1896), die mit bibliogr. Angaben zur Verbreitung der Lieder versehen ist und beispielgebend für regionale Slgen des 20. Jh.s wurde, setzte J. Meier neue Impulse für wiss. V.ausgaben. In seiner Schrift Kunstlieder im Volksmunde (Halle 1906), die im 2. Teil ein Herkunftsverzeichnis enthält, stellte er der Produktionstheorie seine Rezeptionstheorie entgegen, indem er anhand des textphilol. Var.nvergleichs grundsätzliche Prozesse beim Übergang von der Individualdichtung zum Kollektivlied (cf. auch J Zersagen, zersingen) aufzeigte73. Eine Parallele zu dieser Auseinandersetzung findet sich in der US-amerik. Diskussion um ,communal‘ (F. B. Gummere)74 und ,individual authorship‘ (L. Pound)75. Die vielfältigen Beziehungen zwischen der engl. und nordamerik. V.forschung hat D. K. Wilgus untersucht76. Meiers Primat der Schriftkultur, vor allem die strenge Auffassung vom ,Herrenrecht‘ der Sänger über die Lieder, entwickelte H. J Naumann in den 1920er Jahren zu seiner umstrittenen These vom J gesunkenen Kulturgut. Seit Ende des 19. Jh.s wurde europaweit die V.sammlung und -forschung institutionalisiert, z. B. in der engl. Folk-Song Soc. (1898), dem Österr. V.werk (1904), dem Schweiz. V.archiv (1906) und dem Dt. V.archiv (1914). Weitere Forschungszentren zum V. entstanden z. B. mit dem Svenskt Visarkiv in Stockholm, dem Glasbeno narodopisni insˇtitut (Inst. für Ethnomusikologie) in Ljubljana und der Institucio´n Mila´ y Fontanals in Barcelona. Darüber hinaus ist die V.forschung an vielen Vk.Inst.en in und außerhalb Europas beheimatet, denen vielfach ein Folklorearchiv angegliedert ist. Mit Hilfe von Aufrufen77 und einem Netzwerk von Mitarbeitern steuerten diese Einrichtungen die offizielle Sammelarbeit und konnten umfangreiche V.bestände zusammenführen. Auch Tonaufnahmen werden hier gesammelt (J Tonträger). Die internat. und vergleichende V.forschung ist das Arbeitsgebiet der
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Kommission für Volksdichtung innerhalb der Soc. Internat. d’Ethnologie et de Folklore (SIEF), die sich in ihrer mittlerweile 35 Bände umfassenden Publikationsreihe zunächst mit der Typisierung von Volksballaden befaßte, sich mittlerweile aber auch anderen thematischen Schwerpunkten zugewandt hat78. Von der V.forschung sind in der Folgezeit immer wieder theoretisch bedeutsame Impulse ausgegangen, die auf das Fach Vk. und somit auch auf die Erzählforschung ausgestrahlt haben. Mit der Edition Dt. V.er und ihre Melodien 1⫺4 (B. 1935⫺59), 5⫺9 (Fbg 1967⫺92), 10 (Bern u. a. 1996) setzte das Dt. V.archiv Maßstäbe für die kritische hist.-phil. Edition von Folkloretexten unter Einschluß ihrer internat. Parallelen (J Komparatistik). Die Entdeckung langlebiger älterer Liedtraditionen in J Reliktgebieten, bes. bei Auslandsdeutschen in Ost- und Südosteuropa (Gottschee, Wolga), führte zur Begründung der ,Sprachinsel‘-Forschung79, die später erheblicher Kritik ausgesetzt war80. J. Schwietering konzentrierte seine Feldforschungen und die Arbeiten seiner Schülerinnen und Schüler auf Funktion und Bedeutung des V.s in Singgemeinschaften (cf. J Biologie des Erzählguts; J Soziales Milieu)81. Der V.forschung in der ehemaligen DDR ist die Dokumentation von verschütteten demokratischen Tendenzen im Liedgut der werktätigen Bevölkerung zu verdanken82. Einflußreich war auch die von D.-R. J Moser vertretene Forschungsrichtung, die der Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation eine hohe Bedeutsamkeit für das geistliche V. zuschreibt83. 4 .4 . 2 0. Jh. Im 20. Jh. wurde das Dilemma des Herderschen Begriffs ⫺ so bes. die Implikationen der Bezeichnung ,Volk‘ und ihr unklarer Gebrauch ⫺ vielfach diskutiert84. In den 1960er Jahren betonte man den Konstruktcharakter des Terminus V.85 und plädierte für seine Ersetzung durch eine neutralere Bezeichnung (z. B. Gruppenlied, populares Lied)86. Neuere Interpretationsansätze konzentrieren sich auf das Subjekt (Liedträger Volk)87: essentieller Ansatz (W. Wiora)88, soziol. Ansatz (E. Klusen, H. J Strobach)89, funktionaler und Interaktionsansatz (Klusen)90, auf die Sänger orientierter Ansatz91, operationaler Ansatz (M. P. Baumann). Inzwischen ist die Begriffsdebatte zugunsten von J
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Kontextfragen92, der Untersuchung des V.s als publizistisches Medium und hist. Qu.93, der Entwicklung von Volks- und Populärmusik im ZA. der elektronischen Medien (Kölner Schule: Klusen, Schepping)94 sowie jüngerer Musikgattungen95 in den Hintergrund getreten. Zugleich wurde die V.forschung weiter ausdifferenziert. Es entstanden Fachrichtungen, die sich mit der Erforschung von Balladen (L. J Röhrich, R. W. J Brednich etc.), J Bänkelsang (L. J Petzoldt), hist.-politischem Lied96, geistlichem V. (Moser), Liedern in Volksbräuchen (H. Siuts),97 Kinderfolklore und Kinderlied98, Lieddrucken (Brednich)99 sowie neueren Forschungsbereichen wie Auswandererlied, Interethnizität100, sozialkritischem Lied (W. J Steinitz, Strobach), Volksmusik und Musikethnologie (W. Suppan, W. Salmen, H. Braun, W. Deutsch, G. Haid, Baumann, B. Bachmann-Geiser)101, empirischer Sozialforschung102 etc. befassen103. Die Edition und Kommentierung populärer Lieder bleibt auch nach dem vorzeitigen Abschluß der Freiburger Balladenausgabe eine zentrale Aufgabe der V.forschung104. 1
Moser, D.-R.: Metrik, Sprachbehandlung und Strophenbau. In: Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des V.es. 1⫺2. Mü. 1973/75, hier t. 2, 113⫺173. ⫺ 2 Seemann, E./Wiora, W.: V. In: Dt. Philologie im Aufriß 2. ed. W. Stammler. B. 21960, 349⫺396, hier 373 sq. ⫺ 3 Mieder, W. (ed.): Texte, Variationen, Parodien für die Sekundarstufe. Stg. 1980; id.: Sprichwort ⫺ Wahrwort? Studien zur Geschichte, Bedeutung und Funktion dt. Sprichwörter. Ffm. 1992, 87⫺102. ⫺ 4 Stückrath, O.: Dt. V.wanderstrophen. In: Euphorion 20 (1913) 8⫺38; LinderBeroud, W.: Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit? Unters.en zu Interdependenz von Individualdichtung und Kollektivlied. Ffm. u. a. 1989, 125⫺ 129. ⫺ 5 Röhrich, L.: Die Textgattungen des popularen Liedes. In: Brednich u. a. (wie not. 1) t. 1, 19⫺ 35. ⫺ 6 Sauermann, D.: Das hist.-politische Lied. ibid., 293⫺322, hier 314. ⫺ 7 Klusen, E.: Zur Situation des Singens in der Bundesrepublik Deutschland 1⫺2. Köln 1974/75. ⫺ 8 Köstlin, K.: Der Wandel der Deutung. Von der Modernität der Volksmusik. In: Volksmusik ⫺ Wandel und Deutung. Festschr. W. Deutsch. Wien 2000, 120⫺132. ⫺ 9 Moser, D.-R.: Kritik der oralen Tradition. Bemerkungen zum Problem der Lied- und Erzählungspopularisierung. In: SF 20 (1976) 209⫺221. ⫺ 10 Yoder, D.: Die V.er der Pennsylvanien-Deutschen. In: Brednich u. a. (wie not. 1) t. 2, 221⫺270; Bronner, W. J.: Die Rezeption von „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Mexiko und Kanada. In:
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Hochradner, T. (ed.): 175 Jahre „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ Salzburg 1994, 238⫺244 (zur Verbreitung in ca 200 Sprachen); Hailer-Schmidt, A.: „Hier können wir ja nicht mehr leben“. Dt. Auswandererlieder des 18. und 19. Jh.s. Marburg 2004; Hadamer, A.: Mimetischer Zauber. Die engl.sprachige Rezeption dt. Lieder in den USA 1830⫺1880. (Diss. College Park, Md. 2005) Münster u. a. 2008. ⫺ 11 Friedlaender, M.: Das Lied vom Marlborough. In: Zs. für Musikwiss. 6 (1923) 302⫺328; Müns, H.: Ausländische Musikanten in Mecklenburg im 18. und 19. Jh. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 32, N. F. 17 (1989) 129⫺143; Nehlsen, E.: Wilhelmus von Nassauen. Studien zur Rezeption eines ndl. Liedes im dt.sprachigen Raum vom 16. bis 20. Jh. Münster/Hbg 1993; Linder-Beroud, W.: „Gefangen in maur. Wüste“. Be´ranger in Deutschland. In: Chansons und Vaudeville. Gesellschaftliches Singen und unterhaltende Kommunikation im 18. und 19. Jh. ed. H. Schneider. St. Ingbert 1999, 261⫺282; cf. Stockmann, D.: Volks- und Popularmusik in Europa. Laaber 1992; Reinhard, U.: Türk. Musik. Ihre Interpreten in West-Berlin und in der Heimat. In: Jb. für V.forschung 32 (1987) 81⫺92. ⫺ 12 Widmaier, T.: Salontiroler. Alpiner Musikfolklorismus im 19. Jh. In: Cultures alpines/Alpine Kulturen. ed. R. Furter u. a. Zürich 2006, 61⫺72. ⫺ 13 id.: „Has anyone seen a German Band?“ Ein Music-hall-Song von 1907 als Dokument für die Arbeitswanderungen pfälz. Musikkapellen nach Großbritannien. In: Fremdheit ⫺ Migration ⫺ Musik. Festschr. M. Matter. Münster u. a. 2010, 273⫺283. ⫺ 14 id.: Muss i denn, muss i denn zum Städtele naus (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Hist.-kritisches Liederlex. (im Internet). ⫺ 15 cf. Frahm, E.: Zum Medien-Folklorismus. Die Volksmusikhitparade oder die öffentlichrechtliche Umschulung des Produzenten in seinem Kopf, während er Konsument ist. In: Bausinger, H./ Moser-Rath, E. (edd.): Direkte Kommunikation und Massenkommunikation. Tübingen 1976, 105⫺126, hier 110 sq.; id.: Boom im Musikantenstadel. Volksmusik: erinnerte Hoffnung? In: Schmitz, H. J. (ed.): Unter dem Musikteppich. Die Musiken der Alltagskulturen. Stg. 1992, 41⫺62; Rösing, H. (ed.): Musik der Skinheads. Die „Heile Welt“ der volkstümlichen Musik. Baden-Baden 1994; Braun, H.: Volksmusik. Kassel 21999, 122⫺128; Grabowski, R.: „Zünftig, bunt und heiter“. Beobachtungen eines Fans des volkstümlichen Schlagers. Tübingen 1999. ⫺ 16 Thomson, C.: The Singing Revolution. L. 1992. ⫺ 17 Kretzenbacher, L.: Jesuitendrama im Volksmund. Zum Thema der getreuen Frau in Ballade und Sage, auf dem Barocktheater und im Volksschauspiel. In: Volk und Heimat. Festschr. V. von Geramb. Graz 1949, 133⫺166; Seemann, E.: Zum Liedkreis vom „Heimkehrenden Ehemann“. In: Beitr.e zur Sprachwiss. und Vk. Festschr. E. Ochs. Lahr 1951, 168⫺ 179; cf. auch Taylor, A.: The Parallels between Ballads and Tales. In: Jb. der V.forschung 9 (1964) 104⫺115; Sirova´tka, O.: Stoff und Gattung ⫺ Volksballade und Volkserzählung. In: Fabula 9 (1967)
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Volkslied
162⫺168. ⫺ 18 Poser, H.: Märchenlieder. Boppard 1966; Karlinger, F.: Die Funktion des Liedes im Märchen der Romania. Salzburg 1968; Moser, D.R.: Märchensingverse aus mündl. Überlieferung. In: Jb. für V.forschung 13 (1968) 85⫺122; Leidecker, K.: Zauberklänge der Phantasie. Musikalische Motive und gesungene Verse im europ. Märchengut. Diss. Saarbrücken 1983; Just, G.: Magische Musik im Märchen. Unters.en zur Funktion magischen Singens und Spielens in Volkserzählungen. (Diss. Fbg 1990) Ffm. u. a. 1991; Schmidt, S.: Lieder in dt. und afrik. Märchen ⫺ ein Vergleich. In: ad marginem 75 (2003) 3⫺6. ⫺ 19 Röhrich, L./Brednich, R. W. (edd.): Dt. V.er. Texte und Melodien 1⫺2. Düsseldorf 1965/ 67, t. 1, 27⫺35, num. 1; DVldr, num. 41. ⫺ 20 Brednich, R. W.: Schwänke in Liedform. In: Gedenkschrift für Oberstudienrat i. R. Dr. phil. Paul Alpers. Hildesheim 1968, 69⫺90; id.: Schwankballade. In: id. u. a. (wie not. 1) t. 1, 157⫺203; Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977; Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm. 1979. ⫺ 21 Heiske, W.: Ständisches Umsingen im erzählenden V. In: Jb. für V.forschung 6 (1938) 32⫺52; Strobach, H.: Dt. Balladen als Arbeitslieder. In: 11. Arbeitstagung über Probleme der europ. Volksballade. ed. R. W. Brednich. Jannina 1981, 123⫺130; Linder-Beroud (wie not. 4) 104⫺124. ⫺ 22 Baader, U.: Kinderspiele und Spiellied 1⫺2. Tübingen 1979; cf. Pinon, R.: La Chanson de jeu et ses relations avec la matie`re e´pique. In: Fabula 2 (1959) 27⫺44; Dittmar, J.: Die dt. Ballade als Kinder(Spiel)lied. In: Ballads and Other Genres/Balladen und andere Gattungen. ed. Z. Rajkovic´. Zagreb 1988, 9⫺17. ⫺ 23 Suppan, W.: Rechtsgeschichte im V. ⫺ Rechtsgeschehen um das V. In: Festschr. B. Sutter. Graz 1983, 353⫺379. ⫺ 24 Siuts, H.: Volksballaden ⫺ Volkserzählungen. In: Fabula 5 (1962) 72⫺89, hier 78⫺84. ⫺ 25 Tille, A.: Die dt. V.er vom Doktor Faust. Halle 1890; Meier, J.: Die älteste V.ballade vom Dr. Faust. In: Jb. für V.forschung 6 (1938) 1⫺29. ⫺ 26 cf. Lüscher, W.: Friedrich d. Gr. im hist. V. Diss. Bern 1915; LinderBeroud (wie not. 4) 186⫺208. ⫺ 27 Müller-Fraureuth, C.: Die dt. Lügendichtungen bis auf Münchhausen. Halle 1881 (Nachdr. Hildesheim 1965). ⫺ 28 Ranke, F.: Zum Begriff „V.“ im ausgehenden MA. In: Mittlgen der schles. Ges. für Vk. 33 (1933) 100⫺ 129; Bose, F.: Zur Qu.nsituation für das V. des MA.s. In: Festschr. E. Pepping. B. 1971, 332⫺341; Elschek, O.: Der Qu.nwert älterer V.aufzeichnungen. In: Brednich u. a. (wie not. 1) t. 2, 501⫺515; Edwards, C. (ed.): Lied im dt. MA. Überlieferung, Typen, Gebrauch. Tübingen 1996. ⫺ 29 Bernt, G.: Carmina Burana. In: Verflex. 1 (21978) 1179⫺1186. ⫺ 30 März, C. (ed.): Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Tübingen 1999. ⫺ 31 Goedeke, K.: Grundriß zur Geschichte der dt. Dichtung aus den Qu.n 2. Dresden 1886, 23⫺44; Kopp, A.: Über ältere dt. Liederslgen. In: ArchfNSprLit. 121 (1908) 241⫺275; Meier, J.: Dt. und ndl. Volkspoesie. In: Grundriß der germ. Philologie. ed.
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H. Paul. Straßburg 21901/02, 1189⫺1191; Classen, A.: Liederbücher des 15. und 16. Jh.s. Münster u. a. 2001; cf. Röhrich, L.: V. In: RDL 4 (21984) 761⫺ 772, hier 761. ⫺ 32 Kvideland, R.: Das handgeschriebene Liederbuch zwischen mündl. und schriftl. Tradition. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 411⫺425, hier 422. ⫺ 33 cf. Schmid, C.: Das Liederbuch des Christian Badrut. In: Bulletin. Informationsblatt der Ges. für Volksmusik in der Schweiz […] (2009) 13⫺37. ⫺ 34 cf. Ziemann, J.: Zur Charakterisierung hs. Liederbücher. Die HL-Signaturen des DVAs in Freiburg i. Br. Magisterarbeit Fbg 1996. ⫺ 35 Petzsch, C.: Lochamer-Liederbuch. Mü. 1967; Curschmann, M.: Augsburger Liederbuch. In: Verflex. 1 (21978) 521⫺ 524; Frommann, K.: Das Münchener Liederbuch. In: Zs. für dt. Philologie 15 (1883) 104⫺126; Ranke, F.: Rostocker Liederbuch [Faks. nach der Hs. Mss. Phil. 100/2, Univ. Rostock]. Halle 1927 (Nachdr. Kassel 1987); Knor, I.: Das Liederbuch der Clara Hätzlerin als Dokument urbaner Kultur im ausgehenden 15. Jh. Halle 2008; Kopp, A.: Volks- und Gesellschaftslieder des 15. und 16. Jh.s 1. B. 1905; Brednich, R. W.: Die Darfelder Liederhs. 1546⫺1565. Münster 1976. ⫺ 36 Wohlfart, R.: Die Liederhs. des Petrus Fabricius, Kgl. Bibl. Kopenhagen, Thott 4 ∞841. Ein Studentenliederbuch aus dem frühen 17. Jh. Münster 1989; Kopp (wie not. 31) 269 (Liederbuch des Leipziger Studenten Christian Clodius, 1665⫺69). ⫺ 37 id.: Eine Liederhs. aus der zweiten Hälfte des 17. Jh.s. In: Archiv für Kulturgeschichte 1 (1903) 348⫺356; Hoffmann, D.: Die „Rhitmorum varietas“ des Johannes Werlin aus Kloster Seeon. (Diss. Augsburg 1992) Augsburg 1994. ⫺ 38 Brednich, R. W./Suppan, W.: Die Ebermannstädter Liederhs. Kulmbach 1972; Brednich, R. W.: Die Rastatter Liederhs. In: Jb. für V.forschung 13 (1968) 26⫺ 58; cf. Kopp, A.: Dt. Volks- und Studenten-Lied in vorklassischer Zeit. B. 1899. ⫺ 39 Kvideland (wie not. 32); Ziemann (wie not. 34). ⫺ 40 Brednich, R. W.: 75 Jahre dt.sprachige V.forschung. In: Burckhardt-Seebass, C. (ed.): V.forschung heute. Basel 1983, 7⫺18, hier 14; cf. Linder-Beroud (wie not. 4) 101⫺103. ⫺ 41 cf. z. B. Erk/Böhme 2, num. 371; Jöde, F. (ed.): Der Kanon. Wolfenbüttel 1959, 234; Röhrich/Brednich (wie not. 19) t. 2, 340⫺342, num. 36; DVldr, num. 125; Suppan, W.: „in der wyß, Wer ich ein edler Falcke“. Festschr. W. Wiora. Kassel u. a. 1967, 651⫺657; Rösch, G.: Kiltlied und Tagelied. In: Brednich u. a. (wie not. 1) t. 1, 483⫺550; Gerstner-Hirzel, E.: Das Kinderlied. In: Brednich u. a. (wie not. 1) t. 1, 293⫺967, hier 937 sq. ⫺ 42 Wulffen, B. von: Der Natureingang im Minnesang und frühem V. Mü. 1963; Röhrich, L.: Gebärde ⫺ Metapher ⫺ Parodie. Studien zur Sprache und Volksdichtung. Düsseldorf 1967. ⫺ 43 Classen, A.: Zur Rezeption ma. Dichtung im „Wunderhorn“. In: Lied und populäre Kultur 49 (2004) 81⫺101. ⫺ 44 Breuer, H. (ed.): Der Zupfgeigenhansl. Darmstadt 1909; Schlosser, H. D.: Das MA. im Lied dt. Jugendbewegungen. Vom „Zupfgei-
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Volkslied
genhansl“ zur „Ougenweide“. In: Jb. für V.forschung 30 (1985) 54⫺67. ⫺ 45 Röhrich, W.: V. In: Handlex. zur Lit.wiss. ed. D. Krywalski. Mü. 1974, 512⫺519, hier 516. ⫺ 46 Herder, J. G.: Oßian und die Lieder alter Völker. In: id.: Von dt. Art und Kunst. Hbg 1773, 5⫺62; id.: Sämmtliche Werke 5. ed. B. Suphan. B. 1891, 159⫺257, hier 160. ⫺ 47 id.: Stimmen der Völker in Liedern. ed. H. Rölleke. Stg. 1975, 474⫺476. ⫺ 48 Goethe, J. W.: V.er. ed. H. Strobach. Weimar 1982. ⫺ 49 DWb. 26, 490; cf. auch Gräter, F. D.: Ueber die Teutschen V.er und ihre Musik. In: Bragur 3 (1794) 207⫺284; Bausinger, H.: Gräters Beitr. zur V.forschung. In: Württemberg.Franken Jb. 52 (1968) 73⫺94. ⫺ 50 Bürger, G. A.: Werke 3. ed. W. von Wurzbach. Lpz. 1902, 15⫺20, hier 19 sq. ⫺ 51 [Nicolai, F.:] Eyn feyner kleyner Almanach […] B./ Stettin 1777/78 (Nachdr. Weimar 1918). ⫺ 52 Adelung, J. C.: Grammatisch-kritisches Wb. der Hochdt. Mundart […] 4. Lpz. 21801, 1225; Campe, J. H.: Wb. der Dt. Sprache 5. Braunschweig 1811, 436. ⫺ 53 cf. Brüder Grimm: V.er. Aus der Hss.slg der Univ.sbibl. Marburg 1⫺3. ed. C. Oberfeld u. a. Marburg 1985⫺89. ⫺ 54 cf. Bode, K.: Die Bearb. der Vorlagen in „Des Knaben Wunderhorn“. B. 1909. ⫺ 55 Brouwer, C.: Das V. in Deutschland, Frankreich, Belgien und Holland. Groningen/Den Haag 1930; Danckert, W.: Das europ. V. B. (1939) 21970; Postic, F. (ed.): La Bretagne et la litte´rature orale en Europe. Mellac/ Brest 1999. ⫺ 56 Slg von Schweizer-Kühreihen und alten V.ern. (Bern [1805]) ed. J. R. Wyß. Bern 41826; Meinert, J. G.: Alte teutsche V.er in der Mundart des Kuhländchens. Wien/Hbg 1817 (Brünn 21909); Tschischka, P./Schottky, J. M.: Österr. V. mit ihren Singweisen. Pesth 1819. ⫺ 57 Fauriel, C. C. (ed.): Chants populaires de la Gre`ce moderne 1⫺2. P. 1824/25. ⫺ 58 Arwidsson, A. I.: Svenska Fornsa˚nger 1⫺3. Stockholm 1834/42. ⫺ 59 Delarue, G.: Les premie`res Collectes de chansons populaires de langue franc¸aise. In: Postic (wie not. 55) 241⫺247; cf. Laforte, C.: Le Catalogue de la chanson folklorique franc¸aise t. 1 sqq. Que´bec 1977 sqq. ⫺ 60 La Villemarque´, T. H. de: Barzas-Breiz. P. 1846. ⫺ 61 Tiersot, J.: Histoire de la chanson populaire en France. P. 1889. ⫺ 62 Champfleury: Chansons populaires. P. 1860; Arbaud, D.: Chants populaires de la Provence 1⫺2. Aix 1862/64; Paris, G.: Chansons du XVe sie`cle t. 1 sqq. P. 1875 sqq.; Landstad, M. B.: Norske Folkeviser. Christiania 1853; Bugge, S.: Gamle Norske Folkeviser. Oslo 1858; Grundtvig, S. u. a.: Danmarks gamle Folkeviser. Kop. 1853/ 1965; Berggren, A. P.: Folke-Sange og Melodier 1⫺ 11. Kop. 21860⫺71; Pineau, L.: Les vieux Chants populaires scandinaves 1⫺2. P. 1898/1902; Coussemaker, E.: Chants populaires des Flamands de France. Gent/Gyselynck 1856; Lootens, A./Feys, M.: Chants populaires flamands. Brügge 1879; Bols, J.: Honderd Oude Vlaamsche Liederen met Woorden en Zangwijzen. Namen 1897; Blyau, A./Tassel, M.: Jepersch Oud-Liedboek. Gent 1900; Bartsch, C.:
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Dainu Balsai. Melodien litau. V.er 1⫺2. Heidelberg 1886/89; Dozon, A.: Chansons populaires bulgares ine´dites. P. 1875; Mila´ y Fontanals, M.: Romancerillo catala´n. Barcelona 1882. ⫺ 63 Child; Gummere, F. B.: Old English Ballads. Boston u. a. 1894. ⫺ 64 cf. Lohre, H.: Von Percy zum Wunderhorn. B. 1902. ⫺ 65 Hoffmann von Fallersleben, A. H.: Holländ. V.er. Hannover 1833; id.: Die dt. Gesellschaftslieder des 16. und 17. Jh.s 1⫺2. Lpz. 1843/60; id.: Ndl. geistliche Lieder des 15. Jh.s. Hannover 1854; cf. id./Richter, E.: Schles. Volksweisen mit Melodien. Lpz. 1842. ⫺ 66 Ditfurth, F. W. Freiherr von: Fränk. V.er 1⫺2. Lpz. 1855. ⫺ 67 Linder-Beroud (wie not. 4) 33⫺46. ⫺ 68 Hoffmann von Fallersleben, A. H.: Unsere volkstümlichen Lieder. ed. K. H. Prahl. Lpz. 4 1900; cf. Linder-Beroud (wie not. 4) 37⫺43. ⫺ 69 Erk, L./Irmer, W.: Die dt. V.er mit ihren Singweisen 1. B. 1838; Erk, L.: Die dt. V.er mit ihren Singweisen 2⫺3. B. 1845; Schade, E.: Ludwig Erks kritische Liederslg und sein „V.“-Begriff […]. Diss. Univ. Marburg 1971. ⫺ 70 Röhrich/Brednich (wie not. 19); Taylor, A.: Lists and Classification of Folksongs. In: Jb. für V.forschung 13 (1968) 1⫺25; Linder-Beroud (wie not. 4) 82⫺90. ⫺ 71 Voretzsch, C.: Vom dt. V. B. 1894; Bruinier, J. W.: Das dt. V. Über Werden und Wesen des dt. Volksgesanges. Lpz. 1899; cf. Levy, P.: Geschichte des Begriffes V. B. 1911. ⫺ 72 Pommer, J.: Liederbuch für die Deutschen in Österreich. Wien 1884. ⫺ 73 LinderBeroud (wie not. 4) 59⫺81. ⫺ 74 Gummere, F. B.: The Popular Ballad. Boston 1907 (N. Y. 21959). ⫺ 75 Pound, L.: Poetic Origins and the Ballad. N. Y. 1921. ⫺ 76 Wilgus, D. K.: Anglo-American Folksong Scholarship since 1898. New Brunswick, N. J. 1959. ⫺ 77 Meier, J. (ed.): Aufruf zur Sammlung dt. V.er. Fbg [1914]; id.: Slg dt. Soldatenlieder. Fbg 1916 (Fragebogen); id.: Das dt. Soldatenlied im Felde. Straßburg 1916. ⫺ 78 cf. z. B. Bula, D. (ed.): Singing the Nations. Herder’s Legacy. Trier 2008. ⫺ 79 Schirmunski, V.: Die dt. Kolonien in der Ukraine. Geschichte, Mundarten, V., Vk. M. 1928; cf. John, E./ Swetosarowa, N. D.: Dt. V.archiv Leningrad (Slg V. Schirmunski). Fbg 2001; Salmen, W.: Das Erbe des ostdt. Volksgesanges. Ffm. 1956, 54⫺96. ⫺ 80 cf. Weber-Kellermann, I.: Probleme interethnischer Forschungen in Südosteuropa. In: Brednich u. a. (wie not. 1) t. 2, 185⫺198; ead.: Zur Interethnik. Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen und ihre Nachbarn. Ffm. 1978. ⫺ 81 Schwietering, J.: Das V. als Gemeinschaftslied. In: Euphorion 30 (1929) 237⫺244; Bringemeier, M.: Gemeinschaft und V. Münster 1931; Klusen, E.: Das V. im niederrhein. Dorf. Potsdam 1941. ⫺ 82 Steinitz, W.: Dt. V.er demokratischen Charakters aus sechs Jh.en 1⫺2. B. 1954/62; Strobach, H.: Bauernklagen. Unters.en zum sozialkritischen dt. V. B. 1964. ⫺ 83 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zu Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. B. 1981. ⫺ 84 Pulikowski, J. von: Geschichte des Begriffes V. im musikalischen Schrifttum. Heidelberg 1933; Moser, H. J.: Zum
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Volkspoesie ⫺ Volksschauspiel
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talog der bis 1650 erschienen Drucke der Staatsbibl. zu Berlin (Preuß. Kulturbesitz) 1⫺3. Baden-Baden 2008/09. ⫺ 100 Assion, P.: Der große Aufbruch. Studien zur Amerikaauswanderung. Marburg 1985; cf. Brednich u. a. (wie not. 1) t. 2, 285⫺376. ⫺ 101 cf. ibid., 379⫺712. ⫺ 102 Jeggle, U. (ed.): Feldforschung. Tübingen 1984. ⫺ 103 wie not. 40. ⫺ 104 John, E.: Das V. im Internet. Die neue wiss. Liededition des DVAs. Konzeption und Perspektiven. In: Musikalische Volkskultur und elektronische Medien. ed. G. Probst-Effah. Osnabrück 2006, 29⫺55.
Freiburg/Br.
Waltraud Linder-Beroud
Volkspoesie J Naturpoesie, J Volksdichtung
Volksschauspiel 1. Allgemeines ⫺ 2. V. im weiteren Sinn ⫺ 3. V. im engeren Sinn
1 . All ge me in es. Der gegen Ende des 18. Jh.s beiläufig entstandene, mit definitorischen Schwierigkeiten behaftete Brücken- und Sammelbegriff V. deckt einen breiten Spielraum ab. Sein Spektrum reicht von performativen Riten, Spiel- und Umzugsbräuchen mit magisch-religiösen Handlungen (bei denen der zugehörige Glaubenshintergrund auch verblaßt sein kann) bis zu regelrechten theatralischen Aufführungen mit oder ohne schriftl. Vorlage, die von professionellen Schauspielern oder Laien dargeboten werden können. Dabei ist die Spaltung in aktive und passive Teilnehmer, Schauspieler und Zuschauer, deutlich ausgeprägt und bleibt während der gesamten Aktion irreversibel. Eines der grundsätzlichen Merkmale, die das V. vom Volkstheater unterscheiden, ist die rituelle Grundlage kalendermäßiger Terminbindung; von anderen Brauchformen unterscheidet es der darstellende Spielcharakter mit der Tendenz zur Rollenausformung. Allerdings ist es nicht möglich, scharfe Trennlinien zu ziehen1; man könnte auch von Vorformen des Theaters sprechen2. Die Folklorisierung von performativen Riten und Spielbräuchen (cf. J Folklorismus) hat überdies vielfach zu ihrer Theatralisierung und Bühnendarstellung geführt3. Ähnlich unscharfe Begriffsbildungen wie ,V.‘ existieren auch in anderen europ. Sprachen4.
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Volksschauspiel
Spielhafter Brauch ortsfester Art (Einortdrama) ist u. a. von Umzugs- und Prozessionsspiel (von Haus zu Haus oder Bewegungsdrama) zu differenzieren, Stubenspiel von Großspiel (Freilichtspiel)5. Sakralität bzw. Profanität eignen sich nicht als Definitionskriterien, ebensowenig die städtische oder ländliche Herkunft der Brauchträger. Das V. ist hist. vom religiösen Schauspiel des MA.s, den Bürgerspielen des Spätmittelalters, dem Schulund Ordensdrama von Reformation und Gegenreformation, den J Fastnachtspielen und dem J Meistersingerwesen zu unterscheiden, in näherer Gegenwart auch vom Bauerntheater sowie jeglichen Formen von organisierten Vereinsaufführungen und vom Schul- und Laienspiel6. Grundlegend für die Ausformung theaterkonstitutiver Züge wie der Gestaltung der Rollen durch Maskierung, Aktion und Dialog bleibt für lange Strecken einer hypothetischen Entwicklung der Sammelumzug (Heischegang) von Haus zu Haus zu den Festterminen des Jahreslaufs; allg. weisen erst komplexere Spielformen die Tendenz zur Konstituierung eines temporär stabilen Bühnenraums (Kirchhof, Dorfplatz etc.) auf 7. Die kollektive Teilnahme (Ritus, Feier, Messe) macht dabei einer sukzessiven Ausdifferenzierung in ,Schauspieler‘ (Verkleidete, rudimentäre Rollentypen) und Zuschauer Platz, wobei die direkte Kommunikation und Interaktion, im Gegensatz zum bürgerlichen Theater, ein charakteristisches Merkmal bleibt8. Aufgrund der Formenvielfalt des europ. V.s ist es sinnvoll, zwischen V. im weiteren Sinn und V. im engeren Sinn zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ergibt sich aus der europ. Kirchengeschichte: Im West-, Mittel- und Südosteuropa kathol./protestant. Zugehörigkeit haben das geistliche Schauspiel und das Ordenstheater eine repräsentative Schicht religiösen oder semireligiösen V.s hervorgerufen, die sich bis ins 20. Jh. hinein nachweisen läßt; demgegenüber ist diese Form des komplexen V.s mit z. T. textlicher Grundlage Osteuropa und den orthodoxen Teilen Südosteuropas im wesentlichen fremd geblieben9. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß die byzant. Ostkirche aus theol. Gründen kein Kirchenraumspiel im westl. Sinne kennt, daher auch kein Schulund Ordenstheater, ja dem Theaterwesen seit
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der Zeit der griech. Kirchenväter feindlich gegenübersteht10. Das V., das sowohl von Volkskundlern als auch von Theaterwissenschaftlern in fast allen europ. Ländern untersucht wurde, ist heute vielfach ein rein hist. Phänomen bzw. dem Folklore-Tourismus zuzurechnen11. Zahlreiche Forscher haben morphologische bzw. theoretische Studien zur möglichen Entwicklung des Theaters geliefert; länderübergreifende Vergleiche waren dabei freilich eher die Ausnahme12. Globales Interesse an performativen Riten in allen fünf Kontinenten bestand vor allem in der Zeit der viktorian. Ethnologie, Archäologie und Klassischen Philologie (cf. J Ritualistische Theorie) in der Hoffnung darauf, außereurop. Vergleichsmaterial für die dunklen Entwicklungsphasen des altgriech. Theaters vor Thespis entdecken zu können. Dies führte jedoch zu unkritischen Vergleichen inkommensurabler Kulturphänomene und hat die Ursprungsfragen der Theatergeschichte und -theorie kaum weitergebracht13. Bei den außereurop. Kulturen stellt sich die Frage nach dem V. zwischen ritueller Fixierung und ästhetisch-theatralischer Performativität nach Maßgabe der spezifischen Kulturgegebenheiten jeweils anders14; der für das weite Spektrum des Phänomens gebrauchte engl. Begriff ,drama‘ ist noch problematischer als der Terminus V., da letzterer zumindest in ein Spannungsfeld von Hegemonial- und Popularkultur eingespannt bleibt. Erst die Theaterethnologie der letzten Jahrzehnte bemüht sich um schärfere Begriffsfassungen15, die terminologisch nicht mit der philol. Dramentheorie in Konflikt geraten. Unter den Entstehungstheorien des Theatralischen hatte die Schamanismus-These bis gegen Ende des 20. Jh.s eine gewisse Sonderposition16, allerdings dürfte die Entstehung theatroider Handlungsformen im weiteren Feld des Zusammenwirkens von vorgegebenen (jedoch entwicklungsfähigen) rituellen Handlungsmustern mit Instinktimpulsen des mimetischen Spieltriebs zu suchen sein17. Eine summarische Darstellung der Morphologie des V.s sollte sich daher vorwiegend auf den europ. Raum beschränken. Aufgrund der theoretisch und methodisch praktisch unmöglichen Grenzziehung zwischen Ritus und Theater18 finden sich Materialien zum V. auch in vielen Darstellungen zur hist. Entwicklung
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Volksschauspiel
des Theaters (wie z. B. für die engl. mummers’ plays)19. Zur Exemplifizierung des (vielfach bereits hist.) Spielbestands und der Morphologie des V.s wird im folgenden der mittel- und südosteurop. Raum herangezogen (was nicht heißt, daß es in Süd- und Westeuropa nicht ebenfalls darstellende Bräuche gibt, wie den maggio in Italien oder Reste religiöser Schauspiele wie auto sacramentales in Spanien oder Mysterienaufführungen in Frankreich). 2 . V. i m w ei te re n S in n. Die komplexen Formen des V.s (oft mit fixiertem Text) in den kathol./protestant. Bereichen Mittel- und Südosteuropas entstammen in der Regel organisierten Theaterformen religiöser oder weltlicher Provenienz aus den ma. und nachma. Jh.en20. Sie stellen in Mitteleuropa vielfach eine z. T. bereits von der Aufklärung unterdrückte Kulturschicht dar, lebten aber in alpinen Randzonen und bei den Sprachinseldeutschen in Südosteuropa noch bis zum 2. Weltkrieg weiter21. Dabei handelt es sich von Tirol bis in den Karpatenraum vorwiegend um Weihnachts- und Krippenspiele (Christgeburts-, Hirten-, Herodesspiel)22, Sternsingen und Drei-Königs-23, Paradeis-24 und Passionsspiele25, Palmesel-Umfahrten26, das Spiel vom reichen Prasser und dem armen J Lazarus, Joseph-Spiele (cf. Der keusche J Joseph)27, Spiele um den hl. J Nikolaus, den hl. J Sebastian28, Brauchspiele um die hl. Lucia (AaTh/ ATU 706 B: Die keusche J Nonne)29, Jedermann-Themen30, Totentanz31, J Volksbuchthemen wie die Überlieferungen zu J Genovefa32, J Hirlanda33, J Maria Magdalena34, Doktor J Faust (auch als J Puppentheater), Reste von ehemaligen Fastnachtspielen35, Winterspiele36, Spiele vom J Jüngsten Gericht etc.37 Dialogspiele bei Hochzeiten sind auch in Altkroatien38 und im Rahmen der Brautwerberspiele in Ungarn und der Slovakei39 nachgewiesen, performative Elemente im Sinne des V.s sind jedoch in der einen oder andern Form fast allen Hochzeitszeremonien inhärent40. Neben termingebundenen V.en gibt es auch anlaßgebundene, wie die Hochzeitsspiele bei den Ungarn41, oder Vorformen des Figurentheaters, wie die Krippenspiele mit Puppen42, kombiniert mit Herodes-Spielen und weltlichen Stücken bei den Rumänen43; bei Formen des Puppenspiels wie dem Kasperletheater und
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seinen internat. Analogien44 ist jedoch die Grenze zum professionellen Volkstheater, ähnlich wie beim Schattentheater des Karagöz (J Schattenspiel) in den ehemals osman. besetzten Teilen der Balkanhalbinsel45, bereits überschritten. Vor allem in Rumänien nehmen die Brauchspiele auch komplexeren Charakter an und entwickeln sich zu regelrechten theatralischen Vorstellungen46. Die Grenze zum organisierten Volkstheater scheint auch beim ,Homilien‘-Theater der Ion. Inseln47 oder den ,Orta oyunu‘-Spielen in Kleinasien48 überschritten. Auch Formen des professionellen Populartheaters und Spektakelwesens waren, ähnlich wie J Verkleidung und Maskierung, noch lange an den Karnevalstermin gebunden. 3 . V. i m e ng er en Si nn. Bei V.en im engeren Sinn handelt es sich um termingebundene (Zwölften, Karneval, Osterkreis, Heiligenfeste) bzw. anlaßgebundene (Dürre, Totenwache) Brauchspiele und performative Riten mit gewöhnlich noch erkennbarem magisch-religiösem Fundament und der tragenden Umzugsstruktur, an die sich symbolische Aktionen, Maskierung und Verkleidung sowie szenische Elemente anlagern können49. Vegetationszyklisch bedingt bzw. der Regenmagie angehörig sind die (phytomorphen) Grünverkleidungen bei den Frühlingsumzügen50. Bei den Tierverkleidungen dominieren die zwei- oder vierbeinigen Equidenmasken (Habergeiß, Kamel, Giraffe etc.) mit oder ohne ,Reiter‘-Figur51, die Bärin (Strohbär, Tanzbär)52, Vogel- und Hirschmasken (Krauthinkl) sowie vielfüßige Drachendarstellungen53. Bei den (theriomorphen) Dämonenverkleidungen sticht der rußgeschwärzte oder maskierte, felltragende, glockenbehangene und sich wild gebärdende ,Araber‘ (Sarazene, Mohr, Neger) bzw. J Teufel hervor54, neben gespensterartigen Verkleidungsformen wie der J Percht55. Bei den anthropomorphen Maskierungen bilden sich neben Geschlechtswechselverkleidungen56 rudimentäre Rollentypen aus, wie Braut und Bräutigam, die Alten57, die Alte als Personifikation der Quadragesima58, der Arzt, der Pope, der Richter, die Schwiegerleute, die Zigeuner etc.59 Neben Schand- und Prangerhandlungen wie Hundetragen, dem verkehrten Eselsritt mit dem Schwanz in der Hand, Rußbemalung, Aschewerfen, Schlammbeschmie-
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Volksschauspiel
ren oder Verbrennen von Idolen kommt es zu archetypischen Aktionen wie Sterben und Auferstehen des Bräutigams (Brautraub)60 bzw. zu Parodien wie Scheinhochzeit61, Begräbnissatire62, Scheinpflügung63, Arztuntersuchung und Totenerweckungen, Scheinprozessen und ganzen Gerichtsspielen64, bei denen bereits improvisierter, wenngleich durchgängiger Dialog zum Vortrag kommt. Diese Elemente und Themen treten in verschiedenen Kombinationen auf, wie z. B. bei den ,Kalogeros/kuker/ köpek-bey‘-Spielen im hist. Thrakien65. Dialogspiele können auch ohne Verkleidung vor sich gehen oder agonalen Charakter annehmen66. Einen bes. Fall der Re-Ritualisierung einer Volkstheaterform stellen die Karnevalsaufführungen von Volksbearbeitungen der kret. Tragödie Erofile (um 1600 von Georgios Chortatses verfaßt) in Westgriechenland dar, die in den Zagori-Bergdörfern nördlich von Ioannina als fruchtbarkeitsfördernde Symbolaktion vom Typ Tod/Auferstehung gespielt werden67. Beide Kategorien, das V. im engeren und im weiteren Sinn, sind jenseits ihrer morphologischen Formenvielfalt durch die konstanten Funktionen des magisch-religiösen Ritualrahmens miteinander verbunden: Fruchtbarkeitsförderung und Apotropäum gegen Übel jeglicher Art bzw. Verlebendigung christl. Glaubensinhalte im kirchlichen Jahreslauf. Diese Funktionen können bei den komplexeren V.formen verblassen und mehr Raum für Unterhaltung und Schaulust, Satire und Parodie, die J Verkehrte Welt des Karnevals und ästhetischen Genuß geben. Die Lust am Schönen ist jedoch auch schon der einfachen Festkleidung inhärent, und Fruchtbarkeitsmagie schimmert noch bei jedem nuptialen Happy-End der Volkskomödie durch. 1
cf. allg. Moser, D.-R.: V.forschung. In: Brednich, R. W. (ed.): Grundriß der Vk. B. 1988, 447⫺466, bes. 447⫺449; id.: V. In: RDL 4 (21984) 772⫺786; Puchner, W.: Performative Riten, V. und Volkstheater in Südosteuropa. In: id.: Studien zur Vk. Südosteuropas und des mediterranen Raums. Wien u. a. 2009, 253⫺298, bes. 254. ⫺ 2 id.: Brauchtumserscheinungen im griech. Jahreslauf und ihre Beziehungen zum Volkstheater. Wien 1977, 24⫺30. ⫺ 3 z. B. Dubinskas, F. A.: Ritual on Stage. Folkloric Performance as Symbolic Action. In: Narodna umjetnost 18 (1981) 92⫺106. ⫺ 4 cf. allg. Gaster, T. A.: Thespis, Ritual, Myth and Drama in the Ancient
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Volksschauspiel
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Voltaire
sche Momente beim Hochzeitsbrauch). In: Mogucˇnosti 32 (1985) 132⫺146; Meit¸oiu, I.: Spectacol nunt¸ilor. Buk. 1969; Demetriou, N.: Laographika te¯s Samou (Volkskundliches aus Samos) 1. Athen 1985, 392⫺421; Merakle¯s, M. G.: Helle¯nike¯ laographia (Griech. Vk.) 2. Athen 1986, 53⫺56. ⫺ 41 Ortutay, G.: Kleine ung. Vk. Bud. 1963, 86⫺99. ⫺ 42 Köldu, L.: Krippenspiel. In: Ethnographia 69 (1968) 209⫺259; Belitska-Scholz, H.: Gaukler und Wanderpuppenspieler in Ungarn. In: Maske und Kothurn 21 (1975) 106⫺122; Balassa, I./Ortutay, G.: Ung. Vk. Mü. 1982, 699⫺702. ⫺ 43 Gıˆtza˘, L.: Le The´aˆtre roumain de marionettes. In: Revue roumaine d’histoire de l’art (1964) 119⫺138; PopescuJudetz, E.: L’Influence du spectacle populaire turc dans les pays roumains. In: Studia et acta Orientalia 5⫺6 (1967) 337⫺355; Ra˘dulescu, N.: Musikalische Puppenspiele oriental. Herkunft in der rumän. Folklore. In: Zs. für Balkanologie 14 (1978) 83⫺98. ⫺ 44 Puchner, W.: Vergleichende Beitr.e zum traditionellen V. auf der Balkanhalbinsel. In: id.: Beitr.e zur Theaterwiss. Südosteuropas und des mediterranen Raums 1. Wien/Köln/Weimar 2006, 73⫺96. ⫺ 45 id.: Schwarzauge Karagöz und seine Geschichte auf der Balkanhalbinsel zur Zeit der Türkenherrschaft. ibid., 97⫺132. ⫺ 46 Ada˘sca˘lit¸ei (wie not. 12); id.: Teatrul folcloric din judet¸ele. Baca˘u 1968; id./Ciubotaru, I.: Teatrul folcloric din judet¸ele Ias¸i. Ias¸i 1969; Opris¸an, H. B.: Das volkstümliche rumän. Theater. In: ÖZfVk. 81 (1978) 178⫺201. ⫺ 47 Puchner, W.: Kret. Renaissance- und Barockdramatik in Volksaufführungen auf den Sieben Inseln. In: ÖZfVk. 79 (1976) 232⫺242. ⫺ 48 id.: Maskenraum Kleinasien. In: id. (wie not. 1) 327⫺339. ⫺ 49 Meuli, K.: Bettelumzüge in Totenkultus, Opferritual und Volksbrauch. In: SAVk. 28 (1927) 1⫺38. ⫺ 50 Schubert, G.: Der Hl. Georg und der Georgstag auf dem Balkan. In: Zs. für Balkanologie 21,1 (1985) 80⫺105; Puchner, W.: Regenlitanei und Bittprozession im griech. Umzugsbrauch und ihre balkan. Querverbindungen. In: id.: Studien zum griech. Volkslied. Wien 1996, 89⫺ 124. ⫺ 51 Kretzenbacher, L.: ,Rusa‘ und ,gambela‘ als Equiden-Masken der Slowenen. In: Lares 31 (1965) 48⫺ 74; Lawson, J. C.: Modern Greek Folklore and Ancient Greek Religion. Cambr. 1910, 193, 203; Pop, M./Eretescu, C.: Die Masken im rumän. Brauchtum. In: SAVk. 63 (1967) 162⫺176. ⫺ 52 Stöffelmayer, K.: Das Obermurtaler Faschingsrennen. In: ÖZfVk. 56 (1953) 37⫺45; Schmidt, L.: Bauernfasching im Burgenland. In: ÖZfVk. 72 (1969) 133⫺171. ⫺ 53 Buhociu, O.: Die rumän. Volkskultur und ihre Mythologie. Wiesbaden 1974, 54⫺59. ⫺ 54 Vakarelski (wie not. 12) 133; Boratav, P. N.: The Negro in Turkish Folklore. In: JAFL 64 (1951) 82⫺88. ⫺ 55 Wildhaber, R.: Zur Problematik eines slowen. Maskenattributs. In: SAVk. 56 (1960) 40⫺47; Moro, O.: Maskenbräuche in gemischtsprachigen Dörfern Oberkärntens. In: Carinthia 1,125 (1935) 211⫺218; Grabner, J.: Volksleben in Kärnten. Graz 1941, 194⫺205; Schmidt, L.: Berchtengestalten im Burgenland. In:
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Burgenländ. Heimatbll. 13 (1951) 129⫺161; ibid. 14 (1952) 122⫺132, 170⫺181. ⫺ 56 Scholze, H.: Der Geschlechtswechsel im österr. Brauchtum. Diss. (masch.) Wien 1948; Schmidt, L.: Burgenländ. Maskenbrauchtum des 16. Jh.s. In: Burgenländ. Heimatbll. 18 (1956) 108⫺115. ⫺ 57 Kuret, N.: Die ,Alten‘ in den Maskenumzügen Südosteuropas. In: Etnografski i folkloristicˇni izsledvanija. Festschr. C. Vakarelski. Sofia 1979, 215⫺225; Flegont, O.: The Mos¸ in the Romanian Popular Theatrical Art. In: Revue roumaine d’histoire de l’art 3 (1964) 119⫺ 131; Bonifacˇic´-Rozˇin, N.: Pokladne masˇkare u Konovlina (Faschingsmaskierungen in Konavli). In: Narodna umjetnost 4 (1966) 153⫺173; Arnaudov, M.: Kukeri i rusalii (Kukeri und Rusalien). In: Sbornik za narodni umotvorenija i narodopis 34 (1920) 1⫺242. ⫺ 58 Kuret, N.: ,Babo zˇagajo‘ (Scier la vieille). In: Slovenski etnograf 13 (1960) 115⫺144. ⫺ 59 Puchner (wie not. 2) pass. ⫺ 60 Vulca˘nescu, M.: ,Gogiu‘, un spectacol funerar. In: Revista di etnografia s¸i folclor 10 (1965) 613⫺625; Puchner (wie not. 2) pass. ⫺ 61 Ferenczi, I./Ujva´ry, Z.: Farsangi dramatikus ja´te´kok Szatma´rban (Fastnachtspiele aus den Dörfern in der Umgebung von Szatma´r). In: Mu˝veltseg e´s Hagyoma´ny 4 (1962) 3⫺15. ⫺ 62 Ujva´ry, Z.: Das Begräbnis parodierende Spiele in der ung. Volksüberlieferung. In: ÖZfVk. 69 (1966) 267⫺278; id.: A temete´s paro´dia´ja (Die Parodie des Begräbnisses). Debrecen 1978. ⫺ 63 Moser, O.: Faschingsbrauch in Kärnten. Pflugumfahrt und Bärenjagen. In: Dt. Vk. 4 (1942) 30⫺38. ⫺ 64 Ujva´ry, Z.: Verurteilungs- und Hinrichtungsspiele mit Todesstrafe und die Sündenübertragung. In: Ethnographica et folkloristica Carpathica 12⫺13 (2002) 247⫺261; Puchner, W.: Improvisierte Gerichtsspiele und karnevaleske Schauprozesse in der Volkskultur des Zentralbalkans und des hellenophonen Mittelmeerraums. In: SüdostForschungen 63⫺64 (2004/05) 211⫺231; id.: Karnevalsprozeß und Theatertod des Sabbatai Zwi im apokalyptischen Jahr 1666 auf der Insel Zante. In: ÖZfVk. 109 (2006) 63⫺70. ⫺ 65 id.: Beitr.e zum thrak. Feuerlauf („Anastenaria/Nestinari“) und zur thrak. Karnevalsszene („Kalogeros/Kuker/KöpekBey“). In: Zs. für Balkanologie 17 (1981) 47⫺75. ⫺ 66 Beispiel bei Puchner 1989 (wie not. 8) 123⫺139. ⫺ 67 id. 1985 (wie not. 8) 64⫺67.
Athen
Walter Puchner
Voltaire (i.e. Franc¸ois-Marie Arouet), *Paris 21. 11. 1694, † ebenda 30.5.1778, frz. Schriftsteller und Philosoph, einer der prominentesten und einflußreichsten Intellektuellen im Europa des 18. Jh.s und zentrale Gestalt der J Aufklärung1. V. stammte aus vermögenden bürgerlichen Verhältnissen. Er besuchte das Jesuitenkolleg Louis-le-Grand (1704⫺10) und
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Voltaire
studierte an der Pariser juristischen Hochschule (1711⫺13). V. war mehrfach inhaftiert (u. a. wegen satirischer Texte und Äußerungen) und mußte Frankreich 1726 verlassen. Im engl. Exil (1726⫺29) lernte er die Vorzüge einer konstitutionellen Monarchie kennen. 1734⫺49 lebte V. bei seiner Geliebten E´milie du Chaˆtelet in der Champagne, seit 1758 in Ferney nahe der Schweizer Grenze. Er korrespondierte mit Repräsentanten der Aufklärung in ganz Europa (mehr als 20000 Briefe sind erhalten2) und arbeitete an der Encyclope´die (1751⫺72) von Diderot und d’Alembert mit. 1745 wurde V. von Ludwig XV. zum kgl. Historiographen ernannt. Der Aufenthalt bei Friedrich II. (mit dem er seit 1736 in Verbindung stand) in Potsdam (1750⫺53) endete mit einem Zerwürfnis. Außer durch seinen Umfang3 beeindruckt V.s Werk durch die Vielfalt der Themen und literar. Gattungen: Neben Romanen und Erzählungen (auch Verserzählungen in der Tradition J La Fontaines), Tragödien (einen ersten großen Erfolg erzielte V. mit Œdipe [Uraufführung 1718; cf. AaTh/ATU 931: J Ödipus]) und Komödien, einem Epos (La Henriade. Genf 1723) und einer Epentravestie (La Pucelle d’Orle´ans. P. 1762) sowie Gelegenheitsgedichten verfaßte er hist. (Le Sie`cle de Louis XIV. B. [1751]; Essai […] sur les mœurs. Genf 1756), phil. (Dict. philosophique portatif. L./ Genf 1764) und naturwiss. Schr., außerdem zahllose Pamphlete und Polemiken zu politischen, religiösen und literar. Fragen. In den Toleranzschriften4 trat er seit 1762 für die Opfer von (religiös motivierter) Willkürjustiz ein. So erreichte er u. a. die Rehabilitierung des Protestanten Jean Calas, der als angeblicher Mörder seines Sohnes in Toulouse gerädert worden war. Zentrales Anliegen des Deisten V. war der Kampf gegen Aberglauben und religiösen Fanatismus. Deshalb zitierte er oft Überlieferungen, die den engstirnigen Dogmatismus des Klerus (gleich welcher Religion) belegen. Seine Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le Prophe`te (Uraufführung 1741) attackiert unter dem Deckmantel der Kritik am Stifter des Islam die christl. Kirchen. Im Essai sur les mœurs ist u. a. von ma. J Gottesurteilen (Kap. 22, 45), von der angeblichen Fähigkeit der engl. und frz. Könige, die Skrofeln zu heilen
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(Kap. 42), und vom J Priester Johannes (Kap. 60) die Rede; anderes wird aus anekdotischem Interesse zitiert (z. B. in Kap. 45 AaTh/ATU 2031 A: J Stärkste Dinge, nach J Josephus Flavius). Der Dict. philosophique portatif unterzieht im Artikel Martyrs christl. J Märtyrerlegenden einer hist. Kritik. V.s originellste Schöpfung ist der ,conte philosophique‘5. Dem wesentlich induktiven Denkstil6 der Aufklärung entsprechend handelt es sich dabei um ein Gedankenexperiment, bei dem ⫺ oft in polemischer Absicht, um die Ansichten anderer Autoren zu widerlegen ⫺ Beispiele anstelle von Argumenten angeführt werden. V., der mit J Gallands Übersetzung von J Tausendundeine Nacht vertraut war7, ließ viele seiner contes in oriental. Ambiente spielen und benutzte auch oriental. Qu.n. Zadig, ou la destine´e ([P.] 1747)8 stellt die Frage nach dem Schicksal und der Möglichkeit menschlichen Glücks. Einige der zahlreichen Episoden greifen auf weitverbreitete Stoffe zurück: So finden sich u. a. Var.n von AaTh/ATU 1350: Die rasch getröstete J Witwe9, AaTh/ATU 655: Die scharfsinnigen J Brüder (Kap. 3; cf. auch J Scharfsinnsproben)10, J Salomonische Urteile (Kap. 6, 7) und AaTh/ATU 759: J Engel und Eremit (Kap. 20); der Rätselwettstreit um die Hand Astartes (Kap. 21) erinnert an AaTh 851 A/ATU 850: cf. J Rätselprinzessin.
Alle contes philosophiques enthalten satirische Anspielungen auf Personen und Ereignisse der Zeit: Microme´gas (L. 1752) läßt einen Sirius-Bewohner, der 120000 Fuß mißt (J Proportionsphantasie), und einen Saturnier zur Erde reisen und auf eine von dem Physiker Maupertuis geleitete Nordpolexpedition (1737) treffen. Vielen seiner contes hat V. die Form eines imaginären Reiseberichts11 gegeben: Der Titelheld der Histoire des voyages de Scarmentado (L. 1757) findet in allen europ. Ländern absurden Aberglauben und Vorurteile. In V.s bekanntestem conte, Candide, ou l’optimisme (Genf 1759 [anonym]), erfährt der Protagonist, daß das menschliche Leben in allen Erdteilen nur aus Krankheit, Ungerechtigkeit, Katastrophen oder Überdruß besteht. Als Argumente z. B. gegen Adel, Königtum und Justiz setzte V. auch schlecht verbürgte oder offensichtlich erfundene Sachverhalte ein und trug so zu deren Popularisierung bei: Seine Komödie Le Droit du seigneur (Genf 1763) machte auf das J Ius primae noctis auf-
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Vonbun, Franz Josef
merksam12; auch die Geschichte des ,Manns mit der eisernen Maske‘ (in dem man bis ins 19. Jh. einen illegitimen Bruder Ludwigs XIV. sehen wollte) erwähnte V. mehrfach an prominenter Stelle (u. a. Le Sie`cle de Louis XIV, Kap. 25). Obwohl V.s spöttischer Witz und seine ostentative Respektlosigkeit im 20. Jh. nicht sonderlich geschätzt wurden, ist sein Candide nach wie vor eines der populärsten Bücher der frz. Lit. 1 Besterman, T.: V. L. 1960; Pomeau, R.: V. P. 1985; Ayer, A.: V. Eine intellektuelle Biogr. Ffm. 1987; Pomeau, R. u. a.: V. et son temps 1⫺2. P./Ox. 1995; Trousson, R./Vercrysse, J. (edd.): Dict. ge´ne´ral de V. P. 2003. ⫺ 2 V.: Correspondance 1⫺107. ed. T. Besterman. Genf/P. 1953⫺65. ⫺ 3 Œuvres comple`tes de V. 1 sqq. Genf/Ox. 1968 sqq. (auf 135 Bände angelegt). ⫺ 4 Gier, A./Paschold, C. E. (edd.): V. Die Toleranz-Affäre. Bremen 1993. ⫺ 5 Bongie, L. L.: Crisis and the Birth of the Voltairian „conte“. In: Modern Language Quart. 23 (1962) 53⫺64; Belaval, Y.: Le Conte philosophique. In: The Age of Enlightenment. Festschr. T. Besterman. Edinburgh 1967, 308⫺317; Heuvel, J. van den: V. dans ses contes. P. 1967; Schick, U.: Zur Erzähltechnik in V.s „contes“. Mü. 1968; Cambou, P.: Le Traitement voltairien du conte. P. 2000. ⫺ 6 Hempfer, K. W.: Zum Verhältnis von „Lit.“ und „Aufklärung“. In: Zs. für frz. Sprache und Lit. 115 (2005) 21⫺53. ⫺ 7 Marzolph/van Leeuwen 2, 733. ⫺ 8 Stackelberg, J. von: Von Rabelais bis V. Mü. 1970, 343⫺349. ⫺ 9 Schwarzbaum, H.: Female Fickleness in Jewish Folklore. In: BenAmi, I. (ed.): The Sepharadi and Oriental Jewish Heritage. Jerusalem 1982, 589⫺612, hier 600 sq.; cf. Wilhelm, R.: Chin. Märchen. MdW 1979, num. 39 (für chin. Fassungen typische Zweiteiligkeit). ⫺ 10 cf. Eco, U.: Hörner, Hufe, Sohlen. Einige Hypothesen zu drei Abduktionstypen. In: id./Sebeok, T. A. (edd.): Der Zirkel oder im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce. Mü. 1985, 288⫺320. ⫺ 11 Fink, G.-L.: Naissance et apoge´e du conte merveilleux en Allemagne. 1740⫺1800. P. 1966, 55 und pass. ⫺ 12 Stackelberg, J. von: V., Beaumarchais und das „jus primae noctis“. In: id.: Der unfertige Garten. Essays zur frz. Lit. Bonn 2007, 243⫺250.
Bamberg
Albert Gier
Vonbun, Franz Josef, *Laz (Vorarlberg) 24. 11. 1824, † Schruns 17. 3. 1870, österr. Arzt und Sagenforscher. V. wuchs bei seinem Onkel in Raggal im Großen Walsertal auf 1, wo er über seine Großmutter früh mit Sagen und Märchen in Berührung kam2. Während seiner
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Schulzeit in Innsbruck (1843⫺44) gründete er gemeinsam mit seinem Freund I. V. J Zingerle die literar. Vereinigung Aurora3. Nach dem Studium der Medizin in Wien und München (1844⫺49) zog V. nach Feldkirch. Im Juni 1850 nahm er in Schruns die Stelle des Standesarztes an und war fortan allein für die medizinische Versorgung des gesamten Montafons verantwortlich. V. erkrankte im Herbst 1869 an einem Nervenleiden und erlag 1870 einem Schlaganfall. In V.s Werk verbinden sich zeittypisch literar.-poetische4 mit philol.-volkskundlichen Neigungen; seine freien Gedichte sind nur teilweise publiziert, die versifizierten Sagen dagegen vollständig5. V. legte drei auf Vorarlberg und eine auf den rätorom. Sprachraum ausgerichtete Ausg.n von Volkserzählungen bzw. mythischen Stoffen vor: Aus der Wiener Zeit stammt V.s Slg Volkssagen aus Vorarlberg (1847, 21850)6, die 1858 durch Die Sagen Vorarlbergs mit insgesamt 102 Stücken ersetzt wurde. Die Slg von 1858 wirkte stark nach7. Den Vorarlberger Slgen gemeinsam ist die überwiegende Wiedergabe der Erzählungen in regionalen Dialekten, worin nicht nur V.s Liebe zur Sprache, sondern zugleich sein Bemühen um Authentizität erkennbar ist. Charakteristisch für V.s Arbeitsweise ist, daß sie Sprache und Erzählung gleichermaßen in den Blick nimmt. So illustrierte V. sprachwiss. Arbeiten8 ebenso wie Reise- und Landschaftsschilderungen9 häufig mit Sagenbeispielen, wie er umgekehrt auch im Dialekt verfaßte Sagen mit sprachlichen Erläuterungen versah10. Vereinzelt veröffentlichte V. Volkslieder, Rätsel11 sowie Schilderungen von Bräuchen und Vorstellungen des Volksglaubens12. Sein Hauptinteresse galt jedoch der Volkserzählung, die ihm Quelle zur Rekonstruktion dt. Mythologie war. Mit zunehmendem Alter vertrat V., wie viele seiner Zeitgenossen, immer konsequenter die theoretischen Ansätze der damals dominanten J mythol. Schule. So schrieb er in den Volkssagen (21850): „Es stellt sich nämlich immer unzweifelhafter heraus, dass das, was uns in Volkssagen entgegenkommt, zumeist Bruchstücke einer alten, längst untergegangenen Religion seien.“13 Seiner Unterscheidung von Sage und Märchen lag die Dt. Mythologie von J. J Grimm zugrunde: Unter Sagen verstand er nur hist. Sagen im engeren Sinn, während er die Bezeichnung Märchen auf alle mythischen Erzählungen an-
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Vorladung vor Gottes Gericht
wandte14. Am deutlichsten tritt V.s mythol. Ansatz in seiner einzigen über Vorarlberg hinausreichenden Slg zutage15, nach außen erkennbar nicht nur im Titel, sondern auch im eng an die Dt. Mythologie angelehnten Inhaltsverzeichnis.
Über seine Quellen, Arbeitsweise, Sammlungs- und Bearb.sverfahren gab V., der im Briefverkehr mit Gelehrten wie K. J. J Simrock oder J. Grimm16 stand, nur vereinzelt Auskunft17. Im Vorw. zur 2. Ausg. der Sagen schrieb V., er habe seine Texte „übrigens beinahe durchweg den eigentlichen Trägern […] abgelauscht“18; Gewährspersonen nennt er allerdings nur spärlich19. Insgesamt dürfte er aber ⫺ wie seine Zeitgenossen ⫺ überwiegend vom Schreibtisch aus gesammelt haben20. 1 V., F. J.: Die Sagen Vorarlbergs. Nach schriftl. und muendlichen Ueberlieferungen gesammelt und erlaeutert. Vermehrte Aufl. nach der hinterlassenen Hs. des Verf.s u. a. Qu.n erw. und mit einem Lebensabriss V.s versehen. (Innsbruck 1858) ed. H. Sander. Innsbruck 21889 (Nachdr. ed. R. Beitl. Feldkirch 1950 u. ö.), IX. ⫺ 2 Strasser, P.: „Ein Sohn des Thales“. F. J. V. als Sammler und Editor Vorarlberger Volkserzählungen. Ffm. u. a. 1993, 19. ⫺ 3 Schwaighofer, C.: Literar. Gruppen in Tirol, Vereine, Zss., Almanache 1814⫺1914. Diss. Innsbruck 1983, 62; V. 2 1889 (wie not. 1) XIX. ⫺ 4 cf. Strasser (wie not. 2) 66⫺69; Winder, E.: Die Vorarlberger Dialektdichtung. Innsbruck 1890; Bilgeri, M.: Das Vorarlberger Schrifttum und der Anteil des Landes am dt. Geistesleben. Wien/Lpz. 1936. ⫺ 5 V., F. J.: Die drei Schwestern von Frastanz. Volkssage. In: Bote für Tirol und Vorarlberg 52 (27.6.1844) 208; id.: Der Klushund. Vorarlberg. Volkssage. ibid. 101 (16.12.1844) 404. ⫺ 6 id.: Volkssagen aus Vorarlberg. Wien 1847 (Innsbruck 21850). ⫺ 7 cf. V. (wie not. 1). ⫺ 8 z. B. id.: Mundartliches aus Vorarlberg. Eigenthümliche, die verschiedenen gesundheitsverhältnisse betreffende ausdrücke und redensarten. In: Frommann, G. C. (ed.): Die dt. Mundarten 1⫺6. Nürnberg 1854⫺1859, hier t. 4, 1⫺6; id.: Über die mundart der Walser in Vorarlberg. ibid., 323⫺330; Strasser (wie not. 2) 69 sq., 143⫺146. ⫺ 9 z. B. V., F. J.: Feldkirch und seine Umgebungen. Innsbruck/Feldkirch 1868; Strasser (wie not. 2) 63⫺66, 70⫺72. ⫺ 10 z. B. V., F. J.: Volkssagen aus Vorarlberg. In: Frommann (wie not. 8) t. 2, 563⫺569; id.: D’r Klushund. Volkssage aus Vorarlberg. ibid. 3, 526⫺533; Strasser (wie not. 2) 143⫺146. ⫺ 11 z. B. V., F. J.: Aus Vorarlberg (Funkenbrennen am Küechle-Sonntag). In: Der Phönix 2 (1851) 94 sq., num. 12; id.: Volkslieder und räthsel aus Vorarlberg. In: Frommann (wie not. 8) t. 3, 394⫺401. ⫺ 12 z. B. id.: Aberglaube und Gebräuche in Vorarlberg. In: Der Phönix 1 (1850) 274, num. 66. ⫺ 13 id. 21850 (wie not. 6) VI. ⫺ 14 cf. id. 1950 (wie not. 1) 26;
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Strasser (wie not. 2) 54. ⫺ 15 V., F. J.: Beitr.e zur dt. Mythologie gesammelt in Churraetien. Chur 1862. ⫺ 16 Strasser (wie not. 2) 78; V. 21889 (wie not. 1) LX sq. ⫺ 17 cf. Strasser (wie not. 2) 77⫺94. ⫺ 18 id. 2 1850 (wie not. 6) VIII. ⫺ 19 Strasser (wie not. 2) 80 sq. ⫺ 20 ibid., 80.
Innsbruck
Ingo Schneider
Vorladung vor Gottes Gericht (Mot. M 341.4) meint gewöhnlich die Ladung aller Menschen vor das J Jüngste Gericht am Weltende (cf. J Eschatologie), bes. aber eine vorwiegend in Exempeln, Sagen und chronikalischen Erzählungen geschilderte Form der rechtlichen Selbsthilfe: Ein unschuldig (zum Tode) Verurteilter ([vermeintlich] ungerecht Behandelter oder Gekränkter, gelegentlich auch ein Toter; J Urteil), lädt, nachdem alle irdischen Rechtsmittel versagen, seinen Richter (Streitgegner) innerhalb einer bestimmten Frist vor den Richterstuhl Gottes (ins Tal Josaphat bei Jerusalem, nach dem Propheten Joel [4,2; 4,12] Stätte des Jüngsten Gerichts), worauf der Beklagte dem Kläger meist in den Tod nachfolgen muß1.
Den Hintergrund der V. vor G. G. bilden die Vorstellung des iudicium singulare (iudicium particulare), des Gerichts über den einzelnen unmittelbar nach dem Tod, die Auffassung der Beziehung zu Gott als Rechtsverhältnis und schließlich der auch dem J Gottesurteil zugrundeliegende Glaube, daß Gott weder die Verurteilung eines Unschuldigen noch einen Rechtsbruch zulasse (J Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit). Die Tatsache, daß mit der V. vor G. G. der Tod des Beklagten gefordert wurde, verlieh dieser Rechtsformel magischen Charakter und rückte sie damit in die Nähe des J Fluchs, dem dann bes. Wirksamkeit zugesprochen wurde, wenn ihn Personen in einem Ausnahmezustand (Alte, Schwangere, zum Tode Verurteilte etc.) äußerten2. Die von S. Hardung gesammelten ca 90 Belege zur V. vor G. G. reichen zeitlich vom 6. bis zum beginnenden 20. Jh.3, die frühesten Belege stammen aus der Historia Francorum (2,23; 5,36) des J Gregor von Tours4. Geogr. liegt der Schwerpunkt im dt.sprachigen Raum, vereinzelt finden sich auch Beispiele aus der Bretagne, Flandern, England, Schottland, Spanien, Italien und Ungarn5. Als Kläger erscheinen bis zum 12. Jh. ausschließlich hohe
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Vorladung vor Gottes Gericht
Geistliche, in der Folge weltliche Adlige, Bürger und Soldaten, ab dem 16. Jh. auch Bauern. Einzig in deren Umkreis wurde die V. vor G. G. noch bis zum 20. Jh. praktiziert. Die Beklagten sind ⫺ entsprechend der Natur der V. vor G. G. als letztes Rechtsmittel gegen einen übermächtigen Gegner ⫺ bis zum 16. Jh. ausschließlich Vertreter der geistlichen und weltlichen Macht, ab dem 17. Jh. auch Angehörige des ,Volkes‘6. Unter den Vorgeladenen finden sich u. a. Kaiser Otto I., die Päpste Innozenz IV. und Gregor XI., Königin Margarete von Dänemark und König Ferdinand IV. von Spanien7. In ca einem Drittel der Belege erfolgt die V. vor G. G. aus Empörung über willkürliche Todesurteile8, wie sich beispielhaft an dem bei Johannes J Pauli ausdrücklich als Warnung für „falsche […] Richter, die uß Neid und Haß richten“, erzählten Fall aus dem 15. Jh. zeigen läßt: Ein Ritter lädt Herzog Rudolf von Österreich, der ihn ohne ersichtlichen Grund ertränken lassen will, binnen Jahresfrist vor Gottes Gericht, worauf der Herzog zunächst über die Ladung spottet, nach einem Jahr aber schwer erkrankt und sein Ende nahen fühlt9. Die hier gesetzte Frist von einem Jahr ist neben der dreitägigen die am häufigsten genannte10. Als Extremfall lädt Hieronymus von Prag, der 1416 in Konstanz verbrannte Mitstreiter von Jan Hus, seine Richter in 100 Jahren, also in der Zeit J Luthers, vor Gottes Gericht. Dieser Beleg erscheint erstmals in Joachim J Camerarius’ Historica narratio de fratrum orthodoxorum ecclesiis in Bohemia, Moravia, Polonia (1605) und stellt eine protestant. Märtyrerlegende dar11. Als Ort des Gerichts wird, wie seit dieser Zeit üblich, das Tal Josaphat angegeben, neben dem unbestimmteren Gericht Gottes und dem Jüngsten Gericht12. In Belegen aus der Bretagne wurde vor den hl. Ivo (Yves He´lory, 1253⫺1303), den Rechtsbeistand der Armen und Hilflosen, geladen13. Bis auf wenige Ausnahmen bringt der Kläger die V. vor G. G. kurz vor seinem Tod mündlich vor14. Ebenso charakteristisch für die Mehrzahl der Belege ist die Erwähnung bzw. Andeutung des Todes des Beklagten, wodurch die Glaubwürdigkeit der Erzählung und ihre allfällige Warnabsicht untermauert werden sollten; selten kommt eine Aussöhnung oder Begnadigung des Verurteilten vor15.
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Neben der Hinrichtung Unschuldiger sind Rechtsstreitigkeiten häufig Grund für die V. vor G. G.; die Belege reichen von der in einem Meuchelmord endenden Fehde um einen Wegzoll16 bis hin zu Auseinandersetzungen um Besitz und Geld, wie z. B. den Diebstahl von Pfählen aus einem Weingarten17. Auch gebrochene Liebes- und Treueversprechen können Anlaß für eine V. vor G. G. sein, wie in einem Lied, das Achim von J Arnim und Clemens J Brentano in Des Knaben Wunderhorn publizierten: Eine Mutter zwingt ihren Sohn, seine Liebste zu verlassen und eine andere zu heiraten. Kurz nach der Hochzeit erkrankt er schwer und will von seiner früheren Geliebten Abschied nehmen, sie aber lädt ihn vor Gottes Gericht, worauf er die Vorladung auf seine Eltern überträgt, die dann in der gesetzten Frist von zwei Monaten sterben18.
In Sagen findet sich gelegentlich eine Kontamination der V. vor G. G. mit AaTh/ATU 470 A: J Don Juan: Ein Betrunkener verspottet einen Gehenkten (einen Totenschädel am Friedhof) und lädt diesen zu sich ein. Der Tote folgt der Einladung und lädt seinerseits den Frevler ein, allerdings nicht zum Mahl, sondern vor Gottes Gericht, worauf dieser innerhalb der gesetzten Frist zu Tode kommt. In Var.n aus den kathol. Kantonen der Schweiz kann sich der Geladene durch die Fürbitte eines sog. Westerkindes (von lat. vestis baptismalis: Taufkleid), eines getauften, aber ohne irdische Nahrung verstorbenen Kindes, dem Zugriff des Toten entziehen19. Das Motiv der Verspottung findet sich auch in einer Sage aus Vorarlberg, in der eine wegen ihrer Armut verhöhnte Frau ihre reiche Widersacherin vor Gottes Gericht lädt, worauf beide innerhalb kurzer Zeit sterben20. Der Rechtsbrauch der V. vor G. G. wurde wegen der Gefahr des Mißbrauchs und der (durchaus psychol. erklärbaren) Todesfolge vor allem seit Beginn der Neuzeit sowohl von kirchlicher als auch von staatlicher Seite heftig kritisiert, wiederholt verboten und mit Strafen belegt; er war ein wichtiger Diskussionspunkt in der ⫺ teils befürwortenden, teils ablehnenden ⫺ theol. und juristischen Lit. des 16.⫺ 18. Jh.s, die auch den Großteil der Belege überliefert21. 1
Hardung, S.: Die V. vor G. G. Ein Beitr. zur rechtlichen und religiösen Vk. Bühl 1934, 12; Müller/Röhrich, num. F 30; Peuckert, W.-E.: Josaphat, Tal. In:
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Vorlesen ⫺ Vorurteil
HDA 4 (1931⫺32) 770⫺774; Josaphat, Ladung ins Tal J. In: Hb. der Religionsgeschichte 2. Göttingen 1972, 424⫺426. ⫺ 2 Hardung (wie not. 1) 70 sq., 74; Künßberg, E. von: Rechtsgeschichte und Vk. In: Jb. für hist. Vk. 1 (1925) 90; Fehr, H.: Das Recht in der Dichtung. Bern 1930, 564 sq. ⫺ 3 Hardung (wie not. 1) 18⫺42. ⫺ 4 ibid., num. 1, 2.⫺ 5 Fehr (wie not. 2) num. 78, 79, 85, 86, 18, 31, 27, 28, 33, 58; Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, num. 195119; cf. Petzoldt, L.: Der Tote als Gast (FFC 200). Hels. 1968, 33 (ungarndt.). ⫺ 6 Hardung (wie not. 1) 45, 48 (Tabellen zur ständischen Verteilung der Kläger und Beklagten). ⫺ 7 ibid., num. 5, 13, 18, 20, 27. ⫺ 8 ibid., num. 17, 17 a, 21, 23, 38, 39, 51, 52 (Hinrichtungen von Hexen und Häretikern); Graf, K.: Erzählmotive in frühneuzeitlichen Kriminalqu.n. In: Folklore als Tatsachenbericht. ed. J. Beyer/R. Hiiemäe. Tartu 2001, 21⫺36, hier 33. ⫺ 9 Pauli/Bolte, num. 130. ⫺ 10 Hardung (wie not. 1) 66 (Tabelle). ⫺ 11 ibid., num. 21. ⫺ 12 ibid., 55. ⫺ 13 ibid., num. 78 sq. ⫺ 14 ibid., num. 14 (Kläger läßt sich vor dem Tor der Kapelle des Beklagten bestatten), 16 (Kläger läßt Inschrift mit der Anklage auf dem Sarkophag anbringen), 55 (Kläger läßt die V. vor G. G. bei der Leichenpredigt aussprechen). ⫺ 15 ibid., num. 12, 38. ⫺ 16 Liliencron, R. von (ed.): Die hist. Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jh. 3. Lpz. 1867, num. 264. ⫺ 17 Hardung (wie not. 1) num. 57, cf. num. 72⫺74. ⫺ 18 Erk/Böhme 1, num. 216 (⫽ Arnim, A. von/Brentano, C.: Des Knaben Wunderhorn 2. ed. H. Rölleke. Stg. 1987, 198 sq.); Hardung (wie not. 1) num. 63, cf. auch num. 64. ⫺ 19 Müller, J.: Sagen aus Uri 1. Basel 1926 (Nachdr. 1969), num. 93, 1375, 1376; Kuoni, J.: Sagen des Kantons St. Gallen. St. Gallen 1903, num. 269; Tscheinen, M./ Ruppen, P. J.: Walliser Sagen. Sitten 1872, num. 163; cf. auch Carlen, L.: Die V. vor G. G. nach Walliser Qu.n. In: SAVk. 52 (1956) 10⫺18; Wildhaber, R.: Die Sage vom Westerkind. In: Schweizer Vk. 37 (1947) 102⫺107. ⫺ 20 Beitl, R.: Im Sagenwald. Neue Sagen aus Vorarlberg. (Feldkirch 1953) Nachdr. Bregenz 1982, num. 270. ⫺ 21 cf. Hardung (wie not. 1) 77⫺87, 88⫺95 (Qu.nverz.).
Graz
Bernd Steinbauer
Vorlesen J Lesen, Leser Vorurteil, Meinung oder Haltung, die ohne solide Kenntnis oder Erfahrung vor allem hinsichtlich einer Einzelperson oder einer Personengruppe gefaßt wird und in der Regel deren negative Bewertung enthält. In der V.sforschung wird der Begriff bes. auf soziale Gruppen bezogen und seine affektive Komponente
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(J Affektive Funktion) betont1. Im Gegensatz dazu wird der Terminus J Stereotyp primär auf die kognitive Verarbeitung (J Kognitive Funktion) von sozialen Fakten und deren schematische Vereinfachung zur leichteren und schnelleren Orientierung innerhalb der Gesellschaft, Umwelt etc. bezogen, J Diskriminierung auf den konativen Aspekt (J Konative Funktion), auf Verhalten und Handeln, das sich in der Meidung von Angehörigen einer Gruppe oder Feindseligkeit und J Aggression äußern kann. Der Erwerb von V.en wird im Zusammenhang mit Sozialisation oder Kommunikationsprozessen, in der sozialen Interaktion innerhalb einer Gruppe, aber auch gruppenübergreifend gesehen2. Als Bewertung einer Gruppe durch eine andere ist das V. zugleich impliziter Ausdruck der Auffassung der wertenden Gruppe von sich selbst und insofern im Kontext einer Ingroup-Outgroup-Beziehung zu sehen3. Die Funktionen von V.en liegen in der Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls, der Kanalisierung von Aggressionen sowie der kognitiven Bewältigung komplexer Zusammenhänge. Abgrenzung erfolgt entweder gegenüber einer Minderheit oder marginalisierten Gruppe oder gegenüber einem (potentiellen) Konkurrenten. Bes. häufig begegnen V.e gegenüber anderen ethnischen Gruppen und ethnischen Minderheiten (Ethnozentrismus), daneben finden sich V.e gegenüber Frauen, Kindern, alten Menschen, Menschen mit bes. körperlichen Merkmalen (Behinderte), Homosexuellen, bestimmten Berufsgruppen und Bildungsschichten (z. B. Antiintellektualismus), gesellschaftlichen Randgruppen und sozialen Schichten, Religionsgruppen etc. V.e zeichnen sich durch eine ausgeprägte Stabilität, auch gegen Aufklärungsbestrebungen, aus. In der populären Überlieferung finden sich V.e überall dort, wo Erzählungen eine stabilisierende oder eine Ventilfunktion haben oder zur religiösen oder ideologischen J Manipulation verwendet werden. Naturgemäß begegnen in Volkserzählungen vor allem lange tradierte V. e. Dabei ist davon auszugehen, daß V.e in der hist. Rezeption nicht unbedingt als solche wahrgenommen wurden. V.e gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen, bes. gegenüber J Juden, J Zigeunern, J Negern und Indianern nehmen den weitaus
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Vorurteil
größten Raum ein (J Stereotypen, ethnische; J Fremde[r]; J Rassismus; cf. auch J Ortsneckerei)4. An ihnen zeigt sich die Stabilität tradierter Zuschreibungen insofern bes. deutlich, als zwar die konkreten Inhalte der Vorstellungen wandelbar sein können (z. B. J Türke, Türkenbild), die negative Bewertung einer ethnischen Gruppe jedoch bestehenbleibt. Die europ. Emanzipationsbewegungen haben zu einer Sensibilisierung hinsichtlich der Diskriminierung sozial marginalisierter Gruppen geführt. Erzählungen, in denen J Frauen, J Kinder, J alte Leute und Menschen mit bes. körperlichen Merkmalen (vor allem Behinderungen) mit stereotypen Auffassungen belegt, mit Feindseligkeiten bedacht oder mißhandelt werden, widersprechen modernen ethischen Auffassungen. Solche Erzählungen werden daher in aufgeklärten Kontexten mit Distanz betrachtet: Z. B. wird auf die misogyne Tendenz von in patriarchalisch geprägten Gesellschaften entstandenen Texten und deren Funktion hinsichtlich der Verfestigung von V.sstrukturen hingewiesen (z. B. AaTh/ATU 1164: J Belfagor; AaTh/ATU 1170: Böses J Weib als schlechte Ware; AaTh/ATU 1353: Böses J Weib schlimmer als der Teufel; AaTh/ ATU 1510: J Witwe von Ephesus; J Korb: Gottlob, der K. ist fertig!). Ähnliches gilt für vorurteilsgesteuerte Diffamierungen Behinderter (J Buckel, Buckliger; J Blind, Blindheit; J Einäugiger, Einäugigkeit; J Hinken, Hinkender; J Krüppel; J Mißgeburt; J Stottererwitze und -schwänke) und mit bes. Merkmalen behafteter Personen (J Rothaarig)5. Darüber hinaus finden sich in populären Überlieferungen V.e gegenüber bestimmten Berufsgruppen: So galten J Kaufleute, J Bäkker, Müller (J Mühle, Mühlstein, Müller), J Schneider, J Schuster und J Weber als unehrlich, da man ihnen unterstellte, daß sie stets etwas für sich selbst abzweigten, und andere wie Bader, J Barbiere, J Schinder, J Henker und Scharfrichter als unehrenhaft (J Beruf, Berufsschwänke). J Ständespott, wenn er sich z. B. gegen Geistliche oder Adlige richtete, verwendete V.e zur J Sozialkritik. Dagegen scheinen Erzählungen z. B. von reichen J Bettlern (Kap. 4) oder von Personen, die sich lediglich als Bettler ausgeben, das V. vom ,Sozialschmarotzer‘ zu bestätigen.
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Während V.e in Schwänken und Witzen wie auch in Karikatur und Satire im wesentlichen auf die Kanalisierung von Aggressionen zielen, sind sie im Märchen mitunter nur schwer von einer überspitzten Darstellung (J Extreme; J Kontraste; J Übertreibung) dualistischer Gegensätze (J Konflikt; J Gut und böse; J Stark und schwach; J Schön und häßlich; J Dummheit) zu unterscheiden6. Die gängige V.sstruktur, die meist der Erzeugung erzählerischer J Dynamik dient, besteht hier darin, daß alles, was häßlich, gebrechlich, schlecht gekleidet etc. ist, auch böse sei. Dies gilt für die zentralen Figuren in Märchen allerdings in unterschiedlicher Weise: Der schlecht behandelte, J unscheinbare Protagonist, das J Findelkind, die J Waise oder der J Kahlkopf, erlangen letztlich Reichtum und Glück. Seine J Gegenspieler, z. B. die böse J Stiefmutter, die häßliche Stiefschwester (J Stiefgeschwister) oder der J Usurpator werden dagegen grausam bestraft. Oft negativ gezeichnete Figuren wie alte Menschen stehen dem Helden als J Ratgeber zur Seite. Märchenhelden sind sich der stereotyp negativen Eigenschaften anderer Märchenfiguren nicht unbedingt bewußt. Anders als im Warnmärchen vom J Rotkäppchen (AaTh/ ATU 333) muß ihnen dies jedoch nicht zum Nachteil gereichen. So wird der „arme, fleißige Fleischhauer, der naiv seine Bratwurst dem Teufel anbietet, […] vom Teufel reich belohnt“7. In AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen ist es die an Dummheit grenzende J Naivität des Helden, die ihn keine Angst verspüren und die gefährliche Situation meistern läßt. Moderne Märchenformen bedienen sich des klassischen Inventars an Märchenfiguren und deuten es neu, wobei es auch hinsichtlich tradierter V.e zu Verschiebungen kommen kann. In William Steigs Shrek! (1990) befreit der häßliche, stinkende Oger, eigentlich eine typische Gegenspielerfigur, die Prinzessin, die von ebenso abstoßendem Äußeren ist, und findet mit ihr sein Glück8. Der moderne J Witz9 und die massenmedial verbreitete Comedy arbeiten mit als Provokation gegen die politische Korrektheit öffentlicher Stellungnahmen gedachten Äußerungen, in denen bes. auf Fremdenfeindlichkeit und Sexismus zurückgegriffen wird. Sie bedienen sich jener V.e, die im öffentlichen
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Vorzeichen ⫺ Vrazˇinovski, Tanas
Diskurs nicht mehr toleriert, in der (populären) Lit.10 sowie in den Massenmedien11 jedoch vermittelt werden, da sie offenbar in den Köpfen der Menschen nach wie vor präsent sind. 1
Güttler, P. O.: Sozialpsychologie. Soziale Einstellungen, V.e, Einstellungsänderungen. Mü./Wien 2 1996. ⫺ 2 cf. z. B. Adorno, T. W. u. a.: The Authoritarian Personality. N. Y. 1950; Hamilton, D. L./Gifford, R. K.: Illusory Correlation in Interpersonal Perception. A Cognitive Basis of Stereotypic Judgements. In: J. of Experimental Social Psychology 12 (1976) 392⫺407; Hamilton, D. L./Sherman, S. J.: Illusory Correlation. Implications of Stereotype Theory and Research. In: Bar-Tal, D. u. a. (edd.): Stereotyping and Prejudice. N. Y. 1989; Sherif, M. und C. W.: Social Psychology. N. Y. 1962; Tajfel, H.: Gruppenkonflikt und V. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen. Bern 1982. ⫺ 3 Hofstätter, P. R.: Gruppendynamik. Hbg 1972. ⫺ 4 Brückner, W.: Stereotype Anschauungen über Alltag und Volksleben in der Aufklärungslit. Neue Wahrnehmungsparadigmen, ethnozentrische V.e und merkantile Argumentationsmuster. In: Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. Festschr. G. Schroubek. Mü. 1988, 121⫺131; id.: Von Welschen und Itakern. Oberschichtliche V.e und volkstümliche Stereotypenbildung im dt.sprachigen Mitteleuropa. In: Bayer. Bll. für Vk. 21,4 (1994) 204⫺216; Ahlheim, K.: Die Gewalt des V. s. Schwalbach 2007; Marzolph, U.: Regionale und ethnische Stereotype im Witz der Exil-Iraner. In: Hose, S. (ed.): Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. Bautzen 2008, 196⫺ 205. ⫺ 5 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, 240; Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, bes. 65⫺67; Mürner, C.: Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen. Weinheim u. a. 2003; Elle, K.: Fremde Wesen. Menschen mit Behinderung in den Oberlausitzer Volkssagen. In: Hose (wie not. 4) 229⫺243; Gottwald, C.: Lachen über das Andere. Eine hist. Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Bielefeld 2009, 164⫺166; cf. Baumeister, P.: Die literar. Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jh. Ffm. 1991. ⫺ 6 z. B. Shojaei Kawan, C.: Xenophobie und weibliche Klage im Märchen von den drei Orangen. In: Hose (wie not. 4) 42⫺56. ⫺ 7 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 21. ⫺ 8 cf. Frizzoni, B.: „Shrek“ ⫺ ein postmodernes Märchen. In: Schmitt, C. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster u. a. 2008, 187⫺202. ⫺ 9 Davies, C.: Ethnic Humor around the World. Bloom./Indianapolis 1990. ⫺ 10 Eliott, J.: Stereotyp und V. in der Lit. Unters.en zu Autoren des 20. Jh.s. Göttingen 1978; Bernhard, N.: Tarzan und die Herrenrasse. Rassismus in der Lit. Basel 1986; Blaicher, G. (ed.): Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und V. in der engl.sprachigen Lit. Tübingen 1987; Zoll, S.: Triviallit. des 19. Jh.s als Qu. der hist. Stereotypenfor-
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schung. Das Beispiel Karl May. In: Hahn, H. H./ Scholz, S.: Stereotyp, Identität und Geschichte. Ffm. u. a. 2002, 365⫺380; Udolph, L.: Araber, Türken und Karl May im Lande des Padischah. In: Hose (wie not. 4) 179⫺195. ⫺ 11 cf. z. B. Wagener, S.: Feindbilder. Wie kollektiver Haß entsteht. B. 1999; Wuerth, A.: Stereotypisierung von Sprachregionen im Schweizer Fernsehen. Bern 1999; Tas¸, M.: Die Konstruktion „politischer Bilder“ und ihre Vermittlungsstruktur im TV-Unterhaltungsprogramm. Eine medienwiss. Analyse ausgewählter Kriminalserien in den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern. Stg. 2005; Hiiemäe, R.: Strategien zur Bewältigung von Ängsten durch massenmediales Erzählen. In: Schmitt (wie not. 8) 245⫺254; Meder, T.: „Ostension“. Ein Ansatz zur medienvermittelten Interaktion zwischen Sage und Realität am Beispiel von Immigranten (bes. Muslimen) in den Niederlanden als den gefährlichen „Anderen“. ibid., 255⫺273; Kissler, A.: Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet. Gütersloh 2009, bes. 90⫺100.
Göttingen
Doris Boden
Vorzeichen J Prodigien
Vrazˇinovski, Tanas, *Kristalopigi (Griechenland; heute Smrdesˇ in Mazedonien) 23. 6. 1941, mazedon. Erzählforscher. Die Familie emigrierte 1948 zunächst nach Rumänien, 1955 nach Polen. 1961⫺66 studierte V. Slav. Philologie an der Univ. Sofia. 1971⫺90 war er am Marko K. Cepenkov-Inst. für Folklore in Skopje tätig, 1981 wurde er an der Univ. Skopje mit der Diss. Socijalno-klasnite odnosi vo makedonskite narodni prikazni ([Die Beziehungen der sozialen Klassen in den mazedon. Volkserzählungen] Skopje 1982) promoviert. Seit 1990 war V. am Inst. für altslav. Kultur in Prilep beschäftigt, dessen Direktor er von 2001 bis zu seiner Pensionierung 2005 war. Als Gastprofessor lehrte V. mehrfach an poln. Univ.en. Für seine wiss. Verdienste wurde er sowohl von poln. als von auch mazedon. Seite mit hohen Auszeichnungen geehrt. V.s Hauptarbeitsgebiet ist die Dokumentation und Erforschung der mazedon. Volkskultur, vor allem traditioneller Erzählungen. Unter Berücksichtigung theoretischer sowie interdisziplinärer und komparatistischer Gesichtspunkte hat er hierzu neben zahlreichen Aufsätzen Sammelbände mit aus mündl. Überlieferung aufgezeichneten Märchen, Sa-
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Vries, Jan Pieter Marie Laurens de
gen und Legenden veröffentlicht1. Bes. Aufmerksamkeit widmete V. den hist. Sagen über die mazedon. Aufstände gegen die osman. Herrschaft Ende des 19./Anfang des 20. Jh.s2. Als Resultat seiner Forschungsaufenthalte bei mazedon. Exilgemeinden in Kanada (1987, 1993) legte er eine Reihe von Publ.en vor, in denen die gesammelten Volkserzählungen sowohl dokumentiert als auch eingehend analysiert werden3. Weitgehend anhand von ihm selbst gesammelter Materialien verfaßte V. zudem zahlreiche grundlegende Monogr.n zu unterschiedlichen Bereichen der Folkloristik und der Ethnologie, bes. zu populären Glaubensvorstellungen4. Darüber hinaus hat V. mehrere nationale wie internat. wiss. Forschungsvorhaben durchgeführt bzw. geleitet. Zusammen mit V. Karadzˇoski und S. Jovanovska-Rizoska hat er sich mit den Forschungen des poln. Prälaten J. Obrembski (1905⫺67) zur mazedon. Volkskultur befaßt5. Im Rahmen einer großangelegten komparatistischen Studie, die vom Cepenkov-Inst. in Skopje zusammen mit dem Inst. für Ethnologie und Kulturanthropologie der Univ. Warschau durchgeführt wurde, untersuchte V. zusammen mit K. Wrocławski die populäre Kultur des mazedon. Dorfs Jablanica und des poln. Dorfs Pjentki-Grenzki6. 1
id.: Makedonski narodni prikazni za zˇivotni (Mazedon. Volksmärchen über Tiere). Skopje 1976; id.: Makedonski narodni volsˇebni prikazni (Mazedon. volkstümliche Zaubermärchen). Skopje 1986; id.: Makedonski predanija za mesta (Mazedon. Ortssagen). Skopje 1979; id.: Makedonski narodni predanija (Mazedon. Volksüberlieferungen). Skopje 1986; id./Spirovska, L.: Vampirite vo makedonskite veruvanja i predanija (Vampire in mazedon. Glaubensvorstellungen und Überlieferungen). Skopje 1986; id.: Ubavinite na Makedonija niz predanija i legendi (Der Reiz Mazedoniens in Überlieferungen und Sagen). Skopje 1995; id.: Narodna mitologija na Makedoncite (Die volkstümliche Mythologie der Mazedonier). Skopje 1998. ⫺ 2 id.: Razlovecˇkoto vostanie vo usnata prozna tradicija (Der Aufstand von Razlovec in der mündl. Prosaüberlieferung). Skopje 1976; id.: Ilindenskiot prozen revolucioneren folklor (Die Prosafolklore der Ilinden-Revolution). Skopje 1981; id./ Penusˇliski, K.: Goce Delcˇev vo makedonskiot folklor (Goce Delcˇev in der mazedon. Folklore). Skopje 1985. ⫺ 3 id.: Narodni prikazni na Makedoncite iselenici vo Kanada (Volkserzählungen mazedon. Emigranten in Kanada). Skopje 1990; id.: Makedonski narodni prikazni od bregot na Prespanskoto Ezero raskazˇani od Slave Jankulovski-Grpcˇevski (Maze-
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don. Volksmärchen vom Ufer des Prespa-Sees, erzählt von Slave Jankulovski-Grpcˇevski). Skopje 1991. ⫺ 4 V., T.: Makedonski istoriski predanija (Mazedon. hist. Überlieferungen). Skopje 1992; id.: Narodna tradicija, religija, kultura (Volksüberlieferung, Religion, Kultur). Skopje 1999; id.: Akterstvoto na narodniot raskazˇuvacˇ (Die Aufführungspraxis des Volkserzählers). Skopje 2002; id.: Folkloristicˇko-etnolosˇki prilozi (Beitr.e zu Folklore und Ethnologie). Skopje 2005; id.: Narodna demonologija na Makedoncite (Die volkstümliche Dämonologie der Mazedonier). Skopje 1995; id.: Narodna mitologija na Makedoncite (Die volkstümliche Mythologie der Mazedonier). Skopje 1998; id.: Recˇnik na narodnata mitologija na Makedoncite (Wb. der volkstümlichen Mythologie der Mazedonier). Skopje 2000. ⫺ 5 id./Karadzˇoski, V./Jovanovska-Rizoska, S.: Jozef Obrembski ⫺ znacˇaen istrazˇuvacˇ na narodnata kultura na Makedoncite (Jozef Obrembski, ein wichtiger Erforscher der Volkskultur der Mazedonier). Skopje 2006. ⫺ 6 id./Wrocławski, K.: Sporedbena monografija na makedonskoto selo Jablanica i polskoto selo Pjentki-Grenzki. Mitski predanija (Vergleichende Studie des mazedon. Dorfs Jablanica und des poln. Dorfs Pjentki-Grenzki. Mythische Überlieferungen). Skopje 1992 (poln. iid./Zadroz˙yn´ska, A.: Ludowe obrze˛dy i podania. Etnograficzne i folklorystyczne studia poro´wnawcze wsi polskiej i macedon´skiej [Volksbräuche und -sagen. Poln. und mazedon. vergleichende Studien zur Ethnographie und Folkloristik]. W. 2002).
Skopje
Bone Velicˇkovski
Vries, Jan Pieter Marie Laurens de, *Amsterdam 11. 2. 1890, † Utrecht 23. 7. 1964, ndl. Sprach- und Lit.wissenschaftler1. De V. war Schüler des Nordisten R. C. Boer und studierte in Amsterdam vor allem Niederländisch, germ. Sprach- und Lit.wissenschaft, Sanskrit und Pali. 1915 wurde er dort mit einer Diss. über färö. Balladen promoviert2. Nach der Militärdienstzeit 1914⫺18 war er 1919⫺26 Lehrer für Niederländisch am Gymnasium in Arnheim. 1926 wurde er als Ordinarius an die Univ. Leiden berufen; 1938 wurde er Mitglied der Kgl. Akad. der Wiss.en in Amsterdam. Nach der Besetzung der Niederlande durch die dt. Wehrmacht 1940 trat de V. in vielen Bereichen für eine Zusammenarbeit mit den Deutschen ein. Er wurde Vorsitzender der ndl. Kulturkammer und erfuhr für seine wiss. Arbeiten eine Förderung durch die von der SS geprägte Forschungsgemeinschaft Dt. Ahnenerbe. 1944 floh de V. nach Leipzig, wurde nach Kriegsende in den Niederlanden interniert und
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1948 durch ein Spruchkammerverfahren als Mitläufer eingestuft. De V. verlor seine Univ.sprofessur und seine Mitgliedschaft bei der Akad. der Wiss.en und wurde als Studienrat am Gymnasium von Oostburg angestellt. Nach seiner Pensionierung 1955 übersiedelte er nach Utrecht, wo er weiterhin wiss. arbeitete3. Seit den 1960er Jahren ist de V.’ Verhältnis zum Nationalsozialismus von verschiedenen Fachleuten differenziert bewertet worden4. De V. war offensichtlich nie bereit, grundlegende Prinzipien der nationalsozialistischen Ideologie zu akzeptieren, wenn sie seinen wiss. Auffassungen widersprachen: So wandte er sich z. B. in der 1. Aufl. seiner Altgerm. Religionsgeschichte (1935/37)5 entschieden gegen die Einzigartigkeit der nord. Rasse und stellte damit eine der Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie in Frage; auch der Kontinuität von Ideen und Brauch von der germ. Zeit bis in die Gegenwart begegnete er mit Skepsis6. De V.’ Hauptarbeitsgebiete waren germ. Sprach- und Lit.wissenschaft, germ. Geschichte (vor allem Kultur- und Geistesgeschichte), germ. Religionsgeschichte, altnord. Lit.geschichte sowie Vk. (bes. Heldensagenund Märchenforschung). Mit der Erforschung von z. T. bis ins späte MA. zurückgehenden Erzählstoffen (J Sigurd, Siegfried; J Nibelungen; J Vater-Sohn-Motiv; J Roland) begann de V. bereits in seiner Diss. über färö. Balladen, eine der frühesten großen Unters.en dieser oft mehrere hundert Strophen umfassenden Texte7. Nach einem Studienaufenthalt in Norwegen veröffentlichte er Aufsätze zu Fragen der ma. und der neueren norw. Lit. und übersetzte eine Reihe norw. literar. Werke (z. B. Ibsen). Er legte mehrere kleinere Unters.en vor, so etwa zu Brautwerbungssagen8 und ostind. Versionen von AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans9 sowie zur Sage von dem als Bauopfer eingemauerten Kind (J Einmauern)10. Seine zweibändige Edition von Märchen und Fabeln aus den ndl. Kolonien in Ostindien11 gilt bis heute als das wertvollste Dokument indon. Erzählguts (J Indonesien). Die 190 Texte, unter denen Tiergeschichten eine bes. Rolle spielen, sind zumeist gedr. oder hs. Aufzeichnungen verschiedener Sammler oder Gewährsleute entnommen. Die Slg enthält umfangreiche Anmerkungen, ein knappes
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Reg. der Erzählmotive sowie ein Typenregister, das sich an A. J Aarnes Verz. der Märchentypen (FFC 3) anlehnt. 1928 legte de V. eine Monogr. über die Märchen von klugen Rätsellösern vor12. Ausgehend von der altnord. Saga von J Ragnar Lodbrok (13. Jh.) suchte er auf der Basis von 262 Var.n von AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter sowie mehr als 400 Fassungen verwandter Texte entsprechend der J geogr.-hist. Methode Entstehung und Ausbreitung des Märchens aufzuklären. Er kam entgegen der damals vorherrschenden Meinung, Volkserzählungen hätten nur ausnahmsweise aus literar. Qu.n geschöpft, zu dem Schluß, daß hier eine anfangs nur literar. tradierte Erzählung in die populäre Überlieferung von ganz Europa eingedrungen sei13. In diesem Zusammenhang verwies de V. auf die in der volkskundlichen Erzählforschung bis dato wenig beachtete Tatsache, daß es im MA. einen schroffen Gegensatz zwischen schriftl. und mündl. Überlieferung gerade nicht gegeben habe. Im Mittelpunkt von de V.’ Betrachtungen zum Märchen (1954) stehen generelle Fragen der Erzählforschung, z. B. J Gattungsprobleme14. Anhand einer großen Materialbasis hob er hervor, daß es keine speziellen Märchen-, Heldensagen- oder Mythenmotive gebe. Er erklärte zwei Kriterien als bestimmend für das Märchen: Es sei „das Erzeugnis einer einmaligen Kulturphase in aristokratischen Kreisen“15, und es zeige ⫺ insofern der Heldensage ähnlich ⫺ eine radikale Abtrennung von der Welt des J Numinosen16. Während die Heldensage danach strebe, die mythische Welt in sich aufzunehmen, löse sich das Märchen gerade von ihr17. In seiner Abhdlg über Heldenlied und Heldensage hob de V. die Bedeutung von Initiationsvorstellungen hervor18. Nachhaltiger als de V.’ Wirkung im Bereich der Erzählforschung war die seiner Arbeiten über die altnord. Lit.geschichte und die germ. Religionsgeschichte. Er hatte schon 1938 die J Edda ins Niederländische übersetzt19 und untersuchte einzelne ihrer Lieder20 sowie Sagas und Sagagruppen21, jedoch keine der großen Isländersagas. Für die Skaldendichtung entwickelte de V. chronol.-geistesgeschichtliche Gliederungsprinzipien, die noch lange Zeit eine wesentliche Grundlage für die Chro-
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nologie der Skaldendichtung auch in christl. Zeit bildeten22. Als erste Summa dieser literaturwiss. Unters.en erschien seine zweibändige Altnord. Lit.geschichte (1941/42)23. Mit der Konzentration auf die literar. wichtigsten isl. Werke verstärkte de V. den Eindruck, daß die altnord. Lit. im wesentlichen eine eigenständige Lit. mit eingeschränkten Kontakten zu den übrigen Lit.en des europ. MA.s darstellte. Das Werk prägte für lange Zeit die heute nicht mehr uneingeschränkt akzeptierte Auffassung von der altnord. Lit., bleibt aber eine der material- und kenntnisreichsten Darstellungen seiner Art. Zur germ. Religion und Mythologie legte de V. mehrere vielbeachtete Arbeiten vor, z. B. über den rätselhaften Gott J Loki, über die primordiale Schlucht Ginnungagap in einer Form der nordgerm. Kosmologie und über den Gott Odin in seinem Verhältnis zu agrarischen Praktiken24. 1935/37 veröffentlichte de V. im Auftrage des Verlags de Gruyter seine zweibändige Altgerm. Religionsgeschichte, die bis heute umfassendste Darstellung der germ. Religion und Mythologie, die in der 2. Aufl. 1956/57 außerordentlich stark verändert wurde25. Seine Auffassungen wurden kontrovers aufgenommen. Rückblickend wird erkennbar, daß die altgerm. Welt für ihn weitgehend sakral bestimmt war26, zugleich aber wandte er sich kritisch gegen eine Überbewertung des Numinosen (z. B. in Märchendeutungen) und die verbreitete Vorstellung des Weiterlebens alter Vorstellungen und Bräuche in modernen Überlieferungen. Auch wenn gerade seine großen literaturwiss. und religionshist. Darstellungen nicht mehr immer den heutigen Ansichten entsprechen, hat er doch wesentlich zu einer kritischen Diskussion beigetragen und unentbehrliche Grundlagen für die neuere Forschung gelegt. 1
Heeroma, K.: Vorw. In: V., J. de: Kl. Schr. ed. K. Heeroma/A. Kylstra. B. 1965, V⫺VII, 394⫺409 (Ausw.bibliogr.); Kylstra, A. D.: J. de V. und die erste Aufl. seiner „Altgerm. Religionsgeschichte“. In: Amsterdamer Beitr.e zur älteren Germanistik 29 (1989) 97⫺108; id.: J. de V. In: 100 jaar etymol. woordenboek van het Nederlands. Den Haag 1990, 93⫺114; id.: V., J. de. In: Biogr.-Bibliogr. Kirchenlex. 13. Hamm 1998, 108⫺117; V., J. de: Altnord. Lit.geschichte. B./N. Y. 31999, XIII⫺XLV (Vorw. S.
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Würth); Quak, A.: V., J. de. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 32. B. 2006, 651⫺654. ⫺ 2 V., J. de: Studien over Færösche Balladen. Diss. Amst./Haarlem 1915; cf. auch id.: Bemerkungen über die Qu.nverhältnisse der färö. Balladen. In: Zs. für dt. Philologie 56 (1931) 129⫺145. ⫺ 3 cf. zur Bibliogr. Meertens, P. J.: J. de V. In: Vk. 65 (1964) 97⫺113; Bolle, K. W.: J. de V. (1890⫺1964). In: History of Religions 5 (1965) 173⫺177; de V. 1965 (wie not. 1); Kylstra 1998 (wie not. 1); V., J. de: Altnord. Lit.geschichte 1⫺2. B. 1941/42 (21964/67); cf. auch not. 4. ⫺ 4 Dekker, T.: Een problematische poging tot rehabilitatie van J. de V. In: Volkskundig Bulletin 26,1 (2000) 73⫺81; Hofstee, W.: The Essence of Concrete Individuality. Gerardus van der Leeuw, J. de V., and National Socialism. In: Junginger, H. (ed.): The Study of Religion under the Impact of Fascism. Leiden 2008, 543⫺552; cf. Heeroma (wie not. 1) V⫺ VII; de V. 31999 (wie not. 1) XIII⫺XV; Quak (wie not. 1) 652. ⫺ 5 V., J. de: Altgerm. Religionsgeschichte 1⫺2. B./Lpz. 1935/37 (B. 21956/57, 3 1970). ⫺ 6 de V. 31999 (wie not. 1) XIII sq.; Kylstra 1989 (wie not. 1). ⫺ 7 de V. 1915 (wie not. 2). ⫺ 8 id.: Die Brautwerbungssagen. In: GRM 9 (1921) 330⫺ 341, 10 (1922) 31⫺44. ⫺ 9 id.: Het sprookje van Sterke Hans in Oost-Indie¨. In: Nederlandsch Tijdschrift voor Vk. 29 (1924) 97⫺123. ⫺ 10 id.: De sage van het ingemetselde kind. ibid. 32 (1927) 1⫺13. ⫺ 11 id.: Volksverhalen uit Oost-Indie¨ 1⫺2. Zutphen 1925/28. ⫺ 12 id.: Die Märchen von klugen Rätsellösern. Eine vergleichende Unters. (FFC 73). Hels. 1928. ⫺ 13 ibid., 426. ⫺ 14 id.: Betrachtungen zum Märchen bes. in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos (FFC 150). Hels. 1954. ⫺ 15 ibid., 178. ⫺ 16 ibid., 173. ⫺ 17 ibid., 175. ⫺ 18 id.: Heldenlied en heldensage. Utrecht/Antw. 1959 (dt. Bern/ Mü. 1961). ⫺ 19 id.: Edda, vertaald en van inleidingen voorzien. Amst. 1938 (81988). ⫺ 20 id.: Over de dateering der ÏrymskviÎa. In: Tijdschrift voor Nederlandsche taal- en letterkunde 47 (1928) 251⫺322; id.: Über die Datierung der Eddalieder. In: GRM 22 (1934) 253⫺263; id.: Om Eddaens visdomsdigtning [1934]. In: id. 1965 (wie not. 1) 223⫺262; id.: Die Völuspa´. In: GRM 24 (1936) 1⫺14; id.: Het korte Sigurdlied. In: Mededeelingen der Koninklijke Nederlandsche Akad. van Wetenschappen, Afdeeling Letterkunde N. S. 211 (1939) 367⫺441; id.: Die Helgilieder. In: Arkiv för Nordisk filologi 72 (1957) 123⫺154; id.: Das zweite GuÎru´nlied [1958]. In: id. 1965 (wie not. 1) 263⫺284. ⫺ 21 id.: Die hist. Grundlagen der Ragnarssaga LoÎbro´kar. In: Arkiv för Nordisk filologi 39 (1923) 244⫺274; id.: Die ostnord. Überlieferung der Sage von Ragnar LoÎbro´k. In: Acta philologica Scandinavica 2 (1927) 115⫺149; id.: Die Wikingersaga. In: GRM 15 (1927) 81⫺100; id.: Die westnord. Tradition der Sage von Ragnar Lodbrok [1928]. In: id. 1965 (wie not. 1) 285⫺330; id.: Die Entwicklung der Sage von den Lodbrokssöhnen in den hist. Qu.n. In: Arkiv för Nordisk filologi 44 (1928) 117⫺163; id.: Die isl. Saga und die mündl. Überlieferung. In: Mär-
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Vulpius, Christian August
chen, Mythos, Dichtung. Festschr. F. von der Leyen. Mü. 1963, 169⫺179. ⫺ 22 id.: De skaldenkenningen met mythologischen inhoud. Haarlem 1934. ⫺ 23 cf. bes. id. 31999 (wie not. 1). ⫺ 24 id.: Forschungsgeschichte der Mythologie. Fbg 1961; id.: The Problem of Loki (FFC 110). Hels. 1933; id.: Loki … und kein Ende. In: Festschr. F. R. Schröder. Heidelberg 1959, 1⫺10; id.: Ginnungagap [1930/31]. In: id. 1965 (wie not. 1) 113⫺132; id.: Contributions to the Study of Othin Especially in His Relation to Agricultural Practices in Modern Popular Lore (FFC 94). Hels. 1931. ⫺ 25 id. (wie not. 4). ⫺ 26 Kylstra 1998 (wie not. 1).
Deisenhofen
Kurt Schier
Vulpius, Christian August, *Weimar 23. 1. 1762, † ebenda 26. 6. 1827, dt. Schriftsteller1. V., Schwager J Goethes, studierte 1781⫺ 86 (?) Jura in Jena. Nach Aufenthalten (1788⫺ 90) in Nürnberg, Erlangen und Leipzig (u. a. Anstellung bei dem Verleger Göschen) arbeitete er unter der Leitung Goethes seit 1791 zunächst als freier Dramaturg und Dichter des Herzoglichen Hoftheaters in Weimar2 sowie seit 1797 als Registrator, seit 1801 als Sekretär und seit 1805 als Bibliothekar der Weimarer Herzoglichen Bibl.en3. 1803 erhielt er den Doktortitel der Univ. Jena, 1816 wurde er zum Großherzoglichen Rat und zum Ritter des Weißen Falkenordens ernannt. V., literar. auch aus finanzieller Not überaus produktiv4, verfaßte über 30 Dramen, ca 70 Romane, ein satirisches und ein mythol. Wb.5 sowie Werke über aktuelle politische Ereignisse6. Er bearbeitete die Libretti für über 30 Opern und Operetten, gab zunächst galante, später hist. orientierte Anthologien von Kuriositäten und biogr. Anekdoten7 sowie die Zss. Janus 1⫺2 (1800⫺01), Weimarisches Allerlei (1805), Curiositäten der physisch-literar.-artistisch-hist. Vor- und Mitwelt 1⫺10 (1811⫺23) und Die Vorzeit oder Geschichte, Dichtung, Kunst und Lit. des Vor- und MittelAlters 1⫺4 (1817⫺20) heraus, rezensierte für die Jenaische Allg. Lit.-Ztg und arbeitete an über 20 weiteren Zss. mit8. Seit 1782 war V. Mitarbeiter von H. A. O. Reichards Bibl. der Romane 1⫺21 (1778⫺94)9, die gekürzte Texte und theoretische Beitr.e enthielt und vor J. J Görres wesentlich zur Wiederentdeckung der sog. J Volksbücher beitrug10. Hierdurch sowie durch L. Wächters
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(unter dem Pseud. Veit Weber) veröff. Sagen der Vorzeit 1⫺7 (1787⫺98) angeregt, gab V. die Reihe Romantische Geschichten der Vorzeit 1⫺10 (Lpz. 1791⫺98) heraus, die eigene freie Fassungen älterer Ritterepen und -romane enthält. Den Begriff ,romantisch‘ verwendete V. vor allem zur Präsentation ma. und frühneuzeitlicher Stoffe (J Mittelalterrezeption, J Romantik) bzw. zur Situierung von Handlungen in einer idealisierten geschichtsfernen Ritterwelt, z. B. in den Slgen Romantische Wälder 1 (B./Lpz. 1796), Romantische Blätter (Lpz. 1798), Bibl. des Romantisch-Wunderbaren 1⫺2 (Lpz. 1805; t. 1 u. a. zu J Faust, J Roland, J Brandans Seefahrt, J Elementargeister, Oldenburger J Horn, J Wilde Jagd, J Frau Holle, J Tannhäuser und treuer Eckart, Blocksberg [J Hexe, Kap. 2. 2.2]; t. 2: J Amadis, Elementargeister, J Peter von Staufenberg) oder in Romanen wie Aurora, ein romantisches Gemälde der Vorzeit 1⫺2 (Lpz. 1794/ 95). Bedeutend war V. als ,eigentlicher Wiederentdecker‘ und ,entscheidender Anreger‘ des Nixenthemas vor J Tieck und J Fouque´ (J Melusine, J Undine, J Lorelei)11. Sein Roman Die Saal-Nixe. Eine Sage der Vorzeit (Lpz. 1795; spätere Ausg.n: Hulda, das schöne Wasserfräulein. Lpz. 1800; Hulda oder die Nymphe der Donau eigentlich die Saalnixe genannt. Lpz. 1804) erfuhr durch K. F. Henslers erfolgreiche Schauspielfassung Das Donauweibchen (Uraufführung Wien 1798, in V.s Bearb. seit 1802 in Weimar aufgeführt)12 großen Widerhall. Bereits 1797 ließ V. Erlinde, die IlmNixe folgen und nahm den Stoff wiederholt auf 13. V. siedelte seine ausschließlich weiblichen, durch Gesang verführenden J Wassergeister und ihre adligen, um die übernatürliche Herkunft ihrer Geliebten wissenden Liebhaber im ma. Thüringen an. Die das gleichzeitige Eheleben letzterer kontrastierenden und affirmativ geschilderten Liebesverhältnisse enden letztlich mit der Wiederherstellung traditioneller ehelicher Normen. In Sacheinführungen und in den Erzählungen popularisierte V. die Lehre von den Elementargeistern (J Paracelsus) ohne das Beseelungsmotiv14, so auch in Truthina, das Wunderfräulein der Berge (1822)15, einer dem Nixenmodell folgenden
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Vulpius, Christian August
Erzählung über einen weiblichen Luftgeist zur Zeit des Sängerkriegs auf der Wartburg. V.’ publikumsorientierte und überaus erfolgreiche Romane, die auf Elementen des J Schauerromans basieren, zahlreiche Liebesabenteuer enthalten sowie J Feen-, J Ritter-, J Räuber- und Geheimbundthemen miteinander kombinieren, sind Zeugnisse „der sich im Schatten der Weimarer Klassik entwickelnden modernen Unterhaltungsliteratur“ (cf. J Lesestoffe, populäre; J Unterhaltung; J Trivialliteratur)16. Die überwiegend negativen zeitgenössischen Rez.en der Romane V.’ spiegeln dabei die sich konstituierende Dichotomie von höherer und niederer Lit.17 Den größten literar. Erfolg und Einfluß (u. a. auf Karl J May)18 erreichte V. mit Rinaldo Rinaldini der Räuberhauptmann (Lpz. 1799), einem Bestseller mit acht Aufl.n, Forts.en von V. selbst (Ferrandino. Lpz. 1800; Orlando Orlandini 1⫺2. Rudolstadt 1802), Dramatisierungen, 35 Übers.en in elf Sprachen, Raubdrucken und zahlreichen Imitationen19. V. zeichnete Rinaldo als einen den Intrigen von Adel und Geheimbünden ausgelieferten, melancholischen und sich erotischer Libertinage hingebenden Menschen, der sich nach Rückkehr in ein bürgerliches Leben sehnt. Seine Tätigkeit als Bibliothekar ermöglichte V. ein exzessives Exzerpieren u. a. der Lit. der ital. Renaissance, des span. Siglo de Oro sowie der dt. frühen Neuzeit einschließlich von Chroniken, Flugschriften und Reiseberichten. Seine umfangreichen Kollektaneen20 bildeten sowohl die Basis seiner ⫺ meist anonym bzw. mit der Angabe ,vom Verf. der Saalnixe‘ oder ,vom Verf. des Rinaldo Rinaldini‘ erschienenen ⫺ literar. Produktion als auch seiner zahlreichen kulturhist. Beitr.e für ein breiteres Publikum: Textwiedergaben und Sachartikel kompilierender Natur über J Elfen21, den Hl. J Martin von Tours22, Var.n von AaTh/ATU 885 A: J Scheintote Prinzessin23 und AaTh/ ATU 956 B: Das tapfere J Mädchen und die Räuber24, die J Meistersinger25 oder die J Tanzwut26. Anerkennung erwarb sich V. als Spezialist im Bereich der Saxonia-Thuringica. Seine Vorliebe für die ,eigene Vorzeit‘ entsprach der zeitgenössischen Tendenz einer Emanzipation von antiken und bes. frz. Vorbildern, verbunden mit wachsendem Interesse
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am Nationalen. Die vier Begriffe Sage/Volkssage und Märchen/Volksmärchen gebrauchte er synonym für Sagen als Erzählungen aus der Vorzeit27, die er ohne jede Intention, mündl. Überlieferungen wiederzugeben, generell aus schriftl. Qu.n schöpfte. ,Entlarvung von Aberglauben‘ und der z. T. ironisierende Umgang mit mythol. Material kennzeichnen V. als Spätaufklärer28, seine MA.begeisterung und die Popularisierung älterer Stoffe weisen ihn als Vorläufer der Romantik aus. 1
Meier, A. (ed.): C. A. V. Eine Korrespondenz zur Kulturgeschichte der Goethezeit 1⫺2. B./N. Y. 2003, hier t. 1, XIV⫺CLXXXVII. ⫺ 2 ibid., XLIV⫺LX; Maierhofer, W. (ed.): Johann Wolfgang von Goethe und C. A. V. Circe. Oper […]. Übers. und Bearb. des ital. Librettos für das Weimarer Hoftheater. Laatzen 2007. ⫺ 3 Meier (wie not. 1) t. 1, LX⫺LXXX. ⫺ 4 Vulpius, W./Bergmann, A.: Bibliogr. der selbständig erschienenen Werke von C. A. V. 1762⫺1827. In: Jb. der Slg Kippenberg 6 (1926⫺27) 65⫺127; ibid. 10 (1935) 311⫺315 (Nachtrag); Meier (wie not. 1) t. 2, 41⫺61; des öfteren V. fälschlich zugeschrieben: Ammenmärchen 1⫺2. Weimar 1791/92. ⫺ 5 [V., C. A.:] Glossarium für das Achtzehnte Jh. [1788]. ed. A. Kosˇenina. Laatzen 2003; id.: Hwb. der Mythologie der dt., verwandten, benachbarten und nord. Völker. Lpz. 1826 (Nachdr. Wiesbaden 1987). ⫺ 6 z. B. [id.:] Szenen in Paris und Versailles, während und nach Zerstörung der Bastille 1⫺5. Lpz. 1789⫺ 91; [id.:] Bonaparte und seine Gefährten in Aegypten […]. Lpz. 1799; cf. Dammann, G.: Antirevolutionärer Roman und romantische Erzählung. Vorläufige konservative Motive bei C. A. V. und E. T. A. Hoffmann. Diss. Hbg 1975, 49⫺67; Meier (wie not. 1) bes. CLXIV⫺CLXIX. ⫺ 7 z. B. [V., C. A.:] Skizzen aus dem Leben galanter Damen […] 1⫺4. Regensburg 1789⫺93; [id.:] Anekdoten aus der Vorzeit […] 1⫺2. Lpz. 1797/98; [id.:] Hist. Bll. und Anekdoten. Weimar 1800; id.: Hist.-literar. Unterhaltungen und Ergötzlichkeiten 1⫺2. Neustadt a. d. Orla 1821/ 22. ⫺ 8 cf. Daum, I.: Ein Pfuscher und eingefleischter Dilettant? C. A. V. im Spiegel der DilettantismusDebatte um 1800. In: Dilettantismus um 1800. ed. S. Blechschmidt/A. Heinz. Heidelberg 2007, 125⫺139, hier 128 sq. ⫺ 9 z. B. die Beitr.e in Bibl. der Romane 8 (1782) 261⫺270 (Nachtrag von Robinsonaden), 18 (1791) 73⫺100 (Dt. Helden der Vorzeit), 20 (1793) 283⫺303 (vermutlich von V. stammende bibliogr. Angaben zu 35 Volksbüchern in ca 58 Ausg.n), 21 (1794) 243⫺256 (zu Tannhäuser und treuem Ekkart). ⫺ 10 Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 101⫺111. ⫺ 11 ibid., 254; Meier (wie not. 1) CLXXIV⫺ CLXXXIV, hier CLXXXIV; Simanowski, R.: Die Verwaltung des Abenteuers. Massenkultur um 1800 am Beispiel C. A. V. Göttingen 1998, 243⫺278, 316⫺320, 328⫺330. ⫺ 12 Schmidt, L.: Die Volkser-
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Vulpius, Christian August
zählung. B. 1963, 188⫺196. ⫺ 13 [V, C. A.:] Romantische Geschichten der Vorzeit 9. Lpz. 1797, 213⫺ 284; [id.:] Bibl. des Romantisch-Wunderbaren 2. Lpz. 1805, 272⫺292; [id.:] Thüring. Sagen und Volksmährchen 1⫺2. Erfurt/Gotha 1822, hier t. 2, 83⫺127, 167⫺196; [id.:] Erlinde, die Ilm-Nixe. Seitenstück zu der Sage der Vorzeit: Hulda, die SaalNixe. Meißen/Preßburg 1827. ⫺ 14 cf. id.: Die Elementar-Geister und ihre Erscheinungen. In: Curiositäten 4 (1815) 264⫺273 (bes. „Le Conte de Gabalis“ des N. Montfaucon de Villars); cf. Peuckert, W.-E.: Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jh. B. 1967, bes. 497⫺504. ⫺ 15 V. 1822 (wie not. 13) t. 1, 36 sq., 46 sq., 54, 74, 99, 129⫺131, 149. ⫺ 16 Meier (wie not. 1) [V]. ⫺ 17 ibid., CLXXXV⫺CLXXXVII; Daum (wie not. 8). ⫺ 18 Dainat, H.: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Tübingen 1996, 114 sq.; Jeglin, R.: Die Welt der Ritterbücher war meine Lieblingswelt. Anmerkungen zu Rinaldo Rinaldini und seinem Einfluß auf Karl May. In: Jb. der Karl May-Ges. 12 (1982) 170⫺184; zum Einfluß auf die poln. und slovak. Überlieferung cf. EM 11, 315 (not. 71). ⫺ 19 V., C. A.: Rinaldo Ri-
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naldini, der Räuber Hauptmann. Vorw. H.-F. Foltin. Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1974, VIII⫺XV; Meier (wie not. 1) CXVII⫺CXXVII. ⫺ 20 Daum (wie not. 8) 132. ⫺ 21 Curiositäten 8 (1820) 236⫺238; V. 1826 (wie not. 5) 129⫺140. ⫺ 22 Curiositäten 2 (1812) 152⫺ 162. ⫺ 23 ibid. 9 (1822) 183. ⫺ 24 ibid. 5 (1816) 466⫺ 468, cf. 6 (1817) 41⫺49, hier 45⫺48 (in Marienlegende integrierte Kontamination von AaTh/ATU 956 A ⫹ AaTh/ATU 955). ⫺ 25 ibid. 3 (1813) 217⫺ 220; 4 (1815) 214⫺219. ⫺ 26 ibid. 3 (1813) 330⫺333; cf. 4 (1815) 276. ⫺ 27 cf. noch V. 1822 (wie not. 13) t. 1: Truthina […] Nach Volkssagen bearb. (Vorw.: „den Erzählern der Vorzeit“ nacherzählt); t. 2, 1⫺ 196 (fünf auf Sagenstoffen beruhende in Thüringen lokalisierte Erzählungen), 197⫺207 (Anh., u. a. mit Hinweisen auf Ortschroniken). ⫺ 28 Curiositäten 1 (1811) 6; [V., C. A.:] Hexenfahrten und Teufelskünste aus dem geheimen Archiv der Walpurgisnächte auf dem Blocksberge. [Lpz.] 1797.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
W Wache blenden (AaTh/ATU 73). Die meist als Episode erscheinende Erzählung gehört in den Kreis der Trickstergeschichten, in denen sich der kleine, schwache Held durch seine Schlauheit in aussichtslos erscheinender Situation vor dem großen, starken Gegner retten kann (J Stark und schwach). Der Held (meist regionalspezifischer Tiertrickster: Hase, Kaninchen, Fuchs, Affe, Kröte etc.) flüchtet, von einem größeren Tier (Löwe, Leopard, Fuchs, Jaguar) verfolgt, in ein Erdloch (Termitenhaufen, hohler Baum). Der Verfolger stellt eine W. (gewöhnlich Raubvogel) vor dem Loch auf, um ein Gerät zum Ausgraben des Verfolgten zu holen. Der Trickster überredet den Wächter, seine Augen weit zu öffnen, wirft Sand (Pfeffer, Salz, Tabaksaft) hinein und nutzt die zeitweilige J Blindheit des Wächters, um zu fliehen.
Die Erzählung ist erst seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s aus mündl. Überlieferung bekannt und fast ausschließlich für Ost-, Zentral- und Westafrika, den Süden der USA, Mittel- und Südamerika belegt; in Amerika ist sie bes. unter Afro-Amerikanern und Indianern weit verbreitet1. Voraus gehen vielfach Erzählungen, die erklären, warum das große Tier das kleinere verfolgt, darunter in Amerika AaTh/ATU 37: J Fuchs als Kindermagd 2, AaTh/ATU 72: J Kranker trägt den Gesunden 3 oder AaTh/ ATU 1565: J Kratzverbot 4. Der Trickster, der schon am Schwanz gepackt ist, überlistet den Gegner oft zunächst auf die für AaTh/ATU 5: J Biß in die Wurzel typische Weise mit dem Ausruf: „Du hältst eine Wurzel!“5 Auf AaTh/ ATU 73 folgen weitere Abenteuer des Helden oder die Bestrafung des Wächters, der sich nun seinerseits durch einen Trick rettet (Vogel läßt sich in die Luft werfen [cf. AaTh/ATU 1310 C: Throwing the Bird from a Cliff as Punishment]6, Kröte ins Wasser [cf. AaTh/ATU 1310: Der ertränkte J Krebs]7). Auch werden charakteristische Eigenheiten des Wächters auf diese Weise erklärt: z. B. die tiefliegenden
Augen des Affen8, die Kahlköpfigkeit des Geiers9 oder die Blindheit von Eule und Kröte10. Die Var.n in Joel C. Harris’ J Uncle Remus und weitere frühe nordamerik. Aufzeichnungen ließen den Eindruck entstehen, ein hohler Baum sei der häufigste Fluchtort11, dieser ist sonst jedoch nur vereinzelt aus Zentralafrika bezeugt12. Der bei Harris angeführte Tabaksaft als Blendungsmittel13 ist fast ausschließlich auf die USA beschränkt, weiter verbreitet sind Pfeffer und Salz14, die häufigste und logischste Form ist die Blendung durch Sand oder Schmutz15. Durch das zentrale Motiv der J Blendung des Wächters berührt sich AaTh/ATU 73 mit anderen Erzählungen. In einem Urzeitmythos der Sikuani-Indianer in Kolumbien flieht ein Mann vor seiner rachsüchtigen Ehefrau auf einen Baum; um herabsteigen zu können, wirft er ihr eine Frucht (Sägemehl) in die Augen16. In einer Erzählung aus dem ind.-pers. Raum muß eine alte Frau ein Gebiet mit wilden Tieren durchqueren; nachdem alle ihre Überredungskünste nichts nützen, blendet sie die Verfolger mit Asche17. In einer talmudischen Erzählung wehren sich Frauen auf diese Weise gegen Soldaten, die ihnen nachstellen (Mot. K 2356). Von dem als ,Lederstrumpf‘ bekannten Pionier Daniel Boone wird berichtet, daß er Indianern, die ihn gefangennehmen wollten, entkommen sei, indem er sie mit Tabakstaub blendete18. In afrik. Erzählungen rät der gefangene Hase dem Löwen, ihn auf einem Aschen- bzw. Dunghaufen zu töten, die aufgewirbelte Asche blendet den Löwen19. Ein ind. Tiertrickster beteuert, daß sein Verfolger ihn fressen könne, wenn er auf des Tricksters Schwanz uriniere; sobald dies geschieht, schlägt er mit dem Schwanz nach den Augen des Verfolgers20. Vorübergehendes oder dauerhaftes Blenden erfolgt auch, um zu stehlen (Mot. K 333.5, Mot. K 2356.1), jemanden ge-
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Wache halten ⫺ Wachen
fangenzunehmen (Mot. K 783) oder zu bestrafen (Mot. Q 451.7)21. Vor dem Hintergrund der Debatten über die Herkunft internat. verbreiteter Erzähltypen bei Afro-Amerikanern und Indianern in den USA bezeichnete S. J Thompson die Var.n von AaTh/ATU 73, die vor 1914 bei nordamerik. Indianern aufgezeichnet worden waren, als letztlich von der europ. Tradition abstammend. 1946 listete er den Erzähltyp unter ,Entlehnungen aus europ.-asiat. Überlieferung‘ auf 22. A. J Dundes und F. Baer gingen dagegen von einer afrik. Herkunft aus23. Diese Ansicht wird durch die heute bekannte Var.nfülle und die häufige Kombination mit afrik. Erzähltypen (kleine Tiere kriechen wiederholt in große und schneiden sich innen Fleisch ab)24 und afrik. Erzählungen, die als AaTh/ATU 37, AaTh/ATU 72 und AaTh/ATU 1565 klassifiziert werden können, untermauert25. 1 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of South American Indians. General Index. L. A. 1992, K 621; Camarena/Chevalier; Nascimento. ⫺ 2 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Guajiro Indians 1. L. A. 1986, num. 77⫺79; iid.: Folk Literature of the Caduveo Indians. L. A. 1989, num. 75; Alcoforado, D. F. X.: Bahia. Recife 2001, num. 3. ⫺ 3 JAFL 26 (1913) 195⫺197; Wilbert/Simoneau 1989 (wie not. 2) num. 50. ⫺ 4 Alcoforado (wie not. 2) num. 21. ⫺ 5 Chertudi, S.: Cuentos folklo´ricos de la Argentina 1. Buenos Aires 1960, num. 2; Alcoforado (wie not. 2) num. 21; Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Chamacoco Indians. L. A. 1987, num. 98; iid.: Folk Literature of the Mocovı´ Indians. L. A. 1988, num. 74, 77, 80. ⫺ 6 Tubiana, J. und M. J.: Contes Zaghawa. P. 1962, 58⫺62, 180 sq.; Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Sikuani Indians. L. A. 1992, num. 74. ⫺ 7 Wilbert/Simoneau 1989 (wie not. 2) num. 50; Alcoforado (wie not. 2) num. 3. ⫺ 8 Rattray, R. S.: Akan-Ashanti Folktales. Ox. 1930, 163. ⫺ 9 Wilbert/Simoneau 1986 (wie not. 2) num. 77. ⫺ 10 Dh. 4, 184. ⫺ 11 JAFL 26 (1913) 195⫺197, 214 sq.; 30 (1917) 178; 35 (1922) 262; 38 (1925) 219; Harris, J. C.: The Complete Tales of Uncle Remus. ed. R. Chase. Boston 1955, 21⫺25, num. 7; 32⫺36, num. 10; 111⫺115, num. 34; 320⫺324, num. 47. ⫺ 12 Torday, E.: On the Trail of the Bushongo. L. 1925, 92. ⫺ 13 JAFL 26 (1913) 195⫺197; 30 (1917) 178; 38 (1925) 219; Harris (wie not. 11) 37 sq.; Gutmann, B.: Volksbuch der Wadschagga. Lpz. 1914, num. 33 (zerriebener Tabak). ⫺ 14 Pfeffer: Frobenius, L.: Volksdichtungen aus Oberguinea. Jena 1924, 322⫺324; Rattray 1930 (wie not. 8); Evans-Pritchard, E. E.: Folk Stories of the Sudan. In: Sudan Notes and Records 23 (1940) 55⫺74, 271⫺278; Parsons, E. C.: Folk-Lore of the
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Antilles 3. N. Y. 1943, 423 sq., num. 8; Salz: Schlenker, C. F.: A Collection of Temne Traditions, Fables and Proverbs. L. 1861, 75⫺77; Beckwith, M. W.: Jamaica Anansi Stories. Boston/N. Y. 1924, num. 13. ⫺ 15 z. B. Arewa, num. 2057 (Var.n 3⫺5); Klipple, 54⫺57; Harris (wie not. 11) 320⫺324. ⫺ 16 Wilbert/Simoneau (wie not. 6) num. 13, 44. ⫺ 17 Bødker, Indian Animal Tales, num. 70; Thompson/Balys K 621.2; Heunemann, A.: Der Schlangenkönig. Märchen aus Nepal. Kassel 1980, 139⫺142; Marzolph *122 F. ⫺ 18 Barden, T. E.: Virginia Folk Legends. Charlottesville 1991, num. 78. ⫺ 19 Cole, H.: Notes on the Wagogo of German East Africa. In: J. of the Royal Anthropological Institute 32 (1902) 330⫺334; Alexander, P./Mohl, S. J.: Slg von kaffr. Fabeln in der Ci-Tete-Sprache am Unteren Sambesi. In: Mittlgen des Seminars für oriental. Sprachen 8,3 (1905) 1⫺43, hier 39, num. 12. ⫺ 20 Bødker, Indian Animal Tales, num. 620. ⫺ 21 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 34 sq. ⫺ 22 Thompson, S.: European Tales among the North American Indians. Colorado Springs 1919, 449; id.: The Folktale. N. Y. 1946, 288. ⫺ 23 Dundes, A.: African Tales among the North American Indians. In: SFQ 29 (1965) 207⫺ 219, hier 217; id.: African and Afro-American Tales. In: African Folklore in the New World. ed. D. J. Crowley. Austin/L. 1977, 35⫺53, hier 42; Baer, F.: Sources and Analogues of the Uncle Remus Tales (FFC 228). Hels. 1980, 35, 37 sq., 59, 94 sq. ⫺ 24 ibid., 57⫺59. ⫺ 25 cf. not. 2⫺4.
Hildesheim
Sigrid Schmidt
Wache halten J Wachen
Wachen. Der Begriff W. besitzt zwei unterschiedliche Aspekte: einerseits das Wachsein zu einer Zeit, zu der die Menschen gewöhnlich J schlafen (J Nacht), andererseits das Wachsamsein. Im Erzählgut kann Wachsamkeit absichtsvoll und zielgerichtet sein (bei der Erfüllung einer Aufgabe oder beim Bewachen einer Person bzw. eines Gegenstands) oder sich aus dem Augenblick ergeben (wenn jemand zufällig etwas Wichtiges beobachtet). In verschiedenen Erzählungen gehört langes Wachbleiben zu den J Prüfungen, denen die Protagonisten oder andere Erzählfiguren unterworfen werden (Mot. H 1450.1)1. In AaTh/ ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau und AaTh/ATU 307: J Prinzessin im Sarg muß ein Mann drei gefahrvolle Nächte durchwachen (J Qualnächte), um die
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Wachen
verwunschene Königstochter zu erlösen. Ähnlich muß die Frau in AaTh 437/ATU 894 (2): J Nadelprinz lange über den schlafenden Prinzen wachen, um ihn aus seinem Zauberschlaf zu erlösen. In AaTh/ATU 425 A: cf. J Amor und Psyche und anderen Märchen gelingt einem Mann das Wachbleiben erst in der letzten von drei Nächten, die seine wahre Braut von der falschen Ehefrau erkauft hat (J Nächte erkauft). Nur dadurch, daß er wachbleibt und sich von den nächtlichen Geistern nicht beeindrucken läßt, kann der furchtlose Held in AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans die Nacht in einem Spukhaus unversehrt überleben (cf. AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen)2. Wächter bewachen, meist als Nebenfiguren, Gefangene (J Gefangenschaft; cf. etwa AaTh/ ATU 861: J Rendevouz verschlafen) oder öffentlich Hingerichtete (z. B. AaTh/ATU 950: J Rhampsinit; AaTh/ATU 1510: J Witwe von Ephesus); sie scheitern jedoch oft in der Ausführung ihrer Pflichten (z. B. J Hirten bei der Bewachung der Tiere). Auch Helden bekommen den Auftrag, etwas zu bewachen (oder tun es aus eigenem Antrieb): Zu Beginn von AaTh/ATU 530: J Prinzessin auf dem Glasberg wird ein Feld mehrfach nachts verwüstet, oder es werden die Früchte eines bestimmten Baumes gestohlen. Drei Brüder halten nacheinander Wache, um den Übeltäter zu ertappen. Nur dem Jüngsten gelingt es, wach zu bleiben und das prachtvolle Pferd zu fangen, das den Schaden angerichtet hat; oder er allein ist tapfer genug, dem Dieb zu folgen oder ihm gegenüberzutreten. Wachehalten, um einen Obstdieb dingfest zu machen, erscheint als Episode auch in AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen (2. Einl.) und AaTh/ ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter; hier verfolgt der Held gewöhnlich den Vogel, der die Frucht stiehlt. Manchmal müssen die Helden das Feuer bewachen (AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger3; AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder [Subtyp 2]), am Grab des kurz zuvor gestorbenen Vaters Wache halten (J Grabwache) oder eine Herde Schafe oder Schweine hüten (cf. auch AaTh/ ATU 570: J Hasenhirt). In AaTh/ATU 709: J Schneewittchen bewachen die Zwerge Schneewittchens Sarg. Allg. ist die (oft nächtliche) Wache des Helden ein häufiges Motiv im Epos. Parodistisch verarbeitet ist das Thema
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des Bewachens in AaTh/ATU 1009: J Tür bewacht (cf. auch AaTh/ATU 1653: cf. J Räuber unter dem Baum): Eine törichte Frau (närrischer Sohn) faßt den Auftrag, die Haustür unter allen Umständen nicht aus den Augen zu lassen, J wörtlich auf; als sie das Haus verläßt, nimmt sie die Haustür mit. Anstelle des Protagonisten kann die Rolle des Bewachers auch anderen Figuren zufallen. In Var.n von AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen gelingt es dem Helden, Früchte zu rauben, die von gefährlichen Tieren bewacht werden (Mot. B 576); manchmal soll er die Tiere füttern, um sie zu besänftigen, oder dem Löwen Heu und dem Pferd Fleisch geben. Der Gegenstand der Suche wird gelegentlich von einem Oger bewacht, dessen J Augen geöffnet sind, wenn er schläft, und geschlossen, wenn er wach ist4. Diese Figur ist möglicherweise ein Nachhall des mythischen Argus Panoptes, den man sich z. T. mit 100 Augen vorstellte, die nie alle gleichzeitig geschlossen sind5. Ähnlich schläft in AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein das dritte Auge einer der Stiefschwestern der Heldin nicht. In Erzählungen, die von heldenhaften Kämpfen handeln, kann als Gegner des Protagonisten ein Ungeheuer oder ein anderes Wesen mit Wächterfunktion auftreten. Z. B. besiegt J Herakles den J Cerberus, der die Tore zum Hades hütet, und holt Äpfel von einem Baum, den die Schlange Ladon bewacht (Mot. D 950.0.1). J Drachen bewachen oft das Wasser von Brunnen oder Quellen, J Schätze (Mot. D 930.0.1) oder menschliche Gefangene (AaTh/ATU 300). Im J Gilgamesch-Epos (Kap. 3.2) bewacht der Dämon H ˚ uwawa magische Zedernbäume. Im vedischen Mythos vom Somaraub des Manu stehlen Dämonen den Göttern ihren Rauschtrank Soma und halten ihn bewacht; ein Falke (Manu) entreißt ihnen das Soma und bringt es den Göttern zurück6. Zum weiteren Umfeld des Phänomens W. gehört auch die aufmerksame Beobachtung, wobei die oft versteckt oder heimlich lauschenden Protagonisten Dinge erfahren, die ihnen eigentlich verborgen bleiben sollten (cf. J Belauschen) und ihnen letztlich das Leben retten. So vereiteln in AaTh/ATU 327 B: J Däumling und Menschenfresser und AaTh/ ATU 1119: J Teufel tötet Frau und Kinder die
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Wachen
Gäste im Haus des Ogers dessen Mordpläne, indem sie die J Bettplätze tauschen, weshalb der Oger versehentlich die eigenen Kinder tötet (cf. auch J Kopfbedeckungen vertauscht; AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil). Bei anderen Gelegenheiten läßt sich durch heimliche Beobachtung von Personen etwas Wichtiges in Erfahrung bringen. Eine junge Frau versteckt sich und sieht, wie ihr Liebhaber eine andere umbringt (AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam); ein Mann beobachtet Räuber und erfährt, wie er sich in Besitz ihres Reichtums bringen kann (AaTh 676 ⫹ 954/ ATU 954: J Ali Baba und die vierzig Räuber); ein Wirt spioniert die Wirkung der Zaubergaben eines Gastes aus (AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich); ein Mann beobachtet, wie eine Schlange durch eine andere wiederbelebt wird, und entdeckt so das Lebenskraut (AaTh/ ATU 612: Die drei J Schlangenblätter); der geblendete Unschuldige hört nachts im Gespräch der Vögel, wie er geheilt werden kann (AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer); ein Ehepaar bleibt wach, um herauszufinden, wer nachts die Arbeit erledigt (KHM 39 [1]: Die Wichtelmänner; J Hausgeister). In der weltweit in unterschiedlichen Erzählungen nachgewiesenen Episode von der geheimnisvollen Haushälterin (Mot. N 831.1) versteckt sich ein Bewohner und findet so heraus, wer das Haus täglich säubert. Ebenfalls internat. verbreitet ist die Sage, in der ein versteckter Mann beobachtet, wie eine J Hexe ihren Körper mit Salbe bestreicht und davonfliegt; er tut dasselbe und folgt ihr zum Hexensabbat7. In Schwänken erwischt der aus einem Versteck herausspähende Ehemann seine Frau mit ihrem Liebhaber (AaTh/ATU 1360 C: Der alte J Hildebrand), oder aber er wird verprügelt und gedemütigt (AaTh/ATU 1407: The Miser). In Märchen beobachten Männer heimlich schöne Frauen (J Schwanjungfrau). So sieht der Prinz oder ein Diener in Var.n von AaTh/ATU 510 B: cf. J Cinderella der Heldin durch ein Schlüsselloch zu8, während sie in Var.n von AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf beim Hüten von Tieren beobachtet wird9. In AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe stellt sich der Held schlafend und folgt dann heimlich den Prinzessinnen, um zu erfahren, was sie tun. Die verdrängte rechtmäßige
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Braut in AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut wird ebenfalls oft von einer versteckten Person (Küchenjunge) entdeckt10. Abgesehen von der Behandlung des Phänomens W. in Erzählungen ist Wachsein bzw. Wachbleiben auch für Anlässe und Situationen des Erzählens selbst von Bedeutung. So sind in vielen Teilen der Welt Totenwachen üblich, die einerseits Erzählgelegenheiten darstellen, andererseits aber auch Anlaß zu makabren Scherzen geben können, die wiederum als Anekdoten erinnert werden (cf. auch J Scheintod). Derlei Situationen wurden vielfach von Feldforschern und Sammlern beschrieben11. Ähnlich werden auch die durchwachten Nächte des muslim. Fastenmonats Ramadan oft mit frommen oder erbaulichen Erzählungen gefüllt. Weltweit werden märchenhafte oder phantastische Geschichten erzählt, um Kinder das Einschlafen zu erleichtern (cf. auch J Sandmann)12. 1
Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Nachdr. Bloom. 1966, 95⫺96, 314 (not. 137); Vries, J. de: Die Märchen von klugen Rätsellösern (FFC 73). Hels. 1928, 311 (not. 2), 400⫺402; cf. allg. Papachristophorou, M.: Sommeils et veilles dans le conte merveilleux grec (FFC 279). Hels. 2002. ⫺ 2 cf. Cosquin, num. 42. ⫺ 3 cf. Nicolae, R.: Personifications of Day and Night in Romanian Folktales. In: Fabula 49 (2008) 70⫺86, bes. 74. ⫺ 4 Goldberg, C.: The Tale of the Three Oranges (FFC 263). Hels. 1997, 130⫺133; cf. Swahn, J. O.: The Tale of Cupid and Psyche. Lund 1955, 260⫺262. ⫺ 5 Geisau, H. von: Argos 2. In: Kl. Pauly 1 (1979) 540; Graf, F.: Argos. 1: Mythische Personen. In: DNP 1 (1996) 1069 sq. ⫺ 6 Spieß, K.: Baum bewacht. In: HDM 1 (1930⫺33) 207⫺216, hier 210 sq.; BP 1, 514; Schneider, U.: Der Somaraub des Manu. Wiesbaden 1971; cf. auch Hertel, J.: Ind. Märchen. MdW 1921, 344⫺ 366. ⫺ 7 Christiansen, Migratory Legends, num. 3045; Bruford, A.: Scottish Gaelic Witch Stories. In: Scottish Studies 11 (1967) 13⫺47, hier 27⫺30, num. 20, 21; Goldberg, C.: Traditional American Witch Legends, a Catalogue. In: Indiana Folklore 7 (1974) 77⫺108, hier 81⫺84. ⫺ 8 Cox, M. R.: Cinderella. L. 1893, num. 134, 135, 145, 185, 202, 209, 285. ⫺ 9 ibid., num. 20, 178, 191, 210, 217; Scherf, 68, 385, 701. ⫺ 10 Scherf, 145, 214, 690, 1384, 1449. ⫺ 11 Geiger [, P.]: Leichenwache. In: HDA 5 (1932⫺33) ´ Su´illea1105⫺1113; ERE 4 (1961) 418, 492 sq.; O bha´in, S.: Irish Wake Amusements. Cork 1967 (Nachdr. Dublin 1976); De´gh, L.: Folktales and Society. Bloom./L. 1969, 105⫺110; Abrahams, R. D.: Storytelling Events. Wake Amusements and the Structure of Nonsense in St. Vincent. In: JAFL 95 (1982) 389⫺414; Taylor, K.: The Storytelling Wake. Performance in the Absence of Established Ritual.
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Wachstum: Übernatürliches W.
In: Southern Folklore 50 (1993) 99⫺111; Zimmermann, G. D.: The Irish Storyteller. Dublin 2001, 458⫺461; Bierhorst, J.: Latin American Folktales. N. Y. 2002, 45 sq., 333. ⫺ 12 cf. auch Widdowson, J. D. A.: If You Don’t Be Good. Verbal Social Control in Newfoundland. St. Johns 1977 (zum Bogeyman).
Los Angeles
Christine Goldberg
Wachstum: Übernatürliches W. (Mot. T 615). Das weltweit verbreitete Motiv vom schnell wachsenden J Helden begegnet in Erzählungen unterschiedlicher Gattungen (J Erwachsen bei Geburt). Es steht gewöhnlich in Zusammenhang mit der wunderbaren J Empfängnis des Helden. Das Motiv findet sich u. a. in mythol. Erzählungen und in Kindheitslegenden von Heiligen (cf. J Kind spricht [weint] im Mutterleib)1. In der griech. Mythologie wird z. B. vom übernatürlichen Wachstum (ü.en W.) des J Herakles berichtet2. Das Motiv kennen aber auch isl.3 und ir. Erzählungen (Mot. D 1361.39)4 sowie Erzählungen der Eskimo (cf. Mot. T 615.0.1⫺T 615.0.3, T 615.3.1, T 615.6)5, und es erscheint in arab.6, pers.7, ind.8, chin.9, polynes.10 und afrik.11 Texten. In hawaiian. Erzählungen ist es mit dem Motiv von der Vergänglichkeit des Lebens verknüpft (Mot. T 615.6)12. In einer laot. Realisierung heilt ein frühreifes Kind die Verletzung seiner Mutter (Mot. K. T 615.8)13. In mikrones. Erzählungen wächst der Held Kanag jedesmal, wenn er badet14. Ü.es W. der Urahnen kennen die südamerik. Selknam15. In einer Erzählung der südamerik. Toba und Pilage wird das Motiv mit der göttlichen Abstammung des Helden in Verbindung gebracht16. Eine große Stabilität weist die ost- und westeurop. epische Tradition des Motivs auf. Dies erklärt sich aus der gattungsspezifischen Charakteristik des Helden17. Im Gegensatz zum J unscheinbaren Helden18 wird die wundersame physische Kraft (J Stärke: Die außergewöhnliche S.) des schnell wachsenden Helden bereits in seiner Kindheit sichtbar19: Vorläufige Unterschätzung einerseits und epische Idealisierung andererseits stellen sich als die zwei Optionen der Realisierung des Helden dar. V. M. J Zˇirmunskij interpretierte das ü.e W. als Nachhall einer Zeit, in der Männer das
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wehrfähige Alter sehr früh erreichten20. Entsprechend findet sich dieses Erzählelement beinahe ausschließlich auf Männer bezogen21; es symbolisiert zugleich die edle Abstammung des Helden (cf. J Zeichen edler Herkunft)22. Ü.es W. begegnet auch in märchenhaften Parallelen des Heldenepos wie dem tuwin. Heldenmärchen Ergil-Ool 23. Verbal wird ü.es W. im Epos ⫺ ebenso wie in Legenden24 und Zaubermärchen25 ⫺ vielfach anhand von Vergleichen dargestellt: Der Held wächst in einer Stunde so viel wie andere Kinder in einem Monat und an einem Tag so viel wie andere in einem Jahr26; in russ. Bylinen erreicht Saul Levanidovicˇ mit sieben Jahren die Größe und Kraft eines Zwanzigjährigen27. Oft thematisiert die Erzählung nicht das ü.e W. selbst, sondern die daraus resultierenden Fähigkeiten. Hierzu zählt der frühe Gebrauch von Waffen28: Alesˇa Popovicˇ und Surovec-Suzdalec, die Helden der russ. Bylinen, sowie Volch Vseslavevicˇ verlangen von ihren Müttern bereits als Säuglinge eine Rüstung29. Die Vollbringung der ersten Heldentat erfolgt im Alter von drei bis sieben Jahren30. Manchmal zeigt sich das ü.e W. der Helden in ungewöhnlichen sprachlichen Fähigkeiten31. Ihre Größe und Kraft ermöglicht es ihnen, sich bereits im Kleinkindalter zumindest teilweise selbst zu versorgen: So trägt der abchas. Sasrykva eine Wiege nach Hause, die Erwachsene nicht von der Stelle bewegen konnten, und Alesˇa Popovicˇ bittet seine Mutter direkt nach der Geburt, ihn in die Welt ziehen zu lassen32. Mitunter führt die körperliche Überlegenheit der Helden dazu, daß sie Gleichaltrige tyrannisieren33 oder versehentlich verstümmeln34. Auch in Märchen dient ü.es W. zur Betonung der bes. Eigenschaften des Helden35. Das Motiv findet sich u. a. in AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen36, AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt, AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter sowie in russ. Var.n von AaTh/ATU 300 A: J Drachenkampf auf der Brücke, in jap. Var.n von AaTh 301 B/ATU 301, AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei und AaTh/ATU 433 B: cf. J König Lindwurm37. Manchmal begegnet ü.es W. von Pflanzen: So wächst der Mais im Mythos der Yupa auf magische Weise (cf. auch Mot. D 2157.2)38. Schnelles Pflanzenwachstum thematisieren
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auch abchas. Legenden über Satanaya, die Mutter der Narten39, und christl. Legenden40, z. B. J Kornlegenden. In parodistischer Weise wird auf das Motiv in AaTh/ATU 1736: Die auferstandene J Wiese angespielt. In Märchen erscheint es im Zusammenhang mit der schnell wachsenden J Bohnenranke. In das semantische Feld des Motivs gehört auch das ungewöhnliche W. von Tieren (cf. Mot. F 983): So wächst in AaTh 621/ATU 857: J Lausfell erraten die Laus bis auf die Größe eines Ochsen heran41. 1
cf. Neuland T 615.6.1; Nekljudov, S. Ju.: „Geroicˇeskoe detstvo“ v e˙posach Vostoka i Zapada (Die Kindheit des Helden in Epen des Ostens und Westens). In: Istoriko-filologicˇeskie issledovanija. Festschr. N. I. Konrad. M. 1974, 140; cf. Neuman T 615. ⫺ 2 The Mythology of All Races. 1: Greek and Roman. ed. W. S. Fox. N. Y. 1964, 74, 175; t. 2: Eddic Mythology. ed. J. A. MacCulloch. Boston 1930, 21, 74. ⫺ 3 Boberg T 615. ⫺ 4 Bray, D. A.: A List of Motifs in the Lives of the Early Irish Saints (FFC 252). Hels. 1992, 33, 59 sq., 63, 81. ⫺ 5 Levington, G. A.: Tipologicˇeskij ukazatel’ motivov (Typol. Motivindex). In: Menovsˇcˇikov, G. A.: Skazki i mify e˙skimosov Sibiri, Aljaski, Kanady i Grenlandii. M. 1985, 656. ⫺ 6 El-Shamy, Types, 0015, 0312F§, 0327L§; El-Shamy, H.: A Motif-Index of „The Thousand and One Nights“. Bloom. 2006, 356 (mit Mot. T 615.6). ⫺ 7 The Mythology of All Races. 5: Iranian Mythology. ed. A. J. Carnoy. Boston 1917, 332 (über Rustam); Coyajee, J. C.: Shahnameh Legends and their Chinese Parallels. In: J. and Proc. of the Asiatic Soc. of Bengal 24 (1928) 177⫺202, 179. ⫺ 8 Thompson/Balys. ⫺ 9 The Mythology of All Races. 8: Chinese Mythology. ed. J. C. Ferguson. Boston 1928, 30; Werner, E. T. C.: Myths and Legends of China. L. 1922, 306; Coyajee (wie not. 7); cf. auch Eberhard, Typen, num. 39. ⫺ 10 Kirtley. ⫺ 11 Barker, W. H./Sinclair, C.: West African Folk-Tales. L. 1917. ⫺ 12 Kirtley. ⫺ 13 Lindell, K.: Motif-Index of Southeast Asian Folk-Literature. Lund 2006, 145. ⫺ 14 The Mythology of All Races. 9: Oceanic Mythology. ed. R. B. Dixon. Boston 1916, 234. ⫺ 15 Wilbert, J.: Folk Literature of the Selknam Indians. L. A. 1975, 22. ⫺ 16 Me´traux, A.: Myths of the Toba and Pilaga Indians of the Gran Chaco. Phil. 1946, num. 40. ⫺ 17 Baldachanov, F. K.: Ciklizacija geroicˇeskogo e˙posa u vostocˇnych i juzˇnych slavjan v istoricˇeskom stanovlenii (Die Zyklisierung des Heldenepos bei den Ostund Südslaven in ihrer hist. Entwicklung). Diss. M. 1984; cf. The Mythology of All Races. 3: Celtic Mythology. ed. J. A. MacCulloch. Boston 1918, 95. ⫺ 18 Skaftymov, A. P.: Poe˙tika i genezis bylin (Poetik und Genese der Bylinen). Saratov 1924, 52; Nekljudov (wie not. 1) 136. ⫺ 19 cf. Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1⫺2. Wiesbaden 1988, 134, 150, 188, 200, 652, 746, 852; cf. Krstic´, B./
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Nikolic´, I.: Indeks motiva narodnich pesama balkanskich Slovena (Motivindex der Volkslieder der Balkanslovenen). Belgrad 1984, 251 sq. ⫺ 20 Zˇirmunskij, V. M.: Narodnyj geroicˇeskij e˙pos (Das nationale Heldenepos). M./Len. 1962, 18. ⫺ 21 cf. aber Goldberg T 615.1 (vierjähriges Mädchen auf dem Entwicklungsstand einer Zehn- bis Zwölfjährigen). ⫺ 22 cf. Birkhan 1, 77; 2, 2. ⫺ 23 Taube, E.: Skazki i predanija altajskich tuvincev. M. 1994, num. 2; cf. Bäcker, J.: Zu einem neuaufgefundenen altai. Jangar-Epos. In: Zentralasiat. Studien des Seminars für Sprach- und Kulturwiss.en Zentralasiens der Univ. Bonn 18 (1985) 55⫺67. ⫺ 24 Spence, L.: Myths and Legends of Babylonia and Assyria. L. 1916, 54. ⫺ 25 cf. z. B. SUS 301, 601 A; Afanas’ev 3, num. 136. ⫺ 26 Orbeli, I. A.: David Sassunskij (David von Sassun). M./Len. 1939, 13 sq., 161, 335; Mongolo-ojratskij geroicˇeskij e˙pos. In: Vladimircov, B. J. (ed.): Raboty po literature mongol’skich narodov. SPb./M. 1923 (Nachdr. M. 2003), 107; cf. Dzˇapua, Z. D.: Abchazskie geroicˇeskie skazanija o Sasrykua i Abryskile. Suhum 2003, 96; MacCulloch (wie not. 17) 26. ⫺ 27 Danilov, K.: Drevnie rossijskie stichotvorenija. ed. A. P. Evgeneva/B. N. Putilov. M. 2 1977, num. 26. ⫺ 28 Bank, A. V.: Digenis Akrit vizantijskogo e˙posa i David Sassunskij (Digenis Akritas im byzant. Epos und David von Sassun). In: David Sassunskij. Jubilejnyj sbornik, posvjasˇcˇennyj 1000-letiju e˙posa. Erevan 1939, 141⫺148, hier 144; Zˇirmunskij, V. M.: Skazanie ob Alpamysˇe i bogatyrskaja skazka (Erzählungen über das Alpomysh und das Reckenmärchen). M. 1960, 197; cf. auch id. (wie not. 20) 16⫺18; Köhler/Bolte 1, 405⫺544; Schiefner, A.: Heldensagen der minussin. Tataren. SPb. 1859, 80⫺82. ⫺ 29 Smirnov, Ju. I.: Russkaja e˙picˇeskaja poe˙zija Sibiri i Dal’nego Vostoka. Novosibirsk 1991, num. 61, 62; id./Smolickij, V. G.: Dobrynja Nikiticˇ i Aljosˇa Popovicˇ. M. 1974, num. 53. ⫺ 30 Kicˇikov, A. Sˇ.: Geroicˇeskij e˙pos „Dzˇangar“. Sravnitel’no-tipologicˇeskoe issledovanie pamjatnika (Das Heldenepos „Djangar“. Vergleichend-typol. Unters. des Denkmals). M. 1997. ⫺ 31 Nikiforov, N. Ja.: Anosski sbornik. Omsk 1915, 70. ⫺ 32 Guljaev, S. I.: Byliny i istoricˇeskie pesni iz Juzˇnoj Sibiri. Novosibirsk 1939, num. 42. ⫺ 33 Orbeli (wie not. 26) 193; Antar, a Bedoueen Romance. Übers. T. Hamilton. L. 1819, 28. ⫺ 34 Markov, A. V.: Belomorskie byliny. M. 1901, num. 108; Orbeli (wie not. 26). ⫺ 35 Ro´na-Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1909, 287; Haboucha 590. ⫺ 36 SUS 650 A. ⫺ 37 Ikeda 301 B, 302, 433 B. ⫺ 38 Wilbert, J.: Yupa Folktales. L. A. 1974, num. 41. ⫺ 39 Dzˇapua (wie not. 26) num. 5. ⫺ 40 Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 94⫺96. ⫺ 41 Wilbert (wie not. 15) 97; cf. Moldavskij, D. M.: Russkaja satiricˇeskaja skazka. V zapisjach serediny 19⫺20 veka. M./Len. 1955, 133 sq.
Moskau
Nikita Petrov
Waffen sind Gegenstände, die Menschen zur Verteidigung oder zum Angriff dienen. W.
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werden bes. in Kampfhandlungen (J Krieg; J Zweikampf), bei kriminellen Taten (J Mord; J Vergewaltigung; J Entführung) und bei der J Jagd eingesetzt. Ihre Entwicklung steht im Zusammenhang mit dem Stand handwerklicher Fähigkeiten und dem technologischen Fortschritt einer Gesellschaft1. In Mythen ist von J Schmieden die Rede, die W. für Götter und Helden herstellen2. Die wichtigste Waffe des Helden in der Heldenepik seit der Antike ist das J Schwert, daneben begegnen Speer sowie J Pfeil und Bogen3. Die W. verleihen ihren Trägern z. T. ungewöhnliche Kampfeskraft (J Stärke: Die außergewöhnliche S.), ein Motiv, das sich auch in Märchen wiederfindet (cf. AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger; AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter). In Sagen kämpfen J Riesen mit den einfachsten Gegenständen, mit Keulen, ausgerissenen Bäumen oder großen Steinen, gegeneinander oder gegen Menschen4. In mitteleurop. hist. Sagen werden die benutzten W. seltener erwähnt. In der Sage von Heinrich dem Löwen steht der Herzog von Braunschweig einem Löwen im Kampf gegen einen Lindwurm bei, indem er dem Untier mit seinem Schwert das Haupt abschlägt (AaTh/ATU 156: Androcles and the Lion; cf. J Löwentreue)5. Der Überlieferung nach soll dem got. König Ildebad mit dem Schwert der Kopf abgeschlagen worden sein, als er während einer Mahlzeit seinem Gegner den Rücken zukehrte6. Als die Hunnen in eine belagerte lombard. Stadt eindringen, töten sie dort alle Männer ,durchs Schwert‘7. Frauen erschlagen ihre Widersacher aus Rache mit dem Schwert (Kriemhild im J Nibelungenlied; die langobard. Königin Theodelind ersticht das ,scheußliche Meerwunder‘, das sich an ihr vergangen hatte8). Auch in jüngeren Sagenbelegen ist es das Schwert, mit dem J Ritter, z. T. aus derselben Familie, aufeinander losschlagen9 oder mit dem Liebende, die den jeweils anderen tot wähnen, sich selbst töten10. Die Selbsttötung von Kriegshelden durch das Schwert (,sich ins Schwert stürzen‘) erfolgte im Altertum meist in ausweglosen Situationen; bes. durch Sophokles’ Tragödie ist die Erzählung von Aias’ Selbstmord bekannt (Aias, 455⫺450 a. Chr. n.). Die bekannteste Sage, in der ein Bogenschütze auftritt (J Schützenkünste), ist im dt.sprachigen Raum
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wohl die über Wilhelm J Tell11. Obwohl W. in Sagen nicht nur auf Wissen um reale Gegebenheiten zurückgehen, sondern z. T. auch der erzählerischen Phantasie zu verdanken sind, spielen imaginierte W. eine geringere Rolle. Als Mordwaffe werden vor allem J Messer und Dolch benutzt, als solche dient auch das Beil. Der Räuber Röpke wird mit einer Axt erschlagen12. Der J Schuß in den Himmel in der Frevelsage (Tubach, num. 324) erfolgt außer mit Messer oder Pfeil und Bogen auch mit dem Gewehr. Die Inhalte von Volkserzählungen sind nur bedingt in hist. Zeitläufen angesiedelt, weisen jedoch historisierende Tendenzen auf und greifen insofern vielfach auf Requisiten einer älteren Kulturstufe zurück. Hier finden sich daher vorwiegend ältere und einfache W., während z. B. Feuerwaffen, die in der Folge der Erfindung des Schwarzpulvers entwickelt worden waren, nur sporadisch Eingang fanden und Produkte der industriellen W.produktion gänzlich fehlen. Mitunter liegt jedoch eine Anpassung an die Entwicklung der W.technik vor, wenn Pfeil und Bogen aus älteren Var.n von AaTh/ATU 920 C: J Schuß auf den toten König in jüngeren Fassungen durch Gewehr oder Pistole ersetzt werden. Auch in Märchen sind W. variabel: Wenn seine treuen Tiere beim Drachenkampf das Untier nicht allein bezwingen können (cf. auch AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen; AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei)13, bedient sich der Held magischer Praktiken14 oder hilft ihnen außer mit dem Schwert mit Hirschfänger (AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder)15, Eisenstange (AaTh/ ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter)16 oder einem schweren Hammer (AaTh/ATU 300 A: J Drachenkampf auf der Brücke). In der ältesten europ. Fassung von AaTh/ATU 653: Die vier kunstreichen J Brüder im J Novellino (num. 23) erlegt ein Armbrust-, bei J Basile (5,7) ein Bogenschütze den Drachen. Zieht der Held in den Krieg wie in AaTh/ATU 314: J Goldener, kämpft er meist mit dem Schwert17. Daneben erscheinen Lanze18 und Säbel19 (gelegentlich als Synonym für Schwert20). In KHM 136, AaTh/ATU 502: Der wilde J Mann sind die Krieger des Helden mit Schwertern bewaffnet, während über seine eigene Bewaffnung nichts verlautet21. In der
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schwankhaften Erzählung vom J Mordversuch mit dem Beil (AaTh/ATU 1115) bedient sich der Unhold meist einer Axt, um den Helden zu erschlagen, doch werden als Mordwaffe auch Eisenstange, zentnerschwere Keule, Schwert, Lanze, Dolch und Schmiedehammer genannt. Obwohl der starke Held in einer mecklenburg. Fassung von AaTh/ATU 301 in einer Höhle eine ,Masse Gewehre‘ findet, bevorzugt er den großen eisernen Stock, den ihm der Vater geschmiedet hat, um das Untier zu töten22. Zwar ist in AaTh/ATU 562: J Geist im blauen Licht oder in AaTh/ATU 569: J Ranzen, Hütlein und Hörnlein sogar von Kanonen die Rede, aber das sind letztlich keine realen, sondern herbeigezauberte magische W. (cf. Mot. D 1080, 1081, D 1653.1.1), die hier in märchentypischer Übertreibung übermächtige W. darstellen. Dagegen ist der Held in AaTh/ATU 157: Tiere lernen J Furcht vor den Menschen in der Regel ein Jäger oder Soldat, der selbstverständlich eine Flinte mit sich führt. In einigen Schwänken spielen bes. Feuerwaffen eine zentrale Rolle. AaTh 1157, 1158/ ATU 1157: The Ogre and the Gun steht im Kontext der Sagen vom düpierten J Teufel, der in AaTh 1157/ATU 1157 (1) noch nie ein Gewehr gesehen hat: Ein Jäger23 (Soldat24, Wilddieb25, Schmied26, Gärtner27, Frauen28) reagiert geistesgegenwärtig auf die bedrohliche Gegenwart des Teufels, indem er behauptet, sein Gewehr sei eine Tabakpfeife. Er steckt es dem Teufel, der einen Zug daraus nehmen möchte, in den Mund und ,gibt der Pfeife Feuer‘. Der Teufel spuckt die Kugel (Schrot) wieder aus und staunt über den starken Tabak.
Der Erzähltyp ist in nahezu ganz Europa verbreitet sowie aus Nordamerika, Süd- und Ostafrika und dem Nahen und Fernen Osten (Kurdistan, Nepal, China) bezeugt. Die Aufzeichnungen gehen ⫺ soweit feststellbar ⫺ nicht vor das 19. Jh. zurück, wobei die Erzählung als Teufelssage29, Erlebnisbericht30, Jägerlatein31, Lügengeschichte32 oder Tiermärchen33 ausgestaltet sein kann. Meist steht AaTh 1157/ATU 1157 (1) allein, erscheint jedoch auch kombiniert mit Märchentypen wie AaTh/ATU 15734, AaTh/ATU 1159: cf. J Einklemmen unholder Wesen35, AaTh/ATU 330: J Schmied und Teufel 36, AaTh/ATU 785: J Lammherz, AaTh/ATU 33037 oder AaTh/ATU
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361: J Bärenhäuter38. In AaTh 1158/ATU 1157 (2) schaut der Teufel in den Lauf der Flinte, die losgeht und ihn verletzt39. ATU 1228: Firing a Gun faßt drei schwankhafte Erzählungen über die Unkenntnis der Protagonisten im Umgang mit einer Feuerwaffe zusammen. In AaTh 1228/ATU 1228 (1) schaut ein Dummkopf in den Lauf des Gewehrs, während der andere abdrückt. Diese Erzählung ist vor allem aus Nordeuropa überliefert40. Eine originelle Var. dazu liegt aus Westfalen vor: Hier animiert der Held den Teufel im Rahmen von drei Wetten (AaTh/ ATU 1071: cf. J Wettstreit mit dem Unhold; AaTh/ATU 1072: cf. J Wettlauf der Tiere) dazu, in ein Kanonenrohr zu kriechen, aus dem er ihn dann zurück in die Hölle schießt41. In ATU 1228 (2) halten zwei Dumme ein Gewehr für eine Flöte. Der eine will von oben blasen, der andere fingert am Schloß herum, so daß sich ein Schuß löst und den ,Flötisten‘ tötet42. Dieses Sujet begegnet auch in einem Beleg aus Ungarn, der eine Reihe von Schildbürgergeschichten enthält43. In AaTh 1228 A/ ATU 1228 (3) geben mehrere Männer nacheinander Schießpulver in die Flinte. Als sie losgeht, richtet sie unter ihnen ein Blutbad an (aber sie glauben, im angenommenen Ziel sei die Wirkung noch größer)44. 1
Geibig, A. u. a.: Waffe. In: Lex. des MA.s 8. Stg./ Weimar 1999, 1893⫺1903. ⫺ 2 cf. ferner Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1⫺2. Wiesbaden 1999, t. 1, 138, 244, 324; t. 2, 746 sq. ⫺ 3 cf. ferner ibid., t. 1, 9, 103, 138, 266, 286, 386 sq., 392, 412, 415; t. 2, 746. ⫺ 4 Höttges, 172⫺184. ⫺ 5 Grimm DS 526; Petzoldt, L.: Hist. Sagen 1. Mü. 1976, 234. ⫺ 6 Grimm DS 385. ⫺ 7 Grimm DS 406. ⫺ 8 Grimm DS 405. ⫺ 9 Neumann, S.: Sagen aus Mecklenburg. Mü. 1993, num. 34. ⫺ 10 ibid., num. 30. ⫺ 11 Grimm DS 518. ⫺ 12 Neumann (wie not. 9) num. 27. ⫺ 13 z. B. Karlinger, F.: Märchen griech. Inseln und Märchen aus Malta. MdW 1979, num. 54 (maltes.); Wildhaber, R./Uffer, L.: Schweizer Volksmärchen. MdW 1971, num. 56; Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971, num. 57. ⫺ 14 z. B. Bødker, L.: Dän. Volksmärchen. MdW 1964, num. 5; Neumann (wie not. 13) num. 60. ⫺ 15 z. B. ibid., num. 61. ⫺ 16 z. B. Aitken, H./Michaelis-Jena, R.: Schott. Volksmärchen. MdW 1965, num. 10. ⫺ 17 z. B. Löwis of Menar, A. von: Finn. und estn. Märchen. MdW 1962, num. 37 (finn.); Bødker (wie not. 14) num. 22; Uffer, L.: Rätorom. Märchen. MdW 1973, num. 8; Camaj, M./Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 41. ⫺ 18 z. B.
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Wagen geteert ⫺ Wagner, Wilhelm Richard
Karlinger, F./Laserer, E.: Bask. Märchen. MdW 1980, num. 13. ⫺ 19 z. B. Eschker, W.: Mazedon. Volksmärchen. MdW 1972, num. 23. ⫺ 20 CoxLeick, A. M. A./Cox, H. L.: Märchen der Niederlande. MdW 1977, num. 41. ⫺ 21 cf. auch Wildhaber/Uffer (wie not. 13) num. 26; Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1977, num. 84. ⫺ 22 Neumann (wie not. 13) num. 58. ⫺ 23 z. B. Haas, A.: Rügensche Sagen. Bergen 81935, num. 153; Depiny, A.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 201; van der Kooi; Kristensen, E. T.: Molboog aggerbohistorier. Viborg 1892, num. 454; Hodne; Ara¯js/Medne; MNK. ⫺ 24 z. B. Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. Bonn 1935, num. 37; van der Kooi; Schier, K.: Schwed. Volksmärchen. MdW 1971, num. 27. ⫺ 25 z. B. Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num. 104. ⫺ 26 z. B. Bll. für pommersche Vk. 4 (1896) 79. ⫺ 27 z. B. Knoop, O.: Sagen der Provinz Posen. B. 1913, num. 174. ⫺ 28 Bll. für pommersche Vk. 1 (1893) 163. ⫺ 29 ibid. 4 (1896) 79; Knoop (wie not. 27). ⫺ 30 z. B. Cammann, A.: Märchenwelt des Preußenlandes. B. 31992, 290; Dorson, R.: Bloodstoppers and Bearwalkers. Folk Tradition of the Upper Peninsula. Cambr., Mass. 1952, 143 sq. ⫺ 31 z. B. Haas (wie not. 23); Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 27. ⫺ 32 z. B. Zender (wie not. 24). ⫺ 33 Schmidt, S.: Europ. Märchen am Kap der Guten Hoffnung des 18. Jh.s. In: Fabula 18 (1977) 40⫺74, hier 69; Coetzee. ⫺ 34 z. B. Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 166. ⫺ 35 Pröhle, H.: Märchen für die Jugend. Halle 1854, num. 28. ⫺ 36 Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 32. ⫺ 37 Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1961, num. 10. ⫺ 38 Schier (wie not. 24). ⫺ 39 Barag; Hodne; Jauhiainen. ⫺ 40 SUS; Barag; Ara¯js/ Medne. ⫺ 41 Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 162. ⫺ 42 Birlinger, A.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 692; Lang-Reitstätter, M.: Lachendes Österreich. Salzburg 21948, 163; Peukkert, W.-E.: Hochwies. Göttingen 1959, num. 189; Berze Nagy. ⫺ 43 Kova´cs, A.: Ung. Volksmärchen. MdW 1966, num. 8. ⫺ 44 Afanas’ev 3, num. 461; Lang-Reitstätter (wie not. 42) 161 sq.; cf. Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 83 (⫹ AaTh/ATU 1260 ⫹ 1240 ⫹ 1313 C ⫹ 1225).
Rostock
Siegfried Neumann
Wagen geteert J Wörtlich nehmen
Wagner, Wilhelm Richard, *Leipzig 22. 5. 1813, † Venedig 13. 2. 1883, dt. Komponist und Schriftsteller1. Der Sohn eines Juri-
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sten (Polizeiaktuar) und Laienschauspielers besuchte 1828⫺30 die Nikolai- und die Thomasschule in Leipzig (ohne Abschluß) und studierte ab 1831 dort Musik. Nach ,Lehr- und Wanderjahren‘ an verschiedenen Orten war er 1843⫺49 Hofkapellmeister in Dresden. Wegen Teilnahme an ,revolutionären Umtrieben‘ seit Mai 1849 verfolgt, ging er ins Züricher Exil. Die Aufdeckung seines Verhältnisses zu Mathilde Wesendonck, der Frau seines Förderers, trieb ihn 1859⫺63 zu neuem Wanderleben. Er wurde in München (1864⫺65) und in Tribschen ([Schweiz] 1866⫺70) seßhaft, dann in Bayreuth. Dort erfolgte 1876 die Eröffnung der Bayreuther Festspiele im von W. erbauten Festspielhaus. Zuletzt wurden diese finanziell entscheidend durch den Bayernkönig Ludwig II. gefördert. W. ist im Garten seiner Villa Wahnfried in Bayreuth begraben2. Auf frühe Kompositionsversuche in verschiedenen Genres und erste musikalische Schr. folgten die sämtlich selbstgedichteten Libretti und die Kompositionen von insgesamt 13 Opern seit 1834. W. hatte lebenslang eine intensive Beziehung zum Märchen, bes. zu den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm. Er sah in den KHM ⫺ wie die Brüder Grimm selbst, denn eine seiner wichtigsten Qu.n war J. Grimms Dt. Mythologie ⫺ einerseits Belege für deren „Zusammenhang mit dem großen Heldenepos“ (des MA.s) und Spuren des „urdt. Mythos“3, und so behandelte er sie in seiner Wertung und seinen Qu.nübernahmen gleichrangig mit den germ. (vornehmlich altnord.) Mythen4; andererseits bedachte er auch deren neuere volkstümliche Distributions- und Rezeptionsbedingungen: „Der ,junge Siegfried‘ hat den ungeheuren Vortheil, daß er den wichtigen Mythos dem publikum im spiel, wie einem kinde ein märchen, beibringt“5. Ein begeisterter Ber. W.s über die Aufführung eines Quodlibets aus Grimms Märchen 1855 in London erweist, wie sehr die KHM seine Bühnenwerke angeregt und bestimmt haben, denn diese Vorstellung gab ihm „einen sehr guten Begriff davon, wie das Volk phantasievoll zu unterhalten sei“6. Thomas Mann hat W. „als Entdecker des Mythus für die Oper“ gefeiert und zugleich attestiert, daß ihm eine einmalige Mischung aus Mythischem, Märchenhaftem und Volkstümli-
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Wagner, Wilhelm Richard
chem gelungen sei, wenn er von W.s Kunst spricht, „das Kindliche mit dem Erhabenen zu vereinigen“, „das Volkstümliche und das Geistige in einer Gestalt zu binden“, und wenn er das die Vereinigung „des Märchentreuherzigen mit dem Ausgepichten“ nennt; „die Volksseele ist es, die aus ihm und durch ihn dichtet“7. W. greift in seinen Opern vornehmlich Märchenmotive und -strukturen auf, die eine gewisse Übereinstimmung mit den von ihm in seinen Gesamtkunstwerken neugestalteten Mythen zeigen oder diese ergänzen ⫺ aus Überzeugung, daß man „dem wahren epischen Dichterquell nur noch im Volksmärchen und in der Sage nachzuforschen“ vermöge8. Zwar dichtete W. seine erste Oper Die Feen (1833⫺1834) auf der Grundlage des berühmten Märchenspiels von Carlo J Gozzi La donna serpente, doch danach wandte er sich bei seiner Qu.suche zunächst anderen literar. Gattungen zu: Das Liebesverbot (1834⫺1840) basiert auf J Shakespeares Measure for Measure (1604; ATU 985**: J Maß für Maß), Rienzi (1837⫺1840) auf Edward Bulwer-Lyttons gleichnamigem Historienroman (1835). Mit dem Chorwerk Das Liebesmahl der Apostel (1843) und im fünfaktigen Prosaentwurf Jesus von Nazareth (1848) griff er sodann bibl. Überlieferungen auf, die auch noch für sein letztes Werk Parsifal (J Parzival) von Bedeutung sein sollten. Seine Hauptwerke beginnen mit Der J fliegende Holländer und J Tannhäuser, beide auf hauptsächlich durch die Romantiker Ludwig J Tieck, E. T. A. J Hoffmann und vor allem Heinrich J Heine vermittelten Sagen und Sagenmotiven basierend. In den folgenden Werken griff W. auf mythol. (Der Ring des Nibelungen; cf. J Nibelungenlied) und mediävistische Qu.n zurück (J Tristan und Isolde nach Gottfried von Straßburg; Parsifal nach Wolfram von Eschenbach). In diesen und anderen Opernlibretti (außer den J Meistersingern) findet sich seit dem auf ma. Epen und Grimms Dt. Sagen zurückgehenden J Lohengrin (1845/47) eine Fülle von Zitaten aus den und Anspielungen auf die KHM9. Selbst für den solchen Traditionen fernstehenden Parsifal sah W. einen Zusammenhang mit KHM 50, AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit: „Ich könnte den 3ten Akt von Parsifal Dornröschen nennen, da sie [Kundry] in der Dornenhecke gefunden wird.“10 Am deut-
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lichsten ist die gleichzeitige Anlehnung an Mythos und Märchen in der Siegfried-Dichtung (J Sigurd, Siegfried): W. wies selbst immer wieder auf die zunächst angeblich ungewollte, dann tatsächlich forcierte Nähe zu KHM 4, AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen hin. So schrieb er im Mai 1851 an T. Uhlig: „Habe ich Dir nicht früher schon einmal von einem heitren stoffe geschrieben? Es war dieß der bursche der auszieht, ,um das fürchten zu lernen‘ und so dumm ist, es nie lernen zu wollen. Denke Dir meinen schreck, als ich plötzlich erkenne, daß dieser bursche niemand anders ist, als ⫺ der junge Siegfried, der […] Brünnhilde erweckt“11. Darüber hinaus war W. die Verwandtschaft des Brünhild-Mythos mit dem DornröschenMärchen bewußt12. Über die Strukturverwandtschaft mit den Märchen vom Fürchten lernen und Dornröschen hinaus finden sich in W.s Siegfried zahlreiche motivliche und wörtliche Übernahmen13 aus diesen u. a. Grimmschen Märchen: „Ist’s eine Kunst, was kenn’ ich sie nicht? ⫺/ Heraus! Was ist’s mit dem Fürchten?“ ⫺ „Brünnhild’ erweckt ein Feiger nie:/ nur wer das Fürchten nicht kennt!“ ⫺ „Der dumme Knab’ der das Fürchten nicht kennt, ⫺/ mein Vöglein, das bin ja ich!“ ⫺ Der ,Waldvogel‘ führt Siegfried zum mythischen Brünnhildefelsen wie das ,Vöglein‘ J Hänsel und Gretel (KHM 15, AaTh/ATU 327 A) durch den Wald zum märchenhaften Hexenhaus leitet. Dieses Motiv findet sich erst in der 5. Aufl. (1843) in den KHM ⫺ mit dieser oder einer späteren KHM-Ausg. hat W. demnach gearbeitet. Seine Bayreuther Bibl. enthält allerdings kein Exemplar der KHM. ⫺ Seine Enttäuschung, daß sein Musizieren keinen Menschen als ,lieben Gesellen‘, sondern nur ,Wolf und Bär‘ herbeilockte, verbindet Siegfried mit dem Wunderlichen Spielmann (KHM 8, cf. AaTh/ATU 151: J Einklemmen unholder Wesen), der ebenso enttäuscht ist, daß nach seinem Geigenspiel nur ein ,Wolf‘, aber kein Mensch (als „der rechte Geselle“) zu ihm gekommen ist. ⫺ Wenn Mime seufzt, „Nun ward ich so alt/ wie Höhl’ und Wald,/ und hab’ nicht so was gesehn!“, zitiert er KHM 39 (3): Die Wichtelmänner: „Nun bin ich so alt/ wie der Westerwald/ und hab nicht gesehen […]“ (J Wechselbalg). ⫺ Buchstäblich genau und in der Grimmschen Intention ist die markante Formel „schläfst oder wachst du?“ aus Die drei Männlein im Walde (KHM 13, cf. AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut) übernommen. ⫺ Dagegen transponiert W. die eher kindlich klingende Beschwörungsformel „weh, weh, Windchen“ aus Die Gänsemagd (KHM 89, AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf ) in seiner Tristan-
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Wahl: Kluge und törichte W.
Oper sprachlich und intentional gleichsam ins Mythische zurück: „Wehe! Wehe, du Wind!“
Wie eng und wie intensiv der Dichter und der Komponist W. sich an das Märchen anlehnte und wie sehr er von seinen Bewunderern und Nachfolgern als Märchen- und Mythen(neu)schöpfer aufgefaßt wurde, erweist sich u. a. daran, daß die von W. stark beeinflußte Mathilde Wesendonck zahlreiche Kunstmärchen (zunächst für W.14, dann für ihre Kinder) verfaßte15. Auch W.s musikalische Adepten, sein Sohn Siegfried sowie Engelbert Humperdinck, wurden ausschließlich durch ihre Opern nach Grimmschen Märchen- und Sagensujets (J Märchenoper) berühmt16. 1
W., R.: Gesammelte Schr. und Dichtungen 1⫺10. Lpz. 1871⫺83 (Faks. der 2. Aufl. Hildesheim 1976); id.: Sämtliche Werke. ed. C. Dahlhaus. 1 sqq. Mainz 1970 sqq.; id.: Dichtungen und Schr. 1⫺10. ed. D. Borchmeyer. Ffm. 1983; id.: Sämtliche Briefe. 1⫺9. ed. G. Strobel/W. Wolf. Lpz. 32000; 10 sqq. Wiesbaden u. a. 1999 sqq.; id.: Werke, Schr. und Briefe. CDROM B. 2004; Deathridge, J.: Werkverz. und Bibliogr. In: R.-W.-Hb. ed. U. Müller/P. Wapnewski. Stg. 1986, 831⫺879; Westernhagen, C. von: W., W. R. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 14,1. Mü. 1989, 88⫺130. ⫺ 2 W., R.: Mein Leben 1⫺ 2. Mü. 1911; Wagner, C.: Die Tagebücher 1⫺2. ed. M. Gregor-Dellin/D. Mack. Mü./Zürich 1976/77; W.-Chronik. ed. M. Gregor-Dellin. Mü. 1972; Bauer, H.-J.: R.-W.-Lex. Berg. Gladbach 1988. ⫺ 3 KHM [1]. B. 1812, xiv; t. 2 (1815) vii. ⫺ 4 cf. Mertens, V.: R. W. und das MA. In: Müller/Wapnewski (wie not. 1) 19⫺59. ⫺ 5 W. 2000 (wie not. 1) 4, 43 (Brief R. W.s an T. Uhlig, 10. 5. 1851). ⫺ 6 Zitiert nach Rölleke, H.: Die KHM der Brüder Grimm in R. W.s Bühnenwerken. In: Fabula 49 (2008) 19⫺29, hier 19 (not. 1). ⫺ 7 Mann, T.: Leiden und Größe R. W.s. In: id.: Leiden und Größe der Meister. Ffm. 1957, 216⫺ 275, hier 224, 254, 256 sq. ⫺ 8 W., R.: Über das Dichten und Komponieren. In: W. 2004 (wie not. 1) 4940. ⫺ 9 Wagner (wie not. 2) t. 1, 219. ⫺ 10 ibid. ⫺ 11 W. 2000 (wie not. 1) 4, 43; cf. Rölleke (wie not. 6) 21; cf. id.: Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Zu Überlieferung und Bedeutung des KHM 4. In: Fabula 20 (1979) 193⫺204, hier 198⫺200. ⫺ 12 Wagner (wie not. 2) t. 2, 696. ⫺ 13 cf. Rölleke (wie not. 6). ⫺ 14 cf. W.s Brief vom 2. 3. 1859 (W. 2004 [wie not. 1] 14525). ⫺ 15 Wesendonck, M.: Märchen und Märchenspiele. ed. H. Rölleke. Trier 2002. ⫺ 16 cf. Meier, S.: Liebe, Traum und Tod. Zur Rezeption der Grimmschen KHM auf der Opernbühne. Trier 1999.
Neuss
Heinz Rölleke
Wahl: Kluge und törichte W. Eine W. ist im allg. Sprachgebrauch einerseits eine Hand-
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lungsoption, andererseits eine praktisch getroffene willentliche oder unwillentliche Entscheidung. Im engeren Sinne versteht man darunter die politische W., die Willensäußerung einer bestimmten Personengruppe zur Berufung von Personen in eine leitende Funktion oder ein Amt. Von der W. im Sinne einer freien Entscheidung zwischen mehreren Optionen sind Beschlüsse, Anordnungen und Urteile zu differenzieren, insofern sie sich an Normen und Werten orientieren bzw. auf die Wahrheitsfindung abzielen. Das Motiv der W. begegnet gelegentlich in ätiologischen Erzählungen, in denen die Eigenschaften von Menschen oder Tieren durch eine Handlung, die sie vollführen, begründet werden. In AaTh/ATU 55: J Tiere bauen einen Weg entscheidet sich der Maulwurf gegen die Mitarbeit am Bau des Weges; er darf den Weg daher nicht benutzen und muß unter der Erde leben. In einer Erzählung der Khoisan ißt die Damafrau die Leber eines Tiers, weshalb ihre Kinder seitdem dunkle Haut haben; die Namafrau wählt die Lunge; ihre Kinder bleiben hellhäutig1. Die Bedeutung der W. liegt bes. darin, daß auf eine gegebene Situation reagiert werden muß, ohne daß sämtliche Konsequenzen bedacht werden können. Letztlich können weder Intuition noch Logik die W. als die ,richtige‘ Entscheidung ausweisen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die aus der griech. Dichtung stammende Erzählung über den trojan. Königssohn Paris, der unter den Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite die schönste auswählen sollte. Seine W. fällt auf Aphrodite, die ihm die Gunst J Helenas versprochen hatte; Helenas Raub löst den Trojan. Krieg aus (Kypria M⫺A 102 sq.; Ilias 22,114⫺16; 24,25⫺30; J Homer). Hier zeigt sich, wie zusätzliche Faktoren die vorgeblich objektive W. beeinflussen. Vor allem aber kommt der W. eine zentrale handlungsauslösende Rolle zu. Im Märchen lassen sich bei einer W. getroffene Entscheidungen in bewußte und unbewußte, kluge und törichte, richtige und falsche unterteilen. Unabhängig von der Menge an W.optionen gibt es immer eine ,richtige‘ W. zwischen didaktisch gemeinten Wertepolen wie J Gut und Böse. Psychol. Begründungen finden sich dagegen selten, vielmehr geht es um das schlaglichtartige, verknappte Sichtbar-
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Wahl: Kluge und törichte W.
machen von Charakteren oder Handlungskonstellationen (cf. J Charaktereigenschaften und -proben). Das binäre Prinzip der W. (J Dichotomie; J Polarität) ⫺ auch wenn diese selbst nicht thematisiert wird und von den Figuren unwissentlich getroffen sein mag ⫺ strukturiert die Erzählung: Die Handlung wird mit gegensätzlicher Lösung parallel wiederholt (z. B. AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen; AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens; cf. J Spiegelmärchen). Die Figuren (oftmals Geschwister oder Stiefgeschwister) sind als paradigmatisch aufzufassen, stehen sie doch symbolisch für entgegengesetzte Lebenshaltungen mit ethisch-moralischem Impetus (J Kontrast; J Fleiß und Faulheit; J Schön und häßlich; J Tugenden und Laster; J Demut und Hochmut; cf. auch J Usurpator). Zu den unbewußten Entscheidungen gehört auch die J Vaterwahl, bei der ein Mann die Liebe zu seiner Frau über wertvolle Gegenstände stellt und sich dadurch zugleich als der Vater ihres Kindes zu erkennen gibt (AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter; AaTh/ATU 551). Eine vorgeblich kluge W. kann sich im Verlauf der Erzählung auch als fatal und am Ende töricht herausstellen, wodurch die Kontingenz der W. unterstrichen wird (z. B. AaTh/ATU 839: Die drei J Sünden des Eremiten). So stehen in einer Erzählung der südafrik. Nama und Dama zwei Männern eine rote und eine schwarze Felltasche zur Auswahl. Der Schlaue wählt die rote, der Dumme die schwarze Tasche. Erstere stammt von Gott und bringt tödliche Blitze über den Schlauen, letztere enthält ein Tuch, das der Dumme unter den Seinen verteilt2. Meist vermittelt die W. jedoch mit didaktischem Anspruch den Gegensatz zwischen Klug und Töricht, was vor allem dann der Fall ist, wenn Helfer ins Spiel kommen. Hinter Entscheidungsprozessen im Märchen steht oft der Rat eines Wissenden, dem der Protagonist zu folgen hat: In AaTh/ATU 550 warnt der Tierhelfer die Königssöhne davor, ein bestimmtes Wirtshaus zu betreten. Nur der jüngste folgt seiner Mahnung und nimmt seine Aufgabe wahr, während die beiden älteren sich im Wirtshaus Vergnügungen hingeben und darüber ihren Auftrag vergessen. Folgt der Protagonist dem Rat des Helfers nicht, hat dies eine J retardierende Funktion (cf. auch
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J Verbot)3: Da der Prinz in AaTh/ATU 550 den Hinweis des Tierhelfers ignoriert, den goldenen Käfig des Zaubervogels und später das Zaumzeug des Zauberpferds zurückzulassen, werden ihm weitere Aufgaben aufgetragen. Im Gegensatz zur unbewußten W., bei der die Entscheidung des Protagonisten für diesen alternativlos erscheint, sind bewußte Entscheidungen vielfach mit der expliziten Angabe von Alternativen verbunden. Markanter Ort solcher Entscheidung ist die J Wegkreuzung: In der Antike kommt die Entscheidung des Helden für ein tugendhaftes Leben beispielhaft in der Erzählung von J Herakles am Scheideweg zum Ausdruck. In einer russ. Var. von AaTh/ ATU 550 muß der Protagonist zwischen drei Wegen wählen, wobei ihm ein Hinweis auf sein weiteres Schicksal gegeben wird4. Die bewußte W. spielt auch im Kontext von Brautwerbung und J Freierproben eine Rolle. In AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter erlaubt der König seiner Frau, als er sie fortschickt, etwas mitzunehmen; sie wählt den König (cf. auch ATU 875*: J Weiber von Weinsberg). Der Protagonist von AaTh/ATU 925*: J Schönstes im Garten wählt die Prinzessin als Schönstes aus. Eine bewußte W. begegnet u. a. im Motiv von der J Teilung der Frau, in der ein Mann zu wählen hat, welche Körperhälfte der Frau, die obere oder die untere, ihm die liebere wäre. Als kluge W. erweist sich die Entscheidung für die obere Hälfte, kann diese doch die untere beeinflussen. Ein kluge W. begegnet auch in der brit. Artus-Tradition: Eine häßliche Frau verwandelt sich in eine junge schöne Dame, als J Gawein ihr die W. überläßt, ob sie lieber tagsüber oder des Nachts für ihn ihre schöne Gestalt annehmen soll5. Bei der Verknüpfung der W. (z. T. aufgrund der Eigenschaften auszuwählender Gegenstände) mit dem Schicksal des Wählenden, wie sie sich in AaTh/ATU 920 B: J Vogelwahl der Königssöhne, aber auch in J Deszendenzproben findet6, sind Kategorien wie Bewußt und Unbewußt nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Durch die J Apfelprobe wird die Schuld oder Unschuld des Wählenden geprüft: Kinder, so die dahinterstehende Vermutung, würden den ihnen angebotenen Apfel wählen, nicht das Goldstück. Die Aufforderung zur Entscheidung zwischen kostbaren und vorgeblich J unschein-
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Wahnmotiv ⫺ Wahrheit
baren Dingen verbildlicht den kontingenten Aspekt der W.: Die scheinbar einfachen Objekte enthalten in der Regel Unbekanntes und bringen die nicht abzusehenden Folgen der W. ins Bild (AaTh/ATU 480; J Blei, Kap. 2; cf. auch AaTh/ATU 580: J Beliebt bei den Frauen; AaTh/ATU 923: J Lieb wie das Salz). Gleiches gilt, wenn Figuren im Märchen für ein bestimmtes Vergehen eine Bestrafung wählen, wobei sie unwissend ihre eigene Todesart antizipieren und sich so selbst das J Urteil sprechen7. Im Schwank wird die W. konterkariert und mit absurden Zügen versehen. So wird die letzte J Gnade, die eigene J Todesart zu wählen, zur Befreiung genutzt (AaTh/ATU 1587: J Baum zum Hängen gesucht). Eine merkwürdige Entscheidung kann sich jedoch subjektiv als klug erweisen. In Johannes J Paulis Schwanksammlung Schimpf und Ernst (num. 164) zieht ein Edelmann Mühlsteine Juwelen vor, da sich mit ersteren auf Dauer mehr Geld verdienen lasse. Die Tauschgeschäfte von J Hans im Glück (AaTh/ATU 1415), die den Protagonisten entsprechend allg. Wertvorstellungen als Dummkopf erscheinen lassen, können als Ausdruck seines Strebens nach Glück und Zufriedenheit aufgefaßt werden. In der Regel erweist sich die W. im Schwank jedoch als töricht. In diesem Sinne schwankhaft ist die W. des Reichen im Legendenmärchen AaTh/ATU 750 A: Die drei J Wünsche. Bereits die W.kriterien bei der J Bürgermeisterwahl (AaTh 1268*, 1675*/ATU 1268*) weisen auf die Dummheit der Kandidaten hin; ihr Ausgang diskreditiert das Amt. In einem bosn. Schwank soll ein Dorftrottel zum Hodscha gemacht werden. Daraufhin wird von der Stadt ein Gelehrter entsandt. Um die Kompetenz der beiden Kandidaten zu prüfen, werden sie aufgefordert, einen Ochsen ,zu Papier zu bringen‘. Während der Städter das Wort ,Ochse‘ schreibt, zeichnet der Analphabet einen Ochsen und überzeugt die Dörfler damit8. An eine derartige törichte W. erinnert auch das Motiv der J Königswahl der Tiere aus der äsopischen Fabeltradition, wobei entweder die Absurdität der W.kriterien (AaTh/ATU 221: The Election of King of Birds) oder der Bitte bestimmter Tiere um einen König (z. B. AaTh/ ATU 277: J Frösche bitten um einen König) vorgeführt wird.
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S. J Freud liefert in Das Motiv der Kästchenwahl (1913) eine Deutung dafür, daß die W. des unscheinbarsten Gegenstands durch den Protagonisten mit der schönsten Frau belohnt wird: Der Gegenstand stehe für den Tod. Die Belohnung sowie die Option zu wählen selbst sieht Freud als Verbrämung und Sublimation der Unausweichlichkeit des Schicksals. Diese mache die Allmacht des Todes als größte narzißtische Kränkung des Menschen erst erträglich9. Schmidt 2, num. 175 (Nama und Dama). ⫺ 2 ibid., num. 186. ⫺ 3 cf. auch Beit, H. von: Symbolik des Märchens. Bern/Mü. 41977, 576 sq. ⫺ 4 Afanas’ev 1, num. 168. ⫺ 5 Withrington, J./Field, P. J. C.: The Wife of Bath’s Tale. In: Correales, R. M./Hamel, M. (edd.): Sources and Analogues of the Canterbury Tales 2. Woodbridge/Rochester, N. Y. 2005, 405⫺ 448; Child, num. 31. ⫺ 6 Hauff, W.: Märchenalmanach auf das Jahr 1826 für Söhne und Töchter gebildeter Stände. Lpz. 1825, 78⫺98; cf. auch Neuhaus, S.: Das Spiel mit dem Leser. Wilhelm Hauff: Werk und Wirkung. Göttingen 2002, 107⫺110. ⫺ 7 EM 13, 1280. ⫺ 8 Krauss, F. S.: Tausend Märchen und Sagen der Südslaven 1. Lpz. 1914, num. 34. ⫺ 9 Freud, S.: Das Motiv der Kästchenwahl. In: id.: G. W. 10. ed. A. Freud u. a. L. 1946, 24⫺37. 1
Leipzig
Alfrun Kliems
Wahnmotiv J Motiv
Wahrheit 1. Allgemeines ⫺ 2. W. als Erzählstoff ⫺ 3. Objektiver W.sgehalt von Volkserzählungen ⫺ 4. Subjektiver W.sgehalt von Volkserzählungen ⫺ 5. W. und Erzählstrategien
1 . All ge me in es. Mit dem Problem der W. ⫺ definiert als „die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird“1 ⫺ haben sich bes. Philosophen und Theologen seit jeher auseinandergesetzt2. Für das Gebiet der Erzählforschung gilt, daß auf Lügen aufbauende Erzählungen zwar als eine eigene Gattung betrachtet werden (J Lüge, Lügengeschichte), nicht jedoch wahre oder für wahr gehaltene Geschichten. Allg. ist zu beachten, daß der Begriff der W. weder neutral noch objektiv gültig ist; vielmehr können im Laufe der Zeit Verschiebungen auftreten.
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Wahrheit
Auch wenn es naheläge anzunehmen, daß der Begriff W. in allen menschlichen Gesellschaften vorhanden sei, fehlt z. B. in altoriental. Sprachen eine direkte Entsprechung3, und die Tatsache, daß die Bezeichnungen für W. in einigen europ. Sprachen nicht nur aus heimischem Wortmaterial geformt sind, läßt vermuten, daß es manchmal keine eigenständigen Begrifflichkeiten gab4. 2 . W. a ls Er zä hl st off. In populären Erzählungen findet sich das Thema W. in den unterschiedlichsten Kontexten5. Die W. zu sagen, kann belohnt6 oder bestraft7 werden (AaTh/ATU 243 A, 1422: J Ehebruch verraten, AaTh 68**/ATU 48*: cf. Die schönsten J Kinder). Die W. zu hören, ist unangenehm8. Ein Junge (Mann) sagt stets die W.9; ein Diener, der seinem Herrn stets die W. sagt, wird auf die Probe gestellt (cf. AaTh/ATU 889: Der treue J Diener). Unterschiedliche Erzählungen betonen, daß die W. letztendlich immer ans Licht komme (AaTh/ATU 780⫺799: The Truth Comes to Light)10. Tiere oder Gegenstände (die als Zeugen für ein Verbrechen angerufen werden) offenbaren später das Geschehene (AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne, AaTh/ATU 780: J Singender Knochen, AaTh/ATU 960: cf. J Sonne bringt es an den Tag, AaTh/ATU 960 A: J Kraniche des Ibykus). Kindern und J Narren wird bes. Aufrichtigkeit zugeschrieben: Ein Kind spricht offen die W. aus, daß die angeblich vorhandenen teuren Kleider gar nicht existierten (AaTh/ ATU 1620: J Kaisers neue Kleider). In manchen Erzählungen wird einem sozial niedrigstehenden Helden die versprochene Belohnung vorenthalten, bis er einen Sack mit W.en gefüllt habe (J Sack voll Lügen oder W.en). Ein Mann (Verbrecher) soll freigelassen werden, wenn er drei unbestreitbare W.en sagt11. Eine Aussage gilt als wahr, wenn sie durch eine J W.sprobe bestätigt wird (J Bocca della verita`, J Gottesurteil, Himmlische J Weisung). Zur Umgehung eines J Schweigegebots wird die W. einem Gegenstand anvertraut und dabei von einer anderen Person gehört (J Eideslist; AaTh/ATU 782: cf. J Midas, AaTh/ATU 894: J Geduldstein). In manchen Erzählungen ist eine der handelnden Personen eine Personifikation der W.12 In erbaulichen Geschichten werden Bekenner der christl. W. zu J Märty-
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rern13. Nach buddhist. Auffassung kann die feierliche Bekräftigung einer wahren, verdienstvollen Tat Wunder bewirken14. Zur Bekräftigung der W. einer Aussage wird oft auf ein späteres Wahrzeichen verwiesen, dessen Eintreffen die vorherige Aussage bestätigt15. Die Moral mancher der hier genannten Erzählstoffe ist auch als Sprichwort oder Redensart verbreitet16: „W. weret am lengsten“, „Die W. kombt wol an das Licht“, „Kinder und Narren reden (sagen) die W.“17 3 . O bj ek ti ve r W.s ge ha lt vo n Vol ks e rz äh lu ng en. Seit der bekannten, allerdings wenig präzisen Abgrenzung der Brüder J Grimm („Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer“18) werden bestimmten Gattungen bestimmte W.sgehalte zugeschrieben, obwohl derartige Aussagen kaum Gültigkeit über zeitliche, geogr. und soziale Grenzen hinweg beanspruchen können (J Gattungsprobleme, J Realitätsbezüge)19. Trotz des allg. anerkannten fiktionalen Charakters von Märchen wurden immer wieder Versuche gemacht, einzelne Elemente in Märchen als Beschreibungen hist. Zustände zu erklären (z. B. J Aussetzung, J Brautraub, J Kannibalismus, J Menschenopfer, Tötung von J Mißgeburten; cf. J Archaische Züge im Märchen, J Kulturgeschichtliche Züge)20 oder bestimmten hist. Ereignissen zuzuordnen, was u. a. zu einer J Altersbestimmung des Märchens dienen sollte; Hans Traxlers Buch zu AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel ist eine Parodie solcher Versuche21. Ähnlich wollten Studien anhand externer Qu.en darlegen, inwieweit Sagen, bes. sog. hist. Sagen22, vergangene Gegebenheiten korrekt wiedergäben (ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln; J Ius primae noctis, J Weiber von Weinsberg). Losgelöst von der J Faktizität des Erzählten wird auch die moralische Aussage von Märchen von einigen Forschern für wahr gehalten23. Heute spielt die Frage nach dem objektiven W.sgehalt von Erzählungen in der Forschung eine eher untergeordnete Rolle. 4 . S ub je kt iv er W. sg eh al t v on Vo lk se rz äh lu ng en. Jenseits der Frage objektiv feststellbarer W. vertreten Erzählungen gelegentlich einen W.sanspruch, bzw. es wird ihnen von den Hörern oder Lesern ein W.sgehalt
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Wahrheit
zugeschrieben. So stand bei dem vormodernen Begriffspaar ,historia‘ (J Historie) und ,fabula‘ (J Fabel, Kap. 1) ⫺ in dt. Qu.n entsprechend ,Geschicht‘ und ,Gedicht‘ ⫺ ,historia‘ für eine Erzählung, die der Verf. für wahr hielt, während ,fabula‘ für erfundene Erzählungen gebraucht wurde24. In unterschiedlichsten religiösen Kreisen wurde der Gebrauch fiktiver Erzählungen ganz abgelehnt25. Die Zuordnung von ein und derselben Erzählung zu der einen oder der anderen Gruppe konnte sich im Laufe der Zeit bzw. zwischen verschiedenen Konfessionen stark unterscheiden; so wurden kathol. J Mirakelerzählungen von Protestanten ungeprüft als ,fabulae‘ abgetan, während Katholiken das gleiche mit protestant. Wunderberichten taten26. Bis zur Romantik und der ,Entdeckung‘ von Volkserzählungen konnte wahrscheinlich der größte Teil dessen, was Erzählforscher als in Var.en verbreitete Erzähltraditionen klassifizieren, von bestimmten Gruppen zu bestimmten Zeiten als ,historiae‘ aufgefaßt werden. Als Beispiele seien genannt: J Mythos27, heilige Schriften (J Altes Testament, J Neues Testament, J Koran), Heiligenlegenden (J Hagiographie, J Legende) und J Prophezeiungen. Auch heute kann das noch bei J Anekdoten, J Ich-Erzählungen, J Rechtfertigungsgeschichten, J Schwänken oder modernen J Sagen der Fall sein, gelegentlich sogar bei J Märchen28, und zwar dann, wenn Erzähler oder Zuhörer bzw. Leser sich der Tatsache nicht bewußt sind, daß eine Erzähltradition weitergegeben wird, sondern meinen, daß schlicht die W. berichtet werde29. Erst der Zweifel des Erzählforschers an der W. solcher Berichte, gestützt auf die Kenntnis von Var.n, macht aus diesen ,wahren Geschichten‘ Volkserzählungen30. 5 . W. u nd Er zä hl st ra te gi en. Erzähler können ihre Einstellung zum W.sgehalt durch sprachliche Mittel (cf. J Eingangs- und J Schlußformeln; J Lokalisierung) ausdrücken (,Es war einmal …‘) und das Erzählte so für die Zuhörer erkennbar bestimmten Gattungen zuordnen31. Andere Erzähler benutzen solche Mittel, um ihre Zuhörer über den W.sgehalt einer Erzählung zu täuschen32. Um die J Glaubwürdigkeit einer Erzählung zu steigern, werden vertrauenerweckende Gewährsleute
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genannt33. W. kann auch durch J Zeugen (die ,gemeine Sage‘) bestätigt werden34. Zu den J retardierenden Momenten im Märchen zählt das vorläufige Verdecken (Verschweigen) der W., ihre Offenbarung folgt am Ende. Insgesamt ist W. als Definitionskriterium in der Erzählforschung wenig hilfreich, der W.sanspruch dagegen ein wichtiges Moment, um zu bestimmen, welchen J Sitz im Leben Erzählungen haben. 1
Duden. Dt. Universalwb. Mannheim 31996, 1706. ⫺ 2 Szaif, J. u. a.: W. In: Hist. Wb. der Philosophie 12. Basel 2004, 48⫺123; Damerau, B.: W./ Wahrscheinlichkeit. In: Ästhetische Grundbegriffe 6. Stg./Weimar 2005, 398⫺436; Zimmermann, A.: W. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 1918⫺1920; Jüngel, E. u. a.: W. In: RGG 8 (42005) 1245⫺1259; Streng, F. J.: Truth. In: The Enc. of Religion 15. N. Y./L. 1987, 63⫺72; Groot, A. D. de: Kern en consequenties van de forumtheorie over wetenschappelijke „waarheid“. Amst./Ox./N. Y. 1985; Jackson, B.: What People Like Us Are Saying When We Say We’re Saying the Truth. In: JAFL 101 (1988) 276⫺ 292; Zantwijk, T. van: Wahrscheinlichkeit/W. In: Hist. Wb. der Rhetorik 9. Tübingen 2009, 1285⫺ 1340. ⫺ 3 Jüngel (wie not. 2) 1246⫺1248. ⫺ 4 cf. Rey, A. (ed.): Dict. historique de la langue franc¸aise 3. P. ˚ .: Dansk etymologisk 2000, 4033 sq.; Nielsen, N. A ordbog. Kop. 41989, 176 sq.; cf. auch Frisk, H.: „W.“ und „Lüge“ in den idg. Sprachen. Göteborg 1936. ⫺ 5 cf. Boette [, W.]: W. In: HDA 9 (1938⫺41) 48 sq. ⫺ 6 Nowak, num. 269, 279, 307. ⫺ 7 Tubach, num. 304; Pauli/Bolte, num. 1⫺3, 6⫺9, 381, 711; [Zanach, J.:] Hist. Erquickstunden […] 4, Lpz. 1621, 877⫺ 879; ATU 1691 B*. ⫺ 8 Lycosthenes, C.: Apophthegmata […]. [Genf] 1602, 744. ⫺ 9 Baxendale, W.: Dict. of Anecdote, Incident, Illustrative Fact. Selected and Arranged for the Pulpit and the Platform. L. 61903, num. 5742, 5748, 5749. ⫺ 10 Nowak, num. 310; Hennenberger, C.: Erclerung der Preüss. grössern Landtaffel […]. Königsberg 1595, 80⫺82, 109 sq., 216, 358; Jauhiainen, num. C 801⫺C 900; cf. auch Windross, M.: Word and Image in a Group of Seventeenth-Century Protestant Prints. In: Language and Beyond. ed. P. Joret/A. Remael. Amst./Atlanta 1998, 141⫺153, hier 148 sq. ⫺ 11 BP 3, 230; 4, 137 sq.; Tubach, num. 2233. ⫺ 12 B[runner-]T[raut], E.: W. und Lüge. In: KNLL 19 (1992) 773 sq.; Tubach, num. 4180, 4427; Pauli/ Bolte, num. 4. ⫺ 13 Meiger, S.: Nucleus historiarum […] 1. Hbg 1598⫺99, 12[0]⫺125; Kolb, R.: For All the Saints. Changing Perceptions of Martyrdom and Sainthood in the Lutheran Reformation. Macon, Ga 1987; Grochowina, N.: „Het Offer des Herren“. Das Martyrium als Heiligenideal ndd. Täufer um 1570. In: Beyer, J. u. a. (edd.): Confessional Sanctity (c. 1550⫺c. 1800). Mainz 2003, 65⫺80. ⫺ 14 Ja¯takam. Das Buch der Erzählungen aus früheren Existenzen
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Wahrheit und Lüge ⫺ Wahrheitsprobe
Buddhas 7. Übers. J. Dutoit. Mü. s. a., Reg. s. v. W.sbekräftigung wirkt Wunder. ⫺ 15 BP 1, 545 sq.; Beyer, J.: Lutheran Popular Prophets in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. The Performance of Untrained Speakers. In: Arv 51 (1995) 63⫺86, hier 70; Jauhiainen C 1411 sq. ⫺ 16 Singer, S. u. a.: Thesaurus proverbiorum medii aevi 12. B./N. Y. 2001, 328⫺342; Syv, P.: Danske Ordsprog. ed. A. Hansen. Kop. 1944, 359; Spalding, K./Brooke, K./ Müller-Schwefe, G.: An Historical Dict. of German Figurative Usage 6. Ox. 2000, 2618; Wilson, F. P. (ed.): The Oxford Dict. of English Proverbs. Ox. 3 1970, 843⫺845; Röhrich, Redensarten 3, 1689 sq. ⫺ 17 Wander 4, 1757, 1751; ibid. 2, 1296;. ⫺ 18 Grimm DS 1, 15; Heiske, W.: „Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer.“ Versuch einer Kritik. In: Der Deutschunterricht 14,2 (1962) 69⫺75. ⫺ 19 cf. Schenda, R.: Zur Einführung. In: id./Doornkaat, H. ten (edd.): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Bern/Stg. 1988, 11⫺90, hier 14 sq.; Schneider, I.: Strategien zur Erlangung von Glaubwürdigkeit und Plausibilität in gegenwärtigen Sagen und Gerüchten. In: Strategien des populären Erzählens. ed. U. Marzolph. B. 2010, 141⫺163. ⫺ 20 cf. Kahlo, G.: Die W. des Märchens. Halle [1954]. ⫺ 21 Traxler, H.: Die W. über Hänsel und Gretel. Die Dokumentation des Märchens der Brüder Grimm. Ffm. 1963 (u. ö.). ⫺ 22 Cederschiöld, V.: Sant och osant i folksägnerna. Stockholm 1932; Solheim, S.: Eine nord. Sage und Thomas Müntzers Volksreformation. In: DJbfVk. 10 (1964) 225⫺237; Graf, K.: Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der „hist. Sage“. In: Fabula 29 (1988) 21⫺47. ⫺ 23 Gollwitzer, L.: Sind die Märchen wahr? In: Die neue Schau 12 (1951) 19 sq.; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 27, 232 sq., 236 sq. ⫺ 24 DWb. 4,1,1 (1878) 2015 sq.; 4,1,2 (1897) 3862; 4,2 (1877) 1580; cf. auch 6 (1885) 1617; Matthiae, G./Gesner, J. M.: Novum locupletissimvm manvale lex. Latino-Germanicvm […] 1. Halle 1748, 567, 668; Moser-Rath, Predigtmärlein, 45 sq., 52, 452; Schenda, R.: Johannes Stumpff (1500⫺1577/78). In: id./ten Doornkaat (wie not. 19) 91⫺119, hier 97 sq. ⫺ 25 Wackers, P. W. M.: De waarheid als leugen. Een interpretatie van Reynaerts historie. (Diss. Nimwegen) Utrecht 1986, 216; Messerli, A.: Propaganda und Ideologie der Schriftlichkeit in Dt.schweizer Volkskalendern. In: SAVk. 88 (1992) 175⫺205, hier 192 sq.; id.: Lit. und Frömmigkeit in Pietismus und Aufklärung. In: Theol. Rundschau 60 (1995) 398⫺403, hier 401; Bonebakker, S. A.: Some Medieval Views on Fantastic Stories. In: Quaderni di studi arabi 10 (1992) 21⫺43; Drory, R.: Three Attempts to Legitimize Fiction in Classical Arabic Literature. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 18 (1994) 146⫺164. ⫺ 26 cf. Beyer, J.: On the Transformation of Apparition Stories in Scandinavia and Germany, c. 1350⫺1700. In: FL 110 (1999) 39⫺47, hier 45. ⫺ 27 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 162; Lindow, J.: Murder and Vengeance Among the Gods. Baldr in Scandinavian Mythology. Hels. 1997, 9 sq. ⫺ 28 Röhrich, Märchen
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und Wirklichkeit, 174⫺179. ⫺ 29 Beyer, J./Hiiemäe, R. (edd.): Folklore als Tatsachenbericht. Dorpat 2001. ⫺ 30 cf. Gerndt, H.: Gedanken zur heutigen Sagenforschung. In: Bayer. Jb. für Vk. (1991) 137⫺ 145, hier 139. ⫺ 31 Giese, W.: Sind Märchen Lügen? Ein Beitrag zur rumän. und alban. Märchenkunde. In: Cahiers Sextil Pus¸cariu 1 (1952) 137⫺150; Gre´ciano, G.: Aixo era y no era. Über den W.sbegriff und seine sprachliche Ausgestaltung im prov. Märchen. In: Europ. Volkslit. Festschr. F. Karlinger. Wien 1980, 76⫺87; Bennett, B.: Women’s Personal Experience Stories of Encounters with the Supernatural. Truth as an Aspect of Storytelling. In: Kvideland, R./Selberg, T. (edd.): Papers. The 8th Congress for the Internat. Soc. for Folk Narrative Research 1. Bergen 1984, 55⫺64; Oring, E.: Legendry and the Rhetoric of Truth. In: JAFL 121 (2008) 127⫺166. ⫺ 32 HubrichMessow, G.: Fiktive Beteuerungen der Glaubwürdigkeit in schleswig-holstein. Volksmärchen. In: Marzolph (wie not. 19) 87⫺105; Roth, K.: „Sie mögen überrascht sein, diesen Brief von mir zu erhalten.“ Phantastische E-Mail-Geschichten mit krimineller Absicht. In: Leben ⫺ Erzählen. Festschr. A. Lehmann. B./Hbg 2005, 391⫺407. ⫺ 33 Moser-Rath, Predigtmärlein, 45 sq.; Schenda (wie not. 19) 16 sq.; Oring (wie not. 31) 131 sq., 142 sq.; Hubrich-Messow (wie not. 32) 97⫺99. ⫺ 34 Baxendale (wie not. 9) num. 3998; Collijn, I. (ed.): Processus seu negocium canonizacionis B. Katerine de Vadstenis. Uppsala 1942⫺46, 180⫺188; Schenda (wie not. 19) 17.
Dorpat
Jürgen Beyer
Wahrheit und Lüge J Wanderer: Die beiden W.
Wahrheiten: Drei W. sagen J Lehren: Die drei L. des Vogels
Wahrheitsprobe meint allg. ein Verfahren, das die J Wahrheit eines behaupteten oder vermuteten Sachverhalts erweisen soll. Entscheidend dabei ist, daß dieser Sachverhalt strittig und seine Wahrheit bzw. Richtigkeit nicht objektiv feststellbar ist. W.n werden bewußt herbeigeführt, und ihr Ausgang ist für die Beteiligten oft von rechtlicher oder gar existentieller Bedeutung. Volkserzählungen und Lit. kennen zahlreiche Arten der W. Nicht alle der unter Mot. H 200⫺H 299: Tests of truth aufgeführten Motive sind W.n, da das Kriterium der Intentio-
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Wahrheitsprobe
nalität bei vielen der dort genannten Beispiele nicht zutrifft. Die W.n reichen über den eigentlichen Gegenstandsbereich ⫺ die Feststellung von Wahrheit oder J Lüge bzw. von J Schuld oder J Unschuld ⫺ hinaus, indem sie auf die Entlarvung eines Betrügers oder anderen Übeltäters, die Durchsetzung eines Rechtsanspruchs, die Feststellung der Identität einer Person oder die Bestätigung der von ihr erwarteten oder behaupteten Tugenden (z. B. Keuschheit, eheliche Treue, Ehrlichkeit etc.) zielen. In Erzählungen deckt sich die W. weitgehend mit dem gerichtlichen Beweis1. Bedeutendstes gerichtliches Beweismittel war seit der frühesten Zeit der assertorische J Eid oder Wahrheitseid (im Gegensatz zum promissorischen, auf Zukünftiges bezogenen Versprechenseid, cf. J Gelübde), speziell als sog. Reinigungseid, mit dem der Angeklagte primär durch die Erfüllung der strengen Formvorschriften die gegen ihn vorgebrachte Beschuldigung entkräften konnte2. Während im Märchen eindeutig der Versprechenseid vorherrscht und der Wahrheitseid, wenn überhaupt, dann als bloße, oft redensartliche „Wahrheitsbeteuerung ohne magischen Sinn“3 vorkommt, nimmt die Eidesleistung als W. in der Sage und im Exemplum breiten Raum ein. Dort tritt die W. allerdings ⫺ da narrativ ergiebiger ⫺ entweder als Darstellung des Meineids und der daraus folgenden, drastischen Sanktionen4 auf oder ist, wie auch in der rechtlichen Praxis, mit einem J Gottesurteil verbunden. Wird schon beim Eid als bedingter Selbstverfluchung auf ein Eingreifen Gottes im Fall eines Meineides gezählt, scheint das ma. Gottesurteil (Ordal) noch einen Schritt weiter zu gehen. Hier wird das Gelingen oder Scheitern der dem Beklagten auferlegten Probe als göttliches Urteil über die Wahrheit/Unwahrheit der mit dem Eid verknüpften Aussage gewertet. Bei den sog. berufenen Gottesurteilen, z. B. der Feuer-, Wasser-, Erd-, Gift- und Speiseprobe (cf. Mot. H 220⫺236), aber auch beim J Zweikampf (Mot. H 218) als üblicher Konsequenz der Anzweiflung eines Eides, steht der intentionale Charakter im Sinne einer W. außer Frage; das unberufene Gottesurteil äußert sich dagegen in Form eines unerwarteten Wunderzeichens, mit dem die Schuld,
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meist aber die Unschuld des Beklagten erwiesen wird: Zu diesen Zeichen gehören z. B. das Mißlingen einer Hinrichtung (cf. Mot. H 215), ungewöhnliche Naturerscheinungen wie das Grünen eines dürren Baumes oder Stabes (cf. AaTh/ATU 756: Der grünende J Zweig) sowie das Bluten der Wunde des unschuldig Gerichteten oder des Ermordeten in Gegenwart des Mörders (Bahrprobe). Die Bahrprobe wird im späten MA. zu einem berufenen Gottesurteil, d. h. zu einem bewußt eingesetzten Beweismittel im Prozeß5. Die unberufenen Gottesurteile können also nur bedingt als Beispiele für die W. angesehen werden, eher sind sie dem Themenbereich der wunderbaren Wahrheitsenthüllung zuzuordnen (cf. AaTh/ATU 780⫺799: The Truth Comes To Light; AaTh/ATU 960: J Sonne bringt es an den Tag; AaTh/ATU 960 A: J Kraniche des Ibykus). Die Darstellung von Eid (dessen Verletzung) und Ordal erfolgt in der Volkserzählung nicht ausschließlich in warnender Absicht (manchmal vielleicht verbunden mit einer gewissen ,voyeuristischen Lust‘). Sie kann durchaus auch märchen- oder schwankhafte Züge tragen und zu einem positiven Ausgang führen (J Eideslist). Eher der Sage, dem Schwank oder der literar. Bearb. zuzuordnen sind die Erzähltypen, in denen durch J Täuschung, Mehrdeutigkeit eines Begriffs oder J Wörtlichnehmen der Eid als W. unterlaufen und somit das anschließende Ordal bestanden wird: Die bekanntesten Beispiele hierfür sind AaTh/ATU 1518: J Isoldes Gottesurteil, AaTh/ATU 1590: J Eid auf eigenem Grund und Boden und AaTh/ATU 961 B: J Geld im Stock sowie AaTh/ATU 44: J Eid aufs Eisen. Eine Ähnlichkeit mit dem Gottesurteil zeigt auch die J Apfelprobe (AaTh 1066/ATU 1343: J Hängen spielen; AaTh 2401/ATU 1343*: J Kinder spielen Schweineschlachten). Eher schwankhafte W.n ohne rechtliche Konsequenzen stellen die Erzählung von der J Lügenbrücke sowie ATU 1468: Money in the Bible dar: Hier legt der König einem Mann, der vorgibt, regelmäßig in der Bibel zu lesen, ein Geldstück in das Buch. Als er das nächste Mal kommt, liegt die Münze noch immer dort. Ein weiteres wichtiges Mittel zur Feststellung der Wahrheit sind Dinge, Handlungen und Vorgänge, die das Feststellen der Identität
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Wahrsagen
einer Person oder die Klärung eines Sachverhalts ermöglichen (J Erkennungszeichen, Kap. 4 und 6); sie entsprechen somit im wesentlichen dem gerichtlichen Beweismittel des Augenscheins6. Bes. prägnant tritt dieses Element bei denjenigen W.n auf, bei denen die Identität strittig ist und erst durch eine Prüfung erwiesen wird, wie z. B. bei der Schuhprobe (Mot. H 36.1) in AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella, oder wenn nur die rechtmäßige Eigentümerin eine Frucht vom Baum pflücken kann (Mot. H 31.12; cf. AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein). Die Legitimität eines Herrschaftsanspruchs zeigt sich z. B., wenn der Protagonist als einziger das J Schwert aus dem Stein ziehen (Mot. D 1654.4.1) oder auf dem ,gefährlichen Sitz‘ Platz nehmen kann (Mot. H 41.9; cf. J Artustradition). Eine Verbindung von Identitätsprobe und gleichzeitiger Entlarvung eines Betrügers durch Vorzeigen eines Beweisstücks findet sich z. B. in AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter oder in AaTh/ATU 505: cf. J Dankbarer Toter7. Zu den Identitätsproben mittels eines Erkennungszeichens im weitesten Sinn sind auch die J Deszendenzproben (cf. Mot. H 480⫺H 486.2) zu zählen. Eine der häufigsten Spielarten der W. in der Volkserzählung ist die Feststellung der J Keuschheit und ehelichen J Treue (cf. Mot. H 400⫺H 459): Hier finden sich alle Variationen vom gerichtlichen Ordal über Erkennungszeichen, z. B. Kleidungs- oder Schmuckstücke, als Indikatoren (cf. Mot. H 430⫺H 439.2) bis hin zur Verwendung magischer Objekte (cf. Mot. H 411 sqq.), wie der J Bocca della verita` oder des Zauberstabs, der intime Körperöffnungen zum Sprechen bringt, in AaTh/ATU 1391: Les J Bijoux indiscrets. Eine bes. Form der W. in bezug auf Tugenden findet sich in einigen Erzähltypen der Gruppe AaTh/ATU 880⫺899: Proofs of Fidelity and Innocence (cf. auch AaTh/ATU 712: J Crescentia). So schließt in AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline der Ehemann eine Wette auf die Keuschheit seiner Frau ab. Diese wird aber Opfer einer Intrige und daraufhin von ihrem Mann verstoßen; erst später gelingt es ihr aus eigener Kraft, ihre Unschuld zu beweisen. Einen ähnlichen Handlungsablauf, hier aber auf die Ehr-
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lichkeit und Loyalität eines Dieners bezogen, zeigt AaTh/ATU 889: Der treue J Diener. Zur gattungsspezifischen Gestaltung der W. in der Volkserzählung gehört, daß in Märchen, Sage und Exempel die Wahrheit und die Effizienz der damit verbundenen Proben absolut gelten und außer Zweifel stehen. In Schwankerzählungen und in literar. Belegen seit dem 13. Jh., z. B. im J Tristan Gottfrieds von Straßburg, wo anläßlich von Isoldes Gottesurteil Christus als wankelmütig bezeichnet wird8, scheint sich dagegen eine Skepsis gegenüber dem auf bloße Erfüllung formaler Vorschriften gegründeten Wahrheitsbeweis zu äußern. Diese Skepsis spiegelt möglicherweise die Entwicklung wider, die u. a. 1215 zum kirchlichen Verbot des Gottesurteils und später zur Durchsetzung eines modernen Beweisrechts führte. 1
cf. Kornblum, U.: Beweis. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 1. B. 22008, 401⫺408, hier 401. ⫺ 2 cf. id.: Eid. Gerichtlicher Eid. ibid., 863⫺866, hier 863. ⫺ 3 Heckscher, K.: Eid. In: HDM 1 (1930⫺33) 460⫺ 473, hier 472. ⫺ 4 Zu den Belegen cf. EM 3, 1129⫺ 1138; Fehr, H.: Eid. In: HDA 2 (1929⫺30) 659⫺672; id.: Meineid. In: HDA 6 (1934⫺35) 111⫺123. ⫺ 5 Müller-Bergström, W.: Gottesurteil (Ordal). In: HDA 3 (1930⫺31) 994⫺1064, bes. 1046⫺1054, cf. 1059⫺1064 (Belege für Unschuldszeichen); id.: Unschuld. In: HDA 8 (1936⫺37) 1443⫺1451, bes. 1447⫺1450; EM 6, 24⫺31, hier 28 sq.; cf. allg. Neumann, S.: Der gerichtliche Zweikampf. Gottesurteil, Wettstreit, Ehrensache. Ostfildern 2010; Dinzelbacher, P.: Das fremde Mittelalter: Gottesurteil und Tierprozess. Essen 2006; Bartlett, R.: Trial by Fire and Water: the Medieval Judicial Ordeal. Ox. 1986. ⫺ 6 cf. Kornblum, U.: Blickender Schein. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte (wie not. 1) 452⫺ 454. ⫺ 7 cf. Goebel, F. M.: Betrüger überführt. In: HDM 1, 240⫺248; EM 4, 180⫺194, hier 187 sq. ⫺ 8 cf. Gottfried von Straßburg: Tristan 2. ed. F. Ranke/R. Krohn. Stg. 31985, V. 15735 sq.
Graz
Bernd Steinbauer
Wahrsagen. Der gesamte Komplex der Zukunftsschau in Gestalt von J Orakeln, Mantik, Prognostik, J Prodigien, Weissagungen und Prophetie (J Divination, J Prophezeiung) ist für den modernen Menschen weitgehend von hist. Interesse1. Man sollte meinen, daß die mit der Aufklärung einhergehende J Rationalisierung den im Volksglauben veran-
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Wahrsagen
kerten Vorstellungen von den verschiedenen Möglichkeiten zur Vorhersage künftiger Lebensschicksale oder Ereignisse, wie sie als Restbestand in mehreren Art.n im HDA behandelt wurden2, mittlerweile den Boden entzogen hat. Allerdings müssen für unterschiedliche soziale oder kulturelle Kontexte jeweils eigene Maßstäbe angesetzt werden. So hat z. B. W. Heissig bei seinen Forschungen zur rezenten mongol. Heldendichtung festgestellt, daß darin das W. mit magischen Mitteln durchaus noch als ausgeübte Praxis beschrieben wird3. In weiten Teilen des Balkans und der islam. Welt ist nach wie vor W. durch J Traumdeutung verbreitet. Wenngleich Praktiken wie der Blick in eine Glaskugel, das Orakeln aus dem Kaffeesatz, das Bleigießen, Pendeln, Siebdrehen oder Handlesen heute außerhalb esoterischer Kreise weithin als Spielerei gelten, zeigt auch in der ,aufgeklärten‘ westl. Welt etwa die Allgegenwart von Horoskopen, daß der Mensch ein tiefgreifendes Bedürfnis hat, seine Verunsicherung durch (scheinbar) verläßliche Vorhersagen der Zukunft in den Griff zu bekommen. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf Belege zur Gestalt des Wahrsagers im 18.⫺20. Jh., wobei W. ganz allg. als eine Praktik zur Vorhersage zukünftiger Ereignisse verstanden wird. In Europa gilt für die (oft weibliche) Figur des Wahrsagers ähnliches wie für den J Astrologen: Die Vorhersagen werden nicht (mehr) ernst genommen oder wirken kurios und konstruiert; seit der frühen Neuzeit werden Wahrsager allg. als Betrüger aufgefaßt. Schon J. J Praetorius bezeichnete J Hexen und W. als ,Ungeziefer‘4. In G. P. Hönns Betrugs-Lex. von 1724 heißt es: „Kluge oder weise Männer oder Weiber/ welche über verborgene Dinge oder gestohlne Sachen befraget werden/ und in die Crystalle oder Spiegel sehen lassen/ betriegen“5. J. J. Bräuner schreibt 1737: „Heutiges Tages findet sich allerhand liederliches Lumpen-Gesindel/ Landstreicher/ Quacksalber verdorben Handwercks-Volck, alte Weiber, abgedanckte gebrechliche Soldaten, die sich auf solche Zeichendeuterey und Wahrsagen legen, und Einfältige zu betrügen suchen.“6 Hoffmann von Fallersleben (1798⫺ 1874) hat seine eigene Skepsis in folgendem Zweizeiler gefaßt: „Wahrsagen steht doch jedem frei,/ Doch mit der Wahrheit ist’s vor-
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bei.“7 Und Adalbert Stifter (1805⫺68) spricht davon, daß ,Wahrsager, Zeichendeuter und Zauberer‘ im Lande Böhmen verschwinden und den Pfarrern als Verkündern des christl. Glaubens Platz machen sollten8. In Wien ist noch 1926 eine kriminologische Abhdlg zur Eindämmung des W.s erschienen9. E. L. W. Nebels Medicinisches Vademecum (1797) verzeichnet ein Beispiel für betrügerisches W. anhand der List eines Harnpropheten, dessen Sprechzimmer genau über einer Wirtsstube lag, von wo aus er durch eine Öffnung im Fußboden die Gespräche seiner Kunden belauschen konnte (cf. J Urin, Urinprobe)10. Nach einer Wiener Lokalsage wurde einem jungen Musiker von einer alten Hexe vorausgesagt, er werde sterben, wenn die Uhr an der Stephanskirche dreizehn schlage. Als er einmal den Stephansturm bestieg und die Turmuhr zur Mittagstunde zwölf schlug, lehnte er sich zu weit vor, stürzte ab und brachte im Sturz die Glocke zum 13. Mal zum Klingen (cf. AaTh 934 A1/ATU 934: cf. J Todesprophezeiungen)11. In der ital. Fazetiensammlung des J Poggio wird erzählt, wie einem Mann, der das W. erlernen will, Pillen aus Kot verabreicht werden (Mot. K 114.3.1). Der Spaßmacher Spiegelschwab in L. J Aurbachers Volksbüchlein benutzt bei seiner Art des W.s einen einfachen Kunstgriff: Er prophezeit nie Gutes. „Wenn nun das Böse eintraf, so war’s richtig.“12 Zentral ist die Figur des angeblichen Wahrsagers für AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend. Im weitverbreiteten Schwank AaTh/ATU 1535: J Unibos macht der Arme einem gehörnten Ehemann weis, der in einer Tierhaut verborgene Vogel sei ein Wahrsager, und gewinnt bei deren Verkauf viel Geld. In dt. Sagen wird gelegentlich Erdmännchen13 oder Zwergen14 die Fähigkeit des W.s zugeschrieben, aber in der Hauptsache erscheinen Hexen15 und J Zigeuner16 als Wahrsager. Bes. in Krisenzeiten, etwa nach dem 2. Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, hat auch das W. temporär wieder an Bedeutung gewonnen. In der seit der Mitte des 19. Jh.s belegten Erzählung von der doppelten Prophezeiung erweist sich die weltgeschichtlich bedeutsame Voraussage als nichtig, wohingegen die auf das menschliche Einzelschicksal bezogene Prophe-
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Wahrzeichen ⫺ Waise
zeiung eintritt: Ein Mitreisender in einem Auto (eine Zigeunerin am Weg) sagt den baldigen Tod von Adolf Hitler voraus und daß sich eine Leiche im Wagen befinden werde, bevor er sein Ziel erreicht17. In Nachkriegsvarianten dieser Erzählung werden anstelle von Hitlers Tod die baldige dt. Wiedervereinigung bzw. der Zusammenbruch der Sowjetunion Jahrzehnte vor ihrem Eintreffen vorausgesagt18. Eine moderne Sage wandelt das Modell der doppelten Vorhersage folgendermaßen ab: Eine Frau wird von einem doppelten Unglück ereilt. Zunächst wird ihr Familienschmuck geraubt, und später verschwindet auf unerklärliche Weise ihr Ehemann. Nachdem alle polizeilichen Nachforschungen nach dem Mann ergebnislos geblieben sind, vertraut sich die Frau einer Wahrsagerin an, die in Trance die genaue Lage eines unbewohnten Appartements beschreibt. Dort findet sich der gestohlene Familienschmuck19. Wie der Buchmarkt erkennen läßt, gibt es heute wieder zunehmend eine Käuferschicht für Wahrsageliteratur20. Ein z. T. spielerischer Umgang mit der Wahrsagekunst anhand von Tarotkarten war eine Zeitlang eine Modeerscheinung der Jugendkultur21. Durch den von B. Parker und J. Hart 1964 kreierten amerik. Comic Strip The Wizard of Id ist eine Wahrsagerin mit ihrer Kugel und nutzlosen Prophezeiungen zu einer Art Kultfigur geworden. 1
Daxelmüller, C.: Wahrsager, W. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1921⫺1924. ⫺ 2 cf. bes. Peukkert [, W.-E.]: Weissager. In: HDA 9 (1938⫺41) 358⫺387; cf. auch die HDA-Art. Angang, Künden, Orakel, Spökenkieker, Todesvorzeichen, Vorahnung, Vorbedeutung, Vorgeschichte, Vorzeichen, Weissagungen. ⫺ 3 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 2. Wiesbaden 1988, Reg. s. v. W. ⫺ 4 Praetorius, J.: Blockes-Berges Verrichtung. Lpz./Ffm. 1669, 154. ⫺ 5 Hönn, G. P.: Betrugs-Lex. Coburg 31724, 224. ⫺ 6 Bräuner, J. J.: Physicalischund Hist.-Erörterte Curiositäten. Ffm. 1737, 470. ⫺ 7 Hoffmann von Fallersleben, A. H.: Dt. Lieder aus der Schweiz. (Zürich 1843). Hildesheim/N. Y. 1975, 212. ⫺ 8 Stifter, A.: Witiko. In: id.: G. W. 5. Wiesbaden 1959, 389. ⫺ 9 Streicher, H.: Das W. Wien 1926. ⫺ 10 Nebel, E. L. W.: Vademecum für lustige Aerzte und lustige Kranken 3. B./Lpz. 1797, 82. ⫺ 11 Gugitz, G.: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien. Wien 1952, num. 64. ⫺ 12 Aurbacher, L.: Ein Volksbüchlein 2. ed. J. Sarreiter. Lpz. [1879], 159. ⫺ 13 Bechstein, L.: Das Sagenbuch. Lpz. 1853, num. 12. ⫺ 14 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 1⫺3.
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Augsburg 1857/58/59, hier t. 2, 304, num. 2. ⫺ 15 Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes. Nachdr. Esch/Alzette 1963, num. 125. ⫺ 16 Baader, B.: Neugesammelte Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gebieten. Karlsruhe 1859, num. 18; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 16; Schönwerth (wie not. 14) t. 3, num. 22, 160 sq.; cf. Köhler-Zülch, I.: Die Figur des ,Zigeuners‘ in dt.sprachigen Sagenslgen. In: ,Zigeunerbilder‘ in der dt.sprachigen Lit. ed. W. Solms/D. Strauß. Heidelberg 1995, 11⫺ 46, hier 19, 25 sq. ⫺ 17 Klintberg, B. af: Die doppelte Prophezeiung. In: Dona Folkloristica. Festschr. L. Röhrich. Ffm. u. a. 1990, 113⫺125. ⫺ 18 Weber-Kellermann, I.: Berliner Sagenbildung 1952. In: ZfVk. 52 (1955) 162⫺170. ⫺ 19 Brednich, R. W.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, num. 25. ⫺ 20 Gessmann, G. W.: Hb. der Wahrsagekünste. Lpz. 2006; Hofmann, G.: W. Wegweiser für Schicksal und Zukunft. Kreuzlingen/Mü. 2007. ⫺ 21 Nigg, E. J.: W. mit Tarot-Karten. Niedernhausen 1989; Piegeler, H.: Tarot. Bilderwelten der Esoterik. Paderborn 2010.
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Wahrzeichen J Denkmalerzählungen, J Erkennungszeichen Waise. Im Vergleich zu J Findelkindern (J Aussetzung) oder im Elternhaus verbleibenden Halbwaisen (J Stiefmutter, Stiefkinder) wurde elternlosen J Kindern in der Vergangenheit vielfach eine größere soziale Fürsorge zuteil. Dies gilt bereits für die antiken Kulturen in Ägypten1, Griechenland und Italien2. Im A. T. wird Jahwe als der ,Vater der W.n‘ bezeichnet (Ps. 68,8). In der dt. Rechtsgeschichte standen seit J Karl d. Gr. die W.n unter einem bes. Schutz. In das Bannrecht wurden damals acht neue, das Volksrecht ergänzende obrigkeitliche Verordnungen aufgenommen, die u. a. Frevel gegen J Witwen und W.n unter Strafe stellten3. Im MA. übertrug die christl. Kirche die Aufgabe der W.npflege an die Klöster. Während für den ital. Raum W.nhäuser bereits in der Renaissance nachzuweisen sind4, wurden im dt. Gebiet erst seit dem ausgehenden 17. Jh. spezielle W.nhäuser von der Kirche eingerichtet5. Bes. einflußreich wurde das 1695 in Glaucha bei Halle (Saale) von August Hermann Francke gegründete W.nhaus, das sich unter dem Einfluß des J Pietismus in den Franckeschen Anstalten6 zu
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einem Reformprojekt entwickelte und von anderen dt. Städten übernommen wurde. T. J. Barnado (1845⫺1905) leistete in England Pionierarbeit in der Fürsorge für verwaiste und obdachlose Kinder7. Nach Auffassung der röm.-kathol. Kirche gehörte die Unterdrükkung von W.n zu den sog. himmelschreienden Sünden8. Fürsprecherin der Witwen und W.n ist die hl. J Anna; in einem geistlichen Lied versorgt sie die W.n mit einem niemals abnehmenden J Brot (J Speisewunder)9. Bei alledem ist jedoch nicht zu übersehen, daß W.n allg. recht- und schutzlos waren und zur untersten sozialen Kategorie gehörten. Ihr Dasein war jahrhundertelang durch unwürdige Behandlung, Ausbeutung und willkürliche Zurücksetzung gekennzeichnet. Dies gilt auch für die Erziehung in den W.nhäusern, wie Charles Dickens in seinem sozialkritischen Roman Oliver Twist (1837⫺39) eindrücklich darstellte10. Zwischen beiden Polen, der Fürsorge und der Herabwürdigung der W.n schwankt das Bild der elternlosen Kinder auch in der Volksüberlieferung. Ein typisches Kennzeichen vieler Märchenhelden ist, daß sie ohne Eltern aufwachsen. Ein siebenbürg.-sächs. Sprichwort besagt „Stiefkind, armes Kind, Waisenkind, Herrgottskind“11, und aus dem gleichen Umfeld stammt die Auffassung „Wer ein Waisenkind aufnimmt, erwirbt sich einen Stuhl im Himmel“12. Die schlechte Behandlung von W.n ist ein in der europ. Balladenüberlieferung verbreitetes Thema13. In der Ballade W. und Stiefmutter kann die verstorbene J Mutter im Grab keine Ruhe finden, weil ihr verwaistes Kind von der Stiefmutter malträtiert wird14. Im Märchen besteht der für das Schicksal von W.n typische Handlungsverlauf darin, daß die Kinder unter schlechter Behandlung zu leiden haben. Da sie sich aber u. a. durch Gottesfurcht und Mildtätigkeit auszeichnen, kommen sie am Ende zu Glück und Reichtum. Diese Struktur findet sich z. B. in AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein und ATU 779 H*: J Sterntaler. In anderen Märchen liegt der Schwerpunkt auf der Bestrafung der Peiniger, so in AaTh/ATU 897: The Orphan Girl and Her Cruel Sister-inLaw oder in dem österr. Märchen von einem habsüchtigen und grausamen Ziehvater, der ein W.nkind wegen seiner Mildtätigkeit miß-
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handelt und dafür zur Strafe in eine Schnecke verwandelt wird15. In einem estn. Märchen wird ein W.nmädchen von seiner Pflegemutter zum täglichen Getreidemahlen mit der Handmühle gezwungen und erhält von einem Weisen aus Finnland eine von selbst mahlende Mühle (cf. AaTh/ATU 565: J Wundermühle). Als die Pflegemutter das Geheimnis der Mühle zu ergründen sucht und sie öffnet, wird sie von einer herausschlagenden Flamme zu Asche verbrannt16. In ATU 476: Coal Turns into Gold (3) kommt eine W. zu unverhofftem Reichtum. In einem siebenbürg.-sächs. Märchen hat ein armer W.nknabe von seiner Mutter ein winziges Hirsekorn geerbt. Er zieht in die Welt und vergrößert seinen Besitz durch Tausch des Hirsekorns gegen Besitztümer von steigendem Wert (cf. AaTh/ATU 1655: Der vorteilhafte J Tausch), verrichtet Heldentaten und erringt am Ende die Hand der Königstochter17. Viele afrik. Volkserzählungen zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen allg. die W.n in hohem Ansehen stehen, von schlimmer Behandlung verschont bleiben, über bes. Gaben verfügen und damit ihr Glück machen. Die Heldenfigur afrik. Märchen ist daher oft eine W. (Mot. L 111.4)18. In verschiedenen Märchen der Karanga spielt die Hauptrolle z. B. ein W.njunge, der durch Zaubergesang Regen herbeirufen19 oder Fallen stellen kann, in denen er für sich und seine Brüder Mädchen fängt20. Dem Lob der W.nkinder, die klug sind, im Gegensatz zu den Kindern, die ihre Eltern noch haben, dient in den südafrik. Khoisan-Erzählungen eine Tiererzählung von der dummen Wespe und der schlauen Biene21. In nordasiat. Überlieferungen tragen die W.n oft schamanistische Züge22. Bei den Laoten ist die Heldenfigur des W.nknaben beliebt, der sich aus einfachen Verhältnissen durch Kraft und Ausdauer seinen Weg nach oben erkämpft23. In Deutschland haben sich im 19. Jh. auch die J moralischen Geschichten dem W.nthema gewidmet. Sie nehmen einen den Märchen verwandten Verlauf, indem sie die Tugenden elternloser Kinder durch sozialen Aufstieg belohnen. So wird z. B. ein W.nknabe aus seinem Elend befreit, indem er eine gefundene Brieftasche bei der Polizei abliefert und dadurch eine Lehrstelle bekommt. Später erlangt er als Buchhalter Reichtum24. Zwei der von L. J Aurbacher 1834 veröffentlichten morali-
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schen Geschichten haben die Brüder J Grimm in die Kinder- und Hausmärchen aufgenommen: KHM 185, AaTh/ATU 1313: cf. J Mann glaubt sich tot und KHM 188, AaTh/ATU 585: Spindle, Shuttle, and Needle; in beiden Fällen wird anhand von Beispielen die Fürsorgepflicht der Pflegeeltern gegenüber W.n angemahnt25. Die Gattungen Schwank und Witz sind für das W.nthema eher unergiebig. Ein rumän. Schwank handelt von einem W.njungen, der bei seinem geizigen Onkel groß wird und eines Tages einen Windhund zu Gesicht bekommt. Er meint, der Hund wohne wohl ebenfalls bei seinem Onkel, weil er so mager ist26. Im jüd. Witz findet sich folgende Definition: Chuzpe ist, wenn einer Vater und Mutter erschlägt und im Mordprozeß mildernde Umstände erbittet, weil er W. geworden sei27. Die Bevorzugung von Wunschdenken gegenüber der Wirklichkeit findet sich auch in den populären Lesestoffen des 19. Jh.s. R. J Schenda hat darauf hingewiesen, daß in ihnen stets „der Hoffnungsbalsam dick aufgetragen wird“28, und die Titel der von ihm bibliographierten Drucke dt. und frz. Provenienz stellen dies unter Beweis29, z. B. Jane Eyre, die W. von Lowood, oder Gott führt die Seinen wunderbar30. Das Schicksal von W.n ist ein wichtiges Thema in der engl. Lit. des 19. Jh.s, z. B. in den Werken von Dickens, Emily Bronte¨ und George Eliot31. Die Abenteuer des W.njungen Huckleberry Finn (1884/85), verfaßt vom amerik. Autor Mark Twain, sind bis heute populär. Die Heldin des Heidi-Erfolgsromans (1880/81) von Johanna Spyri ist ein W.nkind, ebenso wie Harry Potter in der Romanserie (1997⫺2007) von Joanne K. Rowling. 1
Feucht, E.: W. In: Lex. der Ägyptologie 6. ed. W. Helck/W. Westendorf. Wiesbaden 1986, 1142 sq. ⫺ Krause, J.-U.: W.n und Witwen im Röm. Reich. Stg. 1994. ⫺ 3 Schröder, R.: Lehrbuch der dt. Rechtsgeschichte. Lpz. 31898, 116, not. 60. ⫺ 4 Terpsta, N.: Abandoned Children of the Italian Renaissance. Orphan Care in Florence and Bologna. Baltimore 2005; Storey, R. L.: W.nhaus. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1934⫺1936. ⫺ 5 Herms, E.: W.nhaus. In: TRE 35 (2003) 379⫺388. ⫺ 6 Jacobi, J./Müller-Bahlke, T. J. (edd.): „Man hatte von ihm gute Hoffnung“. Das W.nhausalbum der Franckeschen Stiftungen 1695⫺1748. Halle/Tübingen 1998. ⫺ 7 Williams, A. E.: Barnardo of Stepney, 2
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the Father of Nobody’s Children. L. 1943. ⫺ 8 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 382. ⫺ 9 ibid., 144⫺146. ⫺ 10 cf. auch Werner, W.: Vom W.nhaus zum Zuchthaus. Ein Sozialbericht. Ffm. 1972. ⫺ 11 Haltrich, J.: Die Stiefmütter, Stief- und W.nkinder in der Siebenbürg.-sächs. Volkspoesie. In: id.: Zur Vk. der Siebenbürger Sachsen. Wien 1885, 219⫺245, hier 243. ⫺ 12 ibid., 244. ⫺ 13 Grundtvig, S. H.: Danmarks gamle folkeviser 2. (Kop. 1854⫺56) Nachdr. Kop. 1966, 470⫺491, num. 89. ⫺ 14 DVldr 5,2, num. 116 (mit internat. Parallelen); cf. ibid., num. 117⫺ 120; Brednich, R. W./Kumer, Z./Suppan, W.: Gottscheer Volkslieder 1. Mainz 1969, num. 107⫺111. ⫺ 15 Dh. 3, 471 sq., num. 12. ⫺ 16 Kreutzwald, F. R.: Estn. Märchen. ed. A. Kaidja. Tallinn 1981, 54⫺ 58. ⫺ 17 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. B. 1856, num. 8. ⫺ 18 Inegbeboh, B.: The Structure of the Theme „The Orphan and the Prince“. In: Fabula 50 (2009) 78⫺ 91. ⫺ 19 Sicard, H. von: hgano dze Cikarahga. Karangamärchen. Lund 1965, num. 72, 73, 75, 76. ⫺ 20 ibid., num. 141. ⫺ 21 Schmidt 2, num. 604. ⫺ 22 EM 11, 1211. ⫺ 23 EM 8, 774. ⫺ 24 Alzheimer-Haller, H.: Hb. zur narrativen Volksaufklärung. B./N. Y. 2004, 417. ⫺ 25 Uther, H.J.: Hb. zu den ,Kinder- und Hausmärchen‘ der Brüder Grimm. B. 2008, 380⫺382, 387. ⫺ 26 Stroescu, num. 5026. ⫺ 27 Landmann, S.: Der jüd. Witz. Olten/Fbg 131988, 629, num. 5. ⫺ 28 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Ffm. 1988, 405. ⫺ 29 ibid., 194⫺200; id.: Tausend dt. populäre Drucke aus dem 19. Jh. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 11 (1970/71) 1465⫺1652, num. 212, 435, 441, 688, 961. ⫺ 30 ibid., num. 509. ⫺ 31 Peters, L.: Orphan Texts. Victorian Orphans, Culture and Empire. Manchester/N. Y. 2000.
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Wal. Die W.e gehören zur Ordnung Cetacea oder Meeressäuger, die in zwei Gruppen eingeteilt werden: Zahnwale (z. B. Pottwale, J Delphine) und Bartenwale (z. B. Blauwale). W.fang1 wird heute aufgrund der stark bedrohten Bestände nur noch von Grönland, Norwegen und Japan ausgeübt. Der hist. W.fang fand in den Erzählungen ehemaliger W.fänger weltweit seinen Niederschlag2. Die auf den W.fangschiffen beheimateten Liedüberlieferungen dokumentierte G. Huntington3. Der Abenteuerroman Moby-Dick; or The Whale (L. 1851) von Herman Melville hat dem W. große Bekanntheit verschafft4. Er schildert in epischer Breite, wie der einbeinige Kapitän Ahab sich für den Verlust seines Beins an dem
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,Seeungeheuer‘ rächen will und dabei untergeht. In Volkserzählungen wird der W. meist als großer J Fisch gesehen. Im allg. wird nicht zwischen den verschiedenen W.arten unterschieden; im Mittelpunkt stehen mit Blauoder Pottwalen zumeist die großen W.e. R. J Schenda hat die hist. Überlieferungen aus europ. Sicht zusammenfassend und ausführlich behandelt5. Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche W.erzählungen aus dem pazif. Raum6. Erzählungen über W.e können den folgenden sieben Kategorien zugeordnet werden: (1) Der W. als der große Fisch (AaTh/ATU 1960 B: The Great Fish). Im MA. kursierte seit J Albertus Magnus die Erzählung von der unerhörten Größe der W.e, in deren Augenhöhle 15 bis 20 Männer Platz finden könnten. Sie ist Jh.e danach u. a. noch von J Abraham a Sancta Clara und J. D. J Ernst überliefert7. Später wurden daraus Lügengeschichten geformt; so erzählte der Spaßmacher J. A. Stranitzky um 1700 in Wien, er sei zwei Stunden lang im Nasenloch eines W.s spazieren gegangen8. Aus Borkum wurde 1849 von einem gestrandeten W. von gewaltiger Größe berichtet. Ein Fuhrmann habe seinen mit einem Fuder Heu beladenen Wagen in das Maul des Riesen hinein- und hinten wieder herausgefahren. Das Heu sei bei der Durchfahrt so stark mit Tran getränkt worden, daß es den Borkumern ein Jahr lang zum Feueranzünden reichte9. Im Englischen wird eine bes. stark übertriebene Lügengeschichte (tall tale) als ,a whale of a tale‘ bezeichnet. (2) Der W. verschlingt Menschen. Die zeitlich am weitesten zurückreichende Erzähltradition zum Verschlingungsmotiv ist die dem 4./3. Jh. a. Chr. n. angehörende Geschichte des bibl. Propheten J Jonas, der drei Tage und drei Nächte im Bauch eines W.s überlebt hat (AaTh/ATU 1889 G: Man Swallowed by Fish). Ausgehend vom Buch Jona hat das Motiv nahezu alle erzählenden Gattungen erreicht10. Es existiert aber auch unabhängig von der JonasTradition. Auf der isolierten Koralleninsel Niue im Südpazifik wurde eine Erzählung über eine Frau aufgezeichnet, die beim Muschelsammeln von einem W. verschluckt wird und den Leib des Wals mit einer Muschel so
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aushöhlt, daß sie aus der dünn gewordenen Haut des Ungeheuers entkommen kann11. (3) Der für eine J Insel gehaltene W. (Mot. J 1761.1). Dieses Motiv hat antike Wurzeln und findet sich bereits im griech. J Alexanderroman des 3. Jh.s p. Chr. n., in dem noch allg. von einem sich bewegenden Seeungeheuer die Rede ist12. Bei christl. Autoren des 4. Jh.s erweist sich die vermeintliche Insel als Seeschildkröte13. In oriental. Überlieferungen14 erscheint der W.; die ältesten Zeugnisse liegen in den Erzählungen von J Sindbad dem Seefahrer und in der J Agada vor. Seefahrer oder sogar eine ganze Völkerschaft machen dieser Überlieferung zufolge die vermeintliche Insel zu ihrem Wohnsitz, kochen darauf ihre Mahlzeiten oder beginnen den Boden auf dem W.rücken urbar zu machen. Schließlich taucht der W. ab und reißt alle Bewohner mit in die Tiefe15. Im MA. hat diese Erzählung ausgehend von J Brandans Seefahrt große Popularität gewonnen und sich auch in der Sproßlegende von der Messe oder der Osterfeier auf dem W.rücken (Mot. B 256.12) verselbständigt16. Diese läßt sich bis in die Kinderbuchliteratur des ausgehenden 20. Jh.s verfolgen17. (4) Der W. als weisendes Tier (J Wegweisende Gegenstände und Tiere). Für die in Neuseeland ansässigen Maori gilt die sagenumwobene Insel Hawaiki (nicht identisch mit Hawaii) als Urheimat. Ihrer Überlieferung nach habe ein Wassergeist in Gestalt eines W.s die Kanus der Maori in ihre neue Heimat Aotearoa geführt18. (5) Der W. als Reittier (Mot. R 245). Das Motiv ist in Europa selten belegt, z. B. bei J Ariosto, wo Alcina ihren Astolfo auf dem Rükken eines W.s zu der Zauberinsel entführt. Delphine und auch Fische unterschiedlicher Art tauchen in zahlreichen Erzählungen als Reittiere auf, hier steht allerdings ihre Funktion als Retter vor dem Ertrinken im Vordergrund, weniger der Transport19. Bei den neuseeländ. Maori ist der Mythos von W.en, die Menschen getragen haben sollen, verbreitet. Einer alten Überlieferung zufolge soll ein W. einen Häuptlingssohn aus Hawaiki, der fünf seiner Brüder umgebracht hatte, bis nach Neuseeland getragen haben20. Die Überlieferung von einem anderen W.reiter wurde an einem Gebäude in der Bay of Plenty als Holzschnitzerei gefunden und nach der Erzählung eines
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Stammesältesten aufgezeichnet21. Der Roman The Whale Rider (Auckland 1987) des MaoriNeuseeländers Witi Ihimaera basiert auf diesen Überlieferungen und behandelt die Geschichte eines Mädchens, das gegen die Familientradition revoltiert und am Ende einen gestrandeten W. rettet, indem sie auf ihm reitet und ihn ins offene Meer zurückbringt. Durch die 2002 unter der Regie von Niki Caro erfolgte Verfilmung hat das Thema weltweit Aufmerksamkeit gefunden. (6) Der gestrandete W. Während man heute weiß, daß es biologische Ursachen für die häufigen W.strandungen gibt, galt dieses Phänomen in früheren Jh.en als unheilverkündendes Wunder, Ausdruck göttlichen Zorns (J Prodigien) oder als Werk des J Teufels22. Es fand seinen bildhaften Ausdruck in zahlreichen ill. Flugblättern des 16./17. Jh.s23. Nach einer Überlieferung aus Tuamotu in Polynesien stranden die W.e und sterben, weil der erste W. auf diese Weise gestorben ist (Mot. A 2211.4). (7) Ätiologien. In Finnland existierte im Volksglauben die Vorstellung24, daß ein großer Fisch, meistens ein W., mit seinen Bewegungen im Eismeer den geheimnisvollen Glanz des Nordlichts verursache. Nach einer Überlieferung der austral. Aborigines waren W.e ursprünglich Landtiere, die, weil sie die Entenmuscheln gewaltsam von ihrer Haut entfernten, von der Tierversammlung ins tiefe Meer verdammt wurden25. Eine ätiologische Erzählung der neuseeländ. Maori wird gerne den Touristen beim Besuch der Kauri-Fichtenwälder im Norden erzählt: Ein W., der Gigant der See, habe einmal einen Kauribaum, den Giganten des Landes, besucht und ihn eingeladen, ihn ans Meer zu begleiten, was der Baum ablehnte. Darauf habe der W. vorgeschlagen, die Häute zu tauschen, denn der Kauri sei in Gefahr, gefällt und in ein Kanu verwandelt zu werden, um dann doch im Meer zu landen. Der Tausch wurde vorgenommen, und seitdem ist die Rinde der Kauribäume dünn und voller Harz und die Haut des W.s voller Tran26.
Jahre 1671. Hbg 1675; Eschels, J. J.: Das abenteuerliche Leben des Jens Jacob Eschels aus Nieblum auf Föhr als W.fänger. (Altona 1835) Nachdr. Hbg 1966; Bennett, F. D.: Narrative of a Whaling Voyage Round the Globe from the Year 1833 to 1836. (L. 1840) Nachdr. Amst. 1970; cf. Rauprich, N.: Die sanften Riesen der Meere. B. 1987. ⫺ 3 Huntington, G.: Songs the Whalemen Sang. Barre, Mass. 1964. ⫺ 4 Ricks, B./Adams, J. D.: Herman Melville. A Reference Bibliogr. 1900⫺1972. Boston 1973; Heflin, W. L.: Herman Melville’s Whaling Years. Nashville 2004. ⫺ 5 Schenda, R.: W.fisch-Lore und W.fischLit. In: Laographia 22 (1965) 431⫺448. ⫺ 6 Whimp, G.: Cetaceans and Citations. A Survey of the English Literature on the Role of Cetaceans in South Pacific Island Cultures. In: Tuhinga 19 (2008) 169⫺ 184. ⫺ 7 Schenda (wie not. 5) 446. ⫺ 8 MüllerFrauenreuth, C.: Die dt. Lügendichtungen bis auf Münchhausen. Halle 1881, 133 sq. ⫺ 9 Schuster, T.: Die Möwe mit der Pfeife. Seemannsgarn und andere Lügengeschichten von der Nordseeküste. Leer 2009, num. 2. ⫺ 10 Schenda (wie not. 5) 438⫺440. ⫺ 11 Reed, A. W.: Myths and Legends of the Pacific. Auckland 2000, 95⫺98. ⫺ 12 EM 1, 277. ⫺ 13 Walther, W.: Tausend und eine Nacht. Mü. 1987, 134 sq. ⫺ 14 Marzolph/van Leeuwen 2, 605 sq. ⫺ 15 Scheiber, A.: Motivgeschichte des Gedichts von Ady ,An den großen W.fisch‘. In: Fabula 12 (1971) 229⫺238. ⫺ 16 Schenda (wie not. 5) 435⫺438; Runeberg, J.: Le Conte de l’ıˆle-poisson. In: Me´moires de la Soc. ne´o-philologique a` Helsingfors 3 (1902) 343⫺ 395. ⫺ 17 Chudozˇilov, P.: Auf dem W.fisch. Ravensburg 1991, 7⫺13. ⫺ 18 Orbell, M.: The Illustrated Enc. of Ma¯ori Myth and Legend. Christchurch 1995, 233. ⫺ 19 EM 3, 389 sq. ⫺ 20 EM 3, 130. ⫺ 21 Cowan, J.: Fairy Folk Tales of the Maori. Auckland u. a. 1925, 89⫺100. ⫺ 22 Timm, W.: Der gestrandete W., eine motivkundliche Studie. In: Staatliche Museen zu Berlin, Forschungen und Ber.e 3⫺ 4 (1961) 76⫺93. ⫺ 23 Barthelmeß, K./Münzing, J.: Monstrum Horrendum. W.e und W.strandungen in der Druckgraphik des 16. Jh.s und ihr motivkundlicher Einfluß 1⫺3. Hbg 1991. ⫺ 24 Haavio, M.: Volkstümliche Auffassungen vom Nordlicht. In: Sb.e der Finn. Akad. der Wiss.en. (1944) 199⫺226, hier 215. ⫺ 25 Unapoin, D.: Legendary Tales of the Australian Aborigines. ed. S. Muecke/A. Shoemaker. Melbourne 2001, 189⫺209. ⫺ 26 Orbell (wie not. 18) 130.
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Wald, Bezeichnung für eine große zusammenhängende, mit hochstämmigen Bäumen bestandene Fläche. Die Nutzung des W.es durch den Menschen ist vielfältig; zum einen liefert er Holz, Nahrung und teilweise auch Bodenschätze, zum anderen bietet er Schutz
Magnolia, L. R.: Whales, Whaling and Whale Research. A Selected Bibliogr. Cold Spring Harbor, N. Y. 1977. ⫺ 2 Ellis, R.: Mensch und W. Die Geschichte eines ungleichen Kampfes. Mü. 1993; Münzing, J.: Der hist. W.fang in Bildern. Herford 1987; Martens, F.: Friderich Martens vom Hamburg Spitzberg. oder Groenland. Reise Beschreibung getahn im
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und dient in jüngerer Zeit als Ort der Erholung. In den waldreichen Gebieten Mittel-, Nord- und Osteuropas wird der W. mit J Natur allg. assoziiert und in Lit., Musik und Malerei als deren wesentlicher Ausdruck verstanden1. Das Bild vom W. hat sich im Laufe der Zeit verändert. In der ma. Lit. trägt es symbolhafte und allegorische Züge. Der ,wilde W.‘ ⫺ z. B. der W. Broceliande im altfrz. Artusroman (J Artustradition)2 ⫺ ist ein Ort der Furcht und Lebensraum bedrohlicher Wesen, er kann auch (wie im Partonopeu de Blois [nach 1185]) als Grenzbereich zum Feenreich fungieren3. In ihm leben weltflüchtige J Einsiedler sowie ausgestoßene und verfolgte Menschen wie J Tristan und Isolde4. Der Minnesang stellt den lichten, anmutigen gegen den dichten, finsteren W.5 Als ,mythische Landschaft‘ ist er die Gegenwelt zu Zivilisation und Kultur6. In der J Romantik verlor der W. seinen Schrecken und wurde zu einem wichtigen Gegenstand von Dichtung, Musik und bildender Kunst (,W.einsamkeit‘7)8. Das romantische Empfinden förderte die mythol. Verklärung des dt. W.es bis hin zur nationalen und ideologischen Inanspruchnahme9. In der neueren Überlieferung wird der W. zum Handlungsraum für Geschichten unterschiedlicher und aktueller Inhalte10. Die Wahrnehmung des W.es wird seit dem 19. Jh. weithin von den in Slgen zusammengetragenen Märchen, Sagen, Memoraten und modernen Sagen beeinflußt11, z. B. den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm12. In Volkserzählungen wurde der W. zum Sinnbild vaterländisch-dt. Geschichte und Kultur erhoben. Das romantisch begründete Bild vom W. wirkt bis heute nach. Der W. ist in der dt. Erzählüberlieferung vor allem die wilde Umgebung des kultivierten Landes, während er in anderen Kulturen andere Funktionen hat13. In waldlosen Gegenden wird die Funktion des W.es von anderen Landschaften übernommen (Vorderer Orient: Wüste, Steppe, offenes Land). Europ. Volkserzählungen spiegeln die hohe Bedeutung des W.es für die Menschen in vorindustrieller Zeit bis in die Gegenwart14. Der W. ist gegenüber dem landwirtschaftlich genutzten und besiedelten Land eine finstere, einsame und geheimnisvolle, große, tiefe und
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scheinbar unbegrenzte Umgebung, die nicht genauer beschrieben wird15. Er birgt J Gefahren und erzeugt J Angst16. Der Märchenwald ist der Ort außergewöhnlichen Geschehens und unheimlicher Begegnungen. Er ist ein J Jenseitsbereich bzw. eine J Grenze zum Jenseits: So sind etwa in AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe auf dem Weg in die Unterwelt W.er aus J Kupfer, Silber und Gold zu durchqueren17. Der W. bildet ein nur schwer zu überwindendes Hindernis (cf. AaTh/ATU 313 sqq.: J Magische Flucht)18. Der Psychoanalytiker B. Bettelheim deutet den W. als Symbol für die dunkle, fast undurchdringliche Welt des Unbewußten19. Märchenhelden, die in ihm ausgesetzt (J Aussetzung), festgehalten, dorthin vertrieben werden oder sich darin J verirren (AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel; AaTh/ATU 709: J Schneewittchen; AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen; AaTh/ATU 431: J Haus im W.e; AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder; AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände; ATU 779 H*: J Sterntaler), gewährt der W. auch Hilfe und Schutz20. Das J Marienkind (AaTh/ATU 710) wird aus dem Himmel in den W. verbannt und vom König dort entdeckt. In der Aussetzung der Kinder im W. wird die J Initiation als Ritual des Übergangs zu einer neuen Lebensstufe gesehen21. Schreckmärchen verdeutlichen die Gefahr, die von in W.ern hausenden J Räubern, J Riesen, J Zwergen, Dämonen und Tieren ausgeht22. Im tiefen W. lebt die J Hexe (AaTh/ ATU 327 A; AaTh/ATU 405: J Jorinde und Joringel; AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm). Märchenhelden geraten in die Gewalt von wilden Tieren, Dämonen oder Riesen (AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen; AaTh/ATU 327 D: The Kiddelkaddelkar)23 oder werden von wilden Tieren bedroht (AaTh/ATU 179: Was der J Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert; AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans), können diesen aber entkommen oder sie überwältigen. Der abgedankte Soldat in AaTh/ ATU 952: J König und Soldat gelangt in ein Räuberhaus und überwindet die Bewohner, gleiches gelingt den von ihren Besitzern verjagten Tieren in AaTh/ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft; auch die Müllerstochter kann aus dem W.schloß, der Mörderhöhle des J
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Räuberbräutigams (AaTh/ATU 955), entkommen. In der Sage wird die existentielle Bedeutung des W.es für den Menschen hervorgehoben: Er liefert Bau- und Brennholz, Futter und Streu, Wild (cf. J Jagd, Jagen, Jäger) und Beeren und birgt Bodenschätze24, wird aber auch von Dämonen bewohnt und beherrscht. Die Hexe, die die Gestalt von Tieren annehmen kann25, hat einen dämonischen Machtbereich, in dem Hexenversammlung und Hexentanz stattfinden; als dessen Kennzeichen wird ein Kreis aus Pilzen (,Hexenring‘) gedeutet. Der J Teufel unterhält im Dickicht eine Schmiede26, gibt sich als Liebhaber aus27 oder schließt mit einem Edelmann, der durch seine Jagdgier das Wild ausrottet, einen Vertrag (J Teufelspakt)28. In der Dunkelheit und Abgeschiedenheit des W.es kommt es zu gesetzwidrigem Verhalten. Grenzverletzung, Holzdiebstahl, Wilderei, J Frevel und Verbrechen werden bestraft: Wer sie begeht, muß ruhelos durch die W.er streifen29. Auch Opfer von J Mord30 oder Selbstmörder (J Selbstmord)31 gehen häufig im W. um32. J Gespenster, J Wiedergänger, Aufhocker und andere J Spukgestalten (z. B. Heemänneken, Hemm, Hermesteufel, Hohnertsmännchen, Schalkenmännchen, Sünnscheider Männchen, J Rübezahl)33, Riesen34 und Zwerge35 beherrschen den W.36; in weiten Teilen Europas ist die Vorstellung verbreitet, daß die J Wilde Jagd durch und über W.er führe37. Wilde Leute (J W.geister) wie der W.schrat oder die Saligen sollen in den W.ern des Alpenraumes leben38. Der Werwolf (J Wolfsmenschen) treibt volksläufigen Vorstellungen zufolge vorzüglich im W. sein Unwesen39, reißt das Wild und ist von Jägern nicht zu treffen40. Dämonische Tiere verleihen dem W. der Sage ein bes. Gepräge. Gespenstische J Hunde begegnen hier gelegentlich41. Der Herr des W.es (J Herr der Tiere) ist ein W.geist (in nord. Ländern der Bär42), der den W. und seine Bewohner beschützt43. J Wölfe haben hexenhafte Züge und zerreißen einen Mann44. Als typische W.tiere erscheinen der J Fuchs und der J Bär; wilde Tiere lassen holzsammelnde Kinder unbehelligt45. Die Dämonen der Sage erschrecken und greifen Menschen an46, überraschen Holzdiebe
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und vertreiben sie47. Sagen berichten davon, daß Menschen sich im W. verirren48 (über Irrwurzeln stolpern49, von Irrlichtern und Lichtgeistern vom Weg abgelockt werden50) und schreckenerregende Erscheinungen erleben51. Mitunter wird einem im W. Verirrten jedoch auch Hilfe zuteil52, wobei für die Rettung eine Gegenleistung zu erbringen ist (cf. J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen)53. Arme Beeren-, Holz- oder Pilzsammler werden von dämonischen Wesen vor der Obrigkeit gewarnt54. Der J Köhler wohnt an seiner Arbeitsstätte im W. in der Nachbarschaft von Dämonen55. Köhler und W.arbeiter werden von W.geistern in weiblicher Gestalt verführt (J Mahrtenehe: Die gestörte M., Kap. 4; cf. auch J Samovila). Der W. dient häufig als Fluchtort vor Feinden und Verfolgern56. J Zigeuner und fahrendes Volk machen das Gebiet unsicher und verzaubern den Ort, wo sie lagern57. Im W. verbergen sich die Gesetzlosen und die von der Gesellschaft Verachteten, wie dies etwa in der Robin Hood-Tradition noch immer faßbar ist58. In Legenden wird von frommen J Einsiedlern berichtet, die sich in die Einsamkeit zurückziehen59. Der J Hirsch erscheint mit einem Kreuz im Geweih (Hl. J Hubertus) und bestimmt den Jäger zum Bau eines Klosters60. Heilige werden von W.tieren mit Milch etc. versorgt (J Säugen; J Genovefa). Auch in modernen alltäglichen Geschichten spielt der W. eine Rolle, so in ,Bunkersagen‘61, Grenzgeschichten62 und Erzählungen über Überfälle63 oder Terroristenjagd64. In modernen Sagen haben weder Straßen, die den W. durchschneiden, noch Kraftfahrzeuge Bild und Erwartung des Bedrohlichen und Gefährlichen beseitigt65. Raubtiere wie Puma, Luchs, Löwe, Wolf und Bär werden im W. gesichtet und verfolgt66. In dieser Umgebung bietet selbst das Auto keinen Schutz vor der tödlichen Gefahr67. 1
Lehmann, A.: W. als „Lebensstichwort“. In: Bios 9 (1996) 143⫺154, hier 145. ⫺ 2 Saunders, C. J.: The Forest of Medieval Romance: Avernus, Broceliande, Arden. Cambr. u. a. 1993; Schnyder, M.: Der W. in der höfischen Lit. Raum des Mythos und des Erzählens. In: Das MA. 13,2 (2008) 122⫺135; Pfeiffer, J.: Verirrungen im Dickicht der Wörter. Die W.er der Ritter und der W. Dantes. ibid., 136⫺151.⫺ 3Friede, S.: Die Wahrnehmung des Wunderbaren. Tübingen
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2003, 493⫺495, 509 sq., 537⫺539 (Partonopeu), Reg. s. v. W. ⫺ 4 Wunderli, P.: Der W. als Ort der Asozialität. Aspekte der altfrz. Epik. In: Semmler, J. (ed.): Der W. in MA. und Renaissance. Düsseldorf 1991, 69⫺112; Busse, W.: ,Im W., da sind die Räuber‘. ibid., 113⫺129. ⫺ 5 Mattejiet, U.: W. B: Literar. und kulturgeschichtliche Bedeutung. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 1944⫺1946; Stauffer, M.: Der W. Zur Darstellung und Deutung der Natur im MA. Zürich 1958, 153; Semmler, J. (ed.): Der W. im MA. und in der Renaissance. Düsseldorf 1991. ⫺ 6 Peuckert, W.-E.: Sagen. Geburt und Antwort der mythischen Welt. B. 1965, 52; Roloff, V.: Der Märchenwald als Traum. Zur Interpretation von Märchenmotiven in der Artusepik. In: Wolfzettel, F. (ed.): Artusrittertum im späten MA. Gießen 1984, 145⫺151; Küster, H.: Geschichte des W.es. Mü. 2 2008, 7. ⫺ 7 Buberl, B.: Erlkönig und Alpenbraut. Dichtung, Märchen und Sage in Bildern der SchackGalerie. Mü. 1989, 79; Lehmann, A.: W. Über seine Erforschung aus volkskundlichen Fachtraditionen. In: ZfVk. 92 (1996) 32⫺47, hier 40. ⫺ 8 Jung-Kaiser, U. (ed.): Der W. als romantischer Topos. Bern u. a. 2008. ⫺ 9 Bahrdt, H. P.: Umwelterfahrung. Soziol. Betrachtungen über den Beitr. des Subjekts zur Konstitution der Umwelt. Mü. 1974, 63⫺70; Schenda, R.: Volkserzählung und nationale Identität. In: Fabula 25 (1984) 296⫺303; Becker, S.: W. als Sagenhort. Die Suche nach nationaler und kultureller Identität in dt. Slgen zur Volkspoesie. In: Artes populares 16⫺17 (1995) 149⫺161, hier 156 sq. ⫺ 10 Lehmann, A.: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr W. Reinbek 1999, 123⫺166. ⫺ 11 ibid., 173. ⫺ 12 Bühler, C./Bilz, J.: Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Mü. 31971, 48; Ono, H.: W.symbolik bei den Brüdern Grimm. In: Fabula 48 (2007) 73⫺84, hier 74 (92 Erwähnungen von W. in den KHM [1857]). ⫺ 13 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 201. ⫺ 14 Lehmann (wie not. 10) 40. ⫺ 15 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987, 65; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 202; cf. Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 41979, 26. ⫺ 16 Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln/Bonn 1978, num. 967; Lehmann, A.: W. Die Volkslit. und deren Weiterwirken im heutigen Bewusstsein. In: Jung-Kaiser (wie not. 8) 37⫺ 52, hier 41. ⫺ 17 Meder, O.: „Wehe du verläßt mich!“ Sozial-geogr. Anmerkungen zur Bedeutung des W.es in den Märchen „Hänsel und Gretel“ sowie „Rotkäppchen“. In: Raumvorstellung als Imagination und Realität. ed. P. Jüngst/O. Meder. Kassel 1988, 122⫺146, hier 123; Lüthi, M.: Familie und Natur im Märchen. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 181⫺195, hier 190. ⫺ 18 ibid.; Rebholz, D.: Der W. im dt. Märchen. Diss. (masch.) Heidelberg 1944, 103. ⫺ 19 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Mü. 1980, 109. ⫺ 20 Uther, H.-J.: Zauberhafte Landschaften. Zur Bedeutung von Natur und Landschaft in Volkserzählungen. In: Heindrichs, U. und H.-A. (edd.): Zauber Märchen. Mü. 1998, 69⫺97, hier 89; cf. auch Ver-
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dier, Y.: Chemins dans la foreˆt ⫺ Les contes. In: ead.: Contume et destin. [P.] 1995, 207⫺222. ⫺ 21 Desideri, L.: Alphabets initiatiques. In: Ethnologie franc¸aise 33,4 (2003) 673⫺682. ⫺ 22 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 202. ⫺ 23 Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen. ed. S. Neumann/ K.-E. Tietz. Bremen/Rostock 1998, num. 18, 36. ⫺ 24 Fischer, H.: „Im W. da sind die Geister“… und andere Wesen. Der W. in der rhein. Volkserzählung. In: Der W. Köln 1997, 79⫺84, hier 79; Heilfurth, G.: Der W. als „Fundort“ und „Schauplatz“ in Bergbausagen des dt. Sprachgebietes. In: Et multum et multa. Beitr.e zu Lit., Geschichte und Kultur der Jagd. Festschr. K. Lindner. B./N. Y. 1971, 113⫺124, hier 113; Zender, M.: Volkserzählungen als Qu. für die Lebensverhältnisse vergangener Zeiten. In: Gestalt und Wandel. Aufsätze zur rhein.-westfäl. Vk. und Kulturraumforschung. ed. H. L. Cox/G. Wiegelmann. Bonn 1977, 414⫺454, hier 427. ⫺ 25 Fuchs: Schell, O.: Neue berg. Sagen. Elberfeld 1905, num. 4; Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 1637, 1642; Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 2. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 31989, 107, 179; Hase: Künzig, J.: Schwarzwald-Sagen. Düsseldorf 21965, 21; Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 2. Nachdr. ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1956, num. 157; Petzoldt, L.: Sagen, Märchen und Schwänke aus Südtirol 1⫺ 2. Innsbruck/Wien 2000/2002, t. 1, num. 448; 2, num. 401; Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1978), num. 158; Katze: Karlinger, F./ Wolf, B.: Nordital. Sagen. B. 1978, num. 105. ⫺ 26 Wehrhan, K.: Westfäl. Sagen. Lpz. 1934, num. 76, 78; Karlinger, F./Übleis, I.: Südfrz. Sagen. B. 1974, num. 74; Staudt, G./Peuckert, W.-E.: Nordfrz. Sagen. B. 1968, num. 196; Henßen, G.: Volk erzählt. Münsterländ. Sagen, Märchen und Schwänke. Münster 31983, num. 162. ⫺ 27 Müller, F./Orend, M.: Siebenbürg. Sagen. Göttingen 1972, num. xlviii. ⫺ 28 Bartsch (wie not. 25) num. 20. ⫺ 29 cf. z. B. Meineid, Betrug: Assion, P.: Weiße, Schwarze, Feurige. Karlsruhe 1972, num. 78, 200; Gerstner-Hirzel, E.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 229, 231; Böck, E.: Sagen aus der Oberpfalz. Regensburg 1986, num. 88, 479; Grenzsteinversetzer: Büchli (wie not. 25) 171, 517; Haller, R.: Frauenauer Sagen. Mü./B. 2002, num. 113; W.frevel: Brunold-Bigler, U.: Hungerschlaf und Schlangensuppe. Bern/Stg./Wien 1997, 98; Jahn (wie not. 23) num. 326; Künzig (wie not. 25) 65; Holzdiebstahl: Staudt/Peuckert (wie not. 26) num. 42; Feiertagsfrevel: Schell, O.: Berg. Sagen. Elberfeld 1897, num. 25; Peuckert, W.-E.: Dt. Sagen 1⫺2. B. 1961/62, hier t. 2, num. 218, 318; Zender (wie not. 25) num. 303, 537; Mord: Graber, G.: Sagen und Märchen aus Kärnten. Graz 1944, 59; Gewalttaten und Verbrechen: Uhlmann-Bixterheide, W.: Westfalens Sagenbuch. Dortmund 1921, 16; Panzer (wie not. 25) num. 157, 161; Haupt, K.: Sagenbuch der Lausitz. Lpz. 1862/63 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1977), num. 151;
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hartherzige Bestrafung von Wild- und Holzdieben: Vildomec, V.: Poln. Sagen. B. 1969, num. 136; Raub: Dittmaier, H.: Sagen, Märchen und Schwänke von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 132; Henßen (wie not. 26) num. 146; Fischer (wie not. 16) num. 466; Böck, E.: Sagen aus dem Neuburg-Schrobenhausener Land. Neuburg 1989, num. 264. ⫺ 30 Zender (wie not. 25) num. 282, 286; Dietz, J.: Aus der Sagenwelt des Bonner Landes. Bonn 1965, num. 932; Fischer, H.: Sagen des Westerwaldes. Montabaur 72004, num. 424. ⫺ 31 Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 499, 640; Petzoldt (wie not. 25) t. 2, num. 410; Peuckert (wie not. 29) t. 2, num. 44, 50; Jahn (wie not. 23) num. 345; Haller (wie not. 29) num. 197; Bartsch (wie not. 25) num. 160. ⫺ 32 Meiche, A.: Sagenbuch der Sächs. Schweiz und ihrer Randgebiete. B. 21991, num. 70 (Nachtjäger). ⫺ 33 Schell (wie not. 29) 198, num. 139, 276, num. 38; Wehrhan (wie not. 26) num. 40; Zender (wie not. 25) num. 1444, 1464, 1468; Grober-Glück, G.: Lokalnamen in dt.sprachigen Bezeichnungen von Sagengestalten. In: ead.: Beitr.e zur sprachlichen Volkskultur. Ffm. u. a. 2003, 75⫺105. ⫺ 34 Schell (wie not. 25) num. 1; Kuhn, A.: Märk. Sagen und Märchen. B. 1843 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1973), num. 140; Haupt (wie not. 29) num. 157; Vildomec (wie not. 29) num. 15 I; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. K. Mensing. Schleswig 1921 (Nachdr. Kiel 1975), num. 419; Graber (wie not. 29) 184. ⫺ 35 Meiche (wie not. 32) num. 58; Böck 1989 (wie not. 29) num. 165; Jahn (wie not. 23) num. 75; Fischer (wie not. 30) num. 166. ⫺ 36 Gespenster: Hauser, A.: W.geister und Holzfäller. Der W. in der schweiz. Volkssage. Zürich/Mü. 1980; Staudt/Peuckert (wie not. 26) num. 207, 252; Meiche (wie not. 32) num. 22; Fischer (wie not. 30) num. 445; Schwarzer Mann: Peuckert (wie not. 29) t. 2, num. 208; Assion (wie not. 29) num. 77, 94; Weiße Frau: Schell (wie not. 25) num. 9, 107; Graber (wie not. 29) 184; Peuckert, W.-E.: Westalpensagen. B. 1965, num. 7; Jahn (wie not. 23) num. 263; Wehrhan (wie not. 26) num. 17; Jude: Böck 1986 (wie not. 29) num. 509. ⫺ 37 Schell (wie not. 29) num. 45; Künzig (wie not. 25) 47; Zender (wie not. 25) num. 1378⫺ 1380, 1415⫺1421; Assion (wie not. 29) num. 219; Bartsch (wie not. 25) num. 1; Karlinger/Übleis (wie not. 26) num. 49; Böck 1989 (wie not. 29) num. 118; Jahn (wie not. 23) num. 10; Haller (wie not. 29) num. 123; Petzoldt (wie not. 25) t. 2, num. 422. ⫺ 38 Karlinger/Wolf (wie not. 25) num. 129; Petzoldt (wie not. 25) t. 2, num. 111, 392; Graber (wie not. 29) 224, 227; Böck 1986 (wie not. 29) num. 596; Büchli (wie not. 25) 56, 209; Haller (wie not. 29) num. 230. ⫺ 39 Peuckert (wie not. 29) t. 1, num. 228; Zender (wie not. 25) num. 1135, 1145; Vildomec (wie not. 29) num. 152; Staudt/Peuckert (wie not. 26) num. 42 (Strafe für Holzdiebstahl). ⫺ 40 Vildomec (wie not. 29) num. 182. ⫺
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Zender (wie not. 25) num. 958; feuriger Hund: Böck 1986 (wie not. 29) num. 547; ead. 1989 (wie not. 29) num. 5, 108; Fischer (wie not. 30) num. 450; schwarzer Hund bewacht Schatz: Schell (wie not. 25) num. 1; Dittmaier (wie not. 29) num. 93; Peuckert, W.-E.: Ostalpensagen. B. 1963, num. 370 I; Müller/ Orend (wie not. 27) num. 124. ⫺ 42 Röhrich, L.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 162. ⫺ 43 HDA 9 (1938⫺41) 55⫺62. ⫺ 44 Graber (wie not. 29) 260; Zender (wie not. 25) num. 277; Dietz (wie not. 30) num. 298; Böck 1989 (wie not. 29) num. 319; Jahn (wie not. 23) num. 446; Henßen (wie not. 26) num. 121. ⫺ 45 Graber (wie not. 29) 260; Henßen (wie not. 26) num. 130; Büchli (wie not. 25) num. 52. ⫺ 46 Assion (wie not. 29) num. 228; Haupt (wie not. 29) num. 60; Böck 1986 (wie not. 29) num. 82, 582; Fischer (wie not. 16) num. 842; Vildomec (wie not. 29) num. 82; Hexe: Künzig (wie not. 25) 12, 21; Zender (wie not. 25) num. 980; Henßen (wie not. 26) num. 9; Schell (wie not. 29) num. 14; Peuckert (wie not. 29) t. 2, num. 168; Agricola (wie not. 43) num. 142 VI; Karlinger/Wolf (wie not. 25) num. 105; Büchli (wie not. 25) 107; Teufel: Graber (wie not. 29) 346, 347; Wehrhan (wie not. 26) num. 78. ⫺ 47 Kuhn (wie not. 34) num. 96; Müllenhoff (wie not. 34) num. 567; Fischer (wie not. 30) num. 85; Werwolf: Henßen (wie not. 26) num. 6; id.: Neue Sagen aus Berg und Mark. Elberfeld 1927, 115. ⫺ 48 Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Göttingen 1969, 15; Gehrts, H.: Der W. In: Janning, J./Gehrts, H. (edd.): Die Welt im Märchen. Kassel 1984, 37⫺53, hier 39; Peuckert (wie not. 29) t. 1, num. 242; Staudt/Peuckert (wie not. 26) num. 11; Böck 1989 (wie not. 29) num. 310. ⫺ 49 Haller (wie not. 29) num. 41. ⫺ 50 Vildomec (wie not. 29) num. 137; Bartsch (wie not. 25) num. 213; Müllenhoff (wie not. 34) num. 295; Jahn (wie not. 23) num. 504; Panzer (wie not. 25) num. 262 a; Peuckert (wie not. 41) num. 259 (Locken mit Geräuschen). ⫺ 51 id. (wie not. 36) num. 31; Staudt/Peuckert (wie not. 26) num. 232; Böck 1989 (wie not. 29) num. 161. ⫺ 52 Kuhn (wie not. 34) num. 7 (Hirsch führt Kind); Assion (wie not. 29) num. 207 (Frau folgt Glockenklang). ⫺ 53 Assion (wie not. 29) num. 79 (Adliger gelobt, W. zu überlassen); Peuckert (wie not. 41) num. 276 (Jäger verpfändet sein Kind). ⫺ 54 Schell (wie not. 25) num. 21; Graber (wie not. 29) 146; Haller (wie not. 29) num. 230; Petzoldt (wie not. 25) t. 2, num. 419. ⫺ 55 Wehrhan (wie not. 26) num. 56; Staudt/Peuckert (wie not. 26) num. 65; Zender (wie not. 25) num. 1380; Karlinger/Übleis (wie not. 26) num. 8. ⫺ 56 Dittmaier (wie not. 29) num. 27; Fischer (wie not. 30) num. 283; Deserteure: Vildomec (wie not. 29) num. 213; Dietz (wie not. 30) num. 137; Liebende: Schmidt, L.: Niemandsland. In: id.: Volksglaube und Volksbrauch. B. 1966, 56⫺73; Fischer (wie not. 24) 82. ⫺ 57 Rug, K.: Das Köllertal erzählt. Saarbrücken 1980, num. 73; Vildomec (wie not. 29) num. 182; Fischer (wie not. 30) num. 100. ⫺ 58 Richards, J.: Robin Hood on the Screen. In: Carpenter, K. (ed.): Robin Hood. Die vielen Gesichter
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Waldgeister
des edlen Räubers/The Many Faces of that Celebrated English Outlaw. Ausstellungskatalog Oldenburg 1995, 135⫺144; Robin Hood-Filmographie. ibid., 258⫺271. ⫺ 59 Wehrhan (wie not. 26) num. 79; Peuckert (wie not. 36) num. 158; Staudt/Peuckert (wie not. 26) 50; Zender (wie not. 25) num. 1262. ⫺ 60 Peuckert (wie not. 53) num. 73; Müllenhoff (wie not. 34) num. 151; Böck 1989 (wie not. 29) num. 277; Agricola, C.: Schott. Sagen. B. 1967, num. 333. ⫺ 61 Lehmann (wie not. 10) 123, 134. ⫺ 62 Hartmann, A./Künsting, S. (edd.): Grenzgeschichten. Ffm. 1990, 185⫺204; Lehmann (wie not. 7) 41. ⫺ 63 Fischer (wie not. 16) num. 802. ⫺ 64 Lehmann (wie not. 10) 145, 164. ⫺ 65 Fischer (wie not. 24) 84. ⫺ 66 Habiger-Tuczay, C./Hirhager, U./Lichtblau, K.: Vater Ötzi und das Krokodil im Donaukanal. Wien 1996, 171, 188, 210. ⫺ 67 Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990, num. 8; Fischer, H.: Der Rattenhund. Köln/Bonn 1991, num. 92.
Hennef
Helmut Fischer
Waldgeister, Sammelbegriff für übernatürliche Wesen der populären Überlieferung, deren Lebensraum der Wald ist. Wie die J Natur überhaupt stellte sich der Mensch auch den Wald als belebt vor; als unbewohnbarer Ort, als Anökumene, war er unheimlich und voller dunkler Geheimnisse1. Entsprechend sind Vorstellungen von Waldgeistern (W.ern) in den waldreichen Gebieten Europas und darüber hinaus verbreitet. Hinsichtlich ihrer Erscheinungsform und ihres Wesens unterscheiden sich die einzelnen Gestalten, auch tragen sie regional unterschiedliche Bezeichnungen. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Sagen des mitteleurop. Raums. W.er haben einen direkten oder indirekten Bezug zum Wald, doch ist es schwierig, die ,genuinen‘ W.er von J Elementar- und J Wildgeistern abzugrenzen. Diese Unterscheidung ist allerdings ein rein taxonomisches Problem, das in der Realität der einzelnen Ethnien nicht besteht. W.er sind anthropomorphe Naturdämonen männlichen und weiblichen Geschlechts, die populären Vorstellungen zufolge in Wäldern und Bergen leben. Häufig werden dabei die Lebensumstände des Menschen adaptiert: W.er besitzen eine Familie, Haus, Hof und Vieh und werden oft von einem König oder Ältesten geleitet. Sie suchen Kontakt zu den Menschen, unterhalten häufig erotische
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Beziehungen zu ihnen2 oder verheiraten sich mit ihnen3. Ihre Wöchnerinnen bedürfen des menschlichen Beistands (J Hebamme). Manchmal helfen sie Menschen, die sich im Wald verirrt haben, oder verschaffen ihnen Reichtum. Sie hüten mitunter auch den Sennen, Hirten und Bauern das Vieh oder reinigen deren Ställe, helfen beim Käsen oder bei der Ernte4 und geben gute Ratschläge zum Säen und Ernten (cf. J Kulturheros). Zu J Jägern haben W.er ein zwiespältiges Verhältnis, sie erlauben ihnen zu bestimmten Zeiten zu jagen, wenn der Jäger aber vom W. erzählt, tötet dieser ihn. Überhaupt sind W.er häufig gefährlich, sie trachten Menschen nach dem Leben oder versuchen, sie zu schädigen. Sie erschrecken Menschen, bes. Kinder, oder führen sie in die Irre (J Verirren). Manchmal entführen sie auch die Kinder der Menschen und legen dafür einen J Wechselbalg hin. Einige W.er sind Aufhocker5; ihre Begegnung mit Menschen erfolgt bes. an numinosen Orten6. W.er bestrafen Diebstahl, Prahlerei, Verspottung etc.7 Der Umgang mit ihnen ist durch zahlreiche Verbote beschränkt; W.er werden Menschen gefährlich, wenn man sie beim Namen nennt, ihren Ruf nachäfft oder beantwortet8. Sie sind angreifbar, man kann sie töten, z. B. mit einem Nadelstich in die Ferse, und sie fürchten das J Kreuzzeichen. Andererseits hilft das Gebet von Menschen W.ern im Kampf mit dem J Teufel. In zahlreichen Zusammenhängen bzw. Motivverbindungen treten W.er an die Stelle anderer Dämonen, Riesen (AaTh/ATU 1045: Das große J Seil), J Wassergeister, Bären (AaTh/ATU 1199 A: J Qual des Brotes [Flachses]), Drachen (AaTh/ATU 667: J Pflegesohn des W.es), J Trolle, Räuber, Tiger, Löwen (AaTh/ATU 1131: J Schlund des Unholds verbrannt) und vor allem des Teufels. Prinzipiell ist zwischen solitären W.ern und Kollektivgeistern zu differenzieren, deren Eigenschaften sich allerdings vielfach überschneiden. Kollektivgeister, die Wilden Leute9, sind Gestalten der niederen Mythologie, die eine Existenz nach dem Tod führen. Sie leben einzeln, im Kollektiv oder in Familienverbänden. Im Alpenraum werden sie je nach Region als Anguane, Bregostane, Buschweiblein, Fänggen, Gane, Holzleute, Moosweibchen, Orks, Rüttelweibchen, Salige, Salvadechs, Salvane,
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Waldgeister
Silvane, Waldfrauen, Wilde Männer, Wildfräulein, das Nachtvolk oder das Wilde Heer (J Wilde Jagd) bezeichnet10. Schriftl. Qu.n, bes. für die Epoche zwischen dem Ende der Römerzeit und der christl. Missionierung, sind spärlich. Die ma. Lit. und verschiedenste hist. Qu.n sagen nur wenig über Glaubenskontinuität, Frequenz und Verbreitung der W.er und ihren Phänotyp aus. An die Kollektivgeister der populären Überlieferung erinnert die Beschreibung der im Wald lebenden Dämonen im Liber octo quaestionum (1508) des Johannes Trithemius (1426⫺1516). Eine differenziertere J Dämonologie findet man bei Agrippa von Nettesheim (1486⫺1535), der versuchte, das Christentum mit den Dämonen der Antike zu versöhnen, und W.er von anderen Dämonen unterschied (De occulta philosophia, 3,17). Die ma. Dämonenlehre mit ihrer Unterscheidung der Elementargeister verspricht eine scheinbar logische Systematik. Diese ist aber ein retrospektives Produkt, das aus Spekulationen der Naturphilosophen des 15./16. und nicht zuletzt der naturromantischen Dichtung des 19. Jh.s hervorgegangen ist. Diese Elementargeister waren niemals Gestalten des Volksglaubens, sie waren Schöpfungen der vorwiss. Naturphilosophie, die ihr Material den spätantiken Dämonenlehren verdankte11. Im Gefolge der J mythol. Schule und der J Romantik wurden die Gestalten der niederen Mythologie und des Volksglaubens auf altgerm., vorchristl. Glaubensvorstellungen und Kultgestalten zurückgeführt12. Vertreter dieser Auffassung, wie F. F. A. J Kuhn, F. L. W. J Schwartz, W. J Mannhardt und J. G. J Frazer, sahen in Sagen und Märchen Widerspiegelungen antiker und vor allem germ. Göttermythen und -gestalten. Sie faßten W.er als Vegetationsdämonen auf, die in engem Zusammenhang mit dem Baumkult und der Vorstellung einer Baumseele standen (J Dingbedeutsamkeit, -beseelung)13. Die Gestalt der Wilden Leute kann riesig oder zwergenhaft sein. Waldfrauen werden erstmals bei Burchard von Worms (gest. 1025) erwähnt als: „agrestes feminae quas silvaticas vocant“14. Sie können sich J unsichtbar machen und vergnügen sich mit menschlichen Männern. Dieser erotische Aspekt der Vorstellung von Wilden Leuten spielt auch in den mhd. Epen eine Rolle. Im Wolfdietrich-Epos
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(13. Jh.) erscheint ein Waldweib, die Rauhe Else, dem Helden Wolfdietrich und verlangt seine Liebe. Da sie überaus häßlich ist, weist er sie zurück. Als sie ihm jedoch als schöne Frau erscheint, kann sie ihn betören. In frz. Epen des 12. Jh.s wird der Wilde Mann einerseits als symbolische Figur, andererseits als mit Keulen bewaffneter, angsterregender J Riese dargestellt, der als Gegenspieler des tugendhaften Ritters auftritt15. Alle diese Figuren mit ihren ethnogr. und ökotypischen Differenzierungen haben sich z. T. unter dem Einfluß des Christentums im Laufe der Entwicklung gewandelt oder wurden umgedeutet und verharmlost als J Trickster- bzw. Schwankgestalten oder unter dem Druck der Missionierung diabolisiert16. Gestützt auf ein Korpus ahd. Glossen, die die ,Existenz‘ des Schrats (scrato) bereits vor dem 11. Jh. beweisen, zeichnete C. Lecouteux den Bedeutungswandel von einem friedlosen Toten (J Wiedergänger) über einen teuflischen Zauberer17 bis hin zum Druckgeist (Ephialtes) nach18, der erst durch die Dämonisierung im Verlauf der interpretatio christiana19 zum W. wurde20. Die heutige Bezeichnung Waldschrat ist eine Verengung, die auf Augustinus zurückgeht (De civitate dei 15,23)21. Nach Lecouteux war Schrat „von Anfang an ein Sammelbegriff“, der durch die kirchlichen Autoren mit den röm. W.ern und Feldgeistern verschmolzen wurde und zwei Deutungsebenen, die pagane und die christl., umfaßt22. Einzelne Kollektivgeister wurden zu Lokaldämonen eines Berges oder eines Waldes: W.-E. J Peuckert zeigte am Beispiel des Hackelberg, daß W.er im Zuge einer Entdämonisierung, die bereits im 15. Jh. einsetzte, zu lokalen Dämonen ⫺ Wiedergängern, die für ihre Freveltaten büßen ⫺ wurden und damit menschlichere Züge erhielten23. Diese Entwicklung zeigt sich auch an Gestalten wie dem Hehmann24 oder Wilden Jägern wie dem Rodensteiner25. In der Folge dieser Entwicklung gewinnen sakrale Elemente (Kreuzzeichen, Stoßgebet, Weihwasser) als Schreckmittel gegen die Geister Bedeutung. Diese solitären W.er können verschiedene Gestalt annehmen. Sie erscheinen anthropomorph, wie z. B. J Rübezahl oder der Thürse (ahd.: Riese) als Greis oder Riese26, zoomorph, als Hirschkuh oder Schaf, oder als
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Waldgeister
Wirbelwind (J Wind). Das Aussehen des Hehmanns wird unterschiedlich geschildert; er ist als Jäger gekleidet oder trägt ein Moosgewand27. Er kann die Gestalt eines Riesen annehmen, aber auch als J Zwerg oder Vogel (J Eule, Kauz, J Rabe) erscheinen. Die meisten euras. Völker stellen sich W.er anthropomorph, allerdings mit übermenschlichen Eigenschaften vor28, wobei sich W.vorstellungen z. T. mit Auffassungen vom J Herrn der Tiere überschneiden. Im skand. Volksglauben gibt es die Vorstellung von der Waldfrau (schwed. skogsra˚, skogsfru, skogsjungfru, skogsnuva; norw. huldra), die regional differenziert mit einem Kuhoder Fuchsschwanz dargestellt wird (cf. das Kommunalwappen der norw. Stadt Lardal)29. Ein weiteres Kennzeichen ist ihr ausgehöhlter, einem Baumstamm gleichender Rücken. Häufig werden skogsra˚ bzw. huldra als weibliche Wesen von großer erotischer Anziehungskraft beschrieben, die einsame Wanderer, J Köhler oder Waldarbeiter in ihren Bann ziehen, ihnen helfen, ihnen aber auch schaden können30. Hinsichtlich ihres Verhaltens ähneln sie der dän. mosekone oder elverpige, die jedoch keine Solitärwesen sind, sondern dem J Elfenvolk angehören. Ebenfalls im Kollektiv leben die Waldtrolle, die in bezug auf ihre Körpergröße stark differieren und ähnliche Eigenschaften besitzen können wie Riesen oder Zwerge, fast ausnahmslos aber als häßlich, dumm und gefährlich dargestellt werden31. Finnen und Karelier kennen den W. Tapio (zugleich auch Bezeichnung für den Wald), der Waldgottheit und Schutzgeist des Waldes ist, und als numinose Macht oder als machtvolles Wesen erscheint32. Die liv. und lett. W.vorstellungen (vada¯ta¯js) sind sehr diffus, während sich bei den Esten die W.er (metsa-vaimud, metsainimesed) „unter allen Naturgeistern am lebensfähigsten erhalten haben“33. In zahlreichen Sagen fungieren W.er als Herren der Tiere. Sie werden als gute Geister verstanden, soweit sie nicht diabolisiert und mit dem Teufel identifiziert werden. Der Vörsa-mort (Waldmensch) der Komi-Syrjänen wird unter Verwendung eines Euphemismus angeredet, da man sich scheut, seinen Namen auszusprechen34. Udmurt. W.er sind Njules-murt (Waldmensch) oder Njules-peri (W.); sie können wie ein Baum aufwachsen35 und beschützen ihre
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Herden; die Menschen bringen ihnen Opfer dar und sprechen dabei Gebete36. Vergleichbare W.vorstellungen finden sich bei den Tscheremissen, die kozˇla oder tsˇodra-kuguza (Waldalte) kennen, und bei den Mordwinen, bei denen jeder Wald eine Waldherrin hat, die als vir-pavos (Waldgöttin) oder vir-ava (Waldmutter) verehrt wird37. Ein weiterer udmurt. W. ist Pales-murt (Halbmensch); er besitzt ein Auge, einen Arm sowie ein Bein, ist von gutmütiger Natur38 und gilt als stark, aber dumm. Udmurt. W.er haben eine Familie und besitzen Gold und Silber. Sie bewegen sich unsichtbar im Wirbelwind. Herbst- und Frühjahrsstürme werden als ihre Hochzeit aufgefaßt. Zudem kennt die finno-ugr. Überlieferung eine Anzahl weiterer W.er, z. B. den Irreleiter, der nur ein Stirnauge hat, auch als Uhu oder Hund erscheint und als Wirbelwind umherschweift. Ähnliche Züge wie die W.er der finno-ugr. Überlieferung weisen russ. W.er (lesˇij) auf 39. Sˇüra˘le ist ein anthropomorpher W. des tatar. Märchens40, eine kleine, bucklige Gestalt mit langen, dünnen Fingern und langen Zitzen sowie einem kleinen Horn auf der Stirn. Er kitzelt Menschen zu Tode, fängt Pferde aus den Herden und reitet sie zuschanden. Mit einem Pferd, dessen Rücken mit Teer oder Harz bestrichen ist (cf. AaTh/ATU 175: J Teerpuppe), oder durch Einklemmen seiner Hände in einer Baumspalte (AaTh/ATU 38: cf. J Einklemmen unholder Wesen) kann man ihn fangen41. Da er Angst vor Wasser hat, kann man sich durch den Sprung über einen Bach retten. Wichtige Forschungsbeiträge zur Begriffs˚. und Motivgeschichte der W.er leisteten u. a. A Hultkrantz42, L. J Röhrich, I. Paulson und R. Grambo43. Paulsons religionsgeschichtlich orientierte Unters. über die W.er und Wildgeister will, im Gegensatz zu Röhrichs sagenkundlicher Arbeit44, hauptsächlich die Glaubensinhalte der euras. Völker, bei denen diese Vorstellungen noch lebendig sind, erfassen45. In ihrer Unters. über mythol. Gestalten der russ. Folklore hat E˙. V. J Pomeranceva ein Typenverzeichnis der Natur- und Elementargeister geliefert46. 1 cf. Ekman, K.: Der Wald. Mü. 2008, 42; cf. auch Peuckert, W.-E.: Dt. Volksglaube des SpätMA.s. Stg. 1942, 73. ⫺ 2 cf. Theophrastus von Hohenheim gen. Paracelsus: Liber de nymphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus. ed. R. Blaser. Bern
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Waldhaus ⫺ Waldis, Burkart
1960, 13 (9,50). ⫺ 3 Petzoldt, L.: Die Haare der Saligen. Wanderungen und Wandlungen eines dämonologischen Motivs in Lit. und Volksdichtung. In: id.: Märchen, Mythos, Sage. Marburg 1989, 145⫺156. ⫺ 4 Mannhardt, W.: Wald- und Feldkulte 1⫺2. B. 1904, hier t. 1, 96⫺99, 104. ⫺ 5 Ranke, F.: Der Huckup. In: Bayer. H.e für Vk. 9 (1922) 1⫺33; Grober-Glück, G.: Aufhocker und Aufhocken nach den Slgen des Atlas der dt. Vk. In: Rhein. Jb. für Vk. 15/16 (1965) 117⫺143; Petzoldt, L.: Kleines Lex. der Dämonen und Elementargeister. Mü. 32003, 27⫺29, 94 (ital.: Piccolo dizionario dei demoni e spiriti elementari. Neapel 1995; estn.: Väike deemonite ja vaimolendite leksikon. Tartu 22010). ⫺ 6 Rath, E.: Der Hehmann. Herkunft und Bedeutung einer Waldviertler Sagengestalt. In: Schmidt, L. (ed.): Wunder über Wunder. Wien 1974, 29⫺68. ⫺ 7 Pomeranceva, E˙.: Mifologicˇeskie personazˇi v russkom fol’klore (Mythol. Gestalten in der russ. Folklore). M. 1975, 183⫺185; cf. auch Warner, E. A.: Russian Peasant Beliefs and Practices Concerning Death and the Supernatural. 1: The Restless Dead, Wizards and Spirit Beings. In: FL 111 (2000) 67⫺90, hier 81⫺90. ⫺ 8 Petzoldt (wie not. 3). ⫺ 9 Haiding, K.: Sagen von den Wildleuten. Kommentar zum österr. Vk.atlas 6,2. Wien 1979; Petzoldt (wie not. 5) 190⫺192; Aschenbrenner, M.: Die „Wilden Menschen“ (La jent salvaria) in den Sagen der Dolomitenladiner. In: Ladinia 5 (1981) 121⫺ 136. ⫺ 10 Petzoldt (wie not. 5) 22 sq., 68 sq., 134 sq., 138 sq., 151 sq.; Poppi, C.: Il tipo simbolico „uomo selvaggio“. In: Studi ladini. Festschr. L. Heilmann. Vigo di Fassa 1986, 95⫺118; Hintz, E. R.: Der Wilde Mann ⫺ ein Mythos vom Andersartigen. In: Dämonen, Monster, Fabelwesen. ed. U. Müller/W. Wunderlich. St. Gallen 1999, 617⫺626; cf. Insam, B. D.: Der Ork. Studien zu einer alpinen Wort- und Erzählgestalt. Mü. 1974. ⫺ 11 Petzoldt, L.: Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden MA.s. In: Müller/Wunderlich (wie not. 10) 39⫺58. ⫺ 12 Grimm, Mythologie 2, num. 397 sq. ⫺ 13 cf. dagegen Granberg, G.: Skogsra˚et i yngre nordisk folktradition. Uppsala 1935, 284, 299. ⫺ 14 cf. Habiger-Tuczay, C.: Wilde Frau. In: Müller/Wunderlich (wie not. 11) 603⫺615. ⫺ 15 Guidot, B.: Le Ge´ant sarrasin dans la „Bataille Loquifer“ et quelques chansons de geste: une nouvelle peinture de l’Autre? In: Travaux de litte´rature 17 (2004) 83⫺96. ⫺ 16 Achterberg, H.: Interpretatio christiana. Lpz. 1930. ⫺ 17 Lecouteux, C.: Eine Welt im Abseits. Zur niederen Mythologie und Glaubenswelt des MA.s. Dettelbach 2000, 59. ⫺ 18 ibid., 55⫺ 73; Petzoldt (wie not. 5) 15 sq. ⫺ 19 cf. Achterberg (wie not. 16). ⫺ 20 cf. Hundsbichler, H.: Der Dämon im Bildzeugnis des MA.s. In: Petzoldt, L./Rachewiltz, S. de (edd.): Der Dämon und sein Bild. Ffm./ Mü./Bern 1989, 1⫺19, hier 14 (Abb.). ⫺ 21 cf. Heinrich Institoris/Jakob Sprenger: Malleus maleficarum. Der Hexenhammer. Übers. J.-W. Schmidt. Darmstadt 1974, 47; cf. auch Petzoldt (wie not. 5) 105. ⫺ 22 Lecouteux (wie not. 17) 72. ⫺ 23 Peuckert (wie not. 1) 50⫺60, bes. 58 sq.; Petzoldt
450
(wie not. 5) 87 sq. ⫺ 24 Rath (wie not. 6). ⫺ 25 Petzoldt (wie not. 5) 148 sq. ⫺ 26 ibid., 146 sq.⫺ 27 Rath (wie not. 6) 48. ⫺ 28 Paulson, I.: Wald- und Wildgeister im Volksglauben der finn. Völker. In: ZfVk. 57 (1961) 1⫺25, hier 4; cf. Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1951, num. 43⫺ 54. ⫺ 29 Arrowsmith, N.: Die Welt der Naturgeister. Ffm. 1986, 208⫺213. ⫺ 30 cf. Hylte´n-Cavallius, G. O.: Wärend och Wirdarne 1. Stockholm 1863. ⫺ 31 Hartmann, E.: Die Trollvorstellungen in den Sagen und Märchen der skand. Völker. Stg. 1936; cf. Eriksen, K. R.: Myterne om skovens folk. In: Nord Nytt 33/34 (1988) 91⫺100. ⫺ 32 Paulson (wie not. 28) 20. ⫺ 33 Loorits, O.: Grundzüge des estn. Volksglaubens 1. Lund 1951, 56; Biezais, H.: The Latvian For˚ . (ed.): The Supernatural est Spirit. In: Hultkrantz, A Owners of Nature. Stockholm 1961, 15⫺18; Petzoldt 2010 (wie not. 5) 149⫺151. ⫺ 34 ibid. ⫺ 35 cf. HDS 3 (1963) 710⫺712. ⫺ 36 Paulson (wie not. 28) 6. ⫺ 37 Harva, U.: Die religiösen Vorstellungen der Mordwinen (FFC 142). Hels. 1952. ⫺ 38 Sadikov, R. R./ Hafis, K. H.: Religioznye verovanija i obrjady udmurtov Permskoj i Ufimskoj gubernij v nacˇale XX veka (Religiöser Glauben und religiöse Bräuche der Udmurten in den Gouvernements Perm und Ufa am Anfang des 20. Jh.s). Ufa 2010, 33, 46, 73. ⫺ 39 Paulson (wie not. 28) 6⫺8; Mannhardt (wie not. 4) t. 2, 138⫺142. ⫺ 40 cf. Tukaj, G.: Sˇüra˘le. Kasan 1907; cf. Aminev, S. G.: Basˇkirskij mifologicˇeskij personazˇ Sˇurale (Die baschkir. mythol. Gestalt des Sˇura˘le). In: Semja i semejnye tradicii u narodov Basˇkorstostana. Ucˇaly 2008, 9⫺14. ⫺ 41 cf. Petzoldt, L.: Sagen aus Vorarlberg. Mü. 1994, 185 sq. ⫺ 42 Hultkrantz (wie not. 33). ⫺ 43 Grambo, R.: The Lord of the Forest and Mountain Game in the More Recent Folk Traditions of Norway. In: Fabula 7 (1965) 33⫺52. ⫺ 44 Röhrich, L.: Europ. Wildgeistersagen [1959]. In: id.: Sage und Märchen. Fbg 1976, 142⫺194. ⫺ 45 Paulson, I.: Schutzgeister und Gottheiten des Wildes (der Jagdtiere und Fische) in Nordeurasien. Stockholm 1961, 3. ⫺ 46 Pomeranceva (wie not. 7) 183⫺185.
Innsbruck
Leander Petzoldt
Waldhaus J Haus im Walde
Waldis, Burkart, *vermutlich Wahlhausen bei Allendorf (Hessen) um 1495, † ebenda 1556/57, dt. Dichter und Übersetzer, Mönch, Zinngießer und Pfarrer. W. stammte aus einer wohlhabenden Allendorfer Familie; die Nachweise aus seinem Geburtsort, der im 30jährigen Krieg vollständig niedergebrannt wurde, sind spärlich1. Bezeugt ist W. als Franziskanermönch in Riga: Im Juli 1523 wurde er sehr
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Waldis, Burkart
wahrscheinlich als Mitglied einer Gesandtschaft vom Rigaer Erzbischof nach Rom geschickt, um beim Papst Hilfe gegen die reformatorischen Bestrebungen in der Stadt zu erlangen. Wohl im Sommer 1524 zurückkehrend, wurden die Gesandten vom Rat der Stadt inhaftiert, nachdem ihre Mission verraten worden war. W. kam nach einigen Wochen wieder frei, indem er die Mönchskutte ablegte. Er wurde Zinngießer und heiratete. Als angesehener Rigaer Bürger äußerte er sich schriftl. zu Fragen der Münzprägung2. 1529 ist er als Geschäftsträger von Riga am Reichskammergericht in Speyer bezeugt. Weihnachten 1536 geriet W. in die Gefangenschaft des Dt. Ordens, weil er in Pläne verwickelt war, das Erzstift Riga zu säkularisieren, und mußte jahrelang Folterungen ertragen. Nachdem seine Brüder von Hessen aus vermittelt hatten, konnte er im Sommer 1540 in seine Heimat zurückkehren. Er trat in die Dienste des Landgrafen Philipp von Hessen; im Winter 1541 studierte er bei J Luther in Wittenberg Theologie, 1544 erhielt er die Propstei Abterode in der Nähe von Allendorf. Nach einer Erkrankung 1556 starb W. noch im selben Jahr oder kurz darauf. W.’ erstes Werk, das in ndd. Reimpaarversen verfaßte Fastnachtspiel Parabell vam vorlorn Szohn (AaTh/ATU 935: J Heimkehr des verlorenen Sohnes), wurde 1527 in Riga aufgeführt3. In dieser frühen dramatischen Bearb. des Stoffs interpretiert W. das bibl. Gleichnis im Sinne der luther. Rechtfertigungslehre und wendet sich gegen das röm. Konzept der Werkgerechtigkeit. Unter kleineren Gelegenheitsschriften4 sind die Schmähgedichte auf Herzog Heinrich d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1542)5 und eine scharfe Satire gegen die röm. Kirche, Eine warhafftige Historien von zweyen Mewssen (1543), hervorzuheben; der Historien angehängt sind drei Fabeln, die später in überarbeiteter Form in W.’ Esopus Eingang fanden (4,95; 4,7; 4,99). Zur großzügig ill. Schrift Vrsprung vnd Herkummen der zwölff ersten alten König vnd Fürsten Dt. Nation (1543) steuerte W. die Verse bei, die in mehrere Geschichtswerke Eingang fanden; die Schrift wurde später in der Offizin Jobin neu aufgelegt, wobei Johann J Fischart W.’ Verse ergänzte und ersetzte6. Neben der Anfertigung von Übers.en7 überarbeitete W., wohl im Auf-
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trag des Verlegers C. Egenolff, Kaiser Maximilians Ritterroman Tewerdanck zu einem Fürstenspiegel (Ffm. 1553; Nachdr.e Ffm. 1563, 1589, 1596)8. W.’ Versifizierung des gesamten Psalters (1553), der Vorrede zufolge begonnen als Trost in der Rigaer Gefangenschaft, gilt als bedeutendste Psalterbearbeitung der 1. Hälfte des 16. Jh.s9. Viele seiner daraus hervorgehenden Lieder fanden Eingang in süddt. Kirchengesangbücher und hielten sich bis ins 17. Jh. W.’ Esopus Gantz New gemacht vnd in Reimen gefaßt. Mit sampt Hundert Newer Fabeln (Ffm. 1548) ist die umfangreichste Fabelsammlung des 16. Jh.s. Die paargereimten Fabeln (je 100 in vier Büchern) sind überwiegend ca 30⫺40 Verse lang; sie sind geprägt von einem anschaulichen Erzählen und zuweilen derben Humor. W. spart nicht mit Sozial- und Herrscherkritik10, die röm. Kirche und bes. die Franziskaner sind Gegenstand bitteren Spotts. In den Epimythien fordert er häufig dazu auf, sich mit dem eigenen Stand zufriedenzugeben. Die Epimythien können die Länge der Narratio übertreffen und weitere Erzählungen enthalten11. W.’ Textgrundlage ist der sog. Aesopus Dorpii, eine von ndl. Humanisten unter Federführung des Martinus Dorpius (Maarten van Dorp) erstellte und mehrfach erweiterte Fabelanthologie (J Äsopika)12. W. arbeitete, wie etwa zeitgleich auch Erasmus J Alberus, seine lat. Vorlagen in Verse um. Welche Ausg. der überaus erfolgreichen Slg er benutzt hat, ist nicht zu rekonstruieren; jedenfalls traf er aus den ihm verfügbaren Stoffen eine Ausw.13, behielt die Reihenfolge aus seiner Vorlage aber weitestgehend bei. Mit Fabel 3,83 war der Aesopus Dorpii ausgeschöpft. Ab 3,84 wurden die Fabeln länger und näherten sich deutlich dem Schwankhaften an. Dabei stiftete W. Querbezüge zwischen einzelnen Texten; so etablierte sich der Zusammenhang einer mehrere Fabeln überspannenden Fuchs-Wolf-Handlung14. Gelegentlich emanzipiert sich das Fabulieren von dem Fabelstoff wie auch von einer lehrhaften Funktionalisierung (etwa 3,94; 4,91; 4,93). Ältere Bearb.en einiger dieser Stoffe sind in den Fabelsammlungen von Heinrich J Steinhöwel und Joachim J Camerarius, in den Fazetienbüchern von Johannes Adelphus, Heinrich J Bebel, Ottmar Luscinius, Johannes J Pauli, Gian Francesco J Poggio Bracciolini,
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im ndd. Reynke de Vos (J Reineke Fuchs), im J Eulenspiegelbuch, in Johann J Herolts Predigtsammlung, Hans J Sachs’ Meisterliedern und Johannes Agricolas kommentierter Sprichwörtersammlung nachweisbar; konkrete Vorlagen sind damit aber nur im Einzelfall bestimmt15. Etliche Stücke im Esopus scheinen auf mündl. Überliefertes (so eingeleitet z. B. in 4,17; 4,18; 4,84; 4,98), einige auf eigenes Erleben (so eingeleitet z. B. in 4,13; 4,24; 4,50; 4,65) zurückzugehen. Für manche Erzählstoffe liefert der Esopus sehr seltene und frühe Belege (3,88; 3,92; 3,94; 3,97; 4,19; 4,34; 4,49; 4,55; 4,56; 4,57; 4,79; 4,88; 4,90). Das prominente Ich in den Fabeln wurde lange umstandslos biogr. gedeutet; die wenigen urkundlichen Zeugnisse zu W.’ Leben wurden ⫺ und werden ⫺ seit dem 18. Jh. um Daten aus seiner Fabeldichtung ergänzt. Seit dem 19. Jh. sucht die erzähl- und motivgeschichtliche Forschung Vorlagen zu den Fabeln zu bestimmen16. Die Zuordnungen erfolgten teilweise unbekümmert; ebenso sind einige Nachweise einer Rezeption von W.’ Texten bei genauer Durchsicht zu relativieren17. W. hat teil an einer Überlieferungstradition schwankhaften Erzählens, kann aber nur ausnahmsweise zwingend als Vorlage für spätere Bearb.en namhaft gemacht werden. Nach fünf Nachdr.en des Esopus im 16. Jh. (1555, 1557, um 156018, 1565, 1584) veröffentlichte Huldricus Wolgemuth eine Fabelsammlung (Newer vnd vollkommener Esopus 1⫺2. 1623), in deren 2. Teil nur W.-Fabeln abgedruckt sind19. In F. Petris Sprichwörtersammlung Der Teutschen Weissheit (1605; Nachdr. 1983) ist der Esopus komplett ausgewertet; etliche Sentenzen sind nur dort (und später dann bei K. F. W. J Wander) als Sprichwörter ausgewiesen. Auch E. J Eyrings Proverbiorum copia (1601/1604) verzeichnet mehrere Stücke (1,22 ⫽ Eyring 2, 702⫺705; 3,76 ⫽ 3, 154; 3,91 ⫽ 3, 135⫺137; 4,1 ⫽ 1, 322⫺332; 4,3 ⫽ 1, 435⫺ 438; 4,8 ⫽ 3, 131⫺135). Im ungedr. Drama Edessa (um 1611) des Züricher Glasmalers und Dichters Christoph Murer führen die Figuren mehrere W.-Fabeln als Exempla an20. Im nachopitzianischen Klassizismus des 17. Jh.s findet W. kaum Erwähnung. Ein Interesse an seinen Fabeln erwachte um die Mitte des 18. Jh.s. Christian Fürchtegott J Gellert bearbeitete mehrere von W.’ Fabeln
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(Die schlauen Mädchen ⫽ 1,76; Der Bauer und sein Sohn ⫽ 3,88; Der beherzte Entschluß ⫽ 4,67) und zitierte in Nachricht und Exempel von alten dt. Fabeln aus W.’ Esopus 1,33 (ohne Morale) und 2,45 (mit verkürztem Morale). Nachdem sich unter Gellerts Einfluß das biogr. Interesse an W. verstärkt hatte (F. von Gemmingen21, J. J. Eschenburg22), erschienen 1771 anonym die Fabeln und Erzehlungen in Burkard W. Manier von Friedrich Wilhelm Zachariä. Der Versuch einer aktualisierenden Nachdichtung ausgewählter W.-Texte mit eigenen Texten im gleichen Stil (für etwa zwei Drittel der Fabeln bilden W.-Texte die Vorlagen) erfuhr positive Besprechungen und ist für die Wahrnehmung des Esopus im 18. Jh. von immenser Bedeutung. Eschenburg gab postum die Fabeln und Erzehlungen seines Freundes Zachariä um eine Ausw. von 35 W.-Fabeln vermehrt heraus (1777); bis 1782 folgten vier Ausg.n und weitere innerhalb von Zachariäs Poetischen Werken; einzelne Fabeln wurden in Anthologien, Lit.geschichten und Poetiken aufgenommen23. Im Laufe des 18. Jh.s entwikkelte sich ein philol.-kulturgeschichtliches Interesse an W.’ Fabeln, das sich bei J. G. J Herder auf die spruchhafte Qualität der Moralen konzentrierte, in denen Herder die Wesensart des ,Deutschen‘ manifestiert sah24. Als volkstümlicher Schriftsteller wurde W. noch im frühen 20. Jh. wahrgenommen, bes. mit Blick auf Buch 4 des Esopus. In jüngere Fabelanthologien dagegen fanden vor allem aus dem Aesopus Dorpii übers. Fabeln Eingang. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Aus w. ) 25: 1,1 ⫽ ATU 219 H*: The Rooster and the Pearl. ⫺ 1,4 ⫽ AaTh/ATU 34 A: J Hund verliert das Fleisch. ⫺ 1,9 ⫽ AaTh/ATU 112: J Feldmaus und Stadtmaus. ⫺ 1,12 ⫽ ATU 50 C: The Donkey Boasts of Having Kicked the Sick Lion. ⫺ 1,13 ⫽ AaTh/ATU 214: J Esel will den Herrn liebkosen. ⫺ 1,14 ⫽ AaTh/ATU 75: J Hilfe des Schwachen. ⫺ 1,17 ⫽ AaTh/ATU 277: J Frösche bitten um einen König. ⫺ 1,21 ⫽ ATU 299: The Mountain Gives Birth to a Mouse. ⫺ 1,23 ⫽ AaTh/ATU 70: J Hasen und Frösche. ⫺ 1,26 ⫽ AaTh/ATU 285 D: cf. J Feindschaft zwischen Tieren und Mensch. ⫺ 1,27 ⫽ AaTh/ATU 60: J Fuchs und Kranich. ⫺ 1,31 ⫽ AaTh/ATU 277 A: Der aufgeblasene J Frosch. ⫺ 1,40 ⫽ AaTh/ATU 293: J Magen und Glieder. ⫺ 1,42 ⫽ AaTh/ATU 162: J Herr sieht mehr als der Knecht. ⫺ 1,43 ⫽ AaTh/ATU 50 A: Fußspuren vor der J Löwenhöhle. ⫺ 1,44 ⫽ AaTh 41*/ATU 41: J Wolf im Keller. ⫺ 1,56 ⫽ AaTh/ATU 201: Der freie J Wolf (Hund). ⫺ 1,62 ⫽ AaTh/ATU
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1333: Der lügenhafte J Hirt. ⫺ 1,76 ⫽ AaTh/ATU 1566 A*: Maids Must Rise Even Earlier. ⫺ 1,77 ⫽ AaTh/ATU 214*: J Esel und Pferd. ⫺ 1,81 ⫽ AaTh/ ATU 247: cf. Die schönsten J Kinder. ⫺ 1,82, 1,100 ⫽ AaTh/ATU 298 C*: J Baum und Rohr. ⫺ 1,84 ⫽ AaTh/ATU 280 A: J Grille und Ameise. ⫺ 1,88 ⫽ AaTh/ATU 276: J Krebs und seine Jungen. ⫺ 1,89 ⫽ AaTh/ATU 298: J Streit zwischen Sonne und Wind. ⫺ 1,90 ⫽ AaTh/ATU 214 B: J Esel in der Löwenhaut. ⫺ 1,94 ⫽ AaTh/ATU 179: Was der J Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert. ⫺ 2,5 ⫽ AaTh/ATU 1331: J Neidischer und Habsüchtiger. ⫺ 2,11 ⫽ AaTh/ATU 1342: J Heiß und kalt aus einem Mund. ⫺ 2,21 ⫽ AaTh/ATU 105: J Listensack des Fuchses. ⫺ 2,28 ⫽ Palme belehrt Kürbis (Dicke/Grubmüller, num. 369). ⫺ 2,64 ⫽ cf. AaTh/ATU 846: J Gott und Teufel auf Wanderschaft. ⫺ 2,84 ⫽ AaTh/ATU 330: J Schmied und Teufel. ⫺ 2,98 ⫽ AaTh/ATU 80: J Igel im Dachsbau. ⫺ 3,25 ⫽ AaTh/ATU 335: J Boten des Todes. ⫺ 3,39 ⫽ AaTh/ATU 838: J Sohn am Galgen. ⫺ 3,44 ⫽ AaTh/ATU 161: J Augenwinken. ⫺ 3,48 ⫽ AaTh/ ATU 910 E: J Schatz im Weinberg. ⫺ 3,51 (2) ⫽ AaTh 778, 1553 A*/ATU 778: Geloben der großen J Kerze. ⫺ 3,53 ⫽ AaTh/ATU 845: Der J Alte und der Tod. ⫺ 3,66 ⫽ Mot. J 281.1: Löwin hat nur ein Jungtier. ⫺ 3,72 ⫽ AaTh/ATU 729: Die goldene J Axt des Meermannes. ⫺ 3,73 ⫽ AaTh/ATU 59: J Fuchs und saure Trauben. ⫺ 3,76 ⫽ cf. AaTh/ATU 275 A: cf. J Wettlauf der Tiere. ⫺ 3,83 ⫽ ATU 1394: Polygynist Man Loses His Beard. ⫺ 3,88 ⫽ ATU 1920 J: J Lügenbrücke. ⫺ 3,90 ⫽ cf. AaTh/ATU 1339 D: J Speisen unbekannt. ⫺ 3,91 ⫽ AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer. ⫺ 3,92 ⫽ AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt. ⫺ 3,93 ⫽ AaTh/ATU 100: Der singende J Wolf ⫹ AaTh/ATU 101: Der alte J Hund. ⫺ 3,94 ⫽ ATU 910 N: The Magic Box. ⫺ 3,96 ⫽ AaTh/ATU 1592: J Mäuse fressen Eisen. ⫺ 3,97 ⫽ AaTh/ATU 295: J Strohhalm, Kohle und Bohne. ⫺ 4,1 ⫽ cf. AaTh/ATU 61 A ⫹ AaTh/ATU 20 D*: J Fuchs als Beichtvater. ⫺ 4,2 ⫽ AaTh/ATU 62: J Friedensfabel. ⫺ 4,4 ⫽ AaTh/ATU 1540: J Student aus dem Paradies (Paris). ⫺ 4,7 ⫽ AaTh 68**/ATU 48*: cf. Die schönsten J Kinder. ⫺ 4,14 ⫽ AaTh/ ATU 1804: J Scheinbuße. ⫺ 4,19 ⫽ AaTh/ATU 1373 A: Die schwache J Esserin. ⫺ 4,20 ⫽ Jude wird trotz königlichem Schutz entführt (Tubach, num. 2799); cf. AaTh/ATU 960: J Sonne bringt es an den Tag. ⫺ 4,31 ⫽ AaTh/ATU 1836: The Drunken Parson. ⫺ 4,34 ⫽ Wolf erzählt Fuchs von der alten Zeit und wird dabei von einem Jäger unterbrochen (Dicke/Grubmüller, num. 608). ⫺ 4,46 ⫽ Mann wird auf dem Sterbebett vom Leben nach dem Tod überzeugt (Mot. V 311.1). ⫺ 4,49 ⫽ Fuchs erklärt Wolf, wie Menschen Pelze tragen (Dicke/Grubmüller, num. 609). ⫺ 4,52 ⫽ ATU 910 L: J Fliegen sollen nicht vertrieben werden. ⫺ 4,55 ⫽ Hund hat nicht genug Geld, um Koch Würste abzukaufen (Dicke/ Grubmüller, num. 303). ⫺ 4,56 ⫽ Hase und Luchs
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wehren sich auf dem Weg zur Hochzeit des Fuchses nicht gegen den Jäger (Dicke/Grubmüller, num. 191). ⫺ 4,57 ⫽ Zwei Esel reiben sich an einem Eichenbaumstamm, um Mücken fernzuhalten (Dicke/ Grubmüller, num. 103). ⫺ 4,71 ⫽ AaTh/ATU 1362: J Schneekind. ⫺ 4,77 ⫽ AaTh/ATU 50: Der kranke J Löwe. ⫺ 4,79 ⫽ Hecht entwischt Fischer und verspottet Krebs, der nicht entkommen kann (Dicke/ Grubmüller, num. 264). ⫺ 4,81 ⫽ AaTh 1366 A*/ ATU 1375: J Pantoffelhelden. ⫺ 4,82 ⫽ AaTh/ATU 754: J Glückliche Armut. ⫺ 4,84 ⫽ AaTh/ATU 1833 D: cf. J Katechismusschwänke. ⫺ 4,86 ⫽ AaTh/ ATU 1853: J Müllerschwänke. ⫺ 4,88 ⫽ cf. AaTh/ ATU 227*: cf. J Überreden zum Sprechen, Singen etc. ⫺ 4,90 ⫽ AaTh/ATU 1288: J Beinverschränkung. ⫺ 4,95 ⫽ AaTh/ATU 774 D: J Petrusschwänke. ⫺ 4,99 ⫽ AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn. 1
Ausführliche Darstellungen bei Milchsack, G.: Burkard W. Nebst einem Anh.e: Ein Lobspruch der alten Deutschen von Burkhard W. Halle 1881; Tittmann, J.: B. W.’ Leben und Schr. In: Esopus von B. W. 1. ed. id. Lpz. 1882, V⫺LXIII; Reich, A.: B. W. In: Dt. Dichter der frühen Neuzeit (1450⫺ 1600). Ihr Leben und Werk. ed. S. Füssel. B. 1993, 377⫺388. ⫺ 2 Napiersky, C. E.: B. W. In: Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Ehst- und Kurland’s 8 (1857) 330⫺336 (durch W. erstelltes Münzgutachten). ⫺ 3 W., Burkhard: Der verlorene Sohn. Druck o. O. 1527. ed. G. Milchsack. Halle 1881. ⫺ 4 cf. im Überblick Tittmann (wie not. 1) XXXV⫺LIV. ⫺ 5 cf. W., B.: Streitgedichte gegen Herzog Heinrich den Jüngern von Braunschweig (1542). ed. F. Koldewey. Halle 1883. ⫺ 6 Hotzwart, M.: Eicones cvm brevissimis descriptionibvs. Straßburg 1573. ⫺ 7 „Das Päpstisch Reich“ (1555) nach dem „Regnum Papisticum“ von Thomas Naogeorgus, im Auftrag des Landgrafen Philipp; „Summarien vber die gantz Bibel“ (1556) nach Rudolf Gualthers „Argumenta in S. Biblia“. ⫺ 8 cf. Ries, K.: Die Bearb. des Teuerdank durch B. W. Diss. (masch.) Heidelberg 1921 cf. Jb. der Phil. Fakultät der Univ. Heidelberg (1920/21) t. 1, 38⫺40. ⫺ 9 W., B.: Der Psalter Jn Newe Gesangs weise vnd künstliche Reimen gebracht. Ffm. 1553; cf. Wackernagel, P.: Das dt. Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jh.s […]. Lpz.1870, num. 744⫺791 (Teiled. von W.’ Psalter); cf. Horn, M.: Der Psalter des B. W. Ein Beitr. zur Geschichte des dt. Kirchenliedes im 16. Jh. Halle 1911. ⫺ 10 cf. im Überblick Rehermann, E. H./Köhler-Zülch, I.: Aspekte der Gesellschafts- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, Nathanael Chytraeus und B. W. In: Hasubek, P. (ed.): Die Fabel. B. 1982, 27⫺42. ⫺ 11 cf. Lieb, L.: Erzählen an den Grenzen der Fabel. Studien zum Esopus des B. W. Ffm. 1996, 277⫺ 325. ⫺ 12 cf. Thoen, P.: Aesopus Dorpii. Essai sur l’E´sope latin des temps modernes. In: Humanistica Loviniensia 19 (1970) 241⫺316. ⫺ 13 cf. Lieb (wie
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Waldkauf ⫺ Wallfahrt
not. 11) 36⫺42. ⫺ 14 Zu narratologischen Aspekten id. (wie not. 11). ⫺ 15 cf. ibid.; W., B.: Esopus. 400 Fabeln und Erzählungen nach der Erstausgabe von 1548. ed. L. Lieb/J. Mohr/H. Vögel. B./N. Y. 2011. ⫺ 16 cf. id.: Esopus 1⫺2. ed. H. Kurz. Lpz. 1862; Stiefel, A. L.: Zu den Qu.n des ,Esopus‘ von B. W. In: ArchNSprLit. N. S. 9 (1902) 249⫺279; id.: Über den Esopus des B. W. In: Studien zur vergleichenden Lit.geschichte 3 (1903) 486⫺495; Martens, E.: Entstehungsgeschichte von B. W.’ Esop. Göttingen 1907; zuletzt Kipf, J. K.: Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienlit. im dt. Sprachraum. Stg. 2010, 485⫺ 501. ⫺ 17 Einige Schwänke von Michael Lindener (Schwankbücher: Rastbüchlein und Katzipori 2. ed. K. Heidemann. Bern u. a. 1991, Reg. s. v. W.) und Martin Montanus (cf. Montanus/Bolte, XIV sq.) zeigen motivische Parallelen, es überwiegen aber die Abweichungen. ⫺ 18 cf. Lieb (wie not. 11) 244. ⫺ 19 Eine erste Auswertung von Wolgemuths Slg ibid., 218⫺234. ⫺ 20 cf. Vignau-Wilberg, T.: Die Fabelradierungen von Christoph Murer. In: Beitr.e zur Kunst des 17. und 18. Jh.s in Zürich. ed. Schweiz. Inst. für Kunstwiss. Zürich 1978, 7⫺28. ⫺ 21 „Schreiben, eine Nachricht vom Burkhard von W., und das Lob desselben betreffend“. In: [Gemmingen, F. von]: Briefe nebst andern Poetischen und Prosaischen Stücken. Ffm./Lpz. 1753, 79⫺84. ⫺ 22 [Eschenburg, J. J.]: „Ueber den Burcard W.“ In: Unterhaltungen 4,5. Hbg 1767, 933⫺942. ⫺ 23 cf. Meyen, F.: Bremer Beiträger am Collegium Carolinum. Braunschweig 1962, 130⫺164. ⫺ 24 cf. Mohr, J.: Gnomologie und Histörchen. Zur Rezeption von B. W.’ „Esopus“ im 18. Jh. In: Rose, D. (ed.): Europ. Fabeln des 18. Jh.s. zwischen Pragmatik und Autonomisierung. Traditionen, Formen, Perspektiven. Bucha bei Jena 2010, 55⫺82. ⫺ 25 Die meisten der Fabeln 1,1⫺3,83 sind bei Dicke/Grubmüller verzeichnet, cf. ibid., Reg. s. v. W.; cf. Lieb (wie not. 11) 276⫺325; W. (wie not. 15).
München
Jan Mohr
Waldkauf J Holzkauf
Wales J Großbritannien
Wallfahrt 1. Allgemeines ⫺ 2. Geheiligter Ort und numinose Kultobjekte ⫺ 3. Soziale Begehungsformen ⫺ 4. Pilger und W.svollzüge
1 . All ge me in es. W. oder Pilgerfahrt ist im Christentum die kultische Begehung eines Ablaß-, Heiltums- oder Gnadenortes durch ein-
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zelne Gläubige oder Pilgergruppen in Prozessionen. Sie beinhaltet meist eine Reise, umschließt aber, bezogen auf die Kultformen, auch in weitestem Sinne alle außerliturgischen Verehrungsweisen bes. Andachtsplätze großstädtischer Kirchenvielfalt1. Im Judentum war W. zunächst die Reise nach Jerusalem; nach der Tempelzerstörung wurde als religiöser Brauch einzelner erst nach dem Sechs-TageKrieg (1967) die Klagemauer zum zentralen W.sort in Jerusalem. In Israel verfestigte sich daneben die W. zu den Heiligengräbern in Hebron und Bethlehem zu einem Massenphänomen2. Der christl. Begriff der Pilgerschaft (peregrinatio) gilt in der Regel den entlegenen Zielen der ma. Christenheit (wie Jerusalem, Santiago de Compostela, Rom) im Gegensatz zum concursus populi (ma. ,geläuff‘), dem Wallen in der Bitt- oder Himmelfahrtswoche, oder dem Fortbewegen in großer Zahl (bair.: Kirchfahrt) zu regionalen und lokalen Heiligtümern oder Stationsplätzen bei Umgängen. Im Islam ist jeder Gläubige verpflichtet, einmal im Leben die Pilgerfahrt nach Mekka (arab. hø a¯gˇgˇ) auf sich zu nehmen3. Die wichtigste Pilgerstätte des Hinduismus ist Benares, die am Ganges gelegene Stadt S´ivas. Buddhist. Pilgerorte werden mit Schlüsselstationen im Leben des Gautama J Buddha verknüpft. In jüngerer Zeit erhält die W. auch touristische, sportliche oder therapeutische Bedeutung (bes. Santiago)4. In säkularisierter Form haben Gedächtnisorte ,legendärer‘ Persönlichkeiten den Charakter einer Kult- bzw. W.sstätte5. Im folgenden wird die christl. W. als narratives Motiv behandelt. Das Phänomen W., Pilgerschaft, Wallen zu hl. Orten lebt in bes. Weise von konstituierenden Erzählüberlieferungen. Es besteht aus einer Konzentration beständig erzählter Existenz, die immer neues Erzählen von wundersamen Dingen generiert. W.sorte sind daher mehr als bloß bes. gefeierte Erinnerungsstätten, sondern ⫺ erzähltheoretisch gesprochen ⫺ Plätze der andauernden fiktionalen Überhöhung frommer Hoffnungen und tatsächlicher Glaubenserfahrungen. Die Besonderheit des Ortes, z. B. die Erwartung, ,hier ist Maria gnädig‘, theol. genauer: ,hier ist die Vermittlung ihrer Fürsprache psychol. direkter möglich‘, stimuliert zu hilfreicher Nachfolge in der Gemeinschaft verwandter Beter.
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Wallfahrt
2 . G eh ei li gt er Or t u nd nu mi no se Kul to bj ek te. Ursprung aller W.en sind J Gründungssagen oder Verortungen (J Lokalisierung) von J Kultlegenden, die sich an unterschiedlichen Verehrungsobjekten festmachen können (J Blutwunder; J Heiligenbild; J Hostie, Hostienwunder; J Märtyrer; J Mirakel; J Reliquie). Damit sind Naturdinge (Baum, Stein, Quelle; cf. J Quellwunder), Erinnerungsreste (Kirchbau, Grabstätten, Plastiken, Gemälde, Strafexempel, Frevlersagen [J Frevel, Frevler]; verletztes Kultbild, cf. J Jude, Judenlegenden, Kap. 3⫺5), Erscheinungsorte (J Vision, Visionsliteratur), Engelweihe, himmlischer Transport, Stromlegende (J Schwemmwunder), J wegweisende Tiere (J Gespannwunder), Rast- und Rückkehrlegenden benannt, kaum aber speziell begabte oder veranlagte Persönlichkeiten wie Hirten und Hütekinder, die Erscheinungen oder Finderglück hatten6. Die kultgeschichtlichen Hintergründe sind ebenfalls nur selten ausgelotet: Die W.skirche Vierzehnheiligen in Oberfranken und ihr ,Kinderkranz‘ spiegeln die Ikonographie der J Vierzehn Nothelfer optisch nicht7; bei den sakramentalen Blutwundern ist der Entstehungszusammenhang von Legenden aus vergessenen liturgischen Bestimmungen so gut wie nie gesehen worden8; gleiches gilt für das Phänomen der Wandlung von der Sage zur Legende mit Kultbegründung9. Hierfür lassen sich Beispiele in der umfangreichen sekundären W.sliteratur, den ikonographischen Studien der Kunstgeschichte, den liturgiewiss. orientierten J Frömmigkeitsforschungen finden, ohne daß dies in die Kataloge der Erzählforscher systematisch eingegangen ist10. Einen ersten Überblick über das in Exempelsammlungen vorhandene Material leisten die Registerstichworte bei F. C. J Tubach11. Hauptgegenstände der Verehrung sind neben den schon genannten Phänomenen Realien, die sich auf J Christus, J Kreuz und J Kruzifix (oder deren Umwandlung in Legenden: ATU 706 D: J Kümmernis; J Veronika) sowie J Heilige in ihren J Gräbern, J Reliquien und Bildern beziehen, wobei Maria erst mit der kathol. Reform seit dem Konzil von Trient (1545⫺63) deren Vielzahl ablöste und die Hauptfigur aller W.en wurde. Das eigene Territorium zu einer terra sancta zu machen, hieß u. a., es in den orbis Marianus einzupas-
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sen, der auch literar. aus Hunderten von Orten mit entsprechenden lokalen Legenden bestand. Deren Sammlung für regionale Heilige und ihre Verehrung führte zu Werken wie der Bavaria sancta12. Der ma. Legendenschatz Mariens ist voll in die Neuzeit tradiert worden, so daß ihre ortsgebundene Verehrung seit dem 19. Jh. durch das Erzählmotiv visionärer Erscheinungen und die Erfolgsstatistiken sog. Heilungswunder (J Wunderheilung) sogar für W. schlechthin stehen konnte. Für das 17. Jh. hat W. Gumppenberg einen Atlas Marianus entworfen13. Die Kultpropaganda fand schon immer durch das öffentliche Registrieren von Mirakeln in geschriebenen, gemalten und gedr. Texten ihren Ausdruck, so daß deren systematische Auswertung gute Auskunft über Kultintensität und geogr. Kultausstrahlung erlaubt14. Dabei lassen sich zwei Darstellungsweisen unterscheiden: die bildlich dokumentierte W.sbeglaubigung durch Erstwunderdarstellungen im Zusammenhang einer in Reihenbildern illustrierten (comicartigen) Entstehungsgeschichte auf Einblatt- und Flugblattdrucken oder Wand- und Tafelgemälden, genannt Mirakelbilder, als Bildkatechese und die rein schriftl., sehr oft im Druck als Textsammlung publizierte J Mirakelliteratur. Der visuelle Darstellungstypus der gefelderten Erzählweise um den Mittelpunkt eines Gnadenbildes bildete das bis ins 20. Jh. lebendig gebliebene druckgraphische Kleinformat der vorzutragenden Werbeart ,geistlicher Bänkelsang‘ auf W.smärkten (J Bildquellen, -zeugnisse, Kap. 5). Zu beachten bleibt weiterhin, daß das Mirakel in nachma. Zeit ein kathol. Begriff wurde, der auf W.serhörungen bezogen ist. Die protestant. Seite hat das Phänomen zwar als ein reales nicht in Abrede gestellt, aber für ein teuflisches zur Verwirrung der Gläubigen gehalten. In der Kontroversliteratur wurde breit darüber gehandelt, ob und warum in nachbibl. Zeit keine Mirakel mehr begegnen können und also die der kathol. W.en Blendwerke des Satans sein müssen15. Kathol. Prediger hingegen wußten für die W. zu werben16. 3 . S oz ia le Be ge hu ng sf or me n. Als Peregrinus wurde der reisende Fremde bezeichnet, der im röm. Recht unter bes. Schutz gestellt
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war. Im Christentum sollte dieser Schutz dem Pilger wegen seines frommen Anliegens und des damit verbundenen Pilgersegens und Pilgerzeugnisses ebenfalls zukommen, doch war im Spätmittelalter und erst recht mit der Reformation die stereotype Gestalt des ,Jakobsbruders‘ wenig geachtet und mit Vorurteilen bedacht, weil für einen Streuner und Clochard angesehen (J Jakobspilger). Sein positives Urbild, der auch geistige homo viator, der Mensch auf dem Weg durch die Welt zu Gott, blieb verkörpert in den ir. Wandermönchen der europ. Missionsepoche. Strafwallfahrten an z. T. mehrere entfernte Orte in Europa wurden nicht selten als Bußauflage gerichtlich verordnet; sie konnten aber auch gegen hohe Kosten durch Ersatzleute absolviert werden17. ,Pflichtprozessionen‘ als jährliche Gemeinschaftswallfahrten dienten hingegen der rechtlichen Vergewisserung von grundherrlichen Abhängigkeiten im Klosterwesen oder von hochstiftischen Kirchenzugehörigkeiten. Für deren Anlässe und Bestätigungen gab es einst reichliche mündl. Überlieferungen. Sie sind zu Aufklärungszeiten gegen W.sverbote oft als für verbindlich behauptete Gelübdevollzüge ausgegeben worden, wenn Ursprungslegenden kein Gehör mehr fanden18. Im Hochmittelalter wurde die Beteiligung an J Kreuzzügen der Pilgerschaft nach Jerusalem gleichgesetzt, ja als überlegen angesehen, ,das Kreuz nehmen‘ schloß mithin ein, den Tod im Heiligen Land als direkten Weg in die Seligkeit zu begreifen. Aus dem MA. sind Itinerarien, ma. Wegebeschreibungen über Pilgerreisen vornehmlich nach Jerusalem, erhalten19. Die Gestalt des Pilgers begegnet in der höfischen Lit. des MA.s (J Tannhäuser) und im geistlichen Schauspiel der Barockzeit20, des Ritterdramas im 18. Jh.21 und der nachaufklärerischen Dichtung des 19. Jh.s22. Einzelne Phänomene daraus sind in die volkstümliche Erzählüberlieferung eingegangen oder aus ihr in die Lit. übernommen worden (cf. auch J Chaucer, Canterbury Tales): der rasche Wunderflug aus dem Heiligen Land (J Luftreisen)23, die Rückkehr nach langer Zeit (AaTh/ATU 974: J Heimkehr des Gatten)24, der prüfend verkleidete Heimkehrer25, der falsche, sich nur verstellende (unkeusche) Pilger (cf. J Tristan und Isolde; AaTh/ATU 888: Die treue J Frau;
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AaTh/ATU 20 D*: cf. J Tiere fressen einander; AaTh/ATU 113 B: J Scheinbüßende Tiere)26, Gelübdeerfüllung post mortem (AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger) und dankbare Tote27 sowie die von Andersgläubigen genarrten Wallfahrer28. W.en bilden mitunter den handlungsauslösenden Rahmen von Erzählungen (AaTh/ATU 1617: J Kredit erschwindelt), oder ihre Protagonisten befinden sich auf Pilgerfahrt (AaTh/ATU 1626: J Traumbrot)29. Hierzu gehören aber auch ausgesprochene Gegenpropaganda zur W. als Tummelplatz des Satans und der Teufelsmirakel30, verächtliche Hinweise in protestant. Schwankliteratur aufgrund konfessioneller Spannungen zwischen Geistlichkeit und Kirchenvolk31 und Erzählungen über dumme Leute wie die betrunkene Pilgerin, die meint, das Gnadenbild umkreise diesmal sie32, sowie andere Geschichten von Kirchfahrten33. Die ländlichen W.en und Bittgänge das Jahr über waren Anlaß für jegliche Art von erzählenswerten Begebenheiten im Dorf 34. 4 . P il ge r u nd W. sv ol lz üg e. Fernpilger der Vergangenheit und Wallfahrer der regionalen und lokalen Gemeinschaftsprozessionen sowie der modernen Pilgerzüge unterschieden sich in Aussehen und Habitus. Der Regenumhang heißt heute noch Pellerine35. Pilgerstab mit Pilgerflasche und Umhängetasche gehörten zum vollständigen Bild36, vor allem aber der Pilgerhut mit den Pilgerzeichen, die Bestätigungssiegel für das Erreichen des Zieles darstellten. Ihre Gestaltung bestand aus emblematischen Hinweisen auf hl. Personen, außerordentliche Kultobjekte und bisweilen die danach erzählbare Ursprungsgeschichte des Ortes: das Mandylion oder Veronikahaupt Christi aus St. Peter in Rom, die Muschel der Jakobspilger, die Engelweihe in Einsiedeln, das Hemd Mariens in Aachen, die drei Wunderhostien von Wilsnack etc.37 Teilweise wurden J Gelübde abgelegt, eine bestimmte W. anzutreten, und dies bisweilen unter erschwerenden Bedingungen. Diese machten Schwänke gerne verächtlich: z. B. wenn von Erbsen in den Schuhen die Rede ist, allerdings von gekochten38, oder mit absurden Schlüpfrigkeiten das sog. Nacktwallfahren karikiert wird, das üblicherweise barfuß und nur mit Hemd stattzufinden hatte. So hebt in einer
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nachma. Schwankerzählung eine Frau bei Regen ihren Rock über den Kopf und zieht dabei das Hemd mit hoch, wobei ihr Hinterteil frei wird; doch der nachfolgende Ehemann macht sie nicht darauf aufmerksam, sondern erklärt, er habe dies für ein Gelübde gehalten (AaTh/ ATU 1230*: The Pilgrimage Vow)39. Wenn auf einer W. die erhoffte Hilfe schon unterwegs eintrat, konnte die vorzeitige Umkehr zu einem bekehrenden Strafexempel führen: Als ein blinder Pilger die nahe W.skirche erblickt und daraufhin als schon geheilt umkehrt, verliert er zunächst das Augenlicht wieder; zur Buße läßt er an der Stelle eine Dankeskapelle für die endgültige Heilung erbauen40. Der Prediger Johannes J Pauli lästerte über einen Jakobspilger, der schon nach wenigen Meilen zu seiner Liebsten umkehrte41. Auch eine willentlich versäumte W. zieht Strafe nach sich: Ein Bauer, der nicht mit der Prozession nach Freising gehen will, verliert seinen Fuß, den dann sein Hund bis in den Dom trägt42. Ortschaften stiften Riesenkerzen und hoffen durch deren ständiges Brennen auf helfende symbolische Nähe. Von gemeinschaftlichen Weihungen erzählen Bildtafeln für die Rettung aus Kriegsgefahr oder vor Unwetter und unterstreichen damit die Bitt- und Dankvotationen der repräsentativen Kerzenaufstellungen. Dies gilt nicht minder für den einzelnen Wallfahrer, seine Familie, sein gesamtes Hab und Gut, voran die Viehbestände43. Diese Form der Anheimstellung unter den Schutz himmlischer Mächte, die sich am W.sort in bes. Weise manifestieren, bildet die optische Schilderung der in den Mirakelberichten textlich dokumentierten Erhörungen. Jedes Einzelschicksal stellt eine unerhörte Geschichte dar, die in beiden Präsentationsweisen das folgende Schema spiegelt: bes. Anliegen genau gekennzeichneter Personen, eventuell unterstützt durch nonverbale Hinweise (Votive in Form von Figuren, Körperteilen, symbolischen Zeichen); Weihe (Votation), d. h. vertrauensvolle Anheimstellung unter den Schutz der vor Ort verehrten himmlischen Helfer, dargestellt in ihrer ikonographisch erkennbaren Identität; Erhörung der Bitten (bildlich oft wiedergegeben durch Gnadenstrahlen); dankbare Veröff. mit Datumsangabe (Promulgation) in Form eines gemalten Ex-Votos und/oder der schildernden
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Meldung bei der Geistlichkeit und Hinterlassung eventueller corpora delicti oder überflüssig werdender gegenständlicher Hilfsmittel. Diese formale Struktur narrativer Berichterstattung ist in nachaufklärerischer Zeit meist einer verhalteneren Mitteilungsart gewichen. ,Eine gewisse Person hat sich verlobt‘ oder schließlich nur noch ,Maria hat geholfen‘ deuten auf solche pastoral erwünschten Schwundstufen hin. Spezielle Heilige und bes. Kultobjekte, die an W.sorten verehrt wurden oder werden, bleiben auch außerhalb der W. zumindest optisch im allg. Devotionalienangebot präsent, wozu insbesondere die christl. J Amulette zählen. Ma. Pilgerzeichen wurden in nachma. Zeit durch Medaillen abgelöst, die nicht mehr am Hut, sondern um den Hals zu tragen waren wie die Agnus Dei44, Skapuliere und Breverln samt deren eingewickelten J Segen und Schutzzetteln45. W.en waren beliebte Ausgabeund Vertriebsorte für derlei echte Sakramentalien zum Verschreiben an die himmlischen Mächte oder für superstitiöse Hoffnungen mit Hilfsersuchen bei der unterirdischen Gegenwelt. Für beides gab es anpreisende und abschreckende Erzählungen, die sich in der barocken Exempelliteratur finden46. 1
Schreiber, G. (ed.): W. und Volkstum in Geschichte und Leben. Düsseldorf 1934; Kötting, B.: Peregrinatio religiosa. W.en in der Antike und das Pilgerwesen in der alten Kirche. Münster 1950; Bibliogr. Pe`lerinage Rhin-Meuse. Köln 1982; Kriss-Rettenbeck, L./ Möhler, G. (edd.): W. kennt keine Grenzen. Ausstellungskatalog Mü. 1984; Cracco, G. (ed.): Per una storia dei santuari cristiani d’Italia. Bologna 2002; Herbers, K./Plötz, R.: Jakobus-Studien 1⫺18. Tübingen 1988⫺2009; Kühne, H. u. a.: Europ. W.sstudien. Ffm. 2006 sqq. ⫺ 2 Böhl, F.: W./W.swesen 4. In: TRE 35 (2003) 421⫺423. ⫺ 3 Wensinck, A. J./ Jomier, J./Lewis, B.: H ø a¯d j d j. In: EI2 3 (1979) 31⫺ 38. ⫺ 4 cf. z. B. Gerndt, H.: Vierbergelauf. Gegenwart und Geschichte eines Kärntner Brauchs. Klagenfurt 1973; MacLaine, S.: The Camino. A Journey of the Spirit. N. Y. 2000; Kerkeling, H.: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg. Mü. 2006. ⫺ 5 Krüger, O. u. a.: W./W.swesen 1⫺3, 5⫺6. In: TRE 35, 408⫺421, 423⫺435. ⫺ 6 Schmidt, L.: Hirtenmotive in W.sgründungslegenden. In: Festschr. N. Grass. Innsbruck 1975, 199⫺218. ⫺ 7 Dünninger, J.: Die W.slegende von Vierzehnheiligen. In: Festschr. W. Stammler. B. 1953, 192⫺205. ⫺ 8 Brückner, W.: Liturgie und Legende. Zur theol. Theorienbildung und zum hist. Verständnis von Eucharistiemirakeln. In: Jb. für Vk., N. F. 19 (1996)
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139⫺168. ⫺ 9 Fischer, H.: Die Begründung der W. zur Schmerzhaften Mutter in Bödingen. Von der „Sage“ zur „Legende“. In: Heimatbll. des RheinSieg-Kreises 76 (2002) 7⫺25. ⫺ 10 cf. Krüger (wie not. 5); EM 6, 680 sq. ⫺ 11 Tubach, Reg. s. v. Pilgrim, Pilgrimage. ⫺ 12 Rader, M.: Bavaria Sancta 1⫺3. Mü. 1615/24/27 (Dillingen 1704; dt. Straubing 1860). ⫺ 13 Gumppenberg, W.: Idea Atlantis Mariani. Trient 1655; id.: Atlas Marianus sive Imaginibus Deiparae per orbem Christianum Miraculosis. Ingolstadt 1657 (dt. von M. Wartenberg 1673); Scherer, H.: Atlas novus. Dillingen 1702. ⫺ 14 cf. Tüske´s, G./Knapp, E.: Mirakellit. als sozialgeschichtliche Qu. barockzeitlichen W.swesens in Ungarn. In: SAVk. 74 (1988) 79⫺103. ⫺ 15 Deneke, B.: Zu einer Polemik gegen ndd. W.en. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 8 (1961) 120⫺122; Brückner, 154 sq. (Luthers und Goltwurms Wunderzeichen), 424 (acht Teufelsexempla). ⫺ 16 MoserRath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 1, 14, 65, 144, 180⫺184, 205. ⫺ 17 cf. Wickram/Bolte, num. 1 (gelobte W. wird durch einfältigen Vertreter vollzogen, der St. Veit persönlich sucht). ⫺ 18 Brückner, W.: Die Verehrung des Hl. Blutes in Walldürn. (Diss. Ffm. 1956) Aschaffenburg 1958, 182⫺186 (Beispiele für angebliche Pestgelübde). ⫺ 19 Hippler, C.: Die Reise nach Jerusalem. Unters. zu den Qu.n, zum Inhalt und zur literar. Struktur der Pilgerber.e des SpätMA.s. Ffm. 1987; Huschenbett, D.: Pilgerber.e über Palästinareisen. In: Verflex. 7 (1989) 687⫺696. ⫺ 20 cf. Foster, N.: Die Pilger. Reiselust in Gottes Namen. Ffm. 1982 (ma. engl. Qu.nmaterial); Amery, C.: Die Wallfahrer. Mü. 1986 (aus bayer. Barock- und Gegenwartsqu.n). ⫺ 21 Brahm, O.: Das dt. Ritterdrama des 18. Jh.s. Straßburg 1880, 163 (mit 16 Nachweisen). ⫺ 22 Schreiber (wie not. 1) 90⫺124. ⫺ 23 Das Viaticum narrationum des Hermannus Bononiensis. ed. A. Hilka. B. 1935, num. 61. ⫺ 24 Ruland, J.: Die Sage von der Rückkehr aus dem Hl. Land als Geschlechtersage in der Eifel. In: Bonner Jbb. 155⫺156 (1955/ 56) 215⫺228; Kretzenbacher, L.: Jakob der Heimkehrer. Eine obersteir. Pilgerlegende. In: Steir. Bauernkalender (1951) 97⫺100. ⫺ 25 Lares 15 (1949) 158⫺169 (Heimkehr nach 7 Jahren). ⫺ 26 Anthropophyteia 2 (1905) 297 sq.; Leydi, R./Sanga, G.: Como e il suo territorio. Mailand 1978, 644, num. 56. ⫺ 27 Müller/Röhrich, num. K 1; Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg 1977, num. 20 (W. nach dem Tod in Gestalt einer Kröte); Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Mündl. Text aus dem Siegraum. Köln 1978, num. 729, 758. ⫺ 28 cf. Les Contes du Sieur d’Ouville 1. Amst. 1732, 226⫺229 (Kalb als Gespenst), 251⫺253 (Bett hochgezogen). ⫺ 29 cf. allg. ATU, Reg. s. v. Pilgrim, Pilgrimage, Pilgrims. ⫺ 30 Brückner, Reg. s. v. W., W.sgelübde, W.sorte, W.sstreit, W.swunder. ⫺ 31 Moser-Rath, Schwank, 161, 168, 169; cf. Schenda, R. (unter Mitarbeit von H. ten Doornkaat): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Bern/Stg.
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1988, 19 sq. u. ö. ⫺ 32 Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus dem Burgenlande. Graz 1977, 113 sq. ⫺ 33 Kubitschek, R.: Böhmerwäldler Bauernschwänke. Wien/Prag/Lpz. 1920, 39⫺42; Böck (wie not. 27) Motivreg. s. v. W. ⫺ 34 Fischer (wie not. 27) 265⫺281 (einschließlich der ,Wunder‘ an den Gnadenorten und Qu.n der Umgebung); Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, bes. 758⫺767; cf. auch Böck (wie not. 27). ⫺ 35 Brückner, W.: Pilger, Pilgerschaft. In: LCI 3 (1971) 439⫺442. ⫺ 36 Tubach und Dvorˇa´k, num. 4585. ⫺ 37 Daxelmüller, C.: Pilgerandenken, -zeichen. In: Lex. des MA.s 6. Stg./Weimar 1999, 2154⫺2156. ⫺ 38 Kubitschek (wie not. 33) 39; Jungbauer, G.: Das Volk erzählt. Sudetendt. Sagen, Märchen und Schwänke. Karlsbad/Lpz. 1943, 324; Geiger, R.: Histoires juives. P. 1923, num. 160. ⫺ 39 Schmidt, L.: Das vermeintliche Gelübde. In: id.: Die Volkserzählung. B. 1963, 355⫺361. ⫺ 40 Brückner (wie not. 18) 215 (Entstehungslegende der Mainzer Kapelle). ⫺ 41 Pauli/Bolte, num. 213. ⫺ 42 EM-Archiv: Conlin, Narrn-Welt 5 (1709) 455; Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 50. ⫺ 43 Kriss-Rettenbeck, L.: Ex Voto. Zeichen, Bild und Abbild im christl. Votivbrauchtum. Zürich 1972; Schleich, E. und E.: Frommer Sinn und Lieblichkeit. Vom Zauber der „Schönen Arbeiten“ in Altbayern. Passau 1973; Pfistermeister, U.: Wachs. Volkskunst und Brauch 1⫺2. Nürnberg 1982/83. ⫺ 44 Brückner, W.: Christl. Amulett-Gebrauch der frühen Neuzeit. Grundsätzliches und Spezifisches zur Popularisierung der Agnus Dei. In: Frömmigkeit. Formen, Geschichte, Verhalten, Zeugnisse. Festschr. L. Kriss-Rettenbeck. Mü. 1993, 89⫺ 134. ⫺ 45 Kriss-Rettenbeck, L.: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. Mü. 1963. ⫺ 46 wie not. 42; EM 1, 477⫺479.
Würzburg
Wolfgang Brückner
Wallonen. Als W. werden die Bewohner der mehrheitlich frz.sprachigen Region Wallonien im seit 1830 selbständigen Belgien bezeichnet. Eine frühe erzählkundlich relevante literar. Qu. auf wallon. Gebiet ist die Fecunda ratis (um 1020) des J Egbert von Lüttich1. Die Anfänge der wallon. Erzählforschung liegen im 19. Jh.2 Eine der ersten Veröff.en von Erzählungen aus der mündl. Überlieferung ist der von dem Philologen A. Borgnet unter dem Pseud. Je´roˆme Pimpurniaux publizierte Band Le´gendes namuroises (Namur 1837), der auch zwei Märchen enthält. F. J Liebrecht, der 1849 nach Lüttich zog, betrachtete allerdings einzig die zeitgenössische wiss. Beschäftigung mit der Erzählüberlieferung der J Flamen als zufriedenstellend3. Im Zuge der sich entwik-
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kelnden Wahrnehmung der Volksüberlieferung durch die gebildeten Schichten veröffentlichte die 1856 gegründete Soc. lie´geoise de litte´rature wallonne auch einige versifizierte Volkserzählungen4. Der Mediävist G. Kurth war einer der ersten, der sich im wallon. Sprachgebiet für die Erforschung des ,ursprünglichen Erbes der menschlichen Einbildungskraft‘ einsetzte5. Seine langjährigen Bemühungen bereiteten den Weg für die Gründung der Soc. du folklore wallon (1889), deren erster Präsident der klassische Philologe und Sanskritist E. Monseur war6. Im Zuge ihrer Sammelaktivitäten verteilte die Ges. 1891 an ihre 129 Mitglieder einen Fragebogen (Questionnaire de folklore). Dieser war in Abschnitte mit insgesamt 1859 Einzelartikeln aufgeteilt, von denen einige als Beispiele Antworten lieferten. Für den Fall, daß der Brauch des Erzählens bei abendlichen Zusammenkünften noch bestand, wurde empfohlen, die Erzählungen nach dem Diktat der Erzähler auf Wallonisch oder Französisch aufzuschreiben. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, daß das Erzählte dabei weder verschönert werden dürfe noch grobe Wörter durch schicklichere ersetzt werden sollten. Außerdem sollte möglichst erfragt werden, von wem die Erzählung stammte. Wenngleich die Ges. der Ansicht war, daß prinzipiell alles, was aus der mündl. Überlieferung komme, sammelnswert sei7, legte man keinen Wert auf Geschichten, die nachweislich aus gedr. Slgen stammten.
Als Monseur kurz darauf gebeten wurde, für die Bibliothe`que belge des connaissances modernes einen kleinen Band über Wallonien auszuarbeiten, gab er den Fragebogen in umgearbeiteter Form u. d. T. Le Folklore wallon (Brüssel 1892) neu heraus, wobei die Fragen selbst ausgelassen, die Beispiele hingegen vermehrt wurden. Die Einl. zeigt anhand kurzer Einblicke, warum es Märchen, Lieder und Volksglaubensvorstellungen verdienen, gesammelt zu werden8. Seit 1891 gab Monseur im Auftrag der Gesellschaft außerdem das für eine breitere Öffentlichkeit bestimmte Bulletin de folklore wallon heraus9. Das Bulletin behält bleibenden Wert durch die zwar nicht sehr zahlreichen, aber ausgezeichneten Dokumentationen einiger Märchen und Dummenschwänke sowie durch Monseurs Abhdlg über AaTh/ATU 780: J Singender Knochen10. Da das Bulletin z. T. als zu wiss. empfunden wurde, gründete der Lütticher Volksschulleh-
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rer O. Colson11 zusammen mit J. Defreˆcheux und G. Willame 1892 die Zs. Wallonia, die bis 1914 Bestand hatte. Die Wallonia enthielt durchaus wiss. ernstzunehmende Beiträge, publizierte aber, von Ausnahmen abgesehen, keine vergleichenden und theoretischen Studien. Im Lauf der Zeit änderte die Zs. ihren Charakter, die Volksüberlieferung verlor zugunsten der Berichterstattung über das kulturelle Leben mehr und mehr an Raum12. Seit Ende des 19. Jh.s erschienen zunehmend Slgen mit Texten aus der wallon. Volksüberlieferung, so etwa N. Warkers Wintergrün13. Der Hennegauer Volksschullehrer J. Lemoine stellte mit dem Flamen A. Gitte´e, Professor am Lütticher Atheneum, einen Band mit wallon. Volksmärchen zusammen14. Im Vorw. werden als Hauptherkunftsgebiet des gesammelten Materials die Provinzen Hennegau und Namur angeführt, wobei auch auf das Vorhandensein ähnlicher Themen in anderen Teilen Walloniens hingewiesen wird. Um das Werk für den Schulunterricht brauchbar zu machen, glätteten die Herausgeber die Texte sprachlich. A. Harou, nach H. J Carnoy ,einer der ersten aufgeklärten Freunde der Volksüberlieferung Belgiens‘15, veröffentlichte als Ergebnis einer sachkundigen Erhebung einen kleinen Band, in dem er Erzählungen ein ganzes Kapitel widmete16; darunter finden sich u. a. Geschichten aus dem Zyklus vom Fuchs, der den Wolf hereinlegt (cf. J Roman de Renart). Erzählkundlich relevante Notizen Harous finden sich auch verstreut in wallon. und frz. volkskundlichen Zss., so etwa der Zs. Le VieuxLie`ge. Ein von dem Arzt T. Delogne veröffentlichter Band über die belg. Südardennen geht auch auf das dortige Erzählgut ein17. Der Soziologe L. Banneux, ein bedeutender Sammler von Volksüberlieferungen und Autor zahlreicher Abhdlgen18, schrieb auch für Kinder. Seine Werke wurden häufig bei schulischen Preisverteilungen verschenkt. Die von ihm auf dem Land zusammengetragenen Texte sind manchmal so stark bearbeitet, daß es unmöglich ist, Züge der originären Volksüberlieferung zu identifizieren19; zudem fehlen oft Angaben zu den jeweiligen mündl. oder schriftl. Quellen sowie zum Ort der Aufzeichnung20.
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E. Polain, Mitarbeiter Monseurs an dessen Bulletin sowie Sekretär der Soc. du folklore wallon, veröffentlichte 1942 einen Band mit wallon. Märchen21. Im ersten Teil des Werks rekonstruiert er nach einer ausführlichen Einl. knapp 60 Erzählungen, die er als Kind von Dienstmädchen aus der Region Lüttich gehört hatte; der zweite, etwas umfangreichere Teil bringt detaillierte Kommentare zu jedem einzelnen Text. Der große zeitliche Abstand zum ursprünglichen Erzählereignis brachte Polain z. T. heftige Kritik ein, u. a. von den Volkskundlern M. de J Meyer22 und E. Legros (1910⫺70)23. Auch weitere Slgen wallon. Erzählungen, wie die von E. Dantinne, sind höchstwahrscheinlich sprachlich überarbeitet24. Die Arbeit von W. Marichal enthält unter den auf Wallonisch in den Hochardennen aufgezeichneten Texten vor allem Sagen, die auf Vorstellungen des Volksglaubens beruhen25. Trotz ihres dt.freundlichen Charakters gilt die Arbeit als durchaus anerkennenswert26. Der Industrielle G. Laport, der 1945 im Konzentrationslager Dachau ermordet wurde27, verfaßte einen ersten Katalog der wallon. Volkserzählung28. Wie viele frühe Indizes weist er Mängel wie Klassifizierungsfehler, falsche oder fehlende Ortsangaben, entstellende Zusammenfassungen oder fehlende Angaben zur Sprache auf 29. R. Pinon lieferte zahlreiche Zusätze zu Laports Katalog30, die ihrerseits aufgrund formaler und methodischer Mängel nicht unumstritten sind31. Pinons Verdienst ist u. a., daß er mundartliche Nachweise aus Ztgen und Almanachen anführt; dies erlaubt es gelegentlich, die ursprüngliche Version von Texten aufzufinden, die später in volkskundlichen Zss. veröffentlicht wurden32. 1
Meyers, J.: La Litte´rature latine lie´goise, de l’e´poque carolingienne a` la Renaissance. In: Bruye`re, P./ Marchandisse, A. (edd.): Florile`ge du livre en Principaute´ de Lie`ge du IXe au XVIIIe sie`cle. Lüttich 2009, 135⫺149, hier 145. ⫺ 2 Legros, E.: Les Recherches de folklore wallon. In: La Vie wallonne 33 (1959) 227⫺261, hier 237; Colson, O.: Notes et enqueˆtes. In: Wallonia 4 (1896) 15 sq., hier 15. ⫺ 3 Des Gervasius von Tilbury Otia imperialia. ed. F. Liebrecht. Hannover 1856, 173; Hock, A.: Croyances et reme`des populaires au pays de Lie`ge. Lüttich 1871 (Rez. F. Liebrecht in Göttingische Gelehrte Anzeigen [1871] 1387⫺1393). ⫺ 4 Legros (wie not. 2) 252. ⫺ 5 Kurth, G.: Le Folk-lore et les socie´te´s historiques.
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Brügge 1888, 9. ⫺ 6 Monseur, E.: Le Folklore wallon. Brüssel 1892, VII; cf. Despy-Meyer, A.: Monseur, Euge`ne. In: Nouvelle Biogr. nationale de Belgique 1. Brüssel 1988, 274⫺277. ⫺ 7 Questionnaire de folklore. Lüttich 1891, 47. ⫺ 8 Monseur (wie not. 6) XXX⫺XXXIII. ⫺ 9 Bulletin de folklore wallon 1 (1891⫺92); 2 (1893⫺95); 3 (1898⫺1909). ⫺ 10 Monseur, E.: L’Os qui chante. In: Bulletin de folklore wallon 1 (1891⫺92) 39⫺51, 89⫺149; 2 (1893⫺95) 219⫺241, 245⫺251; 3 (1898⫺1909) 35⫺49; cf. Makkensen, L.: Der singende Knochen (FFC 49). Hels. 1923, 112⫺114. ⫺ 11 Colignon, A.: Colson, Oscar. In: L’Enc. du mouvement wallon 1. Charleroi 2000, 298 sq. ⫺ 12 Legros, E.: Les Recherches de folklore wallon. L’e´poque des tentatives d’organisation. In: La Vie wallone 35 (1961) 75⫺113, hier 86⫺90. ⫺ 13 Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon 1890 (frz. u. d. T. Wintergrün. Histoires, contes et le´gendes de la province de Luxembourg. Bastogne 2003); cf. ferner id.: Sagen des luxemburg. Volkes. Aus belg. Luxemburg und dem Eischtale. Arlon 1893. ⫺ 14 Gitte´e, A./Lemoine, J.: Contes populaires du pays wallon. Gent 1891. ⫺ 15 Carnoy, H.: Avant-propos. In: Harou, A.: Contribution au folklore de la Belgique. P. 1892, V. ⫺ 16 Harou, A.: Le Folklore de Godarville (Hainaut). Antw. 1893. ⫺ 17 Delogne, T.: L’Ardenne me´ridionale belge. Brüssel 1914. ⫺ 18 Banneux, L.: L’Ardenne myste´rieuse. Brüssel 1926; id.: Le´gendaire ardennais. Brüssel 1929. ⫺ 19 Polain, E.: Il e´tait une fois … Contes populaires entendus en franc¸ais a` Lie`ge et publie´s avec notes et index. Lüttich/P. 1942, 349. ⫺ 20 Delforge, P.: Banneux, Louis. In: L’Enc. du mouvement wallon (wie not. 11) 115 sq.; Legros, E.: Banneux (Louis-Joseph). In: Biogr. nationale de Belgique 32. Brüssel 1963/64, 32⫺38. ⫺ 21 Polain (wie not. 19). ⫺ 22 Meyer, M. de: Oude en nieuwe sprookjesstudie. In: Vk. 6,2 (1947) 65⫺79, ` Propos d’une e´tude sur hier 69. ⫺ 23 Legros, E.: A le conte populaire wallon. In: Fabula 6 (1964) 1⫺54, hier 8 sq. ⫺ 24 ibid., 11; Dantinne, E.: Contes de la valle´e du Hoyoux. Huy 21951; id.: Contes du Condroz. Huy 21976; id.: Contes et le´gendes de Hesbaye. Huy 1975. ⫺ 25 Marichal, W.: Volkserzählgut und Volksglaube in der Gegend von Malmedy und Altsalm. (Diss. Bonn 1938) Würzburg 1942 (frz. u. d. T. Traditions le´gendaires et croyances populaires en Haute Ardenne. Verviers 2009). ⫺ 26 cf. La Vie wallonne 23 (1947) 187. ⫺ 27 Legros, E.: Laport, Georges. In: Biogr. nationale de Belgique (wie not. 20) t. 33 (1965) 433⫺438. ⫺ 28 Laport, G.: Les Contes populaires wallons (FFC 101). Hels. 1932. ⫺ 29 Duchesne, C.: Catalogue des contes populaires de Wallonie. Les contes merveilleux. Magisterarbeit (masch.) Lüttich 1969/70, 9⫺11; Legros, E.: Quelques Formules de contes d’animaux en Wallonie et en France. In: Les dialectes belgo-romans 10,2 (1953) 149⫺168, hier 153. ⫺ 30 Pinon, R.: Les Relations entre le conte folklorique et la litte´rature dia-
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Waltharius
lectale et re´gionaliste de Wallonie. In: Fabula 4 (1961) 20⫺80; id.: Het sagenonderzoek in Wallonie¨ en het catalogiseren van het waalse sagenmateriaal. In: Vk. 64 (1963) 171⫺177; id.: Le Conte merveilleux comme sujet d’e´tude. Lüttich 1955; id.: Le Conte. In: Lejeune, R./Siennon, J. (edd.): La Wallonie, le pays et les hommes 4. Brüssel 1981, 147 sq. ⫺ 31 Legros (wie not. 23). ⫺ 32 Duchesne (wie not. 29) 11⫺13.
Lüttich
Jean Fraikin
Waltharius, Hauptfigur einer Heldensage, die erzählt, wie W. seine Verlobte aus Geiselhaft befreit, wie beide fliehen und gegen Verfolger oder vermeintliche Verbündete kämpfen, die sich ihnen in den Weg stellen. Am ausführlichsten ist die Heldensage im lat. W. (1456 V.e, 9./10. Jh., 12 Hss.) bezeugt1. J Attila überfällt die Königreiche Franken, Burgund und Aquitanien, deren untereinander verbündete Herrscher kampflos Tribut zollen und Geiseln stellen, welche am pannon. Hof aufgezogen werden. Die burgund. Prinzessin Hiltgunt wird bald zur Vertrauten der Königin, während der Aquitanier W. und der Franke Hagano zu den mächtigsten Generälen in Attilas Heer heranwachsen. Hagano flieht, als die Franken beschließen, ihre Tributzahlungen einzustellen. W. plant bald darauf die Flucht mit Hiltgunt, mit der er schon als Kind von den Eltern verlobt wurde. Er sorgt für allg. Trunkenheit am Hof, und das Paar entkommt in der Nacht mit den besten Waffen aus Attilas Schatzkammer, dem kräftigsten Pferd aus seinem Stall und zwei Truhen voller Gold. Die Flucht wird spät entdeckt, das Paar nicht verfolgt. 40 Tage später überqueren W. und Hiltgunt den Rhein in der Nähe von Worms. Der Frankenkönig Guntharius erfährt davon und reitet ihnen mit einer Schar nach, weil er das Gold zurückerlangen möchte, das sein Vater als Tribut zahlen mußte. W. weist diese Forderung zurück und kämpft gegen die Wormser Angreifer, die er gnadenlos tötet. Guntharius und Hagano ziehen sich in der Nacht zurück, fallen aber am Morgen dem weiterziehenden W. in den Rücken. Im Kampf verliert Guntharius ein Bein, W. seine rechte Hand und Hagano ein Auge und sechs Zähne. Hiltgunt verbindet den Kampfunfähigen die Wunden; Hagano und W. trinken gemeinsam Wein, spotten über ihre gegenseitigen Verstümmelungen, schwören sich Freundschaft und kehren beide in ihre Heimat zurück.
Der Stoff erscheint auch in mehreren volkssprachlichen Texten, früh bereits im altengl. Waldere (9./10. Jh., 2 Fragmente)2, später im mhd. Epos Walther und Hildegunde (13. Jh.,
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2 Fragmente)3. Er wird zudem durch mehrere Anspielungen bezeugt: so im J Nibelungenlied, im Biterolf (13. Jh., eine Hs.), im Rosengarten (13. Jh., zahlreiche Hss. und Fassungen)4. Den Grad der Bekanntheit belegt auch eine Erwähnung durch Walther von der Vogelweide5. Ausführlich erzählt wird die Sage außerdem in der norw. Thidrekssaga (Mitte 13. Jh., 4 Hss.) sowie in einer späten poln. Erzählung, die wohl mit anderen Motiven kombiniert wurde6. Im Unterschied zu den skand. und poln. Texten ersetzen alle übrigen Zeugnisse den Verfolgungskampf durch den Kampf gegen vermeintliche Verbündete. Die Verfolgung durch den Brautvater bleibt, wie im lat. W., aus; statt dessen stellen sich dem Paar Krieger in den Weg, von denen ursprünglich keine Feindseligkeiten zu erwarten waren. Diese Überlieferungslage ist offenkundig durch die Kombination mit dem Nibelungenstoff entstanden, welche eine eindeutig kritisch-parodistische Absicht verfolgte: Im Gegensatz zu einer ursprünglichen Burgundensage, in der Gunther und Hagen an Attilas Hof getötet werden, weil sie sich weigern, ihr Gold herzugeben (so noch in der AtlakviÎa der J Edda), überfallen sie hier den früheren Verbündeten, um ihm Attilas Gold abzunehmen. Es ist davon auszugehen, daß eine frühere Sage von einer Brautentführung mit Verfolgungskampf unter dem Einfluß der Nibelungensage adaptiert wurde und dadurch erst zur Verschriftlichung gelangte. Mögliche Parallelen für diese hypothetische genuine Walthersage sind in Anatolien7, Serbien8 und bes. auf der Iber. Halbinsel aufgezeigt worden9. Die spätkaroling. Gaiferos-Sage (AaTh/ATU 516 C: J Amicus und Amelius), die schon bei Rodulfus Tortarius (ca 1063⫺nach 1122) bezeugt ist, zeigt, daß eine Unsicherheit, ob der verbündete Freund Hilfe bringt oder den Helden angreift (J Freundschaft und Feindschaft), bereits in der ursprünglichen Sage existiert haben könnte. Hier hat offenbar die ,Nibelungisierung‘ angesetzt. Neben die Geschichte von Walthers Brautraub und Kampf tritt schon im frühen 11. Jh. die von seinem Rückzug in ein Kloster, welches er wegen seiner strengen Observanz aussucht und wo er nach einigen Jahren wieder diverse Heldentaten vollbringt. Sie erscheint
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Wander, Karl Friedrich Wilhelm
erstmals im anonymen Chronicon Novaliciense (2,7⫺10; Mitte 11. Jh.). Doch auf andere Herkunft und frühe Verbreitung verweist u. a. die Erwähnung von Walthers Rückzug in ein Kloster in der Fecunda Ratis J Egberts von Lüttich (V. 1717⫺1736; ca 1023). Es handelt sich um einen der frühesten Belege für die Erzählung vom Mönchsdasein eines Helden und den daraus resultierenden grotesken Situationen. Die Geschichte wurde auf weitere Helden der rom.10 wie der germ.11 Sage übertragen. Im Chronicon Novaliciense gibt es auch eine zitatenreiche Zusammenfassung des lat. W. (2,9); ihr voran geht ein achtversiges gereimtes Epitaphium, vermutlich eine spätere Zutat. Dies zeigt einerseits die Beliebtheit des Stoffes, die gewiß auch dem lat. W. selbst zu verdanken war, andererseits, daß durch die ma. Klöster mehrere Texte über den Krieger W. zirkulierten und öfters neue hinzugedichtet wurden12. 1
Strecker, K. (ed.): W. Weimar 1951, 1⫺85; VogtSpira, G. (ed.): W. Stg. 1994; Haug, W./Vollmann, B. K. (edd.): Frühe dt. Lit. und lat. Lit. in Deutschland: 800⫺1150. Ffm. 1991, 163⫺259, 1169⫺1222; Klopsch, P.: W. In: Verflex. 10, 627⫺638; Vollmann, B. K.: W. In: Reallex. der germ. Altertumskunde 33. B./N. Y. 2006, 159⫺164. ⫺ 2 Schwab, U. (ed.): Waldere. Testo e commento. Messina 1967. ⫺ 3 Strecker, K. (ed.): Ekkehards W. B. 1907, 100⫺109; Haug, W.: Walther und Hildegund. In: Verflex. 10, 644⫺646; id.: Von der Schwierigkeit heimzukehren. Die Walthersage in ihrem motivgeschichtlichen und lit.anthropol. Kontext. In: Verstehen durch Vernunft. Festschr. W. Hoffmann. Wien 1997, 129⫺144. ⫺ 4 Learned, M. D. (ed.): The Saga of Walther of Aquitaine. In: Publ.s of the Modern Language Assoc. 7 (1892) 1⫺208; Heinzel, R.: Über die Walthersage. Wien 1889; Magoun, F. P./Smyser, H. M. (edd.): Walter of Aquitaine. Materials for the Study of His Legend. New London, Conn. 1950; Gillespie, G. T.: A Catalogue of Persons Named in German Heroic Literature (700⫺1600). Ox. 1973, 135⫺137. ⫺ 5 Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. ed. C. Cormeau. B./N. Y. 1996, Lied 73,23. ⫺ 6 cf. Krogmann, W.: Die poln. Walthersage und ihr Verhältnis zur germ. Überlieferung. In: Zs. für slav. Philologie 32 (1965) 132⫺165; Liebrecht, F.: Beitr.e zum Zusammenhang ind. und europ. Märchen und Sagen. In: Orient und Occident 1 (1862) 116⫺136, hier 125⫺129. ⫺ 7 Wlislocki, H. von: Eine türk. Waltharisage. In: Zs. für vergleichende Lit.geschichte N. F. 5 (1892) 235⫺245. ⫺ 8 Millet, V.: W. ⫺ Gaiferos. Bern/Ffm. 1992, 128⫺132 (span.: E´pica germa´nica y tradiciones e´picas hispa´nicas. W. y Gaiferos. Madrid 1998, 189⫺197). ⫺ 9 ibid., 56⫺81 (span. 97⫺105). ⫺ 10 Delbouille, M./Tyssens, M.: Du Mo-
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niage Gautier au Moniage Guillaume. In: Les Chansons de geste du cycle de Guillaume d’Orange 3. Festschr. J. Frappier. P. 1983, 85⫺141. ⫺ 11 Biesterfeldt, C.: Moniage ⫺ der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Stg. 2004. ⫺ 12 Millet, V.: Germ. Heldendichtung im MA. B./N. Y. 2008, 105⫺ 121.
Santiago de Compostela
Victor Millet
Wander, Karl Friedrich Wilhelm, *Fischbach (Schlesien) 27. 12. 1803, † Quirl 4. 6. 1879, dt. Pädagoge und Sprichwortforscher. Der Sohn eines Dorfschneiders begann zunächst eine Lehre als Tischler, schlug aber danach die Lehrerlaufbahn ein. Er war seit 1818 als Schulpräparand und Hilfslehrer tätig und durchlief 1822⫺24 am Lehrerseminar in Bunzlau seine Lehrerausbildung. Während seiner Tätigkeit als Lehrer an der Stadtschule in Hirschberg (1827⫺49) publizierte er eine größere Anzahl von pädagogischen Werken zur Neugestaltung des Deutschunterrichts an Volksschulen1. Schon vor der Revolution von 1848/49 verbreitete er, teilweise unter Verwendung von Pseudonymen, in zahlreichen schulpolitischen Schriften, Pamphleten und Eingaben an die Regierung seine Ideen zu liberalen und demokratischen Reformen der Lehrerbildung und zur Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht. Er war 1848 an der Gründung des Allg. dt. Lehrervereins beteiligt und wurde als der ,rote W.‘2 weit über Schlesien hinaus bekannt. Aufgrund eines langanhaltenden Konflikts mit der preuß. Schulverwaltung3 wurde er 1850 seines Amtes enthoben und ging im gleichen Jahr aus gesundheitlichen Gründen für ein Jahr in die Vereinigten Staaten. Nach der Rückkehr nach Schlesien faßte er seine Amerika-Erfahrungen in einem Ratgeber für Auswanderungswillige zusammen4, gründete wegen anhaltenden Berufsverbots zusammen mit seiner Frau einen Gewürzhandel und setzte sich schließlich 1874 im schles. Quirl zur Ruhe, um sich ganz der Sammlung und Edition von J Sprichwörtern zu widmen. In seinen Unterrichtswerken für Volksschulen5 verwendete W. vorwiegend Texte literar. Herkunft und nur gelegentlich Zeugnisse aus der Volksliteratur, vor allem moralische Geschichten6 und Fabeln7, die von den Schülern mündl. nacherzählt und als Stilübung nieder-
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Wanderer: Die beiden W.
geschrieben werden sollten, wobei der Umfang der verwendeten Texte schrittweise erhöht wurde. In seine Anthologie Die poetische Kinderwelt (Grimma 1843, 21845) nahm er ausschließlich Gedichte bekannter Verfasser auf. Auch die Sprichwörter dienten W. in seinen Sprachbüchern anfangs als „Grundlage einer sittlich-religiösen Bildung“8 und waren größtenteils seine eigenen Schöpfungen; später setzte er solche Sprichwörter auch als Rechtfertigung seiner schulpolitischen Ideen ein9. In der zweiten Hälfte seines Lebens wurde die wiss. Sammlung und Edition der dt. Sprichwörter mehr und mehr zu seinem Lebensinhalt, und er öffnete sich auch zunehmend den Sprichwörtern aus mündl. Überlieferung. Zudem schuf er sich durch Aufrufe in dt. Zss. ein überregionales Netz von Beiträgern, die ihm Zeugnisse aus vielen Teilen des dt. Sprachraums zukommen ließen. W. erfuhr allerdings in seiner schles. Heimat wenig Unterstützung10. Die theoretische Grundlegung seiner Arbeiten zum Sprichwort, seiner Definition, Herkunft, Überlieferung, Form, seinem Inhalt und seiner Funktion veröffentlichte er bereits 1836 in einem Werk, das W. J Mieder als erste wiss. Sprichwörterkunde in dt. Sprache bezeichnet hat11. Das Ergebnis von W.s langjähriger Tätigkeit war das monumentale Dt. Sprichwörter-Lex. 1⫺5 (Lpz. 1867/70/73/76/ 80)12, das auch fremdsprachliche Parallelen und sprichwörtliche J Redensarten berücksichtigt. W. betrachtete dieses Werk als einen Dienst an der dt. Nation. Die Sprichwörter, welche „die Farbe und den Charakter des Volks an sich tragen und Kenntnis von dessen Sitten und Gebräuchen, dessen Art zu sehen und zu fühlen geben“, waren für ihn ein „Product des Volksgeistes“13. 1 cf. Klotz, A.: Kinder- und Jugendlit. in Deutschland 1840⫺1850. 5. Stg./Weimar 1999, 168 sq. (Bibliogr.). ⫺ 2 Hoffmann, R.: Der „Rote W.“ Ein Bild aus den trübsten Tagen der dt. Schule und ihrer Lehrer. ed. F. Heilmann. Langensalza/Weimar (1929) 2 1948; Thiele, F.: Der „rote“ W. und seine Zeit. Darmstadt 1953. ⫺ 3 Kurze, H.: Der politische und schulpolitische Kampf K. F. W. W.s in der bürgerlich-demokratischen Revolution 1848/49. B. 1982. ⫺ 4 W., K. F. W.: Auswanderungs-Katechismus. (Glogau 1852) Nachdr. ed. W. Mieder. Bern u. a. 1988. ⫺ 5 Schäfer, J.: K. F. W. W.s Sprachbücher. Ffm. u. a. 1999. ⫺ 6 Alzheimer-Haller, H.: Hb. zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780⫺
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1848. B./N. Y. 2004, 662⫺664. ⫺ 7 W., K. F. W.: Das Fabelgärtchen. Hirschberg 1841; id.: Neue Fabeln. Lpz. 1846. ⫺ 8 id.: Der Sprichwörtergarten. Oder: kurze und fassliche Erklärung von 500 Sprichwörtern. Breslau 1838, XIV. ⫺ 9 Voigt, G.: K. F. W. W. und sein „Politisches Sprichwörterbrevier“. In: DJbfVk. 2 (1956) 80⫺90. ⫺ 10 Bönisch-Brednich, B.: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Marburg 1994, 56. ⫺ 11 W., K. F. W.: Das Sprichwort, betrachtet nach Form und Wesen, für Schule und Leben als Einl. zu einem großen volksthümlichen Sprichwörterschatz. (Hirschberg 1836) ed. W. Mieder. Bern u. a. 1983, 1. ⫺ 12 id.: Dt. Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das dt. Volk 1⫺5. Lpz. 1867/1870/1873/ 1876/1880 (Nachdr. Aalen 1963 u. ö.; CD-ROM B. 2001). 13Wander 1, V.
Wellington
Brigitte Bönisch-Brednich
Wanderer: Die beiden W. (AaTh/ATU 613), Märchen mit lehrhaften Zügen, in dessen Mittelpunkt der Streit um die Überlegenheit von J Wahrheit oder J Lüge bzw. von J Gut oder Böse (J Bosheit, böse) steht. 1916 bezeichnete R. T. J Christiansen den Erzähltyp als The Two Travellers und widmete ihm eine Monogr.1, deren Ergebnisse A. J Wesselski 1925 kritisch diskutierte und ergänzte2. 1964 legte M. I. Gerhardt eine weitere Darstellung vor3. Es existieren zwei Redaktionen, die sich hauptsächlich in der Einl. unterscheiden: (1) Zwei Männer (W., Brüder, Herr und Knecht) streiten sich (verhandeln, wetten), ob die Wahrheit oder die Lüge (Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, wessen Religion) die überlegene sei. Sie rufen Menschen (Geister, den J Teufel, Tiere) als Richter an. Der Verlierer (derjenige, der für die Wahrheit steht) wird geblendet (muß dem anderen sein Geld geben). Blind (arm) verbringt er die Nacht an einem menschenverlassenen Ort (Baum, Ruine, Galgen), wo er zufällig ein Gespräch zwischen Teufeln (Geistern) belauscht. Mit Hilfe des hierbei erfahrenen Wissens vermag er, sein Augenlicht zurückzugewinnen, die Königstochter (andere Person) zu heilen und/oder das Land vor einer Dürre zu bewahren. Er wird reich belohnt (und heiratet die Königstochter). Sein Gefährte will ebenfalls reich werden und geht zum selben Ort (manchmal ebenfalls erblindet). Die Teufel entdecken und töten ihn. (2) Zwei Männer (Handwerker) sind zusammen auf Wanderschaft. Als die Verpflegung ausgeht, gibt der eine dem anderen nur unter der Bedingung von seinem Brot (Wasser, Geld), daß er sich blenden läßt. Die Erzählung verläuft im folgenden wie in Redaktion (1), mit dem Unterschied, daß es vor allem Vögel (andere Tiere) sind, die belauscht werden.
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Wanderer: Die beiden W.
AaTh/ATU 613 weist fünf Hauptmotive auf: die Auseinandersetzung zwischen zwei Kontrastfiguren, die J Blendung des Guten, das zufällige Mithören von geheimem Wissen (J Belauschen), die erfolgreiche Anwendung dieses Geheimwissens und die fatale J Imitation durch den bösen Kontrahenten. Es begegnen jedoch auch Var.n, die nur den 2. Teil erzählen, welcher mit der Lauschszene einsetzt4. Der Erzähltyp ist in seinen Wurzeln von jüd., christl. und islam. Tradition geprägt. Er ist vor allem in Europa5 und im Vorderen Orient6 weit verbreitet, aber auch in Asien7, Nordamerika8, der Karibik9 und in europ. bzw. arab. beeinflußten Gebieten Afrikas (Namibia10, Sansibar11) belegt. Dem gesamten Erzähltyp12 bzw. einigen Hauptmotiven13 ist anhand der Var. im jainist. Katha¯kos´a (J Katha¯Lit.) ein hohes Alter attestiert worden. Als ältester Vorläufer gilt gemeinhin eine altägypt. Erzählung aus dem 13. Jh. a. Chr. n., in der die als Brüder personifizierten Abstrakta Wahrheit und Lüge einen Rechtsstreit ausfechten (cf. J Tierherz als Ersatz [Mot. K 512.2])14. Redaktion (1) ist bes. in der jüd. Überlieferung bekannt, in der die Erzählung in der interreligiösen Auseinandersetzung verwendet worden ist. Der älteste Beleg stammt aus dem 10. Jh., vermutlich aus Palästina15: Die Beispielerzählung, die dem haggadischen Midrasch zum Buch Genesis zugeordnet ist16, entwikkelt ihren Konflikt aus der J Wette eines Juden und eines heidnischen Aramäers darum, wessen Religion die bessere sei. Bei den befragten Richtern handelt es sich um einen Teufel, der immer wieder eine andere menschliche Gestalt annimmt und jedesmal für das Heidentum votiert. Durch das Erlauschen der Problemlösungen wird der durch die Wette verarmte Jude wieder reich, während der Heide bei der Nachahmung des Vorgangs den Tod findet.
Der religiöse Charakter der als Trostgeschichte verstehbaren Erzählung17 wird im Epilog durch Rückgriff auf Spr. 11,8 expliziert: Der Gerechte werde aus der Not erlöst, der Gottlose aber Unglück erleiden. Die jüd. Lehrerzählung um Wahrheit und Falschheit, welcher das Motiv der Blendung fehlt, ist mehrfach aus rezenter jüd. Überlieferung aufgezeichnet worden18. Der älteste europ. Beleg für Redaktion (1) ist in der span. Fabelsammlung Libro de los gatos (um 1300) überliefert. Die Kontrahenten
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sind Vertreter von Lüge und Wahrheit; Affen fungieren als Richter, der Fuchs verrät der geblendeten Wahrheit das Heilmittel, schließlich tötet der Bär den Lügner19. Als Vorlage für den ersten Teil der Fabel kann wohl eine Erzählung des J Odo of Cheriton (num. 41 [27a])20 gelten. Eine für Mitteleuropa zentrale Rolle spielte die weithin vertriebene gedr. lat. Predigtsammlung Pomerium (Sermones de tempore, num. 228) des ung. Franziskaners J Pelba´rt von Temesva´r21. Johannes J Pauli vermittelte diese Fassung in dt. Übers. (num. 489, 490)22. Die Erzählung zeigt deutliche Aspekte der Ständekritik, da ein reicher Bürger und sein Knecht um den Einsatz eines hohen Geldbetrags bzw. zwei Augen wetten, daß J Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit (Falschheit) die Vormachtstellung in der Welt hat. Die um ein Urteil Befragten ⫺ ein Kaufmann, ein König (Edelmann; auch zusätzlich Richter) und ein geistlicher Würdenträger (Abt, Bischof) ⫺ begründen ihr einhelliges Urteil zugunsten der Ungerechtigkeit damit, daß sie ihre Lebensgrundlage nur durch unrechtes Verhalten sichern könnten. Im Fortgang der Erzählung verhelfen jedoch Teufel wider Willen der Gerechtigkeit gleich zweimal zum Sieg: Der geblendete Knecht wird durch ihr Heilwissen wieder sehend und gelangt zu Reichtum und der Ehe mit einer Königstocher; seinen Herrn bestrafen sie jedoch mit Blendung, als er aus Habgier ebenfalls das Heilkraut sucht. Ein Jahrhundert später erscheint die Erzählung ähnlich auch bei J Basile (4,2). Der arme, aber gerechte Bruder wird dort von der personifizierten Tugend vom Selbstmord abgehalten und mit dem Heilwissen vertraut gemacht. Redaktion (2) beginnt mit einem Handel in einer Notsituation, bei welchem der Böse für Lebensmittel das Augenlicht des Guten fordert. Der früheste Beleg findet sich im Epos Haft peikar ([Die sieben Bilder] verfaßt 1197) des pers. Dichters J Nezø a¯mi: ˚ eir (Gut) von Sˇarr Auf einer Wüstenreise wird H (Böse) mit ausgestochenen Augen und ohne das ausgehandelte Wasser zurückgelassen. Ein barmherziger Kurde bringt ihm das Heilmittel, macht ihn wieder sehend und gibt ihm seine Tochter mitsamt Reichtümern zur Ehe. H ˚ eir heilt die Königstochter von Fallsucht, heiratet sie ebenfalls und erlangt schließlich die Königsherrschaft. Er heilt auch die durch die
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Wanderer: Die beiden W.
Blattern erblindete Wesirstochter und heiratet sie. Er trifft Sˇarr wieder und verzeiht ihm. Der kurd. Schwiegervater jedoch duldet diese Milde nicht und stellt die Gerechtigkeit wieder her, indem er den betrügerischen Sˇarr enthauptet23.
Diese Erzählung ist auch im ältesten Korpus von J Tausendundeine Nacht (15. Jh.) dokumentiert24. Der geblendete Gute wird hier in einen Brunnen gestoßen, wo er von zwei Dschinnen Kenntnis von dem Heilmittel erlangt. Der in den Brunnen hinabsteigende Böse wird hingegen von ihnen zerrissen25. Ähnliche Var.n sind auch aus mündl. Überlieferung aufgezeichnet worden26. Namengebend für den Erzähltyp ist die Redaktion (2) zuzuordnende Fassung in den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm (KHM [51843] 107). Diese Fassung ersetzte einen frühen Text mit deutlich anderer Ausgestaltung, Botschaft und Textprägnanz (KHM [1815] 21 ⫽ KHM [21819] 107: Die Krähen): Ein Soldat wird von seinen Kameraden beraubt und geblendet. Am Ort des Geschehens (Galgen) hört er, wie Krähen über Heilmittel sprechen, durch die er wieder sehend wird, die Prinzessin heilen und den Wassermangel der Stadt beheben kann. Die Kameraden wollen es ihm nachtun und werden von den Krähen zerhackt.
Dem Grimmschen Text ging ein 1801 in der anonymen Braunschweiger Slg Feen-Mährchen enthaltener Text voraus27. Für beide Fassungen geben die Brüder Grimm mündl. Erzähler aus Norddeutschland an, wo in der Folge weitere Var.n aufgezeichnet wurden28. Die erstmals in 5. Aufl. (1843) erscheinende Fassung erzählt von einem auf Gott vertrauenden Schneider und einem bösen Schuster. Nach Blendung und Heilung des Schneiders wird dort eine Passage eingeschoben, die vom Weg des Schneiders und Ereignissen am Königshof berichtet: Auf seinem Weg begegnet der Schneider Tieren, die er zunächst nutzen will (Fohlen reiten, Storch braten, Entenküken essen, Bienenhonig verzehren). Gegen das Versprechen späterer Hilfe verzichtet er jedoch darauf. Am Königshof versucht der böse Schuster, dem Schneider erneut zu schaden: Er bringt den König dazu, diesem scheinbar unlösbare Aufgaben zu stellen, die jedoch die J dankbaren Tiere für ihn erledigen (Enten schaffen Krone aus dem Wasser herbei, Bienen bauen Wachsmodell des
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Schlosses, Pferd schlägt Wasserquelle aus dem Boden, Storch bringt Sohn).
Allg. folgt die Erzählung dem Schema von J Strafe und J Belohnung29. Die Bezeichnung der Figuren als W. assoziiert beim Leser Bewegung, Veränderung, Unruhe und Gefährdung, in der sich die beiden sowohl dichotomisch in Gut und Böse unterscheiden als auch aufeinander beziehen. Bereits die einleitende sprichwörtliche Redensart („Berg und Tal begegnen sich nicht, wohl aber gute und böse Menschen“) legt als Prolog die Intention der Erzählung fest. Der grausame Tausch von Brot gegen Augenlicht bewirkt die Überlegenheit des Bösen und eine vollständige Orientierungslosigkeit des Geblendeten. Hier erst entwickeln sich die zunächst gleichwertigen Kameraden zu Held und Gegenspieler. Dem Angriff auf die körperliche Unversehrtheit folgt eine zweite wirkungslose Attacke auf das mentale Vermögen des unangreifbar gewordenen Helden. Etwa zeitgleich mit der Grimmschen Version von 1843 lieferten H. G. J Kletke und J. W. J Wolf Fassungen der Erzählung30. L. J Bechstein übernahm in Schneider Hänschen und die wissenden Tiere Wolfs Erzählung mit weiteren Ausschmückungen und in komödienhafter Stilisierung31. Bei ihm ist die Bösartigkeit des Schusters durch Eifersucht motiviert; der inzwischen mit der Königstochter verheiratete reiche Schneider kann sich später jedoch über den ärmlichen Schuster und seine Frau, das einst auch von ihm geliebte Lieschen, lustig machen. Durch die zunehmende Anthologisierung im 19. Jh. erlebte gerade Redaktion (2) einen bes. Verbreitungsschub in Europa32. 1978 griff der port. Regisseur Joa˜o Ce´sar Monteiro das Thema in seinem Kurzfilm Os dois soldados auf; er konzipierte die Handlung in deutlicher Analogie zu KHM 21 (1815), verlegte sie jedoch in den Norden Portugals zur Zeit der Kolonialkriege der 1960er Jahre. Der böse Soldat wird hier als Deserteur erschossen33. 1
Christiansen, R. T.: The Tale of the Two Travellers or The Blinded Man (FFC 24). Hamina 1916; cf. BP 2, 468⫺482; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 239⫺242; Ranke 2, 347⫺349. ⫺ 2 Wesselski, MMA, num. 14. ⫺ 3 Gerhardt, M. I.: Two Wayfarers. Some
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Wanderer: Die beiden W.
Medieval Stories of the Theme of Good and Evil. Utrecht 1964. ⫺ 4 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 3. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis ˇ ajkanovic´, V.: Srpske na1990, 182⫺194, 934 sq.; C rodne pripovetke 1. Belgrad 1927, num. 59; O’Connor, W. F.: Folk Tales from Tibet. L. 1906, num. 22. ⫺ 5 In der bisherigen Sekundärlit. nicht zitierte europ. Var.n (Ausw.): Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 7. Münster 1967, 76⫺83 (finn.); Baer, A.: Der gläserne Berg. Estn. Märchen. B. 21970, 172⫺176; Böhm, M./Specht, F.: Lett.-litau. Volksmärchen. MdW 1924, num. 10 (litau.); Bødker, L.: Dän. Volksmärchen. MdW 1964, num. 44 ; Be´aloideas 2,1 ´ Duilearga, S.: Irish Folk(1929) 83⫺87; Curtin, J./O Tales. Dublin 31956, 82⫺92, 177 sq.; Arnaudin, F.: Contes populaires de la Grande-Lande. Bordeaux 1966, num. 15; Fe´lice, A. de: Contes de Haute-Bretagne. P. 1954, num. 8; Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 2. P. 1973, num. 21; Alcover, M. A.: Aplec de rondaies mallorquines 3. Palma de Mallorca 1953, 5⫺30; Camarena Laucirica, L. J.: Cuentos tradicionales de Leo´n 1. Madrid 1991, num. 111; Amades, num. 101, 333, 1414, 2042; Bødker, L.: European Folktales. Kop. 1963, 104⫺ 108; Cox-Leick, A. M. A./Cox, H. L.: Märchen der Niederlande. MdW 1977, num. 15; Jecklin, D./Decurtins, C.: Volkstümliches aus Graubünden 1. Chur 1916, 105 sq.; Bundi, G.: Märchen aus dem Bündnerland. Basel 1935, 158⫺168; Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 83, 145; Jones, W. H./Kropf, L. L.: The FolkTales of the Magyars. L. 1889, 152⫺154, 391 sq.; Ge´czi, L.: Ungi ne´pmese´k e´s monda´k. Bud. 1989, num. 73; Gasˇparı´kova´, V.: Slowak. Volksmärchen. ˇ ajkanovic´ (wie not. 4) num. MdW 2000, num. 15; C 58; ÍorIevic´, D. M.: Srpske narodne pripovetke i predanja iz Leskovacˇke oblasti. ed. N. Milosˇevic´ÍorIevic´. Belgrad 1988, num. 86⫺88; Cepenkov, M. K.: Makedonski narodni prikazni 1⫺2 ed. K. Penusˇliski. Skopje 1989/1959, t. 1, num. 77; t. 2, num. 75; Haralampieff, K. [recte Frolec, V.]: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 34; Bukowska-Grosse, E./Koschmieder, E.: Poln. Volksmärchen. MdW 1967, num. 40; Chudjakov, I. A.: Velikorusskie skazki. ed. V. G. Bazanov/O. B. Alekseev. M. u. a. 1964, num. 7. ⫺ 6 cf. Ressel, S.: Oriental.-osman. Elemente im balkanslav. Volksmärchen. Münster 1981, 139⫺144. ⫺ 7 (Ausw.): Britaev, S./Kaloev, G.: Osetinskie narodnye skazki. M. 1959, 363⫺365; Jarmuchametov, C. C.: Tatarskie narodnye skazki. Kasan 1957, 68⫺71; Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales and Their Folkloristic Relevance. Detroit 1966, num. 41; Jülg, B.: Mongol. Märchen. Innsbruck 1868, num. 14; Bauer, L.: Das palästin. Arab. Lpz. 3 1913, num. 8; Afzalov, M. I./Rasulev, C./Chusainova, Z.: Uzbekskie narodnye skazki 1⫺2. Taschkent 21963, t. 1, 298⫺301; t. 2, 402⫺416; Bala´zs, B.: Das goldene Zelt. Kasach. Volksepen und Märchen. ed. E. Müller. B. 1956, 130⫺137; Amonov, R.: Tadzˇikskie skazki. M. 1961, 190⫺194; Eberhard, W.: Folktales of China. L. 1965, num. 55; Gaudes, R.:
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Kambodschan. Märchen. B. 1987, num. 41. ⫺ 8 cf. JAFL 29 (1916) 25⫺27, num. 1; Jennes, D.: The Corn Goddess and Other Tales from Indian Canada. Ottawa 1956, 46 sq.; Carrie`re, J. M.: Tales from the French Folk-Lore of Missouri. Chic. 1937, num. 42. ⫺ 9 Andrade, M. J.: Folk-Lore from the Dominican Republic. N. Y. 1930, num. 120, 121. ⫺ 10 Schmidt, S.: Aschenputtel und Eulenspiegel in Afrika. Köln 1991, num. 20; cf. Cardinall, A. W.: Tales Told in Togo-Land. L. 1931, 192⫺195. ⫺ 11 El-Shamy, Types. ⫺ 12 Christiansen (wie not. 1) 10, 117⫺129, 191⫺194. ⫺ 13 Wesselski (wie not. 2); cf. Gerhardt (wie not. 3) 15 sq. ⫺ 14 El-Shamy, H.: Folktales of Egypt. Chic./L. 1980, num. 14; cf. Spies, O.: Eine altägypt. Qu. zum Märchen „Die beiden W.“ der Brüder Grimm. In: Festschr. E. Edel. Bamberg 1979, 397⫺408, hier 406 sq. ⫺ 15 Bin Gorion, M. J.: Mimekor Yisrael. Classical Jewish Folktales. ed. E. Bin Gorion/D. Ben-Amos. Bloom. 1990, num. 217 (dt. Der Born Judas. Wiesbaden 1959, num. 159); cf. Gaster, M.: Fairy Tales from Inedited Hebrew Mss. of the Ninth and Twelfth Centuries. In: FL 7 (1896) 217⫺250, hier 225 sq., num. 1; Schechter, S.: Rabbinic Parallel to a Story of Grimm. In: FL 1 (1890) 277 sq. ⫺ 16 Bin Gorion 1990 (wie not. 15) 423. ⫺ 17 Bin Gorion 1959 (wie not. 15) 782. ⫺ 18 Schwarzbaum, 461 sq.; Jason, H.: Whom Does God Favor: The Wicked or the Righteous? The Reward-and-Punishment Fairy Tale (FFC 240). Hels. 1988, 53⫺113, hier 53; Bin Gorion 1990 (wie not. 15) 423 (Verz. mündl. Var.n aus Irak, Tunesien, Marokko, Afghanistan, Iran). ⫺ 19 Libro de los gatos. ed. B. Darbord. P. 1984, num. 28. ⫺ 20 cf. Christiansen (wie not. 1) 139 sq. ⫺ 21 Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, num. 45; Scherf 1, 74 sq. ⫺ 22 Christiansen (wie not. 1) 141 sq.; BP 2, 471; Tubach, num. 695. ⫺ 23 BP 2, 481; Nizami: Die Abenteuer des Königs Bahram und seiner sieben Prinzessinnen. Übers. J. C. Bürgel. Mü. 1997, 242⫺262. ⫺ 24 Marzolph/ van Leeuwen 1, 176⫺178, num. 17; cf. Heath, P.: Romance as Genre in ,The Thousand and One Nights‘. In: J. of Arabic Literature 18 (1987) 1⫺21, hier 17 sq. ⫺ 25 cf. auch Marzolph/van Leeuwen 1, 73 sq., num. 382; 310 sq., num. 400 (mit Blendungsmotiv). ⫺ 26 Spies (wie not. 14) 398 sq.; El-Shamy, Types. ⫺ 27 Feen-Mährchen. ed. U. Marzolph. Hildesheim/Zürich/N. Y. 2000, 123⫺144; cf. KHM/Rölleke 3, 487. ⫺ 28 Ranke 2, 347. ⫺ 29 cf. Jason (wie not. 18). ⫺ 30 Kletke, H. G.: Märchensaal 1. B. 1845, num. 13; Wolf, J. W.: Dt. Märchen und Sagen. Lpz. 1845, num. 4. ⫺ 31 Bechstein, L.: Neues dt. Märchenbuch (Lpz. 1856). ed. H.-J. Uther. Darmstadt 1997, num. 4; Scherf 1, 76. ⫺ 32 Dekker/van der Kooi/Meder, 377⫺ 379; cf. auch W.: Frei nach „Die beiden W.“ von den Brüdern Grimm. Lpz. 2009 (Projekt der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst). ⫺ 33 Cardigos, I.: Portuguese Tales. In: Haase, D. (ed.): The
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Wandermotive
Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 2. Westport/L. 2008, 758⫺762, hier 762.
Siegburg
Maria Christa Maennersdoerfer
Wandermotive. Wandermotiv (W.) im engeren Sinne ist ein Terminus aus dem Kontext der J Wandertheorie (J Geogr.-hist. Methode)1; die zugrundeliegende theoretische Vorstellung weist Parallelen zur literaturwiss. Quellen- und Einflußforschung auf. Die Wandertheorie geht von der kontinuierlichen J Vermittlung bzw. J Verbreitung von J Motiven über mehrere Stationen aus. Im allg. wird die Bezeichnung W. in der Erzählforschung allerdings sehr breit angewandt und in der Regel nicht definiert. W.e werden in allen Gattungen der mündl. Überlieferung und in der Lit. untersucht. Die Bezeichnung ist nicht ausschließlich auf geogr. Wanderung bezogen, und es werden nicht nur Motive im engeren Sinne, sondern z. B. auch Figuren, bes. übernatürliche Wesen, mit Wanderung in Verbindung gebracht2. Als W.e werden etwa Textelemente angesehen, die in verschiedenen Erzählungen auftreten. Hierzu zählen einerseits Motive wie das der unterschobenen und vergessenen J Braut und das der geheimnisvollen Haushälterin (Mot. N 831.1; AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen; J Schwanjungfrau) oder das J Vater-Sohn-Motiv sowie andererseits Motivkomplexe (z. B. J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen; J Aufgaben, unlösbare). Bei Erzählungen mit austauschbaren Motiven, z. B. Rätselmärchen mit J Rahmenerzählung, können der Rahmen und die einzelnen Motive als voneinander unabhängige W.e aufgefaßt werden3. W.e werden vielfach an J Kristallisationsgestalten gebunden4. W.e mit anekdotenhaftem Charakter werden auch als Wanderanekdoten bezeichnet (AaTh/ATU 1446: Laßt sie J Kuchen essen!; ATU 759 E: J Müller von Sanssouci; J Brotlöffel; cf. auch J Anekdote, Kap. 3)5. Auch Motive und Themen der J Oral Poetry können wandern6. Das J Volkslied kennt Wanderstrophen, stereotype Texteinheiten, die in unterschiedlichen Liedkontexten auftreten7. Von der Wanderung eines Motivs spricht man außerdem bei dessen Übergang von einer
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Gattung zur anderen. Epos und Märchen verfügen über einen gemeinsamen Motivfundus, zu dem zentrale Motive wie das übernatürliche J Wachstum des Helden, aber auch W.e wie J Aussetzung, J Fernliebe oder J Fersenklemmen gehören. Das Motiv vom J Glasberg findet sich vor allem in Märchen und Sagen. Sagen- und Märchenmotive sind ins Erzähllied übergegangen (J Ballade, J Bänkelsang). Stärker als auf die Wanderung einzelner Motive oder anderer kleinerer Erzählelemente hat man sich in der Erzählforschung auf die Wanderung komplexer Erzählungen mit mehrfachen Übereinstimmungen8 sowie einfacher Geschichten mit spezifischen Elementen (z. B. eine ausgeklügelte List)9 konzentriert. Aus dem Bereich der Märchen gehören hierzu einerseits Erzähleinheiten, die als Episoden in größere Erzählkontexte eingebettet sind (z. B. AaTh 313 sqq./ATU 313: cf. J Magische Flucht, die Zuckerpuppenepisode aus AaTh/ ATU 879: J Basilikummädchen), andererseits eigenständig vorkommende Erzähltypen (cf. AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen, AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche, AaTh/ATU 460 A⫺B: J Reise zu Gott [zum Glück], AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen, AaTh/ATU 510 A⫺ B: J Cinderella). Die Sagenforschung stößt häufig auf Ereignisse, die für so viele verschiedene Orte in Anspruch genommen werden, daß von Wanderung ausgegangen werden muß10: Bes. Lokalsagen (moderne ebenso wie hist. und Glaubenssagen) sind oft lokalisierte Wandersagen (J Lokalisierung; z. B. ATU 875*: J Weiber von Weinsberg). Daneben finden sich auch Beispiele für die Verknüpfung von Sagen mit unterschiedlichen hist. Gestalten; z. B. wird die Sage von Martin J Luther, der mit einem Tintenfaß nach dem Teufel geworfen haben soll (Grimm DS 562), auch mit anderen Personen in Verbindung gebracht (cf. auch AaTh/ATU 1161: J Bärenführer). 1
Child, F. J.: Ballad Poetry. In: Johnson’s Universal Cyclopaedia. N. Y. 1874, 464⫺468; Swart, P. D.: The Diffusion of the Folktale, with Special Notes on Africa. In: Midwest Folklore 7 (1957) 69⫺84; Bausinger (21908), 29⫺35, Reg. s. v. W., Wandertheorie. ⫺ 2 Gerould, G. H.: The Grateful Dead. L. 1908; Tegethoff, E.: Die Dämonen im dt. und frz. Märchen. Ein Beitr. zur Lösung des Problems der Mär-
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Wandertheorie
chenwanderung. In: SAVk. 24 (1923) 137⫺166. ⫺ 3 Goldberg, C.: Turandot’s Sisters. N. Y. 1933, 97⫺ 139 und pass.; Amades, J.: Les Contes-devinettes de Catalogne. In: Fabula 3 (1960) 199⫺223. ⫺ 4 Bausinger (21908), 172, 187, 210. ⫺ 5 Moser-Rath, E.: Anekdotenwanderungen in der dt. Schwanklit. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 233⫺247. ⫺ 6 Bowra, C. M.: Heldendichtung. Stg. 1964, 438⫺443. ⫺ 7 Stückrath, O.: Dt. Volksliedwanderstrophen. In: Euphorion 20 (1913) 8⫺38; Linder-Beroud, W.: Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit? Unters.en zu Interdependenz von Individualdichtung und Kollektivlied. Ffm. u. a. 1989, 125⫺129; Muschiol, B.: „Keine Rose ohne Dorn“. Zur Funktion und Tradierung von Liebesliedstereotypen. B. u. a. 1992. ⫺ 8 Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung (FFC 96). Hels. 1931; Thompson, S.: The Folktale. N. Y. 1946, 21⫺187; Lüthi, Märchen (31968) 60⫺70; Zipes, J.: Why Fairy Tales Stick. The Evolution and Relevance of a Genre. N. Y. 2006, 42⫺48. ⫺ 9 Krohn, K.: Bär (Wolf) und Fuchs. Eine nord. Tiermärchenkette. Hels. 1889; id.: Mann und Fuchs. Drei vergleichende Märchenstudien. Hels. 1891; Thompson (wie not. 8) 188⫺228; Schmidt, L.: Die Volkserzählung. B. 1963, 350⫺354. ⫺ 10 Christiansen, Migratory Legends; Blehr, O.: A Hypothesis Concerning the Relationship between „Verifiable“ and „Unverifiable“ Folk Belief Stories. In: JAFL 91 (1978) 704⫺708.
Los Angeles
Christine Goldberg
Wandertheorie. Zu den grundlegenden J Theorien der hist. und vergleichenden Erzählforschung gehört die Annahme, daß Erzählungen im Prozeß der Überlieferung (J Tradition) bei ihrer regionalen bzw. internat. J Verbreitung von ihrem Ursprungsort aus wandern, d. h. sich nach gewissen Gesetzmäßigkeiten der J Vermittlung in Raum und Zeit verbreiten. Während dieser Sachverhalt sowohl konkret als auch metaphorisch unterschiedliche Implikationen mit sich bringt, geht die W. im engeren Sinn davon aus, daß die einzelnen J Var.n einer bestimmten Erzählung wie die Glieder einer Kette aufeinander folgen, wobei ähnlich wie bei einem Stemma auch Verzweigungen und Verästelungen in Betracht kommen. Damit ist die W. neben den analytischen Ansätzen der unmittelbar auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehenden Erbtradition (die ebenso wie die W. auf Monogenese beruht) und der J Polygenese die dritte wichtige Theorie zur J Diffusion von Erzählgut1. Der Gedanke einer geogr. Wanderung von Er-
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zählstoffen und -motiven besitzt bis heute Relevanz und ist Grundlage sowohl für die Konzeption der zentralen Nachschlagewerke der vergleichenden Erzählforschung ⫺ AaTh/ATU und Mot. ⫺ als auch einer Vielzahl komparatistischer Studien zur geogr. Distribution narrativer Texte unterschiedlicher Gattungen2 ⫺ Märchen3, Tiermärchen4, Sage5, Legende6, Schwank7, Lied8, Rätsel9 etc. Die W. ist vor dem Hintergrund der romantischen Sicht zu verstehen, nach der die J Volksdichtung als ,echte J Naturpoesie‘ angesehen wurde, die gewissermaßen aus sich selbst heraus entstanden sei (cf. auch J Kollektivität, Kollektivbewußtsein)10. Diese wirkmächtige Grundannahme der Folkloristik des 19. Jh.s führte als Gegensatz zum aufkommenden Positivismus und infolge des Vorbilds der J philol. Methode zum Bedürfnis nach einer wiss. stringenten Analyse sowohl des Entstehens der Volksüberlieferung als auch der Mechanismen ihrer Verbreitung. Die W. beruht dabei z. T. auf einem seinerzeit allg. vorherrschenden, möglicherweise vom Evolutionismus inspirierten Interesse an Geschichte und hist. Perspektiven in den Geisteswissenschaften. So versuchte der Kunsthistoriker und Philologe J. Braun (1825⫺69) zu zeigen, wie alle Göttersagen auf ägypt. Tradition beruhten. Er war der Ansicht, daß die Sagen aus Ägypten in alle Welt ,hinübergetragen‘ oder ,eingeführt‘ worden seien11 und daß Geschichten ,gewandert‘ seien12. Braun war von den Naturwissenschaften beeinflußt, was wiederum vermuten läßt, daß er die Volksüberlieferung gewissermaßen als Naturwesen mit eigener Kraft betrachtete13; die aktiven Aspekte dieses Prozesses werden von ihm allerdings nicht geklärt. Für die Erzählforschung einflußreich wurde das sprachwiss. Modell, nach dem das Sanskrit als Ursprung aller idg. bzw. ide. Sprachen betrachtet wurde. Die Unters.en von W. Jones (1846⫺94) begründeten die hochbewertete Stellung Indiens in der sprachwiss. Forschung14. Das hist. Paradigma des 19. Jh.s bewirkte eine rege Diskussion über den Ursprung von Inhalt und Form kultureller Phänomene. Dabei wurden unterschiedliche Wanderungsmodelle vorgeschlagen. 1850 bemerkte W. J Grimm, er leugne „nicht die Möglichkeit, in
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Wandertheorie
einzelnen Fällen nicht die Wahrscheinlichkeit des Übergangs eines Märchens von einem Volk zum andern“15. Allg. waren die Brüder J Grimm allerdings der Ansicht, Märchen stammten aus Mythen (J Mythol. Schule). Vor dem Hintergrund der nationalromantischen Ideen (J Nation, J Patriotismus, J Romantik) suchten zahlreiche Forscher nach der Echtheit (J Authentizität)16 kultureller Phänomene, wobei Alter (J Altersbestimmung des Märchens) und Herkunft bzw. Verbreitungswege in den Blick genommen wurden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen begründete der Orientalist T. J Benfey die J ind. Theorie. Im Kommentarband zu seiner Übers. des ind. Fürstenspiegels J Pan˜catantra vertrat er aufgrund philol. Befunde die Ansicht, die darin enthaltenen Erzählungen seien aus Indien sowohl westwärts als auch ostwärts gewandert und hätten sich durch zahlreiche Übers.en (J Kalila und Dimna) über weite Teile der Welt verbreitet. Das Vorkommen von Motiven des Pan˜catantra bei J Äsop erklärte Benfey durch frühe Kontakte zwischen den europ. und vorderasiat. Kulturen. Die Fabel als solche stammte seiner Meinung nach aus Griechenland17; Indien war ihm das ,Märchenland‘, aus dem „die Märchen in alle Welt gewandert seien“18. Benfeys Theorie wurde in der Folgezeit oft diskutiert, so u. a. von E. J Cosquin, der sich kritisch gegen die von Benfey vertretene Rolle der Mongolen bei der Wanderung von Erzählungen aussprach19. Der unbestrittene Wert der W. liegt aber bis heute darin, daß sie die Erforschung der Wanderwege von Erzählgut überzeugend mit einer exakten Methode verband. Selbst E. B. J Tylor, ein entschiedener Vertreter der Polygenese (cf. J Anthropol. Theorie, J Ritualistische Theorie)20, scheint mit einer geogr. Wanderung von Erzählgut gerechnet zu haben21. Im Gegensatz zu den bis dahin vorherrschenden Ansätzen verlangte die ind. Theorie eine strikt philol. begründete kritische Methode. In der Folgezeit gewann sie große Bedeutung in der komparatistisch arbeitenden Erzählforschung (J Komparatistik)22, bes. in der maßgeblich von J. und K. J Krohn sowie A. J Aarne begründeten und zentral von W. J Anderson praktizierten J geogr.-hist. (finn.) Methode. Die Anhänger dieser Methode waren der Ansicht, daß man durch die
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Analyse einer großen Menge von Var.n den ursprünglichen Inhalt bzw. Wortlaut eines Erzähltyps rekonstruieren (J Rekonstruktion) bzw. dessen Wanderwege erschließen könne23; dabei seien alle Var.n letztlich auf einen einzigen Urtext (J Urform) zurückzuführen24. Zentral ist für die Methode ferner die schwerpunktmäßige Berücksichtigung von Belegen aus der mündl. Überlieferung. Zur visuellen Dokumentation der vermuteten Wanderwege bzw. Verbreitung von Erzählungen wurden früh auch kartographische Darstellungen benutzt25. Akzeptiert man grundsätzlich die Tatsache, daß Erzählungen wandern, so bleibt die Frage, wie man sich diesen Vorgang im einzelnen vorzustellen hat. Grundsätzlich handelt es sich dabei um ein komplexes Phänomen, denn neben dem zeitlichen Faktor ist bei der geogr. Wanderung mit der Überwindung verschiedenster Grenzen zu rechnen, die u. a. geogr., ethnischer, kultureller, politischer, sprachlicher, religiöser oder sozialer Natur sein können. Um auch in den jeweils neuen J Kontexten verständlich zu bleiben bzw. überhaupt ,lebensfähig‘ zu sein, müssen Erzählungen dabei in einem oft komplexen Prozeß der J Adaptation den veränderten Rahmenbedingungen ihrer J Rezeption angepaßt werden (cf. J Biologie des Erzählguts, J Übersetzung)26. Darüber hinaus können Wanderungen auch in einem eher metaphorischen Sinn geltend gemacht werden. A. J Wesselski rechnete etwa mit einer Wanderung von Erzählungen zwischen verschiedenen Medien der Überlieferung, wobei er bes. die Rolle schriftl. bzw. literar. Quellen betonte (J Lit. und Volkserzählung, J Schriftlichkeit). Im weiteren Sinn ist hier auch H. J Naumanns Idee vom J gesunkenen Kulturgut relevant, insofern als sie eine potentielle Wanderung von Folklore durch die sozialen Schichten betrifft. Der schwed. Folklorist C. W. von J Sydow wandte sich kritisch gegen den Gedanken einer quasi automatischen Wanderung von mündl. Überlieferung (J Automigration). Er betonte demgegenüber die Rolle der individuellen J Erzähler27 und war der Ansicht, Märchen verbreiteten sich mit ihren Traditionsträgern (cf. J Informant), bes. in Verbindung mit großen Völkerwanderungen, wie z. B. der ide. Expansion; aus heutiger Sicht verdienen auch
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Ward, Donald James
andere Migrationsbewegungen in diesem Zusammenhang Beachtung, so diejenigen von Wandervölkern wie den Sinti und Roma, von Arbeitsmigranten, Flüchtlingen oder Touristen. Von Sydows Theorie wurde u. a. von S. J Liljeblad und J.-Ö. J Swahn weiterentwikkelt28. In den modernen Medien verbreiten sich Erzählungen heute auch ohne unmittelbare menschliche J Kommunikation in großer Quantität und bislang nicht gekannter Schnelligkeit. Hier bieten sich neue Ansätze für eine zeitgemäße W. an29. Je mehr die Erzählforschung allerdings Erzählen und Erzählungen unter dem Aspekt der individuellen Prägung während der J Performanz betrachtet, desto geringer wird das Interesse an der W. 1
Bausinger (21980) 30⫺40, bes. 31⫺34; cf. auch Pöge-Alder, K.: Märchenforschung. Tübingen 2007, 81⫺98. ⫺ 2 cf. Clouston, W. A.: Popular Tales and Fictions, Their Migration and Transformation. (t. 1⫺2. Edinburgh/L. 1887) ed. C. Goldberg. Santa Barbara/Denver/Ox. 2002; Liungman, W.: Traditionswanderungen Euphrat ⫺ Rhein 2 (FFC 119). Hels. 1938. ⫺ 3 Mackensen, L.: Der singende Knochen (FFC 49⫺50). Hels. 1923; Merkelbach-Pinck, A.: Wanderungen der Märchen im dt.sprachigen Lothringen. In: Folk-Liv 3 (1939) 224⫺231, hier 224, 229; Christiansen, R. T.: Eventyrvandring i Norge. In: Arv 2 (1946) 71⫺93; Rooth, A. B.: The Cinderella Cycle. Lund 1951; Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche (Aarne-Thompson 425 & 428). Lund 1955; Goldberg, C.: The Tale of Three Oranges (FFC 263). Hels. 1997. ⫺ 4 Krohn, K.: Tutkimuksia suomalaisten kansansatujen alalta (Forschungen auf dem Gebiet der finn. Volksmärchen) 1⫺2. Hels. 1888. ⫺ 5 Christiansen, Migratory Legends; Bruford, A.: Legends long since Localised or Tales still Traveling? In: Scottish Studies 24 (1980) 43⫺62; Lövkrona, I.: Det bortrövade dryckeskärlet. Lund 1982; Almqvist, B.: Crossing the Border. A Sampler of Irish Migratory Legends about the Supernatural. Dublin 1988; Tangherlini, T.: Ships, Fogs, and Traveling Pairs. In: JAFL 101 (1988) 176⫺206. ⫺ 6 Dübi, H.: Drei spätma. Legenden in ihrer Wanderung aus Italien durch die Schweiz nach Deutschland. In: ZfVk. 17 (1907) 42⫺65, 143⫺160, 248⫺264. ⫺ 7 Bolte, J.: Zur Wanderung der Schwankstoffe. In: ZfVk. 24 (1914) 81⫺88; Anderson, W.: Kaiser und Abt (FFC 42). Hels. 1923. ⫺ 8 Forslin, A.: Balladen om riddar Olof och älvorna. Stockholm 1964; Jonsson, B. R.: Svensk balladtradition 1. Stockholm 1967; Krohn, J.: Kalevalan toisinnot (Die Var.n des Kalevala) 1. Helsingissä 1888. ⫺ 9 Aarne, A.: Vergleichende Rätselforschungen 1⫺3 (FFC 26⫺28). Hels. 1918⫺20. ⫺ 10 Bausinger (21980), 17⫺19. ⫺
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11 Braun, J.: Naturgeschichte der Sage. Rückführung aller religiösen Ideen, Sagen, Systeme auf ihren gemeinsamen Stammbaum und ihre letzte Wurzel 1. Mü. 1864, 1⫺3, 7. ⫺ 12 ibid., 2 sq., 9. ⫺ 13 cf. Hafstein, V. T.: Biological Metaphors in Folklore Theory. In: Arv 57 (2001) 7⫺32; Jensen, P.: Das Gilgameschepos in der Weltlit. 1. Straßburg 1906, 173, 1024 sq. ⫺ 14 Petersen, U.: Rasks Stellung in der Sprachwiss. In: Rask, R.: Von der Etymologie überhaupt. Eine Einl. in die Sprachvergleichung. ed. U. Petersen. Tübingen 1992, 9⫺30, hier 21 sq.; cf. Cocchiara, G.: The History of Folklore in Europe. Phil. 1981, 277⫺305. ⫺ 15 KHM 61850, t. 1, LXIII; cf. Bausinger (21980) 30⫺34; Pöge-Alder (wie not. 1) 81; Lüthi, Märchen, 52. ⫺ 16 cf. Bendix, R.: In Search of Authenticity. Madison 1997. ⫺ 17 BP 5, 250. ⫺ 18 Bausinger (21980), 33. ⫺ 19 Cosquin, E.: E´tudes folkloriques. Recherches sur les migrations des contes populaires et leur point de de´part. P. 1922. ⫺ 20 Tylor, E. B.: Primitive Culture 1⫺2. L. 1891, bes. t. 1, 6⫺25; cf. Friberg, T.: Sökandet efter en objektiv vetenskap. Nya antropologiska porträtt. ed. C. Lindberg. Lund 2005, 75⫺89, hier 75⫺77. ⫺ 21 ibid., 80. ⫺ 22 cf. Cosquin, E.: Les Contes indiens et l’Occident. P. 1922. ⫺ 23 Krohn, K.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo 1926 (engl.: Folklore Methodology. Austin 1971). ⫺ 24 Honko, L.: Forskningsmetoderna inom prosatraditionen och deras framtid. In: Folkloristikens aktuella paradigm. ed. ˚ bo 1981, 18. ⫺ 25 z. B. Liungman, G. Herranen. A W.: En traditionsstudie över sagan om Prinsessan i jordkulan (Aarnes 870) 1⫺2. Göteborg 1925; Sydow, C. W. von: Om traditionsspridning. In: Scandia 5 (1932) 321⫺344; cf. auch Rath, E.: Der Hehmann. In: ÖZfVk. N. S. 7 (1953) 98⫺139; Schmidt, L.: Die Volkserzählung. B. 1963, bes. 113⫺155. ⫺ 26 Honko, L.: Four Forms of Adaptation of Tradition. In: SF 26 (1981) 19⫺33; Marzolph, Arabia ridens 1, 234⫺ 246. ⫺ 27 Sydow, C. W. von: Einige kritische Bemerkungen zur W. In: ZfVk. 46 (1938) 160⫺169; cf. Bringe´us, N.-A.: Carl Wilhelm von Sydow som folklorist. Uppsala 2006, 200. ⫺ 28 Liljeblad, S.: Die Tobiaslegende und andere Märchen von toten Helfern. Lund 1927; Swahn (wie not. 3). ⫺ 29 Schneider, I.: Erzählen im Internet. In: Fabula 37 (1996) 8⫺27; Roth, K.: Erzählen im Internet. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 101⫺118.
Turku
Ulrika Wolf-Knuts
Ward, Donald James, *Petaluma, Calif. 16. 3. 1930, † Los Angeles 16. 9. 2004, nordamerik. Germanist und Folklorist1. Nachdem W. 1950⫺54 als Soldat in Deutschland stationiert war, studierte er 1954⫺56 Germanistik an der Univ. Mainz. Er setzte sein Studium 1956⫺59 an der San Francisco State Univ. und danach an der Univ. of California in Los
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Warenlager: Wo ist das W.?
Angeles fort, wo er 1965 von W. D. J Hand mit der Diss. The Divine Twins. An Indo-European Myth in Germanic Tradition (Berk. 1968) promoviert wurde. Seit 1965 lehrte W. an der Dt. Abteilung der Univ. of California in Los Angeles als Assistant Professor, 1973⫺91 als Professor Deutsch und Folklore. 1974⫺78 leitete er das dortige Center for the Study of Comparative Folklore and Mythology. W. verbrachte zwischen 1969 und 1996 mehrere Jahre als Gastprofessor im dt.sprachigen Europa; eine enge Freundschaft verband ihn mit L. J Röhrich. Er war u. a. Mitglied der Commission to Study Current Trends and Theories der Internat. Soc. for Folk-Narrative Research sowie Mitherausgeber der Zss. Western Folklore (1994⫺2004) und Fabula (1975⫺2004). Auch nach seiner Diss. über die ,göttlichen J Zwillinge‘ (J Dioskuren; cf. AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder; J Kudrun, Kap. 5) beschäftigte sich W. mit Aspekten der ide. Mythologie2. Eine seiner internat. am stärksten wahrgenommenen Arbeiten ist seine kommentierte Übers. der Dt. Sagen der Brüder J Grimm ins Englische (The German Legends of the Brothers Grimm 1⫺2. Phil. 1981); W. war einer der wenigen engl.sprachigen Wissenschaftler mit Kompetenz in dt. Lit.geschichte wie auch in volkskundlicher Erzählforschung3. Seine gesamte wiss. Laufbahn hindurch war es W. ein Anliegen, populäre Glaubensvorstellungen rational zu verstehen4. Zahlreiche seiner kleineren Arbeiten sind komparatistische Studien zu Motiven, Themen und Gattungen5. Nach Hands Tod (1986) übernahm W. die Herausgeberschaft der geplanten Enc. of American Popular Beliefs and Superstitions. Wegen ihres geplanten Umfangs und ihrer dem HDA vergleichbaren Komplexität sowie aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten wurden die Arbeiten an diesem Werk aufgegeben. Das zugrundeliegende Material ist an der Utah State Univ. (Logan) archiviert. 1
Mieder, W.: D. J. W. In: Fabula 46 (2005) 142⫺144; Wagener, H.: A Brief Biogr. of D. J. W. In: WF 69 (2010): 15⫺18. Nagy, J. F.: From the Guest Editor. ibid., 7⫺13 (mit Bibliogr.). ⫺ 2 W., D. J.: Solar Mythology and Baltic Folksongs. In: Folklore Internat. Festschr. W. D. Hand. Hatboro, Penn. 1967, 233⫺ 242; id.: The Threefold Death. An Indo-European Trifunctional Sacrifice? In: Puhvel, J. (ed.): Myth and Law among the Indo-Europeans. Berk./L. A.
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1970, 123⫺142; id.: On the Poets and Poetry of the Indo-Europeans. In: J. of Indo-European Studies 1 (1973) 127⫺144. ⫺ 3 id.: New Misconceptions about Old Folktales. The Brothers Grimm. In: McGlathery, J. M. (ed.).: The Brothers Grimm and Folktale. Urbana, Ill. 1988, 91⫺100; cf. id.: The German Connection. The Brothers Grimm and the Study of ,Oral‘ Literature. In: WF 53 (1994) 1⫺26. ⫺ 4 id.: Weather Signs and Weather Magic. Some Ideas on Causality in Popular Belief. In: Pacific Coast Philology 3 (1968) 67⫺72; id.: The Little Man Who Wasn’t There. Encounters with the Supranormal. In: Fabula 18 (1977) 212⫺225; id.: On the Genre Morphology of Legendry. Belief Story versus Belief Legend. In: WF 50 (1991) 296⫺303. ⫺ 5 id.: The Fiddler and the Beast. Modern Evidence for an Ancient Theme. In: Fabula 13 (1972) 108⫺121; id.: ,Beauty and the Beast‘. Fact and Fancy, Past and Present. In: Midwestern Folklore 15,2 (1989) 119⫺125; id.: Supranormale Begegnungen. Memorate und Erlebnissagen aus Kalifornien. In: Dona Folcloristica. Festschr. L. Röhrich. Ffm. u. a. 1990, 257⫺265; id.: Welcoming the Enemy into Heaven. From Loki to Marcus Daly. In: Europ. Ethnologie und Folklore im internat. Kontext. Festschr. L. Petzoldt. Ffm. u. a. 1999, 321⫺331.
Los Angeles
Christine Goldberg
Warenlager: Wo ist das W.? (AaTh 2018/ ATU 2043), Sammeltyp für unterschiedliche Kettenmärchen in Form eines J Dialogs. Ein Grundmuster ist lediglich strukturell auszumachen: Die Rollen der Sprecher sind in die des Fragenden und die des Antwortenden unterteilt, wobei die Antworten jeweils aufgenommen und zu Folgefragen verarbeitet werden. Die einzelnen zu einer Kette verknüpften Elemente variieren stark. Die Verknüpfung der Kettenglieder basiert meist nicht auf einem logischen Zusammenhang, sondern wird auf assoziative, spielerische Weise erzeugt. Dadurch weisen die Texte z. T. Parallelen zur Kinderfolklore auf 1. Eine Handlung gibt es in der Regel nicht. Die unter AaTh 2018/ATU 2043 subsumierten Erzählungen stammen ausschließlich aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s. Das titelgebende Anfangsglied, die Frage nach dem W., kommt lediglich in einem angloamerik. und einigen ung. Texten vor2. Meist lautet die Eingangsfrage: ,Wo warst du?‘3 Die span. Texte weisen zahlreiche Übereinstimmungen mit AaTh/ATU 2011: „Where Have You Been, Goose?“ auf bzw. wurden teilweise sowohl als
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Warnerzählungen ⫺ „Was hätte ich sagen (tun) sollen?“
AaTh 2018/ATU 2043 als auch als AaTh/ATU 2011 klassifiziert4. Sie bestehen aus der Frage an die Gans als Ausgangspunkt sowie weiteren festen Bestandteilen wie der Nennung der Elemente Messer, Schleifstein, Huhn (Taube), Ei etc. Ansonsten wird in den zu AaTh 2018/ATU 2043 gestellten Texten danach gefragt, wo sich ein Gegenstand ⫺ Feuer, Wasser, Ochse, Hügel oder Axt ⫺ befindet, wobei die Antwort zwischen direkter Ortsangabe und erklärendem Bericht variiert5. Vereinzelt werden die Fragen in einer einleitenden Erzählung motiviert6; in einem karel. Text etwa fungiert AaTh/ATU 735 A: J Glück und Unglück als Einleitung7. Statt der Fragen können auch Argumente etwa für oder gegen das Baden ausgetauscht werden (tungus.)8, oder zur Verknüpfung durch den Kettensatz kommt die Akkumulation von Antworten hinzu (katalan.)9. Selten basiert die Verkettung auf kausalen Zusammenhängen und folgt einer logischen Entwicklung: ,Wofür ist die Sense? ⫺ Um Gras zu mähen. ⫺ Wofür ist das Gras? ⫺ Um ein Kälbchen großzuziehen‘ etc. (syrjän.)10. Häufig enden die Texte mit einer witzigen Antwort, so span.: ,Wo ist die Messe (misa)? ⫺ Unter deinem Hemd (camisa).‘11 Einige Fassungen enthalten einen Refrain zwischen den Kettenelementen12. Die typol. Zuordnung der Texte zu AaTh 2018/ATU 2043 erscheint trotz der großen inhaltlichen Bandbreite des Erzähltyps mitunter schwer nachvollziehbar. So umfaßt eine nicht dialogisch aufgebaute Erzählung aus der Schweiz eine Kette von Aufgaben, die erledigt werden müssen, um einen Fladen zu backen. Das fertige Gebäck tauscht der Protagonist dann gegen seinen Hut ein, der ihm zuvor gestohlen worden war (cf. AaTh/ATU 2034: J Maus und ihr Schwanz; AaTh/ATU 2021, 2022: J Tod des Hühnchens)13. Espinosa 3, 463⫺473. ⫺ 2 Baughman; MNK. ⫺ Re´dei, K.: Zyrian Folklore Texts. Bud. 1978, num. 66, 127⫺129, 131; Espinosa 1, num. 280; Llano Roza de Ampudia, A. de: Cuentos asturianos. Madrid 1925, num. 185; Afanas’ev 3, num. 535. ⫺ 4 de Llano Roza de Ampudia (wie not. 3); Espinosa 1, num. 280. ⫺ 5 Haavio, M.: Kettenmärchen-Studien (FFC 88). Hels. 1929, 81 sq. ⫺ 6 Voskobojnikov, M. G./Menovsˇcˇikov, G. A.: Skazki narodov severa. ˇ istov, M./Len. 1959, 191, 419 sq. (tschuktsch.). ⫺ 7 C K.: Perstennek-dvenadcat’ stavesˇkov. Petrozavodsk 1958, 22⫺25. ⫺ 8 Suvorov, I. I.: Evenkijskie skazki. 1 3
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Krasnojarsk 1960, 68. ⫺ 9 Amades, num. 236. ⫺ 10 Re´dei (wie not. 3) num. 129, 131. ⫺ 11 Espinosa 1, num. 280. ⫺ 12 Amades, num. 236; MNK 2018 A*, 2018 A3*. ⫺ 13 Todorovic´-Strähl, P./ Lurati, O.: Märchen aus dem Tessin. MdW 1984, num. 77.
München
Alexander Rasumny
Warnerzählungen J Schreckmärchen
Warte, bis ich fett bin J Dick und fett
„Was hätte ich sagen (tun) sollen?“ (AaTh/ ATU 1696), variationsreicher Episodenschwank, der mit dem Topos des dummen Mannes (J Dummheit) arbeitet. Die Komik entsteht vor allem durch die fehlende Kongruenz zwischen Verhalten und Situation bzw. dadurch, daß der Protagonist nicht in der Lage ist, adäquat auf jeweils veränderte Situationen zu reagieren. Der Erzähltyp ist in zwei Redaktionen überliefert: Der kindliche und mutterfixierte, manchmal allerdings bereits heiratsfähige Schwankheld begeht eine Reihe von tragikomischen Fehlleistungen, da er mit gravierenden J Kommunikations- und Adaptationsschwierigkeiten zu kämpfen hat und deshalb immer entweder (1) das Falsche sagt oder (2) das Falsche tut1. Beiden Redaktionen gemeinsam ist die kettenartige Verknüpfung mehrerer an sich zusammenhangloser Episoden durch die J Frage: ,Was hätte ich sagen (tun) sollen?‘ In Redaktion (1) bringt der Einfältige die ihm vorher eingeprägten Worte in einer unpassenden Situation an, wird dafür verprügelt und gleichzeitig belehrt, was er in der jeweiligen Situation eigentlich hätte sagen sollen; dies wiederholt sich mehrere Male. In Redaktion (2) will der dumme Sohn von seiner Mutter (Vater) Anweisungen zum richtigen Verhalten erfahren, nachdem er den von ihr erhaltenen Auftrag unfreiwillig falsch ausgeführt hat. Im Grunde wird mit jeder Anweisung, die dem Tölpel im dialogischen Frage- und Antwortspiel gegeben wird, schon die nächste Katastrophe vorbereitet. Der Erzähltyp führt damit die Unmöglichkeit einer funktionierenden Kommunikation vor bzw. zeigt, welche fata-
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„Was hätte ich sagen (tun) sollen?“
len Ergebnisse das Aneinandervorbeireden (J Mißverständnisse) zur Folge haben kann2. Die gängigsten Handlungselemente von Redaktion (1) sind: Eine Frau schickt ihren dummen Sohn (Mann) zum Einkaufen (Weizen, Brot, Öl) und ermahnt ihn, die Bestellung unterwegs ständig zu wiederholen. Häufig wird er mit einem Sack Getreide in die Mühle geschickt und soll darauf achten, daß der Müller vom Scheffel nur eine Handvoll für sich nimmt. Um diesen Auftrag nicht zu vergessen, wiederholt er die ganze Zeit laut den Spruch: ,Eine Handvoll vom Scheffel‘. Oder der Dummkopf murmelt ein Wort vor sich hin, das ,keineswegs‘, ,nichts‘, ,das wird nichts‘ etc. bedeutet. Der Einfältige trifft auf Leute, die seine Absicht mißverstehen und seine Worte für einen böswilligen J Gruß halten (sich über den Satz lustig machen), ihn verprügeln und ihm beibringen, wie er richtig zu grüßen hat bzw. was er bei einer Begegnung wünschen soll. Er benutzt dann die erinnerte Antwort in der anschließenden, allerdings unpassenden Situation: Den von Bauern oder Fischern (Jägern) erlernten Wunsch für reiche Ernte bzw. Beute bringt er etwa bei einer Beerdigung an. Die ihm dort beigebrachte Formel verwendet er bei einer Hochzeit, wo man ihn lehrt, Glückwünsche auszusprechen. Diese bringt er dann bei einer Feuersbrunst vor. Die ihm dort gesagten Worte erregen wiederum den Zorn eines Bauern, der in seinem naßgewordenen Backofen vergeblich Feuer anzuzünden versucht. Dann wird dem Einfältigen ein Feuersegen beigebracht, den er laut vor sich hinspricht, als er an der Haustür einer Alten vorübergeht, der gerade ihr Spinnrocken angebrannt ist. Meist wird der Tölpel in den entsprechenden Situationen zuerst verprügelt, bevor man ihm einen als adäquat angesehenen Gruß beibringt. Der Schwank geht selten glücklich, manchmal sogar fatal für den Fragesteller aus: Bei der letzten Begegnung ist seine Antwort so ungeschickt, daß er zu Tode geprügelt wird oder auf andere Art ums Leben kommt.
Es bestehen bes. Affinitäten zu weiteren Schwänken, die J Sprachmißverständnisse thematisieren, bei denen es sich um J Wörtlichnehmen von Ratschlägen (cf. AaTh/ATU 1437: J Süße Worte), Unkenntnis einer Fremdsprache (AaTh/ATU 360, 1697: J Handel mit dem Teufel) oder einfaches Nichtverstehen (wie in Geschichten über J Schwerhörige [AaTh/ATU 1698 sqq.]) handeln kann. Entfernt erinnern die Antworten auch an die Thematik der verkehrten J Begrüßung (cf. AaTh/ ATU 1694 A). Die Eingangsepisode von Redaktion (2) enthält stereotyp ein Schwankmotiv, das die
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Dummheit des Protagonisten versinnbildlicht: Er will eine als Lohn erhaltene Stecknadel sicher nach Hause bringen, indem er sie ⫺ unter Mißverstehen der sprichwörtlichen Redensart ,eine Nadel in einem Heuhaufen suchen‘ ⫺ in einen Heuwagen steckt (Mot. J 2129.4); Mutter oder Vater lehren ihn, er hätte sie an seinen Hut stecken müssen. Der närrische Sohn mißversteht auch hier die Tatsache, daß der ihm erteilte Ratschlag sich jeweils auf eine spezielle Situation bezieht, nicht aber auf die nächste, andersgeartete. Diese Naivität führt zu einer Reihe absurder Handlungen bzw. grotesker Situationen: Der Sohn steckt eine Pflugschar an seinen Hut; zieht ein Stück Fleisch an einem Bindfaden hinter sich her oder läßt es von einem Pferd am Schwanz heimschleppen; läßt sich Wein (Sirup) in ein Tuch einschenken, das er auf seinem Kopf trägt; legt einen Ochsen über seine Schultern; führt seine zukünftige Braut wie eine Kuh am Strick nach Hause; springt ihr auf den Rücken, als sei sie ein Esel; bindet sie im Stall an eine Krippe und bewirft sie mit ausgestochenen Tieraugen (AaTh/ATU 1006: J Augenwerfen); umarmt einen großen zottigen Hund; lockt eine Heugabel mit Brot; steckt einem Pferd einen Stock durch die Ohren etc.
Kombinationen sind vorrangig mit folgenden Dummenschwänken dokumentiert: AaTh/ ATU 1685: Der dumme J Bräutigam3, AaTh/ ATU 1643: J Geld im Kruzifix 4, AaTh/ATU 1218: J Eierbrüter5, AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel 6, AaTh/ATU 1291 A⫺D: J Ausschicken von Gegenständen oder Tieren7, AaTh/ATU 1408: J Hausarbeit getauscht8, AaTh/ATU 1681 B: cf. Mißverständnisse9 und AaTh/ATU 1653 A: J Räuber unter dem Baum10. In Var.n aus dem engl.sprachigen11 und fläm.12 Bereich treten auch Verbindungen mit AaTh/ATU 571: J Klebezauber auf. AaTh/ATU 1696 ist in den regionalen Typenkatalogen und Slgen mit zahlreichen Var.n vertreten. Die Aufzeichnungen aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s belegen ein weites Verbreitungsgebiet, das sich von Europa über den vorderasiat. Raum und die Mongolei bis nach Indonesien und China erstreckt. In Frankreich und im Iran zählt der Dummenschwank zu den am häufigsten nachgewiesenen Erzähltypen13. Var.n sind überdies aus Afrika sowie Nord- und Mittelamerika belegt. Der finn. Erzählforscher M. J Haavio hat in seiner der geogr.-hist. Methode verpflichte-
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„Was hätte ich sagen (tun) sollen?“
ten Diss. zu Kettenmärchen über eine zeitlich weiter zurückliegende Herkunft von AaTh/ ATU 1696 spekuliert und Indien als Ursprungsland angenommen14. Das erste schriftl. Zeugnis für AaTh/ATU 1696 begegnet in einem 472 n. u. Z. übers. Teil des buddhist. J Tripitøaka15; der dortige Text kombiniert die beiden, offenbar erst später getrennten Redaktionen. Spätestens seit Martin J Montanus’ Gartengesellschaft (1560)16 ist der Erzähltyp (Redaktion 1) in Europa nachgewiesen; bei Montanus wird der Narr zum Schluß wegen seiner Verrücktheiten verbrannt. Die Var. in der Predigtsammlung Neu-Erklingender JubelSchall des Michael Christoph Benz (1702) könnte den Brüdern J Grimm als literar. Vorlage für KHM 143 gedient haben17. Im slav. Bereich ist die Erzählung als Volksmärchen mit Liedeinlagen überliefert18. In der frühen Neuzeit ist AaTh/ATU 1696 häufig in Form von Redaktion (2) belegt, so in lat. Sprache bei Heinrich J Bebel (1514) und Johannes J Gast (1541), dt. u. a. bei Johannes J Pauli (1545), Jakob J Frey (1556) und Hans Wilhelm J Kirchhof (1563). Auch die ndl. und die frz. Lit. kennen das Thema bereits im 16. Jh., das häufig in der Kombination mit dem vorangestellten Erzähltyp AaTh/ ATU 1685 überliefert ist19. In einer 1707 aufgezeichneten isl. Var. spielt der Held den Dummkopf, um schließlich für die Ermordung seines Vaters blutige Rache zu nehmen (Kontamination mit dem J HamletStoff); er wird am Ende König. Hier bringt der ,blöde Brja¯m‘20, in einigen Fassungen auch eine regionale Trickstergestalt, die ihm vorgesprochenen Worte absichtlich und gezielt am falschen Ort an. AaTh/ATU 1696 wird in dt.21 und fries.22 Var.n mit J Eulenspiegel, in einer kroat. Fassung mit J Hodscha Nasreddin23 und in der port. Überlieferung mit Pedro de Malas-Artes24 überliefert. Dem Protagonisten von AaTh/ATU 1696 kann jedoch ansonsten nur selten eine gewisse schelmenhafte geistige Überlegenheit oder Gerissenheit unterstellt werden. Er ist weder vielschichtig wie der unscheinbare Dummling, noch besitzt er das harmlos Liebenswerte des J Dümmlings. Er wird entweder als namenloser Dummkopf 25 charakterisiert, oder er trägt einen märchentypischen Allerweltsnamen (Hans, Jean, Ivan, Jack, Peter). Außer dem Attribut
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,dumm‘26 betonen weitere ähnliche Charakterisierungen (albern27, töricht28, närrisch29, tölpelhaft30, einfältig31, vergeßlich32), daß ihm die Kraft der Logik ganz und gar fehlt. Überdies steckt er in einer stark einengenden Mutterbindung, und die Aufträge, die er zu erledigen hat, lösen keinen Reifungs- und Individuationsprozeß aus; Versuche, eine Bindung mit einer anderen Frau einzugehen, scheitern. Die Erzählungen enden mit der wenig erfreulichen Rückkehr ins mütterliche Haus, das dem Dummen allerdings kaum noch Geborgenheit bietet: Er erhängt sich33, wird verrückt34 oder traut sich nie wieder in die Welt hinaus35. So bildet der Protagonist von AaTh/ATU 1696 das männliche Pendant zu der lern- und lebensunfähigen Heldin in AaTh/ATU 1450, 1386, 1387: J Kluge Else. 1 Meyer, M. de: Vlaamsche sprookjesthema’s in het licht der Romaansche en Germaansche kultuurstroomingen. Leuven 1942, 164⫺172 (Redaktion 1), 172⫺184 (Redaktion 2); Dekker/van der Kooi/Meder, 404⫺407. ⫺ 2 KHM/Uther 4, 267. ⫺ 3 Christensen, N.: Folkeeventyr fra kær Herred. ed. L. Bødker. Kop. 1963⫺67, num. 19; Kvideland, R./Sehmsdorf, H. K.: All the World’s Reward. Seattle/L. 1999, num. 40 (norw.), 59 (dän.); Bødker, L./Hole, C./ D’Aronco, G.: European Folktales. Kop. 1963, 28⫺ 33 (schwed.); Soupault, R.: Frz. Märchen. MdW 1963, num. 21; Coulomb, N./Castell, C.: La Barque qui allait sur l’eau et sur la terre. Carcassonne 1986, num. 5; Fabre, D./Lacroix, J.: Histoires et le´gendes du Languedoc myste´rieux. P. 1970, 245⫺253; Lambert, L.: Contes populaires du Languedoc. Carcassonne 1985, num. 11; Pelen, J.-N.: Le Conte populaire en Ce´vennes. P. 21994, num. 42; Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 371, 372; Roure-Torent, J.: Contes d’Eivissa. Mexiko 1948, 39⫺45 (von Ibiza); Kosch, M.: Volksmärchen aus Mähren. Kremsier [ca 1898], num. 7; Jahn, U.: Schwänke und Schnurren aus Bauern Mund. B. 1890, 100⫺110; Nord, R.: Plattdt. Volksmärchen aus Waldeck. Korbach 1939, 25⫺37; Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1957, num. 20; Afanas’ev, num. 404; Robe, S. E.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berk./L. A./L. 1970, num. 133; JAFL 34 (1921) 193, num. 51 (a) (puertorikan.). ⫺ 4 Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 120; Vinson, J.: Le Folklore du pays basque. P. 1883, 93; Se´billot, P.: Contes populaires de la Haute-Bretagne 1. P. 1880, num. 3; Meier, H.: Span. und port. Märchen. MdW 1940, num. 57 (port.); Stumme, H.: Maltes. Märchen. Lpz. 1904, num. 15; Chudjakov, I. A.: Velikorusskie skazki. ed. V. G. Bazanov/O. B. Alekseev. Len. 1964, num. 28. ⫺ 5 Coulomb/Castell (wie not. 3); Massignon, G.: Contes corses. Aix-en-Pro-
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Waschen: Schwarzes weiß w. ⫺ Wasser
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500
15 Chavannes 3, num. 408. ⫺ 16 Montanus/Bolte, num. 50. ⫺ 17 KHM/Uther 4, 266. ⫺ 18 Danilov, K.: Drevnie rossijskie stichotvorenija. M. 1918, 390; Sˇejn, P. V.: Russkie narodnye pesni 1. M. 1870, 279. ⫺ 19 BP 1, 311⫺322. ⫺ 20 Rittershaus, A.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle 1902, num. 122; Schier, K.: Märchen aus Island. MdW 1983, num. 41. ⫺ 21 Debus, O.: Till Eulenspiegel in der dt. Volksüberlieferung. Diss. (masch.) Marburg (1951), B 5 a, b, c; Dittmaier, H.: Sagen, Märchen und Schwänke von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 433; MerkelbachPinck, A.: Volkserzählungen aus Lothringen. Münster 1967, 200 sq. ⫺ 22 van der Kooi. ⫺ 23 Bosˇkovic´Stulli, M.: Narodne pripovijetke. Zagreb 1963, num. 95. ⫺ 24 Meier, H./Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 24. ⫺ 25 Baranowski, A.: Litau. Mundarten. Lpz. 1920, num. 27; Cepenkov, M. K.: Makedonski prikazni 4. Skopje 1989, num. 218; Chudjakov (wie not. 4); Afanas’ev, num. 403; Baissac, C.: Le Folk-Lore de l’Iˆle-Maurice. P. 1888, num. 7. ⫺ 26 Leskien, A./Brugman, K.: Litau. Volkslieder und Märchen […]. Straßburg 1882, num. 206; Bondeson, A.: Svenska Folksagor fra˚n Skilda Landskap. Stockholm 1882, num. 17; Espinosa 1, num. 182, 183; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. B. 1935, num. 65; Knoop, O.: Ostmärk. Sagen 1. Lissa 1909, num. 86; Busch, W.: Ut oler Welt. Mü. 1910, num. 16; Nedo, P.: Lachende Lausitz. Ffm. 1957, 57⫺59; Müller-Rüdersdorf (wie not. 6). ⫺ 27 Lichtenfeld (wie not. 5); Peuckert (wie not. 6) num. 280. ⫺ 28 Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1990, num. 44; Kohl-Larsen, L.: Reiter auf dem Elch. Volkserzählungen aus Lappland. Kassel 1971, 136⫺138; Bebel/Wesselski 1, num. 26. ⫺ 29 Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen. Hannover 1854, num. 84; Esche, A.: Märchen der Völker Burmas. Lpz. 1976, 301⫺303; Pauli/Bolte 2, num. 762. ⫺ 30 Meier (wie not. 4). ⫺ 31 Cepenkov (wie not. 25). ⫺ 32 Carnoy, E. H.: Litte´rature populaire de la Picardie. P. 1883, 83⫺85; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1999, num. 147; Jungbauer, G.: Böhmerwaldmärchen. Passau 1923, num. 20. ⫺ 33 Coulomb/Castell (wie not. 3); JAFL 36 (1923) 233⫺235, num. 101 (frankokanad.). ⫺ 34 Baissac (wie not. 25); Afanas’ev, num. 404. ⫺ 35 Anthropophyteia 8 (1911) 334, num. 2; Cepenkov (wie not. 25).
Mariakerke
Harlinda Lox
Waschen: Schwarzes weiß w. J Aufgaben, unlösbare
Wasser, neben J Feuer, J Luft und J Erde eines der vier Elemente1, ist unmittelbare Voraussetzung und Sinnbild des Lebens. W. ist die
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Wasser
einzige chemische Verbindung, die in der Natur in allen drei Aggregatzuständen vorkommt. Seine Erscheinungsformen als Niederschlag oder als Gewässer (J Fluß; J Meer) sind vielfältig. W. tritt aus der Erde (J Quelle) aus, kann rasch fließen oder völlig unbeweglich sein. Es hat enorme physische Kraft. Mitunter besitzt es Heilwirkung (Heilbad). W. ist ein unentbehrliches und zugleich ein gefährliches Element, da sowohl sein Mangel (Dürre) als auch sein Überfluß (Hochwasser, Flut)2 lebensbedrohlich sein können. Hierdurch erklärt sich die ambivalente Symbolik des W.s3. Im religiösen Denken wird es mit J Schöpfung, Geburt und Wiedergeburt in Beziehung gebracht4. Aufgrund seiner reinigenden Wirkung ist W. ein Symbol für Reinheit; so kennen Judentum, Islam und Hinduismus rituelle Waschungen. In der christl. J Taufe wird mittels des W.s die Aufnahme in die Gemeinschaft vollzogen. Volksbräuche veranschaulichen die Bedeutung des W.s als reinigende oder heilende sowie als magische Kraft (cf. auch AaTh/ATU 759 A: Der sündige J Priester)5. W. erscheint in allen Gattungen der Erzählüberlieferung6. Es ist Ur- oder Hauptelement in Schöpfungsmythen, in der Genesis und im Mythos vom Erdtaucher, der die Erde aus einem Urmeer holt7, wie auch in mythol. Erzählungen von der J Sintflut und von der Entstehung des Meeres und seiner Eigenschaften oder bestimmter Seen und Gewässer8. Mythol. Erzählungen erklären Regen als Resultat einer göttlichen Handlung (J Regen, Regenwunder; cf. auch J Tau). Regenzauber ist eine Möglichkeit, Macht über das W. zu demonstrieren, er hat politische Bedeutung und legt Machtverhältnisse dar9. Traditionelle Erzählungen über W. beziehen sich daher auch auf soziale und politische Verhältnisse und Konflikte und werfen moralische Fragen auf 10. In zahlreichen Legenden zeigen J Christus und christl. Heilige ihre Macht, indem sie trokkenen Fußes durch oder über W. gehen (cf. AaTh/ATU 827: J Heiligkeit geht über W.)11. Christus verwandelt W. in Wein (Joh. 2,1⫺11; J W. wird Wein). Der Ursprung von Quellen und J Brunnen wird oft als Wunder gedeutet (J Quellwunder), das hl. Personen zugeschrieben wird. Erzählungen berichten auch von der Heilkraft der Quellen (J Heilen, Heiler, Heil-
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mittel). In Europa waren Quellen ursprünglich heidnischen Gottheiten geweiht, die im Zuge der Christianisierung durch christl. Heilige ersetzt wurden12. Mit der Verehrung des W.s ist die Vorstellung verbunden, daß die Verunreinigung von Flüssen und anderen Gewässern negative Folgen habe (Herodot 1,138; cf. auch J Frevel, Frevler)13. In finno-ugr. Sagen bewegt sich ein See aus Ärger darüber, daß Menschen sein W. verschmutzt haben, an einen anderen Ort14. In mythol. Erzählungen, Sagen und Legenden wird von Städten berichtet, die zur J Strafe für das sündige Leben und die Verderbtheit ihrer Bewohner (Atlantis, Vineta, Rungholt), aber auch zum Schutz ihrer Einwohner vor Feinden (Kitezˇ15) im Meer versanken (J Topographie, fiktive; J Versinken)16. Gewässer, bes. Flüsse, bilden schwer zu überwindende Hindernisse. Sie sind natürliche J Grenzen innerhalb der realen Welt, in Erzählungen markieren sie aber auch den Übergang zum J Jenseits (J Jenseitswanderungen; J Unterwelt)17. Sie werden als gefährliche Orte dargestellt, an denen Menschen auf übernatürliche Wesen treffen. Animistischen Vorstellungen zufolge (J Animismus) beherbergen die vier Elemente je einen Naturgeist (J Elementargeister). J W.geister, im W. lebende dämonische Wesen, sind im Erzählgut weltweit verbreitet. Sagen über W.geister dramatisieren die Gefahren des Ertrinkens (J Ertränken, Ertrinken) oder der Dürre18. Oft ist das W. ein ausgesprochen wilder, nicht kultivierter Raum; das Vordringen von Menschen in Flüsse und Teiche wird daher als Zeichen von Mut angesehen19. W. allg. hat in der Erzählüberlieferung vielfach symbolische Bedeutung20. So werden Gewässer in afrik. Märchen als Ort der J Initiation, der Wiedergeburt und des Statuswechsels und das W. als weibliches Symbol bezeichnet21. Die J Aussetzung eines neugeborenen Kindes im W. kann als Geburtssymbol gedeutet werden22. Die magische Kraft des W.s kommt bes. in der Vorstellung vom J Lebenswasser zum Tragen. Sie erscheint bereits in einer Reihe mythol. Erzählungen, in der die Absicht einer Gottheit, den Menschen ewiges Leben zu schenken, durch einen Irrtum mißlingt.
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Wasser
Mond und Sonne schicken den Menschen einen Boten mit dem W. des Lebens und des Todes. In seiner Abwesenheit gießt eine Schlange das Lebenswasser über sich und wird unsterblich; den Menschen bleibt nur das W. des Todes23. ⫺ Das Lebenswasser wird von einem Ungeheuer getrunken, das jetzt Sonnen- und Mondfinsternisse verursacht oder dessen Körper die Mondflecken bildet24. ⫺ Eine Krähe (Rabe), die den Menschen das Lebenswasser bringt, erschrickt durch den Schrei einer Eule und verschüttet das W. über einer Fichte (Tanne), die daher immergrün ist. Der Rabe trinkt vom Lebenswasser25. ⫺ Eine Gottheit möchte ein aus einem Ei geborenes Mädchen zum Leben erwecken. In ihrer Abwesenheit tut dies eine andere Gottheit. Als die erste mit dem Lebenswasser zurückkehrt, zerbricht sie aus Zorn über diese Einmischung das Gefäß. Das Lebenswasser wird über die Saat aller Pflanzen verschüttet, die seitdem nachwachsen, auch wenn sie geschnitten werden26. ⫺ Der Sohn eines Schutzgeistes bringt den Menschen das W. der Unsterblichkeit in einem Taroblatt. Ein böser Vogel bewegt den Zweig eines Baumes, um das Blatt zu zerreißen. Das W. ergießt sich über den Baum, der unsterblich bleibt27. ⫺ Als J Verjüngungswasser erscheint das Motiv in einem Schwank28.
J Wiederbelebung, J Verwandlung (cf. auch J Geschlechtswechsel) und J Erlösung erfolgen in Märchen durch Waschen, J Baden oder Besprengen mit und durch Trinken von W., was an Volksbräuche erinnert29. Als Mittel zur Verwandlung dient W. in AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen. Die Protagonistin in Var.n von AaTh/ATU 313: J Magische Flucht verwandelt sich in ein Gewässer, um sich vor einem tödlichen Feind zu retten; in anderen Var.n des Erzähltyps werden Gegenstände u. a. zu einem Gewässer und bilden Hindernisse für die Verfolger. Eine bes. Form der Verwandlung liegt in AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder vor: Hier wird die Mutter des Helden durch Trinken von magischem W. schwanger (J Empfängnis, wunderbare; J Schwangerschaft)30. Der Ursprung der Vorstellung von der Verwandlungskraft des W.s im Märchen wurde durch traumähnliche Visionen, die sich während des Untertauchens im W. einstellen, erklärt31, ein Motiv, das auch in Var.n von AaTh/ATU 681: J Relativität der Zeit begegnet32. In Zaubermärchen zählt es zu den unlösbaren J Aufgaben, W. in einem Sieb zu schöpfen oder zu transportieren (AaTh/ATU 313; AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen). Das bereits im griech. Mythos be-
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legte Motiv (J Danaiden) begegnet auch im Legendenschwank von J Meister Pfriem (AaTh/ATU 801). In AaTh/ATU 1180: Catching Water in a Sieve wird der Teufel überlistet, indem die Protagonistin ihm diese auch für ihn unerfüllbare Aufgabe stellt. Daneben findet sich das Motiv in Sagen und Sprichwörtern (cf. auch ATU 682: J Augustinus und das Knäblein)33. Die elementare Bedeutung des W.s für die menschliche Existenz wird thematisiert, wenn lediglich W. und J Brot ausreichen, um das Überleben des Protagonisten zu sichern. In AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen sterben die ersten beiden Orangenprinzessinnen, weil sie kein W. erhalten. Der W.tod durch Ertränken trifft in Märchen meist den Antagonisten als Strafe (AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein); diese wird ⫺ der optimistischen Grundhaltung des Märchens entsprechend ⫺ dem Helden, wenn sie ihm zugedacht ist, nicht zuteil (AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne; AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels), oder bereits Ertrunkene werden wieder zum Leben erweckt (AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut). Reflexionen auf der W.oberfläche wie in AaTh/ATU 408 und AaTh/ATU 1336 A: cf. J Spiegelbild im W. sind trügerisch. Der Furchtlose in AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen scheut einen Guß mit kaltem W. mehr als alle Geister. Schwänke bedienen sich der bes. Eigenschaften oder Bedeutung des W.s, um die Absurdität der Handlung zu demonstrieren (AaTh/ATU 1278: Die merkwürdige J Markierung; AaTh/ATU 1260, 1260 A: cf. J Mahl der Einfältigen; AaTh/ATU 1361: J Flut vorgetäuscht; AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit; AaTh/ATU 1555 B: The Wine and Water Business). In AaTh/ATU 1567 A: cf. J Hungrigenschwänke wird einem Gast vor dem Essen W. serviert, um ihm den Magen zu füllen (cf. AaTh/ATU 1567 A: Stingy Innkeeper Cured of Serving Weak Beer). In AaTh/ATU 1060: cf. J Wettstreit mit dem Unhold wird die Fähigkeit, W. zu erzeugen, vorgetäuscht34. Im Kettenmärchen vom J Tod des Hühnchens (AaTh/ATU 2021) sucht der Hahn vergeblich nach W. für seine Henne. W. erscheint auch als Kernmotiv in Kurzformen der mündl. Prosa35 und in Sprichwörtern (,jemandem das W. abgraben‘, ,kein W.chen trüben können‘, ,das W.
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Wasser
steht jemandem bis zum Hals‘)36. W. begegnet darüber hinaus in Rätseln („Runs smoother than any rhyme,/ Loves to fall but cannot climb“)37. In Var.n von AaTh/ATU 851: cf. J Rätselprinzessin wird der Protagonist gefragt, was ,W., das weder vom Himmel noch von der Erde kam‘ sei (Kondenswasser, Tau). 1 Nilgen, U.: Elemente, vier. In: LCI 1 (1968) 600⫺ 606; Jüttner, G. u. a.: W. In: Lex. des MA.s 8. Stg./ Weimar 1999, 2060⫺2074; Sukanda-Tessier, V.: Les cinq E´le´ments dans la litte´rature orale a` Sunda (Java Ouest). In: Cahiers de litte´rature orale 61 (2007) 39⫺ 76; Colombel, V.: L’Eau dans les monts du Mandara. In: L’Homme et l’eau dans le bassin du lac Tchad/Man and Water in the Lake Chad Basin. ed. H. Jungraithmayr/D. Barreteau/U. Seibert. P. 1997, 315⫺336. ⫺ 2 z. B. Rieken, B.: Nordsee ist Mordsee. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster 2005. ⫺ 3 Vinogradova, L. N.: Voda (W.). In: Slavjanskie drevnosti 1. M. 1995, 386⫺390. ⫺ 4 Eliade, M.: Traite´ d’histoire des religions. P. 1964, 165⫺187; Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 1978, 338⫺ 341. ⫺ 5 Hühnerkopf, R.: W. In: HDA 9 (1938⫺41) 107⫺122; Goldziher, I.: W. als Dämonen abwehrendes Mittel. In: ARw. 13 (1910) 20⫺46; Ninck, M.: Die Bedeutung des W.s im Kult und Leben der Alten. (Lpz. 1921) Nachdr. Darmstadt 1960, 47⫺99; Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺4. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1989⫺92, hier t. 1, 70; t. 3, 441; Hauenstein, A.: L’Eau et les cours d’eau dans diffe´rents rites et coutumes en Afrique occidentale. In: Anthropos 79 (1984) 569⫺585; Tolstoj, N. I./Tolstaja, S. M.: Zametki po slavjanskomu jazycˇestvu. 2: Vyzyvanie dozˇdja v Poles’e (Bemerkungen zum slav. Heidentum. 2: Das Hervorrufen von Regen in Polesien). In: Slavjanskij i balkanskij fol’klor. ed. I. M. Sˇeptunov. M. 1978, 95⫺130; iid.: Zametki po slavjanskomu jazycˇestvu. 1: Vyzyvanie dozˇdja u kolodca (Bemerkungen zum slav. Heidentum. 1: Das Hervorrufen von Regen am Brunnen). In: Russkij fol’klor 21 (1981) 87⫺98; Tolstaja, S. M.: Dozˇd’ v fol’klornoj kartine mira (Der Regen im Weltbild der Volksüberlieferung). In: Issledovanija po slavjanskomu fol’kloru i narodnoj kul’ture/Studies in Slavic Folklore and Folk Culture 1. ed. A. Archipov/I. Polinskaja. Oakland 1997, 105⫺119; Hanchuk, R.: The Word and Wax. A Medical Folk Ritual among Ukrainians in Alberta. Edmonton 1999, 13⫺15; Porytskaya, O.: Rituels de l’eau en Ukraine et dans les pays slaves. In: Ethnologie franc¸aise 34 (2004) 267⫺272; Tubach, num. 1810, 5207, 5211, 5212; Hand, W. (ed.): The Frank C. Brown Collection of North Carolina Folklore 7. Durham 1964, num. 5576; Hall, R.: Ghosts, Water Barriers, Corn, and Sacred Enclosures in the Eastern Woodlands. In: American Antiquity 41 (1976) 360⫺364. ⫺ 6 Musi, C. C.: The Magic and Mythology of Water
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Wasser
170⫺182; Belmont, N.: Les Croyances populaires comme re´cit mythologique. In: L’Homme 10 (1970) 94⫺108; Büchli (wie not. 5) t. 3, 867; Se´billot (wie not. 8) 175⫺326; Caulier, B.: L’Eau et le sacre´. P. 1990; Gribben, A.: Holy Wells and Sacred Water Sources in Britain and Ireland. An Annotated Bibliogr. N. Y. 1992; Rattue, J.: The Living Stream. Holy Wells in Historical Context. Woodbridge 1995; Beljakova, M. M. u. a.: Mestnye svjatyni v nizˇegorodskoj ustnoj narodnoj tradicii. Rodniki, cˇasovni pri nich (Lokale Heiligtümer in der mündl. Volksüberlieferung Nizˇnij Novgorods. Quellen und deren Kapellen). Nizˇnij Novgorod 2003. ⫺ 13 Rahmonı¯, R.: Traces of Ancient Iranian Culture in Boysun District, Uzbekistan. In: Asian Folklore Studies 60 (2001) 295⫺304; Weinhold, K.: Die Verehrung der Quellen in Deutschland. In: Phil. und hist. Abhdlgen der kgl. Akad. der Wiss.en zu Berlin (1898) 1⫺69, hier 33 sq.; Se´billot (wie not. 8) 192 sq.; Büchli (wie not. 5) t. 1, 202, 344; t. 2, 878. ⫺ 14 Holmberg, U.: Die W.gottheiten der finn.-ugr. Völker. Helsingfors 1913, 94, 189 sq., 234 sq. ⫺ 15 Morochin, V. N.: Legendy i predanija Volgi-reki (Legenden und Sagen des Flusses Wolga). Nizˇnij Novgorod 2002, 110⫺ 114. ⫺ 16 Se´billot (wie not. 8) 41⫺69, 388⫺401; Doan, J.: The Legend of the Sunken City in Welsh and Breton Tradition. In: FL 92 (1981) 77⫺83; Armangue´ i Herrero, J.: La leggenda del lago di Baratz. In: L’acqua nella tradizione popolare sarda. ed. id. Cagliari 2002, 59⫺69; Busia, S.: La leggenda di Hiade, sommersa dalle acque di uno stagno. ibid., 71⫺74; Bouza-Brey Trillo, F.: La mitologı´a del agua en el Noroeste hispa´nico. Vigo 1973, 31; Morote Best, E.: Aldeas sumergidas. Cultura popular y sociedad en los Andes. Cuzco 1988, 241⫺282. ⫺ 17 Siuts, H.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911, 38⫺42, 239 sq.; Wilbert, J.: Yupa Folktales. L. A. 1974, 80⫺84; Müller/Röhrich, num. N 20; Mencej, M.: Pomen vode v predstavah starih Slovanov o posmrtnem zˇivljenju in sˇegah ob smrti (Die Bedeutung des W.s in den Vorstellungen der alten Slaven vom jenseitigen Leben und in Todesbräuchen). Ljubljana 1997, 46⫺50; ead.: Vorstellung vom W. als Grenze zum Jenseits in der slov. Volkslit. In: Studia mythologica Slavica 1 (1998) 205⫺224; Rolle des W.s im Wahrsagen cf. Ninck (wie not. 5) 47⫺56; Vinogradova (wie not. 3) 389; Propp, V. Ja.: Istoricˇeskie korni volsˇebnoj skazki (Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens). Len. 1946, 192 sq. ⫺ 18 Kosack, G.: Das W. in den Geschichten, im Leben der Mafa. In: Jungraithmayr u. a. (wie not. 1) 297⫺ 304. ⫺ 19 Bornand, S.: Les Repre´sentations de l’eau dans les re´cits de griots songhay-zarma (Niger). In: Cahiers de litte´rature orale 61 (2007) 139⫺176; Ugochukwu, F.: „Cette Eau-la` mange les gens“. Vie et mort sur la berge en pays Igbo (Nigeria). ibid., 177⫺ 195; Adwiraah, E.: The Role of Water in Some Chadic Tales. In: Jungraithmayr u. a. (wie not. 1) 419⫺423. ⫺ 20 Maennersdoerfer, M. C.: Schicksal und Wille in den Märchen der Brüder Grimm. Diss. Bonn 1965, 40⫺43; Heindrichs, U.: Zauber Märchen
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Brunnen. In: Zauber Märchen. ed. ead./H.-A. Heindrichs. Mü. 1998, 124⫺141; cf. aber Arca, A.: Acqua e miracoli nelle fiabe algheresi raccolte da Guarnerio e Bottiglioni. In: Armangue´ i Herrero (wie not. 16) 33⫺37. ⫺ 21 Calame-Griaule, G.: Les Chemins de l’autre monde. Contes initiatiques africains. In: Cahiers de litte´rature orale 39⫺40 (1996) 29⫺59. ⫺ 22 Rank, O.: Der Mythus von der Geburt des Helden. Lpz. 1909, 69⫺74; Propp (wie not. 17) 223⫺225. ⫺ 23 Waida, M.: Symbolisms of the Moon and the Waters of Immortality. In: History of Religions 16,4 (1977) 407⫺ 423 (Ryukyu-Inseln). ⫺ 24 Potanin, G. N.: Ocˇerki severo-zapadnoj Mongolii (Skizzen der nordwestl. Mongolei) 4. SPb. 1883, 209 sq.; Harva, U.: Die religiösen Vorstellungen der altai. Völker (FFC 125). Hels. 1938, 187. ⫺ 25 Potanin (wie not. 24) 210 sq.; Harva (wie not. 24) 127. ⫺ 26 Schwaner, C. A. L. M.: Borneo. Beschrijving van het stroomgebied van den Barito 1. Amst. 1853, 179 sq.; Dixon, R.: The Mythology of All Races. 9: Oceanic. Boston 1916, 173 sq. ⫺ 27 Kubary, J.: Die Palau-Inseln in der Südsee. In: J. des Museum Godeffroy 1,4 (1873) 177⫺ 238, cf. 222 sq.; Dixon (wie not. 26) 252 sq.; cf. Williamson, R.: Religious and Cosmic Beliefs of Central Polynesia 2. Cambr. 1933, 150 (Rarotonga); Zimmern, H.: Lebensbrot und Lebenswasser im Babylon. und in der Bibel. In: ARw. 2 (1899) 165⫺177. ⫺ 28 Naumann, N.: Lebenswasser ⫺ eine mythisch-religiöse Vorstellung und ihr klägliches Ende als Schwankmotiv. Das jap. Beispiel. In: „Roter Altai, gib dein Echo!“ Festschr. E. Taube. Lpz. 2005, 319⫺ 338; Hopkins, E. W.: The Fountain of Youth. In: J. of the American Oriental Soc. 26 (1905) 1⫺67, 411⫺ 415, hier 411 (jap.). ⫺ 29 Mackensen, L.: Gegenzauber. In: HDM 2 (1934⫺40) 406⫺410; Tempest, S.: Water. Folk Belief, Ritual and the East Slavic Wondertale. Diss. New Haven 1993; Ninck (wie not. 5) 138⫺180. ⫺ 30 Wilbert (wie not. 17) 92⫺95 (Schwangerschaft durch Reise über W.); Bosˇkovic´-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, 124⫺126 (Mann schwanger vom W.trinken). ⫺ 31 Leyen, F. von der: Zur Entstehung des Märchens [1904]. In: Wege der Märchenforschung. ed. F. Karlinger. Darmstadt 1973, 16⫺41. ⫺ 32 Ting, N.-t.: Years of Experience in a Moment. A Study of a Tale Type in Asian and European Literature. In: Fabula 22 (1981) 183⫺213. ⫺ 33 Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca 2002, 69⫺75; Müller/Röhrich M 20; Schwarzbaum, 101; Röhrich, Redensarten 3, 1698; cf. Tubach, num. 5377. ⫺ 34 cf. Bascom, W.: African Folktales in America. In: Research in African Literatures 13 (1982) 196⫺207. ⫺ 35 Marzolph, Arabia ridens, Reg. s. v. W.; Stroescu, 3955⫺3958, 4959; Robe 1539, 1640; Eberhard/Boratav, Reg. s. v. W. ⫺ 36 cf. Röhrich, Redensarten 3, 1697⫺1702; Tahmen, G.: One Hundred Liberian Proverbs Connected with Water. Monrovia s. a., i⫺iv, 1⫺25. ⫺ 37 Taylor, A.: English Riddles from Oral Tradition. Berk. 1951,
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Wasser des Lebens
num. 218, Reg. s. v. Water; Sadovnikov, D. N.: Zagadki russkogo naroda (Rätsel des russ. Volkes). M. 1959, 176⫺181.
San Francisco
Andreas Johns
Wasser des Lebens (AaTh/ATU 551), Zaubermärchen um die J Suchwanderung eines jungen Mannes zur Erlangung eines Heilmittels (J Heilen, Heiler, Heilmittel) für seinen Vater. Einem kranken König kann nur durch ein wunderbares Heilmittel (J Lebenswasser, verjüngende J Äpfel, wunderbarer Vogel) geholfen werden. Derjenige seiner drei Söhne, der es beschaffen kann, soll das Königreich erben. Die beiden älteren Söhne lassen sich von ihrer Suche nach dem Lebenswasser abbringen (werden von Frauen verlockt, werden verwünscht), der J jüngste erhält aufgrund seiner Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit Rat und magische Gegenstände von einem Helfer (alter Mann, Zwerg). Er gelangt zu einem verwunschenen Schloß, das er innerhalb einer Stunde wieder verlassen muß. Dort besänftigt er die Wächtertiere, schwängert die schlafende Prinzessin (J Vergewaltigung) und gelangt in den Besitz des Lebenswassers sowie weiterer Schätze (Schwert, Brot, Wein). Kurz vor Ende der Frist verläßt er das Schloß (cf. J Fersenklemmen). Auf dem Rückweg erlöst der Prinz seine Brüder. Auf dem Heimweg kommen die Brüder durch drei Länder, in denen Hunger, Dürre und Krieg herrschen; der jüngste kann mittels seiner Schätze Abhilfe schaffen. Die Brüder tauschen das Lebenswasser unbemerkt gegen gewöhnliches Wasser (Meerwasser, Gift) aus und verleumden den Prinzen. Der König will ihn daraufhin töten lassen, er entgeht aber der Bestrafung. Gleichzeitig sucht die Prinzessin nach dem Vater ihres inzwischen geborenen Sohns. Den Usurpationsversuchen der älteren Brüder begegnet die Prinzessin mit einer List: Um den Vater ihres Kindes zu erkennen, läßt sie den Weg mit einem goldenen Tuch bedecken, nur der jüngste reitet achtlos darüber (J Vaterwahl); oder sie kann ihn durch ein J Erkennungszeichen identifizieren. Manchmal kommen auch die drei Könige, denen der Prinz geholfen hatte, und leisten ihm Beistand. Als der König vom Betrug der älteren Brüder erfährt, werden diese bestraft (fliehen), und der jüngste erbt das Königreich.
Schwierigkeiten der Zuordnung von Texten zu AaTh/ATU 551 oder AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter haben dazu geführt, daß in AaTh eine gemeinsame Inhaltsbeschreibung für beide Erzähltypen angeführt wird1. Dies ist der Konstituierung von AaTh/ ATU 550 geschuldet, bei der eine mündl.
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Überlieferung vorausgesetzt wurde und der Einfluß von Christoph Wilhelm Günthers Kindermährchen (1787) unberücksichtigt blieb2. Der verjüngende oder heilende Vogel repräsentiert ein symbolisches Äquivalent des Lebenswassers (J Phönix). Als zu AaTh/ATU 551 gehörig lassen sich einzig die Texte des 17./ 18. Jh.s und die von ihnen abhängigen Var.n des 19./20. Jh.s identifizieren, welche die Vergewaltigungsszene enthalten. Alle anderen als AaTh/ATU 551 klassifizierten Texte sind AaTh/ATU 550 zu subsumieren. Ein Exemplum in der Scala coeli des J Johannes Gobi Junior (num. 538) kann als Vorläufer der frühneuzeitlichen und modernen Erzählungen vom W. des L. angesehen werden3: Ein Prinz macht sich auf, das Lebenswasser für seinen kranken Vater zu suchen. Dabei muß er vier Gefahren bestehen: Er muß einen J Drachen töten, darf eine Gruppe schöner Mädchen nicht ansehen, keine Waffen von bestimmten Rittern annehmen und die Glöckchen an der Pforte zum Lebenswasser nicht zum Klingen bringen. Er gewinnt das Wasser sowie die Jungfrau, die es bewacht.
Dieser Text könnte eine Metapher für den Weg zum vollkommenen christl. Leben darstellen, wobei der Drache z. B. für die Ungläubigen und die Jungfrau für die Kirche steht; das Wasser selbst könnte das ewige Leben und den Geist des Erlösers bedeuten4. Struktur und Inhalt der späteren Zaubermärchen sind bereits anhand einer Anzahl von Texten aus dem 17. Jh. erkennbar: Ein ndl. Text (1647), der vorgibt, eine Übers. aus dem Französischen zu sein5, bildet den Ausgangspunkt für die Übertragung in eine Reihe skand. Sprachen (isl. 1691, dän. 1696, schwed. 1701)6. Eine russ. Var. erschien 17867. Auf eine ebenfalls 1786 veröffentlichte andere russ. Erzählung8 geht die in Rußland verbreitete Geschichte von der dreifachen Suche nach den Äpfeln der Jugend, dem Lebenswasser und einem unsichtbaren Mann, der alle Krankheiten heilen kann, zurück9; vereinzelt begegnet diese Fassung auch außerhalb Rußlands10. Im Kontext der Überlieferung des 19./20. Jh.s steht auch die (pseudo-)oriental. Erzählung über den König von Jemen und seine drei Söhne im Wortley-Montague-Ms. von J Tausendundeine Nacht. Hier findet der Held auf der Suche nach einem Vogel (cf. AaTh/ATU 550) nacheinander drei schlafende Prinzessinnen, denen
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Wasser des Lebens
er (ohne sie zu schwängern) eine Nachricht in die Hand schreibt; die Prinzessinnen folgen ihm in seine Heimat11. Ein noch eher auf die W. des L.-Erzählung zutreffender arab. Text in der Pariser Bibliothe`que nationale wurde 1888 publiziert12. Es erscheint plausibel, daß beide arab. Texte auf europ. Vorlagen basieren. Mit den ndl. und skand. Texten aus populärer gedr. Überlieferung ist die Fassung aus den J Kinder- und Hausmärchen, die W. J Grimm im August 1813 auf dem westfäl. Gut Bökendorf aufzeichnete und für die Publikation bearbeitete (KHM 11 [1815]; 97 [21819]), eng verwandt. Im wesentlichen sind die Versuchungen, denen die Brüder aufgrund ihres Verhaltens gegenüber dem Zwerg begegnen, geändert, außerdem erfolgte eine Entsexualisierung der Begegnung mit der Prinzessin, und es wurde ein Jäger eingefügt, der den Protagonisten töten soll, als dieser seine Aufgabe nicht erfüllt zu haben scheint13. In den Fassungen des 19./20. Jh.s ist der Einfluß sowohl der Texte aus dem 17./18. Jh. als auch der KHM spürbar14. Innerhalb dieses Rahmens können zahlreiche Elemente variiert werden. Die Schwängerung der schlafenden Jungfrau durch den Protagonisten wird meist umschrieben, manchmal beschönigend als keuscher Kuß, manchmal fehlt sie völlig, oder es ist nur die Rede von der Geburt eines Kindes15, manchmal wird sie auch als die Befreiung der Prinzessin dargestellt, immer aber sucht die Prinzessin nach dem Helden. Bei der J Krankheit des Königs kann es sich etwa um J Blindheit16 oder Gicht17 handeln. In osteurop. Var.n hat der Herrscher eine lachende und eine weinende Gesichtshälfte18. Ferner variieren die Heilmittel: In einigen Texten finden sich z. B. heilende Äpfel (cf. AaTh/ATU 610: Die heilenden J Früchte)19. Heilende Vögel tragen oft die von ,Phönix‘ abgeleiteten Namen Venus, Fenus, Phönus, Senavogel (cf. AaTh/ATU 550); manchmal erscheint mit dem Pelikan ein anderes christl. Symbol20. In einem Fall findet der jüngste Sohn heilende Erde als Mittel gegen die Blindheit seines Vaters21 oder ein goldenes Buch, das diesen um 25 Jahre verjüngt (J Verjüngung)22. Die in anderen Zaubermärchen erscheinende Episode der J Wiederbelebung durch Lebenswasser (manchmal im Zusammenhang mit Todeswasser), in welcher der Held von seinen Gegenspielern getötet, seine
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Leiche zerstückelt und von einem Helfer zusammengesetzt und reanimiert wird (cf. J Medea; J Straparola 3,2), ist nur gelegentlich Bestandteil von AaTh/ATU 55123. Schon in den älteren Typenkatalogen wurde AaTh/ATU 551 in einem weiten Sinn aufgefaßt und als Sammelbecken für Erzählungen benutzt, in denen die Suche nach einem Heilmittel unternommen wird24. Hierzu zählen auch zahlreiche außereurop. Erzählungen, die unter AaTh/ATU 551 subsumiert wurden25. Eine Anzahl arab. Erzählungen wurde als Kombination von AaTh/ATU 314: J Goldener und AaTh/ATU 551 klassifiziert, obwohl das charakteristische Motiv der schlafenden Schönheit fehlt26. Die Grundlage hierfür ist ein Text aus G. Spitta Beys Contes arabes modernes27, der seinerseits auf einen Text, den J. G. von J Hahn in Epirus aufgezeichnet hatte, zurückgeht. Das Hauptthema dieser Erzählung ist der Konflikt zwischen dem Protagonisten und seiner Mutter, die einen Liebhaber hat, ein Motiv, das bereits im Alexanderroman (J Alexander d. Gr.) begegnet (cf. auch AaTh/ ATU 590: Die treulose J Mutter); das Heilmittel muß der Held im zweiten Teil der Erzählung für seinen Stiefvater suchen28. Das zentrale Motiv von AaTh/ATU 780: J Singender Knochen wird ebenfalls mit der Suche nach einem Heilmittel kombiniert: In einer sizilian. Var. töten die beiden älteren Brüder den jüngeren, nachdem er die Genesung bringenden Pfauenfedern erlangt hat; ein Schäfer macht aus Haut und Knochen des Toten einen Dudelsack; sein Spiel enthüllt den Mord29. Vergleichbare Erzählungen wurden in Spanien, Portugal und in der Karibik30, singulär auch in Flandern aufgezeichnet31. Eine weitere Kombination betrifft Motive, die sich in als AaTh/ ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen klassifizierten Texten finden (der Protagonist flieht mit Hilfe eines Adlers aus einer Grube)32. Seit dem Spätmittelalter erscheint die Suche nach dem Lebenswasser als bloßes Motiv in anderen Erzählungen, wobei vor allem Straparolas Ancilotto (4,3; cf. AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne)33, Madame d’ J Aulnoys La Belle aux cheveux d’or (AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue) und Plus belle que Fe´e (AaTh/ATU 500: J Name des Unholds ⫹ AaTh/ATU 551) von
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Wasser mit Sieb schöpfen
Mademoiselle de la J Force zu erwähnen sind. In Günthers Märchen müssen zwei Prinzen das Wasser zur Erlösung ihrer in Blumen verwandelten Prinzessinnen von einer lüsternen Frau erwerben34. Von diesen Märchen abhängige Texte wurden später des öfteren als AaTh/ ATU 551 klassifiziert. Eine Strukturanalyse des Märchens macht Schwierigkeiten, da der Held sich auf die Suche nach dem Wasser (heilender Vogel) macht und dabei zugleich eine Braut gewinnt; deshalb muß man die beiden Elemente verschmelzen, um dem Märchen einen Sinn zu geben35. Bereits im späten 17. Jh. wurde eine skand. Erzählung vom W. des L. mit jahreszeitlichen Phänomenen in Zusammenhang gebracht36. 200 Jahre später sah man den mythol. Ursprung der Erzählung als gegeben an, und sie wurde als „ein Sinnbild der Lebenskraft, durch die sich in jedem Jahre die Natur neu verjüngt“ angesehen37. Ein anderer mythol. Ansatz rekurriert auf den menschlichen Wunsch nach ewigem Leben und ewiger Jugend38. Dennoch erscheint die Interpretation vor christl. Hintergrund, nach der das W. des L. die Wiedergeburt J Christi symbolisiert, historisch eher begründet39. 1 Thompson, S.: The Folktale. (N. Y. 1946) Nachdr. Berk./L. A./L. 1977, 107 sq.; Liungman, Volksmärchen, num. 550, 551; Delarue/Tene`ze 2, 348⫺351; Scherf, 1280⫺1285. ⫺ 2 Günther, C. W.: Kindermährchen. ed. T. Eicher. Oberhausen 1999, num. 4. ⫺ 3 Wesselski, MMA, num. 28; Tubach, num. 5214; Berlioz, J./Bremond, C./Velay-Vallantin, C. (edd.): Formes me´die´vales du conte merveilleux. P. 1989, 99⫺105. ⫺ 4 Clausen-Stolzenburg, M.: Märchen und ma. Lit.tradition. Heidelberg 1995, 137, 193; Polo de Beaulieu, M.-A.: E´ducation, pre´dica` ge. Lyon 1999, 47⫺49. ⫺ tion et cultures au Moyen A 5 Meder, T./Hendriks, C.: Vertelcultuur in Nederland. Volksverhalen uit de Collectie Boekenoogen (ca. 1900). Amst. 2005, 735⫺743; Draak, A. M. E.: St. Niklaesgift. In: Tijdschrift voor Nederlandse taalen letterkunde 62 (1943) 81⫺105. ⫺ 6 Wesselski, A.: Ein dt. Märchen des 18. Jh.s. In: Acta philologica Scandinavica 13 (1939/40) 151⫺163; Liungman, Volksmärchen, 158; cf. auch Köhler/Bolte 1, 562 sq. ⫺ 7 Dedusˇkiny progulki. SPb. 1786, num. 3. ⫺ 8 Lekarstvo ot zadumcˇivosti. SPb. 1786, 152⫺188. ⫺ 9 SUS. ⫺ 10 BP 2, 398 sq.; Hylte´n-Cavallius, G./Stephens, G.: Schwed. Volkssagen und Märchen. Wien 1848, num. 9; cf. auch Kennedy, P.: The Fireside Stories of Ireland. Dublin 1870, 87⫺91. ⫺ 11 Chauvin 7, 55 sq., num. 182; Marzolph/van Leeuwen 1, 261 sq., num. 375. ⫺ 12 Groff, F.: Contes ara-
bes. P. 1888, 1⫺16; Chauvin 6, 7 sq. ⫺ 13 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, num. 97; cf. KHM/ Rölleke, num. 97; Rölleke, H.: Die älteste Märchenslg der Brüder Grimm. Cologny-Gene`ve 1975, 92 sq. (frühere Fassung). ⫺ 14 Campbell, M.: Tales from the Cloud Walking Country. Bloom. 1958, 183⫺185; Uffer, L.: Las tarablas da Guarda. Basel 1970, 27⫺35; Hambruch, P.: Südseemärchen. MdW 1921, num. 68 (hawai.). ⫺ 15 Henßen, G.: Überlieferung und Persönlichkeit. Die Erzählungen und Lieder des Egbert Gerrits. Münster 1951, num. 14. ⫺ 16 cf. Schenda, R.: Märchen aus der Toskana. MdW 1996, num. 26. ⫺ 17 Meder/Hendriks (wie not. 5). ⫺ 18 Kremnitz, M.: Rumän. Märchen. Lpz. 1882, num. 20; Tille, 184. ⫺ 19 Knoop, O.: Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben, Gebräuche und Märchen aus dem östl. Hinterpommern. Posen 1885, num. 13; DBF A 1, 355⫺363; Mühlhausen, L.: Diarmuid mit dem roten Bart. Ir. Zaubermärchen. Eisenach/Kassel 1956, 100⫺112 (Früchte). ⫺ 20 Jones, W. H./Kropf, L. L.: The Folk-Tales of the Magyars. L. 1889, 250⫺ 262. ⫺ 21 Megas, G.: Griech. Volksmärchen. MdW 1965, num. 53. ⫺ 22 Tille, 190 sq. ⫺ 23 Dedusˇkiny progulki (wie not. 7); Afanas’ev 1, num. 172; Eberhard/Boratav, num. 81. ⫺ 24 Aarne, A.: The Types of the FolkTale (FFC 74). Hels. 1928; Gonzenbach, num. 51; cf. auch de Meyer, Conte, num. 551; Delarue/Tene`ze 2, 360⫺363 (nur 3 von 11 Var.n tragen erkennbare Züge der Geschichte aus dem 17. Jh.). ⫺ 25 Klipple. ⫺ 26 El-Shamy, Types; Müller, D. H.: Die Mehri- und Soqotri-Sprache 3. Wien 1907, num. 26; Nowak, num. 94. ⫺ 27 Marzolph/van Leeuwen 1, 141, num. 478. ⫺ 28 Hahn, num. 6. ⫺ 29 Gonzenbach, num. 51. ⫺ 30 Robe; Cardigos; Karlinger, F./ Ehrgott, U.: Märchen aus Mallorca. MdW 1968, num. 10; Rey-Henningsen, M.: The Tales of the Ploughwoman (FFC 259). Hels. 1996, num. 22⫺24; Karlinger, F./Pögl, J.: Märchen aus der Karibik. MdW 1983, num. 2. ⫺ 31 Joos, A.: Vertelsels van het Vlaamsche volk 2. Gent 1890, num. 3. ⫺ 32 Gonzenbach, num. 64; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y ´ de Nuevo Me´jico 2. Stanford [1957], num. 228; O Su´illeabha´in/Christiansen; Jason; Cirese/Serafini. ⫺ 33 Clausen-Stolzenburg (wie not. 4) 227⫺229, 397; cf. 233. ⫺ 34 Günther (wie not. 2); cf. Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. (Diss. Göttingen 1984) Stg. 1988, 204. ⫺ 35 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1997, 541⫺543. ⫺ 36 Wesselski (wie not. 6) 160 sq., 165. ⫺ 37 Wünsche, A.: Das W. des L. in den Märchen der Völker. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 13 (1899) 166⫺180. ⫺ 38 Boette[, W.]: Lebenswasser. In: HDA 5 (1932⫺33) 972⫺976. ⫺ 39 Scherf, 1283 sq.
Sicklehatch
Willem de Ble´court
Wasser mit Sieb schöpfen J Danaiden
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Wasser wird Wein
Wasser wird Wein (Mot. D 477.1), Erzählmotiv der wunderbaren J Verwandlung von gewöhnlichem Wasser in J Wein, das sowohl in größeren Erzählkomplexen als auch selbständig erscheinen kann. Das Motiv, das sich in profanen wie auch in religiösen Erzählkontexten findet, ist in weiten Teilen Europas belegt. Aus der Antike1 stammen Hinweise, daß sich in den Dionysostempeln von Elis und auf der Insel Andros anläßlich des Dionysosfestes leere Gefäße mit Wein gefüllt oder Quellwasser in Wein verwandelt hätten (Pausanias 6,26)2. Eine bes. Bedeutung besitzt die Verwandlung von Wasser in Wein in der christl. Religion3. Prototypisch wird bei der im N. T. (Joh. 2,1⫺11) beschriebenen Hochzeit von Kana geschildert, wie Jesus (J Christus), nachdem der Hochzeitsgesellschaft der Wein ausgegangen war, Wasser aus sechs großen Krügen in Wein verwandelte (Geschenkwunder), der besser schmeckte als der bis dahin ausgeschenkte. Die Hochzeit von Kana und das hierbei von Jesus bewirkte erste J Wunder gelten als Sinnbild des Gottesreichs Christi und damit als Erfüllung des A. T.s4. In der frühkathol. Kirche entwickelte sich die gelegentliche gleichzeitige Verwendung von Wasser (als Symbol der J Taufe) und Wein neben dem Brot in der Eucharistie vor dem Hintergrund der Lebenssymbolik des Wassers (Justinus, Apologie 1, 65⫺ 67; Irenäus, Adversus haereses 5,2,3)5. Darüber hinaus besaßen die beiden Substanzen eine durch die Bibel und religiöse Praxis konnotierte komplexe metaphorische Bedeutung (Reinigungs-, Todessymbolik etc.). In der gegenreformator. und barocken Frömmigkeit wuchs Wasser und Wein eine deutlich über alltägliche Grundnahrungsmittel erhobene Bedeutung zu6. Entsprechend häufig wird die Geschichte der Hochzeit von Kana thematisiert. So spekuliert Peter Lauremberg in seinen Acerra philologica (1717) über die Frage, „Was für Wein Christus aus Wasser gemachet“7 habe, und ist überzeugt, daß es sich um Rotwein gehandelt haben müsse. Auch bei bildlichen Zeugnissen und Krippendarstellungen der Hochzeit von Kana steht die Verwandlung von Wasser in Wein oft im Mittelpunkt8. Hierauf bezieht sich auch der Brauch, daß z. B. die Kinder an Martini Krüge mit Wasser aufstell-
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ten und den Heiligen baten: „Marteine, Marteine,/ Mach das Wasser zu Weine.“9 In der christl. Hagiographie, in Exempeln und religiösen Erzählungen gilt die wunderbare Verwandlung von Wasser in Wein, in Analogie zum Wunder von Kana, als untrügliches Zeichen für die Heiligkeit oder tiefe Gläubigkeit der handelnden Person. Entsprechend häufig findet sich dieses Wunder in den Viten von Heiligen. Beispielsweise soll Bischof Hartmann von Brixen (1090/91⫺1164) anläßlich der Weihe des Klosters St. Lambert das Wunder von Kana wiederholt haben10. Der hl. J Franz von Assisi bat in der Wüste um einen Becher Wein. Das an dessen Stelle gebrachte Wasser verwandelte sich nach der Segnung mit dem Kreuzzeichen in Wein, der Franziskus gesund machte11. Laurentius J Surius berichtet, daß sich das Wasser, das der hl. Marcellus von Paris (5. Jh.) aus der Seine schöpfte, in Wein verwandelt habe, so daß man es zur Eucharistiefeier verwenden konnte12. Als der hl. Benno von Meißen (um 1010⫺1106) in der Erntezeit auf dem Feld von der Hitze und Arbeit erschöpfte Schnitter vorfand, verwandelte er deren mitgebrachtes Wasser in Wein13. Das Motiv wurde auch in Märchen adaptiert. In KHM 64, AaTh/ATU 571: J Klebezauber erhält der jüngste von drei Söhnen, der Dummling, von seiner Mutter statt einer Flasche Wein nur eine Flasche saures Bier, das sich jedoch, als er es ohne zu zögern mit einem grauen Männchen teilt, in guten Wein verwandelt. Die Vorstellung, daß sich Wasser zu bestimmten hl. Zeiten in Wein verwandelt, ist vor allem in Sagensammlungen außerordentlich populär. Sie findet sich mit Bezug auf die Christnacht schon in Johann Georg Schmidts Rocken-Philosophie (1718); der Autor zweifelt jedoch am Realitätsgehalt der wunderbaren Verwandlung14. In den Sagensammlungen des 19. Jh.s ist dagegen wenig Skepsis zu spüren. So heißt es in einer bad. Sagensammlung über die Christnacht lapidar: „Um zwölf Uhr fließt aus den Brunnen, statt Wasser, Wein.“15 Es sind außer der Christnacht nur wenige Nächte, in denen dieses Wunder den Sagen zufolge stattfindet. Dazu gehören regional unterschiedlich bes. die Nächte auf Neujahr, Dreikönig (an diesem Tag wird laut Perikopenordnung der Hochzeit zu Kana gedacht), Ostern, Wal-
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Wasser wird Wein
purgis, Johannis und Martini16. Die Verwandlung soll meist kurz vor J Mitternacht erfolgen, in der Stunde zwischen 23 und 24 Uhr, häufiger noch in den letzten drei Minuten vor Mitternacht, exakt um Mitternacht, wenn die Uhr schlägt oder solange die Glocken läuten, seltener zwischen Mitternacht und ein Uhr17. Unproblematisch ist der Genuß dieses Weines nur für jene, die in den besagten Nächten zufällig Wasser aus Quellen (Brunnen, Fluß) geschöpft haben. Dagegen kann der neugierige Versuch, sich die Verwandlung von Wasser in Wein gezielt zunutze zu machen, mit schweren Strafen wie dem Verlust des Augenlichts oder häufiger noch mit dem Tod enden18. Im letzteren Fall taucht gegen Mitternacht der J Teufel auf, der den neugierigen Knecht (Magd etc.) mit in die Hölle nimmt19. Hier scheint die Grenze zur schwarzen Magie überschritten, so daß der Teufel Gewalt über die Menschen erlangt. Letztlich wird die Hoffnung auf den kostenlosen Genuß in den Sagen fast immer enttäuscht. Eine ironische Brechung erfährt das Motiv der Verwandlung von Wasser in Wein, wenn in einer arab. Erzählung ein Trickster die Händler beim Weinkauf betrügt, indem er das Wasser in seinem Weinschlauch allmählich durch Wein ersetzen läßt20. Dies gilt auch für zahlreiche Erzählungen, die berichten, wie durch die Zugabe von Wasser in den Wein das Wasser nicht etwa eine wunderbare Verwandlung in Wein erfährt (J Vermehrung), sondern schlicht den Wein verdünnt21. In einer von L. J Bechstein aufgezeichneten fränk. Sage kann eine Wirtin, weil sie ihren Wein zu sehr gepanscht hat, nach ihrem Tode keine Ruhe finden22. Etwas anders gelagert ist der Fall in einer hess. Sage, die von einem Weinbrunnen berichtet, an dem ein angebrochenes Weinfaß mit Wasser wieder aufgefüllt werden kann, ohne daß sich die Qualität des Weines verschlechtert23. In einer Inversion des Motivs wird vom hl. J Makarios berichtet, wie dieser den guten Kiliani-Wein, zu dem ihn der Würzburger Bischof eingeladen hatte, in Wasser verwandelte, um nicht von seiner strengen Lebensart abweichen zu müssen24. Die Verwandlung von Wasser in Wein gehört auch zu den populären Zaubertricks25. 1 Zur Verbreitung cf. Hünnerkopf[, R.]: Wasser und Wein. In: HDA 9 (1938⫺41) 122⫺124; HDS 2 (1962) 366⫺371. ⫺ 2 Halliday, W. R.: The Magical
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Vine of Nysa and the Dionysiac Wine Miracle. In: The Classical Review 42 (1928) 19; Hünnerkopf (wie not. 1) 366 sq. ⫺ 3 LThK 10 (32001) 962⫺968, 993⫺ 996; Härdelin, A.: Aquae et vini mysterium. Geheimnis der Erlösung und Geheimnis der Kirche im Spiegel der ma. Auslegung des gemischten Kelches. Münster 1973; Hofrichter, P./Sebald, E.: Hochzeit zu Kana. In: Marienlex. 3. St. Ottilien 1991, 218⫺220; Lechner, G. M.: Wasser und Wein. Funktion und Bedeutung in Kunst und Liturgie der Barockzeit. In: Hofmann, W. (ed.): Wasser & Wein. Zwei Dinge des Lebens. Aus der Sicht der Kunst von der Antike bis heute. Wien/Köln/Weimar 1995, 77⫺89. ⫺ 4 Hofmann, W.: Vom Trinken und Ertrinken. ibid., 11⫺ 39, hier 35. ⫺ 5 Lex. der christl. Antike. ed. J. B. Bauer/M. Hutter. Stg. 1999, 374. ⫺ 6 cf. Lechner (wie not. 3) 77. ⫺ 7 [Lauremberg, P.:] Neue und vermehrte Acerra philologica. Ffm./Lpz. 1717, num. 68. ⫺ 8 LCI 2 (1970) 299⫺305; Bogner, G.: Das große Krippen-Lex. Mü. 1981, 67; Pfistermeister, U.: Barockkrippen in Bayern. Stg. 1984, Abb. 32, 65, 106. ⫺ 9 Sommer, E.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen 1. Halle 1846, 161. ⫺ 10 cf. Lechner (wie not. 3) 80. ⫺ 11 cf. Legenda aurea/Benz, 775. ⫺ 12 cf. HebenstreitWilfert, H.: Wunder und Legende. Studien zu Leben und Werk von Laurentius Surius (1522⫺1578). Diss. Tübingen 1975, 142. ⫺ 13 cf. Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1. Dresden 2 1874, num. 30.4. ⫺ 14 Schmidt, J. G.: Die gestriegelte Rocken-Philosophie 1. Chemnitz 1718, 92 sq. ⫺ 15 Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Karlsruhe 1851, num. 57. ⫺ 16 cf. Grimm, Mythologie 1, 486; HDS 2 (1962) 366⫺371; Sommer (wie not. 9). ⫺ 17 Kuhn, A.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1⫺2. Lpz. 1859, hier t. 1, num. 125; Lechner (wie not. 3) 79; Birlinger, A./Buck, M. R.: Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, 466. ⫺ 18 cf. Kuhn (wie not. 17) t. 2, num. 322; Gaignebet, C.: Le Folklore obsce`ne des enfants. P. 1974, 57; Lechner (wie not. 3) 79. ⫺ 19 cf. Baader (wie not. 15) num. 338. ⫺ 20 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 429. ⫺ 21 cf. Das Buch der Weisen und Narren. Lpz. 1705, num. 52, 168; Harsdörffer, G. P.: Der grosse SchauPlatz Lust- und Lehrreicher Geschichte 2. Ffm./Hbg 1664 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1978), 400. ⫺ 22 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. ed. K. M. Schiller. Meersburg/Lpz. 1930, num. 806; cf. auch Frenken, G.: Wunder und Taten der Heiligen. Mü. 1925, 195⫺ 197. ⫺ 23 cf. Lyncker, K.: Dt. Sagen und Sitten in hess. Gauen. Kassel 1854, num. 115. ⫺ 24 cf. Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 1. Mü. 1852, num. 247. ⫺ 25 cf. Lanners, E. (ed.): Kolumbus-Eier. Tricks, Spiele, Experimente. Reinbek 1979, 56 sq.
Regensburg
Daniel Drascek
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Wassergeister
Wassergeister 1. Allgemeines ⫺ 2. Frühe Zeugnisse ⫺ 3. Antike ⫺ 4. MA. ⫺ 5. Frühe Neuzeit ⫺ 6. Märchen und Sagen
1 . All ge me in es. W. ist ein Sammelbegriff für alle Phantasiewesen überirdischer Natur, die im oder am Wasser (J Meer; J Fluß; See; J Quelle; J Brunnen) leben. Das dt. Wort W. ist erst seit dem 17. Jh. belegt1, doch sind Vorstellungen von W.n ein altes und universales Phänomen und bis in die Gegenwart verbreitet2. Nach animistischem Weltverständnis ist die materielle Welt als beseelt gedacht (J Animismus; J Elementargeister)3, so auch das Wasser. W. können menschenähnliche männliche (Wassermann, Nix; cf. auch J Klabautermann) oder weibliche (Wasserfrau, Nixe, Nymphe), auch tierische Körper (Seeungeheuer, Wasserpferd4; cf. auch J Fisch, Fischen, Fischer) besitzen oder sich als Pflanzen mit langen Fangarmen manifestieren (Schlingpflanze)5. Als Gegenentwurf zum irdischen Menschendasein wird eine vollständige J Unterwasserwelt beschrieben, vor allem in der kelt. Tradition. Zum weiteren Umkreis der W. können angesichts der ubiquitären Präsenz von Wasser im Naturkreislauf auch Volksglaubensvorstellungen von überirdischen Wesen auf dem Festland gezählt werden, so etwa Personifikationen von Irrlicht, Gewitter, Eis und Schnee; zahlreiche Geschichten der internat. Volksüberlieferung handeln von Regenfrauen und Wetterhexen (J Hexe, Kap. 2. 2.3; J Regen; J Wetter)6. Als Projektionsfläche für Phantasien der Menschen, die sich immer wieder neu ihrer Position gegenüber der Natur vergewissern wollen, oszillieren die vielfältigen Vorstellungen von W.n zwischen zwei Extremen7: Da Wasser lebens- und heilspendende materia prima ist, wird es in den alten Religionen als der seelischen Reinigung förderlich angesehen (katharsis); im christl. Sakrament der J Taufe stellt Wasser eine Metapher für Erlösung dar. Die Lebenswelt der W. wird daher als ersehnter Ort idyllisiert (locus amoenus), ihr Wirken als dem Menschen nützlich und rettend gekennzeichnet8. W. symbolisieren aber auch die für den Menschen angstbesetzte unbeherrschbare Naturgewalt, die tödlich wirken kann (cf. J Sintflut)9. Sie sind dem Menschen oft feindlich
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gesonnen, fügen ihm Schaden zu und versuchen ihn zu verderben (z. B. J Sirenen). Die Bibel kennt den J Leviathan, ein Meerungeheuer mit mehreren Köpfen, das gegen Gott rebelliert. In Sagen werden die Seelen der Ertrunkenen von W.n verwahrt (J Ertränken, Ertrinken), oder W. fordern ihnen zustehende Opfer (ATU 934 K: cf. J Todesprophezeiungen). Da die Grenzen zwischen einer imaginären und der realen Welt durchlässig vorgestellt werden, können W. sich in beiden Bereichen bewegen. Ihre Körper sind an Menschen- wie Wasserwelt angepaßt, wobei der Unterleib oft die Gestalt eines Fischschwanzes annimmt10; auch Schwimmhäute zwischen Händen und Füßen11, eine triefende Wasserspur12 oder ein feuchter Kleidersaum13 verraten die Herkunft aus dem aquatischen Element (cf. AaTh/ATU 434*: J Taucher). Solche J Halb-, Misch- und Zwischenwesen (J Monstrum) verfügen häufig über magische Fähigkeiten: Sie können zaubern, weissagen und sich verwandeln (J Tierverwandlung). Beziehungen zwischen Menschen und W.n sind oft durch erotische Spannungen gekennzeichnet und bieten narrative Spielräume für meist männliche sexuelle Wünsche. Häufig werden weibliche W. nackt dargestellt, sie verlocken durch das J Kämmen ihres Haars und betören durch Gesang und Spiel (J Lorelei). In Sagen ertränken W. Menschen, sie helfen ihnen aber auch; sie tragen menschliche, wenn auch oft schäbige Kleidung, leben in Familienverbänden und nehmen bei der Geburt ihrer Kinder menschlichen Beistand in Anspruch (J Hebamme)14. 2 . Frü he Ze ug ni ss e. Bereits hurrit.-hethit., babylon. und sumer. Mythen berichten von der anthropomorphen Identifikation von Flüssen mit Göttern und Helden sowie starken Tieren. Pyramidentexte in Ägypten geben Hinweise auf einen Mythos, der den jährlichen Vegetationswechsel des Nils mit göttlichem Handeln erklärt. In China wurden Flußgöttern Jungfrauen geopfert. Oft stehen Personifikationen von Gewässern in Verbindung mit einem Ursprungsmythos. Umgekehrt konnten Menschen in Flüsse verwandelt oder als Fluß wiedergeboren werden, so in einem ind. Text (Mot. A 934.11.1)15.
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Wassergeister
3 . Ant ik e. In der antiken Mittelmeerwelt ist das Wasser von Gottheiten bevölkert, die über ihr Element herrschen (Poseidon/Neptun, Acheloos; cf. J Herr der Tiere)16. Die aus dem Schaum des Meeres geborene Aphrodite (J Venus) stellt das „schöne göttliche Urbild weiblicher Wasserwesen“ dar17. Seefahrer mußten auf ihrer (Lebens-)Reise Abenteuer mit W.n bestehen, etwa mit der sechsköpfigen J Skylla und dem Strudelwesen Charybdis. Wie Bäume und Berge galt auch das Wasser als von Nymphen, etwa den Najaden, bevölkert. Die J Graien, die nur ein gemeinsames Auge haben, sind Töchter der Meeresgottheiten Phorkys und Keto. Die Nereiden leben in Grotten auf dem Meeresboden und spinnen, eine Tätigkeit, die auf den Lebens- und Schicksalsfaden verweist18. Als die schönste von ihnen galt Thetis, die mit dem Argonauten J Peleus den Helden J Achilleus zeugte. J Odysseus konnte als einziger dem Gesang der Sirenen widerstehen, indem er sich fesseln ließ. Hylas, ein Freund des J Herakles, erlag der Faszination der Nymphen und wurde von ihnen ins Wasser hinabgezogen (Apollonios von Rhodos, Argonautika, 1207⫺1325). Von Fischen mit wunderbaren Fähigkeiten berichten J Plutarch und J Claudius Aelianus (Mot. B 144)19. Der weibliche Vampir J Lamia wurde u. a. als Wassergenius oder Wasserfrau angesehen. 4 . M A. Spätantike Erzähltraditionen über W. wurden vor allem in kelt. Ländern rezipiert. Von einem Mischwesen, halb Fisch, halb Mann, berichtet die Legende von der Schiffsreise des ir. Heiligen Brendan (J Brandans Seefahrt)20; in dem altengl. Gedicht J Beowulf (um 700) ist von Seeungeheuern die Rede; im J Alexanderroman finden sich Wasserfrauen, die Menschen verführen und sie ertränken21. J Bestiarien zeigen W. als Fabelwesen unterschiedlicher Gestalt. Ihre bildliche Darstellung dient der Abwehr dieser als Teufelsausgeburten angesehenen dämonischen Wesen; in Fortsetzung der bibl. Schöpfungsgeschichte erfüllten derartige Unholde die „didaktische und mnemotechnische Funktion, die schrecklichen Laster zu verdeutlichen und stets erinnerlich zu halten“22. W. wurden als gefallene Engel angesehen und waren Teil des göttlichen Heilsplans. Konrad von J Megenberg berichtet in
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seinem Buch der Natur von 20 verschiedenen W.n, u. a. einem Meermönch23. Das Motiv der gestörten J Mahrtenehe betrifft die meist ambivalente Verbindung eines außerirdischen Wesens mit einem Menschen. Weltweit verbreitet sind Erzählungen von J Schwanjungfrauen. Weibliche W. gehen an Land Liebes- und Ehebeziehungen ein (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe)24, die bes. kreative Kräfte freilegen, in der Regel allerdings tabu- oder konfliktbelastet sind und zumeist scheitern. Verschiedene Motive fließen in der Erzählung von J Melusine zusammen25: Als Ehefrau eines Herrschers fördert sie Wachstum und Kultivierung des Landes durch den Bau von Schlössern und die Geburt vieler Kinder; als ihr Mann ihren Nixencharakter enthüllt, entfernt sie sich aus der Gemeinschaft. Die Adelsfamilie der Lusignan adaptierte die Erzählung als genealogische Sage ⫺ ein Vorgehen, das auch in anderen Kontexten vielfach begegnet26: Das wilde Element von Melusines Herkunft aus dem Meer wird gebändigt. Angesichts der vielfältigen Spielräume für weibliche Kreativität, die in dieser Geschichte entworfen werden, vermutete die ältere literaturwiss. Forschung eine misogyne Intention, die vor der heidnischen Zerstörungskraft weiblicher Sexualität warne, weil „es vielen Religionen zweifelhaft erschien, ob denn die Frau überhaupt eine Seele besitze“27. Doch wurden die verbreiteten Vorstellungen von einer inferioren Rolle der Frau in der Ehe des MA.s inzwischen widerlegt28. In den kelt. Ursprungssagen sowie den klerikalen Exempelsammlungen des 12. Jh.s dominiert die Bewunderung des Wunderbaren dieser weiblichen Gestalt vor der Abwehr ihres teuflischen Treibens29. Gerade die Rezeption der Melusinenerzählung belegt daher, daß in dieser Phase eine Vielfalt weiblicher Rollenmuster, die aus verschiedenen kulturellen und religiösen Kontexten stammten, mehr oder weniger erfolgreich integriert werden konnten30. 5 . Frü he Ne uz ei t. Im Übergang vom MA. zur frühen Neuzeit finden sich verstärkt auch abwehrende Positionen, die alle Phantasiewesen nicht mehr als Geschöpfe Gottes, sondern als Ausgeburten der Hölle auffassen, so bei Johannes Trithemius von Sponheim (15. Jh.)31. Trotz einer durch die empirischen
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Wassergeister
Naturwissenschaften geförderten rationalistischen Denkweise hielt sich der Glaube an die Realität von Dämonen bis weit in die Neuzeit hinein32. In enzyklopädischen Werken der frühen Neuzeit finden sich unter Echtheitsbezeugungen realistische Darstellungen von W.n: Ein Werk über Fische präsentiert 1555 ein Pferd mit einem Fischschwanz33, das unter Rückgriff auf die griech. Mythologie als Pferd des Flußgottes Neptun bezeichnet wird; ein Expeditionsbericht erzählt vom Fang einer Sirene im Ind. Ozean (cf. auch J Seemannsgarn)34. In seinem Fischbuch (1558) führt der Schweizer Naturforscher Conrad J Gesner Mischwesen in weiblicher und männlicher Gestalt an, verweist auf Meermönch und -bischof, teuflische und tierische Wassergestalten35. Auch barocke Sagensammler und Gelehrte wie H. J Kornmann und O. von J Graben zum Stein stellten die Wahrheit derartiger Geschichten nicht grundsätzlich in Frage. Eine neue Konzeption für das Auftreten weiblicher W. beginnt mit J Paracelsus’ spekulativer Naturphilosophie, die er in seinem einflußreichen Text Liber de nymphis gestaltete. Dort bezeichnet er die Wasserfrau J Undine als vernunftbegabten Elementargeist, von Gott geschaffen, um die Schätze der Natur zu hüten. Durch die Ehe mit einem Mann könne ein solches Wesen im Sinne des christl. Heilsversprechens eine J Seele und somit J Unsterblichkeit erlangen. An Stelle der dämonischen Kraft der Anderswelt akzentuiert Paracelsus die Bedürftigkeit und Sehnsucht der Frauengestalt nach Teilhabe an der überlegenen christl. Moral und Lehre36. 6 . M är ch en un d S ag en. L. J Röhrich hat dem Motivkomplex der Elementargeister seine Bedeutung in der Volksliteratur abgesprochen: „Die von den Naturphilosophen des 16. Jh.s gebrauchten Namen Nymphen, Undinen, Silvanen, Salamander etc. entsprechen zweifellos nicht der Terminologie der authentischen Volksüberlieferung und sind auch nicht Begriffe der späteren volkskundlichen Sagenund Erzählforschung seit den Brüdern Grimm bis heute geworden.“37 Entsprechend finden sich zahlreiche Beispiele für die literar. Bearb. entsprechender Motive: Liebes- und Beziehungsthematiken zwischen Männern und Wasserfrauen griff Christian August J Vulpius in
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mehreren Romanen auf; Eduard J Mörikes Historie von der schönen Lau (1853) erzählt von einer Wasserfrau, die Hilfe von einer Menschenfrau erhält; eine der bekanntesten Erzählungen über W. ist zweifellos J Andersens Den lille Havfrue (1837). Innerhalb der Kette der Tradierung gab es in der Tat Brüche, doch finden sich beispielsweise Belege für das Weiterleben antiker Mythen von W.n in der neugriech. Folklore38. J Peris, die ursprünglich möglicherweise weibliche W. waren, sind in der iran. Überlieferung häufig: Meist sucht die Peri als freundliche Gestalt die Liebe eines Mannes, dem sie Kinder mit außerordentlichen Fähigkeiten gebiert. Auch im südslav. Bereich (J Samovila) sind Erwähnungen von dämonischen weiblichen W.n in volkstümlichen Sagen ⫺ oft von Dichtern der Romantik literarisiert ⫺ bekannt. In Westafrika ist der Glaube an das ambivalente Wirken von Mami Wata, die aus dem Meer an Land steigt, verbreitet39. In der Überlieferung der J Westind. Inseln spielen Wasserfrauen eine herausragende Rolle. Die den Menschen bedrohende Wasserfrau erscheint auch in neueren Märchen und Sagen der europ. Überlieferung (AaTh/ATU 316: J Nixe im Teich). In den Dt. Sagen der Brüder Grimm und in anderen Sagensammlungen finden sich zahlreiche Geschichten von Wassermännern und Nixen40. Theodor J Storms Kunstmärchen Die Regentrude (1864) greift auf naturreligiöse Überlieferungen zurück. Die Vorstellung von Wasserfrauen und -männern wurde im 20. Jh. von Otfried Preußler in seinem Kinderbuch Der kleine Wassermann (1956) erneut aufgegriffen41. DWb. 13 (1922) 2408. ⫺ 2 cf. z. B. Se´billot, P.: Le Folk-lore de France 2. P. 1905, 31⫺40; Verdier, Y.: Fac¸ons de dire, fac¸ons de faire. La laveuse, la coutuˇ erepanova, rie`re, la cuisinie`re. P. 1979, 141⫺149; C O. A.: Mifologicˇeskie rasskazy i legendy Russkogo Severa (Mythol. Erzählungen und Legenden aus dem Norden Rußlands). SPb. 1996, 54⫺63; Västrik, E.-H.: The Waters and Water Spirits in Votian Folk Belief. In: FL 12 (1999) 16⫺37; Hurgronje, C. S.: De blauwe prinses in het Gajo¯-meer. In: id.: Verspreide geschriften 5. Bonn 1925, 373⫺383; Dieterlen, G.: Note sur le ge´nie des eaux chez les Bozo. In: J. de la Soc. des africanistes 12 (1942) 149⫺155; Appia, B.: Notes sur le ge´nie des eaux en Guine´e. ibid. 14 (1944) 33⫺41. ⫺ 3 Sieglerschmidt, J.: Animismus. In: Enz. der Neuzeit 1. Stg. 2005, 396⫺399. ⫺ 4 Panzer[, F.]: 1
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Wasserwandeln ⫺ Weber
W. In: HDA 9 (1938⫺41) 127⫺191, hier 131 sq.; HDA 6 (1934⫺35) 1634 sq.; Oldfield Howey, M.: The Horse in Magic and Myth. N. Y. 1958, 144; Christiansen, Migratory Legends, num. 4085; Islan´ Caders and Water-Dwellers. ed. P. Lysaght/S. O ´ hO ´ ga´in. Dublin [1999]. ⫺ 5 cf. Stammler, tha´in/D. O W.: Seemanns Brauch und Glaube. In: id. (ed.) Dt. Philologie im Aufriß 3. B. 21962, 2901⫺2972, hier 2940⫺2954 (Tang in der Sargassosee). ⫺ 6 Moog, H.: Die Wasserfrau. Von geheimen Kräften, Sehnsüchten und Ungeheuern mit Namen Hans. (Köln 1987) Mü. 1990. ⫺ 7 cf. Kalak, W.: Der Wassermann im oberschles. Volksglauben. (Diss. Köln) Würzburg 1935, 31⫺45; Hofmann, I.: Die Bedeutung der W. in der rezenten nub. Orallit. In: Komparative Afrikanistik. ed. E. Ebermann/E. Sommerauer/K. Thomanek. Wien 1992, 189⫺197. ⫺ 8 z. B. Christiansen, Migratory Legends, num. 4055. ⫺ 9 Stuby, A. M.: Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des Weiblichen in der Lit. Opladen 1992. ⫺ 10 HDA 9, 128, 130. ⫺ 11 Birlinger, A./Buck, M. R.: Sagen, Märchen und Aberglauben 2. Fbg 1861 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1974), num. 205; Knortz, K.: Irländ. Märchen. Zürich 1886, num. 7, 35. ⫺ 12 Bechstein, L.: Dt. Sagen. ed. K.-D. Sommer. B. 1987, num. 612. ⫺ 13 ibid., num. 323, 612, 749; Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1⫺2. Dresden 21874, hier t. 1, num. 159, 396, t. 2, num. 803; id.: Sagenbuch des preuß. Staates 1⫺2. Glogau 1868/71, hier t. 1, num. 308, 347. ⫺ 14 HDA 9, 127⫺191. ⫺ 15 EM 4, 1375 sq. ⫺ 16 cf. auch Grimm, Mythologie 1, 484⫺ 500; Paulson, I.: Die W. als Schutzwesen der Fische im Volksglauben der finn.-ugr. Völker. In: Estonian Poetry and Language. ed. V. Ko˜ressaar/A. Rannit. Stockholm 1965, 178⫺201. ⫺ 17 Wunderlich, W.: Frauen, die sich nicht über Wasser halten. Zur kulturgeschichtlichen Genealogie von Nymphen, Nixen, Wasserfeen. In: Engel, Teufel und Dämonen. ed. H. Herkommer/R. C. Schwinges. Basel 2006, 141⫺161, hier 142. ⫺ 18 Kl. Pauly 4, 67 sq. ⫺ 19 EM 4, 1203. ⫺ 20 Podleiszek, F. (ed.): Volksbücher von Weltweite und Abenteuerlust. (Lpz. 1936) Darmstadt 1964, 39. ⫺ 21 Me´nard, P.: Femmes se´duisantes et femmes malfaisantes. Les filles-fleurs de la foreˆt et les cre´atures d’eaux dans le ,Roman d’Alexandre‘. In: Bien dire et bien aprandre 7 (1989) 5⫺17. ⫺ 22 Wunderlich, W.: Dämonen, Monster, Fabelwesen. In: id./Müller, U. (edd.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen 1999, 11⫺38, hier 17. ⫺ 23 EM 4, 1204. ⫺ 24 z. B. Christiansen, Migratory Legends, num. 4080; Wood, J.: The Fairy Bride Legend in Wales. In: FL 103,1 (1992) 56⫺72; Almqvist, B.: Of Mermaids and Marriages. In: Be´aloideas 58 (1990) 1⫺74; Nı´ Fhloinn, B.: Tadhg, Donncha and Some of Their Relations. Seals in Irish Oral Tradition. In: Lysaght u. a. (wie not. 4) 223⫺245, hier 234⫺237; Angelopoulos, A.: Greek Legends about Fairies and Related Tales of Magic. In: Fabula 51 (2010) 217⫺244. ⫺ 25 Zuletzt Steinkämper, C.: Melusine ⫺ vom Schlangenweib zur ,Beaute´ mit dem Fischschwanz‘. Göttingen
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2007. ⫺ 26 Reinach, S.: Cultes, mythes et religions. 2: Le Mariage avec la mer. P. 1906, 206⫺219; Jordaan, R.: The Mystery of Nyai Lara Kidul, Goddess of the Southern Ocean. In: Archipel 28 (1984) 99⫺ 116; Schlehe, J.: Versionen einer Wasserwelt. Die Geisterkönigin im javan. Südmeer. In: Ethnol. Frauenforschung. ed. B. Hauser-Schäublin. B. 1991, 193⫺211; Wessing, R.: A Princess from Sunda. Some Aspects of Nyai Roro Kidul. In: Asian Folklore Studies 56 (1997) 317⫺353; Akima, T.: The Myth of the Goddess of the Undersea World and the Tale of Empress Jingu¯’s Subjugation of Silla. In: Japanese J. of Religious Studies 20 (1993) 95⫺185; EM 13, 1168. ⫺ 27 Max, F. R. (ed.): Undinenzauber. Geschichten und Gedichte von Nixen, Nymphen und anderen Wasserfrauen. Stg. 1991, 10. ⫺ 28 cf. z. B. Mazo Karras, R.: Sexualität im MA. Düsseldorf 2006. ⫺ 29 Gervasius von Tilbury: Kaiserliche Mußestunde ⫽ Otia imperialia 1. ed. H. E. Stiene. Stg. 2009, 53⫺57; cf. Le Goff, J.: Ritter, Einhorn, Troubadoure. Helden und Wunder des MA.s. Mü. 2005, 145⫺154. ⫺ 30 Wei Tang: Mahrtenehen in der westeurop. und chin. Lit. Melusine, Undine, Fuchsgeister und irdische Männer. (Diss.) Würzburg 2009. ⫺ 31 Brann, N. L.: Trithemius and Magical Theology. Albany, N. Y. 1999. ⫺ 32 Butler, T.: Dämonologie. In: Enz. der Neuzeit 2. Darmstadt 2005, 836⫺839; Brennecke, H. C.: Aberglaube. ibid. 1 (2005) 6⫺ 11. ⫺ 33 Cook, H. J.: Das Wissen von Sachen. In: Schneider, U. J. (ed.): Seine Welt wissen. Enz.n in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, 81⫺162, hier 106. ⫺ 34 ibid., 110. ⫺ 35 EM 4, 1204; cf. auch Albrecht, A. H.: Ky Ushus Kappas. Flußkobolde, W. und Ungeheuer in Japans Süden. Saarbrücken 2007. ⫺ 36 Lundt, B.: Melusine und Merlin im MA. Mü. 1991, 165⫺173. ⫺ 37 EM 3, 1323; cf. auch Petzoldt, L.: Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden MA.s. In: Müller/Wunderlich (wie not. 22) 39⫺58, hier 51. ⫺ 38 Schmidt, B.: Das Volksleben der Neugriechen und das hellen. Altertum. Lpz. 1871, 98⫺136. ⫺ 39 Togbi Dawuso Dofe: Mami Water in the Ewe Tradition. ed. K. O’Brien Wicker/K. A. Opoku. Legon 2007. ⫺ 40 z. B. Grimm DS 1, num. 49, 51⫺53, 56, 57, 60, 61, 64⫺67, 69, 305, 307, 308; t. 3, num. 21, 51, 89, 161; Bechstein (wie not. 12) num. 323, 528, 544, 665, 728; Grässe 1874 (wie not. 13) num. 420, 576, 577, 708, 803; id. 1868/71 (wie not. 13) t. 2, num. 575, 1227. ⫺ 41 cf. Preußler, O./Stigloher, R./Napp, D.: Der kleine Wassermann. Frühling im Mühlenweiher. Stg. 2011.
Flensburg
Bea Lundt
Wasserwandeln J Heiligkeit geht über Wasser Weber. Das Weben ist eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit1. Es dient der Herstellung von Stoffen aus durch J Spinnen
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Weber
gewonnenen Fäden, u. a. aus Flachs, Wolle, Seide oder Baumwolle. Auch J Teppiche werden gelegentlich durch Weben hergestellt. In Europa war das Weben traditionell eine häusliche Nebentätigkeit der Frauen; schon im A. T. (Spr. 31,13) wird eine tüchtige W.in gelobt. Mit dem Aufkommen des Trittwebstuhls in Mitteleuropa im 13. Jh. und der erhöhten Marktnachfrage nach Textilien entwickelte sich das Weben zu einem städtischen Handwerksberuf 2. Während die städtischen W. eine gewisse Anerkennung erlangten, wurden die dörflichen W. bis in die frühe Neuzeit als ,unehrlich‘ betrachtet3. Die Situation der europ. W. war geprägt durch ihre Abhängigkeit von Kaufleuten, die importierte Rohstoffe lieferten und Arbeitsbedingungen diktierten. Dieser Umstand sowie später die Industrialisierung führten zu sozialem Abstieg und Verarmung der W.4, deren Not sprichwörtlich wurde5; Gerhart Hauptmann hat dies anhand des schles. W.aufstands (1844) in seinem Sozialdrama Die W. (1893) verarbeitet. In ländlichen Haushalten wurde das Weben in häuslichem Rahmen weiter betrieben und gehörte bis ins 20. Jh. zu den Aufgaben einer fleißigen Hausfrau. In der griech-röm. Antike galt das Weben als Kunst der Göttinnen: Persephone stellte die gesamte Schöpfung in einem Webstück dar; Athene ist u. a. Patronin der Webkunst; Arachne wird von Athene in eine J Spinne verwandelt, nachdem sie gewagt hat, die Göttin zum Wettkampf am Webstuhl herauszufordern6. Bekannt ist auch die Erzählung von Penelope, der Gattin des J Odysseus, die das am Tag Gewebte nachts wieder auftrennt, um Aufschub bei ihrer Entscheidung zur Wiederverheiratung zu erlangen (Homer, Odyssee 2, 93⫺110). In der klassischen und vormodernen arab. Kultur zählte der W. wie der Färber oder Kloakenreiniger zu den verachteten Berufsständen: Sein Verstand wird als so gering veranschlagt, daß es 70 W. bräuchte, um einer Frau an Verstand gleichzukommen7; die Zeugenaussage eines W.s ist nur mit (den auch sonst erforderlichen) zwei weiteren Zeugen gültig (d. h. völlig entbehrlich)8; das Gebet hinter einem W. ist aufgrund seiner grundsätzlichen Unreinheit auch ohne rituelle Waschung statthaft9.
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Aufgrund der relativ wenigen vorliegenden Belege sowie der prinzipiellen Austauschbarkeit von Figuren ist es nur bedingt möglich, ein kohärentes Bild des W.s im traditionellen Erzählgut zu zeichnen. Oft wird dem W. wie dem J Schneider ein diebischer Charakter unterstellt10. In einer frühen Var. von AaTh/ATU 950: J Rhampsinit betätigt sich ein W. nachts als Dieb. Als der Neffe, der zu ihm in die Lehre geht, merkt, daß das W.handwerk nicht reich macht, schließt er sich sich dem Onkel beim nächtlichen Stehlen an11. Vor allem in einer Reihe ind. Dummenschwänke erscheinen W. als Protagonisten: Ein W.dorf schickt Gesandte nach Kabul, um dort die pers. Sprache zu kaufen (AaTh/ATU 1269 A: J Wetter kaufen)12; ein W. hält Wassermelonen für die Eier einer Stute (AaTh/ ATU 1319: J Eselsei ausbrüten)13; der dumme W. als Bräutigam folgt wörtlich den Anweisungen seiner Mutter (AaTh/ATU 1685 A: cf. Der dumme J Bräutigam)14; vier W. wollen einen Passanten entscheiden lassen, wer von ihnen der größte Dummkopf sei (AaTh/ATU 1332: J Narrensuche)15; der W. läßt sich von seiner gerissenen Ehefrau hinters Licht führen (AaTh/ATU 1417: Die abgeschnittene J Nase)16. Als Mahnung, daß man seine Fähigkeiten nicht überschätzen solle, dient eine auf den ind. Roman von J Barlaam und Josaphat zurückgehende Erzählung in J Tausendundeine Nacht: Ein dummer W. möchte sein Leben verbessern, indem er die Vorführung eines Sprungkünstlers nachahmt; er bricht sich das Genick17. Die Figur des W.s dient gelegentlich dazu, den sozialen Aufstieg eines unscheinbaren Helden zu veranschaulichen, so in Var.n von AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater18, AaTh/ATU 575: J Flügel des Königssohnes19, AaTh/ATU 924: J Zeichendisput 20, AaTh 935**/ATU 945 A*: Der arme J Seilmacher 21 oder AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend 22. In einer dt. Sage wird einem armen W. Hilfe von übernatürlichen Wesen zuteil, wodurch seine Familie aus der Not erlöst wird23. Nur wenige Erzählungen sind näher an den Umständen der beruflichen Tätigkeit des W.s orientiert. Eine in den buddhist. Avada¯nas enthaltene Erzählung schildert einen betrügerischen W., der vorgibt, so feine Fäden zu weben, daß sein Auftraggeber sie nicht sehen
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Wechselbalg
könne (AaTh/ATU 1620: J Kaisers neue Kleider)24. Häusliches Weben als Nachweis erstrebenswerter Fähigkeiten wird etwa in KHM 156, AaTh/ATU 1451: J Brautproben oder in einer russ. Var. von AaTh/ATU 402: J Maus als Braut erwähnt25. Zu den einfachen Berufen, die Evas häßliche Kinder nach Gottes Auftrag ausüben sollen, gehört auch der des W.s (AaTh/ATU 758: Die ungleichen Kinder J Evas). Dabei ist der W. gelegentlich lieber arm und zufrieden, als sich um großen Besitz sorgen zu müssen (AaTh/ATU 754: J Glückliche Armut)26. 1 cf. allg. Bohnsack, A.: Spinnen und Weben. Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe. (Reinbek 1981) Neuaufl. Bramsche 2002. ⫺ 2 Wissell, R.: Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit 1⫺4. ed. E. Schraepler. B. 21971⫺1988, hier t. 4 (21985) 16⫺43. ⫺ 3 ibid. t. 1, 168⫺172, 408⫺421. ⫺ 4 Bohnsack (wie not. 1) 100⫺116, 245; Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 2. ed. K. Willoh. Oldenburg. 21909, 235 sq. ⫺ 5 Wander 1, 1507. ⫺ 6 Volkmann, H.: Purpurfäden und Zauberschiffchen. Göttingen 2008, 137 sq. ⫺ 7 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 944. ⫺ 8 ibid., num. 679. ⫺ 9 ibid., num. 678. ⫺ 10 Hönn, G. P.: Betrugs-Lex. 1⫺2. (Coburg 31724/30) Nachdr. Lpz. 1981, hier t. 1, 244⫺247; cf. auch Lukas, J.: Der silberne Faden. Erzählungen aus dem Sagenschatz der Spinnerinnen und W. Müsingen 1980, 123. ⫺ 11 Chavannes 2, num. 379. ⫺ 12 Swynnerton, C.: Romantic Tales of the Punjab […]. L. 1908, num. 43. ⫺ 13 ibid., num. 57. ⫺ 14 ibid., num. 76. ⫺ 15 ibid., num. 37. ⫺ 16 Tawney, C. H.: The Ocean of Story 4. ed. N. M. Penzer. Neu Delhi u. a. (21923) Nachdr. 1968, 223⫺226. ⫺ 17 Marzolph/van Leeuwen 1, 187, num. 58. ⫺ 18 Dracott, A. E.: Simla Village Tales […]. L. 1914, 125⫺131; Day, L. B.: FolkTales of Bengal. L. 1954, XVIII. ⫺ 19 Benfey 2, 48⫺ 56. ⫺ 20 Walker, W./Uysal, A. E.: Tales Alive in Turkey. (Cambr., Mass. 1966) Lubbock, Tex. 1990, num. 4. ⫺ 21 Waldmann, R.: Die Schweiz in ihren Märchen und Sennengeschichten. Köln 1983, num. 144. ⫺ 22 Marzolph/van Leeuwen 1, 445, num. 308. ⫺ 23 Grässe, J. W. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 1. Glogau 1868, 639; Schönwerth, F. X. von: Aus der Oberpfalz 2. Augsburg 1858, 354 sq. ⫺ 24 Julien, S.: Les Avadaˆnas 1. P. 1860, num. 39. ⫺ 25 Afanas’ev 2, num. 269. ⫺ 26 Thompson/Balys L 217.1.
Göttingen
Ina Schröder
Wechselbalg (Mot. F 321.1⫺F 321.1.5)1, Bezeichnung für ein Kind (Balg), das anstelle eines menschlichen Säuglings von einem dämo-
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nischen Wesen hinterlassen wurde2. W.sagen dienten möglicherweise als populäre Erklärung für physische Entstellungen von Säuglingen durch Kretinismus oder Wasserkopf (J Mißgeburt)3 bzw. angeborene psychische Störungen. Volkskundlich erforscht wurde das Phänomen W. seit dem 18. Jh., vor allem in der 1. Hälfte des 20. Jh.s4. Die Vorstellung vom W. war über Jh.e verbreitet und läßt sich bes. aus Sagen5, aber auch aus Märchen6, Legenden (hll. J Drei Könige, hl. J Stephan) und Balladen7 erschließen. Sie hatte ihren Schwerpunkt in Nord- und Mitteleuropa; auch im slav. Raum ist sie bekannt, weniger in der Romania8. Für Belege außerhalb dieses Verbreitungsgebietes, so etwa aus Armenien9 oder Indonesien10, wird europ. Einfluß angenommen. In den populären Glaubensvorstellungen, die weitgehend für das 19. Jh. belegt sind11, ist der W. normalerweise häßlich, unförmig und kropfig; er wird daher auch als Kielkropf bezeichnet. Körperlich gedeiht er nicht, selbst wenn er die Milch von fünf Frauen trinkt (wobei das J Säugen für diese auch glückbringende Wirkung haben kann); oft ist er zahnlos und frißt Frösche, Mäuse und Schweinefutter. Spät lernt er laufen, liegt nur im Bett oder kauert in der Ecke, ist gebrechlich und kränklich, kann aber auch übermenschliche Kräfte entwickeln. Die runzlige Gesichtshaut läßt ihn kindlich und greisenhaft zugleich erscheinen. Geistig scheint er zurückgeblieben und spricht nicht, dabei ist die Dummheit oft nur Verstellung, denn eigentlich ist er klug und geschickt (cf. J Unscheinbar). Bes. elbische Wesen vertauschen der Überlieferung zufolge den menschlichen Säugling mit dem W. Am häufigsten werden Elfen, Feen, Fairies, Kobolde, Trolle oder Zwerge genannt, in vielen dt. Regionen Wassergeister, in slav. Erzählungen Waldgeister, ferner Spukund Nachtgeister, Frau Holle oder der Wilde Jäger. Oft werden auch Hexen, Druiden und der Teufel erwähnt. Der W. wird durch dämonische oder magische, selten durch sodomitische Zeugung geschaffen, oder er ist ein Gegenstand (Stück Holz, Lehmklumpen, Besen), der durch Beschwörungen lebendig wird, ein Tier oder ein Alp. Der Tausch soll die Menschen plagen. Doch ist die Motivation ambivalent: Ver-
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Wechselbalg
tauscht der Teufel den Säugling, so tut er dies einerseits aus Bosheit oder Furcht, daß jener einmal sein Widersacher werden könnte; andererseits bestraft er als Werkzeug Gottes gottlose Menschen. Die Elbischen vertauschen die Säuglinge nicht aus Bosheit, sondern zur Veredlung des eigenen Geschlechts, um eine Seele zu erlangen oder aus Mitleid mit vernachlässigten Kindern. Die J Entführung des menschlichen Säuglings erfolgt üblicherweise in der Nacht, bes. um Mitternacht. Am Tag ist ein ohne Schutz gelassenes Kind vor allem um die Mittagszeit gefährdet. Groß ist die Gefahr nach der Geburt bis zur Taufe, wenn das Kind noch keinen Namen hat, oder bis zum ersten Kirchgang und zur Aussegnung der Mutter. Schreien und Hilferufe der Erwachsenen verhindern die Vertauschung; wird sie unterbrochen, findet man den Säugling wohlbehalten auf dem Dachboden, unter dem Bett oder in einer Schublade. Schutz versprechen bestimmte Handlungen und Gegenstände: Licht, bes. Kerzen an der Wiege und am Bett der Mutter, Objekte aus Metall (Eisen, Gold), Kräuter, Stroh, ein Rabenherz als Amulett, das Kruzifix und andere Zeichen (Drudenfuß), die Bibel, Weihwasser etc. Beschwörungen und Magie vertreiben den W. bzw. holen den Säugling zurück. Neben christl. Zeichen und Handlungen werden zwei Möglichkeiten, den W. als solchen zu entlarven, genannt. Zum einen hilft die Anwendung von Gewalt: Man schlägt den W. mit neun Haselruten bis aufs Blut, fegt ihn aus dem Haus oder wirft ihn ins Wasser oder Feuer, um den Rücktausch zu erzwingen; zum anderen kann man den W. durch ungewöhnliche Handlungen wie das Brauen von J Bier in Eierschalen zum Sprechen bzw. J Lachen bringen. Der Verwunderungsspruch des W.s teilt etwas über ihn mit, seinen Namen, meist sein Alter, oft indem er es mit dem Alter des Waldes vergleicht12. In seinen Tischreden erzählt J Luther von einem Elternpaar, das mit einem W. auf Wallfahrt ist und auf der Brücke über einen Fluß von einer Stimme nach dem Reiseziel gefragt wird. „Ich wil gen Hockstad und wil mich lassen weiglen“, antwortet der W., worauf die Eltern ihn als solchen erkennen und ins Wasser werfen13.
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In der gelehrten Überlieferung vor dem 18. Jh. wurde der W. als reales Phänomen eingeschätzt bzw. als theol. Thema behandelt, das in der Diskussion um J Incubus und Succubus eine Rolle spielte. Umfangreich ist die ab etwa 1000 p. Chr. n. ausgebildete schriftl. Tradition14: Die Psalterübersetzung des Notker Balbeo15, der Sachsenspiegel16, Thomas von Aquin17, Nikolaus Magni de Jawor18, Johannes Hartlieb19 und der Hexenhammer (J Malleus maleficarum)20 kennen den W.; aus der Neuzeit können neben Luther Des Teuffels Nebelkappen (1583) von Paulus Frisius21, Der Höllische Proteus von Erasmus J Francisci22 und der Anthropodemus Plutonicus von Johannes J Praetorius23 angeführt werden. Daneben wurde die Vorstellung durch Dichter verbreitet: J Shakespeare verarbeitete sie in A Midsummer Night’s Dream (2,1), Thomas Middleton (1580⫺1627) und William Rowley (1585⫺1642) gaben einer Tragödie den Titel The Changeling (1622), Christian Fürchtegott J Gellert spielte auf die W.sage im Gedicht Die Mißgeburt in seinen Fabeln und Erzählungen (1746/48) an. Gedichte von Heinrich J Heine24 und Karl Kraus25 griffen die Vorstellung gesellschaftskritisch auf, der Volksschriftsteller Alban Stolz veröffentlichte die gegen die Einführung der Zivilehe bzw. die Trennung von Kirche und Staat gerichtete Streitschrift Der W. (1868)26. Sowohl E. T. A. J Hoffmann27 als auch der Horrorschriftsteller Howard Phillips Lovecraft (1890⫺1937)28 nutzten das Motiv. Auch in der mündl. Überlieferung blieb die Vorstellung vom W. lebendig; sie ist etwa in Ägypten noch 1971 durch Erzählungen belegt29. Bis heute erscheint sie in Science Fiction und Fantasy, so etwa in der populären Serie Star Trek oder den Perry Rhodan-Romanen30. Im therapeutischen Rollenspielgenre soll man als W. zurück zu den Wundern der Kindheit und zu seiner Feenseele finden31. 1 cf. Christiansen, Migratory Legends, num. 5058; Mac Philib, S.: The Changeling. Irish Versions of a Migratory Legend in Their Internat. Context. In: Be´aloideas 59 (1991) 121⫺132; Jauhiainen, num. E 901⫺E 1000. ⫺ 2 Wildhaber, R.: Der Altersvers des W.es und die übrigen Altersverse (FFC 235). Hels. 1985; Richter, D.: Der W. Kulturanthropol. Bemerkungen zu einer Erscheinungsform des „fremden Kindes“. In: Kea 6 (1994) 17⫺24; Conrad, J.:
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Wee Wee Woman
Changeling. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 1. ed. D. Haase. Westport, Conn./L. 2008, 179 sq. ⫺ 3 Lindow, J.: Changelings, Changing, Re-exchanges. Thoughts on the Relationship between Folk Belief and Legend. In: Legends and Landscapes. ed. T. Gunnell. Reykjavı´k 2008, 215⫺ 234; cf. auch Röhrich, L.: Heute back’ ich, morgen brau ich, übermorgen hol’ ich der Königin ihr Kind … In: Märchenspiegel 9 (1998) 3⫺9, bes. 6. ⫺ 4 Polı´vka, G.: Slav. Sagen vom W. In: ARw. 6 (1903) 151⫺162; Appel, H.: Die W.sage. (Diss. Heidelberg 1934) B. 1937; Piaschewski, G.: Der W. Ein Beitr. zum Aberglauben der nordeurop. Völker. Breslau 1935. ⫺ 5 z. B. Grimm DS 82, 83, 88, 90, 91, 153. ⫺ 6 KHM 39 (3). ⫺ 7 Röhrich, L.: Die W.-Ballade. In: Europ. Kulturverflechtungen im Bereich der volkstümlichen Überlieferung. Festschr. B. Schier. Göttingen 1967, 177⫺185. ⫺ 8 Appel (wie not. 4) 6; Wildhaber (wie not. 2) 70⫺73. ⫺ 9 Piaschewski (wie not. 4) 171. ⫺ 10 cf. z. B. Hooykaas, J.: The Changeling in Balinese Folklore and Religion. In: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde 116 (1960) 224⫺ 236. ⫺ 11 Einzelnachweise zum folgenden cf. Piaschewski, G.: W. In: HDA 9 (1938⫺41) 835⫺864; Appel (wie not. 4). ⫺ 12 Wildhaber (wie not. 2). ⫺ 13 Martin Luthers Werke. Tischreden 2. Weimar 1913, num. 2529 a; cf. Grimm DS 83. ⫺ 14 cf. DWb. 13 (1922) 2705⫺ 2707, 2724⫺2726. ⫺ 15 ibid., 2723 sq. ⫺ 16 Piaschewski (wie not. 4) 141 sq. ⫺ 17 ibid., 150 sq. ⫺ 18 Franz, A.: Der Magister Nikolaus Magni de Jawor. Ein Beitr. zur Lit.- und Gelehrtengeschichte des 14. und 15. Jh.s. Fbg 1898, 175. ⫺ 19 HDA 9, 836 (not. 360). ⫺ 20 Piaschewski (wie not. 4) 75; HDA 9, 836 (not. 357). ⫺ 21 cf. Peuckert, W.-E.: Dt. Volksglaube des späten MA.s. Stg. 1942, 163⫺170, bes. 165⫺167. ⫺ 22 Piaschewski (wie not. 4) 150; DWb. 13, 2726. ⫺ 23 Piaschewski (wie not. 4) 150; Appel (wie not. 4) 66. ⫺ 24 Heine, H.: Neue Gedichte. ed. B. Kortländer. Stg. 1996, 143. ⫺ 25 Kraus, K.: Werke. 7: Worte in Versen. ed. H. Fischer. Mü. 1959, 408. ⫺ 26 Stolz, A.: Der W., womit Baden und Oesterreich aufgeholfen werden soll. Fbg 1868. ⫺ 27 Hoffmann, E. T. A.: Klein Zaches genannt Zinnober. ed. G. R. Kaiser. Stg. 1985. ⫺ 28 Lovecraft, H. P.: Cthulhu. Geistergeschichten. Ffm. 51979, 28 sq. ⫺ 29 El-Shamy, H. M.: Folktales of Egypt. Chic./L. 1980, num. 43; id.: Religion among the Folk in Egypt. Westport, Conn./L. 1990, 60. ⫺ 30 Belege im Internet. ⫺ 31 Hagen, M. R./Chupp, S.: W.: Der Traum. Ein Erzählspiel um moderne Fantasy. [Mannheim] 1995; Brooks, D./Lemke, I.: Die Geheimnisse des Erzählers. Für W.: Der Traum. [Mannheim] 1996.
Karlsruhe
Wolfgang Seidenspinner
Wee Wee Woman (AaTh/ATU 2016)1, Kettenmärchen bzw. präziser ⫺ A. J Taylors Spezifizierung zufolge ⫺ eine repetitive Erzählung
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mit einer einfachen Szene oder Handlung „ohne gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Personen“2. Hauptmerkmal ist die sprachspielerische Anwendung des Adjektivs ,winzig‘ auf jede einzelne Figur, Gegenstände und selbst Handlungen innerhalb der Geschichte3: Eine winzigkleine Frau hat eine winzigkleine Kuh, deren Milch sie in einen winzigkleinen Melkeimer melkt. Eine winzigkleine Katze trinkt die ganze Milch aus. Die winzigkleine Frau tötet die Katze (die Katze stirbt), und die ganze Milch fließt in den Eimer zurück.
Die frühesten Versionen des Erzähltyps gehen nicht weiter als bis ins 19. Jh. zurück. Taylor vermutete aufgrund der ihm bekannten Var.n, daß der Erzähltyp in Nordeuropa beheimatet sei4. Var.n sind aus finn.5, dän.6, engl.7, schott.8 und fries.9, wie auch aus dt.10, ital.11, weißruss.12, tschech.13 sowie ung.14 Überlieferung bezeugt. AaTh/ATU 2016 zeigt beispielhaft die Schwierigkeiten der Klassifizierung von Kettenmärchen auf. Dabei scheint die Wiederholung des Wortes ,winzig‘ das Klassifizierungskriterium zu bilden. Den internat. Katalogen zufolge fließt die Milch am Ende in den Eimer zurück, aber dieses abschließende Motiv erscheint nur in einigen Var.n. In den dän. Texten schlägt die winzigkleine Frau die Katze, die entweder zu ihrer Mutter läuft15, wegfliegt16 oder lediglich miaut17; eine dt. Var. endet damit, daß die Frau die Katze ,Kleines‘ nennt18. Größere Unterschiede weisen Var.n aus anderen Ländern auf. In den ital. Fassungen steht die winzigkleine Frau im Mittelpunkt einer anderen Handlung. Ihre winzige Henne legt ein winziges Ei, aus dem sie ein winziges Omelett macht, das sie zum Auskühlen aufs Fensterbrett stellt. Eine Fliege fällt hinein. Die Frau beklagt sich beim Polizisten, der ihr rät, Rache zu nehmen und auf die nächste Fliege, die sie sieht, zu schlagen. Eine Fliege landet auf der Nase des Polizisten, und die winzigkleine Frau schlägt nach ihr (cf. AaTh 1586, 1586 A/ATU 1586: J Fliege auf des Richters Nase)19. Eine engl. Var., The Wee, Wee Mannie ⫺ wegen des Eingangsmotivs vom winzigen Mann, der eine winzige Kuh melkt, als AaTh/ATU 2016 klassifiziert20 ⫺ scheint AaTh/ ATU 2015: J Ziege will nicht heim nahezustehen21. Ein anderer engl. Text stellt die kreative
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Weg
Umformung von AaTh/ATU 366: J Mann vom Galgen in eine Vexiererzählung dar 22. Das Eingangsmotiv von der winzigkleinen Frau bringt also sehr unterschiedliche Handlungen hervor. Es scheint hinsichtlich der geographischen Verteilung deutliche Variationen zu geben, aber das Material ist zu begrenzt, um von klaren Ökotypen sprechen zu können. AaTh/ATU 2016 ist in den einfacheren Formen fast ein Vexiermärchen, das die Erwartung des Zuhörers auf eine vollständige Geschichte enttäuscht. Die Erzählung kann als Parodie verstanden werden, als scherzhafte Erkundung der Möglichkeiten des Narrativen. Es geht darum auszuloten, wie einfach die Handlung einer Geschichte, wie trivial ihre Einzelheiten sein können, bevor sie aufhört, eine Erzählung zu sein. 1
Taylor, A.: A Classification of Formula Tales. In: JAFL 46 (1933) 81, num. 2016. ⫺ 2 id.: Formelmärchen. In: HDM 2 (1934/40) 164⫺191, hier 170 sq. ⫺ 3 cf. ibid., 176. ⫺ 4 ibid. ⫺ 5Aarne, A.: Finn. Märchenvar.n (FFC 5). Hels. 1911, num. 2016**. ⫺ 6 Liungman, Volksmärchen; Kristensen, E. T.: Danske ˚ rhus 1896, num. 230⫺ Dyrefabler og Kjæderemser. A 237. ⫺ 7 Briggs, K.: Engl. Volksmärchen. L. 1970, num. 28; Jacobs, J.: More English Fairy Tales. L. 1894, 177⫺179. ⫺ 8 Baughman. ⫺ 9 van der Kooi. ⫺ 10 Benzel, U.: Sudetendt. Volkserzählungen. Marburg 1962, num. 195; id.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 214; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwänke aus dem Oldenburger Land. Leer 1994, num. 263. ⫺ 11 Imbriani, V.: La novellaja fiorentina. Livorno 1877, num. 39; Papanti, G.: Novelline popolari livornesi. Livorno 1877, 15. ⫺ 12 Kabasˇnikau˘, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, 32⫺ 34. ⫺ 13 Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW ´ .: Erzählun1980, num. 45. ⫺ 14 MNK; Dömötör, A gen in den Lesebüchern der ung. Volksschule 1800⫺ 1940. In: Acta Ethnographica Hungarica 46 (2001) 273⫺296, hier 292. ⫺ 15 Kristensen (wie not. 6) num. 236. ⫺ 16 ibid., num. 231. ⫺ 17 ibid., num. 232⫺234, 230. ⫺ 18 van der Kooi/Schuster (wie not. 10). ⫺ 19 Imbriani und Papanti (wie not. 12). ⫺ 20 Jacobs (wie not. 7) 177. ⫺ 21 Jacobs (wie not. 7). ⫺ 22 Briggs (wie not. 7).
Kopenhagen
Miche`le Simonsen
Weg. Im engeren Sinn sind W.e künstlich angelegte Teile des Geländes, die der Verbindung zwischen zwei Orten dienen. Die Be-
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zeichnung W. kann dabei sowohl Oberbegriff sein als auch für eine konkrete Ausformung stehen. Zu unterscheiden sind unbefestigte W.e sowie schmalere Pfade, die nicht zum Befahren geeignet sind, von befestigten W.en, den Straßen. Im weiteren Sinn werden unter der Bezeichnung W. Verkehrswege als solche gefaßt (Land-, Wasser-, Luftweg, aber auch Postweg). Der dem Phänomen innewohnende prozessuale (zurückzulegende Strecke) und finale Aspekt (zu erreichendes Ziel) kennzeichnen den allg. Gebrauch des Worts. Im symbolischen Sinn findet es sich in der Bedeutung von Lebensweg, in einem metaphorischen als Methode oder als Zugang zu einem bestimmten Phänomen (z. B. S. J Freud: Traumdeutung als „Via regia des Unbewußten“)1. In Erzählungen bes. relevant ist einerseits der konkrete, andererseits der symbolische W. Der W. als Symbol für menschliches Handeln bzw. für das Leben selbst begegnet seit J Hesiod (Erga kai he¯merai, V. 286⫺292) im Bild des steinigen, schmalen und des breiten, leicht begehbaren W.s, wobei der steinige W. zur Tugend (Seligkeit), der breite zum Laster (Verderben) führe (J Tugenden und Laster). Die im Motiv der zwei W.e angelegte Entscheidung für eine bestimmte Lebensführung findet sich in der Geschichte von J Herakles am Scheideweg (J W.kreuzung) ebenso2 wie im N. T. (Mt. 7,13⫺14; Lk. 13,24)3. Auch darüber hinaus ist das W.motiv in religiösen Kontexten von großer Bedeutung: Das Kernstück der Lehre J Buddhas, die wahre Natur der Dinge zu erkennen und entsprechend zu leben, wird als W. verstanden4. Der Taoismus begreift sich als ,Lehre des W.s‘5. In bibl. Darstellung begegnen W. und Wanderschaft einerseits in der Vertreibung aus dem Paradies, andererseits im Exodus Israels aus Ägypten; Jesus (J Christus) ist ein Wanderer, der sich selbst als den „Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6) bezeichnet. Die W.- und Wandermotivik ist auch in der Lit. weit verbreitet. Als paradigmatische Irrfahrt wird die Odyssee, die Heimkehr des J Odysseus nach dem Trojan. Krieg, angesehen. In der frühen islam. Lit. bezeichnet sı¯ra ein episches Genre, das den W. des Lebens bzw. des Handelns zum Gegenstand hat6. Sowohl in der Folge der Scheidewegsymbolik als auch im Kontext von Erleuchtung und Vollendung
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Weg
ist das Motiv des W.s in der ma. geistlichen Lit. vielfach präsent7. Seit dem MA. erscheint das Leben als Pilgerfahrt (J Wallfahrt) und der homo viator als Mensch auf dem W. zu Gott8. Eine bes. Ausprägung erlangte die Symbolik vom Leben als (Pilger-)Fahrt in der ma. höfischen Dichtung (J Chre´tien de Troyes, J Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach9), in der das ,Verliegen‘ des J Ritters die Verletzung höfischer Normen und einen krisenhaften Zustand beschreibt. Dieser muß durch die ritterliche Fahrt überwunden werden, auf welcher der Ritter J Versuchungen ausgesetzt ist und J Mutproben zu bestehen hat10. In allegorischer Form wird die Pilgerfahrt (John J Bunyan, The Pilgrim’s Progress) ebenso wie das Irren des Menschen im Labyrinth der Welt und die Suche nach dem rechten W. (Johann Amos Comenius, Labyrint sveˇta a ra´j srdce [Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens], 1631) in frühneuzeitlichen Texten aufgegriffen11. Im Kontext religiöser Erzählungen begegnet daneben das Motiv des wie selbstverständlich gefundenen, vorbestimmten W.s, den vor allem Tiere weisen (J W.weisende Gegenstände und Tiere), indem sie beispielsweise den Platz anzeigen, an dem eine Kirche erbaut werden soll (J Bauplatzlegende, J Gespannwunder). Der symbolische Lebensweg wird in jüngerer Zeit eher säkularisiert als Biogr. oder berufliche Entwicklung verstanden, auch als Selbstfindung12 mit (im Kontext des postmodernen Egozentrismus) vielfach esoterischer Prägung. Doch ähnlich wie bei der Pilgerfahrt ⫺ etwa seit alters auf dem Jakobsweg (J Jakobspilger) ⫺ ist auch hier ein Moment der J Initiation bestimmend13. Obwohl der W. im Märchen vorwiegend ein W. im engeren Sinn ist, bleibt seine Darstellung oft wenig explizit und eher vage. Meist wird er in einer eher allg. Bedeutung ⫺ z. B. ,Der Held macht sich auf den W.‘ ⫺ thematisiert. Die märchentypische J Flächenhaftigkeit und J Abstraktheit von W.darstellungen (J Raumvorstellungen) haben in erster Linie eine Funktion in bezug auf die Handlung: Der W. führt den Protagonisten aus der anfänglichen J Mangelsituation heraus (J Suchen, Suchwanderung), zu den Aufgaben, die er zu lösen, den Gefahren, denen er zu trotzen, und den Bewährungsproben, die er zu bestehen
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hat. Der W. ermöglicht dem Protagonisten dabei das Überschreiten von J Grenzen, die einerseits zwischen Bekanntem und Unbekanntem, andererseits zwischen Diesseits und J Jenseits bestehen (cf. J Tür, J Brücke): Er führt nicht nur von zu Hause fort, sondern durch dunkle J Wälder über Gewässer und Gebirge bis ans J Ende der Welt (AaTh/ATU 471: J Brücke zur anderen Welt)14. Der W. ist ein Ort, an dem der Protagonist J Helferfiguren begegnet. Verfolger hält der Held auf, in dem er Gegenstände auf den W. wirft, die sich in Hindernisse verwandeln (AaTh/ATU 313 sqq.: J Magische Flucht). Zur Dynamisierung der Handlung dienen darüber hinaus das J Verirren oder das Abkommen vom W. (J Retardierende Momente; AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel) sowie die Entscheidung des Protagonisten für den richtigen W. an Kreuzungen15, die auch im Märchen die Funktion haben, eine kluge oder törichte J Wahl zu symbolisieren (J Richtungssymbolik). Nicht zuletzt führt der W. den Helden wieder zurück an den Ausgangspunkt seiner J Reise. Der W. als Teil des Kulturraums bietet Schutz, in den z. B. der Wolf in AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen nicht ohne weiteres eindringen kann; ihm ist aber auch ein normatives Element eigen (J Norm und Normverletzung), dessen Mißachtung drastische J Strafen nach sich zieht ⫺ die Warnung der Mutter gegenüber Rotkäppchen, es solle nicht vom W. abgehen, ist auch in diesem Sinn zu verstehen. Daß der Protagonist den richtigen W. oft mit nachtwandlerischer Sicherheit findet, weist darauf hin, daß ihm sein W. vorbestimmt ist16, daß sich also im Märchen der konkrete W. mit dem symbolischen Lebensweg verbindet. In Sagen sind W.e und vor allem W.kreuzungen numinose Orte, an denen Menschen durch dämonische Gestalten und Gespenster Gefahr droht (W.espuk): Sie können von der J Wilden Jagd mitgerissen oder dazu verleitet werden, die ganze Nacht im Kreis zu gehen17. In der ätiologischen Erzählung AaTh/ATU 55: J Tiere bauen einen W. verweigert der Maulwurf die Mitarbeit am W.bau, weshalb er diesen nicht benutzen darf und unter der Erde leben muß. Der W. kann in traditionellen Erzählungen die vielfältigsten Ausprägungen haben ⫺ im Grunde ist alles, was begehbar ist, auch ein
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Wegener (Wegner), Georg Wilhelm ⫺ Wegkreuzung
W.: Abgesehen von Straßen und Pfaden sind dies unterirdische J Gänge, Treppen und selbst Pflanzen wie die J Bohnenranke oder der himmelhohe J Baum. In diesen ⫺ im Gegensatz zum eher abstrakten W. ⫺ konkreteren Ausformungen werden J Realitätsbezüge deutlicher, der erzählte Raum anschaulicher. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dieser habe einen Abbildcharakter: Es wird „so kommuniziert, als ob es einen Raum gäbe, der den Lebewesen und Gegenständen vorgängig sei“18. Der Text verweist damit aber nicht nur auf einen quasi-realen Raum, sondern ganz allg. über sich hinaus; es entsteht der Eindruck einer von ihm unabhängigen Wirklichkeit19. Die Funktion des W.s in Märchen beschränkt sich damit nicht allein auf die selbstverständlich zentrale Dynamisierung der Handlung, sie besteht auch in einem Identifikationsangebot: Die Welt des Märchens ist keine reine Fiktion, sondern sie steht in Bezug zur Welt ihrer Rezipienten und hat trotz ihrer übernatürlichen und unwahrscheinlichen Elemente einen hohen Wiedererkennungswert. 1
Freud, S.: Die Traumdeutung. Lpz./Wien 1900, 595. ⫺ 2 Fleischhauer, T.: Das Bild des W.es in der antiken griech. Lit. In: Michel, P. (ed.): Symbolik von W. und Reise. Bern u. a. 1992, 1⫺17, hier 2⫺ 5. ⫺ 3 Harms, W.: Homo viator in bivio. Mü. 1970. ⫺ 4 Henking, K. H.: Zum Motiv des W.es im Buddhismus. In: Michel (wie not. 2) 29⫺40, hier 32⫺34. ⫺ 5 Rainald, S. (ed.): Laozi: Daodejing. Das Buch vom W. und seiner Wirkung. Stg. 2009; cf. Loon, R. J. P. van: Way-Symbolism in Personal Life. Illustrated and Explained from a Taoist Perspective. In: Michel (wie not. 2) 299⫺325. ⫺ 6 Raven, W.: Sı¯ra. In: EI2 9 (1997) 660⫺663. ⫺ 7 Largier, N.: Aufstieg und Abstieg. Zur Metapher des W.es bei Rudolf von Biberach, Meister Eckhart und Johannes Tauler. In: Michel (wie not. 2) 41⫺55; Beriger, A.: Die W.metapher in den Autobiogr.n von Johannes Butzbach und Ignatius von Loyola. ibid., 57⫺81. ⫺ 8 Kriss-Rettenbeck, L. und R./Illich, I.: Homo viator ⫺ Ideen und Wirklichkeiten. In: Kriss-Rettenbeck, L./Möhler, G. (edd.): Wallfahrt kennt keine Grenzen. Mü./Zürich 1984, 10⫺22. ⫺ 9 Daemmrich, H. S. und I. G.: Themen und Motive in der Lit. Tübingen/Basel 21995, 376. ⫺ 10 Trachsler, E.: Der W. im mhd. Artusroman. Bonn 1979, bes. 102⫺111, cf. 225⫺274. ⫺ 11 Ganz-Blättler, U.: Unterwegs nach Jerusalem. Die Pilgerfahrt als Denkabenteuer. In: Michel (wie not. 2) 82⫺107; Hutter, M.: John Bunyan, „Die Pilgerreise nach dem Berge Zion“. ibid., 109⫺135. ⫺ 12 Loon (wie not. 5). ⫺ 13 Haab, B.: W. und Wandlung. Ethnol. Feldforschung zur Spiritualität heuti-
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ger Jakobs-Pilger und -Pilgerinnen. In: Michel (wie not. 2) 137⫺162. ⫺ 14 cf. Horn, K.: Der W. In: Die Welt im Märchen. ed. J. Janning/H. Gehrts. Kassel 1984, 22⫺37, hier 22. ⫺ 15 EM 14, 541. ⫺ 16 Horn (wie not. 14) 25. ⫺ 17 z. B. Mackensen, L.: Sagen der Deutschen im Wartheland. Posen 1943, num. 341; Endrös, H./Weitnauer, A.: Allgäuer Sagen. Kempten 2 1954, 229. ⫺ 18 Dennerlein, K.: Narratologie des Raums. B./N. Y. 2009, 71. ⫺ 19 Wolf, W.: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Tübingen 1993, 31, 203.
Göttingen
Doris Boden
Wegener (Wegner), Georg Wilhelm J Tharsander
Wegkreuzung 1. Sache und Begriff ⫺ 2. W. als Scheideweg ⫺ 3. W. als prekärer Ort ⫺ 4. W. als Schutz-, Wunschund Orakelort ⫺ 5. Bedeutungsverlust der W. in der Moderne
1 . S ac he un d B eg ri ff. Der Terminus W. meint zumeist die kreuzförmige Überschneidung zweier Wege oder Straßen, öfter auch den Scheideweg oder die Wegscheide, also die Verzweigung oder Gabelung eines Wegs, die eine Orientierung in zwei oder mehr Richtungen ermöglicht; gelegentlich wird unter W. auch ein Knotenpunkt mit mehr als vier Strahlen verstanden. Die Sprache der aufgezeichneten Texte ist oft unklar, zumal der ältere und landläufigere Ausdruck für W. J Kreuzweg lautet und damit als via crucis mißverstanden werden kann. In Erzählungen steht die W. fast durchweg im Ruch des Geheimnisvollen, Unheimlichen, was zum einen auf irritierende Erfahrungen der Lebenswirklichkeit zurückgeführt werden kann (Begegnungs- und Unfallrisiko, Unsicherheit und Last der Entscheidung, Gefahr des Fehlgangs), zum anderen auf die Symbolik der Gestalt (bes. Bedeutung bzw. Gefährlichkeit des Kreuzens einer Spur oder eines Fahrgeleises1; Heiligkeit des J Kreuzzeichens in der christl. Religionspraxis; J Kruzifix). Alte Totenbräuche und Rechtspraktiken, die mit beiden Ursachenkomplexen zusammenhängen2, haben den schillernden Charakter der W. möglicherweise noch verdüstert. Insbesondere
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Wegkreuzung
dann, wenn sich nicht nur die normalen Verkehrswege, sondern auch die Totenwege (d. h. die Wege, auf denen man die Toten zum Begräbnis trug) kreuzten, ergab sich eine Steigerung der numinosen oder enterischen3 Qualität der W.4 2 . W. a ls Sc he id ew eg. Die W. ist der Ort der Entscheidung, des Aufbruchs ins Ungewisse und des Beginns eines Abenteuers. Hier trennen sich die Brüder in Märchen und Sage (AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder; J Trennen, Trennung)5. In der moralischen Allegorie-Tradition steht die W. allg. für die Entscheidung: zunächst in der klassischen Szene des J Herakles am Scheideweg6, später in dem weitverbreiteten Werk The Pilgrim’s Progress (1678/84) des engl. Baptisten John J Bunyan. Das christl. Motiv der zwei Wege, zwischen denen man sich zu entscheiden hat (der schmale und beschwerliche Weg führt in die himmlische Seligkeit, der bequeme breite in Verderben und Hölle) findet sich in bildlichen Darstellungen7 wie im religiös geprägten Erzählgut8. 3 . W. a ls pr ek är er Or t. In Sagen ist die W. zum einen Ausgangspunkt des realen Irrgangs (J Verirren)9; zum andern gilt sie als Wohnort von J Zauberinnen und J Hexen10 sowie überhaupt ⫺ zumal in der J Nacht, manchmal auch nur in bes. Nächten wie Walpurgis- oder Andreasnacht ⫺ als Auftrittsort von Hexen11, J Wiedergängern bzw. Armen Seelen (J Fegefeuer)12 oder der J Wilden Jagd13. Damit ist sie ein Ort der Verunsicherung, der J Gefahr, des Schreckens (J Angst), der Beschädigung an Leib und Seele. Der nächtlich Wandernde wird geneckt14 und erschreckt15, bekommt Schläge16 oder wird krank17; er kann an der W. sogar zu Tode kommen18. Vor allem aber ist die W. eine ,enterische‘ Barriere, ein J Tabu-Ort, an dem Menschen und Tiere festgebannt werden (J Bann, J Festbannen): Die Pferde bleiben stehen oder scheuen, der Mensch kommt nicht vom Fleck, kann die Stelle nicht überschreiten19, oder er wird gepackt, durch die Luft geführt und an unerwünschter Stelle abgesetzt20. 4 . W. a ls Sc hu tz -, Wu ns ch - u nd Or ak el or t. So sehr die W. in Sagen in der Regel
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als gefährlich erscheint, so sehr gilt sie auch als Ort, der umgekehrt nicht für Menschen, sondern für Geister tabu ist, an dem sich also Mensch und Tier geschützt fühlen dürfen. J Teufel, Hexen, Wilder Jäger und andere Spukgestalten können die W. nicht überschreiten, da ihre Macht hier endet21; gelegentlich scheint hier gar die Ausübung des Bösen unmöglich zu sein22. Oft sprechen die Texte davon, daß es zur Herstellung eines wirksamen Schutzes bestimmter Handlungen bedarf: Man soll sich auf der W. etwa zwischen zwei Eggen verbergen23; man soll mit Kreide einen Kreis um sich ziehen, in dem man ausharren muß (J Zauberkreis)24; man darf die Stelle nicht verlassen und muß dabei schweigen (wobei man weder lachen noch weinen noch singen darf)25. Wer eine umgehende Arme Seele erlösen will, muß eine bestimmte Formel sprechen26. Ähnlich strenge Vorkehrungen sind zu beachten, wenn man etwa ein Bündnis mit dem Teufel eingehen (J Teufelspakt), die Schwarzkunst erlernen oder einen Schatz heben will27. Auf einer ,Kreuzstraße‘ kann man nach Ausführung recht komplizierter Anweisungen einen Zauberspiegel erlangen, mit dessen Hilfe man sehen kann, was man will28; und auch ein Blick in die Zukunft ist im Zauberkreis auf der W. möglich29. 5 . B ed eu tu ng sv er lu st de r W. i n d er Mod er ne. Die Aufhellung der Nacht durch das elektrische Licht und die Aufhellung der Köpfe durch unser modernes Weltbild hat so manche Angst, so manchen Brauch (um nicht zu sagen: so manche Zwangshandlung) und damit auch zahlreiche Erzählstoffe überflüssig gemacht. Die meisten der in den Sagen erwähnten Vorstellungen sind in ein nur mehr literar. Dasein eingetreten. Für den Prozeß des kulturellen Übergangs stehen Erzählungen von jungen Leuten, die sich einen Scherz daraus machen, als Gespenster verkleidet an W.en aufzutreten und Kinder und alte Leute zu erschrecken30. Das Verkehrswesen der Moderne bemüht sich, die Gefährlichkeit der W. zu entschärfen, ja die W. gar abzuschaffen. Das beginnt mit der Hierarchisierung des Straßensystems und den damit einhergehenden Vorfahrtsregelungen bes. nach dem Aufkommen des Automo-
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Wegmarkierung
bils. Das Eisenbahnwesen hatte von Anfang an das Vorfahrtsrecht des neuen Verkehrsmittels festgelegt, was Unfälle am Bahnübergang (als Kreuzung von Schiene und Straße) allerdings nicht völlig verhindern konnte (cf. die Geschichte von der letzten Postkutsche, die mit dem ersten Eisenbahnzug zusammenstößt31). Weitere Maßnahmen zur Entschärfung der W.en sind das (kreuzungslose) Autobahnkreuz32, der Kreisverkehr (Kreisel) oder die Regelung des Verkehrs per Ampel. Auch diese Entwicklungen spiegeln sich in Erzählstoffen, indem die entsprechenden Erzählungen an Umfang und Substanz verlieren: Sie werden seltener und erhalten oft einen Stich ins Groteske, Schwankhafte33. Auch die Angst, die aus den Geschichten spürbar wird, hat sich gewandelt; denn das Unheimliche rührt nicht mehr von einem externen ,Es‘ her, sondern es entspringt der für unfehlbar gehaltenen Logik des Systems des Fortschritts. Der hilflos im Kreisverkehr gefangene Fahrer34 glaubt nicht mehr, daß ihn Geister auf eine bestimmte Bahn zwingen; und der sog. Geisterfahrer, der sich an einer Autobahnauffahrt oder an einem Autobahnkreuz in die falsche Fahrtrichtung einordnet, ins Verderben fährt und Verderben bringt, vertraut auf die Unfehlbarkeit der Straßenführung ⫺ letztlich darauf, daß mit dem Verschwinden der W. auch keine Gefahren mehr existieren. 1
Cogho, R./Peuckert, W.-E.: Volkssagen aus dem Riesen- und Iser-Gebirge. Göttingen 1967, num. 1; Cammann, A./Karasek, A.: Donauschwaben erzählen 1⫺4. Marburg 1976⫺79, hier t. 3, 436. ⫺ 2 Klein [, A.]: Kreuzweg. In: HDA 5 (1932⫺33) 516⫺529. ⫺ 3 Zum Terminus cf. Leoprechting, K. von: Aus dem Lechrain. Zur dt. Sitten- und Sagenkunde 1. Altötting 1947, pass.; DWb. 3 (1862) 512. ⫺ 4 Birlinger, A.: Aus Schwaben. 1: Sagen, Legenden, Volksaberglauben. Wiesbaden 1874, 396; Böck, E.: Sagen aus der Hallertau. Mainburg 1975, num. 386. ⫺ 5 Müller, J.: Sagen aus Uri. t. 1⫺2. ed. H. Bächtold-Stäubli; t. 3. ed. R. Wildhaber. Basel 1926/29/45 (Nachdruck 1978), hier t. 1, num. 40. ⫺ 6 Panofsky, E.: Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst. B. 1930. ⫺ 7 Harms, V.: Homo viator. Studien zur Bildlichkeit des Weges. Mü. 1970; Scharfe, M.: Zwei-Wege-Bilder. Volkskundliche Aspekte evangel. Bilderfrömmigkeit. In: Bll. für württemberg. Kirchengeschichte 90 (1990) 123⫺144. ⫺ 8 KHM 81; Birlinger, A./Buck, M. R.: Volksthümliches aus Schwaben. 1. Fbg 1861, num. 409; Guntern, J.: Volkserzählungen aus dem Ober-
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wallis. Basel 1978, num. 1513 (zwei Brücken); cf. auch Mackensen, L.: Sagen der Deutschen im Wartheland. Posen 1943, num. 90 (Ruf des nächtlichen Schimmelreiters: „Aus dem breiten Weg auf den schmalen Weg!“). ⫺ 9 Cammann/Karasek (wie not. 1) t. 3, 380. ⫺ 10 Müller (wie not. 5) t. 1, num. 160; t. 3, num. 1575. ⫺ 11 Birlinger/Buck (wie not. 8) num. 538; Cammann/ Karasek (wie not. 1) t. 3, 350, 381; Mackensen (wie not. 8) num. 685, 688. ⫺ 12 Böck (wie not. 4) num. 382; Moser, O.: Sagen aus dem Glödnitztal. In: Kärntens Volksüberlieferung. ed. G. Moro. Klagenfurt 1957, 40⫺168, hier 109 sq.; Müller (wie not. 5) t. 3, num. 1027. ⫺ 13 Böck (wie not. 4) num. 286; Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 1⫺2. ed. W.E. Peuckert. Göttingen 1954/56, hier t. 1, num. 74; Cammann/Karasek (wie not. 1) t. 2, 151. ⫺ 14 Kühnau, R.: Schles. Sagen 1⫺4. Lpz./B. 1913, hier t. 1, num. 621. ⫺ 15 Mackensen (wie not. 8) num. 555. ⫺ 16 Cammann/Karasek (wie not. 1) t. 2, 151. ⫺ 17 ibid. 3, 386. ⫺ 18 Böck (wie not. 4) num. 185. ⫺ 19 Panzer (wie not. 13) t. 1, num. 112; Böck (wie not. 4) num. 269; Endrös, H./Weitnauer, A.: Allgäuer Sagen. Kempten 21954, 465. ⫺ 20 ibid. ⫺ 21 Panzer (wie not. 13) t. 2, num. 97; Kühnau (wie not. 14) t. 3, num. 1389; t. 1, num. 566; Kuhn, A.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1. Lpz. 1859, num. 338. ⫺ 22 Mackensen (wie not. 8) num. 377 (Edelmann kann an der W. keinen Meineid leisten). ⫺ 23 Peuckert, W.-E.: Dt. Sagen 1. B. 1961, num. 73. ⫺ 24 id.: Hochwies. Sagen, Schwänke und Märchen. Göttingen 1959, num. 166. ⫺ 25 Müller (wie not. 5) t. 3, num. 1133. ⫺ 26 Kühnau (wie not. 14) t. 1, num. 385; Mackensen (wie not. 8) num. 324. ⫺ 27 Zingerle, I. V.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 2 1891, num. 757; Müller (wie not. 5) t. 3, num. 1257; Peuckert, W.-E.: Ostalpensagen. B. 1961, num. 365. ⫺ 28 Müller (wie not. 5) t. 1, num. 329.1; Beitl, R.: Im Sagenwald. Neue Sagen aus Vorarlberg. Feldkirch 1953, num. 164. ⫺ 29 Peuckert (wie not. 27) num. 425; Leeb, W. L.: Sagen Niederösterreichs 1. Wien 1892, num. 117, 120. ⫺ 30 Cammann/Karasek (wie not. 1) t. 2, 401⫺403; t. 3, 160 sq., 184⫺186. ⫺ 31 750 Jahre Bromskirchen. ed. R. Gasse. Bromskirchen 1988, 234 sq. ⫺ 32 Gubler, T.: Der Kampf um die Straße. Bern 1953, 275⫺277. ⫺ 33 cf. Brednich, R. W.: Pinguine in Rückenlage. Mü. 2004, num. 41, 42. ⫺ 34 id.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, num. 7.
Marburg
Martin Scharfe
Wegmarkierung, symbolische oder materielle Kennzeichnung des Wegs zu einem bestimmten Ziel. In Erzählungen ist zwischen der absichtlichen und der versehentlichen Markierung des Wegs zu unterscheiden. W.en im engeren Sinne sind bewußt gesetzt und erfüllen
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Wegweisende Gegenstände und Tiere
die Funktion, den Protagonisten zuverlässig an ein bestimmtes Ziel zu führen und sein J Verirren zu verhindern oder ihn als potentielles Opfer anzulocken. Im weiteren Sinne können auch versehentlich hinterlassene Spuren als Markierungen des zurückgelegten Wegs bezeichnet werden. Diese können dazu dienen, den Protagonisten zu verfolgen (J Verfolgung) und ihn in Gefahr zu bringen; so folgt in AaTh/ATU 709 A: The Sister of Nine Brothers eine Menschenfresserin der J Aschenspur des Feuerholz suchenden Mädchens, um es zu töten. Von Markierungen, die am Weg hinterlassen werden, zu unterscheiden sind J wegweisende Gegenstände und Tiere, die auf einen übernatürlichen Helfer zurückzuführen sind bzw. Anthropomorphisierungen unbelebter Dinge darstellen: Tiere und J Gegenstände handeln und sprechen, so etwa ein rollendes Garnknäuel, Wind oder Gestirne, denen der Protagonist folgen kann. Als W. kann fast alles dienen; es dominieren allerdings alltägliche und leicht verfügbare Gegenstände1. Während sich der J AriadneFaden (AaTh/ATU 874*) im Labyrinth als einzig verläßliches Hilfsmittel erweist (cf. auch KHM 49, AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder), sind Objekte, die auf dem Weg zurückgelassen werden, u. a. Steine, Asche, Federn, Nahrungsmittel wie Brotkrümel oder Hülsenfrüchte, aber auch Blut2, wenig beständig, ihr Verlust ist erzählerisch angelegt (Mot. R 135) und dient der Entwicklung der Handlungsdynamik (J Retardierende Momente). Bekanntestes Beispiel für die Verwendung solcher W.en ist AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel. Die Kinder, die im Wald ausgesetzt werden sollen, markieren den Weg mit Sägemehl, Spreu, Hanf, Asche, Brotkrumen oder Kleie, um zurückfinden zu können; als sie den Heimweg suchen, sind die Markierungen jedoch verschwunden. Bes. eßbare, kleine und leichte Dinge können ohne Aufhebens ausgelöscht werden. Mitunter kennzeichnet der J Tierbräutigam seinen Weg mit Steinen, Federn oder Blut, wenn er seinen menschlichen Partner verläßt3. In einem siebenbürg. Märchen dient eine Spur aus Asche einem jungen Mann dazu, den Weg zu seiner Schwester wiederzufinden. Die Aschenspur bleibt erhalten, jedoch
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folgen ihr auch die Diener des Königs und entführen die Schwester4. Die Beseitigung von W.en bzw. die Änderung ihrer Richtung erfolgt nicht nur durch Wind und Regen, sondern auch durch den Gegenspieler des Protagonisten5. So werden im Themenkomplex des J Räuberbräutigams (AaTh/ATU 955) die Opfer gezielt herbeigelockt. Neben der Unkenntlichmachung des richtigen Wegs durch die Beseitigung der W. steht deren Vervielfältigung. In Var.n von AaTh/ ATU 562: J Geist im blauen Licht sollen heimlich angebrachte W.en, z. B. eine Spur von Körnern, den König zum Entführer seiner allnächtlich verschleppten Tochter führen; dessen Helfer entdeckt die Markierungen jedoch und bringt überall derartige Zeichen an (cf. auch AaTh/ATU 954: cf. J Ali Baba und die vierzig Räuber). Hinweise auf den richtigen Weg und Hilfe zur Orientierung in der Landschaft liefern in Märchen ferner die Lichter von Behausungen (z. B. KHM 27, AaTh/ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft). In die Irre führende Erscheinungen sind dagegen eher mit Sagen verbunden6. W.en korrespondieren mit märchentypischer J Raumvorstellung und J Richtungssymbolik: Obwohl sie häufig verloren gehen, besteht die Intention der Protagonisten im Märchen in der Regel darin, den richtigen Weg zu finden und W.en zu suchen sowie zu beachten. Konsequent ist daher die Bestrafung des leichtfertigen Verlassens von markierten Wegen in Warnmärchen: Als J Rotkäppchen (AaTh/ ATU 333) diesen zivilisatorischen Schutzraum verläßt, gerät es in die Fänge des Wolfs. 1 cf. aber Afanas’ev 1, num. 168 (beschriftete Schilder). ⫺ 2 Schmaus, A.: Studien zu balkan. Balladenmotiven. In: Beitr.e zur Südosteuropa-Forschung 1 (1966) 285⫺304, hier 287 sq. ⫺ 3 Heckscher, K.: Fahrzauber. In: HDM 2 (1934⫺40) 8⫺42, hier 39. ⫺ 4 Wlislocki, H. von: Märchen und Sagen der Bukowiner und Siebenbürger Armenier. Hbg 1891, num. 44. ⫺ 5 Schmaus (wie not. 2). ⫺ 6 cf. z. B. HDA 1 (1927) 1659⫺1665.
Leipzig
Alfrun Kliems
Wegweisende Gegenstände und Tiere. Das Motiv des wegweisenden (w.en) Tiers (Mot. B 120⫺B 169) gehört hauptsächlich dem My-
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thos, der Legende und der Sage an und erscheint vor allem in Zusammenhang mit Berichten von Wanderungen, Ansiedlungen oder Gründungen (cf. J Bauplatzlegende; J Gründungssage)1. In Europa ist es seit der klassischen Antike breit belegt. Migrationen im Gefolge eines Tiers sind schon in der italischen Vorgeschichte erwähnt, bes. im Zusammenhang mit dem ver sacrum genannten Brauch der Eroberung neuen Landes durch eine Gruppe geweihter junger Männer: So folgten die Hirpiner einem Wolf (Festus 93; Strabon 5,4,12), die Samniter einem Stier (Strabon 5,4,12) und die Picenen einem Specht (Strabon 5,4,2; Plinius, Naturalis historia 2,110); analoge Sagen sind auch für andere antike Völker belegt, von Gallien (Justinus, Epitome historiarum Philippicarum 39,4) bis zum Roten Meer (Agatarchides von Knidos 5). Zahlreiche antike Städte sollen die Wahl ihres Standorts einem durch ein Orakel bezeichneten Tier verdanken, z. B. Theben (Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 2,4,1; Pausanias 9,12; Scholia ad Iliadem 2,494), Troja (Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 3,12,3), Boiai (Pausanias 2,22,12), Ephesos (Athenaios 8,361), Alba Longa (Vergil, Äneis 8,42⫺45, 81⫺85), Lavinio (Dionysios von Halikarnassos 1,55,3⫺5; 1,56,1⫺5; 1,57,1) und Tarent (Pausanias 10,10,8; Statius, Silvae 1,1,103; Servius, Commentarii in Vergilii Aeneidos libros 3,551). W.e Tiere stehen bes. mit der Gründung der großen Orakelheiligtümer der Antike in Zusammenhang, so von Delphi (Kallimachos, Hymne an Apollon 65⫺68), Dodona (Herodot 2,55), dem Heiligtum im ägypt. Siwa (Hyginus, Fabulae 133) oder der Höhle des Trophonios in Lebadeia (Pausanias 9,40,1⫺2)2. Die Hunnen sollen bei ihrer Wanderung von einer J Hirschkuh geführt die mäot. Sümpfe durchquert haben (Jordanes, De origine actibusque Getarum 24; Prokopios, Bella 4,5)3. Ähnliche Erzählungen erhielten sich in großer Zahl vor allem im Gebiet der asiat. Steppen4, in den ma. Überlieferungen über die Gründung des Fürstentums Moldau, die Wanderung, die zur Ansiedlung der Ungarn führte, oder die Kolonisierung Islands5. Vor allem in den christl. Kulturen war das Motiv vom w.en Tier sehr beliebt; Kirchen, die angeblich an von Tieren, gewöhnlich von J Tauben oder anderen Vögeln, Hirschen oder J Ochsen (J
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Gespannwunder), angezeigten Orten erbaut wurden, sind über ganz Europa verstreut, von der Bischofskirche im ung. Va´c bis hin zum Benediktiner- und späteren Augustiner-Chorherrenstift Kloster Polling in Oberbayern, von der Abtei Ramsey in England bis zu Santa Maria dell’Alto bei Messina6. Tiere sollen auch den Weg zu Heiligen gewiesen haben, die als Einsiedler lebten ⫺ so in den Viten von Aegidius (J Vierzehn Nothelfer), Kevin, Humbert de Maroilles, Prokop von Böhmen und Petros Athonites, oder nach dem Tod der Heiligen zu deren Leiche geführt haben, wie über Fingar, Antoninus von Pamiers, Chrysogonus und viele andere berichtet wird7. Das Motiv der w.en Tiere ist auch über die Grenzen Europas hinaus gut belegt: in verschiedenen Teilen Asiens, in den Siedlungsmythen der Tschuktschen, Wotjaken und Daur; in Mittelamerika bei Tolteken und Azteken; in Süd- und Zentralafrika bei Chokwe und Kom; ähnlich findet dem Maori-Mythos über die Entdeckung Neuseelands zufolge der Held die Route zur neuen Heimat, indem er einen riesigen Polypen von offensichtlich übernatürlicher Herkunft verfolgt (cf. auch J Wal)8. Es ist davon auszugehen, daß die Vorstellung vom w.en Tier auf eine archaische Kulturschicht zurückgeht. Diese ist mit totemistischen und schamanistischen Vorstellungen verbunden (J Totemismus; J Schamanismus), denen zufolge das Tier den Menschen und selbst den Göttern unbekannte Wege kennt (S´atapatha Bra¯hmana 5,13,2,8; 1. Jahrtausend a. Chr. n.). Auch in märchenhaften Erzählungen spielt das Motiv der w.en Gegenstände oder Tiere eine Rolle. Der Märchenheld muß immer einen Weg zurücklegen, der schicksalhaft und genau festgesetzt ist; er streift daher gewöhnlich nicht blind auf der Suche nach Abenteuern umher wie die Helden des ma. höfischen Romans, sondern ist dem Ziel, das ihn erwartet, sicher zugewandt. Er folgt dabei der Route, die ihm ein übernatürlicher Helfer ⫺ Tier oder Gegenstand ⫺ weist (J Suchen, Suchwanderung). Der Gegenstand weist rollend oder fliegend den Weg (Mot. D 1313) und ist also in gewisser Weise belebt (J Gegenstände handeln und sprechen; J Anthropomorphisierung; J Dingbeseelung): Er ist ein J Ball, J Apfel (AaTh
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Wegweisende Gegenstände und Tiere
431 A*: Girls Follow Balls) oder rollender Kuchen (AaTh/ATU 431: J Haus im Walde), ein Knäuel (AaTh/AaTh 425 sqq.: cf. J Amor und Psyche)9, ein Laib Brot (AaTh 431 B*: Girls Follow Breadloaf ) oder eine J Feder bzw. ein J Pfeil (AaTh/ATU 402: J Maus als Braut). Tiere bieten sich im allg. als Führer an (Mot. B 563), u. a. in zahlreichen Märchen, in denen schwierige J Aufgaben zu lösen sind (AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt; Var.n von AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter), ein Jenseitsort erreicht oder etwas Außergewöhnliches (J Lebenswasser) beschafft werden muß. Oftmals begegnet der Protagonist dem w.en Tier bei der J Jagd (AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen; Mot. D 659.10, F 159.1, F 241.0.1, N 774). Dieses kann ein menschliches Wesen in Tiergestalt (J Tierverwandlung) sein wie die weiße Hirschkuh (cf. AaTh 401/ATU 400: J Prinzessin als Hirschkuh) in Madame d’ J Aulnoys La Biche au bois, ein von höheren Mächten gelenktes Tier wie der Hirsch des hl. Eustachius (AaTh/ATU 938: J Placidas), ein mit übernatürlichem Wissen oder übernatürlichen Kräften begabtes tiergestaltiges Wesen wie der sprechende Tierhelfer (AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen; AaTh/ ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter) oder der Zaubervogel (Mot. B 172.6). W.e Gegenstände und Tiere können in Var.n eines Erzähltyps nebeneinander existieren (cf. AaTh 431 A*, B*): In der ir. Erzählung von ConnEda wird der Protagonist von einem sprechenden Pferdchen und einer Eisenkugel in eine Unterwasserwelt geführt10. Im Zusammenhang mit w.en Gegenständen stehen selbstfahrende Transportmittel wie Boote ohne Ruder (Mot. D 1121, D 1123, D 1523.2; cf. J Schiff) oder magische Gegenstände, die ihren Träger oder Besitzer an einen anderen Ort bringen wie J Siebenmeilenstiefel (z. B. AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau) oder der fliegende J Teppich (cf. auch J Luftreisen). Funktionale Überschneidungen bestehen zwischen w.en Gegenständen und Gegenständen, die wie der Zauberspiegel in AaTh/ATU 709: J Schneewittchen weitentfernte Geschehnisse sichtbar machen. W.e Gegenstände und Tiere können den Weg im wörtlichen wie auch im metaphorischen Sinne weisen, etwa indem sie
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unerwartet die Lösung einer anscheinend verzweifelten Situation herbeiführen. In AaTh/ ATU 612: Die drei J Schlangenblätter liefern eine Schlange oder ein Wiesel den Hinweis auf das Wiederbelebungsmittel. Der Vogel, der in AaTh/ATU 471 A: J Mönch und Vöglein den Protagonisten nicht an einen anderen Ort, sondern in eine andere Zeit führt, fällt ebenfalls unter diese Kategorie. Im übertragenen Sinn können zudem Tierhelfer, die als J Ratgeber fungieren, als w.es Tier aufgefaßt werden (AaTh/ATU 314: J Goldener; AaTh/ATU 550; AaTh/ATU 545 A: J Katzenschloß; AaTh/ ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater; AaTh/ ATU 671: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch). Mitunter kennzeichnen weisende Tiere und Gegenstände den Protagonisten als Herrscher (Mot. H 171). Den w.en Tieren stehen Wesen gegenüber, die Menschen in die Irre führen, wie die zahlreichen Geistertiere der brit. und ir. Sage (Dunnie, Brag, Pooka, Each Uisge [Wasserpferd]; J Verirren)11. Auch Märchen kennen solche dämonischen Tiere. So folgt in Var.n von AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder einer der Brüder einem Hirsch (Hirschkuh) und gerät in die Gewalt einer Hexe12. Als Gegenstück zu w.en Gegenständen könnten die Dinge in AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht angesehen werden, welche die Verfolger behindern. Der von einem Gegenstand oder einem Tier gewiesene Weg führt zu Personen oder Orten, die in der einen oder anderen Weise einer jenseitigen Dimension angehören. Insofern stehen w.e Gegenstände und Tiere im Zusammenhang mit der Überschreitung einer ontologischen J Grenze (J Jenseitswanderungen). In der Welt des Imaginären ist das Motiv des w.en Tiers nach wie vor verbreitet: Es findet sich u. a. in Neil Gaimans Fantasy-Roman Coraline (2002). 1 cf. Grimm, Mythologie 2, 954⫺957; 3, 329 sq.; Pschmadt, C.: Die Sage von der verfolgten Hinde. Greifswald 1911; Krappe, A. H.: Guiding Animals. In: JAFL 55 (1942) 228⫺246; cf. Röhrich, L.: Der hl. Englmar. Legende, Volksschauspiel, Brauch. In: Rhein. Jb. für Vk. 12 (1961) 86⫺134, hier 106⫺119; Haiding, K.: Das „Weisende Tier“ in steir. Volkssagen. In: Zs. des hist. Vereins für Steiermark (1971) 209⫺227; Russack, N.: Animal Guides. In Life, Myth and Dreams, and Analyst’s Notebook. Toronto 2002; Dona`, C.: Per le vie dell’altro mondo. L’animale guida e il mito del viaggio. Soveria Man-
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nelli 2003; Abry, C./Joisten, A.: De l’autre Monde aux morts d’ici. Vecteurs bovins des Pyre´ne´es et des Alpes. In: Sempre los camps auran segadas resurgantas. Festschr. X. Ravier. Toulouse 2003, 339⫺352. ⫺ 2 Vian, E.: Les Origines de The`bes. Cadmos et les Spartes. P. 1963, 76⫺93; Dona` (wie not. 1) 35⫺77; Poucet, J.: Le Motif de la truie romaine aux trente gorets. In: Folia Electronica Classica 7 (Janvier-Juin 2004) (im Internet). ⫺ 3 cf. Moravcisk, G.: Die hunn. Hirschsage. In: Beitr.e zur Alten Geschichte und deren Nachleben 2. Festschr. F. Altheim. B. 1970, 114⫺ 119. ⫺ 4 Alföldi, A.: Theriomorphe Weltbetrachtung in den hochasiat. Kulturen. In: Archäologischer Anzeiger 46 (1931) 393⫺418. ⫺ 5 Eliade, M.: Il principe Dragos e la caccia rituale. In: id.: Da Zalmoxis a Gengis Khan. Studi comparati sulle religioni e sul folklore della Dacia e dell’Europa centrale. Rom 1975, 118⫺145. ⫺ 6 Szentpe´tery, I. (ed.): Scriptores rerum Hungaricarum 1. Bud. 1937, 394 sq. (Va´c); Rettberg, F. W.: Kirchengeschichte Deutschlands 2. Göttingen 1848, 167 (Polling); Chronicon Abbatiae Rameseiensis. ed. W. Dunn Macray. L. 1866, 183⫺ 185; Samperi, P.: Iconologia della gloriosa Vergine Madre di Dio Maria, protettrice di Messina. Messina 1644, 377⫺380; cf. Dona` (wie not. 1) 94⫺100. ⫺ 7 id.: Animali guida e santi. In: Lo sguardo azzurro. Costanti e varianti nell’immaginario mediterraneo. ed. M. T. Giaveri u. a. Messina 2008, 187⫺221. ⫺ 8 id. (wie not. 1) 149⫺191. ⫺ 9 Tegethoff, E.: Studien zum Märchentypus von Amor und Psyche. Bonn/ Lpz. 1922, 43. ⫺ 10 Yeats, W. B.: Fairy and Folk Tales of the Irish Peasantry. L. 1888, 306⫺318. ⫺ 11 Briggs, K. M.: A Dict. of Fairies. L. 1976, 114 (Dunnie), 36 (Brag), 326 sq. (Phouka), 115 sq. (Each Uisge). ⫺ 12 Ranke, K.: Die zwei Brüder (FFC 114). Hels. 1934, 161 sq.
Padua
Carlo Dona`
Weib: Böses W. schlimmer als der Teufel (AaTh/ATU 1353), Beispielerzählung mit dem zentralen Motiv der doppelseitigen J Verleumdung. Sie verläuft nach folgendem Grundmuster: Eine mißgünstige Person sät Zwietracht zwischen zwei Eheleuten. Der Frau redet sie ein, ihr Mann wolle sich (wegen einer anderen) von ihr trennen; wenn sie sich seiner dauerhaft vergewissern wolle, solle sie ihm für einen Liebeszauber im Schlaf einige (drei) Barthaare nahe am Hals abschneiden. Den Mann läßt sie glauben, seine Frau habe einen Liebhaber und wolle ihn im Schlaf töten. Als die Frau dem sich schlafend stellenden Mann die Barthaare abschneiden will, denkt er, sie wolle ihn umbringen, und tötet sie. Manchmal schließt sich die Ermordung des Mannes durch die Verwandten (Brüder, Familie) der Frau an sowie seltener eine ausufernde Blutfehde zwischen den Familien.
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Der Erstbeleg für AaTh/ATU 1353 findet sich früher als bislang bekannt1 fast wortgleich in zwei ethisch-moralischen Abhdlgen des arab. Autors Ibn abı¯ Åd-Dunya¯ (gest. 894), in denen die Erzählung unter Berufung auf den Überlieø umaid atø-Tøawı¯l (gest. 760) angeführt ferer H wird2. Hier wie in der gesamten arab. literar. Überlieferung ist die verleumderische Person ein zum Verkauf stehender J Sklave. In der Eingangsszene nimmt der Käufer ⫺ unter Bezugnahme auf eine Regelung des islam. Rechts3 ⫺ als Mangel der zum Kauf angebotenen Ware zur Kenntnis, daß der Sklave ein gewohnheitsmäßiger Verleumder ist, und verzichtet damit auf spätere Beanstandung. Bis ins 19. Jh. ist die Erzählung mit großer Kontinuität in einem knappen Dutzend weiterer arab. Werke unterschiedlicher Gattungen enthalten4, von al-Baihaqı¯s (10. Jh.) antithetischem Werk zu den guten und den schlechten Seiten der Dinge (folgend auf ATU 844*: J ß ahabı¯s (gest. Rache des Kastrierten)5 über adß -D 1348) Traktat über die Hauptsünden6 und das anonyme Sammelwerk J Nuzhat al-udaba¯Å 7 bis zur Anekdotensammlung von asˇ-Sˇirwa¯nı¯ ˙ azza¯lı¯s (gest. 1840)8. Der Anführung in al-G (gest. 1111) wirkungsmächtigem Hauptwerk Ihø ya¯Å ¤ulu¯m ad-dı¯n (Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften)9 dürfte am ehesten ein Einfluß über den arab. Sprachraum hinaus zuzuschreiben sein. Einzig die Fassung in dem Fürstenspiegel Fa¯kihat al-h˚ ulafa¯Å (Paradiesfrucht der Kalifen) des Ibn ¤Arabsˇa¯h (gest. 1450)10 weist eine nennenswerte Variation auf: Hier wird der Sklave als gewohnheitsmäßiger Lügner bezeichnet, der einmal pro Jahr eine J Lüge verbreite; vorgeschaltet ist eine verkürzte Version von AaTh/ATU 2040: J Häufung des Schreckens, die separat in J Tausendundeine Nacht erscheint11. In der pers. Anekdotenenzyklopädie von al¤Oufi (gest. 1232) liegt eine wortreich ausgestaltete Übers. der arab. Grundform vor12. Generell scheint die Nachwirkung der ursprünglichen arab. Fassung in der mündl. Überlieferung des arab.13 wie allg. des islam. Raums sehr begrenzt zu sein. So ist die neuaram. Var. eine direkte Übers. des Textes von Ibn ¤Arabsˇa¯h14, und die als ,afghan.‘ publizierte Var. beruht direkt auf einem Ende des 19. Jh.s aus arab. und pers. Quellen kompilier-
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ten Paschtu-Lehrbuch für brit. Kolonialbeamte15. Die Entwicklung des Erzähltyps in der europ. Überlieferung hat K. Kasprzyk in ihrem Kommentar zu den Lügengeschichten des J Nicolas de Troyes erschöpfend besprochen16. Als Vermittlungsinstanz fungiert das in der 2. Hälfte des 12. Jh.s verfaßte hebr. Sefer Sha’shu’im ([Buch der Vergnügungen] Kap. 12) des J Joseph ibn Sabara, der aus einer arab. Quelle schöpft. Eine in der Sekundärliteratur gelegentlich angeführte Fassung bei Hrabanus Maurus (gest. 858)17 ist eine literar. Fiktion, entstanden durch die in Mss. des 14. Jh.s angeführte retrospektive Authentifizierung18. Wenngleich der Akt der Verleumdung bereits in einer sprichwortähnlichen Äußerung bei adß -D ß ahabı¯ als schlimmer als das Wirken des J Teufels eingeschätzt wird19, ist das Geschehen bei Ibn Sabara zum ersten Mal narrativ sowohl mit dem Teufel als auch mit einer alten Frau in der Rolle der verleumderischen Person verknüpft: Der Teufel verzweifelt, da er es nicht fertigbringt, zwischen den Eheleuten Zwietracht zu säen, und verspricht einer alten Frau (Wäscherin) reichen Lohn, wenn ihr dies gelinge. Die Frau schafft es mit der bekannten Strategie. Es folgt eine Blutfehde, in der mehr als 32 Personen den Tod finden.
In der Folgezeit ist die Erzählung in einer großen Anzahl ma., frühneuzeitlicher und moderner Slgen als Exempel20, Predigtmärlein21 oder erbauliche bzw. belehrende Geschichte enthalten, so etwa bei J E´tienne de Bourbon (num. 245)22, der seine Version singulär mit einer Versöhnung der Eheleute enden läßt, bei J Johannes Gobi Junior (num. 615), im J Libro de los e(n)xemplos (num. 370), bei J Henmannus Bononiensis (num. 77) oder bei Don J Juan Manuel (num. 42); durch das J Speculum exemplorum (9,93) und seine verschiedenen Fassungen wurde die Erzählung auch nach Osteuropa vermittelt. In einer zweiten Form, die sich zuerst in der dt. Version des Schwankromans J Salomon und Markolf (V. 946⫺1033) findet, ist die misogyne Tendenz der europ. Fassung weiter nuanciert: Der Teufel reicht der Frau das als Lohn versprochene Paar Schuhe nur aus der Distanz an einer langen Stange, da er sich vor ihrer überragenden Hinterhältigkeit fürchtet23. Eine dritte Form steht zuerst bei Johannes J Herolt (M 17):
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Statt der Haare soll der Liebeszauber hier durch ein Messer und Weihwasser unter dem Kopfkissen des Mannes bewirkt werden, was wiederum zu dem erwähnten Mißverständnis und der Tötung der Ehefrau führt24. Aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 1353 mit eher geringen Modifikationen vorrangig für den europ. Raum belegt25. Dabei ist der Einfluß der schriftl. Quellen auf die mündl. Überlieferung kontrovers diskutiert worden26. Als eines der ersten weltlichen narrativen Themen wurde die Erzählung auch im Flugblatt gestaltet27. Selbst die wenigen außereurop. Var.n sind weitgehend von der europ. Überlieferung beeinflußt. Sowohl der arab. Typenkatalog als auch ATU führen unter AaTh/ATU 1573*: The Clever Servant as Trouble Maker dieselben Belege für die hist. arab. Var.n an wie unter AaTh/ATU 135328; die katalogisierten Texte scheinen (außer den arab.) allerdings eher dem Umkreis von AaTh/ ATU 1000: cf. J Zornwette anzugehören. Ähnlich wie bei AaTh/ATU 1553: J Ochse für fünf Pfennig ist die misogyne Tendenz von AaTh/ATU 1353 erst durch die Rezeption in jüd.-christl. Werken des europ. MA.s geprägt worden. Die ursprüngliche arab. Version konnte noch als Warnung vor einer unbedachten Auswahl des J Gesindes oder als zynischer Schwank über die Konsequenzen eines unbedachten Kaufs (cf. AaTh/ATU 1631: J Pferd geht nicht über Bäume) verstanden werden. Aus der Genderperspektive betrachtet, bekennen sich die arab. Autoren zu dem zerstörerischen Potential männlichen Intrigantentums, während die westl. Autoren diesen Aspekt mit ihrer böswilligen Charakterisierung der Frau externalisieren. 1 Marzolph, Arabia ridens 1, 208⫺211; ibid. 2, num. 459. ⫺ 2 Ibn abı¯ Åd-Dunya¯: D ß amm al-g˙¯ıba wa-’nnamı¯ma. Kairo 1989, 177 sq., num. 132; cf. auch ibid., 72 sq.; Mausu¯¤at rasa¯Åil Ibn abı¯ Åd-Dunya¯ 5. Beirut 1409/1988, 177, num. 270. ⫺ 3 Bergsträsser, G.: Grundzüge des islam. Rechts. ed. J. Schacht. B. 1935, 70; cf. Marzolph, Arabia ridens 1, 210 sq. ⫺ 4 cf. Ibn H ø ibba¯n al-Bustı¯ [gest. 965]: Raudø at al¤uqala¯Å. ed. M. M. ¤Abdalhø amı¯d. Beirut 1395/1975, 179 sq.; ar-Ra¯fi¤ı¯ al-Qazwı¯nı¯ [gest. 1226]: at-Tadwı¯n fı¯ ah˚ ba¯r Qazwı¯n. ed. ¤A. al-¤Uta¯ridı¯. Beirut 1408/ 1987, 332. ⫺ 5 al-Baihaqı¯: al-Mahø a¯sin wa-’l-masa¯wı¯. ß ahabı¯: ed. F. Schwally. Gießen 1902, 614. ⫺ 6 adß -D Kita¯b al-Kaba¯Åir. Kairo 41385/1965, 156 sq. (Kap. 43). ⫺ 7 Gotha, Univ.s- und Forschungsbibl. Erfurt/
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Weib: Böses W. als schlechte Ware
Gotha, Ms. Orient A 2706, fol. 31b sq. ⫺ 8 Die Geschichten und Anekdoten aus esch-Schirwanı¯’s „Nafhat el-Jemen“. Übers. O. Rescher. Stg. 1920, 459, ˙ azza¯lı¯: Ihø ya¯Å ¤ulu¯m ad-dı¯n. Kairo num. 98. ⫺ 9 al-G s. a. 3, 137 (Kap. 4,16); cf. auch az-Zabı¯dı¯, al-Murtadø a¯ [gest. 1791]: Ithø a¯f as-sa¯da al-muttaqı¯n 9. Beirut 1422/2002, 355 sq. ⫺ 10 Chauvin 2, 195, num. 20; EM 12, 977 sq.; zum Werk cf. Leder, S.: Spott im Ornat. Humor auf zweiter Stufe bei Ibn Arabschah (st. 1450). In: Humor in der arab. Kultur/Humor in Arabic Culture. ed. G. Tamer. B./N. Y. 2009, 263⫺ 275. ⫺ 11 Marzolph/van Leeuwen 1, 178 sq., num. 38. ⫺ 12 Nizø a´mu’d-dı´n, M.: Introduction to the Jawa´mi¤u’lhø ika´ya´t wa lawa´mi¤u’r-riwa´ya´t of Sadı´du’d-dı´n Muhø ammad al-¤Aufı´. L. 1929, num. 1722 (Kap. ˇ ava¯me¤ 3,19,2); ¤Oufi, Sadı¯daddı¯n Muhø ammad: G al-hø eka¯ya¯t […]. ed. A. B. und M. Mosøaffa¯. Teheran 1353/1974, 561⫺564. ⫺ 13 cf. El-Shamy 1573*. ⫺ 14 Lidzbarski, M.: Geschichten und Lieder aus den neu-aram. Hss. Weimar 1896, num. 10. ⫺ 15 cf. Marzolph, U.: „Pleasant Stories in an Easy Style“. Gladwin’s Persian Grammar as an Intermediary between Classical and Popular Literature [1995]. In: id.: Ex Oriente fabula 2. Dortmund 2006, 96⫺130, hier 103; Lebedev, K. A.: Die Teppichtasche. Märchen und Geschichten aus Afghanistan. Kassel 1986, 160 sq. ⫺ 16 Kasprzyk, K.: Nicolas de Troyes et le genre narratif en France au XVIe sie`cle. W./P. 1963, num. 6; ergänzend Schmidt, L.: Die Volkserzählung. B. 1963, 70⫺78; Trümpy, H.: Theorie und Praxis des volkstümlichen Erzählens bei Erasmus von Rotterdam. In: Fabula 20 (1979) 239⫺248, hier 242 sq. ⫺ 17 Don Juan Manuel: El Conde Lucanor. ed. J. M. Blecua. Madrid 1971, 206 sq.; Josef ibn Zabara: Reis met de Duivel. Übers. R. Fontaine/A. Schippers/I. E. Zwiep. Kampen 1999, 165⫺168. ⫺ 18 Welter, J. T.: L’Exemplum dans la litte´rature religieuse et didactique du moyen aˆge. P. 1927, 19, not. 20. ⫺ 19 adß -D ß ahabı¯ (wie not. 6). ⫺ 20 Tubach, num. 5361. ⫺ 21 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 264. ⫺ 22 Wesselski, A.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 22; cf. auch Wesselski, MMA, num. 5. ⫺ 23 Kasprzyk (wie not. 16) 52 sq., 59. ⫺ 24 ibid., 53. ⫺ 25 ibid., 55⫺ 60. ⫺ 26 ibid., 55 sq. ⫺ 27 Geisberg, M.: The German Single-Leaf Woodcut: 1550⫺1600. t. 1. ed. W. L. Strauss. N. Y. 1974, 161; Brednich, R. W.: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15.⫺17. Jh.s 2. BadenBaden 1975, Abb. 1; Brückner, W.: Populäre Druckgraphik Europas. Mü. 21975, Abb. 75; Wendeler, C.: Bildergedichte des 17. Jh.s. In: ZfVk. 15 (1905) 150⫺ 153, num. 7; cf. auch Odenius, O.: „Die Alte, die schlimmer als der Teufel war.“ In: Bringe´us, N.-A. (ed.): Man and Picture. Stockholm 1986, 126⫺ 132. ⫺ 28 Bei ATU 1353 lies korrekt „Chauvin 1892 ff. II, 158 No. 42“; bei El-Shamy, Types, und ATU 1573* ist der Verweis auf Chauvin 2, 193, num. 14 unzutreffend.
Göttingen
Ulrich Marzolph
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Weib: Böses W. als schlechte Ware (AaTh 1170, 1170 A/ATU 1170), Schwank aus dem Bereich der Erzählungen vom geprellten J Teufel: Ein Kaufmann trifft eine Vereinbarung mit dem Teufel, wonach dieser ihm den Absatz seiner Waren garantiert, nach dem Verkauf der letzten Güter jedoch seine Seele erlangen soll (J Teufelspakt). Als der Moment naht, sucht der Kaufmann Hilfe bei einer alten Frau, die den Teufel kennt. Auf ihr Anraten präsentiert er sie dem Teufel als unverkäufliche Ware. Als der Teufel sie erblickt, gibt er zu, daß niemand, der sie kennt, diese Frau kaufen würde, und der Kaufmann ist frei.
Als AaTh 1170 A: Task: Selling Three Old Women klassifizierte literar. Vorläufer des Erzähltyps finden sich bei Hans J Sachs. Hier gelingt es dem Teufel nicht, drei alte Frauen zu verkaufen. Auch der Teufel selbst will sie, um Vertragserfüllung zu erwirken, dem Protagonisten nicht abnehmen1. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde der Erzähltyp bes. in Finnland und Schweden aufgezeichnet, daneben sind einzelne ir., ital., poln. und russ. Belege bekannt. Der Schwank ist oft mit anderen Erzähltypen kombiniert und bildet dann im Rahmen einer längeren Erzählung die zweite (dritte) Episode2. U. a. dienen AaTh/ATU 1074: cf. J Wettlauf der Tiere3 (hier Mensch und Teufel) oder AaTh/ATU 1353: Böses J W. schlimmer als der Teufel 4 als Vorgeschichte, welche die Angst des Teufels vor der Frau begründet. Charakteristisch ist dabei der Aufschrei des Teufels: ,Wer dich kennt, der kauft dich nicht!‘ Dieser Ausspruch ist auch als Sprichwort bekannt, das sich an eine Person richtet, der infolge vorausgegangener Betrugsversuche nicht mehr vertraut wird5; er scheint auf AaTh/ATU 1529: J Dieb als Esel zurückzugehen6. In einer schwed. Var. wird das Verhältnis zwischen Teufel und Frau durch AaTh/ATU 1091: cf. J Frau als unbekanntes Tier begründet7. Das für diesen Erzähltyp charakteristische Motiv des Teerens und Federns findet sich auch, ohne daß AaTh/ATU 1091 vollständig vorliegt, in mehreren weiteren schwed. Var.n: Einmal soll die Frau bzw. der exotische Vogel verkauft werden8; einmal muß ein Mann etwas vorzeigen, was dem Teufel nicht gefällt. Er präsentiert eine geteerte und gefederte Hexe, die der Teufel wiedererkennt9.
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Weiber von Weinsberg
Die rettende Idee kommt in AaTh 1170, 1170 A/ATU 1170, im Gegensatz zu anderen Erzählungen vom geprellten Teufel (z. B. AaTh/ ATU 1174: Making a Rope of Sand), nicht von dem Teufelsbündner selbst10, sondern von einem Ratgeber (alte Frau, Freund11). Die Befreiung aus dem Teufelspakt, die sonst häufig durch listige Ausnutzung des genauen Wortlauts des Vertrags geschieht, erfolgt mittels einer unlösbaren Aufgabe12. In einer mit AaTh/ ATU 1170 entfernt verwandten russ. Erzählung stellt die Frau des mit dem Teufel paktierenden Popen dem Teufel drei Aufgaben, die dieser nicht erfüllen kann13. Wie AaTh/ATU 1164: J Belfagor und AaTh/ATU 1353 kann AaTh/ATU 1170 insofern als Beispiel für die in der Volkserzählung verbreitete Misogynie und Diskriminierung von alten Menschen angesehen werden, als in der Regel die Häßlichkeit der jeweiligen weiblichen Figur ebenso stereotyp betont wird wie ihre Durchtriebenheit. 1 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 1⫺6. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1893⫺1913, hier t. 5, num. 600; ibid. 6, num. 881. ⫺ 2 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Hels. 1920, num. 206. ⫺ 3 ibid.; Liungman 1, 402 sq.; Kvideland, R./Sehmsdorf, H. K.: All the World’s Reward. Seattle/L. 1999, num. 70 (schwed.). ⫺ 4 Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 1. MdW 1915, num. 23 (dän.); Rausmaa, SK 3, num. 71; ibid. 6, num. 8. ⫺ 5 cf. Egenolff, C.: Sprichwörter, schöne, weise Kluogredenn […]. Ffm. 1552 (Nachdr. B. 1968) 143; Wander 2, 1243. ⫺ 6 Boggs, R. S.: „Let Him Buy You Who Does not Know You“. In: Studies in Philology 32 (1935) 22⫺39, hier 32 sq. ⫺ 7 Hackman (wie not. 2). ⫺ 8 Stroebe (wie not. 4); Hackman (wie not. 2) num. 217 (2 von 9 Var.n). ⫺ 9 ibid. (Var. 6). ⫺ 10 cf. Röhrich, L.: Sage und Märchen. Erzählforschung heute. Fbg/Basel/Wien 1976, 261. ⫺ 11 Sachs (wie not. 1). ⫺ 12 cf. Zelger, R.: Teufelsverträge. Märchen, Sage, Schwank, Legende im Spiegel der Rechtsgeschichte. Ffm. u. a. 1995, 104, 185 sq. ⫺ 13 Novikov, N. V. (ed.): Russkie skazki v zapisjach i publikacijach pervoj poloviny XIX veka. M./Len. 1961, num. 69.
Augsburg
Alexander Rasumny
Weiber von Weinsberg (ATU 875*), bekannte dt. Sage. Da sie auf einer markanten süddt. Burganlage spielt (J Lokalisierung), handelt es sich um eine Ortssage, zugleich aber
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auch um eine hist. Sage, weil in ihr zwei bekannte Herrschergestalten der Stauferzeit auftreten. Der älteste Beleg ist ein lat. Text in der Kölner Königschronik (um 1200): Im Jahr 1140 belagerte Conrad III. die Burg Weinsberg des Herzogs Welf von Bayern und brachte sie zur Kapitulation. Mit kgl. Erlaubnis gab er allen Frauen, die sich auf der Burg befanden, die Erlaubnis, jede dürfe das mitnehmen, was sie auf ihren Schultern tragen könne. Aus J Treue entschieden sich die Frauen jedoch nicht für Kleidung oder Hausgerät, sondern luden sich ihre Männer auf die Schultern. Auf den Einwand, daß dies nicht gestattet werden dürfe, erwiderte der König, der die J List der W. nicht übelnahm, es gehöre sich nicht, ein Königswort in Zweifel zu ziehen1.
Konstitutiv für die Erzählung ist die ,Weiberlist‘, die aufgrund des gegebenen Wortes hingenommen wird. Der chronologisch nächste Beleg findet sich in der von dem Benediktinermönch Johannes Trithemius 1495⫺1506 niedergeschriebenen Chronik des Klosters Hirsau2. Philipp J Melanchthon integrierte die Sage wenig später in die von ihm edierte Weltchronik des Tübingers Johannes Nauclerus3. In der frühneuzeitlichen Chronik-, Exempel- und Schwankliteratur ist sie vielfach und in immer neuen Abwandlungen bezeugt, z. B. bei Kaspar J Goltwurm, Hans Wilhelm J Kirchhof, Andreas J Hondorff, Matthias J Abele von Lilienberg, Georg J Stengel, Johann Peter de J Memel u. a.; im Anschluß an die Fassung bei Martin J Montanus hat J. J Bolte eine umfassende Zusammenstellung von Quellen vorgelegt4. E. J Moser-Rath5 und E. H. J Rehermann6 haben die Erzählung als Predigtexempel nachgewiesen. Viele dieser Fassungen erwecken durchaus nicht den Eindruck, daß sie von derselben Traditionslinie abstammen, die mit dem Erstbeleg aus der Zeit um 1200 beginnt. Eine von F. J Ranke vorgelegte Ausw. hist. Bezeugungen7 belegt im Gegenteil bereits eine starke Variationsbreite des Stoffes. So ist z. B. in einer hs. Chronik des Hauses Geroldseck um 1530 davon die Rede, daß die Belagerer lediglich der Frau von Geroldseck freien Abzug gewährten mit dem, „das zu irem leib gehörte“, worauf sie ihren Gemahl auf den Rücken und ihren jungen Sohn auf den Arm genommen habe8. Von den gedruckten Chroniken, Exempeln und den Werken der Unterhaltungsliteratur führt der Weg der Erzählung in die Sagensammlungen
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Weiber von Weinsberg
des 19. und 20. Jh.s; durch ihre Aufnahme in die führenden Slgen wurde sie kanonisiert9. In den von Ranke dokumentierten Zeugnissen aus mündl. Überlieferung wird die Sage von verschiedenen dt. Burgen und in der Regel nur von einer einzigen Frau berichtet, die den Burgherrn rettet. Sie versteckt ihn in einer Butte10, einem Tragkorb11, einem Sack oder auf dem Rücken eines Esels12. Deshalb erweist sich die Äußerung des Historikers K. Weller, „daß alle diese Burgsagen mittelbar durch die Erzählung von den Weinsberger Weibern angeregt“ seien13, als wenig stichhaltig. Statt dessen kann aufgrund des Befundes eine gleichzeitige Entstehung (J Polygenese) des konstitutiven Motivs der Weiberlist an manchen der über 50 Orte mit Berichten über Burgbelagerungen nicht ausgeschlossen werden. Erst seit dem 18. Jh. wird die Burg Weinsberg ,Weibertreu‘ genannt. Von Deutschland ausgehend hat die Sage auch zahlreiche Nachbarländer erreicht14. In der bildenden Kunst beginnen Darstellungen im 16. Jh.; der Stoff inspirierte bes. ndl. Künstler15. In der populären Druckgraphik machte der Nürnberger ,Bildermann‘ Paulus Fürst ca 1660 mit einem zwölfstrophigen Lied auf einem ill. Flugblatt den Anfang16; im 19. Jh. schlossen sich weitere Illustrationen auf Bilderbogen an17. Gottfried August J Bürgers Ballade Die W. von W. (1774)18 trug viel zur Popularisierung der Sage bei; in ihrem Gefolge entstanden zahlreiche literar. Bearb.en19, darunter vaterländische Dramen20, Komödien21, Opern22 und Romane23. Justinus J Kerner, der als Oberamtsarzt seit 1819 zu Füßen der Burg wohnte, vertrat unermüdlich seine Auffassung von der Historizität der Weinsberger Erzählung. 1824 stiftete er den Weinsberger Frauen-Verein24, dem der württemberg. König Wilhelm die von ihm gekaufte Burg übereignete25. Adelbert von J Chamisso gab seinem 1831 verfaßten Gedicht Die Weiber von Winsperg in der Schlußstrophe eine politische Wendung, indem er schrieb, daß damals ein Königswort im dt. Vaterland noch als heilig galt26. Dies ist eine Anspielung auf das nicht eingelöste Verfassungsversprechen des preuß. Königs Friedrich Wilhelm III. Von der Mitte des 19. Jh.s bis in das 1. Viertel des 20. Jh.s wurde unter dt. Historikern ein lebhafter Streit um die Historizität und J
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Glaubwürdigkeit der Sage ausgefochten. Bereits lange vorher hatte G. W. Leibniz seine Zweifel an der J Geschichtlichkeit der Erzählung angemeldet und sie als ,fabula‘ bezeichnet27. Wiss. Beitr.e verstärkten diese Bedenken aufgrund hist. Quellenkritik an der Kölner Königschronik und ihrem Umfeld28. Die Partei derer, die teilweise vehement die Glaubwürdigkeit der Erzählung verteidigten, wurde von Weller angeführt, in dessen Rettungsversuch sich das „Streben nach reiner Objektivität“ mit nationalem Pathos und Kulturkritik paart29. Beistand erhielt Weller vor allem durch die Historiker R. Holtzmann30 und L. Rieß31, und selbst in einem Lehrbuch für dt. Geschichte heißt es 1970 noch immer: „Die Erzählung […] ist durchaus glaubwürdig“32. U. Israel zog aus diesem Streit das Fazit, daß im erkenntnistheoretischen Sinn nicht abschließend entschieden werden könne, ob die Kölner Chronik eine wahre Begebenheit berichtet. Es sei in diesem Streit nicht nur um die Unters. des hist. Wahrheitsgehaltes der Erzählung gegangen, sondern auch um die Rettung der im kollektiven Bewußtsein tief verwurzelten Tugenden Weibertreue und Königswort33. Auch für diese Sage gilt somit nach H. J Bausinger das Primat des Erzählerischen: „Es handelt sich um Geschichten, nicht um Geschichte“34. Bei dem Streit um die Ursprünge der Sage haben Überlegungen zu möglichen früheren Vorlagen nur eine geringe Rolle gespielt. Sie könnten dazu beitragen, den Wahrheitsgehalt der Weinsberger Begebenheit weiter zu relativieren. Das Motiv der listigen Weiber, die ihre Männer aus der J Gefangenschaft befreien (AaTh 875 C/ATU 888: The Faithful Wife), kommt bereits bei J Herodot (4,146) und später bei J Valerius Maximus vor (4,6,3), und zwar in der Geschichte der Minyer, die wegen versuchter Übernahme der Staatsgewalt von den Lakedämoniern gefangengenommen wurden. Die Frauen erhielten die Erlaubnis zum Besuch ihrer Männer vor der geplanten Hinrichtung und befreiten sie durch J Kleidertausch35. Aus dem Midrasch Jalkut (1,16) stammt die Erzählung von einem Ehemann, der sich wegen Kinderlosigkeit von seiner Frau scheiden lassen will. Sie willigt unter der Bedingung ein, daß sie mitnehmen dürfe, was ihr am liebsten sei. Nachdem sie ihn betrunken
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Weihnachtsmärchen
gemacht hat, trägt sie ihn in ihr Haus, wo sie sich miteinander versöhnen (cf. AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter)36. In der Sage von J Eginhard und Emma, die seit dem ausgehenden 12. Jh. bezeugt ist, trägt die Königstochter Emma ihren Liebsten am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht auf dem Rükken aus ihrer Wohnung, um seine Spuren im Neuschnee zu verbergen. Der König beobachtet den Vorgang, verzeiht seiner Tochter und stimmt einer Hochzeit zu. In der Koelhoffschen Chronik (Köln 1499)37 sowie in der Mailänder Fassung der Legende von den hll. J Drei Königen vom Ende des 15. Jh.s38 erhält die Äbtissin von Mailand die kgl. Erlaubnis, ihren Bruder aus der belagerten Stadt hinauszutragen und verschafft dafür als Gegengabe der Stadt Köln die Gebeine der Heiligen. 1 cf. MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 18 (1880) 77. ⫺ 2 Trithemius, J.: Chronicon insigne Monasterii Hirsaugiensis. Basel 1559, 16. ⫺ 3 Nauclerus, J.: Memorabilium omnis aetatis et omnium gentium chronici commentarii. Tübingen 1516, fol. 182. ⫺ 4 Montanus/Bolte, num. 80. ⫺ 5 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 42. ⫺ 6 Rehermann, 142 sq., 306 sq. ⫺ 7 Ranke, F. (ed.): Volkssage. Lpz. 1934, 5⫺10. ⫺ 8 Riezler, S. (ed.): Fürstenberg. Urkundenbuch 2. Tübingen 1877, 122 sq. ⫺ 9 Grimm DS 481; Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch 2. ed. W. Möhrig-Marothi/H. Rölleke. Hildesheim u. a. 2004, num. 887; Ranke (wie not. 7) 10⫺21. ⫺ 10 Lyncker, K.: Dt. Sagen und Sitten aus hess. Gauen. Kassel/Göttingen 21860, num. 230. ⫺ 11 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. (Göttingen 1854) Stg. 1948, num. 12, 14.2. ⫺ 12 Grimm DS 91; Curtze, L.: Volksüberlieferungen aus dem Fürstenthum Waldeck. Speyer 1860, num. 113. ⫺ 13 Weller, K.: Die neuere Forschung über die Geschichte von den treuen Weinsberger Weibern. In: Zs. für württemberg. Landesgeschichte 4 (1940) 1⫺17, hier 5. ⫺ 14 Rochholz, E. L.: Schweizersagen von der Weibertreue. In: Germania 13 (1868) 311⫺318; Hoffmann, W.: Die Sage von der Weinsberger Weibertreue. Diss. Königsberg 1928 (51 Var.n); cf. ferner Vries, J. de: Die Märchen von klugen Rätsellösern (FFC 73). Hels. 1928, 279⫺281; Burde-Schneidewind, G.: Hist. Volkssagen aus dem 13. bis 19. Jh. B. 1977, num. 155. ⫺ 15 Pigler, A.: Barockthemen 2. Bud. 1974, 448 sq. ⫺ 16 Brednich, R. W.: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jh.s 2. Baden-Baden 1975, num. 130. ⫺ 17 Wildermuth, R.: „Zweimal ist kein Traum zu träumen“. Die W. von W. und die Weibertreu. Marbach 1990. ⫺ 18 Bürger, G. A.: Sämtliche Werke. ed. G. und H. Häntzschel. Ffm./Olten/Wien 1987, 193⫺ 197. ⫺ 19 Lauxmann, W.: Weinsberg im Munde der Dichter und Sänger. Weinsberg 21930. ⫺ 20 Krauß,
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R.: Die W. von W. im Drama. In: Literar. Beilage zum Staatsanzeiger für Württemberg (1921) 153⫺ 159; cf. Schmidt, E.: Die W. von W. In: Sb.e der Kgl.-Preuß. Akad. der Wiss.en zu Berlin 29 (1902) 1⫺26, hier 1⫺15. ⫺ 21 Klass, G. von: Die W. von W. Komödie in drei Akten. B. 1925. ⫺ 22 Conrad, C. E.: Die W. von W. Romantisch-komische Oper. Lpz. 1854. ⫺ 23 Michae¨lis, K.: Die neuen W. von W. B./Wien 1916. ⫺ 24 Maurer, H.-M.: Justinus Kerner, die Burg Weinsberg und der Frauenverein. In: Zs. für württemberg. Landesgeschichte 58 (1999) 165⫺182. ⫺ 25 Schmidt (wie not. 20) 19. ⫺ 26 Chamisso, A. V.: Sämtliche Werke 1. ed. J. Perfahl/V. Hoffmann. Mü. 1975, 734 sq. ⫺ 27 Leibniz, G. W. (ed): Scriptores rerum Brunsvicensium 1. Hannover 1707, 789. ⫺ 28 Bernheim, E.: Sage von den treuen W.n zu W. und die Zusammenhänge sächs. Annalen. In: Forschungen zur dt. Geschichte 15 (1875) 241⫺288; id.: Die Sage von den treuen W.n zu W. In: Hist. Taschenbuch 6,3 (1884) 13⫺30; Norden, W.: Die W. von W. In: Dt. Lit.ztg 33,10 (1912) 581⫺608. ⫺ 29 Weller, K.: Die W. von W. In: Württemberg. Vierteljahrshefte für Landesgeschichte N. F. 12 (1903) 95⫺136, hier 19. ⫺ 30 Holtzmann, R.: Die W. von W. Zugleich ein Beitr. zur Kritik der Paderborner Annalen. ibid. 20 (1911) 413⫺472; id.: Die treuen W. von W. In: Hist. Vierteljahrsschrift 18 (1916/18) 1⫺32. ⫺ 31 Rieß, L.: Die Weinsberger Weibertreue als wahre Begebenheit erwiesen. In: Preuß. Jbb. 148 (April⫺ Juni 1912) 463⫺475. ⫺ 32 Jordan, K.: Investiturstreit und frühe Stauferzeit 1056⫺1197. Mü. 1970, 102. ⫺ 33 Israel, U.: Von Fakten und Fiktionen in der Historie. Das neuzeitliche Leben der „W. von W.“ In: Zs. für Geschichtswiss. 52 (2004) 589⫺607, hier 591, 606. ⫺ 34 cf. EM 5, 1130. ⫺ 35 Aly, W.: Volksmärchen, Sage und Novelle bei Herodot und seinen Zeitgenossen. Göttingen 1921, 139. ⫺ 36 Gaster, M.: Zur Qu.nkunde dt. Sagen und Märchen. In: Germania 25 (1880) 274⫺294, hier 285 sq.; id.: The Exempla of the Rabbis. L./Lpz. 1924, num. 196; cf. BP 2, 372. ⫺ 37 Hegel, K. (ed.): Cronica van der hilliger stat van Coellen (1499). Lpz. 1876, 513 sq. ⫺ 38 Hofmann, H.: Die Hl.n Drei Könige. Bonn 1975, 113.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Weihnachtsmärchen, Bezeichnung für Bühnenstücke, die zur Weihnachtszeit aufgeführt werden, wie auch für einen Buchtyp mit zeitlichem Bezug zu Weihnachten und damit auch zur Winterzeit (J Jahreszeiten). Eine verstärkte Aufführung von Märchen zur Weihnachtszeit begann in Europa in der Mitte des 19. Jh.s. Solche W. etablierten sich zusätzlich zu den üblichen J Volksschauspielen (Krippen- und Hirtenspielen, Christmas
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Weihnachtsmärchen
Pantomimes) und fanden auch Eingang ins J Puppentheater1. Für das dramatische W. im dt.sprachigen Gebiet setzte sich bes. der Schauspieler und Bühnendichter Carl August Görner (1806⫺84)2 ein, dessen Kinderkomödien (Kindertheater 1⫺6. B. 1855) und WeihnachtsMärchen-Komödien (Hbg 1879⫺84) nachwirkten. Aufführungen von W. (als Schauspiel, J Oper, J Märchenballett) finden heute während der Vorweihnachtszeit bis zu den Weihnachtsfeiertagen im Theater oder auf Schulund Kleinkunstbühnen statt. Das Zielpublikum sind weitgehend Kinder und Jugendliche3. Als literar. Vorlagen für die in Deutschland am häufigsten aufgeführten Stücke dienen zumeist bekannte Märchen der Brüder J Grimm, J Andersens und J Perraults, in denen Kinder im Zentrum der Handlung stehen (cf. J Kindermärchen). Ein inhaltlicher Bezug zu Weihnachten und zur Winterzeit hat zumeist keine strukturelle Bedeutung und ist nicht unbedingt notwendig. Die Inszenierungen umfassen Stücke wie Frau Holle (KHM 24, AaTh/ ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen), J Froschkönig (KHM 1, AaTh/ATU 440), J Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11, AaTh/ATU 450), J Hänsel und Gretel (KHM 15, AaTh/ATU 327 A), Schneeweißchen und Rosenrot (KHM 161, AaTh/ATU 426: J Mädchen und Bär), Aschenputtel (KHM 21, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella), Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27, AaTh/ ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft), Andersens Märchen Snedronningen oder Den lille Pige med Svovlstikkerne, aber auch J Koboldsagen wie Die Heinzelmännchen ([von Köln], nach August Kopisch [1836])4. Dazu kommen W. von Schriftstellern (E. T. A. J Hoffmann, Nußknacker und Mäusekönig [1816]; Charles Dickens, A Christmas Carol: Being a Ghost Story of Christmas [1843]). Die Bezeichnung W. wird darüber hinaus gelegentlich auch für Dramatisierungen von Kinderbüchern (z. B. Gerdt von Bassewitz, Peterchens Mondfahrt [1912]; Erich Kästner, Emil und die Detektive [1929]; Pünktchen und Anton [1930]; Die Konferenz der Tiere [1950]) in Anspruch genommen. Der Buchtyp W. vereint Märchen in einem weiteren Sinne und bezieht schwankhafte Texte, Sagen und legendenhafte Erzählungen
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mit ein5. Trotz der Abstraktheit des Märchenstils ist bei internat. verbreiteten Stoffen die Handlung öfter zeitlich bestimmt und in die Winter- bzw. Weihnachtszeit verlegt6. Diese Tendenz läßt sich für Europa seit dem zweiten Drittel des 19. Jh.s feststellen und betrifft vor allem Märchen aus kälteren Regionen. Z. B. suchen nach älteren Überlieferungen die skand. J Trolle am Christabend menschliche Behausungen auf und stillen dort ihre Freßsucht (cf. AaTh/ATU 1161: cf. J Bärenführer)7. Im Unterschied zu den Märchen Andersens ist in den KHM der Brüder Grimm seltener von der Winterzeit die Rede, etwa in KHM 53, AaTh/ ATU 709: J Schneewittchen, KHM 161, AaTh/ATU 426 oder KHM 3, AaTh/ATU 710: J Marienkind. Im Märchen von der Frau Holle (KHM 24, AaTh/ATU 480) ist die Winterzeit sinnbildlich angesprochen, wenn die fleißige Tochter der Frau Holle das Bett immer gewaltig aufschüttelt, „auf daß die Federn wie Schneeflocken umherflogen“. Ausgaben mit W. für Kinder erscheinen aus kommerziellen Gründen bevorzugt im Winterhalbjahr und zu Weihnachten8. ,Am Kaminfeuer erzählt‘, heißt es zusätzlich öfter im Titel oder im Vorwort solcher Sammlungen, wodurch eine Verbindung zur Winterzeit und zu Weihnachten hergestellt werden soll9. Unabhängig vom Buchtyp W. entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten ein eigenes Genre des Weihnachtsbuchs, in dem Dichter, auch Personen der Zeitgeschichte, ihre Jugenderinnerungen an das Weihnachtsfest mit seinen Bräuchen beschreiben oder Erzählungen, Gedichte und Lieder darbieten10. 1 cf. Samuelson, S.: Christmas. An Annotated Bibliogr. N. Y. u. a. 1982; Millington, P.: The Truro Cordwainers’ Play. A ,New‘ Eighteenth-Century Christmas Play. In: FL 114,1 (2003) 53⫺73; Wilson, A. E.: Christmas Pantomime. The Story of an English Institution. L. 1934; Leydi, R.: Gelindo tra Piemonte e Toscana. In: Lares 70 (2004) 471⫺482; Rael, J. B.: The Sources and Diffusion of the Mexican Shepherds’ Plays. Guadalajara 1965; Tornau, H.: Entstehung und Entwicklung des W.s auf der dt. Bühne. Diss. (masch.) Köln 1955; Jahnke, M.: Von der Komödie für Kinder zum W. Unters.en zu den dramaturgischen Modellen der Kindervorstellungen in Deutschland bis 1917. Meisenheim am Glan 1977; Purschke, H. R.: Die Entwicklung des Puppenspiels in den klassischen Ursprungsländern Europas. Ffm.
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Wein
1984; Krieger, D.: Die ma. dt.sprachigen Spiele und Spielszenen des Weihnachtsstoffkreises. Ffm. u. a. 1990. ⫺ 2 Lier, H. A.: Görner, K. A. In: ADB 49 (1904) 462 sq. ⫺ 3 cf. jedoch auch Payrhuber, F.-J.: „Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab“ (Lessing, Nathan der Weise). Von Märchen auf der Theaterbühne, nicht nur für ein junges Publikum. In: Franz, K./Janning, J./Pecher, C. M./Richter, K. (edd.): Faszinierende Märchenwelt. Baltmannsweiler 2011, 193⫺210. ⫺ 4 Jahnke, M.: Vom W., das nicht gestorben ist. In: Richard, J. (ed.): Kindheitsbilder im Theater. Ffm. 1994, 37⫺47; Reiß, G. (ed.): Kindertheater und populäre bürgerliche Musikkultur um 1900. Studien zum W. […] Ffm. u. a. 2008. ⫺ 5 cf. Uther, H.-J.: Die schönsten W. Mü. 1998, 9⫺15 (Vorw.). ⫺ 6 cf. id.: Dt. Märchen und Sagen. CDROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CDROM B. 2004; id.: Märchen der Welt. CD-ROM B. 2006. ⫺ 7 Christiansen, R. T.: The Dead and the Living. Oslo 1946, 70⫺94. ⫺ 8 z. B. Hall-Stevenson, J.: Moral Tales. A Christmas Night’s Entertainment. L. 1783; Sobersides, S.: A Pretty New-Year’s Gift; or, Entertaining Histories for the Amusement and Instruction of Young Ladies and Gentlemen, in Winter Evenings. Worcester, Mass. 1786 u. ö. (spätere Aufl.n auch u. d. T. Christmas Tales for the Amusement and Instruction of Young Ladies and Gentlemen in Winter Evenings); Pfeil, H.: W. und Christfest-Geschichten. Lpz. 1877; Karlinger, F.: Heilige Ereignisse ⫺ Heilige Zeiten. Weihnachtserzählungen aus der mündl. Überlieferung. Wien 1988; Hubrich-Messow, G.: W. und Weihnachtssagen aus Schleswig-Holstein. Husum 1991; Diederichs, U.: Weihnachts-Geister. Unter- & überirdische Geschichten für die Winternächte. Mü. 1992; Ackermann, E.: Märchen und Geschichten zur Weihnachtszeit. Ffm. 1993; Uther, H.-J.: Die schönsten Winter- und Weihnachtsgeschichten. Kreuzlingen/Mü. 2003; id.: Die schönsten W. der Welt. Augsburg 2011. ⫺ 9 z. B. Launigte Winter-Märchen beym Camin zu erzählen. [Basel] 1780 (31800); Volkmann-Leander, R.: Träumereien an frz. Kaminen. Lpz. 1871 u. ö.: Keller, W.: Am Kaminfeuer der Tessiner. Sagen und Märchen aus dem Volke. Bern 21963. ⫺ 10 z. B. Borchers, E. (ed.): Das Weihnachtsbuch. Mit alten und neuen Geschichten, Gedichten und Liedern. Ffm. 1973; Casdorff, C. H. (ed.): Weihnachten 1945. Ein Buch der Erinnerungen. Königstein 1981; Heinser, B. (ed.): Weihnachten. Prosa aus der Weltlit. Mü. 41993; Blaumeiser, H./Blimlinger, E. (edd.): Alle Jahre wieder … Weihnachten zwischen Kaiserzeit und Wirtschaftswunder. Wien/Köln/Weimar 1993.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Wein. Unter den alkoholischen Getränken nimmt der aus Reben im W.berg (W.garten, Wingert) gezogene und aus Trauben vergorene W. eine Sonderstellung ein. In vielen Kulturen
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als Genuß-, Stärkungs- und J Heilmittel1 sowie als rituelles Getränk genutzt, ist ihm eine Ambivalenz eigen, die schon in der antiken Mythologie in Dionysos/Bacchus als Gott des W.s und des Rauschs eine Personifikation fand. In MA. und früher Neuzeit bedingte der Rausch, den der übermäßige Genuß von W. hervorruft (cf. J Trunkenheit; J Narkotika)2, einerseits Normen der Enthaltung und des Verbots3, die Verwendung des W.s im Kult (J Opfer; Libation) andererseits eine sakrale Aufwertung, die vielfach auf die profane Wertschätzung wirkte4. Nicht nur in den oberen Gesellschaftsschichten, sondern auch in der breiteren Bevölkerung war der W. überall dort, wo Klima und Boden den Anbau ermöglichten, ein häufig genossenes, ja alltägliches Getränk. Gegenüber dem J Bier besaß er zudem den Vorteil der langen Haltbarkeit. W. war daher nicht nur wichtige Handelsware im ma. und frühneuzeitlichen Europa5, sondern er unterlag auch strengen rechtlichen Reglementierungen wie Anbauvorschriften, Kelterrecht und W.bergfriede6 sowie Ahndungen der W.fälschung7. Der ,W.kauf‘ als Bezeichnung eines Mahls war zeremonieller Abschluß und Beweissicherung eines Rechtsgeschäfts (cf. AaTh/ ATU 1447: J Trinken nach dem Handel), so auch des Ehekontrakts8. Seit dem Spätmittelalter kam es zu einer Kultivierung des W.trinkens9; erste Belege für bes. W.gläser sind im dt.sprachigen Raum aus der Zeit um 1440 überliefert10. Schon im A. T. gelten der W.stock und der Genuß seiner Frucht als Zeichen des Glücks, W.berg und W.stock auch als Symbole des Volkes Gottes11. Im N. T. wurde der W. zum Symbol für das J Blut J Christi erhoben ⫺ wegen seiner Rolle bei Passahmahl und Einsetzung der Eucharistie, aber auch aufgrund der W.stock- und Rebenmetaphorik (Joh. 15,5: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“) ⫺ und erhielt im Christentum zentrale liturgische Bedeutung (J Sakramente)12. Im Islam wird die Ambivalenz des W.genusses deutlicher betont: Im Koran ist der W. einerseits als Gottesgabe bezeichnet (16,69), andererseits führte seine Verteuflung (5,92; Genuß kann zu Fehlern im rituellen Gebet führen) zu einem W.verbot. Dennoch läßt eine ausgeprägte profane wie mystische W.poesie
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Wein
die in manchen Epochen bes. Wertschätzung in den islam. Kulturen erkennen13. Die Ambivalenz von Rausch- und Kultgetränk ist für die narrative Verarbeitung konstitutiv. In islam. Heiligenerzählungen verdeutlichen J Verwandlungswunder (W. zu Essig, zu J Wasser, zu zerlassener Butter) das W.verbot14. In türk. Märchen macht W. Tiere betrunken oder riecht nach Blut15. In jüd. und arab. Erzählungen wird der W. als Ursache allen Übels geschildert (AaTh/ATU 839: Die drei J Sünden des Eremiten; J Noah [Mot. A 2851]16). Die disziplinierende Absicht christl. Exempelpredigten der frühen Neuzeit richtete sich gegen unmäßigen W.genuß und die Folgen der Trunkenheit (verschütteter W. als Glückszeichen, ,Gänsewein‘ [⫽ Wasser] löscht den Durst)17. Vor allem Kirchenzucht und Policeyordnungen der protestant. Fürsten richteten sich gegen Völlerei und Saufen; J Luther bezeichnete 1534 in einer Predigt den Saufteufel (J Teufelliteratur) als das typisch dt. Laster18. Doch dieses Verdikt sagt mehr über die Intention der Disziplinierung als über die Trinkkultur der spätma. und frühneuzeitlichen Gesellschaft aus. Im Trinklied wie in der Spruchdichtung und Trinklyrik seit der Antike (bes. in der anakreontischen Lyrik des 18. Jh.s) wird in der Regel das W.trinken thematisiert und der W. als Daseinsfreude und Geselligkeit stiftendes Lebenselixier, als Liebestrank oder als Quelle von Verjüngung und Jugend besungen, daneben finden sich Lieder über die Folgen übermäßigen W.genusses und die Begegnung des Trinkers mit dem Tod19. Anders als in den Lobliedern auf den W. geht es im Wettstreitlied zwischen Wasser und W. um die Vorzüge des einen oder des anderen Getränks (J Rangstreit)20. Andererseits findet sich gerade die Metaphorik des W.s als Kultgetränk (W. und Blut) seit der Antike in Verwandlungswundern. Nach J Valerius Maximus soll vor der Zerstörung Athens durch Xerxes W. in Blut verwandelt worden sein (6,externa 2)21. Die Wertschätzung des W.s im christl. Kult wird bes. in Heiligenlegenden und in der franziskan. Liedkatechese22 deutlich: Wasser (J Wasser wird W.)23, Essig24 oder Bier25 werden zu W., Opferwein verwandelt sich in Blut26; ein Bild Christi erscheint aus einem Tropfen verschüt-
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teten W.s27; ein Fastender steigert sein Leiden durch den Anblick von W.28; ein von gärendem Most gesprengtes Faß des hl. J Korbinian wird durch ein Gebet wieder intakt; W. fließt aus Felsen; ein W.faß wird trotz offenen Zapfhahns nie leer29; W. wird bei knapper Ernte vermehrt und aus hölzernem Becher immer frisch gespendet30; ein verweigerter Trunk wird mit dem Versiegen des W.s bestraft31. Maria trinkt W. aus einem dargebotenen Blumenkelch (meist Acker- oder Zaunwinde, daher Bezeichnung als ,Muttergottesgläschen‘) und hilft daraufhin aus der Not32. Der hl. Remigius vermehrt den W. im Faß einer armen Frau, so daß es überfließt33. In barocken Exempeln versiegt ein Becher W., aus dem die hl. Lidewig einer mit Fallsucht und Pest behafteten Frau zu trinken gibt, niemals mehr, und ein von der hl. Franziska während der Hungersnot in Rom 1420 gespendetes Faß W. füllt sich immer aufs neue34. Die bibl. W.gartenparabeln (Mt. 20,1⫺16; 21,33⫺44) sind in der Exempelliteratur verarbeitet35. In ihnen spiegelt sich der rechtsgeschichtliche Kontext des W.bergfriedens: Die unrechtmäßige Aneignung eines W.bergs wird bestraft (cf. J Grenze)36. Aus den Patronaten für W.berge gingen spezielle W.heilige hervor (z. B. hl. J Bonifatius, hl. J Martin)37, deren Popularisierung und Verweltlichung eine Nachwirkung in der Festkultur erfuhr, für die sich der W. als ,emblematisches Nahrungsmittel‘ bes. eignet38. Die protestant. Legendenpolemik der Reformationszeit nutzte die liturgische Bedeutung des W.s, um die Doppelmoral der kathol. Kirche anzuprangern: Eine Taube entführt dem nicht zölibatär lebenden Pfaffen bei der Messe dreimal W. und J Hostie39. Im Kontext der Konfessionalisierung spielt der W. eine Rolle in Teufelserzählungen des 16. Jh.s, so im Volksbuch vom Doktor J Faust, der mit einer Gesellschaft von Meißen nach Salzburg fliegt, um den W.keller des Bischofs leerzusaufen40, sowie in Topoi von J Hexen und Teufelsbuhlschaften, die den W. verderben41. Als Ursache für Dämonenvorstellungen und für die Deutung sagenhafter Erlebnisse sind wohl auch Rauschhalluzinationen anzunehmen (cf. J Vision, Visionsliteratur)42. Zahlreich sind Var.n von W.sagen, die Qualität und Wert lange gelagerten W.s illustrieren: Die Dauben eines Fasses bersten, doch
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Wein
der W. bleibt in einer dicken eigenen Haut erhalten43; in alten Kellern soll W. wie ein Schatz lagern44. Humoristische Texte spielen auf vielfältige Weise auf den W. als Kultgetränk und Genußmittel an: W. wird gewässert (AaTh/ATU 1555 B: The Wine and Water Business; cf. auch AaTh/ATU 1555: Milk in the Cask)45; ein Hoffärtiger wird in seine Schranken gewiesen, indem man ihm Essig statt W. zu trinken gibt (Schiffers W.trinken)46; nur schlechter W. wird vom Wirt gelobt, weil sich der gute selbst lobt47. In einem zuerst bei Johannes J Pauli 1522 und Hans J Sachs 1536 belegten und später vielfach kolportierten Schwank wünscht sich ein Schwabe, dem gegenüber W. als Tränen Christi bezeichnet wird, dieser hätte das Schwabenland vollgeweint48. Ein J Aufschneider hat W. nur in Krügen, nicht in Fässern49. Erzählungen von Affe und W.fälscher50 finden sich schon in der frühen arab. Kurzprosa: Ein Affe teilt den Gewinn des unredlichen Händlers, der den W. mit Wasser gestreckt hat, indem er abwechselnd ein Geldstück auf die Schiffsplanken und eins ins Wasser wirft (AaTh/ATU 184: Half of the Money Thrown into Water). Gegenüber dem Branntwein, der bereits in der frühen Neuzeit als eigentliches Übel der Trunkenheit galt und nach dem Pauperismus des 19. Jh.s von der Mäßigkeitsbewegung mit den alten Topoi der Verteuflung belegt wurde51, behielt der W. eine hohe gesellschaftliche Wertschätzung, repräsentiert regionale Mentalitäten52 und ist ein Symbol für Gastlichkeit sowie wesentliche Ressource für Kommunikationsrituale. Auch in Märchen und anderen populären Erzählungen wird dieser Funktion Rechnung getragen: W. findet als Requisit bei Gelegenheiten Erwähnung, bei denen gegessen und getrunken wird, oder allg., wenn von J Speise und Trank die Rede ist (z. B. KHM 26, AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen; KHM 36, AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich). 1 Schreiber, G.: Der W. als Heilmittel. Zur Vk., Medizingeschichte, Kulturgeschichte. In: Rhein.westfäl. Zs. für Vk. 9 (1962) 39⫺55; id.: Dt. W.geschichte. Der W. in Volksleben, Kult und Wirtschaft. Köln 1980. ⫺ 2 Cancik, H. (ed.): Rausch ⫺ Ekstase ⫺ Mystik. Grenzformen religiöser Erfahrung. Düsseldorf 1978; Sandgruber, R.: Bittersüße Genüsse. Kulturgeschichte der Genußmittel. Wien/ Köln/Graz 1986, 23⫺27; Bimmer, A. C./Becker, S.
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(edd.): Alkohol im Volksleben. Marburg 1987. ⫺ 3 Schimmel, A./Rendtorff, R.: W. und W.enthaltung. In: RGG 6 (31962) 1572 sq.; Thomas, A.: W., W.traube. In: TRE 10 (1965) 993⫺996. ⫺ 4 Hoffmann, W.: Beitr.e zur Vk. Rheinhessens. In: HessBllfVk. 10 (1911) 16⫺39, bes. 18⫺26. ⫺ 5 Kislinger, E.: W., -bau, -handel. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 2116⫺2130; Matheus, M. (ed.): W.produktion und W.konsum im MA. Stg. 2004; Gerlich, A. (ed.): W.bau, W.handel und W.kultur. Stg. 1993; Sprandel, R.: Von Malvasia bis Kötzschenbroda. Die W.sorten auf den spätma. Märkten Deutschlands. Stg. 1998. ⫺ 6 Fischer, R.: W.bau. In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte 5. B. 1998, 1226⫺ 1230. ⫺ 7 Theisen, F.: W.fälschung. ibid., 1231⫺ 1234. ⫺ 8 Fischer, M. G.: W.kauf. ibid., 1234 sq.; Matter, M.: „Im W. liegt Wahrheit“. Zur symbolischen Bedeutung gemeinsamen Trinkens. In: Bimmer/Becker (wie not. 2) 37⫺54. ⫺ 9 Weinhold, R.: Vivat Bacchus. Eine Kulturgeschichte des W.es und des W.baus. Lpz. 1975; id.: Dt. W.geschichte. Der W. in Volksleben, Kult und Wirtschaft. Köln 1980. ⫺ 10 Götze, A.: Seit wann trinken die Deutschen den W. aus Gläsern? In: HessBllfVk. 26 (1927) 189 sq. ⫺ 11 Busse, E.: Der W. im Kult des A. T.s. Fbg 1922. ⫺ 12 Thomas, A.: W., W.traube. In: LThK 10 (32001) 993⫺996; Engemann, J./Häußling, A.: W., -rebe, -stock. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 2130⫺2132; Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 21978, 347⫺349. ⫺ 13 Heine, P.: W.studien. Unters.en zu Anbau, Produktion und Konsum des W.s im arab.-islam. MA. Wiesbaden 1982. ⫺ 14 Gramlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Theologien und Erscheinungsformen des islam. Heiligenwunders. Wiesbaden 1987, 272 sq. ⫺ 15 Eberhard/Boratav, num. 207, 215, 348. ⫺ 16 Scheiber, A.: Essays on Jewish Folklore and Comparative Literature. Bud. 1985, 168; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 95, 113, 421, 561, 1027, 1073; cf. Dolidze, N.: Volsˇebnye skazki. Tiflis 1960, 323 sq. (georg.); Amades, num. 1254; Saatan ja viinamarjapoosas. Väike legend. In: Tallinna Post 21,3 (1934) 7 (estn.). ⫺ 17 cf. Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 196, 284, 290, 295 sq. ⫺ 18 D. Martin Luthers Werke 51. Weimar 1914, 257. ⫺ 19 Weber, E.: Hundert Lieder zum Lobe des W. s. Dt. W.lieder aus vier Jh.en. B. 1921; Ritte, H.: Das Trinklied in Deutschland und Schweden. Vergleichende Typologie der Motive. Bis 1800. Mü. 1973; Linder-Beroud, W.: „Immer hör’ vom Rhein ich singen …“. In: Brednich, R. W./Schmitt, H. (edd.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. Münster u. a. 1997, 267⫺284; Reiner, H.: „Ich lob’ die edlen Reben …“. Der W. im Volkslied. In: Die Pforte 17, 32/33 (1997) 89⫺96. ⫺ 20 Erk/Böhme 3, num. 1741. ⫺ 21 cf. Günter 1949, 36 sq. ⫺ 22 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 109, 237, 304 sq., 334, 392, 406⫺409, 419⫺425. ⫺ 23 cf. Günter 1910, 22, 24, 98, 172, 191; Tubach, num. 5206. ⫺ 24 cf. Toldo 5, 348. ⫺ 25 Tubach, num. 548. ⫺ 26 cf.
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Weinen ⫺ Weinen und Lachen bei der Predigt
Toldo 5, 343⫺353, hier 350. ⫺ 27 Tubach, num. 931. ⫺ 28 Tubach, num. 1993. ⫺ 29 Günter 1949, 129, 195, 208. ⫺ 30 ibid., 97. ⫺ 31 ibid., 191. ⫺ 32 BP 3, 471 sq.; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 416. ⫺ 33 Legenda aurea/ Benz 1, 147. ⫺ 34 Vollmer, R.: Die Exempel im „Wunderspiegel“ des P. Benignus Kybler S. J. von 1678. Würzburg 1989, 49, 53. ⫺ 35 Dvorˇa´k, num. 5382, 4753. ⫺ 36 Schneider, A.: Exempelkatalog zu den „Iudicia divina“ des Jesuiten Georg Stengel von 1651. Würzburg 1982, num. 358 (nach Caesarius von Heisterbach). ⫺ 37 Graff, D.: W.heilige und Rebenpatrone. Saarbrücken 1988; Csoma, Z.: W.heilige. Hist. Schichten und kulturanthropol. Beobachtungen der Verehrung von W.heiligen im Karpaten-Bekken. In: Volkskundliche Tableaus. Festschr. M. Scharfe. Münster u. a. 2001, 141⫺156. ⫺ 38 Alber, W.: Die Domestizierung des Dionysischen. Zum Bild St. Urbans in der W.gärtnerkultur. ibid., 129⫺ 139. ⫺ 39 Brückner, 232. ⫺ 40 ibid., 428. ⫺ 41 idid., 433, 508. ⫺ 42 Zender, M.: Die Sage als Spiegelbild von Volksart und Volksleben im westdt. Grenzland. Diss. (masch.) Bonn 1938, 67⫺69. ⫺ 43 Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, num. 2958, 2964, 142926; HDA 9 (1938⫺41) 314 sq.; Jontes, G.: Vom „W. in der eigenen Haut“. Anmerkungen zu einem europ. Sagenmotiv. In: W.kultur. Ausstellungskatalog Gamlitz/Graz 1990. ⫺ 44 Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, num. 2985, 3534, 30422, 143447, 150600, 151303, 153482; Pramberger, R.: Vk. des oberen Mur- und Metnitztales. (unveröff. Ms.) St. Lambrecht 1911 (Burg Eppenstein, Kloster St. Lambrecht). ⫺ 45 Tubach, num. 5309; Moser-Rath, Schwank, 152, 214 sq., 221, 281, 392, 445. ⫺ 46 Bröring, J.: Das Saterland 2. Oldenburg 1901, 305. ⫺ 47 Pauli/Bolte 1, num. 369; Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 102. ⫺ 48 Pauli/Bolte 1, num. 233; Wickram/Bolte, num. 60; EM-Archiv: Talitz, Reyßgespan (1663) 404; Zincgref/Weidner, Apophthegmata 4 (1655) num. 1878⫺1880; de Memel, Lustige Gesellschaft (1656) 191; Bienenkorb 6 (1771) 86; Schola curiositatis 1 [1700] 268; Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, 25. ⫺ 49 Pauli/Bolte 2, num. 837. ⫺ 50 cf. Brückner, 245. ⫺ 51 Weber-Kellermann, I.: Der Branntweinteufel. Ein Bilderbogen aus Neuruppin. In: Bimmer/Becker (wie not. 2) 81 sq. ⫺ 52 Alber, W.: Trollinger-Poeten, Lemberger-Literaten: Ein einig Volk von Viertelesschlotzern. Zur Stereotypisierung der württemberg. W.kultur. ibid., 151⫺163; Giordano, C.: Europ. Integration oder regionalistische Herausforderung? Ethno-anthropol. Aspekte des „W.krieges“ zwischen Frankreich und Italien. ibid., 165⫺176.
Marburg
Weinen J Tränen
Siegfried Becker
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Weinen und Lachen bei der Predigt (AaTh/ ATU 1828*), im christl. Kulturbereich verbreiteter Predigtschwank. Zentrales Thema ist das ungebührliche Benehmen eines Predigers auf der Kanzel. Ein schalkhafter Prediger (Pfarrer, Priester, Mönch) geht mit Amtsbrüdern (Mitgliedern des Kirchenvorstands, Zechbrüdern) die J Wette ein, daß er bei seinen Zuhörern gleichzeitig Weinen und J Lachen auslösen könne (will dem Bischof zeigen, wie schlecht sich die Gemeinde benimmt). Während der Predigt steht er auf einer Kanzel mitten im Kirchenraum. Seine ergreifenden Worte bewirken, daß die Gemeindemitglieder, denen er zugewandt ist, zu weinen beginnen; da er jedoch rückseitig unpassend bekleidet ist, brechen die hinter ihm Sitzenden in Gelächter aus. (Der Bischof kann aus seiner Perspektive nichts Anstößiges sehen.)
Der Erzähltyp wird seit dem frühen 16. Jh. tradiert. Die älteste Var. findet sich bei Girolamo J Morlini (1520)1 und enthält im Ansatz bereits den Wettgedanken. Explizit erwähnt wird die Wette in Henri Estiennes Apologie pour Herodote (1566), doch geht es hier nur darum, die Gemeinde zum Weinen zu bringen. Darüber hinaus sind keine weiteren frühen Var.n bekannt. Im 19./20. Jh. wurde der Schwank in vielen europ. Ländern aufgezeichnet; bei Nachweisen aus Nord- und Mittelamerika sowie Südafrika handelt es sich meist nur um Streubelege. Recht beliebt scheint er in calvinist. (z. B. Westfriesland, 31 Var.n2) und luther. Regionen (z. B. Finnland, 17 Var.n3; Estland, 29 Var.n4) gewesen zu sein. Der Schalk ist häufig eine örtlich oder regional bekannte J Kristallisationsgestalt von Predigerschwänken. In Westfriesland wurde der Schwank bis ins 20. Jh. hinein dem 1726 wegen Trunkenheit und anderer Vergehen entlassenen Pfarrer Andreas Salmasius zugeschrieben5, in einer bulg. Var. dem J Hodscha Nasreddin6. Da es in vielen Kirchen Gewohnheit war, daß Frauen und Männer voneinander getrennt zu beiden Seiten der Kanzel saßen, bot die Geschichte auch die Möglichkeit, die traditionelle Auffassung zu bestätigen, daß Frauen schneller zu Tränen gerührt seien als Männer: Der Prediger bringt die Frauenseite zum W., die Männerseite zum L.7 Der Akteur nutzt verschiedene Mittel, um Gelächter auszulösen: Meist trägt er unter seinem Talar (Rock) keine Hose und zeigt, wenn er sich nach vorn beugt, sein nacktes Hinterteil, in anderen Versionen
Weinwunder ⫺ Weisheit
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spielt er mit seinen Rockzipfeln8, zieht das Hemd aus der Hose9, trägt eine zerrissene Hose10, hat eine lebendige Maus an seinen Zopf gebunden11 oder den Schweif eines Pferdes auf seinen Rücken geklebt12. Hin und wieder ist der Anlaß keine Wette, sondern der Prediger wird vom König zu diesem Streich gezwungen13. Der Schwank ist meist recht kurz und wird überwiegend eigenständig erzählt; estn. und dt. Var.n kombinieren ihn mit AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt14. Ins weitere thematische Umfeld des Erzähltyps gehören auch die unter ATU 1828* subsumierten Schwänke vom betrunkenen Pfarrer, der sich lächerlich macht, als er sich auf der Kanzel entblößt15, oder versucht, dort seine Hosen anzuziehen16. 1
Wesselski, A.: Die Novellen Girolamo Morlinis. Mü. [1908], num. 44. ⫺ 2 van der Kooi. ⫺ 3 Rausmaa. ⫺ 4 Raudsep. ⫺ 5 Dykstra, W.: Uit Friesland’s volksleven 2. Leeuwarden 1896, 355 sq.; Poortinga, Y.: Forhalen om dominy Andreas Salmasius. In: Folkskundich Jierboek 2 (1969) 14⫺17. ⫺ 6 BFP. ⫺ 7 Cardigos; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 183 b. ⫺ 8 Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 1963, num. 262; Dance, D. C.: Shuckin’ and Jivin’. Folklore from Contemporary Black Americans. Bloom./L. 1978, num. 57. ⫺ 9 Geldof, W.: Volksverhalen uit Zeeland en de Zuidhollandse eilanden. Utrecht/Antw. 1979, 191. ⫺ 10 BFP; Coetzee. ⫺ 11 van der Kooi/Schuster (wie not. 7). ⫺ 12 van der Kooi 1828* (f1); Bünker, J. R.: Schwänke, Sagen und Märchen in heanz. Mundart. Lpz. 1906, num. 22. ⫺ 13 ibid.; Hansen **1835 C. ⫺ 14 Anderson, W.: Kaiser und Abt (FFC 42). Hels. 1923, 357; Bünker (wie not. 12). ⫺ 15 cf. Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 233. ⫺ 16 cf. Moser-Rath, Schwank, 365 sq., 411.
Groningen
Jurjen van der Kooi
Weinwunder J Wasser wird Wein
Weisheit ist wie J Klugheit oder Scharfsinn (J Scharfsinnsproben) zunächst mit einer intellektuellen Komponente verbunden, beruht allerdings zusätzlich auf einer emotionalen bzw. sozialen Kompetenz, die aus Einfühlungsvermögen, Abgeklärtheit und praktisch orientier-
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ter Lebenserfahrung resultiert. Der hierdurch umrissenen menschlichen W. steht die göttliche W. gegenüber. Deren Ratio erschließt sich dem Menschen nur begrenzt, wie sich u. a. an der Wahrnehmung der göttlichen J Gerechtigkeit (Theodizee) verdeutlichen läßt (AaTh/ ATU 756 A: Der selbstgerechte J Eremit; AaTh/ATU 759: J Engel und Eremit). W. ist eine transkulturelle Universalie1, erscheint in unterschiedlichen Kulturen jedoch mit jeweils spezifischer Phänomenologie2. In religiöser Hinsicht ist das Konzept in Götterfiguren (altägypt. Thot, ind. Ganø es´a, griech. Athene, germ. Baldur etc.), den hl. Schriften und dem Vorbild der Religionsstifter (J Buddha, Konfuzius, J Christus, J Mohammed) sowie allg. vor allem in J Sprüchen bzw. Maximen verankert. Die literar. Gattung der W.sliteratur3 ist in praktisch allen Schriftkulturen vertreten, von China, Indien, den altoriental. Kulturen und Iran über Ägypten und Griechenland bis in die islam. Welt und die europ. Moderne4. Das Pendant hierzu in schriftlosen Kulturen ist die ,W. der Älteren‘5. Der ,W.slehrer‘ als solcher ist der J Philosoph. Im populären Erzählgut hat der Kluge, Listige oder Scharfsinnige, vorrangig der Betrüger, meist den Vorteil einer bestimmten Partei durch konkretes Handeln im Sinn; demgegenüber zielt das ⫺ oft explizit erbetene ⫺ Eingreifen des Weisen auf eine uneigennützige Lösung problematischer Situationen (J Konflikte), durch welche die beteiligten Parteien entweder selbst zur Einsicht kommen oder zumindest ihr Gesicht wahren können. Gemäß dieser Aufgabenstellung erscheint der praktisch orientierte Weise oft in der Funktion des J Richters (Kap. 2.1) bzw. J Schiedsrichters (cf. auch J Rechtsfälle, Kap. 4). Der Prototyp des weisen J Urteils ist das J Salomonische Urteil (AaTh/ATU 926), mit dem der Richter Anweisung gibt, ein Kleinkind, dessen leibliche Mutter zwei Frauen zu sein behaupten, bei lebendigem Leib in zwei Hälften zu teilen. Während die Betrügerin sich damit einverstanden erklärt, kann der weise Richter darauf vertrauen, daß die wahre Mutter aus Liebe eher auf ihr Kind verzichten wird, als ihm Schaden zuzufügen.
Als Individuen, denen bes. W. zugeschrieben wurde, besitzen in der vorderoriental. und z. T. der darauf beruhenden westl. Überlieferung J Achikar (AaTh/ATU 922 A)6, J Sa-
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Weisheit
lomo und J Luqma¯n einen hohen Stellenwert. Während vom J Herrscher primär Gerechtigkeit erwartet wird, ist der Weise der J Ratgeber schlechthin, sei es Visønø u S´arma¯ im J Pan˜catantra7, Burzo¯e in der hist. Rahmenerzählung von J Kalila und Dimna8 oder Bozorgmehr als Ratgeber des sassanid. Herrschers Anusˇirva¯n I. (cf. auch J Vogelsprache). Im Rahmen der aus oriental. Überlieferung stammenden Erzählsammlung J Sieben weise Meister (AaTh/ATU 875 D*) haben die Ratgeber die Rolle, den von einer intriganten Sklavin aufgestachelten Herrscher davor zu bewahren, seinen Sohn vorschnell zu verurteilen; sie halten ihn daher mehrere Tage mit exemplarischen Geschichten zurück, bis der durch das Schicksal vorher zum Schweigen gezwungene Sohn sich wieder selbst verteidigen kann. Auf ähnliche Art ist auch J Scheherazade, die Erzählerin in der Rahmengeschichte von J Tausendundeine Nacht, weise, da sie den grausamen Herrscher durch die Faszination ihrer Erzählungen nach und nach von seinem Haß auf die Frauen abbringt und ihm damit Einsicht in sein Fehlverhalten ermöglicht, ohne durch direkte Kritik seinen Widerspruch zu provozieren. W. beruht zu einem erheblichen Teil auf Lebenserfahrung, deren Erwerb mit zunehmendem Alter als zwangsläufig gilt (cf. Lk. 2,52). Entsprechend werden Weise überwiegend als alte Menschen imaginiert, und im Umkehrschluß wird Alter oft mit W. gleichgesetzt. Diese Vorstellung tritt etwa in AaTh/ATU 981: J Altentötung zutage, wenn ein Mann den grausamen Befehl des Herrschers, alle vermeintlich nutzlosen Alten zu töten, nicht befolgt und seinen alten Vater am Leben läßt; als eine akute Notlage auftritt und die jüngeren Menschen sich keinen Rat mehr wissen, kann der weise Alte ihnen helfen, und der Brauch wird abgeschafft. Dieses Motiv findet sich u. a. bereits im griech. Alexanderroman beim Zug J Alexanders d. Gr. ins Land der Finsternis9. Gemäß der als ursächlich wahrgenommenen Verknüpfung von W. und hohem Lebensalter ist W. im kindlichen oder jugendlichen Alter Ausweis einer bes. Befähigung. So liefert etwa Mahosadha, als eine Wiedergeburt des Bodhisattva (Buddha) Held des Maha¯-UmmagaJa¯taka, bereits als Knabe Beispiele seiner ans Wunderbare grenzenden W. (cf. J Knaben-
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könig)10, und die J Kindheitslegenden Jesu schildern den Jesusknaben als ungewöhnlich weise (cf. auch J Erwachsen bei Geburt). Das königliche Geblüt des vom Schmied aufgezogenen Prinzen erweist sich durch seine weisen Ratschläge oder Beobachtungen (AaTh/ATU 920: J Sohn des Königs und S. des Schmieds; cf. auch AaTh/ATU 920 A: J Prozeß um die gekochten Eier; J Zeichen edler Herkunft). Auch die Wahl des Königssohnes, der sich als Vogel lieber auf den Rat seines Schwarms verlassen möchte statt individuell durch seine Größe oder Pracht zu imponieren, deutet auf seine W. hin (AaTh/ATU 920 B: J Vogelwahl der Königssöhne). Prinzipiell geht die narrative Überlieferung ebenso wie die gelebte Realität davon aus, daß W. durch einfühlsame Beobachtung und daraus gezogene Schlußfolgerungen entsteht (Mot. J 0⫺J 199, bes. J 0⫺J 79). Hilfreich hierbei sind das gelebte Vorbild der Älteren, deren kluge J Ratschläge (AaTh/ATU 910, 910 A⫺ B; AaTh/ATU 910 C: J Barbier des Königs) sowie gelegentlich die konkrete Aneignung von W., etwa durch Bücher (Mot. J 166.1; J Sibyllen), wobei in den Erzählungen nicht immer klar zwischen Wissen und W. unterschieden wird. Allg. gilt W. als ein so hohes Gut, daß es bei der Möglichkeit der Wahl vor anderen Gütern vorgezogen wird (Mot. J 231, L 212.2). Gelegentlich kompensieren narrative Texte die Unmöglichkeit, den Erwerb von W. systematisch nachzuvollziehen, dadurch, daß sie diesen Prozeß als unerklärliche, übernatürliche Begebenheit rationalisieren, analog zum Erwerb einer J Zaubergabe: In der germ. Mythologie erlangt Odin (unter Preisgabe eines Auges) W., indem er aus der W.squelle des Riesen Mimir bei den drei Wurzeln des J Weltenbaums Yggdrasil trinkt (Mot. D 1300.3)11. B. Lincoln hat diese Vorstellung vor dem Hintergrund eines von ihm konstruierten protoidg. Kosmologems interpretiert12: Nach diesem nimmt das Wasser des Flusses, den die Verstorbenen auf ihrem Weg ins Reich der Toten überqueren müssen, ihre Erinnerungen mit (J Unterwelt; J Vergessen und Erinnern). Wer aus der Quelle trinkt, die durch dieses Wasser gespeist wird, erlangt übernatürliche W. W. kann auch durch einen Traum erworben (Mot. J 157; cf. AaTh/ATU 681: J Relativität der Zeit) oder durch Beobachtung von Tieren er-
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Weisheit
langt werden (Mot. J 130⫺J 139). Unter den Tieren gelten bes. J Rabe, J Eule und J Schlange sowie in der afrik. Überlieferung die J Schildkröte als weise; möglicherweise spielt auch bei diesen Zuschreibungen das (vorgeblich zu erreichende) hohe Alter der Tiere eine Rolle. Das Gegenstück zur wunderbaren Erlangung von W. stellt deren Verlust auf ebensolche Art dar, wie etwa in der Erzählung vom Narrenregen (ATU 912: The Wise Man and the Rain of Fools)13, in welcher auch der Weise verdummt, wenn er von dem zu einer bestimmten Zeit gefallenen Regenwasser trinkt. Auffällig oft betonen die narrativen Quellen die semantische Nähe von W. und Narretei (J Narr, Kap. 4) ⫺ wobei letztere nicht als J Dummheit, sondern als eine sich bewußt närrisch gebende Form der W. verstanden wird. Auch gilt W. als ,sekundäre‘ J Naivität, da sie diese glücklich bzw. in ihren positiven Eigenschaften voll entwickle14; hier bestehen Verbindungen zum Konzept des edlen J Wilden bzw. der ,naiven‘ W. der sog. Naturvölker. Programmatisch wird die Verbindung von W. und Narretei an den Bauern des J Lalebuchs aufgezeigt, welche die durch den Erwerb von W. ,gestörte Ordnung‘ zwischen ihren natürlichen Geistesgaben und ihrem sozialen Stand dadurch wiederherstellen, daß sie ihre W. hinter Narrheit verstecken. Prototypisch wird die Nähe von W. und Narretei im weltweit verbreiteten Phänomen des Weisen Narren exemplifiziert (J Schelmentypen)15. In ähnlichem Sinn weist auch die in dem Diktum „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ (Apologia 23 A⫺B) formulierte Erkenntnis des J Sokrates diesen als wahren Weisen aus. Auf vergleichbare Art rechtfertigt sich der weise J Hodscha Nasreddin damit, daß er seine Position durch das erlangt habe, was er wisse ⫺ nicht durch das, was er nicht wisse (Mot. J 911.1). Allerdings begegnen auch vordergründig weise erscheinende Personen, deren Ignoranz etwa nur dadurch nicht enttarnt wird, daß sie schweigen (Mot. N 685), bzw. deren Dummheit dadurch zutage tritt, daß sie den prinzipiell weisen Ratschlag ihres Lehrers auch in einer Gefahrensituation buchstabengetreu umsetzen (AaTh/ ATU 1562: J „Denk dreimal, bevor du sprichst“). Zahlreiche populäre Erzählungen bedienen sich der Figur des Weisen als eines Ratgebers, wobei dessen W. meist in einer relativ simplen
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Übertragung konkreter Lebensweisheit bzw. der Anwendung praxisbezogener Einsichten auf die jeweilige Situation besteht: In AaTh 976 A/ATU 976: Die vornehmste J Handlung baut der Weise darauf, daß der wahre Dieb sich durch Eitelkeit zu erkennen gibt; in AaTh/ ATU 1262: Fernwirkung des J Feuers gibt er den Rat, eine absurde Unterstellung durch eine ebenso absurde Handlung zu konterkarieren (J Ad absurdum führen). Gelegentlich scheint sich W. schlicht an der Dummheit der anderen zu messen, so etwa im Schwank AaTh/ATU 1294: J Kopf in der Kanne, in dem der Weise rät, den Krug zu zerschlagen statt dem Kind, dessen Kopf darin eingeklemmt ist, den Kopf abzuschlagen. Manche Erzählungen machen sich auch über das Konzept der W. lustig. So verdingt sich der Lastträger in einer Variation von AaTh/ATU 150: Die drei J Lehren des Vogels für das Versprechen, drei weise Ratschläge zu erhalten; als diese ausgesprochen banal ausfallen, wirft er die von ihm getragene Kiste zu Boden und gibt spöttisch den ,weisen‘ Rat, zu prüfen, ob jetzt wohl alles Glas darin zerbrochen sei. Der einfache Handwerker, der in AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend als Hellseher fungiert, kann ebenso wie der J Scharlatan, der vorgibt, alle Kranken heilen zu können (ATU 1641 D*), oder der Mann, der sich einzig durch die Tatsache, daß er ein Buch besitzt, als Weiser betrachtet (Mot. J 2238; cf. Mot. U 111), über die volkstümliche Gelehrtenschelte16 hinaus als eine satirische Distanzierung verstanden werden. Das gilt auch für die zahlreichen heutzutage im Internet kursierenden Witze nach dem Muster „Salomo der Weise spricht …“ (z. B.: „… laute Furze stinken nicht.“). Schließlich werden populäre Erzählungen, und hier speziell Märchen, bes. auf dem dt.sprachigen Buchmarkt von einer ganzen Reihe ⫺ meist populärwiss., z. T. anthroposophisch ausgerichteter ⫺ Publ.en selbst als Ausdruck tradierter W. gesehen17. 1 Speer, A.: W. In: Hist. Wb. der Philosophie 12. Basel 2004, 371⫺397, hier 371. ⫺ 2 Gese, H.: W. In: RGG 6 (31962) 1574⫺1577; Rudolph, K.: W./W.slit. 1: Religionsgeschichtlich. In: TRE 35 (2003) 478⫺ 486. ⫺ 3 Gese, H.: W.sdichtung. In: RGG 6 (31962) 1577⫺1581; Michaud, R.: La Litte´rature de sagesse 1⫺3. P. 1986/87/88; Westermann, C.: Forschungsge-
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Weißrußland
schichte zur W.slit. 1950⫺1990. Stg. 1991. ⫺ 4 Lin Yutang: The Wisdom of China and India. N. Y. 1942; Conze, E.: Buddhist Wisdom Books […]. L. 2 1975; Denning-Bolle, S.: Wisdom in Akkadian Literature. Leiden 1992; Kramer, S. N.: Sumer. literar. Texte aus Nippur. 1: Mythen, Epen, W.slit. […]. ed. I. Bernhardt. B. 1961; Lambert, W. G.: Babylonian Wisdom Literature. Ox. 1960; Assmann, A.: W. Mü. 1991; Shaked, S.: The Wisdom of the Sasanian Sages (Denkard VI). Boulder 1979; Brunner, H.: Die W.sbücher der Ägypter. Zürich 21991; Friedländer, M.: Griech. Philosophie im A. T. Eine Einl. in die Psalmen- und W.slit. B. 1904; Clifford, R. J.: Wisdom Literature in Mesopotamia and Israel. Atlanta 2007; Preuß, H. D.: Einführung in die alttestamentliche W.slit. Stg. u. a. 1987; Zakeri, M.: Persian Wisdom in Arabic Garb. Leiden u. a. 2007; Gutas, D.: Greek Wisdom Literature in Arabic Translation. New Haven, Conn. 1975; id.: Classical Arabic Wisdom Literature. In: J. of the American Oriental Soc. 101 (1981) 49⫺86; Rodrı´guez Adrados, F.: Greek Wisdom Literature and the Middle Ages. The Lost Greek Models and Their Arabic and Castilian Translations. Bern u. a. 2009. ⫺ 5 Kirk, R.: Wisdom of the Elders. Native Traditions on the Northwest Coast. Vancouver u. a. 1986; Wall, S.: Wisdom’s Daughters. Conversations with Women Elders of Native America. N. Y. 1993; MacConchie, P.: Elders. Wisdom from Australia’s Indigenous Leaders. Cambr. u. a. 2003. ⫺ 6 Weigl, M.: Die aram. Achikar-Sprüche aus Elephantine und die alttestamentliche W.slit. B. u. a. 2010. ⫺ 7 Naithani, S.: The Teacher and the Taught. Structures and Meanings in the „Arabian Nights“ and the „Panchatantra“ [2004]. In: The Arabian Nights in Transnational Perspective. ed. U. Marzolph. Detroit 2007, 119⫺133. ⫺ 8 Blois, F. de: Burzo¯y’s Voyage to India and the Origin of the Book of Kalı¯la wa Dimna. L. 1990. ⫺ 9 EM 1, 277. ⫺ 10 Winternitz, M.: Geschichte der ind. Litteratur 2. Lpz. 1913, 111⫺113. ⫺ 11 Grimm, Mythologie 2, 664; EM 11, 672. ⫺ 12 Lincoln, B.: Waters of Memory, Waters of Forgetfulness. In: Fabula 23 (1982) 19⫺34. ⫺ 13 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 724. ⫺ 14 EM 9 (1999) 1155. ⫺ 15 Frenzel, Motive (62008), 550⫺564. ⫺ 16 WienkerPiepho, S.: „Je gelehrter, desto verkehrter“? Volkskundlich-Kulturgeschichtliches zur Schriftbeherrschung. Münster 2000, 273 sq. ⫺ 17 Viergutz, R. F.: Von der W. unserer Märchen. B. 1942; Eymann, F.: Die W. der Märchen im Spiegel der Geisteswiss. Rudolf Steiners. Bern 1952; Meyer, R.: Die W. der dt. Volksmärchen. Ffm. 1981; Biedermann, H. S.: Verborgene W. in alten Märchen. Mü. 1990; Szonn, G.: Die W. unserer Märchen. B. 1993; Heindrichs, U. und H.-A. (edd.): Alter und W. im Märchen. Mü. 2000; Fuchs, A.: Verschlüsselte Botschaften. Lebensmuster in Märchen. Alte W. und neue Erkenntnisse. Wien u. a. 2008.
Göttingen
Ulrich Marzolph
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Weißrußland 1. Allgemeines ⫺ 2. Volkserzählungen in schriftl. Überlieferung und Lit. ⫺ 3. Märchen und Märchenerzähler ⫺ 4. Sammeltätigkeit ⫺ 5. Forschung
1 . All ge me in es. Das Gebiet des heutigen W. war im MA. Teil des ostslav. Großreichs der Kiever Rus (J Rußland, J Ukraine). Nach deren Zerfall im 12. Jh. entstanden eigenständige Fürstentümer (Polock, Turov etc.). Im 13./14. Jh. wurde das weißruss. Gebiet Teil des Großfürstentums Litauen (J Litauer), das im 16. Jh. mit J Polen eine staatliche Einheit bildete. Im 18. Jh. kam das heutige W. als ,nordwestl. Gebiet‘ zum Russ. Reich, 1919 wurde es Sozialistische Sowjetrepublik. Die souveräne Republik W. besteht seit 1991. Laut einer Volkszählung von 2009 hat W. 9,5 Millionen Einwohner, neben Weißrussen (83,7 %) vor allem Russen (8,3 %), Polen (3,1 %) und Ukrainer (1,7 %). Amtssprachen sind Weißrussisch und Russisch. Der größte Teil der weißruss. Bevölkerung gehört dem orthodoxen Christentum an. 2 . Vol ks er zä hl un ge n i n s ch ri ft l. Ü be rl ie fe ru ng un d L it. Mit der Einführung der Schriftsprache im Zuge der Christianisierung der Kiever Rus (988) konnten Texte schriftl. fixiert werden. Erste Belege für Volkserzählungen stammen aus den Moralpredigten des Kiryla Turau˘ski (11. Jh.); auf eine bereits zuvor bestehende Erzähltradition lassen Darlegungen christl. Autoren schließen1. Legenden- und märchenhafte Elemente finden sich in Annalen und Chroniken, bes. in der Beschreibung der Frühgeschichte der Ostslaven2. Die ältesten weißruss.-litau. Chroniken (Suprasl’er Chronik [1519], Nikifarer Chronik [Ende 15. Jh.], Slucker Chronik [Anfang 16. Jh.]) stützen sich u. a. auf Volkssagen über kriegerische Auseinandersetzungen mit den Tataren. Gleiches gilt für die Bychawecer Chronik (Mitte 16. Jh.), die in einer der weißruss. Umgangssprache nahestehenden Sprache verfaßt ist3. Im sog. Igorlied (Slovo o polku Igoreve [Erzählung über den Heerzug Igors], 12. Jh.) wird von Usjaslau˘ Polacki berichtet, der sich verwandeln kann und in Volkssagen als Zauberer bezeichnet wird4. Der Einfluß der Volksprosa macht sich früh motivlich und stilistisch in unterschiedlichen Sprachzeugnissen bemerkbar,
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so in den Aufzeichnungen des Ältesten von Orsˇa, ˇ arnabyl’ski (1573⫺ Filon Semenovicˇ Kmita-C 74); sie enthalten die erste Erwähnung des Helden J Il’ja Muromec und belegen damit, daß das gleichnamige Epos auf weißruss. Gebiet bekannt war. Darauf deuten auch volkssprachliche Bezeichnungen hin, die Francysk Skaryna (1486⫺1541), der erste weißruss. Buchdrucker, verwendete5. Seit der Renaissance liegen vermehrt poetische Bearb.en von Erzählstoffen aus der Volksüberlieferung vor. Das Carmen de statura feritate ac venatione Bisontis (Krakau 1523) des Mikola Husou˘ski (Nicolaus Hussovianus) enthält weißruss. Sprichwörter; nach eigener Aussage verwendete der Autor auch Volkssagen, Jagderzählungen und Volksglaubensvorstellungen als Qu.6 Später zeigte bes. die Romantik ein Interesse an Volksüberlieferungen. Der in W. geborene poln. Schriftsteller Jan Barszczewski veröffentlichte mit Szlachcic Zawalnia, czyli Białorus’ w fantastycznych opowiadaniach ([Der Edelmann Zawalnia, oder W. in phantastischen Erzählungen]. SPb. 1844) literar. bearbeitete Volkserzählungen und Märchen aus dem Gouvernement Vitebsk7. Im 19. Jh. finden sich ferner Nacherzählungen weißruss. Märchen und Legenden in den Werken von Kazimierz Wo´jcicki, Lucjan Siemien´ski, Eustachy Tyszkiewicz und Antoni Jo´zef J Glin´ski8. Pavel Michajlavicˇ Sˇpileu˘skis Belorusija v charakteristicˇeskich opisanijach i fantasticˇeskich ee skazkach (W. in charakteristischen Beschreibungen und seinen phantastischen Märchen) enthält u. a. eine russ.-sprachige Bearbeitung von AaTh/ATU 425 C: cf. J Amor und Psyche 9. 3 . M är ch en un d M är ch en er zä hl er. Motive aus den seit dem 9.⫺11. Jh. offenbar auch in W. verbreiteten J Bylinen sind in Zaubermärchen (Heldenmärchen) erhalten. Die populärsten weißruss. Zaubermärchen sind AaTh/ ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen, AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne, AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels, AaTh/ATU 300 A: J Drachenkampf auf der Brücke, AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein und AaTh/ATU 315 A: Die menschenfressende J Schwester. In der neueren weißruss. Überlieferung dominieren Alltagsmärchen (Schwank- und Tiermärchen),
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darunter bes. die Erzähltypen AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter, AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit und AaTh/ATU 1525 sqq.: J Meisterdieb sowie Märchen vom dummen Unhold (AaTh/ATU 1000⫺1199). Beliebte Tricksterfigur ist ein schlauer und dreister Armer namens Nesterka. In Südweißrußland (Polessje) sind daneben Novellenmärchen verbreitet. Das weißruss. Märchenmaterial ist ferner ungewöhnlich reich an Legendenmärchen, die auch satirischen Charakter haben können10. Märchenerzähler waren ursprünglich überwiegend ältere Männer. M. J Federowski teilte die Märchenerzähler in häusliche (Großeltern) und wandernde Märchenerzähler (Invaliden, Blinde, Bettler) ein. Märchen wurden beim abendlichen Pferdetrieb und in den Arbeitspausen beim Holzfällen, Torfstechen etc. erzählt. Zu den bekannten weißruss. Märchenerzählern zählen Redki (Ende 19./Anfang 20. Jh.), Ivan Azemsˇa (1851⫺1916), Jan Dzezˇka (gest. 1908), Tade˙usˇ Kaval’cˇuk (Ende 19. Jh.), Daminisja Kukla (Ende 19./Anfang 20. Jh.) und Vasil’ Michajlau˘ (Ende 19. Jh.). In jüngerer Zeit wurden Märchen meist von älteren Frauen aufgezeichnet; diese setzten die in den Märchentexten vorkommenden Lieder gesanglich um11. Die allg. Tendenz, daß mündl. Überlieferung zunehmend durch die neuen Medien verdrängt wird, läßt sich auch in W. beobachten. 4 . S am me lt ät ig ke it. Als erster zeichnete M. A. Dmitriev Märchen in weißruss. Sprache auf12. Elf der 20 weißruss. Texte in A. N. J Afanas’evs Narodnye russkie skazki (Russ. Volksmärchen) stammen von ihm13. 1867⫺75 und 1910⫺74 wurden weißruss. Texte aus mündl. Überlieferung durch Mitarbeiter der Russ. Geogr. Ges. systematisch aufgezeichnet. In diesem Kontext veröffentlichte P. V. J Sˇejn die Slg Belorusskie narodnye pesni (Weißruss. Volkslieder); der 2. Band seiner dreibändigen Materialy dlja izucˇenija byta i jazyka russkogo naselenija Severo-Zapadnogo kraja (Materialien für die Erforschung des Alltagslebens und der Sprache des russ. Volkes im nordwestl. Gebiet) umfaßt 284 Erzähltexte. ˇ ubyns’Von Bedeutung sind die von P. P. J C kyj während seiner Expedition in die Ukraine
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in den Gouvernements Minsk und Grodno gesammelten Texte. Die wiss. Erforschung der Erzählüberlieferung seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s ist der an einer eigenen Vk. interessierten örtlichen Intelligenzija zu verdanken. Die meisten weißruss. Märchen sammelte und publizierte E. R. Ramanav (1855⫺1922). Drei der insgesamt zehn Bände seines Belorusski sbornik ([Weißruss. Slg]. t. 3⫺4. Vitebsk 1887/1891, t. 6. Mogilev 1901) sind ausschließlich Märchen gewidmet und enthalten mehr als 400 Texte; bes. Aufmerksamkeit schenkte Ramanav den Zaubermärchen, die er als ,mythol. Märchen‘ bezeichnete. Weitere Märchentexte publizierte er in Periodika wie Mogilevskaja starina (Mogilever Altertümer) und Materialy po e˙tnografii Grodnenskoj gubernii (Materialien zur Ethnographie des Gouvernements Grodno). Die Mss. der nicht erschienenen Bände 11⫺14 des Belorusskij sbornik (verfaßt 1918⫺21) enthielten weitere 359 Märchen, diese sind jedoch im 2. Weltkrieg verloren gegangen14. Der 1. Band von V. N. Dabravolskis (J Dobrovol’skij) Smolenskij e˙tnograficˇeskij sbornik (Smolensker ethnogr. Slg) umfaßt mehr als 200 Märchen (ca 50 Zaubermärchen, Heldengedichte, Legenden); im Abschnitt ,byl‘ (Vergangenes) finden sich Alltagserzählungen aus mündl. Überlieferung, die von den Erzählern als eigene Erlebnisse ausgegeben wurden15. Im 19. Jh. wurden weißruss. Märchen auch in poln. Ausg.n veröffentlicht, so in J. J Karłowiczs Podania i bajki ludow zebrane na łitwe (In Litauen gesammelte Sagen und Volksmärchen) und W. Weryhes Podania białoruskie ([Weißruss. Sagen]. Lemberg 1889), der Tierund Zaubermärchen unter Beachtung ihrer sprachlichen Besonderheiten aufgezeichnet hatte16. E. Klichs Arbeit über weißruss. Sprichwörter enthält ebenfalls Zaubermärchen (mit einem Verz. der Herkunftsorte der Märchen ˇ . Pjatund Angaben zu den Erzählern)17; bei C kevicˇ finden sich Volksmärchen und Legenden; einige phantastische Märchen und Alltagsmärchen veröffentlichte O. J Kolberg18. Grundlegend ist Federowskis aus 30jähriger Forschung im westl. W. hervorgegangenes Werk Lud białoruski na Rusi litewskiej (Das weißruss. Volk in der litau. Rus), dessen erste drei Bände mehr als 500 Märchentexte enthalten. Darunter finden sich einige Erzähltypen,
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die erstmals und ausschließlich hier veröffentlicht wurden19. A. K. Serzˇputou˘skis Kazki i raskazy belarusau˘-palesˇukou˘ ([Märchen und Erzählungen der Weißrussen in Polessje]. SPb. 1911) und Kazki i apavjadanni belarusau˘ z Sluckaha pavetu ([Märchen und Erzählungen der Weißrussen im Bezirk Sluck]. Minsk 1926) enthalten viele vorher in dieser Form noch nicht belegte Erzähltypen. Serzˇputou˘ski geht auf die Rolle der Erzähler bei der Entwicklung des Genres ein und stellt einige von ihnen vor (Redki, Azemsˇa)20. Darüber hinaus finden sich Märchentexte in sprachwiss. Arbeiten21 und in S. P. Sacharau˘s Slg mit Aufzeichnungen von auf lett. Gebiet lebenden Weißrussen22. In Periodika, Broschüren und Kalendern wurden Auszüge aus den Slgen von Ramanav, Sˇejn und Serzˇputou˘ski veröffentlicht. In den 1920er Jahren setzte sich das Zentralbüro für Landeskunde für die Sammeltätigkeit ein, druckte in der Zs. Nasˇ kraj (Unser Land) Anleitungen zum Sammeln von Märchen ab und veröffentlichte an die Redaktion gesandte Erzähltexte23. Märchen, Legenden und mündl. Erzählungen über Kriegshelden und Ereignisse der Kriegsjahre wurden in der Slg Belaruski fal’klor Vjalikaj Ajcˇynnai Vajny ([Weißruss. Volksüberlieferung des Großen Vaterländ. Krieges]. Minsk 1961) veröffentlicht24. In der Nachkriegszeit zeichnete P. Achrymenka Märchen von Pjatr Hulevicˇ auf 25; Seine Veröffentlichung Belaruski e˙pas ([Das weißruss. Epos]. Minsk 1959) enthält weißruss. Märchen zu Bylinenthemen26. 1957 wurde das Inst. mastactvaznau˘stva, e˙tnahrafii i fal’kloru (Inst. für Kunstgeschichte, Ethnographie und Folklore) an der Akad. der Wiss.en in Minsk gegründet. Hier erschienen u. a. Kazki pra zˇivel i cˇaradzejnyja kazki ([Tierˇ aund Zaubermärchen]. Minsk 1971) und C radzejnyja kazki 1⫺2 ([Zaubermärchen]. Minsk 1973/78) von K. P. J Kabasˇnikau˘, Sacyjal’nabytavyja kazki ([Sozial- und Alltagsmärchen]. Minsk 1976) von A. Fjadosik sowie Kazki u˘ sucˇasnych zapisach ([Märchen in zeitgenössischen Aufzeichnungen]. Minsk 1989) von G. A. Bartasˇevicˇ und Kabasˇnikau˘. V. Anicˇe˙nka publizierte in Belaruski kazacˇny e˙pas ([Das weißruss. Märchenepos]. Minsk 1976) die Auf˙ . Dmuchou˘skaja vom Ende zeichnungen von E des 19. Jh.s, die viele Tier- und Zaubermär-
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Weißrußland
chen enthalten. Dokumente aus einzelnen Regionen wurden in der Reihe Belaruski fal’klor u˘ sucˇasnych zapisach (Weißruss. Folklore in zeitgenössischen Aufzeichnungen) der Staatlichen Univ. Minsk veröffentlicht. Darüber hinaus entstanden weitere Slgen mit geogr. Schwerpunkten27. Der überwiegende Teil der in zeitgenössischen Aufzeichnungen vorliegenden Märchentexte befindet sich in Hochschularchiven, so in den Stiftungsarchiven der Pädagogischen Univ. Minsk (mehr als 750 Texte) und an der Staatlichen Univ. Minsk (1245 Texte). Weißruss. Märchen wurden vielfach übersetzt und auch im Ausland untersucht28. 5 . For sc hu ng. Ramanav und Federowski sahen die Funktion von Märchen in der Herausbildung ethisch-moralischer Normen, stellten Betrachtungen zur J Biologie des Erzählguts an und entwickelten Aufzeichnungsmethoden. Federowski und Serzˇputou˘ski machten Angaben über Erzähler. Am Beginn der intensiven wiss. Erforschung weißruss. Märchen stehen der russ. Forscher S. V. Savcˇenko und der weißruss. Slavist, Philologe, Ethnograph und Folklorist E. F. Karski. Savcˇenko gab einen Überblick über die Geschichte der Sammlung weißruss. Erzählüberlieferung, ging auf wichtige Slgen ein, nannte Verbreitungsgebiete und machte auf spezifische Eigenschaften weißruss. im Vergleich zu russ. und ukr. Märchen aufmerksam29. Einer ausführlichen Analyse wird das weißruss. Märchen in Karskis Hauptwerk Belorusy 1⫺3 ([Die Weißrussen]. M. 1916) unterzogen, das u. a. eine Begriffserklärung (kazka/bajka: Märchen), Angaben zur Geschichte und Unters.en einzelner Werke enthält30. Karski problematisierte bes. die Entstehung und Verbreitung von Erzähltypen, den Zusammenhang nationaler Var.n und internat. Erzähltypen sowie Gattungs- und Klassifizierungsprobleme weißruss. Märchen. A. N. J Veselovskij berief sich in seiner Unters. von Alltagsmärchen auf Sˇejn und Ramanav; L. Z. Kolmacˇevskij ordnete die Tiermärchen aus Afanas’evs Slg in das internat. Typenverzeichnis ein31. Das Sammeln von Volksüberlieferung in der 2. Hälfte des 20. Jh.s wurde in literaturwiss. und phil. Arbeiten thematisiert (u. a. von M. Hare˙cki, M. Larcˇanka, I. Lusˇcˇycki)32. U.
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Konan zog Märchenstoffe für seine phil.-kulturwiss. Unters.en heran33. In der Folge von Kabasˇnikau˘s Belaruskaja antikrepostnicˇeskaja skazka XIX veka ([Weißruss. Märchen gegen die Leibeigenschaft aus dem 19. Jh.]. M. 1955) entstanden am Inst. für Kunstgeschichte, Ethnographie und Folklore zahlreiche Monogr.n über weißruss. Märchen. I. I. Kruk befaßte sich mit Tiermärchen34, L. P. Barabanava arbeitete zu Novellenmärchen35, V. A. Varab’eva zu Zaubermärchen36. A. S. Fjadosik gab zwei Monogr.n über satirische Volkserzählungen und Sozialmärchen heraus37. Die Publ.en von L. G. J Barag38 bildeten die Basis für weitere nationale Typenkataloge wie auch für den ostslav. Typenkatalog (SUS). Weißruss. Verz.se sind in Arbeiten von Kabasˇnikau˘39 und Barabanava enthalten40. Aktuell werden Gattungsfragen der Volksprosa, sprachliche Aspekte, Motive der Weltdarstellung und Schicksalsmotive als typenbildende Elemente weißruss. Märchen in der Forschung behandelt41. Überblickswerke wie Vostocˇnoslavjanskij fol’klor. Slovar’ naucˇnoj i narodnoj terminologii ([Ostslav. Volksüberlieferung. Wb. der wiss. und nationalen Terminologie]. Minsk 1993) und die Enz. Belaruski fal’klor 1⫺2 ([Weißruss. Folklore]. Minsk 2005/06) enthalten zahlreiche Art. aus dem Bereich der Märchenforschung. 1 Savcˇenko, S. V.: Russkaja narodnaja skazka. Istorija sobiranija i izucˇenija (Das russ. Volksmärchen. Die Geschichte der Slg und Erforschung). Kiev 1914, 36; Karskij, E. F.: Belorusy (Die Weißrussen) 3,1. M. 1916, 422. ⫺ 2 Historyja belaruskaj dakastrycˇnickaj literatury (Die Geschichte der weißruss. Lit. bis zur Oktoberrevolution) 1. Minsk 1968, 86⫺97; Ulasˇcˇik, N. N.: Vvedenie v izucˇenie belorussko-litovskogo letopisanija (Einführung in die Erforschung der weißruss.-litau. Chronikschreibung). M. 1985, 166 sq.; ˇ amjarycki, V. A.: Belaruskija letapisy jak pomniki C literatury (Weißruss. Chroniken als Lit.denkmäler). Minsk 1969, bes. 162⫺186. ⫺ 3 Ulasˇcˇik (wie not. 2) ˇ amjarycki (wie not. 2) 162⫺186. ⫺ 4 Histo166, 11; C ryja (wie not. 2) 96 sq. ⫺ 5 ibid., 253; Hryncˇyk, M. M.: Fal’klornyja tradycyi u˘ belaruskaj dakastrycˇnickaj pae˙zii (Traditionen der Volksüberlieferung in der weißruss. Dichtung bis zur Oktoberrevolution). SPb. 1969, 12 sq.; Vladimirov, P. V.: Doktor Skorina, ego perevody, pecˇatnye izdanija i jazyk (Doktor Skaryna, seine Übers.en, Drucke und Sprache). SPb. 1888, 116, 232, 302; Loboda, A. M.: Russkij bogatyrskij e˙pos (Das russ. Heldenepos). Kiev 1896, 12, 14, 96⫺99; id.: Belorusskaja narodnaja poe˙zija i russkij bylevoj e˙pos (Die weißruss. Volks-
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Weißrußland
dichtung und das russ. Bylinenepos). In: E˙tnograficˇeskoe obozrenie (1895) H. 2, 1⫺28; Miller, V.: Ocˇerki russkoj narodnoj slovesnosti. Byliny (Essays zur russ. Volksdichtung. Bylinen). M. 1897. ⫺ 6 Husou˘ski, M.: Pesnja pra zubra (Das Lied über den Wisent). Minsk 1980, 171⫺184 (Nachw. V. Darasˇkevicˇ); Historyja belaruskaj literatury. Starazˇytny peryjad (Geschichte der weißruss. Lit. Die älteste Epoche). Minsk 1996, 151 sq. ⫺ 7 Savcˇenko (wie not. 1) 222; Barag, L. R.: Belaruskaja kazka (Das weißruss. Märchen). Minsk 1969, 7; Kabasˇnikau˘, K. P.: Historyja zbirannja i vyvucˇe˙nnja prazaicˇnych zˇanrau˘ belaruskaha fal’kloru (Geschichte der Slg und Erforschung der Erzählgenres weißruss. Volksüberlieferung). In: id.: Narodnaja proza. Minsk 2002, 13. ⫺ 8 Barag (wie not. 7); Kabasˇnikau˘ (wie not. 7) 14 sq. ⫺ 9 Sˇpilevskij, P. M.: Belorusija v charakteristicˇeskich opisanijach i fantasticˇeskich ee skazkach (W. in charakteristischen Beschreibungen und phantastischen Märchen). In: Panteon (1853) H. 4, 18; H. 8, 73; (1956) H. 26,3, 9 sq.; Bandarcˇyk, V. K.: Historyja belaruskaj e˙tnahrafii XIX st. (Geschichte der weißruss. Ethnographie des 19. Jh.s). Minsk 1964, 40 sq.; Barag (wie not. 7) 10 sq.; Cisˇcˇanka, I. K.: Da narodnych vytokau˘. Zbiranne i vyvucˇe˙nne belaruskaha fal’kloru u˘ 50⫺60-ja hady XIX st. (Zurück zu den nationalen Wurzeln. Slg und Erforschung der weißruss. Volksüberlieferung in den 50er und 60er Jahren des 19. Jh.s). Minsk 1986, 61 sq. ⫺ 10 Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1968, 535⫺589 (Nachwort). ⫺ 11 Belaruski fal’klor (Weißruss. Volksüberlieferung) 1⫺2. Minsk 2005/06; Kabasˇnikau˘, K. P./Bartasˇevicˇ, G. A.: Sustre˙cˇy z kazkaj (Begegnungen mit dem Märchen). Minsk 1984. ⫺ 12 Dmitriev, M. A.: Opyt sobranija pesen i skazok krest’jan Severo-Zapadnogo kraja (Lieder- und Märchenslg der Bauern des Nordwestens). Grodno 1868; id.: Sobranie pesen, skazok, obrjadov i obycˇaev krest’jan Severo-Zapadnogo kraja (Lieder-, Märchen- und Brauchslg der Bauern des Nordwestens). Wilna 1869; Karskij (wie not. 1) 418 sq. ⫺ 13 Afanas’ev, num. 5, 26, 91, 126, 134, 181, 210, 281, 287, 344, 346. ⫺ 14 Savcˇenko (wie not. 1) 224⫺230; Karskij (wie not. 1) 419; Barag (wie not. 7) 15 sq. ⫺ 15 Bandarcˇyk (wie not. 9) 185⫺193; Chrusˇcˇova, A. M.: Belaruskaja kazka u˘ zapisach U. M. Dabravol’skaha (Das weißruss. Märchen in Aufzeichnungen von U. M. Dabravol’ski). In: Belaruskaja fal’klarystyka. Minsk 1980, 19⫺28. ⫺ 16 Karłowicz, J.: Podania i bajki zebrane na łitwie (In Litauen gesammelte Sagen und Volksmärchen). In: Zbio´r Wiadomos´ci do antropologii krajowej 11 (1887) 229⫺293; ibid. 12 (1888) 1⫺59; id.: Podania białoruskie, zebrane przez Władysława Weryhe (Weißruss. Märchen, gesammelt von Władysław Weryhe). Lwo´w 1889. ⫺ 17 Klich, E.: Teksty białoruskie z powiatu Nowogro´dskiego. Materialy i prace Komisy je˛zykowej (Weißruss. Texte aus dem Gebiet Novogrudek. Dokumente und Arbeiten der Sprachkommission) 2. Krakau 1903. ⫺ 18 Barag (wie not. 7) 16; Kabasˇnikau˘ (wie not. 7) 25 sq. ⫺ 19 Savcˇenko (wie
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not. 1) 237⫺242, 31; Barag (wie not. 7) 17 sq.; Kabasˇnikau˘ (wie not. 7) 26⫺30. ⫺ 20 Savcˇenko (wie not. 1) 242⫺244; Barag (wie not. 7) 18 sq.; Kabasˇnikau˘ (wie not. 7) 30 sq., 40⫺43; Kas’ko, V. K.: A. K. Serzˇputou˘ski. In: Belaruskaja fal’klarystyka. Zbiranne i dasledavanne narodnaj tvorcˇasci u˘ 60-ch hh XIX-pacˇ. XX st. Minsk 1989, 295⫺309. ⫺ 21 Karskij, E. F.: Materialy dlja izucˇenija belorusskich govorov (Dokumente zur Erforschung der weißruss. Mundarten) 1⫺5. SPb. 1898⫺1903; Serbov, I.: Belarusy-sakuny (Die weißruss. Sakunen). s. l. 1915. ⫺ 22 Sacharau˘, S. P.: Narodnaja tvorcˇasc’ lathal’skich i ilukste˙nskich belarusau˘ (Das Volksschaffen der Weißrussen in Latgalien und Ilukstensk) 3. Unveröff. Ms. 1939 (Bibl. der Akad. der Wiss.en Minsk); Barag (wie not. 7) 20. ⫺ 23 Sˇljubski, A.: Tre˙ci hod zbirannja fal’klornaha (Das 3. Jahr der Slg von Volksüberlieferung). In: Nasˇ kraj (1928) H. 12, 44; Fjadosik, A. S.: Belaruskaja saveckaja fal’klarystyka (Die weißruss. sowjet. Folkloristik). Minsk 1987, 13⫺19; Kabasˇnikau˘ (wie not. 7) 44⫺ 46. ⫺ 24 cf. Barag (wie not. 7) 20; id./Meerovicˇ, M. S.: Belorusskie narodnye predanija i skazki-legendy o Zaslonove i Kobnake (Weißruss. Volkssagen und Märchenlegenden über Zaslonov und Kovnak). In: Sovetskaja e˙tnografija 2 (1948) 147⫺155. ⫺ 25 Belaruskija kazki, zapisanyja ad Pjatra Hulevicˇa (Weißruss. Märchen, aufgezeichnet von Pjatr Hulevicˇ). ed. P. Achrymenka. Minsk 1963. ⫺ 26 Karskij (wie not. 1) 485⫺495; cf. ferner Kabasˇnikov, K. P.: Tradicii geroicˇeskogo e˙posa v belorusskom narodnom tvorcˇestve (Die Tradition des Heldenepos in der weißruss. Volkskunst). In: Osnovnye problemy e˙posa vostocˇnych slavjan. M. 1958, 314⫺325; Barag, L. G.: „Asilki“ belorusskich skazok i predanij („Die Riesen“ der weißruss. Märchen und Sagen). In: Astachova, A. M./Gusev, V. E. (edd.): Russkij fol’klor 8. M. u. a. 1963, 29⫺40; Larcˇanka, M. R.: Heraicˇny e˙pas belaruskich kazak (Das Heldenepos weißruss. Märchen). In: id.: Zˇyvaja spadcˇyna. Minsk 1977, 214⫺227. ⫺ 27 Hilevicˇ, N. S.: Narodnyja kazki-bajki, apavjadanni i mudraslou˘i (Volksmärchen, -erzählungen und -weisheiten). Minsk 1983; Belaruski fal’klor u˘ sucˇasnych zapisach: Minskaja voblasc (Weißruss. Volksüberlieferung in zeitgenössischen Aufzeichnungen: Das Gebiet Minsk). Minsk 1995; cf. auch Chre˙stamatyja pa belaruskaj dyjalektalohii (Hb. der weißruss. Dialektologie). Minsk 1962; Turau˘ski slou˘nik 1⫺5 (Das Turover Wb.). Minsk 1982⫺87; Kabasˇnikau˘ (wie not. 7) 52⫺54. ⫺ 28 Beˇloruske´ lidove´ poha´dky a povı´dky (Weißruss. Volksmärchen und Sagen). ed. J. Hora´k. Prag 1957; Hora´lek, K.: Slovanske´ poha´dky (Slav. Märchen). Prag 1964; Krzyz˙anowski; Czurak, M.: Komizm w białoruskiej prozie ludowej (Die Komik in der weißruss. Volksprosa). Breslau 1984; Barag (wie not. 10); cf. auch Belaruskaja e˙tnahrafija i fal’klarystyka. Biblijahraficˇny pakazal’nik (1945⫺1970 hh.) (Die weißruss. Ethnographie und Folkloristik. Bibliogr. Verz. [1945⫺70]). ed. M. Hrynblat. Minsk 1972, 265⫺
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Weißwerden ⫺ Weisung, himmlische
273. ⫺ 29 Savcˇenko (wie not. 1) 221⫺251, hier 245 sq. ⫺ 30 Karskij (wie not. 1) 418⫺495. ⫺ 31 Veselovskij, A. N.: Istoricˇeskaja poe˙tika (Hist. Poetik). Len. 1940, 587; Kolmacˇevskij, L. Z.: Zˇivotnyj e˙pos na Zapade i u slavjan (Das Tierepos im Westen und bei den Slaven). Kazan’ 1882; Kabasˇnikau˘, K. P.: Belaruski fal’klor u parau˘nal’nym asvjatlenni (Die weißruss. Volksüberlieferung in vergleichender Betrachtung). Minsk 1981. ⫺ 32 Hare˙cki, M.: Historyja belaruskaj literatury (Geschichte der weißruss. Lit.). M./Len. 1924; Larcˇanka, M.: Na sˇljachach da re˙alizmu (Auf dem Weg zum Realismus). Minsk 1958; Lusˇcˇycki, I. M.: Narysy pa historyi hrmadska-palitycˇnaj i filasofskaj dumki u˘ Belarusi u˘ druhoj palavine XIX veku (Skizzen zur Geschichte des gesellschaftlich-politischen und phil. Denkens in W. in der 2. Hälfte des 19. Jh.s). Minsk 1958. ⫺ 33 Konan, U. M.: Lja vytokau˘ samapaznannja. Stanau˘lenne duchou˘nych kasˇtou˘nascej u svjatle fal’kloru (An den Qu.n der Selbsterkenntnis. Die Entstehung der geistigen Werte im Lichte der Volksüberlieferung). Minsk 1989; id.: Vecˇno junaja mudrost’ naroda. Zametki o karnaval’noj prirode skazki (Die ewig junge Weisheit des Volkes. Notizen zum karnevalistischen Charakter des Märchens). In: Detskaja literatura (1987) H. 5, 16⫺20; id.: Archetypy belaruskaha mentalite˙tu. Sproba re˙kanstrukcyi pavodle nacyjanal’naj mifalohii i e˙pasu (Archetypen der weißruss. Mentalität. Versuch einer Rekonstruktion anhand der Nationalmythologie und des Märchenepos). In: Belarusika ⫺ Albaruthenica 2 (1993) 18⫺29. ⫺ 34 Kruk, I. I.: Vostocˇnoslavjanskie skazki o zˇivotnych (Ostslav. Tiermärchen). Minsk 1989. ⫺ 35 Barabanava, L. P.: Navelistycˇnaja kazka u˘ belaruskim e˙pase (Das Novellenmärchen im weißruss. Epos). Minsk 1980; ead.: Zˇanravaja, sjuzˇetnaja i ide˙jna-te˙matycˇnaja ahul’nasc navelistycˇnych i bytavych kazak (Gemeinsamkeiten der Novellen- und Alltagsmärchen hinsichtlich von Genre, Sujet und Thema). Minsk 1993; ead.: Tipologija vostocˇnoslavjanskoj novellisticˇeskoj skazki (Typologie des ostslav. Novellenmärchens). Minsk 1989. ⫺ 36 Varab’eva, V. A.: Kantaminacyja va u˘schodneslavjanskich cˇaradzejnych kazkach (Die Kontamination in ostslav. Zaubermärchen). Minsk 1999. ⫺ 37 Fjadosik, A. S.: Prablemy belaruskaj narodnaj satyry (Probleme der weißruss. Volkssatire). Minsk 1978; id.: Belaruskaja sacyjalna-bytavaja kazka (Das weißruss. Sozial- und Alltagsmärchen). Minsk 1995. ⫺ 38 Barag, L. G.: Sjuzˇetnyj repertuar vostocˇnoslavjanskich skazok (Das Typenrepertoire ostslav. Märchen). In: Kireev, A. N. (ed.): E˙picˇeskie zˇanry ustnogo narodnogo poe˙ticˇeskogo tvorcˇestva. Ufa 1969, 167⫺240; id.: Sjuzˇety i motivy belorusskich volsˇebnych skazok (Sistematicˇeskij ukazatel’) (Typen und Motive weißruss. Zaubermärchen [Systematischer Index]). In: Slavjanskij i balkanskij fol’klor (1971) H. 1, 182⫺235; id.: Sjuzˇety i matyvy belaruskich narodnach kazak. Siste˙matycˇny pakazal’nik (Typen und Motive weißruss. Volksmärchen. Systematischer Index). Minsk 1978. ⫺ 39 Kabasˇnikau˘, K. P.: Paka-
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zal’nik sjuzˇetau˘ belaruskich kazak (Typenverz. weiߡ aradzejnyja kazki 2. Minsk russ. Märchen). In: id.: C 1978, 603⫺686. ⫺ 40 Barabanava, L. P.: Pakazal’nik sjuzˇetau˘ belaruskich narodnych kazak (Typenverz. weißruss. Volksmärchen). In: id.: Kazki u˘ sucˇasnych zapisach. Minsk 1989, 602⫺650. ⫺ 41 Luk’janava, T. V.: Fenamenalahicˇny aspekt zˇanrau˘ belaruskaj fal’klornaj prozy (Der phänomenologische Aspekt des Genres in weißruss. Volkserzählungen). In: Vesci Belaruski Dzjarzˇau˘ny Pedagagicˇny Univerzitet (2005) H. 2, 79⫺83; ead.: Zˇanr i karcina svetu u˘ fal’klornaj proze (Genre und Weltbild in der Volkserzählung). ibid., H. 1, 17⫺21; Sˇamjakina, S.: Recˇy u˘ kazacˇnym susvece. Zmjastou˘na-farmal’na ja admetnasc’ cˇaradzejnaj kazki na prykladze vobrazau˘ mahicˇnych re˙cˇau˘ (Die Dinge in der Märchenwelt. Inhaltlich-formale Besonderheiten des Zaubermärchens am Beispiel magischer Gegenstände). Minsk 2005; Krylova, S.: Motivy sud’by i doli kak sjuzˇetoobrazujusˇcˇie e˙lementy skazok (Schicksalsmotive als sujetbildende Elemente von Märchen). In: Kavaleva, R. M./Pryemka, V. V. (edd.): Fal’klarystycˇnyja dasledavanni. Konte˙kst. Typalohija. Suvjazi. Minsk 2004, 86⫺93; Tryfanenka, M. A.: Matyu˘ zmejaborstva va u˘schodneslavjanskaj fal’klornaj tradycyi. Henezys, semantyka (Das Motiv des Drachenkampfs in der ostslav. Erzähltradition. Genesis, Semantik). Minsk 2001.
Minsk
Galina Bartasˇevicˇ
Weißwerden J Erlösung
Weisung, himmlische, göttlicher Fingerzeig, der als Handlungsanweisung, Strafe, Belohnung, Fluch (Mot. Q 556.0.2) oder Unschuldsbeweis (Mot. H 216.2) fungieren kann. Die Übermittlung erfolgt durch J Engel1, durch eine körperlose J Stimme2 aus den Wolken oder Büschen (Mot. F 966) ⫺ im islam. Kontext auch aus dem Grab des Propheten3 ⫺, mittels einer Hand, die aus dem J Himmel zeigt4, durch Zeichen (Licht, Schrift) am Firmament5, durch auffälliges Verhalten von Tieren, J Träume oder Himmelsbriefe (J Brief)6. Auch leblose Objekte (J Heiligenbild oder -statue) teilen sprechend Gottes Willen mit7. Abzugrenzen sind h. W.en von den immer ungünstigen J Prodigien sowie von den bewußt herbeigeführten Versuchen, die Wahrheit durch ein J Gottesurteil (J Wahrheitsprobe) bzw. die Zukunft mittels J Divination, J Orakel, J Prophezeiungen oder J Wahrsagen zu erkunden. Naturereignisse (z. B. Sonnenfin-
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Weisung, himmlische
sternis) gelten nicht als h. W., vielmehr erreichen diese die Betroffenen ohne ausdrücklichen Wunsch oder Nachfrage. Der h.n W. stehen religiöse Wahnvorstellungen und superstitiöse Prognostiken gegenüber. H. W.en kennt bereits die Antike: Eine unbekannte Stimme warnte vor einem geplanten Überfall auf einen aus Delphi heimkehrenden Boten8; auf dem Marktplatz von Athen stand ein Altar, welcher der Pheme, der ,Stimme von oben‘, gewidmet war9. In Kriegszeiten, in denen Menschen die Frage bewegt, ob es einen gerechten Krieg gebe, treten vermehrt h. W.en auf. Als sich der Korinther Timoleon 344 p. Chr. n. mit einem Heer nach Syrakus begab, soll eine brennende Fackel den Weg gewiesen haben, was als Glücksverheißung gedeutet wurde10. J Konstantin d. Gr. soll wiederholt Kreuzesvisionen gehabt haben, so auch am Abend vor der Schlacht an der Milvischen Brücke bei Rom (312 p. Chr. n.): Er sah am Firmament ein J Kreuz mit dem Schriftzug „in hoc signo vinces“ (Mot. V 515.1.4), ließ daraufhin in die Schilde seiner Soldaten Kreuze ritzen, errang die Oberherrschaft im Röm. Reich und ebnete damit den Weg für das Christentum als Staatsreligion. Jeanne d’Arc behauptete, auf W. von Heiligen gehandelt zu haben11. Postkarten des 1. Weltkrieges zeigen Soldaten im Schützengraben, die J Christus neben ihrem Hauptmann stehen und den Schießbefehl geben sehen12. Daß in der Schlacht bei Saarburg am 20.8.1914 ein J Kruzifix wie durch ein Wunder erhalten blieb, interpretierten die an diesem Tag siegreichen Deutschen als Bestätigung Gottes, zu Recht gegen den frz. ,Erbfeind‘ zu Felde zu ziehen13. Eigenmächtiges Verhalten von (Zug-)Tieren deutet auf den von Gott oder Heiligen gewünschten Ort zum Bau von (Wallfahrts-)Kirchen und Klöstern hin (J Bauplatzlegende, J Gespannwunder, J Wegweisende Gegenstände und Tiere). Der Bauplatz kann auch durch eine Stimme aus einem Dornbusch bekanntgegeben werden14. Im Traum nennt der hl. J Benedikt dem Abt von Terracina alle Stellen, an denen ein Klostergebäude errichtet werden soll (Gregor d. Gr., Dialogi 2,22). Ein Bischof gründet ein Benediktinerkloster aufgrund der durch einen ungebildeten Sklaven übermittelten Bitte Marias15. Beim Bau des Stiftes Klo-
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sterneuburg soll der fortgewehte und wiedergefundene Schleier der Gattin Herzog Leopolds ausschlaggebend für die Ortswahl gewesen sein16, bei der Errichtung des Hildesheimer Doms das in einem im Winter blühenden Rosenstock wiedergefundene Kreuz Ludwig des Frommen (J Wintergarten). Bisweilen diktieren Stimmen aus dem Himmel Bedingungen, von denen z. B. die Errichtung von Bauwerken abhängt: Die Erbauung der antiken Brücke von Arta soll nur dank eines Menschenopfers gelungen sein17. Der hl. Norbert wurde angeblich bei der Gründung des Prämonstratenserordens durch den hl. Augustinus angeleitet, der ihm auch das Aussehen des Habits beschrieb18. H. W.en für ihre Ordenstracht erhielten Stephan von Cıˆteaux, Dominikus, Alexius de Falconeriis, der Karmelit Simon Stock und Bernardus Ptolomäus von Siena für seine „Kongregation der sel. Jungfrau Maria im Ölberg“19. Als dem hl. Abt Gilda sein Kloster genommen werden sollte, ließ Gott eine Quelle sprudeln, die das Terrain mit Wasser einschloß (J Quellwunder)20. Das Matthäus-Evangelium enthält u. a. die Träume des hl. J Joseph, der den Auftrag erhält, mit Maria und dem Jesuskind nach Ägypten zu fliehen und später wieder zurückzukehren (Mt. 2,13; 2,18⫺19). In Legenden finden sich Traumweisungen, die die Besonderheit von Heiligen betonen: Papst Innozenz III. träumt davon, wie der hl. Franziskus (J Franz von Assisi) die Kirche stützt, und genehmigt daraufhin dessen Ordensgründung. Eine Stimme vom Himmel klärt die Identität der Heiligen J Petrus und J Paulus21. Die hl. Julitta und ihr kleiner Sohn Cyricus lassen sich durch Folter nicht dazu bewegen, ihrem Glauben abzuschwören; eine Stimme aus dem Himmel verheißt ihnen daraufhin ewige Herrlichkeit22. Ebenso widersteht die hl. Juliana dank einer h.n W. einem Teufel in Engelsgestalt, der sie dazu bewegen will, den Abgöttern zu opfern, um nicht als Märtyrerin sterben zu müssen23. Der hl. Johannes Bosco (1815⫺88) erhält als Neunjähriger im Traum von Gott den Auftrag für sein späteres ,Jugendwerk‘24. Christl. Hymnen, Gebete und Feste werden vielfach auf Himmelsoffenbarungen zurückgeführt25. Die Karfreitagsklagen soll ein verzückter Knabe bei einem Erdbeben 446 in Konstantinopel den Engeln abgelauscht haben; das
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Welfensage ⫺ Wellentheorie
Nachsingen beendete das Beben. Ebenfalls direkt vom Himmel angeordnet sollen das Salve Regina, der Rosenkranz, die Feste der Geburt und Empfängnis Marias und das Fronleichnamsfest sein26. Eine altind. Erzählung handelt von zwei Männern, die ihre Köpfe einer Göttin opfern. Als sich die Witwe des einen daraufhin erhängen will, gewährt ihr eine himmlische Stimme den Wunsch, die beiden wieder lebendig zu machen, indem sie ihnen die Köpfe wieder aufsetzt (AaTh/ATU 774 A, 1169: J Köpfe vertauscht [4]). Auch in AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände wird eine Verstümmelung durch h. W. rückgängig gemacht: Die Heldin findet heilendes Wasser, durch dessen Berührung sie ihre Hände wiedererlangt. Blinde (J Blind, Blindheit) werden durch heilkräftige Quellen, die dank h.r W. entdeckt wurden, wieder sehend27. Ein Armer findet durch h. W. einen Schatz (AaTh/ATU 831: J Pfarrer als Teufel). In AaTh/ATU 769: J Tränenkrüglein hat eine um ihr verstorbenes Kind trauernde Mutter eine Vision, in der das Kind ihr sagt, daß es wegen ihrer Tränen keine Ruhe finden könne; die Mutter hört daraufhin auf zu weinen. In einer slovak. Erzählung bedeutet eine Stimme aus einer tiefhängenden schwarzen Wolke einer Frau, in eine weit entfernte Kirche zu gehen; der dortige Priester ist ihr verlorener Sohn28. Im weiteren Sinne wird auch (plötzliche) Krankheit als h. W. aufgefaßt29. Aktuelle Vorstellungen sehen Krankheiten eher als ,Nachricht des Körpers‘, d. h. als Zugang zum eigenen Körper und möglicherweise zu einer anderen Lebenseinstellung und -führung30. 1 Gramlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Theologien und Erscheinungsformen des islam. Heiligenwunders. Wiesbaden 1987, 340. ⫺ 2 ibid. ⫺ 3 ibid., 87. ⫺ 4 Kanner, I. Z.: Jüd. Märchen. Ffm. 1976, 43, 55, 62 sq., 64, 91 sq., 120 sq. ⫺ 5 Köhler, R.: Und wenn der Himmel wär’ Papier. In: Orient und Occident 2 (1863) 547⫺559. ⫺ 6 Brückner, W.: Brief. 3: Frömmigkeitsgeschichtlich. In: LThK 2 (21993) 690; cf. Strauss, W. L:. The German SingleLeaf Woodcut: 1550⫺1600. t. 2. N. Y. 1975, 766, 692; Alexander, D./Strauss, W. L.: The German Single-Leaf Woodcut: 1600⫺1700. t. 1. N. Y. 1977, 648, 799; cf. Gramlich (wie not. 1) 340 sq. (Botschaft aus dem Jenseits). ⫺ 7 cf. Alsheimer, R.: Das Magnum Speculum Exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Bern/Ffm. 1971, 172; Tubach,
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num. 5176⫺5181; Gramlich (wie not. 1) 342, cf. 341⫺344 (Sonne, Steine, Sträucher, Schüssel, Rosenkranz, Tür, Totenschädel, Säule). ⫺ 8 Günter, H.: Die christl. Legende des Abendlandes. Heidelberg 1910, 52. ⫺ 9 ibid. ⫺ 10 Daxelmüller, C.: Disputationes curiosae. Zum „volkskundlichen“ Polyhistorismus an den Univ.en des 17. und 18. Jh.s. Würzburg 1979, 342. ⫺ 11 Pernoud, R./Clin, M.-V.: Jeanne d’Arc. P. 1986, 177⫺179, 211 sq. u. ö. ⫺ 12 Alzheimer, H.: Religiöse Lieder im Ersten Weltkrieg. In: ead. (ed.): Glaubenssache Krieg. Religiöse Motive auf Bildpostkarten des Ersten Weltkrieges. Bad Windsheim 2009, 107⫺ 130, hier 126. ⫺ 13 Lang, E.-K.: Das Kreuz von Saarburg ⫺ ein Wunder inmitten des Krieges? ibid., 199⫺213. ⫺ 14 Cammann, A./Karasek, A.: Volkserzählung der Karpatendeutschen. Slovakei 1. Marburg 1981, 318; Kretzenbacher, L.: „Lebensspendender Quell“. Blindenheilung und Prophetie der Kaiserwürde. Zum heutigen ,Legendenerzählen‘ der Neugriechen, der Südslawen und der Rumänen zwischen Bildgegenwart und Volksbuch. In: Fabula 16 (1975) 209⫺226, hier 212. ⫺ 15 Tubach, num. 3317. ⫺ 16 Grimm DS 498. ⫺ 17 Megas, G. A.: Die Ballade von der Arta-Brücke. Saloniki 1976, 21. ⫺ 18 Günter 1949, 270 sq. ⫺ 19 cf. ibid., 103. ⫺ 20 Künzig, J.: Kloster. In: HDA 4 (1931⫺32) 1551⫺1553. ⫺ 21 Legenda aurea/Benz, 569 sq. ⫺ 22 Günter (wie not. 8) 134 sq. ⫺ 23 Legenda aurea/Benz, 267 sq. ⫺ 24 Bosco, G.: Erinnerungen. Autobiogr. Aufzeichnungen über die ersten vierzig Jahre eines Lebens im Dienst an der Jugend. Mü. 1988. ⫺ 25 Günter (wie not. 8) 92; zahlreiche weitere Beispiele cf. Günter 1949, 43, 83, 96, 98, 101 sq., 121, 146, 151, 207, 231. ⫺ 26 Günter (wie not. 8) 92. ⫺ 27 Kretzenbacher (wie not. 14) 212. ⫺ 28 Cammann/Karasek (wie not. 14) 317 sq. ⫺ 29 Tubach, num. 4659. ⫺ 30 cf. z. B. Dethlefsen, T./Dahlke, R.: Krankheit als Weg. Deutung und Be-Deutung der Krankheitsbilder. Mü. 1986.
Bamberg
Heidrun Alzheimer
Welfensage J Mehrlingsgeburten
Wellentheorie. Im 19./20. Jh. entstanden in geistes- und wirtschaftswiss. Kontexten Konzeptionen, die auf Analogien zu bestimmten Eigenschaften physikalischer Wellen bzw. zu Aspekten der physikalischen W. zurückgreifen. Dabei handelt es sich einerseits um Ansätze, welche hist. oder zumindest diachrone Entwicklungen eines Phänomens in Anlehnung an die Amplitude physikalischer Wellen als regelmäßige Abfolge von Höhe- und Tiefpunkten beschreiben (Kunst-1 und Lit.geschichte2,
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Wellerismus
Wirtschaftswissenschaften3). Andererseits betrifft dies eine Theorie aus der germanistischen hist. Linguistik: ausgehend von einem sprachlich homogenen Gebiet erfolge die räumliche Ausbreitung sprachlicher Phänomene wellenförmig, wobei der Welleneffekt mit zunehmender Entfernung von seiner Quelle schwächer werde4. Dieser Ansatz wurde von Vertretern der J geogr.-hist. Methode adaptiert, da hier davon ausgegangen wird, daß Erzählstoffe auf einen gemeinsamen Ursprung (J Urform) zurückgehen (Monogenese) und sich in Zeit und Raum von einem Zentrum aus wellenförmig ausbreiten (J Diffusion). Die W. wurde von W. J Anderson der Stammbaumtheorie entgegengesetzt5 und die J Verbreitung selbst als Wanderung aufgefaßt (J Wandertheorie; cf. auch J Vermittlung); die W. beschreibt die Art und Weise, in der diese Wanderung erfolgt. Die W. ist innerhalb der im Kontext der geogr.-hist. Methode entstandenen Arbeiten weder als theoretischer Ansatz ausgearbeitet noch als Ausbreitungsform von Erzählungen konkretisiert worden. Sie ist vielmehr als aus der Linguistik übernommene Grundannahme und/oder ,Visualisierung‘6 zu verstehen: Nach Anderson verbreiten sich die „lokalen Nebenformen der verschiedenen Einzelzüge“ von Erzählungen „(ebenso wie nach der Wellentheorie die dialektischen Spracheigentümlichkeiten) unabhängig voneinander“7. Aspekte einer W. lassen sich eher aus angrenzenden Erläuterungen extrapolieren: So geht Anderson davon aus, daß die Urheimat einer Erzählung am ehesten aufgrund ihrer Verbreitungsgrenzen und -wege ermittelt werden könne8, und rekurriert damit auf den Charakter von Wellen, sich in einer bestimmten Richtung auszubreiten und an ein Medium gebunden zu sein. Auch werden andere Erklärungsmodelle als gleichwertig herangezogen: K. J Krohn etwa spricht von ,Strömungen‘ (z. B. auch zwei entgegengesetzten Strömungen), der ,Einströmung‘ sowie von ,Überschwemmungsgebieten‘ 9. Die Kritik an Konzepten der geogr.-hist. Methode richtete sich vor allem auf die Annahme einer rekonstruierbaren Urform, die J Stabilität mündl. tradierter Erzählungen sowie die Wandertheorie, die bes. auch im Kontext von mündl. versus schriftl. Verbreitung disku-
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tiert wurde (J Schriftlichkeit)10. Die Adäquatheit der W. selbst wurde vor allem im Zusammenhang mit der großräumigen, sporadischen oder partiellen Verbreitung von Erzählgut hinterfragt11. Im ZA. moderner Medien ist die geogr. Verbreitung von Erzählstoffen, in denen direkte Kommunikation eine weniger zentrale Rolle spielt, mit Konzeptionen wie denen der W. nur noch bedingt und bestenfalls mittelbar zu verbinden. 1 z. B. Wölfflin, H.: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Mü. 1915. ⫺ 2 z. B. Scherer, W.: Geschichte der dt. Lit. B. 141920, 723; cf. Grohnert, D.: Wilhelm Scherers ,W.‘ oder wie man Lit.geschichte in ein System zwingen kann. In: Germanistisches Jb. 178,4 (1998) 19⫺34. ⫺ 3 Elliott, R. N.: The Wave Principle. Cincinnati 1963. ⫺ 4 Paul, H.: Prinzipien der Sprachgeschichte. Halle 41909, 42⫺44; Gabelentz, G. von der: Die Sprachwiss. Lpz. 21901, 163⫺165; Schmidt, J.: Verwandtschaftsverhältnisse der idg. Sprachen. Weimar 1872; Höfler, O.: Stammbaumtheorie, W., Entfaltungstheorie. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 77 (1955) 30⫺66; 78 (1958) 424⫺476; cf. Frings, T./Linke, E.: Ingwäon. Wellen, dt. Wellen, W. ibid., 81,1⫺2 (1959) 248⫺262. ⫺ 5 Anderson, W.: Kaiser und Abt. Die Geschichte eines Schwanks (FFC 42). Hels. 1923, 402 sq. (not. 1, p. 403). ⫺ 6 Krohn, K.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo u. a. 1926, 143 (spricht vom ,Bild‘ des Spiels der Wellen ohne Bezug zur konkreten Verbreitung von Erzählungen). ⫺ 7 Anderson, W.: Geogr.-hist. Methode. In: HDM 2 (1938⫺40) 508⫺ 522, hier 519. ⫺ 8 ibid., 517 sq. ⫺ 9 Krohn (wie not. 6) 132 sq.; cf. auch Anderson, W.: Zu Albert Wesselski’s Angriffen auf die finn. folkloristische Forschungsmethode. Tartu 1935, 16 (Bild der Zielscheibe, um Konzept der Urheimat zu plausibilisieren). ⫺ 10 cf. bes. Wesselski, Theorie des Märchens, 144⫺178. ⫺ 11 Ranke, K.: Die Welt der einfachen Formen. B./ N. Y. 1978, 42 sq.; Lüthi, Märchen, 70 sq.
Göttingen
Doris Boden
Wellerismus 1. Forschungsstand ⫺ 2. Anwendung, Klassifikation und Funktion ⫺ 3. W. und Volkserzählung
1 . For sc hu ng ss ta nd. W. ist die internat. etablierte Bezeichnung für das sog. Sagwort1. Es handelt sich um eine Sonderform des J Sprichworts, die sich durch eine deutlich triadische Struktur auszeichnet: Zum W. gehören ein Ausspruch (oft ein Sprichwort), ein Spre-
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Wellerismus
cher und eine Situation, die alles auf eine witzige J Pointe bringt: „,Aller Anfang ist schwer‘, sagte der Dieb, da stahl er fürs erste einen Amboß.“ Unters.en zu dieser Sprichwortgattung gibt es für verschiedene Sprach- und Kulturgebiete Europas2 wie auch für außereurop. Gebiete. Vergleichend ausgerichtete Forschungen sind selten. Neben umfassenden Forschungsberichten3 weisen auch neuere Lexika und Enz.n zur Vk. und zu J Einfachen Formen kurze Beitr.e zu Sagwörtern auf 4. Die Verbreitung der Bezeichnung W. auf internat. Ebene ist vor allem A. J Taylor zu verdanken. Sein Abriß zum W. ist bis heute von Bedeutung5. Taylors Gattungsbezeichnung geht auf einen Vortrag des Berliner Philologen M. Haupt (1868) zurück. Dieser hatte festgestellt, daß sich in Charles Dickens’ Pickwick Papers (1836) ein gewisser Samuel Weller solcher Sagwörter bedient6. Zu Wellers Aussprüchen gehört z. B.: „,If I do see your drift, it’s my ’pinion that you’re comin’ it a great deal too strong‘, as the mail-coachman said to the snowstorm, ven it overtook him“7. Die Figur Wellers wurde im 19. Jh. überaus beliebt8.
Bereits 1864 veröffentlichte K. F. W. J Wander den knappen, aber wegweisenden Beitr. über Das apologische oder Beispielssprichwort9. Sein fünfbändiges Dt. Sprichwörter-Lex. (1867⫺ 80) enthält wohl die größte Slg von Wellerismen überhaupt. F. Seiler definierte das Sagwort 1924 als aus „zwei Gliedern bestehend […], deren eines eine Handlung oder ein Erlebnis angibt, das andere ein dazu gesprochenes Wort“, wobei die Bemerkung das Tun oder Erleben von einer unerwarteten Seite zeige10. Seiler spricht allerdings nur von zwei Gliedern, obwohl gängige Sagwörter eine triadische Struktur aufweisen11. L. J Röhrich und W. J Mieder definieren das Sagwort mit Hinweis auf die verschiedensten dt. Bezeichnungen: „Für d[ies]en Formtypus […] gibt es zahlreiche Bezeichnungen und Begriffe: Sagwort, Sagte-Sprichwort, Beispielsprichwort, apologisches oder apologetisches Sprichwort, Anekdotenspruch, Schwankspruch, Zitatensprichwort, erweitertes oder erzählendes Sprichwort. […] Im Regelfall besteht ein W. aus drei Teilen, dem Basis-Sprichwort (Ausspruch, Zitat etc.), dem Mittelteil, in dem der Sprecher dieses Ausspruchs eingeführt wird, und dem Schlußteil, der die Situation angibt, in der das Wort gesprochen wird. […] Diese Grundform kann zu einer Kurzform schrumpfen [ohne den dritten Teil] oder auch zu
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Doppelformen oder Reimformen erweitert werden. Durch die Kombination mehrerer Wellerismen entstehen mitunter ganze apologische Sprichwortgeschichten.“12
Sagwörter sind bereits auf den in Keilschrift verfaßten Tafeln der sumer. Lit. enthalten13. Neuerdings entdeckte C. Grandl altägypt. Wellerismen aus dem 6.⫺5. Jh. a. Chr. n.14 Aus der Antike sind zahlreiche Wellerismen überliefert. Diese griech. und lat. Texte traten z. T. schon im MA. und zur Zeit des Humanismus als Lehnsagwörter auf und trugen zur Verbreitung von Wellerismen in den europ. Volkssprachen bei15. Im 19. Jh. kam es zu einer regelrechten Modewelle von Wellerismen in Unterhaltungsjournalen (auch in Nordamerika), die traditionelle Sprichwörter, aber auch neugeprägte Antisprichwörter in Sagwortform bekannt machten. Für europ. Sprachen liegen verschiedene Slgen vor, und bes. für das Deutsche schließen diese z. T. auch das Belegmaterial aus Mundartwörterbüchern und Werken von Dialektschriftstellern ein16. D. Rehbein listet in der Slg Spaß muß sein, sagte der Kater […] Sagwörter aus europ. Sprachen (Lpz. 1990) nach Sachgruppen Texte aus den germ. Sprachen17 sowie aus dem Irischen18 und Finnischen19 in dt. Sprache auf. Parömiologen und Erzählforscher haben gezeigt, daß Sagwörter, wenn auch nicht so zahlreich, auch in den rom. Sprachen begegnen20. Dasselbe gilt für die slav. Sprachen, obwohl hier noch viel Forschungsarbeit zu leisten wäre21. Auch zum Nahen Osten22 und Afrika liegen inzwischen Studien vor23. 2 . Anw en du ng , K la ss if ik at io n u nd Fun kt io n. In den größeren Slgen werden Wellerismen auf verschiedene Art angeordnet: alphabetisch nach dem Hauptsubstantiv im ersten Teil, nach dem Sprecher des mittleren Teils und schließlich auch nach Themenbereichen. W. Hofmann und S. J Neumann haben ihr rhein. bzw. mecklenburg. Material bes. überzeugend organisiert, indem sie es nach den Sagpersonen (d. h. den Sprechern im Sagwort) aufgeteilt und diese dann nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengefaßt haben24. Daraus ergibt sich, daß Sagwörter folgende Bereiche betreffen: Landwirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Rechtswesen, Geschlecht, Familie, Behinderte und Tiere. So wird das
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Wellerismus
Menschsein schlechthin auf die Schippe genommen, wobei der W. sowohl der Auflockerung des Gesprächs als auch der scharfen Verurteilung oder der spöttischen Kritik dient und auch Ausdruck von Überraschung, Ratlosigkeit oder Schicksalsergebenheit sein kann25. Wie bei Sprichwörtern erhellt der Sinn und Zweck eines Sagworts am besten aus den Kontexten seines Gebrauchs in der mündl. Überlieferung und in literar. Werken. Neumann hat dies z. B. in seiner auf Feldforschung beruhenden Analyse des Sagwortrepertoires eines mecklenburg. Maurers sowie in den Dialektwerken von Fritz Reuter und John Brinckman aufgezeigt26. Im 16. Jh., der sog. Blütezeit des Sprichworts, hat sich auch das Sagwort, im satirischen Eifer der Zeit das Teuflische und Skatalogische einbeziehend, immer mehr durchgesetzt. J Luther, dessen Werke immerhin 22 Wellerismen aufweisen, wandte sich daher gegen dieses sprachliche ,Teufelswerk‘27. Um so mehr setzte der Franziskaner Johannes Nas im Zuge der Gegenreformation Wellerismen als satirisches Kampfmittel ein28. Wellerismen erweisen sich bis heute als Aussagen zu stereotypen kulturellen und auch sexuellen Vorstellungen29. Dies läßt sich bes. gut an den Theaterstücken Bertolt Brechts zeigen. Er zitiert Wellerismen aus der Volksüberlieferung, wobei er diese, seinem Konzept des epischen Theaters entsprechend, verfremdet und (so im Kaukas. Kreidekreis, 1945) mit erfundenen Sagwörtern mischt30. Die Erfindung von Sagwörtern aus polemischen Gründen oder purem Spaß am Sprachspiel ist nichts Neues. Bereits Georg Christoph Lichtenberg hatte im 18. Jh. in seinen aphoristischen Sudelbüchern sowohl tradierte Wellerismen zitiert als auch eigene sagwortartige Texte notiert, wie z. B. die das Sprichwort ,Viele Hunde sind des Hasen Tod‘ umkehrende Formulierung: ,Viel Hasen sind der Hunde Tod, sagte der Oberförster, dem man seinen Hund aus Versehen tod geschossen hatte, weil der Schützen zu viele waren‘.31 Sprachspielerische und auch ironische oder satirische Aphorismen, die von der traditionellen Struktur der Sagwörter ausgehen, lassen sich bei den meisten Aphoristikern bis heute feststellen32. Es überrascht nicht, daß sich gerade das Sagwort unter allen Sonderformen des Sprichworts heute einer Renaissance erfreut.
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In der postmodernen Lit., in Zss., in Witzbüchern und selbst in der J Werbung lassen sie sich finden, wobei sie immer wieder von oft zitierten Sprichwörtern ausgehen, um diese mit innovativen Formulierungen auf witzige Weise als sog. sagwortartige Antisprichwörter in Frage zu stellen33. 3 . W. u nd Vo lk se rz äh lu ng. Schon Bezeichnungen wie Beispielsprichwort, Anekdotenspruch oder Schwankspruch deuten an, daß es sich bei Wellerismen um eine Sprachgattung handelt, die in deutlicher Relation zu Volkserzählungen (auch zu Rätseln) steht. Nicht immer ist jedoch nachweisbar, ob die Erzählung oder das Sagwort der Ausgangspunkt war34. Sicherlich geht das Sagwort ,Die Trauben sind mir zu sauer, sagte der Fuchs, da hingen sie ihm zu hoch‘ auf die äsopische Fabel AaTh/ATU 59: J Fuchs und saure Trauben zurück. Auch das Tiermärchen von Wolf und Fuchs beim Eisfischen (AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer) erscheint als reduziertes Sagwort wieder: „,Merkst du was‘, hat der Fuchs gesagt, als dem Wolf der Schwanz im Eis festgefroren war.“ Den Inhalt von KHM 187, AaTh/ATU 275: cf. J Wettlauf der Tiere gibt in gedrängter Form das Sagwort „,Das kommt auf den Versuch an‘, sagte der Schweinigel zum Hasen“ wieder35. Bes. interessant ist das Verhältnis von Sagwort und Schwank. Zu dem Sprichwort ,Viel Geschrei und wenig Wolle‘ gibt es z. B. das Sagwort „,Viel Geschrei und wenig Wolle‘, sagte der Teufel, dann schor er ein Schwein“ sowie einen Teufelsschwank (AaTh/ATU 1037: J Teufel schert die Sau)36. Die Schwankfigur Till J Eulenspiegel tritt in zahlreichen dt. Wellerismen auf; diese beziehen sich jedoch meist nicht auf die bekannten Eulenspiegelschwänke oder das EulenspiegelVolksbuch von 151537. Sagwörter wie „,Alter geht vor‘, sagte Eulenspiegel, da warf er seine Großmutter die Treppe hinunter“ stellen entweder unabhängig erfundene Mini-Schwänke dar, oder es handelt sich um ein bereits umlaufendes Sagwort, in dem der ursprüngliche Sprecher, im vorliegenden Fall der Teufel, durch Eulenspiegel ersetzt worden ist38. Ausgehend von der Beobachtung, daß längere Erzählformen wie Märchen, Sagen und Schwänke in der Schnellebigkeit der modernen Welt immer mehr zu J Schwundstufen re-
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duziert werden, überrascht es nicht, daß gerade die Sagwortgattung heutzutage an Popularität gewinnt. So tauchen Märchen in reduzierten und witzigen Anspielungsformen wieder auf: „,Aller guten Dinge sind drei‘, sagte der Wolf und nahm den Jäger als Nachspeise“ (AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen) oder „,Wer schläft, sündigt nicht‘, sagte der Prinz und ließ das Dornröschen in der Hecke weiterschlummern“ (AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit)39. 1 cf. Mieder, W.: Internat. Bibliogr. of Paremiology and Phraseology. B./N. Y. 2009; id.: Wellerism Bibliogr. In: id./Kingsbury, S. A.: A Dict. of Wellerisms. N. Y. 1994, 153⫺166; Bausinger, 103 sq.; Tucci, G.: Studie e ricerche sui wellerismi. In: Rivista di etnografia (Neapel) 20 (1966) 109⫺121; id.: Saggio sul wellerismo. Storia ⫺ nome e definizione ⫺ forma e classificazione. In: Revista de etnografia (Lima) 11,2 (1968) 293⫺316; Leino, P.: Comments [on Wellerisms]. In: Proverbium 9 (1967) 196 sq.; Pettenati, G.: Per la definizione del wellerismo. In: Problemi 9 (1968) 423⫺425; Swierczyn´ska, D.: O kilku gatunkach przysłow. Welweryzmy, dialogi, priamele (Zu einigen Sprichwortgattungen. Wellerismen, Dialoge, Spottgedichte). In: Literatura ludowa 18 (1974) 29⫺35; Permjakov, G. L.: From Proverb to Folk-Tale. Notes on the General Theory of Cliche´. M. 1979, 140 sq., 148 sq.; Bykova, A. A.: Semioticˇeskaja struktura velerizmov (Die semiotische Struktur der Wellerismen). In: Paremiologicˇeskie issledovanija. ed. G. L. Permjakov. M. 1988, 332⫺ 356. ⫺ 2 Seiler, F.: Das dt. Sagwort und anderes. (Halle 1924) Nachdr. ed. W. Mieder. Hildesheim 2007; Hofmann, W.: Das rhein. Sagwort. Siegburg 1959; Mieder/Kingsbury (wie not. 1); Neumann, S.: Sprichwörtliches aus Mecklenburg. Anekdotensprüche, Antisprichwörter, apologische Sprichwörter, Beispielsprichwörter, erzählende Sprichwörter, SagteSprichwörter, Sagwörter, Schwanksprüche, Wellerismen, Zitatensprichwörter. Göttingen 1996; Williams, F. C.: Wellerisms in Ireland. Towards a Corpus from Oral and Literary Sources. Burlington 2002; Cox, H. L./Kooi, J. van der: Alle beetjes helpen. Nederlandse, Friese en Vlaamse wellerismen. Groningen 2007; iid.: Wellerismen als Reduktionsstufe von Erzähltypen. In: Bilder ⫺ Sachen ⫺ Mentalitäten. Festschr. W. Brückner. Regensburg 2010, 241⫺254; Cox, H. L.: „Tes quaet water sprac die reigher ende en conde niet zwemmen“. Mittellat. Wellerismen und ihre Entsprechungen in den ältesten fläm., ndl. und fries. Slgen des 15. bis 18. Jh.s. In: Toplore. Festschr. S. Top. Trier 2006, 39⫺46; id.: Wellerismen als Spiegel des Fremd- und Selbstbildes in Flandern, Friesland und den Niederlanden. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 52 (2007) 233⫺247; Kooi, J. van der: Wellerismen in Friesland. In: Northern Voices. Festschr. T. Ofstra. Leiden/P./Dudley, Mass. 2008, 203⫺227. ⫺
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3 Neumann, S.: Aspekte der Wellerismen-Forschung. In: Proverbium 6 (1966) 131⫺137; Jacob, A.: Wellerismen-Forschung. ibid. 16 (1971) 595. ⫺ 4 Taylor, A.: Wellerisms. In: StandDict. 2, 1169 sq.; Grzybek, P.: Wellerism. In: Simple Forms. An Enc. of Simple Text-types in Lore and Literature. ed. W. A. Koch. Bochum 1994, 286⫺292; Caro, F. A. de: Wellerism. In: Folklore. An Enc. […] 2. ed. T. A. Green. Santa Barbara u. a. 1997, 839; Mieder, W.: Wellerisms. In: Enc. of Folklore and Literature. ed. M. E. Brown/ B. A. Rosenberg. Santa Barbara u. a. 1998, 695⫺ 697. ⫺ 5 Taylor, A.: The Proverb. Cambr., Mass. 1931, 200⫺220; cf. ferner id.: Locutions for „Never“. In: Romance Philology 2 (1949) 103⫺134, hier 105 (not. 7); id.: A Bibliographical Note on Wellerisms. In: JAFL 65 (1952) 420 sq. ⫺ 6 id. 1931 (wie not. 5) 201; Haupt, M.: Opuscula 2. Lpz. 1874, 405. ⫺ 7 Bede, C.: Sam Vale and Sam Weller. In: Notes and Queries 6,5 (1882) 326, 388 sq.; Kent, C.: Wellerisms from „Pickwick“ and „Master Humphrey’s Clock“. L. 1886; Shaw, G. B.: Wellerisms. In: Shaw on Dickens. ed. D. H. Laurence/M. Quinn. N. Y. 1985, 2⫺4; Bailey, W. H.: Wellerisms and Wit. In: The Dickensian 1 (1905) 31⫺34; Stewart, G.: Dickens and the Trials of Imagination. Cambr., Mass. 1974, 55⫺85; Baer, F. E.: Wellerisms in „The Pickwick Papers“. In: FL 94 (1983) 173⫺183; Bryan, G. B./Mieder, W.: The Proverbial Charles Dickens. An Index to Proverbs in the Works of Charles Dickens. N. Y. 1997; Gwyndaf, R.: Iaith ar waith: Charles Dickens, Sam Weller a wellerebion cymraeg (Language in Action: Charles Dickens, Sam Weller, and Welsh Wellerisms). In: Llafargwlad 79 (2003) 8 sq. ⫺ 8 McGowan, M. T.: Pickwick and the Pirates. A Study of Some Early Imitations, Dramatisations and Plagiarisms of „Pickwick Papers“. Diss. L. 1975, 284⫺296; Bryan, G. B./Mieder, W.: „As Sam Weller Said, When Finding Himself on the Stage“. Wellerisms in Dramatizations of Charles Dickens’ „Pickwick Papers“. In: Proverbium 11 (1994) 57⫺76. ⫺ 9 Wander, K. F. W.: Das apologische oder Beispielssprichwort. In: Bll. für literar. Unterhaltung 8 (18.2.1864) 148 sq. ⫺ 10 Seiler (wie not. 2); cf. id.: Dt. Sprichwörterkunde. Mü. 1922, 429 sq. ⫺ 11 Hain, M.: Das Sprichwort. In: Ergebnisse der Sprichwörterforschung. ed. W. Mieder. Bern 1978, 13⫺25, hier 18. ⫺ 12 Röhrich, L./Mieder, W.: Sprichwort. Stg. 1977, 11. ⫺ 13 Alster, B.: Paradoxical Proverbs and Satire in Sumerian Literature. In: J. of Cuneiform Studies 27 (1975) 201⫺230, hier 211⫺ 213; id.: Proverbs from Ancient Mesopotamia. In: Proverbium 10 (1993) 12. ⫺ 14 Grandl, C.: Altägypt. Wellerismen in der Lehre des Chascheschonqi. In: Enchoria. Zs. für Demotistik und Koptologie (im Druck). ⫺ 15 Rupprecht, K.: Paroimia. In: Pauly/ Wissowa 18,4 (1949) 1707⫺1735, hier 1709 sq.; Seiler 1924 (wie not. 2) 5⫺7. ⫺ 16 Hoefer, E.: Wie das Volk spricht. (Stg. 1855) Nachdr. ed. W. Mieder. Hildesheim 1995; Kunze, H.: Irren ist menschlich, sagte der Igel […]. B. 1973; Büld, H.: Ndd. Schwanksprüche zwischen Ems und Issel. Münster 1981; Simon,
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Wellerismus
I.: Sagwörter. Münster 1988; Rehbein, D.: Viel Geschrei und wenig Wolle. B. 1991; Neumann, S.: Vergnügliches aus Mecklenburg. Rostock 22006; cf. Bartels, P.: Das apologische Sprichwort im Ndd. und Dän. In: Ndd. Zs. für Vk. 8 (1930) 223⫺250; Singer, S.: Schweiz. Sagsprichwörter. In: SAVk. 38 (1941) 129⫺139; ibid. 39 (1941/42) 137⫺139. ⫺ 17 cf. Whiting, B. J.: A Handful of Recent Wellerisms. In: ArchfNSprLit. 169 (1936) 71⫺75; Loomis, C. G.: Traditional American Word Play: Wellerisms or Yankeeisms. In: WF 8 (1949) 1⫺21; Mieder, W.: American Proverbs. A Study of Texts and Contexts. Bern 1989, 223⫺238; Kjaer, I.: Wellerisms in Earlier Danish Tradition. In: Proverbium 16 (1971) 579⫺582; Pearson, L.: Feeding Pork to the Pig. Swedish Proverbs and Wellerisms. In: North Dakota Quart. 63,2 (1996) 90⫺103, hier 90⫺97; Whiting, B. J.: The Earliest Recorded English Wellerism. In: Philological Quart. 15 (1936) 310 sq.; Kruyskamp, C.: Apologische spreekwoorden. Den Haag 1947. ⫺ 18 Williams, F. C.: Quotation Proverbs in Ireland. In: Northern Lights. Festschr. B. Almqvist. Dublin 2001, 9⫺21; ead. (wie not. 2). ⫺ 19 Kuusi, M.: Sananlaskut ja puheenparret (Sprichwörter und Redewendungen). Hels. 1954, 143⫺146; Järviö-Nieminen, I.: Suomalaiset sanomukset (Finn. Wellerismen). Hels. 1959; Laukkanen, K.: Savolainen pirusanomus (Der Teufelsw. in Saavo). In: Kotiseutu (1961) 178⫺183. ⫺ 20 Gennep, A. van: Welle´rismes franc¸ais. In: Mercure de France 248 (15.12.1933) 700⫺704; ibid. 253 (1.7.1934) 209⫺215; Corso, R.: Wellerismi italiani. In: Folklore (Neapel) 2 (1947⫺48) 3⫺26; Di Mino, C.: Wellerismi, distici o motti? ibid. 3 (1948) 20⫺40; Speroni, C.: The Italian Wellerism to the End of the Seventeenth Century. Berk. u. a. 1953; Tucci, G.: Inchiesta sui wellerismi della Campania. In: Rivista di etnografia 16 (1962) 3⫺51; ibid. 17 (1963) 3⫺50; Jacob, A.: Quelques Remarques sur les „Wellerismi italiani“ ou „comme-dit“. In: Folklore brabanc¸on 170 (1966) 225⫺230; Russo, A.: Gli studi sul wellerismo in Italia. In: Archivio per l’antropologia e l’etnologia 97 (1967) 101⫺107; Chaves, L.: Velerismos. In: Revista de etnografı´a (Lima) 7,1 (1966) 67⫺85; Sa´nchez y Escribano, F.: Dialogismos paremiolo´gicos castellanos. In: Revista de filologı´a espan˜ola 23 (1936) 275⫺291; Taylor, A.: Wellerisms in Colombia. In: WF 8,3 (1949) 266 sq.; Orero, P.: Spanish Wellerism. In: Proverbium 15 (1998) 235⫺242. ⫺ 21 Permjakov (wie not. 1); Bykova (wie not. 1). ⫺ 22 Alster (wie not. 13); Grandl (wie not. 14). ⫺ 23 Dundes, A.: Some Yoruba Wellerisms, Dialogues, Proverbs, and Tongue-Twisters. In: FL 75 (1964) 113⫺120; Rodegem, F. M.: Une Forme d’humour contestataire au Burundi: les welle´rismes. In: Cahiers d’e´tudes africaines 14 (1974) 521⫺542; Ojoade, J. O.: Some Ilaje Wellerisms. In: FL 91 (1980) 63⫺ 71; Emenanjo, E. N.: Are Igbo Wellerisms Proverbs? In: Anu. J. of Igbo Culture 5 (1989) 62⫺77; Opata, D. U.: Characterization in Animal-Derived Wellerisms. Some Selected Igbo Examples. In: Proverbium 7 (1990) 217⫺231. ⫺ 24 Hofmann (wie not. 2);
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Neumann (wie not. 2). ⫺ 25 Hofmann (wie not. 2) 190. ⫺ 26 Neumann, S.: „Dat seggt man, wenn …“. Sagwörter im Munde eines alten mecklenburg. Maurers. In: Kikut. Plattdütsch gistern un hüt 12 (1987) 55⫺61; id.: Das Sagwort in Mecklenburg um die Mitte des 19. Jh.s im Spiegel der Mundartdichtungen Reuters und Brinckmanns. In: DJbfVk. 12 (1966) 50⫺66; id.: Mündl. Erzählen und Mundartlit. Rostock 2002, 35⫺40; cf. auch Simon, I.: Sagwörter im plattdt. Werk Augustin Wibbelts. In: Jb. der Augustin Wibbelt-Ges. 5 (1989) 24⫺45; Hartig, J.: Sagund Sprichwörter im Prosawerk Klaus Groths. In: Ndd. Wort 35 (1995) 85⫺103. ⫺ 27 Cornette, J. C.: Proverbs and Proverbial Expressions in the German Works of Martin Luther. (Diss. Chapel Hill 1942) ed. W. Mieder/D. Racette. Bern 1997, 231⫺235; id.: Luther’s Attitude toward Wellerisms. In: SFQ 9 (1945) 127⫺144; Moser, D.-R.: Die wellt wil meister klueglin bleiben … Martin Luther und das dt. Sprichwort. In: Muttersprache 90 (1980) 151⫺166. ⫺ 28 Nelson, T.: „O du armer Luther“. Sprichwörtliches in der antilutherischen Polemik des Johannes Nas (1534⫺1590). Bern u. a. 1992, 141⫺153. ⫺ 29 Tucci, G.: Valore dei wellerismi nello studio della cultura popolare. In: La religiosita` popolare nella Valle Padana. Florenz 1966, 419⫺430; Mieder, W.: Sexual Content of German Wellerisms. In: Maledicta 6 (1982) 215⫺223. ⫺ 30 Mieder, W.: Der Mensch denkt: Gott lenkt ⫺ keine Red davon! Sprichwörtliche Verfremdungen im Werk Bertolt Brechts. Bern u. a. 1998, 139⫺175, hier 157 sq. ⫺ 31 id. (ed.): Sprichwörtliche Aphorismen. Von Georg Christoph Lichtenberg bis Elazar Benyoe¨tz. Wien 1999, 34 sq. ⫺ 32 cf. id.: „Ehrlich währt am kürzesten“: Phrasenkritik durch Antisprichwörter im 19. Jh. In: Kritik und Phrase. Festschr. W. Eismann. Wien 2007, 781⫺799 (zu Moritz Gottlieb Saphir, Karl Kraus, Elias Canetti, Gabriel Laub, Werner Mitsch und Gerhard Uhlenbruck). ⫺ 33 Röhrich, L.: Gebärde ⫺ Metapher ⫺ Parodie. Düsseldorf 1967, 192⫺195; Mieder, W.: Das Sprichwort in unserer Zeit. Frauenfeld 1975, 23⫺30; id.: Verdrehte Weisheiten. Antisprichwörter aus Lit. und Medien. Wiesbaden 1998; id.: Aphoristische Sagwörter aus Lit. und Medien. In: Homo narrans. Festschr. S. Neumann. Münster 1999, 223⫺250; Litovkina, A. T. u. a.: Most Frequent Types of Alteration in Anglo-American, German, French, Russian and Hungarian AntiProverbs. In: Acta Ethnographica Hungarica 52 (2007) 47⫺103, hier 69 sq. ⫺ 34 Seiler 1922 (wie not. 10) 429⫺431; Halpert, H.: Folktale and „Wellerism“. In: SFQ 7 (1943) 75 sq.; Röhrich, L.: Sprichwörtliche Redensarten aus Volkserzählungen. In: Volk, Sprache, Dichtung. Festschr. K. Wagner. Gießen 1960, 247⫺275, hier 248⫺250; Cray, E.: Wellerisms in Riddle Form. In: WF 23 (1964) 114⫺116; Loukatos, D.: Welle´rismes „latents“. In: Proverbium 9 (1967) 193⫺196; ibid. 20 (1972) 759; Cirese, A. M.: Welle´rismes et micro-re´cits. ibid. 14 (1969) 384⫺ 390. ⫺ 35 cf. Röhrich (wie not. 34) 249, 271. ⫺ 36 Neumann, S.: Sagworte im Schwank ⫺ Schwank-
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Weltanschauung, Weltbild
stoffe im Sagwort. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 249⫺266; id.: Sagwort und Schwank. In: Leˇtopis (Reihe C) 11⫺12 (1968/ 69) 147⫺158; id. (wie not. 2) 12⫺15; cf. auch Meyer, A.: Rund um das Sprichwort: „Viel Geschrei und wenig Wolle!“ In: SAVk. 41 (1944) 37⫺42. ⫺ 37 cf. Debus, O.: Till Eulenspiegel in der dt. Volksüberlieferung. Diss. (masch.) Marburg 1951, 87⫺96, 313⫺ 339; Hofmann (wie not. 2) 159⫺164; Neumann (wie not. 2) 188⫺191. ⫺ 38 Taylor, A.: The Use of Proper Names in Wellerisms and Folk Tales. In: WF 18 (1959) 287⫺293; Mieder, W.: „Eulenspiegel macht seine Mitbürger durch Schaden klug“. Sprichwörtliches im „Dil Ulenspiegel“ von 1515. In: Eulenspiegel-Jb. 29 (1989) 27⫺50. ⫺ 39 id.: Aphoristische Schwundstufen des Märchens. In: Dona Folcloristica. Festschr. L. Röhrich. Ffm. u. a. 1990, 159⫺ 171; id.: „Märchen haben kurze Beine“. Moderne Märchenreminiszenzen in Lit., Medien und Karikaturen. Wien 2009.
Burlington
Wolfgang Mieder
Weltanschauung, Weltbild, Bezeichnungen, die sich auf Bild, Begriff, Wahrnehmung oder grundsätzliche Annahmen und Vorstellungen beziehen, die Individuen bzw. Gruppen (u. a. ethnische, kulturelle, religiöse, nationale Gemeinschaften) sowie Angehörige von Institutionen, geistigen Bewegungen oder wiss. Fachrichtungen von der Welt (W.) oder dem Kosmos (J Schöpfung) haben. Sowohl umgangssprachlich als auch in wiss. Kontexten werden die Begriffe oft synonym gebraucht1; darüber hinaus finden zahlreiche ähnliche Bezeichnungen wie W.schau2, W.sicht3, W.ansicht4, W.ordnung5, W.deutung6, W.modell7 und W.vorstellung8 Verwendung (cf. auch J W.haltigkeit). Alle diese Bezeichnungen umfassen ein weites Bedeutungsspektrum und weisen im Diskurs zahlreicher Disziplinen wie Philologie, Theologie, Psychologie, Wiss.sgeschichte, Anthropologie, Ethnologie, Kunstgeschichte oder Lit.und Kulturwissenschaften eine unterschiedliche Spannweite auf; das gilt auch für die volkskundliche Erzählforschung. Im allg. bezieht sich der Terminus W.anschauung auf eine sensorische oder subjektive Wahrnehmung der W. oder auf eine umfassende Auffassung von Gott, von der Natur und vom Menschen9. Im Gegensatz zu diesem, im wesentlichen epistemologischen Verständnis von W.anschauung wird W.bild tendenziell als eine Form der Vorstellung aufgefaßt und
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meint eine symbolische Darstellung oder ein begriffliches Bild der W.10 Z. B. kann W.bild sich auf eine hist. definierte kosmologische oder geogr. Auffassung der W. beziehen11 ⫺ d. h. auf eine Konzeptualisierung oder ein Bild der räumlichen Ordnung (J Raumvorstellung) und der zeitlichen Vorgänge (J Zeitbegriff) in W. und Kosmos12. Während W.bild also synonym mit Kosmologie gebraucht werden kann, gilt dasselbe nicht für W.anschauung13. Hist. nachgewiesen ist das Wort W.anschauung erstmals in Kants Kritik der Urteilskraft (1790)14; dort bedeutet es eine Wahrnehmung der W. auf der Grundlage der sensorischen oder empirischen Erfahrung eines Individuums. In der Zeit des dt. phil. Idealismus und der dt. Romantik, in der die Rolle der Subjektivität im W.erleben des einzelnen nachdrücklich geltend gemacht wurde, übernahmen andere dt. Philosophen wie Schleiermacher, Schelling, Hegel oder Schopenhauer und Schriftsteller wie J Goethe, J Novalis und Jean Paul Kants Terminus15. Der dt. Terminus W.anschauung erlangte eine so weite Verbreitung, daß er als Lehnübersetzung (z. B. engl. world view, world outlook) wie auch als Lehnwort in andere Sprachen einging16. Nach Kant bezog sich W.anschauung auf ,eine geistige Auffassung des Universums‘17 aus der Perspektive eines menschlichen Individuums. Die Betonung der Subjektivität der individuellen Erfahrung durch die Romantik wurde jedoch durch eine ebenso starke Betonung der kollektiven Erfahrung und der Identität des Volks ergänzt. Angeregt durch die Schriften J Herders, den romantischen Nationalismus (J Nation; J Patriotismus) und den Glauben an den einenden Volksgeist, hatten Volkskundler bzw. Germanisten der ersten Stunde wie J. von J Görres und J. J Grimm im frühen 19. Jh. ihre Aufmerksamkeit vom Individuum sowie der Idee der Dichtung als einer Form des subjektiven Ausdrucks abgewandt und favorisierten die Idee der Dichtung als eines kollektiven Ausdrucks des Volks (J Kollektivität, Kollektivbewußtsein; J Naturpoesie). In diesem Zusammenhang war die Bedeutung von W.anschauung nicht auf die Bezeichnung der subjektiven Auffassung des Universums durch den einzelnen beschränkt, sondern erweiternd auf die einer bestimmten Gemeinschaft gemeinsame Sicht der W. bezogen. Im
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Weltanschauung, Weltbild
Nachwort zu seiner Ausg. dt. J Volksbücher bemerkte Görres etwa, daß diese Werke Einsichten in die gemeinsame W.anschauung des Volks böten, die es sich als ein kulturell und hist. bestimmtes Merkmal gebildet hätte18. Auf die Vk. und die Erzählforschung zeigte die romantische und postromantische Entwicklung des Begriffs W.anschauung und im folgenden sein Gebrauch in den kultur- und literaturwiss. Disziplinen bes. starke Wirkung; die im wesentlichen interpretierenden Fächer suchen danach, wie die W.anschauung von Einzelpersonen oder Gruppen in Texten und anderen kulturellen Artefakten Ausdruck findet. Dieses hermeneutische Unterfangen erhielt auch durch den Philosophen W. Dilthey (1833⫺1911) Nahrung, dessen Historizismus und Verständnis der Dichtung als bes. wirksame Ausdrucksform der W.anschauung19 auf viele Arten des in den Geisteswissenschaften untersuchten individuellen und kulturellen Ausdrucks angewandt werden konnten (cf. J Autobiographie). Diltheys hermeneutische Theorien und sein W.anschauungsbegriff spielten u. a. eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Lit.interpretation im 20. Jh. In der breiteren Anwendung des Terminus war W.anschauung allerdings letztendlich nicht allein in Zusammenhang mit Schriftkulturen und Eliteliteratur zu sehen. Nach dem Anthropologen und Soziologen C. Kluckhohn (1905⫺60) gab und gibt es in jeder bekannten Kultur Spekulationen und Überlegungen zum Wesen des Universums und zum Platz des Menschen im Gesamtentwurf der Dinge20. Ähnlich, allerdings mit Betonung des Einflusses der Kultur auf die W.sicht des einzelnen, wies der Anthropologe B. K. J Malinowski darauf hin, daß jede menschliche Kultur ihren Mitgliedern eine bestimmte W.sicht mitgebe21. Im Geist von Herder, Görres und den Brüdern J Grimm wurden mündl. Überlieferung und populäre Drucke für die Volkskundler als Ausdruck von W.anschauung ebenso wertvoll wie die Lit. der Elite für Lit.wissenschaftler. Entsprechend kam es dazu, daß in der Volkserzählungs- und der Märchenforschung sowohl Volksmärchen als auch Buchmärchen als Gattungen betrachtet wurden, in denen individuelle wie kollektive W.anschauungen ausgedrückt und vermittelt werden können, sowohl
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unbewußt als auch verbunden mit einer bewußten sozialen (J Sozialkritik)22 oder pädagogischen Zielrichtung (J Pädagogik)23. Obwohl Einigkeit darüber herrscht, daß Volkserzählungen W.anschauungen enthalten und vermitteln, besteht bei den unterschiedlichen Disziplinen keine Übereinstimmung über deren konstituierende Elemente. In der Forschung wird vielfach auf die frustrierende Diversität der Terminologie und Kategorien hingewiesen, die mit der Idee der W.anschauung verbunden sind24; zu nennen wären z. B. ,verbreitete Überzeugungen und Haltungen‘25, ,allg. und dauerhafte Auffassungen‘26, ,grundlegende Themen oder Muster‘27, Ethos (J Ethik), ,Wertesystem‘28, ,stillschweigende Annahmen‘29, ,Grundvoraussetzungen‘30, ,kulturelle Axiome‘31 oder ,existentielle Postulate‘32. Darüber hinaus ist unklar, inwieweit sich W.anschauung mit Konzepten wie Nationalcharakter, Mentalität33 oder Ideologie (J Ideologisierung) überschneidet oder von diesen unterscheidet34. Angesichts dieser Sachlage betrachtete A. J Dundes den Begriff der W.anschauung als zu vage und diffus, um für die Folkloristik nutzbar zu sein35. Um eine brauchbare analytische Kategorie zur Unters. von W.anschauung zu entwickeln, plädierte Dundes für die Verwendung von ,Ideen des Volks als Einheiten von W.anschauung‘36. Nach seiner Definition sind ,Ideen des Volks‘ traditionelle Auffassungen einer Gruppe über die menschliche Natur, die W. und das Leben des Menschen in der W.37 Ähnlich wie die von Kluckhohn bei den Navaho dokumentierten ,stillschweigenden Annahmen‘38 sind ,Ideen des Volks‘ für Dundes Grundvoraussetzungen, die das Wesen des Menschen, der Gesellschaft und der W. betreffen und die oft nicht bewußt erkannt oder zum Ausdruck gebracht werden39. Für die Erzähl- und Märchenforschung sind die Termini W.anschauung und W.bild ⫺ selbst wenn sie meist ohne spezielle theoretische Basis oder nuancierte Definition gebraucht wurden ⫺ dennoch nützlich. Sowohl bei der Unters. des mündl. J Repertoires einzelner J Erzähler zum Verständnis ihrer W.sicht40 als auch bei der Überprüfung umfassenderer Erzählkorpora zur Unterscheidung der ,einigenden Züge‘41 einer bestimmten Kultur stützten sich Erzählforscher auf die Termini W.an-
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Weltanschauung, Weltbild
schauung und W.bild. In seiner Unters. des W.bilds eines ostpreuß. Erzählers versuchte H. U. Sareyko, „den Erzähler selbst zu bestimmen und sein Weltbild nachzuzeichnen, wie es aus den ihm zugehörenden Märchen hervorleuchtet“42. In diesem Fall ist das individuelle W.bild des Erzählers durch seine Sicht der sozialen Beziehungen, seine ethischen Begriffe und seine Auffassung der Beziehung der Menschheit zur metaphysischen W. definiert43. Bei seiner Analyse des mündl. Repertoires der karel. Erzählerin Marina Takalo berücksichtigte J. J Pentikäinen sowohl kulturelle als auch persönliche Einflüsse bei der Prägung ihrer W.anschauung, die durch einen fatalistischen und rationalistischen Bezugsrahmen definiert ist44. Pentikäinen fand in Takalos Repertoire sogar eine spezielle Kategorie der Volkserzählung, die er als W.anschauungserzählung bezeichnete45. Nach L. J De´gh manifestiert sich die W.anschauung ohne gattungsmäßige Präferenz in allen Erzählungen eines einzelnen oder einer Gemeinschaft: nur das vollständige, in sich verbundene Material könne ein echtes Bild der überkommenen Weisheit und W.anschauung vermitteln46. M. J Lüthi wies darauf hin, daß das europ. Volksmärchen als Gattung ein kohärentes Menschen- und W.bild vermittle, das nicht nur eine Funktion von Form und Inhalt dieser Texte, sondern auch von Natur und Wesen der menschlichen Existenz sei47. Andere Erzählgattungen wie Sage und Schwankmärchen böten ergänzende Sichtweisen von Mensch und W.anschauung48. Wenngleich Lüthi zugibt, daß Erzähler die Freiheit besitzen, traditionelle Erzählungen nach ihren jeweiligen Vorstellungen zu verändern, bestimme doch die Gattung eine spezielle Sicht des Menschen und der W., in der er lebt. Zahlreiche Erzählforscher haben sich der Unters. der W.anschauung in einer Vielzahl von Gattungen gewidmet, u. a. in der Erzählung persönlicher Erlebnisse49, in Schwank50, Legende51, Exemplum52, epischer Dichtung53 und Glaubenssage54. Der 10. Kongreß der Internat. Soc. for Folk Narrative Research in Innsbruck (1992) stand unter dem Motto „Folk Narrative and World View“55. A. J Lehmanns Ansatz der Erzählforschung als Bewußtseinsforschung zielt auf Erkenntnisse bezüglich der W.anschauung und W.sicht der
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Menschen56. Tendenziell mit Vorsicht nähern sich kritische Theorie, Feminismus, Postmodernismus und Kulturwissenschaften, die sich ebenfalls für implizite J Normen, Werte, Überzeugungen, stillschweigende Annahmen und Grundvoraussetzungen in Erzählungen interessieren, der W.anschauung als institutionalisiertem Komplex von Werten wie als nicht reflektierendem Terminus. Für die Zwecke sozialhist. und sozialpolitischer Kritik, die untergründige Machtstrukturen in der W.anschauung von Erzählungen aufdecken will, war Ideologie der nützlichere Terminus (cf. Ideologisierung)57. DWb. 28 (1955) 1531 sq. ⫺ 2 Sitte, E.: Vom W.bilde des Volksmärchens. In: Der Deutschunterricht 8,6 (1956) 17⫺36, hier 30. ⫺ 3 ibid., 17; Gurjewitsch, A. J.: Das W.bild des ma. Menschen. Mü. 1980, 18; Lüthi, Märchen (81990), 122; EM 12, 720. ⫺ 4 DWb. 28, 1530, 1532 sq. ⫺ 5 Klotz, V.: W.ordnung im Märchen. In: Die Neue Rundschau 81 (1970) 73⫺91; Strohschneider, P.: Schwank und Schwankzyklus, W.ordnung und Erzählordnung im ,Pfaffen vom Kalenberg‘ und im ,Neithard Fuchs‘. In: Kleinere Erzählformen im MA. ed. K. Grubmüller/L. P. Johnson/H.-H. Steinhoff. Paderborn u. a. 1988, 151⫺171; EM 12, 557. ⫺ 6 Fischer, H.: Gegenwärtiges Erzählen als W.deutung durch Glauben. In: Theologie der Gegenwart 37 (1994) 190⫺199. ⫺ 7 Gurjewitsch (wie not. 3) 17 sq.; Voigt, V.: Sky Maps as World Maps. On the History of World View Concepts. In: Ethnographica et Folkloristica Carpathica 12⫺13 (2002) 365⫺386, hier 366. ⫺ 8 Gurjewitsch (wie not. 3) 18; DWb. 28, 1553. ⫺ 9 ibid., 1532⫺1535. ⫺ 10 ibid., 1552⫺1555. ⫺ 11 Simek, R.: W.bild. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 2159⫺2165; Holländer, H.: W.all, W.bild. In: LCI 4 (1972) 498⫺509. ⫺ 12 cf. EM 4, 399; EM 5, 672. ⫺ 13 Bolte, K. W.: Cosmology. In: Enc. of Religion 3. ed. L. Jones. Detroit 22005, 1991⫺1998, hier 1992. ⫺ 14 Kant, E.: Kritik der Urteilskraft. ed. H. F. Klemme. Hbg. 2006, 110 (§ 26). ⫺ 15 DWb. 28, 1533 sq. ⫺ 16 McIvor, D. W.: W.anschauung. In: Internat. Enc. of the Social Sciences 9. ed. W. A. Darity. Detroit 2 2008, 77⫺79, hier 77; DWb. 28, 1530; The Oxford English Dict. 20. Ox. 21989, 149; Robert, P.: Dict. alphabe´tique et analogique de la langue franc¸aise. P. 1972, 1932. ⫺ 17 Naugle, D. K.: Worldview. The History of a Concept. Grand Rapids, Mich. 2002, 59. ⫺ 18 Görres, J.: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg 1807, 272. ⫺ 19 Naugle (wie not. 17) 90 sq. ⫺ 20 Kluckhohn, C.: The Philosophy of the Navaho Indians. In: Ideological Differences and World Order. ed. F. S. C. Northrop. New Haven, Conn. 1949, 356⫺ 384, hier 356. ⫺ 21 Malinowski, B.: Argonauts of the Western Pacific. N. Y. 1922, 517. ⫺ 22 Zipes, J.: The Brothers Grimm. 1
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From Enchanted Forests to the Modern World. N. Y. 22002, 121. ⫺ 23 EM 10, 470; EM 12, 936. ⫺ 24 Redfield, R.: The Primitive World and Its Transformations. Ithaca, N. Y. 1953, 84 sq.; Jones, W. T.: World Views. Their Nature and Their Function. In: Current Anthropology 13 (1972) 79⫺109; Kearney, M.: World View. Novato, Calif. 1984, ix, 23. ⫺ 25 Jones (wie not. 24) 79. ⫺ 26 Redfield (wie not. 24) 84. ⫺ 27 ibid. ⫺ 28 ibid., 84 sq. ⫺ 29 Kluckhohn, C./ Leighton, D.: The Navaho. N. Y. 1974, 303. ⫺ 30 Dundes, A.: Folk Ideas as Units of Worldview. In: JAFL 84 (1971) 93⫺103, hier 96. ⫺ 31 ibid. ⫺ 32 ibid. ⫺ 33 EM 12, 925. ⫺ 34 cf. Järvinen, I.-R.: World View in Finnish-Karelian Sacred Legends. In: Uralic Mythology and Folklore. ed. M. Hoppa´l/J. Pentikäinen. Bud./Hels. 1989, 89⫺96, hier 89. ⫺ 35 Dundes (wie not. 30) 103. ⫺ 36 ibid., 93⫺ 103. ⫺ 37 ibid., 95. ⫺ 38 Kluckhohn/Leighton (wie not. 29); Dundes (wie not. 30) 96 (not. 5). ⫺ 39 ibid., 101. ⫺ 40 EM 7, 11. ⫺ 41 Jones (wie not. 24) 79. ⫺ 42 Sareyko, H. U.: Das W.bild eines ostpreuß. Volkserzählers. Diss. (masch.) Marburg 1954, 4. ⫺ 43 ibid., 16 sq. ⫺ 44 Pentikäinen, J.: Oral Repertoire and World View. An Anthropological Study of Marina Takalo’s Life History (FFC 219). Hels. 1978, 333. ⫺ 45 ibid., 267. ⫺ 46 De´gh, L.: Folktales and Society. Story-telling in a Hungarian Peasant Community. Bloom. 21989, 12. ⫺ 47 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Köln 1975, 151⫺184; cf. EM 5, 756 sq. ⫺ 48 ibid., 168 sq.; Lüthi, Märchen, 13; EM 11, 1030; EM 12, 338. ⫺ 49 Wachs, E.: „A Definite Vision of the World“. World View and the Crime-Victim Narrative. In: The 8th Congress for the Internat. Soc. for Folk Narrative Research. Papers 2. ed. R. Kvideland/T. Selberg. Bergen 1984, 273⫺281. ⫺ 50 Strohschneider (wie not. 5). ⫺ 51 Järvinen (wie not. 34) 89⫺96. ⫺ 52 Daxelmüller, C.: Literarisierte Mündlichkeit ⫺ Mündl. Schriftlichkeit. Anmerkungen zum W.bild und zur W.deutung ma. und nachma. Exempelautoren. In: Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ed. L. Röhrich/E. Lindig. Tübingen 1989, 125⫺ 145. ⫺ 53 Uray-Ko˝halmi, K.: Das traditionelle W.bild in der epischen Dichtung der Mongolen, Tungusen und sibir. Türken. In: Specimina Sibirica 3 (1990) 217⫺224. ⫺ 54 Fischer (wie not. 6). ⫺ 55 Petzoldt, L. (ed.): Folk Narrative and World View 1⫺2. Ffm. u. a. 1996; cf. auch id. u. a. (edd.): Das Bild der W. in der Volkserzählung. Ffm. u. a. 1993. ⫺ 56 Lehmann, A.: Reden über Erfahrung. Kulturwiss. Bewußtseinsanalyse des Erzählens. B. 2007. ⫺ 57 cf. Zipes, J.: Fairy Tales and the Art of Subversion. N. Y. 1983, 2 sq.; id.: Happily ever after. Fairy Tales, Children, and the Culture Industry. N. Y./L. 1997, 47.
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Weltenbaum 1. Allgemeines ⫺ 2. Paradiesbaum ⫺ 3. Lebensbaum und Muttergottheit ⫺ 4. Weltenachse ⫺ 5. Metallener und steinerner W. ⫺ 6. Sonnen- und Kalenderbaum ⫺ 7. Umgekehrter W. ⫺ 8. Verbindung zwischen den Welten ⫺ 9. Schicksalsbaum ⫺ 10. W. und Weltzeitalter
1 . All ge me in es. Der W. ist ein mythol. Bild für den Kosmos. Es kommt stark variierend weltweit vor1 und läßt sich möglicherweise bis in die spätpaläolith. Vorgeschichte, sicher bis in die Bronzezeit verfolgen2. Zu seinen wesentlichen Merkmalen gehört die astronomisch-kosmologische Vorstellung von einer Weltenachse (axis mundi) sowie drei Weltebenen (J Himmel, J Erde, J Unterwelt), die der W. durchwächst und so miteinander verbindet. Eine wichtige Rolle spielt die Symbolik des Zentrums und des Ursprungs. Der W. ist mit verschiedenen astronomischen und kalendarischen Gegebenheiten verbunden, die bes. durch die Zweige und Blätter versinnbildlicht werden. Zugrunde liegt letztlich das gesamte mit J Baum, J Lebensbaum und Lebensmutter verbundene Assoziationsfeld. Der W. ist Schicksalsbaum, Götterbaum und Schamanenbaum (J Schamanismus), er ist Ort der Vollkommenheit, Zeitlosigkeit, Glückseligkeit und Weisheit. In den konkreten Einzeldarstellungen, wie sie sich weltweit in bildlichen Darstellungen, Mythen und Märchen finden, treten diese Züge in unterschiedlicher Auswahl und Gewichtung auf. 2 . P ar ad ie sb au m. Die Verknüpfung des W.s mit der Vorstellung vom J Paradies ist auf Eurasien beschränkt. Beispielhaft schildert eine Version des jakut. Olongcho-Epos, wie der erste Mensch den W. als einen wunderschönen hl. Baum wahrnimmt, dessen Gipfel in den ,siebenschichtigen Himmeln‘ den Hauptanbindepfahl für die Pferde des Himmelsgottes bildet3. Verwandte Paradiesbilder sind der bibl. Garten Eden mit dem Baum des Lebens4, der W. in der ma. J Kreuzholzlegende mit der Paradiesfahrt des Seth oder der altind. W. Jambu5. Bereits neolith. Felsbilder in Zentralasien zeigen zwei Pferde am W.6; die germ. Weltenesche Yggdrasil dient Odins Pferd als Pfosten7, und der altind. W. As´vattha heißt ,Standplatz
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der Pferde‘8. Im südsibir.-türk. Epos MaadajKara ist der W. nicht nur Pferdepfosten für den Himmelsgott, sondern der Epenheld findet dort auch sein bestes Pferd9. 3 . L eb en sb au m u nd Mu tt ergo tt he it. Nach den Vorstellungen der westsibir. Selkupen wohnt die Lebensmutter nahe bei der Himmelsleiter und dem W.10; im jakut. W. lebt die Herrin der Erde, die den ersten Menschen oder auch den Epenhelden mit ihrer Milch stärken kann11; schon die sumer.-akkad. Göttin J Lilith hat ihren Sitz im W.12; und der mandschur. W. beherbergt an die 300 Göttinnen13. Mit seinen weiblichen, mütterlichen Zügen wird der W. als Stätte von J Geburt und J Wiedergeburt angesehen: Die Helden jakut. Epen werden in Nestern auf dem W. aufgezogen14; Odin erlebt seine J Initiation in die Geheimnisse der Welt, während er neun Nächte am W. hängt15; ähnlich verbringt der burjat. Schamane bei seiner Initiation eine Nacht auf dem Abbild des W.s und erlangt so rituelles Wissen16. Der altiran. W. Go¯karn (Gaokø røna), der ,Baum aller Bäume und Samen‘, ist Zentrum jeglicher Vegetation17 ebenso wie der W. als ,Fruchtbaum aller Fruchtbäume‘ bei südamerik. Indianern18. Als genealogischer Ausgangspunkt des ,Stamm-Baums‘ erscheint der W. in altaitürk. Sagen mit seinen Zweigen, unter denen die verschiedenen Völker entstehen19. 4 . Wel te na ch se. Der W. steht in der Mitte der Welt, am ,Erdnabel‘20, auf dem Weltenberg21, auf einer Insel in einem See22, auf der die Welt tragenden J Schildkröte (ind., zentralasiat., nordamerik.23), im hohen Norden24 oder am Rand der Welt25. Über dem Weltenberg (Weltensäule, W.) steht der Polarstern26. Damit entspricht der zentralen Stellung des W.s auf der Erde am Himmel die Himmelsmitte bzw. Himmelsachse in Gestalt des Polarsterns, um den sich jede Nacht der Sternenhimmel als Abbild der Erdrotation dreht. So entsteht der Eindruck einer Weltenachse als Verlängerung der Erdachse in Richtung Himmelspol27. Die Tatsache, daß diese Achse nur in relativ weit nördl. gelegenen Gebieten relativ senkrecht steht28, läßt Rückschlüsse auf das Ursprungsgebiet dieser Vorstellung zu.
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Die Weltenachse wurde in ihrer ältesten Form als Pfahl, Pfeiler oder Säule verstanden, so etwa der altsächs. Irminsuˆl (,gewaltige Säule‘) oder die eiserne Weltensäule der Samen und anderer nordeuras. Völker29. Bes. seit der Bronzezeit ist diese Vorstellung mit der von einem riesigen Baum oder Sternenbaum verschmolzen. Dazu mag die fast senkrechte Stellung der J Milchstraße in früherer Zeit beigetragen haben30. Weitere Äquivalente der Weltenachse sind der Weltenberg (J Berg, J Glasberg) und der Weltenmann (J Atlas), der sich zuweilen in den W. verwandeln kann31. Von einem Weltenturm handelt ein bask. Märchen32. 5 . Met al le ne r u nd st ei ne rn er W. Auf euras. Gebiet werden eiserne Weltenpfeiler ebenso wie eiserne W.e erwähnt (J Eisen, eisern). Der eiserne W. der Tchampa Vietnams stöhnt und blutet wie ein Mensch, als er gefällt wird33. Das Eisen des W.s soll auch zum J Schmieden der ersten Werkzeuge gedient haben34. Bes. häufig findet sich ein eiserner Unterweltsbaum (Jakuten35; westsibir. Chanten36). Der W. kann auch aus verschiedenen Metallen oder aus Stein bestehen, wie in einem mythol. Epos der Muong Vietnams37. In einem lett. Märchen ist in Verbindung mit der Totenmutter von der „Eiche des Wehklagelandes, mit eisernen Wurzeln, kupfernen Ästen und silbernen Blättern“ die Rede38. Bei altai. Völkern erhält der erste Schamane Spiegel und Glöckchen für sein Schamanengewand vom W., an dem sie hängen und eine liebliche Musik verbreiten39. Der W. hat, wie etwa in Märchen der Letten und der Mongolen, oft goldene und silberne Blätter40. 6 . S on ne n- un d Kal en de rb au m. Zuweilen wird der W., wie bei den Selkupen, mit einer Nacht- und einer Tagesseite aufgefaßt41. Der W. am Tageshimmel wird gelegentlich Sonnen- oder Kalenderbaum genannt42. Bei den Ngadju-Dayak auf Kalimantan wird das rituelle Abbild des W.s jedes Jahr erneuert43. Der Fusang(Maulbeerbaum)-Sonnenbaum des alten China, von dessen Zweigen sich jeden Morgen ein anderer der zehn Sonnenvögel zum Flug über die Welt erhebt44, läßt an den Sonnenbaum des lett. Märchens denken, bei dem die Anzahl der Äste und Zweige einer
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alten lett. Monats- und Wochenrechnung entsprechen45. Ähnliches spiegelt sich in litau. Kalenderliedern46 und russ. Rätseln47 wider. In den Überlieferungen von Völkern Yunnans (Südwestchina) und Vietnams erweist sich der gefällte W. als ,Jahresbaum‘ und Urbild des Sonnenkalenders mit zwölf Monatsästen und 365 Blättern48; auch der chin. Kalender ist dem W. eingeschrieben49. 7 . U mg ek eh rt er W. Vorstellungen eines umgekehrten, d. h. aus dem Himmel herabwachsenden W.s existieren in nördl. Gebieten Europas und Asiens, in Süd- und Südostasien sowie in Afrika und Amerika50. Dies ist vielleicht als Ausdruck der Idee zu verstehen, daß das J Jenseits, dem er entstammt, eine J Verkehrte Welt ist. Der umgekehrte W. gilt als älteste Form des W. s. Er gehört zur schamanistischen Tradition und kommt etwa in indon. Märchen vor51. Der umgekehrte Tøu¯ba¯-Baum der islam. Mystik durchwächst wie der umgekehrte Himmelsbaum in J Dantes Divina commedia (Paradiso 18,28) das Paradies52; der Tøu¯ba¯-Baum geht wohl auf den altind. umgekehrten W. As´vattha zurück, der auch für Brahman, den Urgrund allen Seins, steht. 8 . Ver bi nd un g z wi sc he n d en We lt en. Der W. ist für Gottheiten, Geister, Schamanen und Heldenfiguren mit schamanistischen Zügen Verbindungsweg zwischen Himmel und Erde. So besteigt der polynes. Held Tafaki bei seiner Initiation die höchste Ebene über den neun Sphären des W.s53, und der mongol. Held J Dzˇangar erklettert den W. bis zur zweiten Ebene, um heilkräftige Blätter zur J Wiederbelebung seines Gefährten Hongor zu erlangen54. Wenn der Schamane den W. besteigt, will er Gottheiten befragen55 oder bei seiner Initiation rituelles Wissen erlangen56. In der europ. Überlieferung erscheint das Motiv der Besteigung des W.s in Zauber(AaTh/ATU 468: cf. Der himmelhohe J Baum) oder Lügenmärchen (J Bohnenranke)57. Der Held ist hier ein gewöhnlicher Mensch; allein das Ziel der Besteigung ⫺ das Aufsuchen von Gottheiten oder Ahnen, das Erlangen von Wissen oder die Gewinnung heilkräftiger Früchte ⫺ verrät noch den schamanistischen Ursprung des Motivs58. In den eigentlichen schamanistischen Kulturen bleibt dage-
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gen die Besteigung dem Schamanen oder schamanistischen Epenhelden vorbehalten. Dagegen benutzen Nichtschamanen für den Aufstieg zum Himmel etwa das kosmische Hirschgeweih59. Als Äquivalent erscheint der Aufstieg über eine Himmelsleiter (J Jakob) oder Himmelstreppe. 9 . S ch ic ks al sb au m. Der W. steht für das Schicksal der gesamten Welt und ist daher auch Ort der Schicksalsgebung. Dies gilt bes. für die drei Nornen (J Schicksalsfrauen) am Fuß des W.s, die für die drei Zeiten stehen60, ähnlich den drei Adlertöchtern auf dem zentralasiat. W.61 Als weissagend gelten die beiden Kuckucksvögel auf dem Wipfel des W.s im altaitürk. Epos Maadaj-Kara 62; die ägypt. Göttin Sekhait schreibt das Schicksal, bes. das des Pharao, auf die Blätter des W.s (⫽ Sterne)63. Bei den Tchampa Vietnams kündigt das Fällen des eisernen W.s das Ende ihres Gemeinwesens an64; in Nebukadnezars Traum (Dan. 4,7⫺9; 4,17) deutet der Zusammensturz des W.s auf das Ende seiner Herrschaft hin. 10. W. un d Wel tz ei ta lt er. Der W. ist nicht unveränderlich und ewig. Am Anfang mongol. Epen heißt es oft, der W. kalpavrøksøa (Sanskrit: Baum des kalpa [Weltzeitalters]) sei so klein wie ein Strauch (Setzling)65. Er entwächst dem Chaos und bildet den neuen Kosmos. Ein J Drache (riesenhafte J Schlange [im ind. Denken die Zeit]66, Eidechse) nagt ständig an seinen Wurzeln (germ., altiran.)67, der Adler im Wipfel des W.s liegt mit dem Drachen (der Riesenschlange) als J Gegenspieler in dauernder Fehde68. Diese Vorstellung kommt etwa in AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen zum Ausdruck, wenn in osteurop. und zentralasiat. Var.n der Held, von seinen Gefährten in der Unterwelt im Stich gelassen, zum immergrünen W. gelangt und die Adlerjungen vor dem Drachen rettet69. Oft wird die Krone des W.s, wie etwa die Welteneiche im Kalevala70 oder in mythol. Epen Südwestchinas71 und Vietnams72, übergroß und überschattet die ganze Welt, so daß der W. gefällt werden muß. Der W. wirkt hier wie das Relikt eines früheren ZA.s, und erst seine Fällung ermöglicht die Entfaltung des Lebens. Andererseits lösen das Umstürzen
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oder Ausreißen des W.s oft eine J Sintflut, einen Weltenbrand oder eine andere kosmische Katastrophe aus. So faulen in der Mythologie der samojed. Nenzen die Wurzeln des W.s langsam ab, er stürzt um, und unter ihm bricht die Sintflut hervor73; damit tritt eine Rückkehr zum Chaos ein. Auch die Versetzung des W.s, wie in einem Märchen der tungus. Udeghe, zieht eine Katastrophe nach sich74. Die astronomisch orientierte Mythenforschung sieht hier Beziehungen zur Vorstellung von den Weltzeitaltern (J Weltzeitmythen). Dabei ist auch der Weltuntergang (J Eschatologie) nicht endgültig. So enthält die in der germ. Ragnarök-Sage geschilderte Weltkatastrophe auch Vorausdeutungen für eine neue Welt75. Nachdem in einem Udeghe-Märchen der W. zusammengestürzt und die alte Welt verschwunden ist, künden eine kleine Pappel und eine Birke von einer künftigen, neuen Welt76. 1 cf. allg. Holmberg, U.: Der Baum des Lebens. Hels. 1922 (Bern 21996); Butterworth, E. A. S.: The Tree at the Navel of the Earth. B. 1970; Toporov, V. N.: Drevo mirovoe (Der W. ). In: Mify narodov mira 1⫺ 2. ed. S. A. Tokarev. M. 1980/82, hier t. 1, 398⫺407; id.: Drevo zˇizni (Der Baum des Lebens). ibid., 396⫺ 398; id.: Drevo poznanija (Der Baum der Erkenntnis). ibid., 406 sq.; id.: O nekotorych archaicˇeskich simvolach sootnosimych s koncepciej mirovogo dereva (Zu einigen archaischen Symbolen, die sich auf den Begriff des W.s beziehen lassen). In: Trudy po znakovym sistemam 5 (1971) 9⫺69; Cook, R.: The Tree of Life. L. 1974; James, E. O.: The Tree of Life. Leiden 1966; Eliade, M.: Die Religionen und das Heilige. Ffm. 1986, 305⫺346; Sullivan, L. E.: Axis Mundi. In: Eliade, M. (ed.): The Enc. of Religion 2. N. Y./L. 1987, 20 sq.; Freese, P. R./Gray, S. J. M.: Trees. ibid. 15 (1990) 26⫺33; Nikolaeva, N. A./Safronov, V. A.: Istoki slavjanskoj i evrazijskoj mifologii (Die Ursprünge der slav. und euras. Mythologie). M. 1999, 14⫺61; Einzelunters.n (Ausw.): Detering, A.: Die Bedeutung der Eiche seit der Vorzeit. Lpz. ˇ udesni da˘rveta v ba˘lgarskite 1939; Pa˘rpulova, L.: C va˘lsˇebni prikazki (Wunderbäume in den bulg. Zaubermärchen). In: Ba˘lgarski folklor (1980) H. 3, 12⫺ 25; Georgieva, I.: Kosmicˇeskoto da˘rvo v ba˘lgarskata narodna kultura (Der W. in der bulg. Volkskultur). In: Vekove 11 (1982) 25⫺33; Nikulin, N. I.: V’etomyongskij mif o mirovom dreve i stanovlenie literatury (Die Mythe der Viet und Muong vom W. und der Werdegang der Lit.). In: Mifologija i literatury Vostoka. ed. E. S. Kotljar. M. 1995, 126⫺148; Haekel, J.: Kosmischer Baum und Pfahl in Mythus und Kult der Stämme Nordwestamerikas. In: Wiener Völkerkundliche Mittlgen 6 (1958) 33⫺81; Unterber-
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Weltenbaum
Nordamerikas. Mü. 1986, 192. ⫺ 24 Holmberg (wie not. 1) 18⫺31, 41 u. a.; Eliade 1986 (wie not. 1) 345 sq., 431⫺435 u. a. ⫺ 25 z. B. Cerensodnam, D.: Über den Brauch der Verehrung des Baumes in den mongol. Epen. In: Fragen der mongol. Heldendichtung 5. ed. W. Heissig. Wiesbaden 1992, 124⫺129. ⫺ 26 Holmberg und Eliade (wie not. 24). ⫺ 27 Santillana, G. de/Dechend, H. von: Hamlet’s Mill. Boston 1969; Barber, E. W. und P. T.: When They Severed Earth from Sky. Princeton/Ox. 22006, 176⫺217. ⫺ 28 cf. Holmberg (wie not. 1) 29; Müller, W.: Amerika ⫺ die neue oder die alte Welt? B. 1982, 95. ⫺ 29 Holmberg (wie not. 1) 15, 9⫺20; Simek (wie not. 7) 210 sq. ⫺ 30 Jeremias (wie not. 4) 90⫺92; Rappenglück, M.: The Milky Way. Its Concept, Function and Meaning in Ancient Cultures. In: Potemkina, T. M./Obridko, V. N. (edd.): Astronomija drevnich obsˇcˇestv/Astronomy of Ancient Societies. M. 2002, 270⫺277. ⫺ 31 Bäcker, J.: Schlangenschamanin und Weißer Adler. Mythische und epische Motive in Überlieferungen zu den Dschurtschen. In: Heissig (wie not. 25) 244⫺263, hier 253. ⫺ 32 Karlinger, F./Laserer, E.: Bask. Märchen. MdW 1980, num. 1. ⫺ 33 Nikulin, N. I.: Mifo-e˙picˇeskie skazanija narodov V’etnama (Mythische Epen der Völker Vietnams). In: Specifika zˇanrov v literaturach Central’noj i Vostocˇnoj Azii. ed. S. Ju. Nekljudov. M. 1985, 7⫺36, hier 30. ⫺ 34 ibid. ⫺ 35 Alekseev (wie not. 11). ⫺ 36 Legendy i mify Severa (Legenden und Mythen des Nordens). ed. V. M. Sangi/A. V. M. Posˇataeva. M. 1985, 83⫺ 97. ⫺ 37 Nikulin (wie not. 33); cf. auch id. (wie not. 1) 130 (kupferner Baum). ⫺ 38 Straubergs, K.: Zur Jenseitstopographie. In: Arv 13 (1957) 56⫺110, hier 65. ⫺ 39 Findeisen, H.: Schamanentum. Stg. 1957, 117 sq. ⫺ 40 cf. Straubergs (wie not. 38) 63 sq. (lett.); Mitirov, A. G.: Drevo zˇizni v e˙posach tjurkomongol’skich narodov (Der Baum des Lebens in den Epen der turko-mongol. Völker). In: „Dzˇangar“ i problemy e˙picˇeskogo tvorcˇestva tjurko-mongol’skich narodov. ed. N. C. Bitkeev. M. 1980, 259⫺ 264. ⫺ 41 Chelimskij, E. A.: Samodijskaja mifologija (Samojed. Mythologie). In: Tokarev (wie not. 1) t. 2, 398⫺ 401. ⫺ 42 cf. Straubergs (wie not. 38) 63 sq.; Spieß, K.: Monatsbaum, Jahresbaum, W. In: Wiener Zs. für Vk. 28,2 (1923) 17⫺23; Zhang, Jingsong: Taiyangshu shenhua yu Yaozu changgu (Die Mythe vom Sonnenbaum und die Langtrommel der Yao). In: Zhongyang minzu xueyuan xuebao (1991) H. 3, 75⫺ 81; Zhuang, Meifang: Tianti shenhua (Die Mythe von der Himmelsleiter). In: Minzu wenxue yanjiu (2005) H. 1, 23⫺29; cf. auch Toporov 1971 und 1980 (wie not. 1); Nikulin (wie not. 33) 30. ⫺ 43 Eliade, M.: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. B. 1981, 111⫺115. ⫺ 44 Yuan (wie not. 21). ⫺ 45 Straubergs (wie not. 38) 63 sq. ⫺ 46 Lauriukiene˙, N.: Pasaulio me˜dis kalendo˜riniu˛ dainu˛ priedainiuose (Der W. in den Refrains der Kalenderlieder). In: Literatu¯ra 24 (1982) 26⫺32. ⫺ 47 Filatova-Chell’berg, E.: Drevo vremeni (o russkich kalendarnych zagadkach) (Der
620
Baum der Zeit (über russ. Kalenderrätsel]). In: Scando-Slavica 30 (1984) 145⫺163. ⫺ 48 Li, Zixian: Yunnan shaoshuminzu shenhua xuan (Ausw. von Mythen der Minderheitenvölker Yunnans). Kunming 1990, 140⫺144 (Hani), 556⫺559 (Kucong); Nikulin (wie not. 33) 30. ⫺ 49 Terrien de Lacouperie, A.: The Calendar Plant of China, the Cosmic Tree and the Date Palm of Babylonia. L. 1890; Bäcker, J.: Sur l’Origine des signes cycliques chinois. In: Approches critiques de la mythologie chinoise. ed. C. Le Blanc/R. Mathieu. Montreal 2007, 51⫺85. ⫺ 50 Kagarov, E. G.: Der umgekehrte Schamanenbaum. In: ARw. 27 (1929) 183⫺187; Edsman, C.M.: Arbor Inversa. In: Festschr. W. Baetke. Weimar 1966, 85⫺109; Eliade 1986 (wie not. 1) 313⫺318; Müller (wie not. 28) 96 sq.; Unterberger (wie not. 1); Bäcker (wie not. 49). ⫺ 51 Egli, H.: Mirimiringan. Zürich 1989, 315⫺320. ⫺ 52 cf. Eliade 1986 (wie not. 1) 315⫺317; Edsman (wie not. 50). ⫺ 53 Gunson, N.: Shamanistic Story and Song Cycles in Polynesia. In: Shamanism in Performing Arts. ed. T. Kim/M. Hoppa´l. Bud. 1995, 213⫺ 224. ⫺ 54 Mitirov (wie not. 40). ⫺ 55 cf. z. B. Radloff, W.: Aus Sibirien 2. (Lpz. 1893) Oosterhout 21968, 28⫺50. ⫺ 56 Benzi, M.: Visions des Huichols sous l’effet du Peyotl. In: L’Hygie`ne mentale 58 (1969) 61⫺97. ⫺ 57 BP 2, 511; cf. auch Haiding, K.: Das Spiel vom Himmelbaum. In: Dona ethnologica. Festschr. L. Kretzenbacher. Mü. 1973, 60⫺71 ´ .: Das Märchen (not. 69). ⫺ 58 cf. ferner Kova´cs, A vom himmelhohen Baum. In: Janning, J./Gehrts, H. (edd.): Die Welt im Märchen. Kassel 1984, 74⫺84; ead.: Schamanistisches im ung. Volksmärchen. In: Schamanentum und Zaubermärchen. ed. H. Gehrts/ G. Lademann-Priemer. Kassel 1986, 110⫺121; Dömötör, A.: Die ukr. Var.n des Märchens vom Baum, der bis zum Himmel reicht. In: Studia Slavica 1,1⫺ 2 (1964) 181⫺187. ⫺ 59 Xu, Changhan/Sui, Shujin/ Pang, Yutian: Elunchunzu wenxue (Die Lit. der Orotschon). Harbin 1993, 98 sq., 201. ⫺ 60 Simek (wie not. 7) 290 sq. ⫺ 61 Bäcker, J.: Märchen aus der Mandschurei. MdW 1988, num. 23. ⫺ 62 Maadaj-Kara (wie not. 9) 252 sq. ⫺ 63 Holmberg (wie not. 1) 132. ⫺ 64 Nikulin (wie not. 33) 30. ⫺ 65 Cerensodnam (wie not. 25); Bäcker (wie not. 31). ⫺ 66 Mylius, K.: Geschichte der altind. Lit. Bern/Mü./Wien 1989, 107. ⫺ 67 Eliade 1986 (wie not. 1) 336. ⫺ 68 wie not. 12. ⫺ 69 cf. Straubergs (wie not. 38) 76, 83; Bäcker, J.: Himmelshund, Zobelmädchen und Zielen auf den Himmelsburchan ⫺ Mythologie und Märchen im daghur. Heldenepos. In: Fragen der mongol. Heldendichtung 4. ed. W. Heissig. Wiesbaden 1987, 206⫺256, hier 219 sq. ⫺ 70 Krohn, K.: Kalevalastudien 1 (FFC 53). Hels. 1924, 183⫺199. ⫺ 71 Li (wie not. 48). ⫺ 72 Nikulin (wie not. 33) 28⫺ 31. ⫺ 73 Chelimskij (wie not. 41). ⫺ 74 Kjalundzjuga, V.: Dva solnca. Ude˙gejskie skazki (Die zwei Sonnen. Udeghe-Märchen). Chabarovsk 1974, 3⫺10. ⫺ 75 Si-
Weltende ⫺ Welthaltigkeit
621 mek (wie not. 7) 321 sq. ⫺ not. 74).
76
Gummersbach
Kjalundzjuga (wie
Jörg Bäcker
Weltende J Eschatologie
Welter, Jean The´obald (Thie´baut1), *Heidwiller 8. 9. 1877, † ebda. 24. 10. 1955, kathol. Priester und Gelehrter. W. studierte am Colle`ge libre des Sciences Sociales in Paris und an der Sorbonne2 u. a. Kathol. Theologie. 1904 wurde er in Troyes zum Priester geweiht und 1916 in Paris mit einer Edition der Exempelsammlung J Speculum laicorum promoviert3. 1926 erfolgte dort die Habilitation mit einer bahnbrechenden Arbeit zur Rolle des J Exemplums in der ma. christl. Lit.4 Zeit seines Lebens war W. auch als Lehrer tätig: 1910⫺37 unterrichtete er an der Schule Sainte-Croix in Neuilly, während des 2. Weltkriegs an SaintJacques in Joigny und schließlich 1946⫺54 am Bischofskolleg in Zillisheim5. Im Umfeld seiner beiden großen Schr. veröffentlichte W. kleinere Editionen weiterer ma. Exempla6 und der J Tabula exemplorum7; Vorarbeiten für ein Inventar von knapp 3000 Exempla und deren Quellen, Filiationen und Nachwirken scheinen verloren zu sein8. Sein gesamtes editorisches Werk, bes. jedoch die Habilitationsschrift, die vor allem durch die Klassifizierung der Exempla starken Einfluß ausgeübt hat9, begründeten W.s Ruf als Pionier der Erforschung der lat. Predigt- und Exempelliteratur. W. ging bei seiner Behandlung der Exempla nach zwei forschungsgeschichtlich bedeutsamen Gesichtspunkten vor. Er etablierte zum einen eine hist. Periodisierung für das Wirken des Exemplums in der christl. Predigt- und Erbauungsliteratur: die Epoche von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jh.s, die Hochphase im 13. und 14. Jh. und schließlich die Epoche des Niedergangs im 15. Jh.10 Zum anderen unterschied er inhaltlich zwölf Typen von Exempla, wobei die Zuordnung vornehmlich auf deren Quellen gründet: bibl., fromme (z. B. aus den Schr. der Kirchenväter), hagiographische, prosopopeische (aus der Visionsliteratur), profane, hist., legendarische, erzählende moralische, voraus-
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deutende, persönliche sowie Fabelexempla11. Studien zum Erzählgut der Predigten des 16./ 17. Jh.s wie die von A. J Wesselski12 und E. J Moser-Rath relativierten W.s Periodisierung, indem sie u. a. das Fortwirken des Exempels dokumentierten13. W.s forschungsgeschichtlich wirksame Definition des Exemplums im Sinne einer Untergattung der kurzen Erzählungen wird erst in jüngeren Arbeiten als zu vage und zu ausgreifend beurteilt14. 1
cf. Eichenlaub, J.-L.: W., J. Thie´baut. In: Nouveau Dict. de biogr. alsacienne 40. Straßburg 2002, 4166. ⫺ 2 ibid. ⫺ 3 W., J. T.: Le „Speculum laicorum“. E´dition d’une collection d’exempla, compose´e en Angleterre a` la fin du XIIIe sie`cle. Diss. P. 1914; cf. Rez. P. Gratien in Revue d’histoire de l’e´glise de France 6,31 (1920) 176 sq. (zum Datum der Promotion und W.s Kriegsteilnahme). ⫺ 4 W., J. T.: L’Exemplum dans la litte´rature religieuse et didactique du Moyen ˆ ge. P./Toulouse 1927 (Nachdr. Genf 1973). ⫺ 5 EiA chenlaub (wie not. 1). ⫺ 6 W., J. T.: Un Recueil d’exempla du XIIIe sie`cle. In: E´tudes franciscaines 30 (1913) 646⫺665; ibid. 31 (1914) 194⫺213, 312⫺330; id.: Un nouveau Recueil franciscain d’exempla de la fin du XIIIe sie`cle. ibid. 42 (1930) 432⫺476, 595⫺ 629. ⫺ 7 id.: La „Tabula exemplorum secundum ordinem alphabeti“. Recueil d’exempla compile´ en France a` la fin du XIIIe sie`cle. P./Toulouse 1926. ⫺ 8 ´ Etienne de Bourbon: Tractatus de diversis materiis predicabilibus. Prologus. Prima pars: De dono timoris. ed. J. Berlioz/J.-L. Eichenlaub. Turnhout 2002, lxxxii sq., not. 1. ⫺ 9 cf. bes. Rehermann, 6⫺16; Klapper, J.: Exempel. In: RDL 1 (21958) 413⫺418. ⫺ 10 W. (wie not. 4) 9 sq. und pass. ⫺ 11 ibid., 105⫺107. ⫺ 12 Wesselski, MMA; Wesselski, A.: Mönchslatein. Lpz. 1909. ⫺ 13 cf. auch Rehermann, 16 sq. ⫺ 14 Schürer, M.: Das Exemplum oder die erzählende Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jh.s. (Diss. Dresden 2004) B. 2005, 55; Tilliette, J.-Y.: L’„Exemplum rhe´torique“: questions de de´finition. In: Berlioz, J./Polo de Beaulieu, M. A. (edd.): Les Exempla me´die´vaux. P. 1998, 43⫺65, hier 46; Moos, P. von: L’„Exemplum et les exempla“ des preˆcheurs. ibid., 67⫺81, hier 71; cf. auch Dicke, G.: Exempel. In: RDL 1 (31997) 534⫺537, bes. 537.
Göttingen
Susanne Friede
Welthaltigkeit. Der Terminus W. gehört zu den zentralen Begriffen, mit denen M. J Lüthi das europ. Volksmärchen aus literaturwiss. Perspektive nach Form und Wesen (J Phänomenologie) beschreibt1. Seine stilistische Märchenanalyse mit den ihr zugrundeliegenden
623
Weltlegende ⫺ Weltwunder
Kategorien der J Sublimierung und der W. bildet ein ergänzendes Gegenstück zu V. Ja. J Propps Strukturanalyse (J Morphologie des Erzählguts)2. Lüthi bezeichnet das Märchen als eine welthaltige J Abenteuererzählung3, die sich von anderen narrativen Gattungen nicht durch die enthaltenen Motive, sondern durch eine bes. Art der Gestaltung unterscheide: Mit Hilfe von Sublimierung, der Loslösung bzw. Entleerung von der „unübersichtliche[n], schwere[n], vieldimensionale[n] Wirklichkeit“4, kann das Märchen die Welt in einer klaren, einfachen Form in sich aufnehmen. Im allgemeinen verzichtet es darauf, seelische Vorgänge der Handlungsträger auf direkte Weise darzustellen; statt dessen werden innere Prozesse, persönliche Eigenschaften oder Beziehungskonstellationen auf die Handlungsebene projiziert und erhalten so die märchentypische J Flächenhaftigkeit und J Abstraktheit. Zwar verliert das Märchen damit an Konkretheit, Erlebnis- und Beziehungstiefe sowie an Nuancierung und Inhaltsschwere, gewinnt aber zugleich an Formbestimmtheit und -helligkeit5. Als Universum im Kleinen, als ,welthaltige Dichtung‘6 spiegelt es alle Elemente der Wirklichkeit (J Realitätsbezüge; J Weltanschauung, Weltbild), den Kosmos, die Tier- und Pflanzenwelt sowie auch alle anderen Bedingungen, die das menschliche Dasein in fundamentaler Weise prägen: die materielle Situation, den gesellschaftlichen Stand, verwandtschaftliche und soziale Beziehungen, J Werte, Rituale etc.7 Aufgrund seiner W. gelingt es dem Märchen, alle Grunderfahrungen der menschlichen Existenz zur Sprache zu bringen: Leben und Tod, Freude und Leid, Mut und Angst, Freundschaft und Feindschaft, Treue und Verrat, Geschwisterrivalität, Generationenkonflikte, Identitätsfindung und Reifung. 1
Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 101997, 69⫺72 . ⫺ 2 ibid., 115⫺121. ⫺ 3 ibid., 77. ⫺ 4 Lüthi, M.: So leben sie noch heute. Göttingen 31989, 34 sq.; cf. id. (wie not. 1) 69 sq. ⫺ 5 ibid., 69. ⫺ 6 id. (wie not. 1) 72. ⫺ 7 cf. Bausinger, H.: Zu Sinn und Bedeutung der Märchen. In: Harder, H.-B./Henning, D. (edd.): Jacob und Wilhelm Grimm zu Ehren. Marburg 1989, 13⫺33.
Göttingen
Ulrike-Christine Sander
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Weltlegende J Weltzeitmythen
Weltuntergang J Eschatologie
Weltwunder. Im allg. Sprachgebrauch bezeichnet der Terminus W. von Menschen errichtete Bauwerke, die aufgrund verschiedener Kriterien (Größe, technische oder künstlerische Aspekte)1 bei den Betrachtern in bes. Maße Staunen, Bewunderung und Ehrfurcht hervorriefen. Konkret bezieht sich der Begriff meist auf eine Liste von J sieben W.n, die in hellenist. Zeit im 3. Jh. v. u. Z. zusammengestellt wurde und Bauwerke in Babylonien, Ionien und Ägypten nennt. Wenngleich die erhaltenen Fassungen dieser Liste z. T. unterschiedliche Objekte nennen, hat sich seit der klassizistischen Rückbesinnung auf die Antike Anfang des 16. Jh.s die Nennung folgender sieben Bauwerke durchgesetzt2: (1) Die ägypt. Pyramiden, bes. die Cheops- und die Chephren-Pyramide in Gizeh, die beide im Alten Reich ca 2686⫺2160 errichtet wurden. ⫺ (2) Die sog. ,hängenden Gärten‘ von Babylon, eine terrassierte Anlage, deren Errichtung die populäre Überlieferung der sagenhaften assyr. Königin J Semiramis zuschreibt; sie wurde allerdings höchstwahrscheinlich von einem späteren Herrscher (Nebukadnezar?) angelegt3. ⫺ (3) Die von dem Bildhauer Phidias geschaffene neun Meter hohe Statue des J Zeus in Olympia, errichtet ca 4304. ⫺ (4) Der von dem lyd. König Krösus ca 550 erbaute Artemis-Tempel in Ephesos5. ⫺ (5) Die aus dem 4. Jh. stammende monumentale Grabstätte des Mausolos, Herrscher des an der Südwestküste Kleinasiens gelegenen Landes Karien, in Halikarnassos, Eponym des Mausoleums6. ⫺ (6) Die ca 290⫺280 erbaute, als ,Koloß von Rhodos‘ berühmte riesenhafte Bronzestatue des Sonnengottes Helios am Hafen der griech. Insel Rhodos7. ⫺ (7) Der ca 280 auf der Insel Pharos errichtete und nach ihr benannte Leuchtturm von Alexandria8.
Von den antiken W.n haben heute einzig die Pyramiden noch Bestand, wenngleich auch sie nicht mehr ihre ursprüngliche Verkleidung besitzen. Vom Leuchtturm von Alexandria sind nur noch die Fundamente erhalten. Alle anderen Bauwerke wurden fast ausnahmslos bereits in der Antike durch Naturereignisse oder Vandalismus zerstört, zuletzt die Grabstätte des Mausolos; deren nach einem Erdbeben im 13. Jh. verbliebene Überreste dienten Ende des
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Weltwunder
15. Jh.s den Johannitern im nahen Bodrum als Steinbruch für die Neubefestigung ihres Kastells. Die mit sieben angegebene Anzahl der W. stellt zusätzlich zur individuellen Perfektion der angeführten Bauwerke den allg. Aspekt der Vollendung heraus. In Erweiterung dessen benennt die in der Moderne gelegentlich verwendete Bezeichnung eines wunderbaren Phänomens oder Objekts als ,achtes W.‘ ⫺ bereits von dem brit. Dichter John Taylor (1580⫺ 1653) gebraucht9 ⫺ einen schwer zu übertreffenden Superlativ. Angewandt wurde er etwa auf die Herzog-August-Bibl. in Wolfenbüttel10, den Garten des Heidelberger Schlosses11 oder das Empire State Building in New York, das im 20. Jh. mehr als vier Jahrzehnte lang (1931⫺67) das höchste Gebäude der Welt war. Das aus der griech. Antike stammende Konzept der W. hat bes. in der europ.-amerik. dominierten Moderne neue Geltung erlangt, in der technische Machbarkeit ein zentrales Credo darstellt. Demgegenüber ist das W.-Konzept anderen alten Hochkulturen, so bes. China und Indien, weitgehend fremd. Fromme Autoren des arab.-islam. MA.s setzten ⫺ wenngleich ihnen das antike W.-Konzept durchaus nicht unbekannt war ⫺ der Bewunderung der Erzeugnisse menschlicher Schaffenskraft die Ehrfurcht vor den ,Wundern der Schöpfung‘, dem unverstehbar und unnachahmlich wunderbaren Wirken Gottes, entgegen12. Eine vergleichbar fromme Haltung findet sich auch bei ma. europ. Autoren wie etwa J Gregor von Tours (De cursu stellarum ratio). Neuere Publ.en bemühen sich einerseits, den architektonisch bzw. technisch begründeten Terminus der W. zu entmystifizieren13; andererseits wird er inflationär gedehnt. So verzeichnet etwa eine neuere populärwiss. Darstellung weit mehr als 100 W. ⫺ von Stonehenge über die chin. Mauer, den Kölner Dom und das Taj Mahal bis zum Eurotunnel oder den Palm Islands in Dubai14. Eine andere Auflistung erweitert das Spektrum der Monumente um W. aus den Bereichen Natur und Umwelt (u. a. Victoriafälle, Grand Canyon, Great Barrier Reef, Ätna) sowie Wiss. und Technik (u. a. Suezkanal, CERN, Concorde, Fernsehen)15. Das gelegentlich selbst als W. behandelte Internet16 verweist zudem auf neueste Listen der sieben modernen W., wie sie An-
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fang des 21. Jh.s etwa von der American Soc. of Civil Engineers oder im Auftrag der schweiz. New 7 Wonders Foundation oder der amerik. Ztg USA Today zusammengestellt wurden. Vor allem der Bereich der Technologie scheint gemäß dem unverständigen Staunen des modernen Menschen angesichts der Errungenschaften der modernen Wiss.en zunehmend in den Vordergrund des W.-Konzepts zu rücken17. Für die hist. und vergleichende Erzählforschung besitzt das Konzept der W. hauptsächlich aufgrund seines emblematischen Charakters Bedeutung: Hier feiert der Mensch sich selbst durch seine Errungenschaften. Dabei handelt es sich allerdings weniger um eine narzißtische Nabelschau. Vielmehr ist die Bewunderung meist mit einem ungläubigen Staunen über die Möglichkeit des scheinbar Unmöglichen verbunden ⫺ eine Haltung, die das W.Konzept mit der allg. Weltsicht des homo narrans verbindet, wie sie etwa in Mythen, Märchen und Sagen ihren Niederschlag findet. Während Reisende wie Historiker von der Antike bis zur Vormoderne gelegentlich über die W. berichteten18, gehören zeitgenössische Erzählungen über die W. ⫺ antike wie moderne ⫺ nicht zum traditionellen Sammelspektrum der Erzählforschung. Sofern derartige Erzählungen überhaupt aufgezeichnet wurden, dürfte es sich dabei um Texte handeln, die eines der W. etwa als Kulisse eines sagenhaften, übernatürlich eingefärbten oder zumindest als außergewöhnlich bzw. erinnerungswürdig wahrgenommenen Erlebnisses behandeln. Das zu berücksichtigende Spektrum reicht dabei von älteren Schatzsagen im Stil der Grabräubererzählung AaTh/ATU 561: J Alad(d)in19 über Reiseberichte oder Urlaubserzählungen (inklusive visueller Anwesenheitsbezeugung) bis hin zu aktuellen Erlebnisberichten, etwa über das Erklettern des derzeit ˚ alı¯fa, höchsten Gebäudes der Welt, des Burgˇ H durch Alain Robert am 28. März 2011. 1 Krischen, F.: W. der Baukunst in Babylonien und Jonien. Tübingen 1956, 9. ⫺ 2 Müller, A./Ammon, R.: Die sieben W. Bern/Mü. 1972; Eckschmidt, W.: Die 7 W. Ihre Erbauung, Zerstörung und Wiederentdeckung. Mainz 1984; Reichhardt, H.: Die Sieben W. Hbg 1987; Clayton, P. A./Price, M. J. (edd.): Die sieben W. Stg. 1990; Kunze, M. (ed.): Die Sieben Weltwunder der Antike. Ausstellungskatalog Stendal 2003. ⫺ 3 Dalley, S.: More about the Hanging Gar-
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Weltzeitmythen
dens. In: Of Pots and Pans. Festschr. D. Oates. L. 2002, 67⫺73. ⫺ 4 Liegle, J.: Der Zeus des Phidias. B. 1952. ⫺ 5 Bammer, A./Muss, U.: Das Artemision von Ephesos. Mainz 1996; Seipel, W. (ed.): Das Artemision von Ephesos. Ausstellungskatalog Wien 2008. ⫺ 6 The Mausolleion at Halikarnassos. Reports of the Danish Archaeological Expedition to Bodrum 1⫺7. Aarhus 1981⫺2002. ⫺ 7 Hoepfner, W.: Der Koloß von Rhodos und die Bauten des Helios. Neue Forschungen zu einem der sieben W. Mainz 2003. ⫺ 8 Thiersch, H.: Pharos. Antike, Islam und Occident. Lpz./B. 1909. ⫺ 9 Taylor, J.: The Eighth Wonder of the World; or Coriats Escape from His Supposed Drowning. With His Safe Arriual and Entertainment at the Famous Citty of Constantinople […]. L. 1613. ⫺ 10 Belege im Internet. ⫺ 11 cf. z. B. Fehrle-Burger, L.: Der Hortus Palatinus als ,achtes W. ‘. In: Ruperto Carola 31 (1962) 106⫺ 119. ⫺ 12 Marzolph, U.: Mirabilia, W. und Gottes Kreatur. Zur Weltsicht populärer Enz.n des arab.islam. MA.s. In: Tomkowiak, I. (ed.): Populäre Enz.en. Zürich 2002, 85⫺101. ⫺ 13 Muscheler, U.: Sternstunden der Architektur. Von den Pyramiden bis zum Turmbau von Dubai. Mü. 2009. ⫺ 14 Pöppelmann, C./Schubert, M.: W. von der Antike bis heute. Mü. 2005. ⫺ 15 Biersack, T./Schulz, M. A.: W. der Gegenwart. Gütersloh/Mü. 2004. ⫺ 16 ibid., 452⫺457. ⫺ 17 Asendorf, D. u. a.: Die neuen W. In: Die Zeit (16.6.2011) 26 sq. ⫺ 18 cf. u. a. Romer, J. und E.: The Seven Wonders of the World. L. 1995. ⫺ 19 Gaa´l, E.: Aladdin and the Wonderful Lamp. In: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungarica 27 (1973) 291⫺300; cf. auch Haarmann, U.: Der Schatz im Haupte des Götzen. In: Die islam. Welt zwischen MA. und Neuzeit. Festschr. H. R. Roemer. Beirut 1979, 198⫺229.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Weltzeitmythen. Mit dem J Mythos ist die Vorstellung eines hohen Alters verbunden: Mythen sind Geschichten, die vor langer Zeit erzählt wurden, oder solche, die über uranfängliche J Zeiten (J Schöpfung) berichten, oder sie verbinden beides. Zeitlichkeit kann somit als Kriterium zur Unterscheidung von Erzählgenres dienen: Mythen spielen in ferner Vorzeit, Sagen in einer jüngeren Vergangenheit; Märchen sind überzeitlich1. Die konkrete Ausgestaltung der zeitlichen Aspekte von Mythologien ist häufig relativ komplex. F. J Boas hat bei seinen Forschungen zur J Mythologie indigener amerik. Völker zwei Modelle vergangenheitsbezogener zeitlicher Bezugssysteme festgestellt2. Im ersten Modell
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existiert parallel zu der Welt, in der die Menschen jetzt leben, eine andere Zeitebene, die Schauplatz mythischer Erzählungen ist; sie geht der Gegenwart voraus, ist hinsichtlich ihrer zeitlichen Ansiedlung aber oft nur vage definiert, und auch die Reihenfolge der Ereignisse auf der mythischen Zeitebene kann unbestimmt sein. Innerhalb eines solchen Bezugssystems betonen die Erzählungen oft einen einmaligen Wechsel zwischen der Ebene des Mythos und der des Gegenwärtigen. Dabei sind J Kulturheroen wie J Rabe oder Kojote (J Coyote Stories) oft eher ,Verwandler‘ als ,Schöpfer‘; indem sie die Landschaft verändern und den Menschen neue Techniken und Bräuche bringen, leiten sie vom mythischen J Zeitalter zur Gegenwart über. Im zweiten Modell bestehen kompliziert strukturierte Systeme mit Abfolgen vergangener ZA. In den Ursprungsmythen des nordamerik. Südwestens etwa entwickelt sich die Vergangenheit zur Gegenwart, indem eine Reihe von (gewöhnlich vier) ZA.n durchlaufen wird, die den physisch unter der jetzigen Welt liegenden Welten entsprechen3. Die Vorfahren der Völker der Gegenwart wandern durch die vier Welten nach oben, wobei jede Welt eine jeweils individuell gestaltete Parallelwelt zu der vorherigen darstellt; die Welt der Gegenwart nimmt zyklisch und erst allmählich Form an. Der Gegensatz zwischen diesen beiden zeitlichen Bezugssystemen dient als begriffliches Hilfsmittel der vergleichenden Mythologie. So bestand die Motivation von P. Radin bei seinen Arbeiten zum nordamerik. J Trickster teilweise darin herauszufinden, ob die verschiedenen mit dem Trickster verbundenen Geschichten einem bestimmten Ablauf folgten oder ob sie ohne konkrete Reihenfolge einem undifferenzierten mythischen ZA. angehörten4. Die Charakterisierung ,totemischer‘ Gesellschaften (J Totemismus) durch C. J Le´viStrauss weist Ähnlichkeiten mit dem von Boas konstatierten Modell zweier Ebenen auf: Danach gehören Geschichten über Totemhelden einem vergangenen ZA. an und sind mit der Gegenwart durch (manchmal chronologisch vage) Genealogien verbunden. Solche totemischen Mythologien verbinden also zwei Brennpunkte kosmischer Zeit: eine Vergangenheit, in der Strukturen angelegt werden, und eine entsprechend geordnete Gegenwart.
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Weltzeitmythen
Den totemischen Gesellschaften stehen etwa die Mythologien Polynesiens gegenüber5. Diese sind um lange kosmogonische Genealogien gruppiert, die eine Vielheit vergangener ZA. schildern; sie beginnen mit den Uranfängen der kosmischen Materie (bezeichnet durch Begriffe, die ,Nichts‘ oder ,Nacht‘ bedeuten), auf die verschiedene Phasen kosmischer, geologischer und gesellschaftlicher Entwicklung folgen. Die letztere führt zu einer Phase der Halbgötter, zu Wanderungen heroischer menschlicher Vorfahren aus einer Urheimat und schließlich zu den eigenen Geschichten der Stammesgruppen der Gegenwart6. Die verschiedenen Phasen der Entstehung des Kosmos in solchen Evolutionsmythen entwickeln sich von der Makro- zur Mikroebene: Zunächst nimmt der Kosmos Gestalt an, begleitet vom Ursprung der politischen Ordnung der Götter; danach bilden sich die Topographie der Erde und die Ursprünge der menschlichen Kultur und Gesellschaft heraus. Die zeitliche Struktur nahezu aller Mythologien enthält ein zyklisches Element, z. B. in der Möglichkeit ritueller Rückkehr zu einer mythischen Vergangenheit (von M. J Eliade ,illo tempore‘ genannt7) oder in der ständigen Wiederholung bestimmter Paradigmen in verschiedenen kosmischen ZA.n. Vom Zyklischen zum ,Zeitlosen‘ ist es dabei nur ein kurzer Schritt. Mythen stellen oft Parallelen zwischen Ereignissen des Makrokosmos und des Mikrokosmos her, so etwa zwischen dem Alter der Welt und dem Alter der Menschheit. Das wohl berühmteste Beispiel ist der Mythos von den ZA.n in J Hesiods Erga kai he¯merai ([Werke und Tage] 106⫺201), der die menschliche Geschichte in Perioden entsprechend der in diesen benutzten Metalle einteilt: Gold, Silber, Bronze, Eisen; zwischen dem Bronze- und dem Eisenzeitalter ist ein heroisches ZA. eingeschoben, in dem Halbgötter die Erde beherrschten (cf. J Theogonie)8. Mythen bedienen sich unterschiedlicher Klassifikationssysteme. Einige sind kosmischer Art und spiegeln Veränderungen im himmlischen Königreich wider; andere betreffen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Menschheit und Gottheit. In frühen ⫺ goldenen bzw. paradiesischen ⫺ ZA.n waren die Menschen den Göttern am nächsten, sowohl räumlich als auch manchmal dem Wesen nach; wie in der
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bibl. J Paradiesgeschichte (Gen. 2,15⫺18) hatten sie zuweilen sogar mit den Gottheiten Umgang. Oft mußten die Menschen weder arbeiten noch waren sie dem Tod unterworfen. Dieses ZA. wird z. B. durch J Sünde oder einen anderen Fehler beendet, und die menschlichen Lebensumstände verschlechtern sich9. Die Menschheit beginnt als vollkommen, beinahe göttlich, gelangt danach in einen weniger vollkommenen Zustand, der ebenfalls endet, und so geht es weiter bis in die Gegenwart. Mit dem Fortschreiten der ZA. entfernt sich die Menschheit immer weiter von den Göttern, sowohl was Wesensähnlichkeit als auch was räumliche Nähe betrifft, oder die Götter ziehen sich aus der Welt zurück, und mit diesem Auszug geht eine Verminderung der Qualität und der Dauer des Lebens einher. Im Ursprungsmythos der Hopi beginnt die Menschheit hingegen als gewalttätige Insektenrasse, die sich mit jedem Aufstieg verändert, bis sie volle Menschlichkeit erlangt, obwohl sie auch dann noch immer moralisch unvollkommen ist10. Innerhalb jeder Welt besteht eine degenerative Tendenz, aber insgesamt ist das Durchlaufen aufeinanderfolgender Welten von physischem und moralischem Fortschritt geprägt. Im Popol Wuj (Buch des Rates) der J Maya entsteht die Menschheit durch eine Reihe von Versuchen der Götter, ihre Schöpfung zu verbessern; erst der vierte Versuch, bei dem die göttlichen Heldenzwillinge zu Maismehl zerrieben werden, aus dem die Vorfahren der Quiche´ entstehen, führt zum Erfolg11. Bei den Azteken endet jedes der fünf ZA. mit Zerstörung, und die Menschen passen sich an, um zu überleben12. Ein weiteres Modell bietet der altnord. Mythos, der lediglich zwei ZA. aufweist. Das eine ist die mythol. Gegenwart der Erzähler der Wikingerzeit13, deren Ende den Göttern prophezeit ist14. In der Endschlacht zwischen den Göttern und den gegnerischen Kräften sollen die meisten Götter getötet werden und der Kosmos verbrennen. Aus der Asche wird sich dann ein neues goldenes ZA. des Friedens erheben, dem verschiedene Kinder des vorhergehenden vorstehen werden. Zeitlichkeit und J Chronologie sind in den meisten Mythen zwar von größter Wichtigkeit, werden aber nicht mit Hilfe abstrakter Maße, sondern konkret, physisch, gesellschaftlich und
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Wendelin, Hl.
manchmal persönlich angegangen. ZA. sind durch Naturzyklen und Ereignisse wie Zerstörung (so in der altnord. Mythologie oder der Mythologie der Nahua) und durch physische Merkmale des Kosmos und der Menschen (etwa in der Mythologie der Griechen oder der Maya) definiert. Der Übergang von einem ZA. zum nächsten kann durch Vatermord veranlaßt sein (z. B. bei Hesiod der Herrschaft des Uranos durch Kronos und der des Kronos durch J Zeus; J Usurpator). In vielen Mythologien lebten die Menschen früherer ZA. Hunderte oder Tausende von Jahren lang; in der Gegenwart ist das menschliche Leben am kürzesten; dies spiegelt eine kosmische Entwicklung zum Schlechteren wider. Die Darstellungen der Zeit in traditionellen Mythologien haben auch literar. Nachahmungen inspiriert. So spielt J. R. R. J Tolkiens Lord of the Rings im letzten der drei ZA. der als Mittelerde bezeichneten Welt, wobei sich auch Tolkiens Kosmologie durch eine mit dem Verstreichen der Zeit verbundene Verschlechterung auszeichnet: Zwar wird das ultimativ Böse durch eine Allianz unterschiedlicher menschenähnlicher Wesen besiegt, aber zum Ende des ZA.s verlassen die unsterblichen Elben Mittelerde. Auch Darstellungen des Zukünftigen wie J Eschatologien werden oft den W. zugeordnet, bes. wenn sie in Zusammenhang mit alten Mustern oder J Prophezeiungen stehen. Boas zufolge werden in manchen Gesellschaften die Ebene des Mythos und die Ebene der Gegenwart so wenig voneiander unterschieden, daß man von den betr. Völkern behaupten könne, sie lebten in ihrem mythischen ZA.15 1
Bascom, W.: Forms of Folklore. Prose Narratives. In: JAFL 78 (1965) 3⫺20. ⫺ 2 Boas, F.: The Mythologies of the Indians. In: Internat. Quart. 11 (1905) 327⫺342; 12 (1906) 157⫺173. ⫺ 3 cf. Vecsey, C.: Imagine Ourselves Richly. N. Y. 1988, 34⫺53. ⫺ 4 Radin, P.: The Trickster. N. Y. 1956. ⫺ 5 Le´viStrauss, C.: La Pense´e sauvage. P. 1962, 287⫺323. ⫺ 6 Best, E.: Maori Religion and Mythology. Wellington 1924; Beckwith, M.: Hawaiian Mythology. New Haven 1940; cf. Traube, E.: Cosmology and Social Life. Chic. 1987. ⫺ 7 Eliade, M.: The Myth of the Eternal Return. N. Y. 1965. ⫺ 8 Hansen, W.: Handbook of Classical Mythology. Ox. 2003, 236⫺239. ⫺ 9 cf. Hansen, W.: Poverty of Cause in Mythological Narrative. In: FL 120 (2009) 241⫺252. ⫺ 10 Courlander, H.: The Fourth World of the Hopis. N. Y. 1971. ⫺
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11 Popol Vuh. Übers. D. Tedlock. N. Y. 1996, bes. 78⫺86. ⫺ 12 Read, K. A./Gonzalez, J. J.: Mesoamerican Mythology. Ox. 2002, 81⫺123. ⫺ 13 Lindow, J.: Norse Mythology. Ox. 2002, 254⫺258. ⫺ 14 The Poetic Edda. Übers. L. Hollander. Austin 1986, 1⫺ 13. ⫺ 15 Boas (wie not. 2) 329.
Bloomington
Daniel Peretti Gregory Schrempp
Wendelin, Hl. (Gedenktag: 20. 10.). W. wird als hist. Gestalt greifbar in dem in der Vita des Trierer Bischofs Magnerich (gest. nach 587) erwähnten Wandalinus, der zur Zeit dieses Bischofs im Waldgebirge um Trier als Mönch oder Einsiedler und Missionar lebte1. Seine Grabstätte ist um 1000 im Kalendarium von Stablo in Basonvillare (seit dem 12. Jh. St. Wendel) bezeugt; 1360 wurden die Reliquien in den Hochchor der neuerbauten Kirche transferiert. Dort befindet sich das Zentrum des W.Kultes mit Wallfahrten seit dem MA. Die Verehrung des hl. W. verbreitete sich über den alemann.-fränk. Kernraum hinaus bis nach Ostmitteleuropa und durch Auswanderer nach Übersee2. Die nicht vor dem 13. Jh. einsetzende Legendentradition3 machte W. zu einem typischen Legenden- und Volksheiligen und begründete seine Verehrung als Vieh- und Hirten-, bes. Schäferpatron sowie als Beschützer gegen Seuchen und als Schutzheiliger der Pilger und Dienstboten4. Nach der Legende5 verläßt der aus einem kgl. iroschott. Geschlecht stammende W. seine Heimat und kommt in das Waldgebirge um Trier. Dort verdingt er sich bei einem Edelmann als Hirt. Eines Tages entdeckt sein Herr auf einem Ausritt, daß W. die Schafe meilenweit vom Hofe entfernt weidet. Erzürnt darüber, muß er erstaunt zusehen, wie W. am Abend mit der Herde noch vor ihm selbst durch das Hoftor einzieht. Nun erkennt er W.s Würde und läßt ihm eine Zelle im Wald bauen, wo W. fortan ein gottgefälliges Leben führt (J Einsiedler), bis er von den Mönchen des nahegelegenen Klosters Tholey zum Abt gewählt wird. Nach seinem Tod wollen ihn die Mönche im Kloster bestatten, doch tags darauf liegt der Leichnam wieder neben dem J Grab. Da legen sie den Leichnam auf einen mit zwei Ochsen bespannten Wagen, der ihn ohne Fuhrmann zur einstigen Klause bringt (J Gespannwunder). Über seinem Grab, zu dem viele Menschen pilgern, wird eine Kirche erbaut, und um sie herum entsteht eine Stadt (das heutige St. Wendel im Saarland).
Post mortem geschehen Wunder: Ein Angreifer der Stadt erblindet und erhält nach der
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Wenz, Dominicus
Anrufung W.s sein Augenlicht wieder; zwei Kirchenräuber gehen in die Irre und werden ergriffen6. Die Stadt Saarbrücken wird beim Brand von 1417 gerettet7. Einzelne Legendenfassungen berichten schon für W.s Lebenszeit weitere Wunder; so soll er das Auslaufen eines offenen Weingefäßes verhindert und einen ertrunkenen Knaben wieder zum Leben erweckt haben8. Legendenversionen bes. der Barockzeit binden W. stärker in Natur und Landschaft ein, machen ihn zum eigentlichen Schäferpatron und übertragen Wunder und Motive anderer Heiliger auf ihn: Durch einen Schlag seines Hirtenstabs bringt er eine Quelle zum Fließen (J Quellwunder); aus dem Stab erwächst ein mächtiger Baum (cf. AaTh/ATU 756: Der grünende J Zweig); um unkeusche Gedanken abzuwehren, wirft er sich in Dornen (J Keuschheit)9. Romantisch verklärend vereint eine Erzählfassung des 19. Jh.s diese Motive10. Außerdem berichtet eine Sage, daß ein Adliger, der am W.s-Tag aus Willkür einen Geistlichen erschossen hatte, in der darauffolgenden Nacht seine Burg und seine Familie verlor11; eine andere schildert, wie sich der Heilige an einem Ehepaar rächte, das in einer ihm geweihten Kapelle einen Diebstahl begangen hatte12. Ein W.-Standbild soll bei einem Lawinenniedergang unversehrt geblieben sein13, und eine verheerende Viehseuche soll nur die Tiere des Mannes verschont haben, der für die Instandhaltung einer W.-Statue sorgte14. 1 Brounette, E´.: Vendelino. In: Bibliotheca Sanctorum 12, Rom, 1969, 1000⫺1003; Thomas, A.: W. In: LCI 8 (1976) 593 sq.; Flesch, S.: W. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 1997, 2181; Weber, G.: W. In: LThK 10 (32001) 1087; Selzer, A.: St. W. Leben und Verehrung eines alemann.-fränk. Volksheiligen. Mödling 21962; Peter, M.: Der hl. W. Die Geschichte eines faszinierenden Lebens. Nonnweiler-Otzenhausen 2005. ⫺ 2 Selzer (wie not. 1) 145⫺357; cf. auch Gulyas, E.: Die Verehrung des hl. W. in Ungarn. In: Jb. für Vk. 4 (1981) 197⫺206; Bormuth, H./Friedel, H.: Die Verehrung des Bauernheiligen W. im Odenwald. In: Gelurt. Odenwälder Jb. für Kultur und Geschichte (2001) 19⫺26. ⫺ 3 Selzer (wie not. 1) 69⫺144; Williams-Krapp, W.: W. In: Verflex. 10 (21999) 848 sq. ⫺ 4 cf. auch die Darstellung W.s in der Kunst: Selzer, A.: St. W. in Kult und Kunst. Mödling 21962; Thomas (wie not. 1); Jacobeit, W.: Der Stab des hl. W. In: DJbfVk. 6,1 (1960) 182⫺186. ⫺ 5 Der Hl.n Leben und Leiden. Übers. S. Rüttgers. Lpz. 1913, 452⫺454. ⫺ 6 ibid., 454. ⫺ 7 Nachweise
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bei Selzer (wie not. 1) 77 sq., 82. ⫺ 8 ibid., 77 sq., 82. ⫺ 9 ibid., 96 sq. ⫺ 10 Zaunert, P.: Rheinlandsagen 2. Jena 1924, 85⫺88. ⫺ 11 Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 689. ⫺ 12 Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 864. ⫺ 13 Senti, A.: Sagen aus dem Sarganserland. Basel 1974, 247. ⫺ 14 Cammann, A./Karasek, A.: Volkserzählung der Karpatendeutschen. Slowakei 1. Marburg 1981, 307.
Würzburg
Erich Wimmer
Wenz, Dominicus, *1699, † Öhningen (bei Konstanz) 1755, regulierter Augustiner-Chorherr und Pfarrer in Öhningen, bedeutender Vertreter der Erbauungsliteratur des 18. Jh.s; nähere Lebensumstände sind nicht bekannt. Mit den bislang kaum beachteten Werken von W. hat sich vor allem R. J Schenda1 beschäftigt. Das primär wohl für Ordensbrüder gedachte Compendium expositionis in divi P. Augustini regulam (Konstanz 1718) versteht sich als ein Überblick zur Regel des hl. Augustinus, in dem W. die Kommentare des Humbertus de Romanis und des Hugo von St. Viktor zu den Aufgaben und Pflichten der Ordensangehörigen allg.verständlich darbietet. Spätere Veröff.en sind ebenso auf praktischen Nutzen ausgerichtet und dienen gleichermaßen der Unterweisung wie der Erbauung. Das mit Fragen und Antworten versehene schmale Lehrbuch Beicht- und Communion-Kinder-Lehr der Schul-Jugend, so das erstemahl beichten und communicieren muß (Konstanz 1724)2 behandelt die Glaubensund Heilslehre sowie die Sakramente der Beichte und der Eucharistie; das pädagogische Anliegen wird im Titel durch die „Zugaab etlicher Exempel, theils frommer, theils ungerathener Kinder“ veranschaulicht; der Strafcharakter für Fehlverhalten überwiegt. Hinzu kommen ,christ-sittliche Lehrpunkte‘ und Gebete sowie ein Gespräch zwischen einem Schutzengel und seinem Pflegekind. Die alphabetisch angeordnete Sentenzensammlung Nucleus verae sapientiae (Konstanz 1726), für deren Abfassung sich W. an der lat. mehrfach aufgelegten und auch dt. erschienenen Spruchsammlung des G. Bona (HandLeytung zum Himmel. Köln 1665) orientierte, vermittelt Sinnsprüche der Antike wie auch
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Wenz, Dominicus
Sentenzen des Jesuiten J. E. Nieremberg (Gnomoglyphica [Lyon 1642]). Für die Erzählforschung bedeutsam sind vor allem die von W. vorgelegten Exempelsammlungen, deren Adressaten Eltern und Kinder sind, da Kinder in der Lit. bis zur Aufklärung nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die viele Bedürfnisse ansprechenden Kompendien verbinden religiöse Unterweisung mit erbaulichen und unterhaltenden Elementen (,curieusen Begebenheiten‘), sind Ratgeber und Spruchsammlung in einem und sprechen diese Ziele auch in der Vorrede an, wie es bereits Jahrzehnte zuvor J Martin von Cochem für die von ihm dargebotenen Lesestoffe getan hatte. Nach W.’ Slg Christl. Jugend nutzlicher Zeitvertreib. Das ist: Lehrreiches ExempelBuch (Konstanz [ca 1726⫺30] 21734) und einer Forts. […] (Konstanz 1730) folgte mit Cathol. Jugend ehrliche Kurtzweil (Augsburg 1738) eine weitere Slg3, die bereits im Titel stärker den didaktischen Wert betont: Bestehend in Erzehlung theils lehrreicher Fablen, theils curieuser Begebenheiten, woraus allzeit eine gute Lehr gezogen wird: Sambt einem Beschluß sowohl sinnreicher als lächerlichen Reden, so zwischen unterschiedlichen Leuthen vorgefallen. Offenbar angeregt von dem Anliegen jesuit. Erzählliteratur, die J Katechese durch anschauliche Beispiele von J Tugenden und Lastern zu untermauern und zu popularisieren, faßte W. seine bisherigen Exempelbüchlein zusammen, sorgte für Erweiterungen und vor allem für eine stärkere Berücksichtigung kurzweiliger, z. T. witziger Anekdoten, schwankhafter Erzählungen und Scherzfragen4, um auf diese Weise ein ,Haus- und Les-Buch‘ zu schaffen: Lehrreiches Exempel-Buch. Das ist: Auserlesene [. ..] lehrreiche Fabeln zur Aufmunterung Christ-Cathol. Jugend, wie auch denen Erwachsenen zu ihrer Seelen-Heil (Augsburg 1757, 31764, 41793)5. Die etwa 400 darin enthaltenen Exempla, Historien und Begebenheiten breitete W. in barocker Form mit großer Freude am Erzählen aus, nannte vielfach Quellen und berief sich dabei auf rund 200 Autoren. Ein- bis zweimal z. B. werden Petrarca oder J Valerius Maximus genannt; bis zu zehnmal zitiert sind ma. Exempelkompilatoren wie J Caesarius von Heisterbach, J Thomas Cantipratanus oder Johannes J Herolt, bes. aber nachreformatorische Autoren
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wie Laurentius J Surius, Martin J Delrio, Jeremias J Drexel, Alonso Andrada, Caesar Baronius, Nicolaus Caussin, Angelin Gazet, Cornelius Hazart, Jacob J Bidermann oder Wolfgang J Rauscher. Auf diese Weise wirkten die katholischen Autoren als Stofflieferanten und Ideengeber bis ins späte 18. Jh. weiter. Mit ihren Slgen von Fabeln, Exempla, Sensationsund Mordgeschichten inspirierten sie sogar noch die weitgehend protestant. Autoren der sich ausbildenden Kinder- und Jugendliteratur6. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.)7: 23⫺25 ⫽ AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen). ⫺ 37⫺41 ⫽ J Jakobspilger. ⫺ 62 sq. ⫽ ATU 760**: The Obstinate Child. ⫺ 63 sq. ⫽ Plötzliches Ergrauen der Haare (J Altern). ⫺ 67⫺69 ⫽ AaTh/ ATU 335: J Boten des Todes. ⫺ 71⫺75 ⫽ AaTh/ ATU 470 A: J Don Juan. ⫺ 157⫺159 ⫽ Wiedergänger quält seinen Lehrmeister Silo wegen dessen Spitzfindigkeit (Tubach, num. 1103). ⫺ 160 sq. ⫽ AaTh/ATU 808: J Teufel und Engel kämpfen um die Seele. ⫺ 225⫺228 ⫽ AaTh/ATU 471 A: J Mönch und Vöglein. ⫺ 228⫺231 ⫽ AaTh/ATU 470: J Freunde in Leben und Tod. ⫺ 239⫺249 ⫽ AaTh/ATU 821: J Teufel als Advokat. ⫺ 265⫺269 ⫽ AaTh/ATU 992: J Herzmäre. ⫺ 482⫺485 ⫽ AaTh/ATU 1377: J Puteus. ⫺ 507⫺511 ⫽ AaTh/ATU 1531: J Bauer wird König für einen Tag. ⫺ 580 ⫽ Messe auf dem Walfischrücken (cf. J Brandans Seefahrt). ⫺ 679 (num. 6) ⫽ AaTh/ATU 1341 C: Robbers Commiserated. ⫺ 679 (num. 9) ⫽ Einäugiger stirbt leichter (müßte nur ein Auge schließen). ⫺ 682 (num. 28) ⫽ Ehefrau bei Unwetter schwerste Last an Bord (Tubach, num. 3299, 5289; cf. AaTh/ATU 973: J Mann als Sturmopfer). ⫺ 687 (num. 66) ⫽ AaTh/ATU 1620*: The Conversation of Two Handicapped Persons (J Buckel, Buckliger). ⫺ 707 sq. ⫽ AaTh/ATU 59*: The Jackal as Trouble Maker. ⫺ 709⫺715 ⫽ AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn. ⫺ 715⫺717 ⫽ AaTh/ATU 85: J Maus, Vogel und Bratwurst. ⫺ 717 sq. ⫽ AaTh/ATU 838: J Sohn am Galgen. ⫺ 719⫺723 ⫽ Teile des Hauses streiten um ihre Bedeutung (cf. AaTh/ATU 293: J Magen und Glieder). ⫺ 723⫺730 ⫽ AaTh/ATU 52: J Eselherzfabel. ⫺ 731⫺734 ⫽ AaTh/ATU 1950: J Faulheitswettbewerb. ⫺ 750⫺753 ⫽ AaTh/ATU 70: J Hasen und Frösche. ⫺ 753 sq. ⫽ AaTh/ATU 1215: J Asinus vulgi. ⫺ 759 sq. ⫽ AaTh/ATU 62: J Friedensfabel. ⫺ 760⫺762 ⫽ AaTh/ATU 51 A: J Fuchs hat Schnupfen. ⫺ 762 sq. ⫽ AaTh/ATU 50: Der kranke J Löwe. ⫺ 768 sq. ⫽ AaTh/ATU 845: Der J Alte und der Tod. ⫺ 770 sq. ⫽ AaTh/ATU 298 C*: J Baum und Rohr. ⫺ 772 sq. ⫽ AaTh/ATU 112: J Feldmaus und Stadtmaus. ⫺ 774 sq. ⫽ AaTh/ATU 50 A: Fußspuren vor der J Löwenhöhle. ⫺ 775 ⫽ AaTh/ATU 214: J Esel will den Herrn liebkosen. ⫺ 777 sq. ⫽ AaTh/ATU 110: J Katze mit der Schelle.
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Wepsen
1 Schenda, R.: Dominicus W., ein Öhninger Erzähler des 18. Jh.s. In: Berner, H. (ed.): Dorf und Stift Öhningen. Öhningen 1966, 232⫺240; cf. auch Pape, W.: Das literar. Kinderbuch. B./N. Y. 1981, 62⫺66. ⫺ 2 Schenda (wie not. 1) 233 sq.; Brüggemann, T./ Ewers, H.-H. (edd.): Hb. zur Kinder- und Jugendlit. von 1570 bis 1750. Stg. 1991, 1956. ⫺ 3 ibid., 1957; Schenda (wie not. 1) 235⫺237. ⫺ 4 ibid., 235⫺ 239. ⫺ 5 cf. Uther, H.-J.: Merkwürdige Lit. CDROM B. 2005 (Digitalisierung der Ausg. 1757). ⫺ 6 Moser-Rath, E.: „Schertz und Ernst beysammen“. Volkstümliches Erzählgut in geistlichen Schriften des 18. Jh.s. In: ZfVk. (1965) 38⫺71, hier 62⫺64. ⫺ 7 W., D.: Lehrreiches Exempel-Buch. Augsburg 1757, ed. H.-J. Uther (wie not. 5).
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Wepsen. Die W. (Eigenbezeichnung vepslaizˇed [bepslaizˇed], l’üdinikad) gehören mit den Finnen (J Finnland), J Esten und J Woten zu den ostseefinn. Völkern der finno-ugr. Sprachgruppe. Ihr Siedlungsbereich liegt in Rußland in den Gebieten Wologda und St. Petersburg sowie in Karelien um den Onegasee. Bei der letzten Volkszählung in Rußland (2002) wurden 8600 Personen als W. erfaßt. Die Erforschung der weps. mündl. Überlieferung beginnt mit der Berücksichtigung narrativer Texte durch Sprachwissenschaftler Ende des 19. Jh.s1. Seit den 1930er Jahren wurde die weps. Schriftsprache entwickelt. Nach einem kurzen Zeitraum (1932⫺37/38), in dem das Wepsische als Unterrichtssprache an den Schulen zugelassen war, gibt es erst seit Ende der 1980er Jahre wieder ein verstärktes Bewußtsein für die weps. Kultur. Seit 1993 wird die weps. Zs. Kodima (Heimat) herausgegeben, und es erschienen zahlreiche literar. Werke in weps. Sprache. Inzwischen liegen ⫺ meist in finn. oder russ. Sprache ⫺ außer Sammelbänden von Volksüberlieferungen2 u. a. zahlreiche ethnogr. Einzelstudien3 sowie Sammelbände zu Aspekten der weps. Kultur vor4. Die älteren Aufzeichnungen weps. Märchen sind in der Typologie des finno-ugr. Erzählguts erfaßt5. Weitere typol. Analysen stammen von I. J Levin und W. J Anderson6. Eine neuere zweisprachige Märchensammlung verzeichnet im Anhang die im Inst. jazyka, literatury i istorii Karel’skogo naucˇnogo centra (Inst. für Sprache, Lit. und Geschichte des Karel. Forschungszentrums) der Russ. Akad. der
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Wiss.en in Petrozavodsk archivierten hs. und auf Tonband aufgezeichneten Märchen7. Die charakteristischsten Gattungen der weps. Volksüberlieferung sind Klagelieder und Märchen. Totenklagen waren noch Mitte des 20. Jh.s selbstverständlicher Bestandteil von Beerdigungen und Gedenkfeiern8 und sind z. T. noch heute in Gebrauch. Weps. Klagelieder verwenden eine relativ direkte Sprache ohne spezifische Metaphern, ihre Melodien haben archaische Züge9, und sie sind durch Anfangsreim und syntaktischen Parallelismus geprägt10. Die neuere Forschung hat sich auch mit Legenden- und Tanzliedern beschäftigt11. Unter den kleineren Gattungen der weps. Volksüberlieferung sind die Sprichwörter bes. gründlich erforscht12. In der weps. Erzählüberlieferung sind Zaubermärchen und Schwänke am häufigsten vertreten. In Erzählungen vom dummen Teufel tritt der Bär als dämonisches Wesen auf13. Verbreitet sind Erzählungen, die unter den Erzähltypen AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen bzw. AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen klassifiziert worden sind. Eine beliebte Schwankfigur ist Urad Ivan (Dummer Ivan). Märchen werden heute allerdings kaum noch erzählt. Allg. ist die weps. Volksüberlieferung nach wie vor teilweise von traditionellen Glaubensvorstellungen geprägt. So kann es vorkommen, daß Informanten etwa beim Thema Waldgeister von eigenen Begegnungen oder denen anderer mit diesen Wesen erzählen14. Ungeachtet einer allg. Nähe weps. Märchen zur russ. Überlieferung läßt sich eine ,nördl. Dimension‘ feststellen: So ist eine Erzählung, in der ein Waldbewohner sich gegen Räuber zur Wehr setzt (Andreev *967 ⫽ SUS 958 A*****), bei Kareliern, Komi (J Syrjänen), Nordrussen und W. verbreitet, so daß man von einem finno-ugr. Substrat ausgehen kann15. Gemeinsame Züge in der Volksüberlieferung dieser Gruppen sind offensichtlich durch direkte Kontakte sowie ähnliche natürliche und soziale Verhältnisse bedingt16. 1 cf. u. a. Kettunen, L./Siro, P.: Näytteitä vepsän murteista (Textbeispiele weps. Dialekte). Hels. 1935; Setälä, E. N./Kala, J. H.: Näytteitä äänis- ja keskivepsän murteista (Textbeispiele von Onega- und mittelweps. Dialekten). Hels. 1951; Sovijärvi, A./Peltola, R.: Äänisvepsän näytteitä (Textbeispiele von
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den Onegawepsen). Hels. 1982. ⫺ 2 Lonin, R.: Minun rahvhan fol’klor (Die Überlieferung meines Volkes). Petrozavodsk 2000; Lonin, R.: Lühudad pajoized (Kurze Liedlein). Petrozavodsk 2000. ⫺ 3 Vinokurova, I.: Kalendarnye obycˇai, obrjady i prazdniki vepsov (konec XIX ⫺ nacˇalo XX vv.) (Kalendarische Sitten, Bräuche und Feste der W. [Ende 19. ⫺ Anfang 20. Jh.]). Petrozavodsk 1990; ead.: Zˇivotnye v tradicionnom mirovozrenii vepsov (Tiere im traditionellen Weltbild der W. ). Petrozavodsk 2006; Strogal’sˇikova, Z.: Vepsy. Istoriko-e˙tnograficˇeskij ocˇerk/ Vepsläizˇed. Istorii-etnografine tedosanutez (Die W. Hist.-ethnogr. Beitr.e). Petrozavodsk 2008. ⫺ 4 Heikkinen, K./Mullonen, I. (edd.): Vepsalaiset tutuiksi: Kirjoituksia vepsalaisten kulttuurista [Aufsätze zur weps. Kultur]. Joensuu 1994; Vepsy. Istorija, kul’tura i mezˇe˙tnicˇeskie kontakty (Die W. Geschichte, Kultur und ethnische Beziehungen). Petrozavodsk 1999; Saressalo, L. (ed.): Vepsä. Maa, kansa, kulttuuri (Die W. Land, Volk, Kultur). Tampere/Hels. 2005. ⫺ 5 Kecskeme´ti/Paunonen. ⫺ 6 Levin, I.: Eine weps. Märchenslg. In: Fabula 4 (1961) 174⫺176 (Nachtrag von W. Anderson, 176⫺178). ⫺ 7 Onegina, N./Zaiceva, M.: Vepsän rahvhan sarnad/Vepsskie narodnye skazki (Weps. Volkmärchen). Petrozavodsk 1996. ⫺ 8 Joalaid, M.: Itk vepsa matusekombestikus (Das Klagelied im weps. Beerdigungsbrauchtum). In: Tagasipöördumatus. So˜nad ja hääl. ed. K. Salve/M. Ko˜iva/Ü. Tedre. Tartu 2000, 265⫺ 282. ⫺ 9 Rüütel, I./Remmel, M.: Opyt notacii i issledovanija vepsskich pricˇitanii (Versuch der systematischen Darstellung und Erforschung weps. Klagelieder). In: Finno-ugorskij muzykal’nyj fol’klor i vzaimosvjazi s sosednimi kul’turami. ed. I. Rüütel. Tallinn 1980, 169⫺195. ⫺ 10 Salve, K.: Kallite kasvatajate juurest vo˜o˜rale vilule rannale. Kesk-vepsa pulmaitkudest [Über mittelweps. Hochzeitsklagen]. In: ead. u. a. (wie not. 8) 241⫺264. ⫺ 11 ead.: Song Genres of Vepsian Folklore at Present. In: Internat. Conference Folk Music Today. Tallinn 1989, 147⫺150. ⫺ 12 Joalaid, M.: Vepsa ja karjala ühised vanaso˜nad (Gemeinsame Sprichwörter der W. und Karelier). In: Lähedalt ja kaugelt. Emakeele seltsi aastaraamat 31 (1985) 108⫺129; Kuusi, M. u. a. (edd.): Proverbia septentrionalia. 900 BaltoFinnic Proverb Types with Russian, Baltic, German and Scandinavian Parallels (FFC 236). Hels. 1985, 29⫺36; Vepsa vanaso˜nad: eesti, vadja, liivi, karjala ja vene vastetega (Weps. Sprichwörter: estn., wot., karel. und russ. Entsprechungen) 1⫺2. Tallinn 1992. ⫺ 13 Kippar, P.: Eesti loomamuinasjuttude vahekorrast vanapagana-muinasjuttudega (Über das Verhältnis der estn. Tiermärchen zu den Märchen vom dummen Teufel). In: Rahvaluulest. Emakeele seltsi toimetised 21 (1987) 57⫺75. ⫺ 14 Salve, K.: Forest Fairies in the Vepsian Folk Tradition. In: Folk Belief Today. ed. M. Ko˜iva/K. Vassiljeva. Tartu 1995, 413⫺434; Heikkinen, K.: Metsänpelko ja tietäjänaiset. Vepsäläisnaisten uskonto Venäjällä (Angst vor dem Wald und weisen Frauen. Glaubensvorstellungen weps. Frauen in Rußland). Hels. 2006. ⫺ 15 Salve,
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K.: A Heroic Tale’s Travel from Siberia to the BaltoFinnic Peoples. In: Folklore. Electronic J. of Folklore 29 (2005) 25⫺44. ⫺ 16 ead.: Folkloristi pilk ühele piirilo˜igule. Vepsa ja komi rahvaluule ühisjoontest ja nende kujunemise vo˜imalikest teedest [Über die Entstehung der gemeinsamen Züge in der Volksüberlieferung der W. und Komi]. In: Pajusalu, K./Rahman, J. (edd.): Läänemeresoome idapiir. Vo˜ru 2003, 139⫺167; ead.: Vepsa muinasjutte (Weps. Volksmärchen). Tallinn 1993.
Tartu
Kristi Salve
Werbung 1. Allgemeines ⫺ 2. W. und Vk. ⫺ 3. W. und Volkserzählung
1 . All ge me in es. Unter W. versteht man planmäßige Maßnahmen, um bestimmte Zielgruppen zu einer Kaufentscheidung zu bewegen oder für eine Idee zu gewinnen. Dabei werden bewußte oder unbewußte Bedürfnisse angesprochen bzw. neue Bedürfnisse geweckt. Das Spektrum der W. erstreckt sich von der Reklame für Konsumgüter bis hin zur politischen Propaganda. Bes. in der freien Marktwirtschaft erfüllt die W. eine wichtige Funktion. Als hist. Ausgangspunkt für die W. kann die industrielle Revolution gelten, die eine Demokratisierung des Wohlstands mit sich brachte und neue Produktmarken für neue Märkte bereitstellte1. Seither beeinflußt die W. mit Hilfe der Massenmedien das Leben auf zahlreichen Gebieten und entwickelte sich im Zuge der Globalisierung auch zu einem internat. Phänomen. In Anbetracht der herausragenden Bedeutung der W. hat sich ein Forschungsgebiet entwickelt, das sich intensiv mit ihren mannigfaltigen Aspekten auseinandersetzt2. Von bes. Interesse ist die Geschichte der W., der sich fünf Disziplinen widmen: Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Kunst- und Kulturgeschichte, Geschichte des Massenkonsums und der Gesellschaftskritik, Kommunikationsgeschichte und Mentalitätsgeschichte3. Zu einem Klassiker der Werbepsychologie wurde V. Packards kritische Studie The Hidden Persuaders (N. Y. 1957)4. Darüber hinaus liegen zahlreiche detaillierte Unters.en vor, etwa zur W. vor dem 1. Weltkrieg5, während des Nationalsozialismus6, zur Zeit des dt. Wirtschafts-
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wunders7, des Medien- und Informationszeitalters8. Sie befassen sich nicht nur mit dem Angebot an Konsumgütern, sondern auch mit sozialpolitischen Aspekten, wie sie z. B. auf Werbeplakaten erkennbar werden9, und machen deutlich, daß sich Werte- und Wunschvorstellungen sowie kulturelle, gesellschaftliche und auch politische Entwicklungen in der W. widerspiegeln. Diese wird nicht nur als zeitorientiert, sondern darüber hinaus auch als „Resonanzkörper oder sensibler Indikator des soziokulturellen Wandels im Lebens- und Weltgefühl des Menschen“ charakterisiert10. Eine frühe Studie, die sich u. a. mit Aufgaben der W. in der freien Marktwirtschaft befaßte, unterschied zwischen Werbeträgern (Ztg, Zs., Litfaßsäule) und Werbemitteln (Anzeige, Plakat, Mauerbemalung, Schaufenster, Verpackung, Werbefilm, -funk, -fernsehen). Sie untersuchte die sozialpsychol. Prinzipien und Leitsätze für den Entwurf der Werbemittel, die Mittel der Direktwerbung (Werbebrief, Prospekt, Broschüre, Katalog, Verkaufsgespräch) sowie Sonderformen (Einzelhandel, Versandhaus, Exportwerbung, Fremdenverkehrswerbung, Public Relations)11. Dieser Bereich hat sich inzwischen durch die Formen der Internet-W., z. B. E-Mail-W., Pop-ups und BannerW., stark erweitert12. Um sowohl für den Warenhersteller als auch für den Konsumenten von Nutzen zu sein, sollte die W. sowohl den Voraussetzungen, Zuständen und Bedingungen des Marktes entsprechen als auch gewisse ethische Grundregeln der Werbewirtschaft beachten13. De facto jedoch fungiert W. in der Regel als psychol. Strategie einer breitangelegten Manipulation, bei der das eigentliche Verbraucherinteresse gegenüber der angestrebten Gewinnmaximierung eine untergeordnete Rolle spielt. 2 . W. u nd Vk. Da W. zu einem festen Bestandteil der Alltagswelt geworden ist, haben sich Volkskundler wiederholt mit volkstümlichen Elementen in der W. befaßt. Der Untertitel von O. Görners bereits 1931 erschienenem Beitrag Reklame und Vk. Lukutate (Möglichkeiten neuer Märchenforschung) deutet an, daß W. Erzählforschern neue Unters.sfelder eröffnen kann. Richtungweisend wird hier von einem Zusammenhang zwischen „Volksmentalität und Reklame“ gesprochen sowie postuliert,
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daß „das Mittel zur Erfüllung eines Wunsches eben der Gegenstand der Reklame“ sei und „daß auch die moderne Reklame und ihre Gegenstände es wert [seien], zum Objekt volkskundlicher Neuentdeckungen zu werden“14. Bes. der Sprachwissenschaftler L. Spitzer setzte sich für eine Würdigung der W. als Volkskunst ein15. A. J Dundes behandelte von der W. neu geprägte und oft humorvolle Folklore in Witzen, Rätseln und Liederversen16. Der Volkskundler K. V. Riedel thematisierte in einem grundlegenden Beitrag die Belebung von Urwünschen, Wundergläubigkeit und kollektiven Normen durch die W.17 Mehrere Studien, die sich allg. mit populären Elementen in den Massenmedien befassten, etwa mit Volksliedern, Volksglauben, Gebärden, Erzählungen, Bräuchen, Sprichwörtern und Redensarten, bezogen den Bereich der W. mit ein18. W. Nöth beschäftigte sich in seiner semiotischen Analyse mit ,primitiven Zeichentypen‘ in der W. und berücksichtigte dabei vor allem den Zusammenhang von Reklame und Magie. Er gelangte zu der Erkenntnis, daß Werbekampagnen durch die beständige Wiederholung der Reklamebotschaft den Charakter eines Ritus erhalten19. 3 . W. u nd Vo lk se rz äh lu ng. Bereits 1978 vertrat L. J Röhrich die Auffassung, daß Volksüberlieferung und W. nicht mehr voneinander zu trennen seien20. Im Jahr 2009 wies W. Bies in einer Studie nach, daß Produktwerbung in Text und Bild immer noch in hohem Maße auf traditionelles Erzählen (Sprichwörter, Slogans, Embleme, Witze, Schwänke, Sagen und bes. Märchen) zurückgreift21. Ebenso wie dieses ist auch das Erzählen in der W. zeitbedingt. Bes. in der massenmedialen Verbreitung fungiert es als „Projektionsschirm der Mentalitäten, Werte, kulturellen Einstellungen und Lebensgefühle einer bestimmten Gesellschaft“22. Auch kulturelle, semiotische und ikonographische Aspekte des Zusammenspiels von populärer Überlieferung und W., in dem sich Tradition und Innovation treffen, wurden beschrieben: „Wenn mediale Transformationen populärer Erzählstoffe immer mehr im Zentrum der heutigen Erzählforschung stehen sollten, wird durch die exemplarische Deutung von Prozessen wie Ästhetisierung, Auratisierung, Nobilitierung, Mythisierung, Pseudosa-
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kralisierung oder selbstreferentielles Alludieren, aber auch Erotisierung, ein deutlich höherer Erkennungsgewinn erzielt als durch eine vielleicht neopositivistisch akzentuierte ,Inventarisierung‘ einzelner Objekte wie Märchenfiguren, Phantasie-Tiere, ikonographische Accessoires oder Symbole.“23 Die moderne Volkserzählforschung kommt demnach ohne Beachtung der W. sowie medien- und kommunikationswiss. Erkenntnisse nicht mehr aus. R. J Schenda wies darauf hin, daß sich im Kontext der W. kreative Kommunikationsakte abspielen: „Einige Märchenstoffe sind in der Werbung (Reklame) oder im Fernsehen, im Buchhandel oder in der Souvenir-Industrie omnipräsent. Insbesondere die Werbe-Industrie arbeitet in mannigfacher Weise mit Zitaten oder Anspielungen aus der Welt weithin bekannter Volkserzählungen, Sprichwörter und Redensarten. Das positive Gefühl potentieller Käufer und Käuferinnen, ein Folklore-Faktum wiedererkannt oder entschlüsselt zu haben, wird bei dieser Art von Kommunikation geschickt ausgenutzt, um ihnen assoziativ die propagierte Ware begehrenswert erscheinen zu lassen.“24 Im 19./20. Jh. spielt die mündl. Tradierung der Märchen eine immer geringer werdende Rolle gegenüber der Vermittlung durch Bücher, Bilder, Filme, Fernsehen oder W., wobei für die Welt der Erwachsenen in der W. noch parodistische oder erotisierte Umformulierungen hinzukommen25. Freilich handelt es sich in der W. gewöhnlich nur um Anspielungen auf allg. bekannte Märchen der Brüder J Grimm, Hans Christian J Andersens oder aus J Tausendundeine Nacht. Zu der Verwendung von Grimm-Märchen in Werbebotschaften liegen detaillierte Analysen vor26. Eine grundlegende Unters. zum Sprichwort und zu Märchenmotiven in der W. gelangte zu der Erkenntnis, daß aus Märchen in erster Linie Personal (Könige, Feen, Hexen, Zwerge) und Requisiten (Kronen, Perlen, Rosen, Ringe, Spiegel, Sterne, Schlüssel) übernommen werden27. Ein moderner Prinz kann z. B. seine Prinzessin gewinnen, indem er ihr Schokolade einer ganz bestimmten Marke schenkt; bekannte Märchenfiguren oder auch anonyme Könige und Tiere entpuppen sich als magische J Helfer28. Gelegentlich begegnen kurze, am Stil eines Märchens orientierte Texte, eingerahmt von aus den KHM bekannten J Ein-
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gangs- und J Schlußformeln wie ,Es war einmal …‘ oder ,Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute‘. Fast immer geht es um Wunscherfüllung (J Wunsch)29, doch im Gegensatz zum Märchen, in dem die Protagonisten zuvor zahlreiche Hindernisse und Prüfungen überwinden müssen, erfolgt diese in der W. sehr schnell30. Eine bekannte Märchenfigur aus den KHM, die zu einem Werbeträger wurde, ist z. B. der J Froschkönig (KHM 1, AaTh/ATU 440), der u. a. für Schuhcreme, Autos oder Zigaretten herangezogen wurde31. J Rotkäppchen (KHM 26, AaTh/ATU 333) wirbt u. a. für Sekt oder Käse32, J Schneewittchen (KHM 53, AaTh/ ATU 709) für Kosmetik und Mode33, die Hauptfigur aus J Sterntaler (KHM 153, ATU 779 H*) erscheint in einer Auto-W.34, J Hänsel und Gretel (KHM 15, AaTh/ATU 327 A) werben für eine Telekommunikationsfirma35, die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27, AaTh/ ATU 130, 210: J Tiere auf Wanderschaft) sind ein fester Bestandteil der Bremer TourismusW.36 Oft wird auch mit den Titeln bekannter Märchen geworben37. So kann die titelgebende Zauberformel aus KHM 36, AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich zum Werbeslogan werden38. Bekannte Andersen-Märchentitel werden ebenfalls mit Werbebotschaften verknüpft, wie etwa „Des Kaisers neue Kleider“ (Autowerbung) oder „Die Wahrheit über die Prinzessin auf der Erbse“ (W. für Pistazien). Dasselbe gilt für die Märchenformel ,Sesam, öffne dich‘ aus AaTh 676/ATU 954: cf. J Ali Baba und die vierzig Räuber39. Die hohe Frequenz von Märchenfiguren und -motiven in der W. zeigt, daß sie das Repertoire der bei den Rezipienten bekannten Stoffe geschickt zu nutzen weiß. Doch mehr als eine Verschlagwortung von Versatzstücken aus den verbreitetsten Märchen findet nicht statt: Märchenpersonal, -requisiten oder -formeln sind aus dem Zusammenhang gerissen, eine inhaltliche Beziehung zwischen Märcheninventar und dem beworbenen Produkt ist nicht gegeben, sondern wird erst konstruiert. Die W. betrachtet Märchen nur als beliebig verfügbare Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses, sie schreckt vor keiner Umfunktionierung oder J Verfremdung zurück und nutzt den Wiedererkennungseffekt der Märchenelemente lediglich im Interesse einer Ab-
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satzsteigerung. Daß viele Kinder Märchen zunächst oder sogar ausschließlich in Form verfremdeter Fragmente rezipieren, ist eine unausweichliche Folge der profitorientierten Aktualisierung des Märcheninventars durch die W. 1 Grosse, E.: 100 Jahre W. in Europa. B. 1980; Kriegeskorte, M.: 100 Jahre W. im Wandel. Eine Reise durch die dt. Vergangenheit. Köln 1995. ⫺ 2 Felser, G.: Werbe- und Konsumpsychologie. B./Heidelberg 3 2007; Schmidt, S. J. (ed.): Hb. W. Münster 2004; Kloss, I.: W.: Lehr-, Studien- und Nachschlagewerk. Oldenburg 2003. ⫺ 3 Gries, R./Ilgen, V./Schindelbeck, D.: „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ W. als Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995, 3. ⫺ 4 Packard, V.: Die geheimen Verführer. Düsseldorf 1958. ⫺ 5 Knop, K.: W. als Signum der Urbanität. In: Das erste Jahrzehnt. Kulturgeschichte des zwanzigsten Jh.s. ed. W. Faulstich. Paderborn 2006. ⫺ 6 Rücker, M.: Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus. Rechtliche Ausgestaltung der W. und Tätigkeit des Werberats der dt. Wirtschaft. Ffm. 2000; Westphal, U.: W. im Dritten Reich. B. 1989. ⫺ 7 Crew, D. F. (ed.): Consuming Germany in the Cold War. Ox./N. Y. 2003. ⫺ 8 Siegert, G./Brecheis, D.: W. in der Medien- und Informationsgesellschaft. Wiesbaden 22010. ⫺ 9 Di Falco, D./Bär, P./Pfister, C. (edd.): Bilder vom besseren Leben. Wie W. Geschichte erzählt. Bern 2002; Schindelbeck, D.: Marken, Moden und Kampagnen. Ill. dt. Konsumgeschichte. Darmstadt 2003. ⫺ 10 Schmidt, S. J.: W. In: Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. ed. J. Wilke. Wien 1999, 518⫺544, hier 518⫺519. ⫺ 11 Kropff, H. F. J.: Die Werbemittel und ihre psychol., künstlerische und technische Gestaltung. Essen 1961. ⫺ 12 Fuchs, C.: Leise schleicht’s durch mein TV. Product Placement und Schleichwerbung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. B. 2005; Weinberg, T.: Social Media Marketing. Strategien für Twitter, Facebook & Co. Peking 2010; Weiss, S.: W. im Web. Der Stellenwert der klassischen Online-W. in der Werbe-Kommunikation. Münster 2010. ⫺ 13 Kropff (wie not. 11) 19 sq. ⫺ 14 Görner, O.: Reklame und Vk. Lukutate (Möglichkeiten neuer Märchenforschung). In: Mitteldt. Bll. für Vk. 6 (1931) 109⫺127, hier 109, 126, 127. ⫺ 15 Spitzer, L.: American Advertising Explained as Popular Art. In: id.: A Method of Interpreting Literature. N. Y. 1949, 102⫺ 149; id.: Amerik. W. als Volkskunst verstanden. In: Sprache im technischen ZA. 12 (1964) 951⫺973. ⫺ 16 Dundes, A.: Advertising and Folklore. In: N. Y. Folklore Quart. 19 (1963) 143⫺151; Gulas, C. S./ Weinberger, M. G.: Humor in Advertising. N. Y. 2006. ⫺ 17 Riedel, K. V.: W. und Reklame als volkskundliche Probleme. In: Beitr.e zur dt. Volks- und Altertumskunde 10 (1966) 93⫺117, hier 104⫺106. ⫺ 18 Burns, T.: Folklore in the Mass Media: Television. In: Folklore Forum 2 (1969) 90⫺106; Denby, P.: Folklore in the Mass Media. ibid. 4 (1971) 113⫺125;
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Bird, D.: A Theory for Folklore in Mass Media. Traditional Patterns in the Mass Media. In: SFQ 40 (1976) 285⫺305. ⫺ 19 Nöth, W.: Dynamik semiotischer Systeme. Vom altengl. Zauberspruch zum ill. Werbetext. Stg. 1977, 47⫺65, hier 61. ⫺ 20 Röhrich, L.: Folklore and Advertising. In: Folklore Studies in the Twentieth Century. ed. V. J. Newall. Woodbridge 1978, 114 sq., hier 114. ⫺ 21 Bies, W.: Traditionelles Erzählen in der W. In: Erzählkultur. Beitr.e zur kulturwiss. Erzählforschung. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 353⫺379, hier 353. ⫺ 22 ibid., 365. ⫺ 23 ibid., 372 sq. ⫺ 24 EM 8, 100. ⫺ 25 EM 4, 240, 255, 1408; EM 10, 580; Röhrich, L.: Gebärde ⫺ Metapher ⫺ Parodie. Studien zur Sprache und Volksdichtung. Düsseldorf 1967 (Nachdr. ed. W. Mieder. Burlington 2006), 144⫺ 147. ⫺ 26 Mieder, W.: Grimms Märchen ⫺ modern. Prosa, Gedichte, Karikaturen. Stg. 1979; id.: Tradition and Innovation in Folk Literature. Hanover, N. H. 1987, 1⫺44; id.: „Märchen haben kurze Beine“. Moderne Märchenreminiszenzen in Lit., Medien und Karikaturen. Wien 2009, 85⫺187; Horn, K.: Grimmsche Märchen als Qu.n für Metaphern und Vergleiche in der Sprache der W., des Journalismus und der Lit. In: Muttersprache 91 (1981) 106⫺ 115. ⫺ 27 Herles, H.: Sprichwort und Märchenmotiv in der W. In: ZfVk. 62 (1966) 67⫺80, hier 78; De´gh, L./Va´zsonyi, A.: Magic for Sale. Märchen and Legend in TV Advertising. In: Fabula 20 (1979) 47⫺68; Baubeta, P. A. O. de: Fairy Tale Motifs in Advertising. In: Estudos de literatura oral 3 (1997) 35⫺60. ⫺ 28 z. B. Der Spiegel 13 (1967) 121; 37 (967) 61; 39 (1967) 136. ⫺ 29 cf. Der Stern 25 (79) hintere Umschlagseite (W. für Re´my Martin). ⫺ 30 Bies (wie not. 21) 360. ⫺ 31 Mieder, W.: Modern Anglo-American Variants of „The Frog Prince“. In: New York Folklore 6 (1980) 111⫺135; Röhrich, L.: Wage es den Frosch zu küssen. Das Grimmsche Märchen Nummer Eins in seinen Wandlungen. Köln 1987, 60 sq.; Bies (wie not. 21) 358⫺363. ⫺ 32 Mieder, W.: Survival Forms of „Little Red Riding Hood“ in Modern Society. In: Internat. Folklore Review 2 (1982) 23⫺40; Ritz, H.: Bilder vom Rotkäppchen. Kassel 22007. ⫺ 33 Baubeta, P. A. O. de: Fairy Tale Motifs in Advertising. In: Estudos de literatura oral 4 (1998) 23⫺53. ⫺ 34 Die Bunte 20 (1984) 224. ⫺ 35 Time (Sonderheft „Cyberspace“, Frühjahr 1995; W. von AT&T) 34⫺ 35, 34sq. ⫺ 36 Richter, D.: Die „Bremer Stadtmusikanten“ in Bremen. Zum Weiterleben eines Grimmschen Märchens. In: Märchen in unserer Zeit. ed. H.-J. Uther. Mü. 1990, 27⫺38; Uther, H.-J.: Zur Entstehung, Bildgeschichte und Bedeutung des Märchens [Die Bremer Stadtmusikanten]. In: Die Stadtmusikanten in Bremen. Geschichte ⫺ Märchen ⫺ Wahrzeichen, ed. A. Röpcke/K. Hackel-Stehr. Bremen 1993, 18⫺52; cf. auch Uther, H.-J.: Hans im Glück (KHM 83 [ATU 1415]). Zur Entstehung, Verbreitung und bildlichen Darstellung eines populären Märchens. In: Märchenspiegel 19 (2008) 2⫺29. ⫺ 37 Mieder, W.: Sprichwörtliche Schwundstufen des
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Werte, Werthaltungen, Wertorientierungen
Märchens. In: Proverbium 3 (1986) 257⫺271; id.: Advertising and Fairy Tales. In: The Oxford Companion to Fairy Tales. ed. J. Zipes. Ox. 2000, 2⫺4; id.: Advertising. In: Haase, D. (ed.): The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 1. Westport 2008, 3⫺5. ⫺ 38 Der Stern 40 (1.10.1979) 203 (W. für Dry Sack). ⫺ 39 Der Spiegel 11 (1981) 76; Die Bunte 32 (1983) 49; Der Stern (2003) 131.
Burlington
Wolfgang Mieder
Werte, Werthaltungen, Wertorientierungen 1. Allgemeines ⫺ 2. Werthaltungen ⫺ 3. Wertorientierungen ⫺ 4. Werte in der Erzählforschung
1 . All ge me in es. Gemeinschaftliche Werte (W.e) bilden eine unabdingbare Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. In ihnen äußern sich die von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder akzeptierten und internalisierten Vorstellungen über das Wünschenswerte und das Abzulehnende: über das, was gut und was schlecht oder böse ist (J Gut und böse). W.e sind Qualitäten, deren Geltung im Einzelfall anerkannt, abgelehnt oder differenziert beurteilt werden kann, die aber insgesamt übergreifende Verbindlichkeit besitzen. Im ganzen handelt es sich um hierarchisch geordnete, als W.esystem wirkende Beurteilungsmaßstäbe für Dinge, Sachverhalte, Meinungen oder Verhaltensweisen in einer Kultur. W.e sind von sozialen Gegebenheiten nicht zu trennen, sie fundieren und rechtfertigen die J Normen und die J Rollenverteilung innerhalb einer Gesellschaft. Sie prägen somit die soziale Lebensordnung und bestimmen das Denken und Handeln. In ihnen verdichtet sich kulturelle Eigenart. Philosophisch können das Gute und das Wahre als höchste W.e gelten, ethisch ist heute die Würde des Menschen das höchste Gut. Im religiösen Verständnis besitzen zentrale W.e menschlichen Lebens in der Form göttlicher Ge- oder J Verbote (J Dekalog) einen transzendenten Bezug. Aus erfahrungswiss. Sicht aber haben sich die W.e im soziokulturellen Entwicklungsprozeß ⫺ kulturspezifisch differenziert ⫺ herausgebildet und bleiben allg. dem geschichtlichen Wandel unterworfen; denn je nach dem Stand der Erkenntnis und dem Zustand der Gesellschaft entwickeln sich neue W.e, wandeln sich alte, oder sie verändern ihr soziales Gewicht.
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Theoretisch besitzen alle Phänomene einer Kultur einen ,kulturellen W.‘, der ihnen rein beschreibend, d. h. wertungsfrei, einen Ort im kulturellen System zuweist1. So kann man z. B. einzelnen Erzählungen einen objektiven Alters- oder einen Seltenheitswert zusprechen, kann einen Erinnerungswert konstatieren oder ⫺ aus der Metaperspektive ⫺ ihren Erkenntniswert und ihren Stellenwert im Kulturgefüge erörtern. Bei der Beurteilung der generellen Wertigkeit einer Erzählung führt aber die Berücksichtigung der unterschiedlichen Betrachtungsaspekte oft zu Wertungskonflikten, aus denen ⫺ im Alltag wie im wiss. Diskurs ⫺ wiederum unterschiedliche Handlungsentscheidungen oder Folgerungen resultieren. Hinsichtlich ihres Gewichts und ihrer Geltung sind absolute und relative W.e sowie objektive und subjektive W.e zu unterscheiden, hinsichtlich ihrer Funktion positive und negative W.e (Unwerte). Für die Erzählforschung bedeutsam ist zunächst die inhaltliche Differenzierung zwischen ethisch-moralischen W.en (J Ethik; J Moral), die das menschliche Handeln im Blick auf eine übergeordnete Instanz (Gott, Gewissen) zu regeln versuchen, sowie instrumentellen (sekundären) W.en, die der Verwirklichung jener Grundwerte mit höherem Geltungsanspruch dienen. Die erste Gruppe steht an der Spitze der gesellschaftlichen W.ehierarchie; dazu gehören vor allem die in den Individuen tief verankerten, unmittelbar empfundenen Gewißheiten über Gut und Böse, J Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, J Wahrheit und J Lüge, ferner auch J Treue und Untreue, J Demut und Hochmut oder J Schuld und Sühne. Sekundäre W.e sind mit W.urteilen verbundene Eigenschaften und Fähigkeiten wie Schönheit und Häßlichkeit (J Schön und häßlich) oder J Klugheit, Listigkeit (J List) und J Dummheit gekoppelt. All dies spiegelt sich auf vielfältige Weise in den Volkserzählungen. 2 . W.h al tu ng en. Sowohl im Tun und Lassen einzelner Erzählfiguren als auch in den Erzählungen insgesamt kommen bestimmte W.haltungen zum Ausdruck. Abstrakte W.e (das Gute, das Wahre), deren Vergewisserung, Stabilisierung und J Vermittlung ideelle Ziele des Erzählens sind, werden selten explizit benannt, sondern konkretisieren sich in tugend-
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Werte, Werthaltungen, Wertorientierungen
haften Handlungen des Helden oder werden von Kontrast- oder Schelmenfiguren in Frage gestellt. In J Tugenden wie Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft äußert sich eine positiven W.en verpflichtete Einstellung zum Leben, die das sittlich Gute anstrebt, sowie das Bemühen und Vermögen der Protagonisten, etwas sittlich Wertvolles zu leisten. Tugenden entsprechen W.haltungen, die nicht einem instinktiven Gefühl entspringen, sondern auf Grundsätzen beruhen. Während z. B. Mut (J Mutproben) einen im Individuum angelegten Charakterzug offenbart, bedeutet J Tapferkeit eine bewußt angestrebte sittliche Haltung. So wie mit den Tugenden jeweils bestimmte Laster korrespondieren, beruht speziell in den Märchen die J Dynamik der Handlung auf ähnlich kontrastierenden, positiv bzw. negativ bewerteten Eigenschaften des Helden und seiner Gegenspieler (J Kontrast; J Polarität): Tapferkeit, Feigheit oder J Fleiß und Faulheit, J Geduld und Ungeduld, J Gehorsam und Ungehorsam, Bescheidenheit und Habgier, Mitleid (J Barmherzigkeit) und J Hartherzigkeit (J Geiz). Die konkreten Bewertungen sind soziokulturell gefärbt (z. B. Ordnung, Sparsamkeit und Fleiß als bürgerliche Tugenden des 19. Jh.s2), und sie wandeln sich: Die Habgier etwa wird in der modernen Marktgesellschaft je nach Perspektive als Untugend oder Tugend (Gewinnmaximierung) aufgefaßt. Daß der Mensch W.e setzt und daß bewußtes Werten einen Grundzug seines Wesens darstellt, ist für den Märchenerzähler und seine Zuhörer eine Selbstverständlichkeit3. Manchmal wird das Bewerten gar zum Erzählthema (J Rangstreit), wobei etwa in AaTh/ATU 900: J König Drosselbart oder AaTh/ATU 1620: J Kaisers neue Kleider die Orientierung an Äußerlichkeiten statt an inneren W.en kritisiert oder in AaTh/ATU 1415: J Hans im Glück der unbeschwerte Umgang mit materiellen W.en heiter persifliert wird. Obwohl Kindermärchen oder Schreckmärchen und bes. Warnsagen mit abschreckenden Ereignissen und z. T. explizit vor ungehorsamem oder hochmütigem Handeln warnen, obwohl Heiligenlegenden sowie moralische Geschichten vorbildliches Verhalten preisen und propagieren, obwohl auch Parabeln und bes. Fabeln häufig mit einer Moral abschließen, wollen doch die meisten Erzählungen in erster Linie unterhalten oder Wissen
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vermitteln und verfolgen primär keine ethischen Ziele. So erscheint die Ordnung des Märchens weniger der Gerechtigkeit als der Harmonie verpflichtet4. W. und Wertung des Märchens kommen allerdings in seiner J Ästhetik zum Ausdruck, indem Schönheit als sichtbare Vollkommenheit einen positiven, ja den höchsten W. darstellt. 3 . W.o ri en ti er un ge n. Das J Erzählen von Geschichten machte früher einen wichtigen Teil der Verständigung über ethische W.e sowie auch der moralischen Erziehung aus, gleiches gilt für das Lesebuch. Bes. Kinder erzählen Gehörtes nach und orientieren sich an ihrer innerlich miterlebten Märchenerfahrung, daß das Gute belohnt und das Böse bestraft wird. Auf der Phantasiereise ins märchenhafte ,Dämonenland‘ zielt die darin liegende W.orientierung nicht nur auf eine Belehrung über richtige Verhaltensweisen in einer äußeren Wirklichkeit, sondern auch auf die inneren Verarbeitungsprozesse der Ablösung von den Eltern5. Generell kann ein Stoff auf vielfältige Weise erzählt werden. Während aber die These, daß Erzählungen W.e vermitteln und eine Orientierung über das soziale W.egefüge ermöglichen, weithin anerkannt ist, bleibt die Art, wie Erzählungen für die W.eerziehung funktionalisiert werden, vielfach umstritten. Bes. für das Märchen gibt es eine ausführliche und immer wieder erneuerte kontroverse Debatte über als grausam empfundene Elemente (J Grausamkeit), die aus pädagogischer Sicht (J Pädagogik) einerseits als für die Persönlichkeitsbildung notwendig angesehen (,Kinder brauchen Märchen‘6) und andererseits als zerstörerisch abgelehnt werden7. M. J Lüthi meinte, daß Märchen die Fähigkeit, W.e zu setzen, bereits bei Kindern allg. kräftigen und üben, bevor diese später lernen, zwischen Person und W. zu unterscheiden8. Erzählungen, die ⫺ in welcher Form auch immer ⫺ aktualisiert werden, tragen dazu bei, daß eine Gesellschaft ,funktionieren‘ kann. Die konkrete J Funktion einer Erzählung, d. h. ihre Bedeutung in Überlieferungskontexten und ihre Wirkung in Erzählsituationen (J Performanz; J Kommunikation) sagt etwas über ihren kulturellen W. und speziell auch über die W.orientierungen in der jeweiligen
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Werwolf ⫺ Wesselski, Albert
Gesellschaft und Kultur aus. L. J Honko hat gezeigt, wie z. B. im Erzählbericht über Geister das gesellschaftliche W.esystem in Ingermanland stabilisiert wird9. Durch Sprichwort und Redensart werden herrschende W.orientierungen oft stereotypisiert (J Stereotypen), in Schwank und Witz nicht selten verlacht (cf. J Diskriminierung; J Stereotypen, ethnische; J Vorurteil), mittels Parodie und Karikatur oder durch Ironie in Frage gestellt. Während etwa bibl. Geschichten und Legenden die christl. W.orientierung zum Ausdruck bringen, wird diese z. B. in der Schauergeschichte, in der Böses und Unheimliches regiert, relativiert, denn das Böse wird dort am Ende nicht, wie im Märchen, wieder in die allg. akzeptierte W.ordnung zurückgeführt. 4 . W.e in de r E rz äh lf or sc hu ng. Auch die Wiss. kommt nicht ohne W.e aus. Bereits dadurch, daß man einer Erzählung Aufmerksamkeit schenkt, spricht man ihr einen bes. W. zu. In der wiss. Arbeit sollten W.e jedoch ⫺ nach M. Weber ⫺ als ,seiend‘, nicht als ,gültig‘, d. h. frei von W.urteilen behandelt werden, da von einem empirischen Befund keine normative Verbindlichkeit hergeleitet werden könne10. Gleichwohl besitzen viele Erzählungen, zumal Märchen, genauso wie andere poetische Werke einen künstlerischen W. und sind als ästhetische Gebilde kritisierbar, also einer literar. Wertung zu unterwerfen11. Darüber hinaus werden aber bestimmte Erzählgattungen unter epochenspezifischen oder ideologischen Gesichtspunkten immer wieder bewußt oder unbewußt mit W.en befrachtet. So haben die Brüder J Grimm ihren J Kinder- und Hausmärchen einen Erziehungswert und ihren Dt. Sagen einen vaterländischen W. zugesprochen12. Im J Nationalsozialismus wurden bestimmte Märchen als Ausdrucksformen nord. J Weltanschauung gedeutet und damit angeblich ,Arteigenes‘ auf- und ,Artfremdes‘ abgewertet. Aus marxistischer Sicht (J Marxismus) hat man hist. Sagen und Lieder sowie die Heldenepik grundsätzlich gegenüber religiösen Gattungen und Themen, die aus ideologischen Gründen suspekt waren, bevorzugt und als höherwertig angesehen. Im Grunde unterliegen sämtliche Auswahl- und Deutungsprozesse auch in der Erzählforschung unabding-
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bar einem wie auch immer geleiteten W.urteil, das man allerdings objektivieren kann, indem man dessen Prämissen bestmöglich offenlegt. 1 Bausinger, H.: Vk. Tübingen 1971, bes. 210⫺226; Gerndt, H.: Kultur als Forschungsfeld. Mü. 21986, bes. 200⫺202. ⫺ 2 Schenda, R.: Die Verfleißigung der Deutschen. Materialien zur Indoktrination eines Tugend-Bündels. In: Volkskultur in der Moderne. ed. U. Jeggle u. a. Reinbek 1986, 88⫺108. ⫺ 3 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Göttingen 2 1990, 180. ⫺ 4 Klotz, V.: Weltordnung im Märchen. In: Neue Rundschau 81 (1970) 73⫺91, hier 85. ⫺ 5 Scherf, W.: Die Herausforderung des Dämons. Form und Funktion grausiger Kindermärchen. Mü. u. a. 1987. ⫺ 6 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Stg. 1977. ⫺ 7 Gmelin, O.: Böses kommt aus Kinderbüchern. Mü. 1972. ⫺ 8 Lüthi (wie not. 3) 172. ⫺ 9 Honko, L.: Geisterglaube in Ingermanland 1 (FFC 185⫺187). Hels. 21991. ⫺ 10 Weber, M.: Methodologische Schr. ed. J. Winkelmann. Ffm. 1968, 268. ⫺ 11 Wellek, R./Warren, A.: Theorie der Lit. B. 3 1993. ⫺ 12 KHM/Rölleke 1, 17; Grimm DS 1 (1816) XXIV; KHM/Uther 3, 242⫺249; Uther, H.-J.: Hb. zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 512⫺517.
München
Helge Gerndt
Werwolf J Wolfsmenschen
Wesir J Ratgeber
Wespennest des Küsters J Küster
Wesselski, Albert, *Wien 3. 9. 1871, † Prag 2. 2. 1939, österr. Journalist, Übersetzer und Erzählforscher1. W., Sohn eines Lehrers an der Technischen Hochschule in Wien, studierte zunächst ⫺ nach seinen eigenen Worten „in eklektischer Zersplitterung“2 ⫺ acht Semester bei verschiedenen Disziplinen an der Phil. Fakultät der Univ. Wien, wechselte dann aber zur Technischen Hochschule, die er 1897 verließ. Danach war er in diversen Anstellungen tätig, so u. a. 1902⫺06 beim Steiermärk. Landesbauamt in Graz. 1907 übernahm er die Leitung der Tetschen-Bodenbacher Ztg, die er unter dem Namen Nordböhm. Tagblatt bis 1914 führte; 1915⫺16 war er Chefredakteur der
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Wesselski, Albert
Salzburger Ztg Neueste Nachrichten, danach der Innsbrucker Nachrichten; 1918⫺35 leitete er die Dt. Ztg Bohemia in Prag. 1931 erhielt er den Ehrendoktor der Prager Dt. Univ.; seit 1932 war er Mitherausgeber der Zs. Archiv orienta´lnı´. Wenngleich er sich 1935 mit der Abhdlg Versuch einer Theorie des Märchens (Reichenberg 1931) für Vergleichende Lit.wiss. mit bes. Berücksichtigung des dt. volkstümlichen Erzählguts an der Univ. Graz habilitiert hatte, nahm er offenbar dort nie die Lehre auf; die Lehrbefugnis wurde ihm ⫺ aus nicht vollständig zu klärenden Gründen ⫺ 1938 entzogen3. W.s umfangreiche Privatbibliothek wurde von E. J Moser-Rath in die Bibl. des Österr. Museums für Vk. eingearbeitet; sie befindet sich heute größtenteils in der Univ.sbibliothek Wien. W. verband eine solide Beherrschung germ. und rom. Sprachen mit tiefgreifenden Kenntnissen der jeweiligen Lit.en. Als überaus belesener Privatgelehrter eignete er sich umfassende Kenntnisse bes. der narrativen Quellenwerke der europ. und der (ihm in Übers. zugänglichen) arab. und pers. Lit.en an und steuerte auf dieser Grundlage bedeutende Einsichten zur hist. und vergleichenden Erzählforschung bei. Bereits W.s Erstlingswerk, die komparatistischen Anmerkungen zu H. Floerkes Übers. der Fazetien des J Poggio Bracciolini4, trug ihm die Mitherausgeberschaft der Reihe Perlen älterer rom. Prosa im Georg Müller Verlag in München ein. In der Folgezeit legte W. eine Reihe oft akribisch annotierter Übers.en von ⫺ z. T. wenig bekannten ⫺ Werken der ital.5, dt. und fläm.6 Lit. vor, u. a. zu Girolamo J Morlini7, Heinrich J Bebel8, Johann J Sommer9, Angelo J Poliziano10 und Charles de Coster (1827⫺79)11; W.s Übers. von J Boccaccios Decamerone wird auch ein Jh. nach ihrem Erscheinen noch neu verlegt12. Parallel zu kleineren Anthologien von Witzen und Schwänken13 publizierte er in der von ihm begründeten Reihe Narren, Gauner und Volkslieblinge auf profunder Quellenkenntnis basierende Slgen humoristischer Kurzgeschichten über Arlotto J Mainardi14, J Hodscha Nasreddin15 und J Gonnella16. Ebenso wie diese gehören W.s eingehend kommentierte Zusammenstellungen traditioneller Erzählungen aus ma. lat. Werken, den von ihm so genannten ,Mönchsmär-
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lein‘ (J Mönchslatein)17, zu den Standardwerken der hist.-vergleichenden Erzählforschung. Von seiner geplanten Gesamtübersetzung von J Somadevas Katha¯saritsa¯gara wurde aufgrund der Kriegsereignisse nur der erste Band publiziert18. Seine souveränen Kenntnisse der unterschiedlichsten Ausprägungen populärer Erzählstoffe und -motive aus literar. und mündl. Überlieferung stellte W. auch in seiner Aufsatzsammlung Erlesenes (Prag 1928) unter Beweis; sie enthält u. a. Abhdlgen zur ,Bitte um den zweiten Streich‘ (Mot. C 742), zum J Müller von Sanssouci (ATU 759 E), zum bestohlenen Heiligenbild (AaTh/ATU 1829: Das lebendige J Heiligenbild), zur Erzählung vom hölzernen J Säbel (AaTh/ATU 1736 A) und zum Motiv des säugenden Fingers (ATU 985*: cf. J Säugen). In einer Fülle z. T. weit ausgreifender Studien behandelte W. zahlreiche Themen aus der Perspektive der Erzählforschung19. Schwerpunkte seines Interesses waren dabei u. a. die Wechselbeziehungen zwischen mündl. und schriftl. Tradierung20 sowie der Einfluß des oriental. Erzählguts auf Europa21. Zum Motivfeld des J Knabenkönigs22 und zu dem ma. tschech. Exempelkompilator J Klaret23 legte er separate Studien vor. In einer zweibändigen Anthologie machte er auf ,dt. Märchen vor J Grimm‘24 aufmerksam. W.s monogr. Hauptwerk ist die Abhdlg Versuch einer Theorie des Märchens. Hier legte W. einerseits seine Ansichten zur Entstehung der einzelnen Gattungen des (nicht nur mündl.) Erzählens dar; die dabei von ihm geprägte J Terminologie für einzelne Motivbereiche (J Gemeinschaftsmotiv, J Kulturmotiv, Wahnmotiv, Wundermotiv, Mythenmotiv; cf. J Numinoses, J Motiv), die in unterschiedlichen Kombinationen die Entstehung der verschiedenen Gattungen bewirkt haben sollen25, ist schwer nachvollziehbar und wenig praktikabel; entsprechend wurde sie kaum rezipiert. Andererseits ist die Studie eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse zur unabdingbaren Rolle schriftl. Quellen für die Inspiration und Erhaltung einer lebendigen mündl. Überlieferung (J Kontinuität)26. W. war der Überzeugung, daß die J Vermittlung populärer Erzählstoffe sich weniger ⫺ wie von der Finn. Schule der Erzählforschung (J Geogr.-hist. Methode) vertreten ⫺ einer ungebrochenen
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oder zumindest dominanten mündl. Überlieferung verdanke, sondern daß vielmehr eine ständige Befruchtung durch schriftl. Quellen zu deren Bestand notwendig sei (J Buchmärchen, J Lit. und Volkserzählung, J Schriftlichkeit). Im Anschluß daran entwickelte sich eine intensive, z. T. polemisch geführte Debatte mit Vertretern der Finn. Schule, deren Position bes. W. J Anderson27 verteidigte. Aus heutiger Sicht ist W. ein eminent wichtiger Beitrag zu den J Theorien der Erzählforschung zu verdanken28. Als Wissenschaftler ohne akademischen Posten hat W. keine eigene ,Schule‘ entwickelt; dennoch zählen seine Einsichten zur Rolle der Lit. für die Tradierung populärer Erzählstoffe inzwischen zu den selbstverständlichen Grundlagen des Fachs. Insgesamt haben W.s Studien ungemein befruchtend für eine gesamtheitliche Sicht der narrativen Überlieferung gewirkt, die vor allem auch in Erfüllung von W.s Forderung, man müsse „der Literatur geben, was der Literatur gehört“29, in der Berücksichtigung zahlreicher literar. Werke und Autoren in den Stichworten der EM ihre nachhaltige Wirkung findet. 1
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Westafrikanisches Erzählgut
Rypka, J.: A. W. In: Archiv orienta´lnı´ 11 (1939) 155⫺165; Leitner, E.: Die Neuere dt. Philologie an der Univ. Graz. 1851⫺1954. Graz 1975, 191⫺195. ⫺ 2 Lebenslauf A. W. In: Österr. Staatsarchiv Wien, Abt. 2,4, 1934, Z. 34252 ⫺ I/1, fol. 9r (zitiert nach Leitner [wie not. 1] 191). ⫺ 3 Rypka (wie not. 1) 159; Leitner (wie not. 1) 192⫺194; Müller-Kempel, B.: Zur Geschichte des [Grazer] Inst.s für Germanistik (im Internet); freundliche Mittlg B. Pöttler, Graz, nach der Personalakte W. im Archiv der Univ. Graz. ⫺ 4 Die Facezien des Poggio Fiorentino. Übers. H. Floerke. Anh. A. W. Mü. 1916. ⫺ 5 W., A.: Die Sprichwort-Novellen des Placentiners Antonio Cornazano. Mü. 1906; id.: Der Hofmann des Grafen Baldesar Castiglione 1⫺2. Mü. 1907; id.: Novellen und Gespräche des Agnolo Firenzuola. Mü. 1910; Manzoni, A.: Die Brautleute. Übers. A. W. Mü./ Lpz. 1913; cf. auch W., A.: Die Legende um Dante. Weimar 1921; id.: Dante-Novellen. Weimar 1921. ⫺ 6 id.: Fläm. Volkslieder. Lpz./Innsbruck 1918. ⫺ 7 id.: Die Novellen Girolamo Morlinis. Mü. 1907. ⫺ 8 id.: Heinrich Bebels Schwänke 1⫺2. Mü./Lpz. 1907. ⫺ 9 id.: Johann Sommers „Emplastrum Cornelianum“ und seine Qu.n. In: Euphorion 15 (1908) 1⫺19. ⫺ 10 id.: Angelo Polizianos Tagebuch (1477⫺ 1479). Jena 1929. ⫺ 11 Coster, C. de: Uilenspiegel und Lamme Goedsak. Übers. A. W. Lpz. 1910; W., A.: Vläm. Märchen. Lpz. 1916; id.: Die Hochzeitsreise. Lpz. 1916; id.: Brabanter Geschichten. Lpz. 1917. ⫺ 12 Giovanni di
Boccaccio: Das Dekameron 1⫺3. Übers. A. W. Lpz. 1909 (zuletzt Ffm. 2003). ⫺ 13 W., A.: Italiän. Volksund Herrenwitz. Mü. 1912; id.: Dt. Schwänke. Weimar 1913; id.: Das lachende Buch. Lpz. 1914. ⫺ 14 id.: Die Schwänke und Schnurren des Pfarrers Arlotto 1⫺2. B. 1910. ⫺ 15 id.: Der Hodscha Nasreddin 1⫺2. Weimar 1911. ⫺ 16 id.: Die Begebenheiten der beiden Gonnella. Weimar 1920. ⫺ 17 id.: Mönchslatein. Erzählungen aus geistlichen Schr. des 13. Jh.s. Lpz. 1909; id.: Märchen des MA.s. B. 1925 (Rez. K. Krohn in Neuphilol. Mittlgen 26,3⫺4 [1925] 111⫺ 117). ⫺ 18 id.: Somadevas Kathasaritsagara oder Ozean der Märchenströme 1. B. 1914/15 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1977). ⫺ 19 id.: Der gottgefällige Mord. In: Archiv orienta´lnı´ 2 (1930) 39⫺53; id.: Alters-Sinnbilder und Alters-Wettstreit. ibid. 4 (1932) 1⫺32; id.: Narkissos oder das Spiegelbild. ibid. 7 (1935) 37⫺63, 328⫺350; id.: Das Geschenk der Lebensjahre. ibid. 10 (1938) 79⫺114; id.: Das Märlein von dem Tode des Hühnchens und andere Kettenmärchen. In: Hess. Bll. für Vk. 32 (1933) 1⫺51; id.: Goethe und der Volksmund. ibid. 36 (1937) 32⫺83; id.: Ein dt. Märchen des 18. Jh.s und die Historie om Kong Edvard af Engelland. In: Acta Philologica Scandinavica 13 (1938⫺39) 129⫺200. ⫺ 20 id.: Die Vermittlung des Volkes zwischen den Lit.en. In: SAVk. 34 (1936) 177⫺197; id.: Humanismus und Volkstum. In: ZfVk. 44 (1936) 1⫺35. ⫺ 21 id.: Einstige Brücken zwischen Orient und Okzident. In: Archiv orienta´lnı´ 1 (1929) 77⫺84; id.: Die gelehrten Sklavinnen des Islams und ihre byzant. Vorbilder. ibid. 7 (1937) 353⫺378; id.: Qu.n und Nachwirkungen der Haft paikar. In: Der Islam 22 (1935) 106⫺119. ⫺ 22 id.: Der Knabenkönig und das kluge Mädchen. Prag 1929. ⫺ 23 id.: Klaret und sein Glossator. Böhm. Volks- und Mönchsmärlein im MA. Brünn/Prag/Lpz. Wien 1936. ⫺ 24 id.: Dt. Märchen vor Grimm 1⫺2. Brünn u. a. 1938. ⫺ 25 cf. Pöge-Alder, K.: Märchenforschung. Tübingen 2007, 59 sq. ⫺ 26 cf. Nikiforov, A. I.: Teorija skazki Al’berta Vessel’skogo (Die Märchentheorie A. W.s). In: SovE˙ (1934) H. 3, 46⫺63; Kiefer, E. E.: A. W. and Recent Folktale Theories. Bloom. 1947. ⫺ 27 Anderson, W.: Zu A. W.’s Angriffen auf die finn. folkloristische Forschungsmethode. Tartu 1935. ⫺ 28 Henderson, C.: Kultur, Politik und Lit. bei A. W. In: Fabula 37 (1996) 216⫺229. ⫺ 29 W. (wie not. 22) 45.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Westafrikanisches Erzählgut 1. Allgemeines ⫺ 2. Dokumentation und Forschung ⫺ 3. Performanz ⫺ 4. Epos ⫺ 5. Erzählungen ⫺ 6. Kurzformen
1 . All ge me in es. Westafrika umfaßt die Staaten südl. der Sahara vom Senegal im Westen bis Nigeria im Osten. Die Abgrenzung des
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Westafrikanisches Erzählgut
Gebiets nach Osten hat hist. und politische Ursachen, bes. die Gründung Frz.-Äquatorialafrikas (1910⫺58), aus dem die heutigen Staaten Gabun, Tschad, die Republik Kongo und die Zentralafrik. Republik (J Zentralafrik. Erzählgut) hervorgegangen sind. In Westafrika wirken vier Kolonialsysteme nach: das frz., das port. (Guinea Bissau), das dt. (Togo) und das engl. (Gambia, Sierra Leone, Ghana und Nigeria). Die geogr. ausgedehnteste politische Einheit, Frz.-Westafrika (1895⫺1958), umfaßte acht frz. Kolonien, die heute den unabhängigen Staaten J Mauretanien, Senegal, Mali, Guinea, Elfenbeinküste, Niger, Burkina Faso und Benin entsprechen. Ab 1902 war Dakar die Hauptstadt Frz.-Westafrikas. 1903 wurde in diesem Gebiet ein gemeinsames Schulsystem eingeführt. Das zuvor unter dt. Kolonialherrschaft stehende Mandatsgebiet Togo gehörte seit 1919 gleichfalls zu Frz.Westafrika1. Während in Zentralafrika und in den südlicheren Ländern des Kontinents eher das Christentum vorherrscht, dominiert in Nordafrika, an den Küsten Ostafrikas und in Westafrika der Islam. Daneben haben sich auch traditionelle Religionen gehalten (z. B. Animismus, Voodoo), die sich z. T. mit dem Christentum oder dem Islam zu Mischformen verbunden haben. Das vielgestaltige und facettenreiche westafrik. Gebiet weist ein gemeinsames kulturelles Charakteristikum auf: die mündl. Überlieferung, die sowohl der Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten als auch von Erzählmaterial dient. Diese Mündlichkeit koexistiert in den islamisierten Gesellschaften mit der Schriftkultur bestimmter afrik. Sprachen, die sich des arab. Alphabets bedienen, wie dies in Westafrika z. B. beim Fulfulde (Sprache der Fulbe) oder beim Hausa der Fall ist. Die Einführung der lat. Schrift ist in ganz Westafrika mit der christl. Mission und der Kolonialisierung verbunden. Sie diente zunächst zur Transkription der afrik. Sprachen, ist aber vor allem an den Gebrauch der europ. Sprachen als Unterrichtssprachen gebunden. Nach dem Erlangen der Unabhängigkeit wurden die Kolonialsprachen in allen anglophonen und frankophonen Ländern Westafrikas mit je nach Land unterschiedlichen linguisti-
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schen Eigenheiten als offizielle Sprachen beibehalten2. 2 . D ok um en ta ti on un d For sc hu ng. Spezialbibliographien und allg. Darstellungen, die Afrika zum Gegenstand haben, gehen auch auf die Situation in Westafrika ein3; darüber hinaus finden sich in Abhandlungen über afrik. Lit.en auch Informationen zur mündl. Überlieferung4. Die Nachschlagewerke von B. Mouralis und A. Ricard enthalten ebenfalls Angaben zur mündl. Überlieferung5. Überdies beziehen einige Analysen zum soziopolitischen Kontext des literar. Schaffens in Afrika das Mündliche mit ein6. Für die Lit. und die Volksüberlieferung einiger Sprachen liegen Einzeldarstellungen sowie gesonderte Bibliogr.en vor, so für das Fulfulde7 und das Hausa8. Für die Lit. der Mandesprachen oder der Tuareg gibt es vertiefende Darstellungen9; z. T., wie im Fall des WolofEpos10 und der Zarma-Genealogien11, ist eine spezielle Gattung bes. gut untersucht. Die Erforschung des westafrik. Erzählguts bedarf einer interdisziplinären Herangehensweise12. Abgesehen von der auf der Hand liegenden Verbindung mit der Linguistik wird die mündl. Überlieferung bevorzugt mit Blick auf die Beziehung zwischen Sprache und Gesellschaft untersucht13; sie ist in den USA Bestandteil der folklore studies14, oder sie wird als litte´rature traditionnelle gesehen15. In Frankreich legte G. Calame-Griaule den Grundstein zur ethnolinguistischen Betrachtungsweise der westafrik. mündl. Überlieferung16; diesen Ansatz, der Stimme und Gestik als aussagekräftige Kriterien neben der stilistischen Analyse einbezieht, hat sie z. T. in Zusammenarbeit mit anderen fortgeführt17. Der Begriff der Ethnolinguistik bleibt verbindend, wie die von U. Baumgardt und J. Derive zusammengetragenen Artikel zeigen18. Die Begriffe oral literature (J litte´rature orale) und J Oral Poetry als Bezeichnung für die mündl. Überlieferung werden in den Arbeiten R. Finnegans explizit verwendet19. Derive analysiert die soziol. Aspekte der mündl. Überlieferung20, während im Mittelpunkt der Fragestellungen I. Okpewhos die Adaptation an gesellschaftliche Veränderungen steht21. Parallel zu Calame-Griaules Arbeit oder in Fortführung davon beschäftigt sich die Arbeit
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Westafrikanisches Erzählgut
von R. Bauman und J. Scherzer speziell mit der Frage des Sprechens als literar. Akt22; in einem Sonderheft des J. des Africanistes geht Derive der Beziehung zwischen Sprechen und politischer Macht nach23. Diese Frage beschäftigt die Forschung auch heute noch24. Das für die mündl. Überlieferung zentrale Phänomen der J Performanz wird von verschiedenen anglophonen25 und frankophonen26 Autoren untersucht. Auch die Vortragenden selbst sind Gegenstand der Analyse, seien es Erzähler27, Erzählerinnen28 oder Griots (berufsmäßige Sänger, Dichter und Instrumentalisten)29. Weitere Unters.en widmen sich der mündl. Überlieferung unter den Gesichtspunkten der Interpretation30, diskursiver Praktiken31, der Kreativität32 und der Literarizität33. Erforscht wurden u. a. auch die Erneuerung des Erzählens34, dessen J Variabilität35, die Frage des individuellen J Repertoires und dessen Beziehung zum erzählerischen Erbe36 oder die Darstellung des Raums37. Das von Baumgardt und Derive herausgegebene Werk liefert eine Synthese der wichtigsten theoretischen und methodischen Probleme, die sich im Zusammenhang mit der mündl. Überlieferung Afrikas stellen38. Bei der Erforschung der mündl. Überlieferung Westafrikas haben das Sammeln von Textmaterial und die zweisprachige Dokumentation Priorität. Zu beobachten ist eine deutliche Tendenz, die Grenzen zwischen der afrik.sprachigen Schriftliteratur und der mündl. Überlieferung zu überwinden. 3 . P er fo rm an z. In westafrik. Dörfern und Siedlungen ist es allg. üblich, abends nach der Hauptmahlzeit in informellen Runden Geschichten zu erzählen. Den Auftakt bildet häufig eine J Dilemmageschichte39. Prinzipiell können alle Dorfbewohner, auch Kinder, die Rolle des Erzählers einnehmen; unbeholfene Erzähler schaffen es jedoch nicht, eine größere Schar von Zuhörern zu gewinnen. Aufgrund der traditionellen Rollenverteilung überwiegen männliche Erzähler. Häufig gibt ein Erzähler sein gesamtes Repertoire ohne Unterbrechung zum besten40. Kurze J Eingangs- und J Schlußformeln markieren Anfang und Ende einer Erzählung. Bei den Bulsa in Nordghana wird jeder Satz des Erzählers von einem der Zuhörer wiederholt; bei anderen Ethnien kennt
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man diese ,Echotechnik‘ nicht41. Die durch Familientradition zu ihrem Amt gekommenen Griots haben wesentlich zur Verbreitung der Erzählstoffe beigetragen und fungieren in den westafrik. Kulturen, deren Geschichte zum größten Teil nicht schriftl. fixiert ist, als eine Art lebendes Archiv42. Die folgende Darstellung der Erzählgattungen basiert auf Kriterien, wie sie z. B. von W. Bascom, D. Ben-Amos oder M. Houis definiert wurden43. Eine Ergänzung bieten Derives Analyse des Gattungssystems der Diaoula von Kong (Elfenbeinküste) und das von C. Seydou aufgrund performanzbasierter Kriterien entwickelte Analyseschema44. 4 . E po s. Entgegen der einschränkenden, inzwischen relativierten Einschätzung Finnegans45 sind Epen in Westafrika weit verbreitet46. Arbeiten allg. Art werden durch Veröff.en zum Epos der Wolof 47 und der Fulbe48 ergänzt. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit dem Sunjata-Epos, das den Ursprung des ma. Großreichs der Mande thematisiert und den Werdegang des Gründers Sunjata (Soundjata) Keita sowie die Heldentaten der wichtigsten Klans der Mandinka zum Inhalt hat49. Gründlich erforscht ist auch ein epischer Zyklus, der Gründung und Blüte des Königreichs Se´gou schildert und zum zentralen mündl. Erzählgut der ebenfalls eine Mandesprache sprechenden Bambara in Südost-Mali gehört50. 5 . E rz äh lu ng en. Bei den frühesten Slgen und Veröff.en handelt es sich um Anthologien von Erzählungen, die entweder aus mehreren afrik. Sprachen in die Sprache des Forschers übersetzt oder in Einzelfällen zweisprachig herausgegeben wurden. Diese Arbeiten gehen u. a. auf Missionare, Kolonialbeamte, Ethnologen und Sprachwissenschaftler zurück, wie Westermann51, C. Meinhof52 oder L. J Frobenius53, im frz.sprachigen Bereich etwa F. V. Equilbecq54, H. Gaden55 oder M. Delafosse56. Spätere Ausg.n, die mit der Unabhängigkeit der westafrik. Länder starken Aufschwung genommen haben, bieten die Erzählungen oft einsprachig in Übers. dar; zweisprachige Editionen sind immer noch relativ selten: Die renommierte Reihe Classiques africains veröffentlichte keinen einzigen zweisprachigen Band außer einer Slg von S. Platiel57. Immerhin sind
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in der 1975 vom Conseil internat. de la langue franc¸aise gegründeten Reihe Fleuve et flamme zahlreiche Bände afrik. Erzählungen in Übers. oder zweisprachiger Edition herausgekommen58. In der von H. Tourneux herausgegebenen Reihe Contes et le´gendes sind die Texte gewöhnlich von einem Kommentar zu der betr. Kultur wie auch zum Zustandekommen des Textkorpus begleitet59. Für Erzählungen in der Mehrheitssprache des Senegals, dem Wolof, gibt es einige wenige Veröff.en60. Zur Kultur der Dogon (Mali) wurden zwar zahlreiche Arbeiten herausgegeben61, doch erst 2006 erschien ein Band mit Dogon-Erzählungen62. Für das Yoruba (Nigeria, Benin, Ghana, Togo) liegen vor allem einsprachige Editionen vor63. Dasselbe ist der Fall beim Igbo (Nigeria), für das allerdings einige Titel in frz. Übers. greifbar sind64. Für das Hausa haben anglophone wie frankophone Forscher sowohl Erzählungen65 als auch analytische Arbeiten vorgelegt66, schwer zugänglich sind jedoch entsprechende Veröff.en aus Nigeria67. Erzählungen wurden vor allem von V. Görög-Karady68 und G. Meyer69 herausgebracht. Auch für das Fulfulde liegen Erzählsammlungen vor70. Darüber hinaus hat A. H. Baˆ zur Bekanntheit der Überlieferung der Fulbe beigetragen, bes. durch die mehrfach aufgelegten Initiationserzählungen Koumen71 und Kaı¨dara72. Fulbe-Erzählungen wurden ferner in Guinea73 und vor allem in Kamerun74 gesammelt. Die wichtigsten Klassifizierungsversuche für das westafrik. Erzählgut stammen von M. A. Klipple75 und R. J Schott76. Klipple berücksichtigte nur Erzählungen, die Analogien mit den Erzähltypen des internat. Typensystems aufwiesen. Schott, der von einem Vergleich der Erzählungen der Bulsa (Nord-Ghana) und Lyela (im Süden von Burkina Faso) ausging, nahm eine thematische und strukturelle Klassifizierung in Form einer Motivabfolge vor77. Ein unerschöpfliches Thema westafrik. Erzählungen ist die polygyne Ehe78. Daneben nimmt auch die Verheiratung weiblicher Familienmitglieder einen großen Raum ein, denn in den virilokalen, patrilinearen westafrik. Gesellschaften bedeutet eine Eheschließung für die Töchter im allg. eine radikale Trennung von ihrer Herkunftsfamilie79. Im Mittelpunkt zahlreicher Erzählungen steht ein widerspen-
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stiges junges Mädchen (bekannt als ,la fille difficile‘), das sich gegen die Heirat wehrt: Sie stellt maßlose Ansprüche an den Freier oder gibt ihm unlösbare J Aufgaben auf (J Freier, Freierproben)80. Wie auch in anderen Teilen Afrikas sind Erzählungen außerordentlich beliebt, in denen das eigensinnige Mädchen unwissentlich einen Geist- oder Tiermann heiratet (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe), da nur dieser ihren Forderungen nachkommen kann81. Die Schilderung der katastrophalen Folgen beinhaltet den moralischen Appell, sich der Entscheidung der Eltern nicht zu widersetzen. Lyela, Bulsa, Fulbe, Hausa, Mosi und zahlreiche andere westafrik. Ethnien kennen außerdem viele Erzählungen über untreue Ehefrauen (J Ehebruch) sowie schwankhafte Schwiegermuttererzählungen82. Eine weitere typische Figur ist das ,enfant terrible‘: ein gewalttätiger junger Mann, der ein gemeinschaftsschädigendes Verhalten zeigt, aber auch als ,Eingeweihter‘, der eine kosmische Apotheose erfährt, dargestellt werden kann83. In ganz Westafrika ist das Motiv der frevelhaften J Zwillinge verbreitet. Darin spiegelt sich der Glaube, Zwillingsgeburten hätten übernatürliche Ursachen, und Zwillinge seien Unholde in menschlicher Gestalt84. Bei Kindern sind bes. Tiergeschichten beliebt, z. B. aus dem Zyklus von J Hase und J Hyäne. Wie in Ostafrika (J Ostafrik. Erzählgut) ist der Hase dabei der schlaue J Trickster und die Hyäne der unmoralische Antiheld85. In ätiologischen Erzählungen begegnen Toten-, Busch- und J Wassergeister; viele Geschichten handeln von Jägern, denen es gelingt, Naturgeistern das Geheimnis ihrer Zauberkraft abzulisten86. 6 . Kur zf or me n. Weithin sind in den westafrik. Gesellschaften einige kurze Gattungen bezeugt, so etwa das Sprichwort87. Bemerkenswert ist unter den neueren wiss. Arbeiten eine synthetische Herangehensweise an die Sprichwörter mehrerer Sprachen88 sowie eine vertiefende Unters., die auf einem im natürlichen Kontext gesammelten Korpus basiert89. 1 Dorward, D.: British West Africa and Liberia. In: The Cambr. History of Africa 7. ed. A. Roberts. Cambr. 1986, 402⫺460; Vidrovitch, C. u. a.: French Black Africa. ibid., 330⫺392; Roberts, A.: Portuguese Africa. ibid., 533⫺535; Gueye, M./Boahen, A.: Initiatives et re´sistances africaines en Afrique occi-
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dentale de 1880 a` 1914. In: Histoire ge´ne´rale de l’Afrique. ed. J. Ki-Zerbo. P. 1991, 137⫺170; Coquery-Vidrovitch, C./Goerg, O.: L’Afrique occidentale au temps des Franc¸ais. Colonisateurs et colonise´s, c. 1860⫺1960. P. 1992; M’bokolo, E.: Afrique Noire. Histoire et civilisation 2. P. 1992, 120⫺165, 274 sq. u. ö.; Bamba, M.: Regard d’une socie´te´ sur son passe´. Essai d’analyse d’un corpus de traditions orales du Bas-Bandama. In: Perrot, C.-H./ Gonnin, G. (edd.): Sources orales de l’histoire de l’Afrique. P. 1993, 181⫺190; Bayili, E.: Les Acce`s a` l’histoire dans une socie´te´ sans e´tat. Les Lela-Gurunsi (Burkina Faso). ibid., 19⫺28; Djivo, J.: Les Chants et la re´sistance du roi Gbehanzin a` la colonisation (1890⫺ 1906). ibid., 55⫺64; Boule`gue, J.: Conflit politique et identite´ au Se´ne´gal. In: Chre´tien, J.-P./Triaud, J.-L. (edd.): Histoire d’Afrique. Les enjeux de me´moire. P. 1999, 93⫺99; Perrot, C.-H.: Kumasi et les Britanniques. La capitale ashanti nie´e par le colonisateur. ibid., 143⫺172. ⫺ 2 Calvet, J.-L.: Linguistique et colonialisme. Petit traite´ de glottophagie. P. 1974; id.: Les Politiques linguistiques. P. 1995; Battestini, S.: E´criture et texte. Contribution africaine. Laval/P. 1997. ⫺ 3 Görög, V.: Litte´rature orale d’Afrique noire. Bibliogr. analytique. P. 1981, 33, 52, 287, 293 sq., 321 u. ö.; ead.: Bibliogr. annote´e litte´rature orale d’Afrique noire. P. 1992, 29, 42, 51, 98, 122, 203 u. ö.; Limb, P./Volet, J.-M.: Bibliogr. of African Literatures. Lanham/L. 1996, 21⫺25; Geider, T.: Ananse, Anansi. In: Möhlig, W./Jungraithmayr, H. (edd.): Lex. der afrikanistischen Erzählforschung. Köln 1998, 37; Seydou, C.: Epics. West African Epics. In: Peek, P. M./Yankah, K. (edd.): African Folklore. An Enc. L. u. a. 2004, 115⫺118; Peek, P.: West African Folklore. ibid., 504⫺506. ⫺ 4 Klima, V. u. a.: Black Africa. Literature and Language. Dordrecht/Boston 1976; Andrzejewski, B. W./ Pilaszewicz, S./Tyloch, W.: Literatures in African Languages. Theoretical Issues and Sample Surveys. Cambr./W. 1985; Ngandu Nkashama, P.: Litte´ratures et e´critures en langues africaines. P. 1992; Ge´rard, A.: Litte´ratures en langues africaines. P. 1992; Baumgardt, U./Bounfour, A. (edd.): Panorama des litte´ratures africaines. E´tat des lieux et perspectives. P. 2000. ⫺ 5 Mouralis, B.: Litte´rature et de´veloppement. (Diss. Lille 1978) P. 1981; Ricard, A.: Litte´rature d’Afrique Noire. Des langues aux livres. P. 1995. ⫺ 6 Ge´rard, A.: Contexts of African Literature. Amst./Atlanta 1990; Bodunde, C. (ed.): African Language, Literatures and the Political Context of the 1990s. Bayreuth 2001. ⫺ 7 Seydou, C.: Bibliogr. ge´ne´rale du monde peul. Niamey 1977; Baumgardt, U.: Litte´rature peule. In: E´tudes litte´raires africaines 19 (2005) 1⫺53; ead./Tourneux, H.: Langue, linguistique et litte´rature peules. Bibliogr. 2011 (im Internet). ⫺ 8 Hiskett, M.: A History of Hausa Islamic Verse. L. 1975; Furniss, G.: Poetry, Prose and Popular Culture in Hausa. Edinburgh/Wash. 1996; id./ Buba, M./Burgess, W.: Bibliogr. of Hausa Popular Fiction 1987⫺2002. Köln 2004. ⫺ 9 Derive, J.: Panorama de la litte´rature mandingue. In: Baumgardt/
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Bounfour (wie not. 4) 109⫺134; Aghali-Zakara, M.: Litte´rature touare`gue. Poe´sie et prose. ibid., 27⫺36; id.: Litte´rature et tradition orale. Identite´ touare`gue. Unite´ et diversite´ d’un peuple berbe`re. P. 2010, 574⫺ 748. ⫺ 10 Dieng, B.: L’E´pope´e du Kajoor. Dakar/P. 1993. ⫺ 11 Bornand, S.: Le Discours du griot ge´ne´alogiste chez les Zarma du Niger. P. 2005. ⫺ 12 Geider, T.: Zur Geschichte der interdisziplinären Erforschung afrik. Volkserzählungen. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 145⫺172. ⫺ 13 Herzog, G.: Drum Signaling in a West African Tribe. In: Language in Culture and Soc. ed. D. Hymes. N. Y. 1964, 312⫺329; Nadel, S.: Morality and Language among the Nupe. ibid., 264⫺266. ⫺ 14 Beuchat, P.: Riddles in Bantu. In: The Study of Folklore. ed. A. Dundes. Englewood Cliffs, N. J. 1965, 182⫺205; Messenger, J. Jr.: The Role of Proverbs in a Nigerian Judicial System. ibid., 299⫺307; Dorson, R. M. (ed.): African Folklore. Bloom./L. 1972. ⫺ 15 Cauvin, J.: Comprendre la parole traditionnelle. Issy-lesMoulineaux 1980; Camara, S.: Paroles tre`s anciennes ou le mythe de l’accomplissement de l’homme. Grenoble 1982. ⫺ 16 Calame-Griaule, G.: Ethnologie et langage. La parole chez les Dogon. P. 1965. ⫺ 17 ead.: Essai d’e´tude stylistique d’un texte dogon. ´ tude ethnolinguistique des P. 1967; ead.: Pour une E litte´ratures africaines. P. 1970, 22⫺47; ead.: Langage et cultures africaines. P. 1977; ead./Bernus, E.: Geste et Image. 2. Le geste du conteur et son image. P. 1981, 45⫺68 (auch als Film). ⫺ 18 Baumgardt, U./ Derive, J. (edd.): Paroles nomades. E´crits d’ethnolinguistique africaine. P. 2005. ⫺ 19 Finnegan, R.: Oral Literature in Africa. Ox. 1970; ead.: Oral Poetry, Its Nature, Significance and Social Context. Cambr. 1977; ead.: The Oral and Beyond. Doing Things with Words in Africa. Ox./Chic./Pietermaritzburg 2007. ⫺ 20 Derive, J.: Le Fonctionnement sociologique de la litte´rature orale. L’exemple des Dioula de Kong (Coˆte-d’Ivoire) 1⫺3. P. 1987. ⫺ 21 Okpewho, I.: African Oral Literature. Backgrounds, Character, and Continuity. Bloom. 1992. ⫺ 22 Irvine, J.: Strategies of Status Manipulation in the Wolof Greeting. In: Bauman, R./Scherzer, J. (edd.): Explorations in the Ethnography of Speaking. Cambr./N. Y. 1974, 167⫺191. ⫺ 23 Derive, J.: Parole et pouvoir chez les Dioula de Kong. In: J. des africanistes 57 (1987) 19⫺30. ⫺ 24 Bornand, S.: Du Pouvoir de la parole (Zarma, Niger). In: Bulletin de linguistique et de sciences du langage 16⫺17 (1996) 55⫺73; Baumgardt, U.: La Parole comme engagement. L’exemple d’un re´pertoire de contes peuls du Cameroun. In: Approches litte´raires de l’oralite´ africaine. ed. ead./F. Ugochukwu. P. 2005, 17⫺42. ⫺ 25 Ben-Amos, D./Goldstein, K. S. (edd.): Folklore. Performance and Communication. P./Den Haag 1975; Bauman, R.: Verbal Art as Performance. Rowlett, Mass. 1977; id.: Story, Performance and Event. Contextual Studies of Oral Narrative. Cambr. 1986; Okpewho, I. (ed.): The Oral Performance in Africa. Ibadan 1990. ⫺ 26 Calame-Griaule, G.: Dites-le avec
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des gestes. Comment e´tudier la gestuelle des conteurs. In: Cahiers de litte´rature orale 63⫺64 (2008) 83⫺108 (Sonderheft „Pratiques d’enqueˆtes“); Pasqualino, C.: La Litte´rature orale comme performance. ibid., 109⫺116; Derive, J.: Une Collecte de litte´rature orale chez les Dioula de Kong (Coˆte d’Ivoire): ibid., 171⫺184; Mason, C.: Ethnographie de la poe´tique de la performance. ibid., 261⫺294. ⫺ 27 Ben-Amos, D.: Two Benin Storytellers. In: Dorson (wie not. 14) 103⫺114; Cahiers de litte´rature orale 11 (1982) (Sonderheft zum Thema Erzähler). ⫺ 28 Baumgardt, U.: Une Conteuse peule et son re´pertoire. Goggo Addi de Garoua/P. 2000. ⫺ 29 Bornand (wie not. 24); Hale, T.: Griots and Griottes. Bloom. 1998; Leymarie, I.: Les Griots wolof du Se´ne´gal. P. 1999; Jansen, J.: The Griot’s Craft. An Essay on Oral Tradition and Diplomacy. Münster/Hbg/L. 2000. ⫺ 30 Barber, K./Moraes Farias, P. F. de (edd.): Discourse and Its Disguises. The Interpretation of African Oral Texts. Birmingham 1989. ⫺ 31 Diagne, M.: Critique de la raison orale. Les pratiques discursives en Afrique noire. Niamey/P./Dakar 2005. ⫺ 32 Dauphin-Tinturier, A.-M./Derive, J. (edd.): Oralite´ africaine et cre´ation. P. 2005. ⫺ 33 Baumgardt/Ugochukwu (wie not. 24). ⫺ 34 Calame-Griaule, G. (ed.): Le Renouveau du conte. P. 1991. ⫺ 35 Görög-Karady, V. (ed.): D’un Conte … a` l’autre. La variabilite´ dans la litte´rature orale. P. 1990. ⫺ 36 Baumgardt (wie not. 28). ⫺ 37 ead./Roulon-Doko, P.: L’Expression de l’espace dans les langues africaines 2. In: J. des africanistes 79,2 (2010) 1⫺450. ⫺ 38 Baumgardt/Derive (wie not. 18). ⫺ 39 Steinbrich, S.: Imagination und Realität in westafrik. Erzählungen. Köln 1997, 32; Schott, R.: Formen und Funktionen mündl. Traditionen bei den Bulsa in Nordghana. In: Abhdlgen der Nordrhein-Westfäl. Akad. der Wiss.en (1995) 79⫺92, hier 81. ⫺ 40 Steinbrich (wie not. 39) 35. ⫺ 41 Schott (wie not. 39) 81. ⫺ 42 Camara, S.: Gens de la parole. P./Den Haag 1976 (Neuaufl. P. 1992). ⫺ 43 Bascom, W.: The Forms of Folklore. Prose Narratives. In: JAFL 78 (1965) 3⫺20; Ben-Amos, D.: Cate´gories analytiques et genres populaires. In: Poe´tique 19 (1974) 265⫺293; Houis, M.: Pour une Taxonomie des textes en oralite´. In: Afrique et langage 10 (1978) 3⫺23. ⫺ 44 Derive, J./Seydou, C.: Genres litte´raires oraux. Quelques illustrations. In: Baumgardt/Derive (wie not. 18) 177⫺243; Seydou, C.: Genres litte´raires de l’oralite´. Identification et classification. ibid., 125⫺176. ⫺ 45 Finnegan 1970 (wie not. 19) 108. ⫺ 46 Okpewho, I.: The Epic in Africa. Towards a Poetics of the Oral Performance. N. Y. 1979; Kesteloot, L./Dieng, B.: Les E´pope´es d’Afrique Noire. P. 1997; Johnson J. W./Hale, T./Belcher, S.: Oral Epic from Africa. Bloom./Indianapolis 1997; id.: Epic Traditions in Africa. Bloom./Indianapolis 1999. ⫺ 47 cf. Dieng (wie not. 10). ⫺ 48 Seydou, C.: Silaˆmaka et Poulloˆri. Re´cit e´pique peul raconte´ par Tinguidji. P. 1972; ead.: La Geste de Ham-Bodeˆdio ´ pope´e peule ou Hama Le Rouge. P. 1976; ead.: L’E de Bouˆbou Ardo Galo, he´ros et rebelle. P. 2010;
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ead.: Profils de femmes dans les re´cits e´piques peuls (Mali-Niger). P. 2010. ⫺ 49 Diabate´, M. M.: Essai critique sur l’e´pope´e mandingue. P. 1973; Innes, G.: Sunjata. Three Mandinka Versions. L. 1975; Johnson, J. W.: The Epic of Son-Jara. A West African Tradition. Bloom. 1986; Soundjata. Übers. D. T. Niane/H. Rost. Lpz. 1987; Cisse´, Y. T./Kamissoko, W.: La grande Geste du Mali. P. 1988; iid.: Soundjata. La gloire du Mali. P. 1991; Derive, J./Dumestre, G.: Des Hommes et des beˆtes. Chants de chasseurs mandingues. P. 1999; Camara, A.: Traits e´piques et figures du he´ros dans les re´cits cyne´ge´tiques et agricoles des Maninka de Haute-Guine´e 1⫺2. P. 1999; Traore´, K.: Le Jeu et le se´rieux. Köln 2000, 210⫺213; Jansen, J.: E´pope´e, histoire, socie´te´. Le cas de Soundjata. Mali et Guine´e. P. 2001; Kedzierska, A.: De la Violence et de la maıˆtrise. P. 2006. 50 Kesteloot, L. u. a.: Da Monzon de Se´gou. E´pope´e bambara. P. 1972 (Neuaufl. u. d. T. L’E´pope´e bambara de Se´gou. P. 2010); Dumestre, G./Kesteloot, L.: La Prise de Dionkoloni. P. 1975; Dumestre, G.: La Geste de Se´gou. P. 1979; Dombrovsky-Hahn, K.: Nyagalen Mugan Trawele. Une e´pope´e bambara raconte´e par Bakaroba Kone´. Köln 2001. ⫺ 51 cf. Westermann, D.: Die westl. Sudansprachen und ihre Beziehungen zum Bantu. Hbg 1927. ⫺ 52 Meinhof, C.: Afrik. Märchen. MdW 1921. ⫺ 53 Frobenius, L.: Atlantis. Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas 1⫺12. Jena 1921⫺28. ⫺ 54 E´quilbecq, F. V.: Essai sur la litte´rature merveilleuse des noirs suivi de contes indige`nes de l’Ouest africain 1⫺ 3. P. 1913⫺16. ⫺ 55 Gaden, H.: Le Poular. Dialecte peul du Fouta se´ne´galais 1⫺2. P. 1913/14. ⫺ 56 Delaˆ me ne`gre. P. 1922. ⫺ 57 Platiel, S.: La fosse, M.: L’A Fille volage et autres contes du pays san. P. 1984. ⫺ 58 cf. Meyer, G.: Contes du pays manding. Guine´e ⫺ Mali ⫺ Se´ne´gal ⫺ Gambie. P. 1988; cf. GörögKarady, V./Meyer, G.: Contes bambara. P. 1985 (zweisprachig). ⫺ 59 cf. Meyer, G.: Contes du pays malinke´. Gambie, Guine´e, Mali, Se´ne´gal. P. 2000. ⫺ 60 Copan, J./Couty, P.: Contes wolof du Baol. P. 1988; Kesteloot, L./Dieng, B.: Contes et mythes wolof, du Tieddo au Talibe´. P. 1989; iid./Faye, S.: Contes et mythes du Se´ne´gal. P. 1991; Cisse´, M.: Contes wolof modernes. P. 2000; Diouf, J.-L.: Le Cultivateur et le djinn/Beykat bi ak jinne ji. Contes bilingues wolof-franc¸ais ⫺ Se´ne´gal. P. 2009. ⫺ 61 Griaule, M.: Masques dogon. P. 1938; Ganay, S. de: Les Devises des Dogons. P. 1941; Leiris, M.: La Langue secre`te des Dogons de Sanga (Soudan franc¸ais). P. 1948 (Neuausg. ed. J.-M. Place. P. 1992); Griaule, M./Dieterlen, G.: Le Renard paˆle. P. 1965; Dieterlen, G./Cisse´, M.: Les Fondements de la socie´te´ d’initiation du Komo. P./Den Haag 1972; Dieterlen, G.: Le Titre d’honneur des Arou (Dogon, Mali). P. 1982. ⫺ 62 Calame-Griaule, G.: Contes do` ko´jo_po`_ gon du Mali. P. 2006. ⫺ 63 Babalola, A.: A ` lo´_I`ja`pa` Apa` Kı`n-ı´n (Slg von Erzählungen von A Ijappa [der Schildkröte]). Glasgow 1973; Opadotun, O.: Asayan alo Onitan (Ausw. von Erzählungen). Lagos 1994. ⫺ 64 Ugochukwu, F.: Contes igbo du
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Nigeria, de la brousse a` la rivie`re. P. 1992; id.: Le Pays igbo de la Tortue (Nigeria). P. 2006; id.: Le Pays igbo du Nigeria. P. 2010 (mit detaillierter Bibliogr.). ⫺ 65 Pucheu, J.: Contes haoussa du Niger. P. 1982 (Neuaufl. 1995). ⫺ 66 Furniss (wie not. 8). ⫺ 67 Misau, A. S. H.: The Hausa Spoken in Hardawa. Unveröff. Examensarbeit Maiduguri 1981. ⫺ 68 Görög-Karady, V./Diarra, A.: Contes bambara du Mali 1⫺2. P. 1979; Görög-Karady, V.: L’Enfant ruse´ et autres contes bambara. P. 1984; ead./Meyer, G.: Images fe´minines dans les contes africains. P. 1988. ⫺ 69 Meyer, G.: Contes du pays malinke´. Gambie, Guine´e, Mali, Se´ne´gal. P. 1987; id.: Contes de l’Afrique de l’Ouest. P. 2009. ⫺ 70 Seydou, C.: Contes et fables des veille´es. P. 1975; ead.: Contes peuls du Mali. P. 2005. ⫺ 71 Baˆ, A. H./Dieterlen, G.: Koumen. Texte initiatique des pasteurs peuls. P./Den Haag 1961. ⫺ 72 Baˆ, A. H./Kesteloot, L.: Kaı¨dara. Re´cit initiatique peul. P. 1968. ⫺ 73 Salvaing, B.: Contes et re´cits du Fouta Djalon. P. 1985. ⫺ 74 Noye, D.: Le Menuisier et le cobra. P. 1980; ead.: Taali ful’be talaa’di Baaba Zandu. Les Contes peuls de Baˆba Zandou. Maroua 1981; ead.: Contes peuls de Baˆba Zandou du Cameroun. P. 1982; ead.: Baˆba Zandou raconte. Contes peuls du Cameroun. P. 1983; Eguchi, P. K.: Fulfulde Tales of Northern Cameroon 1⫺4. Tokio 1978/80/ 82/84; Baumgardt (wie not. 28). ⫺ 75 Klipple, M. A.: African Folktales with Foreign Analogues. (Diss. Ann Arbor 1938) N. Y. 1992. ⫺ 76 Schott, R.: Bulsa Sunsuelima. Folktales of the Bulsa in Northern Ghana 1⫺3. Münster/Hbg 1993/96/96. ⫺ 77 cf. Leguy, C.: Des Types et des motifs dans les contes africains. In: Cahiers de litte´rature orale 57/58 (2005) 337⫺346. ⫺ 78 Schild, U.: Westafrik. Märchen. MdW 1975, num. 11, 26; Görög-Karady/Meyer (wie not. 58) 39⫺48, 59⫺64; Steinbrich (wie not. 39) 225. ⫺ 79 ibid., 224. ⫺ 80 Schild (wie not. 78) num. 2; Görög-Karady, V./Seydou, C. (edd.): La Fille difficile. Un conte-type africain. P. 2001. ⫺ 81 Steinbrich (wie not. 39) 224, 242, 246 sq. ⫺ 82 ibid., 256⫺258. ⫺ 83 Görög-Karady, V. u. a.: Histoires d’enfants terribles (Afrique Noire). P. 1980. ⫺ 84 Brüggemann, A.: Amagdala und Akawuruk. Das Zwillingsmotiv in westafrik. Erzählungen der Bulsa, Mossi und Bambara. Schäftlarn 1985, 5 sq., 17, 49⫺ 55, 124⫺130. ⫺ 85 cf. Schild (wie not. 78) num. 72; Zwernemann, J.: Erzählungen aus der westafrik. Savanne. Stg. 1985, 107⫺110, 136 sq. ⫺ 86 Frobenius, L.: Dämonen des Sudan. Jena 1924, 5⫺65. ⫺ 87 Gaden, H.: Proverbes et maximes peuls et toucouleurs. P. 1931; Cauvin, J.: Proverbes minyanka recueillis a` Karangasso (Mali). P. 1977; id.: L’Image, la langue et la pense´e. L’exemple des proverbes (Mali). Recueil de proverbes de Karangasso. St. Augustin 1980. ⫺ 88 Baumgardt, U./Bounfour, A. (edd.): Le Proverbe en Afrique. Forme, fonction et sens. P. 2004. ⫺ 89 Leguy, C.: Le Proverbe chez les Bwa du Mali. Parole africaine en situation d’e´nonciation. P. 2001.
Paris
Ursula Baumgardt
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Westindische Inseln 1. Allgem. geogr. und hist. Hintergrund ⫺ 2. Jamaika ⫺ 3. Dominikan. Republik ⫺ 4. Haiti ⫺ 5. Martinique ⫺ 6. Puerto Rico ⫺ 7. Trinidad ⫺ 8. Kuba ⫺ 9. Bahamas ⫺ 10. Performanz in der westind. Erzählkultur
1 . All ge m. ge og r. un d h is t. Hi nt er g ru nd. Das Archipel der W.n I. erstreckt sich zwischen Nord- und Südamerika und umfaßt mehr als 7000 Inseln und Riffe. Sie bilden einen 4020 Kilometer langen und bis zu 257 Kilometer breiten Bogen, der das Karib. Meer vom Atlantik trennt. Die W.n I. bestehen aus den Großen Antillen im Norden, den Kleinen Antillen im Süden sowie den Bahama-, Turksund Caicos-Inseln. Zu den Großen Antillen gehören Kuba, Jamaika, Haiti, die Dominikan. Republik und Puerto Rico. Zu den Kleinen Antillen zählen die Inseln über dem Winde (u. a. die Jungferninseln, Saint Kitts und Nevis, Antigua, Montserrat, Guadeloupe, Dominica, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Grenada, Martinique, Barbados sowie Trinidad und Tobago) und die vor der Nordküste Venezuelas liegenden Inseln unter dem Winde (u. a. Aruba und Curac¸ao). Gelegentlich werden die W.n I. nicht nach geogr. Kriterien unterschieden, sondern entsprechend der Kolonialgeschichte als Britisch-, Französisch-, Spanisch- und Niederländisch-Westindien bezeichnet. Auf den W.n I. leben über 37 Millionen Menschen u. a. südamerik., afrik., europ. und asiat. Ursprungs. Schätzungsweise 750 000 Menschen bewohnten die W.n I. vor der Entdeckung durch Kolumbus, u. a. Gruppen von Taino, Arawak und Kariben. Mit den Europäern kamen Krieg, Krankheiten und Hunger in die Region; die Folge war eine Dezimierung der indigenen Bevölkerung. Europäer aus Großbritannien, Frankreich, Spanien, den Niederlanden und Portugal führten die Plantagenwirtschaft ein (Zuckerrohr, Kaffee, Kakao etc.). Da der hohe Bedarf an Arbeitskräften durch westafrik. Sklaven unterschiedlichen ethnischen Hintergrunds gedeckt wurde, veränderten sich die Bevölkerungsstruktur und die sozialen Beziehungen in der gesamten Region. Nach der Abschaffung der Sklaverei im 19. Jh. griffen die Plantagenbesitzer auf Kontraktarbeiter aus China, später aus Indien zu-
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rück. In diesem hist. Kontext entstand eine sehr spezifische Folklore. Die unterschiedlichen Einflüsse der europ. Kolonialsprachen und -kulturen sind in der erzählerischen Überlieferung der W.n I. zwar nachweisbar, doch sie ist entscheidend davon geprägt, daß die Mehrheitsbevölkerung afrik. Herkunft ist. Ferner haben die indigene Mythologie sowie hinduist. und islam. Kulturen deutliche Spuren hinterlassen. Westind. Erzählgut wurde erstmals Anfang des 19. Jh.s von dem romantischen Gentleman-Abenteurer M. G. Lewis aufgezeichnet1. In der Folgezeit erschienen gelegentlich westind. Erzählungen im J. of American Folklore, doch erst E. C. J Parsons2 und M. W. J Beckwith3 begannen mit einem systematischen Sammeln westind. Erzählguts. Mit den Typenkatalogen von H. L. Flowers4 und T. L. Hansen5 liegen zwei übergreifende Werke vor. Die am häufigsten erzählten Geschichten sind Trickstererzählungen. Der beliebteste J Trickster ist J Anansi6, eine Figur, die aus Akan- und Ashanti-Erzählungen adaptiert wurde. In afrik. Erzählungen ist Anansi eine J Spinne, in den Geschichten der W.n I. scheint er ein Mann zu sein, der sich in eine Spinne verwandeln und so seinen Gegnern entkommen kann. 2 . J am ai ka. Anansi begegnet in Jamaika auch in Tiergeschichten oder ätiologischen Erzählungen. Eine Geschichte erzählt, wie es ihm mit List und Betrug gelingt, daß alle unter dem Namen ,Tigergeschichten‘ bekannten Erzählungen in ,Anansi-Geschichten‘ umbenannt werden7. Zu den beliebtesten jamaikan. Erzählungen gehören Duppy- und Big Boy-Geschichten8. Duppys sind übelwollende Geister, die eine Vielzahl von Formen und Gestalten annehmen können, z. B. die verstorbener Verwandter. Tagsüber nehmen sie in Kapokbäumen Zuflucht (ein in Afrika verbreitetes Motiv), nachts streifen sie umher. Menschen, die auf Duppys treffen, müssen auf bes. Wissen und auf List zurückgreifen, um sie zu besiegen. Big Boy vereinigt Eigenschaften des Tricksters und des Dummkopfs in sich. In oft obszöner oder grober Weise macht er Lehrer oder Eltern zum Gegenstand seiner Scherze, respektiert weder moralische noch soziale Werte und wird nur von seinen eigenen Wünschen geleitet.
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3 . D om in ik an . Rep ub li k. Außer den auch in anderen Regionen bekannten Tierund Trickstererzählungen sind in der Dominikan. Republik Geschichten über Ciguapas belegt. Dies ist die Bezeichnung für Geister von Taino-Frauen, die starben, während sie sich vor den span. Kolonisatoren versteckten. Die Ciguapas bewohnen abgelegene Berggegenden und locken junge Männer in den Wassertod (J Wassergeister). Sie können schwarze Augen und lange schwarze Haare haben, oder sie sind sehr klein, können nicht sprechen und bringen junge Männer mit Vogelliedern dazu, ihnen in ihre Flußhöhlen zu folgen. Ihre Füße sind nach hinten gerichtet (Mot. G 365.1), um eventuelle Verfolger abzulenken. In anderen Versionen sind sie in Pelz gehüllt und schwingen sich heulend von Baum zu Baum, oder sie sehen wie Nachtvögel aus und ahmen mit ihrer Stimme menschliche Schreie nach. 4 . H ai ti. Das Repertoire der haitian. Volkserzählungen besteht aus Zaubermärchen, Trickstergeschichten und ätiologischen Erzählungen; Geschichten über Tiere und übernatürliche Ereignisse dienen als Mittel, um menschliches Verhalten auf metaphorische Weise zu thematisieren. Auch in Haiti sind Trickstergeschichten äußerst beliebt. Dort kennt man zwar auch Anansi, doch die populärsten Trickster sind Ti Malice und Nanc’ Bouki (Bouquı´)9. Beide werden als menschliche Wesen betrachtet: Ti Malice besitzt Anansis durchtriebene Intelligenz, Bouki dagegen seine Dickköpfigkeit, Dummheit und Überheblichkeit. Darüber hinaus personifizieren Ti Malice und Bouki die Opposition von Stadt und Land: Der schwerfällige Bauer Bouki wird von dem Städter Ti Malice hereingelegt. Während ,bouki‘ in der afrik. Wolof-Sprache J Hyäne bedeutet, ein Tier, das in der dortigen Überlieferung mit Hexerei verbunden ist, lassen die Figuren Ti Malice und Bouki den ausgeprägt politischen Charakter von Trickstererzählungen in westind. kolonialen Kontexten erkennen. In den haitian. Erzählungen repräsentiert Bouki den Sklaven, der sich immer wieder weigert, sein menschenfreundliches Verhalten zugunsten des eigenen Überlebens aufzugeben. Ti Malice steht für den Trickster, der an die Spitze der Sklaverei-
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gesellschaft gelangt ist10. In Trickstererzählungen kann Ti Malice auch unter dem Namen Lapin (cf. J Brer Rabbit) bzw. Compe`re Lapin erscheinen. Ähnliche Gegensatzpaare wie Bouki und Ti Malice sind Jean Saute und Jean L’Espirit. Die Popularität dieser Erzählungen steht in Beziehung zu der Tatsache, daß Haiti seine Unabhängigkeit durch den einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand der Karibik erlangte. 5 . Mar ti ni qu e. Die Überlieferung der Insel Martinique zeigt Gemeinsamkeiten mit der Haitis. Neben Ti Jean begegnet häufig auch der Tiertrickster Compe`re Lapin. Im Mittelpunkt der Geschichten über ihn stehen seine Listen und gerissenen Überlebensstrategien. Er triumphiert über stärkere Gegner, die schwer von Begriff sind (im allgem. der Tiger). Lapin ist auch ein Aufschneider und Nichtstuer. Ähnlichkeiten mit dem Erzählrepertoire Haitis zeigen darüber hinaus Sagen, in denen nicht nur Monster begegnen, sondern auch die in der haitian. Überlieferung verbreiteten Zombies und Gage´es (Frauen, die nachts ihre Haut abwerfen, durch die Luft fliegen und Schabernack treiben [J Luftgeister]). Maman dlo (Mutter des Wassers) erscheint in der Nacht in der Nähe von Fischerbooten. Wenn man nicht tut, was sie verlangt, kippt sie die Boote um11. 6 . P ue rt o R ic o. Die zentrale Figur puertorican. Trickstererzählungen ist Juan Bobo. Die Geschichten über ihn bieten eine Mischung afrik., span. und ind. Überlieferungen und Glaubensvorstellungen. Anders als Anansi hat Juan Bobo immer menschliche Gestalt und kann sich nicht verwandeln. Er ist unter vielen Namen bekannt, u. a. Juan Simple und Juan Cuchilla. Juan Bobo ist eine Figur, mittels derer Alterität und die Vermischung kultureller Traditionen thematisiert werden12. 7 . Tri ni da d. Afrik. und ind. Traditionen ebenso wie span., frz. und brit. Einflüsse, die indigenen Wurzeln Trinidads und die Beziehungen zum Rest der Karibik spiegeln sich in den Volkserzählungen wider. Geister spielen darin eine zentrale Rolle: Papa Bois, halb Mann, halb Ziege, beschützt die Wälder und ihre Tiere (J Herr der Tiere); manchmal verwandelt er Jäger in Rotwild oder bringt sie in
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gefährliche Situationen. Seine Frau, Mama D’Leau, Beschützerin der Ströme und Flüsse, fängt Missetäter mit ihrem schlangenähnlichen Schwanz und zieht sie auf den Grund des Gewässers. Douens, die Geister ungetauft verstorbener Kinder, sind nackt und tragen große Strohhüte, die ihre Gesichter verbergen; ihre Füße sind nach hinten gerichtet. Sie wandern auf der Suche nach lebenden, ungetauften Kindern durch die Nacht. Soucouyants sind alte Frauen, die ihre Haut abwerfen können. Sie nehmen die Form von Flammenbällen an und saugen schlafenden Menschen Blut aus. Sie können nur getötet werden, wenn man nachts ihre abgelegte Haut findet und Salz darauf streut. Jumbies, in Kapokbäumen lebende Ahnengeister, wachen über die Lebenden oder treiben Schabernack. In anderen Erzählungen begegnen Legahus, Werwölfe (J Wolfsmenschen) und La Diablesse, eine dämonische Verführerin, deren Füße nach hinten zeigen13. 8 . Kub a. Die Popularisierung religiösen Erzählguts ist auch in Kuba geläufig. In vielen afrokuban. Volkserzählungen begegnen Göttergestalten aus dem Pantheon der Yoruba14. Diese Geschichten gehören nicht zu dem komplexen Korpus von Orisha-Erzählungen, die eine feste Rolle in der auf der Yoruba-Religion basierenden afrokuban. Santerı´a-Religion spielen, sondern sie sind ein Teil der kuban. Volkskultur. Daneben gibt es viele Geschichten über den Tiger, den Elefanten, den Stier, den Wurm, den Hasen, die Hühner und bes. die Trickstergestalt J Schildkröte, die den mächtigeren Hirsch besiegt. In Kuba kursieren auch Geschichten, in denen ein grober Bauer und ein dreister Lügner darum wetten, wer die dickste Lüge erzählen kann (cf. AaTh/ATU 1920⫺1920 H: J Lügenwette)15. Ähnliche Geschichten finden sich in Jamaika und Haiti. Darüber hinaus erscheinen in kuban. Erzählungen zwei Wesen, die als einheimisch betrachtet werden: El Guije ist ein kleines, im Wasser lebendes Geschöpf, manchmal schwarzhäutig, manchmal mit indian. Zügen, das Schabernack treibt, wenn es auftaucht. Es kann sich in einen Fisch, einen Papagei oder einen Armmolch verwandeln, um Verfolgern zu entkommen. La Madre de Aguas ist eine riesige, gehörnte Schlange, die in Flüssen
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wohnt, oder ein gewaltiges Meeresungeheuer, das gigantische Wellen verursacht. 9 . B ah am as. Auch die Figuren und Motive der Erzählungen auf den Bahamas lassen auf afrik. Ursprung schließen. Dies gilt bes. für die ,old stories‘. Diese Erzählungen unterscheiden sich sowohl strukturell als auch inhaltlich von anderen Erzählformen der Bahamas. Old stories enthalten traditionelle Motive oder neuere Motive, die sich den Anschein der Traditionalität geben. Darüber hinaus erzählen sie von traditionellen Figuren, darunter viele Trickster. B’Rabby erscheint oft eher als Mann denn als Kaninchen. B’Booky, der mit dem haitian. Bouki verwandt ist, stellt die Kontrastfigur zu ihm dar. B’Anansi erscheint nicht als Spinne, sondern als Junge, Mann oder Affe. B’Spider ist der einzige Trickster der Bahamas, der Netze spinnt. B’Jack ist ein schlauer Junge, der Respektspersonen überlistet und magische Fähigkeiten besitzt16. Oft enthalten Erzählungen Rätsel, Lieder oder Wechselgesänge, wobei es sich mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls um ein afrik. Erbe handelt. Einigen Liedern wird magische Wirkung zugeschrieben17. In Fasting for the Hand of the Queen’s Daughter tragen Bru Pigeon und Bru Owl einen Liederwettstreit aus18. In anderen Fällen ist ein Lied der Auslöser für eine Folge von Zurufen und Antworten zwischen Erzählfiguren. 1 0. Pe rf or ma nz in de r w es ti nd . E rz äh lk ul tu r. R. Abrahams hat die Bedeutung von J Kontext und J Performanz für die Analyse westind. Volkserzählungen veranschaulicht19. Diese waren Mittel des Widerstands gegen die Kolonialmacht: Geschichten, die oft in den Familien oder Gemeinschaften erzählt wurden, hielten traditionelle Werte, Glaubensvorstellungen und Verhaltensweisen wach; hinter ihren vereinfachenden Formen konnten wirkungsvolle Botschaften verborgen werden20. Zugleich handelt es sich bis in die Gegenwart um ein Verfahren gemeinschaftlichen Weltverstehens; so werden z. B. auf St. Vincent und den Grenadinen wie in anderen (bes. engl.sprachigen) Gegenden der Karibik bei Ritualen, die einem Begräbnis vorausgehen, Anansi-Geschichten erzählt21.
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Beim Erzählen findet zwischen Erzähler und Hörern eine lebhafte Interaktion statt. Dabei spielen J Eingangsformeln eine wichtige Rolle. So ruft in Haiti und im frz. Einflußbereich der Erzähler als Auftakt einer Geschichte ,Cric?‘, und erst wenn das Publikum mit ,Crac!‘ geantwortet hat, beginnt er zu erzählen22. Auch auf den Bahamas wird das Publikum in den Akt des Erzählens einbezogen. In meist abendlichen Veranstaltungen23 wendet sich der Erzähler, der durch sein Unterhaltungstalent Prestige erlangt, an die mit dem dargebotenen Repertoire vertrauten Zuhörer. Er ruft ,Bunday‘, zuerst um eine Geschichte anzukündigen, dann um Reaktionen hervorzurufen, Spannung aufzubauen und schließlich, um die Geschichte zu beenden. Die Erzählkultur der W.n I. gibt Einblicke in die Funktion und Bedeutung der Narration: Altüberkommene Beziehungen werden im interaktiven Geschehen des Erzählens geltend gemacht und neuen Umgebungen angepaßt; soziale und kulturelle Beziehungen werden aktualisiert oder neu definiert. So wie Anansi den Tiger dazu zwingt, alle Erzählungen Anansi-Geschichten zu nennen24, versuchen die Bewohner der W.n I. durch die Performanz von Volkserzählungen Kontrolle über ihre eigenen Geschichten und ihr eigenes Leben zu erlangen. 1 Lewis, M. G.: J. of a West Indian Proprietor, Kept during a Residence in […] Jamaica. L. 1834. ⫺ 2 Parsons, E. C.: Folk-lore of the Antilles, French and English 1. N. Y. 1933. ⫺ 3 Beckwith, M. W.: Black Roadways. A Study of Jamaican Folk Life. Chapel Hill 1929; ead.: Jamaica Anansi Stories. N. Y. 1924; ead.: Jamaica Folk-lore. N. Y. 1928. ⫺ 4 Flowers, H. L.: A Classification of the Folktales of the West Indies by Types and Motifs. (Diss. Bloom. 1952). N. Y. 1980. ⫺ 5 Hansen, T. L.: The Types of the Folktale in Cuba, Puerto Rico, the Dominican Republic, and Spanish South America. Berk./L. A. 1957. ⫺ 6 Edmonds, E. B.: Anancy/Anansi. In: Prahlad, A. (ed.): The Greenwood Enc. of African American Folklore 1⫺3. Westport 2006, hier t. 1, 26⫺28; Roberts, J. W.: From Trickster to Badman. The Black Folk Hero in Slavery and Freedom. Phil. 1989, 17⫺64; Smith, J. R.: Trickster. In: Andrews, W. L./Foster, F. S./Harris, T. (edd.): The Oxford Companion to African American Literature N. Y./ Ox. 1997, 736 sq.; Vete´-Congolo, H.: Carribbean Storytales. A Methodology for Resistance. In: Arthurium 5,1 (2007) 1⫺24; Abrahams, R. D.: Folktales and Event-Centered Analysis. Anansi Stories on St. Vincent. In: Calame-Griaule, G./Görög-Karady,
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Wettbetrug
V./Chiche, M. (edd.): Le Conte, pourquoi? comment? P. 1984, 485⫺509; Newall, V.: The Hero as Trickster. The West Indian Anansi. In: Davidson, H. R. E. (ed.): The Hero in Tradition and Folklore. L. 1984, 46⫺89; Ansah, S. L.: The Ananse Archetype in Ghanaian and Jamaican Folktales. In: The Literary Griot 1,2 (1989) 44⫺53; Yankah, K.: From Africa to the New World. The Dynamics of the Anansi Cycle. In: Peters, J. A./Mortimer, M. P./Linnemann, R. V. (edd.): Literature of Africa and the African Continuum. Wash. 1989, 115⫺128; Souza, P. de: Creolizing Anancy. Signifying Processes in New World Spider Tales. In: Collier, G./Fleischmann, U. (edd.): A Pepper-Pot of Cultures. Aspects of Creolization in the Carribbean. Amst./N. Y. 2003, 339⫺363. ⫺ 7 Sherlock, P.: Tales from the West Indies. Ox. 2000, 42⫺54. ⫺ 8 Dance, D.: Folklore from Contemporary Jamaicans. Knoxville 1985; Prahlad, A.: Jamaica. In: id. (wie not. 6) t. 2, 681⫺687. ⫺ 9 Bennett, A.: Ti Malice and Bouquı´. ibid., 1286 sq. ⫺ 10 Price-Mars, J.: So Spoke the Uncle. Wash. 1983. ⫺ 11 Kaussen, V.: Martinique. In: Prahlad (wie not. 6) t. 2, 830⫺832. ⫺ 12 Lazu´, J.: Puerto Rican Folklore. ibid., 1029⫺1034. ⫺ 13 Goldwasser, M.: Spirits. ibid., t. 3, 1234⫺1237, bes. 1236 sq. ⫺ 14 Cabrera, L.: Afro-Cuban Tales. Cuentos negros de Cuba. Übers. A. Herna´ndez-Chiroldes/L. Yoder. Lincoln 2004. ⫺ 15 MacDonald, M. R.: From the Winds of Manguito. Westport, Conn. 2004, 25⫺47. ⫺ 16 Humann, H. D.: The Bahamas. In: Prahlad (wie not. 6) t. 1, 68⫺71. ⫺ 17 Crowley, D.: I Could Talk OldStory Good. Creativity in Bahamian Folklore. Berk. 1966. ⫺ 18 Abrahams, R. D.: African American Folktales. N. Y. 1985, 251 sq. ⫺ 19 id.: The Man-ofWords in the West Indies. Baltimore 1983, 157⫺ 186. ⫺ 20 Hill, D.: Caribbean Folklore. Westport 2007. ⫺ 21 Goldwasser, M.: St. Vincent. In: Prahlad (wie not. 6) t. 3, 1129⫺1131. ⫺ 22 Ford, N.: Haiti. ibid., 570⫺575; Courlander, H.: The Drum and the Hoe. Life and Lore of the Haitian People. Berk. 1960; cf. auch Haring, L.: Framing in Narrative. In: The Arabian Nights in Transnational Perspective. ed. U. Marzolph. Detroit 2007, 135⫺153. ⫺ 23 Crowley (wie not. 17) 9 sq. ⫺ 24 cf. Sherlock (wie not. 7).
La Jolla
Michele Goldwasser
Wettbetrug (AaTh/ATU 1551), weit verbreiteter Schwank. Ein Bauer (junger Mann, Dümmling), der ein Schaf (Kalb, Ziegen etc.) zum Markt bringt, trifft einen Trickster (Student, Städter, Kaufmann etc.), der behauptet, das Schaf sei in Wirklichkeit ein Ferkel (Gans, Hühnchen etc.). Zwar zweifelt der Bauer an den Worten des Tricksters, doch bei der darauffolgenden Begegnung wird er von einem (mehreren)
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Komplizen davon überzeugt, daß sein Schaf in der Tat ein Schwein sei. In manchen Versionen schließen Bauer und Trickster eine Wette über die Identität des Tiers ab, bei welcher der Komplize als J Schiedsrichter fungiert. In dem Glauben, daß es sich bei seinem Tier um eines von geringem Wert handle, verkauft der Bauer es dem Trickster zu einem äußerst niedrigen Preis.
Der älteste überlieferte Beleg für diesen Erzähltyp findet sich im J Pan˜catranta (3,3)1. Hier trifft ein Brahmane, der eine Opferziege mit sich führt, nacheinander drei Spitzbuben. Der erste rügt ihn dafür, daß er einen Hund, also ein unreines Tier, auf der Schulter trage, der zweite spricht von einem toten Kind, der dritte von einem Esel. Der Brahmane, der befürchtet, daß er es mit einem bösen Geist, der seine Gestalt verändert, zu tun habe, wirft die Ziege zu Boden und läuft fort, während die Gauner das Tier ergreifen, es schlachten und sich daran gütlich tun. Die der Erzählung folgende moralische Auslegung warnt u. a. vor der falschen Beredsamkeit von Betrügern. In der Folgezeit findet sich die Geschichte in anderen Sanskrit-Dichtungen, z. B. im Katha¯saritsa¯gara des J Somadeva, im J Hitopades´a (4,8)2 sowie in der in zahlreichen vorderoriental. und europ. Sprachen tradierten Erzählsammlung J Kalila und Dimna3. Eine arab. Version bietet auch ein Ms. des 18. Jh.s von J Tausendundeine Nacht 4; in einer Var. aus Kalabrien wird die Geschichte vom W. über J Hodscha Nasreddin erzählt5. In Europa ist die Erzählung erstmals im frühen 13. Jh. in den Sermones vulgares 20 (1) des J Jacques de Vitry greifbar; danach erscheint sie in einer Reihe anderer spätma. lat. Predigtsammlungen6. Oft wird sie von einer moralisatio begleitet, so u. a. bei E´tienne de Bourbon (num. 339). In diesen Var.n ist der Genarrte oft ein Bauer, der zum Markt geht; häufig wird ihm vorgegaukelt, daß sein Lamm ein Hund sei. Die Geschichte fand Eingang in verschiedene frühneuzeitliche volkssprachliche Werke wie die J Gesta Romanorum (num. 132), J Straparolas Piacevoli notti (1,3; Priester hält Maultier für Esel) und engl. Schwankbücher, etwa Scogin’s Jests (Bauer hält Schweine für Schafe) oder The Sack-full of Newes (Bauer hält Schafe für Schweine)7. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s sind Var.n von AaTh/ ATU 1551 in fast allen europ. Sprachen nachgewiesen; weitere Texte wurden in Nordafrika,
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Wette
im Mittleren Osten, auf dem ind. Subkontinent und in Indochina aufgezeichnet, ferner in anglo-, franko- und hispanophonen Teilen Amerikas. AaTh/ATU 1551 erscheint oft als erste Episode einer zweiteiligen Erzählung8. Den zweiten Teil, in dem der Hereingelegte sich rächt, bildet gewöhnlich AaTh/ATU 1538: J Rache des Betrogenen, manchmal auch AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit (in der ir. Überlieferung noch AaTh/ATU 1536 A: Die J Alte in der Kiste und AaTh/ATU 1542: J Peik)9. Eine binäre Struktur, allerdings anderer Art, weist ferner eine Mitte des 20. Jh.s in Maine aufgezeichnete Var. mit dem Schema der erfolglosen Wiederholung auf: Zwei Schlaumeiern gelingt es, sich in einer Gastwirtschaft als Wettgewinn ein kostenloses Getränk zu verschaffen. Dabei machen sie dem Wirt weis, ein Eichhörnchen sei eine Kröte; doch bei dem Versuch, den Betrug zu wiederholen, scheitern sie an ihrer eigenen Zerstreutheit10. Ein Zeichen für die Verbreitung der Erzählung auch in der bürgerlichen Bildungsschicht des 19. Jh.s ist ihre Verwendung durch den Historiker Thomas Macaulay, der damit die Dichtung Robert Montgomerys verächtlich machen wollte11: Er verglich die Schwindler, die dem Brahmanen einen Hund als Schaf verkaufen wollten, mit den Rezensenten, die behaupteten, daß Montgomerys Werk echte Dichtkunst sei. 1 cf. Benfey 1, 355⫺357; ibid. 2, 238⫺240. ⫺ 2 Na¯ra¯yanø a: Hitopades´a oder die freundliche Belehrung. Übers. J. Hertel. ed. J. Mehlig. Mü. 1988, 146 sq. ⫺ 3 Clouston, W. A.: Popular Tales and Fictions. ed. C. Goldberg. Santa Barbara u. a. 2002, 281⫺289; Chauvin 2, num. 51. ⫺ 4 Chauvin 7, num. 430; Marzolph/van Leeuwen 1, 267 sq., num. 376. ⫺ 5 Hodscha Nasreddin 2, num. 437. ⫺ 6 Tubach, num. 2975; Pauli/Bolte 2, num. 632; Schwarzbaum, Fox Fables, 566 sq., not. 27. ⫺ 7 Hazlitt, W.: Shakespeare Jest Books 2. L. 1864, 56⫺58, 176⫺180; cf. auch Merry Tales, Witty Questions and Quick Answers. L. 1567, num. 58. ⫺ 8 cf. Marzolph/van Leeuwen (wie not. 4); Rael, J.: Cuentos espan˜oles de Colorado y Nuevo ´ Su´illeaMe´jico 2. Stanford 1957, num. 360. ⫺ 9 cf. O bha´in/Christiansen; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 53. ⫺ 10 Dorson, R.: Buying the Wind. Chic. 1964, 92 sq. ⫺ 11 Macaulay, T.: The Omnipresence of the Deity, a Poem. In: Edinburgh Review 51,101 (April 1830) 193⫺210, hier 193 sq.
Tartu
Jonathan Roper
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Wette. In juristischer Sicht ist eine W. ein meist zwischen zwei Parteien geschlossener J Vertrag, ein rechtsförmliches Versprechen oder eine prozessuale Pfandleistung1. Die W. ist mit dem Spiel und der Auslobung verwandt (cf. auch J Wettkampf); kennzeichnend ist ihr aleatorischer Charakter. Die wesentlichen Elemente der W. sind: (unwahrscheinliche) Behauptung durch eine Partei; Bestreiten der ursprünglichen Behauptung bzw. Aufstellen einer andersartigen, oft gegenteiligen Behauptung durch eine andere Partei; Wetteinsatz, der dem Gewinner der W. vom Verlierer zu zahlen ist2. W.n werden ⫺ wie auch andere Verträge ⫺ charakteristischerweise durch Handschlag bekräftigt3. In populären Erzählungen dienen W.n primär der Erzeugung von J Dynamik. Oft wird die W. (nur) mit J List oder durch einen Betrug gewonnen (J Betrüger), und praktisch nie gewinnt derjenige, der aufgrund der physischen oder sozialen Machtverhältnisse eigentlich gewinnen müßte. Exemplarisch wird die W. etwa in KHM 187, AaTh 275/ATU 275 C: cf. J Wettlauf der Tiere behandelt. Hier besteht die unwahrscheinliche Behauptung darin, daß der Igel beim Wettlauf schneller sei als der Hase. Das Bestreiten der Behauptung durch die Gegenpartei ist zunächst einleuchtend: Der Hase meint zu Recht, daß er schneller als der Igel laufen könne. Als Wetteinsatz verpflichten sich Hase und Igel, daß der Unterlegene dem Sieger ein Goldstück und eine Flasche Branntwein geben müsse. Gegenstand von W.n sind unterschiedliche Sachverhalte, die sich auch in der Tragweite ihres Anliegens unterscheiden können: Ein reicher und ein armer Freund wetten, ob Geld und Tüchtigkeit oder die Fügung des Schicksals für Wohlstand verantwortlich seien (AaTh/ ATU 736: cf. J Glück und Unglück); Hofnarr und Herrscher wollen am Beispiel einer Katze, die man dazu dressiert hat, eine Kerze zu halten, klären, ob Erziehung oder triebgesteuertes Verhalten stärker sei (AaTh/ATU 217: J Katze und Kerze); Knecht und Dienstherr wetten darum, wer von ihnen sich zuerst nicht mehr beherrschen könne (AaTh/ATU 1000, 1002: cf. J Zornwette; cf. auch AaTh/ATU 1006: J Augenwerfen); der Pfarrer wettet mit einem Gemeindemitglied, daß er während der Predigt einen Krug Wein leeren könne, ohne
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Wette
daß die Gemeinde es bemerke (AaTh/ATU 1827: cf. J Predigtschwänke); der Bauer behauptet, daß seine Frau bei seiner Heimkehr nicht schimpfen werde (cf. Andersens Var. von AaTh/ATU 1415: J Hans im Glück). Im weiteren Sinn der W. zuzurechnen ist die Rätselwette (cf. J Rätselmärchen)4, denn hier wird gleichfalls eine Behauptung aufgestellt, nämlich die, daß das Rätsel nicht zu lösen sei: Rumpelstilzchen ist sich sicher, daß die junge Mutter seinen Namen nicht herausfinden kann (KHM 23, AaTh/ATU 500: J Name des Unholds). Auch die Stellung einer schwierigen oder scheinbar unlösbaren J Aufgabe kann als eine Form der Wette verstanden werden. J Mutproben, z. B. AaTh/ATU 1676 B: J Tod durch Schrecken, können gleichfalls den Charakter einer W. haben (cf. auch AaTh/ATU 956 B: Das tapfere J Mädchen und die Räuber). Manche W.n besitzen ausgesprochen trivialen Charakter, so wenn es darum geht, wer zuerst sprechen wird (AaTh/ATU 1351: J Schweigewette), wer am meisten essen oder trinken kann (AaTh/ATU 1295: Der siebente J Kuchen; AaTh/ATU 1088: J Trinkwette), wer den cleversten Diebstahl durchführt (AaTh/ATU 1525 sqq.: J Meisterdieb; cf. auch AaTh/ATU 1737: J Pfarrer im Sack), wer am faulsten ist (AaTh/ATU 1950: J Faulheitswettbewerb), wer am längsten singen kann (AaTh/ATU 1082 A: J Soldat und Tod) oder wer zuerst den Sonnenaufgang sieht (AaTh/ATU 120: J Sonnenaufgang zuerst sehen). Auch in Tiererzählungen ist die W. oft mit einem Wettkampf verbunden5: Bär und Fuchs wetten, wer als erster drei Bäume nennen kann (AaTh/ATU 7: Drei J Namen sagen); die Ameise wettet mit dem Raben (Bären), daß sie eine größere Last als ihr Körpergewicht bis in die Baumspitze tragen kann (AaTh/ATU 280: The Ant Carries a Load as Large as Himself ), oder sie behauptet, daß sie ein Ochsengespann anzuhalten vermag6. Der Rabe gewinnt die W., wer am besten sehen kann7. Krähe und Drongo wetten, wer mit einem Gewicht beladen am höchsten fliegen kann (Mot. K 25.2; cf. AaTh/ATU 211: Die Last des J Esels); die Schildkröte (Kröte) wettet mit dem Geier, wer zuerst im Himmel ankommt (cf. AaTh/ATU 225: cf. J Fliegen lernen). Der Frost wettet mit dem Hasen (Fuchs, Wolf), daß das Tier den
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Frost nicht ertragen könne (AaTh/ATU 71: J Frost und Hase). Sofern Dritte Gegenstand der W. sind, handelt es sich häufig um weibliche Treue oder Untreue (J Ehebruch). In AaTh 882, 892: J Cymbeline wettet der Ehemann, daß es dem Freund nicht gelingen werde, seine keusche Frau zu verführen8. Ein engl. Schwanklied erzählt von einem Kaufmann, der sein Schiff gegen das Instrument eines Geigers setzt und behauptet, daß er dessen Frau binnen einer Stunde verführen könne; er gewinnt die W. zwar, erstattet dem Geiger aber seine Frau samt dem Instrument zurück9. Ein Mann wettet, daß er mit der Tochter des Königs schlafen werde (AaTh/ATU 1545: J Junge mit vielen Namen; cf. AaTh/ATU 854: Der goldene J Bock). Ein Gegenstück zu derartigen männlichen J Verführungsgeschichten, in denen die Frau das Opfer ist, bietet der Schwank AaTh/ ATU 1406: J W. der Frauen, wer den Mann am besten narrt, in dem die Ehemänner durch weibliche Komplizenschaft der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Der Wetteinsatz kann sehr verschieden sein. Meist ist es Geld oder eine geldwerte Sache, in Zaubermärchen oft die Heirat mit der Königstochter; in AaTh/ATU 500 bildet das eigene Kind der verzweifelten Königin den Wetteinsatz. In Var.n von AaTh/ATU 890: J Fleischpfand ist ein Teil des eigenen Körpers Einsatz bei einer W. Ein besitzloser junger Ehemann erwirbt ein Vermögen mit der W., die Prinzessin werde ihm das Essen bringen (cf. J Lachen: Zum L. bringen). Oft sind W.n mit einer J Täuschung bzw. einem Moment der Willkür verbunden10. Gelegentlich hat einer der Wettpartner von Anfang an eine betrügerische Absicht, wobei er den Ausgang der W. durch bestimmte Vorkehrungen oder Vereinbarungen zu seinen eigenen Gunsten präjudiziert: Ein Schuster, der einem Armen kostenlos Schuhe gemacht hat, verpflichtet diesen, bis zum nächsten Zusammentreffen mit ihm unsinnig zu reden; als dem Schuster von dem vermeintlichen Unglück des Mannes erzählt wird, wettet er (um einen Betrag, der die Kosten der Schuhe deckt), daß der Mann sich bei ihm vernünftig verhalten werde, und gewinnt (cf. AaTh/ATU 1585: J Pathelin)11. Ein Seemann behauptet, daß der Bootsherr keine Schweinefüße braten könne;
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Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt
ohne die konkreten Wettbedingungen vorher genannt zu haben, verlangt er von ihm, die Hitze eines weit entfernten Feuers zu nutzen (AaTh/ATU 1262: Fernwirkung des J Feuers). Der Ausgang der W. mit Gewinn für den einen und Verlust für den anderen ist sowohl Ausdruck des realen Strebens der Erzähler und Zuhörer nach J Glück als auch der naiven Freude an der listigen Übertrumpfung eines übermächtig scheinenden Gegners. Eine explizite Verdammung von Wettleidenschaft wird man bestenfalls in moralischen Geschichten erkennen können (cf. auch J Spieler). Derartige Erzählungen erlangen ihren Unterhaltungscharakter oft durch den Überraschungseffekt, daß der utopische Wunsch des Siegs der Schwachen über die Starken (J Stark und schwach, J Wunschdichtung) verwirklicht wird. Auch bestimmte Formen des J Teufelspakts können den Charakter einer W. annehmen. Wenn Gott oder ein Mensch mit dem J Teufel eine W. abschließt, bildet normalerweise die J Seele des Menschen den Wetteinsatz. Dieses Motiv ist zentrales Element in Goethes J Faust: Faust sucht seine Lebenssehnsucht durch eine W. zu erfüllen und ist selbst, ohne daß er es weiß, der Wetteinsatz12. Gegenstand der W. ist oft eine schwierige Aufgabe, die der Teufel mit Leichtigkeit erfüllt (cf. J Baumeister, J Brücke), dann aber um die vereinbarte Seele geprellt wird. Manchmal gelingt es dem Teufel wider Erwarten nicht, die als leicht angesehene Aufgabe in der vorgesehenen Zeit zu erfüllen, und er verliert die W.: Der Teufel bringt die letzte der vereinbarten vier Säulen für die Kirche erst kurz nach dem Ende der Messe13; als er gegen eine flinke Näherin verliert, schleicht sich der Teufel beschämt davon und soll seither nie mehr gewettet haben (AaTh/ATU 1096: cf. J Wettstreit mit dem Unhold)14. Bei der J Lügenwette (AaTh/ATU 1920⫺ 1920 H; cf. auch J Sack voll Lügen oder Wahrheiten) geht es darum, welcher von zwei Partnern besser lügen kann. Als der Edelmann am Ende der Lügenerzählung des Landmannes ausruft: ,Du lügst, du lügst!‘ und damit die Lüge des anderen anerkennt, hat dieser die W. gewonnen15. Diese Erzählung betont auf bes. Weise das verwerfliche Element der W., da derjenige gewinnt, der gegen das göttliche Verbot der Lüge (Ex. 20,16) verstößt.
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1 Großfeld, B./Rothe, O.: W. und Spiel in Lit. und Recht. In: Zs. für vergleichende Rechtswiss. 98 (1999) 209⫺226. ⫺ 2 Jessen, J.: Das Recht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Diss. Kiel 1979, 62. ⫺ 3 ibid., 64; cf. HDA 7 (1935⫺36) 1095. ⫺ 4 Röhrich, L.: „Wer sind die Zwei mit zehn Füßen, drei Augen und einem Schwanz?“ Erzählfunktion des Rätsels im Mythos, Märchen und Witz. In: Heindrichs, U. und H.-A. (edd.): ZauberMärchen. Mü. 1998, 232⫺234. ⫺ 5 Dh. 3, Reg. s. v. W. ⫺ 6 Dh. 3, 143; Krzyz˙anowski, num. 279. ⫺ 7 Tubach, num. 1830. ⫺ 8 Roth, K. und J.: Märchen zwischen mündl. Tradition und Triviallit. „Die W. auf die Treue der Ehefrau“ (AaTh 882) als volkstümlicher Lesestoff in Bulgarien. In: Gesemann, W. u. a. (edd.): Einundzwanzig Beiträge zum 2. Internat. Bulgaristik-Kongreß in Sofia 1986. Neuried 1986, 283⫺298. ⫺ 9 Wehse, R.: Flugblatt und Schwanklied in Großbritannien. Ffm. u. a. 1979, num. 308. ⫺ 10 Ebel, W.: Die Willkür. Göttingen 1953, 73. ⫺ 11 Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 470; Marichal, W.: Volkserzählungen und Volksglaube in der Gegend von Malmedy und Altsam. Würzburg 1942, 131 sq.; Perbosc, A.: Contes de Gascogne. P. 1954, num. 40. ⫺ 12 Weigand, H.: Wetten und Pakt in Goethes Faust. In: Aufsätze zu Goethes Faust 1. ed. W. Keller. Darmstadt 1974, 412; Fehr, H.: Das Recht in der Dichtung. Bern 1936, 423. ⫺ 13 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. ed. K. M. Schiller. Meersburg/Lpz. 1930, num. 677. ⫺ 14 Zingerle, I. und J.: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Gera 21870, num. 6. ⫺ 15 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Mü. 1956, num. 58.
Münster
Oliver Rothe
Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt (AaTh/ATU 1406), weit verbreiteter Eheschwank, der aus einer Rahmenerzählung mit drei Binnenerzählungen besteht. Zu diesem Erzähltyp liegen grundlegende Unters.en vor: F. J Liebrecht widmete sich vor allem der Zusammenstellung der Var.n, Y. J Pino Saavedra analysierte span. Var.n aus dem 16. Jh., und die Monogr. von F. Raas bietet einen umfassenden Forschungsüberblick1. Drei Frauen wetten (um einen gefundenen Ring, die Wirtshausrechnung, Geld, ein Erbstück), welche von ihnen ihren Mann am besten zum Narren halten kann. Die erste Frau macht ihrem Mann weis, er sei krank2 (tot3, ein Hund4, ein Mönch5, ein Pfarrer6; daß ihm ein Zahn gezogen werden müsse7). In weiteren Streichen führen die anderen Frauen ihre Männer hinters Licht, indem sie z. B. für eine Woche abwesend sind und danach behaupten, nur kurz fort gewesen zu sein, oder indem sie ihre nackten Männer glauben machen, sie seien bekleidet8.
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Wette der Frauen, wer den Mann am besten narrt
Die älteste überlieferte Fassung bietet das Fabliau Des trois Dames qui trouverent l’anel (I) aus dem frühen 13. Jh.9 Im dt. Sprachraum wurde der Stoff mehrfach bearbeitet, u. a. von Heinrich Kaufringer (um 1464) und Hans Folz (um 1479/83 und 1483/8810). Die stärkste Verbreitung fand er vom 15. bis zum 17. Jh., etwa in den Facetiae Heinrich J Bebels, und von hier ausgehend in zahlreichen Schwanksammlungen sowie in der Kompilationsliteratur; drei Var.n finden sich bei Hans J Sachs11. In Italien, Spanien und in Frankreich wurden Gestaltungen des Stoffs seit dem 16. Jh. gedruckt12; u. a. gibt es Bearb.en von Clemente Sa´nchez de Vercial (J Libro de los e(n)xemplos, num. 304), Francesco Bello (Francesco Cieco da Ferrara)13, Girolamo J Morlini14, Tirso de Molina15, dem Sieur d’ J Ouville16 und Jean de J La Fontaine (Contes 2,7). In tschech. Sprache begegnet der Stoff um 1500 in der Erzählsammlung J Frantova pra´va17; skand. Drucke sind seit Ende des 17. Jh.s überliefert18. Aus der Zeit um 1700 existiert eine Var. in pers. Sprache19; die Aufnahme in J Tausendundeine Nacht fand offenbar erst im 18. Jh. statt20. Belege aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s weisen als Verbreitungsgebiet von AaTh/ATU 1406 ganz Europa sowie den Vorderen Orient, Sibirien, die Mongolei und Nordamerika aus. Ein Einzelbeleg stammt aus Chile21. Sowohl Elemente der Rahmenerzählung (die soziale Stellung der Frauen, der Wert des gefundenen Gegenstands) als auch die Erzählungen, wie die drei Frauen ihre Ehemänner hinters Licht führen, begegnen in zahlreichen Variationen. Raas teilte 48 Var.n in sieben Gruppen ein; dabei klassifizierte er 28 verschiedene Binnenerzählungen22. Etliche der Binnenerzählungen sind auch separat überliefert, z. B. AaTh/ATU 1423: Der verzauberte J Birnbaum, AaTh/ATU 1419 E: J Inclusa, AaTh/ ATU 1620: J Kaisers neue Kleider und AaTh/ ATU 1313, 1313 A⫺C: J Mann glaubt sich tot. Die Binnenerzählungen lassen sich grob zwei Kategorien zuordnen: In der einen ist das Ziel der Ehebruch (z. B. AaTh/ATU 1419 E, AaTh/ATU 1423), in der anderen wird die Leichtgläubigkeit des Mannes vorgeführt. Gelegentlich kommt die Kombination von beidem vor23. Neben verbreiteten Motiven finden sich auch singuläre Erzählbeispiele, so etwa
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eine 1881 aufgezeichnete skurrile rumän. Volkserzählung: Eine Frau klemmt sich einen Fischkopf zwischen die Beine und macht ihrem Mann weis, dieser sei ihr gewachsen. Der Mann zieht sich beim Geschlechtsakt eine schwere Verletzung an seinem Penis zu; da der Fischkopf sich dabei gelöst hat, brüstet er sich jedoch damit, seine Frau von einer Mißbildung befreit zu haben24.
In bezug auf den Erzählrahmen ist ein noch größerer Var.nreichtum festzustellen als hinsichtlich der Auswahl und der Kombination der Binnenerzählungen. Darüber hinaus lassen sich hier volkstümliche und literar. Traditionen unterscheiden: Sowohl die Aufforderung an die Rezipienten, die W. zu entscheiden, als auch eine Schlußmoral begegnen nur in literar. Texten25. Meist besteht die Moral in einer Warnung vor der List der Frauen, oft verbunden mit einer Warnung vor Trunksucht. Auslöser der W. ist entweder der Streit um einen gefundenen Gegenstand oder allg. um die Vorrangstellung unter den Frauen. Am Ende kann ein Urteil vom Erzähler oder einem J Schiedsrichter (Advokat26, Graf 27, Badefrau28 etc.) gesprochen werden. Häufig, vor allem in mündl. tradierten Texten, werden die Frauen am Ende von ihren Männern verprügelt, die so die Ordnung wieder herstellen29. Raas leitete aus den vorhandenen Kombinationen von Rahmenhandlung und Binnenerzählungen zwei Idealtypen für AaTh/ATU 1406 ab. Im ersten Typus, der im bäuerlichen Milieu angesiedelt ist, stehen die drei Streiche in Beziehung zueinander und führen zur Begräbnisfeier des vermeintlich toten Ehemanns. Wenn eine Gewinnerin ermittelt wird, ist es die Frau des ,Toten‘, wenn nicht, werden alle Frauen verprügelt. Erzählungen des zweiten Typus spielen im bürgerlichen, bisweilen auch im adligen Milieu; die Streiche sind unverbunden und austauschbar; der Ausgang der Wette wird im allg. nicht mitgeteilt; wenn ein Schiedsrichter auftritt, behält er den Fund oder spricht ihn der dritten Frau zu. Nach Raas ist der erste Typ vor allem in Nord- und Mitteleuropa verbreitet, mit Ausläufern nach Irland und Rumänien; der zweite Typ ist vom Mittelmeerraum bis zum Vorderen Orient sowie in Nordfrankreich belegt30. Auch in bezug auf die Breite und die Art der Darstellung lassen sich erhebliche Unterschiede
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Wette auf die Treue der Frau ⫺ Wetter
erkennen: Es gibt Prosaerzählungen von nur wenigen Sätzen (paradigmatisch ist hier Bebel, der den Stoff zu einer Fazetie verarbeitet31) und längere Texte in gebundener Sprache, für die etwa Kaufringers Bearb. Drei listige Frauen (B) mit einem Umfang von 560 Versen stehen kann32. Häufig sind die Binnenerzählungen nach dem Prinzip der Steigerung angeordnet: Während der erste Streich meist nur eine relativ harmlose Verwirrung des Mannes zur Folge hat, kann der letzte Streich zu einer erheblichen körperlichen Verletzung führen, z. B. wenn dem Mann gesunde Zähne gezogen werden33 oder er von seiner Frau in der Kirche kastriert wird34. 1 Liebrecht, F.: Zur Vk. Heilbronn 1879, 124⫺141; Pino Saavedra, Y.: W. der Frauen, wer den Mann am besten narrt (AaTh 1406). In: Fabula 15 (1974) 177⫺191; Raas, F.: Die W. der drei Frauen. Beitr.e zur Motivgeschichte und zur literar. Interpretation der Schwankdichtung. Bern 1983, 229⫺233. ⫺ 2 Rittershaus, A.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle 1902, num. 359⫺361. ⫺ 3 Raas (wie not. 1) 22⫺25; Polı´vka 4, num. 102 a. ⫺ 4 Christensen, A.: Dumme Folk. Kop. 1941, num. 6. ⫺ 5 Raas (wie not. 1) 234⫺ 236. ⫺ 6 EM-Archiv: Arlequin (1691) 53⫺55. ⫺ 7 Tille, Soupis 1, 134⫺137. ⫺ 8 ibid., 236. ⫺ 9 Nouveau Recueil complet des fabliaux 2. ed. W. Noomen/N. van den Boogard. Assen 1984, 215⫺240. ⫺ 10 Grubmüller, K. (ed.): Novellistik des MA.s. Märendichtung. Ffm. 1996, 1292. ⫺ 11 Raas (wie not. 1) 22⫺25. ⫺ 12 ibid., 25⫺28. ⫺ 13 Ferrara, F. C. da: Libro d’arme e d’armore nomato Mambriano 2. ed. G. Rua. Turin 1926, num. 25. ⫺ 14 Morlini, G.: Parthenopei novellae, fabulae, comoedia. P. 31855, num. 81. ⫺ 15 Molina, T. de: Cigarrales de Toledo. ed. V. S. Armesto. Madrid 1913, 344⫺379. ⫺ 16 Ouville, A. Le Me´tel, Sieur d’: L’E´lite des contes. ed. G. Brunet. P. 1883, 198⫺255. ⫺ 17 Raas (wie not. 1) 31. ⫺ 18 ibid., 30. ⫺ 19 ibid., 29; Clouston, W. A.: A Group of Eastern Romances and Tales from the Persian, Tamil and Urdu. Glasgow 1889, 355⫺390, 546⫺555. ⫺ 20 Marzolph/van Leeuwen 1, 315, num. 503; 453, num. 127. ⫺ 21 Pino Saavedra (wie not. 1) 188⫺191. ⫺ 22 Raas (wie not. 1) 36⫺63. ⫺ 23 Segerstedt, A.: Svenska Folksagor och Äfventyr. Stockholm 1884, 153⫺155; Grubmüller (wie not. 10) 31⫺43, 1030⫺1036. ⫺ 24 cf. Raas (wie not. 1) 61 (Binnenerzählung 20); Wlislocki, H. von: Von den drei Frauen. In: Germania 32 (1887) 442⫺451. ⫺ 25 Raas (wie not. 1) 67⫺ 70. ⫺ 26 Roure-Torent, J.: Contes d’Eivissa. Mexiko ´ Cro´inı´n, S. und D.: Sce´alaı´ocht 1948, 59⫺62. ⫺ 27 O Amhlaoibh I´ Luı´nse. Dublin 1971, num. 38; Curtin, J.: Tales of the Fairies and of the Ghost World Collected from Oral Tradition in South-West Munster. L. 1895, 89⫺101. ⫺ 28 Littmann, E.: Arab. Märchen.
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Lpz. 1957, 378⫺384, 440 sq.; Arbuthnot, F. F.: Persian Portraits. A Sketch of Persian History, Literature and Politics. L. 1887, 123⫺130. ⫺ 29 Wlislocki (wie not. 24). ⫺ 30 Raas (wie not. 1) 73. ⫺ 31 Bebel/Wesselski, num. 4. ⫺ 32 cf. Grubmüller (wie not. 10) 840⫺871. ⫺ 33 Wesselski, A.: Mönchslatein. Lpz. 1909, num. 115; Tille, Soupis, 134⫺137. ⫺ 34 cf. Grubmüller (wie not. 10) 840⫺871.
Münster
Hanno Rüther
Wette auf die Treue der Frau J Cymbeline Wetter. Als naturgegebenes Universalphänomen ist das W. im alltäglichen Leben von zentraler Bedeutung. Seit Jahrhunderten versuchen die Menschen, das W. vorherzusagen oder zu beeinflussen1. Ältere Vorstellungen des Volksglaubens beziehen sich zu einem hohen Prozentsatz auf das W.2 Da es als neutrales Thema gilt, ist ein Gespräch darüber eine gute Gelegenheit, soziale Kontakte zu knüpfen oder zu pflegen3. Dem Märchen ist der Begriff des W.s wesensfremd, weil er zu abstrakt ist. M. J Lüthi hat in seiner Charakterisierung des Märchenstils herausgearbeitet, daß aufgrund der scharfen Umrißformen der Märchendinge nur das sichtbar gemacht wird, was handlungsrelevant ist (J Flächenhaftigkeit)4. Deshalb benennt das Märchen die meteorologischen Erscheinungen nicht als W., sondern präziser als Gewitter (J Blitz, J Donner), J Wind, Sturm, Nebel, J Regen (J Regenbogen), Schnee und Eis etc. Diese Naturphänomene stehen aber nie im Mittelpunkt der Handlung, sondern erscheinen eher als Störfaktoren im Leben der Heldenfiguren und dienen lediglich dazu, auf deren J Suchwanderung überwunden zu werden und das am Anfang der Märchenhandlung bestehende ,neutrale‘ W. wiederherzustellen. J Personifikationen von W.erscheinungen finden sich nur selten, in erster Linie begegnen sie in nordosteurop. Märchen und Schwänken: der Frost in AaTh/ATU 71: J Frost und Hase und in AaTh/ATU 298 A: J Frost und Sohn (cf. auch J Väterchen Frost), der J Wind in AaTh/ATU 298: J Streit zwischen Sonne und Wind und in AaTh/ATU 298*: J Gruß an den Wind. Nur gelegentlich finden sich Spuren des W.zaubers im Märchen, z. B. wenn die Gänse-
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Wetter
magd in KHM 89, AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf einen Wind herbeiwünscht, der den Hut des zudringlichen Hirten entführt, oder noch deutlicher in einer frz. Var. von AaTh/ATU 513 B: J Schiff zu Wasser und zu Lande, in welcher der Bewerber um die Hand der Königstochter die Fähigkeit besitzt, Tag und Nacht, Regen und schönes W., Sommer, Winter und Frost (J Jahreszeiten) herbeizuzaubern5. Diese Motive scheinen aus Sagen entlehnt zu sein, der Gattung, in der das Thema W. seine eigentliche Heimat hat. Dort können drei narrative Ausformungen unterschieden werden: (1) Gott (andere himmlische Mächte) als Herr (Herren) über das W.: Wer als Sterblicher seine Unzufriedenheit mit dem W. zum Ausdruck bringt (Mot. Q 312.4), begeht nach christl. Auffassung eine J Blasphemie und wird bestraft, weil auch schlechtes W. als gut zu gelten hat, denn es ist gottgewollt6 (cf. auch AaTh/ATU 1830: J Wettermacher). Von einem Tiroler Bauern wird berichtet, er habe nie in das Murren seiner Nachbarn über das Sau-, Hunds- oder Teufelswetter eingestimmt und statt dessen immer das jeweils herrschende W. gelobt, denn „das Wetter macht Gott, und was Gott tut, das ist wohlgetan“. Als Dank erringt er die ewige Seligkeit7. Weil J Christus auf seiner J Erdenwanderung auf die Frage nach dem W. sowohl fromme als auch unbedachte Antworten erhält, werden die Bauern entweder mit Regen belohnt oder mit Dürre bestraft (AaTh/ATU 830 B: J Gottes Segen). Häufig begegnen Gewitter als göttliche Strafe8. Als markantestes W.zeichen, mit dessen Hilfe Gott unmittelbar warnend oder strafend in das irdische Leben einzugreifen imstande ist, gilt der Blitz9. Schon seit dem im Spätmittelalter bezeugten Exempel vom J Schuß in den Himmel wird der Missetäter oft von einem Blitz getroffen10. Es gibt aber auch Beispiele dafür, daß die Himmelsmächte den Menschen in Notsituationen durch W.veränderungen beistehen11. Einer hist. Sage zufolge soll Gott den Rittern des Dt. Ordens 1394 in einer Schlacht gegen die Litauer zum Sieg verholfen haben, indem er das feindliche Heer durch Nebel (Mot. D 2143.3) teilweise J unsichtbar machte12. Auf ähnliche Weise soll die Muttergottes im 30jährigen Krieg die Stadt Mengen vor den Schweden gerettet haben13.
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(2) Menschen mit magischen Befähigungen als W.macher: Daß man gutes oder schlechtes W. herbeizaubern könne, war bereits in der Antike eine verbreitete Vorstellung14. Auch im Christentum (Eph. 2,2; 6,12) lebt der Glaube weiter, daß böse Dämonen Hagel und Sturm erzeugen können. Bei den seit der frühen Neuzeit einsetzenden Hexenverfolgungen spielte der Vorwurf des angeblich vor allem von zauberkräftigen Frauen ausgeübten J Schadenzaubers eine herausragende Rolle (J Hexe, Kap. 2. 2.3.1). Viele Hexen galten als W.hexen15. Mit ihnen beschäftigen sich unzählige Sagen, wobei die darin zum Ausdruck kommenden Vorstellungen noch durch polemische Druckwerke unterstützt wurden. Ein Beispiel dafür ist das Buch des Theologen und Reformators Johannes Brenz Vom Donner, Hagel, vnd allem Vngewitter woher sie komen, wie sie zuuertreiben (Straßburg 1565). Hexen galten vor allem in Europa als Verursacherinnen des Wirbelwinds16. Eine in ganz Europa verbreitete Sage berichtet davon, daß ein Mann durch einen Messerwurf den Urheber des Wirbelwinds verletzt und bei einem späteren Treffen mit dem Verursacher sein Messer wiedererkennt17. Erzählungen von Zauberweibern, die W. und Hagel machen können, fanden ebenfalls Eingang in die Dt. Sagen der Brüder J Grimm (Grimm DS 251). Gelegentlich begegnen in der Sage auch Männer, die die Kunst des W.machens beherrschen. So wird von dem Südtiroler Hexenmeister Pfeifer Huisile berichtet, er habe in jeder Ecke einer Bauernstube ein anderes W. herbeirufen können: Sonnenschein, Regen, Gewitter und Schneefall18. Viele Sagen handeln davon, wie man W.hexen und W.zauberer entlarven kann19. Mitunter standen auch Studenten20 und Pfarrer im Verdacht, W.macher zu sein21. (3) Der Einfluß dämonischer Wesen auf das W.: Allg. gelten J Dämonen in vielen Kulturen als Verursacher von Naturerscheinungen wie Regen, Gewitter und Hagel. Im Höllischen Proteus von Erasmus J Francisci heißt es 1690: „wenn sich das Wetter ändern, oder ein Gewitter kommen will: Und alsdann meynet Mancher, es rühre sich ein Gespenst“22. J Rübezahl straft diejenigen, die ihn verspotten oder beim Namen rufen, mit Unwettern23. Auch J Drachen gelten im Volksglauben als
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Wesen, die Hochwasser, Gewitter und W.leuchten auslösen können24. In einer Vielzahl schweiz. Sagen ist die Rede davon, daß einer W.verschlechterung die Begegnung mit geisterhaften Wesen, z. B. mit Hunden, vorausgeht. H. Trümpys Interpretation zufolge macht ein bevorstehender W.umschwung die Menschen für halluzinatorische Begegnungen mit Geistern empfänglicher, bes. im Alkoholrausch25. Trümpy verweist in diesem Zusammenhang auch auf den Föhn26. Demgegenüber vertritt G. Isler die These, daß es sich bei den entsprechenden Erzählungen um Erlebnissagen handle, die mit „archetypischen Gestalten des kollektiven Unbewußten“ verbunden seien27. In einer Reihe von Alpensagen wird berichtet, daß auch dämonische Wesen wetterfühlig seien und daß hilfreiche J Hausgeister bei Föhnwetter ihren Dienst vernachlässigten28. Eine bes. starke Assoziation besteht zwischen Dämonen und Nebel. Sagenberichten zufolge entstehen Geistererscheinungen oft aus einem Nebel oder zerfließen darin29. Nach einer bayer. Sage gräbt ein Holzhacker eine Zinnkanne aus, aus der ein gespenstisches Wesen aufsteigt. Als ein Geistlicher eine Beschwörungsformel spricht, löst es sich in Nebel auf30. Auf einem sächs. Tanzplatz steigen der Sage nach aus dichtem Nebel Zwerge auf, um eine Hochzeit zu feiern31. Auch zwischen Nebel und J Pest besteht eine Beziehung. Einer Sage zufolge herrschte im Jahr 1350 eine Pestepidemie in Schleswig und Holstein, während derer das Land Tag und Nacht mit einem giftigen, übelriechenden Nebel bedeckt war32. Nach anderen Überlieferungen erscheint die Pest als dünner Nebel, der durch Verpflöcken gestoppt werden kann33. Über die Sage hinaus spielt das W. auch in einigen Schwanktypen eine Rolle: In AaTh/ ATU 921 C*: Astronomer and Doctor at Farmer’s House versteht sich ein Bauer darauf, das W. aus dem Schwanz seines Pferdes vorauszusagen. In ATU 1354 D*: Fertile Weather behauptet ein Bauer, das herrschende W. sei gut, denn alles werde über Nacht aus der Erde hervorschießen. Ein anderer antwortet: ,Ich hoffe nicht, denn meine Frau liegt hier begraben.‘ Der mit dem Sagentyp ATU 934 H (4): cf. J Todeszeit wissen verwandte Schwank AaTh/ATU 1238: The Roof in Good and Bad Weather erzählt, daß ein Mann das fehlende
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(defekte) Dach seines Hauses nicht baut (repariert), weil er es bei schönem W. nicht benötigt und bei Regen die Arbeit nicht ausführen kann. 1 Hartmann, A.: W. und Wahrheit. Volkskundliches zur Meteorologie. In: Volkskundliche Tableaus. Festschr. M. Scharfe. Münster u. a. 2001, 97⫺106; Schulenburg, W. von: Wend. Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. B. 1882, 59. ⫺ 2 Stegemann, V.: W.beschwörung, -bann. In: HDA 9 (1938⫺41) 508⫺512; id.: W.büchlein. ibid., 512⫺519; id.: W.gespenst. ibid., 520⫺523; id.: W.kunde (Meteorologie). ibid., 525⫺549; id.: W.segen. ibid., 551⫺553. ⫺ 3 Fox, K.: Watching the English. The Hidden Rules of English Behaviour. L. 2004, 25⫺36. ⫺ 4 Lüthi, Märchen (81990), 29 sq. ⫺ 5 Delarue/Tene`ze 513. ⫺ 6 Müller/ Röhrich C 2; weitere Nachweise EM 2, 439 (not. 30). ⫺ 7 Alpenburg, J. N. Ritter von: Dt. Alpensagen. Wien 1861, num. 105. ⫺ 8 Kreutzwald, F. R.: Ehstn. Märchen. Halle 1869, num. 9; Karadzˇic´, V. S.: Volksmärchen der Serben. B. 1854, num. 19; Toeppen, M.: Aberglauben aus Masuren […]. Danzig 1867, 124 sq.; Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 507; Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of South American Indians. General Index. L. A. 1992, 1300, Reg. s. v. Weather. ⫺ 9 Schenda, R.: Die dt. Prodigienslgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1962) 637⫺710, hier 680 sq. ⫺ 10 Gloning, K. A.: Oberösterr. Volkssagen. Ried 1884, 93; Graber, G.: Sagen aus Kärnten. Graz 1921, num. 300; von Schulenburg (wie not. 1) 145. ⫺ 11 Eliasberg, A.: Sagen poln. Juden. Mü. 1916, num. 8; Wilbert/Simoneau (wie not. 8). ⫺ 12 Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch 2. Lpz. 1857, num. 238. ⫺ 13 Birlinger, A./Buck, M. R.: Sagen, Märchen, Volksglauben. Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 598. ⫺ 14 Stemplinger, E.: Antiker Aberglaube in modernen Ausstrahlungen. Lpz. 1922, 71 sq.; Fiedler, W.: Antiker W.zauber. Stg. 1931; cf. Hylte´n-Cavallius, G./Stephens, G.: Schwed. Volkssagen und Märchen. Wien 1848, 362. ⫺ 15 Wittmann, A.: Die Gestalt der Hexe in der dt. Sage. Diss. Heidelberg 1933, 50⫺58; Kreutzwald (wie not. 8) 91; Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen. 2: Norwegen. MdW 1922, 331; Wolf (wie not. 8) num. 289. ⫺ 16 Wildhaber, R.: Volkstümliche Auffassungen über den Wirbelwind in Europa. In: Mittlgen der Anthropol. Ges. in Wien 100 (1970) 397⫺415, hier 399⫺401. ⫺ 17 Taylor, A.: The Black Ox. A Study in the History of a Folk-Tale (FFC 70). Hels. 1927. ⫺ 18 Holzmann, H.: Pfeifer Huisile, der Tiroler Faust. Innsbruck 1954, 58 sq.; cf. Heyl, J. A.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 177. ⫺ 19 Graber (wie not. 10) num. 308; cf. Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 3. Regensburg 1859, 126 sq. ⫺ 20 Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1. Dresden 1874, num. 403. ⫺ 21 EM 10, 858. ⫺ 22 Francisci, E.: Der Höllische Proteus. Nürnberg 1690, VIII. ⫺ 23 Praetorius, J.: Dæmo-
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Wetter kaufen
nologia Rvbenzalii Silesii. Arnstadt 1662, num. 22. ⫺ 24 Löwis of Menar, A. von: Russ. Volksmärchen. MdW 1927, num. 55. ⫺ 25 Trümpy, H.: „drno sygs cho rägne“. W.fühligkeit und Sagenbildung. In: Schweizer Vk. 72 (1982) 65⫺68, hier 67. ⫺ 26 ibid., 68 (not. 26). ⫺ 27 Isler, G.: Synchronizitäten in Erlebnissagen. Zum Problem des W.geistes. In: SAVk. 80 (1984) 2⫺26, hier 14. ⫺ 28 cf. Seger, O.: Sagen aus Liechtenstein. Neudruck Nendeln 1980, num. 14; Koch, H.: Zuger Sagen und Legenden. Zug 1955, 129; Kuoni, J.: Sagen des Kantons St. Gallen. St. Gallen 1903, num. 123. ⫺ 29 Bechstein, L.: Märchenbuch 1. ed. H.-J. Uther. MdW 1997, num. 61. ⫺ 30 Schöppner, A.: Sagenbuch der bayer. Lande. Mü. 1874, num. 403. ⫺ 31 Grässe (wie not. 20) num. 854. ⫺ 32 id.: Sagenbuch des Preuß. Staats 2. Glogau 1871, num. 1311. ⫺ 33 Bechstein (wie not. 12) num. 573.
Wellington
Brigitte Bönisch-Brednich
Wetter kaufen (AaTh/ATU 1296 A), in Mitteleuropa beliebter, hin und wieder auch in Süd- und Südosteuropa sowie singulär in Nordindien aufgezeichneter Dummenschwank. Weil sie unter einer anhaltenden Dürre zu leiden haben, schicken die Einwohner eines Dorfes jemanden in die nächste (Groß-)Stadt, um dort beim Apotheker ein Gewitter (Regen) zu kaufen. Der schalkhafte Apotheker sperrt eine Hummel (Fliege, Käfer, Biene, Bienenschwarm, Hornissen) in eine Schachtel (Kasten, Flasche, Sack) und legt dem Boten ans Herz, diese erst zu Hause zu öffnen. Von J Neugier getrieben, öffnet dieser jedoch auf dem Heimweg die Schachtel ein wenig, und das vermeintliche Gewitter entweicht. Der Bote ruft ihm noch nach: „Zu uns, zu uns!“ Gelegentlich regnet es tatsächlich, wenn er zu Hause eintrifft.
Dabei handelt sich um einen ausgesprochenen J Schildbürgerschwank. Der Erzähltyp ist relativ jung, weist im zentralen Motiv aber eine enge Analogie zu dem bereits im MA. belegten Erzähltyp AaTh/ATU 1416: Die neue J Eva auf. In den älteren Schildbürgerquellen fehlt er und begegnet erst in der 1. Hälfte des 19. Jh.s. Er wurde vorwiegend mündl. tradiert und tritt in der Regel als selbständige Erzählung auf. Das Kerngebiet seiner Verbreitung scheint Norddeutschland zu sein, und dort ist er inhaltlich und strukturell auch am stabilsten. In den überlieferten Var.n des Schwanks werden fast ausnahmslos die Einwohner regional bekannter Narrenorte aufs Korn genommen (J Ortsneckerei), wie Harmsdörp1, Fock-
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beck2, Schöppenstadt3, Teterow4, Neinischke5, Beckum6, Wiesbaum7 oder Mistelgau8 im dt., Bakel9 oder Rekkem10 im ndl. und Cogolo11 oder Meride12 im ital. Sprachgebiet. Im Oldenburger Land wird der Schwank, wie auch andere Schildbürgergeschichten dort, in dem imaginären Ort Kraihwarden lokalisiert13. Die Spitznamen der Einwohner von Rekkem (Weermakers ⫽ Wettermacher)14, Bopfingen (Hummeler)15 und Mistelgau (Hummeln)16 werden mit diesem Schwank erklärt. Der schweiz. Ort Hornussen soll ihm seinen Namen zu verdanken haben17. Häufig wird im Süden ⫺ nur selten im Norden ⫺ statt Regenwetter schönes W. (Heuwetter)18, Frühling19 oder Sommer20 eingekauft. Einwohner eines nordind. Weberdorfes, die nur Pandschabi sprechen, schicken zwei Männer nach Dschalalabad, damit sie die pers. Sprache kaufen. Sie kehren mit zwei Krügen Wespen heim21. Im süddt.-schweiz.-österr. Raum ist eine Redaktion verbreitet, in der niemand ausgeschickt wird, sondern eine Dumme oder ein Dummer sich auf einem Jahrmarkt eine Schachtel mit ,schönem W.‘ verkaufen läßt22. In einer nordital. Spielform schickt ein Bischof den Einwohnern eines Bergdorfs, die eine Kapelle stiften möchten und ihn deshalb um den Leib des hl. J Petrus bitten, eine Schachtel mit einer Fliege. Später schickt er ihnen anstelle des hl. J Antonius von Padua eine Schachtel mit einer Maus23. In einer schwäb. Var. werden die Bopfinger mit einem Vögelchen nach Hause geschickt24. 1 Hubrich-Messow. ⫺ 2 Selk, P.: Lügengeschichten aus Schleswig-Holstein. Husum 1982, num. 14. ⫺ 3 Kühn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche. Lpz. 1848, 150 sq. ⫺ 4 Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 185 sq. ⫺ 5 Cammann, A.: Märchenwelt des Preußenlandes. Schloß Bleckede 1973, 244 sq. ⫺ 6 Henßen, G.: Volk erzählt. Münsterländ. Sagen, Märchen und Schwänke. Münster 1935, num. 228. ⫺ 7 Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984, num. 195. ⫺ 8 Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num. 46. ⫺ 9 Ble´court, W. de: Volksverhalen uit Noord-Brabant. Utrecht/Antw. 1980, 136 sq. ⫺ 10 Cornelissen, J.: Nederlandse volkshumor op stad en dorp, land en volk 6. Antw. 1937, 84 sq. ⫺ 11 Köhler/Bolte 1, 324 sq. ⫺ 12 Todorovic´-Strähl, P./ Lurati, O.: Märchen aus dem Tessin. MdW 1984, num. 75. ⫺ 13 Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num.
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Wettermacher
165; cf. auch Kooi, J. van der: Zwischen Jinsenbuorren und Kraihwarden. Bemerkungen zur imaginären Topographie im westfries.-ndd. Raum. In: Vk. im Spannungsfeld zwischen Univ. und Museum. Festschr. H. Siuts. Münster 1997, 215⫺227. ⫺ 14 Cornelissen (wie not. 10). ⫺ 15 Birlinger, A.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 670. ⫺ 16 Panzer, F.: Bayer. Sagen und Bräuche 2. ed. W.-E. Peuckert. Göttingen 1956, num. 289. ⫺ 17 Rochholtz, E. L.: Schweizer Sagen aus dem Aargau 2. Aarau 1856, num. 447. ⫺ 18 van der Kooi/Schuster (wie not. 13); Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Stg. 1948, num. 258,2; Schlund, H. H.: Schwänke aus Franken. Husum 1993, 85 sq.; Birlinger (wie not. 15); Lang-Reitstätter, M.: Lachendes Österreich. Salzburg 1948, 14; Rochholtz (wie not. 17). ⫺ 19 Merkens (wie not. 8); Panzer (wie not. 16). ⫺ 20 Kapfhammer, G.: Bayer. Schwänke. Düsseldorf/Köln 1974, 181 sq. ⫺ 21 Swynnerton, C.: Indian Nights’ Entertainment. L. 1892, 84⫺86. ⫺ 22 Birlinger (wie not. 15) num. 663.2; Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1989, 856 sq.; Lang-Reitstätter (wie not. 18). ⫺ 23 Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1876, 172 sq. ⫺ 24 Birlinger (wie not. 15).
Groningen
Jurjen van der Kooi
Wettermacher (AaTh/ATU 1830), überwiegend in Europa bekannter kurzer Predigtschwank. Die Gemeindemitglieder bitten ihren Pfarrer bei großer Trockenheit, Regen zu machen. Der Pfarrer ruft sie daraufhin alle zusammen und fragt jeden einzelnen, welches Wetter er wolle. Da sie unterschiedliche Wünsche äußern, meint der Pfarrer, es sei besser, Gott entscheiden zu lassen.
Der älteste Beleg für AaTh/ATU 1830 findet sich Anfang des 17. Jh.s bei Otho J Melander (Jocorum atque seriorum […] liber primus, num. 508) hier soll der Text auf eine tatsächliche Begebenheit zurückgehen. Im 17./18. Jh. hat die Erzählung Eingang in dt.sprachige Slgen gefunden1. Sie wird dort insofern variiert, als der Pfarrer, um einen Konkurrenten zu vertreiben2 oder um sich eine bessere Stelle zu verschaffen3, angibt, er könne Wetter machen. Nähe zu AaTh/ATU 1830 weist ein span.sprachiger Text aus dem 17. Jh. auf, in dem ein armer Student behauptet, er sei ein Magier und könne Wetter machen4. Darüber hinaus wird eine äsopische Fabel zu AaTh/ ATU 1830 gezählt5: Ein Mann hat zwei Töchter. Die eine ist Bäuerin, die andere die Frau eines Töpfers. Die Bäuerin
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wünscht sich, daß es regnet, damit die Ernte reicher ausfällt; die Frau des Töpfers braucht Sonnenschein, damit die Tonwaren trocknen. Der Vater weiß nicht, was er wünschen soll.
Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde der Schwank in weiten Teilen Europas aufgezeichnet6; Erzählungen, die Ähnlichkeiten mit der äsopischen Fabel aufweisen, sind vor allem auf dem Balkan verbreitet7, eine entsprechende Var. wurde auch in Armenien aufgezeichnet8. Das serb. Sprichwort ,Wenn Gott das eine gibt, gibt er auch das andere‘ geht auf diese Redaktion zurück. In der Rolle des Pfarrers begegnet mitunter ein Schulmeister, der zugleich Küster ist9. Manchmal können sich die Gemeindemitglieder nicht entscheiden, an welchem Tag sie den Regen wollen10. In einigen Var.n braucht die Kirchgemeinde einen neuen Pfarrer: Die Wahl fällt auf den Kandidaten, der in der Probepredigt behauptet, er könne durch sein Gebet jedes gewünschte Wetter machen11. In bulg. Texten wird ein ungebildeter Mann (J Hodscha Nasreddin) zum Popen (Bürgermeister) gewählt, weil er den Bauern verspricht, daß das Wetter immer so sein werde, wie sie es wünschen12. In einem katalan. Text findet die Gemeinde den verstorbenen Pfarrer besser als den neuen, woraufhin dieser sie überzeugen will, indem er vorgibt, ein W. zu sein13. In AaTh/ATU 1830 handelt der Protagonist im Bewußtsein der Allmacht Gottes und weiß die auseinandergehenden Bedürfnisse der Menschen in seinem Sinne zu nutzen. Der Schwank bildet damit das Gegenstück zu Erzähltypen wie AaTh/ATU 752 B: Der vergessene J Wind und AaTh/ATU 774 D: cf. J Petrusschwänke, in denen menschliche Hybris thematisiert wird. Eine vor allem in Serbien verbreitete Glaubenssage ist über die Figur des W.s mit AaTh/ ATU 1830 verbunden: Ein serb. Schmied übernachtet bei einem Verwandten, der ihm erzählt, daß er ein W. sei und einen Zweikampf mit einen Mann aus Dalmatien austragen müsse. Der Schmied fertigt seinem Verwandten einen Streitkolben an. Als sich die Gegner in Gestalt eines weißen und eines schwarzen Stiers gegenübertreten, kann der Serbe den Dalmatiner mit Hilfe des Streitkolbens besiegen, und in der Gegend, aus der sein Kontrahent kommt, fällt Hagel14.
Laut M. J Bosˇkovic´-Stulli verbinden sich in derartigen Texten serb. und dalmatin. Tra-
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Wettings Vision ⫺ Wettkampf
ditionen15. Im Kontext solcher Glaubenssagen sind Berichte über Wetterzauber zu sehen, die im 15.⫺18. Jh. in Prozessen gegen Zauberer und J Hexen (Kap. 2. 2.3.1) zum Tragen kamen und auch in Volkserzählungen aufgegriffen wurden. 1
EM-Archiv: Zincgref/Weidner, Apophthegmata 3 (1653) 109. ⫺ 2 EM-Archiv: Exilium melancholiae (1643) num. 33. ⫺ 3 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 238; EM-Archiv: Gerlach, Eutrapeliae 1 (1647) num. 555; Abraham a Santa Clara, Huy und Pfuy (1707) 104. ⫺ 4 Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de oro. Barcelona 1983, num. 234. ⫺ 5 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 94. ⫺ 6 Texte (Ausw.): Amades, num. 1372; Bertra`n i Bros, P.: El rondallari catala`. ed. J. M. Pujol. Barcelona 1989, num. 95; Poortinga, Y.: De ring fan it ljocht. Fryske folksforhalen. Ljouwert 1976, 306 sq.; Vrcˇevic´, V.: Srpske narodne pripovijetke ponajvisˇe kratke i sˇaljive [1]. Belgrad 1868, num. 151; Karadzˇic´, V. S.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad 41937, num. 6; id.: Srbske´ lidove´ poha´dky. Prag 1959, num. 76; cf. Krzyz˙anowski 752 B. ⫺ 7 Hodscha Nasreddin 1, num. 51; ÍorIevic´, D. M.: Srpske narodne pripovetke i predanja iz Leskovacˇke oblasti. ed. N. Milosˇevic´-ÍorIevic´. Belgrad 1988, num. 315. ⫺ 8 Dzˇalil, O., Dzˇ. und Z.: Kurdskie skazki, legendy i predanija. M. 1989, num. 231. ⫺ 9 z. B. Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 2. Jena 1895, num. 192. ⫺ 10 Liungman, Volksmärchen, num. 1830; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. B. 1935, num. 102; Karadzˇic´ 1937/1959 (wie not. 6); Panic´Surep, M.: Srpske narodne pripovetke. Belgrad 2 1964, num. 98. ⫺ 11 z. B. DBF A 2, 241 sq.; Polı´vka, 30. ⫺ 12 BFP. ⫺ 13 Serra i Boldu´, V.: Rondalles populars 3. Barcelona 2 1932, 47⫺57. ⫺ 14 Bosˇkovic´-Stulli, M.: Narodne pripovijetke i predaje Sinajske Krajine (Volkserzählungen und -überlieferungen aus dem Gebiet der Sinjer Krajina). In: Narodna umjetnost 5⫺6 (1968) 303⫺430, hier 409 sq., num. 93. ⫺ 15 ibid., 430 (not. zu num. 93).
Bratislava
Viera Gasˇparı´kova´
Wettings Vision J Vision, Visionsliteratur
Wettkampf, Kräftemessen zwischen mindestens zwei Opponenten, das häufig als J Zweikampf ausgetragen wird. Im W. wurde ursprünglich kriegerisches Konkurrenzverhalten, oft auch mit den Waffen des J Krieges, auf das Spiel übertragen; gleichzeitig diente die spielerische Optimierung von Bewegungs-
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abläufen und Verhaltensregeln als Einübung für den Krieg. Die ambivalente Bedeutung der Bezeichnung, die sowohl das Spiel als auch die J Wette berührt, weist zudem auf die Funktion des W.s als Unterhaltung der Zuschauer hin. Schon in der griech. und röm. Antike zeigt sich die ambivalente Stellung des W.s zwischen Spiel und Krieg. Durch ein strenges Regelwerk normiert, diente der W. sowohl der Leibesertüchtigung als auch der Disziplinierung des Verhaltens1. Der sportliche W. wurde sogar als konstitutiv für die griech. Kampftechniken, die Disziplin der Phalanx und die Intention, auf dem Schlachtfeld eindeutige Ergebnisse zu erzielen, gesehen2. Anders als in starr hierarchisch gegliederten Gesellschaften wie dem alten Ägypten, in dem J Herodot (2,91) zu seinem Erstaunen keine organisierten Spiele fand, trugen W.e erheblich zur Stärkung des militärischen Ethos der Griechen und der Schlagkraft ihres Heeres bei3. Die Differenzierung der gymnischen und der musischen Agone zeigt, daß Spielregeln, Leistungsfähigkeit und Konfliktbewältigung auch in die Konkurrenz um geistige und performative Überlegenheit aufgenommen wurden. Damit erhielt der W. eine literar.-narrative Dimension4 und erfuhr kultische Aufwertung in den Göttersagen der Antike5. Die Mythen, in denen die Rache der olympischen Götter für Kränkungen erzählt wird, legitimierten die Vergeltung für erlittene Kränkungen in der Feldschlacht. Der ritualisierte Kampf trug zur Festigung gesellschaftlicher Strukturen, zur ehrenvollsten Behauptung kollektiver Identitäten und zur Repräsentation von Souveränität bei. Diese Legitimation der Vergeltung ließ die Phalanx der griech. Lanzenkämpfer zur ebenso grausamen wie revolutionären Kriegstechnik werden6. In der Heldendichtung werden athletische Kämpfe und Spiele genauso ernsthaft geschildert wie wirkliche Schlachten, und auch die Übertretung vereinbarter Verhaltensregeln wird literar. inszeniert: J Achilleus lädt beim Begräbnis des Patroklos (den Hektor vor den Toren Trojas im Zweikampf getötet hatte) die Helden zum W. im Laufen, Ringen, Steinschleudern und Wagenrennen7. Analogien hierzu finden sich im kirgis. Heldenepos Bok Murun mit Pferderennen und Sportwettkämpfen nach einer Bestattungszeremonie8. Der spielerisch ausgetragene
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Wettkampf
W. konnte zur Schlichtung oder Regulierung von Streit beitragen, doch lösen andererseits die im W. um Ehre und Ruhm entwickelten Emotionen Streit auch aus. Die Prahlerei mit den eigenen Fähigkeiten gehört in der antiken und ma. ⫺ auch außereurop.9 ⫺ Dichtung ebenso zur Inszenierung des W.s wie die Verachtung gegenüber den unterlegenen Gegnern10, doch müssen solche Prahlereien durch Leistungen im W. eingelöst werden. Damit kann die Schilderung des W.s zur narrativen Reflexion von Moral und Verantwortung, mithin zur Enkulturation der Spielregeln beitragen. Theol. wurde die W.motivik durch die Bibelexegese tradiert, bes. die Agonmetaphorik bei J Paulus11: Dieser gebrauchte im 1. Brief an die Korinther (9,24⫺27) ein Bild vom W. („Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken laufen, die laufen alle, aber einer erlangt das Kleinod? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!“), das auf die Isthm. Spiele von Korinth anspielt. Im MA. fand eine breite Rezeption dieser Motivik aus der hellenist.-jüd. Lit. statt. Nicht nur das J Turnierwesen mit dem Zweikampf um die Gunst der Dame (Tjost)12, das sich als Motiv im höfischen Epos13 und in dessen Rezeption im Märchen findet, sondern auch die Dichterkrönung setzen im MA. das sportliche und musisch-literar. Konkurrieren um Ruhm und Ehre fort (J Meistersinger). Im Zuge der Herausbildung politischer Machtverhältnisse im frühneuzeitlichen Europa14, schließlich im wirtschaftlichen und sportlichen Wettbewerb der Moderne15, im Profi- und Breitensport16, spielen tradierte Bilder der antiken Agone, bes. das der Olympiade, noch eine große Rolle. Dabei wurde in Versuchen einer Konstruktion von Kontinuität17 auch das Märchen als Überlieferungsträger herangezogen18. Im Märchen wird der physisch leistungsfähigere Gegner häufig durch J List überwunden (J Stark und schwach). Dies ist schon für den heroischen W. in der antiken Dichtung konstitutiv, etwa im W. des Aias mit J Odysseus19. In AaTh/ATU 275: cf. J Wettlauf der Tiere20, AaTh/ATU 250: J Wettschwimmen der Fische und AaTh/ATU 221: cf. J Königswahl der Tiere gewinnt das langsamere Tier den W. trotz körperlicher Überlegenheit des Gegners durch eine List. Doch wird diese
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nicht immer positiv gesehen: In einem Cherokee-Märchen versucht der Hase, den Hirsch zu überlisten, wird aber bei seinem Betrug ertappt21. Das schiefstehende Maul der J Flunder (ATU 250 A) wurde mit Überheblichkeit und Mißgunst gegenüber den Erfolgreichen bei der Königswahl der Fische assoziiert und hat warnenden Charakter. Zivilisatorischer Fortschritt wird in einer sibir. Erzählung reflektiert, in der die Zugtiere der alten Zeit gegen Maschinen antreten: Im J Rangstreit überbieten sich Renhirsch, Pferd, Lokomotive, Schiff, Auto und Flugzeug22. Vor allem in Arbeitserzählungen wird körperliche Stärke durch J Kraftproben gemessen. Diese werden bes. in Erzählungen über Personen mit außergewöhnlicher J Stärke (AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans) vielfach durch Übertreibungen ausgeschmückt: In wotjak. Erzählungen werden W.e ausgetragen, indem Baumstämme einzeln oder mitsamt dem Hügel, auf dem sie wuchsen, über den Fluß geworfen oder mit den Füßen hinübergeschleudert werden23; aus den ans gegenüberliegende Ufer geschleuderten Stämmen entsteht ein Berg24. Auch bei solchen Kraftproben kann Schlauheit zum Sieg führen. Z. B. wird in einem Wettstreit zwischen Schmieden ein Otter freigelassen, der den ausgesetzten Lachs eines der Kontrahenten zurückbringt25. Idealtypisch findet sich die Überlistung eines Gegners mit übermenschlicher Kraft in AaTh/ ATU 1049: J Wettstreit mit dem Unhold 26, AaTh/ATU 1051: J Baum biegen, fällen, tragen, AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein und AaTh/ATU 1920⫺1920 H: J Lügenwette (cf. J Aufschneider; J Lüge, Lügengeschichte). W.e sind oft Teil von Proben und Aufgaben, die der Held in diesen dualistisch gestalteten, oft schwankartigen Erzählungen bestehen muß27, etwa im Wettstreit zwischen Bauer oder Gott und J Teufel (AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung)28. Meist gilt es, den Teufel zu überlisten, wie in den Erzählungen, in denen der Wanderbursche einen Hasen an seiner Stelle mit dem Teufel um die Wette laufen läßt (AaTh/ATU 1073: cf. J Wettklettern, -schwimmen), den Rücken des Teufels mit dem Hobel traktiert und dem Schmied im Mond eine eiserne Tür zuwerfen will29. J Eulenspiegel friert mit dem Teufel um die Wette und nötigt diesen zum Aufgeben, indem er seine
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Wettkampf
Kleider auszieht, um vorzutäuschen, ihm sei zu warm (cf. AaTh/ATU 71: J Frost und Hase)30. In einer osset. Var. von AaTh/ATU 1640 prahlt ein kleiner Mann im W. mit dem Woijuk, er habe nur eine halbe Kuh gegessen und sei erst stark genug, wenn er eine ganze Kuh im Magen habe31. Die oft anekdotischen Erzählungen von starken Essern, wie dem Bauern Slukedal, der einen Wettstreit im Vielessen gewinnt und noch immer nicht satt ist (AaTh/ATU 1088: J Trinkwette, J Vielfraß)32, verweisen auf den Unterhaltungswert solcher Aufschneidergeschichten und deuten damit auf den Kontext des Erzählens hin. Daß sich in solchen Erzählungen auch Arbeitsverhältnisse und Konflikte mit den Arbeitsherren spiegeln, die Erzählungen also als Ventil für soziale Spannungen und aufgestaute Aggressionen dienen konnten, zeigen etwa Erzählungen von Faulheitswettbewerben (AaTh/ ATU 1950: J Faulheitswettbewerb; cf. J Herr und Knecht, J Meister und Geselle, J Sozialkritik). Wie das gegenseitige Übertrumpfen mit Lügengeschichten läßt auch die Erzählung vom Wettpissen die Funktion der Unterhaltung in männlich dominierten Milieus und bei kräftezehrender körperlicher Arbeit (hier Saisonarbeit in der Heu- oder Getreideernte) erkennen. Sie handelt von der Überlistung des betrügerischen Gutsherrn oder Popen, der die Mäher um ihren Tagelohn bringen will, indem er eine Wette vorschlägt: Seine Tochter soll über das Tagwerk oder über den Heuhaufen pissen. Die Übervorteilung der Mäher wird durch eine sexuelle, derb-obszöne Destruktion kompensiert: Einer der Mäher schläft mit der Tochter, und sie besteht wegen des vorausgegangenen Koitus die Prüfung nicht33. Früh belegt und weit verbreitet sind Erzählungen vom Verwandlungswettkampf zweier Zauberer (AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler) oder zwischen Zauberer und Hexe (Basile 2,734; Madame d’Aulnoy, L’Oranger et l’abeille35; Johann Heinrich Voß, Der Riesenhügel [1778]). In einem korean. Märchen liefern sich vier Blutsbrüder einen W. mit Tigerdämonen36. Die Zahl der Helden und ihrer Gegner weist hier auf die kollektive Bedeutung des W.s hin. Aufgrund ihrer antagonistischen Struktur eignen sich W.erzählungen dazu, ethnische J Ste-
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reotypen zu reproduzieren37; so wird in einer russ. Var. von AaTh/ATU 1082 A: J Soldat und Tod ein Deutscher von einem russ. Bauern überlistet. In einem jüd. Märchen wird ein Wissenswettstreit ausgetragen: Ein Jude soll die Hälfte einer Summe Geldes von einem König erhalten, wenn er die Frage nach dem Namen von Abrahams Mutter (Amatlai, Tochter des Karnebo) beantworten kann. Als der Jude dies getan hat, stellt er dem König eine Gegenfrage und will den Namen seiner eigenen, vor vier Monaten verstorbenen Mutter wissen. Der König gibt sich geschlagen, und der Jude erhält auch die andere Hälfte des Geldes38. Dies spiegelt die Bedeutung des Wissens, des Sieges der Klugheit über körperliche Stärke in vielen W.erzählungen, aber auch seine Relativierung: Selbst das umfassendste Wissen vermag nicht auf alle Fragen Antworten zu geben. Die Ambivalenz des Triumphes über einen errungenen Sieg wird schon bei J Valerius Maximus (9,12, extravagantes 5) narrativ reflektiert: Ein Mann stirbt vor Freude über seinen Sieg im W.39 1 Huizinga, J.: Homo ludens. Haarlem 1938; Poliakoff, M.: Combat Sports in the Ancient World. New Haven 1987; Sansome, D.: Greek Athletics and the Genesis of Sport. Berk. 1988; Decker, W.: Sport in der griech. Antike. Vom mino. W. bis zu den Olymp. Spielen. Mü. 1995; Larmour, D. H. J.: Stage and Stadium. Drama and Athletics in Ancient Greece. Hildesheim 1999; Lehner, M. F.: Die Agonistik im Ephesos der röm. Kaiserzeit. Diss. Mü. 2005; Haag, H.: Der Agon in der darstellenden Kunst des klassischen Griechenlands. Diss. Gießen 2008. ⫺ 2 Keegan, J.: Die Kultur des Krieges. Reinbek 1997, 357. ⫺ 3 Finley, M./Plaket, H.: The Olympic Games. N. Y. 1976, 21. ⫺ 4 Scheliha, R. von: Vom W. der Dichter. Der musische Agon bei den Griechen. Amst. 21987. ⫺ 5 Wegner, U.: Olymp. Götterspiele. W. und Kult. Ostfildern 2004; Hornum, M. B.: Nemesis, the Roman State and the Games. Leiden 1993. ⫺ 6 Hanson, V.: The Western Way of War. N. Y. 1989, 6; Keegan (wie not. 2) 356 sq. ⫺ 7 Bowra, C. M.: Heldendichtung. Stg. 1964, 53. ⫺ 8 ibid., 57. ⫺ 9 Marzolph, U.: A Treasury of Formulaic Narrative. The Persian Popular Romance „H ø osein-e Kord“. In: Oral Tradition 14,2 (1999) 279⫺303, hier 286, 292 sq. ⫺ 10 Bowra (wie not. 7) 55. ⫺ 11 Brändl, M.: Der Agon bei Paulus. Herkunft und Profil paulinischer Agonmetaphorik. Tübingen 2006; Poplutz, U.: Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur W.metaphorik bei Paulus. Fbg 2004. ⫺ 12 Nadot, S.: Rompez les Lances! Che` ge. P. 2010; Neste, E´. valiers et tournois au Moyen A van den: Tournois, joutes, par d’armes dans les villes
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Wettklettern, schwimmen
` ge (1300⫺1486). P. de Flandre a` la fin du Moyen A 1996. ⫺ 13 Neumeyer, M.: Vom Kriegshandwerk zum ritterlichen Theater. Das Turnier im ma. Frankreich. Bonn 1998. ⫺ 14 Zacharasiewicz, W.: Johannes Kepler, James Howell und Muemas Lansius. Der Wettstreit der europ. Nationen als literar. Thema im 17. Jh. In: Johannes Kepler 1571⫺1971. Gedenkschrift der Univ. Graz. Graz 1975, 683⫺725. ⫺ 15 Wirtschaftlicher und sportlicher Wettbewerb. Festschr. R. Gömmel. Stg. 2009. ⫺ 16 Bauch, H./Birkmann, M.: „… die sich für Geld sehen lassen …“ Über die Anfänge der Schnell- und Kunstläufe im 19. Jh. Marburg 1996; Triet, M. u. a. (edd.): World Games 1989 Karlsruhe. Vom Spiel zum W. Ausstellungskatalog Karlsruhe 1989; Krüger, M.: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Schorndorf 2004. ⫺ 17 Schaufelberger, W.: Der W. in der Alten Eidgenossenschaft. Zur Kulturgeschichte des Sports vom 13. bis ins 18. Jh. Bern 1972. ⫺ 18 Kudrjavcev, V. N.: Sostojanie igry Drevnej Rusi v russkoj volsˇebnoj skazke (Der Spielbestand der Alten Rus in russ. Zaubermärchen). In: Russkaja literatura. Tematicˇeskij sbornik naucˇnych materialov professorsko-prepodavatel’skogo sostava 4. Alma-Ata 1973, 3⫺9. ⫺ 19 Bowra (wie not. 7) 54. ⫺ 20 cf. Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 384⫺386. ⫺ 21 Konitzky, G. A.: Nordamerik. Indianermärchen. MdW 1963, 109⫺114. ⫺ 22 Gulya, S.: Sibir. Märchen 1. MdW 1968, num. 46 (wogul.). ⫺ 23 Levin, I.: Die Volkserzählungen der Wotjaken (Udmurten). In: Fabula 5 (1962) 101⫺155; Potanin, G. N.: U votjakov Jelabuzˇskago ujeˇzda. In: Izveˇstija Obsˇcˇestva Archeologii, Istorii i E˙tnografii pri Imperatorskom Kazanskom Universitete 3,4. Kazan‘ 1884, 189⫺255, hier 194; Munka´csi, B.: Volksbräuche und Volksdichtung der Wotjaken. Hels. 1952, num. 92. ⫺ 24 Levin (wie not. 23) 145. ⫺ 25 MacDougall, J.: Folk Tales and Fairy Lore in Gaelic and English Collected from Oral Tradition. Edinburgh 1910, 16⫺33. ⫺ 26 Benzel, U.: Kaukas. Märchen. Regensburg 1963, 94 (osset.). ⫺ 27 Ruskova-Trifonova, E.: Contest Testing in the Structure of Fairy Tales. In: Artes populares 16⫺ 17 (1995) 691⫺697. ⫺ 28 Tubach, num. 1921. ⫺ 29 cf. Janosch, H.: Unsere Hultschiner Heimat in Sagen und Märchen, Sitten und Gebräuchen. Ratibor 1924, 60 sq. ⫺ 30 Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, num. 566. ⫺ 31 Benzel (wie not. 26) 93. ⫺ 32 Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen. Hannover 1854, 39 sq. ⫺ 33 Hnatjuk, V.: Das Geschlechtleben des ukr. Bauernvolkes 1⫺2. Lpz. 1909/1912, hier t. 1, 396⫺399; 2, 150 sq. ⫺ 34 cf. Uther (wie not. 20) 123. ⫺ 35 cf. id.: Märchen vor Grimm. Mü. 1990, num. 25. ⫺ 36 Zo˘ng In-So˘b: Folk Tales from Korea. N. Y./L. 1952, 162⫺ 166. ⫺ 37 cf. auch Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 120⫺126, 260, 285⫺287 (Übertrumpfungswitze mit Protagonisten aus verschiedenen Ethnien/Nationalitäten). ⫺ 38 Noy, D.: Folktales of Israel. Chic. 1963, num. 37; Ginzberg, L.: The Legends of the Jews 1.
Phil. 1954, 186; t. 5 (1955) 208. ⫺ 5083.
Marburg
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Tubach, num.
Siegfried Becker
Wettklettern, -schwimmen (AaTh/ATU 1073, 1611, 1612), Gruppe von schwankhaften Erzählungen, in denen ein J Aufschneider einen überlegenen Gegenspieler durch Vortäuschung falscher Tatsachen besiegt. AaTh/ATU 1073: Climbing Contest gehört zu AaTh/ATU 1060⫺1114: Contest between Man and Ogre. Ein Mann wird von einem J Teufel (Oger, Riese) aufgefordert, mit ihm um die Wette zu klettern. Der Mann behauptet, dies könne sogar sein kleiner Sohn, der unter einem Baum spiele, besser als der Teufel. Er läßt den Teufel in der Nähe des Baumes in die Hände klatschen, woraufhin ein Eichhörnchen den Baum hinaufflieht, ehe der Teufel sich auch nur zum Klettern bereitmachen kann.
Der ausschließlich aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s bekannte Erzähltyp wurde vor allem in Lappland und Finnland, in Lettland und Litauen1 sowie in Deutschland aufgezeichnet, Einzelbelege stammen von den Färöern, aus Irland und von ung. Roma. Die Erzählung ist meist in eine Reihe weiterer Erzähltypen eingefügt, die in der Mehrzahl ebenfalls zu den Erzählungen vom dummen Teufel gehören. Am häufigsten ist die Kombination mit den Erzähltypen AaTh/ATU 1045: cf. Das große J Seil, AaTh/ATU 1071: cf. J Wettstreit mit dem Unhold und AaTh/ATU 1072: cf. J Wettlauf der Tiere 2 oder mit AaTh/ ATU 1082: cf. J Pferd wird getragen3. Einige finn., lapp. und litau. Fassungen werden mit AaTh/ATU 1650: Die drei glücklichen J Brüder eingeleitet 4. In schwed. Var.n muß der Teufel dem Mann Gold geben, weil dieser ihn besiegt hat; auch jetzt wird er noch betrogen und muß viel mehr zahlen, als eigentlich abgemacht war (cf. AaTh/ATU 1130: J Grabhügel)5. AaTh/ATU 1611: Contest in Climbing the Mast und AaTh/ATU 1612: The Contest in Swimming gehören zur Schwankgruppe ATU 1525⫺1639: The Clever Man. AaTh/ATU 1611 hat folgende Grundform: Ein junger Mann klettert auf den Mast eines Schiffs, stürzt ab, bleibt aber unverletzt, da er in der Takelage landet. Daraufhin fordert er einen erfahrenen Seemann auf, es ihm nachzutun; dieser denkt,
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Wettlauf mit dem Teufel ⫺ Wettlauf der Tiere
der junge Mann sei gesprungen, und hält ihn für den erfahrenen Seemann.
AaTh/ATU 1611 wurde aus mündl. Überlieferung vor allem in Finnland und Schweden6, vereinzelt auch auf den Brit. Inseln und bei nordamerik. Indianern aufgezeichnet. Lediglich in der schott. Version sowie in einigen finn. Var.n findet sich AaTh/ATU 1611 als eigenständige Erzählung7, weitere finn. sowie die nordamerik. Fassungen sind mit AaTh/ ATU 1612 kombiniert8, schwed. darüber hinaus mit AaTh/ATU 1542*: Sailor Substitute9. Zu AaTh/ATU 1611 wurde auch eine Erzählung gestellt, in der Kinder J Hodscha Nasreddins neue Pantoffeln stehlen wollen und ihn deshalb auffordern, auf eine Pappel zu klettern. Er läßt sich jedoch nicht übertölpeln und nimmt die Pantoffeln beim Klettern mit (Mot. J 1521.1)10. AaTh/ATU 1612 hat folgenden Inhalt: Ein Mann will mit einem guten Schwimmer (Teufel, Riese) um die Wette schwimmen (tauchen). Zum vereinbarten Termin erscheint er mit viel Proviant. Als der Kontrahent dies sieht, gibt er sich geschlagen.
Der Erzähltyp ist weiter verbreitet als AaTh/ ATU 1073 und AaTh/ATU 1611. Die meisten Belege stammen aus Finnland und Schweden11, darüber hinaus liegen Aufzeichnungen aus Schottland, Irland, Flandern, Indien, Sri Lanka12, Nord-13, Mittel- und Südamerika14 sowie von den Kapverd. Inseln vor. In der überwiegenden Zahl der Belege tritt AaTh/ATU 1612 als selbständige Erzählung auf15. Teilweise wird der Erzähltyp durch folgende einleitende Passage erweitert16: Ein Mann läßt sich auf einem Schiff anheuern und versteckt sich (fährt als blinder Passagier mit). Kurz bevor das Schiff Land erreicht, springt der Mann unbemerkt ins Wasser und ruft um Hilfe. Nach seiner Rettung behauptet er, bei einem Sturm über Bord gegangen und seitdem hinter dem Schiff hergeschwommen zu sein (dem Schiff, seit es abgelegt hatte, schwimmend gefolgt zu sein). An Land preist der Kapitän die Schwimmküste des Mannes und fordert einen guten Schwimmer zum Wettkampf mit diesem heraus.
Gelegentlich wird AaTh/ATU 1612 mit AaTh/ATU 1611 und AaTh/ATU 1542*17 oder mit AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend18 und AaTh/ATU 935: J Heimkehr des verlorenen Sohnes19 kombiniert. Eine srilank. Erzählung handelt von zwei streitenden Riesen und
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stellt eine Kombination aus AaTh/ATU 1612, AaTh/ATU 1085: Making a Hole in a Tree und AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein dar20. 1 Mittlgen der litau. litterarischen Ges. 1 (1883) 83⫺ 88; Cappeller, C.: Litau. Märchen und Geschichten. B. 1924, num. 22 a; Köhler/Bolte 1, 477⫺479. ⫺ 2 ˚ berg, G. A.: Nyländska Rausmaa, SK 3, num. 19; A Folksagor. Hels. 1887, num. 48; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Hels. 1920, num. 202 c (4), 202 c (6), 286 (6); Mittlgen und Cappeller (wie not. 1); Bødker, L.: European Folk Tales. Kop. 1963, 26⫺28 (schwed.); Plenzat, K.: Der Wundergarten. B./Lpz. 1922, 138⫺143; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 67. ⫺ 3 Mittlgen und Cappeller (wie not. 1); Plenzat und Ranke (wie not. 2). ⫺ 4 Rausmaa, SK 3, num. 19; Hackman (wie not. 2) num. 202 c (6), 286 (6); Bødker und Plenzat ˚ berg (wie not. 2); Hackman (wie (wie not. 2). ⫺ 5 A not. 2) num. 202 c (4). ⫺ 6 Liungman. ⫺ 7 DBF A 2, ˚ berg (wie 58 sq. ⫺ 8 Rausmaa, SK 6, num. 276; A not. 2) num. 271; Hackman (wie not. 2) num. 326 (3); JAFL 30 (1917) 482 sq.; Thompson, S.: European Tales among the North American Indians. Co˚ berg (wie not. 2) lorado Springs 1919, 433. ⫺ 9 A num. 271; Hackman (wie not. 2) num. 326 (3). ⫺ 10 Pilicˇkova, S.: Nasradin Odzˇa i Itar Pejo ⫺ duhovni bliznaci. Skopje 1996, num. 129 (mazedon.); Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 381. ⫺ 11 ˚ Aberg (wie not. 2); Liungman. ⫺ 12 Parker, H.: Village Folk-Tales of Ceylon 1. L. 1910, num. 55. ⫺ 13 Brendle, T. R./Troxell, W. S.: Pennsylvanian German Folk Tales. Norristown 1944, 155. ⫺ 14 Robe, S. L.: Amapa Storytellers. Berk./L. A./L. 1972, num. 7. ⫺ 15 Hackman (wie not. 2) num. 326 (1,2); DBF A 2, 99 sq.; Be´aloideas 35⫺36 (1967⫺68) 375, num. 46; Meulemans, A.: Leuvense Almanakken (1712⫺ 1900). Antw. 1982, num. 1503; Brendle/Troxell (wie not. 13); Dorson, R. M.: Negro Folktales in Michigan. Cambr., Mass. 1956, 55; Robe (wie not. 14) 1972, num. 7. ⫺ 16 Hackman (wie not. 2) num. 326 (1,2); Rausmaa, SK 6, num. 276; Dorson (wie not. 15); Parsons, E. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr., Mass./N. Y. 1923, 63. ⫺ 17 ˚ Aberg (wie not. 2); Hackman (wie not. 2) num. 326 (3). ⫺ 18 ibid. ⫺ 19 Rausmaa, SK 6, 521. ⫺ 20 Parker (wie not. 12).
Göttingen
Johanna Ella
Wettlauf mit dem Teufel J Wettstreit mit dem Unhold Wettlauf der Tiere (AaTh 275, 275 A/ATU 275, 275 A⫺C, AaTh/ATU 1072, 1074), Bezeichnung für eine Gruppe von Erzählungen
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Wettlauf der Tiere
mit ausgeprägt paradoxem Handlungsmuster, in deren Mittelpunkt der W. zwischen zwei (oder mehr) ungleich schnellen Kontrahenten steht. Zwei Tiere (andere Wesen) streiten sich, wer schneller sei oder wer etwas besitzen dürfe. Sie verständigen sich darauf, ihren Konflikt durch einen W. zu lösen, obwohl eines von ihnen von Natur aus schnell und das andere langsam ist. Das langsame Tier gewinnt (cf. J Stark und schwach).
Als schnelle Tiere treten Hase (Brer Rabbit), Fuchs, Hirsch, Reh, Katze, Schwein, Pferd, Antilope, Elefant, Löwe, Tiger, Frosch und Floh zum W. gegen die langsameren Tiere Igel, Schildkröte, Schnecke, Krebs, Kröte, Chamäleon, Esel und Laus an. Die Erzählungen lassen sich in zwei komplexe Teilgruppen untergliedern: (1) Das schnelle Tier läuft mit einer Unterbrechung oder ohne große Anstrengung, das langsame Tier hingegen ohne Unterbrechung und mit großer Anstrengung (Niederlage und Sieg durch ungleich stetiges und angestrengtes Laufen). (2) Das schnelle Tier läuft ohne Unterbrechung und mit großer Anstrengung, durchschaut aber nicht, daß der Gegner das Laufen nur vortäuscht (Niederlage und Sieg durch erfolgreich vorgetäuschtes Laufen; J Täuschung).
Beide Teilgruppen liegen der Sache nach den Klassifikationen des W.s der T. in der internat. Typologie zugrunde. Eingeführt wurde der einschlägige Erzähltyp AaTh 275: The Race of the Fox and the Crayfish von A. J Aarne 1910 unter Hinweis auf KHM 187: Der Hase und der Igel1. Das Wettfliegen der Vögel (AaTh/ATU 221: cf. J Königswahl der Tiere) und das J Wettschwimmen der Fische (AaTh/ ATU 250) sind an anderer Stelle des Typenkatalogs berücksichtigt, da Aarne die Märchen nach Tierarten und nicht nach Handlungsmustern klassifizierte. Die knappe Beschreibung zu AaTh 275 führte später zu zahlreichen irreführenden Klassifikationen2. Bei der Neubearbeitung des Typenkatalogs wählte H.-J. J Uther daher ATU 275: The Race between Two Animals als Oberbezeichnung für einen (inhaltlich nicht näher definierten) Sammeltyp und unterschied drei dominierende Einzeltypen: AaTh/ATU 275 A: The Race between Hare and Tortoise, AaTh 275/ATU 275 B: The Race of the Fox and the Crayfish und AaTh 275 A*/ATU 275 C: The Race between Hare and Hedgehog. Diese drei Einzeltypen lassen
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sich den zwei Teilgruppen in eindeutiger Weise zuordnen: AaTh/ATU 275 A: Niederlage und Sieg durch ungleich stetiges und angestrengtes Laufen. AaTh 275/ATU 275 B: Niederlage und Sieg durch erfolgreich vorgetäuschtes Laufen und ein spezifisches Täuschungsmanöver. AaTh 275 A*/ATU 275 C: Niederlage und Sieg durch erfolgreich vorgetäuschtes Laufen und ein weiteres Täuschungsmanöver.
Die Tiere streiten sich entweder darüber, wer schneller sei, oder darüber, wer etwas besitzen dürfe. Im ersten Fall ist der W. ein notwendiges Mittel der Konfliktlösung, da die Streitfrage, wer schneller sei, nur auf diese Weise entschieden werden kann. Im zweiten Fall hingegen ist der W. ein beliebiges Mittel unter vielen möglichen, einen Streit um die Ernte, die Braut, die Königswürde etc. zu entscheiden. Die beiden durch die Art des Laufens unterschiedenen Teilgruppen und die beiden Arten des Konflikts können auf vierfache Weise narrativ realisiert werden. In der Gesamtgruppe der Var.n lassen sich also mit Hilfe von zwei eindeutigen Kriterien vier komplexe Handlungsmuster konstruieren, denen sich die drei Einzeltypen unschwer zuordnen lassen: (1) Streit, wer schneller ist, und Erzielung des Resultats durch ungleich stetiges und angestrengtes Laufen (AaTh/ATU 275 A); (2) Streit, wer etwas besitzen soll, und Erzielung des Resultats durch ungleich stetiges und angestrengtes Laufen (AaTh/ATU 275 A; selten); (3) Streit, wer schneller ist, und Erzielung des Resultats durch erfolgreich vorgetäuschtes Laufen (AaTh 275/ATU 275 B und AaTh 275 A*/ATU 275 C); (4) Streit, wer etwas besitzen soll, und Erzielung des Resultats durch erfolgreich vorgetäuschtes Laufen (AaTh 275/ATU 275 B und AaTh 275 A*/ATU 275 C).
Älteste Textzeugen für den W. der T. sind zwei äsopische Fabeln, die auf der Grundlage heute verschollener Überlieferung von dem Anonymus der Collectio Augustana (Perry, num. 226) und von J Babrios3 verfaßt wurden. Sie entsprechen AaTh/ATU 275 A: Hase und Schildkröte streiten sich, wer schneller sei, und verabreden einen W. Die Schildkröte läuft sofort los, während sich der Hase zuvor noch schlafen legt. Da die Schildkröte ohne Pause läuft, ist sie vor dem Hasen im Ziel.
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Wettlauf der Tiere
Der Anonymus beschränkt sich auf den Bericht dieser Ereignisse, während Babrios die Entstehung des Streits und die Verabredung des W.s in einem Dialog darstellt. Wie der Anonymus erklärt aber auch Babrios nicht, warum die Schildkröte sich überhaupt auf den W. einläßt. Auf die zentrale Frage, warum der Hase sich schlafen legt, antworten beide Fabeln übereinstimmend, daß er dem langsamen Gegner seine Überlegenheit demonstrieren wolle (J Demut und Hochmut). Die Schildkröte hingegen strengt sich im Bewußtsein ihrer Langsamkeit bes. an, was einen ideengeschichtlichen Bezug der Fabeln zum Lob der Anstrengung in der kynischen Ethik nahelegt4. Die im europ. Raum aus der Spätantike, dem MA. und der Neuzeit bezeugten eigenständigen Fabeln vom W. der T. übernehmen das Muster der beiden äsopischen Vorbilder, variieren es aber aufgrund veränderter pädagogischer, ethischer und gesellschaftskritischer Normen: Das hochmütige Pferd kann beim angesetzten Termin kaum laufen, während die Schildkröte schneller vorwärts kommt, als es ihrer Natur entspricht, da sie im Gegensatz zum Pferd vor dem W. trainiert hat (Libanius5). Der Hase schläft, weil er sich auf seine Stärke verläßt, während die von ihm verspottete Schnecke zum Ziel eilt (Burkart J Waldis, Esopus 3,76; cf. Johann J Fischart6, Eucharius J Ey[e]ring7). Der Hase verweilt gleich nach dem Start, weil er es für unrühmlich hält, gleichzeitig mit der Schildkröte zu beginnen (J La Fontaine, Fables 6,10).
Die im 19. Jh. inner- und außerhalb Europas aus mündl. Überlieferung aufgezeichneten Fassungen von AaTh/ATU 275 A zeigen, daß das hochmütige schnelle Tier auch wider Willen zu einer Unterbrechung gezwungen sein kann, was komische Effekte ermöglicht: Der auf sein schnelles Hüpfen stolze Frosch kann ein Hindernis nicht überwinden, während die von ihm wegen ihres langsamen Kriechens verspottete Schnecke es spielend bewältigt (AaTh/ATU 275 C*: The Race of Frog and Snail). In einem jap. Volksmärchen fällt der schnelle J Floh ins Wasser, weil er aus Übermut unvorsichtig über den Steg hüpft, so daß die vorsichtigere Laus das Ziel vor ihm erreicht8. AaTh 275/ATU 275 B erklärt das paradoxe Resultat des W.s durch eine spezifische Variation erfolgreich vorgetäuschten Laufens:
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Das langsame Tier läuft nicht selbst, sondern springt beim Start auf das schnelle Tier (hängt sich ihm an den Schwanz) und läßt sich von ihm tragen. Das langsame Tier gelangt zuerst ins Ziel, weil das schnelle sich kurz vor dem Ziel umdreht, um nach ihm zu sehen.
Das erste schriftl. Zeugnis für diesen Erzähltyp ist ein anonymes mhd. Gedicht aus dem 13. Jh.9: Als der Fuchs den Krebs wegen seines langsamen, kriechenden Gangs verspottet, erwidert dieser, er könne sogar besser als die Götter laufen, und fordert ihn zum W. heraus. Da er dem Fuchs einen Vorsprung gewährt, indem er ihn vor sich antreten läßt, kann er sich an dessen Schwanz hängen. Der Fuchs läuft so schnell er kann, wendet sich direkt vor dem Ziel aber noch einmal um und ruft nach dem Krebs. Dieser befindet sich jedoch bereits im Ziel und fragt den Fuchs, warum er denn so langsam gelaufen sei.
Der Erzähltyp ist ferner im Jocalis, einer vermutlich aus dem 13. Jh. stammenden dt. Sentenzen- und Sprichwörtersammlung, überliefert10; eine Anspielung darauf findet sich auch bei Fischart11. Vielfältige Fassungen sind im 19. Jh. aus mündl. Überlieferung außer in Europa auch in Asien, Afrika und Amerika aufgezeichnet worden12. Während der äsopische Hase aus Hochmut säumig ist, läuft der Fuchs in AaTh/ATU 275 A aus Hochmut bes. schnell. Auf die naheliegende Frage, warum das schnelle Tier selbst im Ziel den Betrug nicht durchschaut, bieten viele Erzählungen eine plausible Antwort an: Es kann die unerwartete Niederlage nicht begreifen oder will sie nicht anerkennen, und statt besonnen zu sein, fordert es im blinden Eifer Wiederholung um Wiederholung, bis es erschöpft oder tot zusammenbricht. Vom Handlungsmuster abweichende Var.n, in denen das schnelle Tier dem langsamen auf die Schliche kommt, sind selten. In einem pommerschen Schwank muß der Fuchs dem Krebs als Belohnung für den gewonnenen W. Schnaps ausgeben. Auf dem Heimweg von der Schenke offenbart der Krebs seine List, kann dem wütenden Fuchs jedoch durch einen Sprung in den Teich entkommen13. AaTh 275 A*/ATU 275 C begründet das Resultat des W.s mit einer zweiten Variation erfolgreich vorgetäuschten Laufens: Das langsame Tier täuscht seine Teilnahme am W. lediglich vor, indem es Verwandte entlang der Rennstrecke oder am Ziel aufstellt.
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Wettlauf der Tiere
Das erste schriftl. Zeugnis für diesen Erzähltyp, der möglicherweise schon in der Antike ikonographisch dargestellt wurde14, ist ein anonymes mittellat. Gedicht (um 1120)15, das die Konfliktlösung durch einen W. mit dem Streit um die Ernte verknüpft: Der beim Ackerbau fleißige Igel und der nachlässige Hirsch können sich nicht über die Aufteilung der Ernte einigen. Der als Schiedsrichter einberufene Eber ordnet einen W. an. Die Frau des verzweifelten Igels schlägt vor, daß sie am Ziel stehen und anstelle ihres Mannes rufen werde, sie sei bereits angekommen, sobald der Hirsch in Sicht sei. Dieser läuft so viele Male, daß er schließlich vor Erschöpfung zusammenbricht.
Die geschilderten Ereignisse würdigen die Frau als Helferin des in Not geratenen Mannes. Die angefügte Moral preist darüber hinaus die Gerechtigkeit und Gnade Gottes, der den Schwachen gegen den Mächtigen stärkt und so die Ungleichheit in seiner Schöpfung ausgleicht. Möglicherweise dienten Geschichten dieses Erzähltyps auch als Predigtexempel. Jh.e später lernte der Schriftsteller und Journalist Wilhelm Schröder (1808⫺78) eine mündl. überlieferte ndd. Fassung des Erzähltyps AaTh 275 A*/ATU 275 C kennen, die er in eigener Bearbeitung in geselligen bürgerlichen Kreisen erzählte und schließlich als Dat Wettlopen twischen den Hasen un den Swinegel up de lütje Heide bi Buxtehude am 26. April 1840 in seinem Hannoverschen Volksblatt abdruckte16. Wer Schröder die Geschichte erzählte ⫺ ein Jäger oder ein Pfarrer ⫺, ist umstritten17. Eine geistliche Quelle könnte erklären, warum der Text den Fall des hochmütigen Hasen nicht nur moralisch und gesellschaftskritisch, sondern unterschwellig auch religiös motiviert. Die zentralen narrativen Elemente der Fassung ⫺ Verspottung, provokative Reaktion, Verabredung des W.s etc. ⫺ müssen von Schröder unverändert aus dem ihm Erzählten übernommen worden sein, einschließlich kleiner Motivreste wie das Besichtigen der Felder, das auffällig an den Streit um die Ernte erinnert. Gleichwohl ist der Swinegel aus heutiger Sicht nicht als Volks-, sondern als Kunstmärchen aufzufassen, formal wegen Schröders Autorschaft, inhaltlich wegen seiner spezifisch literar. und zeitkritischen Qualitäten. Nach 1840 war die Frage nach der Herkunft des Swinegels selbst unter Kennern noch strit-
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tig, vor allem auch deshalb, weil Schröder den Text im Erstdruck anonym als ,plattdt. Volksmärchen‘ veröffentlicht hatte. In dem Streit überzogen beide Seiten ihre Position höchst aufschlußreich: J. P. T. Lyser, indem er das Märchen als originales zeitkritisches literar. Meisterwerk pries, W. J Grimm, indem er es als Volksmärchen beschrieb, das von einem Unbekannten ,nach mündl. Überlieferung‘ aufgefaßt worden sei18. Die Popularität des Märchens hatte zur Folge, daß die mündl. Überlieferung eigenständiger Var.n von AaTh 275 A*/ATU 275 C im dt. Sprachraum versiegte19. Eine im 20. Jh. im Mecklenburgischen aufgezeichnete Fassung in dem für das Volksmärchen typischen abstrakten Stil basiert nachweislich auf Schröders Fassung20. Seit dem 19. Jh. wurden in Afrika, Asien und Nordamerika Var.n von AaTh 275/ATU 275 B, AaTh 275 A*/ATU 275 C aus mündl. Überlieferung aufgezeichnet. Sie verraten eine auffällige Vorliebe für das Täuschungsmanöver, an dem eine Gemeinschaft von Verwandten helfend beteiligt ist21. Alternative Listen zu den Hauptvarianten in AaTh 275/ATU 275 B und AaTh 275 A*/ATU 275 C sind selten: Das schnelle Tier läuft eine weite Strecke, während das langsame direkt vom Start ins Ziel springen kann, da die Rennstrecke ein Kreis ist22. Nur gelegentlich begegnen Verknüpfungen von Elementen aus verschiedenen Erzähltypen, z. B. das Element der Täuschung aus AaTh 275 A*/ATU 275 C und das der Unterbrechung aus AaTh/ATU 275 A: Das langsame Tier verleitet das schnelle dazu, auf dem Weg zu verweilen (Mot. H 331.5.1.1) oder vom Weg abzukommen23. J Luther verkehrte das Muster der erfolgreichen Täuschung in satirischer Absicht: Beim Wettstreit, wer König werden soll, hat der Esel keine Lust zu laufen, gewinnt aber, weil der Löwe ihn am Ziel mit einem anderen Esel verwechselt, der zufällig dort steht24. Die Geschichte begegnet später u. a. bei J. J Stieffler und gehört thematisch zur Königswahl der Tiere25. Für die Sammlung und Klassifikation der Erzählungen dieses Typs erwies sich als irreführend, daß S. J Thompson das Handlungsmuster der erfolgreichen Täuschung durch einen Verwandten zwar als AaTh 275 A* aufnahm, es inhaltlich jedoch erst unter AaTh 1074: Race Won by Deception: Relatives as
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Wettlauf der Tiere
Helpers mit Bezug auf KHM 187 ausführlich behandelte. Entsprechend finden sich Var.n des Erzähltyps AaTh 275 A*/ATU 275 C häufig unter AaTh/ATU 1074 eingeordnet26. Erzählungen des Typs AaTh/ATU 1072: Running Contest erklären das paradoxe Resultat des W.s zwischen einem Menschen und einem Unhold (Oger, Riese) durch ein spezifisches Täuschungsmanöver: Der Mensch überredet den Unhold, beim W. nicht gegen ihn selbst, sondern gegen seinen kleinen Sohn anzutreten. Als der Unhold einwilligt, entpuppt sich der kleine Sohn als Hase, der den W. überlegen gewinnt (cf. AaTh/ATU 1073: J Wettklettern, -schwimmen).
Der Mensch täuscht in diesen Erzählungen also kein Laufen vor. Er läßt sich weder vom Unhold unbemerkt tragen noch fingiert er seine Präsenz, sondern überredet listig seinen Gegner, einem vermeintlichen Vorteil zuzustimmen27. Zahlreiche mündl. Var.n dieses Erzähltyps sind aus Europa bekannt, wobei der Schwerpunkt der Überlieferung in Nord- und Osteuropa zu liegen scheint. AaTh/ATU 1074 erklärt das paradoxe Resultat des W.s zwischen einem Unhold durch die auch für ATU 275 typische Variation erfolgreich vorgetäuschten Laufens, in der viele Helfer entlang der Rennstrecke postiert sind. Var.n dieses Erzähltyps wurden aus mündl. Überlieferung in nahezu ganz Europa, vereinzelt auch in Nordamerika, Nord- und Zentralafrika sowie in Asien aufgezeichnet. Die Gruppe der Erzählungen um den W. der T. hat trotz ihres breiten gattungspoetischen Spektrums von der lehrhaften Fabel bis zum unterhaltsamen Schwank aufgrund ihres auffällig paradoxen Handlungsmusters auch ein gemeinsames narratives Aussagepotential. Der Starke, Mächtige, Privilegierte scheitert, wenn er sich hochmütig und töricht überschätzt und den Schwachen verachtet. Die Erzählungen beschränken sich jedoch nicht darauf, eine falsche Haltung zur Ungleichheit (Hochmut, Stolz, Prahlsucht) durch die Niederlage zu bestrafen und dem Gelächter preiszugeben. Sie zeigen darüber hinaus, daß mit den Waffen des Schwachen ⫺ Realitätssinn, Anstrengung, Gewitztheit und Solidarität ⫺ Unterlegenheit kompensiert werden kann28. In den religiös motivierten Erzählungen wird der Schwache darüber hinaus durch göttliche Mächte unter-
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stützt, aber bezeichnenderweise nicht durch Wunder, Zauber oder Magie, sondern indem er befähigt wird, sich selbst zu helfen. 1 Aarne, A.: Verz. der Märchentypen (FFC 3). Hels. 1910. ⫺ 2 cf. z. B. EM 8, 181, 327. ⫺ 3 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 177. ⫺ 4 Rodrı´guez Adrados, F.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. H. 254. ⫺ 5 Libanii opera 8. ed. R. Foerster. Lpz. 1915, 25 sq. ⫺ 6 Fischart, J.: Das phil. Ehezuchtbüchlein. In: Werke 3. ed. A. Hauffen. Stg. 1895, 161⫺164. ⫺ 7 Eyering, E.: Copiae proverbiorum 3. Eisleben 1604, num. 154. ⫺ 8 Hammitzsch, H.: Jap. Volksmärchen. MdW 1964, num. 105. ⫺ 9 Massmann, H. F.: Fuchs und Krebs. In: ZfdA 1 (1841) 393⫺400. ⫺ 10 Lehmann, P.: Mitteilungen aus Hss. 4. Mü. 1938, 84. ⫺ 11 Fischart (wie not. 6) 450 sq. ⫺ 12 Dähnhardt, O.: Beitr.e zur vergleichenden Sagen- und Märchenforschung. Progr. Lpz. 1908, 10⫺46. ⫺ 13 Bll. für pommersche Vk. 5 (1895) 65 sq. ⫺ 14 Liungman, Volksmärchen, 33; cf. Rodrı´guez Adrados (wie not. 4) 320. ⫺ 15 Wright, T.: A Selection of Latin Stories from Mss. of the Thirteenth and Fourteenth Centuries. L. 1842, 171⫺173; Hervieux 2, 755⫺757; Dicke/ Grubmüller, num. 256; Liungman, Volksmärchen, 33 (spricht irrtümlich vom W. zwischen Igel und Löwe). ⫺ 16 cf. Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinderund Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 384⫺386; Stückrath, J.: Wie den Deutschen ein Meisterstück unterhaltsamer Erzählkunst abhanden gekommen ist. In: Faulstich, W./Knop, K.: Unterhaltungskultur. Mü. 2006, 127⫺145. ⫺ 17 cf. Garbers, H.: Über den Verf. des W.s zwischen dem Igel und dem Hasen. In: Niedersachsen 5 (1899/ 1900) 299. ⫺ 18 Lyser, J. P. T.: De Swienegel als Wettrenner. Ein plattdt. Märchen. Hbg [1853], 18; Grimm, W.: Der Swinegel. In: Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde 1 (1853) 381⫺383; KHM 3 (1856) 255. ⫺ 19 BP 3, 339⫺341. ⫺ 20 Neumann, S.: Eine mecklenburg. Märchenfrau. B. 1974, 62 sq. ⫺ 21 Espinosa 3, 333⫺349; Brandt, E. V.: 69 tunesiske eventyr. Kop. 1954, 25; Rausmaa, SK 5, num. 205; cf. Buxtehuder Has’ und Igel weltweit. ed. A. Gosh. Buxtehude 32003. ⫺ 22 Espinosa 3, 337; cf. Takehara, T.: Jap. Tiermärchen: „W.e zwischen Tieren“. In: Bulletin of Nara Univ. of Education 27 (1978) 59⫺ 73. ⫺ 23 Reichl, K.: Karakalpak. Märchen. Bochum 1985, 55⫺58 (Fuchs, Schakal, Zecke); Dh. 4, 74. ⫺ 24 D. Martin Luthers Werke. Krit. Gesamtausg. 26. Weimar 1909, 534⫺554, hier 547⫺551. ⫺ 25 cf. Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, 327 sq. ⫺ 26 z. B. Spies, O.: Türk. Volksmärchen. MdW 1967, 322; EM 7, 1294. ⫺ 27 Köhler/Bolte 1, 477⫺479; Schwarzbaum, Fox Fables, 518, not. 16; Dekker/van der Kooi/Meder, 155⫺158. ⫺ 28 Marquard, O.: Kompensation. In: Hist. Wb. der Philosophie 4. Darmstadt 1976, 913⫺918.
Bielefeld
Jörn Stückrath
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Wettschwimmen der Fische
Wettschwimmen der Fische (AaTh/ATU 250), Tierschwank, in dem ein kleiner Fisch einen stärkeren und schnelleren durch eine List beim J Wettkampf besiegt (J Stark und schwach): Ein Lachs (Hecht) und ein Barsch (Krebs) beschließen, um die Wette zu schwimmen (einen Wasserfall hinauf, eine Klippe hochzuspringen, über Land zu springen). Der Barsch hält sich an der Schwanzflosse des vorausschwimmenden Lachses fest. Als der Lachs sich umdreht, schleudert er den Barsch nach vorn. Dieser fragt, wo der Lachs denn bleibe, er warte schon lange auf ihn.
Der älteste Nachweis für den ausschließlich aus mündl. Überlieferung aufgezeichneten Erzähltyp findet sich in einer Slg des finn. Volkskundlers und Philologen C. Ganander1, einer der wenigen finn.sprachigen Aufzeichnungen aus dem 18. Jh. Aus Finnland liegen darüber hinaus weitere (finn.- und schwed.sprachige) Belege vor2; auch in Lettland ist der Erzähltyp mehrfach nachgewiesen3. Aufzeichnungen stammen darüber hinaus aus Nord- (Samen4, Friesen5) und Südeuropa (Spanien6, Katalonien7) sowie aus der Karibik8. In finn. und finn.-schwed. Var.n soll der Gewinner des Wettkampfs König der Fische werden (cf. AaTh/ATU 221 A: cf. J Königswahl der Tiere)9, oder als Wettgewinn werden ein Faß Bier oder eine Kanne Branntwein (Rum) verabredet10. Diese Var.n haben meist ätiologische Implikationen: Der Gewinner betrinkt sich und muß erbrechen, was erklären soll, weshalb man diese Fischart für bes. schmierig und häßlich hält. Wird die Überheblichkeit und Eitelkeit des schnelleren Tiers angeprangert, enden die Texte mit der Bestrafung des Betrügers. Strukturell steht der Erzähltyp AaTh/ATU 275 B: cf. J Wettlauf der Tiere sehr nahe, wobei die Akteure dort in der Regel keine Fische, sondern einerseits Säugetiere (schnelles Tier) und andererseits Amphibien, Krebs- oder Spinnentiere (langsames Tier) sind. Weitgehende Übereinstimmungen liegen zwischen AaTh/ ATU 250 und AaTh/ATU 275 C: cf. Wettlauf der Tiere vor, wenn das langsamere Wassertier sich im Wettkampf gegen das schnellere Hilfe bei anderen holt: In einem Märchen aus Mikronesien stellt eine Krabbe Tritonmuscheln entlang der Rennstrecke auf, um den Hornhecht glauben zu machen, sie befinde sich weit vor ihm11; in einer kapverd. Erzählung überli-
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stet eine Jakobsmuschel mit Hilfe ihrer Verwandten einen Schweinswal12. In entsprechenden Texten finden sich auch Wettkämpfe zwischen (schnellen) Land- und (langsamen) Wassertieren: In einem Märchen der sibir. Inuit umrundet ein Elch mit einem Kaulkopf einen See. Der Kaulkopf gewinnt mit Hilfe vieler Fische, die sich um den See verteilen, so daß der Elch den Eindruck hat, der Kaulkopf schwimme stets vor ihm13. Das Motiv des Wettschwimmens scheint auch in einigen anderen ätiologischen Erzählungen ⫺ hier jedoch ohne die List ⫺ auf: Der schiefe Mund der J Flunder (AaTh/ATU 250 A) wird als Bestrafung für ihren Neid auf den Gewinner des Wettschwimmens erklärt14. Der Wettkampf zwischen Wasserschildkröte und Gazelle in einer kapverd. Erzählung erklärt das Brutverhalten der Schildkröte: Diese war schneller, doch die Gazelle hatte ihr den Wetteinsatz, den eigenen Nachwuchs, verweigert, weshalb die Schildkröte nun um ihre Kinder fürchtet und ihre Eier nachts im Sand vergräbt15. 1 Ganander, C.: Uudempia ulosvalituita satuja nuorten peränajatuxen teroituxexi, ja yhteisesä elämäsä ˚ bo 1784, 129; cf. Opixi, Varoituxexi ja Neuvoxi. A Rausmaa, SK 5, 226. ⫺ 2 Krohn, K.: Suomalaisia kansansatuja 1. Hels. 1886, 261⫺263, 430 sq.; Schreck, E.: Finn. Märchen. ed. G. Meyer. Weimar 1887, 238; Dh. 4, 91⫺93 (lapp., finn., schwed.); Löwis of Menar, A.: Finn. und estn. Volksmärchen. MdW 1922, num. 49; Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 28; cf. BP 3, 354 sq. ⫺ 3 Sˇva¯be, A.: Latvju tautas pasakas 2. Riga 1923, num. 84. ⫺ 4 Dh. 4, 91⫺93; Poestion, J. C.: Lappländ. Märchen. Wien 1886, num. 4. ⫺ 5 Poortinga, Y.: It fleanend skip. Folksforhalen fan Steven de Bruin. Baarn/Ljouwert 1977, num. 267. ⫺ 6 Camarena/Chevalier. ⫺ 7 Oriol/Pujol. ⫺ 8 Flowers 250, cf. auch 275. ⫺ 9 Simonsuuri/Rausmaa (wie not. 2); Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 1. Hels. 1917, num. 46 (2, 4, 5). ⫺ 10 ibid., num. 46 (1, 3, 7); Dh. 4, 91⫺93 (finn.); Rausmaa, SK 5, num. 199, 200. ⫺ 11 Hambruch, P.: Südseemärchen. MdW 1921, num. 44. ⫺ 12 Parsons, E. C.: Folk-lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr., Mass./N. Y. 1923, num. 100 (1). ⫺ 13 Die Wunderblume und andere Märchen. B. 1958, 149⫺151. ⫺ 14 z. B. Dh. 4, 91⫺93 (schwed.), 192 sq. (dt., ndl., fläm.); Mont, P. de/Cock, A. de: Vlaamsche volksvertelsels. Zutphen 1927, num. 33. ⫺ 15 Parsons (wie not. 12) num. 100 (2).
Göttingen
Johanna Ella
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Wettstreit mit dem Unhold
Wettstreit mit dem Unhold (AaTh/ATU 1049, 1060⫺1063, 1070, 1071, 1083⫺1087, 1089, 1090, 1095, 1096) 1. Allgemeines ⫺ 2. AaTh/ATU 1060 ⫺ 3. AaTh/ ATU 1061 ⫺ 4. AaTh/ATU 1062 ⫺ 5. AaTh/ATU 1084 ⫺ 6. AaTh/ATU 1049 ⫺ 7. AaTh 1063, 1063 A⫺B/ATU 1063, 1063 A ⫺ 8. AaTh/ATU 1085⫺ 9. AaTh/ATU 1086 ⫺ 10. AaTh/ATU 1087 ⫺ 11. AaTh/ATU 1089, 1090, 1096 ⫺ 12. AaTh/ATU 1095 ⫺ 13. AaTh/ATU 1070 ⫺ 14. AaTh/ATU 1071 ⫺ 15. AaTh/ATU 1083 ⫺ 16. AaTh/ATU 1083 A ⫺ 17. Abschluß des Zyklus
1 . All ge me in es. Das Lemma W. mit dem U. dient als Oberbegriff für einen variationsreichen Zyklus von Überlistungsgeschichten aus dem Umkreis der Erzählungen vom dummen J Teufel oder J Riesen (AaTh/ATU 1000⫺1199). Die entsprechenden Erzählungen setzen sich in der Regel aus einer längeren Kette von Erzähltypen bzw. -motiven zusammen. Kurze Ketten sind selten, selbständige Formen offensichtlich Ausnahmen. Die zum Zyklus vom W. mit dem U. gehörenden Erzählketten haben folgenden Verlauf: (1) In der Anfangsszene läßt sich ein starkes, allerdings dummes übernatürliches Wesen durch eine oder mehrere fingierte J Kraftproben des schwachen, aber klugen menschlichen Protagonisten einschüchtern (J Stark und schwach). (2) Im Hauptteil reihen sich Episoden aneinander, in denen die beiden Handlungsträger jeweils einen Arbeitsvorgang bzw. eine Aufgabe im W. ausführen. Der Mensch versteht es durch List und Gewandtheit, den U. zu täuschen (J Täuschung) und so die Wettbewerbe zu gewinnen. Nachdem ein nächtliches Attentat des U.s auf den Menschen gescheitert ist (AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil), bringt der U. seinem Widersacher schließlich sogar einen Schatz, um ihn loszuwerden. (3) Im Schlußteil ängstigt der Mensch den U. so, daß dieser die Flucht ergreift (AaTh/ATU 125, 1149: J Kinder begehren das Fleisch des U.s); oder er bringt ihn dazu, sich selbst zu töten (AaTh/ATU 1088: J Trinkwette; J Gastrotomie).
Oft muß der Mensch seine angebliche Stärke mehrfach unter Beweis stellen. Dabei kann die Kette der Kraftproben um Episoden aus dem Komplex AaTh/ATU 1050⫺1052: J Baum biegen, fällen, tragen ergänzt werden1. Relativ häufig ist der Zyklus vom W. mit dem U. (bzw. einzelne Episoden davon) Teil von AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein. Die meisten Episoden sind einzig aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s belegt; ältere schriftl. Belege liegen nur in Einzelfällen vor.
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In der einfachsten Episodenkette begibt sich der Mensch bereits nach einer einzigen Kraftprobe in die Behausung des Dämons. Dort erhält er eine Mahlzeit und ein Bett für die Nacht; manchmal soll er Aufträge ausführen, derer er sich durch die bloße Ankündigung oder Androhung eines Kraftakts spielerisch leicht entledigt; eingeschüchtert übernimmt der Herausforderer die Aufgaben selbst. Der Listige läßt sich angeblich nur schwer zurückhalten, oft erst nach reicher Entschädigung.
Die üblicherweise zwischen Mensch und U. herrschenden Machtverhältnisse werden hier umgekehrt: Der U. erweist sich durch seine Emotionalität als verletzliches Wesen, während das Verhalten des Menschen eher von einer dämonischen Unerschrockenheit zeugt. Ist der Listige ein J Starker Hans (cf. AaTh/ATU 650)2, wirken seine Drohungen um so glaubwürdiger. In einigen der im Hauptteil ausgetragenen Wettkämpfe geht es nicht um ein eher harmloses Kräftemessen und prahlerische Übertrumpfung (J Übertreibung) des Gegenspielers, sondern um angedrohte oder tatsächliche körperliche J Schädigung, die im Schlußteil in einen Akt der J Selbstschädigung des U.s mündet. 2 . AaTh/ AT U 1 06 0. Als Eingang begegnet am häufigsten die Kraftprobe des Steinezerdrückens (AaTh/ATU 1060: Squeezing the [Supposed] Stone): Ein J unscheinbarer Held (Armer3, Fauler4, Waisenjunge5, Feigling6, Dummkopf 7, Hirt 8, Taugenichts9, regional bekannter Trickster10, Zigeuner11), der oft einen Allerweltsnamen wie Jack, Jean, Iwan oder Hans trägt, spiegelt einem Riesen große Kraft vor: Er tut so, als ob er aus einem Stein Wasser (Blut) herauspressen könne; dabei handelt es sich tatsächlich um einen weichen Gegenstand (Stück Käse, Ei, Quark).
Bereits der antike Dramatiker J Plautus zitiert in seinem Drama Persa (1,1,42) die Wendung ,Wasser aus einem Bimsstein zu pressen versuchen‘. Eine vage vergleichbare Szene findet sich in Heinrich von Freibergs Tristan (V. 5190; um 1300): Der als Narr verkleidete Held drückt einen Käse so fest, daß die Molke herausrinnt12. Das Verbreitungsgebiet von AaTh/ ATU 1060 umfaßt ganz Europa, Nordasien, Nord- und Mittelamerika sowie Afrika. Als Gegenspieler erscheint in den skand. Var.n ein Troll13, in pers., türk. und georg. Texten ein Dev14, in mongol. ein Tiger15.
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Wettstreit mit dem Unhold
3 . AaTh/ AT U 1 06 1. Ein ähnliches Motiv wie AaTh/ATU 1060 behandelt AaTh/ATU 1061: Biting a Stone to Pieces: Der Bursche gibt einem U. (Riese, oft Teufel16), der nachts in einer Mühle (Schloß) sein Unwesen treibt, Steine zum Zerbeißen, während er selbst Nüsse oder Erbsen knackt (cf. AaTh/ATU 1162: J Teufel und eiserner Mann). Der einfältige U. hält die Zähne seines Gegenspielers für stärker als die eigenen.
Das Motiv des Steinezerbeißens ist in den asiat. Typenkatalogen17 etwas prominenter als in AaTh/ATU 1060 vertreten, in Europa ist es dagegen deutlich weniger häufig nachgewiesen. AaTh/ATU 1061 begegnet gelegentlich im Rahmen von AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen18 oder AaTh/ATU 164019 oder als J Freierprobe in AaTh/ATU 850: cf. J Rätselprinzessin20. Eine regionaltypische fries. Ausprägung scheint die Verbindung mit AaTh/ATU 1875: cf. J Junge am Bären(Wolfs)schwanz zu sein21. 4 . AaTh/ AT U 1 06 2. In AaTh/ATU 1062: Throwing a Stone messen sich die Kontrahenten daran, wer am weitesten werfen kann: Der U. schleudert einen Stein so hoch in die Luft, daß dieser erst Stunden später wieder auf die Erde fällt. Der Mensch gibt vor, ein Vogel in seiner Hand sei ein Stein. Er beeindruckt den U. dadurch, daß der ,Stein‘ nicht mehr zurückkehrt, nachdem er ihn geworfen hat.
Vor allem west- und mitteleurop. Var.n von AaTh/ATU 1640 enthalten die Episodenkette AaTh/ATU 1060 ⫹ 106222. 5 . AaTh/ AT U 1 08 4. In der slav. Überlieferung bildet häufig ein Schrei- oder Pfeifwettkampf (AaTh/ATU 1084: Screaming or Whistling Contest) den Auftakt zu weiteren Kraftproben23: Der Protagonist (oft ein Zigeuner) prahlt, von seinem Pfeifen würden dem Kontrahenten (oft Schlange oder Drachen) die Augen aus der Stirn springen (das Gehirn aus dem Schädel spritzen). Erschreckt läßt der U. sich die Augen zubinden, worauf der Listige ihm mit einer Keule auf den Kopf haut.
Manchmal ist AaTh/ATU 1084 der letzte Streich (oft in dreimaliger Ausführung), mit dem der Herausforderer seinen Gegner zwingt, sich endgültig geschlagen zu geben24. Als Sonderform begegnet das Wettknallen mit der
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Peitsche: Der Zigeuner behauptet, daß von seinem Peitschenknall Schädel zersprängen, und der verängstigte Teufel läßt sich zum Schutz von dem Zigeuner einen Reif um den Kopf legen; dieser zieht ihn so fest, daß dem U. die Lust vergeht, das Knallen abzuwarten25. 6 . AaTh/ AT U 1 04 9. Am weitesten verbreitet ist AaTh/ATU 1049: The Heavy Axe: Der Mensch wird zum Holzholen (Wasserholen) geschickt und verlangt große Geräte oder Behälter, um den ganzen Wald (Brunnen) auf einmal nach Hause zu tragen. Um den Gegenspieler zu beeindrucken, gibt er vor, die Bäume des Waldes zum Fortschaffen mit einem Seil zusammenzubinden (cf. AaTh 1045/ATU 1045 [1]: Das große J Seil)26 (den Brunnen zum Wegtragen auszugraben)27. Beide Aufgaben treten gewöhnlich zusammen auf28.
AaTh/ATU 1049 ist in ganz Europa belegt, mit Ausläufern bis nach Iran und Südamerika. Der Grundidee dieses Erzähltyps stehen Var.n von AaTh/ATU 1053: J Tausend mit einem Schuß nahe. In diesen bindet der Held die Schwänze der Ochsen zusammen, um sie gleichzeitig wegzubringen; oder er fängt statt der großen Jagdtiere einen Vogel und sagt, selbst dieser sei ihm nicht entgangen. Weitere Prahlereien, die AaTh/ATU 1049 zugeordnet werden könnten, sind u. a. die Frage des Feiglings, ob er den ganzen Weinkrug bringen solle, als er dessen Deckel nicht heben kann29, oder seine Drohung, den U. mit dem Balken zu erschlagen, als er durch dessen Niesen (Rülpsen, Furzen) darauf geblasen wird30. 7 . AaTh 1 06 3, 10 63 A⫺ B/ AT U 1 06 3, 1 06 3 A. Auch den Wurfwettkampf in AaTh/ ATU 1063: Throwing a Club gewinnt der Mensch, indem er große Kraft vortäuscht: Der Prahler behauptet, er wolle die Axt (Keule, Eisenstange, Kugel) auf eine vorüberziehende Wolke31 (auf den Mond32; in den Himmel, wo ein Verwandter lebt, dem das Eisen beim Schmieden ausgegangen ist33; in die Hölle34) werfen.
AaTh/ATU 1063 ist in Europa, Mittelasien, Nord- und Südamerika nachgewiesen und fast ausnahmslos Teil eines Episodenschwanks. In dem Subtyp AaTh 1063 A⫺B/ATU 1063 A: Throwing Contest droht der Mensch dann, mit einem Felsen entweder ein Dorf (Haus)35 jenseits des Gebirges oder gar mehrere Städte36
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Wettstreit mit dem Unhold
auf einmal zerstören zu wollen. Charakteristisch bes. für die griech. Überlieferung ist hier, daß der Listige sein Vorhaben in Reimform wie eine Beschwörungsformel ankündigt, etwa in der Form „Smyrna, Stambul, Achtung, ihr Städte all/ jetzt wirft der Bartlose seinen Ball!“37 Aus Angst, der Wurf könne seine dort lebenden Verwandten töten, läßt der U. es nicht darauf ankommen und gibt sich widerstandslos geschlagen. 8 . AaTh/ AT U 1 08 5. Eine weitere Kraftprobe, die der Listige trickreich für sich entscheidet, ist AaTh/ATU 1085: Making a Hole in a Tree: Der U. und der Mensch messen sich im W., wer mit dem Kopf (Faust) das tiefste Loch in einem Baum schlagen kann. Der Held hat vorher mit der Axt ein Loch gemacht und es mit Rinde und Moos gefüllt.
Die Nachweise zu AaTh/ATU 1085 decken ein weites Verbreitungsgebiet ab, das sich von Europa über den vorderasiat. Raum und die Mongolei bis nach Indien, Sri Lanka und Indonesien erstreckt. Europ. Siedler brachten das Märchen auch nach Übersee, wo Var.n von franko-, anglo- und lateinamerik. Erzählern aufgezeichnet wurden38. In Zentralafrika ist der Erzähltyp gleichfalls nachgewiesen. AaTh/ATU 1085 ist fast ausnahmslos Teil eines Schwankkonglomerats. In der hispanoamerik. Überlieferung tritt die Trickstergestalt Pedro de Urdemales auf. Einige Fassungen führen Tiere als Handlungsträger an39. 9 . AaTh/ AT U 1 08 6. Von der Idee her ist AaTh/ATU 1086: Jumping into the Ground dem vorgenannten Erzähltyp sehr ähnlich: Der U. und der Bursche wollen herausfinden, wer tiefer in den Boden springen oder die Eingeweide der Erde herausnehmen kann. Der Schalk übertrumpft seinen Widersacher mit einem Sprung in ein zuvor gegrabenes Loch, das er mit Zweigen und Blättern zugedeckt oder mit Fischinnereien40 gefüllt hat.
AaTh/ATU 1086 ist bei den finn.-ugr. Völkern sowie bei Finnlandschweden, im Baltikum, in Polen und bei zentralasiat. Turkvölkern wie auch seltener in Irland, China und Argentinien aufgezeichnet worden. 1 0. Aa Th /ATU 10 87. Der Ruderwettstreit (AaTh/ATU 1087: Rowing Contest) erscheint nur selten:
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Der Schwächere vermeidet den Ruderwettstreit gegen den Starken, indem er seinem Gegenspieler durch die Behauptung, er würde sonst die Riemen brechen, das Rudern alleine aufbürdet.
Dieser Erzähltyp ist nur für Finnland, Lappland und Norwegen belegt. 11. Aa Th /ATU 10 89 , 1 09 0, 10 96. Eine Gruppe von Erzähltypen schildert Arbeitsvorgänge, die entweder im landwirtschaftlichen (AaTh/ATU 1089: Threshing Contest 41; AaTh/ ATU 1090: Mowing Contest 42) oder im häuslichen (AaTh/ATU 1096: Sewing Contest43) Kontext ausgeführt werden. Der Schalk übertrumpft den Gegner auf Grund seiner Arbeitserfahrung und Geschicklichkeit (J Geschicklichkeitsprobe), oder er ist ihm durch den Besitz der besseren Geräte überlegen. Er kann allerdings auch durch Betrug oder Sabotage gewinnen. Beim Dreschwettkampf (J Dreschen; AaTh/ATU 1089) ist der Mensch mit einem hölzernen Dreschflegel ausgestattet, der Teufel hingegen mit einem metallenen. Als beide den Ertrag teilen, wählt der Teufel den größeren, jedoch wertlosen Haufen Spreu (cf. AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung). Beim Mähwettkampf (AaTh/ATU 1090) ist der listige Bursche mit einer scharfen Sense ausgestattet, während der Teufel eine stumpfe Sense (aus Blei) benutzt. Der Schalk mäht z. B. in der Mitte der Wiese, während er den U. am Rand arbeiten läßt; oder er hat zuvor in der Fläche seines Gegners eiserne Stäbe versteckt, die diesem die Arbeit erschweren. Beim Nähwettkampf (AaTh/ATU 1096) nimmt der Held (Schneider, Frau, Heiliger, Eulenspiegel) einen kurzen Faden und macht fleißig seine Stiche, während der Teufel sich einen so langen Faden einfädelt, daß er bei jedem Stich durch das Fenster hinaus- und hereinspringen muß.
Alle drei Erzähltypen sind überwiegend in Skandinavien, Deutschland und im Baltikum überliefert. Var.n von AaTh/ATU 1089 wurden darüber hinaus in Irland, Ungarn, der Ukraine, bei den Wotjaken und in Puerto Rico aufgezeichnet. Das Verbreitungsgebiet von AaTh/ATU 1090 umfaßt darüber hinaus Irland, England, Spanien und die Westind. Inseln. Für Irland ist die Kombination mit AaTh/ATU 820 A: J Teufel als Tagelöhner bezeugt44. AaTh/ATU 1096 begegnet auch im fries. Sprachgebiet und verstärkt in Süd- und Südosteuropa sowie in Indien und Mexiko. 1 2. Aa Th /ATU 10 95. Var.n, die im Rahmen einer J Zornwette (AaTh/ATU 1000,
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Wettstreit mit dem Unhold
1002) stehen45, füllen das Erzählmuster vom W. mit dem U. vor allem mit Kraftproben wie AaTh/ATU 1049, AaTh/ATU 1060⫺1063 oder AaTh/ATU 1088 aus. Verärgert durch die für ihn unvorteilhaft ausgegangene Ernteteilung46 fordert der Teufel den listigen Bauern häufig zu einem Wurfwettkampf (AaTh/ ATU 1062, 1063) heraus, den dieser manchmal noch durch einen Kratzwettkampf (AaTh/ATU 1095: Scratching Contest)47 fortsetzen will. Diese letzte Herausforderung gewinnt der Bauer dank seiner listigen Frau, die dem Bösen entweder einen Riß auf einem Tisch oder eine angebliche Wunde (Vulva) zwischen ihren Beinen (cf. AaTh/ATU 1091: cf. J Frau als unbekanntes Tier; AaTh/ATU 1133: cf. J Starkmachen)48 zeigt und mitteilt, ihr Mann, der sich gerade beim Schmied seine Fingernägel schärfen lasse, komme nach Hause zurück.
Das Motiv der Vulva als angeblicher Wunde ist bereits im Katha¯saritsa¯gara des J Somadeva (11. Jh.) belegt 49; in J Rabelais’ Geschichten von J Gargantua und Pantagruel (Quart Livre, Kap. 45⫺47) findet sich eine obszöne Variation in Kombination mit AaTh/ ATU 1030. Aus dem 17./18. Jh. liegen ⫺ ebenfalls in Verbindung mit AaTh/ATU 1030 ⫺ Belege in dt. und ndl. Schwankbüchern vor50. In den Aufzeichnungen aus Südosteuropa steht AaTh/ATU 1095 in einer Reihe mit anderen W.en aus dem Zyklus51. 1 3. Aa Th /ATU 10 70. Analog zu AaTh/ ATU 1063 findet sich die Drohung eines Schwächeren gegenüber einem Starken in AaTh/ATU 1070: Wrestling Contest: Der U. drückt den Held im Ringkampf so heftig, daß ihm die Augen hervortreten. Auf die Frage, warum er die Augen aufreiße, antwortet der Held, er prüfe, auf welches Gebirge er den U. werfen solle. Darauf flieht der U. (verspricht ein Lösegeld oder verbrüdert sich mit dem Menschen).
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haust, wegbringen. Um dies zu verhindern oder um den Sack mit Gold zurückzugewinnen, den der Held sich mit seiner Drohung erpreßt hat, fordert ihn der Teufel auf Geheiß des Oberteufels (Teufelsmutter, Teufelsgroßmutter) zu einem W. (mehreren W.en) heraus. Der angebliche Kraftmensch läßt an seiner Stelle seinen angeblichen Großvater, einen Bären, kämpfen.
AaTh/ATU 1071 erscheint meist als Episode einer Erzählung, die im Kern gewöhnlich eine Kombination von AaTh/ATU 1045, AaTh/ ATU 1071 (mit einem Bären), AaTh/ATU 1072: Race with Little Son (mit einem Hasen), AaTh/ATU 1073: J Wettklettern, -schwimmen (mit einem Eichhörnchen) und AaTh/ATU 1082: J Pferd wird getragen ist53. Am Schluß läßt der Held oft die Teufel noch Gold in einen Hut ohne Boden schütten (AaTh/ATU 1130: J Grabhügel)54. Bei den finn.-ugr. Völkern wird diese Episodenkette häufig mit AaTh/ ATU 1650: Die drei glücklichen J Brüder eingeleitet55. Gut vertreten ist AaTh/ATU 1071 in der finn. und balt. Überlieferung; auch bei den Ost- und Südslaven sowie bei mittelasiat. Turkvölkern und in Sibirien ist der Erzähltyp bekannt. 1 5. Aa Th /ATU 10 83. In AaTh/ATU 1083: Duel with Long Pole and Cudgel wird ein Duell mit ungleichen Waffen ausgetragen: Der Mensch besiegt den U. dank seines Wissens darum, daß die Größe der Waffen nicht unbedingt einen Erfolg garantiert. So ist etwa die Beweglichkeit der Kämpfenden in kleinen Räumen stark eingeschränkt. Auch wenn sie die Waffen tauschen, kann der Teufel nichts erreichen, da der Mensch zugleich vorschlägt, den Kampfplatz zu seinem Vorteil zu wechseln. Der Widersacher wird in der kleinen Stube mit dem Stock verprügelt und später im Freien mit der Stange (Heugabel) wund gestochen.
1 4. Aa Th /ATU 10 71. Auch in AaTh/ATU 1071: Wrestling Contest (with Old Grandfather) geht es um einen Ringkampf:
AaTh/ATU 1083 ist in den meisten europ. Ländern vertreten, allerdings mit relativ wenigen Aufzeichnungen. Als selbständige Erzählung ist der Erzähltyp nur vereinzelt nachgewiesen56; häufiger erscheint er in Verbindung mit AaTh/ATU 103057 oder mit anderen Streichen (etwa AaTh/ATU 1049, 1060, 1062, 1071)58. Außerhalb Europas ist bislang einzig eine Var. aus Argentinien bekannt59.
Im Anschluß an AaTh/ATU 1045 und AaTh/ATU 1650 stößt gewöhnlich der jüngste von drei Brüdern mit einem einfältigen Wasserteufel zusammen, der befürchtet, der Bursche könne den See, in dem er
1 6. Aa Th /ATU 10 83 A. Eine Sonderform des Duells bildet AaTh/ATU 1083 A: Duel with Bayonet and Pitchfork:
Die Aufzeichnungen von AaTh/ATU 1070 stammen schwerpunktmäßig aus Nord- und Osteuropa52. Außerhalb Europas ist der Schwank nur selten belegt.
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Die beiden Gegner stehen auf beiden Seiten eines Zaunes und versuchen, sich gegenseitig zu stechen. Während die zweizinkige Gabel des Teufels sich im Zaun verfängt, zersticht der menschliche Protagonist (gelegentlich eine Frau60) ihn mit dem Spieß.
Dieser Subtyp ist mit nur wenigen Texten aus dem Baltikum, Frankreich, Ungarn, Kroatien und der Ukraine dokumentiert61. 1 7. Ab sc hl uß de s Z yk lu s. Im Schlußteil vertreibt der Held seinen Widersacher oft dadurch, daß er droht, ihm seine Kinder zum Abendessen zu servieren (AaTh/ATU 125, 1149); der U. flieht, wobei er sein ganzes Geld zurückläßt. Diese List erscheint bes. häufig in der südosteurop. Überlieferung62. Gewöhnlich jedoch kulminiert die Handlung in einem Wettessen (AaTh/ATU 1088), bei dem der U. Unmengen von Essen verschlingt, während der menschliche Protagonist sein Essen unbemerkt in einen umgebundenen Sack füllt. Schließlich schlitzt der Mensch sich den Sack auf (läßt ihn vom Gegner aufschlitzen), um (angeblich) noch mehr essen zu können. Der U. tut es ihm nach, schlitzt sich tatsächlich den Bauch auf und stirbt (J Imitation: Fatale und närrische I. ). Eine Variation kann darin bestehen, daß der U. bei einem Wettlauf dazu gebracht wird, sich den Bauch zu öffnen, um schneller laufen zu können63. 1
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34 Hüllen (wie not. 19). ⫺ 35 Filipovic´ (wie not. 28) (Dorf über einem Berg); Preindlsberger-Mrazovic´ (wie not. 28) (Turm mit dem Kaiser); Eschker (wie not. 7) (Haus). ⫺ 36 Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1917, num. 33; Megas (wie not. 28). ⫺ 37 ibid. ⫺ 38 Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 81; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Helsingfors 1920, num. 9; Lagercrantz, E.: Lapp. Volksdichtung. Hels. 1961, num. 268; E˙liasov, L. E.: Burjatskie skazki 1. Ulan-Ude 1959, 325 sq.; Michajlov, G.: Mongol’skie skazki. M. 1962, 17⫺20; Alcover, M. A.: Aplec de rondalles mallorquines 16. Palma de Mallorca 1957, 5⫺46; Ilg (wie not. 31); Calvino, I.: Fiabe italiane. Turin 21959, num. 97; Parker, H.: Village Folktales of Ceylon 1. L. 1910, num. 55; Lemieux, G.: Les Vieux m’ont conte´ 3. Montre´al/P. 1974, num. 8; ibid., t. 15 (1980) num. 10; Dorson, R.: Bloodstoppers and Bearwalkers. Folk Traditions of the Upper Peninsula. Cambr., Mass. 1952, 95⫺99; Carrie`re, J. M.: Tales from the French Folk-Lore of Missouri. Evanston/Chic. 1937, num. 61; Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y [de] Nuevo Me´jico 2. Stanford [1957], num. 291 sq.; Robe, S. L.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berk./L. A./ L. 1970, num. 132; Pino Saavedra, Y.: Cuentos mapuches de Chile. Santiago de Chile 1987, num. 57; JAFL 35 (1922) 44⫺50, num. 79, 81 (puertorikan.). ⫺ 39 Jungraithmayr, H.: Märchen aus dem Tschad. MdW 1981, num. 39; Vries, J. de: Volksverhalen uit Oost-Indie¨. Zutphen 1925, 248 sq.; Fuchs, P.: Afrik. Dekamerone. Stg. 1961, 30⫺35 (zentralafrik.). ⫺ 40 Rausmaa, SK 3, num. 2, 17; Hackman (wie not. 38) num. 11, 22; Allardt, A./Perkle´n, S.: Nyländska folksagor och -sägner. Helsingfors 1896, num. 91; Makeev, L.: Kazachskie i ujgurskie skazki. Alma Ata 21952, 69⫺74 (kasach.). ⫺ 41 Wigström, E.: Ska˚nska Visor, Sagor och Sägner. Lund 1880, 43⫺45; Kerbelyte, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1978, num. 100; Wisser (wie not. 7) 58⫺61; Munka´csi (wie not. 28) num. 86; Brendle/Troxell (wie not. 10) 156; Ramı´rez de Arellano, R.: Folklore portorriquen˜o. Madrid 1928, num. 90. ⫺ 42 Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 127; Kristensen, E. T.: Fra Bindestue og Kølle. Jyske Folkeæventyr. Kop. 1897, num. 27; Kvideland, R./ Sehmsdorf, H. K.: All the World’s Reward. Seattle/ L. 1999, num. 71 (schwed.); DBF B 1, 26, 28 sq., 66, 92 sq., 145, 269 sq.; Wossidlo, R.: Aus dem Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 129 (mecklenburg.); Peukkert, W.-E.: Dt. Sagen. 1: Niederdeutschland. B. 1961, num. 307. ⫺ 43 Rausmaa, SK 3, num. 24; Säve, P. A./Gustavson, H.: Gotländske sagor 2,1. Uppsala 1955, 155; Hackman (wie not. 38) num. 207; DBF A 1, 211⫺213; Poortinga, Y.: De ring fan it ljocht. Ljouwert 1976, 330 (fries.); Peuckert, W.-E.: Hochwies. Sagen, Schwänke und Märchen. Göttingen 1959, num. 213; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 150 (Schneider); Haiding (wie not. 16) num. 96; Waltinger, M.: Niederbayer. Sagen. Straubing
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Weyer, Johannes
1927, 29 (Näherin); Depiny, A.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 202 (Schneider); Mailly, A. von: Sagen aus Friaul und den Jul. Alpen. Lpz. 1922, num. 3 (Schneider); Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num. 6 (Hl. Johannes); Zaunert, P.: Dt. Märchen aus dem Donaulande. MdW 1926, 227⫺229 (Näherin); Gaa´l, K.: Volksmärchen der Magyaren im südl. Burgenland. B. 1970, num. 57; Satke, A.: Hlucˇinsky´ poha´dka´rˇ Josef Smolka. Ostrava 1958, num. 34; Coleman (wie not. 24) 237; Wheeler, H. T.: Tales from Jalisco, Mexico. Phil. 1943, num. 180 (Schneider); Paredes, A.: Folktales of Mexico. Chic./L. 1970, num. 46; ´ Su´illeabBrendle/Troxell (wie not. 10) 154 sq. ⫺ 44 O ha´in/Christiansen. ⫺ 45 Böhm, M./Specht, F.: Lett.litau. Volksmärchen. MdW 1924, num. 1 (lett.); Viidalepp (wie not. 42); Kvideland, R.: Norske eventyr. Bergen/Oslo/Tromsø 1972, num. 43; Perbosc, A.: Contes de Gascogne. P. 1954, num. 19; Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 2. MdW 1923, num. 59; Arnaudin, F.: Contes de la Grande-Lande 1. Bordeaux 1966, num. 54; Maugard, G.: Contes des Pyre´ne´es. P. 1955, num. 23; Amades, num. 2; Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla. Buenos Aires 1946, num. 27; Bertra´n i Bros, P.: El rondallari catala`. Barcelona 1989, num. 11; Galkin, P./Kitajnik, M./Kusˇtum, N.: Russkie narodnye skazki Urala. Sverdlovsk 1959, 81⫺87; Parsons, E. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands 1. Mass./N. Y. 1923, num. 40. ⫺ 46 Schlosser, P.: Bachern-Sagen. Wien 1956, num. 76; Bockemühl, E.: Niederrhein. Sagenbuch. Moers 1930, 224 sq.; Bodens, W.: Sagen, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 374; Chase, R.: Grandfather Tales. Boston 1948, num. 9 (angloamerik.). ⫺ 47 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 3. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1990, 846; Schönwerth, F. X. von: Oberpfälz. Sagen, Legenden, Märchen und Schwänke. Kallmünz 21959, 127⫺129; Milillo, A.: Novelle popolari senesi 1. Rom 1992, num. 17. ⫺ 48 Meyer, G. F.: Plattdt. Märchen. Neumünster 1925, num. 32; Perbosc (wie not. 45) num. 38; cf. ferner BP 3, 358⫺361. ⫺ 49 Tawney, C. H.: The Ocean of Story 3. ed. N. M. Penzer. Nachdr. Delhi u. a. 1968, 32⫺35. ⫺ 50 cf. BP 3, 356; Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. MdW 1990, num. 67. ⫺ 51 Cepenkov, M. K.: Makedonski narodni prikazni 3. ed. K. Penusˇliski. Skopje 1989, num. 354; Tille, Soupis 1, 11 sq., 275 sq.; Haltrich (wie not. 25); Anthropophyteia 1 (1904) 154 sq. ⫺ 52 Rausmaa, SK 3, num. 16; Daskalova, L. u. a.: Narodna proza ot Blagoevgradski okra˘g. Blagoevgrad/Sofia 1985, num. 147; Filipovic´ (wie not. 28); ÍorIevic´, D. M.: Srpske narodne pripovetke i predanja iz Leskovacˇke oblasti. Belgrad 1988, num. 185, 186, 187; Cepenkov (wie not. 51); Leskien, A.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 47 (alban.); ; Loukatos (wie not. 26); Hahn, num. 18 (griech.); Amonov, R.: Tadzˇikskie skazki. M. 1961, 281⫺283. ⫺ 53 Hackman (wie not. 38) num. 1, 2, 5; Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 66; Capeller, C.: Litau. Märchen und
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Geschichten. B. 1924, num. 22; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, num. 67; Tille, Soupis 1, 192 sq.; Afanas’ev, num. 151; Buch, M.: Die Wotjaken. Helsingfors 1882, num. 8. ⫺ 54 Hackman (wie not. 38) num. 3⫺4; Rausmaa, SK 3, num. 20; Afanas’ev, num. 151; Buch (wie not. 53); Beke (wie not. 11) num. 11; Munka´csi (wie not. 28) num. 85. ⫺ 55 Rausmaa, SK 3, num. 19; ibid., t. 6, num. 307; Allardt/ Perkle´n (wie not. 40) num. 35; Bødker, L./Hole, C./ D’Aronco, G.: European Folktales. Kop. 1965, 26⫺ 28 (finnlandschwed.); Paasonen, H./Ravila, P.: Mordwin. Volksdichtung 3. Hels. 1941, 324⫺331. ⫺ 56 Narodna umjetnost 11⫺12 (1975) 51 (kroat.); Dzˇimbinov, B. O.: Kalmyckie skazki. Stavropol 1959, 58 sq. ⫺ 57 Narodna umjetnost (wie not. 56) 52 sq. (kroat.); ibid. 5⫺6 (1968) 358 sq., num. 24 (kroat.); Milillo ˇ endej (wie not. 28); Haltrich (wie (wie not. 47). ⫺ 58 C not. 25); Kova´cs (wie not. 25) num. 51; Daskalova u. a. (wie not. 52) num. 148; Ge´czi, L.: Ungi ne´pmese´k e´s monda´k. Bud. 1989, num. 125 sq. ⫺ 59 Chertudi, S.: Cuentos folklo´ricos de la Argentina 1. Buenos Aires 1960, num. 40. ⫺ 60 Javorskij (wie not. 24) num. 105. ⫺ 61 Ortutay (wie not. 33) 205⫺213; Ge´czi (wie not. 58) num. 115; Tegethoff (wie not. 45) num. 38. ⫺ 62 Bosˇkovic´-Stulli (wie not. 26); Dolidze (wie not. 14); Dume´zil (wie not. 26) num. 9; Dirr (wie not. 4); Levin (wie not. 6); Paasonen/Karakha (wie not. 11); Zelenin (wie not. 23); Kralina (wie not. 23); Beke (wie not. 11); Potanin, G. N.: Kazak’-kirgizskija i altajskija predanija, legendy i skazki. Petrograd 1917, num. 55; Michajlov (wie not. 38). ⫺ 63 Bodens (wie not. 46) num. 1068; Arnaudin (wie not. 45) num. 53; Ilg (wie not. 31); Toschi, P./Fabi, A.: Buonsangue romagnolo. Bologna 1960, num. 86.
Mariakerke
Harlinda Lox
Weyer, Johannes, *Grave (Provinz Brabant) 1515 oder 1516, † Tecklenburg 24. 2. 1588, ndl. Arzt, Verf. eines einflußreichen Werks gegen den Hexenglauben. W. (auch Wier[us] etc.) stammte aus einer angesehenen Familie1. Sein Vater Theodorus (Derk) war Hopfenhändler in Grave. W. wurde 1529 zur Ausbildung zu Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486⫺ 1535)2 geschickt und wohnte bis 1533 bei diesem, erst in Antwerpen, dann in Bonn. 1533 oder Anfang 1534 ging W. nach Paris, wo er sich als Student der Medizin immatrikulierte; er schloß dieses Studium vermutlich ohne Promotion ab. W. praktizierte ca 1540⫺45 als Mediziner in eigener Praxis in seinem Geburtsort, wurde 1545 städtischer Arzt in Arnheim und 1550 Leibarzt des Herzogs Wilhelm V. von Kleve, Mark, Jülich und Berg in Düsseldorf. 1583 trat er in den Ruhestand.
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Weyer, Johannes
Als Spiritualist wandte sich W. dagegen, Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugungen zu verfolgen. In Paris hatte er u. a. den aus Spanien stammenden Spiritualisten Michel Servet (hingerichtet 1553) kennengelernt. In den 1550er Jahren unterhielten W. und sein Bruder Matthias Kontakte mit David Joris (1501⫺56), einer führenden Persönlichkeit der Täuferbewegung, der sich für religiöse Toleranz einsetzte. 1563 veröffentlichte W. in Basel sein einflußreiches Plädoyer gegen den Hexenglauben, De praestigiis daemonum et incantationibus et veneficiis libri V. Bis 1583 erschienen fünf weitere, jeweils umgearbeitete Ausg.n; auch wurde das Werk zeitnah ins Deutsche und ins Französische übersetzt3. In der letzten Ausg. zählt es sechs Bücher, die der Reihe nach den J Teufel, die gelehrte J Magie, die J Hexen, die Fürsorge für die Behexten und die Besessenen sowie die Bestrafung der Magier und Schwarzkünstler behandeln. Außerdem verfaßte W. einen Sammelband mit medizinischen Studien, eine Abhdlg, in der er religiöse Intoleranz als eine Art Krankheit auffaßt, und kleinere Schriften4. 1660 wurde eine lat. Gesamtausgabe seiner Werke verlegt5. Mit seinem Hauptwerk verfolgte W. anfänglich die Absicht, die Medizin von abergläubischen Theorien und Praktiken zu reinigen6. Nach seiner Ansicht handelte es sich bei den angeblichen Hexen oft um alte oder demente Frauen. W. zufolge konnten die Übeltaten, derer man diese Frauen beschuldigte, nicht von Menschen vollbracht worden sein. Verursacher seien vielmehr Dämonen; die Frauen seien durch J Folter zum Geständnis der Untaten gezwungen worden. Verdächtige, die ohne Zwang zugaben, Hexen zu sein, betrachtet W. als Opfer der melancholia, d. h. sie litten an einem Übermaß schwarzer Galle, wodurch ihr Gehirn verstört sei. Um dem herrschenden Glauben an die Wirkung der Zauberei den Boden zu entziehen, bezog sich W. auf eine Vielzahl von Quellen. Die Bibel und das röm. Recht waren die wichtigsten, da sie Zauberei streng verboten. W. versuchte zu zeigen, daß in den betr. Passagen dieser Werke nicht von Hexen, sondern von Wahrsagern oder Giftmischern die Rede war7. Zudem zog er eine große Zahl an Geschichten aus den Werken klassischer Autoren wie J
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Homer, J Vergil, J Ovid oder J Apuleius heran. Daneben benutzte er auch jüngere Quellen. So wandte er sich gegen die Darstellung bei J Saxo Grammaticus (Buch 5), ein junger Mann (Erik) habe übernatürliches Wissen erhalten, nachdem er eine Speise gegessen hatte, die seine Stiefmutter eigentlich für ihren eigenen Sohn zubereitet hatte8. Mündl. überlieferte Erzählungen waren W.s dritte wichtige Quelle. So soll kurz vor W.s Heimkehr aus Paris Doktor J Faust in der nicht weit von W.s Geburtsort gelegenen Herrschaft Batenburg einen Pfarrer dazu gebracht haben, sich die Wangen mit einer wundersamen Salbe einreiben zu lassen, damit er sich nicht länger rasieren müsse. Der Bart war danach tatsächlich verschwunden; da es sich aber um eine stark arsenhaltige Salbe gehandelt hatte, war auch die Gesichtshaut schwer in Mitleidenschaft gezogen9. W. will diese Geschichte persönlich von dem Betroffenen gehört haben. W.s Kollege Johannes Lithodius erzählte W., wie nicht weit von Wittenberg eine verheiratete Frau nachts von ihrem Liebhaber besucht worden sei, der sich in eine Elster verwandelt habe10. W. bekämpfte das Gedankengut von Dämonologen wie dem Dominikaner Heinrich Institoris, der mit seinem J Malleus maleficarum (1487) das wichtigste Hb. der Hexenverfolgung verfaßt hatte. Er wandte sich ebenfalls gegen Neuplatoniker wie Johannes Trithemius, Marsilio Ficino, Giovanni Pico della Mirandola und Agrippa von Nettesheim. Demgegenüber hob er die Einsichten von Autoritäten wie dem Kirchenvater Augustinus und von J Johannes Chrysostomos oder von Zeitgenossen wie J Erasmus von Rotterdam positiv hervor. Wenngleich es sich bei fast allen von W. behandelten Fällen um Frauen handelte, verteidigte er auch die Reputation einiger Männer, so etwa die seines Lehrmeisters Agrippa, von dem es hieß, er habe einen J Teufelspakt geschlossen11. W.s Buch zog gleich nach dem Erscheinen heftige Kritik auf sich. So verdächtigten der Jurist Jean J Bodin12 und der Jesuit Martin J Delrio13 ihn, selbst ein Hexer zu sein. Sein Ziel der Versachlichung der Hexendebatte konnte W. nicht verwirklichen. Im Dt. Reich wie auch in anderen Teilen Europas erreichten die Hexenverfolgungen erst nach seinem Tod
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Whittington’s cat ⫺ Wickram, Georg (Jörg)
ihren Höhepunkt. Nur in den Niederlanden spielten W.s Argumente eine entscheidende Rolle bei der Abschaffung der Hexenprozesse in den 1590er Jahren. 1
Binz, C.: Johann W. Ein rhein. Arzt. Der erste Bekämpfer des Hexenwahns. (B. 21896) Nachdr. Wiesbaden 1969; id.: W., Johann. In: ADB 42 (1897) 266⫺270; Dooren, L.: Doctor Johannes Wier. Leven en werken. (Diss. Utrecht 1940) Aalten 1940; Goeters, J. F. G.: W. In: RGG 6 (31962) 1672; Biedermann, H.: Handlex. der magischen Künste von der Spätantike bis zum 19. Jh. t. 2. Graz 31986, 458⫺ 460; Daxelmüller, C.: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993, 205 sq.; Weyer, T.: W., J. In: Biogr.-bibliogr. Kirchenlex. 20. Hamm 2002, 1537⫺1544 (mit reicher Bibliogr.); Harmening, D.: Wb. des Aberglaubens. Stg. 2005, 454. ⫺ 2 Daxelmüller (wie not. 1) 244⫺247. ⫺ 3 Wier, J.: Cinq Livres de l’impostvre et tromperie des diables: des enchantements et sorcelleries. P. 1567; W., J.: De praestigis daemonum. Von Teuffelsgespenst, Zauberern und Gifftbereytern, Schwartzkünstlern, Hexen und Unholden […]. Ffm. 1586; cf. ferner W., J.: Witches, Devils, and Doctors in the Renaissance. ed. G. Mora. Binghampton, N. Y. 1991. ⫺ 4 cf. [Zedler, J. H.:] Grosses vollständiges Universallex. aller Wiss.en und Künste 56. Lpz. 1748, 512⫺514. ⫺ 5 Joannes Wieri Opera omnia. ed. M. Adam. Amst. (1659) 2 1660. ⫺ 6 Schneider, U. F.: Das Werk „De praestigiis Daemonum“ von W. und seine Auswirkungen auf die Bekämpfung des Hexenwahns. Diss. (masch.) Bonn 1951. ⫺ 7 W. (wie not. 5) 89⫺95. ⫺ 8 ibid., 206⫺208. ⫺ 9 ibid., 105 sq. ⫺ 10 ibid., 250. ⫺ 11 ibid., 110 sq. ⫺ 12 Janson, S.: Jean Bodin ⫺ Johann Fischart. De la De´monomanie des Sorciers (1580) ⫺ Vom Außgelaßnen wütigen Teuffelsheer (1581) und ihre Fallberichte. Ffm. u. a. 1980, bes. 85⫺104. ⫺ 13 Daxelmüller (wie not. 1) 193.
Amsterdam
Hans de Waardt
Whittington’s cat J Katze als unbekanntes Tier
Wickram, Georg (Jörg), *Kolmar um 1505, †Burkheim (nördl. von Breisach) vor 1562, frühneuhochdt. Erzähler und Dramatiker1. W. erlangte 1546 in Kolmar das Bürgerrecht und wurde im gleichen Jahr Ratsdiener der Stadt. Er begründete die Kolmarer J Meistersingerschule und erwarb Ende 1546 die sog. Kolmarer Liederhandschrift (heute Staatsbibl. München). Ende des Jahres 1554 oder Anfang 1555 übersiedelte er vom kathol. Kolmar ins libera-
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lere Burkheim und versah dort das Amt eines Stadtschreibers. Möglicherweise war er bereits seit 1557 schwer erkrankt, da seither keine weiteren Werke mehr erschienen. Die literar. Produktion W.s2 richtet sich, ungewöhnlich für die damalige Zeit, nicht nur an Erwachsene, sondern auch an Kinder und Jugendliche. 1531 erschien W.s Bearb. von Pamphilus Gengenbachs Die zehn Alter dieser Welt (um 1515; AaTh 173, 828/ATU 173: J Lebenszeiten des Menschen), eine erw. moralisierende Darstellung der für die jeweilige Altersstufe typischen Laster (J Tugenden und Laster), gefolgt von mehreren Spielen, in deren Mittelpunkt ein J Narr (z. B. Narrengießen, 1537/38) steht. Zu den Dramatisierungen bibl. Stoffe zählt bes. das Spiel von dem verlorenen Sohn (1540) als eine an Eltern gerichtete Warnung vor schlechter Erziehung und daraus folgendem Ungehorsam der Kinder (AaTh/ATU 974: J Heimkehr des verlorenen Sohnes). Vor allem in der J Reformationszeit bekam der Stoff in der polemischen Auseinandersetzung der Konfessionen eine bes. Aktualisierung dadurch, daß W. wie andere zeitgenössische Autoren (z. B. Burkart J Waldis, 1527) die Parabel als Rechtfertigung für die luther. Gnadenlehre (gegenüber der kathol. Werkgerechtigkeit) nutzte. Das Schauspiel Ein schönes und nützliches Spiel von dem hl. und gottesfürchtigen Tobias (1551) stellt das Beispiel eines gottesfürchtigen Menschen und vorbildlichen Almosengebers (J Tobias) in den Mittelpunkt, während das Apostelspiel (1552) exemplifiziert, „durch was grossen gefar/ angst/ trubsal/ creütz/ und leiden/ der Christlich glaub angefangen und aufferwachsen“ ist. Nur über eine Bearb. W.s greifbar ist die mhd. J Ovid-Übers. der Metamorphosen (wohl zwischen 1190 und 1210) Albrechts von Halberstadt. W.s Adaptation (Erstdruck 1545) wurde bis 1631 fünfmal aufgelegt; sie inspirierte vor allem die Meistersinger und wirkte bis ins 18. Jh. nach3. Eine ähnliche Rezeption erfuhr das 1539 erstmals aufgelegte und zwischen Ernst und Unterhaltung oszillierende Losbuch Kurzweil (später u. d. T. Das weltlich Losbuch), von dem bis Ende des 18. Jh.s mehr als zwanzig Ausg.n und Bearb.en nachweisbar sind4. Die für verheiratete wie für unverheiratete Männer und Frauen bestimmten Fragen und Antworten sind z. T. mit Hilfe bekannter
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Wickram, Georg (Jörg)
Fabeln erläutert (z. B. AaTh/ATU 277: J Frösche bitten um einen König5; AaTh/ATU 113 B: J Scheinbüßende Tiere6). W. zählt zu den Begründern der dt.sprachigen Romantradition7. Einerseits folgt W. in seinen fünf Prosaromanen traditionellen Handlungsschemata, wenn er in Ritter Galmy (1539)8 z. B. das Thema Liebe eines Ritters zu einer verheirateten Frau aufgreift, aber den damit verbundenen Ehebruch nicht verurteilt; der Ritter kann nach mancherlei Verzögerungen seine Geliebte sogar heiraten, stirbt der Ehemann doch rechtzeitig9. In Gabriotto und Reinhart (1551) endet die unstandesgemäße Verbindung zweier befreundeter Jünglinge zu einer Königs- und einer Grafentochter tragisch. Andererseits behandelt W. bis dahin kaum bearbeitete Themen wie das des Aufstiegs eines sozialen Außenseiters, verlegt das Geschehen in ein bürgerliches Milieu, bemüht sich um Erklärungen für die Motivation der Protagonisten und sieht deren Außenseitertum nicht als Bedrohung für die Gemeinschaft, sondern als Möglichkeit der Integration von Individualität innerhalb der Entwicklung der Gesellschaft (wie etwa J Fortunatus [AaTh/ATU 566])10. So gelangt der Protagonist des Erziehungsromans Der Jungen Knaben Spiegel (1554) nicht durch seine soziale Herkunft zu Amt und Würden, sondern aufgrund individuell erworbener Fähigkeiten und Leistungen sowie seines umfangreichen Wissens11. In Goldfaden (1557) steht ein tugendhafter Hirtensohn im Mittelpunkt, der dank außergewöhnlicher Begabungen die Gunst der Tochter eines Grafen erwirbt, sie heiratet und nach dem Tod des Schwiegervaters dessen Adelstitel erbt. Als Voraussetzung für ein vorbildhaftes Leben sieht W. in dem in einem kaufmännischen Milieu spielenden Roman Von guten und bösen Nachbarn (1556) die christl. Erziehung des Sohnes durch den Vater, die den Protagonisten zu einem guten Menschen macht, ohne daß damit ein sozialer Aufstieg verbunden sein muß (cf. auch den nachbarschaftlichen Dialog Wahrhaftige Historie von einem ungeratenen Sohn [1554])12. Handlung begreift W. weniger als Fiktion, sondern als beispielhafte Darstellung von Realität.
Für die Erzählforschung bedeutsam ist W.s Rollwagenbüchlein (1555). Die als Reiselektüre gedachte Schwanksammlung ist laut Widmung „von gu˚ter kurtzweil wegen an tag geben, niemants zu˚ underweysung noch leer, auch gar niemandts zu˚ schmach, hon oder spott“. Zu den zunächst 67 stilistisch an die mündl. Überlieferung angelehnten Geschichten kamen im Verlauf der Druckgeschichte (bis 1613 wenigstens 17 Aufl.n) weitere 44 Texte hinzu (1556: num. 68⫺79; 1557: num. 80⫺101; 1557⫺59: num. 102⫺110; 1565: num. 111)13. Dabei bleibt
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unklar, ob die Ergänzungen von W. oder von fremder Hand stammen14. Wie in den fast zeitgleich entstandenen Schwankbüchern von Jacob J Frey, Michael J Lindener oder Valentin J Schumann spiegeln die Texte die sozialen und religiösen Kontroversen des 16. Jh.s wider. Die Stücke, von W. als ,bossen‘, ,historien‘ oder ,schwenck‘ bezeichnet, sind ein Kunterbunt mit Schilderungen komischer Zwischenfälle aus dem W. und seinem Publikum vertrauten Lebenskreis. Die Geschichten handeln von menschlichen Schwächen und Torheiten und betreffen alle sozialen Gruppen. Handlungs- bzw. Situationskomik ist unter Verwendung von J Mißverständnissen aller Art stilbildend, öfter finden sich J Wörtlichnehmen (z. B. num. 1, 13, 41, 51) oder J Sprachmißverständnisse (num. 65). Tragische Geschichten (z. B. Mordgeschichten wie num. 55, 72, 74) sind selten. Der Spott richtet sich z. B. gegen übermäßigen Genuß alkoholischer Getränke (num. 64, 96), zielt auf Bauern und Bäuerinnen (num. 1, 6, 10, 22, 28, 37, 39, 50, 58, 60, 62, 66, 68, 81, 93, 95, 98, 102), Adlige (num. 18, 33, 50, 54, 73, 82) und vor allem auf Vertreter des (kathol.) geistlichen Standes (num. 3, 13, 20, 21, 26, 34, 38, 41, 46, 47, 51, 56, 63, 67, 79, 94); allerdings urteilt W. nicht pauschal, sondern läßt auch Raum für positive Darstellungen, z. B. pfiffige Bauern (num. 9, 13, 35, 36, 38). Mehrfach sind Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern thematisiert (num. 4, 16, 17, 25, 44, 45, 84, 87, 91). Ethnische Stereotypen beziehen sich auf Juden (num. 48, 83) oder Deutsche (num. 101). W.s Weltbild ist nicht pessimistisch, sondern zweckorientiert und darauf gerichtet, sich mit den Zuständen abzufinden und das Beste daraus zu machen. Soziale Kritik ist eher selten (num. 24). Während die Kurzprosa des 16. Jh.s wie etwa die Fazetie auf eine überraschende Pointe zusteuert, sind die durchweg längeren Texte des Rollwagenbüchleins durch eine stärkere erzählerische Ausgestaltung charakterisiert. Es entsteht gewissermaßen ein epischer Schluß15, der W. Gelegenheit zu einem persönlichen, öfter moralisierenden Kommentar läßt. Lokalisierungen (bes. num. 1⫺67) beziehen sich zumeist auf Süddeutschland, die Schweiz und Italien, sind aber vermutlich fiktiv. Schauplatz des Geschehens sind öfter Barbierstube
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Wickram, Georg (Jörg)
(num. 18, 64⫺66) oder Wirtshaus (z. B. 12, 52, 53, 57, 81, 86, 96). W.s Stücke begegnen nach den eingehenden Unters.en J. J Boltes vielfach schon in Mären und Exempla des Spätmittelalters, doch stützt sich W. auch auf zeitgenössische Qu.n wie Hans J Sachs (num. 57, 58, 60). Direkte Vorlagen lassen sich jedoch kaum nachweisen; als einzige Quelle erwähnt W. für das 2. Stück die Colloquia des J Erasmus von Rotterdam. Verschiedene der in den Texten genannten Personen scheint W. gekannt zu haben (cf. num. 55, 82, 89, 100)16. W.s Rollwagenbüchlein fand im 16./17. Jh. zahlreiche Nachahmer17. Einzelne Stücke wurden trotz einer z. T. abschätzigen Beurteilung (zotenhaft, für die Jugend ungeeignet) in andere Schwankbücher integriert, z. B. in erw. Ausg.n von Johannes J Paulis Schimpf und Ernst oder in Bernhard Hertzogs Schiltwacht (ca 1600). Übers.en einzelner Stücke ins Lateinische (Johannes J Hulsbusch), Niederdeutsche, Niederländische, Französische und Polnische sorgten für weitere Verbreitung in der Schwank- und Unterhaltungsliteratur bis ins 18. Jh. Im 19. Jh. kam es zu einzelnen Übernahmen z. B. durch L. J Aurbacher und die Brüder J Grimm (KHM 22 I [1812], 35 [1840], 170 [1840])18. Typ en - u nd Mo ti vv er z. (Aus w. ) 19: num. 2 ⫽ AaTh 1553 A*/ATU 778: cf. J Geloben der großen Kerze. ⫺ 3 ⫽ AaTh/ATU 1836: The Drunken Parson. ⫺ 4 ⫽ AaTh/ATU 1362 A*: J Dreimonatskind. ⫺ 13 ⫽ AaTh/ATU 1833: The Clergyman’s Rhetorical Question Misunderstood. ⫺ 20 ⫽ Mönch soll junger Frau Dorn aus dem Fuß ziehen; beschläft sie mit eigenem ,Dorn‘. ⫺ 35 ⫽ AaTh/ATU 1534 D*: Sham Dumb Man Wins Suit. ⫺ 36 ⫽ AaTh/ATU 1585: J Pathelin. ⫺ 37 ⫽ AaTh/ATU 778*: cf. J Kerzen für den Heiligen und den Teufel ⫹ AaTh/ATU 1645 B: Der gesiegelte J Schatz. ⫺ 38 ⫽ AaTh/ATU 1833. ⫺ 39 ⫽ AaTh/ATU 1832 N*: J Hammel Gottes. ⫺ 41 ⫽ Fuhrmann soll Geistlichen mit 200 Herrgott (Hostien) fahren: Last zu groß. ⫺ 42 ⫽ Übernachtung im Beinhaus: Aufschneider entpuppt sich als furchtsam. ⫺ 45 ⫽ AaTh/ATU 1423: Der verzauberte J Birnbaum. ⫺ 47 ⫽ AaTh/ATU 1848 A: J Kalender des Pfarrers. ⫺ 51 ⫽ AaTh/ATU 1833. ⫺ 52 ⫽ Säufer pinkelt in den Hut und setzt ihn dem Nachbarn auf. ⫺ 53 ⫽ Zechpreller bezahlt Wirt mit einem Lied. ⫺ 55 ⫽ Ehestreit führt zu Mord und Selbstmord. ⫺ 56 ⫽ AaTh/ATU 1791: cf. J Küster. ⫺ 62 ⫽ AaTh/ATU 1775: cf. Der hungrige J Pfarrer. ⫺ 63 ⫽ AaTh/ATU 1834: J Pfarrer mit der feinen Stimme. ⫺ 64 ⫽ Trunkenem Bauern wird der
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Kiefer aus- und wieder eingerenkt. ⫺ 72 ⫽ AaTh/ ATU 839: Die drei J Sünden des Eremiten. ⫺ 74 ⫽ AaTh 2401/ATU 1343*: J Kinder spielen Schweineschlachten. ⫺ 79 ⫽ AaTh/ATU 1424: J Nasenmacher. ⫺ 80 ⫽ Betrüger schwärzt neue Handschuhe, Eigentümer erkennt sie nicht mehr. ⫺ 83 ⫽ Juden wollen Mönch vergiften und werden betrogen. ⫺ 85 ⫽ Magd verrichtet ihre Notdurft in Honigtopf. ⫺ 91 ⫽ AaTh/ATU 1409 B: cf. Der gehorsame J Ehemann. ⫺ 94 ⫽ Mönch nennt Hure unter seinem Mantel seinen Sattel. ⫺ 99 ⫽ AaTh/ATU 1337 C: cf. Die lange J Nacht. ⫺ 100 ⫽ Falscher Hochzeitsgast verschafft sich gute Mahlzeit. ⫺ 101 ⫽ Maler malt auf Trachtenbild den Deutschen nackt. ⫺ 102 ⫽ Bäuerin furzt beim Dornausziehen. ⫺ 103 ⫽ AaTh/ ATU 1785 A: J Wurst in der Tasche des Pastors. ⫺ 104 ⫽ Trommler verjagt Wölfe. ⫺ 105 ⫽ J Claus Narr im Sack: verrät sich selbst. ⫺ 106 ⫽ AaTh/ ATU 1430: cf. J Luftschlösser. ⫺ 107 ⫽ AaTh/ATU 1540: J Student aus dem Paradies (Paris). ⫺ 110 ⫽ AaTh/ATU 800: J Schneider im Himmel. ⫺ 111 ⫽ AaTh/ATU 1358 B: cf. J Ehebruch belauscht. 1 Kleinschmidt, E.: J. W. In: Füssel, S. (ed.): Dt. Dichter der frühen Neuzeit (1450⫺1600). B. 1993, 494⫺511. ⫺ 2 W., G.: Werke 1⫺8 ed. J. Bolte. Tübingen 1901/01/03/03/03/05/05/06; W., G.: Sämtliche Werke 1⫺13,2. ed. H.-G. Roloff. B./N. Y. 1967/67/ 68/69/68/72/73/72/2003/1997/71/68/90/90. ⫺ 3 Verflex. 1 (21978) 187⫺191. ⫺ 4 HDA 5 (1932⫺33) 1397 sq. ⫺ 5 W. (wie not. 2) t. 4 (1903) 92. ⫺ 6 ibid., 77⫺79. ⫺ 7 Spriewald, I.: J. W. und die Anfänge der realistischen Prosaerzählung in Deutschland. Diss. (masch.) Potsdam 1971; Masser, A.: Georg W. und der Beginn des bürgerlichen Romans. In: Thurnher, E. (ed.): Das Elsaß und Tirol an der Wende vom MA. zur Neuzeit. Innsbruck 1994, 63⫺73; Wa˚ghäll, E.: Dargestellte Welt ⫺ reale Welt. Freundschaft, Liebe und Familie in den Prosawerken Georg W. s. Bern/B./Ffm. 1996. ⫺ 8 Die Autorschaft W.s ist neuerdings umstritten, cf. Kartschocke, D.: Ritter Galmy uß Schottenland und J. W. aus Colmar. In: Daphnis 31 (2002) 469⫺489. ⫺ 9 cf. Winst, S.: „Weibischer“ Liebeskranker und siegreicher Ritter. In: Klinger, J./Thiemann, S. (edd.): Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Postdam 2006, 195⫺213. ⫺ 10 Röcke, W.: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des dt. Schwankromans im SpätMA. Mü. 1987, 278 sq.; cf. auch Müller, M./Mecklenburg, M. (edd.): Vergessene Texte, verstellte Blicke. Neue Perspektiven der W.Forschung. Ffm. 2007. ⫺ 11 Christ, H.: Literar. Text und hist. Realität. Versuch einer hist.-materialistischen Analyse von J. W.s Knabenspiegel und Nachbarn-Roman. Düsseldorf 1974; Brüggemann, T./Brunken, O. (edd.): Hb. zur Kinder- und Jugendlit. Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570. Stg. 1987, 1226⫺1236. ⫺ 12 ibid., 841⫺ 874. ⫺ 13 Zählung nach Wickram/Bolte. ⫺ 14 ibid., VI sq. ⫺ 15 Kartschoke, D.: Vom erzeugten zum erzählten Lachen. Die Auflösung der Pointenstruktur
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Widerspenstigkeit ⫺ Wiederbelebung
in J. W.s ,Rollwagenbüchlein‘. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jh.s. ed. W. Haug/B. Wachinger. Tübingen 1993, 71⫺105. ⫺ 16 cf. Wickram/ Bolte, IX⫺XI. ⫺ 17 cf. ibid., XII⫺XVIII. ⫺ 18 Aurbacher, L.: Ein Volksbüchlein 2. ed. J. Sarreiter. Lpz. [um 1879], 216. ⫺ 19 Die Numerierung folgt der Ausg. W./Bolte; eine vollständige Klassifikation des „Rollwagenbüchleins“ befindet sich im EM-Archiv, Göttingen.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Widerspenstigkeit J Ehefrau: Die widerspenstige E., J Zähmung der Widerspenstigen
Wiederbelebung 1. Allgemeines ⫺ 2. Glaubensgeschichtliche Kontexte ⫺ 3. W. in Volkserzählungen
1 . All ge me in es. Vorstellungen über eine W., i.e. die Überwindung des biologischen J Todes, zeugen vom menschlichen Bewußtsein der Unausweichlichkeit des J Sterbens wie vom Wunsch nach Verlängerung des irdischen Lebens und letztlich nach physischer J Unsterblichkeit. Sie bringen zugleich die Nichtakzeptanz von Sterben und Tod zum Ausdruck. Neben dem Wunschdenken, wie es sich in religiöser und fiktionaler Lit. widerspiegelt, stehen die realen Bemühungen um Lebensverlängerung1. Seit der Aufklärung wurden medizinische W.sversuche systematisch ⫺ auch durch europaweite Gründungen von Lebensrettungsgesellschaften ⫺ betrieben2. Sie führten zur Herz-Lungen-W., der Behebung von Atemund Kreislaufversagen, verkürzt W. oder Reanimation genannt. Die Fortschritte in der modernen Notfall- und Intensivmedizin vergrößern die ethische, juristische, psychische und kulturspezifische Problematik, die mit der Reanimation verbunden ist3. Kritiker der nicht zuletzt durch die Transplantationsmedizin bewirkten Anerkennung des Hirntods als Todeskriterium fassen ein irreversibles Koma, wenn keine W. mehr möglich ist, als Teil des Sterbeprozesses auf 4. Metaphorisch wird der Begriff W. auch auf nichtbiologische Bereiche angewendet: Analog zum Terminus J Renaissance und seiner über den Epochenbegriff hinausgehenden Nutzung spricht man von W. der Wirtschaft oder der
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Olympischen Spiele, vom Revival einer Sprache oder anderer kultureller Phänomene, darunter der W. von Folkloreerscheinungen (cf. J Märchenpflege), die zur Konservierung und Kanonisierung vergangener Traditionen im kollektiven Gedächtnis beitragen und z. B. zur Stärkung der ethnischen Identität dienen kann (cf. J Folklorismus; J Politik, Politisierung)5. Revitalisierungen gelten auch individuellen Vergangenheiten mit Hilfe von J Familiengeschichten, -fotos und -filmen. Die ubiquitären Vorstellungen über die W. von Menschen und Tieren (Mot. E 0 ⫺ E 186.1: Resuscitation)6 sind abzugrenzen von Konzeptionen nachtodlicher Existenz (J Jenseits, J Jenseitsvisionen, J Seele) einschließlich des Weiterlebens in neuen körperlichen Formen (J Seelenwanderung, J Wiedergeburt, Reinkarnation). Zum narrativen Umfeld gehören Motivkomplexe wie Belebung und Beseelung (J Golem, J Puppe, J Pygmalion), J Verjüngung und Krankenheilung (J Heilen, Heiler, Heilmittel), J Rettung vom J Scheintod, J Erlösung aus J Versteinerung und aus durch J Fluch oder J Verwünschung reduzierten Daseinsformen der Protagonisten (J Verwandlung, J Tierverwandlung)7. 2 . G la ub en sg es ch ic ht li ch e Kon te xt e. Die ältesten Textzeugnisse für das Motiv der W. stammen aus dem sumer., babylon. und ägypt. Erzählgut. Sie basieren auf unterschiedlichen Jenseitskonzeptionen: Im sumer./babylon. Mythos Inanas Gang zur Unterwelt (Ende 3. Jahrtausend/7. Jh. a. Chr. n.) gibt Inana/Isˇtar vor ihrem Gang in das Reich der J Toten Instruktionen zu ihrer eventuell notwendigen Rettung. Sie wird in dieser trostlos gezeichneten J Unterwelt zum Tode verurteilt, als Leiche an einen Haken gehängt, dank ihres Rettungsplans mit Hilfe des Gottes Enki durch J Lebenskraut und J Lebenswasser wiederbelebt und aus der Unterwelt entlassen8. Im altägypt. Osirismythos hingegen ist die W. des ermordeten und zerstückelten Osiris als eine ,Todesheilung‘, eine Zubereitung des Leichnams für eine den Lebenden analoge Existenz im Jenseits zu verstehen, die seine Schwester/Gattin Isis durch Sammeln und Zusammenfügen der verstreuten Leichenteile sowie Rezitation zauberkräftiger Sprüche gemäß ägypt. Einbalsamierungsriten vornimmt9. An die Wiedereinverleibung des Herzens im ägypt. Mumifizierungsritual durch den Gott Anubis10 erinnert im altägypt. J Brüdermärchen die W. Batas durch seinen Bruder Anubis, der ihn sein durch Wasser erfrischtes Herz trinken läßt11.
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Wiederbelebung
In den Mythen verschiedenster Kulturen findet sich der Versuch, einen Toten ohne spezielle W.sprozeduren, jedoch unter bestimmten Bedingungen aus der Unterwelt ins Leben zurückzuholen (Mot. F 81.1): Der griech. Mythologie zufolge gelingt dies J Herakles (J Theseus); erfolglos ist J Orpheus, der Eurydike nicht aus der Unterwelt zurückbringen kann; in der Snorra J Edda (Kap. 3.2) mißlingt Hermo´Îr die Rückholung des Baldr. In Epen aus dem Einflußbereich des J Schamanismus kann das Zurückholen der Seele des Verstorbenen aus dem Totenreich Teil des W.sverfahrens sein12. Als exemplarisches Zeugnis für das weitverbreitete Motiv der W. von Menschen und Tieren aus J Knochen gilt der griech. Mythos vom zerstückelten, gekochten, zum Mahl vorgesetzten und aus den zusammengelegten Knochen wiederbelebten J Pelops, dessen fehlendes Schulterstück durch Elfenbein ersetzt wird (J Kleiner Fehler, kleiner Verlust). Dieser Motivkomplex wird auf den Schamanismus zurückgeführt, auf mit der J Initiation verbundene Visionen der J Zerstückelung des Schamanen, dessen Fleisch im Kessel gekocht wird und der durch Zusammenfügen der Knochen wiederersteht13. Bes. turko-mongol. Heldenepen zeigen schamanistische Handlungsmuster: So ist für die W. durch überirdische Helferinnen das vollständige Zusammenfügen des Skeletts des Toten unabdingbar; es folgt meist dreimaliges Überschreiten des Leichnams (symbolische Wiedergeburt) und Besprengen mit Lebenswasser14 (cf. auch J Geser Khan15). Eine W. von Tieren, die zum Verzehr getötet wurden, aus deren Knochen (J Thor, J Loki) soll auf J jägerzeitliche Tierversöhnungsriten zurückgehen16. Georg. Überlieferungen zufolge werden Tiere von Jagdgottheiten (J Herr der Tiere) getötet, verspeist und wiederbelebt, und nur diese können von Jägern erlegt werden17. In christl. Vorstellungen sind W.en J Wunder Gottes bzw. der Heiligen und bedürfen als W.smittel mit wenigen Ausnahmen (Ritual18, J Petri Hirtenstab19) allein des J Gebets, z. T. mit Anrede des Toten. ,Totenerweckungen‘ ⫺ im A. T. durch J Elias (1. Kön. 17,17⫺24) und Elisa ( 2. Kön. 4,29⫺35); im N. T. durch Jesus J Christus (Mk. 5,35⫺43; J Lazarus von Bethanien), Petrus (Apg. 9,36⫺42) und J
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Paulus (Apg. 20,10) ⫺ erscheinen verstärkt seit dem 4. Jh. in apokryphen Evangelien, in Legenden und Exempelsammlungen20; sie wurden noch in der Konfessionspolemik der Gegenreformation genutzt21. Eine W. von Menschen erfolgt z. B. mit missionarischer Intention, wenn der Magier J Simon bei der W. scheitert, wohingegen sie Petrus gelingt22, sie kann auch ,menschliche Hilfe‘ für eine um ihr totes Kind trauernde Mutter sein23 oder einen Mord rückgängig machen24. Auffallend häufig erscheint die nur temporäre W. von Toten, um einerseits ohne J Sakramente Verstorbene vor ewiger Verdammnis zu retten, ihnen noch J Taufe, J Beichte, J Buße (Kap. 4. 2.3.2), letzte Ölung oder die Erfüllung eines Gelübdes zu ermöglichen25, und andererseits, um bei Rechtsstreitigkeiten irdische Gerechtigkeit durch Wiederbelebte als Zeugen zu erreichen26. Allerdings kann das jenseitige dem irdischen Leben vorgezogen werden: So lehnt ein wiederbelebter Priester ein erneutes Erdenleben ab27. Die W. gekochter und verspeister Tiere aus Knochen28 geschieht zur Belohnung für Gastfreundschaft (AaTh/ATU 750 B: cf. Die drei J Wünsche), das Lebendigwerden und Auffliegen gebratener Hühner etc. als Hilfe zur Einhaltung des Fastengebots29, als Strafe für Feiertagsfrevel (J Frevel)30 oder bes. in Form des paradoxen Wahrheits- und Unschuldserweises zur Demonstration göttlicher Macht (ATU 960 C: cf. J Bratenwunder).
Vorstellungen von in schwer zugänglicher Ferne, in irdischen Paradiesen befindlichem Lebenskraut, -wasser etc. (cf. J Topographie, fiktive; J Alexander d. Gr., J Chadir) stellen Transformationen verschiedener J Schöpfungsmythen vom J Lebensbaum (J Weltenbaum) und seinen Früchten oder von der Urquelle dar, deren J Wasser ewiges Leben verleiht31. Sie boten zusammen mit dem Glauben an Knochen als Sitz der Seele bzw. des Lebens in unterschiedlichen Kulturschichten einen Motivfundus für Methoden und Mittel zur W., die z. T. mit Verjüngungs- und Heilverfahren korrelieren32. 3 . W. i n Vol ks er zä hl un ge n. In Märchen sind Wiederbelebte fast ausschließlich zuvor gewaltsam zu Tode gekommene Menschen (J Mord), deren W. in der Märchenwirklichkeit mit anderen in der Realität nicht möglichen Vorgängen vergleichbar ist (J Eindimensionalität). Der moralisch indifferenten, auf das Glück der Protagonisten bedachten Gattung gemäß ist bes. der Abenteuertod männlicher Helden reversibel. Strukturell sind Tötung und
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Wiederbelebung
W. des Helden nicht handlungsinitiierend, sondern ereignen sich im Laufe und/oder am Schluß der Handlung und präsentieren den Helden in einer außerordentlichen Situation der Hilfsbedürftigkeit (J Extreme). Dieser Motivkomplex ist Teil bestimmter Erzähltypen mit den entsprechenden Widersachern und Helfern (AaTh/ATU 303, 550, 315, 590, 302 C*, 318, 612): z. B. wird der vom Usurpator ermordete J Drachentöter (AaTh/ATU 300) durch seine Begleittiere oder der vom Unhold Zerstückelte durch die J Tierschwäger (AaTh/ ATU 552) wiederbelebt. Seltener kommt eine W. durch die Protagonisten selbst vor, wie die W. der beiden Schwestern durch die kluge Jüngste in AaTh/ATU 312: cf. J Mädchenmörder, die W. der Frau durch den Ehemann als Ausgangssituation in AaTh/ATU 612: Die drei J Schlangenblätter oder die W. der Prinzessin in AaTh/ATU 653 A: The Rarest Thing in the World (cf. auch AaTh/ATU 653 B)33 durch die um sie werbenden Männer. Manchmal erscheint eine W. als eine unter anderen Aktivitäten des Helden (AaTh/ATU 312 D: J Erbsensohn). Vollständiges Glück der Protagonisten bewirkt die W. ihrer Kinder in Fassungen von AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes, AaTh/ATU 516 C: J Amicus und Amelius, AaTh 706A/ATU 706: J Mädchen ohne Hände und AaTh/ATU 706 C: The Father Who Wanted to Marry His Daughter. Als lebenserneuernde Substanzen im Märchen erscheinen Lebenskraut und -wasser auch in Gestalt von Kräutern, Blättern, Früchten, J Salbe, Öl, Lebenselexier oder Zauberwasser; nur singulär spielt J Blut eine Rolle34. Die Anwendung dieser materiellen und oft in Fassungen ein und desselben Erzähltyps variierenden W.smittel35 ist nicht an eine bes. Kompetenz oder moralische Qualifikation gebunden: Wer sie besitzt, kann sie erfolgreich anwenden; allerdings verfügen Gegner des Helden nur selten darüber (cf. Var.n zu AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter). Bei Giftmorden genügt zur W. das Entfernen des vergifteten Gegenstands (AaTh/ATU 315: Die treulose J Schwester, AaTh/ATU 709: J Schneewittchen). Wurden die Getöteten zerstückelt und unwissentlich verspeist (Var.n zu AaTh/ATU 720: J Totenvogel; cf. AaTh/ATU 780: J Singender Knochen), werden fehlende Knochen (Glieder) ge-
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sucht36; nur singulär wird Fehlendes ersetzt37, oder es bleibt ein kleiner Fehler zurück38. Die im Besitz von Jenseitigen39 oder in weit entfernten Gegenden40 befindlichen W.smittel hat der Held zuvor im Rahmen einer schwierigen J Aufgabe selbst geholt (AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter, AaTh/ATU 590), meist jedoch werden sie von Tierschwägern, Begleittieren oder dazu gezwungenen J Raben (Krähen) beschafft, oder das W.smittel wird durch Beobachtung von Tieren (bes. J Schlangen) erkannt (AaTh/ATU 612)41. Regional- oder typenbedingt variiert die Schilderung des W.sverfahrens: Es kann mit der Erprobung der W.smittel durch Tierversuche beginnen42. Das eigentliche Verfahren ist oft ein mehrphasiger Prozeß: Durch das Wasser des Todes wachsen die Glieder zusammen, das Wasser des Lebens erweckt den Toten zum Leben43; Wasser des Lebens macht lebendig, J Äpfel des Lebens geben die Sehkraft zurück44; Besprengen der Körperteile mit Unsterblichkeitswasser und J Löwenmilch macht lebendig, Gießen von Wasser des Lebens in den Mund und Anhauchen durch den Vogel Pitiris geben die Seele zurück45; durch Löwenmilch fügt sich der Körper zusammen, durch die an die Nase gehaltene Melone des Lebens muß der Tote niesen und wird durch Lebenswasser lebendig46. Unterläuft Tieren (Löwe, Bär) bei der W. der Fehler, den Kopf verkehrt herum aufzusetzen, so wird dieser wieder abgerissen und mit dem Gesicht nach vorn angeheilt47. Vom Märchenüblichen abweichend läßt der verkehrt herum angesetzte Kopf den Helden in Var.n zu AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen das Erlebnis des eigenen Todes erfahren48. In fern- und nahöstl. Dilemmamärchen, in denen eine Frau bei der W. ihres Mannes und ihres Schwagers aus Versehen die J Köpfe vertauscht (AaTh/ATU 1169), führt der Fehler zu der Frage, wer nun ihr Ehemann sei49. Mit Var.n von AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und Ferdinand der ungetreue ist die sog. Trugheilung, eine W. mit dem Motiv der fatalen J Imitation, verbunden, wenn die Prinzessin ihren heldenhaften Entführer jünger und schöner als zuvor wiederbelebt, doch den alten, die Prozedur nachahmenden König sterben läßt. Der W.sprozeß endet häufig mit dem formelhaften Ausspruch des Wiederbelebten: ,Ach, wie lange habe ich geschlafen‘, oft mit der Antwort des Helfers: ,Du hättest ewig geschlafen, wenn ich nicht gewesen wär‘ (J Schlaf)50.
Das Motiv der Zerstückelung und W. im Märchen sah V. J Propp als Widerspiegelung von Initiationsriten; L. J Röhrich betonte den Wandel eines ursprünglich mythisch-religiöser Wirklichkeit verhafteten Vorstellungskomplexes zu einem festen Erzählmotiv (J Archaische Züge im Märchen)51. Psychol. Interpreta-
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Wiederbelebung
tionen verstehen Tod und W. im Märchen als Eintritt in eine neue Lebensphase, als Symbol für einen inneren Wandel der Protagonisten. So ist der reversible Tod W. J Scherf zufolge ein Durchgang zu menschlicher J Reifung, der Ablösungskonflikte und Selbstfindungsprozesse beinhaltet52. In Legendenmärchen und -schwänken (J Erdenwanderung der Götter, J Petrusschwänke) wird ungeachtet ihrer z. T. unterhaltsamen Komik das Phänomen W. als Wunder Gottes prinzipiell nicht in Frage gestellt. Dabei geht es vor allem um mißlungene oder fehlerhafte W.en. So setzt Petrus einem Enthaupteten den Kopf verkehrt herum auf (AaTh/ATU 774 A: cf. Köpfe vertauscht) oder fügt die Köpfe der beiden von ihm selbst aus Versehen Getöteten dem jeweils nicht dazugehörigen Körper an (AaTh/ATU 1169). In Fällen der fatalen Imitation, in denen Unbefugte bei der Nachahmung einer W. scheitern (cf. J Medea), beleben Christus oder Petrus die Opfer wieder, so in Var.n von AaTh/ATU 753: J Christus und der Schmied und im Legendenschwank vom J Lammherz (AaTh/ATU 785 ⫹ AaTh/ATU 753 A: Unsuccessful Resuscitation ⫹ AaTh 330 B/ ATU 330: J Schmied und Teufel u. a.). Die sich hier durch die Verdoppelung des W.smotivs ergebenden parodistischen Züge53 werden in den Episodenschwänken AaTh/ATU 1535: J Unibos, AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit und AaTh/ATU 1542: J Peik vollends zur Parodie des W.sgedanken, wenn es nur noch um die von einem Betrüger provozierte, tödlich ausgehende Nachahmung einer vorgetäuschten W. geht, wobei der Glaube an angebliche W.smittel (Zauberstab, Flöte, Gitarre54) zum Desaster führt. In Sagen sind W.en als zauberische Praxis negativ konnotiert55. Von den ruhelosen Toten der J Wilden Jagd wird erzählt, daß sie Tiere schlachten, braten, verspeisen und aus den Knochen wiederbeleben56. Hexen wird dieses Verfahren einschließlich des wissentlichen Verzehrs als an Menschen ausgeübte Praxis (J Kannibalismus) zugeschrieben57. Vor dem Frevel gegen die Totenruhe warnt AaTh/ATU 365: J Lenore mit der erzwungenen temporären W. des toten Bräutigams, der Züge eines J Wiedergängers trägt. Während aus einem archaisch anmutenden Glauben heraus noch im 20. Jh. Menschen
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überzeugt waren, sie könnten ihre z. T. wochenlang unbeerdigten Toten durch intensives Beten wiederbeleben58, so entstehen bei ungebrochenem Vertrauen in den medizinischen Fortschritt auch Ängste, die sich in Gerüchten über angeblich unterlassene W.sversuche niederschlagen: Patienten seien nicht reanimiert worden, da man ihre Organe zur Lebensrettung anderer benötigt hätte59. 1 Grumann, G. J.: A History of Ideas about the Prolongation of Life. The Evolution of Prolongevity Hypotheses to 1800. Phil. 1966. ⫺ 2 BlumenthalBarby, K./Hahn, S.: Tod, Scheintod und W. Eine medizinhist. Betrachtung. In: Hahn, S. (ed.): „Und der Tod wird nicht mehr sein …“ Medizin- und kulturhist., ethische, juristische und psychol. Aspekte der W. Darmstadt 1997, 33⫺46, bes. 34 sq. ⫺ 3 Stroh, W.: Sterben zwischen Angst und Hoffnung. Ethische Aspekte der W. ibid., 49⫺59; Breitsprecher, H.: Probleme der Reanimation aus medizin-ethischer Sicht. ibid., 77⫺80; Fuchs, T.: Außerkörperliche Erfahrungen von Wiederbelebten. ibid., 117⫺ 130. ⫺ 4 Jörns, K.-P.: Organverpflanzung. In: TRE 25 (1995) 377⫺390; Schneider, W.: „So tot wie nötig ⫺ so lebendig wie möglich!“ Sterben und Tod in der fortgeschrittenen Moderne. Münster 1999; Lindemann, G.: Beunruhigende Sicherheiten. Zur Genese des Hirntodkonzepts. Konstanz 2003. ⫺ 5 Decker, W.: Die W. der Olympischen Spiele. Mainz 2008; McIntyre, W. J. M.: The Revival of Scottish Gaelic through Education. Amherst, N. Y. 2009; Meyer, F. u. a.: Die Samen zwischen Folklorisierung und ethnischer W. In: Ethnische Minderheiten in Westeuropa. ed. M. Heinz. Bonn 1996, 153⫺176. ⫺ 6 StandDict. 2, 933 (nord- und südamerik. Indianer); Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Bloom./L. 1966, 363 (Mot. E: Resuscitation); Schmidt 1, Reg. s. v. W. (südafrik.). ⫺ 7 Köhler-Zülch, I.: Aspekte der W. in Volkserzählungen. In: Hahn (wie not. 2) 19⫺29. ⫺ 8 Sladek, W. R.: Inanna’s Descent to the Nether World. Diss. Baltimore 1974, 18, 21⫺ 23, 155⫺175. ⫺ 9 Assmann, J.: Tod und Jenseits im alten Ägypten. Mü. 2003, bes. 29⫺34, 44⫺46, 188⫺ 193; Brunner-Traut, E.: Altägypt. Märchen. MdW 1989, num. 12 (nach Plutarch, De Iside et Osiride, Kap. 12⫺20). ⫺ 10 Assmann (wie not. 9) 139 sq. ⫺ 11 Brunner-Traut (wie not. 9) num. 5. ⫺ 12 Bäcker, ˇ inihua Hato“ ⫺ SchamanenJ.: „Do Mergen und C Heldinnen und Unterweltsreise bei den Daghuren. In: Fragen der mongol. Heldendichtung 3. ed. W. Heissig. Wiesbaden 1985, 237⫺272. ⫺ 13 EM 11, 1203, 1211, 1214. ⫺ 14 Heissig, W.: Wiederbeleben und Heilen als Motiv im mongol. Epos. In: Fragen der mongol. Heldendichtung 1. ed. id. Wiesbaden 1981, 79⫺100, 94 (Tab. zur Häufigkeit der W.sverfahren); id.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1⫺2. Wiesbaden 1988, Reg. s. v. W. ⫺ 15 Heissig 1981 (wie not. 14) 90⫺93. ⫺ 16 ibid., 95. ⫺
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Wiederbelebung eines Tieres ⫺ Wiedererkennen
Der Sieg von Bachtrioni. Sagen aus Georgien. ed. H. Fähnrich. Lpz./Weimar 1984, 21, 302; EM 9, 681. ⫺ 18 cf. TRE 36 (2006) 385. ⫺ 19 Günter 1949, 240 sq. ⫺ 20 Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 82⫺85; Hebenstreit-Wilfert, H.: Wunder und Legende. Diss. Tübingen 1975, 151⫺156; Günter 1949, Reg. s. v. Tote, W. ⫺ 21 z. B. Hofmann, L.: Exempelkatalog zu Martin Pruggers Beispielkatechismus von 1724. Würzburg 1987, 18, num. 24 sq. ⫺ 22 EM 10, 804; cf. Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1113. ⫺ 23 Hebenstreit-Wilfert (wie not. 20) 151, 154; Günter 1949, 298. ⫺ 24 ibid., 300 sq.; Frenzel, Stoffe, 102. ⫺ 25 Günter 1949, 301 sq.; z. B. Tubach, num. 1188. ⫺ 26 Günter 1949, 65 sq. ⫺ 27 ibid., 299. ⫺ 28 Tubach, num. 2533; Legenda aurea/Benz, 520 sq.; Frenken, G.: Wunder und Taten der Heiligen. Mü. 1925, 110 sq., 118, 221 sq. ⫺ 29 ibid., 147 sq., 227. ⫺ 30 Günter 1949, 279 sq. ⫺ 31 Wünsche, A.: Die Sagen vom Lebensbaum und Lebenswasser. Altoriental. Mythen. Lpz. 1905. ⫺ 32 Gobyn, L.: Verjüngungsmotive im Märchen und in der volkstümlichen Bilderkunst. In: Die Zeit im Märchen. ed. U. und H.-A. Heindrichs. Kassel 1989, 116⫺141. ⫺ 33 EM 2, 908⫺910; Gonzenbach, num. 45. ⫺ 34 Meier, H./Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 56. ⫺ 35 cf. z. B. Auflistung bei Ranke, K.: Die zwei Brüder. FFC 114. Hels. 1934, 232 sq., 294, 301 sq. ⫺ 36 Diller, I.: Zypriot. Märchen. Athen 1982, num. 29; Chalatianz, G.: Märchen und Sagen. Lpz. 1887, 78 (armen.). ⫺ 37 BFP 590 IV; Aichele, W./Block, M.: Zigeunermärchen. MdW 1977, num. 15 (aus Rumänien); Afanas’ev, num. 206. ⫺ 38 Prym, E./Socin, A.: Syr. Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen 1881, 65, num. 18; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 70 sq.; Schmidt, L.: Die Volkserzählung. B. 1963, 69 sq. (ir.). ⫺ 39 Novikov, N. V.: Obrazy vostocˇnoslavjanskoj volsˇebnoj skazki (Gestalten des ostslav. Zaubermärchens). Len. 1974, 72. ⫺ 40 Diller (wie not. 36) num. 29 (Symplegadenmotiv). ⫺ 41 Wünsche (wie not. 31) 14⫺21; Fähnrich (wie not. 17) 15, 296; De´gh, L.: Folktales of Hungary. L. 1965, num. 8; Christiansen, R. T.: Folktales of Norway. L./Chic. 1964, 231 (Mädchen beobachtet Troll). ⫺ 42 Löwis of Menar, A. von: Russ. Volksmärchen. MdW 1927, num. 41; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 72; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1984, num. 34. ⫺ 43 cf. Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987, 246⫺248. ⫺ 44 Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 27. ⫺ 45 Diller (wie not. 36) num. 45. ⫺ 46 Chalatianz (wie not. 36). ⫺ 47 KHM 60; De´gh (wie not. 41). ⫺ 48 BP1, 29 sq.; Straparola 4,5. ⫺ 49 Wentzel, L.-C.: Kurd. Märchen. MdW 1978, num. 8; Dolidze, N. I.: Gruzinskie narodnye skazki. Tiflis 1971, num. 40 (⫽ Die Zauberkappe. B. 1957, 110⫺117). ⫺ 50 Afanas’ev, num. 159; Diller (wie not. 36) num. 45; Camaj, M./SchierOberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num.
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18; cf. Heissig 1981 (wie not. 14) 83; Wesselski, MMA, 192. ⫺ 51 Propp (wie not. 43) 111⫺118; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 135. ⫺ 52 Scherf, W.: Tod und Dämonisierung im Zaubermärchen ⫺ Metapher wofür? In: Tod und Wandel im Märchen. ed. U. und H.A. Heindrichs/U. Kammerhofer. Regensburg 1991, 134⫺149; Scherf, 417, 855 sq., 1318⫺1320 u. ö. ⫺ 53 z. B. KHM 81 (mit Anredeformel); Jech (wie not. 42) num. 19. ⫺ 54 Leidecker, K.: Zauberklänge der Phantastie. Musikalische Motive und gesungene Verse im europ. Märchengut. Diss. Saarbrücken 1983, 49⫺51. ⫺ 55 cf. jedoch Grimm DS 62 (als christl. Wunder). ⫺ 56 Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 21978, num. 246 sq. ⫺ 57 ibid., num. 32; Schmidt (wie not. 38) 68 sq. (Haselhexe). ⫺ 58 Dieck, A.: Vom volkstümlichen Glauben an die W. Verstorbener im 19. und 20. Jh. In: Curare 3 (1980) 74⫺78; Gunner, E.: The Dead Child Returned to Life: The Sermon as Oral Narrative in Isaiah Shembe’s Nazareth Baptist Church. In: D’un Conte … a` l’autre. ed. V. Görög-Karady/M. Chiche. P. 1990, 191⫺203. ⫺ 59 Köhler-Zülch (wie not. 7) 25.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
Wiederbelebung eines Tieres J Pelops
Wiedererkennen (Mot. H 0⫺H 199), Zuordnung einer Wahrnehmung zu einem bereits bekannten Phänomen. Bereits lat. recognitio enthält semantisch die Dimension kritischer Musterung: Eine solche ,prüfende Besichtigung‘, die auch eine Selbstprüfung einschließt, endet in der Regel mit einer Anerkennung der Identität. Das in Lit. und Volkserzählung ubiquitäre Motiv des W.s spielt eine zentrale Rolle innerhalb einer der Grundstrukturen epischen Erzählens, i.e. J Trennung und anschließendes Wiederfinden1. Innerhalb eines Erzählablaufs markiert es häufig einen spannungsreichen Wendepunkt der Handlung. Das W. kann sich auf Personen, Tiere, Sachen oder Symbole beziehen, oft in Kombination mehrerer dieser Faktoren. Das narrative Schema setzt eine Vorgeschichte voraus: Eine Verbindung (Eheoder Familiengemeinschaft, Gruppenzugehörigkeit, Liebesbeziehung) wird durch eine bewußt herbeigeführte (Reise, Konflikt mit Eltern, Zuführung zum Ehemann, Flucht, Vertreibung, Kriegszug) oder ungewollte bzw. gewaltsame Trennung (Aussetzung, Entführung,
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Wiedererkennen
Tötungsversuch, Mord und anschließende Wiederbelebung) unterbrochen. Die Erzählung verfolgt Einzelschicksale (J Abenteuer; J Bewährungsprobe; J Suchen, Suchwanderung; J Verirren), die in ein erneutes Zusammentreffen münden. Die Erinnerung an die Ausgangssituation kann spontan erfolgen; sie kann aber auch erschwert werden, etwa durch Veränderung, J Verkleidung oder J Verzauberung einer Person oder durch fehlende Bereitschaft bzw. Erwartung, z. B. weil die zurückkehrende Person für tot gehalten wird. Das W. erfolgt zunächst oft nur einseitig oder partiell. Auch kann die Feststellung der Identität einer Person ein J retardierendes, prozeßhaftes Moment enthalten (es müssen etwa [drei] Proben bestanden werden, wobei erst die letzte das W. beinhaltet), meist aber führt das W. auch unmittelbar zur glücklichen Lösung der Erzählung, oder es ergeben sich neue Konstellationen und Probleme. Das Motiv ist seit der Antike bezeugt und existiert in zwei Ausprägungen: J Odysseus kehrt nach jahrelangen Irrfahrten in der Gestalt eines Bettlers heim. In dieser Maske verschafft er sich unerkannt einen Einblick in die während seiner Abwesenheit verwahrloste Lage von Ehe, Familie, Besitz und Herrschaft. Die Verzögerung des W.s verschafft ihm einen Vorteil: Durch List erlangt er seine alte Herrschaftsposition und seine Ehefrau, die den sie umwerbenden Freiern widerstanden hat, zurück (AaTh/ATU 974: J Heimkehr des Gatten). Für die zweite Ausprägung steht die Erzählung von Agamemnon, der von seiner Frau Klytämnestra und deren neuem Partner Ägisth bereits erwartet, sofort wiedererkannt und ermordet wird (Odyssee 4,517⫺524). In den Stücken des röm. Komödiendichters J Terenz werden getrennte Paare wieder zu einem glücklichen Leben zusammengeführt: Nach einem festen Schema wird eine durch eine anfängliche Liebesverwirrung vertriebene bzw. vergewaltigte Frau wiedererkannt und integriert. Die Bedeutung ehelicher J Treue und familiärer Bande auch nach jahrelanger Trennung zeigt der populäre Abenteuerroman J Apollonius von Tyrus (3. Jh. p. Chr. n. ). Der Held erkennt nach seiner Bewährung auf verschiedenen märchenhaften (See-)Reisen durch ein Rätsel seine entführte Tochter wieder und wird in der Folge mit seiner totgeglaubten
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Ehefrau wiedervereint. Dieser Stoff thematisiert einen durch Bewältigung aller Unbilden erfolgreichen Lebensweg (der Protagonist wird mit einem Königreich belohnt) und erfuhr zahlreiche Aneignungen und Übers.en in die Volkssprachen. Auch die Legende vom Märtyrertod des J Placidas (AaTh/ATU 938) berichtet von Trennung und Wiederfinden einer Familie durch tugendhaftes Verhalten. Aufgrund ihres didaktischen Programms fand die Erzählung lebhafte Aufnahme in der ma. europ. Predigtund Exempelliteratur (cf. auch J Magelone); Einzelmotive finden sich auch in buddhist. Quellen aus Indien2. Das W. kann einem veränderten Menschen gelten, der in seiner Abwesenheit geläutert wurde und gereift ist. Das bibl. Gleichnis (Lk. 15,11⫺32) von der J Heimkehr des verlorenen Sohns (AaTh/ATU 935) exemplifiziert die Lehre von der Vergebung für die Fehltritte des Reuigen. Das in der populären Überlieferung von AaTh/ATU 935 angelegte Motiv der gegensätzlichen J Brüder ist geeignet, vergleichend unterschiedliche Lebenswege angesichts gleicher Ausgangsbedingungen zu verfolgen: Der J unscheinbarste von drei Brüdern kann sich unerwartet bewähren und wird belohnt. Mit dem W. des Heimgekehrten verbindet sich oft auch eine Bestrafung der hoffärtigen Geschwister, die zur Korrektur von Vorurteilen und zu einem Wertewandel führt. In der mhd. Verserzählung Helmbrecht (2. Hälfte 13. Jh.) von Wernher dem Gärtner führt das W. des heimgekehrten Sohns zur Zurückweisung durch den Vater, der über die Schandtaten und den Hochmut des Sohns erbost ist3. Zahlreiche Texte handeln davon, wie ein heimkehrender J Soldat nicht wiedererkannt oder das W. verweigert wird. Tragisch endet das Wiedersehen von Vater und Sohn im Kontext des literar. J Vater-Sohn-Motivs: Der Vater erkennt unter den ihm entgegentretenden Kriegern seinen Sohn nicht, oder dieser will die Vaterschaft nicht anerkennen. Im Zweikampf tötet der Vater den Sohn (um dessentwillen er zurückgekehrt war). In AaTh/ATU 939 A: J Mordeltern wird der nach langer Abwesenheit zurückgekehrte und zu Reichtum gelangte Sohn, der sich seinen Eltern nicht zu erkennen gibt, von diesen aus Habgier ermordet.
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Wiedererkennen
Bes. in Märchen findet sich das W. im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung getrennter Paare. Eine solche begegnet bereits in der Erzählung um J Amor und Psyche (AaTh/ ATU 425 sqq.) in den Metamorphosen des J Apuleius (2. Jh. p. Chr. n.): Psyche übertritt Amors J Verbot, ihn zu sehen, und er verläßt sie. Nach langen Reisen und harten Proben wird sie wieder mit ihm vereint. Auch die Verbindung eines menschlichen und eines übernatürlichen Wesens in Erzählungen von der gestörten J Mahrtenehe ist durch ein J Tabu belastet (cf. auch J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe), das sich u. a. auf die visuelle Wahrnehmung bezieht. Seine Übertretung führt zum Verschwinden des meist weiblichen Partners, der durch eine Suchwanderung wiedergefunden werden kann (AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau). Im Zuge des W.s können Beschädigungen unschuldig verfolgter J Frauen (Kap. 3. 1.2) aufgrund von Intrigen oder Verleumdungen nach langer Trennung überwunden bzw. aufgehoben werden: Eine Gattin wird vor ihrem nach langer Abwesenheit heimkehrenden Mann der Untreue bezichtigt. Sie wird vertrieben (soll getötet werden), und nach Jahren des Überlebens oft unter widrigen Umständen erweist sich ihre J Unschuld4. J Crescentia (AaTh/ATU 712) wird von ihren um Heilung bittenden ehemaligen Verfolgern zunächst nicht erkannt, da sie als Mann verkleidet ist (J Frau in Männerkleidung; cf. AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline; AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen). In mündl. Var.n von AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände wird die Episode des W.s phantasievoll ausgeschmückt, denn der Ehemann erkennt seine Frau zunächst nicht, da sie inzwischen auf wunderbare Weise ihre Hände zurückerhalten hat. W. ist Gegenstand zahlreicher Brautwerbungsgeschichten, in denen junge Frauen ihnen unbekannten Männern als J Braut zugeführt werden5. Sie thematisieren etwa die Vertauschung der Braut durch ihre Dienerin (J Berta6; AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen; AaTh/ATU 437: J Nadelprinz; cf. auch AaTh/ATU 409: J Wolfsmädchen). Auch männliche Figuren (J Usurpator) beanspru-
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chen den Platz eines anderen, weshalb der ,richtige‘ Partner identifiziert werden muß. In Volkserzählungen dominiert das optische Element der Wahrnehmung, denn das Auge gilt als ein zuverlässiges Erkenntnisorgan und „der Sinn ist eine Art Vernunft“ (Thomas von Aquin, Summa Theologiae 1,5,4)7. Doch hält die visuelle Vergewisserung der Realität rationalen Standards oft nicht stand und läßt sich manipulieren. Einen mißlungenen J Täuschungsversuch dieser Art repräsentiert AaTh/ ATU 1510: J Witwe von Ephesus: Die Witwe bietet den Leichnam ihres Ehemannes als Ersatz für eine gestohlene Leiche. In AaTh/ATU 953: J Räuber und Söhne gelingt es dem Protagonisten, eine zur Schau gestellte Leiche zu ersetzen: Um Kinder aus der Gewalt von Hexen zu retten, hängt sich ein Mann an Stelle eines Toten selbst an den Galgen; der Mann überlebt verletzt, und die Kinder können befreit werden. Familiäre Ähnlichkeit, vor allem bei J Zwillingen und Geschwistern (AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder), erschwert das W. einer Person; aber auch das Motiv der sich gleichenden Freunde, z. B. AaTh/ATU 516 C: J Amicus und Amelius, spielt mit der Schwierigkeit des W.s angesichts von äußerem J Schein8. J König Drosselbart (AaTh/ATU 900) verkleidet und verstellt sich so geschickt, daß die Prinzessin ihn erst wiedererkennt, als er sich selbst demaskiert (cf. auch AaTh/ATU 402: J Maus als Braut). Die Orientierung an eindeutigen individuellen Merkmalen und durch bloßen Augenschein ist mitunter schwierig. Gerade in Erzählungen der Vormoderne mit ihren instabilen Identitätsentwürfen tauchen daher zahlreiche narrative Hilfsmittel auf, um eine einstige Verbindung zu belegen, neben magischem bzw. intuitivem W. werden vielfach J Erkennungszeichen zur Legitimation herangezogen. So kann der berechtigte Anspruch auf eine bestimmte gesellschaftliche Funktion durch die Demonstration einer einzigartigen Fähigkeit deutlich gemacht werden: Odysseus ist als einziger in der Lage, seinen Bogen zu spannen und einen Pfeil durch zwölf Äxte zu schießen (Odyssee 55, 405⫺423); das Schwert Excalibur, das nur Artus aus einem Stein ziehen kann, läßt ihn als rechtmäßigen Herrscher erkennen9.
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Wiedererkennen
Bes. Merkmale wie goldenes Haar (AaTh/ ATU 314: J Goldener; AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne; AaTh 652 A/ATU 407: J Myrte) sind J Zeichen edler Herkunft10. In Frühformen von AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder (Kap. 2) wird die menschliche Identität von sechs Brüdern in Schwanengestalt durch goldene Ketten erwiesen, die sie, wie schon ihre Mutter, von Geburt an besitzen. Mit deren Hilfe erhalten sie ihre menschliche Gestalt zurück und werden von ihrem Vater als seine Nachkommen erkannt11. Das Aschenputtel (AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella) wird, nachdem es unerkannt ein Fest besucht und die Liebe des Prinzen gewonnen hat, von diesem mittels einer Schuhprobe erkannt. Andere körperliche Erkennungszeichen sind Narben oder Male (AaTh/ATU 930 A: Die vorbestimmte J Frau). Daneben werden Dingsymbole eingesetzt, um über den ,wahren‘ sozialen Stand einer Figur Auskunft zu geben (prächtige J Kleidung; Medaillons, Wappenringe [J Matthias Corvinus]) oder ein Liebesversprechen zu bekräftigen. Eine bes. Bedeutung kommt dabei J Ringen (Kap. 2.2 und 2.3) zu12. So erhält J Pontus von der Königstochter Sidonia einen Ring als Zeichen der Verbundenheit und gibt sich ihr zu erkennen, indem er ihr den Ring in einen Becher wirft (cf. ferner AaTh/ATU 510 B: cf. Cinderella; AaTh/ATU 870: J Prinzessin in der Erdhöhle); ein Ring dient auch in AaTh/ ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen als Erkennungszeichen; in AaTh/ATU 882 ist er das Zeichen einer angeblichen Verführung. Gezielt zum Zwecke des W.s geteilte Dinge können später zusammengefügt werden. So gewinnt in AaTh/ATU 361: J Bärenhäuter der ungeschlachte Held eine Braut, muß aber Proben bestehen; während dieser Zeit erkennen sich die beiden Verbundenen an einem halbierten Goldstück (Ring). In AaTh/ATU 301 nutzt der Prinz Geschenke der Prinzessinnen, um seine Identität zu beweisen. Im J Drachentötermärchen (AaTh/ATU 300) weist er hierfür die abgeschnittenen Drachenzungen vor. Solcher Gegenstände, aber auch der Unterstützung von Helfern bedient sich der Protagonist, um die richtige Braut unter einer Reihe von anderen Frauen herauszusuchen (AaTh/ATU 554: cf. J Dankbare [hilfreiche] Tiere). In AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler er-
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kennt der Zauberer seinen Schüler trotz dessen Verwandlung (in ein Pferd) wieder. Bes. die edle Abstammung kann durch bestimmte Verhaltensweisen nachgewiesen werden (cf. AaTh/ATU 704: J Prinzessin auf der Erbse). In AaTh/ATU 920: J Sohn des Königs und Sohn des Schmieds werden die Söhne des Königs und des Schmieds vertauscht. Der König erkennt seinen Sprößling an seinen klugen Antworten (J Knabenkönig; cf. AaTh/ATU 920 B: J Vogelwahl der Königssöhne). Nicht zuletzt wird die wahre Identität einer Figur durch das Erproben von Kenntnissen und Fähigkeiten festgestellt. Diese bestehen z. B. im Erzählen gemeinsamer Erinnerungen oder der eigenen Geschichte (AaTh/ATU 408; AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger; AaTh/ ATU 707; AaTh/ATU 870). Wird eine Figur gezwungen, die Wahrheit zu verschweigen (J Schweigen, Schweigegebot), kann sie ihre Geschichte einem Gegenstand erzählen, während sie J belauscht wird (AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf; AaTh/ATU 894: J Geduldstein). Zum W. können auch Rätsel, Träume, bes. Fertigkeiten wie Flötenspiel oder kunstfertige Handarbeiten führen (z. B. AaTh/ ATU 408; AaTh/ATU 888 A*: The Basket Maker). Der Protagonist in AaTh 313 C/ATU 313: cf. J Magische Flucht erkennt seine von ihm vergessene Braut durch die von ihr gesungenen Erinnerungsverse (J Vergessen und Erinnern)13. Der J Mann, der wie ein Vogel flog und wie ein Fisch schwamm (AaTh/ATU 665), verfügt über die Fähigkeit sich zu verwandeln, wodurch ihn die Prinzessin wiedererkennt. In Var.n von AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter und AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens signalisiert die fehlende Beachtung von Wertgegenständen die Sehnsucht und Liebe des Protagonisten zur Prinzessin und läßt ihn als Vater ihres Kindes erkennen (cf. J Vaterwahl). 1 Propp, V.: Morphologie des Märchens. 1975, 31⫺ 66. ⫺ 2 Schneider, U.: On the Buddhist Origin of the Christian Legend of Placidas ⫽ St. Eustachius. In: J. of the Asiatic Soc. of Bombay 36⫺37 (1961) 12⫺ 22. ⫺ 3 Verflex. 10 (1999) 927⫺936. ⫺ 4 cf. Staritz, S.: Geschlecht, Religion und Nation. Genovefa-Lit.en 1775⫺1866. Mannheim 2005. ⫺ 5 Geißler, F.: Brautwerbung in der Weltlit. Halle 1955. ⫺ 6 Lundt, B.: Berta mit den großen Füßen. Von den Schwierigkeiten, die richtige Mutter eines Herrschers zu wer-
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Wiedergänger
den. In: Eifert, C. u. a. (edd.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im hist. Wandel. Ffm. 1996, 97⫺121. ⫺ 7 Zitiert nach Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/ Köln 1975, 38. ⫺ 8 Winst, S.: Amicus und Amelius. Kriegerfreundschaft und Gewalt in ma. Erzähltradition. B./N. Y. 2009. ⫺ 9 Knappe, K.-B.: Repräsentation und Herrschaftszeichen. Zur Herrschaftsdarstellung in der vorhöfischen Epik. Mü. 1974, hier 113⫺ 130. ⫺ 10 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung. Wiesbaden 1988, 299 sq. ⫺ 11 Lundt, B.: Weiser und Weib. Mü. 2002, 190⫺ 197. ⫺ 12 Spies, O.: Türk. Volksbücher. Lpz.1929, 40, 97, 105. ⫺ 13 Goldberg, C.: The Forgotten Bride (AaTh 313 C). In: Fabula 33 (1992) 39⫺54; cf. auch Spies (wie not. 12) 78, 115.
Flensburg
Bea Lundt
Wiedergänger 1. Allgemeines ⫺ 2. Christl. Literatur ⫺ 3. Volksüberlieferung ⫺ 3. 1.Traditionelle Sagen ⫺ 3. 2. Moderne Sagen
1 . All ge me in es. Mythen, Märchen, Sagen und Legenden spiegeln Glaubensvorstellungen in bezug auf den J Tod und ein mögliches Leben danach wider. Die Auffassung vom W., der im Grab eine zweite Existenz (J Lebender Leichnam) führt und Lebenden als ruheloser J Toter und gefährlicher J Dämon begegnet, ist mit der Befürchtung verbunden, bei seinem J Begräbnis seien die Bestattungsriten nicht ordnungsgemäß vollzogen worden1. Das Wiedergehen wird aber auch als postume J Strafe oder als Folge eines gewaltsamen Todes gedeutet. Der Begriff W. überschneidet sich mit J Geist oder J Gespenst (cf. auch J Spuk). Das mit starken J Ängsten besetzte Phänomen des W.s spielt eine zentrale Rolle in populären Glaubensvorstellungen und Sagen, z. B. für Europa im J Vampirglauben2 oder in der Vorstellung von J Geistermessen oder J Totenprozessionen. 2 . C hr is tl . L it er at ur. Im Gegensatz zur J Wiederbelebung ist das Thema W. in der Bibel kaum präsent3. Der einzige, unzweifelhaft von W. handelnde Text (1. Sam. 28,19), beschreibt einen Akt der Totenbeschwörung durch eine Frau von Endor, von der König Saul, der sich von Gott abgewandt hatte, eine Antwort verlangt, wie am nächsten Tage eine Schlacht gegen die Philister ausgehen werde.
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Augustinus (De cura gerenda pro mortuis, 424/425) bezeichnete Totenerscheinungen als Halluzinationen, da die Geister der Toten nicht eigenständig in die Welt zurückkehren könnten. Allerdings könne Gott solche Halluzinationen verursachen, um den Menschen eine Botschaft zu vermitteln4. J Gregor d. Gr. dagegen war der Auffassung, nicht nur die Lebenden besäßen Einfluß auf die Läuterung der Toten, sondern auch die Toten könnten den Lebenden in einer bestimmten Absicht erscheinen. In deutlichem Kontrast zu den Schriften von Augustinus enthalten Gregors Dialogi (593/594) z. B. im 4. Buch Geschichten, in denen die Geister von Toten auf der Erde herumschweifen, um ihre J Sünden zu büßen (J Buße)5. In einem Nachtrag (13. Jh.) zum 3. Teil der Summa theologica des Thomas von Aquin heißt es, daß die J Seelen der Toten normalerweise nicht in die Welt der Lebenden zurückkehrten, aber den Lebenden durch Gottes Willen mit einer belehrenden Absicht erscheinen könnten6. Totenerscheinungen seien Thomas von Aquin zufolge durch Gott verursachte J Wunder, die den natürlichen Kräften trotzten7. Aber auch der J Teufel sei aufgrund seiner Stärke in der Lage, Tote zum Leben zu erwecken. Weil es für Laien so gut wie unmöglich sei, ein echtes Wunder von einer teuflischen List zu unterscheiden, konnten die kirchlichen Autoritäten alle Erscheinungen, die der kirchlichen Lehre nicht dienlich waren, als teuflischen Betrug abstempeln8. Seit dem 12. Jh. erscheint das Thema des W.s häufiger, u. a. im Dialogus miraculorum des J Caesarius von Heisterbach, im Bonum universale de apibus des J Thomas Cantipratanus und in der J Legenda aurea des J Jacobus de Voragine9. Im späten MA. weit verbreitet war die Schrift De apparationibus animarum post exitus (auch u. d. T. De animabus exutis a corporibus [1454]) des J Jakob von Paradies, der die Vorstellung von umgehenden Toten als Polter-, Nies- und Kratzgeister auf arme Seelen zurückführte und zu beweisen suchte. Im Laus stultitiae und in den Colloquia treibt J Erasmus von Rotterdam Spott mit Devotionspraktiken und Exempeln über W., die seiner Meinung nach ausschließlich dem finanziellen Gewinn des Klerus dienten10. Auch
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Wiedergänger
die Anhänger der Reformation wandten sich gegen die Betrügereien des Klerus11. Das Konzil von Trient (1545⫺63) bestätigte die Existenz des J Fegefeuers im Decretum de purgatorio erneut offiziell; es betonte ein weiteres Mal ausdrücklich die Hilfe, die man den leidenden Seelen durch Gebet und Widmung von Messen bieten könne12. Obwohl der Protestantismus die Existenz des Fegefeuers verneint, sind in der protestant. geistlichen Erzählliteratur des 16. Jh.s13 Geschichten über W. als abschreckende Beispiele und vor dem Hintergrund einer allg. skeptischen Haltung gegenüber der Welt des Dämonischen vertreten14. Aus Erzählungen des 18. Jh.s hingegen spricht eine eher rationalistische Auffassung. Nicht mehr die religiöse oder moralische Bedeutung steht im Vordergrund, es wird eher geschildert, wie W. agieren: als Schatzhüter, bei der Enthüllung von Mordtaten etc. In Anleitungen der kathol. Kirche für den Religionsunterricht finden sich seit Anfang des 19. Jh.s Erzählungen über W. mit unterschiedlichen Funktionen: einerseits mit der Bitte um Hilfe für die armen Seelen und andererseits zur Vermittlung einer Botschaft. Die Lebenden wurden dazu angehalten, den Toten Beistand zu leisten, vor allem dadurch, daß sie Messen lesen ließen. 3 . Vol ks üb er li ef er un g. Darstellung und Funktion von W.n in Volkserzählungen werden vom jeweiligen Erzählgenre bestimmt. So erscheint der Tod im fläm. Kinderlied lediglich als neutrales oder komisches Element15. In Mischformen von Sagen und Märchen agiert die Figur des W.s in grotesken Situationen, die der Held zu seinen Gunsten zu entscheiden weiß, z. B. in Fassungen des Schwankmärchens AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen. Im Gegensatz zu Märchen, deren Verlauf durch das Handeln von Held oder Heldin geprägt ist, findet man in Sagen eher eine Ausrichtung auf das Schicksal der Toten16. Im Märchen ist der Tod eine Metapher, die keine Angst einflößt17; J Erlösung bedeutet eine Rückkehr in ein Leben ohne Tod. In Sagen, Legenden und Exempeln schafft die Erlösung ein Ende der Rastlosigkeit beim Eintreten in die ewige Seligkeit18.
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3 .1 . Tra di ti on el le Sa ge n. Die umfangreiche Kategorie der Sagen über W. ist schwer zu klassifizieren19. Entsprechende Versuche machten u. a. R. T. J Christiansen20, L. J Simonsuuri21, R. W. J Sinninghe22, A. Gattlen23, I. Müller und L. J Röhrich24, A. Roeck25 sowie K. Van Effelterre26. Die Erscheinungsformen von W.n sind sehr unterschiedlich. Zuweilen begegnet ein Toter als ,Geist‘ ohne Körper, hin und wieder als J Kopfloser, als Mensch ohne Füße oder ohne Augen. Sein Erscheinen ist mit hellem J Licht oder J Feuer verbunden27. Ungetauft gestorbene Kinder kehren manchmal in der Gestalt eines Irrlichts wieder, weil ein Mann auch Irrlichtern die Taufe spendet28. W. werden vorzugsweise in der J Nacht auf J Friedhöfen (AaTh/ATU 882 B*: J Klapperhannes) und in der Nähe von Schlössern, Wasserläufen und J Wegkreuzungen gesehen. Todesursachen wie Unfälle aller Art, J Mord, Selbstmord, Ertrinken oder plötzlicher Tod erhöhen das Risiko für eine Rückkehr des Verstorbenen. Das Zusammentreffen mit einem W. birgt oft Gefahren für die Lebenden. Die Vorstellung, daß ein Beobachter nach einer Begegnung mit einem W. stirbt, geht auf das sog. Nachzehrermotiv zurück, das vorwiegend in Vampirgeschichten zu finden ist; dahinter steht die Vorstellung, daß ein W. seine Angehörigen oder andere Menschen in den Tod zieht29. In traditionellen Sagen besitzen bes. Geistliche die Kompetenz, W. zu bannen. Häufig beraten sie die Lebenden, wie der Tote zu erlösen sei, oder sie nehmen eine rituelle Bannung des W.s (J Exorzismus) vor. Röhrich geht in diesem Zusammenhang davon aus, daß die christl. Glaubenslehre säkularisiert wurde: Der auftretende Erlöser ist nicht Christus, sondern ein Mensch, meistens ein Priester30. Vor allem im 18., aber auch im 19./20. Jh. waren viele Geschichten über Tote verbreitet, die sich ohne ersichtlichen Grund im Diesseits aufhalten. In zahlreichen Fällen handelt es sich jedoch um bösartige Tote, die wegen eines frühen Todes oder eines zu Lebzeiten begangenen Verbrechens zurückkehren. Während des MA.s fanden sich W. vor allem in religiösen Kontexten mit einer stark belehrenden Funktion31, doch wandelte sich die Vorstellung vom W. in neuerer Zeit: Er
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Wiedergänger
wurde mehr und mehr zu einer ziellos umherstreifenden und bösartigen Figur. Hatten W. eine klare Absicht, stand diese oft mit der Enthüllung eines Mordes oder dem Bewachen eines J Schatzes in Zusammenhang, zielte also nicht auf die Infragestellung eines Weltbildes. Das Bild des W.s in der Romantik wird durch positive Züge ergänzt: W. kehren aus Liebe zu den Lebenden zurück, bewachen Schätze, warnen Menschen vor Unheil oder führen zu Lebzeiten unterlassene Angelegenheiten zu Ende32. Sagen über Tote, die mit einer bestimmten Absicht zurückkehren, können nach Van Effelterre in zehn Hauptkategorien zusammengefaßt werden33: (1) In der sog. Vereinbarungssage (AaTh/ATU 470: J Freunde in Leben und Tod) erscheint der Tote einem Freund, um ihm, wie zu Lebzeiten versprochen, Informationen über das Jenseits zu überbringen. Unter Bußsagen lassen sich zwei Ausprägungen festmachen: (2) in der 1. Gruppe löst der W. ein zu Lebzeiten unerfülltes Versprechen (z. B. Wallfahrt, Gottesdienst) ein; (3) in der 2. Gruppe erscheint der W. zur Buße für eine zu Lebzeiten begangene Sünde. Dabei geht es z. B. um das Versetzen eines Grenzsteins (J Grenze), das Arbeiten an Sonn- und Feiertagen (J Frevel, Frevler), das Jagen, während der Vater im Sterben liegt, Lügen, Diebstahl etc. (4) In der Botschaftssage erscheint ein W., um den Lebenden eine Mitteilung zu machen, ohne daß darüber im Vorfeld eine Absprache erfolgt ist. (5) Die Danksagungssage, die häufig mit einem der anderen genannten Sagentypen auftritt, handelt von einem W., der den Lebenden in Form einer Mitteilung, eines Zeichens oder einer Gegenleistung für ein bestimmtes Eingreifen danken möchte. (6) In der Forderungssage kehrt der Tote zurück, um von einem Lebenden etwas zu fordern, wie z. B. Gottesdienste (Gebete, Versprechen), die der Lebende versäumt hat. (7) In der Schatzsage erscheint ein W., um auf verstecktes Geld hinzuweisen. (8) Die Leichenschändungssage erzählt von einem Toten, der wegen eines Angriffs auf seine physische Integrität (Leichenschändung; z. B. AaTh/ATU 366: J Mann vom Galgen, AaTh/ATU 470 A: J Don Juan) oder wegen des Diebstahls des Leichentuchs zurückkehrt. (9) Sagen vom Geiz beim Begräbnis erzählen von einem Toten, der wiederkehrt, weil z. B. am Leichentuch gespart worden war, die Beerdigungszeremonie oder die Beerdigung selbst nicht stattfand (AaTh/ATU 505⫺ 508: J Dankbarer Toter). (10) Spiritistische Sagen handeln von W.n, die auf Bitten von Lebenden beschworen werden.
Aus traditionellen Sagen ist die große Sorge um das Los der Seelen im Jenseits herauszuhören. Lebende, die mit einem W. konfrontiert
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werden, sind um die Erlösung des Toten bemüht. 3 .2 . Mod er ne Sa ge n. In der modernen Sage wird der Tod ambivalent und als etwas Beunruhigendes aufgefaßt34: Entweder führt er zum ultimativen Ende oder in eine Existenz in einer anderen Welt. Auch in solchen Sagen treten sowohl hilfreiche Tote als auch mordlüsterne Plagegeister auf. W. begegnen Lebenden manchmal, um sie zu warnen (z. B. in Var.n der Geschichte vom verschwundenen Anhalter: Mot. E 332.3.3.1)35, in anderen Sagen irren sie als Quälgeister herum, nachdem sie während einer spielerischen spiritistischen Zusammenkunft heraufbeschworen wurden36. Die Darstellung von Tod und Jenseits richtet sich in Inhalt und Bedeutung nicht mehr nach einem religiösen Referenzrahmen. Sie trägt vielmehr die Spuren einer allg. menschlichen Hoffnung und Angst vor dem Ende des irdischen Lebens37. 1 Geiger, P.: W. In: HDA 9 (1938⫺41) 570⫺578; Schmitt, J.-C.: Les Revenants. Les vivants et les morts dans la socie´te´ me´die´vale. P. 1994; Lecouteux, C.: Fantoˆmes et revenants au moyen aˆge. P. 1996; Navra´tilova´, A.: Revenantstvı´ v cˇeske´ lidove´ tradici jako obraz cizı´ho, neprˇa´telske´ho sveˇta (W.erscheinungen in der tschech. Volksüberlieferung als Abbild einer fremden, feindlichen Welt). In: Studia mythologica Slavica 8 (2005) 115⫺136; Van Effelterre, K.: Terugkerende doden in de Vlaamse mondelinge overlevering. Diss. Löwen 2006. ⫺ 2 Burkhart, D.: Vampirglaube in Südosteuropa. In: ead.: Kulturraum Balkan. B./Hbg 1989, 65⫺109. ⫺ 3 zum folgenden cf. bes. Van Effelterre (wie not. 1) 69⫺119. ⫺ 4 Gielis, M.: Dood, hiernamaals en terugkerende doden volgens de kerkelijke verkondiging en de exempelliteratuur. In: Vk. 91 (1990) 189⫺239, hier 199. ⫺ 5 Van Effelterre (wie not. 1) 91 sq. ⫺ 6 Gielis (wie not. 4) 202. ⫺ 7 Thomas, K.: Religion and the Decline of Magic. Harmondsworth 1973, 702. ⫺ 8 cf. z. B. Top, S.: Op verhaal komen. 1: Limburgs sagenboek. Leuven 2004, num. 60⫺102; EM 12, 1128 sq. ⫺ 9 cf. Tubach, Reg. s. v. Dead, return of. ⫺ 10 Van Effelterre (wie not. 1) 99. ⫺ 11 Finucane, R. C.: Appearances of the Dead. A Cultural History of Ghosts. L. 1982, 210. ⫺ 12 Gielis (wie not. 4) 215, 217, 219. ⫺ 13 z. B. Brückner, Reg. s. v. W. ⫺ 14 Bath, J./Newton, J.: Sensible Proof of Spirits. Ghost Belief during the Later Seventeenth Century. In: FL 117 (2006) 1⫺14. ⫺ 15 Top, S.: Death in the Present-Day Flemish Children’s Song. In: Puchner, W. (ed.): Tod und Jenseits im europ. Volkslied. Jannina 1986, 111⫺130, hier 126. ⫺ 16 Röhrich, L.: Und weil sie nicht gestorben sind …
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Wiedergeburt
Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen. Köln/Weimar/Wien 2002, 100. ⫺ 17 Petzoldt, L.: Tod und Jenseits in Märchen und Sagen. In: Heindrichs, U. und H.-A./Kammerhofer, U. (edd.): Tod und Wandel im Märchen. Regensburg 1991, 34⫺56, hier 37. ⫺ 18 ibid. ⫺ 19 Zum folgenden cf. bes. Van Effelterre (wie not. 1) 147⫺273. ⫺ 20 Christiansen, Migratory Legends, num. 4000⫺ 4050. ⫺ 21 Simonsuuri, num. C 301⫺500. ⫺ 22 Sinninghe, num. 401⫺480. ⫺ 23 Gattlen, A.: Die Totensagen des alemann. Wallis. Naters/Brig 1948. ⫺ 24 Müller/Röhrich, num. A 1⫺A 23. ⫺ 25 Roeck, A.: De weerkerende doden in de moderne Vlaamse sage. In: Vk. 91 (1990) 151⫺165, hier 153⫺163. ⫺ 26 cf. Van Effelterre (wie not. 1). ⫺ 27 ibid., 154. ⫺ 28 Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, num. 521. ⫺ 29 Röhrich, L.: Sage. Stg. 21971, 13; Schürmann, T.: Nachzehrerglauben in Mitteleuropa. Marburg 1990. ⫺ 30 ibid., 34⫺41. ⫺ 31 Lecouteux (wie not. 1) 58. ⫺ 32 ibid., 165⫺177. ⫺ 33 Van Effelterre (wie not. 1) 397⫺611. ⫺ 34 ead.: Terugkerende doden in moderne sagen. In: Vk. 108 (2007) 45⫺75. ⫺ 35 Brunvand, J. H.: The Vanishing Hitchhiker. In: Encyclopedia of Urban Legends. Santa Barbara/Denver/Oxford 2001, 463⫺465; Fischer, H.: Der Rattenhund. Sagen der Gegenwart. Köln/Bonn 1991, 45⫺50. ⫺ 36 Van Effelterre (wie not. 1) 720⫺731. ⫺ 37 Eekhaut, G.: Op het lijf geschreven. Het lichaam als private obsessie. Kapellen/ Kampen 2003, 202.
Leuven
Katrien Van Effelterre
Wiedergeburt 1. Allgemeines ⫺ 2. Jägerzeitliche Kulturen ⫺ 3. W. von Gestirnen ⫺ 4. W. von Vegetationsgottheiten ⫺ 5. W. im Epos ⫺ 6. W. in Gestalt von Nachkommen oder Stammesangehörigen ⫺ 7. W. als Tier oder Pflanze ⫺ 8. W. in Zwischenstufen ⫺ 9. Reinkarnation
1 . All ge me in es. Seit frühester Zeit lassen Bestattungsformen weltweit den Glauben an eine W. (Mot. E 600⫺E 699) vermuten (Sonnensymbole, Embryonalhaltung der Bestatteten, Uterussymbolik des Bestattungsgefäßes etc.)1. Die Vorstellung von der W. des Menschen ist in der Regel (außer im Buddhismus) mit derjenigen von einer J Seele bzw. von mehreren Seelen verbunden. Diese geht unmittelbar nach dem J Tod oder, häufiger, nach einem Aufenthalt im J Jenseits in einen anderen Menschen oder in ein anderes Wesen über. Nicht selten erfolgt die W. in Zwischenstufen, zunächst als J Tier oder J Pflanze und erst
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danach in menschlicher Gestalt. Da vielfach das jenseitige Leben als Fortsetzung des irdischen Lebens angesehen wird, wird zuweilen auch von einer W. im Jenseits gesprochen. Mit der Symbolik der nach dem physischen Tod stattfindenden physischen W. als Mensch oder anderes Naturwesen ist die sog. rituelle W. engstens verwandt2. Sie ist Teil aller Übergangsrituale des menschlichen Lebens, die einen vorübergehenden Tod mit Jenseitsaufenthalt und anschließender W. ausmachen (cf. J Initiation). Physische und rituelle W., wie überhaupt Tod und Leben, Diesseits und Jenseits, sind gerade bei sog. Naturvölkern oft nicht scharf getrennt. So wird der rituelle Tod, etwa bei Initiationen, durchaus als physischer Tod angesehen, und bei der Initiation des Schamanen kann es tatsächlich zum physischen Tod kommen (J Schamanismus). Die Symbolik der W. entspricht naturgemäß derjenigen der J Geburt mit vergleichbarer Uterussymbolik, wobei häufig Bilder der ,Mutter J Erde‘ erscheinen, so etwa J Höhle, Berg oder Baumhöhle sowie ein enger Durchgang, etwa in Form von Felsspalten. Medium der W. sind vorzugsweise J Wasser und J Feuer. Tiersinnbilder der W. sind bes. die sich häutende J Schlange, der Schmetterling und der J Phönix. Vorstellungen von der W. weisen Analogien zu allen Arten von Zyklen auf, wie dem Lauf von J Sonne und J Mond, bes. der monatlichen ,W.‘ des neuen Mondes (cf. auch J Mondmythologie); sie sind mit dem Sonnenaufgang im Osten, der Wintersonnenwende oder dem Frühlingsanfang bzw. Frühlingsäquinoktium als W. des Jahres und des gesamten Kosmos verbunden. In noch größeren Zyklen verläuft die W. des Kosmos gemäß den J Weltzeitmythen. Umgangssprachlich wird der Begriff W. meist im Sinne von Reinkarnation verwendet, wie sie bes. aus dem ind. Kulturkreis in Verbindung mit der Vorstellung von der Vergeltung guter und böser Taten (karman) und dem ,Kreislauf der W.en‘ (samsa¯ra) auch in der westl. Welt bekannt und populär geworden ist (cf. J Seelenwanderung). 2 . J äg er ze it li ch e Kul tu re n. Für die W. der Tiere ist das vollständige J Skelett erforderlich. Bei der rituellen Tötung des Bären
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Wiedergeburt
etwa wird angenommen, daß unmittelbar nach der Bestattung des vollständigen Skeletts eine ,Wiederbefleischung‘ der J Knochen stattfindet3. Dasselbe vollzieht sich während der schamanischen Initiation4. Diese Vorstellung findet sich in tungus. Märchen bei der W. der Märchenhelden5; Relikte kommen auch in europ. Märchen vor (cf. J Pelops, J Archaische Züge im Märchen). Die bebilderten Höhlen und Grotten spätpaläolith. Jäger wurden u. a. als Orte der Schöpfung und W. der Tiere gedeutet6. 3 . W. v on Ge st ir ne n. Da im animistischen Weltbild Gestirne anthropomorph sind, können auch astronomische Gegebenheiten im Sinne einer W. verstanden werden. In Nordasien wurde der Wechsel von J Tag und J Nacht mit der täglichen W. einer Elchkuh erklärt, welche die Sonne raubt und dann während der folgenden Nacht getötet wird7. Der im nördl. zirkumpazifisch. und im ind. Raum verbreitete Mythos von der Sonne, die sich in einer Höhle versteckt hat und daraus hervorgelockt wird, ist möglicherweise bei einigen Var.n mit dem Verschwinden der Sonne im Polarwinter und ihrer anschließenden W. zu erklären8. Im Ägypt. Totenbuch bildet die tägliche W. des Sonnengottes Re zusammen mit dem Osiris-Mythos die Grundlage des W.sglaubens9. 4 . W. v on Ve ge ta ti on sg ot th ei te n. In den altägypt. bzw. altoriental. Mythen um Osiris, Dumuzi/Tammuz, Adonis, Attis oder Telepinus spiegelt sich das Sterben und die W. der Fruchtbarkeit der Erde im agrarischen Jahreszyklus wider10. In diesem Sinn ist auch das altägypt. J Brüdermärchen gedeutet worden11. 5 . W. i m E po s. In den archaischen Heldenerzählungen der paläoasiat. Nivchen12 und Tschuktschen13 findet man ein wiederholtes Wiedererstehen des Helden aus eigener magischer Kraft. Als Äquivalent zur W. kann die mehrfache Geburt Gesers im zentralasiat. Epos J Geser Khan gelten: zuerst im Himmel, dann auf der Erde und schließlich auf einem Berg14. Dies läßt ebenso wie die zweimalige W. des Helden in einer epischen Erzählung der Chanten (J Ostjaken)15 an die dreimalige Geburt des Schamanen denken16. In zentralasiat. Epen
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geschieht die W. oft im Berg, im Fels oder in der Erde17. Oft findet sich hier auch die J Wiederbelebung durch eine heilkundige weibliche Figur. Vielfach kann man im Epos von einer rituellen W. sprechen, ohne daß dies immer eindeutig ist. 6 . W. i n G es ta lt vo n Nac hk om me n o de r S ta mm es an ge hö ri ge n. Weit verbreitet unter den Völkern der Welt und Gegenstand umfangreicher empirischer Unters.en ist die Annahme einer W. von Ahnen in ihren Nachkommen18. So wird in Märchen der paläoasiat. Korjaken die Tochter von der Mutter als ,Großmutter‘ angeredet19, und in einem Märchen der eher matrilinearen paläoasiat. Kereken nennt der Vater seine Tochter ,Schwiegermutter‘20. Nach dem Glauben der Chanten geht eine der Seelen der verstorbenen Person, die Lebensseele, unmittelbar nach deren Tod in ein neugeborenes Mitglied des Stammes über, oder sie wird sich nach einem Aufenthalt im Jenseits mit rückwärts fließender Zeit reinkarnieren21. W. von Ahnen tritt nicht selten in den J Helgi-Liedern und norw. Königssagas auf 22. Skalden, Barden und Epensänger gelten, nicht anders als der Schamane, einerseits als die W. eines Ahnen, andererseits müssen sie jedoch auch eine rituelle W. mit Todeserfahrung durchlaufen23. Von bes. Bedeutung ist bei der W. in Gestalt von Nachfahren die Übertragung des J Namens eines Verstorbenen und damit auch von dessen Seele. 7 . W. a ls Ti er od er Pf la nz e. Wie Sagen der zentralsibir. Keten zeigen, wurden Bären, die in der Nähe von Menschen getötet wurden, als wiedergeborene Angehörige angesehen24. Gruppen des Yi-Volkes in Südwestchina führten ihre Herkunft auf den Tiger zurück (J Totemismus) und hielten auch eine W. als Tiger für wünschenswert25. In einer Volkserzählung der tungus. Ewenken bewirkt die Lärche am Grab die W., zunächst in Gestalt eines Zapfens, in dem sich ein kleines Kind befindet26. Eine ähnliche Funktion läßt sich ursprünglich für das Motiv der J Grabpflanzen und für den Baum, unter dem die Knochen begraben werden, annehmen (AaTh/ATU 720: J Totenvogel). 8 . W. i n Z wi sc he ns tu fe n. Der W. in menschlicher Gestalt kann generell eine Zwi-
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Wiedergeburt
schenstufe als Wesen der Tier- oder Pflanzenwelt vorausgehen, vielfach in Insekten- oder Vogelgestalt, wie etwa in nordamerik.-indian.27 oder nordasiat.28 Überlieferungen. Auch europ. und asiat. Var.n von AaTh/ATU 720 und AaTh/ATU 403 B: cf. Die schwarze und die weiße J Braut sowie ost- bzw. südostasiat. Var.n von AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella, in denen die Seele des Ermordeten in Vogelgestalt erscheint (Seelenvogel, Totenvogel) und sich erst danach in einem Menschen inkarniert, lassen an diese Vorstellung denken. 9 . Rei nk ar na ti on. Vorstellungen von einer Reinkarnation der Seele aufgrund des Nachwirkens guter und böser Taten sind auch für Naturvölker nicht generell auszuschließen29. In der Antike kommen sie bei Orphikern und Pythagoräern vor; aus späterer Zeit sind sie u. a. auch von Manichäern, Katharern, Aleviten, Drusen, Jeziden oder Chassiden bekannt30; als ,Kreislauf der W.en‘ sind sie aber wohl nirgends so entwickelt und systematisiert wie in den hinduist., jainist. und buddhist. geprägten Kulturen (cf. J Jainas; J Buddhist. Erzählgut, J Ja¯taka). Anders als in moderner westl. Sicht sind die Bestrebungen in Hinduismus und Buddhismus grundsätzlich darauf gerichtet, eine W. zu vermeiden bzw. dem Kreislauf der W.en zu entkommen. Solange dies noch nicht möglich ist, gilt weder eine niedere W. als Tier oder Pflanze noch eine höhere als Gottheit als erstrebenswert. Aufgrund ihres mühseligen Lebens lehnt allerdings eine sterbende Frau in einer Geschichte der jap. Slg Harusame monogatari (Erzählungen vom Frühlingsregen) von Akinari Ueda (1734⫺1809) eine W. als Mensch ab und zieht die W. als Tier vor31. Der Glaube an die W. führt oft zu einer anderen Perspektive auf die menschliche Existenz, wenn etwa ein Verbrechen in einem früheren Leben als Ursache für eine verkürzte Lebensdauer oder für eine schwere Krankheit angesehen wird32. Ein glücklich verheirateter Mann wünscht sich, in den nächsten drei Existenzen mit derselben Frau verheiratet zu sein33. Nicht zu übersehen ist die vom Glauben an die W. bestimmte Haltung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen. So kann die unnütze oder grausame Tötung selbst kleiner Schildkröten oder Spinnen zum Tod des Täters
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führen34. Wenn sich in mongol. Erzählungen des 19. Jh.s alte Nutztiere bitter über die Undankbarkeit des Menschen35 oder Jagdtiere über menschliche Gier und Rücksichtslosigkeit beklagen (cf. z. B. AaTh/ATU 101: Der alte J Hund; europ. Var.n von AaTh/ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft)36, ist dies im Zusammenhang mit dem buddhist. Mitleidsgebot zu sehen. Darüber hinaus spielen das Karma-Gesetz und der Hintergrund der W. hier wohl ebenso eine Rolle wie in frühen buddhist. Erzählungen und Lehrtexten, die von der Selbstopferung von Menschen für Tiere handeln37. 1 Bjorling, J.: Reincarnation. A Bibliogr. N. Y. 1996; Raphael, M.: W.smagie in der Altsteinzeit. ed. S. Chesney/I. Hirschfeld. Ffm. 1976; Feldmeier, R.: W. Göttingen 2005; Obst, H.: Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee. Mü. 2009; Topper, U.: W. Das Wissen der Völker. Hbg 1988; Bruce Long, J.: Reincarnation. In: Eliade, M. (ed.): The Enc. of Religion 12. N. Y./L. 1987, 265⫺269; Mills, A./Slobodin, R.: Amerindian Rebirth. Reincarnation Belief among North American Indians and Inuit. Toronto/Buffalo/ L. 1994; Bergunder, M.: W. der Ahnen. Eine religionsethnogr. und religionsphänomenologische Unters. zur Reinkarnationsvorstellung. Münster 1994; David-Neel, A.: Unsterblichkeit und W. Lehren und Bräuche in China, Tibet und Indien. Wiesbaden 1962. ⫺ 2 Eliade, M.: Das Mysterium der W. Ffm. 1988; Gennep, A. van: Übergangsriten. Ffm. u. a. 1986. ⫺ 3 Smoljak, A. V.: K voprosu ob e˙tnogeneze narodov Nizˇnego Amura (Zur Frage der Ethnogenese der Völker des Unteramur). In: Problemy e˙tnogeneza i e˙tnicˇeskoj istorii aborigenov Sibiri. ed. A. I. Martynov. Kemerovo 1986, 130⫺139, hier 137. ⫺ 4 Lehtisalo, T.: Der Tod und die W. des künftigen Schamanen. In: JSFO 48 (1937) 1⫺34. ⫺ 5 Doerfer, G.: Sibir. Märchen. MdW 1983, num. 1; Bäcker, J.: Märchen aus der Mandschurei. MdW 1988, num. 24. ⫺ 6 Raphael (wie not. 1) 82⫺89; Laming-Emperaire, A.: La Signification de l’art rupestre pale´olithique. P. 1962, 285; Müller, W.: Amerika ⫺ die neue oder die alte Welt? B. 1982, 140 (indian. Parallelen). ⫺ 7 Anisimov, A. F.: Kosmologicˇeskie predstavlenija narodov Severa (Kosmologische Vorstellungen der Völker des Nordens). M. 1959, 12⫺14 (dt. u. d. T. Kosmologische Vorstellungen der Völker Nordasiens. B. 1991). ⫺ 8 Isida, Ejitiro (⫽ Ishida Eiichiro¯): Skryvsˇeesja solnce (mif o sokrytii v Nebesnom Grote v tichookeanskom regione) (Die verborgene Sonne [Die Mythe vom Verborgensein in der Himmelsgrotte im pazif. Gebiet]). In: id.: Mat’ Momotaro. SPb. 1998, 35⫺50; Witzel, M.: Vala and Iwato. The Myth of the Hidden Sun in India, Japan, and Beyond. In: Electronic J. of Vedic Studies 12,1 (März 2005) 1⫺69. ⫺ 9 Das ägypt. To-
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Wiedergeburt des verbrannten Heiligen
tenbuch. ed. G. Kolpaktchy. Mü. 21973. ⫺ 10 Frazer, J. G.: The Golden Bough. 4: Adonis, Attis, Osiris. London u. a. 31922; Grincer, P. A.: Umirajusˇcˇij i voskresajusˇcˇij bog (Der sterbende und wiedererstehende Gott). In: Mify narodov mira 2. ed. S. A. Tokarev. M. 1982, 547 sq. ⫺ 11 ibid. ⫺ 12 Istorija i kul’tura nivchov (Geschichte und Kultur der Nivchen). ed. V. A. Turaev. SPb. 2008, 188. ⫺ 13 Nikiforov, A. I.: Struktura cˇukotskoj skazki kak javlenie primitivnogo mysˇlenija (Der Aufbau des tschuktsch. Märchens als eine Erscheinung des primitiven Denkens). In: Sovetskij fol’klor (1936) H. 2⫺3, 233⫺273. ⫺ 14 Chichlo, B.: Les Me´tamorphoses du he´ros e´pique. In: Fragen der mongol. Heldendichtung 1. ed. W. Heissig. Wiesbaden 1981, 13⫺39. ⫺ 15 Lukina, N. V.: Mify, predanija, skazki chantov i mansi (Mythen, Sagen, Märchen der Chanten und Mansen). M. 1990, num. 37. ⫺ 16 Friedrich, A./Budruss, G.: Schamanengeschichten aus Sibirien. B. 21987, 36; Chichlo (wie not. 14) 14 sq. ⫺ 17 Heissig, W.: Felsgeburt (Petrogenese) und Bergkult. In: Fragen der mongol. Heldendichtung 2. ed. id. Wiesbaden 1982, 16⫺36; Kyzlasov, I. L.: Gora-praroditel’nica v fol’klore chakasov (Der Berg als Urahnin in der Volksüberlieferung der Chakassen). In: SovE˙ (1982) H. 2, 83⫺92; Lang, Ying: Yingxiong de zaisheng. Tujue yuzu xushi wenxue zhong yingxiong ru di muti yanjiu (Die W. des Helden. Eine Unters. des Motivs vom Helden, der in die Erde einfährt, in der epischen Lit. der Turkvölker). In: Minjian wenxue luntan (1994) H. 3, 19⫺ 25. ⫺ 18 cf. auch Bergunder (wie not. 1); Mills/Slobodin (wie not. 1). ⫺ 19 Antropova, V. V.: Predstavlenija korjakov o rozˇdenii, bolezni i smerti (Vorstellungen der Korjaken von Geburt, Krankheit und Tod). In: Priroda i cˇelovek v religioznych predstavlenijach narodov Sibiri i Severa. ed. I. S. Vdovin. Len. 1976, 254⫺266, hier 263. ⫺ 20 Leont’ev, V. V.: E˙tnografija i fol’klor kerekov (Ethnographie und Volksüberlieferung der Kereken). M. 1983, num. 11. ⫺ 21 Kosarev, M. F.: Prostranstvo i vremja v sibirskojazycˇeskom miroponimanii (Raum und Zeit nach sibir.-heidnischem Weltverständnis). In: Mirovozzrenie drevnego naselenija Evrazii. ed. M. A. De˙vlet. M. 2001, 439⫺454. ⫺ 22 Obst (wie not. 1) 59⫺61. ⫺ 23 Eson, L. E.: Merlin’s Last Cry. Ritual Burial and Rebirth of the Poet in Celtic and Norse Tradition. In: Zs. für celt. Philologie 55 (2007) 181⫺200; cf. EM 11, 1210. ⫺ 24 Alekseenko, E. A.: Materialy k izucˇeniju kul’ta medvedja u ketov (Materialien zur Erforschung des Bärenkultes bei den Keten). In: Materialy polevych e˙tnograficˇeskich issledovanij 1988⫺ 89 gg. SPb. 1992, 113⫺119. ⫺ 25 Yang, Xulin/Shen, Fulian: Zhongguo Yizu hu wenhua (Die Tigerkultur des Yi-Volkes Chinas). Kunming 1992, 18 sq., 23. ⫺ 26 Arcˇakova, O. B./Trifonova, L. L.: Mifologicˇeskie predstavlenija e˙venkov po materialam narodnych skazok (Mythol. Vorstellungen der Ewenken anhand des Materials von Volksmärchen). Blagovesˇcˇensk 2006, 51 sq. ⫺ 27 Mills, A.: Reincarnation Belief among North American Indians and Inuit. Context,
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Distribution and Variation. In: ead./Slobodin (wie not. 1) 15⫺37; Mauze´, M.: The Concept of the Person and Reincarnation among the Kwakiutl Indians. ibid., 177⫺191. ⫺ 28 Anucˇin, V. I.: Ocˇerk sˇamanstva u enisejskich ostjakov (Abriß des Schamanismus bei den Jenissei-Ostjaken). SPb. 1914, 12 sq. ⫺ 29 Mills (wie not. 27). ⫺ 30 Obst (wie not. 1). ⫺ 31 Kato, S.: Geschichte der jap. Lit. Bern/Mü./Wien 1989, 395. ⫺ 32 Inglis, A. D.: Hong Mai’s Record of the Listener and Its Song Dynasty Context. Albany, N. Y. 2006, 84, 94. ⫺ 33 ibid., 171, not. 139. ⫺ 34 ibid., 79 sq. ⫺ 35 Heissig, W.: Geschichte der mongol. Lit. Wiesbaden 21994, 622; cf. auch Inglis (wie not. 32) 80 (chin.). ⫺ 36 Heissig (wie not. 35) 618⫺ 621. ⫺ 37 Mylius, K.: Geschichte der altind. Lit. Bern/Mü./Wien 1990, 346 sq.
Gummersbach
Jörg Bäcker
Wiedergeburt des verbrannten Heiligen (AaTh/ ATU 788), europaweit verbreitetes Legendenmärchen, in der slov. Überlieferung auch als Lied bekannt. Die bes. durch M. J Maticˇetov untersuchte Erzählung1 handelt von einem Mann, der aufgrund eines schweren Vergehens getötet wird, latent weiterlebt und durch Parthenogenese erneut geboren wird: Ein Mann sündigt und wird von einem Begleiter (häufig J Christus) zum Tode verurteilt oder verurteilt sich selbst. Zur J Strafe bzw. Sühne wird er im Feuer verbrannt, oder er stirbt auf andere Weise, wobei ein Teil seines Körpers (Herz, Leber, Zunge, ein Knochen, Asche) erhalten bleibt oder er eine Frucht (Apfel, Birne) hinterläßt. Eine junge Frau kommt mit dem Überrest seines Körpers in Kontakt, den sie ißt oder an dem sie riecht, oder ein Funke des Feuers springt über, und sie wird schwanger (J Empfängnis, wunderbare). Nach seiner neuerlichen Geburt entwickelt sich der Mann rasch bzw. ist bereits bei der Geburt J erwachsen; manchmal wird er durch Nase oder Mund geboren. Er vollbringt übernatürliche Taten. Häufig sieht er, was einen verstorbenen Armen oder Reichen im Jenseits erwartet oder wo ein Schatz verborgen ist. Zuletzt wird er erlöst.
Das Legendenmärchen wurde erstmals 1858 durch M. J Valjavec nach Aufzeichnungen aus der mündl. Überlieferung veröffentlicht2. In der Folgezeit wurden weitere Var.n publiziert, teilweise mit ausführlichen Anmerkungen zur Überlieferungsgeschichte, so von L. J Gonzenbach3, F. Petr4, V. J Tille5, F. M. J Luzel6, R. J Köhler7, G. Finamore8 und G. J Pitre`9. M. J Dragomanov diskutierte das slav. Material im Zusammenhang mit einer
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Wiedergeburt des verbrannten Heiligen
kroat. Var.10, bei der es sich im Kern um AaTh/ATU 931: J Ödipus handelt, mit dem Unterschied, daß der Held auch die Mutter tötet (J Elternmörder)11. Weitere Nachweise stammen von J. J Bolte12, J. J Polı´vka13, ˇ ajkanovic´15. Bei F. S. J Krauss14 und V. J C ihren Kommentaren zur J Edda zogen sowohl A. J Olrik16 als auch J. de J Vries17 eine litau. Var.18 hinzu und verglichen das zentrale Motiv mit der Episode, in welcher der in eine Frau verwandelte J Loki durch ein von ihm verspeistes Herz geschwängert und so zum Stammvater der Hexen wird. I. J Grafenauer brachte AaTh/ATU 788 mit asiat. und osteurop. Pflanzen- und Mondmärchen in Verbindung19, und G. Ferraro verknüpfte eine sard. Var. mit seiner Theorie der Landwirtschaftsfolklore20. Nach unterschiedlichen Klassifizierungen von J. J Balys21, S. J Lo Nigro22 und P. A. J Delarue23 nahm S. J Thompson den Erzähltyp als AaTh 788 in seine Revision des internat. Typenkatalogs (1961) auf. Bis heute liegen ca 130 Var.n des Erzähltyps vor24, der aus finn., lett.25, litau., ir., frz. (auch frankokanad.), span., port., ital., ung., österr., tschech., slovak., slov., kroat., serb., bosn., griech. und rumän. Überlieferung belegt ist. Relativ häufig wird AaTh/ATU 788 mit dem Motiv der Ermordung der Eltern bzw. Schwiegereltern und dem des reumütigen Sünders verbunden. Ebenso häufig ist die Verbindung mit einer Erzählung von den Wundertaten des Protagonisten nach seiner Wiedergeburt. Es kommt auch zu Kombinationen bzw. Überschneidungen mit anderen Erzähltypen. Die vorderoriental. Überlieferung kennt ein Märchen, in dem eine junge Frau durch den Verzehr des aus einem Schädel hergestellten Knochenmehls schwanger wird26. Gelegentlich wird AaTh/ATU 788 mit AaTh/ATU 759: J Engel und Eremit (litau., tschech., slovak., sizilian.)27, mit AaTh/ATU 708: J Wunderkind (ital., lett., litau., mähr., slov.) oder mit AaTh/ATU 785: J Lammherz (dalmatin., bosn.)28 verbunden. Der Protagonist ist meist ein Heiliger, etwa Andreas, Matthäus, J Petrus, J Paulus, J Thomas, Philippus, Bartholomäus, J Elias, J Georg oder J Stephan, selten ein Engel; manchmal ist er ein Bauer, Einsiedler oder Sohn eines Königs, Grafen, Kaufmanns oder einer mitleidigen Greisin, ein Gastwirt, auch ein grober Mensch oder Räuber29. Sein Verge-
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hen ist häufig religiöser Natur: Er verletzt das J Fastengebot, die Arbeitsruhe, bes. am Sonntag (J Frevel, Frevler) oder mischt Wasser in den Wein. Es kann sich aber auch um ein gemeines Verbrechen handeln, etwa Raub oder Elternmord. Derartige Ausgestaltungen sind oft mit ma. apokryphen Legenden verbunden, so mit der des reumütigen Sünders (AaTh/ ATU 756 C: Die zwei J Erzsünder) oder mit der Ödipus-Motivik (AaTh/ATU 931)30. Verwandt erscheint auch eine Legende vom hl. J Johannes: Als dieser sich eines Gartens ohne Unkraut rühmt, bringt Jesus Unkraut in den Garten; Johannes jätet ihn am Sonntag und verbrennt zur Strafe auf der Stelle (frz., ung.)31; ähnlich wird ein Bauer (hl. Thomas, hl. Dominikus) bestraft, der am Sonntag auf dem Feld arbeitet (port., span.). Eine Verbindung besteht möglicherweise zum Liber de miraculis beati Andreae apostoli des J Gregor von Tours (12. Jh.), nach dem das Haus des hl. Andreas und manchen Zeugnissen zufolge der Heilige selbst darin verbrannte (ir., frz., herzegovin.). In AaTh/ATU 788 kann dieses Motiv des Verbrennens im Haus (ir., bret., herzegovin.) mit der Wiedergeburt des Protagonisten durch die hl. J Dorothea oder durch zwölf Nonnen, die zwölf Apostel gebären, verbunden sein32. Hinsichtlich der Herkunft von AaTh/ATU 788 stellte Maticˇetov fest, daß im Mittelmeerraum aus dem orphischen Mythos von Dionysos Zagreus (1. Jh. p. Chr. n.) stammende mythische Überlieferungen existieren, die u. a. von einem gewaltsam getöteten und aus seinem verspeisten Herzen wiedergeborenen Knaben handeln. Die Ereignisse nach der Geburt des Wunderknaben, der seinem Großvater zeigt, wie es dem Reichen und dem Bettler im Jenseits ergeht, brachte Maticˇetov mit dem ägypt. Roman von Satmi und Senosiris (2. Jh.) in Verbindung33. D.-R. J Moser kam anhand einer bei den in Slovenien lebenden Gottscheer Deutschen aufgezeichneten Var. zu der Ansicht, daß die Erzählung vor allem auf der gegenreformatorischen Paraphrase basiere: Das aus dem Fleisch Geborene muß aus dem Geist wiedergeboren werden („Ihr müßt von oben geboren werden!“, Joh. 3,7)34. Da bis zum 19. Jh. keine schriftl. Belege für AaTh/ATU 788 nachgewiesen sind, wohl aber verwandte Motive in apokryphen Legenden auftreten,
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Wiederholung ⫺ Wiege: Die Erzählung von der W
überwiegt in der Forschung allerdings die Ansicht, daß die Legende in der heute bekannten Form im MA. gestaltet wurde. 1
Maticˇetov, M.: Koledovanje v tomajski zˇupniji na Krasu in v Trebcˇah (Sternsinger im Pfarrbezirk Tomaj im Slov. Karst sowie in Trebcˇe). In: Dom in svet 52 (1940) 37⫺45, 101 sq.; id.: Sant’Andrea nasce due volte (in una poesia narrativa dal Carso triestino). In: Lares 11 (1940) 172⫺175; id.: Der verbrannte und wiedergeborene Mensch. In: Fabula 2 (1958) 94⫺109; id.: Sezˇgani in prerojeni cˇlovek (Der verbrannte und wiedergeborene Mensch). Diss. Ljubljana 1961; id.: Sˇetandresˇ. Una variante resiana della fiaba internazionale AT 788. In: Festschr. A. Ivanov. Udine 1992, 232⫺244; id.: V mednarodni okvir vpeta slovenska ljudska pravljica. Sporocˇilo treh izbranih zgledov (Ein in den internat. Rahmen eingebundenes slov. Volksmärchen. Die Botschaft dreier ausgewählter Beispiele). In: 21. Seminar slovenskega jezika, literature in kulture. Ljubljana 1995, 219⫺231, hier 220⫺224; id.: Sur les Attestations du conte-type AT 788 en France. In: Le Monde alpin et rhodanien 31 (2003) 267 sq. ⫺ 2 Valjavec, M.: Narodne pripovjedke skupio u i oko Varazˇdina. Varazˇdin 1858, 89 sq. (kroat.); id.: Sveti Andrej (Der hl. Andreas). In: Slovenski glasnik 4,3 (1859) 73 sq.; Sˇtrekelj, K.: Slovenske narodne pesmi 1. Ljubljana 1895⫺98, 557 sq., num. 582 (1845 aufgezeichnetes Lied). ⫺ 3 Gonzenbach, num. 87. ⫺ 4 Narodnı´ pı´sneˇ, poha´dky, poveˇsti […] 2. Prag 1878, 28⫺30, num. 7. ⫺ 5 Tille, Soupis 2,1, 166; ibid. 2,2, 451. ⫺ 6 Luzel, F. M.: Le´gendes chre´tiennes de la Basse-Bre´tagne 1. P. 1881, num. 9. ⫺ 7 Köhler, R.: Leggenda di un sant’uomo bruciato e rigenerato. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 2 (1883) 117⫺120. ⫺ 8 Finamore, G.: Una leggenda popolare abruzzese. La storije de Sand’Anduone. ibid., 207⫺210. ⫺ 9 Pitre`, G.: Fiabe e leggende popolari siciliane. Turin/ Palermo 1888, 208⫺214. ⫺ 10 Valjavec 1858 (wie not. 2). ⫺ 11 Dragomanov, M.: Un uomo bruciato e poi rigenerato. Legende serbo-croate. In: Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 12 (1893) 275 sq. ⫺ 12 Köhler/Bolte 2, num. 36. ⫺ 13 Kubin, J.: Povı´dky kladske´ 2. Prag 1910, 185 sq. ⫺ 14 Anthropophyteia 1 (1904) 49, num. 49; cf. auch Krauss, F. S.: Sagen und Märchen der Südslaven 2. Lpz. 1884, num. ˇ ajkanovic´, V.: Srbske narodne pripovetke 55. ⫺ 15 C 1. Belgrad/Zemun 1927, num. 166. ⫺ 16 Olrik, A.: Myterne om Loke. In: Festschr. H. F. Feilberg. Stockholm/Kop./Kristiania 1911, 548⫺593. ⫺ 17 Vries, J. de: The Problem of Loki (FFC 110). Hels. 1933, 217 sq. ⫺ 18 Leskien, A./Brugman, K.: Litau. Volkslieder und Märchen aus dem Preuss. und dem Russ. Litauen. Straßburg 1882, 170⫺173 (dt. Übers. 490⫺494, not. p. 575). ⫺ 19 Grafenauer, I.: Narodno pesnisˇtvo (Volksdichtung) [1945]. In: Narodopisje slovencev 2. ed. id./B. Orel. Ljubljana 1952, 12⫺ 85. ⫺ 20 Ferraro, G.: Folklore dell’agricoltura. In:
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Archivio per lo studio delle tradizioni popolari 10 (1891) 266⫺274, 347⫺361; 11 (1892) 76⫺101, 200⫺ 218. ⫺ 21 Balys 703*. ⫺ 22 Lo Nigro 708. ⫺ 23 Delarue/ Tene`ze 788*. ⫺ 24 Zuletzt Maticˇetov 2003 (wie not. 1). ⫺ 25 Sˇmits, P.: Latviesˇu pasakas un teikas 5. Riga 1929, 29⫺32. ⫺ 26 Eberhard/Boratav, num. 100; Marzolph *875 D1; cf. Dragomanov, M.: Slavjanskite skazanija za rozˇdenieto na Konstantina Velikij (Slav. Erzählungen über die Geburt Konstantin des Großen). In: Sbornik za narodni umotvorenija, nauka i knjizˇnina 2 (1890) 132⫺184; 3 (1890) 206⫺ 246; Konomes, N.: Kypriaka paramythia. In: Laographia 20 (1962) 321⫺328. ⫺ 27 Dragomanov, M.: Zabelezˇki vrhu slavjanskite religiozni i eticˇeski legendi (Bemerkungen zu den slav. religiösen und ethischen Legenden). In: Sbornik za narodni umotvorenija, nauka i knjizˇnina 7 (1892) 245⫺310; Kubin (wie not. 13). ⫺ 28 BP 2, 155. ⫺ 29 Maticˇetov 1961 (wie not. 1) 56⫺59; id. 1958 (wie not. 1) 97. ⫺ 30 Dragomanov, M.: Ka˘m statijata „Slavjanskite prepravki na Edipovata istorija“ (Zum Beitrag „Slav. Veränderungen der Ödipus-Geschichte“). In: Sbornik za narodni umotvorenija, nauka i knjizˇnina 5 (1891) 267⫺310; 6 (1891) 309 sq. ⫺ 31 Maticˇetov 1961 (wie not. 1) 103⫺117, 217 sq. ⫺ 32 ibid., 123, 223⫺226 (ir.), 222 (herzegovin.). ⫺ 33 ibid., 125⫺128. ⫺ 34 Moser, D.-R.: Volkserzählungen und Volkslieder als Paraphrasen bibl. Geschichten. In: Festschr. K. Horak. Innsbruck 1980, 139⫺ 160, hier 153 sq.
Ljubljana
Monika Kropej
Wiederholung J Stil, J Struktur
Wiege: Die Erzählung von der W. (AaTh/ ATU 1363), im westl. und südl. Europa verbreiteter ma. Ehebruchschwank. Zwei J Studenten werden von einer Familie beherbergt und schlafen nachts im selben Raum wie der Hausherr (oft ein J Müller), seine Frau, seine ältere Tochter und ein Säugling, der in einer W. am Fuß des Ehebetts liegt. Nachts schleicht sich der eine Student heimlich zur Tochter und verführt sie. Später steht die Mutter auf und verläßt den Raum, woraufhin der andere Student die W. mit dem Säugling vor sein Bett rückt. Bei ihrer Rückkehr legt sich die durch die verstellte W. getäuschte Mutter in das Bett des Studenten und gibt sich ihrem vermeintlichen Ehemann hin. Gegen Morgen stiehlt sich der erste Student in sein Bett zurück, wird aber gleichfalls durch die verstellte W. getäuscht, so daß er sich im Ehebett neben dem Hausherrn wiederfindet, den er für seinen Kommilitonen hält. Er erzählt ihm von der Verführung der Tochter, was zu einem Wutausbruch des Vaters und zu Handgreiflichkeiten führt.
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Wiege: Die Erzählung von der W
Der andere Student stellt die W. an ihren ursprünglichen Platz zurück. Schließlich gelingt es der Ehefrau, ihren Mann zu besänftigen, indem sie ihm erklärt, sie seien von einem bösen Geist heimgesucht worden.
Der Erzählstoff ist zuerst in Jean Bodels Fabliau Gombert et les deus Clers (ca 1200)1 überliefert und findet sich in der Folge in fast allen Volkssprachen (Rüdeger von Munre, Studentenabenteuer B [Irregang und Girregar, um 1300], Studentenabenteuer A [Mitte 13. Jh.], Le Meunier et les deux clercs [Mitte 13. Jh.], Een bispel van .ij. clerken, ene goede boerde [Ende 14./Anfang 15. Jh.])2. Die bekanntesten Fassungen stammen von J Boccaccio (Decamerone 9,6) und J Chaucer (The Reeve’s Tale)3; die weiteste schriftl. Verbreitung hatte der Stoff wohl im 16./17. Jh. (The Milner of Abington [16. Jh.], die lat. Prosafassung Alia historia de duobus studentibus, qui hospitem cum uxore et filia inebriarium in De generibus ebrisorum [ca 1516], Hans J Sachs, Michael J Lindener, Martin J Montanus, J La Fontaine)4. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s sind Aufzeichnungen von AaTh/ATU 1363 für den skand. Raum, Westeuropa, den Mittelmeerraum und Osteuropa belegt; Ausläufer finden sich in Nord- und Mittelamerika (USA, Mexiko, Dominikan. Republik, Puerto Rico). Die eingeschränkte räumliche Verbreitung des Stoffs erklärt sich möglicherweise daraus, daß sein Verständnis nur dort möglich ist, wo es üblich ist (bzw. war), den Gast und die Familie des Gastgebers (inklusive der weiblichen Mitglieder) im selben Raum übernachten zu lassen, wie in Europa im MA. und noch bis ins 19. Jh. für ländliche Regionen belegt5. Das Grundgerüst des Schwanks wird in den Var.n z. T. erheblich ausgeschmückt: Das Studentenabenteuer B weist eine dreiteilige Struktur mit drei Nächten auf, in denen die Studenten, die Ehefrau und die Tochter ungehemmt ihren sexuellen Aktivitäten nachgehen, während dem Hausherrn ein ums andere Mal suggeriert wird, er habe schlecht geträumt. Zuletzt machen seine Frau und seine Tochter ihm weis, zwei Kobolde namens Irregang und Girregar seien für die verwirrenden Vorgänge verantwortlich6. Bei Chaucer wird das Grundgerüst durch die Koppelung an das Motiv des diebischen Müllers erweitert. So übernachten die Studenten hier nicht zufällig beim Müller, sondern fädeln dies als Teil eines Racheplans
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ein, weil der Müller ihr College um Mehl betrügt. Sie handeln also mit dem Gedanken an eine ausgleichende Gerechtigkeit, wenn sie die Tochter, deren Verheiratung in einen höheren Stand geplant ist, verführen und einen aus dem gestohlenen Mehl gebackenen Kuchen entwenden7. Eine ähnliche Motivation begegnet in einer ir. Var., in der Vater und Sohn auf der Suche nach ihren gestohlenen Kühen zufällig bei der Familie des Diebs übernachten (hier allerdings fehlt die W., Ehefrau und Sohn orientieren sich an dem Bett, in dem nur eine Person liegt)8. In einer serb. Var. sind die Handlungsträger zwei Deserteure, die auf ihrer Flucht bei einem Priester Unterschlupf finden9. Trotz intensiver Bemühungen ist es nicht gelungen, ein überzeugendes Stemma der verschiedenen Var.n der Erzählung zu konstruieren10. F. Frosch-Freiburg weist als stoffgeschichtlichen Ursprung die altfrz. Fabliaux des 13. Jh.s Gombert et les deus Clers und Le Meunier et les deux Clers nach11, betont jedoch, daß etwaige Stemmata lediglich als Hilfskonstruktionen anzusehen seien. Allerdings kann man durchaus enger zusammengehörige Fassungen unterscheiden: In einigen Var.n (z. B. bei Boccaccio) sind der erste Student und die Tochter bereits vor Einsetzen der Handlung ein Liebespaar, in anderen, wie bei Chaucer, liegt dem Verhalten der Studenten der Wunsch nach Rache zugrunde. Die unter AaTh/ATU 1363 klassifizierten Texte aus Mexiko, der Dominikanischen Republik und Puerto Rico weisen deutliche Abweichungen vom Erzählschema auf: Ein Mann und sein dummer Bruder reisen auf der Suche nach einer Braut für letzteren zu Verwandten (finden Unterkunft bei einer Familie). Statt sich der schönen Tochter vorzustellen, zeigt der Dumme beim Abendessen nur seine Unersättlichkeit. Nachts teilen sich die Brüder und das Ehepaar jeweils ein Zimmer, während die Tochter in einem separaten Raum schläft. Der dumme Bruder erwacht und geht in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Auf dem Rückweg gerät er in das Schlafzimmer des Ehepaars. Als die Frau im Schlaf furzt, ruft der dumme Bruder, sie solle nicht auf sein Essen furzen, da es sonst kalt werde. Er wirft das Essen auf sie und verläßt das Zimmer, um seine Hände zu waschen. Der Ehemann erwacht und glaubt, seine Frau habe defäkiert. Obwohl sie dies abstreitet, schickt er sie zum Waschen fort. Am Waschbecken steht der dumme Bruder, dem es nicht gelingt, seine Hand aus einem
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Wieland, Christoph Martin
Krug herauszuziehen; um die Hand zu befreien, zerschlägt er den Krug auf dem Kopf der Frau. Sie glaubt jedoch, ihr Ehemann habe sie geschlagen. Der andere Bruder erfährt von den nächtlichen Vorgängen, sattelt die Pferde, und sie verschwinden gemeinsam12. 1 cf. Nouveau Recueil complet des fabliaux 4. ed. W. Noomen/N. van den Boogaard. Assen 1988, num. 35. ⫺ 2 Ziegeler, H.-J.: Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: ,The Tale of the Cradle‘. In: Grubmüller, K./Johnson, L. P./Steinhoff, H.-H. (edd.): Kleinere Erzählformen im MA. Paderborn u. a. 1988, 9⫺31; Varnhagen, H.: Die erzählung von der w. In: Engl. Studien 9 (1886) 240⫺266, hier 240 sq. ⫺ 3 Fischer, H./Janota, J.: Studien zur dt. Märendichtung. Tübingen 21983, num. 107; Ziegeler (wie not. 2) 18; Grubmüller, K.: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Tübingen 2006, 257. ⫺ 4 Ziegeler (wie not. 2) 18; Varnhagen (wie not. 2) 240 sq.; Frosch-Freiburg, F.: Schwankmären und Fabliaux. Göppingen 1971, 120. ⫺ 5 Borbe´ly, A.: Das Geheimnis des Schlafs. Stg. 1984, 27. ⫺ 6 cf. Witthöft, C.: Der Weg in die Irre. Raum und Identität im „Studentenabenteuer“ B (Rudeger von Munre, „Irregang und Girregar“) und in Boccaccios „Decameron“. In: Irrwege. Zur Ästhetik und Hermeneutik des Fehlgehens. ed. M. Däumer/M. Lickhardt/C. Waldschmidt/C. Riedel. Heidelberg 2010, 187⫺212. ⫺ 7 Ziegeler (wie not. 2) 29 sq.; vgl. Ehrentreich, A.: Engl. Volksmärchen. MdW 1938, 37⫺42; DFB B 2, 442⫺445. ⫺ 8 MüllerLisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1923, num. 39. ⫺ 9 Anthropophyteia 7 (1910) num. 814. ⫺ 10 cf. Frosch-Freiburg (wie not. 4) 119⫺128. ⫺ 11 Rychner, J.: Contribution a` l’e´tude des fabliaux 2. Neuchaˆtel 1960, 152⫺160. ⫺ 12 Robe, S. L.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berkeley/L. A./ L. 1970, num. 119, 120.
Münster
Hanno Rüther
Wieland, Christoph Martin, *Oberholzheim bei Biberach 5. 9. 1733, † Weimar 20. 1. 1813, dt. Dichter und Übersetzer1. W. wuchs in Biberach, im pietistisch geprägten Internat Klosterbergen bei Magdeburg und in Erfurt auf. 1750 schrieb er sich in Tübingen für Jura ein, widmete sich aber der Lit. 1752 ging er in die Schweiz, wohnte bis 1754 bei J. J. Bodmer in Zürich und wirkte danach als Hauslehrer, zuletzt in Bern. 1760⫺69 war er in Biberach als Kanzleiverwalter tätig; 1769⫺72 hatte er die Professur für Philosophie an der Univ. Erfurt inne. 1772 folgte er dem Angebot der regierenden Herzoginwitwe Anna Amalia, in Weimar die Erziehung des Erbprinzen Carl August bis zu dessen Volljährigkeit 1775 zu übernehmen.
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Im Anschluß daran arbeitete W. als freier Schriftsteller. 1797⫺1803 bewohnte er das Landgut Oßmannstedt bei Weimar, wo sich auch sein Grab befindet2. Unter den Schriftstellern der J Aufklärung ist W. einer der bedeutendsten Kenner, Schöpfer und Vermittler von Märchen3. Er dichtete eigene Märchen, übers. und bearb. Märchen aus dem Französischen (J Conte de[s] Fe´es) und veröff. eine Auswahl davon in seiner Zs. Der Teutsche Merkur (1773⫺1810)4. Bis etwa 1758 scheint W. hauptsächlich moralisch-didaktisch orientierte Feenmärchen rezipiert zu haben; erst danach lernte er orientalische Märchensammlungen wie J Tausendundeine Nacht und orientalisierende Kunstmärchen kennen, die zahlreiche seiner späten Erzählungen beeinflußten. W.s Märchenmotive lassen eindeutige Rückschlüsse auf seine Qu.n zu: Märchen von Madame d’ J Aulnoy, Henriette-Julie Comtesse de J Murat und M. de Lubert (1710⫺ 79), Erzählungen von P. J. Cre´billon (1674⫺ 1762), A. Hamilton (ca 1646⫺1720), T.-S. J Gueulette, Anne Claude Comte de Caylus (1692⫺1765) und J Perrault5. Daß er Volksmärchen im Sinne von Jacob und Wilhelm J Grimm oder andere mündl. tradierte Märchen kannte, läßt sich keiner seiner Äußerungen entnehmen6. Mit antiken Stoffen war W. hingegen eng vertraut. Unter den zahllosen Märchenanspielungen in seinen Werken nimmt J Apuleius’ Märchenroman Der goldene Esel eine Sonderstellung ein, bes. die darin enthaltene Geschichte von J Amor und Psyche, die W. etwa im Aristipp (3,12; 1800/01) verarbeitete. Zu W.s ersten 22 J Shakespeare-Übers.n (1762⫺ 66) gehören auch dessen große Märchenkomödien; Shakespeares Midsummer Night’s Dream inspirierte sein Stanzenepos Oberon (1780). Entscheidende Impulse vermittelten ihm auch die phantastischen Erzählungen J Lukians, dessen Werk er ebenfalls übersetzte (1788/89)7. Schon in W.s frühen Werken stellen Märchen und Märchenelemente integrale Bestandteile dar. Davon zeugen die Erzählungen Zenin und Gulindy (1752), der Anti-Ovid (1752) und das Märchen vom Riesen und dem bezauberten Vogel (in Der Gepryfte Abraham [1753]). Mit der parodistischen Geschichte des Prinzen Biribinker in dem Roman Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva (1764), der ganz in der Tra-
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Wieland, Christoph Martin
dition frz. Feenmärchen steht, schuf W. eines der frühesten Kunstmärchen der dt. Lit.8 Wie J Cervantes’ Don Quijote von seiner Schwärmerei für das Ritterleben9 wird Don Sylvio von seiner Schwärmerei für Feen geheilt. Zum Ausgleich siegt in W.s letztem Feenmärchen Die Entzauberung, Teil des Hexameron von Rosenhain (1805)10, die wahre Liebe mit Hilfe des Feenzaubers. Vor allem in den 1770er Jahren verfaßte W. nach dem beliebten frz. Muster eine Reihe romantischer Versmärchen. Den Auftakt bildete das komische Gedicht Idris (1768), das ein Pendant zu Hamiltons Les Quatre Facardins (1730) darstellt11; ihm folgten Das Wintermährchen (1776), Das Sommermährchen (1777)12, Hann und Gulpenheh (1778), Pervonte (1778/ 79) (AaTh/ATU 675: Der faule J Junge) und Die Wasserkufe (1795)13. Einen Höhepunkt in W.s Märchenproduktion bildet die dreibändige Slg Dschinnistan (1786/87/89), die allerdings nur zwei von ihm selbst verfaßte Märchen enthält: Der Stein der Weisen oder Sylvester und Rosine (t. 1) sowie Der Druide, oder die Salamandrin und die Bildsäule (t. 2)14. Bei den anderen elf Texten handelt es fast ausschließlich um Übertragungen von frz. Märchen, die die Slg Cabinet des fe´es (1785⫺89) zum Vorbild haben: Nadir und Nadine; Adis und Dahy; Neangir und seine Brüder; Argentine und ihre Schwestern; Timander und Melissa (t. 1); Himmelblau und Lupine; Der goldene Zweig; Alboflede; Pertharit und Ferrandine (t. 2); Der eiserne Armleuchter; Der Greif vom Gebürge Kaf sowie zum Teil Der Palast der Wahrheit (t. 3). Darüber hinaus enthält die Slg auch zwei Märchen, die nicht von W. übersetzt wurden, sondern von Friedrich Hildebrand von Einsiedel (1750⫺1828) und W.s Schwiegersohn Johann August Jacob Liebeskind (1758⫺93). Liebeskinds Text Lulu oder Die Zauberflöte diente als Vorlage für Emanuel Schikaneders Libretto für Mozarts Märchenoper Die Zauberflöte (1791)15 und für Joachim Perinets Libretto für Wenzel Müllers Wiener Singspiel Der Fagottist oder die Zauberzither (1791). Bereits W.s Held Hüon (J Huon de Bordeaux) erhält im Oberon16 vom Elfenkönig ein wundertätiges J Horn. Eine weitere bedeutende Märchendichtung W.s ist Das Hexameron von Rosenhain (1805)17. Dieser an J Boccaccios Decamerone und J Goethes Unterhaltungen dt. Ausgewanderten
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anknüpfende Zyklus enthält neben Novellen und Anekdoten auch drei Märchen. Die Erzählerin Rosalinde eröffnet ihn mit dem in einem oriental. Milieu angesiedelten Märchen Narcissus und Narcissa (cf. J Narziß). Ihm folgen mit Dafnidion ein in Griechenland spielendes und mit Die Entzauberung ein Feenmärchen, bevor sich der Zyklus mit der Novelle ohne Titel und mit den beiden folgenden Anekdoten der hist. Welt zuwendet. In zeitlicher Nachbarschaft zum Hexameron besorgte W. eine Neuausgabe der von ihm überarbeiteten und annotierten Dt. Volksmährchen (t. 1⫺5, 1804/05) von J Musäus (zuerst 1782⫺86). Die ,zauberhafte Vernünftigkeit‘18 von W.s Märchen entspricht den Perspektivierungen seines literar. Werkes und trägt seinen universal-anthropol. Voraussetzungen Rechnung19. Bes. aus der Mythen- und Märchengeschichte und ihrer ,Sprache der Phantasie‘20, von der Karl Philipp Moritz in seiner Götterlehre (1791) spricht, ist der menschliche Hang zum Wunderbaren und Phantastischen ablesbar. „Je mehr ein Mährchen von der Art und dem Gang eines lebhaften, gaukelnden, sich in sich selbst verschlingenden, räthselhaften, aber immer die leise Ahnung eines geheimen Sinnes erweckenden Traumes in sich hat, je seltsamer in ihm Wirkungen und Ursachen, Zwecke und Mittel gegen einander zu rennen scheinen, desto vollkommener ist, in meinen Augen wenigstens, das Mährchen.“21 Während es zwischen W.s Zeitgenossen Bodmer, der das Wunderbare und Phantastische bejahte, und Johann Christoph Gottsched, der es ablehnte und stattdessen Naturnachahmung und Wahrscheinlichkeit forderte, zu heftigen Kontroversen kam, gelang W. eine souveräne narrative Verbindung von realer und phantastischer Welt. In seinem letzten Feenmärchen Die Entzauberung zerhaut die Fee den Knoten, zu dessen Entstehen sie selbst beigetragen hat, so daß ⫺ wie schon im Don Sylvio ⫺ der Umweg über das Märchen dazu dient, in die reale Welt zurückzufinden22. W.s Märchen sind lebendige, vielseitig gesprächige, geistvoll lebensbezogene und lebensbejahende Hervorbringungen seines Geistes. Sie spotten der Didaktik und Moral und treten für eine bewußte und verfeinerte Lebensführung ein. Beinahe unmerklich schärfen sie dank wunderbarer Distanzierungsprozesse die
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Wieland der Schmied
Urteilskraft. Auch außerhalb des Wahrscheinlichen wird in den variantenreichen Adaptionen von contes des fe´es oder contes orientaux W.s Urbanisierungsanliegen greifbar und in die gesellschaftsfähige Eleganz gehobener Unterhaltung überführt. 1 W., C. M.: Sämmtliche Werke [in 4 Formaten] 1⫺ 39 und 6 Suppl.bände. Lpz. 1794⫺1811 (Nachdr. Hbg 1984); id.: Briefwechsel 1⫺20. ed. […] S. Scheibe. B. 1963⫺2007; Günther, G./Zeilinger, H.: W.-Bibliogr. B./Weimar 1983, Forts. in: W.-Studien 1 sqq. (1991 sqq.); W., C. M.: Werke. Hist.-kritische Ausg. 1⫺36. ed. K. Manger/J. P. Reemtsma. B. 2008 sqq. ⫺ 2 Starnes, T. C.: W. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Qu.n chronologisch dargestellt 1⫺ 3. Sigmaringen 1987. ⫺ 3 cf. Hillmann, H.: Wunderbares in der Dichtung der Aufklärung. Unters.n zum frz. und dt. Feenmärchen. In: DVLG 43 (1969) 76⫺ 113; Wührl, P.-W.: Das dt. Kunstmärchen. Geschichte, Botschaft und Erzählstrukturen. Heidelberg 1984, 45⫺54; Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Vom Feenmärchen zum Volksmärchen. Stg. 1988; Zeller, R.: Das Kunstmärchen des 17. und 18. Jh.s zwischen Wirklichkeit und Wunderbarem. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 23 (1993) 56⫺74; Gelzer, F.: „Die Quintessenz aller Abentheuer der Amadise und Feen-Mährchen“. Die Rehabilitierung des Romanesken in W.s Verserzählungen. In: W.-Studien 5 (2005) 54⫺65; Fink, G.-L.: Naissance et apoge´e du conte merveilleux en Allemagne. P. 1966, pass. ⫺ 4 Nowitzki, H.-P.: Märchen. In: W.-Hb. ed. J. Heinz. Stg. 2008, 210⫺227. ⫺ 5 Grätz, M.: Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 161; cf. Mayer, K. O.: Die Feenmärchen bei W. In: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 5 (1892) 374⫺408, 497⫺533. ⫺ 6 Grätz (wie not. 5) 166, 170. ⫺ 7 Baumbach, M.: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. Mü. 2002, 89⫺113; id.: Lukian. In: Heinz (wie not. 4) 411⫺419; Weissenberger, M.: W. als Übersetzer Lukians. In: Wissen ⫺ Erzählen ⫺ Tradition. W.s Spätwerk. ed. W. Erhart/L. van Laak. B./N. Y. 2010, 329⫺343. ⫺ 8 cf. Tarot, R.: W. Geschichte des Prinzen Biribinker. In: Kunstmärchen. Erzählmöglichkeiten von W. bis Döblin. ed. id. Bern 1993, 37⫺63; Kurrelmeyer, W.: The Sources of W.’s Don Sylvio. In: Modern Philology 16 (1918/19) 637⫺648; Immer, N.: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. In: Heinz (wie not. 4) 251⫺259. ⫺ 9 cf. Jacobs, J.: Don Quijote in der Aufklärung. Bielefeld 1992. ⫺ 10 cf. Haischer, P.: Das Hexameron von Rosenhain. In: Heinz (wie not. 4) 333⫺344. ⫺ 11 Grätz (wie not. 5) 163. ⫺ 12 Knapp, F. P.: Herr Gawein lacht. Märchenkomik in den Verserzählungen „Das Maultier ohne Zaum“ von Paien de Maisie`res und „Das Sommermärchen“ von C. M. W. In: Wolfzettel, F. (ed.): Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Tübingen 2003, 193⫺208. ⫺ 13 No-
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witzki (wie not. 4) 213⫺227; cf. Heinz, J.: „Feereyn“ oder „ganz einfache Geschichtchen?“ Das Hexameron von Rosenhain zwischen poetologischer Tradition und Innovation. In: Erhart/Laak (wie not. 7) 253⫺276. ⫺ 14 Apel, F.: Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens. Heidelberg 1978, 95; Paulus, J.: Der Enthusiast und sein Schatten. Literar. Schwärmer- und Philisterkritik um 1800. B./N. Y. 1998, 34⫺44. ⫺ 15 Dieckmann, F.: Eine Zauberflöte aus Dschinnistan. W.s Slg und Schikaneders Text. In: Neue dt. Lit. 39,12 (1991), 135⫺145; Reiber, J.: Wandernd erkennen. Das literar. Umfeld der „Zauberflöte“. In: Wege zu Mozart 2. ed. H. Zeman. Wien 1993, 193⫺205; Pestalozzi, K.: Das Libretto der Zauberflöte als Märchen der Aufklärung. Basel 1998; cf. Assmann, J.: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium. Mü./Wien 2005, 85⫺91, 277⫺283. ⫺ 16 cf. Gelzer, F.: Oberon. In: Heinz (wie not. 4) 227⫺237. ⫺ 17 W., C. M. (wie not. 1) t. 38 (1805); cf. Haischer (wie not. 10). ⫺ 18 Nowitzki (wie not. 4) 210. ⫺ 19 Heinz, J.: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Unters. zum anthropol. Roman der Spätaufklärung. B./ N. Y. 1996, bes. 170⫺173. ⫺ 20 Moritz, K. P.: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. B. 1791, 1. ⫺ 21 W., C. M. (wie not. 1) t. 38 (1805), 169. ⫺ 22 cf. id., 147 und 164.
Jena
Klaus Manger
Wieland der Schmied (altengl. We¯land, We¯lund, mittelniederdt.-altnorw. Ve¯lent, mhd. Wielant, altfrz. Walandus, Galan[t], altisl. Vo˛lundr), Figur der germ. Heldensage (J Germ. Erzählgut, Kap. 2.4)1. Die ältesten Zeugnisse sind zwei Bilddarstellungen: Franks Casket (Runenkästchen von Auzon; Nordhumbrien, um 700)2 und der Bildstein von Ardre VIII (Gotland, spätes 8. Jh.)3. Der Erzählkern der W.-Sage stellt sich nach den ma. Bild- und Textquellen wie folgt dar: W., ein ausnehmend kunstfertiger J Schmied, besitzt große J Schätze. Er wird von König Nidhad, einem Gewaltherrscher, zuerst beraubt, dann gefangengesetzt und schließlich gezwungen, Schmiedearbeiten für ihn zu verrichten. Damit er nicht fliehen kann, schneidet man ihm die Beinsehnen durch. Der gelähmte, vermeintlich hilflose J Krüppel rächt sich auf grausame Weise: Zuerst enthauptet er die beiden Königssöhne und verfertigt aus ihren Körperteilen Kleinodien für die Königsfamilie, dann vergewaltigt er die Königstochter Baduhild, und schließlich flieht er, und zwar in älterer Version in Vogelgestalt (Ardre VIII), in jüngerer Version mit einem Fluggerät (ÏiÎreks saga af Bern)4. Das Recht wird insofern wiederhergestellt, als W.s Sohn Witege, den Badu-
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Wieland der Schmied
hild erwartet, später seine Schätze erben wird: Nidhad hat keine männlichen Nachkommen mehr.
Ähnlichkeiten zwischen W. und Schmiedegöttern wie dem griech. Hephaistos bleiben im archetypischen Bereich (J Hinken, Hinkender, Kap. 4), sodaß man in W. schwerlich einen gesunkenen Gott aus idg. Vorzeit5 erblikken kann (J Euhemerismus). Fast durchwegs sind die Denkmäler und Zeugnisse der W.Sage in heroische Überlieferungskontexte eingebettet; weder Stoff noch Figur des Protagonisten sind indessen dem germ. ,heroischen ZA.‘ der Völkerwanderungszeit verhaftet6. Es ist wohl die fehlende (oder bereits früh verschüttete) hist. Faktizität, die zu einer ,Variation durch Attraktion‘ geführt hat: An den festen Kern der Rachesage hat sich jeweils unfestes Erzählgut angelagert7. In der in das 10. Jh. zurückreichenden altisl. Vo˛lundarkviÎa der Lieder-Edda (J Edda, Kap. 3.1)8 wird die Rachesage durch eine Passage eingeleitet, die schildert, daß W. mit einer J Schwanjungfrau verheiratet ist, die ihn nach sieben Jahren verläßt9. Um einen originalen Bestandteil der W.-Sage handelt es sich aber kaum, denn das Schwanjungfrau-Motiv erscheint in keinem anderen Zeugnis10. Der frühneuhochdt. J Friedrich von Schwaben11 ist in diesem Zusammenhang von geringer Bedeutung12. In der Vo˛lundarkviÎa gilt W. als Albe (J Elf, Elfen, Kap. 1); dieser hat allerdings aufgrund seiner unheroischen Haltung mit den typischen Protagonisten der älteren eddischen Heldendichtung nicht viel gemein; der Text wurde offenbar erst sekundär heroisiert13. ,Enzyklopädisiert‘ ist die W.-Geschichte der altnorw. ÏiÎreks saga af Bern (J Dietrich von Bern), die um die Mitte des 13. Jh.s auf ndd. Grundlage entstand14. Die fabulierfreudige, z. T. burleske Erzählung zeigt gegenüber dem EddaLied eine deutliche thematische und strukturelle Transposition15: Unter ausgiebiger Einbeziehung internat. Erzählguts wird W. in einer summula artificii als vielseitiger Künstler-Handwerker in Szene gesetzt: Er baut sich aus einem Baumstamm ein Unterwassergefährt, schmiedet ein magisches Messer und ein Wunderschwert, fertigt eine täuschend lebensechte Statue an, bringt den Siegstein des Königs (Mot. D 1400.1.14) in unglaublicher Geschwindigkeit herbei und mischt einen Liebeszauber in
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das Essen der Königstochter16. Die Flucht mit einem Flugapparat (J Luftreisen) erinnert an den griech. J Dädalus, der in der altisl. gelehrten Lit. mit W. gleichgesetzt wird17. Die beiden ersten Strophen des Deor, einer wohl im 9., eventuell auch schon im 8. Jh. verfaßten altengl. Elegie (Hs. spätes 10. Jh.)18, porträtieren W. und Baduhild als beispielhaft Leidende. Dem Text geht es indessen nicht um Narratio, sondern um eine Aneinanderreihung von Exempla; W. erscheint hier als Held oder Mann (altengl. eorl, monn), gilt also nicht als überirdisches Wesen. Ferner findet sich in der altengl., altfrz. und mhd. (Helden-)Dichtung eine Reihe von Figurenzitaten19: W. wird des öfteren als Schmied hervorragender Waffen bzw. als Vater des Dietrich-Helden Witege erwähnt. Mit den Volkserzählungen von einem J unsichtbaren, unterirdisch lebenden Schmied (in Westfalen Grinkenschmied genannt)20, mit dem man z. T. stummen Handel treibt21, wurde die Figur W.s in England offenbar bereits früh in Verbindung gebracht (Welandes smiÎÎe, 955)22; auch die frühneuhochdt. HeldenbuchProsa (15. Jh.) läßt W. unterirdisch arbeiten23. Ein Widerhall der W.-Sage liegt in einem frz. Märchen aus der Gascogne und dem Pyrenäengebiet vor: Ein Schmiedelehrling wird verstümmelt und muß Zwangsarbeit verrichten, köpft dann jedoch die Tochter des Schmieds, eine Schlangenkönigin, und entkommt schließlich im Flug24. Im weiteren Zusammenhang mit der W.-Sage steht auch die Erzählung von der J Rache des Kastrierten (ATU 844*)25, die ebenfalls von Rechtsverletzung und -wiederherstellung handelt und zuerst in der arab. Lit. des 10. Jh.s belegt ist26. Eine neuzeitliche literar. Rezeption der W.Sage fand vor allem in der Romantik und Neoromantik statt27. 1 Nedoma, R.: Die bildlichen und schriftl. Denkmäler der W.sage. Göppingen 1988; Frenzel, Stoffe, 964⫺966. ⫺ 2 Becker, A.: Franks Casket. Regensburg 1973; Nedoma (wie not. 1) 5⫺27; Meillet, V.: Der Schmied und der Erlöser. Zur Deutung W.s im altengl. ,Boethius‘ und auf dem Runenkästchen von Auzon. In: Keller, J./Kragl, F. (edd.): Mythos ⫺ Sage ⫺ Erzählung. Gedenkschrift A. Ebenbauer. Göttingen 2009, 311⫺330, hier 323⫺330. ⫺ 3 Buisson, L.: Der Bildstein Ardre VIII auf Gotland. Göttingen 1976; Nedoma (wie not. 1) 27⫺31. ⫺ 4 cf. Fromm, H.: Schamanismus? Bemerkungen zum
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Wienert, Walter
W.lied der Edda. In: Arkiv för nordisk filologi 114 (1999) 45⫺61, hier 55 sq. ⫺ 5 Beckmann, G. A.: W. der S. in neuer Perspektive. Ffm. u. a. 2004, 78⫺89; cf. auch Maillefer, J.-M.: Essai sur Völundr-Weland. La religion scandinave ancienne a-t-elle connu un dieu forgeron? In: Hugur. Me´langes d’histoire, de litte´rature et de mythologie. Festschr. R. Boyer. P. 1997, 331⫺352. ⫺ 6 Nedoma (wie not. 1) 133⫺ 136. ⫺ 7 Beck, H.: Der kunstfertige Schmied ⫺ ein ikonographisches und narratives Thema des frühen MA.s. In: Andersen, F. G. u. a. (edd.): Medieval Iconography and Narrative. Odense 1980, 15⫺37, hier 16⫺21. ⫺ 8 Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern 1. ed. G. Neckel/H. Kuhn. Heidelberg 51983, 116⫺123; dazu Dronke, U.: The Poetic Edda 2. Ox. 1997, 105⫺153; See, K. von u. a.: Kommentar zu den Liedern der Edda 3. Heidelberg 2000, 77⫺265. ⫺ 9 Burson, A.: Swan Maidens and Smiths. A Structural Study of „Vo˛lundarkviÎa“. In: Scandinavian Studies 55 (1983) 1⫺19, hier 4⫺7; dazu Beck, H.: Die Vo˛lundarkviÎa in neuerer Forschung. In: ÜberBrücken. Festschr. U. Groenke. Hbg 1989, 81⫺97, hier 82⫺90. ⫺ 10 Ishikawa, M.: Das Schwanenjungfraumotiv in der W.sage ⫺ ein notwendiges Glied der Schmiedesage? Jap. Parallelen. In: Iwasaki, E. (ed.): Begegnung mit dem ,Fremden‘. Grenzen ⫺ Traditionen ⫺ Vergleiche 11. Mü. 1991, 376⫺384. ⫺ 11 cf. Friedrich von Schwaben. ed. M. H. Jellinek. B. 1904. ⫺ 12 Nedoma, R.: „Es sol geoffenbaret sein/ Ich bin genant wieland.“ Friedrich von Schwaben, W.sage und Vo˛lundarkviÎa. In: id. u. a. (edd.): Erzählen im ma. Skandinavien. Wien 2000, 103⫺115; von See u. a. (wie not. 8) 85 sq., 100 sq.; cf. dagegen EM 5, 359 sq.; EM 9, 203. ⫺ 13 Wolf, A.: Franks Casket in literarhist. Sicht. In: Frühma. Studien 3 (1969) 227⫺243, hier 227 sq. ⫺ 14 ÏiÎriks saga af Bern 1. ed. H. Bertelsen. Kop. 1905, 73⫺133. ⫺ 15 Nedoma, R.: W. der S. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Künstler, Dichter, Gelehrte. Konstanz 2005, 177⫺198, hier 187⫺190; cf. dagegen Marold, E.: Die Erzählstruktur des VelentsÌa´ttr. In: Kramarz-Bein, S. (ed.): Hansische Lit.beziehungen. B./ N. Y. 1996, 53⫺73, hier 55⫺65. ⫺ 16 Nedoma (wie not. 1) 224⫺226. ⫺ 17 Simek, R.: „Völundarhu´s ⫺ Domus Daedali“. Labyrinths in Old Norse Mss. In: North-Western European Language Evolution 21/22 (1993) 323⫺368. ⫺ 18 Deor. ed. K. Malone. L. 41966; Bundi, A.: Una crux in „Deor“ 1. In: Atti Accademia Peloritana dei Pericolanti [Messina], Classe di Lettere, Filosofia e Belle Arti 62 (1986) 257⫺284; Nedoma, R.: The Legend of Wayland in „Deor“. In: Zs. für Anglistik und Amerikanistik 38 (1990) 129⫺ 145. ⫺ 19 cf. id. (wie not. 1) 40⫺43 (altengl.), 53⫺56 (altfrz.), 44 sq. (mhd.); Beckmann (wie not. 5) 9⫺20 (altfrz.); cf. ferner Kühnel, J.: W. der S. „Guilandus in urbe Sigeni“ und der Ortsname Wilnsdorf. In: Riha, K. u. a. (edd.): Einfach Schmidt. Ffm. u. a. 1998, 169⫺181. ⫺ 20 cf. Grimm, DS 157; Jungwirth, A.: Schmied. In: HDA 9 (1938⫺41) Nachträge, 257⫺265, hier 258; Motz, L.: The Wise One of the
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Mountain. Form, Function and Significance of the Subterranean Smith. Göppingen 1983, 23⫺66. ⫺ 21 Förster, M.: ,Stummer Handel‘ und W.sage. In: ArchfNSprLit. 119 (1907) 303⫺308; Motz (wie not. 20) 44 sq. ⫺ 22 J. M. Kempel (ed.): Codex Diplomaticus Ævi Saxonici V. L. 1839⫺48, num 1172; Atkinson, R. J. C.: Wayland’s Smithy. In: Antiquity 39 (1965) 126⫺133; Motz (wie not. 20) 131⫺137. ⫺ 23 Heldenbuch 1⫺2. ed. J. Heinzle. Göppingen 1981⫺87, t. 1, 2; t. 2, 227 sq. ⫺ 24 Tegethoff, E.: Frz. Volksmärchen 2. MdW 1923, num. 52; Maurus, P.: Die W.sage in der Lit. Erlangen/Lpz. 1902, 44⫺46; Nedoma (wie not. 1) 54⫺56. ⫺ 25 Maurus (wie not. 24) 58⫺93, 223. ⫺ 26 Nedoma (wie not. 1) 57. ⫺ 27 cf. Frenzel (wie not. 1); Oehlenschläger, A.: Waulundur. Ein nord. Märchen. ed. R. Nedoma. Wien 2007, 86; EM 12, 693; Dusse, D.: „Seit altersher eine entschieden beliebte Gestalt“ ⫺ zur Rezeption der altnord. Überlieferung von W. dem Schmied in den europ. Kulturen. In: See, K. von/Zernack, J. (edd.): Ìu´ ert vı´sust kvenna. Heidelberg 2007, 49⫺64.
Wien
Robert Nedoma
Wienert, Walter, *Berlin 19. 8. 1896, † Bochum 8. 8. 1978, dt. Pädagoge, Bildungspolitiker und Fabelforscher. W. studierte in Berlin und Gießen klassische, dt. und rom. Philologie, legte 1923 in Gießen das Staatsexamen für das höhere Lehramt ab und wurde im selben Jahr bei den Altphilologen R. Herzog und H. Hepding mit der Diss. Die Typen der griech.röm. Fabel ([FFC 56]. Hels. 1925) promoviert. 1924⫺45 war W. am Akademischen Auskunftsamt und am Zentralinstitut für das Studium der Ausländer an der Univ. Berlin angestellt, erstellte einen 45 Bände umfassenden Leitfaden für alle mit einem Universitätsstudium erreichbaren Berufsziele1 und war mit der Herausgabe der Chroniken der Univ. Berlin betraut2. 1946 übernahm er die Leitung der Zentralstelle für die Begutachtung ausländischer Vorbildungsnachweise (seit 1949 Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen3), die zunächst in Göttingen, ab 1958 in Bonn ansässig war. Ab 1961 arbeitete er dort als Leiter des Archivs für Bildungswesen der Carl DuisbergGes. und veröffentlichte zahlreiche berufsbezogene Schriften. Die Diss. über die griech.-röm. J Fabel blieb W.s einzige Publ. zur Erzählforschung. In der Einl. Über das Wesen der Fabel 4 positionierte er sich als Kenner der älteren Forschung und definierte das Genre als „Erzählung einer
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Wiese: Die auferstandene W.
konkreten Handlung, aus der eine allgemeine Wahrheit der Moral oder Lebensklugheit durch die aktive Tätigkeit des Geistes der Zuhörer gewonnen werden soll“5. W.s bleibendes Verdienst besteht darin, daß er als erster ein nach Handlungsträgern geordnetes Typenverzeichnis der griech.-röm. Fabelüberlieferung vorgelegt hat. Es unterscheidet 51 Erzählungstypen und 57 Sinntypen. Das entscheidende Kriterium für die Zuordnung zu letzteren ist das Vorherrschen eines lehrhaften Elements6. In der hist. und vergleichenden Erzählforschung fand W.s Diss. angemessene Beachtung: S. J Thompson wertete sie für seinen Motiv-Index aus7, G. Dicke und K. Grubmüller nutzten sie für ihren Fabelkatalog8. W.s Einteilung der Fabeln in Märchen-, Sagenund Novellenfabeln hat sich allerdings nicht durchgesetzt. 1
W., W.: Die akademischen Berufe 1⫺45. B. 1930⫺ 46. ⫺ 2 id. (ed.): Chronik der Friedrich-WilhelmsUniv. zu Berlin 1⫺8. B. 1930⫺38. ⫺ 3 Buchal-Höver, B. (ed.): 100 Jahre Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen. Bonn 2005, 185. ⫺ 4 W., W.: Die Typen der griech.-röm. Fabel. Mit einer Einl. über das Wesen der Fabel (FFC 56). Hels. 1925, 5⫺25; (Wiederabdruck in: Carnes, P. [ed.]: Proverbia in fabula. Essays on the Relationship of the Proverb and the Fable. Bern u. a. 1988, 47⫺64). ⫺ 5 W. (wie not. 4) 6. ⫺ 6 ibid., 22. ⫺ 7 Mot. t. 1, 17 sq. ⫺ 8 Dicke/Grubmüller.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Wiese: Die auferstandene W. (AaTh/ATU 1736), Schwank aus dem Umkreis sozialkritischer Erzählungen über geizige Geistliche. Der Knecht (mehrere Dienstboten) eines geizigen Priesters schläft, anstatt die W. zu mähen. Auf dem Heimweg steckt er ein Wespennest (Bienenschwarm, Mistkäfer, Ameisen) in eine Kiste (Sack) und erzählt seinem Herrn, er habe auf der W. eine Kiste voll Gold gefunden. Der Herr reklamiert sie als sein Eigentum. Unter Protest gibt der Diener seinem Herrn die Kiste, droht aber, das Gold werde sich in Wespen verwandeln und die W. wieder auferstehen.
Var.n des ausschließlich aus mündl. Überlieferung des 19. und 20. Jh.s aufgezeichneten Erzähltyps sind bes. aus Nordeuropa, aber auch aus West-, Mittel- und Osteuropa sowie dem jüd. Erzählgut, aus Vorder- und Südasien sowie Nordafrika belegt. Vereinzelt finden sich
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Fassungen in der tscheremiss., sibir., usbek., ind. und jap. Überlieferung1. Die Akteure sind auf Seiten der Betrogenen vorwiegend Geistliche, aber auch Bauern, reiche Herren oder König J Salomo mit dem Narren Malkolbus als Gegenpart (J Salomon und Markolf)2; Frauen, z. B. eine Betschwester3 oder eine geizige Alte4, finden sich nur ausnahmsweise in dieser Rolle. Unter den J Betrügern, bei denen es sich häufig um mehrere handelt, die unter Leitung eines Anführers agieren, begegnen Kristallisationsgestalten wie J Eulenspiegel5 bzw. sein poln. Pendant Sowizdrzal6 und Kion, der Hofnarr des J Alten Fritz7, aber auch Zigeuner8. Gemäht wird in der Regel einen Tag bis zu zwei Wochen lang9, und die Arbeit wird zumeist vom Besitzer überwacht, seltener von einem Bediensteten10. Bei dem angeblich wertvollen Fund handelt es sich vorwiegend um etwas Lebendiges wie Wespen oder andere Insekten. In dän. Var.n sammelt der Protagonist Ameisen in seiner Hose11. Meist ist die angeblich magische Verwandlung mit der Drohung des Protagonisten verknüpft, sie kann aber auch unkommentiert erfolgen12. Manchmal will der Herr den Knecht um sein Essen13, seinen Lohn14 oder beides15 betrügen, woraufhin dieser die W. ,wieder auferstehen‘ läßt. Eine vergleichbare Struktur hat eine schwed. Erzählung, in der Dienstboten ihren Herrn schädigen, indem sie seine Leitkuh schlachten; anschließend wünschen sie dann, der Wolf möge die Kuh holen16. In zwei dän. Var.n wird die Erzählung lokalisiert; sie ist in den Orten Nykirke, Tinnet Krat und Kovtrup, die sich unweit vom Wohnort des Erzählers, Ringive in Jütland, befinden17, sowie in Tondern angesiedelt18. In einer schwed. Fassung heißt die W. Märrnabben19. Kombinationen des Erzähltyps liegen u. a. mit AaTh/ATU 1545 B: J Junge weiß nichts von Frauen20, AaTh/ATU 217: J Katze und Kerze21 und AaTh/ATU 1000 sqq.: J Zornwette22 vor. Auch im Subtyp AaTh/ATU 1736 A: Der hölzerne J Säbel überzeugt ein Betrüger eine Person, von der er abhängig ist, von einer vorgeblichen Verwandlung 23. 1 Ergänzend zu ATU: Hubrich-Messow; Texte (Ausw.): Kohl-Larsen, L.: Reiter auf dem Elch. Kassel 1971, 89⫺91 (lapp.); Liungman 2, 372; Christen-
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Wigalois
sen, N.: Folkeeventyr fra Kær herred. ed. L. Bødker. Kop. 1963, num. 52; Henßen, G.: Vom singenden klingenden Baum. Stg. 1944, 53⫺55 (dt.); Bll. für pommersche Vk. 3 (1895) 54 sq.; Wossidlo, R.: Im Lande Fritz Reuters. Lpz. 1910, 128; Alcover, A.: Aplech de rondayes mallorquines 7. Palma de Mallorca s. a., 20⫺23; Amades, num. 406; Beke, O.: Tscheremiss. Märchen, Sagen und Erzählungen. Hels. 1938, num. 59. ⫺ 2 Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, num. 146. ⫺ 3 Alcover (wie not. 1). ⫺ 4 Amades, num. 406. ⫺ 5 cf. z. B. Bll. für pommersche Vk. (wie not. 1); Henßen, G.: Volkserzählungen aus dem westl. Niedersachsen. Münster 1963, num. 63. ⫺ 6 Coleman, M. M.: A World Remembered. Tales and Lore of the Polish Land. Cheshire, Conn. 1965, 113⫺116. ⫺ 7 Henßen (wie not. 1). ⫺ 8 Ara¯js/Medne; Barag; Tillhagen, C. H.: Taikon erzählt. Zürich 1948, 247 sq. ⫺ 9 cf. z. B. Amades, num. 406. ⫺ 10 Kerbelyte˙, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1978, num. 122. ⫺ 11 ˚ rhus Kristensen, E. T.: Danske skjæmtesagn 1. A 1900, num. 315; id.: Molbo- og Aggerbohistorier 1. Viborg 1892, num. 79. ⫺ 12 cf. z. B. Ara¯js/Medne. ⫺ 13 SUS. ⫺ 14 Hubrich-Messow. ⫺ 15 Kerbelyte˙. ⫺ 16 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Hels. 1920, num. 324.1. ⫺ 17 Kristensen (wie not. 11) num. 315. ⫺ 18 Grundtvig, S.: Gamle danske minder i folkemunde 2. Kop. 1857, num. 161; Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num. 269 a; cf. dagegen Stroebe, K.: Nord. Volksmärchen 1. MdW 1915, num. 34 (dän.). ⫺ 19 Hackman (wie not. 16). ⫺ 20 Kerbelyte˙ (wie not. 10). ⫺ 21 Jegerlehner (wie not. 2). ⫺ 22 cf. Haiding, K.: Schwänke und Märchen aus Oberösterreich. B. 1969, num. 1. ⫺ 23 cf. Krı´za, I.: Ma´tya´s, az igazsa´gos. Bud. 1990, 99 sq.
Sterup
Gundula Hubrich-Messow
Wigalois. Der um 1210 von Wirnt von Grafenberg verfaßte Artusroman (J Artustradition) W. ist der wohl bekannteste Repräsentant einer Reihe von Romanen1, die von einem Verwandten (Bruder, Sohn, Neffe) des Tafelrundenritters J Gawein handeln (Gawanidenromane)2. Der Text ist in annähernd 40 Hss. vergleichsweise reichhaltig überliefert3. Am Artushof erscheint ein Ritter und fordert die Tafelrunde heraus, mit ihm im Turnier um einen kostbaren Gürtel zu kämpfen. Nachdem er alle Herausforderer besiegt hat, entführt er Gawein in ein anderen Menschen verschlossenes Land (Gales/Wales), wo er ihn mit seiner Nichte Florie vermählt. Vor der Geburt seines Kindes geht Gawein heimlich wieder an den Artushof, ohne zu ahnen, daß er niemals zu seiner Frau zurückkehren kann. Sein Sohn W. begibt sich als junger Knappe auf die Suche nach sei-
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nem Vater und dient zunächst unter Gaweins Anleitung ein Jahr lang am Artushof, ohne daß Vater und Sohn einander erkennen. Nachdem W. zum Ritter geschlagen wurde, erscheint eine Jungfrau am Hof und erbittet von Artus einen Kämpfer für ihre Herrin. W. muß in einer Reihe von Bewährungs-Aventiuren die Botin von seinen ritterlichen Qualitäten überzeugen. Er verliebt sich in Larie, die Tochter des zehn Jahre zuvor ermordeten Königs Jorel von Korntin, die durch den mit dem Teufel verbündeten heidnischen Zauberer Roaz ihren Vater und ihre Königreiche verloren hat, und verspricht ihr, Roaz zu bekämpfen. Er muß aber noch zahlreiche Aventiuren bestehen, bevor er im Zweikampf gegen ihn antreten kann. Weil der Teufel Roaz seinen Beistand aufgekündigt hat, gelingt es W., ihn zu töten. In dem verwüsteten Land Korntin hatte W. erfahren, daß Gawein sein Vater ist. Er lädt ihn zu seiner Vermählung und zum Krönungsfest ein, und Gawein erscheint in Begleitung von Erec (J Erek), J Iwein und Lanzelet (J Lancelot). Ein Bote bringt die Nachricht von der Ermordung des Königs Amire und bittet im Namen von dessen bedrängter Gemahlin Liamere um Hilfe. W. bricht mit einem Heer gegen den Herzog Lion von Namur auf, belagert dessen Stadt, besiegt sein Heer und stellt die Ordnung wieder her. Nach einer Zwischeneinkehr am Artushof lebt W. viele Jahre lang in glücklicher Ehe und regiert sein Land mit Weisheit.
Der Erzählkern des W. und der Gawanidenromane dürfte kelt. Ursprungs sein4; er fand schon um 1180 im Ipomedon des Hue de Rotelande Verwendung. Die Erzählung folgt einem bekannten Schema, auf dem u. a. auch die Romane Le Bel Inconnu des Renaut de Baˆge´5 (um 1200), der Seifrid de Ardemont des Albrecht von Scharfenberg (um 1260; nur bekannt in der Bearb. von Ulrich Füetrer, um 1490), der Lanzelet des Ulrich von Zatzikhoven (um 1300), der engl. Lybeaus Desconus (1325⫺50) und Thomas Malorys Sir Gareth (um 1470) basieren. Ein schöner, namenloser Jüngling erscheint eines Tages am Artushof. Er dient ein Jahr lang bis zur Schwertleite, ohne seine wahre Herkunft zu enthüllen, oder er wird gleich am Ankunftstag zum Ritter geschlagen. Eine Jungfrau in Begleitung eines Zwergs bittet um Hilfe für ihre Herrin, und Artus gewährt dem Helden, als Helfer auszureiten. Auf dem Weg besteht er eine Folge von Bewährungsproben, mit denen er die Botin von seinen Fähigkeiten überzeugt. In der Regel sind dies der Kampf an einer Furt, der Kampf gegen drei Räuber, die Befreiung einer Jungfrau aus den Händen von zwei Riesen, der Kampf um ein Hündchen, um einen Schönheitspreis, um die Unterkunft in einer Herberge sowie ein Vorrechtskampf, der darüber entscheidet, wer die Herrin aus den Händen eines unerwünschten Bewerbers oder ei-
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Wigström, Eva
nes Zauberers befreien darf6. Der Endgegner ist überaus stark, wird aber vom Helden besiegt; die verzauberte Jungfrau gewinnt ihre Gestalt zurück.
In der Bel Inconnu-Tradition ist die Dame in eine Schlange verwandelt und kann nur durch einen Kuß aus ihrer Verzauberung erlöst werden. Dieser J Schlangenkuß fehlt im W., spielt aber eine ⫺ wenn auch völlig marginalisierte ⫺ Rolle im Seifrid de Ardemont und im Lanzelet, ist also auch in dt.sprachigen Erzählungen mit einem ,schönen Unbekannten‘ verknüpft. Bei Wirnt wird der erotisch besetzte Schlangenkuß durch einen J Drachenkampf ersetzt. Die Erzählung wurde von ihm um eine Darstellung von Kindheit und Jugend des Helden (enfance) ergänzt, und auch den NamurFeldzug und W.s Bewährung als Landesherr hat er wohl selbständig hinzugefügt. Darüber hinaus besiegt W. ⫺ auch dies wird als Neuerung eingeführt ⫺ nacheinander mehrere furchterregende Wächtergestalten (AaTh/ATU 471: J Brücke zur anderen Welt), bevor er den Heiden im ritterlichen Zweikampf überwindet. Obwohl der W. zahlreiche Übereinstimmungen mit dem Bel Inconnu aufweist, kann dieser nicht die (einzige) Quelle für Wirnt gewesen sein; es ist davon auszugehen, daß mündl. Erzählungen einen stärkeren Einfluß hatten7. Wirnts W. wurde im Spätmittelalter in strophischen Fassungen (Ulrich Füetrer, 1478⫺81; Fragment des Dietrich von Hopfgarten8, um 1455) und in Prosa (Wigoleis vom Rade; anonym, gedr. 1493 in Augsburg)9 nacherzählt. Dietrich von Hopfgarten und der Augsburger Prosaist haben den Feldzug gegen Lion ausgelassen; bei ihnen endet der Roman mit der Hochzeit. 1
Mennung, A.: Der „Bel Inconnu“ des Renauld de Beaujeu in seinem Verhältnis zum „Lybeaus Disconus“, „Carduino“ und „W.“ Diss. Halle 1890; Saran, F.: Über Wirnt von Grafenberg und den W. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 21 (1896) 253⫺420. ⫺ 2 Wirnt von Grafenberg: W. Text der Ausg. von J. M. N. Kapteyn. Übers. S. und U. Seelbach. B. 2005, 263⫺268. ⫺ 3 Schiewer, H.-J.: ,Ein ris ich dar vmbe abe brach/ Von sinem wunder bovme‘. Beobachtungen zur Überlieferung des nachklassischen Artusromans im 13. und 14. Jh. In: Dt. Hss. 1100⫺1440. Oxforder Kolloquium 1985. ed. V. Honemann. Tübingen 1988, 222⫺278. ⫺ 4 Ehrismann, G.: Märchen im höfischen Epos. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 30 (1905) 14⫺54, hier 30⫺35; Adams, D. A.: The Theme of Le
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Bel Inconnu in the Literature of England, France, Germany and Italy in the Middle Ages and after. Diss. Nottingham 1975. ⫺ 5 Zur Namensansetzung cf. Guerrau, A.: Renaud de Baˆge´: Le Bel Inconnu. Structure symbolique et signification sociale. In: Romania 103 (1982) 28⫺82, hier 29⫺33; Wirnt (wie not. 2) 288. ⫺ 6 Eming, J.: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum „Bel Inconnu“, zum „W.“ und zum „Wigoleis vom Rade“. Trier 1999. ⫺ 7 Cormeau, C.: W. und Diu Croˆne. Zwei Kap. zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiurenromans. Mü. 1977, bes. 94⫺103. ⫺ 8 Fasbender, C.: Der ,Wigelis‘ Dietrichs von Hopfgarten und die erzählende Lit. des SpätMA.s im mitteldt. Raum. Stg. 2010. ⫺ 9 Brandstetter, A.: Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdt. Prosaroman. Ffm. 1971, 190⫺235.
Bielefeld
Ulrich Seelbach
Wigström, Eva, *Asmundtorp (Provinz Schonen) 24. 12. 1832, † Helsingborg 5. 1. 1901, schwed. Schriftstellerin (Pseud. Ave) und Sammlerin von Volkserzählungen1. Die Tochter eines wohlhabenden Großbauern verfaßte seit 1866 kleine Beitr.e, bes. Kunstmärchen, für Kinderzeitschriften sowie realistische Schilderungen des schon. Bauernstands2. 1874 gründete W. in Helsingborg eine Volkshochschule für Frauen; 1877⫺90 unterrichtete sie in einer von ihrer Tochter geleiteten Mädchenschule. 1877 lernte sie S. J Grundtvig kennen, der sie nachhaltig beeinflußte. 1872⫺74 und 1884⫺86 gab sie die Kinder- und Jugendzeitschrift Hvitsippan heraus. Auf der Suche nach Traditionsträgern wanderte W. durch die früher dän., jetzt südschwed. Provinzen Schonen und Blekinge und trug bedeutende Slgen von Texten aus mündl. Überlieferung zusammen3. Ihre erste erzählkundliche Slg wurde aufgrund mangelnden Interesses schwed. Verlage mit finanzieller Unterstützung Grundtvigs von einem Kopenhagener Buchhändler herausgegeben4; erst der 2. Band fand einen Verleger in Göteborg5. Eine Auswahl von Texten verschiedener Gattungen wurde von einer heimatgeschichtlichen Vereinigung in Lund publiziert6. W.s spätere folkloristische Arbeit ist hauptsächlich mit dem Spra˚k- och folkminnesinstitutet (seit 2006 Institutet för spra˚k och folkminnen) in Uppsala und dessen unter unterschiedlichen Titeln erschienenen Zs. (zuletzt Svenska landsma˚l) ver-
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Wilbert, Johannes
bunden7. Einige unveröff. Texte W.s wurden später von N.-A. Bringe´us herausgegeben8. Das große Verdienst W.s liegt in ihrer auf Feldforschung beruhenden Dokumentation der aussterbenden mündl. Erzählkunst in Südschweden. Kein schwed. Folklorist hat mehr Texte gesammelt und herausgegeben. Allerdings hat W. die von ihr gesammelten Texte, bes. die Zaubermärchen, für die Veröffentlichung offenbar sprachlich nicht unerheblich bearbeitet, denn diese zeigen eine Vorliebe für literar. bzw. altertümliche Wörter und einen Satzbau, den ihre Erzähler wohl kaum gebraucht haben9. 1 Svenska män och kvinnor 8. Stockholm 1955, 3661 sq.; Walde, O.: Förteckning över E. W.s skrifter. In: Nyare bidrag till kännedom om de svenska landsma˚len ock svenskt folklif 8,4. Stockholm 1914, 4⫺44; Wrane´r, H.: E. W. ibid., 3⫺8. ⫺ 2 z. B. W., E.: För fyrtio a˚r sedan. Taflor ur ska˚nska folklivet. Lund 1870. ⫺ 3 Rooth, A. B.: E. W. och traditionsbärarna. In: Arv 9 (1953) 160⫺171. ⫺ 4 W., E.: Folkdiktning, visor, sägner, sagor, ga˚tor, ordspra˚k, ringdanser, lekar och barnvisor, samlad och upptecknad i Ska˚ne. Kop. 1880. ⫺ 5 ead.: Folkdiktning, visor, folktro, sägner och en svartkonstbok, samlad och upptecknad i Ska˚ne. Andra samlingen. Göteborg 1881. ⫺ 6 ead.: Ska˚nska visor, sagor och sägner. Lund 1880. ⫺ 7 ead.: Sagor ock äfventyr upptecknade i Ska˚ne. Stockholm 1884; ead.: Vandringar i Ska˚ne ock Bleking för samlande af svensk folkdiktning. Stockholm 1891; ead.: Allmogeseder i Rönnebärgs härad i Ska˚ne pa˚ 1840-talet. Stockholm 1891; ead.: Folktro ock sägner fra˚n skilda landskap. Stockholm 1898⫺1914 (ed. A. Stenklo. Uppsala 1952). ⫺ 8 ead.: Fa˚geln med guldskrinet. Folksagor samlade och upptecknade i Ska˚ne. ed. N.-A. Bringe´us. Höganäs 1985 (mit Kommentaren von J.-Ö. Swahn); cf. auch ead.: Skämtsagor fra˚n Blekinge. ed. N.-A. Bringe´us. In: Saga och sed (1990) 99⫺122 (Schwänke). ⫺ 9 cf. Ehrenberg, M.: Sagans förvandlingar. E. W. som sagosamlare och sagoförfattare. (Diss.) Lund 2003.
Lund
Jan-Öjvind Swahn
Wilbert, Johannes, *Köln 23. 6. 1927, dt. Ethnologe. W. studierte ab 1947 dt. und engl. Philologie, Philosophie und Ethnologie an der Univ. Köln und legte dort 1950 die Vorprüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab (Philosophicum). 1951⫺52 unterrichtete er an der dt. Abt. der Univ. Birmingham. 1953⫺54 setzte er das Studium der Ethnologie mit ei-
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nem Fulbright-Stipendium an der Yale Univ. in New Haven, Connecticut, fort und wurde 1956 an der Univ. Köln mit einer Arbeit zur Fischerei der südamerik. Indianer promoviert1. 1956⫺60 war W. Direktor des Anthropology Department der La Salle Soc. in Caracas, 1961⫺62 dort Direktor des von ihm gegründeten Caribbean Institute of Anthropology and Sociology der La Salle Foundation. 1962⫺91 wirkte er als Professor für Anthropologie an der Univ. of California sowie 1963⫺78 und 1984⫺89 als Direktor des Latin American Center in Los Angeles. 1990 wurde er in die Academy of Sciences for the Developing World aufgenommen. Während seiner Zeit an der Univ. of California war W. maßgeblich an der Errichtung von Forschungs-, Trainings- und Entwicklungszentren in Mexiko, Kolumbien, Venezuela und Brasilien beteiligt. In Venezuela schuf W. die Grundlagen für eine auf professionellen Feldforschungen basierende Ethnologie. Den Anfang bildete 1954 sein Aufenthalt im Orinoco-Delta bei den Warao, deren materielle und kulturelle Produktionsprozesse, traditionelle Überlieferung, Sozialisation, Religion und Kosmologie er intensiv erforschte. Den Mikroklimata und Mikromilieus, wie sie in der religiösen Sprache der Warao erlebt und gedeutet werden, widmete W. eine gesonderte Studie2. Aufgrund seiner Analyse der komplexen Interdependenzen zwischen Mythos und schamanistischer Praxis der Warao gelang ihm eine innovative Darstellung ökologisch-religiöser Abläufe innerhalb einer ethnischen Gruppe. In Zusammenhang mit W.s langjähriger Tätigkeit als Forschungsbeauftragter für Volksmedizin der amerik. Indianer am Botanischen Museum der Harvard Univ. in Cambridge, Mass. (1974⫺89) steht die Veröff. einer den gesamten Kontinent erfassenden Studie über J Tabak und Schamanismus in Südamerika3. Insgesamt verfaßte W. etwa 140 Aufsätze, kleinere Schriften und Bücher. Die 24bändige Slg Folk Literature of South American Indians 4, die W. gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin K. Simoneau herausgab, gehört zu den bedeutendsten Leistungen in der Volkserzählforschung, nicht nur aufgrund ihres Umfangs, sondern auch wegen der Sorgfalt und systematischen Schärfe ihrer Analysen. Alle 4259 Erzählungen sind durch Registerein-
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Wild, Geschwister ⫺ Wilde: Der edle W.
träge erschließbar und einheitlich anhand von S. J Thompsons Motif Index of Folk Literature (Mot.) analysiert. Erzählungen von 31 indigenen Völkern in Argentinien, Paraguay, Brasilien, Kolumbien und Venezuela sind sorgfältig erfaßt, kritisch analysiert und fachmännisch übersetzt. Das Material steuerten 111 Mitarbeiter bei, unter Beteiligung von ca 500 einheimischen Erzählern bzw. Übersetzern, davon 10 Prozent Frauen. Das Ergebnis ist mit 23 Motivgruppen und 135 Untergruppen der bislang umfassendste regionale Erzählindex. Ein Gesamtregister5 schlüsselt das Material unter verschiedenen Aspekten nach Mot. auf; hinzu kommt eine Konkordanz der zahlreichen südamerikaspezifischen Motive6. 1
W., J.: Die Fischerei der Indianer im tropischen Urwald von Südamerika. Köln 1956. ⫺ 2 id.: Mindful of Famine. Religious Climatology of the Warao Indians. Cambr., Mass. 1996. ⫺ 3 id.: Tobacco and Shamanistic Ecstasy [1972]. In: Mystic Endowment. Cambr., Mass. 1993, 113⫺132. ⫺ 4 id.: Folk Literature of the Warao Indians. L. A. 1970; id.: Folk Literature of the Selknam Indians. L. A. 1975; id.: Folk Literature of the Yamana Indians. L. A. 1977; id./ Simoneau, K.: Folk Literature of the Geˆ Indians 1. L. A. 1978; iid.: Folk Literature of the Mataco Indians. L. A. 1982; iid.: Folk Literature of the Toba Indians 1. L. A. 1982; iid.: Folk Literature of the Bororo Indians. L. A. 1983; iid.: Folk Literature of the Geˆ Indians 2. L. A. 1984; iid.: Folk Literature of the Tehuelche Indians. L. A. 1984; iid.: Folk Literature of the Chorote Indians. L. A. 1985; iid./Perrin, M.: Folk Literature of the Guajiro Indians 1⫺2. L. A. 1986; W., J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Chamacoco Indians. L. A. 1987; iid.: Folk Literature of the Nivakle´ Indians. L. A. 1987; iid.: Folk Literature of the Mocovı´ Indians. L. A. 1988; iid.: Folk Literature of the Toba Indians 2. L. A. 1989; iid.: Folk Literature of the Ayoreo Indians. L. A. 1989; iid.: Folk Literature of the Caduveo Indians. L. A. 1989; iid.: Folk Literature of the Yanomami Indians. L. A. 1990; iid.: Folk Literature of the Yaruro Indians. L. A. 1990; iid.: Folk Literature of the Makka Indians. L. A. 1991; iid.: Folk Literature of the Cuiva Indians. L. A. 1991; iid.: Folk Literature of the Sikuani Indians. L. A. 1992. ⫺ 5 iid.: Folk Literature of South American Indians. General Index. L. A. 1992. ⫺ 6 iid.: In Their Own Words. Folk Literature of South American Indians. Introduction, Concordance of New Motifs, and Bibliogr. Cambr., Mass. 1992.
Notre Dame, Indiana
Lawrence E. Sullivan
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Wild, Geschwister J Kinder- und Hausmärchen
Wilde: Der edle W. (frz. le bon sauvage; engl. the noble savage), Topos, der sich seit der Entdeckung der Neuen Welt aus der spezifisch europ. Konfiguration und Repräsentation außereurop. Völker herausbildete und zu einer zentralen Denkfigur des Alteritätsdiskurses im 18./19. Jh. avancierte. Die Vorstellung vom e.n W.n unterstellt eine prinzipielle Dichotomie von J Natur und J Zivilisation1 und bezieht sich auf ,jedes freie und wilde Wesen, das unmittelbar in der Natur Tugenden erworben hat, die Zweifel am Wert der Zivilisation entstehen lassen‘2. Dem e.n W.n werden stereotype Attribute wie physische Schönheit, Friedfertigkeit, Gastfreundlichkeit und Tugendhaftigkeit zugeschrieben, und es wird vorausgesetzt, daß er ohne materiellen Besitz ein glückliches Leben im Einklang mit der Natur führt. Die Wurzeln dieses Topos reichen bis in die bibl. Tradition und die antiken Vorstellungen des Goldenen J ZA.s zurück3. Der hist. ethnogr. Forschung zufolge wurden jedoch erst mit der Entdeckung der Neuen Welt die Grundlagen für seine Diskursformierung gelegt4. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Christoph Kolumbus, dessen Schilderung der ArawakIndianer im Bordbuch vom 12. und 21. Okt. 1492 als „Geburtsstunde des gesamteuropäischen Mythos des Edlen Wilden“5 gilt. Seine rasche Popularisierung verdankte der Topos vom e.n W.n einer breiten medialen Dynamik, an der die ethnogr. Reiseliteratur (J Reiseberichte; Bougainville, Cook etc.) und ab dem 16. Jh. auch moral- und geschichtsphil. Abhdlgen (Montaigne, Rousseau, Diderot etc.) partizipierten. In seinem 1580 erschienenen Essay Des Cannibales vollzog Michel de Montaigne eine spiegelbildliche Uminterpretation des ,bösen‘ zum ,guten‘ W.n, ein Kunstgriff, der bereits in Jean de Le´rys Histoire d’un voyage faict en la terre du Bre´sil (1578) vorgezeichnet war. Eine zentrale Rolle in dieser qualitativen Verschiebung spielte das Paradigma des paradiesischen Naturzustands, das vor allem Rousseau und seine Anhänger im 18. Jh. aufgriffen und durch dessen potenzierte Idealisierung der e. W. als eine kollektive J Utopie entstehen sollte6. Rousseaus Ideal eines von
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Wilde: Der edle W.
der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen fand im 19. Jh. breiten Anklang. Doch während der ,gute W.‘ des 16./17. Jh.s grundsätzlich ein Indianer war, weitete sich seit dem 18. Jh. der Blick durch Entdeckungsreisen und den J Kolonialismus, und Vertreter anderer Kulturen (Tahitianer, Afrikaner) wurden in das Konzept einbezogen. Der Topos fand auch Eingang in die fiktionale Lit. und erfuhr dort eine breit gefächerte Ausprägung. Als eine frühe literar. Variation des e.n W.n kann der J Paysan du Danube betrachtet werden. Die älteste Fassung dieses Stoffs begegnet in einem moralischen Traktat des Antonio de J Guevara7 und erlangte durch eine Fabel Jean de J La Fontaines (11,7) große Popularität. Doch während der Bauer von der Donau über glänzende rhetorische Fähigkeiten verfügt, ist das Hauptmerkmal des e.n W.n in Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719; J Robinsonade) ebenso wie in Harriet Beecher Stowes Roman Uncle Tom’s Cabin (1852) eine naive und bisweilen einfältige Gutmütigkeit. Eine bes. wichtige Rolle in der literar. Ausgestaltung des Topos spielen Vertreter der indian. Ethnien Nord- und Südamerikas. So begegnet z. B. der Inkle und Yariko-Stoff seit Richard Steeles Veröff. im Spectator 11 (13. 3. 1711) in zahllosen Bearb.en (u. a. bei Christian Fürchtegott J Gellert, Inkle und Yariko, 1748). Der engl. Kaufmann Inkle erleidet vor Amerika Schiffbruch. Die Indianerin Yariko bringt ihn in Sicherheit und versorgt ihn. Zwischen den beiden entsteht eine Liebesbeziehung, und sie verbringen eine glückliche Zeit. Schließlich entdecken sie ein Schiff, das sie nach England mitnehmen soll. Auf dem Weg dorthin legt es in Barbados an. Dort beschließt Inkle, Yariko in die Sklaverei zu verkaufen, um seine materielle Situation zu verbessern und eine standesgemäße Ehe eingehen zu können.
Chingachgook und Uncas, die indian. Protagonisten in James Fenimore Coopers Roman The Last of the Mohicans (1826), beteiligen sich an der Rettung weißer Frauen und beeindrucken durch Gelassenheit, Schönheit und physische Überlegenheit. Als idealtypische Verkörperungen des e.n W.n gelten Karl J Mays Figuren Winnetou und Nscho Tschi, die stets nach humanistischen Wertmaßstäben handeln. Auch in der Malerei des 18./19. Jh.s wurde der Topos vom e.n W.n rezipiert. Davon legen
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bes. Bilder und Gemälde von an Forschungsexpeditionen beteiligten Zeichnern Zeugnis ab. Beispiele hierfür sind die Werke von William Hodges (1744⫺1797), der James Cook auf seiner zweiten Weltreise begleitete8, und George Catlin (1796⫺1872)9. Zu Beginn des 20. Jh.s fand die tradierte Verklärung der Insulaner in den Südseebildern Paul Gauguins ihren Niederschlag10. Der ,Wilde‘ ⫺ ob gut, böse oder edel ⫺ fungierte seit der frühen Neuzeit als Kontrastfigur im europ. Alteritätsdiskurs11; er diente als Folie für die Konstruktion einer kollektiven europ. Identität. Wurde der ,gute‘ W. zur Abgrenzung gegen den ,bösen‘ W.n durch die Reisenden und Utopisten des 16./17. Jh.s erfunden, so profilierte sich der e. W. des 18. Jh.s als Projektionsfläche europ. Sehnsüchte und damit als Instrument einer Zivilisationskritik, wie sie ab 1789 auch in den Forderungen der Frz. Revolution zum Ausdruck kam. Durch die Betonung der moralischen Vorzüge des e.n W.n wurde den Europäern ein Spiegel vorgehalten, in dem sie sich selbst als politisch, kulturell und moralisch korrumpiert erkennen sollten. Spätestens im 19. Jh. wurde das Konzept des e.n W.n in den Dienst des romantischen Sentimentalismus gestellt. Der e. W. wurde zum Repräsentanten einer von technischen, ökonomischen, kulturellen und institutionellen Fortschritten unberührten Welt stilisiert und in den seit der Pariser Weltausstellung von 1878 populären ethnogr.-kolonialen Ausstellungen mit lebenden Exponaten12 als Objekt des ,Colonial Desire‘13 instrumentalisiert. Der ,Wilde‘ behielt das Epitheton ,edel‘ jedoch nur, solange er sich bereitwillig für die europ. Missionierung und Kolonisierung gewinnen ließ, andernfalls wurde er enthumanisiert. Terminologisch stand er also als Grenzfigur an der Schwelle zum Tierreich. Menschliche Qualitäten im umfassenden Sinne wurden ihm nur unter Vorbehalt zugesprochen. Er repräsentierte die maximale Andersheit und galt ⫺ trotz positiver Attribuierung ⫺ als minderwertiges Wesen. Anders als der ,böse‘ W., den es zu verdrängen oder zu vernichten galt, war der e. W. die Figuration eines aufgeklärten oder romantischen J Rassismus oder J Exotismus. Bemerkenswert ist, daß seine positiven Zuschreibungen zugleich als Alternative zur Zivilisa-
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tion und als Beispiele für die Irrationalitätsstrukturen interpretiert wurden, die aus der Perspektive der Aufklärung das ,Andere der Vernunft‘ kennzeichneten14. Deshalb oszillierte das Bild des e.n W.n in den verschiedenen Diskursen und Repräsentationspraktiken zwischen idealisierenden Sehnsüchten und dem Postulat zivilisatorischer Unterlegenheit. Die in dem Epitheton ,edel‘ suggerierte Aufwertung täuscht über die intendierte Unterwerfung außereurop. Menschen und die Universalisierung eurozentrischer Denkmuster hinweg. Typisch für die narrative Ambivalenz des Topos vom e.n W.n ist die Mischung aus menschlichen und animalischen Elementen. Außerdem wurde der veredelte ,Wilde‘ allein schon in der physischen Gestaltung dem europ. Schönheitsideal15 angepaßt. Durch dialektische kulturelle Mischungen führte die hybride Gestalt des e.n W.n die essentialistische Polarisierung von Wildheit und Zivilisation implizit ad absurdum. Rousseau selbst hatte dies auf den Punkt gebracht: „Vom wilden Menschen sprachen sie; den gesitteten beschrieben sie.“16 Der e. W. und sein negatives Pendant waren also ,künstliche‘ Wilde (C. Geertz)17, die es nur in der europ. Imagination gab. Seit Beginn des 20. Jh.s überwiegt die dekonstruktivistische Kritik am Mythos vom e.n W.n als einer essentialistischen und eurozentristischen Repräsentation von Alterität. Diese Kritik fand in den antikolonialen Bewegungen ihren Niederschlag. Im postkolonialen Diskurs gilt die Vorstellung vom e.n W.n als überholt18; in der Ethnologie des späten 20. Jh.s verlor sie im Rahmen der sog. Writing Culture-Debatte ihren apodiktischen Status19. 1
Theye, T. (ed.): Wir und die W. n. Einblicke in eine kannibalische Beziehung. Reinbek 1985; Fludernik, M. (ed.): Der Alteritätsdiskurs des e.n W. n. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europ. Topos. Würzburg 2002; Kunz, I.: Inkle und Yariko. Der „E. W.“ auf den dt.sprachigen Bühnen des ausgehenden 18. Jh.s. Mü. 2007; Bitterli, U.: Die „W.n“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europ.-überseeischen Begegnung. Mü. 21991. ⫺ 2 Fairchild, H. N.: The Noble Savage. A Study in Romantic Naturalism. N. Y. 1928, 2; cf. auch Meißner, J.: Mythos Südsee. Das Bild von der Südsee im Europa des 18. Jh.s. Hildesheim u. a. 2006. ⫺ 3 Frenzel, Motive (22008), 815⫺829. ⫺ 4 Todorov, T.: Die Eroberung
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Amerikas. Das Problem des Anderen. Ffm. 1985, 67. ⫺ 5 Fink-Eitel, H.: Die Philosophie und die W. n. Über die Bedeutung des Fremden für die europ. Geistesgeschichte. Hbg 1994, 97. ⫺ 6 Kohl, K.-H.: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten W.n und die Erfahrung der Zivilisation. B. 1981, 223. ⫺ 7 Guevara, A. de: Libro a´ureo de Marco Aurelio emperador y eloquentissimo orador. Valencia 1528. ⫺ 8 Tillotson, G.: The Artifical Empire. Richmond 2000. ⫺ 9 Hausdoerffer, J.: Catlin’s Lament. Indians, Manifest Destiny and the Ethics of Nature. Kansas City 2009; Truettner, W. H.: The Natural Man Observed. Wash. 1979. ⫺ 10 cf. Ritz, H.: Die Sehnsucht nach der Südsee. Kassel 32008. ⫺ 11 cf. Alzheimer, H.: E.r W.r ⫺ armer Heide ⫺ fauler Neger. Zum Bild des Negers in den Moralischen Geschichten des 18. und 19. Jh.s. In: Bayer. Bll. für Vk. 27,2, N. F. 2 (2008) 36⫺55. ⫺ 12 Cinda, A.: Les Expositions universelles 1851⫺1900. P. 1993; Meyer, J.: Great Exhibitions. Woodbridge 2006. ⫺ 13 Young, R. J. C.: Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race. L./N. Y. 1995. ⫺ 14 Böhme, G. und H.: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Ffm. 1996, 10. ⫺ 15 Kohl (wie not. 6) 17. ⫺ 16 Rousseau, J. J.: Abhdlg über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen [1755]. Stg. 1998, 60. ⫺ 17 Geertz, C.: The Cerebral Savage. In: The Interpretation of Cultures. N. Y. 1973, 345⫺ 359. ⫺ 18 cf. Fanon, F.: Les Damne´s de la terre. P. 1961; Fabian, J.: Time and the Other. How Anthropology Makes Its Objects. N. Y. 1983; Seeck, A.: „Rohe Barbaren“ oder „e. W.“? Der europ. Blick auf die „andere Welt“. Ausstellungskatalog Göttingen 1991; Ellingson, T.: The Myth of the Noble Savage. Berk. 2001. ⫺ 19 Clifford, J./Marcus, G. E. (edd.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berk. u. a. 1986; Berg, E./Fuchs, M. (edd.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnogr. Repräsentation. Ffm. 1993.
Bayreuth
Yomb May
Wilde Jagd (Mot. E 501), Sagenmotiv, das seit dem MA. gut bezeugt ist1. Einer der ältesten Berichte stammt aus der Kirchengeschichte des Ordericus (11. Jh.): Ein frz. Kleriker hört ein Lärmen wie von einem gewaltigen Heer und erblickt daraufhin eine riesigen Mann mit einer Keule, dem Krieger, Priester, Frauen und Zwerge folgen, darunter auch bereits verstorbene Bekannte. Er bezeichnet die Erscheinung als familia Harlechini2.
Im dt. Sprachgebiet liegen die ersten sicheren Nachweise aus dem 13. Jh. vor. Im Münchener Nachtsegen (14. Jh.) werden „Wuˆtanes her und alle sıˆne man“ erwähnt3. Bei reicher
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regionaler Varianz hat das Motiv der W.n J. eine deutliche Kernstruktur: Im Mittelpunkt steht die Vorstellung von einem nächtlichen Geisterzug, der ⫺ von dem wilden Jäger angeführt ⫺ zu bestimmten Zeiten sein Unwesen treibt (J Jagd, Jagen, Jäger, Kap. 3). Meistens gelten die Nächte der liturgischen quattuor tempora um die Sonnenwenden und die Zeiten der Tag- und Nachtgleiche (Advent, Fronfasten, Pfingstwoche und Kreuzerhöhung) ⫺ daher auch die Bezeichnung Temper für den J Spuk4 ⫺ als bes. gefährlich, doch scheinen hinter diesen christl. definierten Daten gelegentlich wohl Elemente einer älteren heidnischen Zeitrechnung durch, wie z. B. die zwölf Rauhnächte. Die Vorstellung von einem heldenhaften Jäger, oft mit Zügen eines Halbgottes, ist sowohl der klassischen Antike (z. B. Orion) wie der semit.-akkad. Tradition (Nimrod: Gen. 10,8⫺ 10; 1. Chron. 1,10) vertraut und wurde vermutlich erst während der synkretistischen Übernahme des antiken Erbes in das entstehende christl. Weltbild mit den dämonischen Elementen einer gespenstischen Jagd angereichert. Bereits in der Spätantike finden sich Spuren der beginnenden Umdeutung heidnischen Gedankengutes als Irrglauben und Teufelsspuk, und im MA. entwickelte sich daraus eine reiche Geisterwelt (cf. J Luftgeister, J Waldgeister)5. Die Gestalt des wilden Jägers wurde mit der Figur des J Teufels, und zwar als Höllenfürst selbst, oder mit einer sündigen Seele assoziiert, die zur Strafe für schweren J Frevel nach dem Tod zur ewigen Jagd verdammt ist. Der Zusammenhang der W.n J. mit einer Verfluchung (J Fluch) des wilden Jägers rückt diese Figur in die Nähe von strukturverwandten Gestalten wie dem J Fliegenden Holländer oder dem J Freischütz. Auch seine Gleichsetzung mit J Dietrich von Bern, vor allem im rom. Sprachraum, gehört in diesen Vorstellungsrahmen, ebenso seine Identifikation mit König Herodes oder Pilatus im frz. Sprachgebiet6 oder weitere lokale Ausprägungen als wilder Ritter (Rodensteiner7, Hackelberg8). Damit liegt das Motiv der W.n J. an der Schnittstelle zwischen Totensagen (W. J. als umherziehendes Totenheer) und Sagen über dämonische Erscheinungen (bei Überwiegen der mythischen Figuren als Anführer der W.n J. ). Im Grunde geht es jedoch immer um das
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erzählerische Bewältigen eines imaginierten traumatischen Zusammenpralls zwischen Diesseits und Jenseits, um die genaue Beschreibung des Vorgangs und schließlich um handfeste Anweisungen, wie man der tödlichen Gefahr begegnet, um dem Zusammentreffen unbeschadet zu entkommen. Das Motiv der W.n J. ist in ganz Europa nachweisbar, verwandte Vorstellungen finden sich im gesamten euras. Raum9. In Frankreich heißt die W. J. Mesnie Hellequin10, im frz. Alpenraum Chasse sauvage oder Haute Chasse11. Der elbische Feenzug der ir. Überlieferung kann von verschiedenen Anführern, Gwydion oder Gwynn ap Nudd, König Artus oder in christl. geprägter Überlieferung vom Teufel12, beherrscht werden. Dem skand. Raum ist die Odensjakt oder Asgardsrei (Fahrt nach Asgard) wohlvertraut. Allerdings scheint die skand. Überlieferung eher einem Fruchtbarkeitszauber zu dienen: Das nächtliche Schwärmen hat zwar Züge einer geisterhaften Prozession, soll jedoch vor allem eine gute Heuernte sichern, sofern die wilden Pferde des Jägers nur gut gefüttert werden13. Als caccia furiosa ist das Motiv bes. im nördl. rom. Sprachraum belegt; hier hat es jedoch weniger Züge der W.n J. als vielmehr den Charakter der J Totenprozession14. Ausgesprochen häufig belegt ist die Vorstellung von der W.n J. im gesamten Alpenraum15, von den frz. Seealpen bis zu den slov. Ausläufern im Osten. Sagen berichten davon, daß der Geisterspuk unter fürchterlichem Geheul und Gejohle durch die Lüfte führt; neben Dämonen und toten Seelen ziehen auch Tiere mit, vor allem Pferde und Hunde, daneben regionale Figuren wie die alpine Habergeiß oder der Schimmelreiter der norddt. Küstenregion16. Meist gehört auch eine Frauenfigur dazu, wie Frau Berta (J Percht im Alpenraum) oder J Frau Holle; die kelt.-ir. Überlieferung weist die Frauenrolle der Feenkönigin zu17, die slav. Überlieferung kennt eine der J Rusalka ähnliche Figur als Begleiterin des wilden Jägers18. Andererseits werden Frauen auch vom wilden Jäger gejagt19; so wird die J Pfaffenköchin nach ihrem Tod von der W.n J. verfolgt. Für den unbedachten Wanderer ist die Begegnung mit dem Geisterzug stets bedrohlich, denn er läuft Gefahr, von ihm mitgerissen zu werden (J Entführung), auch durch allerlei J
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Täuschung: ein verlockend bereitgestelltes Reittier, einen Wagen oder ein paar hübsche Schuhe, die sich unversehens in eine Fuhre verwandeln20. Das Opfer kann von Glück sagen, wenn es am nächsten Morgen lebt; es findet sich dann meist an einem völlig unbekannten, unwegsamen Ort, weit entfernt von jeder menschlichen Behausung21. In manchen Erzählungen wird davon berichtet, daß man für eine bestimmte Zeit22 oder gar für immer mitziehen muß23. Aus solchen Darstellungen hat sich vermutlich die Vorstellung von einem Vorreiter wie dem treuen Eckhart (J Tannhäuser) ergeben, der das Herannahen der W.n J. ankündigt und mit schauriger Stimme davor warnt, ihr zu nahe zu kommen24. Hört man das Herannahen des Geisterzuges, so soll man sich in der Hoffnung, daß die W. J. über einen hinwegbrause, auf dem Weg möglichst innerhalb der Wagenspur mit dem Gesicht zur Erde zu Boden werfen25. Ein geweihtes Amulett26, ein Kreuz bzw. das Kreuzzeichen27 oder die Initialen der Hl. Drei Könige28 bieten ebenso Schutz wie das Aufzeichnen eines Kreises (J Zauberkreis)29, Brot30, das Unterstellen unter ein Dach31, bestimmte Tierhäute, auf die man den Fuß zu stellen hat32, das Verbergen unter einer ungeraden Zahl von Brettern33 oder ein untergelegtes Tuch34. Neugieriges Beobachten oder fürwitziger Spott werden schwer bestraft, z. B. mit Blendung35. Als Indiz für das Zusammentreffen mit dem Geisterzug ist das Motiv der Hacke im Holz verbreitet: Ein Bauer im Raabtal (Steiermark) hört, wie die W. J. herannaht, und legt sich zu seinem Schutz in die Wagenspur. Da sagt eine Stimme: „Da ist ein Stock, hier haue ich meine Hacke hinein!“ und der Bauer verspürt einen Schmerz, den er nicht mehr loswird. Da kein Mittel helfen will, legt sich der Mann auf Rat des Pfarrers nach Jahresfrist an dieselbe Stelle. Als die W. J. wieder dahergebraust kommt, sagt die Stimme: „Hier habe ich voriges Jahr meine Hacke liegen lassen; wenn sie noch da ist, nehme ich sie wieder mit!“ Sogleich verschwindet der Schmerz, und der Bauer ist gesund36.
Im Kontext der W.n J. findet sich darüber hinaus das Motiv des Aasgeschenks, das auch in Erzählungen vom Wilden Mann begegnet37: Aus Südtirol wird erzählt, daß ein geheimnisvoller Jagdruf („Schahi, schaha!“), der alle Leute, die ihn hörten, in Angst versetzte, weithin zu hören war. Ein Knecht, der spät abends durch den Wald ging, rief
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im Übermut zurück: „Schahi, schaha/ bring mein Toal aa!“ Am nächsten Morgen hing an seiner Tür eine halbe Leiche, die sich nicht entfernen ließ. Der Knecht ging spät abends wieder in den Wald, und als er den Jagdruf hörte, rief er laut: „Schahi, schaha/ nimm mein Toal aa!“ Am nächsten Tag war die halbe Leiche wieder verschwunden38. In einer Sage aus den frz. Alpen verlangt ein Mann ein Stück von der Beute der W.n J., woraufhin diese ihm ein blutendes Bein hinterläßt. Am nächsten Tag bittet der Mann die W. J., die Beute wieder mitzunehmen. Daraufhin verschwindet das Bein, das Blut jedoch bleibt39.
Weitere Erzählungen kreisen ebenfalls um die verheerenden Folgen der Beuteteilung durch den wilden Jäger: Rac¸hasse´ran wird um einen Teil der Jagdbeute gebeten und wirft in den Kamin eines Hauses ein Stück Fleisch, das so groß wird, daß die Hausbewohner ihre Wohnstatt verlassen müssen40.
J. J Grimms Ableitung der W.n J. vom Wütenden Heer der germ. Mythologie41, die Deutung des Motivkerns aus einer etymol. Herleitung von Wuotans Heer oder die Herleitung von einer slav. Wurzel ,vode‘ (Herr) hielten sich durch das ganze 19. Jh. und wurden von der nationalsozialistischen Ideologie (J Nationalsozialismus) der tausendjährigen christl. Prägung zum Trotz als augenfälliger Beweis für die Kultkontinuität der nord. Götterlehre im germ. (bes. im dt.) Raum zitiert42; aus der Sicht der heutigen Wiss. sind diese mythol. Deutungen nicht haltbar. Im späten 19. Jh. versuchte M. von EstorffTeyendorf, ein Vertreter der positivistisch orientierten Richtung der Vk., dem als Aberglauben abqualifizierten Motiv eine rationale Erklärung zu geben: das Phänomen sei nichts anderes als die phantasievolle Beschreibung der Winterstürme, die früher beim einfachen Volk Angst und Schrecken erzeugt hätten43. In den 1910er Jahren führte F. J Ranke die W. J. auf Erlebnisse von Epileptikern und damit einhergehende Bewußtseinsstörungen zurück44. Um die 1930er Jahre begann die Auseinandersetzung der Erzählforschung mit Erklärungsversuchen aus Psychologie und Psychoanalyse45. Zu dieser Zeit versuchte ⫺ der durch seine Nähe zum nationalsozialistischen Gedankengut schwer kompromittierte ⫺ O. Höfler, die beiden verwandten Erzählstrukturen der W.n J. und des wilden Heeres zu unterscheiden: die W. J. sei als Wilde-Mann-Sage eher dem Kom-
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plex des Fruchtbarkeitszaubers zuzurechnen, während das wilde Heer in enger Verbindung mit dem Totenkult stehe. Die Unterscheidung macht Sinn, ebenso Höflers Versuch, die Erzählversion von Überlieferungen mit Brauchtum und darstellenden Maskenspielen in Verbindung zu bringen46. So steht in der auf dem Gebiet des Untersbergs bei Salzburg im Advent als Maskenzug nachgespielten W.n J. der Aspekt eines apotropäischen Fruchtbarkeitszaubers im Vordergrund. Die aufwendig inszenierte Prozession zieht von Haus zu Haus und ruft: „Glück herein, Unglück heraus, es zieht die Wilde Gjoad ums Haus!“47 Höflers Konstruktion einer Kontinuität der W.n J. von den germ. Männerbünden bis zum nationalsozialistischen Führerprinzip ist hingegen nicht haltbar48. Nach der Deutung der Volkserzählung als J gesunkenes Kulturgut versucht die moderne Erzählforschung derzeit, das Motiv neu zu bewerten und in das Inventar der europ. Überlieferung einzuordnen49. Dabei sollte das bis heute kaum erforschte Zusammenspiel zwischen dem erzählenden Mythos in Märchen und Sage und dem darstellend nachvollziehenden Ritus in Fastnachtsbräuchen und Maskenspielen bes. beachtet werden. Die W. J. fand in der Malerei der Romantik50 sowie in der Musik Niederschlag, z. B. in der Wolfsschluchtszene in Carl Maria von Webers Freischütz (Uraufführung 1821) oder in Arnold Schönbergs Gurreliedern (Uraufführung 1913). 1 Hilscher, P. C.: Curiöse Gedancken von wündenten Heere. Übers. M. M. Dreßden. Lpz. 1702; Plischke, H.: Die Sage vom wilden Heer im dt. Volke. Diss. (masch.) Lpz. 1914; Meisen, K.: Die Sagen vom Wütenden Heer und Wilden Jäger. Münster 1935; Mudrak, E.: Die Herkunft der Sagen vom wütenden Heer und vom wilden Jäger. In: Laographia 22 (1965) 304⫺323; Daxelmüller, C.: Bibliogr. barocker Diss.en zu Aberglaube und Brauch 1. In: Jb. für Vk. N. F. 1 (1980) 194⫺238, hier 213; Walter, P. u. a.: Le Mythe de la chasse sauvage dans l’Europe me´die´vale. P. 1997; Lecouteux, C.: Chasses fantastiques et cohortes de la nuit au moyen aˆge. P. 1999; Flood, J. L.: Die W. J. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen 1999, 583⫺601; Lecco, M.: Il motivo della Mesnie Hellequin nella letteratura medievale. Alessandria 2001. ⫺ 2 Ordericus: Historia ecclesiastica. P. 1855, 17. ⫺ 3 Grienberger, T. von: Der Münchener Nachtsegen. In: ZfdA 41 (1897) 335⫺363. ⫺ 4 HDA 8 (1937) 730
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(Tirol). ⫺ 5 cf. Meisen (wie not. 1). ⫺ 6 Joisten, A./ Abry, C.: -tres fantastique des Alpes. P. 1995, 163⫺ 169 (auch Rac¸hasse´ran, Re´sseran etc.); Joisten, C.: Eˆtres fantastiques du Dauphine´. ed. N. Abry/A. Joisten. Grenoble 2005, 23. ⫺ 7 Meisinger, T.: Der Rodensteiner. Geschichte und Wandlungen einer dt. Sage. Darmstadt 1954; Petzoldt, L.: Kleines Lex. der Dämonen und Elementargeister. Mü. 32003, 148 sq. ⫺ 8 Peuckert, W.-E.: Lokaldämonen. In: id.: Dt. Volksglaube des SpätMA.s. Stg. 1942, 50⫺60, bes. 58 sq.; Meyer, E.: Die Hackelbergsage. Diss. (masch.) Göttingen 1954; Mudrak (wie not. 1); Petzoldt (wie not. 7) 87 sq.; cf. Korten, M.: Die Namen und die Substitutionen des Wilden Jägers innerhalb der dt. Landschaften. Diss. (masch.) Bonn 1951 (Bandbreite der lokalen Variationen). ⫺ 9 Ginzburg, C.: Storia notturna. Una decifrazione del sabba. Mailand 1989, bes. 187⫺205. ⫺ 10 Lecouteux (wie not. 1) 91⫺ 106. ⫺ 11 Joisten/Abry (wie not. 6). ⫺ 12 Briggs, K. M.: The Fairies in English Tradition and Literature. L. 1967, 49 sq.; cf. Lysaght, P.: The Hunt that Came over the Sea. Narratives of a Maritime „Wild Hunt“ in Irish Oral Tradition. In: ead. (ed.): Islanders and WaterDwellers. Dublin 1999, 133⫺149. ⫺ 13 Vries, J. de: Altgerm. Religionsgeschichte 1. B. 1956, bes. 167, 306, 308, 401; Christiansen, Migratory Legends, 6015 A (hier Feenzug); zur Vorstellung des Windes als Wilder Jäger/Fruchtbarkeitsdämon cf. HDA 9 (1938⫺41) 632⫺656; Erich, O. A./Beitl, E. (edd.): Wb. der dt. Vk. Stg. 31974, 970⫺972 (Hunde des wilden Jägers bellen den Frost aus der Erde, damit wieder Korn wachse); cf. Kvideland, R.: Legends Translated into Behaviour. In: Fabula 47 (2000) 255⫺263, hier 260 (Oskoreia). ⫺ 14 Savi-Lopez, M.: Leggende delle Alpi. Turin 1888, bes. 41⫺57; Bastanzi, G. B.: Le superstizioni delle Alpi Venete. Treviso 1888, bes. 113; Chiaravelli, E.: Diana, Arlecchino a gli spiriti volanti. Dallo sciamanismo alla caccia selvaggia. Rom 2007, bes. 25⫺34. ⫺ 15 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 3. Disentis 1990, 878; Petzoldt, L.: Sagen aus dem alten Österreich. Mü. 1994; Peuckert, W.-E.: Ostalpensagen. B. 1963, 133⫺136; Karlinger, F./Wolf, R.: Nordital. Sagen. B. 1978, 59⫺62; Mailly, A. von: Leggende del Friuli e delle Alpi Giulie. ed. M. Maticˇetov. Gorizia 1986. ⫺ 16 Straub, A.: Vom wilden Jäger. Dt. Volkssagen. Mü. [ca 1940]; HDA 9, Nachtrag 166 sq.; cf. auch Erich/Beitl (wie not. 13) 970⫺ 972, bes. 971. ⫺ 17 Briggs, K. M.: An Encyclopedia of Fairies. N. Y. 1976; ead. (wie not. 12); Silver, C. B.: Strange and Secret Peoples. Fairies and Victorian Consciousness. N. Y. 1999, 40 sq. (zur todbringenden Rolle der Feen); cf. Wilson, B. K.: Scottish Folk-tales and Legends. L. 1954, 17 (verwandte Motive von Tom der Reimer); Child, 1, 336 sq. (Tam Lin). ⫺ 18 cf. ferner Christiansen, Migratory Legends, num. 5060 (Frau als Jagdbeute). ⫺ 19 Röhrich, Erzählungen 2, 5⫺52, 393⫺407. ⫺ 20 Rochholz, E. L.: Schweizersagen aus dem Aargau 1. Aarau 1856, 215 (Gespensterkutsche); Zingerle, I. V.: Sagen, Mär-
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Wildgeister
chen und Gebräuche aus Tirol. Innsbruck 1859, 4⫺ 14, bes. num. 10, 16, 17; id.: Sagen aus Tirol. Innsbruck 1891, 4⫺12, bes. num. 16, 17, 19; Heyl, J. A.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 517; Rossi, Hugo de: Märchen und Sagen aus dem Fassatale. Vigo di Fassa 1984, 164 sq.; Sartori, P.: Der Schuh im Volksglauben. In: ZfVk. 9 (1984) 289⫺292, hier 289 (Schuh als Fuhre). ⫺ 21 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 2. Augsburg 1858, 154 sq.; Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des preuß. Staates 2. Glogau 1871, 295; HDA 2 (1930) 1667 sq., 1675; Kvideland (wie not. 13); id.: Sagen als Handlungsmodell. In: Toplore. Festschr. S. Top. Trier 2006, 125⫺136, hier 132. ⫺ 22 HDA 2, 1301, 1610, 1667 sq.; t. 8, 644. ⫺ 23 HDA 2, 1675; t. 9, 633; Graber, G.: Sagen aus Kärnten 2. Klagenfurt 1979, 166. ⫺ 24 Grimm DS 7; cf. auch Bechstein, L.: Mythe, Sage, Märe und Fabel im Leben und Bewußtsein des dt. Volkes 3. Lpz. 1855, 75 sq. ⫺ 25 Sommer, E.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen 1. Halle 1846, 7; Schöppner, A.: Sagenbuch der Bayer. Lande 3. München 1853, num. 1223; Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 1⫺2. Dresden 21874, hier t. 2, 191; Baader, B.: Neugesammelte Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden 2. Karlsruhe 1859, 109; Lincke: Nachtjagd, -jäger. In: HDA 6 (1935) 797⫺802; cf. ibid. 1 (1927) 2211; 2, 903, 1674; 3 (1931) 765; 9, Nachtrag 877; Graber (wie not. 23) 165, 167 sq., 171, 174. ⫺ 26 HDA 6, 1371, 1550. ⫺ 27 Schönwerth (wie not. 21) 149; Grässe (wie not. 25) t. 1, 490; Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette 1963, 343; Warker, N.: Wintergrün. Nachdr. Bastogne 2003, 66 (aus Luxemburg); HDA 5 (1933) 545. ⫺ 28 Graber (wie not. 23) 178. ⫺ 29 Kreis: Wolf, J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, 349; Kuhn, A.: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen 1. Lpz. 1859, 363; HDA 5, 469; cf. Flood (wie not. 1) 588 (Gebete, Kreis, Brot, bestimmte Pflanzen). ⫺ 30 HDA 1, 1630. ⫺ 31 ibid. 2, 123. ⫺ 32 ibid., 1323. ⫺ 33 ibid., 1674. ⫺ 34 ibid. 8, 675, 1181. ⫺ 35 Röhrich, L.: Sage und Märchen. Fbg/Basel/Wien 1976, 133 sq. ⫺ 36 Sann, H. von der: Sagen aus der grünen Mark. Graz 1911. ⫺ 37 Peuckert, W.-E.: Aasgeschenk des Wilden Jägers. In: HDS 1, 10⫺16; cf. auch Röhrich, L.: Die Frauenjagdsage. In: Laographia 22 (1965) 408⫺423. ⫺ 38 Zingerle, I. V.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol. Innsbruck 1859, 79. ⫺ 39 Joisten/Abry (wie not. 6) 168. ⫺ 40 ibid., 167. ⫺ 41 Grimm, J.: Dt. Mythologie 2. Ffm. 1981, 765⫺ 793. ⫺ 42 Vonbun, F. J.: Wuotan ⫺ Wuotans Heer. In: id.: Beitr.e zur dt. Mythologie. Chur 1862, 1⫺16; Peuckert, W.-E.: Der Wilde Jäger und das Wuotesheer. In: id. (wie not. 8) 86⫺96. ⫺ 43 Estorff-Teyendorf, M. von: Der wilde Jäger. In: ZfVk. 3 (1891) 81⫺92. ⫺ 44 Ranke, F.: Sage und Erlebnis [1914]. In: id.: Kl.re Schr. ed. H. Rupp/E. Studer. Bern/Mü. 1971, 245⫺254, hier 247⫺249. ⫺ 45 cf. Wesselski, A.: Probleme der Sagenbildung. In: SAVk. 35 (1936) 131⫺188. ⫺ 46 Höfler, O.: Kultische Geheimbünde
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der Germanen. Ffm. 1934; cf. dagegen Ranke, F.: Das Wilde Heer und die Kultbünde der Germanen. In: Ndd. Zs. für Vk. 18 (1940) 1⫺33; Röhrich, L.: Die dt. Volkssage. In: Studium generale 11 (1958) 664⫺691. ⫺ 47 Huber, N.: Sagen vom Untersberg. Salzburg 1901, num. 45; cf. auch Mössinger, F.: Die Sage vom Rodensteiner. Mainz 1962, bes. 36⫺38. ⫺ 48 Corrsin, S. D.: The Vienna Ritualists and the Study of Sword Dancing and Secret Men’s Unions between the Word Wars. In: FL 121 (2010) 213⫺ 233, hier 218⫺220. ⫺ 49 Flood (wie not. 1). ⫺ 50 Peter Nicolai Arbo: Asgardsreien (1872); Friedrich Wilhelm Heine: W. J. (1882); Johann Wilhelm Cordes: W. J. (1868); Franz von Stuck: W. J. (1899).
Venedig
Ulrike Kindl
Wildgeister. In allen genuinen Wildbeuterkulturen der Menschheit sind W. von zentraler Bedeutung, und auch in den späteren, mehr von Feldbau und Viehzucht geprägten Kulturen haben sie ihre wichtige Stellung nicht verloren (J Herr der Tiere, J Schutzgeister, J Waldgeister; cf. J Jägerzeitliche Vorstellungen). Aus heutiger Perspektive sind sie von größter ökologischer Bedeutung. In Europa kommen W. meist nur noch als Sagengestalten vor und wurden z. T. umgedeutet. Demgegenüber bestimmen sie etwa in Nordasien z. T. bis heute jägerisches Verhalten und nehmen in zahlreichen Berichten, Memoraten und Fabulaten der Jäger Gestalt an (J Jagd, Jagen, Jäger)1. Bei W.n handelt es sich zunächst um die Herren einzelner Tierarten, sog. Artgeister, die man sich als Tiere von bes. Größe oder mit auffälligen Merkmalen ⫺ etwa mit einem weißen Fleck, als Albinos oder mit bes. dichtem Fell ⫺ vorstellt. Sie können menschenähnlich sein oder zuweilen menschliche Gestalt annehmen. So wird etwa der Herr der wilden Rentiere und des übrigen Landwildes bei den Tschuktschen als weißbärtiger alter Mann aufgefaßt; er mißt zwar nur einen Finger, besitzt aber ungeheure Kraft2. Das Bild der ket. Herrin der Zobel und Eichhörnchen wechselt in den Sagen zwischen einer Menschenfrau, die unter Beachtung eines J Schweigegebots mit einem Jäger zusammenlebt, und einem Albino-Eichhörnchen oder einem gescheckten Zobel3. Diesen Artgeistern übergeordnet sind die sog. Herren der Berge und Wälder, die für ein
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Wildgeister
bestimmtes Territorium und damit auch für die dort lebenden Wildtiere, die sie hüten, zuständig sind4. Unter W.n werden oft bes. die letzteren verstanden. Sie erscheinen zwar stärker vermenschlicht, zeigen sich aber auch in Tiergestalt, wie etwa der orotschon. Herr der Wälder und Wildtiere, der in Gestalt eines Tigers die Hilfsbereitschaft von Jägern prüft5. W. gehen gerne Liebesbeziehungen mit Menschen ein6. Sie erscheinen unversehens, bes. wohl bei Anrufungen und Gebeten7, in Visionen oder auch im Traum. Wichtiger als eigenes jägerisches Geschick ist es für den Jäger, die Gewogenheit der W. zu erlangen. Dafür ist die Beachtung von J Tabus und Vorschriften unerläßlich, wie sie in Sagen und Märchen überliefert sind8. Das Prahlen mit dem Jagderfolg ist verpönt; vor allem aber zieht jedes über das notwendige Maß hinausgehende Erlegen von Tieren die Strafe der W. nach sich, in der Regel als Ausbleiben der Jagdtiere. In einer Erzählung der Tsimshian in Alaska bezahlt ein Jäger, der frevelhaft alle Eichhörnchen getötet hat, auf Geheiß des Herrn der Eichhörnchen sein Verbrechen mit dem Leben; durch sein Selbstopfer kehren die Tiere ins Leben zurück, wobei sein Tod auch die Initiation zum Schamanen darstellt9. Von erzählkundlicher Bedeutung ist die bes. den Herren der Berge und Wälder zugeschriebene Vorliebe für Märchen und Heldenepen; deshalb erzählen die Teilnehmer am Vorabend jeder Jagd Geschichten, und der Erzähler ist ein wichtiges Mitglied der Jagdgemeinschaft. Durch das Erzählen sollen die W. freundlich gestimmt oder von der Bewachung ihrer Tiere abgelenkt werden10. Angaben darüber, welche Stoffe in diesem Kontext bes. beliebt sind, liegen nicht vor; allerdings heißt es, die W. erfreuten sich bes. an frivolen Stoffen11. Derartige Geschichten sind offenbar nie aufgezeichnet worden und werden möglicherweise absichtlich geheimgehalten12. Der Vortrag von Epen in diesem Kontext kann mit dem Thema der Brautsuche in Zusammenhang gebracht werden: Einerseits spielt diese in vielen Epen eine zentrale Rolle; andererseits ist es für den Erfolg des Jägers wichtig, die Gunst eines weiblichen Wildgeists oder der Tochter eines Wildgeists zu erlangen13.
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Hier dürften auch die Märchen von der Verbindung mit einer Tierfrau z. T. ihren Ursprung haben (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe)14. So erscheint in einem südsibir. Fabulat die Tochter des Herrn der Wölfe bei einem Jäger zunächst als geheimnisvolle Haushälterin (Mot. N 831.1) und nimmt erst nach dem Raub ihres Fellkleides (cf. J Tierhaut) dauerhaft menschliche Gestalt an15. In einer Erzählung des jap. Autors Hayao Miyazaki, die sich Ende des 20. Jh.s als Manga-Zeichentrickfilm an ein jugendliches Publikum richtet, kämpfen mehrere Herren von Tierarten zusammen mit ihren menschlichen Verbündeten gegen die Zerstörung der Natur, wobei bes. der hirschgestaltige Waldgott und andere W. eine Rolle spielen16. Bei alledem ist die Ambivalenz der W. nicht zu übersehen. Nicht allein der Zorn der W. ist zu fürchten, sondern jede Begegnung mit diesen Jenseitswesen kann fatale Folgen haben. Dem Ruf eines Wildgeists zu folgen kann todbringend sein17. Aufdringlicher Annäherung und unerträglichen Beziehungen mit weiblichen W.n entfliehen die Jäger, und sie meiden fortan das Gebiet des betr. Wildgeists18. 1 z. B. Dyrenkova, N. P.: Ochotnicˇ’i legendy kumandincev. In: Sbornik Muzeja antropologii i e˙tnografii 11 (1949) 110⫺132; Lukina, N. V.: Mify, predanija, skazki chantov i mansi. M. 1990, num. 68⫺81; Alekseenko, E. A.: Mify, predanija, skazki ketov. M. 2001, num. 52⫺94; Krinicˇnaja, N. A.: Bylicˇki, byval’sˇcˇiny, legendy, pover’ja o duchach-„chozjaevach“. SPb. 2001; Kazannik, A. I. u. a.: Tradicionno-bytovaja prirodno-sredovaja kul’tura narodov Sibiri (Die traditionelle ökologische Kultur der Völker Sibiriens) […]. Omsk 2008; Abaev, N. V. (ed.): E˙kologicˇeskie tradicii v kul’ture narodov Central’noj Azii (Ökologische Traditionen in der Kultur der Völker Zentralasiens). Novosibirsk 1992, 11⫺71; ˚ .: The Supernatural Owners of cf. allg. Hultkrantz, A Nature. Stockholm 1961; Duerr, J.: Von Tierhütern und Tiertötern. Mythos und Ethik der Jagd im kulturhist. Vergleich. Bonn 2010. ⫺ 2 Paulson, I.: Die Religionen der nordasiat. (sibir.) Völker. In: Die Religionen Nordeurasiens und der amerik. Arktis. ed. C. M. Schröder. Stg. 1962, 1⫺144, hier 64⫺100, bes. 70 sq. ⫺ 3 Alekseenko (wie not. 1) num. 58, 59. ⫺ 4 cf. Nagisˇkin, D.: Amurskie skazki. Chabarovsk 2 1975, 91⫺97. ⫺ 5 Bäcker, J.: Märchen aus der Mandschurei. MdW 1988, num. 28. ⫺ 6 Alekseenko (wie not. 1) num. 58, 59; Dyrenkova (wie not. 1) num. 11, 16. ⫺ 7 EM 14, 236; cf. Alekseev, N. A./Efremov, P. E./Illarionov, V. V. (edd.): Obrjadovaja poe˙zija sacha (jakutov). Novosibirsk 2003, 134⫺197. ⫺
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Wildhaber, Robert
Bäcker (wie not. 5). ⫺ 9 Smelcer, J. E.: A Cycle of Myths. Native Legends from Southeast Alaska. Anchorage 1995, 77⫺80. ⫺ 10 EM 11, 1210, not. 66. ⫺ 11 Dyrenkova, N. P.: Sˇorskij fol’klor. M./Len. 1940, XIX, 405. ⫺ 12 Hamayon, R.: The Hunter, the Shaman and the Bard. Three Types of Narrative Speech. In: Fragen der mongol. Heldendichtung 5. ed. W. Heissig. Wiesbaden 1992, 130⫺135. ⫺ 13 cf. Alekseenko (wie not. 1) 314; Dyrenkova (wie not. 11) XIX. ⫺ 14 cf. Alekseenko (wie not. 1) num. 58, 59; Dyrenkova (wie not. 1) num. 11, 16. ⫺ 15 Dyrenkova (wie not. 1) num. 16. ⫺ 16 Mononoke Hime (Prinzessin Mononoke). Japan 1997 (Regie Hayao Miyazaki). ⫺ 17 Dyrenkova (wie not. 1) num. 2. ⫺ 18 ibid., num. 10, 13. 8
Gummersbach
Jörg Bäcker
Wildhaber, Robert, *Walenstadt 3. 8. 1902, † Basel 16. 7. 1982, Schweizer Volkskundler und Museologe1. Der Sohn eines Buchdrukkers studierte, unterbrochen durch Studienaufenthalte in London, Florenz und Perugia, an den Univ.en Basel, Zürich und Heidelberg neusprachliche Philologie (Germanistik, Anglistik und Romanistik). Er bestand in Basel das Lehrerexamen und wurde 1928 mit einer Arbeit über den Züricher Dramatiker Jakob Ruf (ca 1505⫺58) promoviert2. 1929⫺61 unterrichtete W., zunächst am Lietzschen Landerziehungsheim in Gaienhofen am Bodensee und ab 1930 an Basler Gymnasien. Seit 1946 war er Mitglied der Kommission für das Basler Museum für Völkerkunde und nebenamtlicher Leiter des Schweiz. Museums für Vk., dessen Leitung er in der Nachfolge von E. Hoffmann-Krayer 1961 im Hauptberuf übernahm. Mit dem Ziel der Mehrung der Bestände und der Etablierung eines Netzwerks der Vk.museen unternahm er zahlreiche Reisen in europ. Länder. Er festigte u. a. mit 31 Ausstellungen, davon 19 mit Begleitpublikationen3, den Ruf des Basler Hauses als hervorragende Dokumentations- und Forschungsstätte für die vergleichende volkskundliche Forschung. Unter W.s Ägide wurden im Basler Vk.museum auch die Internat. volkskundliche Bibliogr. (1950⫺74) und das Schweiz. Archiv für Vk. (1950⫺82) herausgegeben; für das Archiv hat er mehr als 2000 Rez.en beigetragen. 1968, nach seinem Eintritt in den Ruhestand, ernannte ihn die Univ. Basel zum Ehrendozenten für Vk.4 Unter den vielen W. zuteil gewor-
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denen Ehrungen ist bes. die ihm anläßlich seines 70. Geburtstags gewidmete Festschr. zu nennen5. W.s zahlreiche Themen umspannende Forschungs- und Ausstellungstätigkeit hat in einer Fülle von Veröff.en zur europ. Sachkulturund Brauchforschung ihren Niederschlag gefunden6. Auf dem Gebiet der Erzählforschung hat W. über einen Zeitraum von fast 40 Jahren einige bedeutsame Editionen und Monogr.n vorgelegt. Neben der Herausgabe des abschließenden 3. Bandes der Sagen aus Uri von J. J Müller (Basel 1945) beteiligte er sich gemeinsam mit L. J Uffer an der Ausg. Schweizer Volksmärchen (MdW 1971). Die lange Serie von W.s Studien zu verschiedenen Themen der europ. Erzählüberlieferung, die sämtlich von umfassender Materialkenntnis zeugen, beginnt mit einer Analyse des Exempels AaTh/ATU 826: J Sündenregister auf der Kuhhaut7, wobei W. das Interesse bes. auf die ma. Bildbelege lenkte und darauf aufmerksam machte, daß das Thema auch im evangel. Norden Europas bekannt war. 1958 verfaßte er einen Aufsatz zu der Schicksalserzählung ATU 934 K: „The Time Has Come but Not the Man“8 und 1970 einen innovativen Beitr. über die europ. Überlieferungen zum Wirbelwind (J Wind)9. Auch in seiner Studie zu AaTh/ATU 958: J Hilferuf des Schäfers konnte W. bis dahin wenig beachtete und unbekannte Var.n aus Nord- und Südosteuropa einbeziehen10. Zu den Publ.en der von W. mitbegründeten Forschergruppe Alpes Orientales hat er eine Studie über die slov. Zlatorog-Sage beigesteuert11; sein letztes Werk war eine vergleichende Studie über die Altersverse in der J Wechselbalgsage12. 1 W., R.: Mein Lebenslauf. In: SAVk. 79 (1983) 1⫺ 3. ⫺ 2 id.: Jakob Ruf. Ein Zürcher Dramatiker des 16. Jh.s. St. Gallen 1929. ⫺ 3 cf. bes. id.: 1000 Ostereier und Ostergebäcke aus ganz Europa. Ausstellungskatalog Basel 1957; id.: Volkstümliche Weihnachtskrippen aus Europa. Ausstellungskatalog Basel 1958; id.: Jugoslaw. Volkskunst. Ausstellungskatalog Basel 1959; id.: Kopfjäger und Kannibalen. Ausstellungskatalog Basel 1961; id.: Poln. Volkskultur. Ausstellungskatalog Basel 1961; id.: Kopfbedekkungen aus Europa. Ausstellungskatalog Basel 1963; id.: Lateinamerik. Volkskunst. Ausstellungskatalog Basel 1965; id.: Hirtenkulturen in Europa. Ausstellungskatalog Basel 1966; id. (ed.): Masken- und Maskenbrauchtum aus Ost- und Südosteuropa. Basel 1968 (zuerst in: SAVk. 63 [1967] 127⫺239; ibid.
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Wildmenschen
64 [1968] 1⫺28). ⫺ 4 Nachrufe: SAVk. 72 (1982) 74 sq. (H. Trümpy); ÖZfVk. 85 (1982) 307⫺310 (L. Kretzenbacher); Ethnologia Europaea 13 (1982/83) 234⫺236 (A. Niederer); ZfVk. 79 (1983) 111 sq. (Z. Kumer); Fabula 24 (1983) 121 sq. (R. W. Brednich); Verhandlungen der Naturforschenden Ges. Basel 94 (1984) 321⫺334 (T. Gantner/Z. Kumer/R. W. Brednich/A. Senti). ⫺ 5 SAVk. 68/69 (1972/73) (Festschr. R. W.). ⫺ 6 W., R.: Schneckenzucht und Schneckenspeise. In: SAVk. 46 (1950) 119⫺184; id.: Der „Feiertagschristus“ als ikonographischer Ausdruck der Sonntagsheiligung. In: Zs. für schweiz. Archäologie und Kunstgeschichte 16 (1956) 1⫺34; id.: Die Eierschalen im europ. Glauben und Brauch. In: Acta ethnographica 9 (1970) 435⫺457; id.: Vorindustrielle Geräte der Land- und Hauswirtschaft Graubündens. In: Erb, H. (ed.): Das Rät. Museum. Chur 1979, 396⫺425; cf. SAVk. (wie not. 1) 5⫺15 (Verz. der Veröff.en). ⫺ 7 id.: Das Sündenregister auf der Kuhhaut (FFC 163). Hels. 1955. ⫺ 8 id.: „Die Stunde ist da, aber der Mann nicht“. Ein europ. Sagenmotiv. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 65⫺88. ⫺ 9 id.: Volkstümliche Auffassungen über den Wirbelwind in Europa. In: Mittlgen der Anthropol. Ges. in Wien 100 (1970) 397⫺415. ⫺ 10 id.: AaTh 958 „Der Hilferuf des Hirten“. In: Fabula 16 (1975) 233⫺256. ⫺ 11 id.: Das Tier mit den goldenen Hörnern. In: Alpes Orientales 7 (1975) 92⫺123. ⫺ 12 id.: Der Altersvers des Wechselbalgs und die übrigen Altersverse (FFC 235). Hels. 1985.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Wildmenschen oder Wilde Leute (Mot. F 567) sind Kollektivbegriffe für unterschiedliche Vorstellungen von außerhalb oder an der Grenze der J Zivilisation lebenden Wesen, die menschliche, tierische und dämonische Züge in sich vereinigen. Im europ. MA. und in der frühen Neuzeit fungierten Wilde Leute, vor allem die Figur des Wilden Mannes (W.n M.es), in höfischer Lit. und Kunst seit der 2. Hälfte des 12. Jh.s als Negativpol im Dualismus von Wildheit und Zivilisation, (sexueller) Triebhaftigkeit und Affektkontrolle, Laster und Tugend1. Der dem J Riesen z. T. ähnliche Habitus des W.n M.es umfaßt einen außer an Gesicht, Händen und Füßen (und bei der Wilden Frau an den Brüsten) behaarten Körper (J Nackt, Nacktheit), außergewöhnliche Größe und J Stärke, z. T. Vierfüßigkeit, Bewaffnung mit einer Keule oder einem ausgerissenen Baum, solitäres Leben im J Wald, oft Sprachunfähigkeit sowie rohes, ungezügeltes Verhalten. Die Wilde Frau wird ebenso als riesig, aggressiv und häßlich, mit großen hängenden Brüsten, aber auch
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als schöne, J Feen ähnliche Gestalt beschrieben und ist oft erotisch konnotiert2. Im 14.⫺16. Jh. findet sich die W. M.-Figur in zahllosen profanen wie sakralen Darstellungen, die einen Wandel von Aussehen, Funktion und sozialem Kontext bezeugen: Der W. M. dient u. a. als Wappenhalter, erscheint in höfischen Maskeraden, als Ordnungshüter bei Fastnachtsumzügen und in anderen Brauchhandlungen, ist auch von kleinerer Statur und tritt dann oft in Gruppen auf, trägt ein zotteliges Gewand oder nur einen Laubkranz um die Lenden und einen Früchtekranz im Haar, ist erotisches Symbol und wird mit Familie in paradiesischer Umgebung abgebildet (J Tapisserien)3.
Von einem gefährlichen Naturwesen mutierte der W. M. zu einem Modell für ein einfaches Leben in Harmonie mit der J Natur: Wilde Leute dienten in der Renaissance auch zur Kritik an einer als dekadent und korrupt empfundenen Gesellschaft ⫺ so die der Zivilisation entflohenen ,Wilden Holtzleut‘ bei Hans J Sachs4. Die heterogenen Vorstellungen von Wildmenschen im MA., Anfang des 16. Jh.s von Johann J Geiler von Kaysersberg zum ersten Mal systematisiert5, erklären sich aus dem breiten ma. Bedeutungsspektrum des Attributs ,wild‘ für alles außerhalb der menschlichen Kultur, Gemeinschaft und Norm Stehende. Eine große Gruppe bilden temporäre Wilde: J Einsiedler wie die Heiligen J Onuphrius, J Maria Aegyptiaca oder J Johannes Chrysostomos, dem Wahnsinn Verfallene wie der aus der Schlacht fliehende J Merlin in J Geoffreys of Monmouth Vita Merlini oder der an zurückgewiesener Liebe leidende J Iwein bei J Chre´tien de Troyes und J Hartmann von Aue sowie in der Wildnis Aufgewachsene wie der von einer Bärin aufgezogene Orson (J Valentin und Orson). Zeitweilig Wilde waren aus der Bibel vertraut (u. a. Nebukadnezar; cf. Dan. 4,29⫺30) und sind schon im J Gilgameschepos (Enkidu) bezeugt6. Zu den Wildmenschen rechneten auch als real, doch jenseits der Zivilisation gedachte exotische Völker (J Fabelwesen), darunter behaarte Wesen, wie sie die J Alexander-Überlieferung, Erzählungen über den J Priester Johannes, der Abenteuerroman J Herzog Ernst und frühe Reiseberichte (Marco J Polo) tradierten. Daneben erscheinen dauerhaft außerhalb der menschlichen Gesellschaft lebende Wesen, z. B. der dem Ritter Kalogreant den Weg weisende Hirte wilder Tiere bei Chre´tien und bes. bei Hartmann, der als J
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Wildmenschen
Herr der Tiere Nähe zu J Wild- und J Waldgeistern der niederen Mythologie aufweist7. Zu diesen gehören als anthropomorphe Naturdämonen auch die Wilden Leute neuzeitlicher Sagen8, die mit den ma. Wildmenschen manche Eigenschaften und Motive gemeinsam haben, so das Motiv der Frauenjagd oder das der Gefangennahme des W.n M.es (cf. AaTh/ ATU 775: cf. J Midas, AaTh/ATU 502: Der wilde J Mann)9. Die verschiedenen Wilde LeuteVorstellungen zeigen unterschiedliche Einflüsse10, wobei eine schon frühma. christl. Überformung antiker griech.-röm. Vorstellungen über Satyre, Silvane, Faune etc. und nicht mehr faßbarer lokaler mündl. Überlieferungen zu berücksichtigen ist. Die Übernahme antiker Termini für Wesen der niederen Mythologie durch ma. Dichter und Glossatoren verkompliziert den Sachverhalt11. Die Ende des 15. Jh.s in der Neuen Welt entdeckten exotisch erscheinenden Menschen (J Exotik, Exotismus) wurden von den europ. Eroberern nach vertrauten Mustern als Wilde klassifiziert. Einerseits stellte das in Europa verbreitete Bild der nord- und südamerik. Indianer sie als unzivilisiert dar, ohne Wissen von Gott, ohne Verstand und emotionale Kontrolle, nackt und behaart12; dies diente in Abgrenzung von anderen Kulturen zur Identitätsbildung für die eigene Gesellschaft. Andererseits führte eine retrospektive Zivilisationskritik (Goldenes J ZA.) zusammen mit einem neuen Naturverständnis zu einer veränderten Auffassung: Aus minderwertigen, wenngleich zur Gattung Mensch gehörigen Wesen wurden vermeintlich ohne zivilisatorische Zwänge lebende edle J Wilde, deren Existenz in der Natur ein positives Verhaltensmodell bildete13. Ein vermehrtes Interesse fanden seit dem 16. Jh. Glaubwürdigkeit beanspruchende Berichte über jahrelang allein im Wald lebende, z. T. von J Tierammen aufgezogene Wilde Kinder, Wald- oder Wolfskinder, die stereotyp mit für den ma. W.n M. typischen Attributen beschrieben waren: ohne Vernunft und Sprache, sich auf vier Füßen bewegend, z. T. behaart und Kleidung ablehnend14. Geschichten von ihrer Auffindung und ihrer fast durchwegs mangelnden Zivilisationsfähigkeit finden sich als Chronik- und Sensationsberichte sowie bis ins 19. Jh. als Fallbeispiele für Sozialisationsprozesse des Menschen (cf. auch Kaspar J
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Hauser)15. Durch Rudyard Kiplings Jungle Book (1894) und Edgar Rice Burroughs Tarzan of the Apes (J Tarzan) wurde das Schicksal Wilder Kinder popularisiert. Tendenzen einer J Entmythisierung zeigt die Integration von W. M.-Figuren in die Vorgeschichte der jeweils eigenen Region in Szenenspiel und Drama des 16. Jh.s, so als früheste Einwohner von Flandern oder als Briten vor der ags. Invasion16. Analog dazu fand in gelehrten Abhdlgen und neuzeitlichen Sagen eine rationalisierende J Historisierung statt (J Rationalisierung): Man erklärte Riesen und Wilde Leute zu verschwundenen Vorbewohnern der Region und zog fossile Knochenfunde als Zeugen der Vergangenheit heran17. Im 17. Jh. setzten sich naturwiss. Abhdlgen weiterhin mit den J Monstren und Wildmenschen der Antike und des MA.s auseinander18, wobei sie als Novum auch Menschenaffen einbezogen ⫺ um die Mitte des 17. Jh.s war die Übers. von Orang-Utan (malai.) als ,wilder Mann der Wälder‘ bekannt. Sogar in der Taxonomie C. Linne´s (1758) findet sich ein Homo sapiens ferus mit der Charakterisierung ,vierfüßig, stumm, behaart‘19. Als Phänomen populärer Kultur der Gegenwart erhielten Wildmenschen affenähnliche Züge. Aus dem 19. Jh., bes. aber der 2. Hälfte des 20. Jh.s stammen Berichte vom Zusammentreffen mit großen, aufrecht gehenden, behaarten Gestalten, meist fernab menschlicher Siedlungen, oder von Sichtungen ihrer J Fußspuren, die als der Realität entsprechende Erlebnisberichte, aber auch als pädagogische Fiktionen tradiert werden. Durch Pressemeldungen und populärwiss. Slgen ⫺ begleitet von Nachrichten über Selbsttäuschungs- und Fälschungsfälle ⫺ erlangten der Yeti des Himalaja und der Bigfoot der USA bzw. der Sasquatch Kanadas internat. Bekanntheit20. Vom Sasquatch, vom austral. Yahoo oder vom Yeti in Traditionen europ. Siedler und westl. Reisender21 sind Wildmenschen und -geister in Überlieferungen anderer Kulturen zu unterscheiden22. Außereurop. Überlieferungen über Wildmenschen interpretieren sog. Kryptozoologen im 20./ 21. Jh. als hist. Hinweise auf nicht mehr existierende Hominide und aktuelle Berichte über behaarte Gestalten als Zeugnisse für das Überleben von als ausgestorben geltenden Primaten oder bisher unbekannten Zwischengliedern in
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Wildschütz, Wilddieb, Wilderer ⫺ Willehalm
der Entwicklung vom Tier zum Menschen23. Aus psychol. Sicht werden Vorstellungen von Wildmenschen heute vor allem als Projektion unterdrückter Wünsche und Ängste verstanden24. 1 Leyen, F. von der/Spamer, A.: Die altdt. Wandteppiche im Regensburger Rathause. Regensburg 1910, 16⫺32; Spamer, A.: Die wilden Leute in Sage und Bild. In: Volkskunst und Vk. 9 (1911) 117⫺123; Bernheimer, R.: Wild Men in the Middle Ages. Cambr., Mass. 1952; Bartra, R.: Wild Men in the Looking Glass. Ann Arbor 1994; id.: The Artificial Savage. Modern Myths of the Wild Man. Ann Arbor 1997; Wilckens, L. von: Das MA. und die ,Wilden Leute‘. In: Münchner Jb. der bildenden Kunst 3,45 (1995) 65⫺82; Hintz, E. R.: Der W. M. ⫺ ein Mythos vom Andersartigen. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen 1999, 617⫺626; Jones, M.: Wild Man (Wodehouse, Wodewose). In: Medieval Folklore 2. ed. C. Lindahl/J. McNamara/J. Lindow. Santa Barbara u. a. 2000, 1037⫺1041. ⫺ 2 Habiger-Tuczay, C.: Wilde Frau. In: Müller/Wunderlich (wie not. 1) 603⫺615; Stock, L. K.: Wild Woman. In: Lindahl u. a. (wie not. 1) 1041⫺1044. ⫺ 3 Die wilden Leute des MA.s. Ausstellungskatalog Hbg 1963; Möller, L. L.: Die wilden Leute in der dt. Graphik des ausgehenden MA.s. In: Philobiblon 8 (1964) 261⫺264; Haiding, K.: Sagen von den Wildleuten. Kommentar zum österr. Vk.atlas 6,2. Wien 1979, Bl. 115; Husband, T./Gilmore-House, G. (edd.): The Wild Man. Medieval Myth and Symbolism. Ausstellungskatalog N. Y. 1980; Meier, E. A.: Vogel Gryff. Geschichte und Brauchtum der drei Ehrengesellschaften Kleinbasels. Basel 1986. ⫺ 4 Sachs, H.: Werke 3. ed. A. von Keller/E. Goetze. Tübingen 1870, 561⫺564; cf. Husband/Gilmore-House (wie not. 3) 132 sq., num. 33 (Einblattdruck 1545). ⫺ 5 von der Leyen/Spamer (wie not. 1) 19 sq.; Habiger-Tuczay (wie not. 2). ⫺ 6 Wells, D.: The Wild Man from the Epic of Gilgamesh to Hartmann von Aue’s Iwein. Belfast 1975; Dickson, K.: Looking at the Other in „Gilgamesh“. In: J. of the American Oriental Soc. 127 (2007) 171⫺182. ⫺ 7 Röhrich, L.: Europ. Wildgeistersagen. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 79⫺162, bes. 104⫺106. ⫺ 8 EM 14, 444⫺446. ⫺ 9 Röhrich, L.: Die Frauenjagdsage. In: Laographia 22 (1965) 408⫺423, bes. 413, 416, 418, 421 sq.; Husband/Gilmore-House (wie not. 3) 156 sq., num. 42 (W. M.-Spiel); Grafenauer, I.: Slovenska pripovedka o ujetem divjem mozˇu (Die slov. Sage vom gefangenen W.n M. ). In: Zgodovinski cˇasopis 6⫺7 (1952⫺53) 124⫺153. ⫺ 10 Lynge, W.: Das Sommer- und Winterspiel und die Gestalt des W.n M.es. In: ÖZfVk. 55, N. S. 6 (1952) 14⫺42; Röhrich (wie not. 8); Mulertt, W.: Der „w. M.“ in Frankreich. In: Zs. für frz. Sprache und Lit. 56 (1932) 69⫺88; Giese, W.: Zum „w.n M.“ in Frankreich. ibid., 491⫺ 497; EM 9, 588 (walis.). ⫺
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Lecouteux, C.: Les Monstres dans la litte´rature ˆ ge 1⫺2. Göppingen 1982, t. allemande du Moyen A 1, 15⫺24; t. 2, 98⫺107; id.: Lamia ⫺ holzmuowa ⫺ holzfrowe ⫺ Lamıˆch. In: Euphorion 75 (1981) 360⫺ 365. ⫺ 12 Robe, L. S.: Wild Men and Spain’s Brave New World. In: Dudley, E./Novak, M. E. (edd.): The Wild Man. An Image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism. L. 1972, 39⫺53; Dickason, O. P.: The Concept of L’Homme Sauvage. In: Halpin, M. M./Ames, M. M. (edd.): Manlike Monsters on Trial. Vancouver/L. 1980, 65⫺82. ⫺ 13 ibid., 76. ⫺ 14 Bruland, H.: Wilde Kinder in der frühen Neuzeit. Stg. 2008; Blumenthal, P. J.: Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen. Wien/Ffm. 22003. ⫺ 15 Tylor, E. B.: Wild Men and Beast-Children. In: Anthropological Review 1 (1863) 21⫺32. ⫺ 16 Bernheimer (wie not. 1) 69 sq., 120. ⫺ 17 Grimm, Mythologie 1, 458; Grimm DS 167; DWb. 14,2 (1960) 64; HDA 9 (1938⫺41) 980; ibid. 2 (1929⫺30) 1187; cf. auch Lynge (wie not. 10) 17, 21. ⫺ 18 Nash, R.: Tyson’s Pygmie: the Orang-outang and Augustan ,Satyr‘. In: Corbey, R./ Theunissen, B. (edd.): Ape, Man, Apeman. Changing Views since 1600. Leiden 1995, 51⫺62. ⫺ 19 Linnaeus, C.: Systema naturae. Stockholm 101758; Burke, J. G.: The Wild Man’s Pedigree. Scientific Method and Racial Anthropology. In: Dudley/Novak (wie not. 12) 259⫺280, hier 266⫺268; Bruland (wie not. 14) 281⫺292. ⫺ 20 Debenat, J.-P.: Sasquatch/Bigfoot and the Mystery of the Wild Man. Cryptozoology & Mythology in the Pacific Northwest. Surrey, B. C. 2009; Halpin/Ames (wie not. 12); Messner, R.: Yeti. Legende und Wirklichkeit. Ffm. 1998; Buhs, J. B.: Bigfoot. The Life and Times of a Legend. Chic. 2009. ⫺ 21 Taft, M.: Sasquatch-like Creatures in Newfoundland. In: Halpin/Ames (wie not. 12) 83⫺96; Smith, M.: Analysis of the Australian „Hairy Man“ (Yahoo) Data. In: Cryptozoology 8 (1989) 27⫺36. ⫺ 22 Messner (wie not. 20). ⫺ 23 Colarusso, J.: Ethnographic Information on a Wild Man of the Caucasus. In: Halpin/Ames (wie not. 12) 255⫺264; Zhou Guoxing: The Status of Wildman Research in China. In: Cryptozoology 1 (1982) 13⫺23; Forth, G.: Images of the Wildman Inside and Outside Europe. In: FL 118 (2007) 261⫺281; id.: Images of the Wildman in Southeast Asia. L./N. Y. 2008; Reitz, M.: Rätseltiere. Krypto-Zoologie ⫺ Mythen, Spuren und Beweise. Stg. 2005. ⫺ 24 cf. White, H.: The Forms of Wildness. In: Dudley/Novak (wie not. 12) 3⫺38, hier 7 sq., 34 sq.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
Wildschütz, Wilddieb, Wilderer J Räuber, Räubergestalten Willehalm, mhd. Versroman von Wolfram von Eschenbach, entstanden im 2. Jahrzehnt des 13. Jh.s im Auftrag des Landgrafen Her-
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Willehalm
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mann I. von Thüringen1. Das Werk endet nach knapp 14 000 Versen, ohne daß die Handlung in allen Erzählsträngen abgeschlossen wäre; es ist umstritten, ob der Autor die Arbeit vor dem geplanten Ende abbrechen mußte. In den 40er Jahren des 13. Jh.s hat Ulrich von Türheim eine Forts. verfaßt (Rennewart)2, etwa zwei Jahrzehnte später hat Ulrich von dem Türlin eine Vorgeschichte hinzugefügt (Arabel)3. Mit ca 80 erhaltenen Hss. des 13.⫺ 15. Jh.s4 gehört der W. zu den am besten überlieferten Werken der mhd. Erzählliteratur5. Zur primären Überlieferung kommen umfangreiche Auszüge in einigen Hss. der Weltchronik Heinrichs von München hinzu6. Die meisten Hss. präsentieren den W. als Mittelstück eines dreiteiligen Zyklus von über 60 000 Versen zwischen der Arabel und dem Rennewart7. Im 15. Jh. ist dieser Zyklus von einem unbekannten Verf. in Prosa umgeformt worden8. Hauptquelle des W. ist die altfrz. Chanson de geste Aliscans aus dem Epenzyklus um J Guillaume d’Orange9. Wolfram hat die Chanson aus ihrem zyklischen Zusammenhang gelöst und sie zu einem höfischen Roman mit legendarischen Zügen umgestaltet. Ulrich von Türheim hat für seine Forts. noch einmal auf den frz. Zyklus zurückgegriffen10, während Ulrich von dem Türlin die Vorgeschichte offenbar allein aufgrund der Hinweise im W. selbst entwickelt hat. Der W. hat folgenden Inhalt11:
heidnischen Kräfte in der zweiten Schlacht behindern. W. entkommt als einziger aus dem Christenheer vom Schlachtfeld, schlägt sich nach Orange zu Giburg durch und macht sich von dort auf den Weg zu König Ludwig, der gerade in Laon einen Hoftag abhält. Die Hofgesellschaft ⫺ an ihrer Spitze der König und seine Gemahlin, W.s Schwester ⫺ behandelt ihn als Störenfried. Man ist nicht geneigt, nochmals ein Heer für seine Kriege zu opfern. W. verliert die Beherrschung, beschimpft den König und kann nur mit Mühe daran gehindert werden, seine Schwester zu erschlagen. Der Königstochter Alize gelingt es, ihn zu besänftigen. Nun sagen ihm seine Verwandten ⫺ Vater, Mutter, Brüder ⫺, die ebenfalls anwesend sind, Hilfe zu, und der König erklärt den Krieg zur Reichssache. W. erhält den Befehl über das Reichsheer. An König Ludwigs Hof lebt unerkannt als Küchenjunge ein Sohn Terramers, der riesenhafte Rennewart, der Alize in Liebe zugetan ist. W. erkennt instinktiv den Adel des Jungen und macht ihn zu seinem Helfer. An der Spitze des Reichsheers kehrt er nach Orange zurück, dessen vergebliche Belagerung die Sarazenen gerade aufgehoben haben. Nach und nach treffen auch W.s Vater und Brüder mit ihren Truppen ein. Die vereinten christl. Heere treten den Sarazenen wiederum auf Alischanz entgegen und besiegen sie. Der Sieg ist nicht zuletzt Rennewart zu verdanken, der mit einer gewaltigen Stange ⫺ der typischen Waffe von Riesen ⫺ Pferde und Reiter in Massen niederschlägt. Die überlebenden Sarazenen fliehen teils ins Gebirge, teils auf ihre Schiffe. Nach der Schlacht wird Rennewart vermißt; sein Schicksal bleibt offen. Am Ende entläßt W. den gefangenen Heidenkönig Matribleiz mit den Leichen gefallener Heidenkönige ehrenvoll nach Hause.
Als Vasall des röm. Königs Ludwig (hist. Ludwig der Fromme, Sohn J Karls d. Gr.) verteidigt der Markgraf Willehalm von Orange die Provence gegen die heidnischen Sarazenen. Wie sich aus verstreuten Informationen im Werk ergibt, war er im Verlauf der Kämpfe in Gefangenschaft geraten und hatte die Liebe der sarazen. Fürstin Arabel, der Gemahlin des Königs Tibalt und Tochter des obersten Sarazenenherrschers Terramer, gewonnen. Sie war mit ihm geflohen, hatte sich auf den Namen Giburg taufen lassen und ihn geheiratet. Daraufhin hatten Terramer und Tibalt ein riesiges Heer für einen Rachefeldzug ausgerüstet. Mit der Landung der Invasionstruppen in der Provence setzt die Handlung des W. ein. In einer ersten Schlacht auf dem Feld Alischanz (les Alyscamps bei Arles) wird W. vernichtend geschlagen. Bes. schmerzlich ist für ihn der Tod seines Neffen Vivianz, der in seinen Armen stirbt. Der Erzengel Cherubin steht dem Jungen bei, und von seinem Leichnam geht der süße Geruch der Heiligkeit aus. Engel bestatten die Gefallenen in Steinsärgen, die das Schlachtfeld bedecken und später die Entfaltung der
Der W. kann als Forts. des Rolandslieds (J Roland) gelten, insofern er die Entwicklung des welthist. Konflikts zwischen Christen und Sarazenen in der Folgegeneration zeigt (Terramer ist der Neffe Baligans, des Gegners von Ludwigs Vater Karl im Rolandslied). Mit einem Netz von Bezügen auf das Rolandslied hat Wolfram einen prägnanten intertextuellen Zusammenhang etabliert12, der programmatischen Charakter hat. Wie das Rolandslied ist der W. eine J Kreuzzugsdichtung, aber er teilt gerade nicht die im Rolandslied vertretene Kreuzzugsideologie, nach der die J Heiden als Vertreter des Teufelsreichs um jeden Preis zu bekämpfen sind. Wolfram läßt zwar keinen Zweifel daran, daß der Kampf gegen die Heiden verdienstvoll ist, aber er gibt die einseitige Sicht des Rolandslieds zugunsten einer Position auf, die das ,Recht des Andern‘13 aner-
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Wind
kennt. Das geht so weit, daß er Giburg ⫺ in einer berühmten Rede im Kriegsrat vor der zweiten Schlacht ⫺ die Vorstellung entwickeln läßt, daß die Heiden nicht nur Geschöpfe, sondern wie die Christen auch Kinder Gottes sind. Diese Ansicht steht im Gegensatz zur Theologie der Zeit, die den Status der Gotteskindschaft an die Taufe bindet14. Mit schonungsloser Drastik stellt Wolfram das Grauen des Krieges dar, der beiden Seiten entsetzliches Leid bringt. Doch scheint dieses Leid aufgehoben in einer unerschütterlichen christl. Heilsgewißheit, die der Erzähler nachdrücklich zu vermitteln sucht. Sie ist verbürgt in Gottes wunderbarem Wirken in der Natur, das leitmotivartig beschworen wird, und im gnadenvollen (jenseits des Textes liegenden) Ende W.s und Giburgs, die vom Erzähler als Heilige angerufen werden. Neben dem W. gibt es eine zweite, von ihm unabhängige dt. Versfassung von Aliscans15. Das Werk, von dem nur ein Bruchstück von ca 700 Versen erhalten ist, dürfte ebenfalls im 13. Jh., vielleicht in Bayern oder am Niederrhein, entstanden sein. Soweit die geringe Textbasis ein Urteil erlaubt, handelt es sich nicht um eine Bearb., sondern um eine ,unselbständige‘, der ,frz. Vorlage getreu‘ folgende Übers.16, die möglicherweise über das Konzeptstadium nicht hinausgekommen ist. 1 Wolfram von Eschenbach: W. Nach der Hs. 857 der Stiftsbibl. St. Gallen. Mhd. Text, Übers., Kommentar. ed. J. Heinzle. Ffm. 1991 (rev. Ausg. 2009); cf. Bumke, J.: Wolfram von Eschenbach. Stg./Weimar 82004. ⫺ 2 Ulrich von Türheim: Rennewart. Aus der Berliner und Heidelberger Hs. ed. A. Hübner. B. 1938. ⫺ 3 Ulrich von dem Türlin: Arabel. Die ursprüngliche Fassung und ihre Bearb. ed. W. Schröder. Stg./Lpz. 1999. ⫺ 4 Laufend aktualisiertes Verz. im Hs.census. Eine Bestandsaufnahme der hs. Überlieferung dt.sprachiger Texte des MA.s (im Internet). ⫺ 5 Gerhardt, C.: Der „W.“-Zyklus. Stationen der Überlieferung von Wolframs ,Orig.‘ bis zur Prosafassung. Stg. 2010. ⫺ 6 Kiening, C.: Der „W.“ Wolframs von Eschenbach in karoling. Kontext. Formen narrativ-hist. Aneignung eines ,Klassikers‘. In: Studien zur „Weltchronik“ Heinrichs von München 1. ed. H. Brunner. Wiesbaden 1998, 522⫺568, hier 532⫺550; Gerhardt (wie not. 5) 90⫺93. ⫺ 7 Bastert, B.: Helden als Heilige. ,Chanson-de-geste‘-Rezeption im dt.sprachigen Raum. Tübingen/Basel 2010, 191⫺206. ⫺ 8 Deifuss, H.: „Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm“. Kritische Edition und Unters. einer frühneuhochdt. Prosaauflösung. Ffm. u. a. 2005; cf. Kiening (wie not. 6) 550⫺557; Ger-
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hardt (wie not. 5) 93⫺95; Bastert (wie not. 7) pass. ⫺ 9 Heinzle, J.: Wilhelmsepik. In: Reallex. der germ. Altertumskunde 34. B./N. Y. 2007, 109⫺114; cf. auch Bennett, P. E.: The Cycle of Guillaume d’Orange or Garin de Monglane. A Critical Bibliogr. Woodbridge 2004. ⫺ 10 Hennings, T.: Frz. Heldenepik im dt. Sprachraum. Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jh. Heidelberg 2008, 264⫺501. ⫺ 11 Zum Motivbestand cf. Birkhan 3, 433⫺448. ⫺ 12 Bastert (wie not. 7) 182⫺184. ⫺ 13 Bertau, K.: Das Recht des Andern. Über den Ursprung der Vorstellung von einer Schonung der Irrgläubigen bei Wolfram. In: id.: Wolfram von Eschenbach. Mü. 1983, 241⫺258. ⫺ 14 Bumke (wie not. 1) 303⫺305. ⫺ 15 Hennings (wie not. 10) 196⫺448; Bastert (wie not. 7) pass. ⫺ 16 Hennings (wie not. 10) 254.
Marburg
Joachim Heinzle
Wind ist meteorologisch betrachtet die Bewegung der J Luft als Folge des Ausgleichs von Druckunterschieden in der Atmosphäre; nur als W. wird die Luft spürbar1. Wie die Luft hat der W. in der Philosophie als Lebenshauch (J Atem) Verbindungen zu Geist und J Seele (Pneuma)2, in populären Vorstellungen ist er bevölkert von J Luftgeistern, einer Untergruppe der J Elementargeister. Als Elementarkraft wird der W. ambivalent wahrgenommen: Einerseits ist er Lebensspender für Individuum und Gesellschaft, indem er zur Energiegewinnung bzw. zum Antrieb von Mühlen oder Schiffen dient; andererseits ist er als Sturm, Orkan oder Wirbelwind Ausdruck von Bedrohung, Zerstörung sowie allg. von Chaos3. Zahlreiche regelmäßig stattfindende oder periodisch wiederkehrende W.e tragen spezielle Namen, so etwa der Passat, der Mistral, der Scirocco oder der Monsun. Auch in der Volksprosa wird der W. ambivalent erlebt. Positiv kann der W. im Märchen ⫺ wie auch astrale Phänomene (Sonne, Mond, Sterne) ⫺ als J Ratgeber und Wegweiser fungieren (J Personifikation), um den Helden auf ihrer J Suchwanderung beizustehen: Die W.e wittern zunächst J Menschenfleisch, zeigen dann aber den richtigen Weg (cf. Mot. H 1232)4. In einem österr. Märchen hilft der in einem Berg hausende W. dem jüngsten von drei Söhnen, seine Frau wiederzufinden, indem er seine Gesellen ruft, die überall auf der Welt blasen5. Andererseits erscheint der W. als
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Wind
Frauenräuber, so etwa in Var.n von AaTh/ ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen6. Als ein anderen J Wettererscheinungen überlegenes Prinzip erweist sich der W. in AaTh/ ATU 298 A*: J Gruß an den W. (cf. auch AaTh/ATU 298: J Streit zwischen Sonne und W.). In AaTh/ATU 752 B: Der vergessene J W. beauftragt Gott einen frommen Mann (Petrus), das Wettergeschehen zu regeln; dieser sendet Regen, Sonne und Hitze auf die Erde, vergißt aber den W., woraufhin er von Gott entlassen wird. Eine Sage aus dem nordöstl. Böhmen spiegelt Wissen um natürliche Vorgänge wider: Ein Bauer fordert den W. auf, im kommenden Jahr sein Getreidefeld in Ruhe zu lassen. Bei der Ernte muß er allerdings feststellen, daß seine Ähren im Gegensatz zu denen der Nachbarn taub sind. Auf seine Bitte hin weht der W. im nächsten Jahr wieder, und der Bauer kann eine reiche Ernte einfahren7. Auch in einer Erzählung von Gluscap, einer Trickstergestalt der Algonkin im Nordosten der USA, bedenkt der Protagonist grundlegende Einflüsse des W.es auf das Wettergeschehen nicht8: Weil ihn der W. beim Entenfang stört, bindet Gluscap dem für die Erzeugung des W.s verantwortlichen Adler die Flügel fest. Die Folgen sind fatal, denn normalerweise hält der W. die Luft kühl und klar, sorgt für Regen und dafür, daß das Wasser in Flüssen und Seen frisch bleibt; als Gluscap dies erkannt hat, befreit er den Adler von seinen Fesseln und kommt mit ihm überein, daß dieser künftig nur noch manchmal mit den Flügeln schlägt9. In einem estn. ätiologischen Märchen, das die Feindschaft zwischen Fliege und Spinne erklärt, legt sich der personifizierte W. schlafen oder geht verloren, worunter Tiere wie Pflanzen leiden und zu verhungern drohen; die Spinne findet den W. und weckt ihn auf, doch die Fliege überbringt die Kunde rascher und wird für das Wiederauffinden des W.es geehrt10. Schwankhaft eingebunden ist der W. in AaTh/ATU 1624: cf. J Dieb, Diebstahl: Als ein Dieb beim Stehlen in einem Garten erwischt wird, rechtfertigt er seine Anwesenheit damit, daß der W. ihn dorthin getragen habe; der W. habe auch das Gemüse entwurzelt; wieso es sich allerdings in seinem Sack befinde, könne er sich nicht erklären. (Natur-)mythol. Vorstellungen über die Entstehung des W.es sind in traditionellen Kultu-
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ren häufig anzutreffen. Bei den indigenen Völkern in Feuerland wird das Vorhandensein des kalten Südwinds und des gelegentlich auftretenden wärmeren Nordwinds auf einen immerwährenden Streit zwischen den beiden zurückgeführt, der darin begründet ist, daß der Südwind dem Nordwind einst die Tochter gestohlen und zur Frau genommen hat11. In einer Erzählung der Inuit entdeckt eine zum Leben erweckte Puppe auf der Himmelswand verschließbare Öffnungen, aus denen unterschiedliche W.e blasen12. Ein positives Bild des W.s vermittelt die Mythologie der alten Ägypter: Der W. verschafft den Lebenden genauso wie jenen, welche im Totenreich weiterleben möchten, die Atemluft; letztere erteilen dem W. Befehle, und mit seiner Hilfe fährt der verstorbene König gen Himmel13. Eine hohe Wertschätzung erfährt der W. auch bei den Navajo, die ihm spirituelle Kräfte zuschreiben und für alles Leben, Denken und Sprechen verantwortlich machen14. Vollends göttliche Qualitäten werden dem W. in Japan zugeschrieben, nicht zuletzt weil die Mongolen infolge eines schweren Sturms 1274 und eines Taifuns 1281 bei ihren Angriffen auf Japan vernichtend geschlagen wurden15. Der Selbstmordeinsatz jap. Kampfflieger im 2. Weltkrieg wurde als ,göttlicher W.‘ (jap. kami kaze) bezeichnet16. Andere Geschichten vom W. verorten diesen an der Schwelle zwischen Gut und Böse. Der Seemann vermag zwar bei W.stille den W. durch magische Handlungen herbeizulocken, doch es ist ihm nicht gegeben, seine Stärke zu beeinflussen, denn „statt einer erwünschten Brise kann ein heftiger Orkan kommen“17. Auch der früher weitverbreitete Brauch des W.fütterns macht deutlich, daß es besser ist, den W. durch Gaben zu besänftigen, als seinen Zorn hervorzurufen18. Kurios erscheint es, daß in der Steiermark nicht nur Nahrungsmittel geopfert wurden, sondern auch eine Nadel mit Zwirn, weil man sich den W. als menschenähnliches Wesen mit zerrissener Kleidung vorstellte19 ⫺ vielleicht, um ihm dadurch einen Teil seines bedrohlichen Wesens zu nehmen. Zahlreiche Erzählungen künden vom negativen Wirken des W.es. In der griech. Mythologie waltet der Gott Aiolos über die W.e; in der Odyssee (J Homer) ist mehrfach von W.en die
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Wind
Rede, welche die Heimfahrt der Helden verhindern. In europ. Sagen fährt der J Fliegende Holländer im Sturm einher, und auch die J Wilde Jagd bringt heftigen W. mit sich. Schadenbringender W. wird oft J Hexen zugeschrieben20; es ist wohl kein Zufall, daß sich während der sog. Kleinen Eiszeit in der frühen Neuzeit nicht nur das Wetter verschlechterte und der W. stärker wurde, sondern auch die Hexenverfolgungen zunahmen21. Der prominenteste weibliche Dämon der südslav. Überlieferung, die J Samovila, ist ursprünglich ein W.- und Sturmgeist. Oft treten die Hexen als Wirbelwind auf, der häufig als W.sbraut bezeichnet wird. Dabei dürfte erst die Benennung dazu geführt haben, daß die W.sbraut zu einer Sagengestalt wurde22. Entweder glaubte man, die Hexe habe den Wirbelwind verursacht oder befinde sich darin (Mot. G. 242.2), oder der Verursacher habe eine andere Person hineingezaubert23. Hat der Bauer Asche zur Düngung aufs Feld getragen, nimmt die W.sbraut alles „hinauf in die Luft und streut es in unfruchtbares Moos oder in einen Weiher“24. Bes. eindrucksvoll zeigt sich die vernichtende Kraft des W.es in einer Erzählung der Blackfoot-Indianer, die von einer dämonischen Gestalt mit riesenhaftem Maul berichtet, welche mit der Kraft des W.es Menschen ansaugt und sie verschlingt25. Auch J Wassergeister können dem Menschen mit Hilfe des W.es schaden bzw. sich an ihm rächen. Als ein Fischer am Neusiedler See eine Seejungfrau ersticht, verflucht sie ihn, und ein Sturm reißt ihn in das offene Wasser hinaus26. Das von den Bewohnern der Insel Minsener Oog (Ostfriesland) gefangene Seeweibchen kann sich befreien und verursacht einen gewaltigen Sturm, der die gesamte Insel untergehen läßt27. 1 Fielding, X.: Das Buch der W. e. Nördlingen 1988, 80 sq.; Hellpach, W.: Geopsyche. Die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft. Stg. 81977, 35⫺37. ⫺ 2 Böhme, G. und H.: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. Mü. 2004, 53. ⫺ 3 Balint, M.: Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung. Stg. 21997, 82⫺84; Böhme, H.: Elemente ⫺ Feuer, Wasser, Erde, Luft. In: Vom Menschen. Hb. der Hist. Anthropologie. ed. C. Wulf. Mü. 1997, 17⫺46; id.: Anthropologie der vier Elemente. In: Wasser. ed. B. Busch/L. Förster. Köln 2000, 17⫺37; Böhme, G.: Das Wetter und die Ge-
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fühle. Für eine Phänomenologie des Wetters. In: Luft. ed. B. Busch. Bonn 2003, 148⫺161; Böhme (wie not. 2) 53 sq., 291 sq.; Rieken, B.: „Nordsee ist Mordsee“. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster u. a. 2005, 147⫺150. ⫺ 4 EM 2, 624. ⫺ 5 Vernaleken, T.: Österr. Kinder- und Hausmärchen. Wien 1864, 287⫺ 297. ⫺ 6 Afanas’ev, num. 140; Leskien, A.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 24. ⫺ 7 Kühnau, R.: Schles. Sagen 2. Lpz. 1911, 544. ⫺ 8 Erdoes, R./Ortiz, A.: American Indian Trickster Tales. N. Y. 1998, 215⫺230; Kaspricky, S.: Donnervögel und Unterwasserpanther. In: Kulturen der nordamerik. Indianer. ed. C. F. Feest. Köln 2000, 130⫺135, hier 130 sq. ⫺ 9 Caduto, M. J./Bruchac, J.: Keepers of the Earth. Native American Stories and Environmental Activities for Children. Golden, Col. 1997, 70 sq.; cf. Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Mineola, N. Y. 2000, 48 sq.; zum W. in Adler-Gestalt cf. ferner Fielding (wie not. 1) 46; Zimmermann, W.: W. In: HDA 9 (1938⫺41) 629⫺ 656, hier 630 sq. ⫺ 10 Dh. 3, 109 sq.; Oinas, F.: W. Goes to Bed. In: Studies in Folklore and Popular Religion 1. ed. Ü. Valk. Tartu 1996, 205⫺212. ⫺ 11 Gusinde, M.: Nordwind ⫺ Südwind. Mythen und Märchen der Feuerlandindianer. Kassel 1966, 11⫺ 20. ⫺ 12 Nelson, E. W.: The Eskimo about Bering Strait. Wash. 1983, 497⫺499. ⫺ 13 Kurth, D.: W. In: Lex. der Ägyptologie 6. Wiesbaden 1986, 1266⫺ 1272, hier 1267; zum Verhältnis W.götter und Schöpfung cf. Fielding (wie not. 1) 173⫺179. ⫺ 14 McNeley, J. K.: Holy W. in Navajo Philosophy. Tucson 1981. ⫺ 15 Metevelis, P.: The Deity and the W. of Ise. In: Asian Folklore Studies 61,1 (2002) 1⫺34, hier 20. ⫺ 16 ibid., 20 sq.; Inoguchi, R./Nakajima, T./Pineau, R.: The Divine W. Japan’s Kamikaze Force in World War II. Annapolis, Md. 1958. ⫺ 17 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1⫺2. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, 126; cf. ferner Fielding (wie not. 1) 47⫺54 (W.beschwörungen). ⫺ 18 Kretzenbacher, L.: „W.füttern“. Ein alter steir. Opferbrauch. In: Bll. für Heimatkunde 29,1 (1955) 2⫺9; cf. ferner HDA 9, 642 sq. ⫺ 19 Kretzenbacher (wie not. 18) 5. ⫺ 20 Fielding (wie not. 1) 47⫺51. ⫺ 21 Ulbricht, O.: Extreme Wetterlagen im Diarium Heinrich Bullingers (1504⫺1574). In: Behringer, W./ Lehmann, H./Pfister, C. (edd.): Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“. Göttingen 2005, 149⫺176, hier 167. ⫺ 22 Wildhaber, R.: Volkstümliche Auffassungen über den Wirbelwind in Europa. In: Mittlgen der anthropol. Ges. in Wien 100 (1970) 397⫺415, hier 402; Loewe, R.: Die W.sbraut und der wilde Jäger. In: Zs. für dt. Philologie 55 (1930) 84⫺ 91. ⫺ 23 Wildhaber (wie not. 22) 399. ⫺ 24 Reiser, K.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 1. Kempten 1895, 227 sq.; cf. Fielding (wie not. 1) 42⫺ 46 (zu Sturmteufeln beiderlei Geschlechts). ⫺ 25 Grinnell, G. B: Blackfoot Lodge Tales. N. Y. 1892, 29⫺38. ⫺ 26 Petzoldt, L.: Sagen aus dem Burgenland. Mü. 1994, 259 sq. ⫺ 27 Kuhn, A./Schwartz, W.:
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„Wind“ fangen ⫺ Wind: Der vergessene W.
Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche […]. Lpz. 1848, 295; cf. Rieken (wie not. 3) 229⫺233.
Wien
Bernd Rieken
„Wind“ fangen J Aufgaben, unlösbare
Wind stärker als die Sonne J Streit zwischen Sonne und Wind
Wind: Der vergessene W. (AaTh/ATU 752 B), legendarische Erzählung aus dem Umfeld der Überlieferungen über menschliche J Hybris gegenüber dem Walten Gottes: Ein Bauer (hl. J Petrus; cf. J Petrusschwänke) beschwert sich über das J Wetter und erhält von Gott (J Christus) die Erlaubnis, eine Zeitlang selbst das Wettergeschehen zu bestimmen. Der von ihm bestellte Wechsel von Sonne und Regen läßt das Getreide prächtig wachsen, beschert ihm aber nur kornlose Ähren, da er den W. zum Bestäuben der Fruchtstände vergessen hat.
Der Erzähltyp ist seit der frühen Neuzeit in Predigtkompilationen kathol.1 und protestant.2 Geistlicher bezeugt und im 19./20. Jh. sporadisch in Skandinavien3, Ost- und Mitteleuropa4 und im mediterranen Raum5 aus mündl. Überlieferung aufgezeichnet worden. Die mit Abstand meisten Belege liegen aus Deutschland vor. Überwiegend ist in den Texten von einem Bauern die Rede, der sich als Wettermacher taubes Korn beschert6. Die österr. Belege dieser Version sind zugleich Teil des Erzählkreises um die J Erdenwanderung der Götter7. Auch Petrus glaubt, besseres Wetter machen zu können als Gott oder Christus, und scheitert daran, daß er den W. vergißt8. In einigen Var.n wird das Wettermachen einer ganzen Dorfgemeinschaft übertragen, die sich ihre Ernte verdirbt9, obwohl sie eigens eine Wetterkommission bildet10 ⫺ in dieser bürokratisierten Form ein deutlich moderner Aspekt. Vereinzelt wird statt Korn auch Obst genannt, das ohne den W. nicht reift und bitter schmeckt11; in einer schles. Erzählung bittet ein Bauer den W., ihm das Getreide nicht so zu zerzausen, worauf die W.stille zu leeren Ähren führt12; in einer frz.sprachigen Erzählung aus dem Süden der
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USA verlangt der Bauer lediglich nach Regen zu selbst festgelegten Zeiten und kommt dadurch um seine Ernte13. Den sporadischen Angaben über Erzähler ist zu entnehmen, daß AaTh/ATU 752 B vor allem unter der Landbevölkerung tradiert wurde, der die Wachstumsprozesse von Pflanzen unmittelbar vertraut waren. Aber sicher sollte die Erzählung auch allg. auf das weise Walten Gottes oder auf das Ergebnis menschlicher Hybris verweisen. So bemerkte z. B. ein Erzähler: „Diese Legende pflegte mein Vater, ein Landmann […], zu erzählen, um uns Kindern klarzumachen, daß der Landmann mehr brauche als Regen und Sonnenschein und daß man dem lieben Gott nicht in sein Regiment hineinreden dürfe.“14 1 Dvorˇa´k, num. 3154***; Mollerus, J.: Allegoriae profano-sacrae. Das ist: Geistliche Deutungen allerhand weltlicher außerlesener Historien. Frankfurt (Oder) 41661, 92 sq.; Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 150. ⫺ 2 Titius, C.: Loci theologici historici. Wittenberg 1633, 1288; Rehermann, 137, 274 sq., num. 31, 295, num. 31, 540 sq., num. 4. ⫺ 3 Rausmaa, SK 2, num. 16; Liungman, Volksmärchen, 212; Kristensen, E. T.: Jyske Folkeminder 8. Kop./Viborg 1886, num. 656. ⫺ 4 Ara¯js/Medne; Sinninghe; van der Kooi; Krzyz˙anowski; Dvorˇa´k, num. 3154***; SUS; Barag; DBF A 2, 7; Dardy, L.: Anthologie populaire de l’Albret 2. Agen 1891, num. 4; de Meyer, Conte; Ranke 3, 98 sq.; Depiny, A.: Oberösterr. Sagenbuch. Linz 1932, num. 202. ⫺ 5 Camarena/Chevalier; Cirese/Serafini; Mifsud-Chircop; Cepenkov, M.: Makedonski narodni prikazni 2. ed. K. Penusˇliski. Skopje 1989, num. 206. ⫺ 6 cf. z. B. DBF A 2, 7; Kuhn, A./Schwartz, W.: Norddt. Sagen, Märchen und Gebräuche. Lpz. 1848, 356, num. 14; Pröhle, H.: Märchen für die Jugend. Halle 1854, num. 60; Birlinger, A.: Volksthümliches aus Schwaben 1. Fbg 1861, num. 302; Ranke 3, num. 2; Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 113; Cammann, A.: TurmbergGeschichten. Marburg 1980, 227 (aus Westpreußen); Gerstner-Hirzel, E.: Aus der Volksüberlieferung von Bosco Gurin. Basel 1979, num. 255. ⫺ 7 Depiny (wie not. 4); Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 159; id.: Österreichs Sagenschatz. Wien 1965, num. 53. ⫺ 8 cf. z. B.: Salgren, J.: Svenska Sagor och Sägner 5. Stockholm 1943, num. 25; Poortinga, Y.: De ring fan it ljocht. Fryske folksforhalen. Ljouwert 1976, 172; Bll. für pommersche Vk. 1 (1893) 165, num. 2; Ranke 3, 98, num. 1; Uffer, L.: Rätorom. Märchen und ihre Erzähler. Basel 1945, 201. ⫺ 9 cf. z. B. Lang-Reitstätter, M.: Lachendes Österreich. Salzburg 21948, 18 sq. ⫺ 10 cf. z. B. Meyere, V. de: De Vlaamsche Vertelselschat 2. Antw. 1927, num. 56. ⫺
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Winter: Für den langen W.
11 cf. z. B. Ey, A.: Harzmärchenbuch oder Sagen und Märchen aus dem Oberharze. Stade 1862, 120 sq.; Nicoloff, A.: Bulgarian Folktales. Cleveland 1979, num. 43. ⫺ 12 Peuckert, W.-E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, num. 275. ⫺ 13 Ancelet, B. J.: Cajun and Creole Folktales. The French Oral Tradition of South Louisiana. N. Y. 1994, num. 92. ⫺ 14 Bll. für pommersche Vk. 1 (1893) 165, num. 2.
Rostock
Siegfried Neumann
Winter: Für den langen W. (AaTh/ATU 1541), Dummenschwank, in dem ein schlauer Mann sich aufgrund eines J Mißverständnisses einen unberechtigten Vorteil erschleicht. Die Normalform des Erzähltyps verläuft wie folgt: Ein Bauer hängt ein großes Stück Speck in den Schornstein und sagt seiner Frau, daß dies für den langen Winter bestimmt sei. Während der Abwesenheit des Bauern kommt ein Bettler an die Tür. Als die dumme Bäuerin fragt, ob er der ,Lange Winter‘ sei, bejaht er dies, und sie gibt ihm den Speck. Bei seiner Rückkehr gerät der Bauer in Rage, als er von der Dummheit seiner Frau hört.
Die älteste und einzig bekannte literar. Var. von AaTh/ATU 1541 findet sich Anfang des 15. Jh.s bei Giovanni J Sercambi (num. 63). Hier ist die Geschichte in einem ital. Dorf lokalisiert. Der betrügerische Mönch Bonzeca, der als Arzt und Wahrsager auftritt, erteilt einer Frau Ratschläge, wie sie schwanger werden könne, und erklärt auf Nachfrage, er heiße März. Auf diese Weise schwindelt er ihr die vier von ihrem Ehemann eingesalzenen Schweine ab; dieser stellt jedoch den Betrüger, tötet ihn und bekommt so sein Fleisch zurück1. Aus mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s ist der Schwank in ganz Europa nachgewiesen; außerdem ist er im Mittleren Osten sowie in Teilen von Asien, Afrika und Nordamerika belegt2. Manchmal wird etwas anderes als Speck aufbewahrt, z. B. andere Nahrungsmittel (Schinken, Wurst, Käse), Geld oder Kleidung. Meist versteht die einfältige Bäuerin die Bezeichnung der Jahreszeit (Winter, Herbst), für die man in den traditionellen Gesellschaften Europas einen Vorrat anlegte, als Familiennamen oder Spitznamen. Manchmal soll etwas für einen bestimmten Monat (Mai), für ein Fest (Weihnachten, Ostern, Pfingsten), für einen guten
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Tag (die alten Tage), für einen Glücksfall oder für Notzeiten aufbewahrt werden3. Im islam. Raum wird auf den Fastenmonat Ramadan verwiesen, dessen Bezeichnung zugleich ein männlicher Vorname ist4. In Var.n aus der Karibik und den USA werden Mr. Rainy Day oder Mr. Hard Times genannt5. Manchmal heißt der Bettler tatsächlich Winter und ist von langer Statur6. Manchmal denkt die dumme Frau, der Bettler sei der ,Gute Tag‘, weil er mit ,Guten Tag‘ grüßt. Meist täuscht der Bettler bewußt vor, die erwartete Person zu sein; gelegentlich hat er den Dialog zwischen den Eheleuten belauscht und erkennt, daß er von der Dummheit der Bäuerin profitieren kann. Zuweilen ist die Frau so geschwätzig, daß sie selbst von den Anweisungen des Ehemanns berichtet. Die Dumme ist vorwiegend die Ehefrau des Bauern, in Ausnahmefällen eine Tochter oder Haushälterin. Der Betrüger ist meist ein Bettler, vereinzelt auch eine andere sozial marginalisierte oder nicht seßhafte Person wie Landstreicher, Zigeuner, Jude, Soldat, Händler oder Dieb. In einzelnen Fällen sind mehrere Betrüger im Spiel, die sich z. B. Januar, Februar, März und April nennen7; dies stellt möglicherweise eine spätere Erweiterung dar8. In den meisten Fällen kann der Betrüger entkommen; selten wird er verfolgt oder sogar festgenommen9. Ähnlich wie AaTh/ATU 1541 verläuft KHM 59, AaTh/ATU 1385*: Learning about Money: Ein Ehemann möchte verhindern, daß seine Frau das Gesparte ausgibt, indem er das Geld als Erbsen (Nüsse, Nägel, Läuse etc.) bezeichnet. Die einfältige Frau gibt das Ersparte für etwas Wertloses aus. AaTh/ATU 1541 ist meist in ein Konglomerat von Schwänken eingebettet, in denen Dummheit und Gerissenheit aufeinandertreffen. Die Geschichte wird überwiegend aus der Perspektive des Ehemannes erzählt, der entweder der Ehe mit seiner dummen Frau entkommen will, schließlich aber doch zurückkehrt, oder der (mehr oder weniger erfolgreich) versucht, den Schaden zu begrenzen. Am häufigsten wird AaTh/ATU 1541 mit AaTh/ATU 1384: J Narrensuche, AaTh/ATU 1540: J Student aus dem Paradies (Paris)10 und AaTh/ATU 1653: J Räuber unter dem Baum kombiniert. AaTh/ATU 1541 erscheint auch in Verbindung mit dem Zaubermärchen AaTh/ATU 563: J Tisch-
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Wintergarten
leindeckdich oder dem Novellenmärchen AaTh/ATU 915: J Cum grano salis. Andere Schwänke, die in einem Konglomerat mit AaTh/ATU 1541 erscheinen, sind AaTh/ATU 1210: J Kuh auf dem Dach, AaTh/ATU 1242 A: J Entlastung des Esels, AaTh/ ATU 1245: J Sonnenlicht im Sack, AaTh/ATU 1285: J Hemd anziehen, AaTh/ATU 1286: J Sprung in die Hose, AaTh/ATU 1288: J Beinverschränkung, AaTh/ ATU 1291: cf. J Ausschicken von Gegenständen oder Tieren, AaTh/ATU 1381 B: cf. Die geschwätzige J Frau, AaTh/ATU 1382: Der törichte J Kuhhandel, AaTh/ATU 1383: J Teeren und Federn, AaTh/ATU 1385: J Pfand der dummen Frau, AaTh/ATU 1386⫺ 1387 A, 1450: J Kluge Else, AaTh/ATU 1424: J Nasenmacher, AaTh/ATU 1528: J Neidhart mit dem Veilchen, AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit oder AaTh/ATU 1691, 1775: Der hungrige J Pfarrer.
Die Komik in AaTh/ATU 1541 entsteht daraus, daß Worte oder Begriffe falsch interpretiert werden (J Sprachmißverständnisse)11. In einer Anzahl von Var.n, die im 20. Jh. in Friesland aus mündl. Überlieferung aufgezeichnet wurden, wird sie noch dadurch verstärkt, daß die dumme Tochter sich von dem Betrüger außerdem zum Geschlechtsverkehr verführen läßt, da er ihr verspricht, dadurch werde sie mehr Verstand erhalten; als die wütenden Eltern das Mädchen später als dumm beschimpfen, entgegnet sie frech: „Ich habe mehr Verstand in meinem Arsch als ihr in eurem Kopf.“12 Allg. zeigt die Geschichte, wie einfach man dumme Menschen überlisten kann. Abgesehen davon will sie jedoch vor allem die Notwendigkeit von Vernunft und Vorsicht betonen: Wer sein Eigentum schützen will, muß sich vor der ,bösen Außenwelt‘ hüten. Die Schlaumeier sind hier durchweg Männer und die Dummen fast immer Frauen. Hierdurch steht AaTh/ATU 1541 in einer Reihe mit zahlreichen weiteren traditionellen Erzählungen, die durch Rollenbestätigung, männlichen Chauvinismus und eine frauenfeindliche Haltung geprägt sind13. 1
Liungman, Volksmärchen, 309; Moser, D.-R.: Kommentare. In: Ungarndt. Märchenerzähler 2. Authentische Tonaufnahmen 1968 und 1960 von J. Künzig/W. Werner. Fbg 1971, 74; Kooi, J. van der: Almanakteltsjes en folksforhalen; in stikmennich 17de- 18de-ieuske teksten. In: It Beaken 41 (1979) 41⫺114, hier 92. ⫺ 2 Ergänzend zu ATU: Nascimento. ⫺ 3 Liungman, Volksmärchen, 309; Moser (wie not. 1) 75; van der Kooi (wie not. 1) 92; id.: Volksverhalen uit Friesland. Utrecht u. a. 1979, 269. ⫺ 4 El-Shamy, Types; Jahn, S. al Azharia: Arab.
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Volksmärchen. B. 1970, num. 50. ⫺ 5 Flowers; Baughman; Parsons, E. C.: Folk-lore of the Sea Islands, South Carolina. Cambr., Mass. u. a. 1923, num. 147 I; Dorson, R. M.: Negro Tales from Pine Bluff, Arkansas and Calvin, Michigan. Bloom. 1958, 105⫺107. ⫺ 6 z. B. Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen aus Hannover. Hannover 1854, num. 37. ⫺ 7 Lemieux, G.: Les Vieux m’ont conte´ … 9. Montreal 1977, num. 17; cf. Vermast, A.: Vertelsels uit West-Vlaanderen. Gent 1892, 140⫺145. ⫺ 8 Moser (wie not. 1) 75. ⫺ 9 z. B. Peuckert, W.- E.: Schlesiens dt. Märchen. Breslau 1932, 558⫺563. ⫺ 10 Aarne, A.: Der Mann aus dem Paradiese in der Lit. und im Volksmunde (FFC 22). Hamina 1915, 64. ⫺ 11 Moser (wie not. 1). ⫺ 12 Archiv Meertens Instituut, Amsterdam, Slg Jaarsma, 728.1, 748.5, 1001.39, 1038.1. ⫺ 13 cf. Dekker/van der Kooi/Meder, 204; Moser (wie not. 1).
Amsterdam
Theo Meder
Wintergarten, Sammelbezeichnung für Motive, die ein wunderbares Wachstum, Blühen und Fruchttragen einzelner J Pflanzen (J Blume; Sträucher; J Frucht, Früchte; J Baum) oder eines ganzen J Gartens im Winter zum Inhalt haben. Diese seit dem MA. belegten Motive sind vorwiegend in Regionen mit einem ausgeprägten klimatischen Unterschied zwischen den J Jahreszeiten, vor allem in Europa, aber auch in Nordamerika und Ostasien zu finden. Sie sind im Kontext einerseits von J Zauberei (J Magie), andererseits von christl. J Wundern zu verorten. Der W. im engeren Sinn, d. h. der durch magische Kräfte im tiefsten Winter blühende Garten (Mot. D 1664), findet sich erstmals im Spiegel historiael des Lodewijk van Velthem (ca 1314) in einem Ber. über den wiederholt der Zauberei bezichtigten J Albertus Magnus. Dieser soll am Dreikönigstag 1248 oder 1249 den Gegenkönig Wilhelm von Holland und sein Gefolge im Garten des Kölner Dominikanerklosters bewirtet haben: Zur Verwunderung der Gäste bricht mit dem Auftragen der Speisen der Sommer aus, nach der Beendigung des Mahls kehrt ebenso plötzlich der Winter zurück1. Diese Sage wurde zunächst im fläm.ndl. Raum, dann auch in Deutschland bis ins 18. Jh. immer wieder erzählt2; größere Bekanntheit erlangte sie in der Adaptation der Historia von D. Johann Fausten (1587), die ein von Dr. J Faust zur Weihnachtszeit in Witten-
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Wintergarten
berg veranstaltetes Gastmahl beschreibt3. Im Faust-Buch begegnet noch zweimal ein ähnliches Motiv: Als Faust am Hof des Fürsten von Anhalt im Winter Trauben und anderes Obst herbeischafft, sein Tun aber damit erklärt, daß seine Geister die Früchte aus einer Klimazone gebracht hätten, in der gerade Sommer herrsche (Kap. 44), und in der auch von J Goethe übernommenen Episode, in der den Gästen in einem Weinkeller vorgegaukelt wird, aus einer Tischplatte wüchsen Weinreben (21587, Kap. 65)4. Ein weiterer Beleg, der ins 14. Jh. zurückreicht, findet sich in J Boccaccios Var. von AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung (10,5): Donna Dianora stellt ihrem hartnäckigen Verehrer Ansaldo Gradense, um ihn loszuwerden, die scheinbar unlösbare J Aufgabe, einen Garten zu beschaffen, der im Januar ebenso schön ist wie im Mai. Als Ansaldo die Aufgabe wider Erwarten mit Hilfe eines Zauberers gelöst hat, bereut Dianora; ihr Gatte zwingt sie aber dazu, das Ansaldo gegebene Versprechen zu halten. Daraufhin verzichtet dieser auf die Erfüllung seines Wunsches und der Magier auf seinen Lohn. Eine im Winter blühende Blume (Mot. F 971.5), aber auch einzelne blühende und fruchttragende Bäume werden häufig in Legenden und verwandten Textsorten erwähnt, entweder als ein von einer heiligmäßigen Person bewirktes Prodigium oder als von Gott gesandtes Zeichen5: So überreicht die hl. Agnes einem Gast mitten im Winter J Rosen6; vor der Grabkirche der hl. Eulalia von Me´rida blühen jedes Jahr am Tag ihrer Passion (10. 12.) drei Bäume, deren Blüten zudem heilkräftig sind und als Wetterorakel fungieren7; eine fromme Jungfrau findet um den Martinstag (11. 11.) Veilchen und faßt die Blumen als Zeichen für die geistliche Verlobung mit J Christus auf 8. Blühende Rosen im Winter können auch Anlaß für Kloster- und Kirchengründungen sein, wie z. B. in der Sage vom tausendjährigen Rosenstock am Hildesheimer Dom: Kaiser Ludwig der Fromme verliert bei einer Jagd ein Kreuz mit Reliquien und gelobt, am Fundort eine Kapelle zu errichten. Ein Diener entdeckt das Kreuz daraufhin mitten im Schnee auf einem blühenden Rosenstock, der bis heute am Hildesheimer Dom zu sehen sein soll9.
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Geschieht das Wunder zu Weihnachten, verbindet es sich mit der Christussymbolik („Es ist ein Ros’ entsprungen“), wie z. B. in der elsäss. Lokalsage von der Rose, die nur in der Christnacht blüht10, oder literar. in Selma J Lagerlöfs Legenden om julrosorna (1908)11. Mehrfach finden sich auch Ber.e über Apfelbäume, die in der Christnacht blühen und gleichzeitig (winzige) Früchte tragen12. In Oscar Wildes Märchen The Selfish Giant (1888) begegnet Christus einem bekehrten Riesen im Winter in einem blühenden Garten13. Im Umfeld der legendarischen Tradition sind auch der Ber. in Paulus J Jovius’ Historiae sui temporis (1547) über einen blühenden W. beim Regierungsantritt Cosimo de’ Medicis in Florenz sowie eine mündl. Erzählung aus Graubünden über einen jungen Geistlichen, der seinen Mitbrüdern im Februar Kirschen serviert, zu sehen14. Wie ambivalent die Beurteilung des W.motivs zwischen Wunder und Zauberei im Volksglauben war, verdeutlicht z. B. eine steir. Sage, derzufolge Katharina Paldauf 1675 wegen der Züchtung von Blumen im Winter als Hexe angeklagt und verbrannt wurde15. In Zaubermärchen lassen in der Regel Jenseitswesen Pflanzen im Winter erblühen oder Früchte tragen. In frz. Var.n von AaTh/ATU 425 C: cf. J Amor und Psyche bringt der Kaufmann seiner Tochter im Winter die gewünschten Rosen von seiner Reise mit, muß aber dafür das Mädchen dem Ungeheuer im verzauberten Schloß überlassen16. In Frankreich ist das Motiv darüber hinaus in einer Fassung von AaTh/ATU 314: J Goldener belegt, in der der Held den von ihm zerstörten Garten mit Hilfe eines zauberkräftigen Pferdes nicht nur wiederherstellt, sondern auch mitten im Winter zum Blühen bringt17. Das am häufigsten belegte und auch am weitesten verbreitete W.motiv ist das der Erdbeeren im Winter (Mot. H 1023.3)18. Meist fungiert es als Einleitungsepisode in AaTh/ ATU 403 B: Die schwarze und die weiße J Braut und AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen oder in Kombinationen dieser beiden Erzähltypen: Ein Mädchen wird im Winter aus Bosheit von seiner J Stiefmutter ausgeschickt, um Erdbeeren (Äpfel, Pflaumen; Veilchen) zu suchen19. Hilfe erhält das Mädchen dabei von Jenseitswesen, denen es
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Wir drei, für Geld! ⫺ Wirklichkeit
freundlich begegnet. In den nord- und westeurop. Belegen sind dies meist Zwerge, in den süd- und osteurop. Versionen die personifizierten zwölf J Monate oder vier J Winde20. Die Stiefmutter bzw. ihre leibliche Tochter versuchen, es dem Mädchen gleichzutun, werden aber für ihr unfreundliches und forderndes Auftreten gegenüber den Helfern bestraft (J Imitation: fatale und närrische I. ). Der älteste Beleg für dieses Motiv findet sich in einer lat.tschech. Hs. des 14. Jh.s; hier tritt als Protagonist ein Knabe auf, der mißgünstige Widersacher fehlt21. Ebenso fehlt dieser Gegenpart in einer Sage aus Kärnten: Den im Winterwald Holz sammelnden Kindern schenkt der Wilde Mann Erdbeeren, indem er in sein Horn bläst und damit den Schnee zum Schmelzen und die Beeren zum Reifen bringt22. In Erzählungen einiger Indianerstämme im Nordwesten Nordamerikas schickt der eifersüchtige Vater (Bruder, Onkel) eines Mädchens dessen Bräutigam aus, um Beeren im Winter zu suchen (cf. auch AaTh/ATU 402: J Maus als Braut); der junge Mann erhält Hilfe von einem übernatürlichen Großvater (Vögel, Insekten)23. Die jap. und korean. Belege für dieses Motiv entsprechen z. T. der europ. Ausprägung24, oder die unlösbare Aufgabe wird in ihnen ad absurdum geführt (cf. Mot. H 1023.3.1): Ein Mann erhält den Befehl, im Winter Erdbeeren zu besorgen; sein kluger Sohn gibt vor, der Vater könne dies nicht tun, weil er ⫺ was im Winter ebenso unmöglich ist ⫺ von einer Schlange gebissen wurde25. Aufgegriffen wird das Motiv des W.s auch in einem Lied aus dem 16. Jh., in dem sich ein Mädchen von dem Ritter, der es umwirbt, zwischen Weihnachten und Ostern gewachsene Rosen erbittet: Der Mann läßt die Blumen malen und kann so den versprochenen Liebeslohn einfordern26. Fernreisen zu blühenden Gärten im Winter sind für die mobile moderne Gesellschaft banale Realität; Rosen im Winter und Erdbeeren zu Weihnachten finden sich aufgrund internat. Handelsbeziehungen heute in jedem Supermarkt, so daß dem Motiv vom W. die Grundlage entzogen ist.
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Magica, Dasz ist: Wunderbarliche Historien Von Gespenstern vnd mancherley Erscheinungen der Geister […] 1. Eisleben [1600], 105r; EM-Archiv: Zeitvertreiber (1685) 471; Grimm DS 495; BrunoldBigler, U.: Teufelsmacht und Hexenwerk. Lehrmeinungen und Exempel in der „Magiologia“ des Bartholomäus Anhorn (1616⫺1700). Chur 2003, num. 454. ⫺ 3 Historia von D. Johann Fausten. Text des Drucks von 1587. ed. S. Füssel/H. J. Kreutzer. Stg. 2006, 106 sq. (Kap. 55). ⫺ 4 ibid., 89 sq., 146 sq. ⫺ 5 cf. dazu allg. Acta martyrum et sanctorum (EM 2, 483⫺495; 5, 437⫺443; 11, 833⫺842); Archiv R. Schenda, Zürich, s. v. Früchte/Blumen im Winter, Äpfel im Winter, Rosen im Winter; Toldo 5 (1905) 348; ibid. 8 (1908) 48 sq. ⫺ 6 ibid. 9 (1909) 453. ⫺ 7 Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 60. ⫺ 8 Pauli/Bolte 1, num. 686. ⫺ 9 Grimm DS 463; Seeland, H.: Der tausendjährige Rosenstock am Dom zu Hildesheim. Hildesheim 1947. ⫺ 10 Marzell, H.: Rose. In: HDA 7 (1935⫺36) 777⫺781, hier 777. ⫺ 11 Lagerlöf, S.: Skrifter 6. Stockholm 1953, 91⫺ 106. ⫺ 12 Pauli/Bolte 1, num. 559; Berckenmeyer, P. L.: Forts. des Curieusen Antiquarii […]. Hbg 1720, 513, 516, 554, 627 sq., 764 sq; Tubach, num. 315; Rehermann, num. 17; HDA 1 (1927) 518 sq. ⫺ 13 Wilde, O.: The Happy Prince. L. 1957, 30⫺37. ⫺ 14 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 2. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 31989, 450 sq., 466 sq. ⫺ 15 Grasmug, R.: Katharina Paldauf ⫺ Die angebliche „Blumenhexe“ auf der Riegersburg. In: Valentinitsch, H./Schwarzkogler, I. (edd.): Hexen und Zauberer. Die große Verfolgung ⫺ ein europ. Phänomen in der Steiermark. Ausstellungskatalog Graz/Wien 1987, 206. ⫺ 16 Delarue/Tene`ze; zu KHM 88 cf. BP 2, 231⫺234. ⫺ 17 Fe´lice, A. de: Contes de Haute-Bretagne. P. 1954, num. 2. ⫺ 18 Scharfe, M.: Erdbeeren im Winter. Die kulturelle Bedeutung des Unerwarteten und des Staunens, aufgezeigt an den Metamorphosen eines alten Wunschmotivs. In: SAVk. 106 (2010) 29⫺46. ⫺ 19 Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 2. P. 1973, num. 73; cf. auch BP 1, 104⫺106 (zu KHM 13), 213 sq. (zu KHM 24). ⫺ 20 Roberts, W. E.: The Tale of the Kind and the Unkind Girls. Aa-Th 480 and Related Tales. B. 1958, 79, 149⫺153. ⫺ 21 ibid., 152; cf. Polı´vka, J.: Slovenska´ poha´dka o dvana´cti Meˇsicˇka´ch. Lemberg 1925, 18. ⫺ 22 Haiding, K.: Alpenländ. Sagenschatz. Wien/Mü. 1977, num. 158. ⫺ 23 StandDict. 1 (1949) 137 (autochthone indian. Tradition); cf. Roberts (wie not. 20) 152 (frz. Einfluß). ⫺ 24 Ikeda 403 B; Zo˘ng in-So˘b: Folk Tales from Korea. L. 1952, 46⫺48. ⫺ 25 Ikeda 922; ZfVk. 22 (1912) 71, num. 24 (korean.). ⫺ 26 Erk/Böhme 1, 418⫺424, num. 117 (5 Var.n).
Graz
Bernd Steinbauer
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Peuckert, W.-E.: Der W. In: Die Nachbarn 3 (1962) 94⫺110. ⫺ 2 Textbelege ibid. (Johannes de Beka [ca 1350], Wolfgang Büttner [1576], Augustin Lerchheimer [1586], Christoph Lehmann [1612], J. J. Braeuner [1737], Tharsander [1739]); cf. auch [Grosse, H.:]
Wir drei, für Geld! J Handel mit dem Teufel Wirklichkeit J Realitätsbezüge
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Wirt, Wirtin, Wirtshaus
Wirt, Wirtin, Wirtshaus 1. Allgemeines ⫺ 2. Berühmte W.shäuser ⫺ 3. Ort der Geselligkeit und des Vergnügens ⫺ 3. 1. Die schöne W.in ⫺ 3. 2. Das W.shaus als Erzählort ⫺ 4. Ort des Verbrechens und des Grauens ⫺ 5. Schauplatz der Liederlichkeit ⫺ 6. Berufsprofil W.
1 . All ge me in es. Tavernen, Speiselokale und Herbergen zur kostenlosen oder entgeltlichen Unterbringung Reisender sind bereits aus der griech.-röm. Antike bezeugt1. Im ma. Europa wurden seit dem 11. Jh. kirchliche Hospize geschaffen, wie sie im Byzant. Reich schon seit dem frühen 4. Jh. gebräuchlich waren; gewerbliche Gasthäuser als Übernachtungsstätten entstanden seit dem 13. Jh., gewöhnliche Schenken gab es sicher auch vorher2. Für China3, den Nahen und Mittleren Osten sowie Nordafrika4 ist im MA. entlang der Handelsrouten und in den Städten ein System von Unterkünften (u. a. Karawansereien genannt) für Beamte, Kaufleute mit ihren Tieren und Waren, Pilger und andere Reisende bezeugt. Kaffeehäuser, wie sie in Arabien seit dem 16. Jh. aufkamen, zogen Dichter, Müßiggänger und Beamte, Schach- und Backgammonspieler an und wurden wegen der dort geführten politischen Diskussionen vielfach verboten5; Adam Olearius (1656) zufolge waren Weinschenken in Isfahan mit der Knabenliebe verbunden, Teehäuser mit dem Tachte-Spiel, Kaffeehäuser mit Tabakgenuß und Geschichtenerzählen6. Auch in Europa, wo in der 2. Hälfte des 17. Jh.s die ersten Kaffeehäuser entstanden, waren die Cafe´s Orte der politischen Diskussion (und Agitation), des intellektuellen und des künstlerischen Austauschs; gegenüber der Dumpfheit, die der überwiegende Konsum von J Bier und J Wein bewirkt hatte (cf. J Trunkenheit), brachte der Kaffee eine neue Nüchternheit mit sich7. 2 . B er üh mt e W.s hä us er. Den Ruf, das älteste W.shaus Deutschlands zu sein, machen einander u. a. das Gasthaus zum Riesen in Miltenberg (bekannt seit dem 12. Jh., gesichert seit 1411) und das Gasthaus zum Roten Bären in Freiburg (belegt seit 1387) streitig. In nächster Nähe der angeblich ältesten Gaststätte Frankreichs, der Couronne in Rouen (1345 gegründet), fand 1431 die Hinrichtung Jeanne d’Arcs statt. Der Tabard Inn in Southwark
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(heute ein Stadtteil von London), der 1307 als Herberge für Wallfahrer zum Schrein von J Thomas Becket in Canterbury errichtet worden sein soll (seit 1669 Talbot Inn, 1873 abgerissen), erscheint im General Prologue zu J Chaucers Canterbury Tales. Eher nicht auf eine reale Gaststätte zurückzugehen scheint dagegen das u. a. aus einem der Märchenalmanache Ludwig J Bechsteins bekannte W.shaus im Spessart8; das mit einer lockeren W.in in Zusammenhang gebrachte berühmte W.shaus an der Lahn wird u. a. in Lahnstein, Dausenau und Marburg verortet9. Hist. W.shäuser werben mit berühmten Persönlichkeiten, die in ihnen übernachtet haben (sollen). Paradigmatisch seien hier mit dem Leben des Doktor J Faust verbundene W.shausstationen aufgeführt: Das Gasthaus zum Löwen in Gelnhausen beansprucht Fausts Aufenthalt in einer Gelnhäuser Herberge (1506; früheste Bezeugung des hist. Faust)10 als Ersterwähnung. Bad Kreuznach besitzt ein zum Restaurant umgewandeltes sog. Faust-Haus, doch ist Fausts Aufenthalt am Ort keineswegs gesichert11. Das spätestens durch J Goethe allseits bekannte, mit allerhand Zaubereien verbundene Trinkgelage Fausts in der Leipziger Weinschenke Auerbachs Keller (Ersterwähnung 1438; laut eigener Werbung fünftbekannteste Gaststätte der Welt) wird auch von W.schaften in anderen Städten reklamiert12. Der Eigenaussage des St. Peter Stiftskellers in Salzburg nach war Faust ein regelmäßiger Besucher des Lokals, hist. Faust-Sagen des späten 16. Jh.s zufolge allerdings nicht als zahlender Gast, sondern als frecher Weindieb, entdeckt vom Kellermeister, der von Faust kurzerhand auf einen Tannenwipfel gesetzt wurde13. Nur noch in der Sage lebt die Wiener Kellerschenke ,Zum roten Mandl‘, in der Faust einen Schankbuben fort- und wieder hergezaubert und den an die Wand gemalten Teufel lebendig gemacht haben soll (Ätiologie der Redensart)14. Er soll auch in einem Dorfwirtshaus grölende Bauern durch Zauber zum Verstummen gebracht und woanders einen W.sjungen aufgefressen haben, weil dieser ihm den Becher zu voll eingeschenkt hatte15. Um 1540 sei Faust dann im Staufener Gasthaus zum Löwen vom Teufel geholt worden16.
3 . O rt de r G es el li gk ei t u nd de s Ver g nü ge ns 3 .1 . D ie sc hö ne W. in. Im W.shaus als überwiegend männlich definiertem Raum trägt attraktives weibliches Personal erheblich zur Steigerung der Beliebtheit des Lokals bei. Dies fand u. a. in dem italo-iber. Ökotyp von AaTh/ATU 709: J Schneewittchen Nieder-
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Wirt, Wirtin, Wirtshaus
schlag, dessen anfänglicher Schauplatz eine wegen der Schönheit der W.in und ihrer Tochter oder Stieftochter äußerst gut besuchte Locanda ist17; eine ähnliche Ausgangssituation erscheint in dt.sprachigen, ital. und frz. Var.n von AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände18. Während diese Märchen Eifersuchtsdramen unter Frauen in Szene setzen, beleuchten Sprichwörter wie ,Eine schöne W.in verkauft auch saures Bier‘, ,Ist nur die W.in schön, ist der Wein auch gut‘ oder ,Je schöner die W.in, je schwerer die Zeche‘ ökonomische Aspekte19. Nicht ohne Grund wurde den in der Gastronomie tätigen Frauen oft Geldgier20, vor allem aber sexuelle Leichtfertigkeit nachgesagt21. So erzählt eine Südtiroler Sage von einer wegen ihres Lebenswandels verrufenen W.in, die vom Teufel geholt worden sei22; ein engl. Zeitungslied wiederum beschreibt, wie eine W.stochter dem Müller, der Geld für Liebesdienste geboten hat, eine Lektion erteilt23. Männerphantasien über ein ausschweifendes Liebesleben fanden Ausdruck in Hunderten anzüglicher Verse (meist stereotyp mit der Formel ,Frau W.in hat auch …‘ beginnende Fünfzeiler)24, die sich um die W.in von der Lahn ranken25; diese Überlieferung brachte 1967⫺73 eine Serie erotischer W.innenfilme hervor26. Von der leichtlebigen W.in ist es nicht weit zu den Saloon-Damen im Western, den Sängerinnen und Tänzerinnen von Vergnügungslokalen sowie den durch ihre Zuhälter an bestimmte Kneipen gebundenen Prostituierten, die in Filmklassikern romantisiert wurden27. 3 .2 . D as W. sh au s a ls Er zä hl or t. Im Vorderen Orient werden bzw. wurden für Kaffeehäuser häufig professionelle Erzähler engagiert28, in China fand man Berufserzähler in Kneipen, Teehäusern oder speziellen Erzählerhäusern mit teehausartigem Charakter29. In Europa scheint das W.shaus als Erzählort gegenüber traditionellen Vermittlungsinstanzen (J Spinnstube; J Vermittlung, Kap. 5.2) zurückzutreten und eine eher männliche Domäne, z. B. für das Erzählen von Anekdoten und Witzen, zu bilden30. Es gibt jedoch Zeugnisse wie das des Schriftstellers Otfried Preußler, der erklärt, er habe die Fabulierkunst von seiner Lausitzer Großmutter gelernt, die in der Dorfherberge ihres Vaters die Geschichten der Fuhrleute hörte31. Eine Gastwirtstochter war
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auch Dorothea Viehmann (1755⫺1815), die exemplarische Erzählerin der Brüder J Grimm32. Reale Erzählgewohnheiten spiegeln sich in einer Reihe von Märchen wie AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger oder AaTh/ATU 883 A: Das unschuldig verleumdete J Mädchen wider, in denen eine junge Frau, die in Schwierigkeiten ist, ein W.s- oder Kaffeehaus eröffnet oder dort untertaucht. In diesem Lokal treffen die in alle Winde verstreuten Personen der Handlung in der abschließenden Episode wieder zusammen, nur erkannt von der Heldin; durch Erzählen einer oder mehrerer Lebensgeschichten wird die Wahrheit enthüllt, die Machenschaften der Gegenspieler kommen ans Licht, der verlorene Ehemann bzw. Verlobte wird wiedergefunden etc. (cf. Marzolph *461 B). Dieselbe Funktion wie das W.s- oder Kaffeehaus haben in anderen Texten Spital oder Badehaus. Geschichten in nuce erzählen hist. W.shausschilder33. 4 . O rt de s Ver br ec he ns un d d es Gr au e ns. W.shäuser waren (und sind) oft ein Aktionsraum von Straßenräubern sowie Spitzbuben und Gaunern männlichen oder weiblichen Geschlechts, die dort Opfer auskundschaften34 oder sie (z. T. in Einvernehmen mit dem W.) an Ort und Stelle betrügen, bestehlen oder ausrauben35. Die Ängste Reisender spiegeln sich in den Sensationserzählungen über Mordwirtshäuser, in denen der Protagonist entweder getötet oder zum Zeugen einer Bluttat wird36; in türk. Var.n von AaTh/ATU 910: cf. Die klugen J Ratschläge wird der Held im Mordwirtshaus nur deshalb nicht umgebracht, weil er keine Fragen stellt37. Zur Familientragödie zugespitzt ist das Thema in der seit dem frühen 17. Jh. u. a. als Zeitungssage, Exemplum oder Lied äußerst verbreiteten Geschichte der W.sleute, die ihren nach Jahren unerkannt zurückkehrenden Sohn aus Habgier töten (AaTh/ATU 939 A: J Mordeltern). Ma. Legenden dagegen bieten ein versöhnliches Ende: Der hl. J Nikolaus erweckt drei von einem W. getötete und eingepökelte Scholaren wieder zum Leben; um den Totschlag an seinen Eltern zu sühnen, gründet der hl. Julianus Hospitator eine Herberge für arme Pilger und Kaufleute (J Elternmörder). Das Thema Mordwirtshaus wurde in einer Reihe von Filmen wiederaufgegriffen, in denen Motels oder Raststätten den
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Hintergrund für Mord bzw. die Entwicklung von Mordplänen bilden38. Aktuell in Umlauf sind seit Jahren Gerüchte und Berichte, wonach Vergewaltiger und Diebe ihren potentiellen Opfern in W.schaften und Diskotheken handlungsunfähig machende K. O.-Tropfen verabreichen39. In Sagen sind W.shäuser auch Spukorte, an denen Geister Erlösung fordern oder zusammen tafeln; Weinpanscher (J Wasser wird Wein) müssen umgehen, frevelhafte Scherze werden Realität40. Den Eindruck übernatürlichen Geschehens evoziert die seit Ende des 19. Jh.s dokumentierte Erzählung vom mitsamt dem Hotelzimmer verschwundenen Übernachtungsgast; eine realistische Erklärung wird jedoch nachgeliefert: es handelt sich um eine Inszenierung des Managements, das einen plötzlichen Todesfall vertuschen möchte41. Der gespenstische Aspekt des W.shauses kulminiert in der Vorstellung vom Nobiskrug. Das Wort ist als Name für Grenzwirtshäuser seit 1526 belegt und erscheint seit dem 16. Jh. in dt. literar. Qu.n. Seine Bedeutung wird unterschiedlich aufgefaßt: entweder als Bezeichnung für das Totenreich, die Hölle oder das W.shaus des Teufels, oder aber als Totenwirtshaus, in dem die Verstorbenen einkehren, bevor sie ins Jenseits kommen, und Karten spielen oder ihren letzten Groschen (d. h. das Geld, das man ihnen in den Sarg mitgibt) vertrinken42. 5 . S ch au pl at z d er Li ed er li ch ke it. Das W.shaus bietet Zerstreuungen, die sich zum Laster (J Tugenden und Laster) auswachsen und zum Ruin der Familie führen können: Trinken, Kartenspiel (J Spieler), J Tanz, Umgang mit leichten Mädchen (J Prostitution). In ihrer Version von AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter (KHM 57) bringen die Brüder Grimm dies in der Episode von der W.shauswahl eindringlich zum Ausdruck: Die drei Brüder werden vom helfenden Fuchs vor einem lustigen W.shaus gewarnt, sie sollten lieber in dem wenig verlockenden einkehren; doch nur der Jüngste gehorcht. Später muß er dann seine Brüder vom Galgen loskaufen, weil sie „schlimme Streiche verübt und all ihr Gut vertan hatten“. Die in dieser Episode verbildlichte puritanische Warnung vor ,Wein, Weib und Gesang‘ findet sich mehr oder weniger stark akzentuiert in manchen mündl. Var.n wieder43,
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wobei die Wahlmöglichkeit zwischen einem attraktiven und einem unattraktiven W.shaus oft fehlt44; auch kann das fidele W.shaus gleichzeitig ein Räuberquartier sein45. Obwohl bei weitem nicht in allen Var.n von AaTh/ATU 550 vorhanden, darf die W.shausthematik doch als ein wesentlicher Bestandteil des Erzähltyps bezeichnet werden, auch weil es eine Reihe ganz andersartiger Ausformungen gibt: Die älteren Brüder geben ihre Suche auf und eröffnen ein W.shaus46; der Jüngste bezahlt in einem W.shaus die Spiel- oder Zechschulden eines Toten und veranlaßt dessen Bestattung, wodurch er einen Helfer gewinnt (cf. AaTh 505⫺508/ATU 505, 507: J Dankbarer Toter)47; die älteren Brüder verspielen alles, während der Jüngste alles zurückgewinnt48 etc.
In einem bes. schönen und vornehmen Gasthaus quartiert sich der Held von AaTh/ATU 562: J Geist im blauen Licht ein, u. a. um die Prinzessin nachts auf sein Zimmer zu entführen49. Das W.shaus als Umschlagplatz der freien (und meist käuflichen) Liebe, oft gepaart mit Unredlichkeit, Betrug und (Beischlaf-) Diebstahl ist ein beliebtes Thema engl. Flugblattlieder. Oft finden sich dabei Männer nach einem sexuellen Abenteuer um Kleider, Geld oder Wertgegenstände gebracht; ähnlich häufig bestehlen aber auch die Freier in dieser Weise die leichten Mädchen50. Opfer von J Zechprellern sind nicht allein die W.e, sondern auch Zechgenoss(inn)en51. Andere W.shausthemen betreffen Betrunkenheit und Prügeleien52 oder unerhörte Eß- und Trinkkapazitäten (J Vielfraß)53. 6 . B er uf sp ro fi l W. Schon seit der Antike hängt dem W. in vielerlei Weise der Ruf der Unehrlichkeit an54. Dabei reichen die Bewertungen des Berufsstands vom äußerst Negativen zum durchaus Positiven. In der Lit. markieren diese Pole einerseits etwa die extreme Figur des Gewaltverbrechers Friedrich Schwahn (1729⫺60), eines Gastwirtssohns mit dem Spitznamen Sonnenwirtle55, Vorbild für J Schillers Novelle Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) und Räuberheld von populären Lesestoffen56, und andererseits die Gestalt des W.s der Canterbury Tales, Harry Bailly, als Autoritätsperson und Organisator der Unterhaltung seiner Gäste57. Ein breites Spektrum an Vorstellungen, wie ein W. zu sein habe, bietet das Sprichwort, vom Bild des fröhlichen, trinkfesten und kreditwilligen Gastgebers, der exzellente Speisen und Getränke bereithält, über den profitgierigen W. bis hin zum Dieb
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Wirt, Wirtin, Wirtshaus
und Betrüger58. Einen abfälligen Mittelwert bildet hier das (vermutlich rezente) Wortspiel ,Wer nichts wird, wird W.‘59 Im Märchen kommt der W. eher in der Verbrecherrolle, als Dieb, Mörder oder Betrüger, vor (AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich; AaTh/ATU 821 A: J Teufel als Advokat; AaTh/ATU 360: cf. J Handel mit dem Teufel; cf. ferner verschiedene Legenden über J Jakobspilger60). Viele Geschichten über W.e und W.innen bewegen sich im schwankhaften Bereich, wobei sie sowohl als Gauner, notorisch vor allem für Weinpanscherei (cf. Mot. J 1312), wie auch als potentielle Opfer erscheinen, die vor Zechprellern (z. B. AaTh/ATU 1555 A: Paying for Bread with Beer; ATU 1555 C: The Good Meal) und allg. vor Täuschung, Diebstahl oder üblen Scherzen auf der Hut sein müssen61. 1 Peka`ry, T.: Gasthäuser. In: Lex. der Alten Welt 1⫺ 3. Zürich/Mü. 1965 (Nachdr. 1990), t. 1, 1027 sq.; id.: Schankwirtschaften. ibid. 3, 2710; Hug, A.: Pandoxeion. In: Pauly/Wissowa 18,3 (1949) 520⫺529; id.: Kapileion. ibid. 10,2 (1919) 1888 sq.; id.: Katagogion. ibid., 2459⫺2461; Firebaugh, W. C.: The Inns of Greece & Rome And a History of Hospitality from the Dawn of Time to the Middle Ages. Chic. 1928; Kleberg, T.: Hoˆtels, restaurants et cabarets dans l’antiquite´ romaine. Uppsala u. a. 1957; Wallner, E. M.: Von der Herberge zum Grandhotel. W.shäuser und Gastlichkeit. Geschichte. W.shausnamen. W.shausschilder. Konstanz 1968, 9⫺13, 17⫺ 21, 37 sq., 51 sq. ⫺ 2 Peyer, E. C./Kislinger, E.: Gasthaus. In: Lex. des MA.s 4. Stg./Weimar 1987⫺89, 1132⫺1136; Hergemöller, B.-U.: Herberge. ibid., 2148; Wallner (wie not. 1) 14⫺16, 22 sq., 25 sq., 39⫺ 47. ⫺ 3 The Book of Ser Marco Polo […] 1⫺2. Übers. H. Yule/ed. H. Cordier. L. 31903, t. 1, 412, 433 sq., t. 2, 193. ⫺ 4 Le Tourneau, R.: Fundukø . In: ß hß a¯n. ibid. 4 (1978) EI2 2 (1965) 945; Elisse´eff, N.: K 1010⫺1017. ⫺ 5 Arendonk, C. van: K ø ahwa. ibid., 6 449⫺453, hier 451. ⫺ Olearius, A.: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowit. und Pers. Reyse. ¯ l-e: CofSchleswig 1656, 558; cf. ferner Da¯wu¯d, A. A feehouse. In: Enc. Iranica 6. Costa Mesa, Calif. 1993, 1⫺4. ⫺ 7 Schivelbusch, W.: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. Mü./Wien 21981, 29⫺95. ⫺ 8 Bickert, H. G./Nail, N.: „Es stand ein W.shaus an der Lahn …“. Der alte Gasthof zum Schützenpfuhl in Marburg. Marburg 2008, 7 (not. 1). ⫺ 9 ibid., 11⫺16. ⫺ 10 Mahal, G.: Faust. Neuried 1998, 69. ⫺ 11 ibid., 69⫺79. ⫺ 12 ibid., 468, 163. ⫺ 13 ibid., 163⫺ 171; Brückner, num. 740; Historia von D. Johann Fausten [1587]. ed. S. Füssel/H. J. Kreutzer. Stg. 1988, num. 47. ⫺ 14 Gugitz, G.: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien. Wien 1952, num. 28. ⫺ 15 Mahal (wie not. 10) 467 sq.; Füssel/Kreutzer (wie
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not. 13) num. 42; Brückner, 506, num. 731. ⫺ 16 Geiges, L.: Faust’s Tod in Staufen. Fbg [nach 1980]. ⫺ 17 Oriol, C.: The Innkeeper’s Beautiful Daughter. A Study of Sixteen Romance Language Versions of ATU 709. In: Fabula 49 (2008) 244⫺258. ⫺ 18 Zingerle, I. und J.: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. Regensburg 1854, 124⫺136; EM 8, 1385 (not. 30). ⫺ 19 Wander 5, 285, num. 5⫺7, cf. num. 2, 4, 8, 10, 11, 14; Oriol (wie not. 17) 244. ⫺ 20 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 69, 399. ⫺ 21 Hug 1949 (wie not. 1) 521, 526 sq.; Wehse (wie not. 20) num. 128; Brednich, R. W.: Die Maus im Jumbo-Jet. Mü. 1991, num. 67. ⫺ 22 Zingerle (wie not. 18) 355 sq. ⫺ 23 Wehse (wie not. 20) num. 45. ⫺ 24 Ernst, J.: Das W.shaus an der Lahn. Zweihundert V.e zur Erheiterung der dt. Zecher. B. s. a.; Ebert, H.: 958 V.e von der Frau W.in von der Lahn. [Jesteburg] 1999. ⫺ 25 Bickert/Nail (wie not. 8). ⫺ 26 Zuerst: Susanne, die W.in von der Lahn. Österreich/ Ungarn/Italien 1967 (Regie Franz Antel). ⫺ 27 De´de´e d’Anvers. Frankreich 1947 (Regie Yves Alle´gret); Irma la Douce. USA 1963 (Regie Billy Wilder). ⫺ 28 ¯ l-e Da¯wu¯d (wie not. 6); Herzog, T.: Geschichte cf. A und Imaginaire. Entstehung, Überlieferung und Bedeutung der Sı¯rat Baibars in ihrem sozio-politischen Kontext. Wiesbaden 2006, 14⫺18 (zu einem bis in der 1960er Jahre in syr. und ägypt. Kaffeehäusern mündl. vorgetragenen Volksroman); Bas¸göz, I˙.: Hikaˆye. Turkish Folk Romance as Performance Art. Bloom. 2008, 27⫺29, 152, 163, 205⫺207. ⫺ 29 Børdahl, V.: The Oral Tradition of Yangzhou Storytelling. Richmond, Surrey 1996, 23 sq. ⫺ 30 cf. z. B. Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1. P. 1974, 126⫺129; Brednich, R. W.: Neuseeland macht Spaß. B. 2003, 99⫺101, W.shausanekdoten 91⫺95. ⫺ 31 Preußler, O.: Lob des Einmann-Theaters. In: Die Kunst des Erzählens. Festschr. W. Scherf. Potsdam 2002, 110⫺123, hier 110. ⫺ 32 Lauer, B.: Dorothea Viehmann und die Brüder Grimm. In: Chronik der Stadt Baunatal 3. ed. H. Pflug. Baunatal 1997, 341⫺ 354, hier 344⫺346. ⫺ 33 cf. Wallner (wie not. 1); Pfistermeister, U.: Hier kehrt man ein. W.shausschilder aus drei Jh.en. Nürnberg 1998. ⫺ 34 Wehse (wie not. 20) num. 438; Smith, A.: Leben und Taten der berühmtesten Straßenräuber, Mörder und Spitzbuben […]. (Ffm./Lpz. 1720) Mü. 1986, 55. ⫺ 35 ibid., 64⫺67, 95 sq., 104⫺106, 126 sq., 132⫺136; Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 3. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1990, 776 sq. ⫺ 36 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Ffm. 31988, 385 sq. ⫺ 37 Eberhard/Boratav, num. 308 (III 2 e). ⫺ 38 Le dernier Tournant. Frankreich 1939 (Regie Pierre Chenal) (weitere Verfilmungen: Ossessione. Italien 1942 [Regie Luchino Visconti]; The Postman always Rings Twice. USA 1946 [Regie Tay Garnett]; The Postman always Rings Twice. USA 1981 [Regie Bob Rafelson]); Niagara. USA 1953 (Regie Henry Hathaway); Psycho. USA 1960 (Regie Alfred Hitchcock). ⫺ 39 Zahlreiche Belege im Internet. ⫺ 40 Müller/Röh-
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Wirtschaft
rich J 34, N 6, H 39, O 2; Brückner, 434, num. 28; 436, num. 43 (aus Luther); Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln 1978, num. 984. ⫺ 41 Brednich (wie not. 21) num. 47. ⫺ 42 Kluge, F.: Etymol. Wb. der dt. Sprache. B./N. Y. 211975, 513; Grimm, Mythologie 2, 837; t. 3, 296; Kahlo, G.: Frau Holle und der Nobiskrug. In: Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Univ. Jena, gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 7,4 (1957/58) 583⫺589, hier 586 sq.; Rumpf, M.: Bildliche Darstellungen vom Nobiskrug, von der Hölle und dem Fegefeuer. In: Rhein.westfäl. Zs. für Vk. 40 (1995) 107⫺138. ⫺ 43 z. B. Säve, P. A./Gustavson, H.: Gotländska sagor 1,2. Uppsala 1952, num. 50. ⫺ 44 Tietz, A.: Das Zauberbründl. Buk. 1958, 75⫺83; Archiv für siebenbürg. Landeskunde 33 (1905/06) num. 116; Satke, A.: Hlucˇ´ınsky´ podha´dka´rˇ Josef Smolka. Ostrau 1958, num. 9 a, b; Storch, K.: Dt. Märchen aus Westböhmen 1. Plan/Marienbad 1937, 9⫺13; Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus Oberösterreich. B. 1969, num. 70. ⫺ 45 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. B. 1956, num. 7; Jungbauer, G.: Böhmerwaldmärchen. Passau 1923, num. 2. ⫺ 46 Ognjanowa, E.: Märchen aus Bulgarien. Wiesbaden 1987, num. 66. ⫺ 47 Zingerle, I. V.: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Gera 21870, num. 49; Wigström, E.: Folkdiktning. Kop. 1880, num. 3; Schütz, J.: Volksmärchen aus Jugoslawien. MdW 1960, num. 20. ⫺ 48 De Meyere, V.: De Vlaamsche vertelselschat 3. Antw. 1929, num. 225; Leskien, A./Brugmann, K.: Litau. Volkslieder und Märchen. Straßburg 1882, num. 8. ⫺ 49 z. B. KHM 116; Andersen, H. C.: Märchen und Geschichten 1. ed. G. Perlet. MdW 1996, num. 1; Delarue/Tene`ze 2, 408⫺410; Uffer, L.: Rätorom. Märchen. MdW 1973, num. 16. ⫺ 50 Wehse (wie not. 20) num. 55, 59, 65, 66, 125, 198, 204, 205, 214, 216, 219, 220, 297, 306, 342, 399, 471, cf. num. 128, 308; Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, num. E 43. ⫺ 51 Wehse (wie not. 20) num. 440. ⫺ 52 ibid., num. 329, 373, 496, 515. ⫺ 53 Apolephthes, D. [i.e. J. Zanach]: Lhore de Recreation. ErquickStunden. Lpz. 1612, 649 sq.; Shojaei Kawan, C.: Erzählen und Erzähltes um 1900. Volkskundliche Impressionen bei Hermann Hesse. In: Fabula 32 (1991) 216⫺233, hier 224 sq.; Eberhard/Boratav, num. 310 (V). ⫺ 54 Hug 1949 (wie not. 1) 526; id. 1919 (wie not. 1) 1888, 2460; Firebaugh (wie not. 1) 72⫺74, 164. ⫺ 55 Boehncke, H./Sarkowicz, H.: Die dt. Räuberbanden. Ffm. 1991, 257⫺287. ⫺ 56 Shojaei Kawan (wie not. 53) 217 sq. ⫺ 57 cf. Cooper, H.: The Canterbury Tales. Ox. 21996, 60; Phillips, H.: An Introduction to the „Canterbury Tales“. Houndmills/L. 2000, z. B. 45, 74; Ashton, G.: Chaucer’s Canterbury Tales. L./ N. Y. 2007, 35⫺38. ⫺ 58 cf. Wander 5, 278⫺285. ⫺ 59 Mit Forts., cf. Internet. ⫺ 60 EM 7, 460 sq.; Brückner, 222 sq.; Legenda aurea/Benz, 495; EM 7, 460. ⫺
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z. B. Smith (wie not. 34) 126 sq., 132 sq.; Wehse (wie not. 20) num. 448.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Wirtschaft 1. Allgemeines ⫺ 2. W. als Gegenstand und Thema von Erzählungen ⫺ 3. Erzählen und W. ⫺ 4. Erzählen und Erzählungen als Ware
1 . All ge me in es. W. bzw. Ökonomie als System umfaßt die natürlichen Ressourcen, Arbeit, Kapital, Produktionsmittel und -stätten sowie die sozialen Akteure, die an Produktion, Austausch, Verteilung und Konsum von Gütern und Dienstleistungen beteiligt sind. In der Volkswirtschaftslehre werden traditionell drei Sektoren unterschieden: (1) der Primärsektor der Gewinnung bzw. Herstellung von Grundund Rohstoffen (Land- und Forstwirtschaft, Jagd, Fischerei, Bergbau), (2) der Sekundärsektor der Verarbeitung von Rohstoffen (Handwerk, Manufaktur, Industrie), (3) der Tertiärsektor, der alle Dienstleistungen umfaßt (Handel, Verkehr, Geld- und Kreditwesen, Medien, Hotels und Gaststätten, Verwaltung, Bildungs-, Rechts- und Gesundheitswesen etc.). Angesichts fortschreitender Spezialisierung und Arbeitsteilung wird heute vom 3. Sektor oft noch (4) der Quartärsektor abgetrennt, der neben der Informations- und Kommunikationstechnologie auch die Forschung einschließt. Die Beziehungen zwischen Erzählen und W. bzw. wirtschaftlicher Tätigkeit sind vielfältig. Traditionelle Erzählungen und Lieder beziehen sich auf alle W.ssektoren. Seit dem späten 20. Jh. gewinnen parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung der Tertiär- und Quartärsektor immer größere Bedeutung für das Erzählen, vor allem in Witzen und modernen Sagen; dabei kommt den neuen Medien eine wachsende Rolle zu. 2 . W. a ls Ge ge ns ta nd un d The ma vo n E rz äh lu ng en. Traditionelle Erzählungen bilden prinzipiell eine arbeitsteilige W. mit allen W.ssektoren ab. Der primäre Sektor ist stark vertreten, bes. mit Landwirtschaft und Viehzucht (J Bauer; J Herr und Knecht; J Hirt), J Jagd und Forstwirtschaft (cf. J Köhler), Fischerei (J
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Wirtschaft
Fisch, Fischen, Fischer) und Bergbau (J Bergmann). Entsprechend sind auch die Orte der W.stätigkeit (Haus und Hof; Acker, Weide, Wald, Meer, Bergwerk) häufig Orte der Erzählhandlung. Im Sekundärsektor hat das Handwerk (J Handwerker) mit der Vielfalt seiner J Berufe die größte Bedeutung1. Beim Hausgewerbe spielt vor allem das J Spinnen eine Rolle, während die Hausarbeit der Frau2 selten thematisiert ist (AaTh/ATU 1408: J Hausarbeit getauscht). Häufige Erwähnung finden die Schwere und Mühsal der Erwerbsarbeit3. Industriebetriebe und damit Industriearbeiter (J Proletariat), Angestellte, Unternehmer oder W.sführer und deren Tätigkeiten erscheinen erst im Laufe des 19. Jh.s4; damit werden auch die Firma und das Büro (als ,paperwork empire‘5) zu Gegenständen und Orten der Erzählhandlung. Im Bereich des Tertiärsektors sind Handel und Kreditwesen (J Kaufmann; J Wucherer), Verkehr (J Fuhrmann; J Fährmann; J Seemann), Gaststätten und Herbergen (J Wirt, Wirtin, Wirtshaus) und handwerkliche Dienstleistungen (J Barbier; J Garten, Gärtner) wie auch Dienstpersonal (J Gesinde) vertreten. Gehobene Berufe sind den Institutionen Kirche (J Pfarrer; J Pope; J Küster), Rechts(J Advokat; J Richter; cf. auch J Schiedsrichter), Gesundheits- (J Heilen, Heiler, Heilmittel; J Arzt; J Zahnarzt) und Bildungswesen (J Lehrer und Schüler; cf. J Studenten) zugeordnet. Orte der Erzählhandlung sind typischerweise Markt, Kirche, Gericht, Arztpraxis, Krankenhaus oder Schule. Am unteren Ende der sozialen Skala stehen J Henker, J Bettler und J Dieb sowie J Räuber, J Kuppler und Prostituierte (J Prostitution). Das W.shandeln und die W.srationalität sind ebenso wie die W.sethik (J Ethik; J Moral)6 in europ. Märchen und Sagen vormodern und der von M. Weber 1904 als Basis des modernen Kapitalismus dargestellten protestant. Ethik entgegengesetzt7. Geld (J Gold, Geld) ist ein Motiv vieler Märchen, doch hat es zumeist einen abstrakten und symbolischen Wert8 und ist selten Ausdruck eines konkreten Leistungsverhältnisses und Reflex von Geldwirtschaft; entsprechend spielen Natural- und Tauschwirtschaft im Märchen eine große Rolle (AaTh/ATU 170, 1655: Der vorteilhafte J
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Tausch; AaTh/ATU 1415: J Hans im Glück; AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel). Wiewohl J Fleiß, Arbeitsamkeit (J Arbeit), Ehrlichkeit, J Klugheit und das Einhalten von J Verträgen im traditionellen Erzählgut durchaus wichtig sind, sind doch die Grundlagen wirtschaftlichen Handelns durch Subsistenz9, Standesdenken (J Ständeordnung) und das statische Konzept der ,limited goods‘10 gekennzeichnet. Eine direkte kausale Beziehung zwischen Leistung und materiellem Erfolg ist selten gegeben, vielmehr sind Erfolg und Lohn oft unberechenbar: J Reichtum kann durch Einfalt wie auch Schlauheit gewonnen werden; er hängt vom launischen J Glück, von magischen Kräften oder vom moralisch richtigen Verhalten der Akteure ab. Indem sie das Glück für wichtiger als den Verstand (AaTh/ATU 945: J Glück und Verstand) erachten, schaffen Märchen und Sagen eine ökonomische Welt, in der nicht Leistung, sondern Gottes Segen (cf. AaTh/ATU 830, 830 A⫺C: J Gottes Segen), J Schicksal und Magie (AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich; AaTh/ATU 566: J Fortunatus; J Teufelspakt) ebenso wie der gefundene J Schatz höchste Bedeutung haben. Häufig findet in Märchen und Sagen sogar höchst unvernünftiges, ja im Sinne moderner ökonomischer Zweckrationalität schädliches Verhalten statt: Unsinnig und schädlich ist etwa das Verhalten von Hans im Glück (AaTh/ ATU 1415), das der J Schildbürger oder das des Knechts beim Teufel (AaTh/ATU 1048: J Holzkauf ), doch kann selbst ein solches Verhalten letztlich zum Erfolg führen (AaTh/ATU 1642). Das gleiche gilt für die häufig positive Darstellung von J List (AaTh/ATU 1615: J Teilung des Geldes) und Verschlagenheit, von Betrug (J Betrüger), J Täuschung und J Lüge. Positiv gewertet wird auch Hochstapelei durch Vortäuschung von Reichtum (AaTh/ ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater) und das trickreiche Prellen des Partners um den Lohn für seine Leistung (AaTh/ATU 1526 A: J Zechpreller; cf. auch AaTh/ATU 1736: Die auferstandene J Wiese); bes. häufig wird der J Teufel straflos geprellt. Aus ökonomischer Sicht schädlich sind vor allem J Neid und J Schadenzauber (J Hexe, Kap. 2. 2.3). Die in vielen Erzählungen durch Erfolg positiv gewertete Faulheit (AaTh/ATU 1405: Die faule J Spinnerin; AaTh/ATU 501: Die drei J
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Spinnfrauen; AaTh/ATU 1950 A: J Hilfe beim Nichtstun; AaTh/ATU 675: Der faule J Junge) ist etwa im Bild des J Schlaraffenlands (AaTh/ ATU 1930) eine Wunschphantasie gegenüber den wirtschaftlichen Zwängen der bäuerlichen Gesellschaft. Die Ökonomie des Märchens ist an erster Stelle eine moralische, als solche allerdings voller Widersprüche. Dargestellt wird eine Welt, in der J Bosheit und J Hartherzigkeit, J Geiz und Gier bestraft, J Barmherzigkeit belohnt wird. Ebenso wie im Märchen Überfluß und Mangel extrem dargestellt sind (AaTh/ ATU 1930), ist auch der Lohn (J Belohnung, Lohn) für geleistete Arbeit meist extrem und hat primär symbolische Bedeutung (AaTh/ ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen); in Sagen geht es oft realistischer um den ,gerechten‘ Lohn. In Schwänken oder sozialkritischen Liedern (J Sozialkritik)11 wie auch im lebensgeschichtlichen Erzählen steht die konkrete Beziehung zwischen erbrachter Arbeitsleistung und Lohn im Vordergrund. 3 . E rz äh le n u nd W. Da die meisten erwachsenen Menschen einen beachtlichen Teil ihres Alltagslebens in W.sbetrieben verbringen, war und ist der Arbeitsplatz ein wichtiger Ort der J Vermittlung von Erzählstoffen und Liedern. Waren es früher Handwerkersprüche12, Schwänke und Arbeitslieder, so sind es in modernen Büros und Werkstätten einerseits ⫺ zunächst in Form von Fotokopien umlaufende (J Xeroxlore), später dann durch die elektronischen Medien Internet, Email und soziale Netzwerke verbreitete ⫺ Sprüche, Briefe, Gedichte, Karikaturen und Liedtexte und andererseits unter Kollegen weitergegebene Witze13, Anekdoten, J Gerüchte und Sagen, ebenso wie das alltägliche Erzählen. Sie sind ebenso Teil der Betriebskultur wie Geschichten über den Chef, über die Konkurrenz oder über Kunden14, wobei sie nicht nur als Bindemittel für die Kooperation am Arbeitsplatz, sondern auch als Indikator der Machtbeziehungen, der Arbeitsmoral und des Betriebsklimas fungieren. In den nach planwirtschaftlichen Prinzipien produzierenden sozialistischen Betrieben mit ihrem hohen Maß an Leerlauf wurde unter Kollegen viel erzählt15; die Arbeitserfahrung konnte zudem zu einem Teil der Volksüberlieferung werden16. In (auto)-
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biogr. Erzählungen spielt bes. bei Männern der Betrieb eine wichtige Rolle17. Mit den durch die neuen Medien gewachsenen Möglichkeiten der Verbreitung einher geht eine wachsende Zahl von Anekdoten, Witzen und absichtlich gestreuten Gerüchten über Kollegen, die in Form von Mobbing zu somatischen und psychischen Erkrankungen führen kann. Vor neuen Herausforderungen stehen auch Mitarbeiter in vernetzten Unternehmen, die zwar im Netz „scherzen, jammern und klönen“18 können, denen aber in virtuellen Teams das Fehlen der direkten Kommunikation Probleme bereitet19. Die Bedeutung des Erzählens ist von Firmenleitungen früh erkannt worden, etwa bei Betriebsfeiern, Jubiläen oder Verabschiedungen von Mitarbeitern in den Ruhestand20. Erst in neuerer Zeit ist es gezielt in die ,corporate culture‘ integriert worden, vor allem in Form von Firmen- und Gründermythen sowie von Geschichten, welche die Unternehmensphilosophie und -ethik vermitteln sollen. Mythen und andere Erzählungen bilden die Grundlage des ,narrativen Managements‘ oder ,management by story-telling‘21, dessen strategische Ziele die Vermittlung von Werten und Botschaften, die Weitergabe institutioneller Erfahrung, die Unterstützung von Wandlungsprozessen und das Wissensmanagement sind22. Um die Weitergabe von Wissen geht es auch beim Erzählen von internat. tätigen Geschäftsleuten, Managern, Ingenieuren und Technikern23 über ihre Erlebnisse und Erfahrungen im Ausland, wobei dieses Erzählen heute großenteils auf spezialisierten Websites und Blogs im Internet stattfindet. Auch bei interkulturellen Begegnungen, z. B. bei Geschäftsverhandlungen und Kundengesprächen mit ausländischen Partnern, spielt Erzählen eine Rolle24. Moderne Sagen, Witze oder Gerüchte über Unternehmen und ihre Produkte, die inzwischen zum großen Teil über das Internet verbreitet werden, heften sich vorzugsweise an die Marktführer und können erhebliche wirtschaftliche Schäden verursachen; Beispiele sind Gerüchte und Sagen über ,gefährliche Produkte‘ von Firmen wie Coca Cola, Kentucky Fried Chicken und Starbucks oder über ital. oder asiat. Restaurants25. Ziel kann auch konkret das Geschehen an Börsen und Finanzmärk-
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ten26 oder generell der ,gefährliche Kapitalismus‘ sein27. 4 . E rz äh le n u nd Er zä hl un ge n a ls War e. Die Nutzung von Erzählen und Singen, Erzählungen und Liedern zu kommerziellen Zwecken hat eine lange Geschichte. Bereits bei dem im späten 15. Jh. einsetzenden Druck und Vertrieb von Erzählungen28 und Liedern29 in populären J Lesestoffen und in der gehobenen J Unterhaltungsliteratur (J Kolportageliteratur)30 handelt es sich um gewinnorientierte Nutzung. Auch bei vielen der seit dem frühen 19. Jh. in immer größeren Aufl.n erschienenen Slgen von Märchen, Sagen, Liedern und Witzen ist ein wirtschaftliches Interesse zu berücksichtigen; zur Umsatzsteigerung griffen Sammler, Herausgeber und Verleger häufig in die Texte ein (J Bearbeitung). Neben Verkäufern und Marktschreiern, die traditionelle Erzählstoffe und Rufe verwenden31, gibt es seit Jh.en professionelle Erzähler von Märchen und anderen Geschichten (J Erzählen, Erzähler, bes. Kap. 2; J Verbreitung), ebenso professionelle und halbprofessionelle Epensänger32 oder J Bänkelsänger33. In ihrer Tradition stehen viele der heutigen Entertainer und Showmaster bes. im Fernsehen, die auch auf traditionelles Erzähl- und Liedgut zurückgreifen (cf. J Volkslied). In neuerer Zeit wächst in vielen Ländern die Zahl der professionellen Erzähler34, die auf Kleinkunstbühnen35, in Kindergärten, Schulen und Vereinen, bei festlichen Anlässen sowie über Film, Rundfunk, DVD etc. Märchen und andere Geschichten darbieten36. Auch der Einsatz von Märchen für therapeutische Zwecke (J Psychiatrie; J Psychoanalyse) stellt eine Art der wirtschaftlichen Nutzung dar37. Zum Märchenerzähler kann man sich heute speziell ausbilden lassen38 und sich auf Workshops und Erzählfestivals mit anderen Berufserzählern vergleichen und von ihnen lernen. Professionalisiert ist auch die Herstellung von Witzen und Gags durch Gag-Schreiber und Witz-Agenturen. Seit dem frühen 20. Jh. erstreckt sich die wirtschaftliche Nutzung von Erzählungen und Liedern zunehmend auf audiovisuelle Medien wie Radio, Film, Fernsehen, Hörbuch und das Internet39, in den letzten Jahrzehnten zudem
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auf touristische Einrichtungen wie J Märchenparks, Märchenwälder, Märchenstraßen und Märchenmuseen (J Märchenpflege). Große Bedeutung hat die wirtschaftliche Nutzung von Themen, Motiven und Figuren der Erzählüberlieferung zudem in J Werbung und Marketing. Der Kommerzialisierung des immateriellen Kulturerbes sind heute zwar gewisse rechtliche Grenzen gesetzt (cf. J Tradition), doch sind diese in den neuen Medien kaum durchzusetzen. 1 Zenotty, F.: Die Schutzheiligen der verschiedenen Stände, Gewerbe und Handwerke. Wien 1887; Keller, A.: Der Handwerker im Volkshumor. Lpz. 1912; Neubner, J.: Die hl. Handwerker in der Darstellung der Acta Sanctorum. Münster 1929; Nachtigall, W./ Werner, D.: Der listige Schmied und andere Volkssagen um Stände und Berufe aus dem Brandenburgischen. B. 1989; Volkmann, H.: Von Gärtnern und anderen kunstreichen Leuten. Zur Bedeutung der Handwerkskünste im Märchen. In: Heindrichs, U. und H.-A. (edd.): Das Märchen und die Künste. Wolfsegg 1996, 69⫺86. ⫺ 2 Schenda, R. und S.: La donna e il concetto di lavoro nei racconti popolari siciliani della Gonzenbach e del Pitre`. In: La cultura materiale in Sicilia. Palermo 1980, 457⫺464; Rubini, L.: „Essen, soviel man mag, und leiden, was man muss.“ Die KHM der Brüder Grimm als Koch- und Hauswirtschaftsbuch. In: Die Küche, wie sie nicht im Buche steht. Ausstellungskatalog Zürich 1989, 37⫺52. ⫺ 3 Hopster, N./Nassen, U. (edd.): Märchen und Mühsal. Arbeit und Arbeitswelt in Kinder- und Jugendbüchern aus drei Jh.en. Ausstellungskatalog Bielefeld 1988. ⫺ 4 cf. Bausinger, H.: Volkskultur in der technischen Welt. Stg. 1961; Braun, R.: Industrialisierung und Volksleben. Erlenbach-Zürich 1960; Arbeit und Volksleben. Dt. Vk.kongreß 1965 in Marburg. ed. G. Heilfurth. Göttingen 1967; Messenger, B.: Picking up the Linnen Threads. A Study in Industrial Folklore. Austin 1975; Steinitz, W.: Dt. Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jh.en 1. B. 1955, bes. 227⫺234; Foner, P. S.: American Labor Songs of the 19th Century. Urbana 1975. ⫺ 5 cf. Dundes, A./Pagter, C. R.: Urban Folklore from the Paperwork Empire. Austin 1975. ⫺ 6 cf. Wunderlich, W.: „Geld in allen Taschen ist eine schöne Profession.“ Milchmädchenrechnung und Tauschgeschäfte des „homo oeconomicus stultus“. In: Wegmann, T. (ed.): Markt. Literarisch. Bern 2005, 43⫺ 58; Solomon, J. L.: Die Parabel vom verlorenen Sohn. Zur Arbeitsethik des 16. Jh.s. In: Grimm, R./ Hermand, J. (edd.): Arbeit als Thema in der dt. Lit. vom MA. bis zur Gegenwart. Königstein 1979, 29⫺ 50. ⫺ 7 Weber, M.: Die protestant. Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Bodenheim 1993, 122⫺ 155; cf. dagegen Dorson, R. M.: American Folklore. Chic. 1966, 24⫺30; Bauman, R.: Let Your Words be Few. Symbolism of Speaking and Silence among
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Wirtschaft
17th-Century Quakers. Cambr. 1983. ⫺ 8 Röhrich, L.: Der Arme und der Reiche. Glück, Geld und Gold im Märchen. In: Universitas 50 (1995) 516⫺532; Marzi, H./Westenberger, G.: Märchen von Gold & Geld. Ffm. 1998; Wienker-Piepho, S.: Geld, Gold und Glück im Märchen. St. Gallen 1996; ead.: Haben oder Sein? Oder: Wie das Grimmsche Märchen einige elementare Fragen stellt. In: Tautosakas darbai 14,21 (2001) 95⫺109. ⫺ 9 cf. Sugiyama, M. S.: Food, Foragers, and Folklore. The Role of Narrative in Human Subsistence. In: Evolution and Human Behavior 22 (2001) 221⫺240. ⫺ 10 Dundes, A.: Folk Ideas as Units of World View. In: Paredes, A./Bauman, R. (edd.): Toward New Perspectives in Folklore. Austin 1972, 93⫺103; Foster, G. M.: Treasure Tales and the Image of the Static Economy in a Mexican Peasant Community. In: JAFL 77 (1964) 39⫺44. ⫺ 11 Steinitz und Foner (wie not. 4); Fowke, E./Glazer, J.: Songs of Work and Protest. N. Y. 1973. ⫺ 12 Röhrich, L./Meinel, G.: Redensarten aus dem Bereich von Handwerk und Gewerbe. In: Alemann. Jb. (1971/72) 163⫺198; Gumbel, H.: Alte Handwerkerschwänke. Jena 1928. ⫺ 13 Neuberger, O.: Was ist denn da so komisch? Thema: Der Witz in der Firma. Weinheim 1988. ⫺ 14 Götz, I.: Unternehmenskultur. Die Arbeitswelt einer Großbäckerei aus kulturwiss. Sicht. Münster 1997, bes. 156⫺191; id.: Empirische Erhebungen in Industriebetrieben und bürokratischen Organisationen. In: Göttsch, S./Lehmann, A. (edd.): Methoden der Vk. B. 2001, 213⫺232. ⫺ 15 cf. Roth, K.: Erzählen im sozialistischen Alltag. In: ZfVk. 87 (1991) 181⫺195; id.: Arbeit im Sozialismus ⫺ Arbeit im Postsozialismus. B. 2004; Petrova, I.: „Unsere Firma ist unsere Familie“. In: Roth, K. (ed.): Arbeitswelt ⫺ Lebenswelt. B. 2006, 103⫺120. ⫺ 16 Ancela¯ne, A.: Kolchozu darbs un dzı¯ve latviesˇu padomju folklora¯ (Kolchosenleben und -arbeit in der lett.-sowjet. Folklore). In: Niedre, J. (ed.): Latviesˇu padomju folklora. Riga 1952 (21953), 51⫺86; Dobreva, D.: Erzählungen über das sozialistische Dorf. Zur erzählerischen Bewältigung der Vergangenheit und der Gegenwart in Bulgarien. In: Fabula 42 (2001) 90⫺109. ⫺ 17 Sauermann, D. (ed.): Aus dem Leben eines Heuerlings und Arbeiters. Rudolf Dunkmann berichtet. Münster 1980; Lehmann, A.: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiogr. Unters.en. Ffm. 1983. ⫺ 18 Goll, M.: Scherzen, Jammern und Klönen im Netz. Zur Beziehungsarbeit in vernetzten Unternehmen. In: Hirschfelder, G./Huber, B. (edd.): Die Virtualisierung der Arbeit. Ffm. 2004, 55⫺87. ⫺ 19 Roth, K.: Comment. Virtual Cooperation in Internat. Perspective. ibid., 137⫺140. ⫺ 20 Pfrunder, P.: „Viel gabst Du uns ⫺ Ein Menschenleben …“ Abschiedsgedichte für die Arbeiter der Gebr. Sulzer AG, Winterthur. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern 1995, 569⫺584. ⫺ 21 Czarniawska, B.: Narrating the Organization. Chic. 1997; id.: A Narrative Approach in Organization Studies. Thousand Oaks 1998; Gabriel, Y.: Sto-
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rytelling in Organizations. Ox. 2000; Boje, D. M.: Narrative Methods for Organizational and Communication Research. L. 2001; Thier, K.: Die Entdekkung des Narrativen für Organisationen. Hbg 2003; id.: Storytelling ⫺ Eine narrative Managementmethode. Heidelberg 2006; Wunderer, R.: Der gestiefelte Kater als Unternehmer. Lehren aus Management und Märchen. Wiesbaden 2007 (Rez. W. Bies in Fabula 51 [2010] 145⫺150). ⫺ 22 Nyman, S.: Organizational Storytelling. Creating Enduring Values in a High-Tech Company. Hinnerup 2000; Schnalzer, K./Thier, K.: Lernen aus Erfahrungsgeschichten! In: Rohs, M. (ed.): Arbeitsprozeßintegriertes Lernen. Münster 2001, 111⫺126; Reinmann-Rothmeier, G. u. a.: Story Telling in Unternehmen. Vom Reden zum Handeln ⫺ nur wie? In: Wissensmanagement online (Februar 2003, März/April 2003); Neubauer, A./Erlach, C./Thier, K.: Story Telling ⫺ Erfahrungsdokumente zur Weitergabe impliziten Wissens. In: Reinmann-Rothmeier, G./Mandl, H. (edd.): Psychologie des Wissensmanagements. Göttingen 2004, 351⫺358; Erlach, C./Thier, K.: The Transfer of Tacit Knowledge with the Method ,Story Telling‘. In: Schreyögg, G./Koch, D. (edd.): Knowledge Management and Narrative. Organizational Effectiveness through Storytelling. B. 2005, 123⫺141; iid.: Geschichten in der Unternehmenskultur: Was Narrationen mit Cultural Change zu tun haben. In: Reinmann, G. (ed.): Erfahrungswissen erzählbar machen. Lengerich 2005, 141⫺157. ⫺ 23 cf. Hermeking, M.: Kulturen und Technik. Techniktransfer als Arbeitsfeld der Interkulturellen Kommunikation. Münster 2001. ⫺ 24 cf. Roth, K.: Erzählen und Interkulturelle Kommunikation. In: id. (ed.): Mit der Differenz leben. Münster 1996, 63⫺78, bes. 68⫺71. ⫺ 25 Fine, G. A.: Coke-Lore and Coke Law. In: JAFL 92 (1979) 477⫺482; id.: The Kentucky Fried Rat. In: JFI 17,2⫺3 (1980) 222⫺243; Brunvand, J. H.: The Vanishing Hitchhiker. N. Y. 1981, 81⫺90; id.: The Choking Doberman. N. Y. 1984, 118⫺127; Klintberg, B. af: Die Ratte in der Pizza. Kiel 1990; Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990, 79⫺84; Campion-Vincent, V./Renard, J.-B.: Le´gendes urbaines. Rumeurs d’aujourd’hui. P. 1992, 177⫺194, 223⫺227, 309⫺314; Fine, G. A.: Manufacturing Tales. Sex and Money in Contemporary Legends. Knoxville 1992, 79⫺137; Kapferer, J.-M.: Managing Brands Through Rumors. In: Bruhn, M./ Wunderlich, W. (edd.): Medium Gerücht. Bern/Stg./ Wien 2004, 117⫺154; Shojaei Kawan, C.: Horrormahlzeit, Höllentrunk. Gerüchte und Geschichten um Essen und Trinken. ibid., 323⫺353. ⫺ 26 Kapferer, J.-N.: La Rumeur en bourse. In: Communications 52 (1990) 61⫺84; Thießen, F.: Gerüchte an Finanzmärkten. In: Bruhn/Wunderlich (wie not. 25) 179⫺220. ⫺ 27 Fine 1992 (wie not. 25) 141⫺185; De´gh, L.: The Ghost Story in Emergence as a Byproduct of Market Economy in America. In: Toplore. Festschr. S. Top. Trier 2006, 47⫺65. ⫺ 28 Moser-Rath, Schwank, bes. 7⫺55, 262⫺282. ⫺ 29 Brednich, R. W.: Das Lied als Ware. In: Jb. für Volkslied-
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Wissen bringt Not ⫺ Wisser, Wilhelm
forschung 19 (1974) 11⫺20. ⫺ 30 cf. Koppitz, H.-J.: Zur Verbreitung unterhaltsamer und belehrender dt. Lit. durch den Buchhandel in der 2. Hälfte des 16. Jh.s. In: Jb. für internat. Germanistik 7 (1975) 20⫺35. ⫺ 31 cf. Beall, K. F.: Kaufrufe und Straßenhändler/ Cries and Itinerant Trades. Eine Bibliogr. Hbg 1975. ⫺ 32 Braun, M.: Das serbokroat. Heldenlied. Göttingen 1961, 76⫺81; Lord, A. B.: The Singer of Tales. Cambr. 1960, 13⫺21. ⫺ 33 Roth, K.: Der bulg. Bänkelsang heute. In: Festschr. E. Klusen. Bonn 1984, 417⫺434; Kovacˇic´, J.: Kramarski pjevacˇi i njihova pojava u Hrvatskoj (Das Phänomen der Bänkelsänger in Kroatien). In: Zbornik radova 33 (1985) 534⫺539. ⫺ 34 Görög-Karady, V.: The New Professional Storyteller in France. In: Röhrich, L./Wienker-Piepho, S. (edd.): Storytelling in Contemporary Societies. Tübingen 1990, 173⫺183; Miller, C./Snodgrass, M. E.: Storytellers. A Biogr. Directory of 120 English-speaking Performers Worldwide. Jefferson, N. C. 1998, Pöge-Alder, K.: Erzählerlex. Marburg 2000; Horn, K.: Märchenerzählen heute. In: Gerndt, H./Wardetzky, K. (edd.): Die Kunst der Erzählens. Potsdam 2002, 31⫺41. ⫺ 35 cf. Wardetzky, K.: Erzähler spielen oder Erzähler sein? Über Erzähltheater und textgebundenes Erzählen. ibid., 51⫺61; Baesecke, J.: Erzähltheater ⫺ Fragen an eine Form. ibid., 42⫺50. ⫺ 36 Gerndt, C. C.: Der Nachterzähler. Eine Traumreise um die Welt für die ganze Familie. Mü. 2008; ead.: Der Hund im Kühlschrank. Eine Anleitung zur lebendigen und bewußten Kommunikation. Mü. 2011; ead.: Freies mündl. Erzählen. In: Beisbart, O./Kerkhoff-Hader, B. (edd.): Märchen. Geschichte ⫺ Psychologie ⫺ Medien. Baltmannsweiler 2007, 128⫺139. ⫺ 37 cf. Lehmann-Scherf, G. M.: Rotkäppchen in der Psychotherapie. In: Gerndt/ Wardetzky (wie not. 34) 268⫺292. ⫺ 38 Pöge-Alder, K.: Strategien des öffentlichen Erzählens heute. In: Marzolph, U. (ed.): Strategien des populären Erzählens. B. 2010, 107⫺125. ⫺ 39 De´gh, L.: American Folklore and the Mass Media. Bloom. 1994; Schmitt, C. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster 2008.
München
Klaus Roth
Wissen bringt Not J Vogelsprache
Wisser, Wilhelm, *Klenzau (Ostholstein) 27. 8. 1843, †Oldenburg (in Oldenburg) 13. 10. 1935, dt. Sammler und Herausgeber von Volkserzählungen. W., der aus einer Bauern- und Kätnerfamilie stammte, wuchs größtenteils in plattdt.sprechender Umgebung auf dem Bauernhof der Großeltern in Braak bei Eutin auf. Er studierte 1862⫺67 alte Sprachen und Ger-
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manistik an den Univ.en Kiel und Leipzig, arbeitete ein Jahr als Hauslehrer Leopold von Schlözers in Rotensande bei Eutin, wurde 1869 in Leipzig mit einer Arbeit über den röm. Elegiker Tibull promoviert und legte 1870 sein Staatsexamen in Kiel ab. 1870⫺77 war er Gymnasiallehrer in Eutin, 1877⫺87 in Jever, 1887⫺1902 wieder in Eutin (1894 Ernennung zum Professor). 1902 wurde er an das Gymnasium in Oldenburg versetzt, an dem er bis zu seiner Pensionierung (1908) tätig war1. Sein Nachlaß befindet sich im Niedersächs. Staatsarchiv in Oldenburg; W.s Abschriften seiner Orig.mitschriften sind im Zentralarchiv der dt. Volkserzählung in Marburg sowie in den Univ.sbibl.en in Kiel und Hamburg hinterlegt. W.s Bedeutung für die Erzählforschung liegt in der Erfassung und Dokumentation umfangreichen Materials; wie die Sammeltätigkeiten von R. J Wossidlo und in W.s Nachfolge von G. F. J Meyer in Norddeutschland sowie von E. T. J Kristensen in Dänemark stellen seine Arbeiten Pionierleistungen in der volkskundlichen J Feldforschung und wiss. Materialerhebung dar2. Erst in fortgeschrittenem Alter ⫺ nach eigener Aussage motiviert durch die Suche nach den ihm in seiner Kindheit erzählten Märchen3 ⫺ begann W. 1898 eine intensive Sammeltätigkeit in Ostholstein, die er im wesentlichen 1909 beendete, um seine hs. Mitschriften in Maschinenschrift zu übertragen und auszuwerten. W.s Slg umfaßt ca 2100 wörtliche bis stichwortartige Aufzeichnungen in plattdt. Sprache auf ca 2600 Schreibmaschinenseiten, die von der Anzahl her 48 % Schwänke, 20 % Märchen, 22 % Schwankmärchen und 10 % Sagen, Schildbürger-, Spuk-, Hexen- oder Mordgeschichten enthalten; hinsichtlich der Textlänge beträgt der Umfang der Märchen 40 %, derjenige der Schwänke 30 %4. Die meisten von W.s ca 230 Informanten (darunter 50 Frauen) waren über 60 Jahre alt und entstammten der ländlichen Unterschicht (Tagelöhner, Kuhknechte, Schäfer, Kleinhandwerker). In plattdt. Sprache publizierte W. die drei schmalen, für Kinder intendierten Bände Wat Grotmoder vertellt. Ostholstein. Volksmärchen (Lpz. 1904, Jena 1905/09) sowie Plattdt. Volksmärchen. Ausg. für Erwachsene (MdW 1914) und Plattdt. Volksmärchen. N. F. (MdW 1927), daneben zahlreiche einzelne Erzählungen in
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Wisser, Wilhelm
Zss., Jbb. und Kalendern5; ca 80 % seiner Mitschriften blieben unveröffentlicht; K. J Ranke und G. Hubrich-Messow haben sie größtenteils durch AaTh-Typisierungen und Abdrucke im Wortlaut zugänglich gemacht6. W. war ausschließlich an der mündl. Überlieferung interessiert7: Er suchte die Gewährsleute in ihrem eigenen Umfeld auf, zeichnete die Geschichten während des Erzählvorgangs in der Sprache der Erzähler und Erzählerinnen auf, hielt deren Namen den konkret erzählten Geschichten zugeordnet mit dem Datum der Aufzeichnung fest, gab Geburtsdatum, z. T. auch Geburtsort und Beruf an. Er bewahrte seine Orig.mitschriften der Wiss. und legte seine Sammelmethoden offen, letzteres in eher essayistischer Form mit weiteren Informationen zu den Erzählern8. Bei der für ihn selbstverständlichen Bearb. des aufgezeichneten ,Rohstoffs‘ für den Druck9 in ,populären‘10 (d. h. allen von ihm veröff.) Ausg.n unterschied W. zwischen Ausg.n für die Jugend und für Erwachsene11. Die Intention, dabei „möglichst richtig zu erzählen“12, u. a. durch J Rekonstruktion eines Texts aus mehreren Var.n13, und Aussagen über den zum großen Teil ,trümmerhaften Charakter‘ gegenwärtiger Überlieferungen gehen auf W.s Annahme einer literar. J Urform zurück14. Im Kontext seiner Vorstellung, Volkserzählungen einschließlich der Märchen seien ursprünglich Männergeschichten gewesen, sowie seiner Beurteilung der Überlieferung von Geschichten bzw. Passagen ,bedenklichen‘, d. h. sexuellen Inhalts steht W.s dezidiert geäußerte Meinung über die geringe Rolle von Frauen auch bei der Tradierung ,eigentlicher Märchen‘15. Mit der Publ. der sprachlich bearb. Volkserzählungen beabsichtigte W. außerdem, Musterbeispiele ,reiner‘ plattdt. Sprache vorzuführen16. W. bereitete eine wiss. Ausg. der von ihm gesammelten Erzählungen vor. Er erstellte ein Gesamtverzeichnis seiner Gewährsleute17, veröffentlichte Zusammenstellungen seiner mit A. J Aarnes Typisierung18 und den J Kinderund Hausmärchen der Brüder J Grimm korrespondierenden Texte19 sowie Var.nvergleiche einzelner Märchentypen und -motive20. Einer überregionalen Nachwirkung W.s setzten vermutlich die Aufzeichnung und Publ. der Volkserzählungen in plattdt. Sprache Grenzen21.
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1 Peters, G.: W., Heinrich W. In: Schleswig-Holstein. Biogr. Lex. 1. Neumünster 1970, 279 sq.; Jeske, H.: Sammler und Slgen von Volkserzählungen in Schleswig-Holstein. Neumünster 2002, 239⫺289, cf. 543⫺ 545. ⫺ 2 Göttsch, S.: W. W., ein plattdt. Märchensammler. In: Ber.e der Ges. für Vk. in SchleswigHolstein 1 (1991) Top 2, 4⫺11; ead.: Feldforschung und Märchendokumentation um 1900. In: ZfVk. 87 (1991) 1⫺18. ⫺ 3 W., W.: Plattdt. Volksmärchen. Ausg. für Erwachsene. MdW 1914 (u. d. T. Plattdt. Märchen. ed. K. Ranke. MdW 1970), IX⫺XI; id.: Auf der Märchensuche. Die Entstehung meiner Märchenslg. Hbg [1926], 5 sq. ⫺ 4 Jeske (wie not. 1) 256⫺260; ead.: Die Slg W. W.s, ihre Stellung in der Volksüberlieferung und in der Märchenforschung. In: Bll. für Heimatkunde. Beilage des Ostholsteiner Anzeigers 45,3 (1989) 9⫺11. ⫺ 5 ead. (wie not. 1) 538⫺543. ⫺ 6 Ranke; Hubrich-Messow. ⫺ 7 W., W.: Ein Mahnwort zur Rettung der schleswig-holstein. Volksmärchen. In: Die Heimat 10 (1900) 168⫺ 172. ⫺ 8 id. 1926 (wie not. 3); id.: Die Entstehung meiner Märchensammlung. In: Eckart 5 (1910/11) 168⫺182, 247⫺261, 321⫺329, 460⫺469 (Erstfassung). ⫺ 9 Suhling, O.: W. W. als Sammler und Erzähler holstein. Volksüberlieferung. Diss. (masch.) Marburg 1956; Dhont, H.: Die plattdt. Volksmärchen W. W.s im Vergleich zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Diplomarbeit (masch.) Gent 1990; Jeske (wie not. 1) 261⫺286, cf. 265 (not. 531: Hinweis auf fehlerhafte Zuordnung von Aufzeichnungen zu gedr. Texten bei Suhling). ⫺ 10 W. 1914 (wie not. 3) XXVII; id. 1926 (wie not. 3) 51. ⫺ 11 id. 1914 (wie not. 3) XXVI sq. ⫺ 12 ibid., XXVII. ⫺ 13 Zuordnung der Informanten zu den veröff. Texten cf. W. 1926 (wie not. 3) 82⫺86; id.: Plattdt. Volksmärchen. N. F. MdW 1927, 319⫺325; cf. auch Suhling (wie not. 9) 317⫺324. ⫺ 14 W., W.: Das Märchen im Volksmund. Dumm’ Hans mit der Königstochter im Elternhaus. Hbg 1925, 3 sq. ⫺ 15 W. 1914 (wie not. 3) XIV sq., XXI, XXV sq., XXVII sq.; zur Relativierung cf. Köhler-Zülch, I.: Ostholsteins Erzählerinnen in der Slg W. W.: ihre Texte ⫺ seine Berichte. In: Fabula 32 (1991) 94⫺ 118, hier 99⫺103, 117; ead.: Who Are the Tellers? In: Fabula 38 (1997) 199⫺209, hier 200, 202⫺204, 207 sq. ⫺ 16 W. 1926 (wie not. 3) 75 sq. ⫺ 17 cf. Suhling (wie not. 9) 300⫺316. ⫺ 18 Aarne, A.: Verz. der Märchentypen (FFC 3). Hels. 1910. ⫺ 19W. 1926 (wie not. 3) 77⫺82. ⫺ 20 cf. z. B. ZfVk. 13 (1903) 301⫺310; 22 (1912) 166⫺179; 25 (1915) 305⫺313; W. (wie not. 14). ⫺ 21 id.: De Wunschsteen und andere Märchen. ed. H. Lübbing. Oldenburg 1933 (ins Oldenburg. übertragene Texte); cf. Buchankündigung durch J. Bolte in ZfVk. 43 (1933) 119 (,wertvolles Volksgut‘); Jeske (wie not. 1) 287⫺289, 561 (Lit. zu Abdrucken von Texten W.s); cf. Angaben zum W.-W.-Verein, zur 1990 eingeweihten W.-W.-Kate in Braak im Internet.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
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Witwe, Witwer
Witwe, Witwer. Als überlebende Ehepartner (J Ehe) waren und sind Witwen (W.n), in geringerem Maße auch Witwer (W.r), bestimmten Verhaltens- und Rollenerwartungen ausgesetzt. Da der Verlust des Ehegatten eng mit Vorstellungen von J Trauer verbunden ist, bilden entsprechende Verhaltensweisen und Symbole zentrale Bestandteile eines soziokulturellen Erwartungshorizonts, der als normativer Rahmen wirksam ist. Von dem Zwang, intensives und nachhaltiges Trauern öffentlich zu bekunden, waren W.n bis weit ins 20. Jh. hinein in bes. Weise betroffen. Die Auflagen reichten von Kleidervorschriften1 über das (befristete) Verbot der Wiederverheiratung2 bis hin zum Gebot asketischer Lebensführung und zur Pflicht der Totenfolge3. Im Christentum wurde der Versuch unternommen, die W.nschaft als eine höhere, dem asketischen Ideal benachbarte Lebensform zu etablieren4. Der Verlust des Ehepartners hatte und hat jedoch häufig auch massive ökonomische und rechtliche Auswirkungen, vor allem für die W.n. Vielfach gehörten sie neben den J Waisen zu den schwächsten Gliedern der Gesellschaft, deren verbindliches Recht auf Versorgung erst im Zuge der Entwicklung zum modernen Sozialstaat anerkannt wurde. Bereits in der Bibel ist der W.nstand oft ein Kennwort für Armut, Leiden und niedrigen sozialen Rang (1. Kön. 17,8⫺16; 2. Kön. 4,1⫺ 7). Oft werden gegenüber W.n begangene Sünden (etwa Diebstahl) wiedergutgemacht (cf. AaTh/ATU 1636: The Repentant Thief; cf. AaTh/ATU 759 C: J Mehl der Witwe). Der Samstag wurde als Tag der W.n und W.r bezeichnet, die sich nach den Mühen des Lebens ausruhen dürfen5. Die Tatsache, daß es in der röm.-kathol. Kirche zahlreiche Heilige für W.n, jedoch nur wenige für W.r gibt6, läßt Rückschlüsse auf große geschlechtsspezifische Unterschiede zu. In der ma. Lit. finden sich zwar häufig wohlhabende oder reiche W.n (cf. AaTh/ATU 1511*: J Rat der Glocken; cf. AaTh/ATU 960 B: J Sonne bringt es an den Tag), doch seit dem ausgehenden MA. begegnet in religiösen Erbauungsschriften und Erzählungen der westl. Kultur das stereotype Bild der armen, ehrbaren und frommen W. (cf. ATU 750 F: The Widow’s Donation)7. In der frühen Neuzeit reduzierte sich die Darstellung
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der W. nicht selten auf einen einzigen Charakterzug, den J Geiz8. Im Gegenzug formierte sich in der populären Erzähltradition jedoch zunehmend der Typus der lebenslustigen, die vorherrschenden Rollenerwartungen unterlaufenden W. Ein bekanntes Beispiel dafür ist AaTh/ATU 1510: J W. von Ephesus: Eine W. scheint nach dem Tod ihres Manne zunächst untröstlich zu sein, geht jedoch innerhalb kürzester Zeit eine neue sexuelle Beziehung ein und schändet hierfür sogar den Leichnam des Toten. Eine andere W., die Frau von Bath in Geoffrey J Chaucers Canterbury Tales, stellte ein Modell für viele spätere ,lustige W.n‘ bereit9. Im Vergleich zur Figur der W. ist die des W.rs in den überlieferten Erzähltexten unterrepräsentiert und wesentlich blasser. Generell fällt auf, daß W.r ihre soziale Stellung beibehalten, während der Tod des Ehepartners im Leben einer Frau eine scharfe Zäsur bedeutet. Wie Männer und Frauen zu W.n und W.rn werden, bleibt in der Mehrheit der Erzählungen unerwähnt, während die positiven und negativen Aspekte dieses Standes in großer Vielfalt dargestellt werden10. Trauer als Thema fehlt; im Sinne eines moralischen Appells werden jedoch häufig die nachteiligen Auswirkungen einer frühen Wiederverheiratung der W. thematisiert11. Die Schwankliteratur zeichnet ein stereotypes Bild von W.n und W.rn. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle wird eine männliche Sichtweise vertreten: Dumme W.n werden von einem schlauen Dieb hereingelegt12; einer W. wird weisgemacht, ihr toter Ehemann habe den Besucher gebeten, ihm Geld, Kleider oder andere Wertsachen zu bringen (AaTh/ATU 1540: J Student aus dem Paradies [Paris]); eine widerspenstige Ehefrau verfolgt ihren Mann noch vom Grab aus mit ihrem Zank (AaTh 1365 F*: The Buried Wife; cf. AaTh/ ATU 1365 A⫺C: Die widerspenstige J Ehefrau). Typisch für den Eheschwank ist, daß W.n und W.r den Tod des Partners als Ende einer unglücklichen Ehe willkommen heißen (cf. AaTh/ATU 1354 A*: Widower’s Relief ) oder gar versuchen, ihn herbeizuführen. Schwänke, in denen Begräbnisse thematisiert werden, nehmen geschlechtsspezifische Formen an: Ist ein W.r der überlebende Partner, so artikuliert er
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Witwe, Witwer
Freude13, oder er hat Angst, daß die tote Frau zurückkehren könnte14, und trifft Vorsichtsmaßnahmen, indem er Felsbrocken auf ihr Grab legt15. W.n, die im Mittelpunkt solcher Schwänke stehen, wünschen sich eine Wiederverheiratung oder gehen respektlos mit der Leiche ihres Ehemanns um (AaTh/ATU 1510; AaTh/ATU 1350: Die rasch getröstete J W.). AaTh/ATU 65: J Freier der Frau Füchsin unterscheidet sich von den vorgenannten Erzählungen dadurch, daß der Wunsch nach Wiederverheiratung16 aus sexuellen Gründen in Form einer Tiererzählung exemplifiziert wird. Ein frühes Beispiel dafür bietet der J Roman de Renart (Branche Ib). Ein J Archie Armstrong zugeschriebenes engl. Schwankbuch des 17. Jh.s enthält ein Beispiel für W.n, die Scherze auf Kosten ihrer toten Ehemänner machen17. Brit. Flugblätter, Flugschriften und Schwanklieder stellen W.n als lüstern18, finanziell ausbeutbar19 oder diebisch dar20, die W.r als sexuell anfechtbar und leicht zu trösten21. In Sagen wird erzählt, daß Verstorbene versuchen, den überlebenden Gatten zu sich in den Tod zu holen (cf. AaTh/ATU 365: J Lenore). Die Wiederkehr der Toten (J Wiedergänger) löst im allg. Schrecken aus, doch können Verwitwete auch durch Besuche ihrer toten Partner getröstet oder sexuell befriedigt werden22. Im Märchen ist der W.nstand häufig die Ursache familiärer Armut, so in KHM 161, AaTh/ATU 426: J Mädchen und Bär, oder in einer griech. Var. des Märchens von den zwölf Monaten (einer Ausformung des J Wintergarten-Subtyps, cf. AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen), in dem zwei Frauen, eine arme tugendhafte W. mit fünf Kindern und eine geizige reiche Frau23, die Erzählrollen der guten und der schlechten Schwester einnehmen. Auch in Märchen, in deren Mittelpunkt gesellschaftlicher Aufstieg steht, wie in Fassungen von J Straparolas Pietro Pazzo (3.1), cf. AaTh/ATU 675: Der faule J Junge, und Costantino Fortunato (11.1), cf. AaTh/ ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater, ist W. gleichbedeutend mit verarmt. In der Märchenliteratur werden ältere Frauen häufig nicht explizit als W.n bezeichnet, obwohl es sich um solche zu handeln scheint. So ist in der Kinderlegende der Brüder J Grimm Das alte Mütterchen (num. 8) die titelgebende
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Figur eine traurige und einsame W. Die Großmutter in den Var.n von AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen bei J Perrault und Grimm ist offensichtlich eine W., ohne daß dies erwähnt würde. In J Basiles Sammlung wird nur einmal eine arme Frau W. genannt (3,10; AaTh/ ATU 480); selbst wenn sie Kinder, aber keinen Mann haben, werden für diese Frauen eher Bezeichnungen wie ,na vecchia pezzente‘ verwendet (4,4; AaTh/ATU 501: Die drei J Spinnfrauen). Andererseits sind bei Basile Männer ohne Ehefrau klar als W.r ausgewiesen (1,6 ⫽ AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella; 2,6 ⫽ AaTh/ATU 510 B: cf. Cinderella; 3,2 ⫽ AaTh/ ATU 706: J Mädchen ohne Hände). In den J Kinder- und Hausmärchen werden folgende Arten von W.rschaft vorgestellt: Ein W.r will nach dem Tod seiner Frau eine Ehe mit seiner Tochter eingehen (KHM 65, AaTh/ ATU 510 B; J Inzest); ein W.r mit Kindern heiratet eine kinderlose Frau (KHM 53, cf. AaTh/ATU 709: J Schneewittchen; KHM 47, cf. AaTh/ATU 720: J Totenvogel; KHM 11, AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen; KHM 15, AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel) oder eine J Mutter (AaTh/ATU 480). In Märchen, in denen sich W.r wieder verheiraten, werden sie oft als willensschwach und als zum Schutz ihrer Kinder ungeeignete J Väter dargestellt. Generell bedeutet die Wiederverheiratung einer W. oder eines W.rs für das Kind bzw. die Kinder (J Stiefmutter, Stiefkinder) häufig eine Verschlechterung der Situation oder eine Gefährdung (AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein; AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke). Es gibt auch Beispiele dafür, daß ein W.r den Tod seiner Frau nicht verschmerzen kann: Im J Kalevala verfertigt der verwitwete Schmied Ilmarinen eine goldene Figur seiner toten Frau (cf. J Pygmalion); in einer vergleichbaren Erzählung der nordamerik. Tlingit schnitzt ein W.r aus Holz ein Abbild seiner toten Frau, zieht ihm ihre Kleider an und behandelt es wie ein lebendes Wesen24. 1 Gerlitz, P.: Trauerkleidung und Trauermusik. In: TRE 24 (2002) 5 sq. ⫺ 2 Hartinger, W. u. a.: Trauer. In: LThK 10 (32001) 196⫺202, hier 197; Heller, B. u. ö.: Trauerbräuche. In: RGG 8 (42005) 557⫺ 563; Kruse, B.-J.: W. n. Kulturgeschichte eines Stan-
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Witwe von Ephesus
des in SpätMA. und Früher Neuzeit. B. 2007, 192. ⫺ 3 Henze, B.: W.nverbrennung. In: LThK 10 (32001) 1263 sq. ⫺ 4 Schöllgen, G.: W., ibid., 1261 sq. ⫺ 5 Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 231. ⫺ 6 cf. Doye´, F. von Sales: Heilige und Selige der röm.-kathol. Kirche, deren Erkennungszeichen, Patronate und lebensgeschichtliche Bemerkungen 2. Lpz. 1929, 905. ⫺ 7 Tubach, num. 1058. ⫺ 8 Moser-Rath, Predigtmärlein, 284 sq., 468 sq.; Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 1969, num. 56 (21984, num. 73); Tubach, num. 183. ⫺ 9 Chaucer, G.: Canterbury Tales 2. ed. A. W. Pollard. L. 1894, 1⫺51. ⫺ 10 Tubach, num. 4989, 5258. ⫺ 11 Tubach, num. 3180, 3181; cf. auch Sidney, J. H. H. (ed.): Early English Versions of the Gesta Romanorum. L. 1879, num. 44; cf. Waibel, M.: Die Sage vom festgenagelten Kleiderzipfel. In: Wir Walser 34,1 (1996) 43⫺59. ⫺ 12 Tauscher, R.: Märchen aus dem Jeyporeland. B. 1959, num. 66; Pires, A. T.: Contes populaires alentejanos. ed. M. F. Lages. Lissabon 1997, num. 27. ⫺ 13 EM-Archiv: HistorienSchreiber 3 (1729) 313, num. 8; Bienenkorb 6 (1771) 119, num. 157. ⫺ 14 Schmidt, L.: Wiener Schwänke und Witze der Biedermeierzeit. Wien 1946, num. 41; Tobler, A.: Appenzeller Witz. Heiden 1905; Neumann, S.: Plattdt. Schwänke. Rostock 1968, num. 277. ⫺ 15 EM-Archiv: Schreger, Zeit-Vertreiber (1754) 477, num. 34. ⫺ 16 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./ N. Y. 2008, 295 sq.; Die heiratslustige Witwe: ZDMG 106 N. F. 31 (1956) 327 sq., num. 6. ⫺ 17 EM 1, 751. ⫺ 18 Wehse, R.: Schwanklied und Flugblatt in Großbritannien. Ffm./Bern/Las Vegas 1979, num. 147, 174, 190, 237, 376, 492. ⫺ 19 ibid., num. 226, 239. ⫺ 20 ibid., num. 431. ⫺ 21 ibid., num. 183, 260. ⫺ 22 Karasek-Langer, A./ Strzygowski, E.: Sagen der Deutschen in Wolhynien und Polesien. Posen/Lpz. 1938, num. 340; cf. Peuckert, W.-E.: Hochwies. Göttingen 1959, num. 67. ⫺ 23 Megas, G. A.: Folktales of Greece. Chic. 1970, num. 39. ⫺ 24 Swanton, J. R.: Tlingit Myths and Texts. In: Bureau of American Ethnology. Bulletin 39 (1909) 181 sq.; Boas, F.: Tsimshian Mythology. In: Annual Report of the Bureau of American Ethnology 31 (1916) 27⫺881, hier 152⫺154.
Stony Brook, N. Y.
Ruth B. Bottigheimer
Witwe von Ephesus (AaTh/ATU 1510), internat. verbreitete Erzählung über menschliche, vor allem weibliche Unbeständigkeit (J Treue und Untreue)1, die bes. von E. Grisebach eingehend untersucht wurde2. Die titelgebende Version im Satyricon (110,6⫺113,2) des J Petronius (1. Jh. n. u. Z.) siedelt die Erzählung in
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Ephesus an; die zeitgenössische Fassung des J Phädrus ist kürzer und nicht lokalisiert3. Eine für ihre Tugendhaftigkeit bekannte Frau begleitet die J Leiche ihres Ehemanns in die Gruft (J Grab), wo sie in Begleitung einer Dienerin fastet und trauert. Ein Soldat, der in der Nähe bei einigen gekreuzigten Räubern Wache hält, bemerkt die Frauen. Er bietet ihnen zu essen an, was die W. zunächst ablehnt, dann jedoch auf Drängen der Dienerin annimmt (Phädrus: Er bittet die Magd um Wasser). Nach und nach gelingt es ihm, die trauernde W. zu verführen. Eines Nachts wird eine der Leichen, die der Soldat bewachen soll, von Angehörigen vom Kreuz abgenommen, um sie zu begraben (Phädrus: Eine Leiche ist verschwunden). Seiner Strafe sicher, beschließt der Soldat sich umzubringen (nicht bei Phädrus). Die W., die ihren Liebhaber nicht verlieren will, bietet ihm den Leichnam ihres Ehemanns als Ersatz für den verschwundenen Toten an.
Die Erzählung ist u. a. in mehreren frühen jüd. Quellen, so im Babylon. J Talmud (Kiddushin 80 b) und im Sepher Sha’shu’im des J Joseph ibn Sabara, überliefert4. Die in die breite J Romulus-Tradition (Romulus 3,9) eingegangene Version des Phädrus wurde zur Hauptquelle der zahlreichen ma. ⫺ lat. wie volkssprachlichen ⫺ Fassungen5, die gelegentlich Teile der Handlung variieren6. So ist so´ sope, num. 25) wohl bei J Marie de France (E als auch bei J Berechiah ha-Nakdan (Mishle Shu’alim, num. 80) der Mann, der sich der W. nähert, keine Wache, sondern der Dieb der Leiche, der befürchten muß, gefaßt und hingerichtet zu werden7. Darüber hinaus findet sich AaTh/ATU 1510 auch in Exempelsammlungen, so bei J Jacques de Vitry (num. 232), J E´tienne de Bourbon (num. 460) und in der Compilatio singularis exemplorum (fol. 142)8. In Deutschland wurde die Erzählung in Ulrich J Boners Edelstein (num. 57) und in J Gerhards von Minden Wolfenbütteler Äsop (num. 51) aufgenommen. Neuerlich im 15. Jh. durch die wirkmächtige Slg des Heinrich J Steinhöwel (num. 49) europaweit popularisiert, wurde sie im 16. Jh. u. a. von Jakob J Ayrer, Johannes J Pauli, Hans J Sachs und im jüd. J Ma’assehbuch (num. M 108) aufgegriffen9; im 17. Jh. führen sie der protestant. Geistliche Johannes J Stieffler10 und der jesuit. Pater Conrad Purselt11 an. In westl. Redaktionen der J Sieben Weisen Meister sowie in den J Gesta Romanorum wird die als Vidua bekannte Erzählung im rit-
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Witwe von Ephesus
terlichen Umfeld angesiedelt und als Beleg für die Treulosigkeit der Frauen erzählt12. Ein Ritter stirbt aus Verzweiflung, nachdem er seiner Frau eine geringfügige Verletzung zugefügt hat. Die Wache, ein anderer Ritter, ist damit einverstanden, die W. zu heiraten, wenn sie sich des Problems der fehlenden Leiche (am Galgen) annimmt. Die W. hängt die Leiche ihres Ehemanns selbst an den Galgen und schändet sie noch weiter, indem sie ihr eine Kopfwunde zufügt, die der des Gehenkten gleicht. Aus demselben Grund bringt der Ritter sie dazu, ihrem Mann die Zähne auszuschlagen. Daraufhin weigert er sich allerdings, sie zu heiraten, um später nicht selbst so behandelt zu werden (AaTh 1352*: The Woman’s Coarse Act).
Viele dieser charakteristischen Details sind in J Johannes Gobis Scala coeli (num. 520.12) sowie im J Novellino (num. 59) und anderen ital. Texten erhalten, so etwa bei Carlo J Casalicchio (1, num. 32)13. Eine spezifisch westeurop. Form stellt der Schwank vom ,hölzernen Johannes‘ dar, der erstmals 1526 in engl. Sprache nachgewiesen ist; weitere Belege für diese Fassung, so bei Hans Wilhelm J Kirchhof oder Christian Fürchtegott J Gellert, stammen meist aus Deutschland14. Eine W. liebt ihren verstorbenen Mann Johannes so sehr, daß sie nachts mit einem hölzernen Ebenbild von ihm schläft. Ein Lehrling, der die W. heiraten möchte, nimmt den Platz der Holzfigur ein und verführt die Frau. Als am nächsten Morgen Feuerholz fehlt, beschließt die W., die nun nutzlose Figur zu verbrennen.
Die Version des Petronius scheinen unter den ma. Bearbeitern von AaTh/ATU 1510 nur Johannes von Salisbury (Policraticus 8,11 [1159])15 und Giovanni J Sercambi (num. 12)16 gekannt zu haben. In der Zeit nach der Einführung des Buchdrucks wurde das Satyricon sehr für seinen zynischen, witzigen Stil geschätzt, und Petronius’ W. von E. fand großen Anklang bei weltlichen Autoren. Unter den frühen dramatischen Bearb.en sind die Tragikomödie L’Ephe´sienne (1614) von Pierre Brinon sowie mehrere Stücke von J Lessing zu nennen17. J La Fontaine (Contes 5,6 [1682]) setzte die Geschichte in Verse18. Im 20. Jh. wurde sie u. a. von Hermann J Hesse nacherzählt19 und von Jean Cocteau (L’E´cole des Veuves, 1936) sowie Christopher Fry (A Phoenix Too Frequent, 1946) für die Bühne bearbeitet20.
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Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 1510 mehrfach im Vorderen Orient (jüd., arab.) aufgezeichnet worden21, anderswo sind die Belege eher spärlich22. Häufig zeigt sich eine Nachwirkung von Details aus der Fassung der Sieben Weisen Meister, in der die Frau den Leichnam ihres Mannes verstümmelt23. Versionen aus dem Vorderen Orient, darunter die Fassung in G. Weils erw. Übers. von J Tausendundeine Nacht24, erscheinen manchmal innerhalb einer Rahmenerzählung über König J Salomo25. In einer slovak. Var. holt der Teufel die treulose W.26; in einem ir. Text wetten zwei Männer darum, wer in der Lage ist, die neben dem Grab ihres Mannes trauernde W. zu verführen27. Die Tradierung der Erzählung verlief stärker über schriftl. Fassungen als über mündl. Var.n. In der Diskussion über den Ursprung der Erzählung spielt u. a. eine chin. Erzählung aus dem Chin-ku ch’i-kuan ([Wunderbare Geschichten aus alten und neuen Zeiten] 15./ 16. Jh.) eine Rolle, die zum Unfeld von AaTh/ ATU 1350: Die rasch getröstete J Witwe gehöret28. Grisebachs Plädoyer für eine ind. Quelle basiert auf einer sehr frühen hypothetischen Datierung der chin. Erzählung29. Auch die misogyne Bewertung der Figur der W. wurde als Argument für einen oriental. Ursprung der Erzählung herangezogen30. AaTh/ATU 1510 wurde auch als entfernt verwandt mit AaTh/ATU 65: J Freier der Frau Füchsin angesehen. Hinsichtlich einer möglichen Quelle von Petronius31 verwies B. E. J Perry auf eine ähnliche schwankhafte Erzählung, die er Demetrius von Phaleron (ca 300 v. u. Z.) zuschrieb32: Ein Pflüger nähert sich einer am Grab ihres toten Gatten trauernden Frau. Um ihre Sympathie zu erlangen, behauptet er, seine Frau sei kürzlich gestorben, und kann so die W. verführen. Unterdessen kommt ein Dieb und stiehlt ihm seine Ochsen. Daraufhin bricht er in laute Klagen aus. Die Frau fragt nach der Ursache, worauf er antwortet: „Nun habe ich wirklich einen Grund zu weinen!“
Das Bild der W., die sich zuerst am Grab ihres Mannes verführen läßt und ihren Verführer dann aktiv unterstützt, wird oft mit Verständnis betrachtet33. Schon Walter Charleton verteidigte in seiner Prosabearbeitung The Ephesian Matron (1659) das Recht der Frau,
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Witwe: Die rasch getröstete W.
ihrem Instinkt zu folgen34. Nach M. Bachtin verdeutlicht die Erzählung den Triumph des Lebens über den Tod35. 1 Frenzel, Stoffe (81992) 834⫺837. ⫺ 2 Grisebach, E.: Die Wanderung der Novelle von der treulosen Wittwe durch die Weltlit. B. 21889, 39⫺52; id.: Die treulose W. Eine chin. Novelle und ihre Wanderung durch die Weltlit. Stg. 1873 (31887). ⫺ 3 Babrius/ Phaedrus, num. 543; Perry, num. 543. ⫺ 4 Schwarzbaum, Fox Fables, 398⫺402; Bin Gorion, M. J.: Mimekor Israel. ed. D. Ben-Amos. Bloom. 1990, num. 205. ⫺ 5 Äsop/Holbek, num. 82; Thiele, G.: Der lat. Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Heidelberg 1910, num. 59; Huber, G.: Das Motiv der „W. von E.“ in lat. Texten der Antike und des MA.s. Tübingen 1990, 83⫺115, 197⫺201. ⫺ 6 Grisebach 1889 (wie not. 2) 39⫺52; Jussen, B.: Der Name der W. Göttingen 2000, 280⫺298. ⫺ 7 Runte, H. R.: „Alfred’s Book“, Marie de France and the „Matron of Ephesus“. In: Romance Philology 36,4 (1983) 556⫺564; Schwarzbaum, Fox Fables, 394⫺ 417. ⫺ 8 Tubach, num. 5262; Huber (wie not. 5) 116⫺148, 202 sq. ⫺ 9 Belege bei Pauli/Bolte, num. 752. ⫺ 10 Rehermann, 148, 436, num. 32. ⫺ 11 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 132. ⫺ 12 Huber (wie not. 5) 151⫺186; Grisebach 1889 (wie not. 2) 52⫺76; Chauvin 8, num. 93; Campbell, K.: The Seven Sages of Rome. Boston 1907, 96⫺104; Runte, H. R.: The Matron of E. The Growth of the Story in the Roman des Sept Sages de Rome. In: Niedzielski, H./Runte, H. R./Hendrickson, W. L. (edd.): Studies on the Seven Sages of Rome. Honolulu 1978, 109⫺118; Runte, H. R.: Variant Widows. On Editing and Reading „Vidua“. In: Medieval Codicology, Iconography, Literature, and Translation. Festschr. K. Val Sinclair. Leiden 1994, 240⫺247. ⫺ 13 Grisebach 1889 (wie not. 2) 90⫺96; Rotunda K 2213.1; Köhler/Bolte 2, 564, 583 sq. ⫺ 14 Zall, P. M. (ed.): A Hundred Merry Tales. Lincoln, Nebr. 1963, num. 100; Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 348; Ranke, K.: Der „Hölzerne Johannes“. Eine westeurop. Redaktion der „Matrone von E.“ In: Rhein. Jb. für Vk. 4 (1953) 90⫺114; Dekker/van der Kooi/Meder, 165⫺168. ⫺ 15 Corbett, P. B.: Petronius. N. Y. 1970, 121⫺128; Grisebach 1889 (wie not. 2) 76⫺ 101. ⫺ 16 Schenda, R.: Märchen aus der Toskana. MdW 1966, num. 4. ⫺ 17 Grisebach 1889 (wie not. 2) 76⫺128. ⫺ 18 Colton, R. E.: The Story of the Widow of Ephesus in Petronius and La Fontaine. In: id.: Studies of Classical Influence on Boileau and La Fontaine. Hildesheim 1996, 125⫺144. ⫺ 19 Shojaei Kawan, C.: Erzähler und Erzähltes um Neunzehnhundert. Volkskundliche Impressionen bei Hermann Hesse. In: Fabula 32 (1991) 216⫺233, hier 230. ⫺ 20 cf. ferner Gelzer, F.: „Man setze sich nur an die Stelle der Matrone! Man wird nichts Unnatürliches finden.“ Zur Rezeption der W. von E. im 20. Jh. In: Germanistik in der Schweiz 2 (2003) (Online-Zs.). ⫺ 21 Schwarzbaum, Fox Fables, 403⫺407; El-Shamy, Types. ⫺ 22 van der Kooi; Liungman, Volksmärchen;
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Cardigos; MNK; Jason, Types; Eberhard/Boratav, num. 278; Krzyz˙anowski; Kerbelyte˙. ⫺ 23 Brandon, E.: Le Sort d’un conte. In: Laographia 22 (1965) 37⫺41; Schwarzbaum, Fox Fables, 403⫺407; De´gh, L.: Folktales and Society. Bloom. 1969, num. 72; Thompson/Roberts; Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 64; Rittershaus, A.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle 1902, num. 110. ⫺ 24 Marzolph/van Leeuwen 1, 394⫺396, num. 443; Grisebach 1889 (wie not. 2) 72⫺74. ⫺ 25 Schwarzbaum, Fox Fables, 404⫺406; Nowak. ⫺ 26 Polı´vka 3, num. 57. ⫺ 27 Be´aloideas 35⫺36 (1967/68) 232 sq., 372, num. 41. ⫺ 28 Grisebach 1873 (wie not. 2) 1⫺ 36. ⫺ 29 Hansen, W. F.: Ariadne’s Thread. Ithaca 2001, 278, not. 10; Benfey 1, 460 sq. ⫺ 30 Liungman, Volksmärchen, 300; Espinosa, A. M.: Las fuentes orientales del cuento de la Matrona de Efeso. In: Boletı´n de la Biblioteca Mene´ndez y Pelayo 16 (1934) 489⫺500; cf. Espinosa, num. 93. ⫺ 31 Dacier, M.: Examen de l’histoire de la Matrone d’E´phe`se. In: Me´moires de litte´rature 41 (1780) 523⫺545; Corbett (wie not. 15) 121 sq. ⫺ 32 Perry, B. E.: Demetrius of Phalerum and the Aesopic Fables. In: Transactions and Proc. of the American Philological Assoc. 93 (1962) 287⫺346, hier 329 sq.; cf. Schwarzbaum, Fox Fables, 407 sq. ⫺ 33 Strunz, F.: „Wie untreu war die W. von E.?“ In: Gymnasium 108 (2001) 439⫺449; Ure, P.: Elizabethan and Jacobean Drama. Liverpool 1974, 221⫺236. ⫺ 34 Huber (wie not. 5) 187⫺190. ⫺ 35 Bakhtin, M. M.: The Dialogic Imagination. Austin 1961, 221⫺224; cf. Conte, G. B.: The Hidden Author. Berk. u. a. 1997, 104⫺ 109; McGlathery, D.: Petronius’ Tale of the Widow of Ephesus and Bakhtin’s Material Bodily Lower Stratum. In: Arethusa 31 (1998) 313⫺336.
Los Angeles
Christine Goldberg
Witwe: Die rasch getröstete W. (AaTh/ATU 1350), misogyner Schwank, der ähnlich wie AaTh/ATU 1510: J W. von Ephesus weibliche Gefühllosigkeit und Unbeständigkeit thematisiert. Ein Mann beschließt (auf den Rat eines Freundes), die Liebe bzw. J Treue seiner Frau zu erproben (wettet, daß seine Frau ihm über den Tod hinaus treu sein werde): Er stellt sich J tot (der Freund oder ein Diener berichtet der Frau, daß der Mann gestorben ist) und muß mitansehen, wie schnell das erotische Interesse an einem anderen Mann (meist dem Unglücksboten) ihre Erinnerung an ihn auslöscht. Wieder ,lebendig‘ geworden, beschämt (verprügelt) er sie.
Das Motiv der Frau, die sich schnell einem anderen Mann zuwendet, findet sich bereits im ma. Yvain-Roman bei J Chre´tien de Troyes und J Hartmann von Aue (J Iwein): Lau-
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dine, die Brunnenfee, heiratet Yvain, der gerade ihren ersten Mann erschlagen hat. Hier handelt es sich jedoch um einen Akt der Vernunft: Laudine braucht einen Ritter, der ihre Quelle gegen Angreifer verteidigt1. Die Flatterhaftigkeit einer rasch getrösteten W. wird ihr nicht zum Vorwurf gemacht2. Das gleiche gilt für die Königstochter, die den Mann heiratet, der ihren Verlobten im Zweikampf getötet hat3. Die Hochzeit von J Hamlets Mutter mit ihrem Schwager Claudius weniger als zwei Monate nach dem Tod ihres Mannes mag ähnliche Gründe haben, wird von ihrem Sohn aber als Beweis weiblicher ,Schwachheit‘ verurteilt4. Seit J Poggio (num. 116) ist ein Schwank belegt, in dem die Gefühllosigkeit der Frau wie in AaTh/ATU 1350 dargestellt ist, ihre Schwäche jedoch verzeihlich erscheint5: Ein Mann stellt sich tot, um die Reaktion seiner Frau zu beobachten. Sie will erst etwas trinken (ißt Wurst, die sie durstig macht), ehe sie Hilfe ruft, aber auf dem Weg in den Keller wird sie von einer Nachbarin gestört und sie weint und klagt dann so lange, bis ihr Mann sie auffordert, doch endlich ihren Durst zu löschen.
Bedenklicher ist der Geiz einer Frau, die kein Hemd an ihren ,toten‘ Mann verschwenden will und den Leichnam in ein Fischernetz wickelt (u. a. Girolamo J Morlini, num. 23; J Philippe de Vigneulles, num. 83) bzw. ihn in eine Sauhaut einnähen läßt (Hans J Sachs)6. Die Altersstruktur der Bevölkerung in MA. und früher Neuzeit (vom späten 16. bis zur Mitte des 19. Jh.s lag der Anteil der über 60jährigen überall in Europa bei 10 % oder darunter7) machte es eher unwahrscheinlich, daß Ehepartner gemeinsam alt werden konnten. Männer oder Frauen, die ein hohes Alter erreichten, heirateten meist zweimal oder öfter. Da Ehen oft aus wirtschaftlichen Erwägungen geschlossen wurden, waren wohlhabende W.n für jüngere Männer (z. B. Handwerksgesellen, die durch Heirat mit der W. des Meisters selbst Meister werden konnten) durchaus attraktiv. Der Einschätzung des hl. J Hieronymus über die ,mannsüchtigen‘ W.n („Vix effertur maritus e domo, jam alium cogitant in corde suo“)8 folgend, finden sich in Exempelsammlungen und Schwankbüchern der frühen Neuzeit zahlreiche Beispiele für W.n, die noch vor dem Begräbnis ihres Mannes an die Wieder-
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verheiratung denken. Die Gleichgültigkeit, mit der W.n auf den Tod ihres Mannes reagieren, verbindet diese meist sehr kurzen Texte mit AaTh/ATU 1350: Eine W. weint, weil ihr Mann nicht gestorben ist, als sie noch attraktiver war9; eine andere möchte schon am Begräbnistag das Lager des Knechts teilen10; eine dritte, die ihren Mann in der Osterwoche verloren hat, bedauert, daß vor den Feiertagen das Heiraten nicht möglich sei11; Fulvia scheint bei der Leichenfeier ihres Gatten ganz verzweifelt, dennoch nimmt sie den Heiratsantrag eines vornehmen Römers an12. Der Knecht (Geselle), der nach der Bestattung seines Herrn um die Hand der W. anhält, kommt zu spät: Sie hat sich schon mit einem anderen verlobt13. Den Ehemann, der seine Frau auf dem Totenbett bittet, den Nachbarn (Freund, mit dem er sich überworfen hatte) nicht zu ihrem zweiten Gatten zu wählen, kann sie beruhigen: Sie ist schon einem anderen versprochen14 (sie erklärt einem anderen Bewerber, ihren zweiten Gatten habe sie noch zu Lebzeiten des ersten ausgewählt15). Rät der Ehemann auf dem Totenbett16 oder die Nachbarin17 der W. zur Heirat mit dem Knecht (reicher junger Mann18), gesteht die Frau, selbst schon an diese Möglichkeit gedacht zu haben.
Eine weitere literar. Var. von AaTh/ATU 1350 ist im Spanien des 16. Jh.s belegt19. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde die Erzählung in weiten Teilen Europas20, in Asien und vereinzelt in Nord-, Mittel- und Südamerika sowie in Nord- und Zentralafrika aufgezeichnet. In einer schott. Var. schlägt die Frau ihren Mann im Streit nieder und glaubt, ihn getötet zu haben. Als sie später mit ihrem Liebhaber die Totenwache halten will, wirft der wieder zu Bewußtsein gekommene Mann diesen hinaus (tötet die Ehebrecher)21. Anklänge an diese Fassung finden sich in der Komödie In the Shadow of the Glen des Iren John Millington Synge (1903)22. In Spanien begegnet AaTh/ATU 1350 in Kombination mit einer Variation von ATU 1354 C*: Seemingly-Dead Woman Returns to Life. Um die Liebe seiner Frau zu erproben (weil er sich über sie geärgert hat), stellt sich ein Mann tot; er erwacht wieder zum Leben, als der Sarg unter Kastanienbäumen vorbeigetragen wird (verprügelt seine Frau, weil sie keine Tränen für ihn hatte und eine Nachbarin als Klageweib engagieren mußte). Als er später wirklich stirbt, fordert die Frau die Sargträger auf, sich von den Kastanienbäumen fernzuhalten23.
Die Erprobten in AaTh/ATU 1350 sind in der Regel Frauen. Vergleichbare Beispiele für
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männliche Unbeständigkeit aus älterer Zeit sind weniger zahlreich (AaTh 1534 C*/ATU 1534 Z*: Other Absurd Decisions, burleske Var.n von AaTh/ATU 899: J Alkestis24). Das männliche Pendant zur rasch getrösteten W. ist Wilhelm J Buschs Sauerbrod, der den Tod seiner Frau mit einem Punschgelage feiert, ehe ihn bei der Auferstehung der Scheintoten der Schlag trifft25. Vom eng verwandten Erzähltyp AaTh/ATU 1510 unterscheidet sich AaTh/ATU 1350 dadurch, daß der Tod des Ehemanns vorgetäuscht ist und die Ehefrau nicht daran denkt, die Leiche zu schänden. Aus China ist allerdings eine (besser zu AaTh/ATU 1350 zu stellende) Mischversion bekannt, die über eine im 4. Jh. p. Chr. n. lebende Person erzählt wird und in zwei Versionen vorliegt26: Um seine Frau (die sich darüber empört hat, daß eine W. das unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes abgelegte Treueversprechen zu umgehen suchte) auf die Probe zu stellen, täuscht ein weiser Mann seinen Tod vor; einer seiner Freunde gewinnt ohne Schwierigkeit die Zuneigung der ,W.‘ (Mot. H 492.2). Um ihn von einer vorgetäuschten Krankheit zu heilen, ist die W. bereit, dem Leichnam ihres Mannes die Nase abzuschneiden (seinen Schädel zu spalten, um aus dem Gehirn eine Arznei zu bereiten). Nachdem der Ehemann zu erkennen gegeben hat, daß er noch am Leben ist, bringt sich die Frau um.
Auf diese Erzählung, die seit dem 18. Jh. auch in Europa belegt ist, hat u. a. J Voltaire in Zadig (1747) zurückgegriffen. Bei ihm folgt die W., die sich zum Weiterleben entschließt, der menschlichen Natur: Die W.nverbrennungen in ,Arabien‘ hören auf, sobald W.n, die ihrem Mann in den Tod folgen wollen, gesetzlich verpflichtet werden, vorher eine Stunde lang unter vier Augen mit einem jungen Mann zu sprechen. Anders behandelt der moderne Witz das Thema: Eine Ehefrau fragt ihren Mann, ob er wieder heiraten werde, falls sie plötzlich sterben sollte. Er weist den Gedanken zunächst von sich; als sie insistiert, räumt er die Möglichkeit ein und gibt zu, daß er auch mit seiner zweiten Frau im Ehebett schlafen, nach Venedig fahren, ihr vielleicht Kleider der Vorgängerin überlassen würde etc. Als seine Frau schließlich fragt, ob die Nachfolgerin auch ihre Golfschläger würde benutzen dürfen, antwortet er gedankenlos: „Nein, sie ist Linkshänderin!“27
Angesichts der heutigen Lebenserwartung scheint die Sorge der Frau, sie könne jung ster-
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ben, wenig fundiert. Die Pointe liegt darin, daß ihre insistierenden Fragen eine ebenso überraschende wie unerwünschte Entdeckung nach sich ziehen: Der Ehemann würde sich nicht nur gegenüber der Toten pietätlos verhalten, er betrügt auch die Lebende (zumindest in Gedanken). 1 cf. Gier, A.: Chre´tien de Troyes. Die Geburt des Romans aus dem Geist der Ironie. In: Müller, U./ Wunderlich, W. (edd.): Künstler, Dichter, Gelehrte. Konstanz 2005, 261 sq. ⫺ 2 Roques, M. (ed.): Les Romans de Chre´tien de Troyes. 4: Le Chevalier au lion (Yvain). P. 1970, V. 1809⫺1812. ⫺ 3 cf. z. B. Die Saga von Damusti. In: Glauser, J./Kreutzer, G. (edd.): Isl. Märchensagas. Mü. 1998, 340. ⫺ 4 Shakespeare, W.: Hamlet, Prince of Denmark. ed. P. Edwards. Cambridge 1985, 89, V. 138. ⫺ 5 Moser-Rath, Schwank, 405, 456; Pauli/Bolte 2, num. 751; DBF A 2, 168 sq. ⫺ 6 Hans Sachs: Werke 14. ed. A. von Keller/E. Goetze. Tübingen 1862, 320⫺332; cf. Schwarzbaum, H.: Female Fickleness in Jewish Folklore. In: Ben-Ami, I. (ed.): The Sepharadi and Oriental Jewish Heritage. Jerusalem 1982, 601 sq. (jüd. aus Afghanistan). ⫺ 7 cf. Ehmer, J.: Altersstruktur. In: Enz. der Neuzeit 1. ed. F. Jaeger. Stg./Weimar 2005, 268. ⫺ 8 EM-Archiv: Conlin, Narrn-Welt 6 (1710) 341 sq. ⫺ 9 ibid. ⫺ 10 Moser-Rath, Schwank, 406, 456. ⫺ 11 EM-Archiv: Zincgref/Weidner 4 (1655) 193; cf. auch Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num. 275. ⫺ 12 Rehermann, num. 31; EM-Archiv: Gepflückte Fincken (1667) 164, num. 174; Kurtzweiliger Zeitvertreiber (1685) 383 a. ⫺ 13 Bebel/Wesselski, num. 71; Kirchhof, Wendunmuth 1, num. 346; Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 63. ⫺ 14 Schwarzbaum (wie not. 6) 602; EM-Archiv: Harpagiander, Lexicon (1718) 384, num. 1905; Bienenkorb 6 (1771) 151, num. 214. ⫺ 15 EM-Archiv: Hilarii Jocoseria (1659) 214, num. 473; Fasciculus facetiarum 7 (1670) 193, num. 21; Kurtzweiliger Zeitvertreiber (1685) 383 sq.; Hanß-Wurst (1712) 192 sq., num. 365; Historien-Schreiber 3 (1729) 360 sq., num. 38. ⫺ 16 Ruppel, H./Häger, A.: Der Schelm im Volk. Einige Schock Schwänke, Schnurren und Schelmereien. Kassel 31952, 261; EM-Archiv: Vademecum 3 (1786) 175 sq., num. 234. ⫺ 17 Rehermann, num. 29, 273 sq. ⫺ 18 Moser-Rath, Schwank, 406. ⫺ 19 Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 116. ⫺ 20 cf. z. B. ibid.; Espinosa 2, 356; De´gh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962, 349⫺355. ⫺ 21 Shaw, M. F.: Folksongs and Folklore of South Uist. L. 1955, 60 sq. ⫺ 22 cf. ferner Caryl Churchills Schauspiel „Fen“ (1983). ⫺ 23 Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, 291⫺293; cf. Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales de Leo´n 2. Madrid 1991, num. 190; Moser-Rath, Predigtmärlein, 452 sq. (Var. von ATU 1354 C*). ⫺ 24 Aurelio Aurelis Libretto „L’Antigona
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delusa d’Alceste“ (Musik Pietro Andrea Ziani, Venedig 1660); cf. Woyke, S. M.: Pietro Andrea Ziani. Varietas und Artifizialität im Musiktheater des Seicento. Ffm. 2008; Joseph Richters komisches Singspiel „Die travestierte Alceste“ (1802). In: Schondorff, J. (ed.): Alkestis. Euripides ⫺ Gluck ⫺ Wieland ⫺ Richter ⫺ Hofmannsthal ⫺ Lernet-Holenia ⫺ Wilder. Mü./Wien 1969, 177⫺220. ⫺ 25 Busch, W.: Die Bildergeschichten. Hist.-kritische Gesamtausg 2. Bearb. H. Ries. Hannover 2002, 664⫺669. ⫺ 26 Grisebach, E.: Die Wanderung der Novelle von der treulosen W. durch die Weltlit. B. 21889, 17⫺26; Espinosa 2, 360⫺364; cf. Schwarzbaum (wie not. 6). ⫺ 27 Archiv Gier (aufgezeichnet 2002).
Bamberg
Albert Gier
Witz 1. Definition ⫺ 2. Klassifizierungsversuche ⫺ 3. Theorien ⫺ 4. Struktur und Technik ⫺ 5. Inhalte, Kategorien ⫺ 6. Funktion ⫺ 7. Erzähler und Zuhörer
1 . D ef in it io n. Der dt. Begriff W. gehört zum Wortfeld von ,wissen‘. Mhd. ,witze‘ meint Verstand, Wissen, Klugheit, Weisheit. Ende des 17. Jh.s erlangte der Begriff die allg. Bedeutung ,Geistreiches‘; W. galt nun analog zu engl. wit und frz. esprit „als Grundzug des literarischen und künstlerischen Produzierens“1. Erst seit dem 19. Jh. erlangte der W. als Textgattung seine heutige Bedeutung. Der W. ist eine dem Komischen (J Komik, J Humor) zuzurechnende Textgattung. W.e sind kurze Erzählungen, die in einer J Pointe kulminieren und damit enden; sie zeichnen sich durch sprachliche J Prägnanz, Zuspitzung und relative textliche J Stabilität aus. W.e sind zweiteilig: Die erzählerische Konstituierung der Handlungsumstände bzw. der handelnden Person oder Personen mündet in einen Überraschungseffekt, die Pointe. Wie Märchen und Fabel neigt auch der W., allerdings in geringerem Maße, zur J Abstraktheit. Im Unterschied zu anderen Erzählgenres ist er durch einen hohen Grad von J Rationalisierung charakterisiert. Stark ausgeprägt sind auch die J Realitätsbezüge, die sich weithin mit den Unzulänglichkeiten der sozialen Umwelt beschäftigen. Einerseits zeigt sich eine Auseinandersetzung mit der Realität bes. bei klerikalen, sexuellen und politischen W.en2; Tierwitz3 und surrealistischer W.4 können bis
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ins Irreale oder Absurde übersteigert sein (J Absurdität). Andererseits zeigen W.e auch ein gewisses Maß an J Fiktionalität, ebenso wie eine Vorliebe für J Extreme (J Übertreibung). Anonym ist der W. insofern, als sich selbst bei aktuellen Themen der Weg zum Urheber kaum je zurückverfolgen läßt. Gemeinhin zum W. gerechnet wird die J Scherzfrage5. Die Grenze zwischen dem W. und anderen komischen Textgattungen wird unterschiedlich definiert. L. J Röhrich etwa rechnet in seiner umfassenden Monogr. zum Witz ⫺ der bisher internat. einzig existenten ⫺ selbst Schüttelreim, Limerick und J Wellerismus mit zu den W.en6. Dem W. wohl am engsten verwandt ist die J Anekdote; deren Handlungsträger sind jedoch reale hist. oder lebende, meist bekannte Personen. Dies gilt gleichermaßen für das J Bonmot, das auch als abschließende Bemerkung einer Anekdote fungieren kann. In bezug auf die zweigliedrige Struktur des W.es liegt eine Übereinstimmung mit dem J Apophthegma vor. J Nonsens wird von R. Hildebrandt als pointeloser W. bezeichnet7. Im Gegensatz dazu könnte man die J Parodie als eine einzige, durchgängige Pointe bezeichnen. Das J Rätsel hat zwar die abschließende Pointe mit dem W. gemeinsam; dafür fehlt ihm im allg. das komische Element. Andere Erzählgattungen haben im Laufe ihrer Tradierung gelegentlich witzige Abwandlungen ausgebildet oder sind gar zu W.en geworden. So kann etwa das J Sprichwort zum Antisprichwort mit Pointe werden8. Die im 17./18. Jh. vorherrschende J Fazetie wird allg. als hist. Vorläufer des W.es gesehen. Übergänge vom J Schwank zum W. werden fließend, wenn die epische Breite des Schwanks verknappt wird. Eine strukturelle Ähnlichkeit besteht auch zu Epigramm (J Spruch, Spruchdichtung) oder Aphorismus, im Bereich des Musikalischen zu Schnaderhüpfl bzw. Gstanzl sowie, als performativ konkretisiertem W., zum Streich. Eine Überblicksdarstellung zur hist. Entwicklung des W.es ist nach wie vor ein Desiderat. In der Erzählforschung wird der W. oft als Phänomen der Moderne angesehen: Im Gegensatz zu anderen narrativen Gattungen, bes. dem älteren Schwank9, reflektiere er durch seine zuspitzende, prägnante Kürze10 die gefühlte Verknappung der Zeit, spiegele sozusagen die gesteigerte Schnellebigkeit der Gesell-
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schaft. Dem steht der Nachweis von W.en seit der griech. Antike gegenüber. Viele der antiken Apopthegmata sind W.e im heutigen Sinne, so etwa die Aussprüche des Kynikers J Diogenes bei Diogenes Laertius. Aus der Spätantike ist mit dem J Philogelos eine umfangreiche W.sammlung überliefert11. Außerhalb des abendländ. Kulturkreises sind ebenfalls schon früh Texte dokumentiert, die der heutigen Definition von W. entsprechen, so etwa in der klassischen arab. Lit. (8.⫺13. Jh.)12. In den meisten Fällen ist dabei, wie heute, die Pointe älter als der an kulturelle bzw. soziale Gegebenheiten jeweils neu angepaßte Inhalt13. 2 . K la ss if iz ie ru ng sv er su ch e. Die gängigen Nachschlagewerke der hist. und vergleichenden Erzählforschung, AaTh/ATU und Mot., tragen aus wiss.shist. Gründen dem W. sowohl quantitativ als auch analytisch nur unzureichend Rechnung (J Anordnungsprinzipien). Unter den zahlreichen regionalen Typen- und Motivkatalogen gewichten lediglich einige die Gattung stärker14. Die im Rahmen der volkskundlichen Erzählforschung vorgelegten Klassifizierungsversuche gelten weitgehend allg. der Komik15: E. J Moser-Rath hat die von ihr exzerpierten 18000 Belege zu Schwank und W. des 16.⫺18. Jh.s programmatisch nach folgenden Kategorien gruppiert: Verhaltensweisen bzw. J Charaktereigenschaften; Lebenslauf und Familienleben; Sozialkritik in Standes- und Berufsgruppen bzw. Arbeitsleben16. Eine von Röhrich vorgelegte Klassifizierung orientiert sich ebenfalls an pragmatisch definierten Kriterien: W.personen; wirkliche oder fiktive W.produzenten; signifikante Inhalte und Bezüge (z. B. politische W.e); charakteristische Technik, Form, Struktur; Wirkung (z. B. Ekelwitze); Ethnien oder Regionen; Tendenzen (z. B. antiklerikaler W.); Geschehnisorte und Schauplätze17. Eine weitere Klassifizierung Röhrichs orientiert sich an der Art des jeweils im W. behandelten J Konflikts: Sprechnorm; Logik; Realität; Moral; Geschlechterverhältnis; menschliche Schwächen; soziale Problematik; politische, ethnische, konfessionelle Problematik18.
3 . The or ie n. A. J Jolles zählt den W. zu den J einfachen Formen. Seine auf Europa und eine bestimmte Zeitspanne beschränkte Theorie wurde von K. J Ranke ins Globale, Kulturunabhängige und Zeitlose erweitert19; damit wäre der W. aufgrund seiner ubiquitären Existenz als narrative Gattung eine J Universalie20. Mit dem Theorie-Konzept der J
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Schwundstufe verwies Ranke darauf, daß es bei der Entwicklung von ernsthaften Erzählungen in die Gattungen Schwank und W. zu Profanierung, Nivellierung, Degradierung und Substanzverlust komme. Röhrich argumentiert hierzu, daß derartige Veränderungen der Preis für die lange J Kontinuität einer Überlieferung sei, die wertfrei betrachtet werden müßten21. Die psychoanalytischen W.theorien S. J Freuds hatten großen Einfluß auf die Interpretation der Gattung. In seinem Werk Der W. und seine Beziehung zum Unbewußten (Lpz./ Wien 1905) betonte Freud die Parallelen zwischen der J Traum- und der W.arbeit. Den meisten W.en liege ein unterdrückter Gedanke obszöner, aggressiver, zynischer oder skeptischer Tendenz zugrunde. Wenn sich der verbotene, der J Zensur unterliegende Gedanke plötzlich Ausdruck verschaffe, entlade sich der ersparte Hemmungs- oder Unterdrückungsaufwand im J Lachen und erzeuge Lustgewinn. Der W. hat also „soziale wie psychische Ventilfunktionen“22. Namhafte Vertreter der freudianischen Interpretation sind bes. die nordamerik. Erzählforscher A. J Dundes23, E. Oring24 und G. A. Fine25. W. R. Schweizers induktive Methode fordert, die Erforschung des W.es habe von der empirischen Unters. des zeitlosen Phänomens der Komik auszugehen, genauer vom komischen Erlebnis, das zwischen den Polen erlebendes Subjekt und Objekt angesiedelt sei26. 4 . S tr uk tu r u nd Te ch ni k. Wenngleich W.e im allg. aus zwei relativ knappen Teilen bestehen, gibt es auch Fälle, in denen die Zuhörer durch wortreiche Abschweifungen genarrt werden und auf die Pointe lange warten müssen. Immer aber befolgt der W. das J epische Gesetz des J Achtergewichts. Der moderne W. ist durch zunehmende Verknappung gekennzeichnet27. Nach H. J Bausinger schrumpft in solchen Texten das Epische und wird derart stark auf die Pointe ausgerichtet, daß W.e fast zur Sprachformel werden28. P. Wenzel hat die Bedeutung von J Symmetrie, Asymmetrie und Integration für den zweiphasig strukturierten Pointeneffekt speziell im W. aufgezeigt29. Sind dem Erzähler enge Grenzen gesetzt, so kommt nach H. Fischer der ,W.erzählung‘, welche die Pointe vorbereitet, grö-
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ßere (spontane) Gestaltungsfreiheit zu30. Typisch für W.e sind einfache Satzverknüpfungen, parataktische Reihungen, direkte Rede, J Formeln und formelhafte Wendungen. Paradoxie (J Paradox) wird von Röhrich als Grundform des W.es angesehen31. Bausingers strukturanalytische Typologisierung des Schwanks ⫺ nach ,Ausgleichs-‘ und ,Steigerungstypen‘ sowie nach den Kriterien ,Revanche‘ und ,Übermut‘ ⫺ ist auch auf den W. anwendbar32. Von textlinguistischer Warte aus entschlüsselt B. Marfurt Struktur und Technik der Textsorte W.33 Unterkategorien des W.es haben eigene charakteristische Formen entwickelt. Häufig beginnt oder endet der W. mit einer J Frage, deren Beantwortung gleichzeitig die Pointe sein kann. Zentral ist die Frage z. B. in den nach dem Gesetz der J Dreizahl aufgebauten Häschenwitzen (mit dreimaliger Wiederholung derselben Frage)34 sowie in manchen W.en über J Schwerhörige. Charakteristischste Form des Scherzfragewitzes ist die unbeantwortbare Frage an den Hörer, die vom Erzähler selbst mit einer Antwort (⫽ Pointe) bedacht wird35. Zahlreiche derartige W.e wurden während der Zeit des Kommunismus dem armen. Radio Eriwan zugeschrieben, wobei eine Hörerfrage vom Sender scheinbar naiv politisch korrekt, jedoch eigentlich subversiv beantwortet wird36. Den Fragewitzen können z. T. auch J Vexiermärchen zugeordnet werden (z. B. AaTh/ATU 2204: The Dog’s Cigar). Erwartungshaltungen werden auch in den als Dialog strukturierten Mami, Mami-W.en aufgebrochen („Mami, Mami, ich will nicht nach Amerika!“ ⫺ „Schwimm, Kindchen, schwimm!“)37 oder in gereimten Texten wie den ebenfalls dem J schwarzen Humor zuzurechnenden ,Alle Kinder‘-W.en („Alle Kinder stehen bis zum Hals im Wasser, nur nicht Rainer, der ist kleiner.“)38. Dem eigentlichen Text vorangehen kann eine Vergewisserung des Erzählers, daß seinem Publikum ein bestimmtes Stück noch nicht bekannt ist, etwa in der Formulierung „Kennt ihr den schon?“39 Daß ein W. zu erwarten ist, können auch formelhafte Eingänge (J Eingangsformel[n]) wie „Kommt ’ne Frau zum Arzt …“ oder „Treffen sich drei Männer …“ ankündigen.
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5 . I nh al te , Kat eg or ie n. Der W. ist respektlos, verschont nichts und niemanden. Er kann gegen jegliches J Tabu verstoßen, spottet über alles (J Spott). Zugrunde liegen ihm Konflikte, der Zusammenstoß von thematischen oder personellen Gegensätzlichkeiten40. Bei der Auswahl seiner Akteure bedient sich der W. am wirkungsvollsten polar entgegengesetzter oder exponierter Gestalten (J Polarität) und extremer Vorkommnisse: Die Verfehlung einer schwangeren Nonne ist für den W. wirkkräftiger als das uneheliche Kind von Lieschen Müller. Das Nichterkennen dieser witzimmanenten Gesetzmäßigkeit führt bei Interpreten häufig dazu, daß sie die Texte primär als J Aggression gegen Personen oder Sachverhalte werten, wo es lediglich, und letztlich zwingend, nur um die Konstruktion der wirkungsvollsten Pointe geht. Akteure sind dementsprechend J Stereotypen. Die Opposition zwischen Figuren und/oder Normbereichen (J Norm und Normverletzung) wird in der Pointe zusammengebracht. Eine Besprechung von W.inhalten kann immer nur eine Momentaufnahme sein, da ihre Thematik, Konstellation und Quantität sich sehr rasch verändern. Im folgenden können aus der Vielfalt von existierenden Inhalten und Kategorien nur einige wichtige vorgestellt werden. Bes. Aufmerksamkeit gilt in der Forschung dem ethnischen W., wobei die Definition von ,ethnisch‘ sich auf eine Anzahl von Personen bezieht, die sich selbst als homogene Gruppe empfinden oder von außerhalb so wahrgenommen werden (cf. J Stereotypen, ethnische). C. Davies konterkariert logisch zwingend die gängige Praxis, ethnischen W.en bösartige Aggression, J Rassismus oder J Diskriminierung zu unterstellen, denn letztlich seien W.e das Resultat, nicht die Ursache konflikthafter sozialer Situationen41. Ethnische W.e können durch die Begegnung mit fremden Kulturen42 oder durch Nachbarschaft43 entstehen. Auch kleinere Gemeinschaften innerhalb einer größeren (Migranten, ethnische Minderheiten) können dem Spott anheimfallen (J W.figuren). Während im internat. Bereich kleine Völker schärfere W.e über größere Völker ausbilden, scheinen sich auf nationaler Ebene bissige Spötteleien eher auf interne Minderheiten zu beziehen44.
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Eng verbunden mit dem ethnischen W., zu dem sich z. T. Überlappungen ergeben, ist der W. über J Dumme und unkultivierte Hinterwäldler. Diese können ethnischen Stereotypen (Ostfriesen45, kanad. Neufundländer46) entsprechen, sind jedoch oft als repräsentativ vorgestellte Personentypen ausgestaltet wie strohdumme Blondinen, Mantafahrer, bulg. Polizisten oder die differenzierter zu sehenden Tübinger Weingärtner, die Gogen47. Zuweilen werden Dumme auch mit bestimmten Orten in Verbindung gebracht (J Ortsneckerei). Auf derselben Ebene angesiedelt wie Dummenwitze sind Texte über ungebildete Neureiche oder übertrieben J Geizige wie z. B. Schotten, Vorarlberger, Schwaben oder Juden48. Strukturen, Personal und Inhalte sind innerhalb dieser Subgattung austauschbar. Auch Behinderte (J Krüppel) mit ihren sprachlichen (AaTh/ATU 1699: J Sprachmißverständnisse; AaTh/ATU 1702: J Stottererwitze und -schwänke), geistigen (bes. im Irrenwitz)49 oder körperlichen Gebrechen (J Blind, Blindheit; J Schwerhörig, Schwerhörigkeit) sind Gegenstand von W.en. Ziel ist dabei nicht unbedingt Diskriminierung, sondern oft eher die Darstellung der durch die Behinderung bedingten situativen Konflikte mit der Realität50. Zahlreiche W.e befassen sich mit Ehe und Familie sowie mit dem Verhältnis der Geschlechter untereinander (J Ehebruchschwänke und -witze; J Eheschwänke und -witze). Aus dem Familiengefüge herausgegriffen werden auch einzelne Personen, bes. die als Belästigung empfundene Schwiegermutter (J Schwiegereltern)51. Ehemals verbreitete W.e über die J Hochzeitsnacht sind im westl. Kulturkreis auf dem Rückzug, seit die Bedeutung dieser Nacht stark abgenommen hat52. W.e verspotten bes. häufig Frauen. Ob man diese W.e tatsächlich als misogyn beurteilen muß oder ob sie lediglich der Devise ,was sich liebt, das neckt sich‘ verpflichtet sind, wird kontrovers diskutiert53. Polare Gegensätze figurieren in W.en über (dumme) J Lehrer und (gewitzte) Schüler. Eine ähnliche Opposition kennzeichnet auch das Verhältnis von Arzt (Psychiater) und Patient, Kellner und Gast, Professor und Student bzw. Examenskandidat. Entscheidend für die Konflikte ist das hierarchische Verhältnis der
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Akteure, wobei der gesellschaftlich Höherstehende häufig der Düpierte ist. Eine Sonderstellung unter W.en über bestimmte Berufe nehmen die vielfältig ausdifferenzierten klerikalen W.e ein. In ihnen sind Geistliche, Mönche und Nonnen meist die Verlierer54. Zu diesem Kontext gehören auch die W.e über J Petrus als Himmelspförtner (cf. J Petrusschwänke) oder W.e, die sich über den Glauben an die Wirkung des J Gebets lustig machen oder die Bigotterie Betender entlarven (cf. J Vaterunser). Eine wenig homogene Kategorie bilden Autofahrerwitze55. Ihre Thematik reicht von den wegen ihrer Einfältigkeit und Eitelkeit belächelten Mantafahrern über die Trabiwitze nach der dt. Wiedervereinigung (1989)56 bis hin zu Frauen, die unfähig sind einzuparken. Der typische W. eines einzigen Volkes ist in keinem anderen Fall so ausführlich durch Sammlungen und Deutungen dokumentiert wie der der Juden57, z. T. auch kontrovers diskutiert58 (J Jüd. Erzählgut). Nach J. J Olsvanger besitzen jüd. W.e als spezifisches Charakteristikum zwei Höhepunkte, die Pointe und die Superpointe59. W.e über Katastrophen (J Katastrophenmotive) sind einerseits ausgesprochen respektlos; andererseits kann Humor helfen, großes Leid zu mildern: kein Unglück größeren Ausmaßes im vergangenen Jh. und danach, das nicht spontan W.e generiert hätte60. Ähnliches gilt auch für Seuchen oder tödliche Krankheiten, z. B. Aids61, etwa mit der Auflösung des Akronyms als „Ab in den Sarg!“ Etliche allg. bekannte Märchenstoffe sind in der Moderne parodiert oder zu J Karikaturen und W.en umgeformt worden62, bes. AaTh/ ATU 333: J Rotkäppchen, AaTh/ATU 709: J Schneewittchen und AaTh/ATU 440: J Froschkönig63. Der Märchenwitz tritt vor allem als Bilderwitz auf, der eigene Themen und Darstellungsweisen entwickelt hat64. Fabel (z. B. AaTh/ATU 51 A: J Fuchs hat Schnupfen) oder Sage65 bilden zuweilen ebenfalls W.varianten. Auch nichtverbale Kommunikation spielt im W. eine Rolle (J Gebärde). Den Erzählverlauf begleitende Gestik kann die Wirksamkeit erhöhen, aber selbst ohne Sprache kann ein W. durchgängig ,erzählt‘, mit Gebärden weitergeführt oder beendet werden66. Thema kann auch die Körpersprache an sich sein67. Gehör-
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losenwitze fallen meist unter die Gestikwitze, wobei die Gebärden häufig eine sexuelle Nebenbedeutung haben (cf. auch AaTh 924 A⫺B/ ATU 924: J Zeichendisput)68. Viele der hier besprochenen W.arten bilden Zyklen aus, die ⫺ sobald sie einer größeren Zuhörerschaft bekannt sind ⫺ wieder an Bedeutung verlieren. Dazu gehören Zyklen über Hungersnöte, wie die des Biafra-Krieges in Nigeria69, oder über die US-amerik. taubblinde Schriftstellerin Helen Keller (1880⫺1968)70, der ind. Sardarji-Zyklus71 oder die auf vielfältigste Protagonisten übertragbare Scherzfrage, wie viele Leute man braucht, um eine Glühbirne einzuschrauben72. 6 . Fun kt io n. Primäres Anliegen des W.es ist es, Lachen zu erzeugen73. Mit geringen Ausnahmen74 interpretiert die W.forschung textimmanent, ohne den Erzählkontext oder die Motive und Gefühle der Erzähler wie Zuhörer mit einzubeziehen75, wobei nach Davies gerade beim W. sowohl kontextuelle als auch individuelle Faktoren für die Bedeutung eine entscheidende Rolle spielen76. Während u. a. K. Huffzky77, H. J Lixfeld78, Moser-Rath79 oder S. McCosh80 den W. im Zusammenhang von Aggression und Diskriminierung verstehen, wendet sich Oring gegen die Notwendigkeit einer solchen Deutung81. W.e können durchaus in aggressiver, diskriminierender Absicht erzählt oder so empfunden werden, was empfindliche Konsequenzen nach sich ziehen kann82. Mit einiger Vorsicht ist jedoch zu sagen, daß W.e ⫺ stereotyp und selektiv ⫺ gesellschaftliche Wertungen spiegeln, gefiltert und umgeformt durch gattungsimmanente Prinzipien und Notwendigkeiten: Geistliche gelten als lüstern, Bauern als grob und dumm oder dummschlau, Studenten als Langschläfer, Müller als betrügerisch, Handwerker als faul oder unzuverlässig etc. Insofern können W.e durchaus sozialkritisch und emanzipatorisch wirken, allerdings ebenso gesellschaftsstabilisierend und emanzipationsfeindlich83. Ranke stellt der mythisch-heroischen Weltsicht des Märchens und der Tragik der Sage den Blickwinkel der komischen Gattungen gegenüber84. Deren ,gelöste Weltsicht‘ bietet nach J. Beyer die Möglichkeit, das starre Schema von Moral und verpflichtender Ordnung für den Erzählmoment zu lockern oder
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sogar aufzuheben85. Dundes sieht W.e als toleriertes Ventil für Sachverhalte, über die öffentlich nicht gesprochen werden kann, etwa J Krankheiten, Gebrechen oder J Mißgeburten86. Kinder nutzen die schockierende Wirkung von schwarzem Humor oder Ekelwitzen als Machtmittel, um dem Unterlegenheitsverhältnis gegenüber den Älteren zu begegnen. Trösten und die Situation entschärfen kann J Galgenhumor; Schadenfreude lebt sich u. a. im Aidswitz aus87. Als eine der virulenten Erzählgattungen der Gegenwart wird der W. vorrangig durch mündl. Überlieferung sowie durch das Internet tradiert88. Eher traditionelle Medien des W.es sind gedr. Sammlungen (J W.bücher), Zeitungen, Illustrierte, Kalender oder Rundfunk und Fernsehen. W.e überschreiten ethnische und sprachliche Grenzen mit relativer Leichtigkeit, verstärkt auch durch zunehmenden Reiseverkehr89. 7 . E rz äh le r u nd Zu hö re r. Das Erzählen ist immer als eine gemeinsame, aufeinander bezogene Tätigkeit von J Erzähler und J Zuhörer zu sehen (cf. J Gesprächsanalyse)90. Die Interaktionsstrukturen hat Marfurt textlinguistisch detailliert untersucht91. Eine von T. A. und I. H. Burns durchgeführte psychol. Studie legt nahe, daß die psychischen Funktionen derselben Erzählung für unterschiedliche Erzähler verschieden sind92. Weitere auf Feldforschung basierende Unters.en liegen für Nordamerika93, Wales94, Finnland95 und Deutschland96 vor. Eine speziell auf die Kinderüberlieferung zugeschnittene Feldforschung erbrachte, daß W.erzähler bei ihrer Altersgruppe nicht beliebter sind als andere Kinder97. Mädchen und Frauen haben ein anderes Verhältnis zu W.en als Männer98. Allg. ist festzustellen, daß W.e in vielen europ. und europ. beeinflußten Gesellschaften hauptsächlich von Männern erzählt werden99. Kinder bevorzugen Scherzfragen100. Altersspezifisches Erzählverhalten ist bisher nur in psychoanalytisch angelegten Studien untersucht worden101. Eine soziale Stratifizierung ergibt, daß in Hierarchien eher von oben nach unten gewitzelt wird und nicht vice versa. Noch weniger als über Erzähler von W.en ist bisher über deren Zuhörer geforscht worden. Diese können das Erzählen u. a. durch
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Witz
mimische und verbale Kommentare beeinflussen. So kann der nicht gelungene Vortrag eines W.es sanktioniert oder es kann über Zuhörer gespottet werden, die eine Pointe nicht begriffen haben. 1
Röhrich, L.: Der W. Figuren, Formen, Funktionen. Stg. 1977, 4; cf. auch Preisendanz, W.: Über den W. Konstanz 1970, 7 sq. ⫺ 2 Röhrich (wie not. 1) 190⫺ 216, 173; Lixfeld, H.: W. und soziale Wirklichkeit. In: Fabula 25 (1984) 183⫺213; Warneken, B. J.: Der sozialkritische W. als Forschungsproblem. In: ZfVk. 74 (1978) 20⫺39; Büchele, M.: Der politische W. als getarnte Meinungsäußerung gegen den totalitären Staat. Diss. (masch.) Mü. 1955; Gamm, H. J.: Der Flüsterwitz im Dritten Reich. Mü. 1963; Dor, M./ Federmann, R.: Der politische W. Mü./Wien/Basel 1964; Hirche, K.: Der braune und der rote W. Düsseldorf/Wien 1964; Brandt, H.-J.: W. mit Gewehr. Gezieltes Lachen hinter Mauer und Stacheldraht. Stg. 1965; Wroblewsky, C. de: Wo wir sind, ist vorn. Der politische W. in der DDR. Hbg 1990; Banc, C./ Dundes, A.: You Call This Living? A Collection of East European Political Jokes. Athens/L. 1990; Neumann, S.: Schwank und W. als Medien sozialer Aussage. In: id. (ed.): Volksleben und Volkskultur in Vergangenheit und Gegenwart. Bern u. a. 1993, 57⫺ 59; Köhler-Zülch, I.: Der politische W. und seine erzählforscherischen Implikationen. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 71⫺85; Pausewang, G.: Erlaubter Humor im Nationalsozialismus (1933⫺1945). Ffm. u. a. 2007. ⫺ 3 Röhrich, L.: Ausgesuchte Viechereien. Tierwitze und was dahinter steckt. Fbg/Basel/Wien 1977; Riedel, C.: Der Tierwitz als Beispiel für Systematisierung und Strukturanalyse des W.es. Magisterarbeit (masch.) Fbg 1977. ⫺ 4 Partridge, E.: The ,Shaggy Dog‘ Story. L. 1953; Simon, K. G.: Das Absurde lacht sich tot. Kleine Vorschule des modernen Humors. Mü. 1958; Brunvand, J. H.: A Classification for Shaggy Dog Stories. In: JAFL 76 (1963) 42⫺ 68. ⫺ 5 Schönfeldt, A.: Zur Analyse des Rätsels. In: Zs. für dt. Philologie 97 (1978) 60⫺73, hier 67. ⫺ 6 Röhrich (wie not. 1). ⫺ 7 Hildebrandt, R.: Nonsense. Aspekte der engl. Kinderlit. Weinheim/B./Basel 1970, 15. ⫺ 8 Litovkina, A. u. a.: Punning in Anglo-American, German, French, Russian and Hungarian Anti-Proverbs. In: Proverbium 25 (2008) 249⫺288. ⫺ 9 Neumann, N.: Vom Schwank zum W. Zum Wandel der Pointe seit dem 16. Jh. Ffm./N. Y. 1986; Neumann, S.: Volksprosa mit komischem Inhalt. In: Fabula 9 (1967) 137⫺148. ⫺ 10 Bausinger (21980), 138; Hirsch, E. C.: Der W.ableiter oder Schule des Gelächters. Mü. 1991, 73. ⫺ 11 Andreassi, M.: Le facezie del Philogelos. Barzellette antiche e umorismo moderno. Rom 2004. ⫺ 12 Marzolph, Arabia ridens; id.: Arab. W.e als Qu. für die materielle Kultur der frühen Abbasidenzeit? In: 24. Dt. Orientalistentag […]. ed. W. Diem/A. Falaturi. Stg. 1990, 283⫺298; id.: Provokative Grenz-
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bereiche im klassischen arab. W. In: Humor in der arab. Kultur/Humor in Arabic Culture. ed. G. Tamer. B./N. Y. 2009, 153⫺166. ⫺ 13 Bausinger (21980), 142 sq. ⫺ 14 cf. etwa Ara¯js/Medne; Hoffmann; Raudsep; Stroescu; Rausmaa. ⫺ 15 cf. auch Barron, M. L.: A Content Analysis of Intergroup Humor. In: American Sociological Review 15 (1950) 88⫺94; Middleton, R./Holand, J.: Humor in Negro and White Subcultures. A Study of Jokes among Univ. Students. ibid. 24 (1959) 61⫺69. ⫺ 16 Moser-Rath, E.: Schwank, W., Anekdote. Entwurf zu einer Katalogisierung nach Typen und Motiven. Göttingen (masch.) 1969, 1. ⫺ 17 Röhrich (wie not. 1) 5. ⫺ 18 id.: Versuch einer systematischen Gliederung von Schwank und W. Fbg (masch.) [1975]. ⫺ 19 Ranke, K.: Einfache Formen. In: Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959, 1⫺11. ⫺ 20 id.: Betrachtungen zum Wesen und zur Funktion des Märchens [1958]. In: id.: Die Welt der einfachen Formen. B./N. Y. 1978, 1⫺31, hier 30. ⫺ 21 Röhrich, L.: Das Kontinuitätsproblem bei der Erforschung der Volksprosa. In: Bausinger, H./Brückner, W. (edd.): Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. B. 1969, 117⫺ 133, hier 130. ⫺ 22 Röhrich (wie not. 1). ⫺ 23 Dundes, A.: The Elephant Joking Question. In: Tennessee Folklore Soc. Bulletin 29 (1963) 40⫺42. ⫺ 24 Oring, E.: The Jokes of Sigmund Freud. A Study in Humor and Jewish Identity. Phil. 1984. ⫺ 25 Fine, G. A.: What Has Happened to the Joke? The Politics of Joking Cultures. In: Narratives across Space and Time. Transmissions and Adaptions. 50th Congress of the Internat. Soc. for Folk Narrative Research. Athens 21.⫺27.6.2009. Athen (im Druck). ⫺ 26 Schweizer, W. R.: Der W. Bern/Mü. 1964, bes. 12⫺30. ⫺ 27 Hirsch (wie not. 10). ⫺ 28 Bausinger (21980), 138. ⫺ 29 Wenzel, P.: Von der Struktur des W.es zum W. der Struktur. Heidelberg 1989; cf. auch Luomala, K.: Numskull Clans and Tales. Their Structure and Function in Oceanic Asymmetrical Joking Relationships. In: JAFL 79 (1966) 157⫺197. ⫺ 30 Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln/Bonn 1978, num. 330⫺360. ⫺ 31 Röhrich (wie not. 1) 108. ⫺ 32 Bausinger, H.: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967) 118⫺136. ⫺ 33 Marfurt, B.: Textsorte W. Tübingen 1977, bes. 117⫺162. ⫺ 34 Utner, S.: Häschen W. e. Niedernhausen 1977; ead.: Die neuesten Häschen W. e. Niedernhausen 1977. ⫺ 35 Avdikos, E. G.: Grecian Riddle-Jokes. Formalistic and Functional Features of a New Minor Form. In: Folklore (Tartu) 10 (1999) 108⫺125. ⫺ 36 Schiff, M./ Parth, W. W.: Fragen an Radio Eriwan. B./Darmstadt/Wien s. a. ⫺ 37 Archiv Wehse; cf. Dundes, A.: Cracking Jokes. Studies of Sick Humor Cycles and Stereotypes. Berk. 1987. ⫺ 38 Archiv Wehse; cf. Fienhold, H.: Alle-W.e. Alle machen Alle-W.e, nur nicht Kläuschen, der macht Päuschen. Ffm. 1985. ⫺ 39 Edwards, C. L.: „Stop Me if You’ve Heard This One“. Narrative Disclaimers as Breakthrough into
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Witz
Performance. In: Fabula 25 (1985) 214⫺228. ⫺ 40 Röhrich (wie not. 1) 14. ⫺ 41 Davies, C.: Ethnic Humor Around the World. Bloom./Indianapolis 1990, 323. ⫺ 42 Klintberg, B. af: Negervitsar. In: Tradisjon 13 (1983) 23⫺45; Roth, K.: Erzählen und interkulturelle Kommunikation. In: id. (ed.): Mit der Differenz leben. Münster u. a. 1996, 63⫺78, hier 69 sq. ⫺ 43 Kvideland, R.: Den norsk-svenske vitsekrigen. In: Tradisjon 13 (1983) 77⫺91. ⫺ 44 Grieger, P.: La Caracte´rologie ethnique. P. 1961; Stackelberg, K. G. von: „Alle Kreter lügen“. Vorurteile über Menschen und Völker. Düsseldorf/Wien 1965. ⫺ 45 Janßen, K.-H.: Warum fahren die Ostfriesen im Panzer zum Melken? Eine Analyse der jüngsten dt. W.welle. In: Die Zeit 49 (3.12.1971) 58; Raveling, W.: Die Geschichte der Ostfriesenwitze. Leer 1993. ⫺ 46 Thomas, G.: Newfie Jokes. In: Fowke, E. (ed.): Folklore of Canada. Toronto 1976, 142⫺153. ⫺ 47 Röhrich (wie not. 1) bes. 222⫺225, 254⫺260; cf. Picard, M.: Die schönsten Gogenwitze. Mü. 1980. ⫺ 48 Röhrich (wie not. 1) 251, 276⫺285. ⫺ 49 Jeck, O.: Der „irre“ W. Stg. 1964. ⫺ 50 Röhrich (wie not. 1) 174⫺185; Rutherford, S. D.: Funny in Deaf ⫺ Not in Hearing. In: JAFL 96 (1983) 310⫺322. ⫺ 51 Legman, G.: Der unanständige W. Hbg 1970, 463⫺398, hier 463. ⫺ 52 Röhrich (wie not. 1) 2, 5, 158⫺162, 223, 245. ⫺ 53 Moser-Rath, E.: Frauenfeindliche Tendenzen im W. In: ZfVk. 74 (1978) 40⫺ 57; ead.: Frauenfeindlich ⫺ männerfeindlich. ibid. 75 (1979) 65⫺67; Lixfeld, H.: Zur ästhetischen L’art pour l’art-Theorie des W.es. ibid., 67⫺69; Wehse, R.: Männerfeindliche Tendenzen in W. und Schwank (?). ibid., 57⫺65; Willenbrock, A.: Die Rolle der Frau im W. der Kinder und Jugendlichen. In: Wehse, R.: (ed.): Warum sind die Ostfriesen gelb im Gesicht? Die W.e der 11⫺14jährigen. Ffm./Bern 1983, 142⫺ 145; Wehse, R.: Die Frau im W. der Kinder. In: Gender ⫺ Culture ⫺ Poetics. Zur Geschlechterforschung in der Lit.- und Kulturwiss. Festschr. N. Würzbach. Trier 1999, 191⫺206. ⫺ 54 Bemmann, H.: Der klerikale W. Olten (1970) 51973. ⫺ 55 Zentner, K.: Autofahrerwitze. Stg. 1970. ⫺ 56 Wehse, R.: Das Ende des Bananenkompasses. W.e nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. In: SIEF 4th Congress, Bergen 1990. Papers 2. ed. B. G. Alver/T. Selberg. Bergen 1990, 695⫺711; Brednich, R. W.: Trabi-W.e. In: Vk. in Niedersachsen 7,1 (1990) 18⫺35. ⫺ 57 Moszkowski, A.: Der jüd. W. und seine Philosophie. B. 1922 u. ö.; Noy, D.: Towards the Definition of a ,Jewish‘ Joke. In: Machanayim 67 (1962) 3⫺11 (hebr.); Reik, T.: Jewish Wit. N. Y. 1962; Jason, H.: The Jewish Joke: The Problem of Definition. In: SFQ 31 (1967) 48⫺ 54; Landmann, S.: Der jüd. W. Olten/Fbg (1962) 17 1975; Oring, E.: The People of the Joke. On Conceptualization of Jewish Humor. In: WF 42,4 (1983) 261⫺271; Raskin, R.: Life Is Like a Glass of Tea. Studies of Classic Jewish Jokes. Aarhus 1992. ⫺ 58 Torberg, F.: „Wai geschrien!“ oder Salcia Landmann ermordet den jüd. W. In: Der Monat 14,157 (1961) 48⫺65; Ben-Amos, D.: The ,Myth‘ of Jewish
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Witzbücher
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Reichertshausen
Rainer Wehse
Witzbücher 1. Allgemeines ⫺ 2. Antike und MA. ⫺ 3. Frühe Neuzeit ⫺ 4. 1800⫺1850 ⫺ 5. Nach 1850
1 . All ge me in es. Alltagssprachlich wird eine Zusammenstellungen von Witzen in Buchform Witzbuch (W.) genannt. Eine wiss. Begriffsbildung steht aus; neuere literatur- oder buchwiss. Lexika führen das Wort nicht als Lemma. Häufig wird der Begriff W. synonym mit Witzsammlung verwendet. Analog zu Rätsel-, Märchen- oder Liederbuch (J Lieddrucke) ist unter W. eine selbständig erschienene gedr. Kompilation von Kurzerzählungen, deren dominierender Einzeltexttyp der Witz ist, zu verstehen1. Regelmäßig sind in W.ern neben Witzen auch verwandte Texttypen zu finden, am häufigsten Scherzfragen, Anekdoten, Karikaturen oder Bildwitze. 2 . Ant ik e u nd MA. Fazetien- und Schwankbücher sind ⫺ je nach Verhältnisbestimmung von Witz und Schwank2 ⫺ als hist. Vorläufer oder frühe Ausprägungen der W.er anzusprechen. Bes. die Fazetie zeigt dabei so große Strukturähnlichkeiten mit dem modernen Witz, daß man Fazetiensammlungen von der Antike bis zur Renaissance auch als W.er bezeichnen kann3. Das älteste erhaltene W. in diesem weiteren Sinn ist der griech. J Philogelos (4. Jh. p. Chr. n.), eine Slg von 265 kurzen komischen Erzählungen. Ihm voraus gehen seit dem 2. Jh. a. Chr. n. Nachrichten von verlorenen älteren Witzkompilationen, die Unterhaltungskünstler (gelo¯topoioi)4, aber etwa auch Tiro, der Sekretär Ciceros, angelegt haben sol-
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Witzbücher
len. Gruppen einzelner Witze sind in anderen literar. Kontexten überliefert, z. B. in den Rhetoriken Ciceros (De oratore 2,218⫺293) und Quintilians (Institutio oratoria 6,3,65), in denen Anleitungen zum erfolgreichen Witzerzählen mit Beispielen illustriert sind5, oder in der Symposienliteratur, z. B. Macrobius’ Saturnalia (2,1⫺7; 3,7). Aus den europ. Lit.en des MA.s sind keine eigenständigen W.er erhalten. Angesichts der Bedeutungsbreite des Begriffs ,facetia‘ im Mittellateinischen muß offen bleiben, ob es sich bei J Gervasius von Tilburys nicht erhaltenem Liber facetiarum, das er in den Otia imperialia (108) erwähnt und das vor 1183 entstanden sein muß, um ein W. handelte6. Die seit dem 8. Jh. in zahlreichen Hss. überlieferten Ioca monachorum, eine Gruppe anonymer Texte monastischer Herkunft, sind eine Zusammenstellung von Wissensfragen, Rätseln und Scherzfragen7. Ein anonymes, um 1350 entstandenes Werk, das Anekdoten über Kaiser Rudolf I. enthielt, ist nur deshalb noch bekannt, weil Johannes Cuspinianus, der es als Libellulus de facetiis bezeichnete, Teile daraus in sein Geschichtswerk De Caesaribus atque Imperatoribus Romanis (1540) einfügte8. Die älteste erhaltene Zusammenstellung von Witzen, Apophthegmata und Anekdoten in lat. Sprache bietet das 4. Buch von Petrarcas Rerum memorandarum libri (1343⫺45), das vorwiegend aus Macrobius, Sueton und J Valerius Maximus kompiliert ist9. Aus der älteren arab. Lit. (bis Mitte des 13. Jh.s) sind z. T. als Erbe der klassischen Antike zahlreiche Werke erhalten, die in ihrer Kompaktheit ausgesprochene W.er darstellen. Das Spektrum reicht hierbei von der umfassenden Witze-Enzyklopädie von alAbı¯ (gest. 1030)10 bis hin zu den Witzsammˇ auzı¯. lungen des J Ibn al-G 3 . Frü he Ne uz ei t. J Poggio Bracciolinis Liber facetiarum (entstanden vor 1453), die erfolgreichste Fazetiensammlung des Humanismus11, kann als das älteste gedr. W. angesehen werden. Poggio regte andere Sammler an, möglicherweise Augustin J Tünger, sicher Heinrich J Bebel. Die noch in der Tradition ma. Exempelsammlungen stehende J Mensa philosophica (gedr. ca 1480) enthält in ihrem 4. Teil eine Slg „de honestis ludis et iocis“12. Auch die
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Fazetiensammlungen des 16. und beginnenden 17. Jh.s (Hadrianus Barlandus, Otmar Luscinius, Johannes J Gast[ius], Otho J Melander) sind weniger auf den Texttyp Fazetie fokussiert als Poggios Fazetien. Julius Wilhelm J Zincgref kommt dagegen in seinen stark auf dem Philogelos basierenden Facetiae pennalium (1618) dem Typ des W.s nahe. Teilweise deutlich von den Fazetiensammlungen beeinflußt sind die dt. Schwankbücher des 16./17. Jh.s (bes. diejenigen von Jacob J Frey und Hans Wilhelm J Kirchhof), doch zeigen die dort versammelten Schwänke größere epische Breite als Fazetien. E. J MoserRath hat für das 17./18. Jh. darauf aufmerksam gemacht, daß sich in den Kurzprosasammlungen dieser Zeit „genügend Beispiele finden, die typische Merkmale des Witzes aufweisen“13. Dennoch dürfte es schwerfallen, unter den oft sehr heterogenen Kompilationen pointierter Kurzprosa der frühen Neuzeit bereits ein W. zu identifizieren14. Zumeist enthalten diese Slgen ⫺ etwa Odilo J Schregers Studiosus jovialis (1749) ⫺ neben Witzen zahlreiche weitere literar. Kleinstformen und sind eher zur J Kuriositätenliteratur zu rechnen15. Dennoch bezeichnet Moser-Rath die aus Schregers Schrift zusammengestellte posthume Kompilation Das Osterey einer gelehrten Henne/ in 36 Dottern (Ende 18. Jh.) als „veritable Witzsammlung“16. Ähnliches gilt für die Schwankbücher anderer europ. Lit.en, etwa der Niederlande17 oder Großbritanniens18. 4 . 1 80 0⫺ 18 50. Die Geschichte der Gattung nach 1800 ist bislang erst unzureichend erforscht19. Eine entscheidende Rolle bei der Ausprägung der modernen W.er dürften die Witzblätter des 19. und frühen 20. Jh.s gespielt haben, die als Periodika erschienen, so die Fliegenden Bll. (Mü. 1845⫺1944) oder Die lachende Welt (B. 1894⫺96), die in vier Heften „Blüten des Witzes und des Humors aller Nationen“ sammelte20. Demgegenüber sind W.er als Einzel- oder Reihenpublikationen angelegt. Die ältesten selbständigen Publ.en, die mit dem Begriff Witz im Titel werben, scheinen dem 19. Jh. anzugehören21. Das Auftreten der ersten Zusammenstellung ,Berliner Witze‘ um 183022 liegt nahe an den frühesten Belegen für die Verwendung von ,Berliner Witz‘ als Gattungsbezeichnung23. Oftmals ist die Grenze zu
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den Witzblättern fließend. Noch das Dt. Wb. der Brüder J Grimm verzeichnet das Kompositum W. nicht, wohl aber Witzblatt24. Witzkompilationen des 19. Jh.s führen das Wort W. nicht im Titel25. In Großbritannien erscheinen im 19. Jh. ,jestbooks‘, darunter retrospektive Anthologien wie J. O. J Halliwells The Jokes of the Cambridge Coffee Houses in the Seventeenth Century (1841). 1
Zu verwandten Buchtypen cf. Bismark, H.: Rätselbücher. Entstehung und Entwicklung eines frühneuzeitlichen Buchtyps im dt.sprachigen Raum. Tübingen 2007, 208 sq.; Kipf, J. K.: „Cluoge geschichten“. Humanistische Fazetienlit. im dt. Sprachraum. Stg. 2010, 32 sq. ⫺ 2 Bausinger, H.: Schwank und Witz. In: Studium generale 11 (1958) 699⫺710; Bausinger (21980), 137⫺162. ⫺ 3 Kipf (wie not. 1) 19 sq. ⫺ 4 cf. Bremmer, J.: Witze, Spaßmacher und W.er in der antiken griech. Kultur. In: id./Roodenburg, H. (edd.): Kulturgeschichte des Humors von der Antike bis heute. Darmstadt 1999, 18⫺31; Philogelos von Hierokles und Philagrios. ed. A. Thierfelder. Mü. 1968, 5⫺27. ⫺ 5 cf. Ueding, G.: Rhetorik des Lachens. In: Vogel, T. (ed.): Vom Lachen. Tübingen 1992, 24⫺ 44. ⫺ 6 cf. Schnell, R.: Konversation im MA. Bausteine zu einer Geschichte der Konversationskultur. In: id. (ed.): Konversationskultur in der Vormoderne. Köln u. a. 2008, 121⫺218, hier 179. ⫺ 7 cf. Tomasek, T.: Scherzfragen. Bemerkungen zur Entwicklung einer Textsorte. In: Haug, W./Wachinger, B. (edd.): Kleinstformen der Lit. Tübingen 1994, 216⫺234. ⫺ 8 cf. Schnell (wie not. 6) 180. ⫺ 9 cf. Kipf (wie not. 1) 75⫺81. ⫺ 10 Marzolph, Arabia ridens 1, 38⫺45. ⫺ 11 cf. Kipf (wie not. 1) 99⫺162 (zur Verbreitung). ⫺ 12 Mensa philosophica. ed. B. Wachinger/E. Rauner. Tübingen 1995, 106; cf. EM 9, 568. ⫺ 13 Moser-Rath, Schwank, 7. ⫺ 14 ibid., 7⫺36, bes. 9. ⫺ 15 EM 12, 193. ⫺ 16 Moser-Rath (wie not. 13) 30⫺32. ⫺ 17 Verberckmoes, J.: Laughter, Jestbooks, and Society in the Spanish Netherlands. Basingstoke 1999; id.: Schertsen, schimpen en schateren. Geschiedenis van het lachen in de Zuidelijke Nederlande, sestiende et seventiende eeuw. Nimwegen 1998. ⫺ 18 cf. Brewer, D.: Elizabethan Merry Tales and the Merry Wives of Windsor. In: Takamiya, T./Beadle, R.: Chaucer to Shakespeare. Festschr. S. Ando. Cambr. 1992, 145⫺ 159. ⫺ 19 Schüling, H.: Katalog einer Slg von Anekdotenbüchern. Unveröff. Ms. Gießen 1982; cf. Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 310, 320⫺330. ⫺ 20 Schüling (wie not. 19) num. 673. ⫺ 21 Studenten-Witze von fidelen teutschen Musensöhnen gerissen, gesammelt, herausgegeben und allen burschikosen Häusern gewidmet von einem Bruder Studio. Kassel 1830 (21839, Mü. 31877); Berliner Witze und Redensarten. Zur Unterhaltung für lachlustige Leute. Frankfurt (Oder) [1840]. ⫺ 22 Brausepulver für Hypochondristen. Eine Slg Berliner Witze
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und Anekdoten. 1.⫺6. Dosis. B. 1832⫺33; Berliner Witze 1⫺6. B. 1837⫺39. ⫺ 23 DWb. 14,2 (1939) 887. ⫺ 24 ibid., 888. ⫺ 25 Busch, M.: Dt. Volkshumor. Lpz. 1877; Hopp, H. O. (ed.): Bibl. des Humors 1⫺10. B. [1889⫺1901?].
München
Johannes Klaus Kipf
5 . Nac h 1 85 0. Ab Mitte des 19. Jh.s nahm das Interesse an W.ern offenbar stetig zu. Um 1850 entstanden zunächst in England und Frankreich Witzblätter, die z. T. in der Gegenwart noch existieren; ihre Ableger, die Witzseiten, sind in fast allen Ztgen und Zss. zu finden. Publ.en, die sich ausschließlich Witzen widmeten, waren jedoch zunächst eher selten, meist wurden diese zusammen mit anderen Gattungen aus dem Bereich der Komik und des Humors herausgegeben1. Dieses Editionsprinzip hat sich bis heute gehalten; die entsprechenden Veröff.en werden hier unter dem Begriff W. subsumiert. Diese begleiten vom 20. Jh. an kontinuierlich alle kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen2. Ein beliebtes Prinzip ist dabei die Zusammenstellung von Witzen unter geogr. bzw. ethnischen Gesichtpunkten. Das kann die gesamte Welt betreffen3, einzelne Staaten4 oder Regionen5. Die Veröff. derartiger Witzsammlungen erfolgte u. a. auch in Form von Reihen, die alle Teile eines Landes abdecken (in Deutschland etwa die 12-bändige Reihe Landschaften des Humors, [Mü. 1969⫺ 1973]). Dem tatsächlich erzählten, aktuellen Witz näher stehen W.er, die bestimmten Großstädten zugeordnet sind6. Darunter können auch J Schildbürgerorte sein (J Ortsneckereien). Unter den ethnisch orientierten W.ern stechen diejenigen, die jüd. Witze enthalten, durch ihre große Anzahl hervor (J Jüd. Erzählgut)7. Ethnische Witze übernehmen und festigen J Stereotypen. Auch wenn das Bild negativ konnotiert wird, fühlen sich die Betroffenen nicht unbedingt automatisch diskriminiert. Aufmerksamkeit wird als Wert an sich geschätzt, zuweilen auch vermarktet durch Souvenirartikel und Witz-Publ.en der ,Opfer‘ über sich selbst, z. B. in Irland8. Zahlreiche W.er beschäftigen sich mit Berufen, wobei deren Auswahl dem hist. Wandel unterliegt. So ist z. B. der einst beliebte Witz über Angehörige des Militärs kaum noch präsent9; Protagonisten sind vor allem sarkasti-
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sche Ärzte10, fehlbare Kleriker11, spitzfindige Juristen12, aufschneiderische Jäger und Angler (J Lüge, Lügengeschichte; J Jägerlatein; AaTh/ATU 1889, 1889 A⫺P: cf. J Münchhausiaden)13 oder zerstreute Professoren. Letzteren werden vor allem (traditionelle) Stilblüten zugeschrieben14. Der Arbeitsplatzwitz zielt vornehmlich auf faule Beamte, oder er soll ein Ventil für Untergebene bilden (J Xeroxlore)15. Sehr verbreitet ist auch der Sportlerwitz. So hat etwa der Golfsport vor allem in den ags. Ländern eine Fülle von W.ern hervorgebracht16. Dummenwitze haben seit der Antike Konjunktur und manifestieren sich z. B. in Slgen über Ostfriesen17 oder Manta-Fahrer18. Der politische Witz des 3. Reichs konnte erst nach dem Ende der nationalsozialistischen Ära publiziert werden19. Flüsterwitze aus dem kommunistischen Ostblock waren nach dem 2. Weltkrieg während der Zeit des Kalten Krieges und darüber hinaus bes. beliebt, auch in Westeuropa. Neben Witzen, die dem armen. Radio Eriwan zugeschriebenen wurden20, existiert eine Fülle anderer entsprechender Kompilationen21. Die politische Wende im Jahr 1989 löste in Deutschland eine eigene, auf den Mauerfall bezogene Witzwelle aus22. Daneben gibt es Slgen allg. politischer Witze23 sowie auf einzelne Politiker bezogene Zusammenstellungen24. Slgen erotischer und sexueller Witze25 (J Zote) werden zwar, wenn es sich nicht um wiss. Ausg.n handelt26, eher auf speziellen Wegen vertrieben, wagen sich jedoch auch ans Tageslicht normaler Buchhandlungen, z. B. in der vielbändigen Reihe Mini-Humor27. Ein W.ern zugrundeliegendes Editionsprinzip kann auch das Alter der Erzähler oder Rezipienten sein, wobei Kinderwitze im Vordergrund stehen. Zu unterscheiden ist hier zwischen W.ern, die Kinder als Zielgruppe haben28, und solchen mit Witzen aus Kindermund29 (auch in Form von Stilblütensammlungen30). Häufig legen sich Kinder und Erwachsene private Witzsammlungen an. Das thematische Angebot an W.ern hat sich seit der Mitte des 20. Jh.s enorm diversifiziert ⫺ kaum ein Bereich bleibt ausgespart31, allerdings mit Ausnahme politisch nicht korrekter Themen, so etwa Polacken-, Neger-, Juden-, Türken-, oder Behindertenwitze. Diese sind eher in wiss. Abhdlgen abgedruckt32. Auch
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wenn neue Witzwellen rasch ihren Niederschlag in W.ern finden, spiegeln diese die tatsächliche mündl. Witztradition und -aktualität nur bedingt. Die weitaus überwiegende Zahl von W.ern gibt keine Qu.n für die einzelnen Witze an; das gilt selbst für wiss. Slgen. Forschungen über W.er sind äußerst rar33. Desiderate bleiben vor allem spezielle Erkenntnisse über inhaltliche Kriterien, über die Herausgeber, ihre Sammelkriterien und -motivationen, über Auflagenzahlen und allg. über die Wirkung bzw. Rezeption und Weiterverwendung der Inhalte. Zunehmend übernimmt das Internet die Bereitstellung von Witzsammlungen, auch in der Nachfolge der Bürofolklore. 1 Almanach zum Lachen für 1852. B. 1852; Lössler, C. (ed.): Conversations-Lex. des Witzes, Humors und der Satyre 1⫺6. Altona 1870; Busch, M.: Dt. Volkshumor. Lpz. 21877; Merkens, H.: Dt. Volkshumor. Jena 1895. ⫺ 2 Ausführliche Bibliogr. von W.ern vor 1977 bei Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 309⫺330; cf. Gambsch, E.: Die 300 besten ErotikWitze. Mü. 1993; Köhler, P.: Das W. Stg. 1993; id.: Das Leben ist ein Hering an der Wand. Jüd. Witze. Lpz. 2003; Petersen, L.: Gerhard aus Berlin. Kanzlerwitze. Leverkusen 2003; Effenberg, H.: Die 100 besten Witze aller Zeiten. B. 2005; Lachner, E./Hess, S.: 1000 neue Witze! Lachen bis der Arzt kommt. Hbg 2005; Bautze, H.: W. für Kinder. Ravensburg 2009; Krüger, J.: Deine Mudder! Die schlimmsten ,Deine Mutter Witze‘. Norderstedt 2009; Johst, R.: Witze oberhalb und unterhalb der Gürtellinie. Norderstedt 22011. ⫺ 3 Welt-Humor 1⫺6. ed. Roda Roda/ T. Etzel. Mü. 21925; Das Lachen der Völker. Dreitausend Jahre Welthumor. ed. H. S. Rehm. Lpz. 1927; [Radecki, S. von]: Humor seit Homer. Die ältesten Witze der Welt. Reinbek 1964; Davies, C.: Ethnic Humor around the World. Bloom./Indianapolis 1990. ⫺ 4 Busch (wie not. 1); Cornelissen, J.: Nederlandsche volkshumor op stad en dorp, land en volk 1⫺6. Antw. 1929⫺31; Fischer, H. W.: Lachende Heimat ⫺ 888 gute Schwänke […], Anekdoten, Witzgeschichten, Scherze […]. Lpz. 1933; Tidwell, J. N.: A Treasury of American Folk Humor. N. Y. 1956; Blyth, R. H.: Japanese Humour. Tokio 1957; Herdi, F.: Schweizer Witz. Mü. 21969; Uhrskov, A.: Dansk folkevid 1⫺2. Hillerød 1968; Ganz Deutschland lacht. Mü. 1973; Deutschland deine Witze. Mü. 2 1975; Orso, E. G.: Modern Greek Humor. Bloom./ L. 1979; Kuusi, M.: Kansanhuumorin parhaat. (Das Beste des Volkshumors). Hels. 1993; Dudden, A. P.: American Humor. N. Y./Ox. 1987; Vasilev, K.: 45 godini vicove. Smecha˘t sresˇtuˆ nasilieto (45 Jahre Witze. Lachen gegen die Gewalt). Sofia 1990; Slavov, I.: Zlatnata resˇetka (Das goldene Gitter). Sofia 1991; Duan Baolin: Xiaohua. Renjian de xiju yishu (Witze. Die komödiantische Kunst der Menschen-
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welt). Peking u. a. 61996. ⫺ 5 Walter, O.: „Dor lach ick öwer“. Pommerscher Humor. Stettin 1924; Werner, F.: Mir lache als. Eine Slg hess.-fränk. Humors. Gießen 1935; Schöffler, H.: Kleine Geographie des dt. Witzes. Göttingen 1955 (1970); Edert, E.: Dat har noch leeger warrn kunnt. Schleswig-holstein. Humor. Neumünster 21961; Baehr, A.: Schles. Lachen. Mü. 1963; Bischof, H.: Horch emol her … Eine bad. Witzparade. Karlsruhe 1974; Schenke, W.: Sächs. Witze. Ffm. 1978; Moritz, G.: „Iss Eahna z langweilig?“ Bayer. Witze. Ffm. 1988; Wiede, P.: Kennst Du den? Tutzing 2001 (Bayern). ⫺ 6 z. B. Pavic´evic´, M. M.: Crnogorske sˇale (Montenegrin. Scherze) 2. Samoboru 1931; Neumann, H.: Hier lacht Breslau. Mü. 1967; Baer, M.: Der Witz der Berliner. Mü. 1969. ⫺ 7 Landmann, S.: Der jüd. Witz. Olten/Fbg (1962) 171975. ⫺ 8 MacHale, D./ Stack, L.: The Book of Kerrywoman Jokes. Dublin 1978; cf. MacHale, D.: The Official Kerryman Joke Book. Dublin 1998; id.: Bumper Book of Kerryman Jokes. Sparkford 2005. ⫺ 9 Eckart, R.: Der Wehrstand im Volksmund. Mü. 1917; Cerf, B. A.: The Pocket Book of War Humor. N. Y. 1943; Ries, H.: Die lachenden Soldaten. Militärwitze einst und jetzt. Mü. 1968. ⫺ 10 Hoppe, E. O.: Medizinischer Humor. B. 21900; Heinemann, H.: Die hundertelf besten Ärztewitze. s. l. [31928]; Müller, E.: Ärzte-Witze. Wiesbaden 1980. ⫺ 11 Hoppe, E. O.: Geistlicher Humor. B. [ca 1880]; Baladin, B.: Herr Pastor hat auch Humor. Würzburg 6 1969; Bemmann, H.: Der klerikale Witz. Olten/Fbg 1970; Campenhausen, H. von: Theologenspieß und -spaß. 400 christl. und unchristl. Scherze. Hbg 1973; Jones, L.: The Preacher Joke Book. Little Rock, Ark. 1989. ⫺ 12 Stemplinger, E.: Vom Jus und von Juristen. Mü. 1956; Metius, B.: Bürgerliches Paragraphen W. . Mü. 1967; Brösmeli, G.: Militär-Witze. Zürich 1982; Golluch, N.: Bundeswehr-Witze aus dem Internet gefischt. Ffm. 1997. ⫺ 13 Erka, R.: Wenn Diana lacht. Jägerwitze und Anglerlatein. Wiesbaden s. a. ⫺ 14 Minkowski, H.: Das größte Insekt ist der Elefant. Professor Gallettis sämtliche Kathederblüten. Mü. 21966. ⫺ 15 Conradson, B.: Kontorsfolket. En etnologisk studie av livet pa˚ kontor. Stockholm 1988; Kutter, U.: Ich kündige! Marburg 1982; Palmenfelt, U.: Modern Folkhumor. Stockholm 1986; Falkenstein, A. C.: Profitable Witze für den Chef. Ffm. 1992; id.: Klima-verbessernde Witze für Bürofrauen. Ffm. 1992. ⫺ 16 Stewart, S. und R.: 500 All Time Funniest Golf Jokes, Stories & Fairway Wisdom. s. l. 1996; iid.: 500 More All Time Funniest Golf Jokes, Stories and Fairway Wisdom. s. l. 1997; Exley, H.: A Round of Golf Jokes. Watford 1992; Koreis, V.: Golf Jokes and Anecdotes from around the World. Brisbane 2008. ⫺ 17 Krögersen, E.: Ostfriesenwitze. Ffm. 1977. ⫺ 18 Manta, M./Opel, O.: Manta. Äiiih! Witze und Cartoons. Königswinter 1990; Bär, M.: Nicht ohne meinen Manta. 70 brandneue Mantawitze. Mü. 1992. ⫺ 19 Meier, J. A./Sellin, K.: Geflüstertes. Die Hitlerei im Volksmund. Heidelberg 1948; Poddel, P.: Flüster-
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witze im Dritten Reich. Mü. 1963; Vandrey, M.: Der politische Witz im Dritten Reich. Mü. 1967. ⫺ 20 Schiff, M.: Radio Eriwans Auslandsprogramm. Mü. 1973; id./Parth, W. W.: Fragen an Radio Eriwan. B./Darmstadt/Wien s. a. ⫺ 21 Jacobi, H.: Neue Flüsterwitze und Karikaturen aus dem Osten. Bern 1968; Drozdzynski, A.: Der politische Witz im Ostblock. Mü. 21978; Lif, A.: Forbidden Laughter (Soviet Underground Jokes). L. A. 1979; Kaline, J. L.: Politik und andere Witze aus den Ländern des real existierenden Sozialismus zwischen 2. und 3. Weltkrieg. Mü./B. 1980; Beckmann, P.: Hammer and Tickle. Clandestine Laughter in the Soviet Empire. Boulder 1980; Banc, C./Dundes, A.: You Call This Living? A Collection of East European Political Jokes. Athens/L. 1990; Wroblewski, C. de: Wo wir sind ist vorn. Der politische Witz in der DDR. Hbg 1990. ⫺ 22 Strohmeier, A.: Honekker-Witze. Als Politiker ist er eine Null, aber küssen kann er. Ffm. 1988. ⫺ 23 Dor, M./Federmann, R.: Der politische Witz. Mü./Wien/Basel 1964. ⫺ 24 Kühn, J.: Brand(t)-Witze. Gelächter über Kanzler, Konjunktur und Krise. Mü./B. 1974; Fienhold, H.: Kohl-Witze. Erklär ihm die Pointe nicht. Ffm. 1984. ⫺ 25 Wunder, R.: Iocus pornographicus 1⫺3. Schmiden 1969. ⫺ 26 Legman, G.: Rationale of the Dirty Joke 1⫺2. N. Y. 1968/1975; Hoffmann. ⫺ 27 cf. Mini Humor 15. Rastatt 1971. ⫺ 28 Zentner, K.: Kinderwitze. Stg. 1968; Franken, K.: W. für Jungen. Mü. 1965; W. für Kinder. Ravensburg 1977. ⫺ 29 McCosh, S.: Children’s Humor. A Joke for Every Occasion. L./Toronto/Sidney/N. Y. 1979; Wehse, R.: Warum sind die Ostfriesen gelb im Gesicht? Die Witze der 11⫺14jährigen. Ffm./Bern 1983; Bregenhøj, C./Johnson, M.: Blodet droppar, blodet droppar! Skolbarns humor. Hangö 1988; Satke, A.: ´ smeˇv a smi´ch. Anekdoty a humorky slezske´ho venU kova a hornicke´ Ostravska (Lächeln und Lachen. Witze und Schwänke aus dem schlesischen Land und dem Bergland von Ostrau). s. l. 1991. ⫺ 30 Krämer, W.: Lukasburger Stilblüten. Mü. 381974. ⫺ 31 cf. Poddel, P.: Die Idiotenwiese. Mü. 1954; Flax, P.: Party-Witze. Mü. 1968; Reed, G.: Best Psychiatric Jokes. L. 1969; Drews, G.: Alles Fußball oder was? Augsburg 2008. ⫺ 32 Dundes, A./Hauschild, T.: Kennt der Witz kein Tabu? In: ZfVk. 83 (1987) 21⫺ 31. ⫺ 33 Schenda, R.: Witze, die selten zum Lachen sind. In: ZfVk. 74 (1978) 58⫺78.
Reichertshausen
Rainer Wehse
Witzfiguren 1. Allgemeines ⫺ 2. Individuelle W.en ⫺ 2. 1. Fiktive Figuren ⫺ 2. 2. Reale Persönlichkeiten ⫺ 3. Soziale Gruppen 3. 1. Stereotype Darstellungen allg. ⫺ 3. 2. Berufe ⫺ 3. 3. Ethnische Gruppen ⫺ 3. 4. Behinderte ⫺ 4. Tiere ⫺ 5. Objekte
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Witzfiguren
1 . All ge me in es. Witzfiguren (W.en) sind in erster Linie menschliche Akteure, in geringerem Maße Tiere; in seltenen Fällen finden sich Objekte als Protagonisten von Witzen. Charakteristisch für W.en ist die stereotype Darstellung (J Stereotypen)1, wie sie auch im Schwank geläufig ist: W.en sind auf einen oder wenige Charakterzüge oder ein bestimmtes Defizit festgelegt, entindividualisiert und typisiert. Sie können allen Bereichen des täglichen Lebens angehören. Häufig tangieren sie soziale Verhältnisse und haben daher ebenso wie die Witze selbst vielfach ein hist. Verfallsdatum. Die Charakteristik einer W. ist die Basis für diverse Witzerzählungen mit verwandten Themen, weshalb sich um W.en Zyklen bilden (z. B. Klein Erna-, Ostfriesen-, Häschenwitze). 2 . I nd iv id ue ll e W.e n. Auch wenn menschliche Akteure in Witzen in der Regel nicht in Gruppen auftreten, können individuelle W.en (mit Eigennamen) von W.en, die als Angehörige einer sozialen Gruppe gekennzeichnet sind, unterschieden werden. 2 .1 . Fik ti ve Fi gu re n. Fiktive W.en treten hauptsächlich in zwei Darstellungsformen auf, die allerdings nicht immer eindeutig voneinander zu trennen sind: als Einzelfigur mit wenigen zweitrangigen Nebendarstellern oder als ,Zwillinge‘, d. h. als gleichartige Charaktere. In der Regel sind fiktive W.en typisch für eine größere Stadt, seltener eine Region oder ein Milieu. Entsprechende Witze bedienen sich meist eines lokalen Dialekts oder sind zumindest mundartlich gefärbt. Heutige Texte setzen z. T. die Tradition von Schwankgestalten (z. B. J Pfaffe vom Ka[h]lenberg, J Eulenspiegel, J Gonnella, J Hodscha Nasreddin u. a.) mit modernen Mitteln fort. Für Hamburg steht Klein Erna. Hier dominiert das Unterschichtliche, und es kommt ein stark erotisch gefärbtes und fäkalisches Element hinzu2. Einzelfiguren wie Frau Raffke3, Frau Neureich4 oder Frau Pollack5 mit Frau Navratil6 aus Wien gehören in den Bereich der Ungebildetenwitze und verspotten Neureiche aus Sicht des Bildungsbürgers. Pfiffig zeigt sich Fritzchen, der seinen Lehrern stets intellektuell überlegen ist, weshalb er bei Kindern eine Favoritenrolle einnimmt7. Ähnliches gilt für andere Kinderfiguren, wie etwa den ung.
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Mo´riczka8. Eine Gestalt eigener Prägung ist Graf Bobby mit seiner ebenfalls adligen Entourage Baron Rudi, Poldi, Mucki u. a., der mit dem Alltagsleben des degenerierten, weltfernen, vergangenheitsverhafteten Wien der k. und k. Monarchie verbunden ist9. Geistig-soziale Zwillinge sind z. B. die großstädtisch geprägten, vermutlich aus dem niederrhein. Puppenspiel stammenden Kölner Tünnes und Schäl (Anton und der Schielende, seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s). Zu ihren Themen zählen bes. Skatologisches, konfessionelle Konflikte, Auseinandersetzungen mit Behörden sowie Politisches10. Die Protagonisten oberschles. Dummenwitze sind Antek und Frantek. Entsprechende Texte thematisieren mangelnde Hygiene und andere der Unterschicht zugeschriebene Charakteristika; ihr bes. Reiz liegt in der stark vom Polnischen beeinflußten eigentümlichen Sprache, über die sich die anderen Schlesier lustig machten11. Andere Witzzwillinge sind Frau Sarasin und Frau Merian aus Basel12, die Münchner Kare und Lucke aus der Kabarett- und Volkssängerszene des beginnenden 20. Jh.s13, das von dem schwäb. Humoristen Willi Reichert erfundene Stuttgarter Freundespaar Häberle und Pfleiderer14 oder das frz. Kinderwitzpaar Toto und Cafouguette15. 2 .2 . Rea le Pe rs ön li ch ke it en. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Personen des öffentlichen Lebens, bes. Politiker16, die als J Kristallisationsgestalten fungieren, aber auch einzelne Originale, denen keine größere öffentliche Bedeutung zukam, so der Berner Friseur Dällebach Kari17 oder der Trierer Fischer Maathes (Mathias Fischer, 1822⫺79)18. Das größte Kontingent der Persönlichkeitswitze macht sich über den Protagonisten lustig. Gegenwärtig ist eine zunehmende Internationalisierung und blitzartige Ausbreitung derartiger Witze festzustellen, bedingt vor allem durch das Internet. Nach seiner Sexaffäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky entstanden Witze über den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton19; nach dem Attentat auf das New Yorker World Trade Center (11.9.2001) über Osama bin Laden, zu dieser Zeit Oberhaupt des Terrornetzwerks Al-Qaida. 3 . S oz ia le Gr up pe n. In bezug auf Angehörige sozialer Gruppen ist zwischen stereoty-
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Witzfiguren
pen Darstellungsformen allg. Art, konkreten soziokulturellen Rollen (Berufe, ethnische Zugehörigkeiten) und Personen mit Behinderungen zu differenzieren. 3 .1 . S te re ot yp e D ar st el lu ng en al lg. Großen Raum nehmen Witze über den Mann und die Frau aus der Perspektive des jeweils anderen Geschlechts und über das Verhältnis der Geschlechter (J Ehebruchschwänke und -witze, J Eheschwänke und -witze; AaTh/ ATU 1366 A*, 1375: J Pantoffelhelden) ein. Geschlechtsbezogener Spott20 manifestiert sich in stereotypen Zuschreibungen (z. B. daß Frauen unfähig seien, Auto zu fahren21), so in Dummen- bzw. Ungebildeten-Witzen22, zu denen etwa die Blondinen-Witze (seit den 1980er Jahren)23 oder die Witze über Manta-Fahrer24 gehören. Die Schwiegermutter (J Schwiegereltern) wird im Witz immer als bösartig geschildert. Da sich die gesellschaftliche Rolle von Personengruppen verändert, ist die Aktualität der entsprechenden Witze hist. bedingt (z. B. J Alte Jungfer25, Schwule [J Homophilie]). Beliebt sind auch Kinder als W.en, bes. in drei Ausformungen: im Kindermundwitz als stilblütenproduzierendes, aus Erwachsenensicht noch unfertiges Geschöpf 26, im J Schwarzen Humor der Mami-Mami-Witze („Mami, Mami, ich mag meinen kleinen Bruder nicht!“ “Kind, du ißt, was auf den Tisch kommt!“)27 sowie im gereimten Alle-Kinder-Witz („Alle Kinder stehen vor dem brennenden Haus ⫺ nur nicht Klaus, der schaut raus“)28. Weitere beliebte Figuren sind Betrunkene und ihre verquere Logik (J Trunkenheit)29 oder die mit unterschiedlichen Schwerpunkten stereotyp dargestellten Protagonisten in Übertrumpfungswitzen30. 3 .2 . B er uf e. Berufswitze bauen auf dem J Ständespott der Schwankliteratur auf, weiten aber den Bereich der betroffenen Berufe aus oder bewerten sie anders (J Beruf, Berufsschwänke). Das ist z. B. der Fall beim J Studenten, der im älteren Schwank als listig, später im Witz als schuldenmachender Säufer und danach als fauler Langschläfer charakterisiert wird. Wenn Berufe an Bedeutung verlieren oder ganz aussterben, verschwinden auch die Witze über sie, so z. B. über Dienstmädchen,
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die als mit dem Hausherrn erotisch verbandelt oder als dumm dargestellt werden31. Der sozial oder politisch Schwächere ist häufig der geistig Überlegene (J Stark und schwach). Beim Militär zieht der autoritäre Feldwebel gegenüber dem Rekruten den kürzeren („Tellijent wollt ihr sein? Intellijent seid ihr!“)32. In der traditionellen Paarung vom sich überlegen fühlenden Städter und ,dummen‘ Bauern erweist sich letzterer als pfiffiger33; ebenso wie der Kellner dem Gast eine clevere Antwort zu geben vermag34. Bes. kraß auf den Kopf gestellt wird die Realität im J Lehrer und Schüler-Witz: Im Mittelpunkt stehen dabei die stereotyp dummen oder naiven Lehrer sowie ihre Bloßstellung durch schlaue Schüler35. Bei der Begegnung zwischen examinierendem Professor und Student hat hingegen der Professor die Lacher auf seiner Seite36. Eine weitere Kategorie von Berufswitzen stellt J Arzt bzw. Psychiater und Patient einander gegenüber37. Vielfach verspottet werden Vertreter geistlicher Berufe (J Klerus, J Pfarrer), bes. häufig in erotisch aufgeladenen Witzen („Wie vermehren sich Nonnen?“ „Durch Zellteilung.“)38. In den klerikalen Umkreis gehören auch Witze über den hl. J Petrus (cf. J Petrusschwänke)39. Zudem finden sich in Witzen Rechtsanwälte (J Advokat), zerstreute Professoren40, inkompetente oder als dumm angesehene Musiker41. 3 .3 . E th ni sc he Gr up pe n. Im Witz werden auch Bevölkerungsgruppen bzw. Ethnien durch einzelne Vertreter repräsentiert (J Stereotypen, ethnische). Dabei ist die Charakterisierung um so vager, je weiter die bespöttelte Gruppe geogr. entfernt ist (J Neger)42. C. Davies widerlegt die gängige Auffassung, ethnische Witze transportierten Aggression, J Rassismus oder Diskriminierung: „The jokes in themselves are harmless. [. ..] People do not necessarily dislike those whom they disesteem. [. ..] Those who seek to use ethnic jokes as a predictor of conflict would be better advised to study more immediate indices of political tension, for there is no point in delving for covert resentments in a world where so much direct evidence is available.“43 Ethnische Witze sind ubiquitär und finden sich bereits in der griech. und röm. Antike44. Sie entstehen durch Kulturkontakt45, vorzugsweise bei benachbarten ethnischen Gruppen, wie z. B. beim norw.-
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schwed. Witzkrieg46. Internat. gesehen machen kleinere Ethnien eher Witze über größere, während auf nationaler Ebene eher Minderheiten oder Bewohner bestimmter Orte und Gegenden zu Witzopfern werden (z. B. die Appenzeller in der Schweiz47, die Bewohner des dän. Aarhus48, die Polen in den USA49, die Neufundländer in Kanada50; im dt.sprachigen Bereich die Ostfriesen51, die Preußen und Österreicher aus Sicht der Bayern, die ,reichsdt.‘ Piefkes durch die Österreicher, die J Juden, J Türken oder Neger52; cf. auch J Ortsneckereien)53. Ihre Protagonisten werden vorzugsweise als ungebildet, kulturfern, dumm, rückständig, unsauber oder J geizig dargestellt54. Im Zusammenhang mit dem ethnischen Thema stehen die ebenfalls von Stereotypen geprägten Übertrumpfungswitze nach dem Schema ,Ein Deutscher, ein Amerikaner und ein Russe‘55. 3 .4 . B eh in de rt e. Beinahe alle Behinderungen werden in Witzen thematisiert. Unter den behinderten W.en finden sich J Blinde56 oder Schielende, J Einäugige, J Hinkende, J Lahme, J Stotterer ⫺ häufig als Paar oder mit einem Psychiater im Gespräch ⫺, Rollstuhlfahrer (J Krüppel), J Schwerhörige und Gehörlose (Taubstumme), J Impotente, Debile, ,Verrückte‘ (Irrenwitz) und Kranke („Was macht ein Leprakranker beim Fußball?“ „Er foult/fault“57). 4 . Tie re. In seiner Übertragung menschlicher Probleme und Situationen auf den Bereich des Animalischen (J Anthropomorphisierung) neigt der Tierwitz zum Absurden. Hierbei bleiben Tiere einerseits unter sich, andererseits interagieren sie mit Menschen. Neben einzelnen Witzen über Tiere (Pferd, das in eine Kneipe geht und Whisky bestellt; Bulle, der ein Zebra zwecks Kopulation auffordert, den Pyjama auszuziehen) haben sich für bestimmte Tiere Zyklen ausgebildet. Sie betreffen z. B. den fiktiven Breitmaulfrosch (J Frosch)58 oder den J Elefanten, bes. in Verbindung mit der ihm überlegenen J Maus, ins Irreale tendierend durch die Umkehrung der Beziehung von Größe und Bedeutung (J Proportionsphantasie)59. Der in Deutschland bekannteste Tierwitzzyklus handelt vom Häschen. Dieses kommt mit stets dreimal wiederholten, in Kindersprache
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vorgebrachten nervenden Fragen in ein Geschäft und führt mit seiner Replik die Antworten des Geschäftsmanns J ad absurdum, weshalb sich bes. Kinder mit ihm identifizieren können60. 5 . O bj ek te. In weit geringerem Maße als Menschen und Tiere fungieren Objekte als W.en. Sie werden anthropomorphisiert und interagieren entweder mit menschlichen Protagonisten oder bleiben unter sich. Praktisch können alle Objekte zu W.en werden, wie etwa jene zwei Zahnstocher, denen beim Spazierengehen ein Igel begegnet, worauf der eine bemerkt: „Ich wußte gar nicht, daß hier auch Busse verkehren!“61 Scherzfragenzyklen beschäftigen sich dergestalt z. B. mit unfallaffinen Luftballon- oder Tomatenpaaren („Gehen zwei Tomaten über die Straße. Sagt die eine: ,Vorsicht, da kommt ein Lkwatsch!‘ Sagt die andere: ,Come on, Ketchup!‘“)62. Eine bes. Position innerhalb der Objekte nehmen technische Errungenschaften ein (Raumsatelliten, Autos, Fernseher, Computer), die ihren Benutzer z. T. bösartig zur Verzweiflung bringen63. 1 Palmenfelt, U.: Stereotypical Characters in Erotic Jokes. In: Röhrich, L./Wienker-Piepho, S. (edd.): Storytelling in Contemporary Societies. Tübingen 1990, 147⫺153. ⫺ 2 Möller, V.: Klein-Erna. Ganz dumme Hamburger Geschichten 1⫺5. Hbg 1950⫺ 64; Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 234⫺238, 320; Lauer, R./Rumold, B.: Ich, Klein Erna. Mok di man nich in de Büx. Ffm. 1987; Thomsen, H.: Geburt und Kindheit Klein-Ernas. Hbg 1961; id.: Materialien zur Entstehungsgeschichte von „Klein Erna“. In: Beitr.e zur dt. Volks- und Altertumskunde 7 (1963) 43⫺60. ⫺ 3 Röhrich (wie not. 2) 30, 185, 190, 229 sq., 237. ⫺ 4 ibid., 30, 54, 185, 190, 237, 257. ⫺ 5 ibid., 237, 248, 257. ⫺ 6 ibid., 47, 248. ⫺ 7 ibid., Reg. s. v. Fritzchen-Witze. ⫺ 8 Archiv R. Wehse. ⫺ 9 Grill, S.: Graf Bobby und Baron Mucki. Mü. 3 1940; Herr, O.: Graf Bobby und Frau Pollack. s. l. s. a.; Wickenburg, E. Graf: Armer Graf Bobby. Über den österr. Witz. s. l. s. a.; Grill, S./Bertina, M.: Graf Bobby, Baron Mucki, Poldi. Ffm. 1976; Röhrich (wie not. 2) 244⫺248, 321. ⫺ 10 Lützeler, H.: Philosophie des Kölner Humors. Honnef 1954 u. ö.; Bodensiek, K. H.: Von der bes. Form des Kölner Witzes. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 7 (1960) 227⫺ 234; Reuter, R.: Tünnes un Schäl us Kölle am Rhing. Hbg 1965; Tünnes- und Schäl-Witze. Ffm. 1976; Röhrich (wie not. 2) 77, 239⫺244, 321; Ludes, A.: Tünnes- und Schäl-Witze. Köln [1953]. ⫺ 11 Röhrich (wie not. 2) 268 sq., 323. ⫺ 12 ibid., 218, 262, 264. ⫺ 13 ibid., 218. ⫺ 14 ibid. ⫺ 15 Gaignebet,
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C.: Le Folklore obsce`ne des enfants. P. 1974, pass. ⫺ 16 Röhrich (wie not. 2) 210 sq.; Banc, C./Dundes, A.: First Prize: Fifteen Years! An Annotated Collection of Romanian Political Jokes. L./Toronto 1986; Köhler-Zülch, I.: Der politische Witz und seine erzählforscherischen Implikationen. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 71⫺85. ⫺ 17 Röhrich (wie not. 2) 218. ⫺ 18 ibid. ⫺ 19 Bregenhøj, C.: The Clinton Joke. Not over till the Punchline. In: Tradisjon 20 (1990) 153⫺161. ⫺ 20 Moser-Rath, E.: Frauenfeindliche Tendenzen im Witz. In: ZfVk. 74 (1978) 40⫺57; ead.: Frauenfeindlich ⫺ männerfeindlich. ibid. 75 (1979) 60⫺67; Lixfeld, H.: Zur ästhetischen L’art pour l’art-Theorie des Witzes. ibid., 67⫺69; Wehse, R.: Männerfeindliche Tendenzen in Witz und Schwank (?). ibid., 57⫺ 65; Willenbrock, A.: Die Rolle der Frau im Witz der Kinder und Jugendlichen. In: Wehse, R. (ed.): Warum sind die Ostfriesen gelb im Gesicht? Die Witze der 11⫺14jährigen. Ffm./Bern 1983, 142⫺145; Wehse, R.: Die Frau im Witz der Kinder. In: Gender ⫺ Culture ⫺ Poetics. Zur Geschlechterforschung in der Lit.- und Kulturwiss. Festschr. N. Würzbach. Trier 1999, 191⫺206. ⫺ 21 Zentner, K.: Autofahrerwitze. Stg. 1970. ⫺ 22 Röhrich (wie not. 2) 183⫺185. ⫺ 23 Thomas, J. B.: Dumb Blondes, Dan Quayle, and Hillary Clinton. Gender, Sexuality, and Stupidity in Jokes. In: JAFL 110 (1997) 277⫺312. ⫺ 24 Brednich, R. W./Streichan, C.: Der Manta-Witz. In: Vk. in Niedersachsen (1991) 34⫺43; cf. Zentner (wie not. 21). ⫺ 25 Baumgarten, K.: Hagestolz und Alte Jungfer. Entwicklung, Instrumentalisierung und Fortleben von Klischees und Stereotypen über Unverheiratetgebliebene. Münster 1997. ⫺ 26 Krämer, W.: Lukasburger Stilblüten. Aus den Aufsätzen der Kleinen für den Stammtisch der Großen. Unterhaching (1960) 421978. ⫺ 27 Dundes, A.: Cracking Jokes. Studies of Sick Humor Cycles and Stereotypes. Berk. 1987. ⫺ 28 Fienhold, H.: AlleWitze. Alle machen Alle-Witze, nur nicht Kläuschen, der macht Päuschen. Ffm. 1985. ⫺ 29 Röhrich (wie not. 2) 11, 174, 186. ⫺ 30 ibid., 12⫺14, cf. 120⫺ 126. ⫺ 31 ibid., 158, 190, 224, 236, 248; Zull, G.: Das Bild vom Dienstmädchen um die Jh.wende. Mü. 1984, pass. ⫺ 32 Röhrich (wie not. 2) 190 sq.⫺ 33 ibid., 20, 32. ⫺ 34 ibid., 18, 110, 192, 230. ⫺ 35 Wehse 1983 (wie not. 20); Dirx, J.-P.: Schülerwitze. Ravensburg 1986. ⫺ 36 Brednich, R. W.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, 66⫺70, num. 38, 39, 41, 42; id.: Die Ratte am Strohhalm. Mü. 1996, 110⫺115, num. 79⫺83; cf. Brunvand, J. H.: Enc. of Urban Legends. Santa Barbara/Denver/Ox. 2001, 1⫺3. ⫺ 37 Röhrich (wie not. 2) Reg. s. v. Arzt, Patient, Psychiater. ⫺ 38 Bemmann, H.: Der klerikale Witz. Olten (1970) 5 1973. ⫺ 39 Röhrich (wie not. 2) Reg. s. v. Petrus. ⫺ 40 Minkowski, H.: Das größte Insekt ist der Elefant. Professor Gallettis sämtliche Kathederblüten. Mü. 1965; Röhrich (wie not. 2) 190⫺206. ⫺ 41 Dundes, A.: Viola Jokes. A Study of Second String Humor [2002]. In: id.: „The Kushmaker“ and
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Other Essays on Folk Speech and Folk Humor. ed. W. Mieder. Burlington, Vt 2008, 163⫺179. ⫺ 42 Röhrich (wie not. 2) 2, 102, 143 sq., 285 (KannibalenWitze). ⫺ 43 Davies, C.: Ethnic Humor around the World. A Comparative Analysis. Bloom./Indianapolis 1990, 323. ⫺ 44 Müller, K.: Geschichte der antiken Ethnologie. Reinbek 1997, 338. ⫺ 45 Klintberg, B. af: Negervitsar. In: Tradisjon 13 (1983) 23⫺45; Roth, K.: Erzählen und interkulturelle Kommunikation. In: id. (ed.): Mit der Differenz leben. Münster u. a. 1996, 63⫺78, hier 69 sq. ⫺ 46 Kvideland, R.: Den norsk-svenske vitsekrigen. In: Tradisjon 13 (1983) 77⫺91. ⫺ 47 Tobler, A.: Der Appenzeller Witz. Eine Studie aus dem Volksleben. Heiden 3 1905. ⫺ 48 Varmark, L.: Hvorfor kaldes borgmeste˚ rhus for Tarzan? A ˚ rhus historiens opsta˚en, ren i A udviking og funktion. In: Tradisjon 4 (1974) 37⫺ 50. ⫺ 49 Welch, R. L.: American Numskull Tales. The Polack Joke. In: WF 26,3 (1967) 183⫺186; Barrik, M. E.: Racial Riddles and the Polack Joke. In: Keystone Folklore Quart. 15 (1970) 3⫺15; Dundes, A.: A Study of Ethnic Slurs. The Jew and the Polack in the United States. In: JAFL 84 (1971) 186⫺203; Clement, W. M.: The Types of the Polack Joke. Bloom. 1973; Raeithel, G.: Lach, wenn du kannst. Der aggressive Witz von und über Amerikas Minderheiten. Ffm. 1975. ⫺ 50 Thomas, G.: Newfie Jokes. In: Fowke, E. (ed.): Folklore of Canada. Toronto 1976, 142⫺153. ⫺ 51 Raveling, W.: Die Geschichte der Ostfriesenwitze. Leer 1993. ⫺ 52 Fischer, H.: Bergheimer, Ostfriesen, Türken, Neger. Ethnisierung von Ort und Region, Volk und Rasse in gegenwärtigen Volkserzählungen. In: Fabula 27 (1996) 286⫺296. ⫺ 53 z. B. Sessions, W. H.: More Quaker Laughter. L. 1967. ⫺ 54 Röhrich (wie not. 2) 218⫺221, 249⫺276. ⫺ 55 ibid., 120⫺ 126, 260, 285⫺287. ⫺ 56 Barrick, M. E.: The Helen Keller Joke Cycle. In: JAFL 93 (1980) 441⫺449. ⫺ 57 Archiv R. Wehse. ⫺ 58 Röhrich (wie not. 2) 5. ⫺ 59 Dundes, A.: The Elephant Joking Questions. In: Tennessee Folklore Soc. Bulletin 29 (1963) 40⫺42; Barrick, M. E.: The Shaggy Elephant Riddle. In: SFQ 28 (1964) 266⫺290; Abrahams, R. D./Dundes, A.: On Elephantasy and Elephanticide [1969]. In: Dundes, A. (ed.): Analytic Essays in Folklore. Den Haag/P. 1975, 192⫺205. ⫺ 60 Röhrich (wie not. 2) 82; Die besten Häschen-Witze. Kenttu den schon? Mü. 1977. ⫺ 61 Archiv R. Wehse. ⫺ 62 ibid. ⫺ 63 Davis, O. L.: The Sputnik Joke: Where Is It? In: Tennessee Folklore Soc. Bulletin 24 (1958) 1 sq.; Brenneke, N.: Warum hat der Trabi Räder? Die schönsten Trabi-Witze. Reinbek 1990; Wehse, R.: Das Ende des Bananenkompasses. Witze nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. In: Soc. Internat. d’Ethnologie et de Folklore. Papers 2. ed. B. G. Alver/T. Selberg. Bergen 1990, 695⫺711; Brednich, R. W.: Trabi-Witze. Ein populäres dt. Erzählgenre der Gegenwart. In: Vk. in Niedersachsen 7,1 (1990) 18⫺35.
Reichertshausen
Rainer Wehse
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Wlislocki, Heinrich von
Wlislocki, Heinrich von, *Kronstadt (ung. Brasso´, rumän. Bras¸ov) 9. 7. 1856, † Klosdorf (ung. Bethlenszentmiklo´s, rumän. Sıˆnmicla˘us¸) 19.2.1907, Volkskundler und Erzählforscher aus dem damals innerhalb der österr.-ung. Monarchie zu Ungarn gehörenden Siebenbürgen (heute Rumänien). Seine Biogr. ist nur fragmentarisch bekannt, ein Nachlaß existiert nicht1. W., Sohn eines aus Galizien stammenden österr. Finanzbeamten poln. Herkunft und einer Siebenbürger Sächsin, studierte 1876⫺80 moderne und klassische Philologie, Philosophie und Sanskrit an der ung. Univ. Klausenburg (1879 Lehramtsprüfung, 1880 Promotion). Sein von Armut und Krankheit geprägtes Leben bestritt W. vor allem mit den Honoraren seiner Publ.en. Bis Anfang 1890 lebte er mit Unterbrechungen (1884⫺85 in Rosenau) in Mühlbach, danach 1890⫺91 in Zombor, wohl 1891⫺93 in Jegenye, 1893⫺96 in Budapest und vermutlich seit 1897 bis zu seinem Tod in Klosdorf. 1899 wurde bekannt, daß er unter einer psychischen Krankheit litt. W. war Mitarbeiter u. a. der Ethnol. Mittlgen aus Ungarn und Mitglied der Ung. Ethnol. Ges. Den Schwerpunkt der ethnogr. Sammelund Forschungsarbeiten W.s bildete die Kultur der Siebenbürger und südung. (Banater) ,Zigeuner‘ (J Sinti, Roma) mit über 80 Publ.en2 vor allem aus dem Zeitraum 1884⫺923. Sein in dt. und ung. Sprache erschienenes Werk umfaßt auch volkskundliche Veröff.en zu Siebenbürger Sachsen, Ungarn, Rumänen und Armeniern4, doch sein wiss. Ruf gründete sich auf seine Sammeltätigkeit als einer der frühen Romani sprechenden Forscher zur Zeit eines erst beginnenden internat. Interesses für Roma-Folklore. W., der kaum Details über seine nur für 1883 und 1886 datierbaren Feldforschungen mitteilte, widmete sich ausschließlich den ,wandernden Zeltzigeunern‘, die lediglich drei Prozent der gesamten Romabevölkerung der Region ausmachten5. W.s materialreiche Publ.en zur Folklore der Roma reichen von Liedern über Totenklagen, Zauberformeln, Rätsel und Sprichwörter bis zu Märchen und Sagen6, wobei er der zeittypisch literarisierten Übers. für Versformen häufig den Romani-Text hinzufügte, jedoch kaum für Erzählungen7. Während bereits zeitgenössische Kritiker W.s mangelnde philol.
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Methodik, allzu freie Um- und Nachdichtungen, fragwürdige mythol. Analogien, Plagiate und seine auf der J Ind. Theorie T. J Benfeys beruhende These8, die Roma seien die Vermittler ind. Erzählguts, monierten, wurde er gleichzeitig als ,Zigeunerexperte‘ auch von Erzählforschern wie R. J Köhler, F. S. J Krauss oder E. J Veckenstedt rezipiert9. Spätere Kritiker stellten die Authentizität des Materials aufgrund linguistischer und erzählforscherischer Kriterien in Frage10. W., der seine Slgen als Beitr.e zur vergleichenden Mythologie verstand, trug einerseits zur wiss. Akzeptanz einer eigenen Folklore der Roma und andererseits, aufgrund seiner zeittypischen Suche nach dem Ursprünglichen, nach dem nomadischen ,wahren J Zigeuner‘, zur Stereotypisierung des Zigeunerbildes bei. 1 Ruch, M.: Zur Wiss.sgeschichte der dt.sprachigen „Zigeunerforschung“ von den Anfängen bis 1900. Diss. Fbg 1986, 196⫺284; Helmolt, H. F.: Ein Freund der Zigeuner. In: Das literar. Echo 21 (1907) 1632⫺1635 (engl.: A Friend of the Gypsies. In: J. of the Gypsy Lore Soc. N. S. 1 [1908] 193⫺197); W., H. von: Zur Ethnographie der Zigeuner in Südosteuropa. Tsiganologische Aufsätze und Briefe aus dem Zeitraum 1880⫺1905. ed. J. S. Hohmann. Ffm. 1994, 9⫺53; Wakabayashi, K.: H. von W. Bio-bibliogr. Daten. In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 38 (1995) 123⫺137. ⫺ 2 Black, G. F.: A Gypsy Bibliogr. Edinburgh/L. 1914 (Nachdr. u. a. Ann Arbor 1971), num. 4320⫺4402. ⫺ 3 W., H. von: Zur Vk. der transsilvan. Zigeuner. Hbg 1887 (rumän.: Asupra viet¸ii s¸i obiceiurilor t¸iganilor transilva˘neni. Buk. [1998]); id.: Vom wandernden Zigeunervolke. Hbg 1890 (rumän.: Despre poporul nomad al rromilor. Buk. 2000); id.: Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner. Münster 1891; id.: Aus dem inneren Leben der Zigeuner. B. 1892; cf. auch id.: Die Sprache der transsilvan. Zigeuner. Grammatik, Wb. Lpz. 1884; id.: Aus dem Leben der ungarländ. Zigeuner. In: Reclams Universum 14 (1898) 23⫺42; id.: Die Zigeuner. In: Helmolt, H. F. (ed.): Weltgeschichte 5. Lpz. 1905, 406⫺414; cf. Black (wie not. 2) num. 4374, 4397. ⫺ 4 cf. u. a. W., H. von: Märchen und Sagen der Bukowinaer und Siebenbürger Armenier. Hbg 1891; id.: Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen. B. 1893; id.: Aus dem Volksleben der Magyaren. Mü. 1893; id.: Aus dem Leben der Siebenbürger Rumänen. Hbg 1889. ⫺ 5 Ruch (wie not. 1) 192⫺196. ⫺ 6 W., H. von: Haideblüten. Volkslieder der transsilvan. Zigeuner. Lpz. 1880; id.: Märchen und Sagen der transsilvan. Zigeuner. B. 1886 (63 Texte; Nachdr. Hildesheim u. a. 2009); id.: Volksdichtungen der siebenbürg. und südung. Zigeuner. Wien 1890 (100 Märchen- und Sagentexte). ⫺ 7 Romani-Texte z. B.
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Woche: Die sonderbare W.
in id.: Vier Märchen der transsilvan. Zigeuner. In: Ung. Revue 6 (1886) 219⫺236; id.: Der verstellte Narr. In: Germania 33 (1888) 342⫺356; id.: Die Mäusethurmsage in Siebenbürgen. In: Germania 20 (1887) 432⫺442. ⫺ 8 id.: Beitr.e zu Benfey’s Pantschatantra. In: ZDMG 42 (1888) 113⫺150. ⫺ 9 Ruch (wie not. 1) 259⫺270; Rez.en zu W. 1890 (wie not. 3) von R. Pischel in Göttingische gelehrte Anzeigen 25 (1890) 969⫺980; W. Golther in Archiv für Anthropologie 20 (1891/92) 249⫺250; G. Meyer [1891] in id.: Essays und Studien 2. Straßburg 1893, 107⫺117; A. E. Veckenstedt in Zs. für Vk. in Sage und Mythos […] 3 (1891) 192 sq.; zu W. 1886 (wie not. 6) von R. Köhler in Literar. Centralblatt (1888) num. 21, 733; zu W. 1890 (wie not. 6) von F. S. Krauss in Am UrQuell 2,2 (1891) 31 sq.; cf. auch BP 3 (1918) 621, BP 5 (1932) 187. ⫺ 10 cf. Ruch (wie not. 1) 215, 273⫺ 284; Brednich, R. W.: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen (FFC 193). Hels. 1964, 186 sq.; Hora´lek, K.: Beitr. zur Textologie oriental. Märchen. In: Asian and African Studies 2 (1966) 24⫺37, hier 26, 29; Lı´pa, J.: O neveˇrohodnosti ciganologa H. v. Wlislocke´ho (Über die Unglaubwürdigkeit des Zigeunerforschers H. von W. ). In: Slovo a slovesnost 29 (1968) 407⫺411; cf. auch Köhler-Zülch, I.: Die hl. Familie in Ägypten […]. In: Die Sinti/Roma-Erzählkunst. ed. D. Strauß. Heidelberg 1992, 35⫺84, hier 74⫺79.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
Woche: Die sonderbare W. (AaTh/ATU 2012). Unter diesem Erzähltyp sind Kettenmärchen, Schwänke, Kinderlieder und -verse unterschiedlicher Ausprägung zusammengefaßt, in denen die J Monate des Jahres, die J Tage der W. oder die Stunden eines Tages aufgezählt und mit bestimmten Tätigkeiten oder Ereignissen verknüpft werden. Die unter AaTh 2012, 2012 A⫺D/ATU 2012 (1⫺5) subsumierten Texte wurden ausschließlich aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s in Europa aufgezeichnet, teilweise lediglich in Einzelbelegen. Sie weisen ausgeprägte inhaltliche Unterschiede auf. AaTh 2012/ATU 2012 (1) hat folgende Grundform: Ein vergeßlicher Mann (Pastor, der zugleich Handwerker ist) arbeitet am Sonntag und sieht, daß die Leute in die Kirche gehen. Er zählt die (oft alltäglichen) Tätigkeiten und Pflichten der einzelnen W.ntage auf und kommt zu dem Schluß, daß heute Sonntag sein müsse.
Belege für diesen Subtyp wurden vor allem in Nordost- und Mitteleuropa aufgezeichnet1.
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Einige unter ATU 2012 aufgeführte Texte stehen AaTh/ATU 1848 A: J Kalender des Pfarrers nahe: Hier werden meist nicht die W.ntage aufgezählt, sondern der vergeßliche Küster stellt jeden Tag einen (weiteren) Leimtopf auf, um sehen zu können, wann sieben Tage vergangen sind; ein Leimtopf wird ihm gestohlen, weshalb der Küster am Sonntag nicht in die Kirche geht2. AaTh 2012 A/ATU 2012 (2) ist die Erzählung eines Witwers, der berichtet, wie er innerhalb einer W. auf Brautwerbung geht und heiratet, seine Frau ein Kind zur Welt bringt, Frau und Kind sterben und beerdigt werden3. Deutlich häufiger als in dieser aus Spanien und Deutschland belegten Form findet sich dieser Subtyp als Kettenmärchen mit mehr oder weniger scherzhaften Ratschlägen, wie ein Mann sein böses Weib innerhalb einer W. loswird: Er verprügelt sie am Anfang der W. und ist froh, sie am Sonntag begraben zu können4. In dieser Ausprägung ist AaTh 2012 A/ ATU 2012 (2) von England über Mitteleuropa bis Ungarn verbreitet. In AaTh 2012 B/ATU 2012 (3) werden die wichtigsten Stationen eines Lebens den ersten zehn Stunden des Tages, oder Geburt, Hochzeit und Beerdigung den Tageszeiten zugeordnet. Erzählungen dieser Art wurden in Spanien5 und Ungarn6 aufgezeichnet. Ähnlichkeiten mit diesen Texten weist eine in ATU angeführte Erzählung aus Malta auf, in der das Leben eines Wurms in zehn Stunden abläuft7. In AaTh 2012 D/ATU 2012 (4) werden die Ereignisse eines Menschenlebens den W.ntagen zugeordnet. Dieser Subtyp ist ausschließlich aus England belegt. Hier wurde er seit 1842 mehrfach in Form eines Kinderreims aufgezeichnet8. AaTh 2012 C/ATU 2012 (5) enthält Ratschläge zur Kindererziehung, die ein Vogel einem Mann gibt: Der Vogel beschreibt, was er in den Monaten März bis August für seine Jungen tue, bis diese flügge werden. Der Subtyp ist bislang mit nur einer Var. aus Spanien belegt9. Die zu AaTh/ATU 2012 gestellten Texte erinnern teilweise an Volksglaubensvorstellungen, nach denen bestimmte Tätigkeiten mit bestimmten W.ntagen verbunden sind10, an die Verehrung von Heiligen an einem bestimmten Tag11 oder an verschiedene W.nsprüche12.
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Woeller, Waltraud
1 cf. Rausmaa, SK 6, num. 464, 545; Raudsep, num. 281; MNK 20121b, 20121c; SUS; Böhm, M.: Lett. Schwänke und verwandte Volksüberlieferungen. Reval 1911, num. 18; Kristensen, E. T.: Vore Fædres Kirketjeneste. Aarhus 1899, num. 5, 7, 9⫺11; id.: Danske Skæmtesagn. Aarhus 1900, num. 373; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 173; cf. Volkskundig bulletin 24 (1998) 296⫺331, num. 2012 (ndl.). ⫺ 2 Kristensen 1899 (wie not. 1) num. 1⫺3, 5, 8; cf. ; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwänke aus dem Oldenburger Land. Leer 1994, num. 181j. ⫺ 3 Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. Bonn 1935, num. 188; EM-Archiv: Vademecum 1 (1765) num. 92; Llano Roza de Ampudia, A. de: Cuentos asturianos. Madrid 1925, num. 194. ⫺ 4 MNK 20121a; Bolte, J.: Die W.ntage in der Poesie. In: ArchfNSprLit. 98 (1897) 81⫺96, 281⫺300; 99 (1897) 9⫺24; 100 (1898) 144⫺154, hier 297⫺300; Köhler/Bolte 3, 417; Opie, I. und P. (edd.): The Oxford Dict. of Nursery Rhymes. Ox. 21952, num. 509; Jb. für Volksliedforschung 3 (1932) 172, num. 17 (fläm.); Sohnrey, H.: Tchiff tchaff, toho! Gestalten, Sitten und Bräuche, Geschichten und Sagen aus dem Sollinger Walde. B. 1929, 43. ⫺ 5 de Llano Roza de Ampudia (wie not. 3) num. 198; Gonza´lez Sanz. ⫺ 6 MNK 2012 B. ⫺ 7 Mifsud-Chircop *2012 E. ⫺ 8 Opie (wie not. 4) num. 483; Halliwell, J. O.: Nursery Rhymes of England. L. 1853, num. 49. ⫺ 9 de Llano Roza de Ampudia (wie not. 3) num. 187. ⫺ 10 z. B. HDM 2 (1934⫺40) 165⫺191, hier 175; Bolte (wie not. 4) bes. 9⫺13; Wander 3 (1873) 717⫺719. ⫺ 11 Bolte (wie not. 4) 84⫺88; Revista de etnografia 5 (1965) num. 84. ⫺ 12 Bolte (wie not. 4) 88⫺96, 281⫺ 289.
Göttingen
Johanna Ella
Woeller, Waltraud (geb. Dübner), *Potsdam 4. 8. 1920, † Nächst Neuendorf 26. 1. 2004, dt. Erzählforscherin1. W. studierte in Berlin Germanistik, Kunstgeschichte und Vk. und wurde 1942 von A. Spamer mit einer Arbeit über den Publizisten A. Glasbrenner (1810⫺76) promoviert. Danach trat sie eine Stelle als Mitarbeiterin am Mhd. Wb. der Preuß. Akad. der Wiss.en zu Berlin an. Nach Kriegsende war W. zunächst Lehrerin im Schul- und Hochschuldienst. 1952 erhielt sie eine HabilitationsAspirantur, die sie 1955 mit einer Arbeit zu J sozialgeschichtlichen Aspekten des dt. Volksmärchens abschloß2. Anschließend war sie bis 1980 als Dozentin am Inst. für Völkerkunde und dt. Vk. der Humboldt-Univ. zu Berlin tätig.
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W. gehörte zu den bekanntesten Folkloristen der DDR. Sie war neben P. J Nedo, G. Burde-Schneidewind und H. J Strobach eine exponierte Vertreterin der sog. Steinitz-Schule (W. J Steinitz), die sich die Herausarbeitung des sozialkritischen Gehalts der dt. Volksdichtung zur Aufgabe gemacht hatte. Das Thema ihrer Habilitationsschrift führte sie in diversen Beitr.en fort3 und stellte in der Anthologie Dt. Volksmärchen von arm und reich (B. 1959) vor allem Texte zusammen, die die Basis für ihre Unters.en bildeten. In weiteren Studien zum Bereich der Erzählforschung4 beschäftigte sie sich u. a. mit den Brüdern J Grimm5, dem Märchen von J Amor und Psyche (AaTh/ ATU 425 sqq.)6 sowie den Sagen vom J Rattenfänger von Hameln (ATU 570*)7 und vom J Fliegenden Holländer (ATU 777*)8. Mit dem Band Hist. Volkssagen zwischen Hiddensee und Wartburg (B. 1979) legte W. eine Überblicksdarstellung der hist. Sagen Ostdeutschlands vor. Ferner ging sie Fragen der literar. Bearb. nach9 und machte auf die Vielfalt der zeitgenössischen Alltagserzählung aufmerksam10. Ihre Mitarbeit an verschiedenen Hbb. und Lexika betraf vorrangig Fragen der Volkserzählung11, griff jedoch auch auf allg. soziale und kulturelle Aspekte des Volkslebens aus. Zuletzt erarbeitete W. eine Ill. Geschichte der Kriminalliteratur (Lpz. 1984), gab einen Sammelband Dt. Volksmärchen (Lpz./Wiesbaden 1985) heraus und legte gemeinsam mit ihrem Sohn Matthias W. eine Edition von G. P. J Harsdörffers Werk Der große Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (Lpz./Weimar 1988)12 sowie die Sammelbände Es war einmal … Ill. Geschichte des Märchens (Lpz. 1990) und Sage und Weltgeschichte (B./Lpz. 1991) vor, in denen die Ergebnisse ihrer Arbeiten auf dem Gebiet der hist. und vergleichenden Erzählforschung präzisierend und vertiefend zusammengefaßt sind und neue Bereiche hist. Sagen behandelt werden. In ihren Arbeiten zur Volkserzählung geht W. von einer Motiv- und Inhaltsanalyse aus, deren Ergebnisse sie in den Kontext der herrschenden archäologischen, anthropol. und volkskundlichen Erkenntnisse einordnet13. Dabei war sie bestrebt, anhand greifbarer Realitätsbezüge Rückschlüsse auf das jeweilige gesellschaftliche Umfeld zu ziehen, in dem die
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Wogulen
Märchen- und Sagenmotive ihre Formung erfahren haben bzw. in dem sie zum Zeitpunkt der Aufzeichnung tradiert wurden. 1
Martischnig, M.: Volkskundler in der Dt. Demokratischen Republik heute. Wien 1990, 168⫺170; Neumann, S.: W. W. (1920⫺2004). In: Fabula 46 (2005) 139⫺141; Kultur und Lebensweise (1980) H. 2 (Beitr.e zur hist. Erforschung der Volksdichtung. Festschr. W. W.). ⫺ 2 W., W.: Der soziale Gehalt und die soziale Funktion der dt. Volksmärchen. In: Wiss. Zs. der Humboldt-Univ. zu Berlin, Ges.s- und sprachwiss. Reihe 10 (1961) 395⫺459; ibid. 11 (1962) 281⫺307. ⫺ 3 ead.: Die Wiedergabe von Elementen der Urgesellschaft in dt. Volksmärchen. In: Ethnogr.-archäologische Zs. 1 (1960) 124⫺142; ead.: Der soziale Protest in den Volksmärchen Mecklenburgs und Pommerns. In: Lud 48 (1963) 367⫺386; ead.: Die Triumphszene im dt. Märchen. In: Leˇtopis C 6/7 (1964) 308⫺322. ⫺ 4 ead.: Erzählrahmen der Weltlit. In: DJbfVk. 11 (1965) 219⫺228. ⫺ 5 ead.: Die Bedeutung der Brüder Grimm für die internat. Märchen- und Erzählforschung. In: Wiss. Zs. der Humboldt-Univ., Ges.s- und sprachwiss. Reihe 14 (1965) 507⫺514. ⫺ 6 ead.: Der Märchentyp von Amor und Psyche und die Gestalt des Tierbräutigams. In: Das Altertum 9 (1963) 97⫺104. ⫺ 7 ead.: Die Entstehung und Entwicklung der Sage vom Rattenfänger zu Hameln. In: Zs. für dt. Philologie 80 (1961) 180⫺206. ⫺ 8 ead.: Die Sage vom Fliegenden Holländer. In: DJbfVk. 14 (1968) 292⫺314. ⫺ 9 ead.: Elemente der volkstümlichen Lit. in der Folklore. In: VII. mezˇdunarodnyj kongress antropologicˇeskich i e˙tnograficˇeskich nauk 1964 t. 6. M. 1969, 318⫺ 327. ⫺ 10 ead.: Erzählen in der Gegenwart. In: Leˇtopis C 11/12 (1968/69) 306⫺313. ⫺ 11 ead.: Märchen. In: Dt. Volksdichtung. ed. H. Strobach. Lpz. 1979, 118⫺154; Burde-Schneidewind, G./ Kube, S./Neumann, S./Strobach, H./W., W.: Geschichte der dt. Volksdichtung. ed. H. Strobach. B. 1981. ⫺ 12 cf. auch W., W.: Bemerkungen zu Harsdörffers „Schauplätzen“. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 23 (1980) 59⫺64. ⫺ 13 cf. Pöge-Alder, K.: Märchen als mündl. tradierte Erzählungen des Volkes? Zur Wiss.sgeschichte der Entstehungs- und Verbreitungstheorien von Volksmärchen von den Brüdern Grimm bis zur Märchenforschung in der DDR. (Diss. Hbg 1991) Ffm. u. a. 1994, 206⫺218; Solms, W.: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 1999, 80⫺83.
Rostock
Siegfried Neumann
Wogulen (Eigenbezeichnung: Mansi), finnougr. Volk, dessen Siedlungsgebiet in Nordwestsibirien westl. des Mittleren und Unteren Ob und dessen Nebenflüssen liegt1. Die W. und die benachbarten J Ostjaken (Chanten),
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mit deren geistiger und materieller Kultur es große Übereinstimmungen gibt, werden zusammenfassend als Obugrier bezeichnet. 1930 wurde innerhalb der Sowjetunion der Autonome Kreis der Chanten und Mansen mit der Hauptstadt Chanty-Mansijsk gegründet, der später als Autonomes Gebiet dem Gebiet Tjumen’ zugerechnet wurde; kleinere Gruppen siedeln im Gebiet Sverdlovsk und im Nationalen Bezirk der Nenzen (J Samojeden). Die W. lebten bis ins 20. Jh. vorwiegend in kleinen Siedlungen, die z. T. in Form von Fürstentümern organisiert waren. Sie bestritten ihren Lebensunterhalt traditionell durch Fischfang und Jagd; z. T. war in den südl. Siedlungsgebieten auch Ackerbau und Viehzucht, im Norden Rentierzucht verbreitet. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jh.s brachten Öl- und Gasförderung einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung mit sich, von dem die W. allerdings am wenigsten profitieren, mittel- und langfristig durch die Zerstörung der Umwelt sogar in ihrer Existenz gefährdet sind. Nach dem letzten Zensus (2002) verstehen sich gut 11000 Personen als W., davon sprechen knapp 3000 das Wogulische als Muttersprache, wobei die jüngere Generation fast ausschließlich Russisch spricht. Von den zu Beginn des 20. Jh.s nachweisbaren vier Dialektgruppen ist nur noch das Nordwogulische lebendig, das zugleich die heutige Lit.sprache darstellt. In dieser Sprache erscheinen seit 1989 die Ztg Luima seripos (Nordlicht)2 wie auch die Werke des Nationaldichters Juvan Sˇestalov (geb. 1937)3. Die systematische Erforschung der wogul. Volksüberlieferung begann mit den Feldforschungen des Ungarn A. Reguly (1818⫺58), der epische Lieder aufzeichnete; bearbeitet und herausgegeben wurden diese Texte von P. Hunfalvy4, A. Ahlqvist5 und B. Munka´csi, der selbst zahlreiche Texte aus der mündl. Überlieferung der W. aufgezeichnet hat. Munka´csis Publ.en enthalten epische Lieder, Märchen, Sagen und Rätsel aus allen wogul. Dialekten; die Übers.en der Texte sowie ein Teil der Kommentare stammen von ihm selbst6. Die beiden letzten Bände hat B. Ka´lma´n herausgegeben7; vom ersten Band liegt auch eine dt. Übers. vor8. 1901⫺06 zeichnete der Finne A. Kannisto eine Vielzahl von Texten und Melodien aus allen Dialektgebieten auf 9. Kannisto verfaßte
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Wogulen
auch eine Synopse über die Mythologie der W., in der neben den mythol. Vorstellungen auch die betr. Rituale geschildert werden10. Da aufgrund der politischen Verhältnisse seit den 1940er Jahren Reisen in das obugr. Sprachgebiet nicht mehr möglich waren, stützten sich die Forscher z. T. auf wogul. Studierende am Inst. für Nordvölker in Leningrad als Informanten. Ka´lma´n zeichnete so meist kürzere Lieder und Erzählungen auf, die über Alltag und mythol. Vorstellungen der wogul. Gesellschaft Auskunft geben11. Die mündl. Überlieferung der W. besteht zum großen Teil aus epischen Liedern und Märchen, kleinere Formen wie Rätsel und Sprichwörter sind ebenfalls belegt, wenn auch nicht so reichhaltig. Märchen und Sagen sind in der wogul. Überlieferung größtenteils nicht scharf voneinander abgrenzbar. Ebenso finden sich in den Märchen, bes. in Heldenmärchen, vielfach versgebundene Passagen im Stil der epischen Lieder. Thematisch handelt es sich bei den von Männern für Männer zu festlichen Anlässen gesungenen epischen Liedern um Helden- und Bärenlieder. Die Heldenlieder erzählen den Lebenslauf von Helden der Vorzeit, die sich nach ihren in der Fremde vollbrachten Taten an einem bestimmten Ort als Schutzgeister niedergelassen haben und dort als Ahnengeister verehrt werden; neben lokalen Schutzgeistern gibt es auch überregionale. Die besungenen Heldentaten lassen sich z. T. mit hist. Kriegszügen der W. und Ostjaken in Verbindung bringen. Inhaltlich und formal den Heldenliedern sehr ähnlich sind die Bärenlieder, die anläßlich von Bärenzeremonien gesungen werden. In ihnen wird von der ,Geburt‘ des J Bären (Herablassen aus dem Himmel auf die Erde) erzählt, der als Kind des Oberen Himmelsgottes und als Totemtier verehrt wird, von seinem irdischen Leben sowie von seinem Tod, nach dem er erneut in den Himmel steigt12. Diese metrisch gebundenen epischen Lieder umfassen z. T. mehrere tausend Verse und werden mit Hilfe von Parallelismen, poetischen Formeln, makrostrukturellen Regeln und strengen morphosyntaktischen Strukturen improvisiert13. Weniger lang und elaboriert erscheinen die früher als Schicksalslieder bezeichneten individuellen Lieder, die profanen, biogr. und z. T. lyrischen Charakter haben; sie
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sind mit entsprechenden Liedern der J Syrjänen, J Lappen und Samojeden verwandt14. Alle diese Lieder werden in der ersten Person erzählt. Grammatikalisch weichen sie in hohem Maße, lexikalisch in geringerem Maße durch Archaismen von der Alltagssprache ab, wodurch es Muttersprachlern bereits Mitte des 19. Jh.s schwerfiel, die traditionelle Dichtung zu verstehen15. Ein weiteres Thema der Epik und verwandter Prosaformen ist die Erschaffung der Welt, wobei auch die J Sintflut als Motiv erscheint. Aus der Überlieferung der Schamanen stammen Lieder und Beschwörungsformeln, von denen es allerdings wenig Aufzeichnungen gibt. Unter den Märchen, die überwiegend von Männern erzählt wurden, sind Zaubermärchen am stärksten vertreten; diese stehen deutlich unter russ. Einfluß16. Ebenfalls beliebt sind Heldenmärchen, die oft erkennbare Derivate von versgebundener epischer Dichtung darstellen, und Tiermärchen; bei letzteren agieren am häufigsten Bär, Wolf und Fuchs, Maus sowie das Vögelchen und seine Schwester. Die Slgen von Munka´csi und Kannisto sind im Typenverzeichnis des finno-ugr. Erzählguts klassifiziert17, nach dem in den untersuchten Texten knapp 30 Erzähltypen vertreten sind. Die meisten von ihnen finden sich auch bei den J Tataren, die früher südl. von den W. siedelten und über Jh.e hinweg starken Einfluß auf sie ausübten. Die größte Anzahl von Var.n weisen die Erzähltypen AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater, AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich, AaTh/ATU 564: J Provianttasche und AaTh/ATU 569: J Ranzen, Hütlein und Hörnlein auf. Unter den Schwänken ist am stärksten eine Gruppe vertreten, die sich um die Tricksterfigur des mythol. bedeutsamen schalkhaften ,Neffen der Frau‘ (oder ,Enkelsohn der Großmutter‘)18 rankt. Ebenfalls eng mit mythol. Vorstellungen verknüpft sind die Märchen um die PorFrau und die Mo¯s´-Frau, die zugleich als Urmütter der W. bzw. Ostjaken gelten und die für die soziale Organisation der Obugrier wichtigen exogamen Phratrien Por und Mo¯s´ repräsentieren. Gewöhnlich ist es die hinterlistige Por-Frau, welche die gutmütige Mo¯s´Frau austrickst19. 1 cf. Kannisto, A.: Über die früheren Wohngebiete der W. im Lichte der Ortsnamenforschung. In: Finn.-ugr. Forschungen 18 (1928) 57⫺89. ⫺ 2 cf.
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Wolf
Bı´ro´, B./Sipo˝cz, K.: Language Shift among the Mansi. In: Variation in Indigenous Minority Languages. ed. J. N. Stanford/D. R. Preston. Amst. 2009, 321⫺346, hier 326 sq. ⫺ 3 Sˇestalov, J.: Makem at (Der Duft meines Vaterlandes). Chanty-Mansijsk 1958; id.: Mis-ne (Die Mis-Frau). Chanty-Mansijsk 1961. ⫺ 4 Reguly, A.: A vogul föld e´s ne´p (Land und Volk der W. ). ed. P. Hunfalvy. Pest 1864. ⫺ 5 Ahlqvist, A.: Wogul. Sprachtexte nebst Entwurf einer wogul. Grammatik. Hels. 1894. ⫺ 6 Reguly, A.: Vogul ne´pkölte´si gyu˝jteme´ny (Slg wogul. Volksdichtung). ed. B. Munka´csi. t. 1: Rege´k e´s e´nekek a vila´g teremte´se´ro˝l (Sagen und Lieder von der Erschaffung der Welt). Bud. 1892⫺1902; t. 2,1⫺3: Istenek ho˝si e´nekei, rege´i e´s ide´zo˝ ige´i (Götterheldenlieder, Göttersagen und Götterbeschwörungen). Bud. 1892/ 1910⫺21/1910⫺21; t. 3,1: Medvee´nekek (Bärenlieder). Bud. 1893; t. 4,1: E´letke´pek. Sorse´nekek, vite´zi e´nekek, medveünnepi szinja´te´kok, a´llatmese´k, mese´k, tala´lo´s mese´k […] (Weltbilder. Schicksalslieder, Reckenlieder, Schauspiele von Bärenfesten, Tiermärchen, Märchen, Fragemärchen […]). Bud. 1896; cf. auch id.: Vogul Folklore. ed. O. von Sadovszky. Bud. 1995. ⫺ 7 Munka´csi, B.: Manysi (vogul) ne´pkölte´si gyu˝jteme´ny (Slg mans. [wogul.] Volksdichtung). ed. B. Ka´lma´n. t. 3,2: Az obi-ugor medvetisztelet (Die obugr. Bärenzeremonie). Bud. 1952; t. 4,2: Fejezetek az obi-ugor ne´pkölte´szetbo˝l (Kap. aus der obugr. Volksdichtung). Bud. 1963. ⫺ 8 id.: Slg wogul. Volksdichtung 1. ed. E. F. Schiefer. Mü. 1980. ⫺ 9 Kannisto, A.: Wogul. Volksdichtung. ed. M. Liimola. t. 1: Texte mythischen Inhalts. Hels. 1951; t. 2: Kriegs- und Heldensagen. Hels. 1955; t. 3: Märchen. Hels. 1956; t. 4: Bärenlieder. Hels. 1958; t. 5: Aufführungen beim Bärenfest. Hels. 1959; t. 6: Schicksalslieder, Klagelieder, Kinderreime, Rätsel, Verschiedenes. Hels. 1963. ⫺ 10 Kannisto, A.: Materialien zur Mythologie der W. ed. E. A. Virtanen/M. Liimola. Hels. 1958. ⫺ 11 Ka´lma´n, B.: Chrestomathia Vogulica. Bud. 1963 ( 21975). ⫺ 12 Bartens, R.: Siivekkäille jumalille, jalallisille jumalille. Mansien ja hantien runoutta (An die geflügelten Götter, an die befußten Götter. Dichtung der Mansen und Chanten). Hels. 1986, 8⫺10; Saarinen, S.: Suomalais-ugrilaisten kansojen folklore (Die Folklore der finn.-ugr. Völker). Turku 2 1992; Schmidt, E´.: Die obugr. Bären-Konzeptionen und ihre Zusammenhänge mit den religiösen Modellsystemen. In: Specimina Sibirica 1 (1988) 159⫺ 186. ⫺ 13 cf. hierzu Widmer, A.: Die poetischen Formeln in der nordostjak. Heldendichtung. Wiesbaden 2000. ⫺ 14 Bartens (wie not. 12) 11 sq., 18; Kannisto, A.: Voguulien kohtalolauluista (Über die Schicksalslieder der W. ). In: Suomi 5,10 (1930) 3⫺5. ⫺ 15 Bartens (wie not. 12) 30 sq.; Austerlitz, R.: Ob-Ugric Metrics. The Metrical Structure of Ostyak and Vogul Folk-Poetry (FFC 174). Hels. 1958; Steinitz, W.: Ostjakologische Arbeiten. 1: Ostjak. Volksdichtung […]. ed. G. Sauer. Bud./B./Den Haag 1975, 225⫺ 230; Austerlitz, R.: Der ostjak. Versbau. In: Congressus internationalis Fenno-ugristarum. ed. G. Or-
tutay. Bud. 1963, 276⫺278. ⫺ 16 Kannisto 1956 (wie not. 9) 154⫺201. ⫺ 17 Kecskeme´ti/Paunonen, 205⫺ 265, 213 (Qu.nangaben). ⫺ 18 Kannisto 1956 (wie not. 9) 35⫺46. ⫺ 19 id. 1951 (wie not. 9) 210⫺263.
Marburg
Anna Widmer
Wolf 1. Allgemeines ⫺ 2. Negative Symbolik und Motivik ⫺ 3. Bezwingung, Zähmung und positive Zuschreibungen
1 . All ge me in es. Der W. (Canis lupus), Stammform aller Haushundrassen, ist ein auf der nördl. Erdhalbkugel verbreitetes, relativ großes, anpassungsfähiges, ausdauerndes Landraubtier, das vor allem Huftiere jagt1. Er zählt in nahezu allen Erzählgattungen zu den prominentesten Tieren, da er stets die erzählende und symbolschaffende Phantasie angeregt hat2. Hierzu haben seine markanten, in zahlreichen Ätiologien3 beschriebenen Eigenschaften beigetragen: kräftige, imposante Körperlichkeit, großes Maul, im Beutegriff erkennbar scharfe Zähne, große Zunge, schräg ansetzende Augen (,W.sblick‘), langer buschiger Schwanz, unheimliches Heulen und Auftreten in Rudeln. Jedoch konnten all diese auffälligen Merkmale nicht verhindern, daß in Mythographie und Exegese die Grenzen zu anderen Raubtieren, z. B. zum J Schakal, nicht immer sauber gezogen wurden4. In populären Vorstellungen erscheint der W. deutlich aggressiver und blutgieriger, als es seinem realen Verhalten entspricht. Kein anderes Tier ist so angstbesetzt (J Angst)5 wie der auch als Überträger der Tollwut gefürchtete W. Weitverbreitete, maßlos überzeichnende Erzählungen von W.en als menschenvernichtenden Bestien haben wohl stärker noch als realistische Gefahrenabschätzungen dazu geführt, daß W.e seit Jh.en rigoros verfolgt wurden, z. T. bis zur vollständigen Ausrottung6. W.sjagden werden in zahlreichen, nur begrenzt auf realen Grundlagen basierenden Jagderzählungen7 meist krude, oft aufschneiderisch übertreibend geschildert. 2 . Neg at iv e S ym bo li k u nd Mo ti vi k. In Fabel8, Tierepos und (Tier-)Märchen erscheint der W. vor allem als räuberischer, stets
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Wolf
hungriger Beutegänger und tierischer Archetyp der unersättlichen Gier. Immer wieder erweist er sich als brutal, boshaft und niederträchtig. So beschuldigt er in AaTh/ATU 111 A: J W. und Lamm grundlos ein Lamm, das flußabwärts aus demselben Bach trinkt, sein Wasser zu beschmutzen, und frißt es. So topisch sind die Beutegier des W.s und der hieraus entstehende Wunsch, ihr aus Sorge um bedrohte Haustiere Einhalt zu gebieten, daß sie auch in das als Scharfsinnsprobe taugliche Rätsel AaTh/ATU 1579: J W., Ziege und Kohlkopf eingeschrieben sind. Mit der Furcht vor dem Viehräuber W. darf man keinen Scherz treiben: In einer äsopischen Fabel (AaTh/ATU 1333: Der lügenhafte J Hirt) ruft ein gelangweilter Hirtenjunge wiederholt aus Spaß, ein W. bedrohe die Herde. Als eines Tages tatsächlich ein W. erscheint, ist sein Hilferuf vergebens: Der Lügner hat für immer den Anspruch auf Glaubwürdigkeit verwirkt. Eine weitere wesentliche Rolle des W.s in der Erzählliteratur ist die des Überlisteten, dem seine Gefräßigkeit, Sorglosigkeit, oft aber auch seine von anderen Tieren zu ihrem Vorteil genutzte mangelnde Umsicht und seine Dummheit zum Verhängnis werden, wie etwa in AaTh/ATU 100: Der singende J W., in AaTh/ATU 122 A⫺B: J W. verliert seine Beute oder in AaTh/ATU 34: cf. J Spiegelbild im Wasser vorgeführt wird. In einer äsopischen Fabel (AaTh/ATU 1910: J Bär [Wolf] im Gespann) zwängt er sich aus Gier gar selbst unter das Joch des Pflügers9. Eine bes. Rolle in Tierfabel und Tierepos spielt in diesem Zusammenhang der J Fuchs (J Reineke Fuchs, J Roman de Renart)10. Er ist häufig in Gegensatz zum W. (J Ysengrimus) gestellt, meist als dessen Kontrahent oder gar Feind. Fast immer ist der Fuchs das dem Leser sympathischere, listige und vorausschauende Tier, der W. das seinem Gegenspieler unterlegene, dümmere, weniger umsichtige; in dieser Hinsicht hat er teilweise die gleiche Rolle wie der J Bär. Meist wird der W. vom Fuchs getäuscht (cf. AaTh/ATU 15: J Gevatter stehen), oft von ihm in eine Falle gelockt (cf. AaTh/ATU 30⫺32: J Rettung aus dem Brunnen). In AaTh/ATU 41: J W. im Keller frißt der W. so viel, daß er nicht mehr durch den engen Ausgang hinausgelangen kann: Er wird gefangen und getötet11, während der vorsich-
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tige Fuchs entkommt. Auch in AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer entledigt sich der Fuchs seines lästigen nimmersatten Nahrungskonkurrenten. Der Versuch des W.s, den erfolgreichen J Fischdiebstahl (AaTh/ATU 1) des Fuchses nachzuahmen, schlägt fehl. Der Streit der beiden um die gemeinsamen Essensvorräte soll auf Initiative des Fuchses mit einem Eid beigelegt werden (AaTh/ATU 44: J Eid aufs Eisen). Bei dem Eisen, durch dessen Berührung der Schwur bekräftigt werden soll, handelt es sich allerdings um eine Tierfalle. Während der Fuchs ihr auszuweichen weiß, wird der W. darin gefangen. Der Fuchs versteht es gar, den W. so sehr zu täuschen, daß er ihn zum Fressen der eigenen Eingeweide (AaTh/ATU 21: Die eigenen J Eingeweide fressen) bringt. Nur wenige Überlistungen des W.s beziehen sich nicht auf das Thema Fressen und Nahrungskonkurrenz, so etwa wenn der Fuchs vorgibt, er sei verletzt (AaTh/ATU 4: J Kranker trägt den Gesunden; cf. auch AaTh/ATU 3: J Scheinverletzungen), und sich von dem tatsächlich verletzten W. tragen läßt. Auch von anderen Tieren läßt sich der W. überlisten, z. B. von einem J Hund in AaTh/ ATU 102: J Hund als Schuhmacher. In AaTh 47 B, 122 J/ATU 47 B: J W. und Pferd erfüllt der W. dem Pferd, das er fressen will, unvorsichtigerweise einen letzten Wunsch: Er zieht ihm einen Dorn aus dem Huf, woraufhin ihm das Pferd mit einem Tritt das Gesicht zerschmettert. Selbst das Schwein übertrifft den W. an Schlauheit: Als er versucht, durch den Kamin in das Haus des Schweins zu gelangen, wird er verbrannt oder mit siedendem Wasser verbrüht (AaTh/ATU 124: J W. im Schornstein). Wenn ausgerechnet das schwache Schaf den W. überlistet, findet überdies eine Verkehrung der Kräfteverhältnisse statt (J Stark und schwach): Indem ein Schaf vorgibt, W.e zu fressen, vertreibt es einen W. (AaTh/ATU 126: J Schaf verjagt den W.). In AaTh/ATU 125: J W. flieht vor dem W.skopf (cf. auch AaTh/ ATU 125, 1149: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds) finden Schafe den Kopf eines toten W.s, machen einen anderen W. glauben, sie hätten ihn getötet, und jagen den lebenden W. so in die Flucht. Auch beim Verstehen des menschlichen Verhaltens, herrschender Hierarchien und Kräfteverhältnisse erliegt der W. immer wieder gra-
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vierenden Fehleinschätzungen (cf. AaTh/ATU 51: J Löwenanteil). So bleibt er hungrig, als er die leichtfertig gegenüber einem Kind ausgesprochene Drohung der Amme (AaTh/ATU 75*: J W. und Amme) ernst nimmt, wenn es nicht mit dem Schreien aufhöre, werde sie es dem W. vorwerfen. Verhängnisvoller ist in AaTh/ATU 157: Tiere lernen J Furcht vor den Menschen die ⫺ im Gegensatz zur realistischen Beurteilung des besonnenen Fuchses ⫺ prahlerische Überschätzung der eigenen Kraft als eine dem Menschen überlegene. Zu den zahlreichen negativen Eigenschaften des W.s zählen darüber hinaus auch Hinterlist und Undankbarkeit: In AaTh/ATU 123 B: J W. im Schafspelz verkleidet sich der ausnahmsweise einmal listige W. als Schaf, um sich Zugang zu einer Schafsherde zu verschaffen. In AaTh/ATU 76: J W. und Kranich verwehrt der W. dem Kranich, der ihn mit seinem langen Schnabel von einem in seiner Luftröhre steckengebliebenen Knochen befreit hat, den Lohn; der Kranich muß froh sein, daß er seinen Kopf unbeschadet aus dem Maul des W.s herausziehen kann. Der Ort, an dem der unzivilisierte und rastlose W. der Erzählliteratur lebt, ist die Wildnis ⫺ freilich eine menschennahe, da der W. aus ihr urplötzlich in die halbwegs befriedete Welt des Menschen und seiner Herden eindringen kann. Während der W. in der Antike12 vornehmlich als bloßer Viehräuber gefürchtet war, faßte das ma. Denken13 ihn als direkte und grundlegende Bedrohung des Menschen auf14. Daher ist wohl nirgends stärker als in ma. Erzählungen die Wildnis des W.s mit einer fundamentalen Erfahrung von Wildheit und tiefgehender Unsicherheit konnotiert15. Dieser Wildnis entspricht in AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen der dem bedrohlichen Tier gemäße topisch dunkle und unwegsame J Wald. Als ungezügeltes Wildtier steht der W. häufig in einem bes., stets gespannten Verhältnis zu dem stärker kulturell gebundenen, domestizierten Haustier Hund16. In AaTh/ATU 47: J Hund imitiert den W. bezahlt der Hund den überheblichen Wunsch, ebenso furchterregend auszusehen und so kraftvoll zu sein wie der W., mit dem Leben. Dem bequemen und satten, aber unfreien Leben des Hundes zieht der W. in AaTh/ATU 201: Der freie J W. (Hund) ein entsagungsreiches Leben in Freiheit vor. In
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AaTh/ATU 101: Der alte J Hund hilft der auch hier einmal listige W. dem alten verstoßenen Hund, sich bei seiner undankbaren Herrschaft als Lebensretter ihres Kindes zu rehabilitieren. Seit der Antike wurden die negativen Eigenschaften des W.s ⫺ oft resignativ seiner unveränderbaren Natur zugewiesen17 ⫺ in Redensarten und Sprichwörtern festgehalten18: ,homo homini lupus‘, ,einen W.shunger haben‘, ,mit den W.en heulen‘, ,Der W. zeugt keine Lämmer‘, ,Ein W. ohne Zähne ist auch noch ein W. ‘. Die Redensart ,lupus in fabula‘ (,wie der W. in der Fabel/im Märchen‘) bezieht sich auf die Erfahrung, daß jemand häufig gerade dann erscheint, wenn man von ihm spricht (cf. dt. ,Wenn man vom Teufel spricht …‘). Vielleicht liegt dieser Wendung die im Volksglauben beheimatete Vorstellung zugrunde, daß man jemanden, den man fürchtet, durch Aussprechen seines J Namens ungewollt herbeilockt19. Die Charakteristika des W.s bieten sich für gesellschaftlich-politische Auslegungen und Akzentuierungen geradezu an. So findet sich seine Gier in der klerikalen Satire des Tierepos wieder, wenn der W.smönch auch im Kloster den Schafen nach dem Leben trachtet20. In der Emblematik wird dargestellt, daß die ,Gier des Fiskus‘ die notleidenden Untertanen dazu zwinge, sich das aggressive Verhalten des W.s zu eigen zu machen21. Gattungsgemäß erklären Natursagen die markanten Eigenschaften des W.s, z. B. in ätiologisch grundierten Var.n des Erzähltyps AaTh/ATU 121: J W.sturm: warum sein Rükken nicht biegefähig ist22. Sie erzählen von der vielfältig, meist negativ gedeuteten, z. B. aus Neid geborenen Entstehung des W.s23, vor allem aber von seiner dämonischen Herkunft, insbesondere in dualistischen Ätiologien: Er ist eine Schöpfung des J Teufels, den er als erstes angreift oder gar verschlingt24. Immer wieder zählen W.e zur Signatur des Bösen und des Schreckens, dienen z. B. dem mongol. Dämon J Mangus als Wächter seines Landes25. Noch wesentlicher zur Dämonisierung des W.s haben aber wohl christl. Exegese und Allegorese beigetragen, die vielleicht in letzter Konsequenz zu verantworten haben, daß der W. zumindest im westl. Kulturkreis sogar zur ,Verkörperung alles Bösen‘26 wurde. Mit der
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Bibel als Ausgangspunkt27 wird der W. als Symbol des Teufels (als Seelenräuber) gedeutet28, eine Interpretation, wie sie auch ma. Exempla zugrunde liegt29 . In diesem Sinnzusammenhang kennt die christl. Ikonographie den W. als Sinnbild der Todsünden (Hab-)Gier und Zorn oder des Häretikers30. Auch im Märchen begegnet der W. als Exponent des Bösen schlechthin31. In Mythos und Märchen tritt der W. als eindringender, grimmiger und böser Verschlinger auf: eine nicht mehr steigerungsfähige Ausprägung seines destruktiven Charakters. In der germ. Mythologie, die den W. als bes. finsteres, der J Nacht zugehöriges, zerstörerisches Wesen darstellt32, verschlingen zwei W.e zum Weltuntergang (J Eschatologie) Sonne und Mond; beide Male könnte es sich um Lokis Sohn, den W. Fenrir, handeln, der sich, bislang gefesselt, nunmehr losreißen kann33. Demgemäß steht der W. nach naturmythol. Deutungen für die dunkle Nacht, die das Licht der Sonne oder des Mondes raubt; noch spekulativer: sein Fell wird als Verkörperung der Finsternis und der Nacht gedeutet, unter dem sich, wenn auch zeitlich begrenzt, Tag und Frühling verbergen34. Als Kinder verschlingendes Ungetüm in Schreck- und Erziehungsmärchen wie AaTh/ATU 333 zur Disziplinierung der jungen Zuhörer instrumentalisiert, erfährt der W. als Kinderschreck35 seine nachdrücklichste Ausprägung. In der anthropol.-psychoanalytischen Deutung wird der Verschlingerwolf (cf. J Fressermärchen) zum alles zerreißenden und alles vertilgenden, oral fixierten, mörderisch-einverleibenden, regressiven, nicht bindungsfähigen, Reproduktion und Elternschaft verweigernden Wesen36. Fast zwangsläufig kommt dem triebgesteuerten W., bes. im Kontext der Verschlingermotivik, auch sexuelle Symbolik zu. So wird in C. J Perraults Version von AaTh/ATU 333 der Eindringling W. zum männlichen Verführer; die Gier des W.s wird hier explizit mit sexuellem Begehren verknüpft37. Der W. begegnet auch als Tier des Todes, vor allem als Todes- bzw. Unterweltsdämon, als Symbol des Krieges, des Kriegers sowie der Schlacht, z. B. als Begleittier von Kriegsgöttern wie dem röm. Mars oder dem germ. Wotan38. Im Volksglauben gilt sein Geheul oft als Vorzeichen eines Unheils39; es heißt, das Nen-
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nen seines Namens rufe ihn herbei (Namenstabu)40, und bes. wenn man ihn an den Zwölften, d. h. im Zeitraum vom Weihnachtsabend bis zum Morgen des 6. Januars, nenne, richte er großen Schaden an. In Mythos und Märchen scheint die Verwandlung (J Tierverwandlung) eines Menschen in einen W. bes. gut geeignet, den Unterschied zwischen beiden, einem wilden und einem zivilisierten Wesen, herauszustreichen: Von dämonischem Charakter ist der vor allem in der germ. Mythologie und im dt. Volksglauben begegnende Werwolf (J W.smenschen). Weitere W.sverwandlungen finden sich in AaTh/ATU 409: J W.smädchen und in AaTh 428/ATU 425 B: J Prinz als W. aus dem Umkreis der J Tierbräutigamerzählungen. 3 . B ez wi ng un g, Zä hm un g u nd po si t iv e Z us ch re ib un ge n. Oftmals erweist sich der W. in der Erzählliteratur, auch in der bes. Form des weißen, stets evasiven Geisterwolfs der Cajuns41, als nicht oder kaum bezwingbar. Nur auf ungewöhnliche Weise kann man sich vor dem W. schützen oder seiner Herr werden: Der J Musikant in der W.sgrube (AaTh 160 A, 168/ATU 168; cf. auch AaTh/ATU 1652: The Wolves in the Stable) rettet sich z. B. durch das Spielen seines Instruments42. Die Gefährlichkeit des W.s läßt dessen (prahlerisch erzählte) Bezwingung als außerordentlich mutige Tat erscheinen43: Sie begegnet in Abenteuer- und Lügengeschichten sowie in ausgesprochenen Münchhausiaden (cf. AaTh/ATU 1896: Der genagelte J W.). Angesichts des bedrohlichen Charakters des W.s erweisen sich in christl. Legenden, Mirakelerzählungen und Exempla zahme, friedliche und fügsame W.e als rechtes Wunder. Daher gelten Heilige, die W.e zähmen (diesen werden die Zähne stumpf; gehorsam und hilfreich bringen sie geraubte Tiere und Kinder unverletzt zurück oder arbeiten als Begleiter und Zug- oder Lasttiere), als um so mächtiger44, ein Befund, der selbst gilt, wenn die W.e, über die diese Heiligen gebieten, mit anderen wilden Tieren tendenziell austauschbar sind. Insbesondere in der slav. Überlieferung begegnet jedoch ein speziell den W.en gebietender W.sführer oder W.shirt, ein als J Herr der Tiere ausgewiesener Waldgeist oder an seine Stelle getretener Heiliger oder Gott, der u. a. den W.en
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Nahrung zuteilt und die Viehherden vor ihnen schützt, gelegentlich auch Menschen ihr Schicksal, d. h. den Tod durch einen W., vorhersagt (J Schicksalserzählungen)45. Im Unterschied zur negativen Semantik des W.s fügen sich seine positiven Bedeutungen kaum zu einem profilierten Gesamtbild. Immerhin begegnet der W. im Märchen als Wegweiser (J Wegweisende Gegenstände und Tiere) und als Tierhelfer (J Dankbare [hilfreiche] Tiere, cf. AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter)46: Dem Helden hilft er ⫺ wie auch in der germ. Mythologie ⫺ als Reittier, vor allem aber auch durch Verwandlungen seiner selbst, von denen jene in einen Feuervogel seine magische Kraft wohl am meisten unter Beweis stellt47. In der griech. Mythologie gilt der W. als heiliges Tier. Dem Apollon (u. a. Lichtgott), ausnahmsweise aber auch dem Sonnengott Helios zugeordnet, wird er vereinzelt fälschlicherweise zum Licht und zur Sonne in Beziehung gesetzt48. Eher, wenn auch mit Einschränkungen, kann er für die menschliche Ordnung, das Gesellschaftliche und Zivilisatorische stehen49. Umgekehrt, oft plausibler, lassen sich jedoch in der Attribuierung eines W.s die kämpferischen und kriegerischen Aspekte des funktionsreichen und widersprüchlichen Apollon erkennen. In der Gründungssage der Stadt Rom werden J Romulus und Remus von einer ⫺ später als Wahrzeichen der Stadt fungierenden ⫺ W.in gesäugt50, die ihnen hierdurch ihre Kraft verleiht (J Tieramme). Eine geschlechtsspezifische Gegenüberstellung ⫺ sorgende, nährende W.in versus zerstörerischer, aggressiver W. ⫺ verbietet sich, da der W., ungeachtet seines Geschlechts, häufig als Fruchtbarkeitssymbol begegnet51. In Zentralasien finden sich Sagen über ausgesetzte Kinder, die von einem W. und einer Krähe ernährt wurden52. Was in diesen Fällen noch nobilitierender Ausweis wunderbarer Herkunft oder späterer Exzellenz ist53, gilt für die späteren sog. W.skinder54 nicht mehr. Diese zählen nur noch zur größeren Gruppe oft unheilbringender ,wilder Kinder‘: Ausgesetzte, die wie der hierfür prototypische Kaspar J Hauser früh in die Wildnis geraten und nach jahrelanger Isolation die mühsame Rückkehr in die Zivilisation antreten. Das wohl bekannteste literar. Beispiel eines W.kindes stellt Mowgli in Rudyard
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Kiplings The Jungle Book (1894) und The Second Jungle Book (1895) dar. Im W.sritual nordwestamerik. Indianer werden den Initianden die dem W. zugeschriebene Kraft und (Krieger-)Tugenden wie Tapferkeit, Ausdauer und Weisheit verliehen55. Heilende Kräfte haben in Volksglauben56 und Märchen die Organe des W.s wie Herz und Leber, auch die W.smilch57. Im jap. Denken steht der W. für die Einheit von Mensch und Natur, die, wie in der Ausrottung des W.s in Japan deutlich erkennbar, der Moderne abhanden gekommen ist58. Respekt vor dem W. zeigt der estn. Volksglaube: Indem man dem W. einen maßvollen Teil der Viehherde als Nahrung zugesteht, wird seine Existenz akzeptiert59. Natursagen, in denen der W. mit Gottes Erlaubnis nur deshalb zum Viehräuber wird, weil z. B. der Mensch seiner Verpflichtung nicht nachkommt, ihn mit ,harmlosem‘ Brot zu versorgen60, entlasten ihn. Ohnehin wird der W. hier, um seine Gefährlichkeit zu mindern, meist von Gott in seiner Körpergröße verkleinert oder mit einem Handicap versehen61. Schon in Natursagen werden W.e als Raubtiere, die das Überhandnehmen anderer Tiere verhindern, auch als Wahrer des Gleichgewichts in der Natur akzeptiert62. Heute verteidigen zoologisch-ökologische Rehabilitationen das Lebensrecht des W.s und unterstützen den Wunsch von ,W.sfreunden‘, ihn in Mitteleuropa wieder anzusiedeln63. Mehrdimensionale W.sfiguren, unter ihnen freundliche, sympathische ,Individuen‘, die keine Angst mehr verbreiten, überwiegen in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur64. Die nicht so seltenen positiven Zuschreibungen und Mystifikationen, die reizvollen ,Wiedergutmachungen‘ und ,Aussöhnungen‘ mit dem W. mögen gute Gründe darstellen, ihn nicht nur als negative Figur zu werten, sondern ihm insgesamt einen ambivalenten oder paradoxen Charakter zuzuweisen65. 1 Grzimeks Tierleben 12,3. ed. R. Altevogt. Zürich 1972, 200⫺209. ⫺ 2 Grimm, W.: Die mythische Bedeutung des W.es. In: id.: Kl.re Schr. 4. ed. G. Hinrichs. Gütersloh 1887, 402⫺427; Zimen, E.: Der W. Mythos und Verhalten. Wien/Mü. 1978; Bernard, D.: W. und Mensch. Saarbrücken 1983; Delort, R.: Der Elefant, die Biene und der hl. W. Die wahre Geschichte der Tiere. Mü./Wien 1987, 254⫺281; Lurker, M. (ed.): Wb. der Symbolik. Stg. 51991, 837. ⫺
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3 cf. z. B. Dh. 3 und 4, Reg. s. v. W. ⫺ 4 St[örk], L.: W. In: Lex. der Ägyptologie 6. Wiesbaden 1986, 1285. ⫺ 5 Rheinheimer, M.: Die Angst vor dem W. Werwolfglaube, W.ssagen und Ausrottung der W.e in Schleswig-Holstein. In: Fabula 36 (1995) 25⫺ 78. ⫺ 6 Carbone, G.: La Peur du loup. [P.] 1991 u. ö., 13⫺18, 76⫺79. ⫺ 7 Miles, A. L.: Wolves, Foxes, Hound Dogs, and Men. In: Boatright, M. C./Hudson, W. M./Maxwell, A. (edd.): Singers and Storytellers. Dallas, Tex. 1961, 194⫺204. ⫺ 8 Küster, C. L.: Ill. Aesop-Ausg.n des 15. und 16. Jh.s 2. Diss. Hbg 1970, 296 sq., 299, 301⫺305, 308⫺311; Carnes, P.: Fable Scholarship. An Annotated Bibliogr. N. Y./L. 1985, 372⫺376; Dicke/Grubmüller, Reg., s. v. W. ⫺ 9 Perry, B. E. (ed.): Aesopica 1. Urbana, Ill. 1952, num. 38. ⫺ 10 Lemke, E./Sommerfeldt, G.: Drei Märchen aus Ostpreussen. In: ZfVk. 15 (1905) 344⫺ 347, hier 345 sq.; Ros i Vilanova, R.: Aproximacio´ a l’estudi de les rondalles d’animals. El cas del cicle de la guineu i el llop. In: Estudos de literatura oral 4 (1998) 159⫺182, bes. 182. ⫺ 11 cf. auch Schmidt 2, num. 412. ⫺ 12 Hünemörder, C.: W. In: DNP 12,2 (2003) 567⫺570. ⫺ 13 id.: W. Ma. Enzyklopädiker. In: Lex. des MA.s 9. Mü./Zürich 1998, 302 sq. ⫺ 14 Ortalli, G.: Lupi, genti, culture. Uomo e ambiente nel Medioevo. Turin 1997, 57⫺154, bes. 68⫺72. ⫺ 15 Pluskowski, A.: Wolves and the Wilderness in the Middle Ages. Woodbridge 2006, 70⫺72, 194. ⫺ 16 cf. Dh. 2, 118⫺122; Dh. 4, 104⫺106, 290⫺297; Dicke/Grubmüller, num. 594. ⫺ 17 cf. Dicke/Grubmüller, num. 600; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 96. ⫺ 18 Wander 5, 349⫺380, 1817; DWb. 14,2 (1960) 1242⫺1253; Röhrich, Redensarten 3, 1740⫺1743. ⫺ 19 Bartels, K. (ed.): Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griech. und Lat. Darmstadt 91992, 99; Duden. Zitate und Aussprüche. Mannheim/Lpz./Wien/Zürich 1993, 289. ⫺ 20 Dicke/Grubmüller, num. 634, 619. ⫺ 21 Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Hb. zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jh.s. Stg. 1967, 448⫺ 454, hier 453. ⫺ 22 Dh. 3, 42⫺44, 304 sq., 495. ⫺ 23 Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1951, num. 34. ⫺ 24 Dh. 1, 146⫺153, 164, 174, 341. ⫺ 25 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 2. Wiesbaden 1988, 546, 558, 595. ⫺ 26 Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Märchen, Mythen und Geschichten. Mü. 1995, 391⫺396, hier 392. ⫺ 27 Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 31987, 418 sq. ⫺ 28 Braunfels, W.: W. In: LCI 4 (1974) 536⫺539; Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100⫺1500) t. 1. (Diss. B. 1966) B. 1968, 452 sq. ⫺ 29 Tubach, num. 5330⫺5357. ⫺ 30 Dittrich, S. und L.: Lex. der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.⫺17. Jh.s. Petersberg 2004, 563⫺ 568. ⫺ 31 Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien […]. Göttingen 1967, 350; cf. Blattmann, E.: Das Märlein vom ,bösen‘ W. Zur Beziehung von W. und Mensch. In: Märchenspiegel 17,2 (2006) 2⫺7. ⫺ 32 Reichstein, H./AÎalsteinsson, J. H.:
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Wolf und Amme
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Paul (wie not. 38) 147 sq., 202; Levalois (wie not. 38) 49⫺62. ⫺ 52 Jila, N.: Myths and Traditional Beliefs about the W. and the Crow in Central Asia. Examples from the Turkic Wu-Sun and the Mongols. In: Asian Folklore Studies 65 (2006) 161⫺ 177. ⫺ 53 cf. Plutarch: Große Griechen und Römer 1. ed. K. Ziegler. Zürich/Stg. 1954, 78⫺80, 83, 104 sq. ⫺ 54 Bruland, H.: Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit. Stg. 2008, 101⫺112. ⫺ 55 Ernst, A. H.: The W. Ritual of the Northwest Coast. Eugene. 1952, 2 sq., 82⫺107. ⫺ 56 Peuckert (wie not. 40) 776⫺781. ⫺ 57 Cammann (wie not. 31) num. 29. ⫺ 58 Knight, J.: On the Extinction of the Japanese W. In: Asian Folklore Studies 56 (1997) 129⫺159. ⫺ 59 Rootsi, I.: Metsa hulli, metsa halli, metsa ilusa isanda … In: Eesti Loodus 29,3 (1986) 161⫺166 (engl. Zusammenfassung: The W. in Folk Tradition, 206 sq.). ⫺ 60 Albert-Llorca, M.: L’Ordre des choses. Les re´cits d’origine des animaux et des plantes en Europe. P. 1991, 201⫺204; cf. Dh. 3, 295⫺306. ⫺ 61 Dh. 1, 149 sq., 153, 341. ⫺ 62 Dh. 1, 180. ⫺ 63 Ragache, C.-C. und G.: Les Loups en France. P. 1981, 233⫺248. ⫺ 64 Laudenberg, B.: W. In: Kinder- und Jugendlit. 6,38. ed. K. Franz/G. Lange/F.-J. Payrhuber. Meitingen 2010, 1⫺32. ⫺ 65 Rowland, B.: Animals with Human Faces. A Guide to Animal Symbolism. L. 1974, 161⫺167, hier 161; Levalois (wie not. 38) 143⫺147.
Berlin
Werner Bies
Wolf und Amme (AaTh/ATU 75*), antike Fabel, die üblicherweise als Versinnbildlichung des Verhaltens von Menschen, deren Worten keine entsprechenden Taten folgen, gelesen wird, häufig mit misogyner Tendenz. Die älteste Fassung in der Collectio Augustana (5. Jh.) geht auf das J Äsop zugeschriebene Fabelkorpus zurück1: Ein hungriger W. sucht nach Fressen. Bei einem Bauernhof hört er, wie die Amme (Mutter) einem weinenden Kind droht, sie werde es dem W. überlassen, wenn es nicht still sei. Der W. macht sich Hoffnungen, aber als die Frau gegen Abend ihre Drohung nicht wahrgemacht hat, geht er fort und meint bei sich, die Leute auf diesem Hof sagten das eine, täten aber das andere.
Die Version des J Babrios (num. 16) variiert den Schluß samt Lehre mit misogyner Tendenz: Von seiner Frau befragt, warum er so spät nach Hause komme und nichts zu fressen mitbringe, antwortet der W., der Grund sei, daß er einer Frau vertraut habe2. Mit einer auf Babrios fußenden Version der Fabel beginnt die lat. Fabelsammlung des J Avianus3;
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da diese im MA. im Lateinunterricht eingesetzt wurde, existieren zahlreiche ma. Ableitungen, die für die weitere Tradierung der Fabel sorgten ⫺ u. a. im Novus Avianus des Alexander J Neckam (num. 1)4. Frühe volkssprachliche Fassungen der Fabel finden sich im Pfaffen Amis des J Stricker (num. 47) und im Edelstein des Ulrich J Boner (num. 63). Als christl. Umformung entstand eine ähnliche Warnerzählung, in der dem Kind gedroht wird, der J Teufel werde es holen. Bereits in John J Bromyards Summa predicantium (A 21,26) belegt, findet sich diese Version später u. a. in Johannes J Paulis Schimpf und Ernst (num. 90). Abgesehen von der Vermittlung der Fabel im Lateinunterricht und in zahlreichen Ms.en5 wurde ihre Verbreitung auch durch den Buchdruck begünstigt. Bedeutsam ist vor allem ihre Aufnahme in den internat. überaus erfolgreichen zweisprachigen Esopus des Heinrich J Steinhöwel (num. 115)6. Darüber hinaus erschien die Fabel in zahlreichen ma. und frühneuzeitlichen Werken, so u. a. bei Robert Henryson (2. Hälfte 15. Jh.)7, in Hans Wilhelm J Kirchhofs Wendunmuth (7,41), Carlo J Casalicchios L’utile col dolce (num. 49), Sebastia´n Meys Fabulario (1613; num. 12)8, bei Jean de J La Fontaine (4,16) und in J Abraham a Sancta Claras Huy und Pfuy! (num. 42)9. Aus der mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s ist AaTh/ATU 75* in relativ wenigen Var.n vorwiegend aus Mittel-, Süd-, Südostund Osteuropa nachgewiesen; außereurop. Var.n sind für Mittel- und Ostasien (kasach.; chin., jap.) belegt. Das Grundschema der Fabel wird allg. nur selten bzw. wenig verändert: Als der W. das Kind aufgrund der mehrmaligen Drohung der Mutter holen will, wird er von ihr mit Steinen und kochendem Wasser verscheucht (port.)10; die Frau tröstet das weinende Kind mit der Versicherung, daß man den W. töten werde, wenn er komme (bulg., kasach.)11; das Kind fängt wieder zu weinen an oder schweigt still, zum Trost nimmt die Mutter ihre Drohung zurück (finn., jap.)12. In einer frz. Var. erläutert der vorbeikommende Fuchs dem W., warum er das Kind nie bekommen werde13. In den chin. Belegen ist das Raubtier ein Tiger14. Eine span. Var. realisiert das Erzählschema mit anderen Akteuren: Ein Eseltreiber droht seinem Tier, es zu töten,
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Wolf verliert seine Beute
wenn es nicht schneller vorankomme; eine Füchsin, die hinter ihnen geht, folgt ihnen den ganzen Weg in der Hoffnung auf einen Festschmaus; müde erkennt sie zuletzt, daß der Eseltreiber sein Wort nicht wahrmachen wird15. In einem dt. Predigtmärlein des späten 17. Jh.s ist AaTh/ATU 75* mit AaTh/ATU 1: J Fischdiebstahl verbunden16. Eine im Hinblick auf die unbedacht ausgesprochene Drohung ähnliche Ausgangssituation findet sich auch in AaTh/ATU 154: J Fuchs und Glieder17. 1 Fabulae Aesopicae Collectae. ed. C. Halm. Lpz. 1911, num. 275; Aesopi Fabulae 1. ed. E. P. Chambry. P. 1925, num. 223; Corpus Fabularum Aesopicarum 1⫺2. ed. A. Hausrath. Lpz. 1940/56, num. 163; Perry, num. 158; Rodrı´guez Adrados, F.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden 1999, num. H. 163. ⫺ 2 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 16; Rodrı´guez Adrados (wie not. 1) t. 2, 196. ⫺ 3 ibid., t. 3, num. M. 323. ⫺ 4 Nachweise cf. Dicke/Grubmüller, num. 647. ⫺ 5 cf. allg. Keidel, G. C.: A Manual of Aesopic Fable Literature. Baltimore 1896 (Nachdr. N. Y. 1972); Recueils de fables et bibliographie ge´ne´rale. In: Arlima. Archives de litte´rature du moyen aˆge (im Internet). ⫺ 6 Äsop/Holbek, num. 154; cf. allg. Boivin, J.-M.: Naissance de la fable en franc¸ais. L’Isopet de Lyon et l’Isopet I-Avionnet. P. 2006; Lacarra, M. J.: Fa´bulas y proverbios en el Esopo anotado. In: Revista de poe´tica medieval 23 (2009) 297⫺329. ⫺ 7 McDonald, C.: The Fox, the W. and the Husbandman. In: Medium ævum 49 (1980) 244⫺ 253. ⫺ 8 Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos espan˜oles del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 13. ⫺ 9 Rodrı´guez Adrados (wie not. 1); Äsop/Holbek 2, num. 154; Dicke/Grubmüller, num. 647. ⫺ 10 Vasconcellos, J. L. de/Soromenho, A. da S. und J. P. C.: Contos populares e lendas 1. Coimbra 1963, num. 47. ⫺ 11 BFP 75*; Reichl, K.: Märchen aus Sinkiang. MdW 1986, num. 27 (kasach.). ⫺ 12 Rausmaa 5, num. 79; Ikeda. ⫺ 13 Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 94.1. ⫺ 14 Ting; Eberhard, Typen, 215 sq. ⫺ 15 Camarena, J./ Chevalier, M.: Cuentos tradicionales de Leo´n. Madrid 1991, num. 44. ⫺ 16 Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 188. ⫺ 17 cf. auch Chauvin 3, 78, num. 57.
Valencia
Marta Haro Corte´s
Wolf verliert seine Beute (AaTh/ATU 122 A⫺B), Gruppe von Tiererzählungen, deren Thema bei AaTh/ATU 122 umrissen und im wesentlichen in dessen Subtypen behandelt wird. Eine maßgebliche Monogr. dazu hat J. M. Pujol vorgelegt1. Neben dieser liegen
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weitere Studien vor2. Im folgenden werden nur die Untertypen A und B behandelt, die allerdings inhaltlich eng mit den anderen Untertypen verwandt sind (AaTh/ATU 6, 122 C, 227*: J Überreden zum Sprechen, Singen etc.; AaTh/ ATU 122 F: cf. J Dick und fett). AaTh/ATU 122 A: The Wolf (Fox) Seeks Breakfast besteht aus einer Kette von Episoden mit immer gleichem Ergebnis: Ein W. (Fuchs) erbeutet nacheinander verschiedene Tiere (Schwein, Schaf, Pferd), doch bevor er sie verschlingen kann, bitten sie um die Gewährung einer letzten J Gnade. Dabei handelt es sich stets um einen listigen Vorschlag, der darauf abzielt, dem erbeuteten Tier das Entkommen zu ermöglichen. Der W. gewährt die Bitte und bleibt hungrig (wird verletzt, stirbt).
AaTh/ATU 122 A begegnet bereits im Libro de buen amor des Juan J Ruiz, Arcipreste de Hita (Strophe 766⫺779; 13. Jh.; Textanfang nicht überliefert): Ein W. wird von zwei Hammeln getäuscht und verletzt; er bereut daraufhin, ein Stück Speck verschmäht zu haben, das er am Morgen des Tages entdeckt und für ein gutes Omen gehalten hatte. Daraufhin trifft er auf eine Gruppe von Ziegen, doch sie bitten darum, vor dem Gefressenwerden noch ein großes Opferfest feiern zu dürfen. Der W. geht darauf ein, den Festgesang anzustimmen; die Ziegen antworten im Chor. Durch das Geheul und Gemekker werden Hirten und deren Hunde angelockt, die den W. vertreiben. Seine nächste Beute ist eine Sau mit ihren Ferkeln; sie äußert jedoch den Wunsch, er möge erst noch ihre Kinder taufen, bevor er sie verschlingt. Als er darauf eingeht, stößt ihn die Sau in den Bach; die Strömung reißt ihn fort, und er entgeht nur knapp dem Tod durch ein Mühlrad. Die Erzählung endet mit der Moral, daß der W. besser daran getan hätte, sich mit dem Speck zufriedenzugeben.
Der Erzähltyp findet sich auch im Romulus Monacensis (num. 36)3 und in den Extravaganten (7,10) der in vielen Teilen Europas in zahlreichen Ausg.n und Übers.en außerordentlich weit verbreiteten lat.-dt. Fabelsammlung Esopus Heinrich J Steinhöwels4. Die starke mündl. Präsenz von AaTh/ATU 122 A ist mit großer Sicherheit dem Einfluß der Drucke von Fabelbüchern zuzuschreiben5. In diesen gedr. Fassungen gibt es viele nichtfunktionale Einzelheiten, die auch in etlichen mündl. Var. erscheinen, den angeführten Analysen zufolge bes. in den frz., katalan. und span. Ein am Anfang vieler Erzählungen be-
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Wolf verliert seine Beute
gegnendes Detail, der vom W. als günstiges Omen interpretierte crepitus ventris (J Furz), hat seinen Ursprung höchstwahrscheinlich in Steinhöwels Version6. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist der Erzähltyp so gut wie überall in Europa belegt; darüber hinaus finden sich arab., nordund ostafrik., afroamerik., indian., lateinamerik., westind., südasiat. und südostasiat.Var.n7. Die Häufigkeitsangaben der Typenkataloge vermitteln dabei den Eindruck, daß der Erzähltyp bes. oft auf der Iber. Halbinsel vorkommt8. Neuere literar. bearb. Fassungen finden sich bei Jacint Verdaguer (katalan.)9 sowie bei Gabriela Basterra (span.)10. Strukturell ist der Erzähltyp von H. J Jason den ,swindler tales‘ zugeordnet worden11. Pujol zufolge sind entsprechende Erzählungen komplexer als Geschichten, in denen der W. nur Angreifer und Verschlinger ist12: Hier wechselt die Rolle des Aggressors mit der des Opfers ab, wobei der W. in einer Art J Scharfsinnsprobe unfreiwillig zu seinem eigenen Scheitern beiträgt. Der AaTh/ATU 122 A eigene Charakter eines erzählerischen Rahmens, der die Verkettung einer Reihe von Episoden erlaubt, ist vielleicht der Grund für einige Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Katalogen. Speziell im frz. Typenkatalog13 ist die Analyse des Themas vereinfacht: Die Episodenkette vom W., der nach einem Frühstück sucht, ist als Typ 122 klassifiziert; dessen Analyse entspricht dabei den Var.n von AaTh/ ATU 122 A, die für Frankreich (und in großem Maße auch die Iber. Halbinsel) charakteristisch sind. Demzufolge besteht die Erzählung aus drei Hauptteilen: (1) Der W. faßt ein bestimmtes Vorkommnis (er läßt einen Furz, ein Sonnenstrahl fällt auf ihn, er träumt) als gutes Omen auf; daraufhin findet er etwas Eßbares (Speck, geräuchertes Fleisch, Honig), das er allerdings verschmäht, weil es nicht nach seinem Geschmack ist. (2) Der W. erbeutet verschiedene Tiere und wird von ihnen hereingelegt (bei Delarue/Tene`ze sind hierzu die Subtypen 122 K*: The Wolf as Judge und 122 C: cf. Überreden zum Sprechen, Singen etc. sowie für AaTh/ATU 122 A charakteristische Motive aufgeführt). (3) Der W. rekapituliert jede Situation, aus der er als Düpierter hervorgegangen ist, beklagt sich und wünscht laut, eine Axt möge vom Himmel fallen und ihn töten (ihm den Schwanz abhacken). Daraufhin wirft ein Mann von einem Baum aus eine Axt auf ihn, die ihn verletzt
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(ihm den Schwanz abschneidet, seinen Tod verursacht).
Eine ähnliche Analyse findet sich im span. Typenkatalog14 und in Pujols Art. für die katalan. Var.n; beide Arbeiten klassifizieren den Erzähltyp jedoch als 122 A, und Pujols Analyse sieht einen vierten Teil vor: Er unterscheidet zwischen der Klage des W.s und dem Schluß, in dem der W. durch die Axt, die der Mann nach ihm wirft, verletzt oder getötet wird. Die Kombination der span.sprachigen Var.n mit AaTh 122 J/ATU 47 B: J Wolf und Pferd erscheint in der speziellen Form, daß der W. einen Dorn aus dem Huf der Stute ziehen soll (cf. Mot. K 1121.1). Pujol hält es für möglich, daß die Kombination von AaTh/ATU 122 A mit AaTh/ATU 122 F in Kulturen mit Wanderviehwirtschaft vorkommt, und in der Tat liegen port. Var.n vor, in denen diese Kombination erscheint15. Jede Episode, in der der W. hereingelegt wird, ruft eine entsprechende Klage des Betrogenen hervor; der dritte Teil der Erzählung stellt eine Rekapitulation dieser Klagen dar, wodurch die Kettenstruktur der Erzählung stärker hervortritt. Am häufigsten ergeben sich Kombinationen von AaTh/ATU 122 A mit AaTh/ATU 47 B, AaTh/ATU 122 C, AaTh/ATU 122 K* und AaTh/ATU 1149: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds. Im Gegensatz zu AaTh/ATU 122 A ist AaTh/ATU 122 B: The Rat Persuades the Cat to Wash Her Face before Eating nicht episodisch strukturiert: Eine Katze läßt sich von einer erbeuteten Ratte (Eichhörnchen, Spatz) dazu überreden, sich das Maul zu reinigen, bevor sie sie verschlingt. Als die Katze erkennt, daß sie ihrer Beute auf diese Weise das Entkommen ermöglicht hat, nimmt sie sich vor, ihr Maul in Zukunft immer erst nach dem Essen zu säubern.
Von AaTh/ATU 122 B liegen finn., estn., lett., litau., schwed., färö., frz., port., ndl., fries., fläm., dt., slov., mazedon., rumän., griech., poln., osset., ind., chin., afroamerik., ost- und südafrik. Var.n sowie Var.n aus den USA vor. Zusätzlich zu der auch in vielen anderen Erzählungen thematisierten Befreiung eines (schlauen) Beutetiers (cf. bes. AaTh/ATU 1199: J Gebet ohne Ende, AaTh/ATU 6, 122 C, 227* und AaTh/ATU 61: J Fuchs und Hahn) enthalten AaTh/ATU 122 A⫺B bittere
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Wolf im Brunnen ⫺ Wolf: Der freie W. (Hund)
Klagen des Protagonisten (W. oder Katze) darüber, daß er dem letzten Wunsch seines Opfers stattgegeben hat. In AaTh/ATU 122 B führt dies dazu, daß er beschließt, sich in Zukunft anders zu verhalten; auch in einigen Var.n von AaTh/ATU 122 A, in denen der W. nicht stirbt, nimmt er sich vor, in Zukunft ohne vorherige Warnung anzugreifen16. Dieser Zug wurde mit ätiologischen Aspekten des Erzähltyps in Verbindung gebracht17. 1 Pujol, J. M.: Variacions sobre un tema narratiu. El llop cerca esmorzar (AaTh 122a) a les terres catalanes. In: Mas i Vives, J./Miralles, J./Rossello´ Bover, M. und P. (edd.): Actes de l’onze` colloqui internacional de llengua i literatura catalanes 2. Barcelona 1999, 337⫺364. ⫺ 2 BP 2, 206⫺209; Pauli/Bolte 1, num. 87; Beltra´n, R.: Rondalles populars valencianes. Valencia 2007, num. 122 A; Espinosa, A. M.: Cuentos populares de Castilla y Leo´n. Madrid 1988, num. 30, 31. ⫺ 3 Hervieux 2, 284⫺286. ⫺ 4 Steinhöwels Äsop. ed. H. Österley. Tübingen 1873. ⫺ 5 Pujol (wie not. 1) 361. ⫺ 6 ibid., 357. ⫺ 7 cf. ergänzend zu ATU: Gonza´lez Sanz, C.: El cuento folklo´rico en Arago´n. CD-ROM Zaragoza 2004; Oriol/Pujol; Noia Campos 122, 122 A; Nascimento 122, 122 A. ⫺ 8 Pujol (wie not. 1) 339 sq. ⫺ 9 Verdaguer, J.: Rondalles. In: id.: Obres completes. Barcelona 1974, 1353 sq. ⫺ 10 Sa´nchez [i.e. Basterra], G.: Cuentos que me contaron. 12 narraciones populares aragonesas de tradicio´n oral. Zaragoza 1991, 26⫺29. ⫺ 11 Jason, H.: The Narrative Structure of Swindler Tales. In: Arv 27 (1971) 141⫺160. ⫺ 12 Pujol (wie not. 1). ⫺ 13 Delarue/Tene`ze. ⫺ 14 Camarena/Chevalier. ⫺ 15 Pujol (wie not. 1) 342 sq. ⫺ 16 Eschker, W.: Mazedon. Volksmärchen. MdW 1972, num. 15. ⫺ 17 Pujol (wie not. 1) 350.
El Pueyo de Marguille´n-Graus
Carlos Gonza´lez Sanz
Wolf im Brunnen J Rettung aus dem Brunnen
Wolf: Der freie W. (Hund) (AaTh/ATU 201), äsopische Fabel über die Wahl zwischen Armut in Freiheit und Wohlstand in Gefangenschaft: Ein freilebender, magerer W. (Löwe, Hund) trifft einen wohlgenährten Haushund und fragt ihn, warum er so gut aussehe. Der Hund schildert das angenehme Leben im Dienste seines Herrn und will den W. überreden, mit ihm zu kommen. Als der W. eine kahle Stelle (Verletzung) am Hals des Hundes sieht,
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fragt er nach dem Grund und erfährt, daß der Hund die meiste Zeit angekettet werde. Daraufhin erklärt der W., er wolle anstelle des Lebens in Gefangenschaft lieber die Freiheit genießen.
Die reiche literar. Überlieferung dieser Fabel beginnt bei J Phädrus (3,7), J Babrios (num. 100) und in der J Romulus-Tradition (num. 3,15) und setzt sich in allen wichtigen lat. Slgen fort1; die frühesten volkssprachlichen Versionen finden sich bei J Marie de France (E´sope, num. 26), J Berechja ha-Nakdan (num. 61) und im Renner des Hugo von Trimberg (1300)2. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 201 in weiten Teilen Europas, im Nahen Osten sowie in Nord- und Ostafrika bezeugt. In den meisten Belegen sind W. und Haushund die Protagonisten, und der W. eröffnet den Dialog mit der Frage nach dem guten Aussehen des Hundes3. Nur in Ausnahmefällen übernimmt ein Straßenhund die Rolle des W.s4; in einer anderen Redaktion, die mit J Avianus (num. 37) beginnt, tritt an Stelle des W.s der Löwe auf. In diesen Texten fragt der Hund zuerst spöttisch nach dem elenden Dasein des Löwen und preist sein eigenes Leben, worauf der Löwe zornig entgegnet, er bevorzuge die Freiheit5. Die Entdeckung der verräterischen Stelle am Hals des Hundes entfällt hier gelegentlich, da der Hund selbst seine Gefangenschaft erwähnt. Dieser Wendepunkt der Fabel bot auch Gelegenheit zur Ausschmükkung, z. B. daß der Hund ein eisernes Halsband trägt6, eine Kette nachzieht7 oder diese Kette gar als Ehrenzeichen betrachtet (cf. Alexander J Neckam, Novus Avianus, num 37)8. In einem litau. Tiermärchen steht AaTh/ ATU 201 am Beginn einer mehrgliedrigen W.Hund-Geschichte: An die erste Begegnung der beiden Tiere schließt sich hier die durch eine List des W.s bewirkte Wiederaufnahme des Hundes auf dem Bauernhof (AaTh/ATU 101: Der alte J Hund), die Einladung des W.s zu einem Festmahl, bei dem er allerdings verprügelt wird (AaTh/ATU 100: Der singende J W.), eine gescheiterte Gerichtsverhandlung und letztlich ein Krieg der W.e gegen die Hunde (J Krieg der Tiere) an, mit dem die immerwährende Feindschaft (J Freundschaft und Feindschaft, Kap. 2.2.2) zwischen diesen Tieren erklärt wird9.
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Wolf: Der freie W. (Hund)
Die Moral der Fabel, entweder vom W. (Löwe) oder vom Erzähler vorgebracht, besteht fast immer in einem mehr oder minder ausführlichen Lob der Freiheit, die nicht wegen eines vollen Bauches aufgegeben werden dürfe; die Bandbreite reicht dabei vom kurzen, sprichwortartigen Epimythion bis zu einem ca 70 Verse umfassenden Exkurs über die Sklaverei bei Burkart J Waldis (2,18)10. Eine konträre Deutung der Fabel und ihrer Handlungsträger findet sich bei Hugo von Trimberg: Hier steht der freie W. für den törichten Menschen, der nicht bereit ist, ein geistliches Leben auf sich zu nehmen, während der Hund den in seiner Freiheit eingeschränkten, aber durch seine Pfründe abgesicherten Klosterinsassen repräsentiert11. Eine ähnlich positive Bewertung unfreien Lebens klingt schon im Promythion der Romulus-Version (Lob der Sklaventugend) an und findet sich später in der Scala coeli des J Johannes Gobi Junior (num. 438) wieder12. Eine explizit geistliche Auslegung sah aber im Löwen auch den guten Menschen, der in Freiheit und im Dienst Gottes ein seliges Leben führt, während der Hund für den J Teufel steht, der den Menschen vom freien Leben abbringen will13. In einer anderen Fabel Hugos von Trimberg wiederum gesteht der fette Hund dem mageren, er habe zwar am Hof genug zu fressen bekommen, dafür aber Prügel einstecken müssen14. Darüber hinaus wurde die Fabel auch als politische Allegorie gelesen, z. B. wurde der W. mit dem Cheruskerfürsten Arminius und der Hund mit dessen Bruder Flavius, einem Söldner im Dienst der Römer, gleichgesetzt15. Das Motiv des vermeintlich besseren Lebens, das um den Preis der Freiheit teuer erkauft wird, verbindet AaTh/ATU 201 mit anderen Fabeln, z. B. mit der von J Feldmaus und Stadtmaus (AaTh/ATU 112), J Pferd und Esel (AaTh/ATU 214*), vom frei lebenden Kalb, das den schwer arbeitenden Ochsen verspottet, bald darauf aber auf dem Opferaltar endet16, oder der Fabel vom Stieglitz, der dem Käfig entkommt und das Leben in Freiheit der regelmäßigen Fütterung in Gefangenschaft vorzieht17. Auch eine Fabel des J Pan˜catantra zeigt Parallelen zu AaTh/ATU 201: Ein Hund geht wegen einer Hungersnot in ein anderes Land, wird aber dort von seinen Artgenossen angegriffen, worauf er beschließt, lieber zu Hause
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Hunger zu leiden, dafür aber mit seiner eigenen Familie in Frieden zu leben18.
Das zentrale Motiv von AaTh/ATU 201, der hohe Wert der Freiheit, findet sich auch in einer Anekdote über den meist als genügsam und freiheitsliebend charakterisierten Philosophen J Diogenes (ATU 1871 Z [2]: Other Anecdotes about Diogenes): Als Diogenes gerade Kohl ißt (Salat wäscht), sagt ihm der Diener eines Königs, er würde im Dienst seines Herrn wohl bessere Speisen bekommen. Der Philosoph kontert, wenn der Diener selbst Kohl äße, müßte er seinem Herrn nicht schmeicheln. 1 cf. allg. Dicke/Grubmüller, num. 625; Seemann, E.: Hugo von Trimberg und die Fabeln seines Renners. Mü. 1923, 54⫺62; Schwarzbaum, Fox Fables, 321⫺ 325. ⫺ 2 Hugo von Trimberg: Der Renner 1. ed. G. Ehrismann. Tübingen 1908, V. 7343⫺7390. ⫺ 3 z. B. Babrius and Phaedrus/Perry, num. 100 (Babrius), 7 (Phädrus); Hervieux 2 (1884) num. 3,15 (Romulus); 3 (1894) num. 37 (Avian); Rodrı´guez Adrados, F.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. H. 294, M. 96; Warnke, K.: Die Qu.n des Esope der Marie de France. Halle 1900, num. 26; Hugo von Trimberg (wie not. 2); Boner, U.: Der Edelstein. ed. F. Pfeiffer. Lpz. 1844, num. 59; Steinhöwel, H.: Äsop. ed. H. Österley. Stg. 1873, num. 55; Pauli/Bolte, num. 433; Waldis, B.: Esopus 1. ed. L. Lieb/J. Mohr/H.Vögel. B./N. Y. 2011, Buch 1, num. 56; Rollenhagen, G.: Froschmeuseler. ed. D. Peil. Ffm. 1989, Buch 2.1, V. 997⫺1020; Kirchhof, Wendunmuth 7, num. 46; EM-Archiv: Das neue Vademecum 3. Ffm./Lpz. 1786, num. 152; Scheu, H./ Kurschat, A.: Pasakos apie pauksˇcˇdius. zˇemait. Tierfabeln. Heidelberg 1913, num. 24; Vrcˇevic´, V.: Srpske narodne pripovijetke. Belgrad 1868, num. 396; Poortinga, Y.: De ring fan it ljocht. Fryske folksforhalen. Ljouwert 1976, 366. ⫺ 4 cf. z. B. EMArchiv: Neiner, Tändel-Marckt (1734) 255 sq.; Cornelissen, P. J./Vervliet, J. B.: Vlaamsche volksvertelsels en wondersprookjes. Lier 1900, num. 61. ⫺ 5 cf. z. B. Berechia; Waldis (wie not. 3) Buch 2, num. 18; EM-Archiv: Joco-Seria (1631) num. 138; Gerlach: Eutrapeliae 1 (1656) num. 87; Hilarius Salustius (1717) 198. ⫺ 6 cf. z. B. Schwarzbaum, Fox Fables, 321⫺325; Hervieux 3 (1894) num. 37 (Avian) (Halsband). ⫺ 7 Warnke (wie not. 3) (Kette); Vrdevih (wie not. 3) (Strick). ⫺ 8 Hervieux 3 (1894) num. 37 (Aviani imitatorum Fabulae) (Kette als Ehrenzeichen). ⫺ 9 Danner, E.: Die Tanne und ihre Kinder. B. 21961, 206⫺215. ⫺ 10 Waldis (wie not. 3) Buch 2, num 18, V. 35⫺100. ⫺ 11 Hugo von Trimberg (wie not. 2) V. 7380⫺7390. ⫺ 12 Seemann (wie not. 1) 61 sq. ⫺ 13 Nürnberger Prosa-Äsop. ed. K. Grubmüller. Tübingen 1994, num. 36. ⫺ 14 Hugo von Trimberg (wie not. 2) V. 713⫺724; cf. Dicke/Grubmüller, num. 291. ⫺ 15 Havet, L.: La Fable du loup et du chien. In: Revue des
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Wolf und Geißlein
e´tudes anciennes 23 (1921) 95⫺102. ⫺ 16 Dicke/ Grubmüller, num. 328. ⫺ 17 ibid., 348. ⫺ 18 Benfey 1, 473; cf. Bødker, Indian Animal Tales, num. 265.
Graz
Bernd Steinbauer
Wolf und Geißlein (AaTh/ATU 123), Tiermärchen, das auf eine lat. Fabel der J Romulus-Tradition zurückgeht: Eine J Ziege geht auf die Weide und warnt ihr Kind davor, während ihrer Abwesenheit die Tür zu öffnen. Ein W. kommt und ruft das G., wobei er die J Stimme der Mutterziege nachahmt. Das G. erkennt jedoch den Betrug und weigert sich, die Tür zu öffnen1.
Diese Erzählung begegnet bei vielen späteren Fabeldichtern, so etwa bei J Marie de France (num. 89), Rabbi J Berechja ha-Nakdan (num. 21), Ulrich J Boner (Edelstein, num. 33), J Gerhard von Minden (num. 60), Heinrich J Steinhöwel (num. 29), Erasmus J Alberus (num. 12) und Nathanael J Chytraeus (num. 33)2. J La Fontaine (4,15) erweiterte sie um eine Probe, die sich auf das Aussehen der Mutter bezieht, und um ein Losungswort. Die Mutter pflegt bei ihrer Heimkehr zu sagen: „Foin du loup!“ (,Zum Henker mit dem Wolfe‘). Zufällig hört der W. diese Parole und wendet sie an, um Einlaß zu erlangen, doch das ebenso gehorsame wie gewitzte G. verlangt als weiteren Beweis dafür, daß tatsächlich die Mutter vor der Tür steht, den Fuß des W.s zu sehen, und beanstandet, daß dieser nicht weiß sei. In den alten Versionen der Fabel gelingt es dem W. nie, ins Haus zu kommen. 1646 erwähnt jedoch Johann Conrad Dannhauer in seiner Catechismus-Milch (3,170), „Daß mehrmal der Wolff an Schaafstall angeklopft vnd wie die Kinder ihr Mährlein erzehlen, gesungen: Lieben Kindlein laßt mich hinein, ich bring Euch ein gutes Düttelein ⫺ aber Mord vnd Tod ist darauff erfolgt“3. Mit der Fassung der Brüder J Grimm (KHM 5) wird die Fabel zum J Fressermärchen: Eine Geiß ermahnt ihre sieben Kinder eindringlich, sich vor dem W. in acht zu nehmen, den sie an seiner rauhen Stimme und seinen schwarzen Füßen erkennen könnten. Die G. gehorchen der Mutter und lassen den W. nicht ins Haus, doch er greift zu einer List: Er frißt Kreide, um eine sanfte Stimme zu bekommen, und als die G. ihn dennoch an seiner
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schwarzen Pfote erkennen, läßt er sich von einem Bäcker Teig darauf legen und zwingt einen Müller, Mehl darüber zu streuen. Nun kann er die G. davon überzeugen, daß er ihre Mutter sei, und sie öffnen ihm die Tür. Als sie den W. erkennen, verstecken sie sich, doch bis auf eines entdeckt er alle und frißt sie auf. Bei ihrer Heimkehr findet die Mutter nur noch das jüngste G., das sich in der Standuhr verborgen hatte. Bald darauf sieht sie den W. auf einer Wiese schlafen. Da sich in seinem Bauch etwas zu bewegen scheint, schneidet sie ihn auf (J Gastrotomie), und die G. springen lebendig daraus hervor. Sie füllen den Bauch des W.s mit Wackersteinen, und die Mutter näht ihn wieder zu. Als sich der W. nach dem Erwachen über einen Brunnen beugt, um seinen Durst zu stillen, wird er vom Gewicht der Steine hinabgezogen und ertrinkt.
AaTh/ATU 123 ist in mündl. Überlieferung in ganz Europa und im Nahen und Mittleren Osten beliebt; es handelt sich um eines der häufigsten pers. Märchen4. Statt Geißenkindern begegnen auch Lämmer, Kaninchen oder Menschen. Handelt es sich um mehr als ein Kind, so beträgt die Anzahl gewöhnlich zwei oder drei; der Bösewicht ist u. a. ein W., Bär, Tiger oder ein sagenhaftes Ungeheuer. Die sanfte J Stimme der Mutter ist das verbreitetste Erkennungszeichen. In einer Var. aus Jamaika läßt sich ein Tiger daher sogar von einem Schmied den Rachen verbrennen, um eine schöne Stimme zu bekommen5. Oft sagt oder singt die Mutter einen Vers, der dem erstmals bei Dannhauer belegten inhaltlich entspricht. In Spanien und Frankreich, in den Mittelmeerländern, in der arab. Überlieferung und auch in Mittelasien ist der Erkennungstext ein Lied der Mutter: „Zicklein, Geißlein/ Öffnet mir die Tür,/ [. ..] Ich trage Milch/ In meiner Brust/ Und Laub auf meinen Hörnern.“6 Der W. beobachtet die Ziege und lernt das Lied. Die Prüfung der Stimme und die Losung begegnen häufiger als die Aufforderung des Kindes, der Besucher möge seinen Fuß vorzeigen. In der arab. Überlieferung muß der W. (Hyäne, Füchsin) manchmal seinen Schwanz (nicht die Pfote) behandeln, damit dieser dem der Mutterziege gleicht7. Kaum ist der Bösewicht im Haus, verschlingt er die Kinder. Die Mutter kehrt zurück, erkennt, was geschehen ist, und sinnt auf Rache. Neben der Abfolge der Ereignisse in KHM 5, die sich auch in mündl. Überlieferung finden, ergeben sich hier mehrere Möglichkeiten8:
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Wolf und Geißlein
(1) Die Muttergeiß kämpft mit dem W. und verletzt ihn mit ihren spitzen Hörnern (manchmal läßt sie sich dafür eigens die Hörner schärfen). Sie tötet den W. (wobei die G. nicht immer gerettet werden), oder er ergreift die Flucht9. Oder die Ziege greift zu einem Trick, um den Tod des W.s zu bewirken: (2) Sie fordert den W. zum Sprung über ein Gewässer heraus; er fällt hinein und ertrinkt10. (3) Sie richtet es ein, daß der W. in kochendes Wasser fällt und sich verbrüht (AaTh/ATU 124: J W. im Schornstein)11. (4) Sie lädt den W. ein und läßt ihn in ein Loch, in dem sie Feuer gemacht hat, bzw. in eine versteckte heiße Grube fallen12. In der häufig nachgedruckten Fassung des rumän. Schriftstellers Ion J Creanga˘ (Capra con trei iezi, 1875), die einen langen Losungsreim enthält, köpft und frißt der W. zwei der drei Zicklein und findet am Ende den Tod in einer Feuergrube.
In den Fassungen (2)⫺(4) werden die Kinder gewöhnlich nicht gerettet. Weitgehend die gleiche Handlung wie AaTh/ ATU 123 hat die in Südosteuropa, Georgien und bei den Tataren belegte Erzählung vom Fuchs und seinem kleinen Pferd (AaTh/ATU 123 A: The Fox Buys a Foal and Leaves It at Home): Der W. verschafft sich mit verstellter Stimme Zugang zum Haus des Fuchses und frißt dessen kleines Pferd; der Fuchs nimmt Rache, indem er den W. in eine Feuergrube oder einen Kessel mit kochendem Wasser fallen läßt, oder er führt seinen Tod auf andere Weise herbei. Manchmal ist AaTh/ATU 123 A Bestandteil eines Konglomerats von Episoden, in denen der Fuchs und der W. gegeneinander agieren13. Der Zug, daß ein Kind eine sanfte Stimme und/oder einen Losungsreim hören möchte, erscheint auch in AaTh/ATU 327 F: J Hexe und Fischerjunge, wobei die Hexe ihre Stimme oft vom Schmied feinhämmern läßt (Mot. F 556). Traditionelle Singverse als Erkennungsworte sind in afrik. und afrik.-amerik. Erzählungen beliebt14. Dem Märchen von W. und G. entspricht auch die Handlung einiger afrik. Erzählungen mit abweichenden Figuren (Oger und Kinder, Oger und Mädchen, Schlange und Kind, Hase und Wolf)15. In den ostasiat. Erzählungen von der Tigergroßtante (J Tiger) spielt manchmal ebenfalls die Überprüfung der Stimme oder des Aussehens eine Rolle (zu diesem Zweck kopiert die Gegenspielerfigur z. B. die Gesichtsmale der Tante)16.
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Die Grimm-Fassung mit dem pädagogischen Hinweis, man solle vor Fremden auf der Hut sein, genoß lange Zeit große Beliebtheit17. Psychoanalytische Deutungen setzten das Verschlingen der G. in Beziehung zu oralen infantilen Phantasien18. Komparatistisch arbeitende Folkloristen übergingen die Variationsbreite der überlieferten Fassungen und konzentrierten sich auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Ende der Grimm-Fassung und der bibl. Geschichte von J Jonas und dem Wal, dem Mythos von Kronos, der seine Kinder verschlingt (J Zeus), und bes. AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen19. Babrius and Phaedrus/Perry, num. 572. ⫺ 2 Dicke/ Grubmüller, num. 650. ⫺ 3 Birlinger, A.: Findlinge. In: Alemannia 13 (1885) 133⫺141, hier 135. ⫺ 4 Marzolph, 19. ⫺ 5 Afanas’ev 1, num. 54; El-Shamy, H.: Tales Arab Women Tell. Bloom. 1999, 63⫺69, num. 1; Beckwith, M. W.: Jamaica Anansi Stories. N. Y. 1924, num. 91. ⫺ 6 Tomkowiak, I./Marzolph, U.: Grimms Märchen internat. Paderborn 1996, num. 2 D (prov.), cf. E (tscheremiss.), G (pakistan.). ⫺ 7 Muhawi, I./Kanaana, S.: Speak, Bird, Speak Again. Palestinian Arab Folktales. Berk. 1989, num. 38 (Hyäne); El-Shamy (wie not. 5) num. 1⫺ 1 (Füchsin). ⫺ 8 Espinosa 3, num. 212, 3. Gruppe; Goldberg, C.: The W. and the Kids (ATU 123) in Internat. Tradition. In: Erzählkultur. Festschr. H.J. Uther. B./N. Y. 2009, 277⫺291, hier 281⫺283. ⫺ 9 Espinosa 3, num. 212, Typ VI; Tomkowiak/Marzolph (wie not. 6) num. 2 E, F; Muhawi/Kanaana (wie not. 7). ⫺ 10 Lorimer, D. L. R. und E. O.: Persian Tales. L. 1919, 3⫺5; Megas, num. 123,1. ⫺ 11 Espinosa 3, num. 212, Typ VII; Cosquin 2, num. 66; Delarue/Tene`ze. ⫺ 12 Eberhard/Boratav, num. 8 A; Afanas’ev 1, num. 53⫺54; Ruhi, S.: The Bone Motif and Lambs in the Turkish Folktale „The Reed Door“. In: Asian Folklore Studies 59,1 (2000) 59⫺ 77, hier 64⫺66. ⫺ 13 Espinosa 3, num. 212, Typ VII; Hahn 2, 100⫺109, num. 85 (griech.); BFP 123 A. ⫺ 14 Swart, P. D.: Die Visverhale. In: Tydskrif vir Vk. en Volkstaal 26,3⫺4 (1970) 19⫺32; Beckwith (wie not. 5) 278; Bascom, W.: African Folktales in the New World. Bloom. 1992, 207⫺210 (6 Texte mit Lied, 3 mit Stimmbeschaffenheit); ATU 705 B; ElShamy (wie not. 5) num. 2; Schmidt, S.: Tiergeschichten in Afrika. Köln 1996, num. 29. ⫺ 15 ead.: Children Born from Eggs. Köln 2007, num. 853, 855, 856 A; Baer, F.: Sources and Analogues of the Uncle Remus Tales (FFC 228). Hels. 1980, 90⫺92. ⫺ 16 Eberhard, W.: The Story of Grandaunt Tiger [1970]. In: Dundes, A. (ed.): Little Red Riding Hood. Madison 1989, 22⫺63, hier 32 sq., 36; Baolin, Dun: „Grandma W.“ and Little Red Ridinghood. In: Petzoldt, L. (ed.): Folk Narrative and World View 1. Innsbruck 1996, 67⫺71. ⫺ 17 Scherf, W.: Die 1
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Wolf: Der genagelte W.
Herausforderung des Dämons. Mü. 1987, 83⫺90; Scherf 2, 1413⫺1416; Mieder, W.: Grimms Märchen ⫺ modern. Stg. 1979, 119⫺130; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 12⫺15. ⫺ 18 Ro´heim, G.: Fire in the Dragon. Princeton 1992, 161⫺165. ⫺ 19 Olrik, A.: Den lille Rødhætte og andere Æventyr om Mennesker. In: Naturen og Mennesket 11 (1894) 24⫺39; Liungman, Volksmärchen, num. 123; Dundes (wie not. 16) 22.
Los Angeles
Christine Goldberg
Wolf: Der genagelte W. (AaTh/ATU 1896), dem J Jägerlatein zuzurechnender Erzähltyp, der von einem ungewöhnlichen Jagdabenteuer berichtet: Ein Mann sieht auf der Pirsch einen W. (Fuchs) vor einem Baum stehen, steckt einen Nagel in seine Flinte und schießt den Schwanz des Tieres am Baumstamm fest (cf. J Schützenkünste). Dann fügt er dem Tier einen Schnitt am Hals zu und schlägt so lange auf es ein, bis es sich aus seinem Fell löst und enthäutet davonjagt.
Der wahrscheinlich bekannteste Beleg für diese mit Augenzwinkern als ,wahr‘ erzählte Aufschneiderei findet sich unter den Erzählungen des ,Lügenbarons‘ J Münchhausen, die erstmals 1781 im Vade Mecum für lustige Leute1 veröffentlicht und von Gottfried August J Bürger 1786 in seine Anthologie mit dichterischer Freiheit behandelter J Münchhausiaden aufgenommen wurde. Hier ist es ein ,wunderschöner schwarzer Fuchs‘, der mit einem Nagelschuß an einen Baum geheftet und nach einem ,Kreuzschnitt übers Gesicht‘ aus seinem ,schönen Pelz‘ herausgeprügelt wird2. Das relativ knapp wiedergegebene Geschehen ist in eine Vielzahl ähnlich fiktiver Jagdabenteuer eingebettet, die in der Folge z. T. auch aus mündl. Überlieferung bezeugt sind3. Allerdings ist AaTh/ATU 1896 mündl. nur sporadisch belegt. Der Erzähltyp wurde in Skandinavien4, im Baltikum5 sowie in Ost-6 und Mitteleuropa7 aufgezeichnet, ferner liegen Belege aus den USA8, aus Kanada9 und aus der Karibik10 vor, die offenbar auf Einwanderer oder Sklaven zurückgehen. Trotz des begrenzten, meist nur knapp wiedergegebenen Inhalts weist der Erzähltyp Variationen auf. Mitunter endet die Geschichte bereits damit, daß der Schuß das jeweilige Tier an den Baum nagelt11. In anderen Var.n wird
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behauptet, daß ihm der abgezogene Pelz nachgewachsen sei12. In einem Beleg trifft der enthäutete Fuchs ein zweites Mal auf den Mann, der ihn am Baum festgeschossen hatte, und macht diesem Vorwürfe; der Erzähler, der sich zugleich als der Schütze zu erkennen gibt, bekräftigt die J Glaubwürdigkeit seiner Erzählung, indem er einen Zeugen benennt13. In anderen als Ich-Erzählung präsentierten Var.n erfolgt die Bekräftigung des Realitätsgehalts der Erzählung durch den Erzähler selbst14. Ähnlichkeit mit AaTh/ATU 1896 weist eine Erzählung auf, in welcher der Schwanz des Tieres im Eis festgefroren ist (cf. AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer). Hier fehlt der gezielte Schuß, doch der Ich-Erzähler prügelt den Gefangenen ebenfalls aus dem Pelz heraus ⫺ und will ihn dann erschossen haben15. Kombinationen von AaTh/ATU 1896 mit anderen Erzähltypen bilden nach den vorliegenden Aufzeichnungen die Ausnahme16. In keinem der Belege aus mündl. Überlieferung wird Bezug auf den Lügenbaron genommen, so daß die Abhängigkeit von den Münchhausiaden als unwahrscheinlich angesehen werden kann; in mündl. Überlieferung scheint AaTh/ATU 1896 vielmehr autochthon und eventuell sogar früher entstanden zu sein. 1 EM-Archiv: Vademecum 8 (1781) 95, num. 175,5. ⫺ 2 Bürgers Werke in einem Band. ed. L. Kaim/S. Streller. Weimar 1956, 237. ⫺ 3 Bolte, J./ Polı´vka, G.: Münchhausens Jagdabenteuer in slaw. Volksschwänken. In: ZfVk. 28 (1918) 130⫺132. ⫺ 4 Kristensen, E. T.: Molbo- og Aggerbohistorier 1. Viborg 1892, num. 354, 387, 388; Liungman; Bartens, H. H.: Märchen aus Lappland. MdW 2003, num. 70; Rausmaa, SK 4, num. 205 sq. ⫺ 5 Ara¯js/ Medne *1896 A; Aarne, A.: Estn. Märchen- und Sagenvar.n. Hels. 1918, 1896*. ⫺ 6 SUS; Barag. ⫺ 7 z. B. van der Kooi; MNK; Henßen, G.: Volk erzählt. Münster 1935, num. 297 (westfäl.); Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem oberpfälz.-böhm. Grenzgebiet. Münster 1965, num. 211; Cornelissen, P. J./ Vervliet, J. B.: Vlaamsche Volksvertelsels en Wondersprookjes. Lier 1900, num. 74; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 276; Bolte/Polı´vka (wie not. 3). ⫺ 8 Baughman; Dorson, R. M.: Bloodstoppers and Bearwalkers. Folk Traditions of the Upper Peninsula. Cambr., Mass. 1952, 144. ⫺ 9 AaTh. ⫺ 10 Flowers. ⫺ 11 Cornelissen/Vervliet (wie not. 7). ⫺ 12 Henßen (wie not. 7); Dorson (wie not. 8). ⫺ 13 Dittmaier, H.: Märchen und Schwänke von der unteren Sieg. Bonn 1950, num. 395. ⫺ 14 Cornelissen/Vervliet (wie not. 7). ⫺ 15 Dorson, R. M.: Buying the Wind. Chic./
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Wolf im Keller
L. 1964, 346 sq. ⫺ 16 Cornelissen/Vervliet (wie not. 7) (⫹ AaTh 1889 L** ⫹ AaTh/ATU 1890); Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 136 (⫹ AaTh/ATU 1890 ⫹ 1900 ⫹ AaTh 1893/ATU 1891).
Rostock
Siegfried Neumann
Wolf im Keller (AaTh/ATU 41), weitverbreitete Erzählung aus dem Zyklus von J Fuchs und W. Das Tiermärchen hat sich anscheinend aus einer frühhellenistischen Fabel mit anderer Figurenkonstellation entwickelt, die in der zuerst in anonymen Slgen belegten Form später u. a. bei J Babrios (num. 86; wohl 2. Jh. p. Chr. n.) erscheint1: Ein hungriger Fuchs frißt sich in einer Baumhöhle am Inhalt einer Hirtentasche voll und kann mit seinem wohlgefüllten Bauch dann nicht mehr herauskommen. Ein Artgenosse sagt zu ihm, nun müsse er dort so lange ausharren, bis er wieder so mager sei wie zuvor.
Es handelt sich um eine Fabel mit resignativer bzw. zynischer Tendenz, die sich gegen allzu große Gier richtet; der Kommentar stammt von einem zufälligen Beobachter, wobei die Rollen des Dummen und des Klugen auf Tiere derselben Spezies verteilt sind2. In der vielrezipierten Version des J Horaz (Epistolae 1,7,29⫺33; 1. Jh. a. Chr. n.)3 schlüpft das ,schmächtige Füchslein‘ (vulpecula; nach anderer Lesart nitedula [Spitzmaus]) in einen Getreidekasten, das zweite Tier ist hier ein Wiesel; weitere Maus/Wiesel-Var.n finden sich in der Folge u. a. bei J Hieronymus (Epistolae 79,3) oder J Berechja ha-Nakdan (num. 35)4. Bei J Gregor von Tours (Historia Francorum 4,9) und im J Speculum morale (3,11,7) erscheint eine Nebenform mit einer Schlange, die sich in einer Weinflasche volltrinkt5. Var.n mit dem Fuchs als Protagonisten und dem Wiesel als Ratgeber6 lassen sich über das MA., so das Speculum sapientiae des Cyrillus7 und den Tripartitus moralium des J Konrad von Halberstadt8, bis hin zu Erasmus J Alberus (num. 38), Burkart J Waldis (num. 1,44), Hans J Sachs9 oder Nathanael J Chytraeus (num. 48) verfolgen; in der dt. Unterhaltungsliteratur des 17./18. Jh.s stehen dem verfressenen Fuchs in der Fleischkammer als Kommentator entweder ein anderer Fuchs10, eine Maus11 oder ein Wiesel zur Seite12. Lope de J
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Vega definiert in seiner Komödie Santiago del verde die Ratgeber der Füchsin nicht näher13; J La Fontaine (Fables 3,17) macht das Wiesel zum Protagonisten und eine Ratte zum Kommentator. In der Pred. 5,14 erläuternden Version des Midrasch Kohelet Rabba (5,21) muß der Fuchs zweimal drei Tage lang fasten ⫺ zuerst, um sich in einen Weinberg zu schleichen, und dann, um wieder herauszukommen. Diese Fassung hat sich in der ma. jüd. Überlieferung, u. a. bei J Joseph ibn Sabara (Kap. 8), niedergeschlagen14. Das Motiv des Fastens vor dem Fressen enthält auch ein barockes Predigtmärlein vom Fuchs im Hühnerstall, in dem ein Hahn ⫺ wie in populären Texten öfter ⫺ sowohl Ratgeber als auch Verräter ist15; ein rumän. Märchen erzählt vom Fuchs im Obstgarten (AaTh 41*: Fox in the Orchard)16. Die traditionelle Rollenverteilung mit dem W. als (dummem) Nimmersatt und dem Fuchs als überredendem oder beratendem Partner (auch Diener) findet sich zuerst in Tierepen und in Exempla des 12./13. Jh.s17: Der W., der sich oft aus Hunger hilfesuchend an den Fuchs wendet, läßt sich von diesem in einen Vorratskeller führen und frißt sich dort so voll, daß er nicht mehr durch das Eingangsloch paßt; der vorsichtige Fuchs dagegen stellt sein mögliches Entkommen sicher. Der W. wird meist getötet oder zumindest verprügelt.
Ein ähnliches Thema behandelt schon eine Episode des J Ysengrimus (V. 903⫺1117): Der W. öffnet im Klosterkeller alle Fässer und schwimmt im Wein, worauf er von den Mönchen hinausgeprügelt wird. Im J Roman de Renart (Branche XIV, 647⫺843) folgt auf das sog. Weinabenteuer das Mißgeschick im Vorratskeller (AaTh/ATU 41), welches auch in Fassungen des J Reineke Fuchs-Epos erscheint18. Schon in dieser Frühzeit konnten Autoren von Exempla anscheinend auf weitere Versionen zurückgreifen: J Odo of Cheriton (num. 60) nennt den W. Ysengrimus, den Fuchs Renaldus und setzt letzteren mit dem Teufel gleich19, scheint sich aber weder auf Branche XIV des Roman de Renart noch auf den Ysengrimus zu beziehen. Bei J Jacques de Vitry (num. 174) und in der humorvollen Fassung des John of Sheppey (gest. 1360)20 ist der Widerpart des W.s eine Füchsin, ähnlich wie in span. und ital. Var.n, die im 20. Jh. aus mündl. Überlieferung aufgezeichnet wurden21; bei
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Wolf und Kranich
dem anglonormann. Franziskaner Nicole Bozon (frühes 14. Jh.) ist der von einem Kater ins Verderben geführte Protagonist wie in der Fabel ein Fuchs22. Wie es dem zyklischen Charakter der Tiermärchen entspricht, verbindet sich AaTh/ATU 41 häufig mit anderen Erzähltypen, vor allem AaTh/ATU 1: J Fischdiebstahl, AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer, AaTh/ATU 4: cf. J Kranker trägt den Gesunden oder AaTh/ATU 34: cf. J Spiegelbild im Wasser. In der dreiepisodigen Fassung der Brüder J Grimm (KHM 73 [21819])23 muß der Fuchs als körperlich Schwächerer dem W. etwas zu fressen verschaffen; der Kellerepisode gehen Raubzüge in einem Schafstall und in einer Küche voran. KHM 73 erinnert an zwei Erzählungen bei Hans Wilhelm J Kirchhof 24, steht aber auch der (mehrepisodigen) Fabel vom W. und vom hungernden Hund (cf. AaTh/ATU 100: Der singende J W.)25 nahe, wie überhaupt AaTh/ ATU 41 und AaTh/ATU 100 kaum voneinander zu trennen sind26. Aufzeichnungen aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s finden sich fast überall in Europa, am häufigsten in Deutschland und Frankreich; weitere, z. T. vereinzelte Belege stammen aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Indien, Ostasien, Polynesien, einigen Gebieten Amerikas (Louisiana, Mexiko, Brasilien, Westind. Inseln) sowie allen Teilen Afrikas. In vielen Var.n erscheinen landestypische Akteure, z. B. Kaninchen und Bouki im Süden der USA27, Schakal und Igel bei den Berbern28, Füchsin und Opossum in Brasilien29. Bei ATU 41 sind vier Erzähltypen integriert, die bei AaTh noch als Übernahmen aus regionalen Katalogen separat aufgeführt waren: AaTh 33*: Fox Overeats in Cellar (11 ir. Var.n); AaTh 33**: Fox Overeats, is Caught, Feigns Death (20 ir. Var.n)30; AaTh 41* (1 rumän. Var.); AaTh 160**: The Fox Steals from the Man’s Storehouse (1 lapp. Var.). Diese sind wohl eher in der Nachfolge der antiken Fabel zu verstehen, denn es scheint nur ein Hauptakteur aufzutreten, und zwar der Fuchs; das Thema Überredung/Bitte um Hilfe scheint zu fehlen. Andere Tiergeschichten wiederum erweitern die Fabel vom Fuchs im Weinberg31 im Sinne des Märchens von W. und Fuchs32. 1 Rodrı´guez Adrados, F.: History of the GraecoLatin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. H. 24; Babrius and Phaedrus/Perry, 425, num. 24. ⫺ 2 Rodrı´-
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guez Adrados (wie not. 1). ⫺ 3 ibid.; Horaz: Satiren und Episteln. ed./Übers. O. Schönberger. B. 21991, 171. ⫺ 4 Schwarzbaum, Fox Fables, 210⫺218, hier 210 sq.; cf. ferner Dicke/Grubmüller, num. 216. ⫺ 5 Rodrı´guez Adrados (wie not. 1) num. M. 427; Dicke/Grubmüller, num. 216. ⫺ 6 ibid.; Cifarelli, num. 433. ⫺ 7 Die beiden ältesten lat. Fabelbücher des MA.s. Des Bischofs Cyrillus Speculum sapientiæ […]. ed. J. G. T. Grässe. Tübingen 1880, 85 sq. ⫺ 8 Konrad von Halberstadt: Tripartitus moralium 3. Hs. Göttingen, Niedersächs. Staats- und Univ.sbibl., 4º theol. 113, 369b. ⫺ 9 Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 1. ed. E. Goetze. Halle 1893, num. 60; ibid. 3. ed. E. Goetze/H. Drescher. Halle 1900, num. 115. ⫺ 10 EM-Archiv: Gerlach, Eutrapeliarum libri 1 (1656) num. 719; Hilarius Salustius, Weeg-Gefährth (1717) 305 sq. ⫺ 11 EM-Archiv: Neiner, Tändl-Marckt (1734) 163 sq. ⫺ 12 EM-Archiv: Kobolt, Schertz und Ernst (1747) 524 sqq. ⫺ 13 Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, num. 2. ⫺ 14 Schwarzbaum, Fox Fables, 211⫺216. ⫺ 15 Moser-Rath, num. 226. ⫺ 16 Schullerus 35 I*. ⫺ 17 Dicke/Grubmüller, num. 222; Rodrı´guez Adrados (wie not. 1) num. M. 362, M. 400; Tubach, num. 4092, cf. num. 5346. ⫺ 18 Dicke/Grubmüller, num. 222; EM 11, 489. ⫺ 19 cf. auch Cosquin 1, 163. ⫺ 20 Hervieux 4, 437, num. 50. ⫺ 21 Espinosa 1, num. 205; Anderson, W.: Novelline popolari sammarinesi. Tartu 1933, num. 25, 65, 66; De Simone, R.: Fiabe campane 1. Turin 1994, num. 42; Lares 20 (1954) 168. ⫺ 22 Les Contes moralise´s de Nicole Bozon. ed. L. Toulmin Smith/P. Meyer. P. 1889, num. 145. ⫺ 23 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./ N. Y. 2008, 173 sq.; cf. auch Tomkowiak, 215. ⫺ 24 Kirchhof, Wendunmuth 7, num. 44 (AaTh/ATU 41), 45 (u. a. Schafstallepisode). ⫺ 25 Dicke/Grubmüller, num. 627; z. B. Steinhöwels Äsop. ed. H. Österley. Tübingen 1873, num. 92. ⫺ 26 cf. z. B. Delarue/Tene`ze 41 (I B 9), 41 A*. ⫺ 27 Ancelet, B. J.: Cajun and Creole Folktales. N. Y. 1994, num. 4. ⫺ 28 Laoust, E.: Contes berbe`res du Maroc 2. P. 1949, 10. ⫺ 29 Cascudo, L. da Caˆmara: Contos tradicionais do Brasil. Bahia 21955, 277. ⫺ 30 cf. auch Rı´o Cabrera, J. A. del/Pe´rez Bautista, M.: Cuentos populares de animales de la Sierra de Ca´diz. Ca´diz 1998, num. 16. ⫺ 31 cf. not. 14. ⫺ 32 z. B. STF, num. T 188; Spies, O.: Türk. Märchen. MdW 1967, num. 40.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Wolf und Kranich (AaTh/ATU 76), äsopische Fabel, die den Bruch eines Versprechens und damit die fehlende J Dankbarkeit nach in Notlage geleisteter Hilfe thematisiert (cf. AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn;
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Wolf und Kranich
AaTh/ATU 778: cf. Geloben der großen J Kerze). Ein W. (Fuchs, Tiger, Löwe, Bär, Hyäne), der seine Beute gierig verschlungen hat, droht an einem Knochen in seinem Rachen zu ersticken. Er setzt eine Belohnung für denjenigen aus, der ihn davon befreit. Ein Kranich (Storch, Reiher, Rabe, Sperling, Specht; Schlange) kommt ihm zu Hilfe, zieht den Knochen aus seinem Rachen und fordert den versprochenen Lohn ein. Daraufhin entgegnet ihm der W., es sei bereits Belohnung genug, daß er ihn verschont habe.
In der abendländ. Überlieferung ist der Erzähltyp im Rahmen der Äsopika verbreitet; er geht jedoch möglicherweise auf altind. Vorbilder zurück. Mit einem Löwen als Handlungsträger findet sich die Erzählung bereits in den J Ja¯takas (num. 308)1. Anhand einer chin.buddhist. Fassung des 4. Jh.s n. u. Z. und ihrer Übereinstimmung mit zwei Jaina-Rez.en des J Pan˜catantra hat J. J Hertel den seiner Ansicht nach ind. Ursprung der Erzählung diskutiert2. Die in der Midrasch-Lit. Rabbi Joshua ben Hananiah (gest. 131) zugeschriebene aram. Version erwähnt ebenfalls einen Löwen3. In der europ. Überlieferung4 ist der Erzähltyp mit einem W. u. a. bei J Phädrus5 und J Babrios6 sowie in der lat. J Romulus-Tradition7 belegt. In lat. Fassungen ist die Fabel u. a. im Romulus Nilantinus (11. Jh.), im Anonymus J Neveleti8, bei J Odo of Cheriton9 sowie in den Exempelsammlungen von J Jacques de Vitry10 und J Vincent de Beauvais11 überliefert. Eine frühe frz. Version findet sich bei J Marie de France12. Auch die hebr. Fassung von Rabbi J Berechja ha-Nakdan13 oder die arab. im Kita¯b al-agˇwiba al-muskita (Buch der schlagfertigen Antworten) des Ibn Abı¯ ¤Aun (gest. 934), die im Kap. ,Griech. Fabeln‘ angeführt wird14, gehen auf die äsopische Überlieferung zurück. Ma. dt. Übertragungen sind u. a. bei Hugo von Trimberg (Renner, V. 1933⫺1972) und Ulrich J Boner15 belegt; die Fassung bei Heinrich J Steinhöwel16 diente als wirkmächtige Vermittlungsinstanz. Aus dem 16. Jh. ist der Erzähltyp im dt. Sprachraum u. a. bei Martin J Luther17, Burkart J Waldis18 und Hans J Sachs19 nachweisbar. Über die Fassungen europ. Schriftsteller des 17.⫺ 19. Jh.s wie J La Fontaine20 oder J Lessing21 fand er bes. durch die Aufnahme in Schulbücher weitere Verbreitung22.
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Aus der mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s ist die Fabel nahezu in ganz Europa belegt; darüber hinaus liegen Belege aus Georgien, Tadschikistan, Indien, der Mongolei, China, Marokko, Ägypten, Ost-, Zentral-, Südwest-23 und Südafrika sowie von den karib. Inseln vor. Manchmal schließt die Fabel mit der Rache des Betrogenen. So hackt der Specht in den Jaina-Rezensionen des Pan˜catantra dem Löwen ein Auge aus; der Machtausgleich führt letztlich zur Versöhnung beider Parteien24. Einzig in der Ja¯taka-Var. schützt sich der Vogel durch das Einsetzen zweier Stöckchen in das Löwenmaul vorsorglich gegen das Gefressenwerden25. Anhand des durch W. und Kranich exemplifizierten Verhältnisses von J Stark und Schwach vermitteln ma. Versionen der Fabel konkrete soziale Anliegen, meist eingebettet in eine christl. Ethik26. Im Wolfenbütteler Äsop (num. 8) werden etwa Themen wie leere Versprechen, Taktiken der Verdrehung und Hohn sowie ein opportunistisches Verständnis der ma. J Ständeordnung (Kap. 3) akzentuiert27. Hugo von Trimberg fordert explizit Entlohnung für geleistete Dienste: Lohn sei keine Gnade des Herrn, sondern vielmehr für Arbeit geschuldeter Verdienst28. Auch bei Jacques de Vitry steht der W. für den undankbaren und skrupellosen Reichen, der von der Arbeit der Armen lebt29. Der breiten Überlieferung der Fabel entspricht die häufige Darstellung von W. und Kranich (Reiher) in der ma. Ikonographie30. 1 Chavannes 4, num. 51; Bødker, Indian Animal Tales, num. 1245; Lüders, E.: Buddhist. Märchen aus dem alten Indien. MdW 1979, 375 sq. ⫺ 2 Hertel, J.: Me¯ghavijayas Auszug aus dem Pan˜catantra. In: ZfVk. 16 (1906) 249⫺278, hier 256⫺259; cf. auch Chavannes 4, 120. ⫺ 3 Schwarzbaum, Fox Fables, 51⫺56, hier 52. ⫺ 4 Grubmüller, K.: Meister Esopus. Mü./Zürich 1977, 130; Dicke/Grubmüller, num. 631; Rodrı´guez Adrados, F.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden u. a. 2003, num. H. 161, M. 254. ⫺ 5 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 1,8. ⫺ 6 ibid., num. B 94. ⫺ 7 Hervieux 2, num. 11. ⫺ 8 ibid. 2, num. 1,8. ⫺ 9 Jacobs, J. C.: The Fables of Odo of Cheriton. Syracuse 1985, num. 13 (6). ⫺ 10 Jacques de Vitry/Crane, num. 136. ⫺ 11 Hervieux 2, num. 5. ⫺ 12 Die Fabeln der Marie de France. ed. K. Warnke. Halle 1898, num. 7. ⫺ 13 Schwarzbaum, Fox Fables, num. 8. ⫺ 14 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 283. ⫺ 15 Der Edelstein
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Wolf und Lamm
von Ulrich Boner. ed. F. Pfeiffer. Lpz. 1844, num. 11. ⫺ 16 Steinhöwels Äsop. ed. H. Österley. Stg. 1873, num. 8. ⫺ 17 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausg. 50. Weimar 1914, 445 sq., 458; ibid., Tischreden 3 (1914), num. 3490,2. ⫺ 18 Burkhard Waldis: Esopus. ed. L. Lieb/J. Mohr/H. Vögel. B./N. Y. 2011, num. 1,6. ⫺ 19 Hans Sachs: Sämtliche Fabeln und Schwänke 4. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1903, num. 332; cf. Dicke/Grubmüller, 723. ⫺ 20 La Fontaine, J. de: Œuvres comple`tes 1. P. 1963, num. 3,9. ⫺ 21 Lessing, G. E.: Fabeln 2. ed. K. Goedeke. Stg. 1891, num. 4. ⫺ 22 Tomkowiak, 231. ⫺ 23 cf. Möhlig, W. J. O.: Überlegungen zu einer kulturinternen Analyse oraler Lit. in Afrika […]. In: Afrika und Übersee 66 (1983) 43⫺55. ⫺ 24 Hertel (wie not. 2) 256. ⫺ 25 Schwarzbaum, Fox Fables, 53. ⫺ 26 Seemann, E.: Hugo von Trimberg und die Fabeln seines Renners. Mü. 1923, 76. ⫺ 27 Schütze, G.: Gesellschaftskritische Tendenzen in dt. Tierfabeln des 13.⫺15. Jh.s. Ffm./Bern 1973, 37⫺ 41, 179. ⫺ 28 ibid., 40 sq. ⫺ 29 Blankenburg, W. von: Heilige und dämonische Tiere. Die Symbolsprache der dt. Ornamentik im frühen MA. Köln 21975, 261. ⫺ 30 Lämke, D.: Ma. Tierfabeln und ihre Beziehungen zur bildenden Kunst in Deutschland. Diss. Greifswald 1937, 75⫺ 82.
Göttingen
Christina Fellenberg
Wolf und Lamm (AaTh/ATU 111 A), weitverbreitete Fabel aus äsopischer Tradition1: Ein W. sieht ein Lamm, das aus einem Bach trinkt, und sucht nacheinander verschiedene Vorwände, um es zu fressen. Er stellt sich flußaufwärts an den Bach und beschuldigt das Lamm, das Wasser zu trüben, aus dem er gerade trinkt; das Lamm erwidert, es stünde doch stromabwärts von der Stelle, an der der W. trinke. Der W. wirft ihm vor, im vergangenen Jahr schlecht über seinen Vater geredet zu haben; das Lamm entgegnet, es sei noch gar kein Jahr alt. Schließlich wird der W. ärgerlich und ruft aus: Was du auch immer für Entschuldigungen haben magst ⫺ ich werde dich trotzdem fressen!
Die Überlieferung von AaTh/ATU 111 A beginnt bei J Babrios (num. 89) und J Phädrus (num. 1,1); durch die Slgen des J Avianus (num. 42) und des J Romulus (num. 3) erfuhr die Fabel weite Verbreitung. In der Nachfolge des Anonymus J Neveleti (num. 2) und des Romulus Nilantinus (Fabulae 1,2) wurde sie von J Marie de France (E´sope, num. 2) und J Berechja ha-Nakdan (Mishle Shu’alim, num. 3) bearbeitet. In seiner als didaktisch intendiertes Gegenstück zur Slg des Avian konzipierten Jüngeren Prora (1,1648⫺
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1657) gestaltete J Egbert von Lüttich die Fabel als Musterbeispiel depravierter Machtausübung. Sie fand vielfach Eingang in ma. dt. Fabelbücher2, u. a. in Ulrich J Boners Edelstein (num. 5), in dem der Autor die Willkür gegenüber dem Lamm scharf verurteilte3. Heinrich J Steinhöwel brachte den Text in seinem wirkmächtigen Esopus (num. 2). Eine schwankhafte Bearb. stammt von Hans J Sachs4. In frz. und span. Fabelsammlungen ist der Erzähltyp gleichfalls früh vertreten5. Als Predigtexempel6 erscheint AaTh/ATU 111 A auch in geistlichem Kontext, so im J Alphabetum narrationum (num. 631) oder dem J Speculum laicorum (num. 75); John J Bromyard wirkte mit der Version seiner Summa predicantium (A 12,45) auf die volkssprachige Predigtliteratur ein7; auch der Jesuit und Hofprediger Jeremias J Drexel verarbeitete die Erzählung8; Jakob J Bidermann, bedeutendster Vertreter des lat. Jesuitendramas, verfaßte um 1604 den satirisch-didaktischen Roman Utopia im Stil eines Novellenzyklus, eingeführt durch eine Fabelreihe, zu der u. a. die Fabel von W. und L. zählt (Buch 1, Kap. 24). Protestant. Autoren des 16./17. Jh.s wie Martin J Luther (Etliche Fabeln aus Esopo, num. 2) oder Erasmus J Alberus (num. 6) griffen auf die Fabel zurück9. Hans Wilhelm J Kirchhof bezeichnete den W. im Epimythion der Fabel als Ebenbild des Tyrannen, für den Gewalt vor Recht geht10. J La Fontaine (Fables 1,10) diente der Text als Beispiel für die Ohnmacht der Schwachen11. J Lessing hingegen invertierte die Kernaussage der Erzählung. In seiner Version sucht ein Schaf den W., der am gegenüberliegenden Ufer trinken möchte, mit den Argumenten, die in der Fabeltradition sonst dem W. zugeschrieben werden, zu provozieren: Das Schaf spottet, es würde doch gewiß sein Wasser trüben und habe schlecht über ihn geredet; der W. kann das Lamm aufgrund der Breite des Flusses nicht erreichen und knurrt nur: Wir Wölfe haben noch immer mit Euch Lämmern Geduld gehabt12. Der dt. Schriftsteller Helmut Arntzen (geb. 1931) läßt in seiner Version die Bekanntheit der Fabel zu ihrer Pointe werden: „Der Wolf kam zum Bach. Da entsprang das Lamm. Bleib nur, du störst mich nicht, rief der Wolf. Danke, rief das Lamm zurück, ich habe im Äsop gelesen.“13
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Wolf und Pferd
Die weite Verbreitung des Erzähltyps zeigen bildliche Darstellungen, so an einem der Kapitelle der rom. Stiftskirche in Hamersleben (Sachsen-Anhalt) oder auf einem Relief der Fontana Maggiore in Perugia14. Auf ihre vielfältige Rezeption und Popularität verweist zudem die Redensart ,kein Wässerchen trüben können‘15. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 111 A für den gesamten europ. Sprachraum sowie für Nordafrika und den Vorderen Orient bis nach Indien und China sowie in Südafrika nachgewiesen. Dabei sind Struktur und Personal der Erzählung weitestgehend stabil. In Gegenden, in denen es keine W.e gibt, werden mitunter andere Tiere angeführt: So kann als Angreifer ein Tiger16, eine Hyäne17 oder ein Panther18 erscheinen; als Opfer werden neben dem Lamm (Schaf, Widder) auch Haustiere wie Esel19 oder Ziege20 genannt. In einem alban. Märchen hindert ein Fuchs den W. daran, den Widder zu fressen; statt dessen sorgt er ebenso listig wie eigennützig dafür, daß der Widder seinerseits Gelegenheit erhält, den W. zu töten21. Auch die Argumentationskette zwischen W. und Lamm wird gelegentlich variiert. So erwidert der W., wenn nicht das Lamm selbst schlecht über ihn geredet habe, so sei es doch sein Vater gewesen22; der W. beschuldigt das Lamm, Staub aufzuwirbeln, das Lamm steht allerdings auf einer Wiese23; oder der W. wirft dem Lamm vor, seine Wiesen und Äcker mit den Zähnen zu zerfurchen, das Lamm aber gibt zu bedenken, es habe doch noch gar keine Zähne24. Den Kern der Fabel bilden die falschen und ungerechten Anschuldigungen des Starken gegen den Schwachen (J Stark und schwach); wenngleich sich letzterer verbal zu wehren weiß, nützt ihm das aufgrund seiner physischen Unterlegenheit wenig (Mot. U 30). So steht der Bosheit des Mächtigen die Unschuld und Klugheit dessen gegenüber, der sich auf die Logik der Argumentation verläßt und dennoch der Macht und Gewalt des Bösen unterliegt. 1
Rodrı´guez Adrados, F.: History of the GraecoLatin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. H 160. ⫺ 2 Dicke/Grubmüller, num. 632. ⫺ 3 Schütze, G.: Gesellschaftskritische Tendenzen in dt. Tierfabeln des 13.⫺15. Jh.s. Ffm./Bern 1973, 47 sq. ⫺ 4 Hans
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Sachs: Sämtliche Fabeln und Schwänke 1. ed. E. Goetze. Halle 1893, num. 14. ⫺ 5 Cifarelli, num. 323; Neugaard U 31. ⫺ 6 Tubach und Dvorˇa´k, num. 5334. ⫺ 7 cf. Moser-Rath, Predigtmärlein, num. 225. ⫺ 8 EM 3, 893. ⫺ 9 Rehermann, 132, 303, num. 49. ⫺ 10 Kirchhof, Wendunmuth, 1, num. 57; 4, 267 sq. (7, num. 37). ⫺ 11 Dedek, R.: Le Loup et l’agneau. Eine Fabel La Fontaines im Unterricht. In: Anregung 21 (1975) 41⫺48. ⫺ 12 Lessing, G. E.: Werke 4. ed. G. E. Grimm. Ffm. 1997, 344. ⫺ 13 Arntzen, H.: Kurzer Prozeß. Aphorismen und Fabeln. Mü. 1964, 64; cf. id.: Streit der Fakultäten. Neue Aphorismen und Fabeln. Mü. 2000, 9, 59. ⫺ 14 Schöne, A.-C.: Die rom. Kirche des ehemaligen Augustinerchorherrenstiftes in Hamersleben. Köln 1999, 127 sq., Abb. 43; Poeschke, J.: Die Skulptur des MA.s in Italien 2. Mü. 2000, 78; Hoffmann-Curtius, K.: Das Programm der Fontana Maggiore in Perugia. Düsseldorf 1968, 29. ⫺ 15 Röhrich, Redensarten 3, 1699. ⫺ 16 Bødker, Indian Animal Tales, num. 1256. ⫺ 17 Moreno, M. M.: Cent Fables amhariques. P. 1947, num. 66. ⫺ 18 Lüders, E.: Buddhist. Märchen aus dem alten Indien. MdW 1921, num. 70. ⫺ 19 Moreno (wie not. 17). ⫺ 20 Bødker, Indian Animal Tales, num. 1255. ⫺ 21 Camaj, M./Schier-Oberdorffer, U.: Alban. Märchen. MdW 1974, num. 54. ⫺ 22 Rehermann, 303, num. 49; Moser-Rath, Predigtmärlein, 497, num. 225. ⫺ 23 Marzolph 111 A (a). ⫺ 24 Rehermann, 303, num. 49.
Berlin
Almut Schneider
Wolf und Pferd (AaTh 47 B, 122 J/ATU 47 B), äsopische Fabel, in der sich ein vermeintlich hilfloses (dummes) Huftier durch List vor einem Raubtier retten kann. Im internat. Typenkatalog ATU (2004) wurden AaTh 47 B: The Horse Kicks the Wolf in the Teeth, AaTh 47 E: J Esels Urkunde und AaTh 122 J: Ass Begs Wolf to Pull Thorn out of Foot before Eating Him wohl aufgrund des gemeinsamen Motivs vom ausschlagenden Huftier zu ATU 47 B zusammengefaßt; in AaTh 47 E ist dieses Motiv jedoch anders angelegt und ausgeformt. ATU 47 B wird damit zu einem Sammelbecken heterogener Motive. AaTh 47 B, 122 J/ATU 47 B hat folgenden Inhalt: Ein W. (Löwe) will ein Pferd (Esel, Kamel, Fohlen) fressen (und gibt sich als Arzt aus). Das Pferd verlangt zuvor jedoch, daß der W. ihm einen Dorn (Nagel) aus dem Huf ziehe (seinen Huf untersuche). Als der W. im Begriff ist, dies zu tun, tritt ihn das Pferd.
Die frühesten Belege für diesen Erzähltyp begegnen unter den griech. Äsopika1: in der
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Wolf und Pferd
Recensio Augustana (num. 187)2, in der die Fabeln des J Äsop überliefert sind, sowie bei J Babrios (num. 122) ⫺ und zwar zuerst in der W.-Fassung, versehen mit einer Moral im Sinne des Sprichworts ,Schuster, bleib bei deinem Leisten‘. Die lat. Tradition setzt mit dem J Romulus (3,2) ein. Dieser vermittelt den Erzähltyp in der Löwen-Fassung dem MA., in der er u. a. im Romulus Nilantinus (num. 2,9), im Anonymus J Neveleti (num. 42), im Romulus vulgaris (num. 32), bei Alexander J Neckam (Novus Aesopus, num. 24) und J Jacques de Vitry (Sermones vulgares, num. 33, 152) begegnet, bei letzterem jedoch mit einer anderen Moral (sinngemäß ,Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein‘). Der Romulus LBG (num. 26) vertauscht die Rollen: Ein tückisches Pferd legt einen barmherzigen Löwen herein (Moral: ,Hilf nicht den Undankbaren‘). Unter den Romulus-Extravaganten findet sich erstmals eine Var., in welcher der Erzähltyp als Episode von AaTh/ATU 122 A: J W. verliert seine Beute vorkommt, wobei dann allerdings stets das Fohlen einer Stute gefressen werden soll3. Die Löwen-Fassung erscheint auch in einem Großteil der volkssprachlichen europ. Bearb.en des MA.s und der frühen Neuzeit, u. a. in den frz. Ysopets4, bei Juan J Ruiz (num. 14), Ulrich J Boner (num. 50), Heinrich J Steinhöwel (num. 81), Julien Macho (E´sope, num. 3,2), William Caxton (Aesop, num. 3,2; 5,10) und Burkhard J Waldis (num. 1,32). Zusätzlich vertreten ist bei Steinhöwel und seinen Übersetzern Macho und Caxton außerdem die Fohlen-Fassung der Romulus-Extravaganten5, die auch bei Hans J Sachs belegt ist6. Im J Roman de Renart (Branche XIX, 1⫺90), bei J Abraham a Sancta Clara7 und Jean de J La Fontaine (Fables 5,8; 12,17) findet sich die W.-Fassung, ebenso bei Hans Wilhelm J Kirchhof 8, bei dem ferner das Pferd durch einen Esel ersetzt ist und der außerdem eine aus ihrem ursprünglichen Erzählzusammenhang mit AaTh/ATU 122 A gelöste Bearb. der Fohlen-Fassung bietet. Die ndd. Äsopika (J Gerhard von Minden, num. 48; Magdeburger Äsop, num. 24) weisen dagegen die Var.n mit den vertauschten Rollen des Romulus LBG auf. Schließlich existiert bei dem Georgier Sulxan-Saba J Orbeliani (num. 36) auch ein
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nichteurop. Beleg für den Erzähltyp in der W.Fassung Aus mündl. Überlieferung ist AaTh 47 B, 122 J/ATU 47 B in nahezu ganz Europa bezeugt, darüber hinaus in Teilen Asiens, Nordafrikas und Lateinamerikas. In Europa dominieren die schon in der literar. Überlieferung bezeugten Var.n9, wobei allerdings zahlreiche literar. nicht bezeugte Variationen auftreten: Das Pferd will von hinten aufgefressen werden10; der W. soll seinem Opfer zuerst die Hufeisen abnehmen11, z. B. weil sich die Seele des Esels darin befinde12; der W. soll eine Wunde am Huf des Pferdes untersuchen13. Vereinzelt finden sich Var.n, in denen das Pferd den W. auffordert, sich am Pferdeschwanz festzuhalten (cf. AaTh/ATU 47 A: J Fuchs [Bär] am Pferdeschwanz)14, oder der Fuchs dem Pferd Gold aus dem Huf herausholen soll15. Häufig erscheint der Erzähltyp zusammen mit AaTh/ATU 122 A16. Kombinationen liegen zudem mit weiteren Erzähltypen aus dem Umfeld der Erzählungen vom düpierten W. vor17. 1 Perry, B. E.: Aesopica. Urbana, Ill. 1952, num. 187; Tubach, num. 2605; Dicke/Grubmüller, num. 393, 412, 598; Rodrı´guez Adrados, F.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. H. 198, M. 221, M. 245. ⫺ 2 Schnur, H. C.: Fabeln der Antike. Mü. 1978, 310 sq. ⫺ 3 Hilka, A.: Beitr.e zur ma. Fabellit. In: Schles. Ges. für vaterländische Cultur 91 (1914) 1⫺21, hier 5 (Romulus von Tours), 11 (Var. zum Romulus Monacensis); Babrius and Phaedrus/Perry, num. 699 (Romulus Monacensis); Grimm, J.: Reinhart Fuchs. B. 1834, 430 (Extravagantes Esopi antique). ⫺ 4 Bastin, J.: Recueil ge´ne´ral des Isopets 1⫺2. P. 1929⫺30, t. 1, 76⫺78, 142 sq. (Pariser Ysopet II; Ysopet de Chartres); t. 2, 155⫺157, 273⫺275, 413 sq. (Lyoner Ysopet; Pariser Ysopet I; Pariser Ysopet III). ⫺ 5 Österley, H. (ed.): Steinhöwels Äsop. Tübingen 1873, 212⫺217; Caxton, W.: The Fables of Aesop 2. ed. J. Jacobs. L. 1889, 156⫺ 164; Macho, J.: Esope. ed. B. Hecker. Hbg 1982, 165⫺170; Holbek, B.: Æsops Levned og fabler 2. Kop. 1962, num. 75, 114, 125, 214. ⫺ 6 Keller, A. von/Goetze, E. (edd.): Hans Sachs 17. Tübingen/Stg. 1888, 459⫺464. ⫺ 7 EM-Archiv: Abraham a Sancta Clara, Huy und Pfuy (1707) 90. ⫺ 8 Kirchhof, Wendunmuth 4, num. 137; 7, num. 43. ⫺ 9 BP 3, 77. ⫺ 10 Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 24; Hora´k, J.: Tschech. Volksmärchen. Prag 1971, 38⫺43; Schütz, J.: Volksmärchen aus Jugoslawien. MdW 1960, num. 3 (bosn./kroat.); Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 10. ⫺ 11 Eschker, W.: Serb. Märchen. MdW 1992, num. 65; Haralampieff, K. [recte Frolec, V.]: Bulg. Volksmär-
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Wolf im Schafspelz
chen. MdW 1971, num. 1; Kabasˇnikau˘, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, 38 sq.; cf. auch Amonov, R.: Tadzˇikskie skazki. M. 1961, 162. ⫺ 12 Marzolph 122 J. ⫺ 13 ibid. (kurd.). ⫺ 14 Baer, A.: Der gläserne Berg. B. 21970, 149⫺152 (estn.); cf. BP 3, 75 sq. ⫺ 15 Dirr, A.: Kaukas. Märchen. MdW 1920, num. 39 (georg.). ⫺ 16 Delarue/Tene`ze 47 B; Espinosa 3, 367; Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1990, num. 3; Haltrich, J.: Zur Vk. der Siebenbürger Sachsen. Wien 1885, num. 17; Sudetendt. Zs. für Vk. 9,2⫺3 (1936) 37⫺39; Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. B. 21889, 438 sq.; Kuhn, A.: Märk. Sagen und Märchen. B. 1843, num. 16; Nedo, P.: Sorb. Volksmärchen. Bautzen 1956, 71⫺77. ⫺ 17 cf. z. B. Behrend, P.: Verstoßene Kinder. Eine Slg westpreuß. Volksmärchen. Königsberg 1912, num. 14 (⫹ AaTh 122 A ⫹ 122 K* ⫹ 126 C*); Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. MdW 1927, 231⫺234 (⫹ AaTh 122 K* ⫹ 122 A); Grüner, G.: Waldeck. Volkserzählungen. Marburg 1964, num. 483 (⫹ AaTh 122 K*); Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1980, num. 39 (⫹ AaTh 123 ⫹ 34 B ⫹ 3 ⫹ 4 ⫹ 122 C ⫹ 122 K); Dirr (wie not. 15) (⫹ AaTh 122 A ⫹ 119 C*).
Eichstätt
Matthias Maul
Wolf im Schafspelz (AaTh/ATU 123 B), Fabel mit folgender Grundform: Ein W. (Fuchs) schleicht sich mit einem S. (selten als Schäfer) verkleidet (J Verkleidung) in eine Herde ein, um Schafe zu fressen. Meist scheitert er und wird verprügelt (getötet), manchmal kann er fliehen.
Der früheste bekannte Beleg für das Bild des W.s im S. ist die Warnung des Evangelisten Matthäus (Mt. 7,15) vor den ,falschen Propheten‘, die in S.en kämen, inwendig aber reißende W.e seien. Wenngleich unklar ist, ob sich das Gleichnis auf eine bereits existierende Erzählung bezieht, ist seine Auswirkung auf die weitere Tradierung unstrittig1. Der erste Beleg für eine ausgeformte Erzählung findet sich in den Progymnasmata (Vorübungen) des byzant. Autors Nikephoros Basilakis (12. Jh.); hier wird der verkleidete W., den der Hirt für ein Schaf hält, von diesem geschlachtet2. In der Folgezeit erscheint das Bild vom W. im S. meist als Anspielung in Predigttexten, erbaulichen Werken und Sprüchesammlungen3, idealtypisch etwa bei J Odo of Cheriton (Liber parabolarum, num. 75 [51]). Seine heutige sprachliche Prägung geht auf J Luther zurück4. Wenngleich als Sprichwort bzw. Redewendung in Europa weit verbreitet5, ist AaTh/
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ATU 123 B aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s nur in relativ wenigen über ganz Europa verstreuten Belegen nachgewiesen. In den europ. Var.n bleibt das Personal stabil; eine chin. Var. mit einem als Hase verkleideten Tiger weist darauf hin, daß ähnliche Vorstellungen auch in anderen Kulturen verbreitet sind6. Im Vordergrund des der Erzählung zugrundeliegenden universell verständlichen Bildes steht die Mahnung, die Menschen nicht nach ihrem Äußeren, sondern nach ihren Taten zu beurteilen (J Schein und Sein)7 sowie die Warnung vor einer eventuell mit der J Täuschung verbundenen J Gefahr. Mit der Projizierung negativer menschlicher Charaktereigenschaften auf den W. wird ähnlich wie in AaTh/ATU 20 D*: cf. J Tiere fressen einander oder AaTh/ATU 113 B: J Scheinbüßende Tiere vor Verschlagenheit, Gier oder Scheinheiligkeit gewarnt. Es kann sich auch die Warnung anschließen, man solle sich nicht als jemand ausgeben, der man nicht ist8, oder der Hinweis, daß letztlich niemand seine wahre Natur verbergen kann (cf. z. B. AaTh/ATU 110: J Katze mit der Schelle)9. AaTh/ATU 123 B bietet gewissermaßen eine Umkehrung des Erzähltyps AaTh/ATU 214 B: J Esel in der Löwenhaut, in dem sich ein harmloses Tier in Verkleidung als gefährlich ausgibt. Während „das Medium Fabel prinzipiell zwischen Fiktion des Erzählten und Wahrheit des vermittelten Sinns“ changiere, behandelt L. Lieb AaTh/ATU 123 B als prägnantes Beispiel dafür, daß auch der „vermittelte Sinn selbst einen ambivalenten Charakter annehmen“ könne10. Dies wird nochmals verdeutlicht im Schluß der Fassung bei Burkart J Waldis (3,2), in welcher der W. im S. vom Hirten aufgehängt wird; die anderen Hirten wundern sich zunächst darüber, erkennen dann aber, daß sich unter dem S. ein W. verbirgt11. 1 Graf, A.: Die Grundlagen des Reineke Fuchs (FFC 38). Hels. 1920, 85 sq.; Rodrı´guez Adrados, F.: History of the Graeco-Latin Fable 1⫺3. Leiden/Boston 2003, hier t. 2, 574 sq., t. 3, 496, not.-H. 188. ⫺ 2 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 451. ⫺ 3 Tubach, num. 2174; Dicke/Grubmüller, num. 642; MoserRath, Predigtmärlein, num. 234; Tomkowiak, 60. ⫺ 4 Arndt, E./Brandt, G. (edd.): Luther und die dt. Sprache. Lpz. 1983, 215⫺219. ⫺ 5 Wander 2, 1760; 4, 77; 5, 352 sq., 364, 378 sq., 382; Röhrich, Redens-
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Wolf im Schornstein
arten 3, 1740 sq. ⫺ 6 Ting. ⫺ 7 Lieb, L.: Erzählen an den Grenzen der Fabel. Studien zum Esopus des Burkard Waldis. (Diss. Mü. 1995) Ffm. u. a. 1996, 63. ⫺ 8 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 451. ⫺ 9 cf. Binder, W.: Die aesopischen Fabeln. Stg. 1866, num. 71; cf. auch Nöldeke, T.: Das Gleichnis vom Aufziehen eines jungen Raubtieres. In: ¤Agˇab-Na¯me. Festschr. E. G. Browne. Cambr. 1922, 371⫺382. ⫺ 10 Lieb (wie not. 7) 61⫺65. ⫺ 11 cf. auch Cifarelli, num. 321; SUS 123 C*.
Göttingen
Juliane Krause
Wolf im Schornstein (AaTh/ATU 124), Tiermärchen, dessen Hauptfiguren in der durch J. O. J Halliwell geprägten Fassung drei kleine Schweine sind1: Eine Sau (J Schwein) schickt ihre drei Ferkel nacheinander in die Welt hinaus, damit sie sich ein eigenes Haus bauen. Die beiden ersten Schweinchen bauen ihre Häuser aus Bequemlichkeit aus Stroh bzw. Ginster. Nur das dritte (oft jüngste) Schweinchen scheut die Arbeit nicht und baut ein solides Haus aus Ziegelsteinen. Nachdem sie ihre Häuser bezogen haben, bittet der W. nacheinander bei den drei Schweinchen um Einlaß; da sie sich weigern, droht er damit, das Haus umzupusten. Der W. zerstört die Häuser aus Stroh und Ginster und frißt deren Bewohner. Es gelingt ihm jedoch nicht, das Haus aus Stein zu zerstören. Durch Verabredungen (im Rübenfeld, am Apfelbaum, auf dem Jahrmarkt) lockt der W. das dritte Schweinchen aus dem Haus, um es zu fressen, es entkommt ihm aber jedesmal mit einer List. Als der W. durch den Schornstein in das Steinhaus eindringen will, stellt das Schweinchen einen Kessel auf das Feuer, so daß der W. in das siedende Wasser fällt. Der Unhold wird gekocht und zum Abendbrot verspeist. Fortan lebt das Schweinchen glücklich und sicher in seinem Haus.
In der engl. Überlieferung des 19. Jh.s gab es offenbar verschiedene ähnlich verlaufende Fassungen der Geschichte. Eine Prosaerzählung aus Dartmoor spielt zwischen einem Fuchs und drei Schweinchen, die in Häusern aus Holz, Stein und Eisen leben2; eine inhaltliche weitgehend analoge gereimte Fassung mit Fuchs und drei Gänsen erschien 18563. Über die Aufnahme in engl. Märchensammlungen des späten 19. Jh.s4 erfuhr das Märchen weite Verbreitung in der europ. Kinderliteratur. Aus mündl. Überlieferung des 19./ 20. Jh.s ist AaTh/ATU 124 vor allem in England5 sowie im nördl. Mittelmeerraum (span.6, katalan., frz.7, ital.8, türk.9) aufgezeichnet wor-
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den. Sporadisch finden sich Belege u. a. in Skandinavien10, im dt. Sprachraum11, in Nordostafrika12, der arab. Welt13, den USA14 und Kanada15. Sowohl die Handlungsträger als auch einzelne Züge des Märchens werden variiert. Als bedrohte Wesen erscheinen etwa Gans16, Hühnchen17, Mensch18 oder Ente19, als Bösewichter Bär20, Fuchs21 oder Oger22; als Material für den Hausbau werden u. a. Federn23, Reisig24, Holz25 oder Eisen26 erwähnt; manchmal wird der Gegenspieler mit kochendem Wasser übergossen27 oder durch einen herabfallenden Stein erschlagen28, oder er flieht29. Der Schluß der Erzählung verläuft gelegentlich wie AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein: Das überlebende Tier befreit die vorher gefressenen aus dem Bauch des Unholds (J Gastrotomie, J Fressermärchen)30. AaTh/ATU 124 wird seit Halliwell meist intentional in Kindersprache erzählt und läßt klare didaktische Absichten erkennen, wie sie etwa auch in der Fabel AaTh/ATU 280 A: J Grille und Ameise im Vordergrund stehen: Gewarnt wird vor Bequemlichkeit und Nachlässigkeit, als vorbildlich gelten die Tugenden der Strebsamkeit und Vorsorge. W. J Scherf versteht das Märchen als J Bewährungsprobe, bei der die Kinder gefordert sind, „sich zum ersten Mal in ihrem Leben ganz auf sich selbst zu stellen“31. B. Bettelheim betrachtet es als exemplarische Behandlung des Gegensatzes „Lustprinzip versus Realitätsprinzip“32. Vielfältige Bearb.en, Parodien, Ill.en, Trickfilme und Musikvideos zeugen von der andauernden Beliebtheit des Märchens. Ein Klassiker ist der vielfach prämierte Zeichentrickfilm The Three Little Pigs (1933) von Walt J Disney. Die Handlung ist hier so harmonisiert, daß keines der Tiere stirbt: Die ersten beiden Schweinchen flüchten in das jeweils stabilere Haus, der W. wird am Ende lediglich verbrüht und läuft davon. Vermutlich aufgrund der hohen Rezeption des Trickfilms dominiert diese Fassung in der neueren Märchenliteratur33. 1
Halliwell, J. O.: The Nursery Tales of England. L. 1853, num. 55; cf. Delarue, P.: The Borzoi Book of French Folk Tales. N. Y. 1956, 393 (Aufl. 1843); Scherf 1, 476⫺478 (Aufl. 1875). ⫺ 2 English Forests and Forest Trees. L. 1853, 189 sq. ⫺ 3 Cundall, J.: A Treasury of Pleasure Books for Young People. L. 5
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Wolf: Der singende W.
1865, num. 11. ⫺ 4 Jacobs, J.: English Fairy Tales. L. 1890, num. 14; Lang, A.: The Green Fairy Book. L./N. Y./Bombay (1892) 51899, 100⫺105. ⫺ 5 Ashliman, D. L.: A Guide to Folktales in the English Language. N. Y. u. a. 1987, 27; Brueyre, L.: Contes populaires de la Grande-Bretagne. P. 1875, 351⫺ 353; Briggs, K. M.: Engl. Volksmärchen. MdW 1978, num. 32. ⫺ 6 Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales recopilados en la Provincia de Ciudad Real. Ciudad Real 1984, num. 22. ⫺ 7 Soupault, R.: Frz. Märchen. MdW 1963, num. 12. ⫺ 8 Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867, num. 42; Crane, T. F.: Italian Popular Tales. Boston/N. Y. 1885, num. 86, 87; Visentini, I.: Fiabe mantovane. Turin/Rom 1879, num. 31. ⫺ 9 Kent, M.: Fairy Tales from Turkey. L. 31960, 61⫺64. ⫺ 10 Kristensen, E. T.: Danske dyrefabler og kjæderemser. Kop. 1896, 48 sq. ⫺ 11 Birlinger, A.: Nimm mich mit! Fbg 1871, 230⫺ 232; Henßen, G.: Dt. Volkserzählungen aus dem Osten. Münster 1963, 21⫺23; Bacher, J.: Die dt. Sprachinsel Lusern. Innsbruck 1905, num. 16. ⫺ 12 Kronenberg, A. und W.: Nub. Märchen. MdW 1978, num. 56. ⫺ 13Basset 1, num. 16. ⫺ 14 Ashliman (wie not. 5); Baer, F.: Sources and Analogues of the Uncle Remus Tales (FFC 228). Hels. 1980, 40 sq., num. 13; 65, num. 8. ⫺ 15 JAFL 29 (1916) 141, 241⫺ 243. ⫺ 16Anderson, W.: Novelline popolari sammarinesi 2. Tartu 1929, num. 26, 27; ibid. 3 (1933) num. 72⫺78; Calvino, I.: Fiabe italiane. Turin 1956, num. 94; Crane (wie not. 8). ⫺ 17 Delarue (wie not. 1) 297⫺299; Cadic, F.: Contes de Basse-Bretagne. P. 1955, 187⫺194. ⫺ 18 Jahn, S. al Azharia: Arab. Volksmärchen. B. 1970, num. 7; Visentini (wie not. 8). ⫺ 19 Delarue, P.: L’Amour des trois oranges et autres contes folkloriques des provinces de France. P. 1947, num. 24; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 107. ⫺ 20 Birlinger und Henßen (wie not. 11). ⫺ 21 Lang (wie not. 4); Schneller (wie not. 8). ⫺ 22 Jahn (wie not. 18); Kronenberg (wie not. 12). ⫺ 23 Birlinger (wie not. 11); Millien, A./Delarue, P.: Contes du Nivernais et du Morvan. P. 1953, 173⫺180. ⫺ 24 Joisten (wie not. 19); Seignolle, C.: Contes populaires de Guyenne 2. P. 1946, num. 52. ⫺ 25 Megas; Anderson (wie not. 16) num. 26. ⫺ 26 Cosquin 2, num. 76; Schneller (wie not. 8). ⫺ 27 Anderson (wie not. 16) num. 26, 72⫺76. ⫺ 28 ibid., num. 77; Lambert, L.: Contes populaires du Languedoc. Carcassonne 1985, 168⫺170. ⫺ 29 Birlinger (wie not. 11); Joisten (wie not. 19); Millien/Delarue (wie not. 23). ⫺ 30 Lang (wie not. 4); Kronenberg (wie not. 12); Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, num. 5; Anderson (wie not. 16) num. 26 sq., 72⫺76, 78; Crane (wie not. 8). ⫺ 31 Scherf 1, 477 sq. ⫺ 32 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Stg. 1977, 44⫺47. ⫺ 33 DBF A 2, 572⫺574; Joisten (wie not. 19); Millien/Delarue (wie not. 23).
Göttingen
Marie Unrein
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Wolf: Der singende W. (AaTh/ATU 100, 163), Bezeichnung für zwei sehr unterschiedliche Tiererzählungen. AaTh/ATU 100: The Wolf is Caught Because of His Singing ist zuerst in den Romulus-Extravaganten belegt1: Ein W. sorgt dafür, daß der schlecht genährte Hütehund besser gefüttert wird. Dieser lädt den W. als Gegenleistung in den Keller seines Herrn ein, wo sich der W. betrinkt und ⫺ ungeachtet der Warnungen des Hundes ⫺ zu singen anfängt, woraufhin er erschlagen wird.
Beispiele für diese Fassung finden sich bei Heinrich J Steinhöwel (num. 92), Julien Macho (E´sope, num. 12), William Caxton (Aesop, num. 5,12) sowie Burkart J Waldis (3,93) und Hans J Sachs2. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 100 in weiten Teilen Europas, vorwiegend im Osten (Estland3, Lettland4, Litauen, Slovakei, Ungarn, Serbien, Kroatien, Bulgarien5, Rußland6, Weißrußland7, Ukraine8) belegt; außerhalb Europas wurden Var.n des Erzähltyps in Asien (z. B. Georgien, Turkmenistan, Palästina, Oman, Indien, Tibet), im span.sprachigen Amerika (Neumexiko9, Mexiko10, Argentinien11) sowie in Nordafrika (Algerien, Marokko) aufgezeichnet. Neben Hund (der in ostslav. Var.n manchmal den Namen Terko, Sirko oder Sjerko trägt)12 und W. finden sich auch Fuchs und W. als Akteure13. Weitere Figurenpaare sind Hund und Bär14, Hund und Kojote15, Fuchs und Katze16 sowie Gürteltier und Katze17. In einer turkmen. Var. singt der Waldesel im Garten eines Hausesels18; in vergleichbaren katalan. Texten singt der W. in der Kirche19. In einer tibet. Var. wird der W. aus Rache dafür, daß er die Ziegen, die der Hund hüten sollte, gefressen hat, in den Keller gelockt und zum Singen überredet20. Selten endet die Erzählung für das Wildtier glimpflich21. AaTh/ATU 100 wird in der Regel nicht selbständig erzählt22. In ostslav., poln., litau., lett. und estn. Var.n finden sich vor allem Kombinationen von AaTh/ATU 100 mit AaTh/ATU 101: Der alte J Hund23. Öfter ist die Geschichte in Erzählungen eingebettet, die von fehlgeschlagenen Raubzügen des W.s handeln (AaTh/ATU 122 A: J W. verliert seine Beute)24, am Ende wird der W. in der Regel von Menschen erschlagen25, oder er wird von Gott be-
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Wolf: Der singende W.
straft26. Entkommt er, werden Erzähltypen angeschlossen, welche die Bestrafung des W.s behandeln (AaTh/ATU 4: J Kranker trägt den Gesunden27, AaTh/ATU 103: J Krieg der Tiere28, AaTh/ATU 102: J Hund als Schuhmacher29). Selten stirbt auch der Hund30. Während sich der W. in dem ähnlich angelegten Erzähltyp AaTh/ATU 41: J W. im Keller eher für das Fressen interessiert, ist er in AaTh/ATU 100 meist darauf aus, sich zu betrinken, so daß die Erzählung als Warnung vor Alkoholmißbrauch aufgefaßt werden kann (J Trunkenheit). Mitunter wird der W. weniger als Säufer denn als eigenartiges Waldtier dargestellt, dessen Gesang für Menschen unerträglich ist; sein Ende kann als Metapher für menschliches Handeln gesehen werden31. AaTh/ATU 163: The Singing Wolf ist eine ausschließlich aus mündl. Überlieferung aufgezeichnete kumulative Tiererzählung mit teilweise märchenhafter Ausgestaltung32: Ein W. kommt zum Haus eines Mannes und singt. Zur Belohnung gibt der Mann dem W. nacheinander alle seine Tiere und schließlich seine Frau. Manchmal wird danach auch der Mann gefressen.
AaTh/ATU 163 wurde bes. im Baltikum33, und in Rußland34, sporadisch auch in anderen Gegenden Europas (Finnland, Friesland35) sowie in Asien (Jakutien, Kalmückien36) aufgezeichnet. Zentral für die Erzählung ist die mehrfache Wiederholung eines Liedes, wobei jeweils ein Element ausgelassen wird; Analogien hierzu finden sich bei Liedern zur Begleitung von Tänzen37. Es wurden Verbindungen zu magischen Formeln und einem mythol. Urbild ausgemacht38. Meist wird AaTh/ATU 163 selbständig erzählt. In einer estn. Var. ist die Erzählung mit AaTh/ATU 122 M*: The Ram Runs Straight into the Wolf’s Stomach kombiniert39. In AaTh/ATU 163 ist der sonst oft als dumm dargestellte und betrogene W. dem Menschen, der hier als dumm und eingebildet charakterisiert wird, überlegen40. Nur selten ist der Mann nicht bereit, dem W. seine Frau zu überlassen, und verjagt ihn mit einem Schüreisen41. In einigen Var.n gibt nicht der Mann, sondern seine Frau dem W. die Tiere und wird am Ende selbst gefressen42. In einer fries. Fassung bringt der W. die Frau zurück,
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weil sie ihm zu böse ist (cf. AaTh/ATU ATU 1164: J Belfagor)43. Außer dem W. begegnet der Bär als Protagonist44. 1 Babrius and Phaedrus/Perry, 596 sq., num. 701; Dicke/Grubmüller, num. 627; Rodrı´guez Adrados, F.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. M. 98; Äsop/Holbek 2, num. 131; cf. BP 2, 110 sq. ⫺ 2 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 4. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1903, 411, num. 516. ⫺ 3 Rußwurm, C.: Sagen aus Hapsal, der Wiek, Ösel und Runö. Reval 1861, num. 173; Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 15. ⫺ 4 Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, num. 23. ⫺ 5 Parpulova, L./Dobreva, D.: Narodni prikazki. Sofia 1982, num. 31. ⫺ 6 Afanas’ev, num. 59. ⫺ 7 Barag, L.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1966, num. 102; Ramanau˘, E. R.: Belaruskija narodnyja kazki. Minsk 1962, num. 71. ⫺ 8 Mykytiuk, B.: Ukr. Märchen. MdW 1979, num. 59. ⫺ 9 Rael, J. B.: Cuentos espan˜oles de Colorado y de Nuevo Me´jico 2. Stanford [1957], num. 376; Thompson, S.: The Folktale. Berk. u. a. 1977, 222. ⫺ 10 Robe, B. S. L.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berk. 1970, num. 4, 5. ⫺ 11 Chertudi, S.: Cuentos folklo´ricos de la Argentina 1. Buenos Aires 1960, num. 22. ⫺ 12 Javorskij, J. A.: Pamjatniki galicko-russkoj narodnoj slovesnosti 1. Kiev 1915, num. 61, 160; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 12; Die Wunderblume und andere Märchen. B. 1958, 410⫺412 (ukr.). ⫺ 13 Vekkenstedt, E.: Wend. Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Graz 1880, num. 2. ⫺ 14 Afanas’ev, num. 59. ⫺ 15 Robe (wie not. 10). ⫺ 16 Chertudi (wie not. 11). ⫺ 17 Acosta, J. B.: Ipotı¨yave´. Cuentos y leyendas correntinos. Buenos Aires 1953, 106. ⫺ 18 Stebleva, I.: Turkmenskie narodnye skazki. M. 1969, num. 7. ⫺ 19 Amades, num. 262. ⫺ 20 O’Connor, W. F.: Folktales of Tibet. L. 1906, num. 11, 64. ⫺ 21 z. B. Lintur (wie not. 12). ⫺ 22 Selbständig erzählte Var.n cf. z. B. Simonsuuri, L./Rausmaa, P.-L.: Finn. Volkserzählungen. B. 1968, num. 12; Rausmaa, SK 5, num. 84; Ramanau˘ (wie not. 7). ⫺ 23 z. B. Kippar (AaTh/ATU 100 ⫹ 101 ⫹ 102 und AaTh/ATU 100 ⫹ 3 ⫹ 4); cf. Lintur (wie not. 12) not. zu num. 12. ⫺ 24 ˇ ajkanovic´, V.: Srpske narodne pripovetke. z. B. C Belgrad 1929, num. 2. ⫺ 25 z. B. Espinosa 1, num. 204. ⫺ 26 Oberfeld, C.: Märchen des Waldecker Landes. Marburg 1970, num. 5. ⫺ 27 z. B. Jahn, U.: Volkssagen aus Pommern und Rügen. B. 1889, num. 558. ⫺ 28 z. B. Sˇejn, P. V.: Materyialy dlja izucˇenija byta i jazyka russkago naselenija severno-zapadnago kraja. SPb. 1893, num. 11; Kabasˇnikau˘, K. P.: Kazki i legendy rodnaga kraju. Minsk 1960, num. 12; Parpulova/Dobreva (wie not. 5). ⫺ 29 Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 16; Toulouze, E./ Järv, R.: L’Esprit de la foreˆt. Contes estoniens et seto. P. 2011, num. 72. ⫺ 30 z. B. Robe (wie not. 10) num. 4. ⫺ 31 Carpenter, I.: A Latvian Storyteller. The Repertoire of Ja¯nis Plavnieks. N. Y. 1980, 206⫺208. ⫺
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Wolf flieht vor dem Wolfskopf
Ambainis (wie not. 4) 420 (zu num. 26). ⫺ 33 Toulouze/Järv (wie not. 29) num. 22; Ambainis (wie not. 4) num. 26; Aleksynas, K.: Siaures lietuvos pasakos. Vilnius 1974, num. 8. ⫺ 34 z. B. Afanas’ev, num. 49, 50. ⫺ 35 Leskinen, E.: Karjalan kielen näytteitä 3. Hels. 1936, 148 sq.; Poortinga, Y.: De ring fan it ljocht. Fryske folksforhalen. Baarn/Ljouwert 1976, 335 sq. ⫺ 36 Dzˇimbinov, B.: Kalmyckie skazki. M. 1962, num. 27. ⫺ 37 Ambainis (wie not. 4) 420 (zu num. 26). ⫺ 38 Kerbelyte˙, B.: Litau. Volksmärchen. B. 1982, num. 10; Ve˙lius, N.: Lietuviu˛ liaudies pasakos „Vilko dainavimas“ (AT 163) isˇtakos (Die Qu.n des litau. Märchens vom „S.n W.“ [AT 163]). In: Lituanistica (1990) 95⫺106. ⫺ 39 Päär, P./ Türnpu, A.: Estonian Folktales. Tallinn 2005, 17⫺ 19. ⫺ 40 E˙rgis, G. U.: Jakutskie skazki 2. Jakutsk 1967, num. 10, 13; Dzimbinov (wie not. 36). ⫺ 41 z. B. Afanas’ev, num. 50. ⫺ 42 z. B. ibid., num. 59; Ambainis (wie not. 4) num. 26. ⫺ 43 Poortinga (wie not. 35). ⫺ 44 Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii. Petrograd 1914/15, num. 78. 32
Tartu
Risto Järv
Wolf flieht vor dem Wolfskopf (AaTh/ATU 125), Tiererzählung, in der der Akteur einen physisch überlegenen Gegner überlistet (J Stark und schwach), indem er vortäuscht, er ernähre sich von dessen Artgenossen. Mit diesem Überlistungsschema gehört der weitaus häufiger episodisch eingebundene als selbständig auftretende Erzähltyp in die Nachbarschaft von AaTh/ATU 126: J Schaf verjagt den W. und von AaTh/ATU 125, 1149: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds. Als Episode findet er sich im weitverzweigten Tiermärchen AaTh/ATU 130: J Tiere auf Wanderschaft. Allen Erzählungen liegt der folgende narrative Kern zugrunde: Ein Raubtier (Rudel) bedroht Haustiere (schwächere Tiere). Diese sind jedoch im Besitz eines Kopfes (Fell) der sie bedrohenden Tierart. Da dessen Anblick und ein Wortwechsel mit den Haustieren die wilden Tieren zu der irrigen Annahme verleiten, sie hätten es mit gefährlichen Widersachern zu tun, fliehen sie voller Furcht.
Die älteste Bezeugung bietet der lat. J Ysengrimus (um 1150)1 in einer zweisträngigen Version. In dieser komplexen, von sprichwörtlicher Rede durchzogenen Var. eines rhetorisch geschulten Klerikers dringt ein W. in die Behausung von Tieren ein, die sich auf einer Pilgerfahrt befinden. Die Tiere tischen bei einer Mahlzeit mehrfach ein und denselben zuvor
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gefundenen W.skopf auf, woraufhin der W. erschrocken Reißaus nimmt. Als der W. im zweiten Handlungsteil noch einmal mit Artgenossen zurückkehrt, flüchten die Tiere auf das Dach ihrer Behausung. Während die W.e um das Haus herumschleichen, versucht ein Esel, sich ebenfalls auf das Dach zu retten, rutscht dabei aber ab und erdrückt bei seinem Sturz unabsichtlich zwei W. e. Die Tatsache, daß die anderen W.e diesen Vorfall nicht selbst gesehen haben, nutzt der listige Fuchs geschickt aus, indem er ihnen gegenüber behauptet, ihre Artgenossen seien bewußt getötet worden und bald auch schon aufgezehrt. Daraufhin fliehen die W.e endgültig. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 125 vielfach belegt: Haustiere auf Wanderschaft finden einen W.skopf, ein W.sfell oder auch (weitaus seltener) einen W.sknochen. Als sie ungewollt auf ein Lager oder eine Behausung von W.en treffen (in einigen Var.n, wie auch im Ysengrimus, ist es umgekehrt; dort kommen die W.e zur Hütte der Haustiere), können sie die Raubtiere einschüchtern, indem sie auf ihre Mitbringsel verweisen und sich als W.sjäger oder -fresser darstellen. Zuweilen werden die räuberischen W.e auch dadurch in die Flucht geschlagen, daß von einem Dachboden oder von einem Baum Tiere oder Gegenstände herabfallen2. Seltener und vor allem in der Romania verbreitet ist ein Subtyp, in dem ein einzelner W. auf Haustiere trifft, die ihm weismachen, daß jeder von ihnen einen W.skopf bei sich trage; nur ein einziges Mitglied der Gruppe sei noch auf Beutesuche3. Die rom. und lateinamerik. Fassungen folgen in vielen Zügen der stofflichen Prägung durch den Ysengrimus4, wobei kulturspezifische sowie regionale Var.n das Schema nur geringfügig modifizieren (in Südamerika ist der Protagonist z. B. ein Jaguar5). A. J Aarne und A. Gerber hielten die zentralasiat., nordund osteurop. Var.n6 jedoch für späte Zeugen einer mündl. Überlieferung7. Dieser „zweifellos selbständige, alte u[nd] von [AaTh] 130 unabhängige […] prototypus des wolfkopfmärchens“ ist nach A. Graf eine europ. akkulturierte Fassung des ind. Erzähltyps AaTh/ATU 11498. Allerdings ist die dieser Argumentation zugrundeliegende J ind. Theorie zu Recht höchst umstritten9. Nach dem derzeitigen Stand
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Wolf, Ziege und Kohlkopf
der Theoriebildung haben alle Textausprägungen ihren Ursprung in der lat. Ausgangsfassung. Die überwiegende Zahl der Var.n des Erzähltyps bildet jedenfalls eine Episode von AaTh/ATU 130, die die Pilgerfahrt der Tiere im lat. Ysengrimus ins märchenhaft Unverbindliche umdeutet. Eine solche sowohl strukturelle als auch inhaltliche Nähe zu den schriftl. europ. Fassungen kann allerdings für die zahlreichen afrik. Belege kaum reklamiert werden, da deren Var.nreichtum und ungewöhnliche Szenarien eine genetische Verwandtschaft mit den europ. Ausprägungen wenig wahrscheinlich machen. Von diesen unterscheiden sie sich sowohl hinsichtlich der Handlungsträger, die z. T. durchgängig den nicht domestizierten Arten angehören, als auch in bezug auf die Kernhandlung, in deren Zentrum die natürliche Feindschaft zwischen den starken und den schwachen Tieren steht10. Das Motiv der gemeinsamen Wanderung bzw. Flucht begegnet nicht. Auch ist der Fund eines Kopfs oder eines anderen Körperteils kein unverzichtbarer Bestandteil der Erzählungen. Die Zugehörigkeit der afrik. Erzählungen zu AaTh/ATU 125 besteht im eingangs beschriebenen lebensrettenden Überlistungsschema, das z. T. variiert wird, indem das schwächere Tier vorgibt, Artgenossen des stärkeren Tiers mühelos getötet zu haben und auf der Suche nach weiterer Beute zu sein. Häufig finden sich Kombinationen mit AaTh/ ATU 114911. 1 Ysengrimus. ed. J. Mann. Leiden u. a. 1987, Buch 4, V. 1⫺810; auch im Ysengrimus abbreviatus, V. 529⫺688; cf. Grimm, J.: Reinhart Fuchs. B. 1834, 19⫺24. ⫺ 2 Afanas’ev 3, num. 554; Konkka, U. S.: Karel’skie narodnye skazki. M./Len. 1963, num. 10; Bjazyrov, A. Ch.: Osetinskie narodnye skazki. Stalinir 1960, num. 46; Lajpanov, C.: Karacˇaevskie i balkarskie narodnye skazki. Frunze 1957, 15 sq.; Osˇarov, M.: Severnye skazki. Novosibirsk 1936, 221⫺ 226; Stebleva, I.: Prodannyj son. Turkmenskie narodnye skazki. M. 1969, num. 9; Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, num. 83; Die Sonnenrose. Ukr. Märchen. B. 21970, 44⫺46.; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 17; Munkacsi, B.: Volksbräuche und Volksdichtung der Wotjaken. Hels. 1952. ⫺ 3 cf. Delarue/ Tene`ze, 122; Schwarzbaum, Fox Fables, 194⫺200; cf. auch Kippar. ⫺ 4 Graf, A.: Die Grundlagen des Reineke Fuchs (FFC 38). Hels. 1920, 113 sq.; Delarue/Tene`ze 130; Espinosa 3, num. 256; Camarena/ Chevalier; Oriol/Pujol; Cardigos; Robe; Flowers;
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Hansen. ⫺ 5 z. B. Jessup, M. H./Simpson, L. B.: Indian Tales from Guatemala. N. Y. 1936, 9⫺19. ⫺ 6 cf. Graf (wie not. 4) 112⫺115; BP 1, 254; Kecskeme´ti/Paunonen; SUS; Eberhard/Boratav, num. 11; Lo˝rincz, num. 39; Gerber, A.: Great Russian Animal Tales. Baltimore 1891, num. 36; Haralampieff, K. [recte Frolec, V.]: Bulg. Volksmärchen. MdW 1971, num. 8; Reichl, K.: Märchen aus Sinkiang. MdW 1986, num. 41 (tatar.). ⫺ 7 cf. Aarne, A.: Die Tiere auf Wanderschaft (FFC 11). Hamina 1913, 157 sq. (mit weiterer Lit.); Gerber (wie not. 6) 76. ⫺ 8 Graf (wie not. 4) 115 sq.; cf. auch Aarne (wie not. 7) 153⫺ 156; Gerber (wie not. 6) 76; cf. ferner Dh. 4, 210, not. 2, 6, 7. ⫺ 9 cf. Pöge-Alder, K.: Märchen als mündl. tradierte Erzählungen des Volkes. Ffm. 1994, 49⫺62. ⫺ 10 cf. Arewa, num. 387; El-Shamy, Types; Klipple; Schmidt 2, num. 438. ⫺ 11 cf. Bushnaq, I.: Arab Folktales. Harmondsworth 1987, 238 sq. (marokkan.).
Bochum
Silvia Reuvekamp
Wolf, Ziege und Kohlkopf (AaTh/ATU 1579), Rätselmärchen mit schwankhaften Zügen: Ein Mann, der mit einem Raubtier (Wolf [W.], Löwe, Schakal, Leopard, Kojote), einem pflanzenfressenden Haustier (Ziege [Z.], Schaf, Ziegenbock) und Gemüse oder einer Futterpflanze (Kohlkopf [K.], Blatt, Heubündel, Kürbis) unterwegs ist, muß mit einem Boot (auf einer schmalen Brücke) über einen Fluß gelangen, wobei er pro Überquerung nur je eines dieser Besitztümer mitnehmen kann. Er muß daher sicherstellen, daß der W. nicht die Z. und die Z. nicht den K. frißt, wenn er selbst außer Reichweite ist. Um dies zu verhindern, gibt es zwei Möglichkeiten: Der Mann nimmt zuerst die Z. mit hinüber, dann den W., dann bringt er die Z. wieder ans andere Ufer zurück, nimmt den K. mit und läßt ihn beim W. und bringt zum Schluß wieder die Z. hinüber. Oder der Mann setzt zuerst die Z. über, dann den K. und transportiert die Z. wieder zurück, dann nimmt er den W. mit und läßt ihn beim K., und abschließend kehrt er wieder mit der Z. zurück.
Beide Vorgehensweisen laufen auf die gleiche Lösung hinaus: Die Z. muß nach der ersten Überfahrt wieder zurücktransportiert und ein zweites Mal übergesetzt werden; es ändert sich nur die Reihenfolge der mit W. und K. vorgenommenen Überquerungen. Als erster soll Alkuin, der gelehrte Ratgeber J Karls d. Gr., diesen Aufgabentyp formuliert haben; er teilte nur die erste Lösung mit1. Die zweite Lösung findet sich in einem lat. Hexametergedicht des 12. Jh.s2. Darüber hinaus ist
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Wolf, Johann Wilhelm
AaTh/ATU 1579 bei Nicolas Chuquet (1484)3, bei Niccolo` Tartaglia (1556)4 und bei O. J Schreger (1753)5 belegt und wurde aus mündl. Überlieferung in ganz Europa, in Afrika, in China sowie bei den Maya aufgezeichnet. Der Erzähltyp AaTh/ATU 1579 besteht in seiner einfachen Form aus einem einzigen Motiv (Mot. H 506.3), das entweder als Erzählung (der Erzähler trägt vor, wie jemand eine Lösung des Problems finden muß) oder als Rätsel (der Erzähler gibt den Zuhörern auf, selbst eine Lösung zu finden) realisiert wird (cf. J Dilemmamärchen). Trotz des übereinstimmenden Inhalts und obwohl sie dieselbe Findigkeitsprobe zum Gegenstand haben, funktionieren die beiden Genres unterschiedlich und stellen verschiedene Anforderungen. Die Erzählung verlangt, daß das Publikum eine Lösung präsentiert bekommt, auch wenn der Protagonist der Geschichte sie nicht selbst findet, während die Lösung des Rätsels offenbleiben kann, wie z. B. in einer namib. Var.6 In einigen anderen Var.n wird dem Protagonisten die Lösung schließlich mitgeteilt7. Als Teil einer längeren Erzählung begegnet AaTh/ATU 1579 z. B. im Erzählzyklus vom dummen Hans (AaTh/ATU 1696: J „Was hätte ich sagen [tun] sollen?“), in dem das Rätsel von dessen Frau gelöst wird8. In einer serb. Var. wird die Lösung in einem Dialog zwischen einem Mann und einer Frau gefunden9; in einer georg. Var. baut ein Eunuch die schmale Brücke, um die Weisheit des Königsohns zu prüfen10. Einem afrik. Dilemmamärchen zufolge beauftragt ein Sultan einen Mann, seinem Sohn einen Leoparden, eine Z. und Laub zu bringen. Gelingt es ihm, soll er belohnt werden, wenn nicht, muß er sterben. Unterwegs gelangt der Mann an eine Brücke. Er führt die Aufgabe richtig aus und kommt zu Geld und hohem Rang11. In einer ähnlichen afrik. Dilemmaerzählung ist die Figurenkonstellation erweitert: Drei Ehepaare müssen einen Fluß in einem Boot überqueren, das nur zwei Personen tragen kann. Die Rätselfrage lautet: Wie können sie alle über den Fluß gelangen, ohne daß eine der Frauen Gefahr läuft, ihre Ehre zu verlieren?12 Die bekannteste Lösung ist: Das erste Ehepaar überquert den Fluß. Die erste Frau läßt ihren Mann am anderen Ufer zurück und kehrt zurück, um die zweite Frau zu holen. Danach fährt die zweite Frau allein zurück, um ihren Mann
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überzusetzen. Anschließend kommt sie ein weiteres Mal zurück, um die dritte Frau abzuholen. Zum Schluß kehrt die dritte Frau zurück und holt ihren Mann.
Eine weitere Lösung wird in Soqotra erzählt: Zwei Frauen setzen über; dann fährt eine der beiden allein zurück und holt die dritte ab. Eine Frau setzt wieder ans jenseitige Ufer über und wartet dort mit ihrem Mann, während die beiden anderen Männer zu ihren Frauen fahren. Die beiden Frauen setzen zu dem Ehepaar über, das daraufhin den Fluß überquert. Der Mann steigt aus, die Frau fährt zurück und holt eine der beiden Frauen ab. Mit einer letzten Fahrt bringt nun eine der beiden Frauen auch die dritte Frau ans richtige Ufer13.
Ähnlichkeit mit AaTh/ATU 1579 weist AaTh/ATU 2300: cf. J Endlose Erzählung auf. Hier wird jedoch nicht an das Denkvermögen der Zuhörer appelliert, sondern in der für ein Vexiermärchen typischen Weise mit deren Erwartung gespielt, durch eine Geschichte unterhalten zu werden. H. J Schwarzbaums Behauptung, daß in der nichtjüd. Überlieferung AaTh/ATU 2300 überwiege, während die jüd. Überlieferung AaTh/ATU 1579 den Vorzug gebe, ist schwer nachvollziehbar14. 1 cf. Folkerts, M.: Die älteste mathematische Aufgabenslg in lat. Sprache. Wien 1978, 54. ⫺ 2 Bolte, J.: Der Mann mit der Z., dem W. und dem Kohle. In: ZfVk. 13 (1903) 95 sq. ⫺ 3 Chuquet, N.: Proble`mes nume´riques. In: Bullettino di bibliografia e di storia delle scienze matematiche e fisiche 14 (1881) 459 (dort Hinweis auf Chuquets unveröff. Ms. „Le Triparty en la Science des Nombres“ [Lyon 1484]). ⫺ 4 Tartaglia, N.: General trattato di numeri, et misure 1. Venedig 1556, 257 (1.16.141). ⫺ 5 Schreger, O.: Lustig- und Nutzlicher Zeit-Vertreiber. Stadt am Hof, bey Regensburg 1753, 130. ⫺ 6 Schmidt 2, num. 1240. ⫺ 7 Müller, C. D. G.: Märchen aus Äthiopien. MdW 1992, num. 45. ⫺ 8 Orain, A.: Contes du pays gallo. P. 1904, 208⫺217. ⫺ 9 Vrcˇevı´c, V.: Srpske narodne pripovijetke ponajvisˇe kratke i sˇaljive 1. Belgrad/Dubrovnik 1868, num. 452. ⫺ 10 Orbeliani, S.-S.: Die Weisheit der Lüge. B. 1933, num. 56. ⫺ 11 Arewa, num. 4321 (2). ⫺ 12 El-Shamy, Folk Traditions H 506.3.1§; Arewa, num. 4321. ⫺ 13 Arewa, num. 4321 (1); Müller, D. H.: Die Mehri- und Soqotri-Sprache 2. Wien 1905, num. 17. ⫺ 14 Schwarzbaum, 23 sq.
Kopenhagen
Miche`le Simonsen
Wolf, Johann Wilhelm, *Köln 23. 4. 1817, † Hofheim (Hessen) 28./29. 6. 1855, dt. Erzählforscher. Über die Jugend des als Sohn ei-
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Wolf, Johann Wilhelm
nes wohlhabenden Kaufmanns geborenen W. sind trotz seiner autobiogr. Schrift Aus der Kindheit1 wenig konkrete Daten bekannt2. Nach dem Bruch mit seinem Vater lebte er seit 1840 meist in Brüssel und Gent. Möglicherweise absolvierte er ein Univ.sstudium, da er 1848 mit dem Doktortitel unterzeichnete und z. T. an der Univ. Gent unterrichtete. Als Privatgelehrter und Publizist war W. Mitglied mehrerer wiss. Vereinigungen, so u. a. der Koninklyke Maetschappy van Letteren en Schoone Kunsten (Gent) und der Vlaemsche letterkundige Maetschappy (Gent)3. 1845 heiratete er in zweiter Ehe Maria von Plönnies, Tochter der Dichterin Luise von Plönnies, und lebte seit 1847 in Jugenheim an der Bergstraße4. Das Interesse für die mündl. Überlieferung der J Flamen geht auf die Deutschen August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798⫺ 1874) und W. zurück. Während Hoffmann sich vorrangig mit Liedstudien beschäftigte, konzentrierte sich W. auf Volkserzählungen5. Beide standen in engem Kontakt mit den Protagonisten der politisch motivierten Vlaamsche Beweging in Gent. W.s Veröff.en sind vom Vorbild der Brüder J Grimm, einer wenig kritischen Haltung zur germ. Mythologie sowie einer dezidiert antifrz. Haltung geprägt6. Durch sein persönliches Engagement hat W. zum einen erreicht, daß fläm. Volkserzählungen im internat. Rahmen wahrgenommen wurden; zum anderen haben seine Veröff.en viele Flamen zum Sammeln und Publizieren von Volkserzählungen angeregt7. Damit hat W. letztlich die Grundlage für die Disziplin der fläm. Vk. geschaffen8. 1842 gründete W. die erste volkskundliche Zs. in Flandern, Grootmoederken, deren Titel den Stellenwert der durch die Generation der Großeltern vermittelten ,authentischen‘ mündl. Überlieferung unterstreichen sollte9. In ihrer ersten und einzigen Ausg. erschienen 79 Sagen und 12 Märchen. Die 1843 begründete Nachfolgezeitschrift Wodana bestand ebenfalls nur kurze Zeit (4 Lfgen); ihre erste Ausg. umfaßte nur 50 Seiten und übernahm die Lesetexte aus Grootmoederken vollständig10. Die Bedeutung dieser beiden Zss. liegt vor allem darin, daß W. die von der französisierten fläm. Oberschicht geringgeschätzte Volkssprache verwendete und
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die fläm. Volkserzählungen als ebenbürtig mit den Texten der Brüder Grimm betrachtete11. Aus eigenständiger Sammelarbeit legte W. mehrere Bände mit Sagen und Märchen vor. Der Titel seiner Ndl. Sagen (Lpz. 1843) ist mißverständlich, denn mehr als die Hälfte der 585 Texte sind belg. (bes. fläm., z. T. wallon.) Ursprungs. W. war fasziniert von der „Reinheit, in welcher der deutsche Geist sich in den flämischen Provinzen erhalten hat“12. Für seine Publ. wertete W. vor allem die ältere literar. Überlieferung anhand von Hss. der Kgl. Bibl. in Brüssel aus; demgegenüber hat man die Zuverlässigkeit seiner Aufzeichnungen aus der mündl. Überlieferung als eher gering eingeschätzt13. W.s Slg Dt. Märchen und Sagen (Lpz. 1845) enthält etwa 40 fläm. Volkserzählungen. Die Texte der Slg Dt. Hausmärchen (Göttingen/Lpz. 1851; neue Ausg. Göttingen 1858) wurden nach W.s Aussage z. T. bei Soldaten im Odenwald aufgezeichnet. W.s Interesse an Mythologie fand seinen Niederschlag in dem zweibändigen Werk Beitr.e zur dt. Mythologie (Göttingen 1852/57) sowie der Gründung des Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde (1853)14. Speziell für kathol. Leser richtete W. 1852 die Publ.sreihe Kathol. Tröstsamkeit ein, als deren erster Band seine autobiogr. Schrift erschien; die Reihe wurde von J. N. Holzwarth bis 1872 weitergeführt15. Als Resultat von Aufzeichnungen in seinem neuen Wohnort publizierte W. einen Band Hess. Sagen (Göttingen/Lpz. 1853). 1 Laicus, Johannes [i.e. J. W. W.]: Aus der Kindheit. Erinnerungen. Mainz 1853 u. ö.; cf. Fränkel, L.: Volkskundliches aus J. W. W.s Kölner Jugenderinnerungen. In: ZfVk. 9 (1899) 351⫺361. ⫺ 2 Fränkel, L.: W.: J.(es) W. W. In: ADB 43 (1898) 765⫺777; Cox-Leick, A. M. A./Cox, H. L.: Märchen der Niederlande. MdW 1977, 229⫺231; Verschaeren, K.: The Significance of J. W. W. (1817⫺1855) for the Study of Popular Culture in Flanders. In: Dekker, T. u. a. (edd.): Roots & Rituals. The Construction of Ethnic Identities. Amst. 2000, 701⫺708, hier 701; Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003, 52202⫺52204. ⫺ 3 Verschaeren (wie not. 2) 702. ⫺ 4 ibid., 702 sq. ⫺ 5 Top, S.: Cultuurpolitiek en volksverhalenstudie in Vlaanderen (1830⫺2000). In: Vk. 109 (2008) 1⫺26, hier 8. ⫺ 6 Baumgärtner, A. C.: W., J. W. In: LKJ 3 (1972) 824 sq. ⫺ 7 Top (wie not. 5) 9, 25. ⫺ 8 Moonen, M.: J.-W. W. De grondlegger der volkskunde in Vlaanderen. Brüssel 1944; Sinninghe, J. R. W.: Die Brüder Grimm und die Anfänge volkskundlicher Feldforschung in den
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Wolf(f), Johannes
Niederlanden. In: Brüder Grimm Gedenken 1. ed. L. Denecke/I.-M. Greverus/G. Heilfurth. Marburg 1963, 421⫺434, hier 431 sq. ⫺ 9 Schmidt, A.: Het eerste vlaamsch volkskundig tijdschrift 1842⫺43. In: Vk. 45 (1943) 190⫺201. ⫺ 10 Top (wie not. 5) 9⫺ 12. ⫺ 11 Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, 285 sq. ⫺ 12 W., J. W.: Ndl. Sagen. Lpz. 1843, XIII. ⫺ 13 Top, S.: Die Bedeutung J. W. W.s (1817⫺1855) und seiner Ndl. Sagen (Leipzig 1843). In: Erzähler und Erzähltes. ed. A. Bonde u. a. Bonn 2006, 11⫺28, hier 17 sq., 28. ⫺ 14 Verschaeren (wie not. 2) 703. ⫺ 15 Uther (wie not. 2).
Leuven
Katrien van Effelterre
Wolf(f), Johannes (Joannes Wolfius), *Bergzabern 10. 8. 1537, † Heilbronn 23. 5. 1600, lat.schreibender dt. humanistischer Schriftsteller luther. Konfession11. W., Sohn eines Amtmanns, durchlief die Studia humanitatis in Straßburg, studierte Theologie bei J Melanchthon in Wittenberg, Philosophie in Tübingen, ab 1564 Jura in Bourges, Angers, Besanc¸on und Doˆle, wo er 1568 das Lizentiat der Rechte erwarb. Nach kurzer Tätigkeit am Reichskammergericht in Speyer wurde er Rat und Gesandter der luther. Herzöge von Zweibrücken-Neuburg und nahm am dritten frz. Religionskrieg teil. Ab 1573 stand er in markgräflich-bad. Diensten, war ab 1574 Amtmann in Mundelsheim und belehnt mit Freigut und Schloß, allerdings bereits 1583 aufgrund der religionspolitischen Schwierigkeiten während der zweiten Reformation amtsmüde. Durch Heirat (1592) erwarb er 1594 das Bürgerrecht der luther. Reichsstadt Heilbronn. W. war ein überaus produktiver Verfasser, Herausgeber und Übersetzer hist. Anleitungsund Sammelwerke; diese sind bibliogr. erst ansatzweise erfaßt. Er hat u. a. Jean J Bodins Methodus ad facilem historiarum cognitionum bearbeitet (Basel 1576, 1579) und gemeinsam mit Auszügen aus Schriften anderer Autoren u. d. T. Artis historiae penus octodecim scriptorum, einen Sammelband aus 18 Autoritäten, darin auch Tabulas mnemonicas historiae universalis, zusammengestellt. Er hat die kirchengeschichtlichen und weltlichen Chroniken des Albert Krantz (Ffm. 1576⫺90, 1575⫺83) fortführend betreut sowie das Geschichtswerk Roberti Gaguini rerum Gallicarum annales, cum Roberti Velleii supplemento (Ffm. 1577) aus
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dem Französischen übersetzt. In dt. Sprache existiert von ihm ein New Jägerbuch (Straßburg 1590). W.s eigenes enzyklopädisches Hauptwerk, Lectiones memorabiles 1⫺2 (Lauingen 1600, Ffm. 21671) ist in der hist. Erzählforschung als universeller Quellenfundus anerkannt. Lectionum memorabilium et reconditarum centenarii XVI Habet hic lector doctorum ecclesiae, vatum, politicorum, philosophorum, historicum, aliorumq[ue] sapientum & eruditorum pia, gravia, mira, arcana, & stupenda; iucunda simul & utilia, dicta, scripta, atq[ue] facta; Vaticinia item vota, omnia, mysteria, hieroglyphica, miracula, visiones, antiquitates, monumenta, testimonia, exempla virtutu[m], vitiorum, abusuum; typos insuper, picturas, atq[ue] imagines: Sed et ipsius coeli ac naturae horrenda signa, ostenta, monstra, atq[ue] portenta: His interiuncti sunt quoq[ue] omnes sacri prophaniq[ue] ordines: Ex quibus omnibus cum praeteriti status in ecclesia, republica, et communi vita consideratio; tum impendentium euentum, ac in dies magis magisq[ue]; ingrauescentium malorum praesagitio: sed et multorum abstrusorum hactenus desideratorum reuelatio ob oculos perspicue` ponitur.
Das Werk, dessen erste Ausg.n beide einen Porträtholzschnitt des Autors enthalten, findet sich weltweit in allen größeren Bibl.en. R. J Schenda zählt das Werk zu den wichtigen J Prodigiensammlungen22, die germanistische Mediävistik kennt es als Quellenüberlieferung älterer Weissagungstexte33. W. schöpfte aus den Wunderbüchern des Conrad J Lycosthenes, des Job J Fincel und anderer Autoren des 16. Jh.s, voran den jährlichen Prognostica, den astrologischen Endzeitdrucken und der apokalyptischen Flugschriftenpublizistik. Sein Werk diente wiederum protestant. Exempelkompilatoren des 17. Jh.s wie Zacharias J Rivander, Johannes J Stieffler und Daniel J Schneider als Fundgrube44. Die später aufgrund ihrer Grausamkeit aus den J Kinderund Hausmärchen der Brüder J Grimm ausgeschiedene Erzählung KHM 22, AaTh/ATU 1343*: J Kinder spielen Schweineschlachten etwa schöpft über Martin J Zeillers Miscellanea (1661) aus den Lectiones55. Wirklich bekannt gemacht haben W. allerdings erst neuere Studien der Frühneuzeithistoriker66. In seiner Vorrede schildert der Autor die Entstehung des Werkes. Während monatelanger Gesandtschaften habe er an den Höfen des Kaisers, der Könige von Frankreich, Navarra, England und Polen sowie vieler Fürsten in
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Wolff, Leo
deren Bibl.en, Klöstern, Kollegien und bei Privatgelehrten aus rund 3000 zitierten Autoritäten exzerpieren dürfen, auch später noch sich Schriften kaufen lassen, auf der Suche nach jenen „dicta, scripta, atq[ue] facta“, die sein Buchtitel einzeln aufführt. Dabei interessierten ihn bes. die himmlischen und natürlichen Zeichen der Vorbedeutung. Sie verweisen seiner auf Melanchthon beruhenden Meinung nach auf den Zustand der Papstkirche und das Ende dieser Welt, weshalb sein Werk zur Vorlage für entsprechend ill. Einblattdrucke werden konnte. Der Autor erschloß sein Werk durch ein umfangreiches Personenregister; einen Sachindex erstellte 1608 Johann Jacob Hagendorn, genannt Linsius, weshalb heutige Bibl.snachweise oft eine Doppelautorschaft für das Gesamtwerk verzeichnen. Der erste Band ist den ersten 1500 Jahren der Geschichte des Christentums gewidmet und behandelt Religionsvernachlässigungen, Kirchenreformversuche, frühe Mirakel- und Aberglaubenskritik sowie Prophetien; der zweite dem 16. Jh., das die Reformation, den Nachweis der Konstantinischen Fälschungen, eine Fülle von Endzeitzeichen und die Vorboten des Antichrist hervorbrachte. Zu letzteren veröffentlichte W. separat die Disputatio de Antichristo (Zürich 1592). Mit Hilfe der eifrig benutzten Chronikliteratur bieten die Lectiones zeitgenössische Kontexte zu den erzählenden Geschichten (J Historie, Historienliteratur). Zu den eschatologischen Ansichten enthält das Werk lange Auszüge einschlägiger Schriften und Traktate luther. Publizistik der Zeit. Erklärtes Ziel war es, Argumentationsmaterial für eine politica christiana mit Blick auf das berechenbar geglaubte Ende der Welt bereitzustellen. Daher rührt auch der Titel ,Denkwürdige Lehrstücke‘ aus der Weissagungsliteratur. 1 Rollwagen, G.: Panegyricus, De vita et obitu J. Wolfii […]. Tübingen 1601; Jöcher, C. G.: Allg. Gelehrten-Lex. 4. Lpz./Delmenhorst 1751, 2951; Groh, D.: Lizentiat der Rechte J. W. Ein Beitr. zur Biogr. eines pfälz. Diplomaten und Historiographen aus der 2. Hälfte des 16. Jh.s (Diss. Ffm. 1923). In: Westpfälz. Geschichtsblätter 25 (1926) 25⫺49; 26 (1927) 1⫺19. ⫺ 2 Schenda, R.: Die dt. Prodigienslgen des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963) 637⫺710, hier num. 32. ⫺ 3 Verflex. 4 (21983) 820 sq.; 7 (21989) 1178; 11 (22004) 669. ⫺ 4 Brückner, Reg. s. v. W. ⫺ 5 BP 1, 203 sq. ⫺
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6 Schmolinsky, S.: Prophetia in der Bibel. Die „Lectiones memorabiles“ des J. W. In: Zukunftsvoraussagen der Renaissance. ed. K. Bergdolt/W. Ludwig. Wiesbaden 2005, 89⫺130; ead.: Im Angesicht der Endzeit? Positionen in den „Lectiones memorabiles“ des J. W. (1600). In: Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen. ed. W. Brandes/F. Schmieder. B./N. Y. 2008, 369⫺417.
Würzburg
Wolfgang Brückner
Wolff, Leo, *München 1640, † Klosterlechfeld (bei Augsburg) 28. 9. 1708, dt. Herausgeber von Predigtsammlungen. W. trat 1659 in Bamberg in den Franziskanerorden ein und wurde infolge seiner Zugehörigkeit zur Straßburger Rekollektenprovinz vorwiegend in Schwaben eingesetzt; später war er Wallfahrtsprediger im Kloster Mariahilf am Lechfeld. Seine näheren Lebensumstände sind nicht bekannt. Die auf W.s Vornamen bezogenen Titel seiner mehrteiligen und mit verschiedenen Reg.n gut erschlossenen Slgen heißen mit dem Haupttitel Rugitus Leonis. Geistliches LöwenBrüllen. Sie sind bestimmt für adventliche Kanzelreden (Augsburg 1701), für Sonntage (1⫺2. Augsburg 1702 [21707]/1708), Festtage (1⫺2. Augsburg 1705, 21707) und die Fastenzeit (Augsburg 1706)1. W.s Werke enthalten nach den eingehenden Unters.en von E. J Moser-Rath2 eine Fülle erzählerischer Elemente, die in seinen Predigten argumentativ und demonstrativ eingesetzt wurden, um z. B. in den Adventspredigten laut Titel „die Seelen der Menschen aus dem verdammlichen Sünden-Schlaff zur Besserung des Lebens aufzuwecken“. W. erzählte anschaulich Geschichten aus dem A. T. und dem N. T. nach und flocht in seine Predigten Exempla, Mirakelerzählungen, Legenden, Sagen und Fabeln ein. Dabei berief er sich auf antike Philosophen, die Kirchenväter, ma. Exempelautoren sowie Vertreter der jesuit. Erzählliteratur, zitierte aber auch bei der Darbietung von Fabeln gelegentlich die ,Poeten‘ und bezeugte auf diese Weise seine Belesenheit in geistlichen wie hist. Schriften. Die Kirchenbesucher sprach er mitunter direkt an und bezog sie in das Geschehen ein. Hexenpraktiken und Zauberei faßte er als real auf, ließ jedoch bei der Schilderung populärer Glaubensvorstellungen, bei
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Wolffhart, Conrad ⫺ Wolfsmädchen
Lügengeschichten oder bei Erzählungen aus dem Alltag die Leser über seine Vorlagen im unklaren und gab lediglich an, die Begebenheit gehört oder gelesen zu haben. Bei Schwänken machte er ausdrücklich darauf aufmerksam, diese seien ,Ostermährl‘, also keine ,wahrhafften Geschichten‘, und zitierte als Quelle, wenn überhaupt, nur Kurztitel. Fabeln wie Schwänke dokumentieren mit W.s ausführlichen Auslegungen prototypisch den Exempelcharakter innerhalb von Predigtsammlungen. So übertrug W. etwa das Beispiel des J tapferen Schneiderleins (AaTh/ATU 1640) ⫺ nach dem ndl. Schwankbuch Der Geist von Jan Tambaur (dt. ca 1660)3 ⫺ auf J Christus: dieser sei für einen schwachen Menschen gehalten worden, jedoch ein starker Held gewesen. Die sieben erschlagenen Fliegen waren für W. Höllengeister, das Einhorn ein Symbol für den von Christus besiegten Tod. Obwohl die Predigten W.s ⫺ auch durch die häufige Verwendung von Wortspielereien, Liedern, Sprichwörtern, Redensarten, Rätseln und Reimen, dialektalen Einschüben, Witzen und Lautmalereien ⫺ barocke Freude am Erzählen erkennen lassen, erreichte er nicht die Virtuosität etwa eines J Abraham a Sancta Clara; seine Nachwirkung hält sich in Grenzen4. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.): Sonntagspredigten (1702): 4 ⫽ cf. AaTh/ATU 1183: Washing Black Wool White. ⫺ 69 sq. ⫽ AaTh/ATU 920 C: J Schuß auf den toten König. ⫺ 92 ⫽ AaTh/ATU 838: J Sohn am Galgen. ⫺ 97 ⫽ Erhängtem wachsen Bart und graue Haare (J Altern). ⫺ 107 sq. ⫽ AaTh/ATU 75: J Hilfe des Schwachen. ⫺ 115 sq. ⫽ J Romulus und Remus. ⫺ 137 ⫽ Klang geweihter Glocken vertreibt aufziehende Unwetter. ⫺ AaTh/ ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn. ⫺ 193 sq. ⫽ cf. AaTh/ATU 1200: J Salzsaat. ⫺ 254 sq. ⫽ AaTh/ ATU 298 C*: J Baum und Rohr. ⫺ 259 sq. ⫽ AaTh 842/ATU 947 A: J Glück und Unglück. ⫺ 316 ⫽ J Phönix aus der Asche. ⫺ 332⫺337 ⫽ AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein. ⫺ 348⫺356 ⫽ AaTh/ ATU 1510: J Witwe von Ephesus. ⫺ 357 sq. ⫽ AaTh/ATU 77*: The Wolf Confesses His Sins to God. ⫺ 368 sq. ⫽ AaTh/ATU 1341 B: J Gott ist auferstanden. ⫺ 584 sq. ⫽ AaTh/ATU 1284: cf. Irrige J Identität. ⫺ 656 sq. ⫽ cf. AaTh/ATU 214 B: J Esel in der Löwenhaut. ⫺ 715 sq. ⫽ AaTh/ATU 56 A*: cf. J Fuchs und Vogeljunge. ⫺ 716 sq. ⫽ AaTh/ATU 113 B: J Scheinbüßende Tiere. ⫺ 720⫺ 724 ⫽ AaTh/ATU 1515: Die weinende J Hündin. ⫺ 780 sq. ⫽ AaTh/ATU 179: Was der J Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert. ⫺ 802⫺804 ⫽ AaTh/
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ATU 1350: Die rasch getröstete J Witwe. ⫺ 820⫺ 822 ⫽ AaTh/ATU 1331: J Neidischer und Habsüchtiger. ⫺ 846 sq. ⫽ AaTh/ATU 80: J Igel im Dachsbau. ⫺ 853 sq. ⫽ AaTh/ATU 992: J Herzmäre. ⫺ 909⫺911 ⫽ AaTh/ATU 778: Geloben der großen J Kerze. ⫺ 928 sq. ⫽ AaTh 1365 C: cf. Die widerspenstige J Ehefrau. ⫺ 969 sq. ⫽ AaTh/ATU 1845: The Student as Healer (J Amulett). ⫺ 989 ⫽ AaTh/ATU 276: J Krebs und seine Jungen. ⫺ 994 sq. ⫽ AaTh/ ATU 1373 A: Die schwache J Esserin. Festtagspredigten (1705): 1, 22 sq. ⫽ Liebesvoraussage in der Andreasnacht (J Orakel). ⫺ 1, 65 ⫽ Magd mischt Wasser unter die Milch und wird bestraft. ⫺ 1, 158 ⫽ ATU 875*: J Weiber von Weinsberg. ⫺ 1, 209 ⫽ Teufelspakt: Maria rettet Maler, der sie und nicht den Teufel malt (Tubach, num. 3573). ⫺ 1, 244 ⫽ Mann schlägt betrunkene Ehefrau mit Kirschzweig, als sie behauptet, ihr sei übel und sie benötige Kirschwasser. ⫺ 1, 274 ⫽ AaTh/ATU 1365 A: cf. Ehefrau: Die widerspenstige E. ⫺ 1, 276 sq. ⫽ ATU 1354 C*: Seemingly Dead Woman Returns to Life. ⫺ 1, 279 sq. ⫽ AaTh/ATU 1511*: J Rat der Glocken. ⫺ 2, 261 ⫽ AaTh/ATU 298: J Streit zwischen Sonne und Wind. ⫺ 2, 284 ⫽ AaTh/ ATU 277 A: cf. Der aufgeblasene J Frosch. ⫺ 2, 489 ⫽ AaTh/ATU 1380 A*: cf. Der gefoppte J Beter. ⫺ 2, 499 ⫽ AaTh/ATU 160: J Dankbare Tiere, undankbarer Mensch. ⫺ 2, 573 ⫽ Wiedergänger muß im Fegefeuer schmoren, weil er zwölf Heller gestohlen hat (Müller/Röhrich J 9, J 15). ⫺ 2, 617 ⫽ Trunkenbold wacht im Schweinestall auf. ⫺ 2, 734 sq. ⫽ AaTh/ ATU 774 C: J Hufeisenlegende. ⫺ 2, 741 ⫽ AaTh/ ATU 2040: Chains Involving Contradictions or Extremes. 1 Welzig, W. (ed.): Katalog gedr. dt.sprachiger kathol. Predigtslgen 1⫺2. Wien 1984/87, hier t. 1, 257⫺ 259, 264 sq., 276 sq.; ibid. t. 2, 813. ⫺ 2 Moser-Rath, Predigtmärlein, 156⫺178; ead.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddt. Barockpredigten. Stg. 1991, Reg. s. v. W., L.; ead.: Kl. Schr. zur populären Lit. des Barock. ed. U. Marzolph/I. Tomkowiak. Göttingen 1994, Reg. s. v. W., L.; ead.: W., L. In: Killy, W. (ed.): Lit.lex. 12. Gütersloh/Mü. 1988, 409 sq. ⫺ 3 ead.: Erzähler auf der Kanzel. In: Fabula 2 (1959) 1⫺26, hier 15 sq. ⫺ 4 cf. Killy (wie not. 2) t. 11, 145.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Wolffhart, Conrad J Lycosthenes, Conrad
Wolfsmädchen (AaTh/ATU 409), Märchen, seltener Sage über Ehefrauen in Tiergestalt (J Tierbraut, Tierbräutigam, Tierehe) und ihre Erlösung. Die Bezeichnung W. stammt von A. J Aarne1.
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Wolfsmädchen
Eine Hexe verwandelt ihre verheiratete Stieftochter in einen Wolf (Luchs, anderes Tier) und setzt ihre eigene Tochter an deren Stelle (J Braut, Bräutigam, Kap. 6). Die Verwandelte kommt täglich, um ihr Kind zu stillen (die Kinderfrau bringt es zum Wald und ruft nach ihr; J Säugen), wobei sie ihre J Tierhaut ablegt. Als ihr Ehemann davon erfährt, verbrennt er das Fell (auf Anraten eines Weisen) und erlöst dadurch seine Frau. Die Stiefschwester (und die Stiefmutter) wird hingerichtet (verwandelt sich in eine Elster).
Der älteste Nachweis für den ausschließlich aus mündl. Überlieferung belegten Erzähltyp findet sich in den hs. Aufzeichnungen des dt. Sammlers C. H. J. Schlegel (1755⫺1842) und stammt wahrscheinlich aus dem 1. Viertel des 19. Jh.s2. Für das 19./20. Jh. ist AaTh/ATU 409 bes. in ostseefinn., ostslav. und balt. Gebieten3 belegt; die meisten Aufzeichnungen stammen aus Estland4. In den bei ATU angeführten span. und kasach. Var.n heiratet ein Mann eine in eine Wölfin verzauberte Frau und erlöst sie durch Verbrennen des Fells; die schweiz., slov. und ung. Texte entsprechen nicht dem Erzähltyp. In den estn. Var.n wird die Frau meist in einen Wolf verwandelt, in den lett. findet sich die Verwandlung in einen Wolf, ein Reh oder einen Luchs5, in litau. in ein Reh oder einen Luchs (selten Bär, Katze, Hecht)6. In ostslav. Var.n wird sie meist zu einem Luchs (seltener Fuchs, Reh, Hirsch, Fisch, Ente)7, in karel. zu einem Elch oder Wolf (in manchen Gegenden Schwan, Gans)8. In der Rolle der Antagonistin begegnet in den meisten Fassungen ein mythol. Wesen mit übernatürlichen Kräften: in estn. Var.n eine Hexe, eine alte böse Frau, die Mutter oder Tochter des Teufels (Äiatar oder Ro˜ugutaja, karel. Syöjätär)9, in ostslav. J Baba Jaga. AaTh/ATU 409 wird selbständig erzählt10 oder mit Erzähltypen wie AaTh/ATU 403 C: The Substituted Bride11, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella12, AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein kombiniert13, seltener mit AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen14, AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut15, AaTh/ATU 314 A*: Animal as Helper in the Flight16 oder AaTh/ ATU 709: J Schneewittchen17; mitunter findet sich eine Verknüpfung mit Werwolfsagen (J Wolfsmenschen)18. Estn., karel. und ostslav. Var.n enthalten häufig gesungene Passagen, die als Indiz für
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das hohe Alter des Erzähltyps gesehen wurden19. In Estland wurden auch Sagen aufgezeichnet, die zu AaTh/ATU 409 zu zählen sind. In ihnen fehlt meist die Gestalt der Stiefmutter; an ihre Stelle tritt eine Hexe (Dämon, dessen Frau, Schwiegermutter, Schwester des Mannes, ehemalige Braut des Mannes), seltener verwandelt sich die Frau selbst in einen Wolf20. 1 Aarne, A.: Estn. Märchen- und Sagenvar.n (FFC 25). Hamina 1918, 27 (408*). ⫺ 2 Eesti Rahvaluule Arhiiv (Estn. Folklore-Archiv) Tartu: EKÜ, f 232 d, 55⫺59; SES, SK 220, 5⫺12. ⫺ 3 Kallas, O.: Kaheksakümmend Lutsi maarahva muinasjuttu. Jurjev 1900, 138⫺142 (⫹ ATU 510 A ⫹ ATU 403 C), 142 sq. (⫹ ATU 403 C); Löwis of Menar, A. von: Finn. und estn. Volksmärchen. MdW 1922, 279⫺ 298. ⫺ 4 Järv, R./Kaasik, M./Toomeos-Orglaan, K.: Eesti muinasjutud. 1: Imemuinasjutud. Tartu 2009 (182 Var.n im Eesti Rahvaluule Arhiiv); Ara¯js/Medne (26 Var.n im Latviesˇu folkloras kra¯tuve [Lett. volkskundlichen Archiv] Riga); mündl. Auskunft von J. Sˇlekonyte˙ (16 Var.n im Lietuviu˛ literatu¯ros ir tautosakos instituto Lietuviu˛ tautosakos rankrasˇtynas [Litau. volkskundliches Archiv am Inst. für Lit. und Folklore] Vilnius); Rausmaa, SK 1, 483 (28 Var.n aus Ladoga-Karelien, Ostkarelien und dem West-Ingermanland im volkskundlichen Archiv der Suomalaisen Kirjallisuuden Seura [Finn. Lit.gesellschaft] Helsinki); cf. Konkka, U. S.: Karel’skie narodnye skazki. M./Len. 1963, 506 (ostkarel.). ⫺ 5 Sˇmits, P.: Latviesˇu tautas teikas un pasakas 1⫺15. Waverly 2 1962⫺70, hier t. 4 (1965) 274 sq., 297 sq., 358 sq., 371 sq., 390; t. 6 (1966) 200⫺212, 445. ⫺ 6 Rausmaa, P.-L.: Suomalaiset kansansadut 1. Hels. 1972, 189⫺ 199; cf. Rausmaa, SK 1, 483. ⫺ 7 Vedernikova, H. M.: Obcˇsˇie i otlicˇitel’nye cˇerty v sjuzˇetoslozˇenii i stile vostocˇnoslavjanskich skazok (AA 403, 409, 450, 511) ⫺ Tipologija i vzaimosvjazi fol’klora narodov SSSR (Allg. und spezielle Charakteristika ostslav. Märchen hinsichtlich Komposition und Stil [AA 403, 409, 450, 511] ⫺ Typologie und Interdependenzen in der Folklore der Völker der UdSSR). M. 1980, 248⫺262. ⫺ 8 Rausmaa, SK 1, 483; Konkka (wie not. 4) 506. ⫺ 9 Metsvahi, M.: „Naine libahundiks“ (AT 409) eesti jutupärimuses (Frau zu Werwolf [AT 409] in der estn. Märchenüberlieferung). In: Keel ja kirjandus 8⫺9 (2010) 611⫺627; ead.: Die Frau als Werwölfin (AT 409) in der estn. Volkstradition. In: Ble´court, W. de/Tuczay, C. A. (edd.): Tierverwandlungen. Codierungen und Diskurse. Tübingen 2011, 193⫺219. ⫺ 10 Järv u. a. (wie not. 4) 366; Eisen, M. J.: Wanad jutud. 42 korjaja üles kirjutatud teisendid. Paide 1894, 33 sq. (estn.); Salve, K./Sarv, V.: Setu lauludega muinasjutud. Tallinn 1987, 78 sq., 83 sq. (estn.); Hiiemäe, M.: Rahvajutte Maarja-Magdaleena kihelkonnast. Materjal rahvajutustajale.
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Wolfsmenschen
Tallinn 1999, 53; Konkka (wie not. 4) 127 sq., cf. 130⫺132 (russ.); Afanas’ev, num. 266. ⫺ 11 Kunder, J.: Eesti muinasjutud. Tartu 1885, 152⫺ 155; Eisen, M. J.: Neljas Rahwa-raamat. Uus kogu wanu jutte. Jurjew/Riia 1894, 95⫺99 (estn.); Viidalepp, R.: Eesti muinasjutud. Tallinn 1967, 160⫺164 (dt.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, 122⫺125, 165⫺ 167); Peebo, K./Peegel, J.: Igal puul oma juur. Murdetekste Jakob Hurda kogust. Tallinn 1989, 168⫺ 170 (estn.); Salve/Sarv (wie not. 10) 79⫺83; Järv u. a. (wie not. 4) 359⫺365, num. 105, 106; Rausmaa, SK ˇ istov, K. V.: Perstenek-dvenadcat’ sta1, 141⫺145; C vesˇkov. Izbrannye russkie skazki Karelii. Petrozavodsk 1958, 26⫺31. ⫺ 12 Sˇmits (wie not. 5); Rausmaa, SK 1, 483; Pentikäinen, J.: Oral Repertoire and World View. An Anthropological Study of Marina Takalo’s Life History (FFC 219). Hels. 1978, 291 (karel.); Konkka (wie not. 4) 97⫺104, 175⫺179, cf. 180⫺184 (russ.). ⫺ 13 Kunder (wie not. 11) 71⫺81; Sˇmits (wie not. 5); Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatkskoj gubernii. Petrograd 1915, 64⫺67; Bazanov, V. G./Alekseev, O. B.: Velikorusskie skazki v zapisjach I. A. Chudjakova. M./Len. 1964, 85⫺87; ˇ istov (wie not. 11). ⫺ 14 Vedernikova (wie C not. 7). ⫺ 15 Sˇmits (wie not. 5); Vedernikova (wie not. 7). ⫺ 16 Rausmaa, SK 1, 483. ⫺ 17 ibid. ⫺ 18 z. B. Aarne (wie not. 1) 75; Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1958, 166. ⫺ 19 Salve/Sarv (wie not. 10) 23. ⫺ 20 Metsvahi (wie not. 9).
Tartu
Merili Metsvahi
Wolfsmenschen 1. Begriff ⫺ 2. Antike und ma. Erzählungen ⫺ 3. Prozesse ⫺ 4. Sagen ⫺ 5. Märchen, Lit., Film ⫺ 6. Deutungen
1 . B eg ri ff. Als Wolfsmenschen werden Menschen bezeichnet, die sich jahrhundertelang tradierten Vorstellungen zufolge vorübergehend in einen Wolf verwandeln (J Tierverwandlung; cf. J Theriomorphisierung)1. Die gebräuchlichere Bezeichnung hierfür ist Werwolf (W.). W.vorstellungen sind vorwiegend europ.2 Es gibt keine Hinweise auf eine ungebrochene Tradition; die Geschichte der W.e ist von Fragmentierung und Neuerfindung gekennzeichnet. Darüber hinaus wurde als Lykanthropie ein von der Erzählüberlieferung weitgehend unabhängiges medizinisches Phänomen bezeichnet; beginnend mit Marcellus Sidetes (1.⫺2. Jh.) wurden damit Patienten in Verbindung gebracht, die an einer Form der Melancholie litten, erkennbar durch einen Komplex von Symptomen wie bleiche Haut
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und Herumstreunen auf Friedhöfen3. In der modernen Psychologie wird die Bezeichnung Lykanthropie für Patienten verwendet, die glauben, sie hätten sich in einen Wolf oder in ein anderes Tier verwandelt4. Die Etymologie des Begriffs W. wird gewöhnlich als Zusammensetzung von ,wolf ‘ und ,wer‘ erklärt, wobei letzteres Mann bedeutet5. ,Wer‘ kann aber auch als Ableitung von ags. ,warg‘ (altnord. vargr) verstanden werden6, dessen eigentliche Bedeutung Würger ist und als Bezeichnung für eine Person dient, die außerhalb der Welt steht: einen gesellschaftlichen Außenseiter, im engeren Sinne einen Verbrecher und Ausgestoßenen7. Hiervon ist wiederum frz. garou abgeleitet. Im Walisischen findet sich der Name Gwr-gi8. Der W. bildet in diesem Sinne einen Gegensatz zu ,gesellschaftlich integrierten‘ Wölfen, d. h. Personen, die einen entsprechenden Namen tragen: Rudolf, Ulf, Wolfgang oder J Beowulf. Zu unterscheiden ist zwischen einzelnen und kollektiv auftretenden W.en. J Herodot (4,105) berichtet von den Neuri, die einmal im Jahr für einige Tage zu Wölfen geworden sein sollen9; in Arkadien soll es einen Wolfskult gegeben haben10. Aus ma. Kontexten stammen Hinweise auf Gruppen von Kriegern11 oder Dieben12, deren Mitglieder sich rituell in Wölfe verwandelten. Im überwiegenden Teil der europ. Überlieferung sind Vorstellungen vom W. jedoch mit Einzelwesen verknüpft (Mot. D 113.1.1). W.vorstellungen basieren auf Begegnungen mit realen Wölfen, auf der Verwandlung von Menschen in Wölfe und auf Elementen von W.erzählungen. Die vorwiegend männlich vorgestellten W.e wurden in der Regel als soziale Außenseiter oder Verbrecher imaginiert; man legte ihnen J Inzest, Brutalität und Sexualverbrechen zur Last. Im christl. Denken wurde der W. daher mit dem J Teufel in Zusammenhang gebracht13. W.erzählungen entwickelten sich vor einem mehr oder weniger kontinuierlichen Hintergrund von Konzepten, die das tägliche Leben betrafen. Die Charakterisierungen des W.s sind wenig ausdifferenziert14; gelegentlich wurde er verteidigt, wie in der ma. aristokratischen Lit., oder einheimische W.begriffe wurden vergessen, wie in der Kinderliteratur des 20. Jh.s15. Nur selten haben sich Personen selbst als W. bezeichnet ⫺ allenfalls in der Folge von Folte-
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Wolfsmenschen
rungen im Zusammenhang mit frühneuzeitlichen W.prozessen oder in neueren psychiatrischen Fällen. Die Unterscheidung freiwilliger und unfreiwilliger bzw. ,echter‘ und ,falscher‘ W.e16 ist nicht sehr nützlich, denn es heißt oft, daß Männer einen starken Drang fühlten, als W. zu handeln, der nur schwer zu unterdrükken sei. Wie schon bei den frühneuzeitlichen W.prozessen argumentiert wurde, wird damit die Verantwortung für das eigene Handeln zum Hauptproblem. 2 . Ant ik e u nd ma . E rz äh lu ng en. In J Ovids Metamorphosen (1,163⫺252) findet sich die Verwandlung Lykaons in einen Wolf, wobei Lykaon nicht unbedingt als W. angesehen werden kann, da seine Verwandlung dauerhaft ist17. Es ist nicht auszuschließen, daß Elemente aus antiken Überlieferungen (z. B. das Überqueren von Gewässern; die Anzahl von Jahren, die eine Person in Wolfsgestalt verbringen muß) in spätere Texte übernommen wurden18. Bei J Petronius (Satyricon 62) findet sich eine zentrale W.erzählung, in der sich ein Soldat dadurch in einen Wolf verwandelt, daß er auf einem Friedhof im Kreis uriniert. Als er in Wolfsgestalt Schafe angreift, wird er getötet und später tot auf dem Friedhof gefunden. Eine einflußreiche Gruppe von W.erzählungen stammt aus dem Hochmittelalter. Obwohl eine eigenständige nord. und gäl. Überlieferung existierte, wurden in der anglofrz. Erzählliteratur Motive antiker W.erzählungen (Ovid, Petronius) übernommen. Im Lai Bisclavret der J Marie de France wird der W. von seiner untreuen Frau verraten. Im Gegensatz zu Lykaon muß sich Bisclavret regelmäßig in einen Wolf verwandeln, wobei er seine Kleider ablegt. Als seine Frau ihm von ihrem Liebhaber die Kleider stehlen läßt, muß er ein Wolf bleiben, bis er seine Kleider zurückbekommt19. Auch die Lais Arthur and Gorlagon, Melion und Bisclarel sowie der Prosaroman Guillaume de Palerne20 stellen den W. als Opfer einer bösen Frau dar und haben daher misogyne Züge. Im Altnordischen findet sich das Wort vargu´lfr erstmals in einer Übers. des Bisclavret21. In der etwas jüngeren Vo˛lsunga saga sind bereits alle für W.erzählungen typischen Elemente (Ächtung, Verwandlung mittels eines Wolfsfells, Inzest) präsent. In den J Mabinogion (Math fab Mathonwy [Math, Sohn des
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Mathonwy]) wird das Bild des Wolfs in einer Erzählung über sexuelle Verstöße und Inzest verwendet22. Die ma. dt. Lit. enthält das Motiv des W.s nicht23. 3 . P ro ze ss e. Ma. Bußtraktate bezeichnen W.e als von den Schicksalsfrauen, an die die Christen nicht glauben sollten, veränderte Männer24. W.e wurden bes. in protestant. Traktaten des 16. Jh.s diskutiert, in denen häufig Fälle aus Italien und dem Baltikum angesprochen wurden25. Im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Reformation und Gegenreformation im 16./17. Jh. kam es verstärkt zu W.prozessen26. Oft waren sie Teil größerer Hexenprozesse (J Hexe, Kap. 1). Diese zuerst in Burgund geführten Verfahren27 breiteten sich im späten 16. Jh. ins Rheinland und von da in andere Teile Deutschlands28, nach Luxemburg und in die nördl. und südl. Niederlande aus29. Die als W. Angeklagten hielt man für Menschen-, bes. Kinderfresser, oder man glaubte, sie praktizierten verbotene (abartige) Formen der Sexualität (z. B. Inzest, J Sodomie). Dabei dürfte die Gesamtzahl der als W. Verfolgten nicht mehr als einige Hundert betragen haben. Während Hexenprozesse sowohl gegen Männer als auch gegen Frauen geführt wurden, betraf die Anklage als W. lediglich eine kleine Minderheit der verfolgten Männer30. Unter ihnen findet sich eine spezielle Gruppe: Hirten, deren Vergehen z. B. darin bestand, an dem Versuch, Wölfe zu bannen, gescheitert zu sein31. Frauen wurden in diesen Gegenden nur sehr selten der Verwandlung in einen Wolf bezichtigt (häufig in Verbindung mit anderen Verwandlungen)32. Seit dem späten 16. Jh. begegnet die Bezeichnung W. in Deutschland und in den Niederlanden als Beleidigung (eine Person wird eines Verbrechens bezichtigt oder mit einem bestimmten Verbrecher verglichen)33. Im 17. Jh. kamen W.anschuldigungen in Mecklenburg34 und in verschiedenen balt. Staaten35 vor allem in späteren Phasen von Hexenprozessen zum Tragen. Hier finden sich auch relativ viele weibliche W. e. Ein oft selektiv zitierter Fall ist 1692 aus Livland belegt; hier wurde ein Heiler angeklagt, der zusammen mit anderen als Wolf gekleideten Personen Fruchtbarkeitskämpfe ausgeführt hatte36. Im Kontext dieser Prozesse entstand in Frank-
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Wolfsmenschen
reich37, Deutschland38 und im Baltikum39 ein Korpus von Veröff.en, die einerseits im Sinne der Anklage argumentierten, andererseits Kritik an den Prozessen zum Ausdruck brachten. 4 . S ag en. W.e sind primär ein Phänomen der Sage. W.sagen aus dem 19./20. Jh., die einerseits in Form von Erlebnisberichten, Erinnerungen und Mitteilungen, andererseits als narrativ stärker strukturierte Wandersagen vorliegen, belaufen sich auf einige Tausend nach regionalen Spezifika zu unterscheidende Texte. Sie beinhalten die Merkmale von W.en und ihre Taten und erteilen Rat für Gegenmaßnahmen40; Wandersagen enthalten teilweise Warnungen vor W.en. Die W.e wurden als soziale Außenseiter dargestellt, die nachts in Fellen verschiedener Tiere (z. B. Kuhhäute), Laken oder Säcken verkleidet umgingen41. Implizite Erwähnungen von ,Sexualverbrechen‘ lassen darauf schließen, daß der W. in manchen Gegenden als eine Art Metapher für diese angesehen wurde (Sodomie, Homosexualität)42, in anderen steht er eher für Wilderei43. In Erzählungen, die der Warnung vor W.en dienen sollten, wurden diese als Kinderschreckgestalten präsentiert44. Bei Modifikationen der W.figur spielten mitunter regionale Differenzierungen eine Rolle. W.sagen haben in europ. Regionen einen unterschiedlichen Verbreitungsgrad. In einigen Gegenden liegen keine Belege vor (Brit. Inseln, Irland, Iber. Halbinsel, Bayern, Schweiz, österr. Alpen, Griechenland), in anderen scheinen sie nur im Sprichwort (Friesland, Portugal: 7. Sohn ⫽ W.)45 oder in Einzelbelegen auf (Rumänien46, Flandern: Ehemann ⫽ W.47). Osteurop. W.vorstellungen zeigen entweder dt. Einflüsse48 oder gehen in lokalen J Vampirvorstellungen auf49. Im nördl. Skandinavien gibt es Überschneidungen mit den Vorstellungen über Seelenreisen, wie sie bei den Samen bekannt sind; in Südschweden sind W.erzählungen weit verbreitet50. Frz. Forschungen über W.e in der Volksüberlieferung sind zu bruchstückhaft für eine kohärente Darstellung51; eine Ausnahme bildet das Dauphine´52. Auch der ital. lupo mannaro ist bislang noch nicht erschöpfend behandelt53. Zu seiner Verwandlung, d. h. zum Wechsel der sozialen Identität, benötigt der W. einen J Gürtel oder ein Fell (J Tierhaut)54. In einem
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zusammenhängenden Gebiet, das von den Niederlanden über Belgien (Limburg) bis Deutschland reicht, werden W.e als Aufhocker beschrieben (Mot. F 472)55. Zu seiner Rückverwandlung in einen Menschen muß der W. verletzt werden, so daß sein Blut fließt56. In einer norddt. Erzählung, die aus der Grenzregion des genannten Gebiets stammt, scheint es hinreichend, seinen Namen dreimal zu rufen57. Andere Gegenmaßnahmen, wie die Verwendung von Kugeln aus ererbtem Familiensilber58, müssen mit Sagen über Zauberei in Relation gesetzt werden. In Dänemark und Südschweden existiert die Vorstellung, daß Kinder, deren Mütter sich zauberischer Praktiken bedient haben (Kriechen durch die Nachgeburt einer Stute), zu W.en werden59. Im Ostseeraum werden W.e oft als weiblich dargestellt (cf. AaTh/ATU 409: J Wolfsmädchen60). Wandersagen über W.e sind weiter verbreitet als lokale W.vorstellungen, zeigen aber regionale Abwandlungen. Nach Darstellung in Skandinavien aufgezeichneter Erzählungen greift ein Mann in Wolfsgestalt seine Frau an, zerreißt ihre Kleidung und kann später durch Stoffäden zwischen den Zähnen von der Frau als der Angreifer identifiziert werden (Mot. H 64.1)61; in manchen Regionen ist der Liebhaber der W.62; diese Erzählung findet sich auch in den E´vangiles des quenouilles (spätes 15. Jh.)63. Überwiegend aus Deutschland belegt ist die Erzählung von einem hungrigen Landarbeiter, der, als seine Kameraden anscheinend schlafen, in Wolfsgestalt ein Fohlen verschlingt und danach denjenigen unter ihnen bedroht, der ihn beobachtet hatte64. Die sog. Ofensage, in der ein W. unter einem Vorwand weggeschickt wird, damit man seine Haut oder den Gegenstand, der ihm zur Verwandlung dient, verbrennen kann, ist lediglich in der Gegend zwischen Maas und Rhein nachgewiesen65. Die Verwandlung von Hochzeitsgästen in Wölfe ist ein beliebtes Thema finn. und estn. Erzählungen66. 5 . M är ch en , L it ., Fi lm. W.e begegen in Märchen nur selten. Lediglich in AaTh/ATU 449: J Sidi Numan finden sich Spuren des Bisclavret. In den westeurop. Fuchs-Var.n von AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter kommen Tierverwandlungen vor, in den russ. Wolf-Var.n dagegen nicht. Der Wolf
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Wolfsmenschen
in AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen bleibt, auch wenn er manchmal als W. bezeichnet wird, ein Wolf und ist insofern eher dem Wolf der Fabel vergleichbar. Bei AaTh/ATU 409 handelt es sich im Grunde genommen um eine Wandersage. Im 19. Jh. wurde der W. in Westeuropa zur literar. Gestalt67. Im Verlauf des 20. Jh.s wurde er zudem Thema von Unterhaltungsliteratur und Comics68 und gehört darüber hinaus zu den wichtigsten Figuren im Horrorfilm69. Dabei ist zwischen klassischen Filmen wie Wolf Man70 oder An American Werewolve in London71 mit einer schwachen weiblichen Hauptfigur und späteren Filmen wie Wolf 72 zu unterscheiden. Die ohne Bezug auf die antike und die ma. literar. W.überlieferung, Volksglaubensvorstellungen und Wandersagen konzipierten Filme entwickelten einen eigenen Komplex von Motiven, darunter das der Verwandlung in einen W. unter dem Einfluß des Vollmonds. Auch die Vorstellung vom anstekkenden Biß des W.s stammt aus dem Kino; Mond- wie Bißmotiv gehen in erster Linie auf Vampirfilme zurück. Seit den 1980er Jahren wurden neue Themenbereiche entwickelt, darunter weibliche W.e wie in Ginger Snaps 1⫺ 373 und W.rudel wie in Underworld 1⫺474, mit denen die Idee von W.en als eigener Rasse verknüpft wurde. Manche W.geschichten und -filme haben homosexuelle Beiklänge75. Die im Film entwickelten Charakteristika des W.s perpetuieren sich in Interdependenz mit amerik. Sagen76. 6 . D eu tu ng en. Die aus unterschiedlichen Bereichen vorliegenden Erklärungen der W.gestalt beruhen oft auf ausgewähltem, bruchstückhaftem Material und berücksichtigen die meist mündl. W.überlieferung kaum. Debatten aus christl. Sicht, die im MA. und in der Renaissance geführt wurden, stellen die Beziehung zwischen Leib und Seele und den Einfluß des Teufels auf die menschlichen Sinne in den Mittelpunkt77. Eine Reihe von Autoren des 20. Jh.s versuchte, W.e als verwilderte Kinder78, Tollwutkranke79, an Porphyrie und/oder stark vermehrter Behaarung (Hypertrichose)80, unter psychischen Belastungen81 oder Mutterkornvergiftung Leidende oder als Konsumenten halluzinogener Drogen82 zu identifizieren. Diese z. T. auf Darstellungen des W.s im Film
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basierenden Interpretationen sind grundsätzlich reduktionistisch und anachronistisch. Populäre Darstellungen zum W. führen die in W.filmen des 20. Jh.s hergestellte Verbindung zwischen W. und Mond ohne überzeugende Nachweise auf prähist. Rituale zurück83. Aus anthropol. Sicht wurde der Vollmond als Zeichen des menstruierenden Mannes gedeutet84. Andere Autoren unternahmen den ebenfalls nicht sehr überzeugenden Versuch, W.vorstellungen in Zusammenhang mit dem Schamanismus zu bringen85. Das Motiv der Seele in Wolfsgestalt (Mot. E 731.9) findet sich hauptsächlich in isl. Sagas86, seine Relevanz für W.e in anderen Ländern und späteren Zeiten ist fraglich87. Überlieferungsbezogene Aspekte bezüglich Fehlverhalten und Sexualität werden hier oft übersehen. Differenzierte Darstellungen von W.en stehen aus. 1 Die häufig wiederaufgelegten Arbeiten sind stark überholt, z. B. Hertz, W.: Der W. Beitr.e zur Sagengeschichte. Stg. 1862; Baring-Gould, S.: The Book of Were-Wolves. L. 1865; Summers, M.: The Werewolf. L. 1933. ⫺ 2 cf. Baughman, 96 (vorwiegend frz. Beispiele). ⫺ 3 Poulakou-Rebelakou, E. u. a.: Lycanthropy in Byzantine Times (AD 330⫺1453). In: History of Psychiatry 20 (2008) 468⫺479. ⫺ 4 Garlipp, P./Haltenhof, H.: Seltene Wahnstörungen. Heidelberg 2010, 22⫺26. ⫺ 5 cf. Otten, C. F.: A Lycanthropy Reader. Werewolves in Western Culture. Syracuse 1986, 5⫺8. ⫺ 6 Jacoby, M.: Wargus, vargr, ,Verbrecher‘, ,Wolf ‘. Eine sprach- und rechtsgeschichtliche Unters. Uppsala 1974, 77⫺93; See, K. von: Europa und der Norden im MA. Heidelberg 1999, 117⫺122. ⫺ 7 Schild, W.: Missetäter und Wolf. In: Köbler, G./Nehlsen, H. (edd.): Wirkungen europ. Rechtskultur. Mü. 1997, 999⫺1031. ⫺ 8 Carey, J.: Werewolves in Medieval Ireland. In: Cambrian Medieval Celtic Studies 44 (2002) 37⫺72, bes. 70. ⫺ 9 Eliade, M.: Les Daces et les loups. In: Numen 6 (1959) 15⫺31. ⫺ 10 Buxton, R.: Wolves and Werewolves in Greek Thought. In: Bremmer, J. (ed.): Interpretations of Greek Mythology. Beckenham 1987, 60⫺79. ⫺ 11 Tuczay, C.: Ekstase im Kontext. Ma. und neuere Diskurse einer Entgrenzungserfahrung. Ffm. 2009, 64⫺74, 136⫺149; ead.: Die wilde Lust am Wolfsleben. In: Ble´court, W. de/ead.: Tierverwandlungen. Tübingen 2011, 35⫺59. ⫺ 12 Vähi, T.: W.e ⫺ Viehdiebe und Räuber im Wolfspelz. ibid. 135⫺156. ⫺ 13 Harf-Lancner, L.: La Me´tamorphose illusoire. Des the´ories chre´tiennes de la me´tamorphose aux ´ coimages me´die´vales du loup-garou. In: Annales. E nomies, socie´te´s, civilisations 40 (1985) 208⫺226; Bynum, C. W.: Metamorphosis and Identity. N. Y. 2001. ⫺ 14 Roberts, K.: Eine W.-Formel. Eine kleine
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Wolfsmenschen
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Lorey, E.: Vom Wolfssegner zum W. Hexereiprozesse im Nassauer Land. In: Voltmer, R./Gehl, G. (edd.): Alltagsleben und Magie in Hexenprozessen. Weimar 2003, 65⫺79. ⫺ 32 de Ble´court (wie not. 29) bes. 205⫺207. ⫺ 33 Kramer, K.-S.: Hohnsprake, Wrakworte, Nachschnack und Ungebühr. Ehrenhändel in holstein. Qu.n. In: Kieler Bll. zur Vk. 16 (1984) 49⫺85; Höck, A.: Bemerkungen zum „W.“ nach hess. Archivalien. In: Hess. Bll. für Volks- und Kulturforschung 18 (1985) 71⫺75, bes. 73; Ble´court, W. de: Termen van toverij. Nijmegen 1990, 113. ⫺ 34 Moeller, K.: Dass Willkür über Recht ginge. Bielefeld 2007, 191⫺193. ⫺ 35 Metsvahi, M.: W.prozesse in Estland und Livland im 17. Jh. Zusammenstöße zwischen der Realität von Richtern und von Bauern. In: Beyer, J./Hiiemäe, R.: Folklore als Tatsachenbericht. Tartu 2001, 175⫺184; Vähi, T.: Hexenprozesse und der W.glaube in Estland. In: Dietrich, M. L. G./ Kulmar, T. (edd.): Die Bedeutung der Religion für Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart. Münster 2003, 215⫺238. ⫺ 36 Bruiningk, H. von: Der W. in Livland und das letzte im Wendenschen Landgericht und Dörptschen Hofgericht i. J. 1692 deshalb stattgehabte Strafverfahren. In: Mittlgen aus der livländ. Geschichte 22 (1922⫺28) 163⫺220; Ble´court, W. de: A Journey to Hell. Reconsidering the Livonian „Werewolf“. In: Magic, Ritual, and Witchcraft 2 (2007) 49⫺67. ⫺ 37 Oates, C.: De´monologues et lycanthropes. Les the´ories de la me´tamorphose au XVIe sie`cle. In: Harf-Lancner, L. (ed.): Me´` ge. tamorphose et bestiaire fantastique au Moyen A P. 1985, 71⫺105; Clark, S.: Vanities of the Eye. Ox. 2007, 62⫺64. ⫺ 38 Daxelmüller, C.: Bibliogr. barokker Diss.en zu Aberglaube und Brauch. In: Jb. für Vk. N. F. 1 (1980) 194⫺238, bes. 214. ⫺ 39 Donecker, S.: The Werewolves of Livonia. In: Preternature 1/2 (2012) 289⫺322. ⫺ 40 z. B. Peuckert, W.-E.: Niedersächs. Sagen 2. Göttingen 1966, 481⫺508, 558⫺560; Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 31980, 371⫺381. ⫺ 41 Roeck, F.: De Nederlandse weerwolfsage in de negentiende en twintigste eeuw. Diss. (masch.) Löwen 1967 (ganz Europa); Strube, T.: „… dat was en Menn, de sich en Keofell ummehänge“. Betrachtungen zum W.smotiv in der ndd. Erzähltradition. In: Quickborn 90,4 (2000) 16⫺26. ⫺ 42 Ble´court, W. de: „I Would Have Eaten You too“. Werewolf Legends in the Flemish, Dutch and German Area. In: FL 118 (2007) 23⫺43; id.: Sprachliche und körperliche Aspekte von Tierverwandlung in den Niederlanden. In: id./Tuczay (wie not. 11) 69⫺84, hier 79⫺82. ⫺ 43 cf. id. 2007 (wie not. 42) 33, 39. ⫺ 44 cf. BrunoldBigler, U.: Wolfsmensch und Bärenhexe. Chur 2010, 152⫺169. ⫺ 45 Ribero, J. D.: Turquel folklo´rico. In: Revista lusitana 20 (1917) 54⫺80, bes. 60 sq. ⫺ 46 Senn, H.: Were-Wolf and Vampire in Romania. Boulder 1982. ⫺ 47 Berg, M. van den: De volkssage in de provincie Antwerpen in de 19de en 20ste eeuw. Gent 1993, 1854⫺1867. ⫺ 48 Sommer, I.: „Krechintza zwischen den Zähnen“. Aspekte der siebenbürg.-sächs. Prikulitschsage. In: Neue Lit. 39,3
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Wolfsturm
(1988) 51⫺55; cf. Bosˇkovic´-Stulli, M.: Narodne pripovijetke i predaje Sinjske Krajine. In: Narodna umjetnost 5/6 (1968) 399⫺401. ⫺ 49 Burkhart, D.: Vampirglaube in Südosteuropa. In: ead.: Kulturraum Balkan. B./Hbg 1989, 65⫺ 109 (zum im südslav. Bereich typischen Mischwesen aus Vampir und W.); Kreuter, P. M.: Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. B. 2001, 62 sq.; Po´cs, E´.: Nature and Culture ⫺ „the Raw and the Cooked“. In: de Ble´court/Tuczay (wie not. 11) 99⫺134, hier bes. 101 sq. ⫺ 50 Odstedt, E.: Varulven i svensk folktradition. Uppsala/Kop. 1943. ⫺ 51 z. B. Loorits, O.: Grundzüge des estn. Volksglaubens 1. Uppsala 1949, 311⫺320. ⫺ 52 Andries, L.: Contes du loup. In: Nynauld, J. de: De la Lycanthropie, transformation et extase des sorciers. (P. 1615) ed. N. Jacques-Chaquin/M. Pre´aud. P. 1990, 197⫺ 217; cf. Staudt, G./Peuckert, W.-E.: Nordfrz. Sagen. B. 1968, 32⫺35; Karlinger, F./Übleis, I.: Südfrz. Sagen. B. 1974, 104⫺109. ⫺ 53 Joisten, C./Chanaud, R./Joisten, A.: Les Loups-garous en Savoie et Dauphine´. In: Le Monde alpin et rhodanien 20 (1992) 17⫺182; Joisten, A./Abry, C.: Eˆtres fantastiques des Alpes. Extraits de la collecte Charles Joisten (1936⫺ ˆ tres fantasti1981). P. 1995, 171⫺182; Joisten, C.: E ques du Dauphine´. ed. N. Abry/A. Joisten. Grenoble 2006, 93, 351, 362, 436, 443; Moyroud, R.: Loups et loups-garous autour des verreries en Bas-Dauphine´ sous l’Ancien Re´gime. In: Le Monde alpin et rhodanien 30 (2002) 125⫺134. ⫺ 54 Ranisio, G.: Il lupo mannaro. L’uomo, il lupo, il racconto. Rom 1984. ⫺ 55 Grober-Glück, G.: Aufhocker und Aufhocken nach den Slgen des Atlas der dt. Vk. Ein Beitr. zur dt. Sagenkunde. In: Rhein. Jb. für Vk. 15/16 (1964/ 65) 117⫺143; de Ble´court 2007 (wie not. 42) 26⫺ 28. ⫺ 56 ibid., 31. ⫺ 57 Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, num. 319; cf. Roeck (wie not. 41) 466 sq. ⫺ 58 HDA 8 (1936⫺37) 4 (vorwiegend norddt. Beispiele); cf. Roeck (wie not. 41) 445, 465. ⫺ 59 Simonsen, M.: La Variabilite´ dans les le´gendes. Les re´cits danois sur les loups-garous. In: Görög-Karady, V. (ed.): D’un conte … a` l’autre. P. 1990, 181⫺189; ead.: Danish Werewolves between Beliefs and Narratives. In: Fabula 51 (2010) 225⫺234; Kvideland, R./ Sehmsdorf, H. K.: Scandinavian Folk Belief and Legend. Oslo 1991, 74⫺79. ⫺ 60 Neuland *D 113.1.1.1; Metsvahi, M.: Die Frau als Werwölfin (AT 409) in der estn. Volkstradition. In: de Ble´court/Tuczay (wie not. 11) 193⫺219. ⫺ 61 Christiansen, Migratory Legends, num. 4005. ⫺ 62 de Ble´court 2007 (wie not. 42) 29. ⫺ 63 Lecouteux, C.: Elle courait le Garou. Lycanthropes, hommesours, hommes-tigres. P. 2008, 189⫺190. ⫺ 64 Grimm DS 214; de Ble´court 2007 (wie not. 42) 23 sq., 29 sq. ⫺ 65 z. B. Bodens, W.: Sage, Märchen und Schwank am Niederrhein. Bonn 1937, num. 746 (Halsband); Top, S.: Op verhaal komen. Limburgs sagenboek. Löwen 2004, 53⫺64. ⫺ 66 Loorits, 63⫺
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66; Loorits (wie not. 51) 312 sq.; Jauhiainen D 1001. ⫺ 67 Frost, B. J.: The Essential Guide to Werewolf Literature. Madison 2003; Bourgault du Coudray, C.: The Curse of the Werewolf. Fantasy, Horror and the Beast Within. L./N. Y. 2006; Stiegler, C.: Vergessene Bestie. Der W. in der dt. Lit. Wien 2007. ⫺ 68 Gerhardt, T.: Der W. im Groschenroman. In: Kieler Bll. zur Vk. 9 (1977) 41⫺54. ⫺ 69 Jones, S.: The Illustrated Werewolf Movie Guide. L. 1996. ⫺ 70 USA 1941 (Regie George Waggner). ⫺ 71 USA 1981 (Regie John Landis). ⫺ 72 USA 1994 (Regie Mike Nichols). ⫺ 73 Kanada 2000/04/04 (Regie John Fawcett/Brett Sullivan/Grant Harvey); cf. Miller, A.: „The Hair that Wasn’t there before“. Demystifying Monstrosity and Menstruation in „Ginger Snaps“ and „Ginger Snaps Unleashed“. In: WF 64 (2005) 281⫺303. ⫺ 74 USA/Großbritannien/Ungarn/Deutschland 2003/06/09 (Regie Len Wiseman). ⫺ 75 cf. Berhardt-House, P. A.: The Werewolf as Queer, the Queer as Werewolf, and Queer Werewolves. In: Giffney, N./Hird, M. J. (edd.): Queering the Non/Human. Aldershot 2008, 159⫺183. ⫺ 76 Godfrey, L. S.: Hunting the American Werewolf. Madison 2006; Burgard, M.: Das Monster von Morbach. Eine moderne Sage des Internetzeitalters. Münster u. a. 2008; Brown, N. R.: The Complete Idiot’s Guide to Werewolves. N. Y. 2009, 171⫺ 180. ⫺ 77 Schild (wie not. 7). ⫺ 78 Eisler, R.: Man into Wolf. L. 1951, 33, 81; Copper, B.: The Werewolf in Legend, Fact and Art. N. Y. 1977, 87. ⫺ 79 Woodward, I.: The Werewolf Delusion. N. Y. 1979, 164, 166; Sidky, H.: Witchcraft, Lycanthropy, Drugs, and Disease. An Anthropological Study of the European Witch-Hunts. N. Y. 1997. ⫺ 80 cf. bes. Illis, L.: On Porphyria and the Aetiology of Werewolves. In: Proc. of the Royal Soc. of Medicine 57 (1964) 23⫺ 26. ⫺ 81 Noll, R.: Vampires, Werewolves and Demons. Twentieth Century Reports in the Psychiatric Literature. N. Y. 1992. ⫺ 82 Harner, M. J.: The Role of Hallucinogenic Plants in European Witchcraft. In: Hallucinogens and Shamanism. Ox. 1973, 125⫺150; Otten (wie not. 5) 26⫺28. ⫺ 83 z. B. Douglas, A.: The Beast within. A History of the Werewolf. L. 1992. ⫺ 84 Verrips, J.: Enige notities over de maan, de (weer)wolf en het weer. In: Etnofoor 2,1 (1989) 34⫺56; cf. Evans, W.: Monster Movies. A Sexual Theory. In: J. of Popular Film 2 (1973) 353⫺365. ⫺ 85 bes. Ginzburg, C.: Storia notturna. Una decifrazione del sabba. Turin 1989; Richter, S.: W.e und Zaubertänze. Vorchristl. Glaubensvorstellungen in Hexenprozessen der frühen Neuzeit. Ffm. 2004. ⫺ 86 Boberg. ⫺ 87 cf. Lecouteux, C.: Fe´es, sorcie`res et loupsˆ ge. P. 32001. garous au Moyen A
Sicklehatch
Willem de Ble´court
Wolfsturm (AaTh/ATU 121), Märchen vom dummen Wolf, in dem sich ein Mensch durch List retten kann. B. J Kerbelyte˙ ordnete den
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Wolfsturm
Erzähltyp ihrem Strukturtyp 1. 1.1.18 (Der Held simuliert eine Bedrohung gegenüber dem Widersacher) zu, dessen 4. Untertyp (Der Held erinnert den Gegner an den Schaden, den er ihm zugefügt hatte) er repräsentiert1. Ein Mensch (Bauer, Holzfäller, Schneider, Kind) wird von einem Wolf (anderes großes Raubtier) verfolgt. Er entkommt in seine Hütte und übergießt den vor der Tür sitzenden Wolf vom Dach aus mit heißem Wasser (verletzt ihn auf andere Weise). Bei nächster Gelegenheit wird der Mensch von mehreren Wölfen verfolgt. Er klettert in den Wipfel eines Baums. Um den Widersacher zu erreichen, steigen die Tiere aufeinander, wobei der geschädigte Wolf zuunterst steht. Der Mensch erschreckt dieses Tier, indem er ihm suggeriert, daß er es noch einmal auf die gleiche Weise verletzen werde (z. B. mit dem Ruf: ,Schütt aus, Käthe!‘ in Var.n, in denen das Tier verbrüht wurde2). Das unterste Tier läuft davon, so daß es den W. zum Einsturz bringt und der Mensch sich retten kann.
AaTh/ATU 121 ist ausschließlich in mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s vertreten und wurde in Teilen Europas und Asiens sowie in Nordafrika und im Sudan aufgezeichnet. Eine bes. hohe Belegdichte weisen die balt., die ung. und die ukr. Überlieferung auf 3. Abgesehen von Wölfen4 werden die Tiere durch Löwen5, Tiger6 oder Bären7 repräsentiert. In seltenen Fällen ist der Protagonist ein Mensch mit übernatürlichen Fähigkeiten (Hexe), der sich in ein Tier verwandeln kann8. Die zahlreichen Kombinationen der W.-Erzählungen mit anderen Erzähltypen hat A. M. J Espinosa senior untersucht9. Der Erzähltyp begegnet zwar auch als selbständige Erzählung10, meist jedoch ist er in größere Erzählzusammenhänge eingebettet, wobei die mit AaTh/ATU 121 kombinierten Erzähltypen oftmals die Eingangsepisode bilden (z. B. AaTh/ ATU 1: J Fischdiebstahl 11, AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer12, AaTh/ATU 41: J Wolf im Keller13, AaTh/ATU 122 A: cf. J Wolf verliert seine Beute14, AaTh/ATU 157: Tiere lernen J Furcht vor Menschen15, AaTh/ATU 1157: cf. J Waffen16). AaTh/ATU 121 steht meist am Ende der betr. Erzählung, kann aber auch an anderer Stelle erscheinen17. Es liegen auch Verknüpfungen mit Lügengeschichten vor, so mit AaTh/ATU 1875: J Junge am Bären(Wolfs)schwanz18. In außereurop. Erzähltraditionen (jap., korean.) begegnet AaTh/ATU 121 zudem in nichtmärchenhaften Kontexten, in denen als
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real ausgegebene Ereignisse erzählt werden19. Der Widersacher ist hier ein mythol. Wesen, das den Menschen frißt und temporär in dessen Gestalt auftreten kann (cf. J Wolfsmenschen). Texte mit vergleichbarem Glaubwürdigkeitsanspruch finden sich auch in der europ. Überlieferung20. Das Motiv des Turms bzw. der Kette aus Menschen- oder Tierleibern begegnet auch in anderen Erzähltypen (AaTh/ATU 130: J Tiere auf Wanderschaft, AaTh/ATU 1250: J Brunnenkette, AaTh/ATU 2044: Pulling Up the Turnip). Gegen die Kategorisierung als Kettenmärchen, wie sie V. Ja. J Propp vorgeschlagen hat21, spricht die fehlende kumulative Komposition von AaTh/ATU 121. 1
Kerbelyte˙, LPTK, 121; ead.: Tipy narodnych skazok. Strukturno-semanticˇeskaja klassifikacija litovskich narodnych skazok (Die Typen der Volksmärchen. Strukturell-semantische Klassifikation litau. Volksmärchen) 2. M. 2001, 478⫺482, bes. 481. ⫺ 2 BP 2, 530 (not. 3). ⫺ 3 cf. auch Polı´vka, J.: Vlcˇ´ı pasty´rˇ (Der Wolfshirte). In: Sbornı´k pracı´ […]. Festschr. V. Tille. Prag 1927, 159⫺179. ⫺ 4 Dh. 3, 43; Böhm, M.: Lett. Schwänke und verwandte Volksüberlieferungen. Reval 1911, num. 53; Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B. 1979, 12 sq., 416; Jannsen, H.: Märchen und Sagen des estn. Volkes 2. Riga/ Lpz. 1888, num. 23; Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, 46⫺48, 218; Loorits, O.: Estn. Volkserzählungen. B. 1959, num. 11; Cadic, F.: Contes de Basse-Bretagne. P. 1955, num. 17; Massignon, G.: Folktales of France. Chic. 1968, num. 61; Espinosa 2, num. 255; Goyert, G.: Vläm. Märchen. Jena 1925, 23⫺26; Lox, H.: Fläm. Märchen. MdW 1999, 19⫺ 22, 301 sq.; Peuckert, W.-E.: Hochwies. Göttingen ´ .: Kalotaszegi ne´pmese´k 1959, num. 241; Kova´cs, A 2. ed. G. Ortutay. Bud. 1943, num. 86; Afanas’ev, num. 56; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1981, num. 10; Kralina, N. P.: Sto skazok udmurtskogo naroda. Izˇevsk 1961, num. 24; Dorson, R. M.: Folk Legends of Japan. Tokio 1962, 138 sq. ⫺ 5 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 1. Helsingfors 1917, num. 30, 34; Kronenberg, A. und W.: Nub. Märchen. Ffm. s. a., num. 57; El-Shamy, H.: Folktales of Egypt. Chic./L. 1980, 190⫺192. ⫺ 6 Dh. 3, 494; Mode, H./Ray, A.: Bengal. Märchen. Ffm. s. a., 194⫺201; Borooah, J.: Folk Tales of Assam. Gauhati 21955, 61⫺66; Tauscher, R.: Märchen aus dem Jeyporeland. B. 1959, num. 45. ⫺ 7 Joos, A.: Vertelsels van het Vlaamsche volk. Brügge 1889, num. 83; Meyere, V. de: De Vlaamsche vertelelselschat 4. Antw. 1933, num. 387. ⫺ 8 Ikeda. ⫺ 9 Espinosa 1, num. 255. ⫺ 10 Beck, B. E. F. u. a.: Folktales of India. Chic./L. 1987, num. 54 (Fuchs von Eichhörnchen übertölpelt); Böhm (wie not. 4); Joos (wie not. 7); Kova´cs (wie not. 4). ⫺
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Wort: Das vergessene W.
Cadic (wie not. 4) (⫹ AaTh/ATU 2 ⫹ 30 ⫹ 41 ⫹ 1157). ⫺ 12 ibid. ⫺ 13 ibid. ⫺ 14 Afanas’ev 1, num. 56; Jannsen (wie not. 4). ⫺ 15 Cadic, Loorits und Viidalepp (wie not. 4). ⫺ 16 Cadic (wie not. 4). ⫺ 17 Goyert und Massignon (wie not. 4); de Meyere (wie not. 7) 103⫺105. ⫺ 18 wie not. 17. ⫺ 19 Dorson (wie not. 4); Ikeda 121 IV. ⫺ 20 Kostjuchin, E. A.: Tipy i formy zˇivotnogo e˙posa (Typen und Formen des Tierepos). M. 1987, 80; cf. z. B. Massignon (wie not. 4) num. 61. ⫺ 21 Propp, V. Ja.: Kumuljativnaja skazka (Das Kettenmärchen). In: id.: Poe˙tika fol’klora. M. 1998, 251⫺269, hier 267. 11
Kiew
Oleksandra Britsyna
Wort: Das vergessene W. (AaTh/ATU 1687), Dummenschwank aus dem weiteren Umfeld der J Sprachmißverständnisse. Handlungsträger sind meist Menschen, mitunter auch Tiere: Ein närrischer Bursche (dummer Schwiegersohn, alte Frau) wird ausgeschickt, etwas zu besorgen. Er kann sich den Namen des Gegenstands jedoch nicht merken und geht zurück, um noch einmal danach zu fragen. Damit ihm das W. nicht erneut entfällt, wiederholt er es immerzu (macht es zum Bestandteil eines kleinen Lieds, das er wieder und wieder singt). Alternativ versucht der Dumme, sich eine Grußformel (Geburtstagswünsche, Kondolenzformel etc.) einzuprägen. Unterwegs stolpert er, fällt hin und vergißt das W. Er sucht das W. auf dem Boden. Vorübergehende helfen ihm in der Annahme, daß er einen wertvollen Gegenstand verloren habe. Einer von ihnen erwähnt dabei das v. W. zufällig. Der Bursche ist glücklich, daß er es wiedergefunden hat.
Der früheste Nachweis für eine als AaTh/ ATU 1687 klassifizierbare Erzählung findet sich in der Witzsammlung Xiaolin des Handan Chun aus der Zeit der Wei-Dynastie (220⫺265 p. Chr. n.)1. Hier wird von einem Dummkopf erzählt, der für das Begräbnis seines Schwiegervaters ein Klagelied lernt. Unterwegs singt er es ohne Unterlaß, bis er beim Überqueren eines Flusses einen seiner Strümpfe verliert. Als er dann den Ruf eines Kuckucks hört, beginnt er diesen statt des Klagelieds zu wiederholen; auf dem Begräbnis erscheint er mit nur einem Strumpf und ruft ,Kuckuck‘. In Deutschland findet sich AaTh/ATU 1687 seit Mitte des 17. Jh.s in mehreren Schwanksammlungen, so im Exilium melancholiae 2, in J. A. J Conlins Narrenwelt3 sowie im Polyhistor 4. In Der Geist von Jan Tambaur wollen die Krebsdorfer wissen, wie sie ihre neu errichte-
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ten Tore nennen sollen, und beauftragen einen der ihren, dies herauszufinden5. Unterwegs vergißt dieser das W. Tor und beginnt zusammen mit Helfern danach zu graben. Als einer von ihnen einen anderen versehentlich mit seiner Schaufel schlägt, nennt dieser ihn einen Tor, wodurch der Krebsdorfer das v. W. wiederfindet und heimkehrt6. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde der Schwank in weiten Teilen Europas und Asiens, in Nord- und Südamerika sowie in Afrika (Äthiopien, Sambia7, Südafrika) aufgezeichnet. In manchen Var.n ersetzt der Protagonist das v. W. durch ein ähnlich klingendes mit völlig anderer Bedeutung bzw. ohne Sinn, oder er vertauscht die vergessene Formulierung beim Wiederholen mit einer anderen (z. B. ,skrummel-i-krus‘ [etwa Monster im Becher] statt ,albenak‘ [Kalender]8; ,Nicolau‘ statt ,bacalhau‘ [Kabeljau]9; ,Kohbeen un Kohmund‘ [keine Beine und kein Mund] statt ,Kanehl un Kamumm‘ [Zimt und Kardamom]10; ,Pund Wupdi‘ statt ,Pund Sirup‘11). Eine solche Verwandlung von Bedeutung in Klang und damit des Rationalen ins Irrationale hat ihren Grund nicht notwendig im Mißverstehen von Wörtern und Wendungen, sondern darin, daß dem Klang Vorzug vor der Bedeutung gegeben wird, wie dies in Kinderliedern (z. B. Wiegenliedern) der Fall ist12. Manchmal vergißt der Held seinen eigenen Namen13 (Namen eines Familienmitglieds14; cf. AaTh/ATU 1225: J Mann ohne Kopf, AaTh/ATU 1284: cf. Irrige J Identität)15. Einige Var.n haben eine Einl.sepisode, in der ein Besucher aus einem Nachbardorf (Nachbarland) den Namen eines köstlichen Gerichts, das er zum ersten Mal gegessen hat (fremdsprachiges W.), wiederholt16. Die chin. Überlieferung17 weist motivische Parallelen zur ind.18, jap.19 und türk. auf20; hier werden formelhafte Wendungen durch unsinnige ersetzt oder Bezeichnungen von Nahrungsmitteln vergessen. In Var.n, die bei nordamerik. Indianern aufgezeichnet wurden, nimmt der Erzähltyp die Form einer ätiologischen Tiererzählung an: Ein Kojote möchte den Gesang der Zikaden lernen, was ihm nach ständiger Wiederholung schließlich gelingt. Als er jedoch in ein Maulwurfsloch fällt, vergißt er den Gesang und muß zu den Zikaden zurückkehren. Das Lied geht bei nachfolgenden Unfäl-
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Wort: Das vergessene W.
len immer wieder verloren; endlich verlieren die Zikaden die Geduld und verstecken sich. Der verärgerte Kojote versucht, sie anzugreifen, verletzt aber nur sich selbst, weshalb er schadhafte Zähne hat (weshalb sich die Zikaden in Wempo aufhalten, während die Kojoten in Kosenakwi hausen)21.
In einer Var. der Chitimacha stolpert das Kaninchen und vergißt eine wichtige Botschaft, die Gott ihm anvertraut hatte, und bringt so den Menschen den Tod (cf. ATU 934 H [2]: The Origin of Death)22. Bei den Crow vergißt eine Frau viermal hintereinander die erlernte unheilvolle Botschaft ⫺ eine für ihren Bruder bestimmte Warnung vor seinem bevorstehenden Tod23. In einer afrik. Fassung interagieren Menschen mit Tieren: Eine alte Frau bringt dem Löwen den Namen einer Frucht bei. Der Löwe aber stolpert und vergißt ihn; dasselbe geschieht dem Elefanten. Dem Hasen gelingt es, sich den Namen zu merken, indem er sich eine Glocke um den Hals hängt: Als er hinfällt, erinnert ihn ihr Läuten an das richtige W.24 AaTh/ATU 1687 wird mit AaTh/ATU 1696: J „Was hätte ich sagen (tun) sollen?“25 oder mit AaTh/ATU 1245: J Sonnenlicht im Sack26 verbunden; gelegentlich liegen Kombinationen mit AaTh/ATU 1384: cf. J Narrensuche27, AaTh/ATU 1248: J Kreuzweis statt längsseits28, AaTh/ATU 1250: J Brunnenkette29, AaTh/ATU 1336 A: cf. J Spiegelbild im Wasser30, AaTh/ATU 1653: cf. J Räuber unter dem Baum31, AaTh/ATU 1681: J Teeren und federn32, AaTh/ATU 1351: J Schweigewette33 oder AaTh 1685 A/ATU 1685: cf. Der dumme J Bräutigam34 vor. AaTh/ATU 1687 kann gesellschaftskritische Aspekte aufweisen, z. B. durch die Thematisierung von Fremdheit in exogamen Familienbeziehungen, wenn der Schwiegersohn als dumm dargestellt wird35, oder durch die Einbeziehung fremder Sprachen und Dialekte oder die Sprache der Gebildeten im Gegensatz zur Sprache der Unterschichten. Der Erzähltyp kann aber auch obszöne oder skatologische Inhalte transportieren36. Das Bild vom W., das auf den Boden fällt und damit gegenständlich wird, kann im Rahmen der elementaren Funktionen volkstümlicher Sprechweisen, Abstraktes in Handlung zu übersetzen, allegorisch verstanden werden37, etwa in einer griech. Redewendung über eine schlagfertige Person: ,Er [sie] läßt kein W. auf den Boden fallen.‘38
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1 Ting, N.-t.: A Comparative Study of Three Chinese and North-American Indian Folktale Types. In: Asian Folklore Studies 44,1 (1985) 39⫺50, hier 43⫺ 46. ⫺ 2 EM-Archiv: Exilium melancholiae (1683) 508. ⫺ 3 EM-Archiv: Conlin, Narrn-Welt 4 (1708) 360. ⫺ 4 EM-Archiv: Polyhistor (1729) 274, num. 87; Moser-Rath, Schwank, 287, 291, 299. ⫺ 5 EM-Archiv: Jan Tambaur (ca 1660) 104. ⫺ 6 cf. auch Merkens, H.: Was sich das Volk erzählt 1. Jena 1892, num. 41, 72; Henßen, G.: Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes. Bonn 1955, num. 461. ⫺ 7 Smith, E. W./Dale, A. M.: The Ila-Speaking Peoples of Northern Rhodesia 2. L. 1920, 394. ⫺ 8 Kristensen, E. T.: Molbo- og aggerbohistorier 2. ˚ rhus 1903, 215. ⫺ 9 Cardigos. ⫺ 10 Meyer, G. F.: A Dumm Hans. Plattdütsch Volksmärchen sammelt in Sleswig-Holsteen. Garding 1921, 46 sq.; cf. Wossidlo, R./Neumann, S.: Volksschwänke aus Mecklenburg. B. 1963, num. 512. ⫺ 11 Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen 2. Jena 1927, 205⫺208. ⫺ 12 Meraklis, M. G.: Entechnos laikos logos (Volkslit. als Kunst). Athen 1993, 243. ⫺ 13 Doerfer, G.: Sibir. Märchen 2. MdW 1983, 231⫺ 234; Wrigglesworth, H. J.: An Anthology of Ilianen Manobo Folktales. Cebu City 1981, 266⫺273. ⫺ 14 Courlander, H./Leslau, W.: The Fire on the Mountain and Other Ethiopian Stories. N. Y. 1950, 113⫺ 118. ⫺ 15 Meraklis, M. G.: Eutrapeles die¯ge¯seis (Schwänke). Athen 1980, 15 sq. ⫺ 16 Böhm, M.: Lett. Schwänke und verwandte Volksüberlieferungen. Reval 1911, num. 34; Paasonen, H./Karahka, E.: Mischärtartar. Volksdichtung. Hels. 1953, num. 7; Sˇejn, P. V.: Materialy dlja izucˇenija byta i jazyka russkago naselenija severo-zapadnago kraja 2. SPb. 1893, num. 146, 147. ⫺ 17Ting. ⫺ 18 Thompson/ Roberts. ⫺ 19 Ikeda. ⫺ 20 Eberhard/Boratav, num. 328. ⫺ 21 Cushing, F. H.: Zuni Folk Tales. N. Y. 1901, 255⫺ 261; JAFL 31 (1918) 222⫺225 (Pueblo-Indianer); Coffin, T. P.: Indian Tales of North America. Phil. 1961, 83⫺85. ⫺ 22 JAFL 30 (1917) 476. ⫺ 23 Anthropological Papers of the American Museum of Natural History 25 (1918) 124 sq. ⫺ 24 Smith/Dale (wie not. 7). ⫺ 25 Eberhard/Boratav, num. 328, 362; BFP; Haavio, M.: Kettenmärchenstudien 1 (FFC 88). Hels. 1929, 210; Todorovic´-Strähl, P./Lurati, O.: Märchen aus dem Tessin. MdW 1984, num. 59. ⫺ 26 Rogasener Familienblatt 2,8 (1898) 29 sq. ⫺ 27 EM 9, 1204. ⫺ 28 Specht, H.: Das Bentheimer Land 1. Nordhorn 1925, 25 sq. ⫺ 29 Rosenow, K.: Zanower Schwänke. Rügenwalde 1924, 36⫺38 (⫹ AaTh/ATU 1385 A, 1250). ⫺ 30 Sakya, K./Griffith, L.: Tales of Kathmandu. Brisbane 1980, 211⫺214 (⫹ AaTh/ATU 1336 A ⫹ 1653 F ⫹ 1681 ⫹ 1685 A). ⫺ 31 ibid. ⫺ 32 ibid. ⫺ 33 Parker, H.: Village Folktales of Ceylon 2. L. 1914, num. 87. ⫺ 34 Sakya/Griffith (wie not. 30). ⫺ 35 ibid. ⫺ 36 Baker, R. L.: Jokelore. Humorous Folktales from Indiana. Bloom./Indianapolis 1986, 96. ⫺ 37 Lüthi, M.: The European Folktale. Übers. D. D. Miles. Bloom./Indianapolis 1986,
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Worte des Herrn sind ernstzunehmen
38. ⫺ 38 Kontomiche¯s, P.: Paroimies apo te¯ Lefkada (Sprichwörter von der Insel Lefkada). Athen 2002, 131.
Athen
Marianthi Kaplanoglou
Worte des Herrn sind ernstzunehmen (AaTh/ ATU 93), äsopische Fabel, die zeigt, daß man sich auf Freunde und Verwandte nicht verlassen kann: Eine Vogelmutter (meist Lerche) nistet in einem Kornfeld und füttert ihre Jungen. Als die Erntezeit näherrückt, hören die Jungen den Bauern sagen, daß er zu ernten anfangen wolle. Solange sich der Bauer dabei auf die Hilfe seiner Freunde und Verwandten verläßt, sieht die Vogelmutter keine Gefahr und bleibt mit ihren Jungen im Nest. Als der Bauer aber selbst auf das Feld kommt (bezahlte Arbeiter kommen läßt), um (mit seinem Sohn) zu mähen, verlassen die Vögel sofort das Nest.
In dieser Form findet sich die Fabel zuerst bei Quintus Ennius (239⫺169 a. Chr. n.)1; die internat. Überlieferung stützt sich weitgehend auf J Babrios (num. 88)2 und J Avianus (num. 21)3. Bei Babrios ist die Struktur einfacher als bei Ennius und Avianus: Der Bauer stellt die Schnitter und Ährenleser schneller an, außerdem tritt statt der Vogelmutter der Vogelvater auf. AaTh/ATU 93 wurde zunächst weitgehend in lat. Fassungen4 tradiert und im 13. Jh. von J Berechja ha-Nakdan in seine hebr. Slg von Fuchsfabeln (num. 64) aufgenommen. In dt. Sprache begegnet die Fabel seit dem 16. Jh. z. B. in Johannes J Paulis Schimpf und Ernst (num. 867), bei Erasmus J Alberus (num. 18), Hans J Sachs5, Nathanael J Chytraeus (num. 36), in der anonym erschienenen Fabelsammlung Alte Newe Ztg (s. l. 1592)6 und im Froschmeuseler (2,2399⫺2430) von Georg J Rollenhagen. Im 17./18. Jh. finden sich entsprechende Texte in J La Fontaines Fables (4,22) sowie in Schwankbüchern7. Auch als Schullektüre ist AaTh/ATU 93 nachgewiesen8. Die Aussagetendenz der Fabel ändert sich im Verlauf der schriftl. Überlieferung. Wird in den frühen Fassungen darauf abgehoben, daß man sich auf sich selber verlassen soll, um etwas zu erreichen, steht später das enttäuschte Vertrauen in Freunde und Verwandte im Vordergrund. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde AaTh/ATU 93 vor allem in Europa auf-
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gezeichnet: im Baltikum, in Nordwest- und Westeuropa, Teilen von Mittel- sowie Südund Südosteuropa; ein Einzelbeleg stammt aus der kurd. Überlieferung9. Die mündl. tradierten Fassungen variieren gegenüber den schriftl. niedergelegten Var.n stärker. Als Protagonisten treten neben Lerchen Wachteln (frz.10, ung.11), Wachtelkönige (estn.12) und Spatzen (bulg.13) auf. Letztere haben ein Nest im Weinberg eines faulen Winzers und fliehen erst, als dieser beschließt, das Unkraut abzubrennen, anstatt es zu jäten. Anstelle von Vögeln finden sich auch Säugetiere: Füchse (ung.14, rumän.15, ukr.16), Mäuse (lett.17) und Hasen (kurd.18). Auch hier handelt es sich meist um ein Muttertier mit seinen Jungen. In der rumän. und der ukr. Var. wohnen die Füchse im Weinberg und fliehen erst, als der Besitzer die Reben tatsächlich rodet. In der ung. Var. sieht die Füchsin keine Gefahr, solange der Bauer auf sie schimpft, als er aber zu lachen beginnt, flieht die Füchsin mit ihren Jungen sofort, denn sie weiß, daß ein ung. Bauer lacht, wenn er zornig wird19. In der lett. Var. beschwert sich die Maus bei Gott darüber, daß der Bauer aus dem Stall Dung karren will und dadurch ihr Nest zerstören wird; es regnet drei Tage, und die Maus kann ihre Jungen fortbringen20. In der kurd. Var. wohnen eine Häsin und ihre Jungen im Weizenfeld von zwei faulen Brüdern; als die Brüder das Feld niederbrennen wollen, um nicht mähen zu müssen, flüchten die Hasen21. Hier wie in der bulg. Var. mit den Spatzen wird die Faulheit der Bauern thematisiert22. An die Stelle der Tiere können auch Pflanzen treten, wie in einem ung. Beleg23: Ein Meister schickt seine Lehrlinge zum Queckenjäten; eine alte Quecke beruhigt die erschrockenen jungen Quecken: Die Lehrlinge würden sie mit der Hacke zerschneiden, und sie würden sich davon nur vermehren. Als aber der Meister selbst kommt, weiß die alte Quecke, daß das Ende naht, weil dieser sie vollständig einzeln ausreißt. In den Var.n mit Säugetieren und Pflanzen tritt die eigentlich satirische Bedeutung der Fabel mit Vögeln (Verhalten eines Tiers weist auf menschliches Verhalten hin) in den Hintergrund. 1 Müller, C. W.: Ennius und Äsop. In: Museum Helveticum 33 (1976) 193⫺218, hier 193⫺201. ⫺ 2 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 325; Müller (wie
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Wörtlich nehmen
not. 1) 205⫺215. ⫺ 3 Rodrı´guez Adrados, F.: History of the Graeco-Latin Fable 3. Leiden/Boston 2003, num. not.-H 141, M 11. ⫺ 4 Dicke/Grubmüller, num. 569. ⫺ 5 Hans Sachs: Werke 17. ed. A. von Keller/E. Goetze. Tübingen 1888, 511⫺514. ⫺ 6 Sobel, E.: Alte Newe Ztg. Berk./L. A. 1958, num. 16. ⫺ 7 EM-Archiv: Plener, Acerra philologica (1687) 191 sq.; Casalicchio (1702) 2,2, 13 sq. ⫺ 8 Tomkowiak. ⫺ 9 Dzˇalil, O., Dzˇ. und Z.: Kurdskie skazki, legendy i predanija. M. 1989, num. 150. ⫺ 10 Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, num. 109.1. ⫺ 11 MNK 93*. ⫺ 12 Kippar, S*244 Med. ⫺ 13 BFP. ⫺ 14 Bano´, I.: Este, e´jfe´l, hajnal. Baranyai ne´pmese´k. Bud. 1988, 211. ⫺ 15 Schullerus 93*. ⫺ 16 SUS. ⫺ 17 Ara¯js/Medne. ⫺ 18 Dzˇalil (wie not. 9). ⫺ 19 Bano´ (wie not. 14). ⫺ 20 Ara¯js/Medne. ⫺ 21 Dzˇalil (wie not. 9). ⫺ 22 BFP. ⫺ 23 MNK 93* (2).
Kawasaki
Fumiko Mamiya
Wörtlich nehmen. Mehrdeutige Aussagen bieten die Option, sie im gemeinten Sinn oder aber wörtlich (w.) zu realisieren (cf. Polysemie, Homonymie; J Metapher, J Ironie, J Symbolik). Damit eröffnen sie zahlreiche Möglichkeiten für J Mißverständnisse bzw. J Sprachmißverständnisse, die ihrerseits erzählerisch verarbeitet werden. In Erzählungen dient das W.nehmen vor allem der Erzeugung von J Komik. Es ist entweder auf die J Dummheit oder Unerfahrenheit einer Figur, auf deren Verwirrung oder auf absichtliches Mißverstehen zurückzuführen. Entsprechend findet es sich bes. in den humoristischen Gattungen; es spielt in die Bereiche von J Wortspiel und J Wortwitz hinein1. W.nehmen durch dumme oder unerfahrene Figuren zieht in der Regel eine J Schädigung im weitesten Sinne nach sich: Die verklausulierten Hinweise, die dem dummen J Bräutigam (AaTh/ATU 1685) für die Hochzeitsnacht gegeben werden, führen dazu, daß er seiner Braut Schmerzen zufügt; in AaTh/ATU 1543*, 1543 A*: Der gekaufte J Penis wird die naive Frau sowohl sexuell als auch finanziell ausgenutzt. Meist entsteht dem Dummen ein konkreter materieller Schaden wie in AaTh/ATU 915: J Cum grano salis, AaTh/ATU 1006: J Augenwerfen, AaTh/ATU 1009: J Tür bewacht, AaTh/ATU 1218: J Eierbrüter, AaTh/ ATU 1386: J Kluge Else, AaTh/ATU 1408: J Hausarbeit getauscht oder AaTh/ATU 1681 B: cf. Mißverständnisse. Selten gereichen die teil-
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weise absurden Handlungen dem Dummen zum Vorteil, so daß dieser z. B. einen Schatz erlangt (AaTh/ATU 1009, AaTh/ATU 1653: cf. J Räuber unter dem Baum). Solche Erzählungen werden mitunter mit weiteren Schwänken kombiniert, so etwa mit AaTh/ATU 1013: Bathing (Warming) Grandmother2: Ein Mann beauftragt seinen dummen Bruder, die alte (kranke) Großmutter (Mutter) zu baden (wärmen) und ihr Essen zu geben. Dieser verbrüht sie (cf. AaTh/ATU 1681 B) oder setzt sie auf (in) den Ofen. Als er ihr danach Essen geben will, ißt sie nicht; als er ihre Haare kämmen will, fallen diese aus; als er ihre Zähne sieht, glaubt er, sie lächle (lache ihn aus), und wird zornig.
Belege für AaTh/ATU 1013 stammen aus der mündl. Überlieferung weiter Teile Europas, aus Asien (Türkei, Irak, Iran, Palästina, Indien, China), Mittelamerika (Westind. Inseln, Mexiko) und Nordostafrika (Ägypten, Sudan). Der Schwank bildet regelmäßig die Eingangsepisode zu einer Reihe von Abenteuern und Streichen eines närrischen Menschen und wird außer mit AaTh/ATU 1009 und AaTh/ATU 1653 mit weiteren Schwänken kombiniert, so mit AaTh/ATU 1030*: Choice of Cows, AaTh/ATU 1291 B: cf. J Ausschikken von Gegenständen oder Tieren, AaTh/ ATU 1386, AaTh/ATU 1387: The Woman Goes to Get Beer, AaTh/ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche, AaTh/ATU 1642: Der gute J Handel, AaTh/ATU 1643: J Geld im Kruzifix, AaTh/ATU 1681: J Teeren und federn, AaTh/ATU 1775: Der hungrige J Pfarrer sowie mit AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, AaTh/ATU 559: J Mistkäfer, AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke und AaTh/ATU 853: cf. J Redekampf mit der Prinzessin. Das bewußte Ausnutzen von Bedeutungsdiskrepanzen nimmt verschiedene Formen an. Zum einen kann mit dem Ziel der J Täuschung des Gegenübers eine mißverständliche, weil mehrdeutige Aussage gemacht werden, deren W.nehmen intendiert ist. Ein solches Vorgehen besteht etwa in der Nennung eines falschen J Namens, der auch eine allg.sprachliche Bedeutung hat (AaTh/ATU 1137: J Polyphem, AaTh/ATU 1545: J Junge mit vielen Namen), oder im Gebrauch zweideutiger Wendungen (AaTh/ATU 859: J Prahlerei des Freiers, AaTh/ATU 1335 A: J Herr über uns,
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Wörtlich nehmen
AaTh/ATU 1590: J Eid auf eigenem Grund und Boden, AaTh/ATU 1631: J Pferd geht nicht über Bäume). Zum anderen werden Mehrdeutigkeiten ausgenutzt, wenn die von der einen Figur ausgesprochene Handlungsaufforderung von der anderen absichtlich w. genommen wird (J Absurdität). Die inadäquate Auslegung kann einer Notsituation geschuldet sein (J Eideslist), häufiger jedoch geht sie auf den Wunsch zurück, eine höhergestellte Person zu schädigen, deren Autorität der gewitzte Protagonist bzw. Trickster durch scheinbaren J Gehorsam untergräbt (AaTh/ ATU 1586: cf. J Fliege auf des Richters Nase; J Stark und schwach, J Sozialkritik). Eine ähnliche Funktion hat das W.nehmen in zahlreichen J Eulenspiegelschwänken: Eulenspiegel erbittet vom Herzog von Lauenburg so viel Land, wie er an einem Tag umpflügen kann, und umpflügt die Stadtmark (cf. AaTh 2400/ ATU 927 C*: The Ground is Measured with a Horse’s Skin [Ox Hide])3; weil seine Mutter meint, er solle die Nase nicht so tief in den Becher stecken, läßt er sich einen kleineren anfertigen4; auf Befehl seines Meisters wirft er die Ärmel an den Rock5 (cf. auch AaTh/ATU 1695: J Schuhe für Tiere, AaTh/ATU 1437: J Süße Worte). Derartige Fälle von W.nehmen finden sich in Schwänken, die einen familiären Kontext thematisieren (AaTh/ATU 1409 B: cf. Der gehorsame J Ehemann), vor allem aber im Zusammenhang von Schwänken über J Herr und Knecht und deren Abmachungen (AaTh/ ATU 1000⫺1029; cf. AaTh/ATU 1560: Wie das J Essen, so die Arbeit). Wenn die entsprechenden Erzählungen, wie dies häufig der Fall ist, in AaTh/ATU 1000: cf. J Zornwette eingebettet sind, thematisieren sie in der Regel absichtliches W.nehmen. Betreffen sie die Verschwendung von Rohstoffen und Gütern, konnten die Geschichten als Warnerzählungen unter Bauern und Handwerkern umlaufen. AaTh/ATU 1000 bildet gewöhnlich den Rahmen für eine ganze Kette von Erzähltypen, wobei die Anordnung der Episoden eine deutliche Steigerung zeigt: Der Knecht vergreift sich in aggressiver Weise zuerst an Besitz und Vieh, dann an den Kindern, manchmal auch an der Frau seines Herrn6. Die im folgenden nach dem Grad ihrer J Aggressivität angeordneten Episoden können in Erzählungen in variabler Reihenfolge erscheinen.
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AaTh/ATU 1015: Forging a Hiss ist ein Schwank, der das Erlernen eines Berufs thematisiert: Ein Junge wird zum Schmied geschickt, bei dem er nur durch Beobachtung schmieden lernen soll. Nach seiner ,Lehre‘ will er für einen Bauern eine Pflugschar schmieden. Als ihm das Metall zu dünn gerät, beschließt er, eine Axt zu schmieden, dann ein Messer und dann eine Ahle. Am Ende sagt er dem Bauern, er werde ihm aus dem winzigen Stück Metall, das übriggeblieben ist, ein ,Zischen‘ schmieden. Er wirft das Eisen ins Wasser, wo es mit einem Zischen versinkt. Diesem Erzähltyp zugeordnet sind auch Erzählungen, in denen der Junge den Auftrag erhält, ein Messer zu schleifen, und die ganze Klinge wegwetzt.
Von AaTh/ATU 1015 liegen finn., estn., lett., ir. und ung. Belege aus mündl. Überlieferung vor; Ähnlichkeiten weisen US-amerik. Erzählungen auf 7. Der Schwank wird entweder selbständig oder in Verbindung mit AaTh/ ATU 1007⫺1008, 1010⫺1013 und 1016⫺1017 erzählt. In AaTh/ATU 1008: Lighting the Road zerstört ein Knecht aus Rache das Eigentum seines grausamen Herrn: Ein Knecht soll die Straße für die nächtliche Heimkehr des Herrn beleuchten (Feuer machen, das Haus rot anstreichen). Er setzt die Scheune (Stall, Schafpferch; Haus) in Brand.
AaTh/ATU 1008 ist mit relativ wenigen Belegen aus mündl. Überlieferung Nord-, Mittel-, Ost- und Südeuropas nachgewiesen. Darüber hinaus liegen Belege aus Asien (Georgien, Indien, Japan, Philippinen) vor. In einigen Var.n besteht der Befehl in einer unlösbaren J Aufgabe: Der Knecht soll Licht machen, ohne Brennmaterial zu benutzen8. Manchmal erscheint AaTh/ATU 1008 nicht im Rahmen von AaTh/ATU 1000, sondern innerhalb einer Schwankkette mit einem Tölpel, der das Unheil anrichtet9. AaTh/ATU 1008 wird gewöhnlich mit AaTh/ATU 1000 und den entsprechenden Schwanktypen verbunden, darüber hinaus liegen Kombinationen u. a. mit AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels, AaTh/ATU 1050⫺1052: J Baum biegen, fällen, tragen, AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil, AaTh/ATU 1116: J Verbrennen, AaTh/ATU 1120: cf. J Teufel tötet Frau und Kinder, AaTh/ATU 1122: The Ogre’s Wife Killed through Other Tricks, AaTh/ATU 1130: J Grabhügel, AaTh/ATU 1132: Flight of
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the Ogre with His Goods in the Bag und AaTh/ ATU 1685 vor. Die Zerstörung von Besitz thematisiert auch AaTh/ATU 1011: Tearing Up the Orchard (Vineyard): Der Knecht soll Rebstöcke beschneiden (Holz machen, ohne Werkzeuge einen Zaun herstellen). Er fällt die Bäume im Obstgarten seines Herrn (Nachbar; haut alle Rebstöcke im Weinberg ab; cf. AaTh/ ATU 1048: J Holzkauf ).
Das Verbreitungsgebiet von AaTh/ATU 1011 umfaßt bes. Südeuropa, ferner wurden Belege in Lettland, der Türkei, Israel, Indien, den USA sowie Mittel- und Südamerika aufgezeichnet. Der Schwank findet sich gewöhnlich im Kontext von AaTh/ATU 1000, darüber hinaus wird er mit AaTh/ATU 1036: J Teilung der Schweine, AaTh/ATU 1045: cf. Das große J Seil, AaTh/ATU 1062⫺1063, 1088: cf. J Wettstreit mit dem Unhold, AaTh/ATU 1115, AaTh/ATU 1120, mit der letzten Episode von AaTh/ATU 1535: J Unibos10 sowie mit AaTh/ ATU 1563: J „Beide?“ kombiniert. AaTh/ATU 1017: Covering the Whole Wagon with Tar wird meist als wahre Begebenheit erzählt und sowohl lokalisiert als auch bestimmten Personen zugeschrieben11: Ein Knecht soll das Fuhrwerk seines Herrn schmieren. Er schmiert es komplett (das Innere) mit Teer ein. Als der Teer aufgebraucht ist, verlangt er nach mehr.
Eine frühe Fassung findet sich bei Hans J Sachs12. In neueren dt.sprachigen Var.n aus mündl. Überlieferung ist die Geschichte gewöhnlich mit Eulenspiegel verbunden13. Aus mündl. Überlieferung ist der Schwank auch für Nord-, Mittel- und Osteuropa belegt14. Nur selten ist er mit den anderen Erzählungen aus dem Kontext von AaTh/ATU 1000 verbunden15; gewöhnlich wird er selbständig oder in Kombination mit AaTh/ATU 1685, AaTh/ ATU 1875: J Ochse als Bürgermeister und AaTh/ATU 1881: The Man Carried through the Air by Geese (J Münchhausiaden) erzählt. In dem Sammeltyp AaTh/ATU 1007: Other Means of Killing Or Maiming Livestock sind Erzählungen zusammengefaßt, in denen der gewitzte Knecht seinen Herrn schädigt, indem er sein Vieh verstümmelt oder tötet: Einem Knecht wird gesagt, er solle die Schafe (Rinder) zum Tanzen und Lachen bringen. Er bricht
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ihnen die Beine (schneidet ihre Hufe ab) und schneidet ihnen die Lippen ab, so daß man die Zähne sieht. Ein Knecht soll die Tiere aus dem Stall (in den Stall) führen (einen Zaun passieren lassen). Er öffnet die Tür nicht (benutzt eine zu kleine Tür), zerstückelt die Tiere und wirft ihre Einzelteile aus dem Stall. Ein Knecht soll die Kühe (Ochsen, Pferde) vom Fluß holen (tränken), ohne daß ihre Beine naß werden (mit den Ochsen pflügen, ohne daß ihre Beine schmutzig werden). Er schneidet ihnen die Beine ab (zieht ihnen die Haut ab). Ein Knecht soll darauf achten, daß das Vieh den Kopf nicht vom Futter hebt ⫺ d. h. er soll es oft füttern. Er schneidet den Tieren die Köpfe ab und steckt sie ins Heu. Ein Knecht soll ausmisten. Er tötet alle Pferde (Kamele).
AaTh/ATU 1007 wurde aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s bei den meisten europ. Völkern sowie in Asien (bes. Mittelasien) aufgezeichnet; darüber hinaus liegen Belege aus den USA, Mexiko, Puerto Rico und Argentinien sowie aus Algerien16 vor. Der Protagonist der Erzählungen, die AaTh/ATU 1007 subsumiert sind, ist häufig ein Trottel, dem durch seine dummen Handlungen Vorteile entstehen17. Manchmal tötet der Dummkopf die Tiere als Strafe dafür, daß sie ihm nicht ,gehorchen‘ (z. B. fressen sie alle Früchte auf, die er ihnen zuwirft; cf. AaTh/ ATU 1211: The Cow Chewing Its Cud)18. In den verschiedenen Var.n handelt es sich je nach regionalen Gegebenheiten um unterschiedliche Tiere. In südosteurop. Var.n soll der Mann eine Suppe mit Petersilie (Sellerie) zubereiten. Er kocht den Hund, der Petersilie heißt19. Im weiteren Kontext von AaTh/ATU 1007 kann auch eine türk. Erzählung gesehen werden, in der ein dummes Ehepaar zu Besuch bei seiner verheirateten Tochter die nächtlichen Geräusche der Haustiere mißdeutet und diese tötet (z. B.: die Hühner und Gänse regen sich, das Ehepaar denkt, sie seien verlaust, und brüht sie ab, um die Läuse zu töten)20. Durch die Charakteristik des Protagonisten ergibt sich mitunter eine Nähe zu AaTh/ATU 650 A: J Starker Hans. Abgesehen von der Einbettung in AaTh/ATU 1000 und der Kombination mit den anderen oft mit AaTh/ATU 1000 verbundenen Erzähltypen finden sich Verbindungen von AaTh/ATU 1007 mit weiteren Erzählungen vom dummen Unhold (z. B. AaTh/ATU 1036, AaTh/ATU 1045, AaTh/ ATU 1048, 1049, 1060⫺1063, 1085, 1088: cf.
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Wettstreit mit dem Unhold, AaTh/ATU 1115, AaTh/ATU 1116, AaTh/ATU 1120, AaTh/ ATU 1132, AaTh/ATU 1137). Darüber hinaus wird AaTh/ATU 1007 kombiniert mit AaTh/ ATU 1200 A: J Salzsaat, AaTh/ATU 1245: J Sonnenlicht im Sack, AaTh/ATU 1361: J Flut vorgetäuscht, AaTh/ATU 1528: J Neidhart mit dem Veilchen, AaTh/ATU 1561: cf. J Gesinde, AaTh/ATU 1563, AaTh/ATU 1586, AaTh/ ATU 1642, AaTh/ATU 1650: Die drei glücklichen J Brüder, AaTh/ATU 1653, AaTh/ATU 1681 B, AaTh/ATU 1696: J „Was hätte ich sagen (tun) sollen?“ sowie mit AaTh/ATU 1910: J Bär (Wolf) im Gespann. Im Kontext der Schädigungen des Viehs des Herrn steht auch AaTh/ATU 1016: Cleaning the Horse: Ein Knecht soll ein Pferd (,außen und innen‘) putzen. Er schneidet ihm den Schwanz (Mähne etc.) ab und wäscht es mit kochendem Wasser (nimmt die Eingeweide heraus und wäscht sie).
AaTh/ATU 1016 ist mit einer begrenzten Anzahl von Var.n aus mündl. Überlieferung Europas belegt, einzelne Aufzeichnungen stammen aus Vorderasien (Irak, Iran) sowie aus Nordafrika (Algerien, Marokko). Ausgesprochen makaber und grotesk sind die unter AaTh/ATU 1012: Cleaning the Child zusammengefaßten Erzählungen: Der Knecht wird von seinem Herrn (Herrin) beauftragt, dessen Kind (Kinder; mitsamt der Kleider) zu waschen. Er ertränkt es oder schlägt es wie beim Wäschewaschen auf die Steine und hängt es zum Trocknen auf. Mitunter soll er es von ,innen und außen‘ waschen; er nimmt es aus und wäscht seine Eingeweide.
AaTh/ATU 1012 ist aus mündl. Überlieferung für weite Teile Europas und vereinzelt für Asien (Türkei, Jemen, Mongolei, Indien, Indonesien) und Nordafrika (Marokko, Tunesien) belegt. Manchmal mißversteht der Knecht den Namen des Kindes (Petersilie) und kocht aus ihm Suppe21; oder er tötet es mit dem Knochen, den er ihm geben sollte22, indem er es mit zu heißem Essen füttert23 oder weil es ohne Unterlaß schreit24. Kombiniert wird AaTh/ATU 1012 gewöhnlich mit Erzähltypen aus dem Kontext von AaTh/ATU 1000⫺1029 sowie u. a. mit AaTh/ ATU 1050⫺1052, AaTh/ATU 1060, AaTh/ ATU 1062, AaTh/ATU 1072, AaTh/ATU
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1115, AaTh/ATU 1120, AaTh/ATU 1132, AaTh/ATU 1150: „St. George’s Dogs“, AaTh/ ATU 1642 und AaTh/ATU 1685. AaTh/ATU 1012 A: Seating the Children kann als Variation von AaTh/ATU 1012 angesehen werden: Hier soll der Knecht (dummer Mann, dumme Frau) die Kinder hinsetzen. Er setzt sie auf spitze Stöcke und pfählt sie dadurch.
AaTh/ATU 1012 A ist im Vergleich zu AaTh/ATU 1012 weniger verbreitet. Belege finden sich in Nordost- und Osteuropa. 1 Loukatos, D. S.: Glo¯ssikes eutrapeles die¯ge¯seis (Sprachwitze). In: Aphiero¯ma ste¯ mne¯me¯ tou Manole¯ Triantafillide¯. ed. S. Kyriakidis u. a. Saloniki 1960, 233⫺255. ⫺ 2 Hahn 1, num. 34 (griech.); 2, num. 34 (griech.); Ku´nos, I.: Türk. Volksmärchen aus Stambul. Leiden 1905, 38⫺44; Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales and Their Folkloristic Relevance. Detroit 1966, 357⫺359; Polı´vka 5, 29; Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, Marburg, num. 171286 (Südtirol); Pino Saavedra, Y.: Cuentos mapuches de Chile. Santiago de Chile 1987, 169⫺ 175. ⫺ 3 Meyer, G. F.: Schleswig-Holsteiner Sagen. Jena 1929, 213; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 31965, num. 373. ⫺ 4 Meyer (wie not. 3); Wossidlo (wie not. 3) num. 379. ⫺ 5 Schröder, E. (ed.): Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel […]. Lpz. 1911, 46. Historie. ⫺ 6 Simonsen, M.: Remarques sur la classification des contes au Danemark. In: Cahiers de litte´rature orale 57⫺58 (2005) 361. ⫺ 7 Dorson, R.: American Folklore. Chic. 1959, 271; JAFL 76 (1963) 67; Dundes, A.: The Kushmaker. In: Folklore on Two Continents. Festschr. L. De´gh. Bloom. 1980, 210⫺ 216. ⫺ 8 Bosˇkovic´-Stulli, M.: Kroat. Volksmärchen. MdW 1975, num. 49. ⫺ 9 Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. MdW 1914, 2. ⫺ 10 Walker, W. S./Uysal, A. E.: Tales Alive in Turkey. Cambridge, Mass. 1966, num. 6. ⫺ 11 Benzel, U.: Volkserzählungen aus dem nördl. Böhmerwald. Marburg 1957, 63; Janosch, H.: Unsere Hultschiner Heimat in Sagen und Märchen, Sitten und Bräuchen. Ratibor 1924, 52 sq. ⫺ 12 Goetze, E./ Drescher, C. (edd.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 4. Halle 1903, 488. ⫺ 13 Benzel (wie not. 11) 166 sq.; Selk, P.: Volksschwänke und Anekdoten aus Angeln. Hbg 1949, 67; Bll. für Pommersche Vk. 3 (1895) 55; Neumann, S.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. Die Geschichten des August Rust. B. 1968, 93 sq. ⫺ 14 Brednich, R. W.: Die Ratte am Strohhalm. Mü. 1996, num. 37. ⫺ 15 Grundtvig, S.: Danske Folkeæventyr 3. Kop. 1884, 78⫺95; Holbek, B.: Dän. Volksmärchen. B. 1990, 189⫺197; De´gh, L.: Kakasdi ne´pmese´k 2. Bud. 1960, 87⫺ 93. ⫺ 16 Moulie´ras, A.: Le´gendes et contes merveilleux de la Grande Kabylie 1. Übers. C. Lacoste. P.
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1965, 235⫺243. ⫺ 17 Hubrich-Messow; Haiding, K.: Österreichs Sagenschatz. Wien 1965, 368⫺371; cf. Ku´nos (wie not. 2). ⫺ 18 Eberhard/Boratav, num. 330; Lenz, R.: Araukan. Märchen und Erzählungen. Valparaiso 1896, 51⫺57. ⫺ 19 Kova´cs, A.: Kalotaszegi ne´pmese´k. Bud. 1943, 201⫺209; Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. 1957, 435⫺443; Cammann, A.: Dt. Volksmärchen aus Rußland und Rumänien. Göttingen 1967, 172 (rumän.); Kremnitz, M.: Rumän. Märchen. Lpz. 1882, num. 12. ⫺ 20 Eberhard/ Boratav, num. 327 (III 3 a und b). ⫺ 21 Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. Petrograd 1915, 202. ⫺ 22 Chalilov, Ch.: Skazki narodov Dagestana. M. 1965, num. 79; Walker/Uysal (wie not. 10). ⫺ 23 Hahn 1, num. 34 (griech.). ⫺ 24 Thompson/Roberts 1012, cf. p. 125.
Athen
Marianthi Kaplanoglou
Wortspiel. Der Begriff W., häufig im weiten Sinne wie Sprachspiel gebraucht1, bezeichnet die spielerische Veränderung von Sprache. Er umfaßt je nach Definition unterschiedliche Phänomene, z. B. J Wortwitz und Sagwort (J Wellerismus) sowie weitere Formen der kreativen Wort- und Sprachveränderung. Oft wird das W. mit dem engl. pun2 oder auch mit dem J Kalauer (J Calembour[g])3 gleichgesetzt. Da der Ausdruck Sprachspiel einerseits seit L. Wittgenstein vornehmlich in phil. Sinne vom Sprechen einer Sprache als „Teil […] einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“4 gebraucht wird und andererseits als alle Spiele mit Sprache (Ratespiele, Kreuzworträtsel, Sprachlernspiele für Kinder, Gematrie etc.) aufgefaßt werden kann5, scheint es sinnvoll, dem W. bes. das zuzuordnen, was in der Poetik und Linguistik unter dem Terminus Sprachspiel subsumiert wird. Wenngleich das W. als Unterart des Sprachspiels gesehen wird, die nur die Veränderungen auf der Wortebene betrifft6, kann es alle Formen der bewußten (in manchen Konzeptionen auch der unbewußten) Sprachveränderung zur Erzielung eines humoristischen oder satirischen Effektes umfassen, aber auch darauf abzielen, etwas Ungewöhnliches zu sagen (cf. J Verfremdung). Wie in der Rhetorik7 oder Poetik geht es um eine Modifizierung der Sprache, um Metabolien8, die sich sowohl auf der Ebene des Ausdrucks (der Form) als Metaplasmen als auch des Inhalts (des Sinns) als Metasememe finden können9. In der Linguistik hat man sich vor
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allem um Klassifikationen der W.e bemüht10. W.e stellen ein Übersetzungsproblem dar, da viele von ihnen wegen ihrer Gebundenheit an die jeweilige Sprache als unübersetzbar galten. Aus den Arbeiten zur Übersetzung des W.s stammen unterschiedliche Ordnungssysteme. N. Ca˜pa˜t¸aˆna˜ hat eine Klassifikation vorgestellt, die W.e in die großen Gruppen von semantischen und reinen Klangspielen gliedert. Die auf Homonymie/Polysemie oder Paronymie beruhenden semantischen W.e werden in 16 verschiedene Typen unterteilt (W.e mit Eigennamen, contrepe`teries, Abkürzungsspiele etc. bis hin zu Mischformen11), die Klangspiele nicht weiter spezifiziert. Je nachdem, ob das sprachliche Material nacheinander (,Zu Guttenberg kann, wenn er seine Dissertation abgeschrieben hat, seinen Doktortitel abschreiben‘) oder sich überlagernd (,Jetzt hat also zu Guttenberg seine Dissertation abgeschrieben‘) am W. beteiligt ist, spricht man von horizontalen und vertikalen W.en12. Als Unterscheidungsmerkmal vom J Witz oder anderen Formen geistreichen Sprechens wurde „allein die metasprachliche Information“ des W.s hervorgehoben13. Doch ist diese im W. oft fakultativ und bildet keineswegs sein Alleinstellungsmerkmal. Eher liegt dem W. ein Mechanismus zugrunde, der aus kombinatorischen Aktivitäten der Kreativität besteht und von ähnlichen Erscheinungen nur schwer abgrenzbar ist. Diesen Mechanismus hat man als Bisoziation bezeichnet: Es geht darum, bislang „getrennte Bereiche von Wissen und Erfahrung zusammenzubringen“14, die beim Rezipienten unterschiedliche Effekte auslösen können und in einem Kontinuum von J Humor, Erkenntnis und ästhetischem Erleben wirken. Die Frage nach der Regelhaftigkeit und der Klassifikation des W.s wird unterschiedlich behandelt. Unsinnspoesie und W. wurden an den Grenzen der Sprache angesiedelt15. In anderer Perspektive enthält das Sprachspiel (1) ein ästhetisches Moment, (2) ist häufig mit einem komischen Effekt verbunden und (3) beruht auf einigen inneren Gesetzmäßigkeiten der Sprache selbst ⫺ ihrem Aufbau und ihrem Funktionieren in der Gesellschaft; das ständige Verletzen bestimmter Regeln, ,das Balancieren auf der Grenze der Norm‘, ist dennoch nicht systemlos, sondern beruhe ,auf bestimmten Regeln und folge bestimmten Gesetzmä-
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ßigkeiten‘16. Auch in Konzeptionen, die sich in erster Linie an empirischem Material orientieren, sind Ordnungsprinzipien zu erkennen17, doch wird hier betont, daß das Spiel ein offenes Handlungssystem sei18. Jüngere Klassifizierungen des W.s richten sich an diesen Konzeptionen aus und umfassen W.e „durch Kontamination, durch Metathese, durch Ableitung, Komposition, Addition, Kontrastbildung, Verballhornung“19, sei es auf der Ebene des Wortes oder der der Wortverbindung und des Satzes. Auf der rein phonologischen Ebene kommen Verfahren des Reims (z. B. Schüttelreim), der Alliteration (z. B. J Zungenbrecher) und der Vokalharmonie hinzu. Grenzfälle bilden Malapropismen und Versprecher, z. B. auch von Kindern. Das Spiel mit der Form sprachlicher Zeichen (graphische Gestaltung, Wechsel von der Ebene der Denotation auf die Ebene der Phonetik oder der Graphik etc.) wird gewöhnlich nicht zum W. gezählt. Im traditionellen Erzählgut ist das W. vor allem im Bereich der sog. kleinen Formen anzutreffen. So findet es sich in J Rätseln (Wechsel von Ausdrucks- und Zeichenebene etc.), J Sprichwörtern (bes. Antisprichwort, cf. auch Sagwort), Zungenbrechern, Kinderversen, Abzählreimen (J Kinderfolklore), Scharaden, der Unsinnspoesie (J Nonsens) etc.; auch Formen bewußter Volksetymologie (J Etymologie) sollte man dazu rechnen20. Darüber hinaus begegnen W.e in Erzählungen von der J verkehrten Welt, in den Umkehrungen der Kinderfolklore21 sowie in der J Werbung. Bereits im Altägyptischen bildete die Lautgleichheit einer Reihe von Wörtern, die sich in Hieroglyphen oder hierat. Schrift unterschieden, Anlaß für W.e mit mythischer und magischer Funktion, aber auch als Unterstützung bei der Traumdeutung22. Im alten China sollen W.e dazu gedient haben, die ,mystische Doktrin‘ der Macht und Position des Herrschers zu begründen23. In der altind. Lit. wurden W.e vor allem mit der Entwicklung der Theorie der Dichtkunst im 7. Jh. populär. Aus dieser Zeit stammt auch der an W.en reiche Märchenroman Va¯savadatta¯, als dessen Autor Subandhu gilt24. In der griech. und lat. Lit. dient das W. in Komödien und Parodien vornehmlich der Erzeugung von J Komik (z. B.
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bei Aristophanes25). J Odysseus setzt ein W. zur J Täuschung ein, z. B. wenn er seinen Namen mit Outis (Niemand) in Verbindung bringt (Odyssee 9,366; AaTh 1135⫺1137/ATU 1135, 1137: J Polyphem) und wenn er sich mit einem anderen W. seiner ,List‘ rühmen kann (9,405 und 9,414). W.e finden sich auch in den Sprachwitzen des Abu¯ ¤Alqama26 und anderweitig in der ma. adab-Lit.27 Durch häufige Verwendung vielfältigster Formen von W.en zeichnen sich J Rabelais‘ J Gargantua und Pantagruel aus; dem Autor wird die ,Erfindung‘ der heute in Frankreich so beliebten contrepe`terie, die dem engl. spoonerism und dem dt. Schüttelreim28 entspricht, zugeschrieben. Für den extensiven Gebrauch von W.en ist J Shakespeare bekannt29. Bei J Cervantes findet sich eine Reihe von W.en mit Namen sowie mit Sprichwörtern, Redewendungen und Phraseologismen30. Seit dem 16. Jh. gehören W.e zum festen Bestand der Schwank- und Unterhaltungs- sowie der Exempelliteratur. Johann J Fischart verwendete W.e ähnlich extensiv wie Rabelais. Johann J Geiler von Kaysersberg gebrauchte sie, teilweise mit Worterklärungen, in seinen Predigten, und die Exempla seines Schülers, Johannes J Pauli zeichnen sich gleichfalls u. a. durch die Verwendung von W.en aus („ich habe kein Auge verloren, aber du hast Augen gefunden“31; der ,Spottvogel‘, hat in des Priesters Bett ,hofiert‘, weil er von der Wirtin zu sehr hofiert wurde32). Auch die Predigten des J Abraham a Santa Clara sind reich an Wortwitzen und W.en. W.e finden sich darüber hinaus in Volksbüchern, die der Schwankliteratur verpflichtet sind, z. B. im J Eulenspiegel-Buch (sprechende/erfundene Namen33, Doppeldeutigkeiten34; J Wörtlich nehmen) oder im J Lalebuch (Mütter machen ihre Kinder mütterwillig [⫽ mutwillig]35). Darüber hinaus finden sich zahlreiche Texte, die auf dem Spiel mit Mehrdeutigkeit oder wörtlicher und übertragener Bedeutung bzw. mißverstandenen fremdsprachlichen Ausdrücken basieren (J Mißverständnisse, J Sprachmißverständnisse). J Basiles Pentamerone hat wegen seiner zahlreichen W.e im neapolitan. Dialekt immer wieder erklärende Kommentare notwendig gemacht36, und bereits J. J Grimm schrieb in der Einl. der ersten dt. Übers. von F. J Liebrecht davon, daß es Mühe koste, „in den Sinn
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dieser fast morgenländisch heißen sprudelnden Bilder, Gleichnisse, Wortspiele […] einzudringen“37. Während sich W.e (bes. Wortschöpfungen wie Erfindungen von Namen und Spitznamen sowie Wiederholungen und Alliterationen) in russ. Märchen großer Beliebtheit erfreuen38, sind sie in den Märchen der Brüder J Grimm nicht sehr häufig ⫺ eine Ausnahme bildet KHM 110, AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke39. Lediglich wenn von einer sehr weiten W.definition ausgegangen wird, die fast alle poetischen Verfahren umfaßt, lassen sich weitere Beispiele für W.e auch in den J Kinder- und Hausmärchen finden (z. B. KHM 84, AaTh/ATU 859: J Prahlerei des Freiers)40. Seltener kommen W.e in modernen Sagen vor41. Die Beziehung vieler dieser Geschichten zum Witz ist offensichtlich, viele existieren auch in Witzform42. 1 Bussmann, H.: Lex. der Sprachwiss. Stg. 42008, 800. ⫺ 2 Hammond, P./Hughes, P.: Upon the Pun. Dual Meaning in Words and Pictures. L. 1978; Bussmann (wie not. 1); Vater, H.: Sprachspiele. In: Linguistische Ber.e 221 (2010) 3⫺36, hier 3; cf. Mieder, W.: Internat. Bibliogr. of Paremiology and Phraseology. N. Y./B. 2010, Reg. s. v. pun. ⫺ 3 cf. bes. Achmanova, O. S.: Slovar’ lingvisticˇeskich terminov (Wb. linguistischer Termini). M. 21969, 165. ⫺ 4 Wittgenstein, L.: Werkausgabe. 1: Tractatus logico-philosophicus. ed. J. Schulte. Ffm. 91993, 250. ⫺ 5 Crystal, D.: Language Play. Harmondsworth 1998. ⫺ 6 Vater (wie not. 2) 18. ⫺ 7 Lausberg, H.: Elemente der literar. Rhetorik. Mü. 1963, 90. ⫺ 8 Dubois, J. u. a.: Allg. Rhetorik. Mü. 1974, 43. ⫺ 9 cf. ibid., 55 (Differenzierung Wortebene [Metaplasmen, Metaseme] ⫺ Satzebene [Metataxen und Metalogismen]). ⫺ 10 Reiners, L.: Stilkunst. Mü. 31950, 534 (lediglich Lautebene); Ducha´cˇek, O.: Les Jeux de mots du point de vue linguistique. In: Beitr.e zur rom. Philologie 9 (1970) 107⫺117 (Homonymie, Polysemie, Paronymie); Hausmann, F. J.: Studien zu einer Linguistik des W. s. Tübingen 1974, 105 (ohne problematische Differenzierung von Homonymie und Polysemie; ausgehend von Homonymie, Homophonie, Paronymie: Plurivalenz des Zeichens); Freidhof, G.: Möglichkeiten und Grenzen der Linguistik in der internat. W.forschung. In: id.: Sowjet. Beitr.e zum W. Mü. 1990, 197⫺216, hier 202 sq. (tautophonische und anaphonische W.e); Sˇkreb, Z.: Znacˇenje igre rijecˇima (Die Bedeutung des W.s). In: Rad Jugoslavenske Akademije Znanosti i Umjetnosti 278 (1949) 77⫺193 (Klassifizierung von W.en anhand von Polysemie, Homonymie, Paronomasie, Verdichtung, Abkürzungen; orientiert sich an Freud, S.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Ffm. 1970,
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42); cf. Liede, A.: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache 1⫺2. B. 2 1992 (semantischer und logischer Unsinn). ⫺ 11 Ca˜pa˜t¸aˆna˜, N.: Das W. und seine Übers. In: Germ. Beitr.e (Sibiu) 19 (1995) 40⫺85; cf. bes. Heibert, F.: Das W. als Stilmittel und seine Übers. Am Beispiel von sieben Übers.en des ,Ulysses‘ von James Joyce. Tübingen 1993. ⫺ 12 Wagenknecht, C. J.: Das W. bei Karl Kraus. Göttingen 1965; cf. auch Hausmann (wie not. 10) 76. ⫺ 13 ibid., 126. ⫺ 14 Koestler, A.: Janus. A Summing Up. L. 1979, 129, cf. 109⫺161, bes. 110 (pun ⫽ Humor, word games ⫽ Wiss., rhyme ⫽ Poesie/Ästhetik). ⫺ 15 Liede (wie not. 10). ⫺ 16 Norman, B. Ju.: Igra na granicach jazyka (Das Spiel an den Grenzen der Sprache). M. 2006, 10; cf. auch Arutjunova, D. N.: Vidy igrovych dejstvij (Die Arten spielerischer Handlungen). In: ead. (ed.): Logicˇeskij analiz jazyka. M. 2006, 5⫺16, hier 13. ⫺ 17 Sornig, K.: Reden und Schweigen zwischen Spiel und Magie 1⫺5. Graz 1990⫺2006, hier Faszikel 5,1/ 3,2 (1993); Halwachs, D. W.: „Am Anfang war das W.“ In: S. O.R.N.I.G. Festschr. K. Sornig. Graz 1994, 69⫺86, hier 70. ⫺ 18 Sornig (wie not. 17) Faszikel 5,3,3/7,3 (1995) 48. ⫺ 19 Vater (wie not. 2) 6. ⫺ 20 cf. Sornig (wie not. 17) 181 (Beispiele aus der Umgangssprache: Viktor ⫽ Hosenschlitz); Norman (wie not. 16) 283⫺337 (zahlreiche Beispiele für W.e mit Fremdwörtern im Russ., z. B. Arabeska ⫽ Frau eines Arabers; Sˇansonetka ⫽ [russ. sˇansov net] Frau ohne Chancen). ⫺ 21 Chellberg, E. F.: Fol’klornye perevertysˇi (Folkloristische Umkehrungen). In: Russian Linguistics (1988) H. 12, 293⫺301. ⫺ 22 Pinch, G.: Magic in Ancient Egypt. Austin, Tex. 1995, 68 sq.; Noegel, S. B. (ed.): Puns and Pundits. Wordplay in the Hebrew Bible and Ancient Near Eastern Literature. Bethesda 2000; Noegel, S. B.: Nocturnal Ciphers. The Allusive Language of Dreams in the Ancient Near East. New Haven 2007. ⫺ 23 Waley, A.: Three Ways of Thought in Ancient China. Stanford 1982, 181 sq. ⫺ 24 Mylius, K.: Geschichte der Lit. im alten Indien. Lpz. 1983, 220. ⫺ 25 Pauly/Wissowa 2,1 (1895) 990 sq. ⫺ 26 Weipert, R.: Altarab. Sprachwitz. Abu¯ ¤Alqama und die Kunst, sich kompliziert auszudrücken. Mü. 2009. ⫺ 27 Marzolph, Arabia ridens 2, Reg. s. v. W. ⫺ 28 Freud (wie not. 10) 87. ⫺ 29 Rubinstein, F. A.: Dict. of Shakespeare’s Sexual Puns and Their Significance. Basingstoke 21995. ⫺ 30 cf. Cantera Ortiz de Urbina, J./Sevilla Mun˜oz, J. und M.: Refranes, otras paremias y fraseologismos en Don Quijote de la Mancha. Burlington 2005, 34 sq. ⫺ 31 Pauli/Bolte, num. 407. ⫺ 32 ibid., num. 653. ⫺ 33 Ein kurzweilig Lesen von Tyl Ulenspiegel. B./Weimar 1979, 29, 136. ⫺ 34 ibid., 149. ⫺ 35 Das Lalebuch. B./Weimar 1979, 237. ⫺ 36 Basile, G.: Das Märchen der Märchen. ed. Rudolf Schenda. Mü. 2000, 11 (Vorw.). ⫺ 37 Basile, G.: Der Pentamerone 1⫺2. Übers. F. Liebrecht. Breslau 1846 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1973), V. ⫺ 38 Smirnov-Kutacˇeskij, A. M.: Tvorcˇestvo slova v narodnoj skazke (Die Wortschöpfung im Volksmärchen). In: Chudozˇest-
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Wortwitz
vennyj fol’klor 2⫺3. M. 1927, 71⫺79. ⫺ 39 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B. 2008, 88; Bluhm, L./Rölleke, H.: „Redensarten des Volkes, auf die ich immer horche“. Märchen ⫺ Sprichwort ⫺ Redensart. Stg. 21997, 124 sq. ⫺ 40 Nagata, Y.: Das „W.“ in den Märchen und Sagen der Brüder Grimm als Schlüssel zum Verständnis ihrer Konzeption der Volkspoesie. 1994 (im Internet). ⫺ 41 cf. auch Brednich, R. W.: Das Huhn mit dem Gipsbein. Mü. 1993, num. 33, 39, 117; id.: Die Ratte am Strohhalm. Mü. 1996, num. 127. ⫺ 42 id.: Die Maus im Jumbojet. Mü. 1991, 11 sq.
Graz
Wolfgang Eismann
Wortwitz, durch rhetorische und stilistische Mittel (J Wortspiel, Mehrdeutigkeit, J Ironie, J Übertreibung, Stilbruch) erzeugte komische Äußerung, die ein souveränes Sprachbewußtsein voraussetzt und häufig J Schlagfertigkeit demonstriert1. Im W. werden Diskurstraditionen enttäuscht oder abgewandelt. Der W. ist von J Witzen abzugrenzen, deren J Komik auf Handlung, auf J Gebärden oder auf Streichen beruht (performativ konkretisierter Witz) oder sich im Musikalischen niederschlägt. Weniger scharf ist die Trennlinie zum Wortspiel, das einige Autoren als ganz dem Witz zugehörig betrachten2. Andere halten es als reines ,Klangspiel‘ für eine Vorstufe des W.es, während für den W. dessen Sinngehalt charakteristisch sei3. Bes. im W. kann die narrative Komponente auf ein Minimum zusammenschmelzen („Treffen sich zwei Jäger. Beide tot“). Die extreme Form ist der Einwortwitz, der keine Exposition mehr hat, also einphasig ist und somit alles Narrativen entbehrt (z. B. ,Seelenbohrer‘ für den spitzen Kirchturm im Berliner Hansaviertel)4. S. J Freud teilt den W. in drei Gruppen: (1) Doppelsinn eines Namens und seiner dinglichen Bedeutung („,Weshalb haben die Franzosen den Lohengrin zurückgewiesen?‘ […] „Elsa’s [Elsaß] wegen.“); (2) Doppelsinn von sachlicher und metaphorischer Bedeutung (Ein Arzt sagte zu Arthur Schnitzler: „,Ich wundere mich nicht, daß du ein großer Dichter geworden bist. Hat doch schon dein Vater [Arzt] seinen Zeitgenossen den Spiegel [Kehlkopfspiegel] vorgehalten.‘“); (3) eigentlicher Doppelsinn bei mehrfacher Verwendung des selben Wortes („Von einer satirischen Komödie sagte
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Heine: ,Diese Satire wäre nicht so bissig geworden, wenn der Dichter mehr zu beißen gehabt hätte.‘“)5. Wenngleich W.e in der Moderne verstärkt auftreten, haben viele von ihnen hist. Vorläufer. Sprachliche Scherze finden sich bereits bei J Aristophanes (Die Frösche) oder in den Komödien des J Plautus. Seit der Renaissance kommen W.e hauptsächlich in J Fazetie und J Schwank vor. Der Anteil von W.en an der allg. Witztradition kann je nach Region, Kultur oder Zeitabschnitt unterschiedlich groß sein. Eine bes. Vorliebe für W.e zeigen z. B. arab.-islam. Erzählstoffe6. Der W. ist stärker an eine bestimmte Sprache gebunden als der Handlungswitz, in seiner Form jedoch international. Sprachen mit einem großen Arsenal an gleichklingenden Wörtern wie das Englische oder Französische neigen verstärkt zu dieser Art von W.7 Zu den kürzeren W.en gehört die humoristische Auflösung von Abkürzungen und Siglen, etwa die Interpretation der skand. Fluglinie SAS als ,Sex after service‘, welche die bes. Schwedinnen unterstellte Promiskuität aufs Korn nimmt, oder die beliebte Umdeutung der Buchstaben auf dt. Autonummernschildern, etwa von OHA als ,Oberharzer Affen‘8. Die Zahl der Möglichkeiten, Witze auf der Grundlage von Lautspielereien oder der Diskrepanz zwischen Aussprache und Schreibung (spelling-pronunciation trick, bes. im Englischen, bei dem gesprochene und geschriebene Sprache weit auseinanderklaffen) zu schaffen, ist groß. Neben der Homophonie bedient man sich der Homographie, Homonymie und Synekdoche9. Originelle Abwandlungen der Grammatik sind ein weiteres Spielfeld des W.es. Dergestalt werden z. B. Feministinnen, die eine ,Salzstreuerin‘ verlangen, verspottet. Substantive lassen sich regelwidrig konjugieren: „Sofalehne ⫺ ick soof alleene, du soofst alleene …“ oder „Ich sagte ,Isabell‘ ⫺ und Isa bellte“. Steigerungen können umfunktioniert werden: „Imposant ⫺ im Hintern Kies ⫺ im Arsch Geröll“, Suffixspiele lassen sich durchführen10. Bes. bei Kindern beliebt ist das Schema „Mach mal einen Satz mit …“ („Hamsamsam und Hattatta: Ham s’ am Samstag Fußball gespielt ⫺ hat dat da gereechnet!“). Sprechende Namen werden des komischen Effekts willen
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eingesetzt, um Sachverhalte zu verschleiern (AaTh/ATU 15: J Gevatter stehen, AaTh/ ATU1544 A*: J General Gänsewitz). Dasselbe Schema verwendet seit J Homer, bei dem sich J Odysseus Outis (Nemo) nennt, um J Polyphem (AaTh/ATU 1135⫺1137) zu täuschen, der Nemo-Witz bis heute11. W.e, die auf Unlogik und Denkfehlern basieren, sind durch J Absurdität oder J Nonsens gekennzeichnet: „Was ist der Unterschied zwischen einer Krähe? Beide Beine sind gleichlang, bes. das rechte.“ „Alles in der Welt geht natürlich zu. Nur meine Hose geht natürlich nicht zu.“12 Derartige Kombinationen kommen bes. im Irrenwitz zum Tragen13. Die Entlarvung von Angebereien, bei welchen der Protagonist Schritt für Schritt vorgeführt wird (cf. J Lügenbrücke, Lügenfluß), gehören zu den längeren Texten. Ist der Handlungsträger in ihnen unterlegen, so erreicht er dagegen durch gegenstandslose Drohungen und klug eingesetztes Selbstvertrauen sowie List sein Ziel (cf. AaTh/ATU 1563*: Die schreckliche J Drohung). Um Unter- und Überlegenheit geht es auch in verbalen Übertrumpfungswitzen mit meist drei sich gegenseitig in ihrer Aussage überbietenden Konkurrenten, von denen der letzte Sieger wird. Diese W.-Spielart erscheint häufig im Nationalitätenwitz. Eine beträchtliche Anzahl von Erzähltypen beschäftigt sich mit Kommunikationsstörungen durch J Mißverständnisse, bes. durch J Sprachmißverständnisse. Ursache dafür sind u. a. Behinderungen wie Stottern, Lispeln, unzuverlässige Zahnprothesen, Taubheit (J Schwerhörig, Schwerhörigkeit) oder Schielen14, aber auch schlichtes Verhören. Eine weitere Hauptquelle ist das falsche Verstehen von Fremdsprachen oder fremdsprachlichen Ausdrücken (AaTh/ATU 360, 1697: J Handel mit dem Teufel). Komplikationen ergeben sich darüber hinaus durch den sog. foreigner talk, ein Gespräch mit Ausländern in radebrechend-vereinfachter Version der eigenen Sprache ohne grammatische Markierungen15. Auch die nur mangelhafte Beherrschung einer Fremdsprache führt zu komischen Situationen, etwa im Witz von dem Amerikaner, der auf der dt. Post fragt: „Fräulein, haben Sie eine Wiege, ich will etwas wagen?“ Oder bei dem ertrinkenden Ausländer, der in England ruft „I will drown, and nobody shall save me.“
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Bes. gern werden derartige Fehlleistungen von Politikern erzählt16. Dieselbe Problematik wohnt der Konfrontation von Mundart und Hochsprache inne17. Komisch kann auch das sog. Makkaronische sein, eine Vermischung der Elemente zweier Sprachen, z. B. in den oberschles. Antek und Frantek-Witzen (J Witzfiguren). Eine Reihe von W.en demonstriert die reine Lust an sprachlichen Manipulationen. Die Unkenntnis ist lediglich vorgeschoben. Z. B. wundert man sich: „Englisch ist eine komische Sprache: Ich heißt I, aber Ei heißt egg, und Eck heißt corner [bair. ,koaner‘ ⫽ keiner], was im Deutschen wiederum soviel bedeutet wie niemand“18. Einer ähnlichen Linie folgen Übersetzungswitze nach dem Schema „Was heißt x in der Sprache y?“ (Dampfdrucktopf auf ital.: Garibaldi, Windel auf türk.: GülleHülle)19. Die Protagonisten von Ungebildetenwitzen sprechen von Sachverhalten, die sie nicht genau kennen oder von denen sie nur den ungefähren Wortlaut im Ohr haben (Gallimathiasmen)20; dies gilt bes. für Fremdwörter21. Häufig werden solche Texte bestimmten Witzfiguren zugeschrieben, allen voran der prätentiösen Frau Neureich22 oder z. B. dem der Unterschicht angehörenden Kölner Duo Tünnes und Schäl. Sie finden sich darüber hinaus in Kindermundwitzen oder Stilblüten23. Verwandt, aber der Zerstreutheit bes. von Professoren geschuldet, sind Kathederblüten24. Polysemie ist ein weiteres Funktionselement, das gerne genutzt wird25. Mag ein Dialog wie „Ist das euer Ernst?“ mit der Antwort „Nein, das ist unser Fritz“26 relativ harmlos wirken, so erhöht sich die Brisanz stark, wenn es um Erotik und Sexualität geht ⫺ Hauptspielplatz für Doppeldeutigkeiten (J Zote). Der erotische (und skatologische) Witz (J Skatologie) verwendet zudem verschiedene andere Techniken: So werden Lesetexte durch veränderte Interpunktion oder das Lesen nur jeder zweiten Zeile plötzlich zur sexuellen Kleinerzählung27, auch wandelt man Reklamesprüche ab („Willst du Schwangerschaft verhüten, nimm Melitta-Filtertüten“)28. Andererseits arbeiten Witze mit Erwartungshaltungen, die sie dann nicht einlösen („Da oben fliegt ein Geier, der zeigt uns seine … Turnschuhe“)29.
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In den Bereich des naiven Verstehens einzelner Wörter und idiomatischer Wendungen (Phraseologismen), bes. Metaphern und Metonymien, begibt sich der Witzprotagonist mit bewußtem oder unbewußtem J Wörtlichnehmen. Solches Verhalten zeigt prototypisch Till J Eulenspiegel. Je unwahrscheinlicher die ,buchstäbliche‘ Interpretation ist, desto witziger wirkt sie. Dies gilt ebenso für den witzigen Vergleich, eine eher rudimentäre Form des W.es (z. B.: „Der Tod der Ehefrau ist wie ein Pfeffergulasch: Die Augen tränen ⫺ und das Herz hüpft vor Freude.“)30. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang vor allem das Oxymoron, die widersprüchliche Verbindung von Gegensätzen in einer Äußerung. Zum Geistreichsten gehören Texte mit witzigen Repliken. Sie werden häufig bekannten Persönlichkeiten als J Anekdote oder J Bonmot, aber auch einfachen Leuten in den Mund gelegt31. Etliche Erzähltypen machen in ihren Witzvarianten davon Gebrauch, bes. J Eheschwänke und -witze (AaTh/ATU 785 A: J Einbeiniges Geflügel, AaTh/ATU 1362 A*: J Dreimonatskind, ATU 1379***: J Einäugiger heiratet). Zuweilen schlägt sich der W. auch in festen literar. Formen nieder. Sprichwort, Redensart, Redewendung, Spruch, geflügelte Worte sowie Reklametexte neigen zur J Parodierung. Mittel sind die Veränderung einzelner Wörter, komische Neuprägungen, die Vermischung zweier fester Fügungen, ironische Zusätze und die Verkehrung der ursprünglichen Aussage32. Weitere W.e in fester literar. Prägung sind Sagwörter (J Wellerismus), Neck- oder J Vexiermärchen bzw. -lieder, Gstanzln (Schnaderhüpfl), Klapphornverse und -lieder33, Leberreime34, Schüttelreime35 und Limericks36. Auch der Aphorismus kann in der Nähe des Witzes stehen37. W. und doch gleichermaßen sein eigener Antipode ist der Wortkargheitswitz. In ihm fühlen sich extrem schweigsame Männer durch die Anwesenheit eines weiteren gestört, der überhaupt eine Äußerung wagt38. 1 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 44; Neumann, S.: Der mecklenburg. Volksschwank. B. 1964, 54; Koch, P./Krefeld, T./Oesterreicher, W.: Neues aus Sankt Eiermark. Das kleine Buch der Sprachwitze. Mü. 1997, 2. ⫺ 2 cf. z. B. Röhrich (wie not. 1) 41⫺83. ⫺ 3 Schöne, A.: Engl. Wortspiele und Sprachscherze.
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Bonn 21978, 10; cf. auch Macha, J.: Sprache und Witz. Die komische Kraft der Wörter. Bonn 1992. ⫺ 4 Wenzel, P.: Von der Struktur des Witzes zum Witz der Struktur. Unters.en zur Pointierung in Witz und Kurzgeschichte. Heidelberg 1989, 10, 23. ⫺ 5 Freud, S.: G. W. 6: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten [1905]. Ffm. 1999, 29⫺42. ⫺ 6 Kishtainy, K.: Arab Political Humour. L. 1985; Marzolph, U.: The Muslim Sense of Humor. In: Humour and Religion. Challenges and Ambiguities. ed. H. Geybels/ W. Van Herck. N. Y. 2011, 169⫺187. ⫺ 7 Koch u. a. (wie not. 1) 120 sq. ⫺ 8 cf. Röhrich (wie not. 1) 47. ⫺ 9 Bausinger (21980), 138. ⫺ 10 Röhrich (wie not. 1) 46, 49, 59. ⫺ 11 ibid., 27 sq.; id.: Die ma. Redaktionen des Polyphem-Märchens und ihr Verhältnis zur außerhomerischen Tradition [1965]. In: id.: Sage und Märchen. Fbg 1976, 234⫺252; Wehse, R.: Warum sind die Ostfriesen gelb im Gesicht? Die Witze der 11⫺14jährigen. Ffm./Bern 1983, num. 38. ⫺ 12 Röhrich (wie not. 1) 100. ⫺ 13 Jeck, O.: Der „irre“ Witz. Stg. s. a. ⫺ 14 Röhrich (wie not. 1) 178. ⫺ 15 Koch u. a. (wie not. 1) num. 126. ⫺ 16 ibid., 116 sq., num. 191 sq. ⫺ 17 Röhrich (wie not. 1) 57 sq., 225. ⫺ 18 Archiv Wehse. ⫺ 19 cf. Renner, U.: The Afterlast English Letters. Ffm. 1986. ⫺ 20 Wille, H.: Eulenflüge. Heiteres aus der Bücherwelt. Braunschweig 1966; EM 12, 1094 sq. ⫺ 21 Röhrich (wie not. 1) 54⫺57. ⫺ 22 Koch u. a. (wie not. 1) num. 149⫺151, 198. ⫺ 23 Krämer, W.: Lukasburger Stilblüten 1⫺5. Unterhaching 421978. ⫺ 24 Minkowski, H.: Das größte Insekt ist der Elefant. Professor Gallettis sämtliche Kathederblüten. Mü. 2 1966. ⫺ 25 Neumann (wie not. 1) 57. ⫺ 26 Fischer, H.: Lachende Heimat. B./Darmstadt 21955, 297; cf. Bll. für pommer. Vk. 10 (1901⫺02) 171; Schwarzien, O.: Memelländ. Sagen. Kerkutwethen 1925, 81; Merkelbach-Pinck, A.: Aus der Lothringer Meistube 1. Kassel 1943, 213; Sporer, E. O.: Humor aus Ostpreußen. Mü. 1952, 88. ⫺ 27 Kutter, U.: Ich kündige! Zeugnisse von Wünschen und Ängsten am Arbeitsplatz. Marburg 1982, 25. ⫺ 28 ibid., 27. ⫺ 29 cf. auch ibid., 96. ⫺ 30 Röhrich (wie not. 1) 41 sq. ⫺ 31 Neumann (wie not. 1) 54⫺56. ⫺ 32 Loomis, C. G.: Traditional American Word Play. The Epigram and Perverted Proverbs. In: WF 8 (1949) 348⫺357, hier 352⫺357; Küpper, H.: Wb. der Umgangssprache 1⫺ 6. Hbg 1963⫺70; Herles, H.: Sprichwort- und Märchenmotive in der Werbung. In: ZfVk. 62 (1966) 77⫺ 80; Röhrich, L.: Gebärde, Metapher, Parodie. Düsseldorf 1967, 181⫺214; Klintberg, B. af: Halla˚ där ⫺ köp bla˚bär! Rim och ramsor. Stockholm 1980; Hau, W.: Ich geh kaputt ⫺ gehst du mit? Sponti-Sprüche. Ffm. 1980; Mieder, W.: Antisprichwörter 1⫺2. Wiesbaden 31985; id.: Antiredensarten aus Lit. und Medien. Wiesbaden 1999; id./To´thne´ Litovkina, A.: Twisted Wisdom. Modern Anti-Proverbs. Burlington 1999; Röhrich, Redensarten 1, 16⫺18; Neumann, S.: Sprichwörtliches aus Mecklenburg. Göttingen 1996. ⫺ 33 Röhrich (wie not. 1) 63. ⫺ 34 ibid., 64. ⫺ 35 Hanke, M.: Die schönsten Schüttelgedichte.
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Wossidlo, Richard
Mü. 1969. ⫺ 36 Lear, E.: The Book of Nonsense. L. 1846; The Pan Book of Limericks. L. 1963; Schöne (wie not. 3) pass. ⫺ 37 Mieder, W.: Aphoristische Sagwörter aus Lit. und Medien. In: Homo narrans. Studien zur populären Erzählkultur. Festschr. S. Neumann. B. 1999, 223⫺250. ⫺ 38 Röhrich (wie not. 1) 180⫺182.
Reichertshausen
Rainer Wehse
Wossidlo, Richard, *Friedrichshof (bei Tessin) 26. 1. 1859, † Waren an der Müritz 4. 5. 1939, dt. Philologe und Volkskundler1. Der Sohn eines mecklenburg. Gutsbesitzers studierte 1876⫺83 in Rostock, Berlin und Leipzig Klassische Philologie und Germanistik. Er legte das Examen pro facultate docendi ab und war (nach einem Probejahr in Wismar) 1886⫺1922 Gymnasiallehrer für Griechisch, Latein und Deutsch in Waren (ab 1908 Gymnasialprofessor)2. W. war ein Pionier der wiss. Vk.3, erhielt 1906 die Ehrendoktorwürde der Univ. Rostock und wurde mit mehreren Preisen geehrt. 1884 begann W. mit Sammelreisen durch Mecklenburg, auf denen er das mundartliche Sprach-, Spruch- und Erzählgut der unteren Sozialschichten im Dorf und in der Kleinstadt aufzeichnete4. Um die noch lebendige mündl. Erzähltradition dieser landwirtschaftlich geprägten Region möglichst umfassend zu dokumentieren, schuf sich W. zudem (unterstützt vom Verein für meklenburg. Geschichte und Alterthumskunde) mit Fragebögen und Briefen, vor allem an die Lehrerschaft, ein Netz von über 1000 Korrespondenten, die in ihrer jeweiligen Gegend sammelten und ihm ihre Funde zusandten5. Im Laufe der Jahre weitete W. seine Erhebungen so auf praktisch alle Bereiche des Volkslebens und der Volkskultur aus und baute ein großes volkskundliches Archiv auf. Aus der 1954 gegründeten W.-Forschungsstelle ist das Inst. für Vk. der Univ. Rostock hervorgegangen; das Archiv wird (unter Leitung von C. Schmitt) zur Zeit in digitaler Form für die wiss. Öffentlichkeit erschlossen6. Was W. aus seinen Sammlungen in Ztgen (bes. Rostocker Ztg), Periodika7 und den wiss. Editionen Rätsel (Wismar 1897), Die Tiere im Munde des Volkes (Wismar 1899) und Kinderwartung und Kinderzucht (Wismar 1906) in der
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von ihm begründeten Reihe Mecklenburg. Volksüberlieferungen sowie in einem vielgespielten Volksstück8 veröffentlichte, trug ihm dank der dokumentierten Materialvielfalt und -fülle rasch die Anerkennung der internat. Fachwelt ein. In der Folge stellte W. eine Reihe populärer Veröff.en, vor allem zur Volksdichtung9, zusammen. Dazu gehören die Anthologie Aus dem Lande Fritz Reuters. Humor in Sprache und Volkstum Mecklenburgs (Lpz. 1910), die u. a. eine ausführliche Plauderei über seine Sammelerlebnisse und zahlreiche Schwänke enthält, sowie eine Anzahl kleiner Hefte, die Reime10, Sprichwörter11, Schwänke12 und Zwergensagen13 bieten. Auch seine große Edition Kinderreime (Rostock 1931) verzichtet weithin auf den wiss. Apparat der früheren Bände. W.s Interesse galt zunehmend der Sage (über 30000 Sagenaufzeichnungen und eine Reihe belegreicher Aufsätze14), mit der er sich auch theoretisch auseinandersetzte15. Sein Plan einer umfassenden Sagenausgabe, die er neben der Arbeit für das Mecklenburg. Wb.16 und einer Reihe anderer Publ.en17 zu realisieren versuchte, kam über die Ausg. Mecklenburg. Sagen 1⫺2 (Rostock 1939) nicht hinaus. Doch entstanden aus W.s Nachlaß in der W.-Forschungsstelle18 (ergänzt um neue Aufzeichnungen) weitere Publikationen. G. J Henßen, G. Burde-Schneidewind und S. J Neumann publizierten repräsentative wiss. Editionen und Unters.en mecklenburg. Märchen19, Sagen20, Schwänke21, Legenden22, Sagte-Sprichwörter (Wellerismen)23 etc. W. zeichnete auch unzählige, bisher unveröff. Alltagserzählungen auf, in denen seine Erzähler ihre Lebenswelt schilderten. Sein Vortrag von 1905 über seine Sammeltätigkeit von Volksüberlieferungen (die primär mündl. Volksüberlieferungen galt, aber sich auch auf Zeugnisse materieller Volkskultur erstreckte)24 „wurde für die nächsten 30 Jahre zum Credo volkskundlicher Feldforschung“25. W. gilt vor allem als begnadeter Sammler, doch er verstand es, seine Sammeltätigkeit, die er durch sein Engagement in der Heimatbewegung26 und wiederholte Vorträge im Rundfunk27 zu einer öffentlichen Angelegenheit im Lande machte, mit innovativer wiss. Kompetenz zu verbinden.
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Woten
1 Gratopp, K.: R. W., Wesen und Werk. Neumünster 1935; Teuchert, H.: Zum Gedächtnis R. W.s. In: Ndd. Zs. für Vk. 17 (1939) 231⫺236; Beckmann, P.: Das Lebenswerk R. W.s. In: ZfVk. 56 (1960) 1⫺10; Bentzien, U.: R. W. Verz. seiner Schr. In: DJbfVk. 5 (1959) 153⫺163; W., R.: Geschichten, Riemels un Lüüd’snack. ed. U. Bentzien. Rostock 1973, 281⫺ 301 (Nachwort); Neumann, S.: R. W. und das W.Archiv in Rostock. Von der volkskundlichen Slg des Privatgelehrten zum Inst. für Vk. in MecklenburgVorpommern. Rostock 1994, 9⫺28; Schmitt, C.: Leben, Werk, Wirkung. R. W., ein einzigartiger Sammler. In: Das große W.-Lesebuch. ed. S. Lambrecht/ G. Richardt/C. Schmitt. Rostock 2009, 249⫺267; Göttsch-Elten, S.: R. W. ⫺ ein Pionier der wiss. Vk. In: Kieler Bll. zur Vk. 41 (2009) 9⫺20. ⫺ 2 Rothe, C.: R. W. als Lehrer am Städtischen Gymnasium in Waren. In: Stier und Greif. Bll. zur Kultur- und Landesgeschichte in Mecklenburg-Vorpommern 14 (2004) 120⫺129. ⫺ 3 Göttsch-Elten (wie not. 1) 12. ⫺ 4 Gratopp (wie not. 1) 26⫺38; Pöge-Alder, K.: R. W. im Umgang mit seinen Erzählern. Das Beispiel Nehls. In: Homo narrans. Studien zur populären Erzählkultur. Festschr. S. Neumann. Münster u. a. 1999, 325⫺344. ⫺ 5 Schmitt, C.: Zum Beiträgerkreis R. W.s. In: Stier und Greif. Bll. zur Kultur- und Landesgeschichte in Mecklenburg-Vorpommern 15 (2005) 78⫺81. ⫺ 6 id.: WossiDiA ⫺ Das digitale Wossidlo-Archiv. ibid. 21 (2011) 104⫺107. ⫺ 7 cf. z. B. W., R.: Der typische Gebrauch der Vornamen im meklenburg. Platt. In: Korrespondenzbl. des Vereins für ndd. Sprachforschung 9 (1884) 81⫺88; id.: Gott und Teufel im Munde des mecklenburg. Volkes. ibid. 15 (1891) 18⫺32, 44⫺48; id.: Der Tod im Munde des mecklenburg. Volkes. In: ZfVk. 4 (1894) 184⫺195; id.: Das Naturleben im Munde des mecklenburger Volkes. ibid. 5 (1895) 302⫺325, 424⫺ 448. ⫺ 8 id.: Ein Winterabend in einem mecklenburg. Bauernhause. Wismar 1901 (41937). ⫺ 9 Neumann, S.: R. W. und die mecklenburg. Volksdichtung. In: Kikut. Plattdütsch gistern un hüt 5 (1980) 3⫺17. ⫺ 10 W., R.: Rimels. Wolgast 1924. ⫺ 11 id.: Von allerhand Slag Lüd’. Wolgast 1924; id.: Œwer den Humor in de meckelbörger Volkssprak. Wolgast 1924. ⫺ 12 id.: Lustig Vertellers. Wolgast 1924. ⫺ 13 id.: Von de lütten Ünnerierdschen. Rostock 1925. ⫺ 14 id.: Volkssagen über Rethra. In: Korrespondenzbl. des Gesamtvereins der dt. Geschichts- und Altertumsvereine 57 (1909) 225⫺246; id.: Sagen aus Waren und seiner Umgebung. In: Ill. Führer durch Waren. Waren 1912, 65⫺95; id.: Glokkensagen und Glockenglaube aus Mecklenburg. In: Mecklenburg 13 (1918) 15⫺28; id.: Die Petermännchen-Sage und der Martensmann-Brauch. In: Die Slgen und die Prunkräume des Schloßmuseums [in Schwerin]. ed. W. Josephi. Schwerin 31925, 38⫺44; id.: Einige Bemerkungen zu der Sagenwelt der Bützower Gegend. In: Das Realgymnasium zu Bützow von 1860⫺1935. Bützow 1935, 24⫺32. ⫺ 15 id.: Über die Erforschung der Rethrasagen. In: Mittlgen des Verbandes dt. Vereine für Vk. 8 (1908) 21⫺30; id.:
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Zur mecklenburg. Sagenforschung. In: Mecklenburg. Landes-Univ.sgesellschaft 4 (1928) 5⫺13; id.: Glaubt das Volk noch an seine Sagen? In: Quickborn 22 (1928/29) 115⫺122. ⫺ 16 id./Teuchert, H.: Mecklenburg. Wb. 1⫺7. Neumünster 1942⫺92. ⫺ 17 cf. z. B. W., R.: Alt-mecklenburg. Sitten und Bräuche. In: Mecklenburg. Ein Heimatbuch. ed. O. Schmidt. Wismar 1925, 197⫺219; id.: Von Hochtieden. Wolgast 1924; id.: Buernhochtiet. Rostock 1926; id.: Erntebräuche in Mecklenburg. Hbg 1927; postum erschien W.s ,Seemannsbuch‘: Reise, Quartier, in Gottesnaam 1⫺2. ed. P. Beckmann. Rostock 1940/ 43. ⫺ 18 cf. Neumann (wie not. 1) 29⫺90. ⫺ 19 W., R./Henßen, G.: Mecklenburger erzählen. B. 1957; Neumann, S.: Mecklenburg. Volksmärchen. B. 1971. ⫺ 20 W., R./Schneidewind, G.: Herr und Knecht. Antifeudale Sagen aus Mecklenburg. B. 1960. ⫺ 21 W., R./Neumann, S.: Volksschwänke aus Mecklenburg. B. 1963; Neumann, S.: Der mecklenburg. Volksschwank. Sein sozialer Gehalt und seine soziale Funktion. B. 1964. ⫺ 22 id.: Plattdt. Legenden und Legendenschwänke. B. 1973. ⫺ 23 id.: Sprichwörtliches aus Mecklenburg. Göttingen 1996. ⫺ 24 W., R.: Über die Technik des Sammelns volkstümlicher Überlieferungen. In: ZfVk. 16 (1906) 1⫺24; cf. Wendt, R.: R. W. als Sammler materieller Volkskultur. In: Kikut 5 (1980) 27⫺38. ⫺ 25 Göttsch-Elten (wie not. 1) 15. ⫺ 26 Schmitt, C.: Die Heimatbewegung in Mecklenburg unter dem Aspekt der Generierung und Transformation volkskundlichen Wissens. In: Land ⫺ Stadt ⫺ Universität. Hist. Lebensräume von Ständen, Schichten und Personen. ed. E. Münch/M. Niemann/W. E. Wagner. Hbg 2010, 353⫺ 376. ⫺ 27 id.: Volkskundler im frühen Rundfunk. Zur Regionalisierung des Hörfunks im „Ndd. Sendebezirk“ (1924⫺1932). In: Leben ⫺ Erzählen. Beitr.e zur Erzähl- und Biographieforschung. Festschr. A. Lehmann. B./Hbg 2004, 429⫺460.
Rostock
Siegfried Neumann
Woten. Die W. (Eigenbezeichnung vad’d’alain) bilden die älteste bekannte Bevölkerung im westl. Ingermanland, heute Teil des Gebietes Leningrad in der Russ. Föderation. Ihre Sprache, das zum ostseefinn. Zweig der finn.ugr. Sprachfamilie gehörende schriftsprachenlose Wotische, können Anfang des 21. Jh.s nur noch wenige ältere Personen sprechen. Ethnogr. Entdecker der W. war der Narvaer Pfarrer F. L. Trefurt, der 1783 auch die älteste Sprachprobe, ein Lied, veröffentlichte1. Die Lieder, unter denen die von Frauen tradierten Hochzeitslieder ⫺ daneben auch Hochzeitsklagen ⫺ den bedeutendsten und eigenständigsten Teil ausmachen, standen in der Folge-
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Wotjaken
zeit im Mittelpunkt des Interesses2. Prosafolklore und damit auch Märchen (wot. kaaska) wurden zwar seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s vor allem von Finnen und Esten aufgezeichnet und in verschiedene Folkloregenres umfassenden Slgen publiziert3, eine systematische Sammeltätigkeit erfolgte jedoch erst, als die Verwendung des Wotischen bereits stark im Rückgang begriffen und die mündl. Überlieferung am Erlöschen war. Die umfangreichste Sammel- und Forschungstätigkeit hat der Este P. Ariste geleistet, von dem zahlreiche Publ.en zu einzelnen Genres vorliegen4. Wot. Sprichwörter sind durch V. Mälk monogr. behandelt worden5. Die veröffentlichten wot. Märchen sind größtenteils im Typenverzeichnis der Märchen der finno-ugr. Völker nach AaTh klassifiziert6. Am häufigsten in den Publ.en belegt sind AaTh/ATU 1: J Fischdiebstahl, AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer, AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen, AaTh/ATU 1199 A: J Qual des Brotes (Flachses) sowie AaTh/ATU 2022 B: J Tod des Hühnchens. Die wot. Märchenüberlieferung weist Gemeinsamkeiten mit der russ. auf, doch gibt es auch solche mit den sprachverwandten und benachbarten Ingriern (Izˇoren), Esten und Finnen. Unter den Sagen dominieren die dämonologischen. Lebendig geblieben waren zum Zeitpunkt der Aufnahme bes. Erzählungen von Zauberern und Heilern, z. T. als Memorate7, und Sagen von Haus- und anderen Gebäudegeistern (z. B. Darrengeistern)8, von Waldund Wassergeistern9 sowie von Toten10. Historisches ist vor allem vom Großen Nord. Krieg (1700⫺21) überliefert, doch nur wenig in Form von Erzählungen11. Alltagserzählungen weisen meist eine Nähe zum Schwank auf 12. 1
Trefurt, F. L.: Von den Tschuden. In: Gadebusch, F. K. (ed.): Versuche in der livländ. Geschichtskunde und Rechtsgelehrsamkeit 1,5. Riga 1783, 13. ⫺ 2 cf. Vatjalaiset runot (Wot. Lieder). ed. V. Salminen. Hels. 1928; Schiefner, A.: Die Lieder der W. In: Me´langes russes 3. SPb. 1856, 207⫺235; Salminen, V.: Tutkimus vatjalaisten runojen alkuperästä (Unters. zum Ursprung der wot. Lieder). Hels. 1929; NenolaKallio, A.: Studies in Ingrian Laments (FFC 234). Hels. 1982; Nenola, A.: Inkerin itkuvirret/Ingrian Laments. Hels. 2002. ⫺ 3 Kettunen, L./Posti, L.: Näytteitä vatjan kielestä (Proben der wot. Sprache). Hels. 1932; Mägiste, J.: Woten erzählen. Wot. Sprachproben. Hels. 1959; E. N. Setälän vatjalais-
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muistiinpanot (Die wot. Aufzeichnungen von E. N. Setälä). ed. L. Posti/S. Suhonen. Hels. 1964; cf. allg. Bartens, H.-H.: Wot. Folklore. Wiesbaden 2012. ⫺ 4 Ariste, P.: Wot. Sprachproben. In: Spetatud eesti seltsi aastaraamat. Tartu 1935, 1⫺85; id.: Vadja keelenäiteid (Wot. Sprachproben). Tartu 1941; id.: Vadjalaste laule (Lieder der Woten). Tallinn 1960; id.: Vadja muinasjutte (Wot. Märchen). Tallinn 1962; id.: Vadja muinasjutte ja muistendeid (Wot. Märchen und Sagen). In: Töid eesti filoloogia alalt 4. Tartu 1974, 3⫺34; id.: Vadjalane kätkist kalmuni (Der Wote von der Wiege bis zum Grab). Tallinn 1974; id.: Vadja muistendeid (Wot. Sagen). Tallinn 1977; id.: Vadja mo˜istatusi (Wot. Rätsel). Tallinn 1979; id.: Vadja pajatusi (Wot. Alltagserzählungen). Tallinn 1982; id.: Vadja rahvalaulud ja nende keel (Wot. Volkslieder und ihre Sprache). Tallinn 1986; cf. id.: Predanija i skazki vodskogo naroda/Vad’d’aa rahvaa jutud ja kaazgad (Sagen und Märchen des wot. Volkes). ed. O. I. Kon’kova. SPb. 2009; Kippar, P.: Vadja muinasjutu viimane aastasada (Das letzte Jh. des wot. Märchens). In: Emakeele seltsi aastaraamat 30 (1984) 136⫺143. ⫺ 5 Mälk, V.: Vadja vanaso˜nad eesti, soome, karjala ja vene vastetega (Wot. Sprichwörter mit estn., finn., karel. und russ. Entsprechungen). Tallinn 1976 (dt. Einführung 40⫺ 59); cf. Proverbia Septentrionalia. ed. M. Kuusi (FFC 236). Hels. 1985. ⫺ 6 Kecskeme´ti/Paunonen; zum in Estland archivierten unpublizierten Märchenmaterial cf. Kippar (wie not. 4) 142. ⫺ 7 Ariste 1977 (wie not. 4) 60⫺102. ⫺ 8 ibid., 126⫺139. ⫺ 9 ibid., 140⫺151. ⫺ 10 ibid., 116⫺125. ⫺ 11 ibid., 17⫺29. ⫺ 12 Ariste 1982 (wie not. 4).
Göttingen
Hans-Hermann Bartens
Wotjaken. Die zur finn.-ugr. Sprachfamilie gehörenden W. (Eigenbezeichnung Udmurten) leben in Mittelrußland zwischen der Vjatka und der Kama, zwei Nebenflüssen der Wolga. Zwei Drittel der 746000 W. (1989) leben in der zur Russ. Föderation gehörenden Republik Udmurtien, die restlichen infolge der Migrationsbewegungen seit Ende des 16. Jh.s und aufgrund von Umsiedlungen in den angrenzenden Republiken Tatarstan und Baschkortostan sowie in den Gebieten Perm und Kirov. Die auf Ahnenverehrung beruhende Religion der W. lebt stellenweise bis heute fort. Die Gemeinschaft gliederte sich in Sippen mit einem gemeinsamen Schutzgeist, dessen Namen sie trugen. Bes. in den nördl. Gebieten Udmurtiens wurde seit dem 17. Jh. das orthodoxe Christentum verbreitet. Texte aus der wotjak. Volksüberlieferung wurden in den 1880er Jahren hauptsächlich in
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Wotjaken
russ. Sprache veröffentlicht1. Die volkskundliche Monogr. von B. Gavrilov enthält 19 Prosatexte, zum größten Teil auf Wotjakisch mit russ. Übers.en; die meisten dieser Texte wurden später in Finnland in dt. Übers. publiziert2. Der halbwotjak. Wissenschaftler und Schriftsteller Grigorij E. Veresˇcˇagin (1851⫺ 1930) veröffentlichte im Lauf von 30 Jahren eine große Anzahl von Texten aus verschiedenen Gattungen der Volksüberlieferung, z. T. auch auf Wotjakisch3. Seit den 1880er Jahren unternahmen finn. und ung. Finnougristen Feldforschungen bei den in Rußland lebenden finn.-ugr. Völkern; bei den W. sammelten Y. Wichmann und B. Munka´csi unterschiedliche Folkloretexte, die in der Orig.sprache mit dt. Übers.en publiziert wurden4. Während der Sowjetherrschaft erschienen einige Märchen und andere Texte enthaltende Slgen, ein Teil davon ganz in wotjak. Sprache5. I. J Levin hat bereits in den 1960er Jahren auf das rund 1000 hs. aufgezeichnete Märchen und Sagen umfassende Archiv am Udmurtskij naucˇno-issledovatel’skij institut istorii, jazyka i literatury (Udmurt. wiss. Forschungsinstituts für Geschichte, Sprache und Lit.) in Izˇevsk aufmerksam gemacht6. Die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh.s erschienenen Dialektsammlungen publizieren Märchen und Texte anderer Gattungen aus neuerer Sammelarbeit7. Die Slgen enthalten zahlreiche mit übernatürlichen Wesen verbundene Glaubens- und Ursprungssagen. Die beliebtesten Gestalten der Glaubenssagen, Wassergeist und Waldgeist, sind auch in den Märchen vertreten, wo sie die Rolle des (dummen) Teufels übernehmen, z. B. in wotjak. Var.n von AaTh/ATU 1030: J Ernteteilung, AaTh/ATU 1045: cf. Das große J Seil, AaTh/ATU 1071: cf. J Wettstreit mit dem Unhold, AaTh/ATU 1072: J Wettlauf der Tiere oder AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil. Ortssagen sind in der Volksüberlieferung immer noch weit verbreitet. Die mythol. Sagen schildern den Ursprung der Erde und des Menschen. Die zwischen mythol. und hist. Sage angesiedelten Erzählungen von den alten Helden der W. bilden regional voneinander abweichende Gruppen8. Die wotjak. Märchen erinnern in ihrer lakonischen Art an die entsprechenden Texte ihrer westl. Nachbarn und Sprachverwandten, der
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J Tscheremissen. Die häufigsten Handlungsträger in den Tiermärchen sind Fuchs, Wolf, Bär, Hase, Katze, Hahn und Hund. Typische Erzählungen sind AaTh/ATU 1: J Fischdiebstahl, AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer, AaTh/ ATU 4: cf. J Kranker trägt den Gesunden oder AaTh/ATU 103: cf. J Krieg der Tiere. Vom Bären und der Jagd auf ihn handeln auch viele den Glaubenssagen ähnliche Erzählungen, in denen der Bär gewissermaßen als ein die Sprache der Menschen verstehender Waldgeist auftritt. Umfangreiche, komplexe Zaubermärchen gibt es in der wotjak. Überlieferung nicht; allerdings bestehen zahlreiche Motivparallelen zu internat. verbreiteten Zaubermärchen, so etwa zu AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter, AaTh/ATU 311: cf. J Mädchenmörder, AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen oder AaTh/ATU 406: The Cannibal. Als Gegenspieler können der ursprünglich zu den Sagengestalten der W. zählende vampirartige ubyr oder paarweise gehende Menschenhälften (cf. J Halbwesen) auftreten. Zaubermärchen gelten als vornehmlich von den Russen entlehntes Genre9. Wie die anderen Völker der Wolgaregion kennen die W. eine Vielzahl kurzer Schwankmärchen, deren Spott sich gegen die als gierig und dumm dargestellten Herren (Popen, Bojaren, Kaufleute) richtet, die von einem Knecht oder einem anderen Protagonisten mit niedrigem gesellschaftlichen Status betrogen werden (cf. J Sozialkritik). Hierzu gehören etwa Var.n von AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend, AaTh/ATU 1725: cf. J Ehebruch belauscht oder AaTh/ATU 1737: J Pfarrer im Sack. Unter den wotjak. Volksliedern überwiegen heute die lyrischen, die häufig nur aus vier Strophen bestehen; sie können überall gesungen werden, bei Feiern ebenso wie an Wendepunkten des menschlichen Lebens oder ohne konkreten Anlaß. Bei den Liedern ist der Einfluß der benachbarten Turkvölker deutlich zu erkennen. Eine ältere Schicht vertreten die in Ich-Form vorgetragenen erzählenden Lieder10. Auch Klagelieder11, Rätsel, Sprichwörter und Wahrsagesprüche12 sowie Beschwörungen und Zaubersprüche13 wurden bei den W. aufgezeichnet. Über die Existenz einer frühen epischen Dichtung bei den W. wird in der Forschung
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Wotjaken
kontrovers debattiert. Angeregt durch Kuzebaj Gerd (1898⫺1937), den Nationalschriftsteller der W.14, verfaßte der russ. Ethnograph und Archäologe M. Chudjakov (1894⫺1936) 1922 auf der Grundlage wotjak. Sagen ein 3000 Strophen umfassendes russ.sprachiges Epos (veröff. 1986)15; eine durch den wotjak. Lit.wissenschaftler und Schriftsteller Vasilij Vanjusˇev angefertigte wotjak. Übers. erschien 2000 u. d. T. Dorvyzˇy (Die Wurzeln der Heimat)16. 1
Levin, I.: Die Volkserzählungen der W. (Udmurten). In: Fabula 5 (1962) 101⫺155; Gavrilov, B.: Proizvedenija narodnoj slovesnosti, obrjady i pover’ja votjakov Kazanskoj i Vjatskoj gubernij (Werke der Volksdichtung, Bräuche und Volksglauben der W. in den Gouvernements Kasan und Vjatka). Kasan 1880; Potanin, G. N.: U votjakov Elabuzˇskogo uezda (Bei den W. des Kreises Jelabuga). In: Izvestija Obsˇcˇestva Archeologii, Istorii i E˙tnografii pri Imperatorskom Kazanskom Universitete 3⫺4 (1884) 189⫺255; Pervuchin, N. G.: E˙skizy predanij i byta inorodcev Glazovskogo uezda (Skizzen der Überlieferungen und des Lebens der Fremdstämmigen des Kreises Glazov) 1⫺5. Vjatka 1888/88/88/89/90. ⫺ 2 Gavrilov (wie not. 1); Buch, M.: Die Wotjäken, eine ethnol. Studie. In: Acta Societatis Scientiarum Fennicae 12 (1883) 465⫺652. ⫺ 3 Veresˇcˇagin, G. E.: Sobranie socˇinenij (G. W. ). 1: Votjaki Sosnovskogo kraja (Die W. des Gebiets von Sosnovka). Izˇevsk 1995; 2: Votjaki Sarapul’skogo uezda (Die W. des Kreises Sarapul). Izˇevsk 1996; id.: Ostatki jazycˇestva u votjakov (Die Reste des Heidentums bei den W. ). Vjatka 1895; id.: Obrazcy proizvedenij ustnoj slovesnosti votjakov (Beispiele von Werken der mündl. Volksdichtung der W. ). In: Kalendar’ Vjatskoj gubernii na 1897 god (1896) 3⫺44; id.: Votjaki i ich proizvedenija ustnoj slovesnosti (Die W. und die Werke ihrer mündl. Volksdichtung). In: Pamjatnaja knizˇka Vjatskoj gubernii i kalendar’ na 1911 god (1910) 42⫺57; id.: Staryje obycˇai i verovanija votjakov (Alte Sitten und Glaubensvorstellungen der W. ). In: E˙tnograficˇeskoe obozrenie 83 (1910) 37⫺ 78; id.: K e˙tnografii votjakov Prikamskogo kraja (Zur Ethnographie der W. des Kamagebiets) 1⫺3. In: Izvestija Sarapul’skogo Zemskogo Muzeja 2 (1912) 13⫺36; 3 (1913) 1⫺33; 4 (1914) 107⫺156. ⫺ 4 Munka´csi, B.: Votja´k ne´pkölte´szeti hagyoma´nyok (Wotjak. Volksdichtungsüberlieferungen). Bud. 1887; id.: Volksbräuche und Volksdichtung der W. Hels. 1952; Wichmann, Y.: Wotjak. Sprachproben 1⫺2. In: JSFO 11,1 (1893) 1⫺199; 19,1 (1901) 1⫺ 200; id.: Wotjak. Chrestomathie mit Glossar. Hels. 1901. ⫺ 5 Pesni i skazki udmurtskogo naroda (Lieder und Märchen des udmurt. Volks). ed. Ja. Akmina u. a. Kirov 1936; Klabukov, A./Perevozcˇikov, M. A.: Udmurt kalyk skazkaos (Udmurt. Volksmärchen). Izˇevsk 1940; Zolotye gusli (Die goldene
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Gusli). Izˇevsk 1940; Zapiski Udmurtskogo naucˇnoissledovatel’skogo instituta istorii, jazyka i literatury pri SNK Udmurtskoj ASSR (Aufzeichnungen des Udmurt. wiss. Forschungsinst.s für Geschichte, Sprache und Lit. beim Rat der Volkskommissare der Udmurt. autonomen sozialistischen Sowjetrepublik) 9⫺10. Izˇevsk 1941/41; Klabukov, A.: Udmurtskie narodnye skazki (Udmurt. Volksmärchen). Izˇevsk 1948; id./Kralina, N.: Udmurt kalyk vyzˇykyljos (Udmurt. Volksmärchen). Izˇevsk 1954; Kralina, N.: Sto skazok udmurtskogo naroda (100 Märchen des udmurt. Volks). Izˇevsk 1960. ⫺ 6 Levin (wie not. 1). ⫺ 7 Atamanov-E˙grapi, M. G.: Pesni i skazy usˇedsˇich e˙poch (Lieder und Erzählungen vergangener Zeiten). Izˇevsk 2005; Kel’makov, V. K.: Obrazcy udmurtskoj recˇi (Udmurt. Sprachproben) 1⫺2. Izˇevsk 1981/90; id./Saarinen, S.: Udmurtin murteet (Die udmurt. Dialekte). Turku/Izˇevsk 1994. ⫺ 8 Levin (wie not. 1); Udmurty ⫺ istoriko-e˙tnograficˇeskie ocˇerki (Die Udmurten ⫺ hist.-ethnogr. Betrachtungen). Izˇevsk 1993, 270⫺276. ⫺ 9 Jasˇin, D. A.: Udmurtskaja narodnaja skazka (Das udmurt. Volksmärchen). Izˇevsk 1965; id.: Udmurt fol’klor (Die udmurt. Folklore). Izˇevsk 1976; Levin (wie not. 1); Udmurty (wie not. 8). ⫺ 10 Munka´csi 1887 (wie not. 4) 243, 285⫺ 287; Perevozcˇikova, T.: Svadebnaja pesnja kak osnova vossozdanija poe˙ticˇeskich form e˙posa permskich narodov (Hochzeitslieder als Grundlage der Wiederschöpfung der poetischen Formen des Epos bei den perm. Völkern). In: Problemy e˙picˇeskoj tradicii udmurtskogo fol’klora i literatury. Ustinov 1986, 22. ⫺ 11 Lach, R.: Gesänge russ. Kriegsgefangener. 1,1: Wotjak., syrjän. und permiak. Gesänge. Wien/Lpz. 1926; Travina, I. K.: Udmurtskie narodnye pesni (Udmurt. Volkslieder). Izˇevsk 1964; Udmurty (wie not. 8) 270⫺273; Vika´r, L./Bereczki, G.: Votyak Folksongs. Bud. 1989; Vladykina, T. G.: Udmurtskij fol’klor. Problemy zˇanrovoj e˙voljucii i sistematiki (Die udmurt. Folklore. Probleme der Entwicklung und Systematik der Genres). Izˇevsk 1998. ⫺ 12 Udmurtskij fol’klor. Zagadki (Udmurt. Folklore. Rätsel). ed. T. G. Perevozcˇikova. Izˇevsk 1982; Udmurtskij fol’klor. Poslovicy, aforizmy, pogovorki (Udmurt. Folklore. Sprichwörter, Aphorismen, Redensarten). ed. ead. Izˇevsk 1987; Vladykina (wie not. 11) 240⫺305. ⫺ 13 ibid., 62⫺82. ⫺ 14 Toulouze, E.: Kuzebaj Gerd et la litte´rature oudmourte. In: E´tudes finno-ougriennes 28 (1996) 5⫺28. ⫺ 15 Chudjakov, M. G.: Pesn’ ob udmurtskich batyrjach (Ein Lied über udmurt. Helden). In: Problemy e˙picˇeskoj tradicii udmurtskogo fol’klora i literatury. Izˇevsk 1986, 97⫺135. ⫺ 16 id.: Dorvyzˇy. Udmurtskij geroicˇeskij e˙pos (Dorvyzˇy. Das wotjak. Heldenepos). Übers. V. M. Vanjusˇev. Izˇevsk 2008; cf. Jasˇin, D. A.: Vzgljadi ucˇenych na udmurtskij e˙pos (Die Auffassungen der Forscher vom udmurt. Epos). In: Voprosy svoeobrazija zˇanrov udmurtskoj literatury i fol’klora. Izˇevsk 1983, 3⫺25; id.: Opyt sozdanija udmurtskogo e˙posa (Das Experiment der Schaffung ei-
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Wright, Thomas
nes udmurt. Epos). In: Domokos, P. (ed.): Istorija udmurtskoj literatury. Izˇevsk 1993, 82⫺96.
Turku
Sirkka Saarinen
Wright, Thomas, *Tenbury, Worcestershire 23. 4. 1810, † Chelsea 23. 12. 1877, engl. Historiker und Altertumsforscher1. W. studierte 1830⫺37 am Trinity College in Cambridge, wo ihn J. M. Kemble, der erste engl. Herausgeber des J Beowulf, mit dem Altenglischen bekannt machte. Danach lebte er als Privatgelehrter in London. Er war Mitglied zahlreicher hist. und literar. Ges.en, so der Camden Soc., der Percy Soc., der Historical Soc. of Science, der Ethnological Soc. und der Soc. of Antiquaries. Archäologie und MA.forschung waren, wie für die Altertumsforscher des 19. Jh.s üblich, die beiden Arbeitsgebiete von W.2 Die Breite seiner Interessen bringt der Titel seiner zweibändigen Aufsatzsammlung Essays on Subjects Connected with the Literature, Popular Superstitions, and History of England in the Middle Ages (L. 1846) zum Ausdruck. Darin finden sich Aufsätze zu den Chansons de geste, zu Sprichwörtern und Maximen, zu J. J Grimms Dt. Mythologie ⫺ die W. als ,eines der bewundernswürdigsten Bücher, das uns Deutschland je gesandt hat‘, charakterisierte3 ⫺, zur Feenmythologie Englands (J Fairy), zum Aberglauben im modernen Griechenland, zu den Robin Hood-Balladen (J Räuber, Räubergestalten), zu verschiedenen Erzählungen des ma. England, zur Geschichte und Überlieferung volkstümlicher Erzählungen sowie zur Vermittlung oriental. Erzählguts durch die J Gesta Romanorum. Für die Erzählforschung sind unter W.s Schr. bes. seine zahlreichen Ausg.n von ma. (z. T. auch frühneuengl.) populären Werken von Interesse. Dazu zählen Editionen von anonym überlieferten ma. Liedern und Carols in engl., aber auch in frz. und lat. Sprache4. Zusammen mit J. O. J Halliwell gab er eine Slg ma. engl., lat. und frz. Texte heraus5. An einschlägigen ma. Werken veröffentlichte er Walter J Maps Geschichtensammlung De nugis curialium6 und lat. Erzählungen aus dem 13./ 14. Jh.7 Darüber hinaus gab W. eine Slg ma. populärwiss. Texte8 sowie den Ber. über einen
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Hexenprozeß in Irland aus dem 14. Jh. heraus9. Er veröffentlichte eine mittelengl. Versversion der J Sieben weisen Meister10, die Brandan-Legende in Vers und Prosa (J Brandans Seefahrt)11 sowie Verserzählungen aus dem 15. Jh., darunter eine frühe Fassung von AaTh 571 A/ATU 571 B: J Liebhaber bloßgestellt12. In frz. Sprache publizierte er die J Cent Nouvelles nouvelles13. Aus dem 16. Jh. stammt eine von W. veröff. Schwanksammlung14 und aus der Neuzeit die von T. Crofton Croker gesammelten und von W. herausgegebenen ir. Sagen über Feen und Feenwesen15. W. war kein Theoretiker, sondern in erster Linie Sammler, Editor und Popularisator. Obwohl der Großteil seines Werks als methodisch überholt angesehen werden muß, bieten seine Ausg.n weiterhin wichtiges (und oft das einzig zugängliche) Qu.nmaterial. 1 Dorson, R. M.: The British Folklorists. L. 1968, 61⫺66; Thompson, M. W.: W., T. (1810⫺1877). In: Ox. Dict. of National Biogr. 60. Ox. 2004, 497⫺500; Briggs, K.: A Dict. of Fairies, Hobgoblins, Brownies, Bogies and Other Supernatural Creatures. L. 1976, 445. ⫺ 2 W., T.: History of Domestic Manners and Sentiments in England during the Middle Ages. L. 1862. ⫺ 3 id.: Essays on Subjects Connected with the Literature, Popular Superstitions, and History of England in the Middle Ages 1⫺2. L. 1846, hier t. 1, 237. ⫺ 4 cf. bes. id.: Songs and Carols, now First Printed, from a Ms. of the Fifteenth Century. L. 1847; id.: Songs and Carols from a Ms. in the British Museum from the Fifteenth Century. L. 1856. ⫺ 5 id./Halliwell, J. O.: Reliquiæ antiquæ. Scraps from Ancient Mss. […]. L. 1841. ⫺ 6 W., T.: Gualteri Mapes De nugis curialium distinctiones quinque. L. 1850. ⫺ 7 id.: Selection of Latin Stories, from Mss. of the Thirteenth and Fourteenth Centuries. A Contribution to the History of Fiction during the Middle Ages. L. 1842. ⫺ 8 id.: Popular Treatises on Science Written during the Middle Ages, in Anglo-Saxon, Anglo-Norman, and English. L. 1841. ⫺ 9 id.: A Contemporary Narrative of the Proceedings against Dame Alice Kyteler, Prosecuted for Sorcery in 1324, by Richard de Ledrede, Bishop of Ossory. L. 1843; cf. id. (ed.): Dialogue Concerning Witches and Witchcrafts by George Gifford. L. 1842; id. (ed.): Narratives of Sorcery and Magic. L. 1851. ⫺ 10 id.: Seven Sages, in English Verse. L. 1845. ⫺ 11 id.: St. Brandan. A Medieval Legend of the Sea. L. 1844. ⫺ 12 id.: Tales of the Basyn and the Frere and the Boy. Two Early Tales of Magic. L. 1836. ⫺ 13 id.: Cent Nouvelles nouvelles. L. 1857. ⫺ 14 id.: Jack of Dover, His Quest of Inquirie, or His Privy Search for the Veriest Foole in England. A Collection of Merry Tales Published at the Beginning of
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the Sixteenth Century. L. 1842. ⫺ 15 Crofton Croker, T.: Fairy Legends and Traditions of the South of Irland […]. ed. T. W. L. 1862.
Bonn
Karl Reichl
Wucherer. Nach gängiger Rechtsauffassung ist Wucher ein Rechtsgeschäft, bei dem zwischen Leistung und Gegenleistung ein deutliches Mißverhältnis besteht und bei dem die mißliche Lage oder die Unkenntnis des einen Geschäftspartners vom anderen ausgenutzt wird; Wucher kann unter Strafe gestellt werden1. Für traditionelle Erzählungen ist die hist. Dimension von Wucher wesentlich: Kreditwirtschaft und die Entstehung von Geld in der Antike werden grundsätzlich in einen Zusammenhang gebracht2. Im christl. MA. wurden aufgrund der agrarischen Subsistenzwirtschaft Darlehen nur in ökonomischen Notsituationen (Mißernte, Krieg) aufgenommen. Geldgeschäfte bestanden bes. im Zusammenhang mit dem Fernhandel in islam. Gebiete und wurden vor allem von J Juden betrieben. Diesen waren andere Erwerbsmöglichkeiten nur begrenzt zugänglich, zudem war ihnen nach alttestamentlicher Überlieferung das Erheben von Zinsen zumindest von Nichtjuden gestattet (Dtn. 23,19), das ansonsten als Wucher und damit als J Sünde aufgefaßt wurde (Ex. 22,24): Unter Bezug auf die bibl. Verurteilung der Ausbeutung von Armen und die „antiknaturrechtl[iche] Ablehnung der Geldkapitalverzinsung als Vortäuschung, das zur Vermittlung des Tauschs dienende Geld trage widernatürl[ich] selbst Früchte“3, erließen die Kirchenväter ein Zinsverbot; von protestant. Seite wurde der Wucher weiterhin bekämpft4. Auch in anderen Religionen, z. B. im Islam, wird das Erheben von Zinsen als Sünde aufgefaßt und ist daher untersagt5. Bes. seit Mitte des 11. Jh.s und im Zusammenhang mit den Kreuzzügen waren die europ. Juden Anfeindungen durch die christl. Bevölkerung ausgesetzt. Zwar wurden jüd. Kredite zeitweise privilegiert, doch entstand auch die Vorstellung vom parasitären Juden, die in zahlreichen Gebieten Europas zu Vertreibung der Juden führte ⫺ an ihrer Stelle übernahmen dann Geldverleiher anderer Her-
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kunft die Funktion von Kreditgebern. Das Zinsverbot wurde auch von Klerikern selbst umgangen, der ebenfalls bekämpfte Preiswucher vielfach durch betrügerische Praktiken unterlaufen6. Doch wurden vor allem die Juden aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stellung in der Folge stereotyp mit J Geiz und Geldgier assoziiert (J Stereotypen, ethnische; J Vorurteil; J Diskriminierung). Entsprechende Vorstellungen finden sich in Westeuropa in allen kulturellen Bereichen. U. a. griff J Shakespeare in The Merchant of Venice (1600) mit dem unbarmherzigen jüd. Geldverleiher Shylock auf dieses Stereotyp zurück: Bei Shakespeare verlangt der Geldverleiher bei Nichteinlösung der Schuld ein Stück Fleisch vom Körper seines Schuldners (AaTh/ATU 890: J Fleischpfand). In traditionellen Erzählungen der europ. Überlieferung begegnet die Figur des W.s bes. in Exempla, Legenden, Sagen und Sprichwörtern. Sie ist durchgehend negativ dargestellt (als Halsabschneider, Blutsauger, des Teufels bester Advokat)7; ist der W. ethnisch markiert, handelt es sich um einen Juden8. Da Preiswucher jede Art von Handel betreffen kann, überschneidet sich die Figur des W.s mit der des ebenfalls z. T. negativ konnotierten J Kaufmanns, so daß beide Figuren in Erzählungen teilweise austauschbar sind. Dabei ist die Figur des W.s in sich stereotyp wiederholende Muster aus der Thematik von J Schuldner und Gläubiger eingebunden: Der W. vollzieht eine betrügerische Handlung, oder diese wird ihm ganz allg. unterstellt bzw. es wird davon ausgegangen, daß sie seinen gesamten Lebenswandel betreffe. Vor allem in Legenden und Exempla wird der W. bestraft, seltener ⫺ wie in AaTh/ATU 890 ⫺ überlistet. Frühe Erwähnungen von W.n finden sich in antiken Erzählungen. Sie greifen mit deren Bestrafung (Apuleius, Metamorphosen 1,24 sq.) oder J Hartherzigkeit (Plinius, Naturalis historia 39,4: Herz eines W.s brennt nicht) Motive auf, die später in ma. und frühneuzeitlichen W.erzählungen aufscheinen9: So wird in einer Legende des hl. J Antonius von Padua vom fehlenden Herzen eines verstorbenen W.s erzählt (cf. Mot. W 153.1)10. Ferner kommen in derartigen Erzählungen soziale Unterschiede zum Tragen, die sich etwa darin zeigen, daß der W. kein Verständnis für Armut
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und Not hat. In einer AaTh/ATU 1446: Laßt sie J Kuchen essen! zu subsumierenden Erzählung meint die wucherische Edelfrau, die hungerleidenden Armen sollten sich doch einfach etwas auf dem Markt kaufen11. Bes. häufig geht es um die Folgen der unchristl. Tätigkeit des W.s, wobei dem als ausgesprochen frevelhaft geltenden Brot-12 oder Kornwucher13 ein bes. Stellenwert zukommt (J Frevel, Frevler). Die Folgen können in der konkreten Bestrafung des W.s bestehen (Mot. Q 273)14, wenn etwa wie in AaTh/ATU 1341 B: J Gott ist auferstanden das Geld des W.s gestohlen wird, oder in der Bedrohung seines Seelenheils: Dem W. wird ein ehrenhaftes Begräbnis verweigert (Mot. Q 273.2, X 511)15, oder er soll ein christl. Begräbnis nur erhalten, wenn jemand etwas Gutes über ihn sagen kann ⫺ dies geschieht, da der Barbier sagt, der Bart des W.s ließ sich gut schneiden16; der W. findet nach seinem Tod keine Ruhe (Mot. E 411.4); wird er doch in der Kirche beigesetzt, werden seine Gebeine über Nacht aus dem Grab geholt17; die Leiche eines W.s wird von Ochsen (Esel) zum Galgen gebracht, wo die Ehrlosen begraben werden (Mot. N 277; cf. J Gespannwunder)18; J Kröten füttern den toten W.19 Mitunter wird von W.n erzählt, die sich ihr Begräbnis in der Kirche erkaufen wollen (cf. Mot. X 513)20. Wer einem W. hilft, begibt sich in Gefahr: Der Abt, der dem W. gegen Bezahlung Absolution erteilt, kommt in die Gewalt des J Teufels21; der W. selbst wird ebenfalls vom Teufel geholt22, der für ihn den Höllentrunk bereithält (Mot. Q 273.3)23. In einigen Legenden finden sich Erlösungsszenarien, wenn etwa Maria die bösen Taten des W.s auf der J Seelenwaage mit einem Rosenkranz aufwiegt, den der W. täglich gebetet hatte (J Jüngstes Gericht)24, oder wenn im Kampf der Engel und Teufel um die Seele eines W.s die Engel siegen, da der W. seinen unrechtmäßig erworbenen Reichtum den von ihm Ausgenutzten zurückgeben wollte (AaTh/ATU 808: cf. J Teufel und Engel kämpfen um die Seele)25. In Sagen finden sich die genannten Motive wieder. Auch hier geht es vor allem um die Bestrafung des W.s26: Er kann nicht begraben werden27 oder muß nach seinem Tod umgehen28. In einer Sage aus Köln schleppt sich der
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W. nach seinem Tod mit einem bleiernen Mantel und bleiernen Schuhen ab (cf. J Abtragen der Schuhe)29. Zusammen mit anderen hartherzigen Menschen, aber auch mit Schuldnern, müssen W. nach ihrem Tod als Schweine weiterleben30. Der Geiz des W.s wird bereits im irdischen Leben bestraft: Weist der W. Bedürftige ab, wird sein Eigentum vernichtet31. Die in den literar. Quellen geschilderten Bestrafungen unbarmherziger Reicher, die z. T. mit konkreten J Hungersnöten in Verbindung gebracht werden32, stellen eine Form der J Sozialkritik dar, kanalisieren vor allem aber die Wut der Unterprivilegierten und Notleidenden angesichts eines eklatanten Mißverhältnisses der Besitzverteilung innerhalb der Gesellschaft. Da Finanzgeschäfte mit hohen Renditeerwartungen wiederholt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geraten, könnte sich hier ein spannendes Betätigungsfeld für künftige Erzählforscher auftun. z. B. Bürgerliches Gesetzbuch, Abs. 2, § 138. ⫺ Lüken-Klaßen, M.: Währungskonkurrenz und Protektion. Marburg 1993, 18; Heinsohn, G./Steiger, O.: Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswiss. Marburg 42009, 260. ⫺ 3 Gilomen, H.-J.: Wucher. In: Lex. des MA.s 9. Stg./Weimar 1999, 341⫺345, hier 341; cf. auch Le Goff, J.: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im MA. Stg. 1988. ⫺ 4 Luther, M.: An die Pfarrherrn Wider den Wucher zu predigen. Wittemberg 1540; Blankenberg, A. von: Von Junker Geitz vnd Wucherteuffel. Eisleben 1562. ⫺ 5 Schacht, J.: Riba¯. In: EI2 8 (1995) 491⫺493. ⫺ 6 Gilomen (wie not. 3) 342⫺344. ⫺ 7 cf. z. B. Wander 2, 284; ibid. 5, 440, 1023, 1503; Tubach, num. 5025⫺5064. ⫺ 8 cf. z. B. Wander 2, 1036, 1039, 1041; Tubach, num. 2808; Uziel, R.: Joking in Ethnic Stereotypes. The Jewish Turkish Usurer Case. In: Ben-Ami, I. (ed.): The Sephardi and Oriental Jewish Heritage. Jerusalem 1982, 551⫺562; Moser-Rath, Schwank, 255 sq.; cf. Mot., Reg. s. v. Usurer, Usurer’s, Usurers, Usury. ⫺ 9 cf. allg. auch Uther, H.-J.: Merkwürdige Lit. CD-ROM B. 2005, s. v. W. ⫺ 10 Tubach, num. 2499. ⫺ 11 Bütner, W.: Epitome historiarum. ed. G. Steinhart. Lpz. 1596, 301r. ⫺ 12 Schwarzbaum, Fox Fables, num. 16. ⫺ 13 Spamer, A.: Die dt. Vk. 2. Lpz./ B. 1935, 484; Moser-Rath, Schwank, num. 247. ⫺ 14 z. B. Rorarius, T.: Fünff vnd zwentzig Nothwendiger Predigten: Von der Grausamenn regierenden Thewrung. Ffm. 1572, fol. 90, 95⫺97; Kirchhof, Wendunmuth 3, num. 191⫺201; Vollmer, R.: Die Exempel im „Wunderspiegel“ des P. Benignus Kybler S. J. von 1678. Würzburg 1989, num. 550, 737; Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1 2
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1981, 501 sq. ⫺ 15 Eyring, E.: Proverbiorum copia 1. Eisleben [1600], 212 sq.; Kornmann, H.: De miraculis mortuorum. Ffm. 1610, fol. N 4r0; Sacchetti, F.: Le Novelle 1. ed. O. Gigli. Firenze 1860, num. 128. ⫺ 16 Tubach, num. 483. ⫺ 17 E´tienne de Bourbon, Tractatus de diversis materiis praedicabilibus, num. 419; cf. Tubach, num. 5031. ⫺ 18 Jacques de Vitry/Crane, num. 177; Pauli/Bolte, num. 197; Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 4. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1903, num. 292; Klapper, MA., num. 171; Tubach, num. 375. ⫺ 19 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 11, 39; Tubach, num. 4889, cf. num. 4882, 4890, 5032, 5045, 5048, 5056; Tubach und Dvorˇa´k, num. 4891. ⫺ 20 Tubach, num. 5031, cf. auch num. 2981. ⫺ 21 Tubach, num. 5047. ⫺ 22 Tubach, num. 5037. ⫺ 23 Tubach, num. 5027; Köhler/Bolte 1, 68. ⫺ 24 Kretzenbacher, L.: Die Seelenwaage […]. Klagenfurt 1958, 168 sq.; Molanus, J.: Historia ss. imaginum […]. Löwen 1771, 72. ⫺ 25 Tubach, num. 232. ⫺ 26 Fischer, H.: Erzählgut der Gegenwart. Köln 1978, num. 1410 (Siegraum). ⫺ 27 Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg 1977, num. 400. ⫺ 28 cf. z. B. Kühnau, R.: Schles. Sagen 1⫺4. Lpz. 1911⫺13, t. 1, 25 sq., 138, 142 sq.; t. 2, 451 sq.; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. ed. O. Mensing. Schleswig 1921, 183; Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1⫺2. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, t. 1, 213, 239, 260; t. 2, 368; Böck, E.: Sagen aus Niederbayern. Regensburg 1977, num. 224; cf. allg. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003, s. v. W.; id.: Europ. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2004, s. v. W. ⫺ 29 Zaunert, P.: Rheinland-Sagen 2. Jena 1924, 8⫺ 12. ⫺ 30 HDA 7 (1935/36) 1476. ⫺ 31 z. B. Grimm DS, num. 241; Kapf, R.: Schwäb. Sagen. Jena 1926, 113; Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 521, 522; Haiding, K.: Alpenländ. Sagenschatz. Wien/ Mü. 1977, num. 222; Todorovic´-Strähl, P./Lurati, O.: Märchen aus dem Tessin. Köln 1984, 148 sq.; Maissen, F.: Schuld und Sühne in der bündner.-surselv. Volkssage. In: SAVk. 86 (1990) 2⫺18, hier 7. ⫺ 32 EM 7, 870.
Göttingen
Doris Boden
Wunde. W.n, d. h. temporäre oder dauerhafte Verletzungen der physischen oder psychischen Unversehrtheit, sind zuvorderst eine Bedrohung bzw. zumindest eine Beeinträchtigung für Gesundheit und Leben. In Erzählungen dienen sie in dieser Funktion gewöhnlich zur Erzeugung von J Dynamik. Die Bandbreite von Verwundungen reicht dabei von durch Hypersensibilität bewirkten blauen Flecken vom Schlafen auf Rosenblättern (J
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Sybariten; AaTh/ATU 704: J Prinzessin auf der Erbse) bis hin zu grausamen Verstümmelungen (AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände; AaTh/ATU 1417: Die abgeschnittene J Nase). Das Wunschbild von J Unverwundbarkeit spiegeln Heldenfiguren wie J Achilleus oder Siegfried (J Sigurd, Siegfried), die nur durch eine gezielte Verwundung an einer einzigen Stelle (J Achillesferse) getötet werden können. Verwundungen können, vor allem in Zaubermärchen, J Erlösung bewirken: J Verwandelte erhalten ihre ursprüngliche Gestalt durch Durchstechen ihrer Hülle, Erschlagen oder J Enthauptung zurück1. Verwundungen können allerdings auch J Verzauberung verursachen: Junge Frauen verwandeln sich durch den Stich mit einer J Nadel in Vögel (AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen [Subtyp B]); als Dornröschen sich an einer Spindel sticht, fällt sie in einen Zauberschlaf (AaTh/ ATU 410: J Schlafende Schönheit). In AaTh 301 A/ATU 301: cf. Die drei geraubten J Prinzessinnen führen die J Blutspuren eines vom Helden verwundeten dämonischen Wesens zu dessen Aufenthaltsort (cf. auch AaTh/ATU 315 A: Die menschenfressende J Schwester). Bereits in der Antike belegt ist das Motiv der W. (Mot. H 56) oder Narbe (Mot. H 51) als J Erkennungszeichen: J Odysseus wird nach langer Abwesenheit an einer Narbe wiedererkannt (Odyssee 19,467⫺475); eine Narbe auf der Brust des Erwachsenen bezeugt, daß der Betreffende als Säugling beinahe ermordet worden wäre (cf. AaTh/ATU 931: J Ödipus; AaTh/ATU 930 A: Die vorbestimmte J Frau)2. In den ma. Romanen über J Robert den Teufel wird ein unbekannter Held bei einem J Turnier verwundet; später dient die W. oder ein darin verbliebenes Teil des Schwerts zu seiner Identifizierung3. Diese Episode erscheint auch in Märchen, in denen Zauberpferde als Helfer auftreten (AaTh/ATU 314: J Goldener [7.1]; AaTh/ATU 530: J Prinzessin auf dem Glasberg [2.3]; AaTh/ATU 532: Das hilfreiche J Pferd ); manchmal wird der Held an einem Tuch erkannt, das zum Verbinden der W. benutzt wurde (z. B. Marzolph *891 B; cf. AaTh/ ATU 891: J Mann, der seine Frau verließ). Ähnlich kann das J Brandmarken der Gegenspieler dazu dienen, diese später als Betrüger
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Wunde
zu identifizieren und dem wahren Helden zu seinem Recht zu verhelfen. Die als dämonisches Tier, oft als J Katze, umgehende J Hexe wird einer weitverbreiteten Sage zufolge daran erkannt, daß sie die gleiche Verletzung aufweist, die man dem Tier zugefügt hat (Mot. G 252, D 702.1.1); oder die abgeschlagene Pfote verwandelt sich in eine Menschenhand4. Ein Räuber kann beim Begehen eines Verbrechens eine Verbrennung oder Verwundung erleiden und später daran erkannt werden5. Dem Volksglauben nach beginnen die W.n eines Ermordeten in Gegenwart des Mörders zu bluten (Bahrprobe; Mot. D 1318.5.2; J Gottesurteil, Kap. 3). Die Pflege eines Verwundeten (cf. auch J Heilen, Heiler, Heilmittel; J Krankheit) kann eine Beziehung einleiten oder festigen (cf. J Tristan und Isolde; AaTh/ATU 432: J Prinz als Vogel). J Daniel wie auch Androklus (AaTh/ATU 156: J Androklus und der Löwe) versorgen einen verwundeten Löwen6. Hist. belegt sind neben der medizinischen Wundbehandlung7 traditionelle J Segen zur Heilung von W.n und zur Stillung von Blutungen8. Das ,Haar des Hunds, der gebissen hat‘, an eine W. zu legen, ist sowohl im übertragenen Sinn9 als auch wörtlich10 gemeint. Der Gedanke, einen Biß mit einem Bestandteil des entsprechenden Tiers zu heilen (J Similia similibus; J Sympathiezauber), findet sich auch für Katzen, Schlangen und Skorpione11. Eine W., die weder zum Tod führt noch verheilt, steht im Mittelpunkt der Sage über den griech. Kämpfer Philoktetes. Die diesem durch einen Schlangenbiß am Fuß zugefügte W. schwächt ihn so sehr und riecht so übel, daß seine Gefährten ihn auf einer Insel zurücklassen; als die Griechen Jahre später Philoktetes und die ihm von J Herakles überlassenen J Waffen brauchen, um die Trojaner zu besiegen, holt ihn Odysseus (und seine W. wird schließlich geheilt)12. Den ma. J Gralserzählungen zufolge ist ein König durch eine nicht heilende W. geschwächt, weshalb sein Reich sich im Niedergang befindet; ein junger Held (J Parzival) kehrt erfolgreich von der Suche nach einem bestimmten Schwert (Speer) zurück und kann dadurch den König von seiner Verwundung heilen13. Die Erzähltypen AaTh 159 B, 285 D/ATU 159 B, 285 A: J Feindschaft zwischen Tieren und Mensch betonen aus
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unterschiedlicher Perspektive, daß eine W. auch dann noch schmerzen kann, wenn sie längst verheilt ist. Die fünf W.n J Christi (Mot. V 211.5, Z 71.3.2) spielen zusammen mit den Nägeln und dem Speer, durch die sie ihm bei der J Kreuzigung zugefügt wurden14, eine wichtige Rolle in der christl. Ikonographie15. Heiligmäßige Personen wurden seit J Franz von Asissi bis in die Gegenwart durch entsprechende Stigmata an ihrem Körper gezeichnet16. Das Bild der J Geburt aus einer W. evozieren J Fressermärchen, in denen die von einem Monster verschlungenen Wesen lebend aus dem geplatzten oder aufgeschnittenen Bauch des Verschlingers herauskommen (Mot. F 913; J Gastrotomie)17. 1 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 97 sq.; Kittredge, G. L.: Disenchantment by Decapitation. In: JAFL 18 (1905) 1⫺14, bes. 11⫺14. ⫺ 2 Edmunds, L.: Oedipus, the Ancient Legend and Its Later Analogues. Baltimore 1985, bes. 14 (not. 65), 29, 122⫺ 151; Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 62. ⫺ 3 Weston, J.: Three Days’ Tournament. N. Y. 1965. ⫺ 4 HDA 3 (1930⫺31) 1510 sq., 1871 sq.; Bruford, A.: Scottish Gaelic Witch Stories. In: Scottish Studies 11 (1967) 13⫺46, hier 16⫺18; Goldberg, C.: Traditional American Witch Legends. In: Indiana Folklore 7 (1974) 77⫺108, hier 86⫺ 90. ⫺ 5 Simpson, J.: Rationalized Motifs in Urban Legends. In: FL 92 (1981) 203⫺207. ⫺ 6 Tubach, num. 3076. ⫺ 7 Forrest, R. D.: Early History of Wound Treatment. In: J. of the Royal Soc. of Medicine 75 (März 1982) 198⫺205. ⫺ 8 HDA 1 (1927) 1452, 1457 sq., 1497 sq. ⫺ 9 Wilson, F. P.: Oxford Dict. of English Proverbs. Ox.31970, 343; Röhrich, Redensarten 1, 454 sq. ⫺ 10 HDA 3, 1287. ⫺ 11 HDA 7 (1935⫺36) 1170; Hartland, E. S.: The Legend of Perseus 2. L. 1972, 172 sq. ⫺ 12 Wilson, E.: The Wound and the Bow. N. Y. 1959, 272⫺295; Mandel, O.: Philoctetes and the Fall of Troy. Lincoln, Nebr. 1981. ⫺ 13 Weston, J. L.: From Ritual to Romance. N. Y. 1957, 113⫺123. ⫺ 14 Tubach, num. 205, 1013, 2653, 5396, cf. 2722; Köhler-Zülch, I.: Die Geschichte der Kreuznägel. In: Telling Reality. ed. M. Chesnutt. Kop./Turku 1993, 219⫺234. ⫺ 15 Sauser, E.: W.n Christi. In: LCI 4 (1972) 540⫺542. ⫺ 16 Harrison, T.: Stigmata. A Medieval Mystery in a Modern Age. N. Y. 1994; Wilson, I.: Stigmata. San Francisco 1989. ⫺ 17 Werner, A.: Myths and Legends of the Bantu. L. 1933, 206⫺221; Callaway, C.: Nursery Tales, Traditions, and Histories of the Zulus. Westport, Conn. 1970, 60, 84⫺85, 88 sq., 331⫺335; Schmidt, num. 875, 877, 1725.
Los Angeles
Christine Goldberg
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Wunder
Wunder 1. Wort und Begriff ⫺ 2. Das W. als religiöses, phil. und soziales Phänomen ⫺ 3. W.erzählungen ⫺ 3. 1. Religiöses Erzählgut ⫺ 3. 2. Gelehrtes Schrifttum, Reiseliteratur, Weltbeschreibungen ⫺ 3. 3. Prodigienliteratur ⫺ 3. 4. Märchen, Sage, Schwank
1 . Wor t u nd Be gr iff. Im Substantiv W.1 greifen zwei Bedeutungsebenen ineinander. Es bezeichnet zugleich die „Empfindung des Ungewöhnlichen“ und den „Gegenstand der Verwunderung“2, benennt also „subjektiv […] einen gefühlsvorgang oder -zustand im sinne von ,verwunderung, erstaunen‘, auch […] ,bewunderung‘ und (häufig) ,neugier, wiszbegier‘“3, während es „objektiv als bezeichnung für etwas, was verwunderung und erstaunen hervorruft“ steht (J Weltwunder). Die zweite Bedeutung ist heute dominierend. Im Gegensatz zum J Zauber, der immer durch magische Handlungen von Menschen oder J Dämonen verursacht wird (J Magie), können W. nicht von Menschen vollbracht werden, sondern werden entweder der Natur selbst oder übernatürlichen, häufig göttlichen Mächten, aber auch dämonischen Kräften wie dem J Teufel zugeschrieben. Als „außergewöhnliche und Verwunderung auslösende Erfahrungen von Menschen, die sie aus ihrem Verständnis von Normalität nicht erklären können und die für sie in vielen Fällen auf das Eingreifen einer Gottheit bzw. außermenschlichen Macht verweisen“4, sind sie zugleich ubiquitär und dennoch kulturspezifisch, d. h. verschiedenen Plausibilitätsstrukturen zufolge kann ein ungewöhnliches Phänomen als real und damit als W. anerkannt oder als Täuschung oder Lüge deklariert werden5. 2 . D as W. al s r el ig iö se s, ph il . u nd so z ia le s P hä no me n. W. zählen zum Traditionsgut nahezu aller Religionen6. Ihr Stellenwert ist jedoch sehr verschieden bzw. war im Laufe der Zeit starken Veränderungen unterworfen. Unterschiedliche Einschätzungen bestehen häufig zwischen der jeweiligen offiziellen Lehrmeinung und den volksreligiösen Ausprägungen. So hat das W. im Taoismus und im Konfuzianismus an sich keinen Raum; dennoch ist der Glaube an wundersame Manifestationen in chines. Kulturen fest verankert7. In den religiösen Traditionen Indiens (Hinduismus und Buddhismus) geht es vor allem
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um wunderbare Kräfte bzw. paranormale Fähigkeiten wie Gedankenlesen, Materialisation oder Levitation (J Schweben), die durch Übung, Konzentration oder Meditation erlangt werden können; W. werden daher in Indien in der Regel nicht durch göttliche Intervention erklärt8. Auch J Buddha soll über diese außerordentlichen Fähigkeiten verfügt haben, empfahl jedoch, sie ausschließlich zu pädagogischen und religiösen Zwecken anzuwenden. In der buddhist. Volksreligion wurden Geburt und Leben von Buddha und Heiligen dennoch mit W.n ausgeschmückt9. Bei aller Verschiedenheit im Detail weisen jüd., christl. und muslim. W.verständnis einige Gemeinsamkeiten auf. Ihre Funktion liegt überwiegend in der zeichenhaften Bestätigung der Macht Gottes10. Überaus große Bedeutung kommt dem W. im Christentum zu; doch auch hier war es einem steten Wandel unterworfen. Zum einen erfolgte eine Erweiterung des wundertätigen Personenkreises von der alttestamentlichen Beschränkung auf Gott selbst, von dessen Allmacht, aber auch Zuverlässigkeit W. Zeugnis ablegen sollten, auf Jesus (J Christus) und seine Apostel im N. T., später auf den Kreis der J Märtyrer und seit dem Hochmittelalter auch auf andere J Heilige. Damit einher ging eine Präzisierung des theolog. W.begriffs bzw. eine Abgrenzung vom J Mirakel. Aus der Fülle der miracula post mortem wurden genauen Regeln folgend die für eine Heiligsprechung erforderlichen W. ausgewählt. Zum anderen änderte sich im Laufe der Kirchengeschichte mehrfach die Interpretation von W.n. So wurden sie in den Anfängen des Christentums nicht als Durchbrechung von Naturgesetzen oder Kausalitätsprinzipien gesehen, sondern vielmehr als Staunen und/oder Schrecken hervorrufende, unerwartete „Erfahrung der machtvollen Nähe Gottes“11. Damit wurden W. als „maßgebliches Argument für die Wahrheit christlicher Lehre“ und „sowohl für die Selbstvergewisserung und Identitätsbildung des Christentums, als auch für die Apologetik und Polemik im Konkurrenzkampf mit anderen Religionen und Weltanschauungen in Anspruch genommen“12. Als solche beschäftigten sie wiederholt die Kirchenlehrer, am frühesten Augustinus, der sich gegen ihre Überbewertung wandte. Erst bei Thomas von
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Aquin (Summa Theologiae 1,105) findet man eine Sichtweise, die W. als Überschreitung des Naturvermögens charakterisierte und fortan den W.diskurs begleitete. In ihrem Kampf gegen den Mißbrauch des Heiligenkultes und des Reliquienwesens (J Reliquie) griff die J Reformation auf das augustinische W.verständnis und dessen Kritik zurück, ohne die Realität von W.n grundsätzlich in Frage zu stellen. Die J Aufklärung dagegen verwies W. in den Bereich der Fiktion und des Aberglaubens. Bereits D. Hume hatte W. als Verstoß gegen die Naturgesetze bezeichnet13. Auch I. Kant sprach von ihnen als „Begebenheiten, die die Ordnung der Natur unterbrechen“14, relativierte diese Sichtweise aber an anderer Stelle, indem er W. als „Begebenheiten in der Welt“ bezeichnete, „von deren Ursache uns die Wirkungsgesetze schlechterdings unbekannt sind, und bleiben müssen“15. Das theol. W.verständnis verlegte in Reaktion auf diese Sichtweisen den Akzent „ganz auf die göttliche Außerkraftsetzung oder Durchbrechung der Naturgesetze“, um „die Möglichkeit […] und Tatsächlichkeit“ der W. nachzuweisen. Erst das 2. Vatikan. Konzil führte aus dieser apologetischen Argumentation heraus, indem es W. als „Heilszeichen der in Jesus Christus sich vollendenden Selbstmitteilung Gottes“ definierte16. Auf einen gerade auch für die Erzählforschung wichtigen Aspekt von W. und W.glaube machte M. Scharfe aufmerksam, indem er W. in Anlehnung an E. Durkheim als ,soziale Tatsache‘ und weiter als ,soziale Sanktion‘ interpretierte und ihnen eine sowohl integrative als auch eine ausgrenzende Wirkung zuordnete17. In diesen Funktionen begegnen W. nicht nur im religiösen Erzählgut. 3 . W.e rz äh lu ng en. Einen Überblick über die Fülle von W.motiven gibt S. J Thompsons Motif Index unter der Kategorie F: Marvels. Im internat. Typensystem finden sich W.erzählungen gehäuft in der Gruppe Religious Tales (AaTh/ATU 750⫺849 [J Legendenmärchen]). 3 .1 . Rel ig iö se s E rz äh lg ut. Zahlreiche W.erzählungen finden sich in der Bibel. Für das A. T. ist z. B. an die zehn Plagewunder im Buch Exodus zu denken (J Aaron, J Moses), an die sich im Kontext des Auszugs aus Ägyp-
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ten etliche weitere W.erzählungen anschließen (z. B. Gaben von Manna, Wachteln und Wasser [Ex. 15,22⫺16,34], Fall der Mauern von Jericho [Jos. 6,4⫺6,5]). Aber auch andere Bücher des A. T.s, etwa die Prophetenzyklen18, enthalten W.erzählungen. Als typische Erweiswunder sind sie Musterbeispiele für das Konzept vom W. als positive oder negative soziale Sanktionen und zugleich Belege für die Kulturspezifik von W.n, denn die geschilderten Phänomene kann man, wenn sie nicht religiös interpretiert werden, auch als Naturereignisse verstehen. W.haftes ist auch in nahezu allen Textsorten des N. T.s anzutreffen. Das Spektrum ist breit gefächert und reicht z. B. vom Motiv der Jungfrauengeburt (J Empfängnis: Wunderbare E.) bis zur J Schwangerschaft J Unfruchtbarer, von Sofortheilungen (J W.heilung), J Exorzismen, Befreiungen, Totenerweckungen (J Wiederbelebung) bzw. eschatologischer Auferstehung zu Massenspeisungen, Macht über Wind und Meer, von Metamorphosen (J Verwandlung) zu Verfluchungen (J Fluch, Fluchen, Flucher), gottgesandten Krankheiten sowie Tötungen19. Bei den von J Aposteln gewirkten W.n geht es in erster Linie um Krankenheilungen20. Im Zusammenhang mit Heiligenkulten (J Kult, Kultlegende, Kultsage, J Wallfahrt) und deren Verschriftlichung in Legenden sowie in J Exempel- und J Mirakelliteratur spielten W. eine bedeutende Rolle. Viele Erzähltypen bzw. -motive aus diesen Textsorten fanden Eingang in das populäre Erzählgut: das J Gespannwunder und die J Bauplatzlegende, das J Grabwunder, die J Kornlegende (ATU 750 E [2]), das J Bratenwunder (ATU 960 C); das vor allem durch das Pfingstwunder (Apg. 2,1⫺ 41) des N. T.s bekannte J Sprachenwunder sowie das auch als Bestandteil der Geburtsbzw. Kindheitslegenden von Religionsstiftern (Buddha, J Mohammed, J Kindheitslegenden Jesu) überlieferte Motiv vom sprechenden Ungeborenen (J Kind spricht [weint] im Mutterleib). Darüber hinaus hat sich ein umfangreicher Komplex von Volksglaubensvorstellungen und Erzählungen um J Hostienwunder (cf. auch J Blutwunder) entwickelt. 3 .2 . G el eh rt es Sc hr if tt um , Rei se li te r at ur, Wel tb es ch re ib un ge n. Einen rei-
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chen Fundus für die Schilderung von W.motiven bilden das gelehrte Schrifttum und die J Reiseberichte der Antike. In MA. und Renaissance wiederentdeckt, wurden sie vielfältig in Text und Bild popularisiert. Exemplarisch seien zwei Motivgruppen angeführt. Die reichhaltigste Überlieferung dürfte mit den ,W. des Ostens‘21 verbunden sein. Die ältesten Nachrichten über meist in Indien lokalisierte, z. T. der ind. Mythologie entlehnte J Monstren und J Fabelwesen (cf. auch J Halbwesen), auch W.völker genannt, stammen von den Gelehrten Ktesias von Knidos und Megasthenes (4. Jh. a. Chr. n.)22. J Herodot sparte sie gleichfalls unter Wahrung einer gewissen kritischen Distanz nicht aus (Historien 3,116). Strabo (1. Jh. p. Chr. n.) lehnte den Glauben an die ind. W.völker ab und bezeichnete Autoren, die darüber berichteten, als ,Bande von Lügnern‘23. Dennoch erlangten sie einerseits durch lat. Vermittler wie Pomponius Mela (1. Jh. p. Chr. n.) oder J Plinius d. Ä., später durch Augustinus (4. Jh.; De civitate dei 16,8), andererseits durch naturwiss. Werke der Spätantike und die mittellat. enzyklopädischen Werke von J Isidor von Sevilla (7. Jh.) über Hrabanus Maurus (9. Jh.) bis J Thomas Cantipratanus (13. Jh., De natura rerum) den Status gelehrten Wissens. So gesehen ist es verständlich, daß ihrer Schilderung und Abbildung in den Weltbeschreibungen der frühen Neuzeit (Hartmut Schedel oder Olaus Magnus)24, aber auch in fiktiven und realen Reisebeschreibungen nicht grundsätzlich mißtraut wurde25. Exemplarisch ist der fiktive Reisebericht des Jean de J Mandeville (15. Jh.), in dessen ersten Teil zahlreiche christl. W.erzählungen eingeflochten sind (z. B. J Kreuzholzlegende); im zweiten Teil wird ausführlich über die W. des Ostens fabuliert. Wesentlich zurückhaltender war dagegen Marco J Polos Bericht Divisament dou monde, der in der frz. Erstausgabe den Untertitel ou` l’on conte les merveilles du monde trug. Wie bei Mandeville werden auch hier u. a. das Reich des J Priesters Johannes, Kynocephaloi (J Hundsköpfige) oder der Riesenvogel Roch (cf. J Phönix) erwähnt26. Als zweite Motivgruppe sind die sog. Meerwunder (J Meer) zu nennen. Zu ihnen existiert eine nicht minder reichhaltige Überlieferungsgeschichte, die einerseits über poetische
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Texte von der Odyssee (J Homer) über die Erzählung von J Sindbad dem Seefahrer und J Brandans Seefahrt zu den ma. Epen J Herzog Ernst, Reinfrid von Braunschweig oder J Kudrun führt, andererseits abermals über gelehrtes Schrifttum wie z. B. bei Thomas Cantipratanus bis zur Prodigienliteratur reicht. Zu den Meerwundern zählen u. a. J Sirenen, das Lebermeer (Mot. F 711.2), J Skylla und Charybdis, der J Leviathan, der J Magnetberg (AaTh/ATU 322*) und der Riesenfisch (J Wal). 3 .3 . P ro di gi en li te ra tu r. In der röm. Antike wurzelt eine weitere umfangreiche Erzähltradition über ungewöhnliche Naturereignisse, die als Zeichen des Zorns der Götter und als ungünstige Vorzeichen verstanden wurden und zu festen Zeiten kollektiv und rituell entsühnt werden mußten, die J Prodigien27. Im Christentum (J Regen, Regenwunder) wurden sie vor allem im 16./17. Jh. in zahlreichen Slgen überwiegend von lutherischen Verf.n systematisch erfaßt und fanden von dort über Predigten28, Zeitungen, Flugblätter, Flugschriften, aber auch über Chroniken, Historien-, Kompilations- und Kuriositätenliteratur sowie Exempelsammlungen starke Verbreitung. Der im Deutschen dafür verwendete Begriff W.zeichen überschnitt sich in der Bedeutung mit jener von Mirakel und W., obwohl damit gemeinhin nur Ereignisse außerhalb des gewöhnlichen Verlaufs der Natur (praeter naturam) bezeichnet wurden, nicht jedoch „Mirakel und Wunder gegen die Natur“29. Dies entspricht allerdings erst einer neuzeitlichen konfessionellen Interpretation. 3 .4 . M är ch en , S ag e, Sc hw an k. W.motive sind in allen gängigen Genres der Volkserzählung, teilweise auch gattungsübergreifend, anzutreffen. In ihrer Bewertung und Funktion bestehen jedoch erhebliche Unterschiede. Im Märchen, über das bereits J. J Grimm sagte, daß es „die natürliche Lust an dem Wunderbaren befriedige“30, kommt dem W. eine bes. Bedeutung zu, die dem allg. Verständnis von Zauber nahesteht und wenig oder gar nichts gemein hat mit dem religiösen oder antiken gelehrten Denken sowie mit dem neuzeitlichen prodigienhaften W.verständnis. M. J Lüthi diente das Märchenwunder gleich in mehrfa-
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cher Weise zur Untermauerung der von ihm definierten Wesensmerkmale des Märchens (J Abstraktheit, J Allverbundenheit, J Extreme, J Flächenhaftigkeit, J Isolation und J Sublimierung)31. Zwischen wunder- und zauberhaft, W.dingen und J Zaubergaben (J Gabe) wird im Märchen nicht deutlich unterschieden, wohl aber zwischen W.dingen, die innerhalb der jeweiligen Erzählung als „etwas Besonderes und Außergewöhnliches angesehen werden“32 und um die sich dann auch meist die Handlung dreht, und anderen, die wohl als merkwürdig, aber nicht als W. aufgefaßt werden und auch für den Handlungsverlauf keine Rolle spielen. Zur ersten Kategorie zählen u. a. das J Lebenswasser oder das J Tischleindeckdich (AaTh/ATU 563). Beispiele der zweiten Kategorie wären die Vergoldung (J Gold, Geld) von Organischem, etwa ein goldener Vogel (AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter), ein goldener Fisch oder sogar goldene Kinder (AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder). Denn obwohl die „Märchenwelt zwar als Ganzes wunderbar“33 ist und die Handlung sehr oft durch W. befördert wird, fehlt dem Märchen das Moment der Verwunderung und des Staunens fast gänzlich, „weil es wie absichtslos das Wunderbare mit dem Natürlichen […] mischt, so, als ob dies völlig selbstverständlich wäre“34. W.dinge bzw. -gaben haben ihren je spezifischen Zweck. Sie werden dem Helden mit Selbstverständlichkeit zur Verfügung gestellt und meist auch nur einmal verwendet, ohne vorher ausprobiert zu werden. Nach ihrem Gebrauch interessieren sie nicht mehr35. Im Gegensatz zum Märchen suchen die Menschen der Sage „oft absichtlich das numinose Erlebnis“ (J Numinoses), die Begegnung mit Dämonen36, Hexern oder Hexenbannern, die dann W. wirken bzw. zaubern37. Wie in der Legende wird das W. in der Sage als „Einbruch des Numinosen in die profane Welt“38 empfunden und löst Staunen aus. Aber mehr noch als in der Legende ist das W. der Sage „verwirrendes und schwer deutbares Zeichen einer wichtigen und gefährlichen Jenseitswelt; es reizt oder ängstigt den Menschen“39. W. und Zauber sind in der Sage noch weniger deutlich abgegrenzt als im Märchen. Die Sage zeigt zum einen eine Nähe zu Magie und
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Volksglauben, zum anderen aber auch zur christl. W.kausalität, mit Überschneidungen zur Heiligen- und Wallfahrtslegende. Trotz ihrer Wirklichkeitsnähe kennt auch die Sage W.gaben, die meist von Jenseitigen gegeben werden, z. B. ein nie endendes Garnknäuel40, ein Horn oder Gold in unscheinbarer Form (Blatt, Kohle; cf. AaTh/ATU 503: J Gaben des kleinen Volkes). Während diese Gaben im Märchen den Helden weder berühren noch verändern, wirken sie in der Sage auf ihren Empfänger nachhaltig, stellen einen längeren Kontakt zur Jenseitswelt her und verändern sein Leben41. Daher haben sie in der Sage immer etwas Bedrohliches an sich. Aufgrund seiner rationalistischen Grundhaltung können im Schwank W. und W.glaube nicht anders als parodiert, ja pervertiert werden, so z. B. in der bereits aus dem 10. Jh. überlieferten Erzählung AaTh/ATU 1362: J Schneekind, in der das Motiv der magischen Zeugung ironisiert wird42. „Wo er Übernatürliches bringt, ist es meist nicht wunderbar, sondern unwirklich, und wo der Schwank mit Wunderdingen in Berührung kommt, zeigt er oft deutlich seine ungläubige, rationalistische Haltung.“43 Die für den Schwank charakteristische Verkehrung des W.s ins Unwirkliche, Komische und Betrügerische zeigt sich bes. in Mischformen wie Schwank- oder Lügenmärchen. Auch in den Übergängen zur Legende wird das W. ironisiert. Da wird etwa der W.täter zum Quacksalber (J Scharlatan), wie in KHM 81, AaTh/ATU 785: J Lammherz ⫹ AaTh/ATU 330 A⫺B: J Schmied und Teufel, einer Erzählung, in der das gelungene Verjüngungs- oder Wiederbelebungswunder durch eine mißlingende J Imitation parodiert wird. 1 Adelung, J. C.: Grammatisch-kritisches Wb. der hochdt. Mundart 4. Wien 1811, 1621. ⫺ 2 DWb. 14,2 (1960) 1783. ⫺ 3 ibid., 1792. ⫺ 4 cf. allg. Neu, R. u. a.: W. In: RGG 8 (42005) 1715⫺1732, hier 1715 sq.; cf. auch Figl, J. u. a.: W. In: LThK 10 (32001) 1311⫺1319, hier 1311⫺1313. ⫺ 5 RGG 8, 1720. ⫺ 6 RGG 8, 1716. ⫺ 7 Kleine, C. u. a.: W. In: TRE 36 (2004) 378⫺415, hier 381 sq.; RGG 8, 1716. ⫺ 8 TRE 36, 380 sq. ⫺ 9 RGG 8, 1716; LThK 10, 1311; TRE 36, 381. ⫺ 10 TRE 36, 378⫺415; RGG 8, 1730⫺1732; LThK 10, 1311, 1315 sq.; Gramlich, R.: Die W. der Freunde Gottes. Stg. 1987, 127⫺131. ⫺
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11 LThK 10, 1312. ⫺ 12 RGG 8, 1723. ⫺ 13 Hume, D.: Philosophical Essays Concerning Human Understanding. L. 1748, 180. ⫺ 14 Kant, I.: Vorlesungen über Metaphysik. Erfurt 1821, 123. ⫺ 15 id.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Königsberg 1793, 110. ⫺ 16 LThK 10, 1317 sq. ⫺ 17 Scharfe, M.: W. und W.glaube im protestant. Württemberg. In: Bll. für württemberg. Kirchengeschichte 68⫺69 (1968⫺69) 190⫺206, hier 196. ⫺ 18 RGG 8, 1718. ⫺ 19 RGG 8, 1719. ⫺ 20 LThK 10, 1314 sq.; RGG 8, 1719⫺1722. ⫺ 21 Wittkower, R.: Die W. des Ostens [1942]. In: id.: Allegorie und Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1984, 87⫺150. ⫺ 22 ibid., 89. ⫺ 23 cf. ibid., 93. ⫺ 24 Schneider, I.: Über das Verhältnis von Realität und Fiktion in Reisebeschreibungen und ethnogr. Qu.n. In: Leben ⫺ Erzählen. Festschr. A. Lehmann. B./Hbg 2005, 209⫺227. ⫺ 25 Röcke, W.: W. der Fremde und der Traum vom Reisen. In: Berger, G./Kol, S. (edd.): Fremderfahrung in Texten des SpätMA.s und der frühen Neuzeit. Trier 1993, 87⫺101. ⫺ 26 Bremer, E.: Marco Polo. In: Verflex. 7 (21989) 771⫺775; Wood, F.: Marco Polo kam nicht bis China. Mü. 1996; Wittkower, R.: Marco Polo und die Bildtradition der W. des Ostens [1957]. In: id. (wie not. 21) 151⫺179. ⫺ 27 Schenda, R.: W.-Zeichen. Die alten Prodigien in neuen Gewändern. In: Fabula 38 (1997) 14⫺32. ⫺ 28 Wolf, H.: Erzähltraditionen in homiletischen Qu.n. W.ber.e. In: Brückner, 733⫺736. ⫺ 29 EM 10, 1380. ⫺ 30 KHM/Rölleke 3, 421. ⫺ 31 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Tübingen 8 1985, 6. ⫺ 32 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 2, cf. auch Reg. ⫺ 33 EM 9, 260. ⫺ 34 Lüthi (wie not. 31) 19. ⫺ 35 ibid., 9, 31. ⫺ 36 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 24. ⫺ 37 Lüthi (wie not. 31) 55. ⫺ 38 ibid., 56. ⫺ 39 ibid. ⫺ 40 z. B. Direder-Mai, M./Petzoldt, L.: Sagen aus Südtirol. Mü. 1993, 148 sq. ⫺ 41 Lüthi, M.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Bern 1943. ⫺ 42 Petzoldt, L.: Dt. Schwänke. Stg. 1979, 6⫺11; cf. auch Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 48. ⫺ 43 ibid.
Innsbruck
Ingo Schneider
Wunderheilung 1. Definition und Abgrenzungen ⫺ 2. Akteure ⫺ 3. Krankheiten ⫺ 4. Mittel ⫺ 5. Orte und Zeiten ⫺ 6. Dankesgaben ⫺ 7. Verbreitungswege ⫺ 8. Funktion ⫺ 9. W. als Erzählmotiv ⫺ 10. Glaubwürdigkeit von W.en
1 . D ef in it io n u nd Ab gr en zu ng en. Eine W. ist eine als übernatürlich empfundene Heilung (J Heilen, Heiler, Heilmittel). In der Medizin wird heute bei einer unerwarteten Genesung von Spontanheilung gesprochen. Die nicht ganz deckungsgleichen Begriffe Gebets-
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heilung bzw. Geistheilung werden von Evangelikalen und Esoterikern bevorzugt. Selbstverständlich ist die Deutung einer Heilung als Wunder von dem jeweiligen Verständnis von J Krankheit und deren Ursachen abhängig1. Während beispielsweise das Segensprechen (J Segen) in der Vormoderne als Therapie betrachtet wurde, wird das Besprechen von Krankheiten heute eher als Versuch von W. bewertet. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf abendländ. Erzählungen über W.en; vergleichbare Erscheinungen gibt es aber auch in anderen Kulturen2. 2 . Akt eu re . Wem die W. zugeschrieben wird, ist von den jeweiligen religiösen und gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängig. Es kann der direkt beteiligte Heiler (z. B. J Paracelsus) sein, ein angerufener J Heiliger (cf. z. B. J Brigitta, J Elisabeth, J Franz von Assisi, J Makarios) oder Gott selbst. In der kathol. Kirche sind viele Heilige auf bestimmte Krankheiten spezialisiert, so etwa bei den J Vierzehn Nothelfern Blasius auf Halsleiden, J Erasmus auf Leibschmerzen, Pantaleon auf Kopfweh etc. Manche Heiler betreiben W. als Beruf. Einen Sonderfall stellt die institutionalisierte W. (der Skrofeln) durch engl. und frz. Könige in MA. und früher Neuzeit dar3. Voraussetzung für eine W. ist in der Regel der Glaube des Kranken an die angerufene Macht, doch in schwankhaften Erzählungen können arbeitsscheue Bettler auch gegen ihren Willen geheilt werden, wenn sie zufällig in eine Prozession geraten (J Lahmer und Blinder)4. 3 . Kra nk he it en . Prinzipiell scheinen alle Krankheiten durch W. kurierbar, doch werden bevorzugt solche Leiden genannt, gegen die es zum Zeitpunkt der Heilung keine anerkannten Mittel gab (cf. u. a. J Aussatz; J Stumm, Stummheit)5. Während eine medizinische Therapie lange Zeit beanspruchen kann, vollzieht sich W. innerhalb kürzester Zeit6. 4 . Mit te l. Religiöse W.en kommen oft mit Worten, Handauflegen (cf. auch J Exorzismus) oder Inkubation (cf. J Kosmas und Damian) aus. Daneben dienen auch bestimmte Gegenstände und Substanzen als Heilmittel, z. B. J Heiligenbilder, J Hostien, J Kinderblut, J Reliquien, J Speichel und J Wasser aus bestimmten Quellen (cf. auch J Magie)7.
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In einer schwankhaften Erzählung heilt ein J Scharlatan zahlreiche Kranke mit der Ankündigung, der schwächste von ihnen werde zur Arznei für die anderen verarbeitet: Die Kranken laufen aus Angst davon (ATU 1641 D; cf. J Krüppel)8. 5 . O rt e u nd Ze it en . W. ist oft an bestimmte Orte wie J Wallfahrtsstätten gebunden. Solche Orte können ihrerseits durch ätiologische Erzählungen beglaubigt sein (J Bauplatzlegende, J Gespannwunder, J Schwemmwunder). Häufige Motive sind das Entspringen von Quellen (J Quellwunder) mit heilkräftigem Wasser, das Erscheinen von Heiligen und das ungewöhnliche Agieren von Heiligenfiguren9. Im luther. Christentum waren W.en oft an Heilquellen und Votivkirchen geknüpft ⫺ offenbar eine nachreformatorische Neuentwicklung, die bis gegen Ende des 19. Jh.s gepflegt wurde10. Selbst wenn die Heiligkeit an Wallfahrtsstätten konzentriert gedacht wurde, fanden W.en nicht nur dort statt. Nach Anrufung eines Heiligen geschahen W.en auch andernorts (sog. Distanzwunder), wurden dann aber der Wallfahrtsstätte zugeschrieben11. Die Heilkraft wundertätiger Orte galt zu gewissen Zeiten als bes. stark, z. B. an bestimmten Feiertagen12. 6 . D an ke sg ab en . Erzählungen von W.en enden oft damit, daß der Geheilte (oder seine Angehörigen) der Kirche eine Dankesgabe spendet; wenn vorher ein J Gelübde abgelegt worden war, ist dies eine sog. Votivgabe. Kathol. Wallfahrtsstätten erhielten oft Wachsoder Silbermodelle der geheilten Körperteile geschenkt, oder die Geheilten stifteten Votivbilder bzw. eine Messe13. In luther. Votivkirchen bedankte man sich mit Bargeld, Oblaten, Kleidungsstücken, Tierhäuten oder Gemälden14. 7 . Ver br ei tu ng sw eg e. Berichte von W.en finden sich bereits in der Bibel und den Apokryphen: Im A. T. etwa heilt Elisa den Naaman vom Aussatz (2. Kön. 5,1⫺14), im N. T. sind für Jesus J Christus zahlreiche W.en belegt (u. a. Mt. 4,23 sq.; Lk. 6,18 sq.; Mk. 5,25⫺ 34); später sind W.en regelmäßiger Bestandteil der J Viten kathol. Heiliger und der Akten
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ihrer Kanonisationsprozesse15. Kathol. Wallfahrtsorte publizierten Slgen mit den bei ihnen erfolgten Wundern (J Mirakelliteratur)16. Ähnliche Zusammenstellungen finden sich auch in luther. Ländern von wundertätigen J Quellen17. W.en waren Themen von Predigten18, Liedern19, Exempeln20, Flugblättern und Flugschriften sowie Ztgen21. Auch in Inschriften auf gestiftetem Kircheninventar wird davon berichtet22. J Bildquellen erzählen von W.en, nicht zuletzt den bibl.23 Kennzeichnend ist, daß die meisten Berichte von W.en aus zweiter oder dritter Hand stammen; selbstverfaßte Erzählungen von Geheilten sind ⫺ bis zur Ausbreitung des Internets gegen Ende des 20. Jh.s ⫺ recht selten überliefert24. Heute widmen sich zahlreiche Webseiten den W.en; sie werden oft von Freikirchen oder esoterischen Gruppen betrieben25, doch bieten auch private Heiler ihre Dienste ⫺ gegen Honorar oder Spenden ⫺ online an. Bis in die Gegenwart wird noch häufig mündl. von W.en erzählt26. 8 . Fun kt io n. W.en dienen zur Bestätigung von Religionen und Konfessionen27. Ihre Propagierung hat u. a. den Zweck, Pilger oder Heilungssuchende anzulocken, um die Einnahmen von Wallfahrtsstätten, Heilbrunnen oder Heilern zu erhöhen (cf. auch J Hildegardis)28. Da in der kathol. Kirche Wunder Voraussetzung der Heiligsprechung sind, können bezeugte W.en den Prozeß der Kanonisierung vorantreiben29. Kranken sind Berichte von W.en demgegenüber Quelle von Trost und Hoffnung. 9 . W. a ls Er zä hl mo ti v. In Erzählungen verschiedenster Gattungen kommen W.en als Motiv vor, allerdings werden sie oft nicht detailliert geschildert (cf. J Arzt)30. In Märchen werden etwa notwendige J Selbstschädigung oder zu Unrecht erlittene Verstümmelung durch übernatürliche Heilung wieder gutgemacht (cf. AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände, AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer; cf. auch J Lebenskraut, J Lebenswasser). In Var.n der Ringparabel wird der richtige Ring daran erkannt, daß er W.en bewirkt (J Ringe: Die drei R. ). Im Gegensatz zu Erzählungen von W.en zeugen W.en als Erzählmotiv
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Wunderheilung
oft von einem geringen Interesse an der Darstellung medizinischer Problemfälle. 1 0. Gl au bw ür di gk ei t v on W. en . Zu unterscheiden ist zwischen der J Glaubwürdigkeit der W.en selbst31 und der Erzählungen von ihnen. Oft wurden amtliche W.sberichte von Zeugen bestätigt32. Mündl. Erzählungen von W.en unterlagen dagegen keiner Kontrolle, doch wurden sie zweifellos mit Wahrheitsanspruch (J Wahrheit) verbreitet. Zweifel an W.en sind nicht erst seit der Aufklärung verbreitet. Schon der Gegner eines Husumer Wunderheilers des späten 17. Jh.s wußte, daß Autosuggestion einen größeren Heilungserfolg habe vermuten lassen als tatsächlich eingetreten sei: Bald nach der Rückkehr vom Heiler oder von einer heilkräftigen Quelle könne sich der Zustand wieder verschlechtern; die Berichte von W.en seien mündl. in Form von Gerüchten kolportiert und übertrieben worden, wobei Geltungssucht zu weiteren Heilungserzählungen geführt habe33. Allg. ist festzuhalten, daß allen Beurteilungen von W.en jeweils Plausibilitätskriterien zugrundeliegen, die über Zeit und Raum variieren (cf. J Mirakel, J Wunder)34. 1
Eckart, W. U.: Krankheit. In: Enz. der Neuzeit 7. [Darmstadt] 2008, 121⫺127. ⫺ 2 cf. Gramlich, R.: Die Wunder der Freunde Gottes. Theologien und Erscheinungsformen des islam. Heiligenwunders. Wiesbaden 1987, 306⫺314. ⫺ 3 Holländer, E.: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblattdrucken des 15. bis 18. Jh.s. Stg. 1921, 264⫺266; Contamine, P.: W. der K[öni]ge v[on] Frankreich. In: Lex. des MA.s 9. Mü. 1998, 367. ⫺ 4 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 74 sq. ⫺ 5 Bonomi, E.: Die Mirakelbücher der ´ buda-Kiscell/Kleinzell bei Althofen Wallfahrtsorte O und Makkos Ma´ria/Maria-Eichel bei Budakeszi in Ungarn. In: Jb. für ostdt. Vk. 12 (1969) 271⫺300, hier 279 sq.; Wittmer-Butsch, M./Rendtel, C.: Miracula. W.en im MA. Köln/Weimar/Wien 2003, 100⫺ 134. ⫺ 6 Bonomi (wie not. 5) 279; Wittmer-Butsch/ Rendtel (wie not. 5) 134⫺138. ⫺ 7 cf. Hand, W. D.: The Curing of Blindness in Folk Tales. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 81⫺87. ⫺ 8 Uther, H.-J.: Eulenspiegel als Wunderheiler. In: Wunderlich, W. (ed.): Eulenspiegel heute. Neumünster 1988, 35⫺48. ⫺ 9 Laan, K. ter: Folkloristisch woordenboek van Nederland en vlaams Belgie¨. Den Haag/Batavia 1949, 112; Christian, W. A.: Apparitions in Late Medieval and Renaissance Spain. Princeton 1989; Blackbourn, D.: Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Ger-
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many. Ox. 1993. ⫺ 10 Andresen, L.: Der Gesundbrunnen bei Rohrkarr. In: Die Heimat. Monatsschrift des Vereins zur Pflege der Natur- und Landeskunde in Schleswig-Holstein, Hamburg, Lübeck und dem Fürstentum Lübeck 38 (1928) 104⫺107; Schmidt, A. F.: Danmarks Helligkilder. Kop. 1926; Svane, S.: Danske helligkilder og lægedomskilder. Kop. 1984; Andersen, S.: Helligkilder og valfart. In: Festschr. T. Jexlev. Odense 1985, 32⫺44; Bringe´us, N.-A.: Vallfärder till S:t Olof. [Simrishamn] 1997; Johansen, J. C. V.: Holy Springs and Protestantism in Early Modern Denmark. In: Medical History 41 (1997) 59⫺69; Weikert, M.: I sjukdom och nöd. Offerkyrkoseden i Sverige fra˚n 1600-tal till 1800-tal. Göteborg 2004; Lotz-Heumann, U.: Repräsentationen von Heilwassern und -quellen in der Frühen Neuzeit. In: Pohlig, M. u. a.: Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. B. 2008, 277⫺330. ⫺ 11 Krötzl, C.: Pilger, Mirakel und Alltag. Formen des Verhaltens im skand. MA. Hels. 1994, 244⫺363. ⫺ 12 Beyer, J.: Conceptions of Holiness in the Lutheran Countries, c. 1550⫺1700. In: Papers Delivered at the Symposium Christian Folk Religion 2. ed. Ü. Valk. Dorpat 1999, 137⫺168, hier 157; Walsham, A.: Reforming the Waters. Holy Wells and Healing Springs in Protestant England. In: Life and Thought in the Northern Church, c. 1100⫺c. 1700. Festschr. C. Cross. Woodbridge 1999, 227⫺255, hier 231, 243. ⫺ 13 Vita Katherine. (Stockholm 1487) Faks. ed. T. Lunde´n. Uppsala 1981; Bonomi (wie not. 5) 281, 287⫺296; Kramer, K.-S.: Brauch, Sage, Glaube und „Predigtmärlein“ in einem Mirakelbuch der hl. Anastasia zu Benediktbeuern. In: Fabula 32 (1991) 119⫺ 131, hier 125. ⫺ 14 Klitgaard, C.: Flade Kirke. In: Jyske Samlinger 5,6 (1943⫺44) 74⫺86, hier 83⫺85; Sundberg, S.-G.: Offerkyrkor i gamla Växjöstiftet. Växjö 1989, 52⫺55; Hansen, J. I.: Løvøykapellet. In: Borreminne 14 (1998⫺99) 99⫺101. ⫺ 15 Lunde´n (wie not. 13); Collijn, I. (ed.): Processus seu negocium canonizacionis B. Katerine de Vadstenis. Uppsala 1942⫺46; cf. Krötzl (wie not. 11) 47⫺98; Fuchs, K.: Zeichen und Wunder bei Guibert de Nogent. Kommunikation, Deutungen und Funktionalisierungen von Wundererzählungen im 12. Jh. Mü. 2008. ⫺ 16 Tüskes, G.: Books of Miracles about Shrines in Hungary from the Baroque Period. In: Kvideland, R./Selberg, T. (edd.): The 8th Congress for the Internat. Soc. for Folk Narrative Research 4. Bergen 1985, 379⫺392; Kühnel, H.: ,Werbung‘, Wunder und Wallfahrt. In: Jaritz, G./Schuh, B. (edd.): Wallfahrt und Alltag in MA. und früher Neuzeit. Wien 1992, 95⫺113; Fischer, H.: Frommes Erzählen. Mirakelerzählungen als Ausdruck gläubig-religiösen Verhaltens. In: Rhein. Jb. für Vk. 35 (2003/04) 85⫺119. ⫺ 17 Weiterer Ber. Von dem wundersamen Heil⫽Brunnen/ […] Benebenst einer Specification derer Personen/ […] welche durch Gottes Gnade bey dem wundersamen Heilbrunnen in kurtzer Zeit seynd gesund worden […]. s. l. 1646; A Fvll Relation Concerning The Wonderfull and Wholsome Fountain. At first Discovered in Germany, two Miles from the City of
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Halberstadt […]. L. 1646; Hansen, E.: Fontinalia sacra, Det er: En kort Beretning Om Helenæ Kilders Oprindelse/ Brug oc Mißbrug/ udi Sieland […]. Kop. 1650, 8⫺13; Arvidsson, B.: En helig källas teologi före och efter reformationen. Helene Kilde i Tisvilde och E. Hansens „Fontinalia Sacra“ 1650. In: Kirkehistoriske Samlinger (1991) 89⫺116; Lotz-Heumann (wie not. 10) 297⫺305. ⫺ 18 Pedersen, C.: JærtegnsPostil. In: id.: Danske Skrifter 1⫺2. ed. C. J. Brandt/ R. T. Fenger. Kop. 1850⫺51, t. 1, 1⫺390; t. 2, 1⫺ 270; Rietz, E. (ed.): Svensk järteckens postilla. Lund 1850. ⫺ 19 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. B. 1981, 187 sq., 213, 323, 605 sq. ⫺ 20 Fischer (wie not. 16) 91 sq. ⫺ 21 Holländer (wie not. 3) 259, 263, 265, 268; Buchner, E.: Ärzte und Kurpfuscher. Kulturhist. interessante Dokumente aus alten dt. Ztgen (17. und 18. Jh.). Mü. 1922, 158, 160 sq., 225 sq., 228⫺230, 234 sq.; Ordinaire Post⫽Tidinger (1681) num. 27 (6. Juli), 32 (20. Juli), 34 (3. Aug.), 36 (17. Aug.), 38 (31. Aug.). ⫺ 22 Harbeck, H. H.: Chronik von Bramstedt. Hbg 1959, 23, 375; Bonomi (wie not. 5) 296; Fiedler, W.: Die Rinderpest in Schwed.-Pommern […]. In: Tierärztliche Umschau 60 (2005) 150⫺156, hier 156. ⫺ 23 Braunfels, W.: Wunder Christi (W.en). In: LCI 4 (1972) 542⫺549; Kühnel (wie not. 16) 100⫺ 109; Fischer (wie not. 16) 99. ⫺ 24 Tetsch, C. L.: Curländ. Kirchen⫽Geschichte 2. Königsberg/Lpz. 1768, 137⫺139; Fischer (wie not. 16) 108 sq. ⫺ 25 cf. z. B. „Testimonies about Miracle Healing“ (Christian Assemblies Internat.); „Gue´risons miraculeuses“ (Claude Drache, La Voix inte´rieure); „Jeg blev helbredt“ (Kim Quistgaard). ⫺ 26 Fischer, H.: Der Rattenhund. Sagen der Gegenwart. Köln/Bonn 1991, 41⫺44. ⫺ 27 Hume, D.: Of Miracles. In: id.: Essays, Literary, Moral, and Political. L. s. a., 553⫺568; Bonomi (wie not. 5) 288; Wingens, M.: Over de grens. De bedevaart van katholieke Nederlanders in de zeventiende en achttiende eeuw. Nimwegen 1994, 177⫺ 188; Johnson, T.: Blood, Tears and Xavier Water. In: Scribner, B./Johnson, T. (edd.): Popular Religion in Germany and Central Europe, 1400⫺1800. Basingstoke/L. 1996, 183⫺202, hier 195⫺202; Beyer, J.: Ein Husumer Gebetsheiler (1680/81) ⫺ vom Bankrotteur zur Heiligenfigur. In: Kieler Bll. zur Vk. 37 (2005) 7⫺29; Walsham, A.: Holywell. Contesting Sacred Space in Post-Reformation Wales. In: Coster, W./Spicer, A. (edd.): Sacred Space in Early Modern Europe. Cambr. 2005, 211⫺236; Rieder, P.: Miracles and Heretics. Protestants and Catholic Healing Practices in and around Geneva 1530⫺1750. In: Social History of Medicine 23 (2010) 227⫺243, hier 231⫺239. ⫺ 28 Kühnel (wie not. 16); Lotz-Heumann (wie not. 10). ⫺ 29 Duffin, J.: Medical Miracles. Doctors, Saints, and Healing in the Modern World. Ox. 2009. ⫺ 30 Mot., Reg. s. v. Cure, Healing; Uther (wie not. 4) 105⫺123; Neuland D 1500⫺D 1505; Jauhiainen D 601⫺D 678; Klintberg, B. af: The Types of the Swedish Folk Legend (FFC 300). Hels. 2010, num. B 6, B 7, B 49, M 143. ⫺
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cf. Sulmasy, D. P.: What Is a Miracle? In: Southern Medical J. 100 (2007) 1223⫺1228. ⫺ 32 Fischer (wie not. 16) 104; Rieder (wie not. 27) 238. ⫺ 33 Giese, A.: Vier Tractaten […]. Plön 1711, 209 sq.; ähnlich auch Wunder⫽Kind, (Kehrbergisches). In: [Zedler, J. H.:] Grosses vollständiges Universallexicon […] 59. Lpz./Halle 1749, 2122⫺2126, hier 2125 sq. ⫺ 34 cf. Alkier, S.: Wunder. 3: N. T. In: RGG 8 (42005) 1719⫺1722, hier 1722.
Dorpat
Jürgen Beyer
Wunderkind (AaTh/ATU 708), Zaubermärchen aus dem Themenkreis der unschuldig verfolgten J Frau (Kap. 3. 2.1). Die Normalform hat folgenden Verlauf: Eine junge Frau wird durch das Zaubermittel einer eifersüchtigen (neidischen) Gegenspielerin schwanger (J Empfängnis, wunderbare). Meist wird sie vor (gelegentlich nach)1 der Entbindung von ihrer Familie verstoßen und in einer lebensfeindlichen Umgebung ausgesetzt. Sie gebiert ein männliches Tierkind (J Tiergeburt) oder ein J Monstrum. Bereits unmittelbar nach der Geburt zeichnet sich das W. durch Stärke, Kenntnisreichtum, List und Treue (J Erwachsen bei Geburt) aus; es ermöglicht seiner Mutter das Überleben, erwirkt ihre Rehabilitierung und erlangt bei ihrer standesgemäßen Eheschließung selbst menschliche Gestalt sowie einen rechtmäßigen Status als Mitglied der Familie und Gemeinschaft. Die Gegenspielerin wird bestraft.
Zur hist. Entwicklung des in der Forschung kaum beachteten Erzähltyps ist nichts bekannt2. Die von A. J Wesselski angeführte Var. gehört zur Sage von J Robert dem Teufel3. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde AaTh/ATU 708 vorwiegend in Ost- und Mitteleuropa sowie im frz.sprachigen Teil von Kanada aufgezeichnet; darüber hinaus liegen arab. Var.n vor. Im allg. ist die Mutter des W.s eine Prinzessin, sie kann aber auch eine junge Königin4, die Tochter eines Kaufmanns5, eines Bauern6, eines Fuhrmanns7 oder eine Waise8 sein. Ihre Gegenspielerin stammt in fast allen Var.n aus dem engeren Familienkreis: Sie ist die Schwiegermutter9, Stiefmutter10, Mutter11, Schwägerin12 oder Schwester13 der jungen Frau, gelegentlich eine nicht zur Familie gehörende Hexe14. Bei dem von der Gegenspielerin oft mit List verabreichten Zaubermittel handelt es sich z. B. um den Schweiß aller wilden Tiere des Waldes15 oder einen aus deren Milch hergestellten Käse16, eine Brühe, die drei Tropfen
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Wunderkind
vom Blut jeder Art von Waldtier enthält17, einen aus der Wolle von allerlei Tieren gebrühten Trank18, ein Pulver, das in den Kaffee geschüttet wird19, einen Apfel20, einen Pfannkuchen21 oder eine halbe Scheibe Schinken22. In einer dt. Var. aus Siebenbürgen ist die junge Königin bereits schwanger, als ihre Schwiegermutter ihr Blutstropfen von tausenderlei wilden Tieren zu trinken gibt; infolgedessen ist die Haut des W.s mit ebenso vielen Blutflecken bedeckt23. In einer schwed. Var. verwandelt die Stiefmutter eines Königssohns diesen in eine schwarze Katze, die sie schlachtet und einer vorbeireisenden Prinzessin zu essen gibt; daraufhin bringt diese eine schwarze Katze zur Welt24. Orte der Verbannung sind der Wald25, die Wüste26 oder ein Abgrund, der von einem schweren Stein bedeckt ist27. Die Protagonistin kann aber auch in einem Faß auf einem Gewässer ausgesetzt (J Aussetzung)28 oder in einen Turm gesperrt werden29. In einer poln. Fassung heißt es, daß sie und ihr Sohn Richtung Wien reisen30. Die Verstoßung der Protagonistin ist in einer Reihe von Var.n damit verbunden, daß ihr Vater (Bruder) sie töten lassen will; sie wird jedoch stets von einem mitleidigen Diener verschont, der ⫺ falls gefordert ⫺ dem Auftraggeber falsche Todesbeweise bringt (J Tierherz als Ersatz)31. In etwa der Hälfte der untersuchten Fassungen hat das W. Tiergestalt32; ansonsten ist es ein durch abstoßende tierische Züge entstellter Mensch33. In einer norw. Var. ist es ein zottliges Garnknäuel34; in einer signifikant von der Normalform des Erzähltyps abweichenden arab. Version fliegen der durch Taubeneier geschwängerten Protagonistin zwei Täubchen aus den Nasenlöchern35. Das W. verfügt über außerordentliche J Stärke und Reife, in einigen Var.n auch über Zauberkraft36. Um der Mutter wieder zu ihrem Status zu verhelfen, begibt sich das W. an den Hof (zur Familie der Mutter), klärt die Intrige auf bzw. bewirkt, daß die Verstoßene wiedererkannt wird und zurückkehren darf 37. Anderen Fassungen zufolge bietet das W. in einer Situation, in der ein König (Prinz) sich in einer Notlage befindet, seine Hilfe an und fordert als Gegenleistung dessen Heirat mit seiner Mutter38. In der norw. Var. erkennt ein
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Prinz in der Mutter des Tiersohns die Prinzessin wieder, in die er vor ihrer Schwangerschaft verliebt war, und heiratet sie39. Bei der Hochzeit seiner Mutter erlangt das W. menschliche Gestalt, oft dadurch, daß es sich köpfen läßt (J Erlösung, Kap. 8)40. In der Var. aus Siebenbürgen müssen die Tiere, deren Blut die Entstellung des W.s verursacht hat, ihm die Haut sauber lecken41. In der norw. Var. rollt sich das W. in einer Suppenschüssel herum; als man es herauszieht, ist es zu einem schönen Prinzen geworden42. In einigen brit. Var.n legt es seine J Tierhaut ab und fliegt als Engel davon43. AaTh/ATU 708 weist in mehrfacher Hinsicht singuläre Züge auf: Der J Schadenzauber der Gegenspielerin ist ebenso außergewöhnlich wie das Phänomen, daß das W., die Ursache der Verstoßung, vom Augenblick seiner Geburt an die Unterstützung und Rehabilitierung der Mutter zum Ziel hat. 1 Pogatschnigg, V.: Märchen aus Kärnten. In: Carinthia 55 (1865) 357⫺359; Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Mü. 6 1956, num. 20; Kapełus´, H./Krzyz˙anowski, J.: Sto bas´ni ludowych. W. 1957, 228⫺233; Liungman 1, 282 sq. ⫺ 2 cf. Thompson, S.: The Folktale. N. Y. 1946, 125; Scherf 1, 572. ⫺ 3 Wesselski, MMA, num. 52. ⫺ 4 Haltrich (wie not. 1). ⫺ 5 Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, num. 46; Pogatschnigg (wie not. 1) 357. ⫺ 6 Sirova´tka, O.: Tschech. Volksmärchen. MdW 1969, num. 3; Levin, I.: Zarensohn am Feuerfluß. Russ. Märchen von der Weißmeerküste. Kassel 1984, 126⫺130; cf. Scherf 2, 1196⫺1198. ⫺ 7 Kapełus´ /Krzyz˙anowski (wie not. 1). ⫺ 8 Jahn, S. al Azharia: Arab. Volksmärchen. B. 1970, num. 15. ⫺ 9 Levin (wie not. 6). ⫺ 10 Petzoldt, L.: Märchen aus Österreich. MdW 1991, num. 38; Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen 1. Norden/Lpz. 1891, num. 13. ⫺ 11 Pogatschnigg (wie not. 1); Jech (wie not. 5). ⫺ 12 Jahn (wie not. 8). ⫺ 13 Sahlgren, J./Liljeblad, S.: Svenska sagor och sägner 3. Stockholm 1939, num. 9. ⫺ 14 DBF A 1, 388, 394. ⫺ 15 Pogatschnigg (wie not. 1). ⫺ 16 Grundtvig, S.: Dän. Volksmärchen. Lpz. 1878, 172⫺192. ⫺ 17 Jahn (wie not. 8). ⫺ 18 Levin (wie not. 6) 126. ⫺ 19 Sirova´tka (wie not. 6). ⫺ 20 National Folklore Collection, Dublin, num. 338:78 (1937). ⫺ 21 Hüllen, G.: Märchen der europ. Völker 3. Münster 1962, 19⫺25 (dän.). ⫺ 22 DBF A 1, 394. ⫺ 23 Haltrich (wie not. 1). ⫺ 24 Säve, P. A./Gustavson, H.: Gotländska sagor 1⫺2. Uppsala 1952/55, hier t. 1, num. 57. ⫺ 25 Hüllen (wie not. 21) 22; Grundtvig (wie not. 16); National Folklore Collection, Dublin, num. 338:70 (1937); Jahn (wie not. 8); Levin (wie not. 6). ⫺ 26 Jahn (wie not. 8). ⫺ 27 Haltrich (wie
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Wundermärchen ⫺ Wundermühle
not. 1). ⫺ 28 Liungman 1, 283; Kvideland, R./Eirı´ksson, H. Ö.: Norw. und isl. Volksmärchen. B. 1988, num. 27 (norw.); DBF A 1, 389; Ranke; Pogatschnigg (wie not. 1) 358; Sirova´tka (wie not. 6); Jech (wie not. 5); Berze Nagy. ⫺ 29 Säve/Gustavson (wie not. 24) t. 2, num. 124. ⫺ 30 Kapełus´ /Krzyz˙anowski (wie not. 1) 2. ⫺ 31 Jahn (wie not. 8); Grundtvig (wie not. 16); Kristensen, E. T.: Æventyr fra Jylland 2. Kop. 1884, num. 1. ⫺ 32 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 1. Helsingfors 1917, num. 86; Liungman 1, 282; Grundtvig (wie not. 16); Hüllen (wie not. 21); Kristensen (wie not. 31) t. 3, num. 52; National Folklore Collection, Dublin, num. 338:80 (1937); DBF A 1, 388, 394; Ranke (Var. 1); Pogatschnigg (wie not. 1); Berze Nagy (Var. 4). ⫺ 33 Sahlgren/Liljeblad (wie not. 13); Haltrich (wie not. 1); Jech (wie not. 5); Sirova´tka (wie not. 6); Berze Nagy; Levin (wie not. 6); Kapełus´/Krzyz˙anowski (wie not. 1); Jahn (wie not. 8). ⫺ 34 Kvideland/Eirı´ksson (wie not. 28). ⫺ 35 Jahn (wie not. 8). ⫺ 36 Wigström, E.: Sagor ock Äfventyr upptecknade i Ska˚ne. Stockholm 1884, 8⫺10. ⫺ 37 Hüllen (wie not. 21); National Folklore Collection, Dublin, num. 338:93 (1937); DBF A 1, 390, 394; Jahn (wie not. 8). ⫺ 38 Kvideland/Eirı´ksson (wie not. 28); Kristensen (wie not. 31); Grundtvig (wie not. 16); cf. Pogatschnigg (wie not. 1); Jech (wie not. 5); Sirova´tka (wie not. 6); Haltrich (wie not. 1); Ranke (Var. 1); Berze Nagy (Var. 4); Kapełus´/Krzyz˙anowski (wie not. 1) 3 sq.; Levin (wie not. 6) 128; Jahn (wie not. 8). ⫺ 39 Kvideland/Eirı´ksson (wie not. 28). ⫺ 40 Liungman 1, 283; Kristensen (wie not. 31) num. 2; Hüllen (wie not. 21); Ranke (Var. 1⫺2) ; National Folklore Collection, Dublin, num. 338:94 (1937); Pogatschnigg (wie not. 1) 359; Sutermeister, O.: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz. Aarau 1869, num. 47; Sirova´tka (wie not. 6); Levin (wie not. 6). ⫺ 41 Haltrich (wie not. 1). ⫺ 42 Kvideland/Eirı´ksson (wie not. 28). ⫺ 43 DBF A 1, 390, 394.
Dublin
Patricia Lysaght
Wundermärchen J Zaubermärchen Wundermotiv J Motiv Wundermühle (AaTh/ATU 565), Märchen aus der großen Gruppe von Erzählungen, in denen J Zaubergaben und ihre unsachgemäße Handhabung eine wichtige Rolle spielen (z. B. AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich, AaTh/ ATU 564: J Provianttasche). Es lassen sich zwei zentrale Redaktionen unterscheiden1. Die erste Redaktion nimmt ihren Ausgang vom Märchen Der süße Brei (1815: KHM 17; ab
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1819: KHM 103) in den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm2 und ist vereinzelt in Mitteleuropa aufgezeichnet worden3: Wie in KHM 153, ATU 779 H*: J Sterntaler steht ein ,armes, frommes Mädchen‘ im Mittelpunkt. Es begegnet einer alten Frau, die ihm ohne Gegenleistung einen J Topf schenkt, der selbständig J Speisen produziert und zubereitet, und verrät dem Kind die zum Funktionieren des Topfes notwendigen Formeln (cf. auch J Dingbedeutsamkeit, Dingbeseelung; J Zauberlehrling). Der zweite Teil der Handlung ist davon bestimmt, daß unsachgemäßer Gebrauch von Zaubergaben Unheil nach sich zieht: Da die Mutter des Mädchens die Zauberformel zur Beendigung des Kochvorgangs nicht kennt, kocht der Topf immer weiter, bis zum Schluß das ganze Haus von Brei überquillt. Erst das Kind kann den Topf zum Stillstand bringen.
Das Schlußmotiv erinnert an die bekannte Bearb. der J Schlaraffenland-Thematik (AaTh/ATU 1930) von Hans J Sachs. Dort heißt es eingangs über eine süße Wegsperre: Wer in das Schlaraffenland gelangen will, „der muß große Dinge unternehmen und sich durch einen Berg von Hirsebrei essen, der wohl drei Meilen dick ist“4. Die Vorstellungen von ständig gedeckten Tischen, von Zaubergaben oder magischen Helfern, die Speise und Trank jederzeit verfügbar machen, beruhen möglicherweise auf der Erinnerung an überlieferte oder selbsterlebte Mangelsituationen oder drücken eine Angst vor Notzeiten aus. Wünsche nach dauerhafter Versorgung könnten sich in Erzählungen wie AaTh/ATU 565 niedergeschlagen haben (cf. auch J Kollektivität, Kollektivbewußtsein). Die zweite und ausführlichere Redaktion ist weiter verbreitet. Sie findet sich seit Mitte des 19. Jh.s in Europa und später auch im Mittleren Osten und in Ostasien, in Teilen Afrikas sowie in Nord- und Mittelamerika; das zentrale Verbreitungsgebiet liegt in Skandinavien: Ein (armer) Mann bittet seinen (reichen) J Bruder um einen Schinken. Er erhält ihn unter der Bedingung, daß er tut, was ihm aufgetragen werde. Der Bruder sagt, er solle zum J Teufel gehen. Der Beschenkte nimmt dies wörtlich. Ein alter Mann rät ihm, bei den Teufeln den in der Hölle gewiß seltenen Schinken gegen eine hinter der Tür befindliche Handmühle (Topf) einzutauschen, und erklärt ihm die Funktion: sie produziere und mahle auf Zuruf eines Spruchs alles, was man sich wünsche (Mehl; Salz; Speisen; Topf, der sich mit Brei oder Reis füllt), und höre nur auf, wenn der Besitzer es befiehlt. Der Mann wird reich. Sein neidischer Bruder kauft ihm
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Wunderzeichen ⫺ Wundt, Wilhelm Maximilian
die W. ab (stiehlt sie ihm). Da er die Halteformel nicht kennt, mahlt sie unaufhörlich weiter. Erst der rechtmäßige Besitzer kann die Mühle anhalten und nimmt sie wieder in Besitz. Es kommt zu einem weiteren Besitzerwechsel der W. Ein Schiffseigner stiehlt sie (kauft sie für viel Geld) und läßt sie Salz mahlen. Da auch er die Halteformel nicht kennt (vergessen hat), mahlt sie soviel Salz, daß das Schiff versinkt. Sie mahlt noch auf dem Meeresboden weiter.
Der erste Beleg für diese Redaktion ist ein von P. C. J Asbjørnsen und J. J Moe ca 1843/ 44 veröff. norw. Märchen, das den Konflikt zwischen den Brüdern anschaulich durch die Polarisierung von J Arm und Reich und J Gut und Böse in der Gestalt eines freigebigen und eines geizigen Bruders darstellt5. Der ätiologische Schluß vermittelt eine Erklärung für den Salzgehalt des Meeres. Diese zweite Redaktion von AaTh/ATU 565 wird manchmal mit anderen Märchen kombiniert. In Var.n aus dem ostslav.6 und balt.7 Raum begegnen z. B. Verbindungen mit AaTh/ATU 715: J Halbhähnchen8. Hier zieht ein Hahn als Tierhelfer aus und beschafft die gestohlene W. eines armen Paares wieder. Aus verschiedenen Teilen Europas (bes. Skandinavien, Südosteuropa) sind Var.n mit AaTh/ATU 480 C*: Transporting White Bread to Hell als Eingang bekannt9: Der Arme bringt seinem reichen Bruder Weißbrot als Geschenk, das dieser jedoch mit dem Ausruf, er solle sich zum Teufel scheren, zurückweist. Auf seinem Weg zur Hölle trifft der Arme einen alten Mann. Auf dessen Anweisung rettet er zahlreiche Seelen aus der Hölle und wird dafür von dem alten Mann belohnt. Als der reiche Bruder ebenfalls Brot in die Hölle bringt, sich aber dem alten Mann gegenüber unhöflich verhält, bekommt er keinen Rat und wird von den Teufeln zerrissen.
Die Anschaulichkeit wird in der zweiten Redaktion durch die J Imitation gesteigert, doch den Nachahmern fehlen die notwendigen J Tugenden zum Erhalt der magischen Jenseitsgabe. Lohn für Barmherzigkeit sowie Strafe für Habgier und schroffes Verhalten sind die zentralen Themen. Daß J Mühlen über wunderbare J Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen, ist als Vorstellung in Sagen und Liedern öfter bezeugt. Eine W. begegnet schon in Grottaso˛ngr, dem eddischen Lied (J Edda) [von der Mühle] Grotti (24 Strophen): Der dän. König Fro´di zwingt zwei Riesinnen, auf der Mühle Grotti Reichtum, Frieden und Glück zu mahlen.
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Während der König und sein Gefolge schlafen, mahlen die Riesinnen jedoch Krieg und Feuer, bis die Mühle zerbricht10. Es ist nicht auszuschließen, daß das zentrale Motiv der W. aus der eddischen Dichtung als Grundidee für den erst im 19. Jh. nachgewiesenen Erzähltyp AaTh/ATU 565 gedient hat, wie seit J. Grimm11 verschiedene Forscher annehmen12. Der ätiologische Schluß ist jedenfalls eine spätere Zutat13. 1 cf. Christiansen, R. T.: Studies in Irish and Scandinavian Folktales. Kop. 1959, 154⫺187; Liungman, Volksmärchen, 167⫺171; Scherf, 885⫺889, 1167 sq.; Dekker/van der Kooi/Meder, 424⫺426; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 232⫺234. ⫺ 2 ibid. ⫺ 3 BP 2, 439; Heiligendorff, W.: Brei, Der süße. In: HDM 1 (1930⫺33) 320⫺323, hier 320. ⫺ 4 BP 3, 249 sq. ⫺ 5 Asbjørnsen, P. C./Moe, J.: Norske folkeeventyr. Christiania [ca 1843/44], num. 50. ⫺ 6 z. B. Afanas’ev, num. 188. ⫺ 7 z. B. Viidalepp, R.: Estn. Volksmärchen. B. 1980, num. 78. ⫺ 8 Christiansen (wie not. 1) 155 sq. ⫺ 9 Ara¯js/Medne 480 C*; Kerbelyte˙; SUS 480 C* (ukr.); BFP 480 *C**; Angelopoulou/ Brouskou 480 C*; Grønborg, O. L.: Optegnelser pa˚ Vendelboma˚l. ed. O. L. Nielsen. Kop. 1884, 89⫺ 91. ⫺ 10 Naumann, H.-P.: Grotta söngr. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 13. B./N. Y. 1999, 98⫺ 100. ⫺ 11 KHM 3 (1857) 183 sq.; cf. Grimm, Mythologie 2, 726 sq. ⫺ 12 Ranke 2, 257. ⫺ 13 Dekker/van der Kooi/Meder, 426.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Wunderzeichen J Prodigien
Wundt, Wilhelm Maximilian, *Neckarau 16. 8. 1832, † Großbothen bei Leipzig 31. 8. 1920, dt. Psychologe, Physiologe und Philosoph1. W. ist neben H. J Steinthal, F. Misteli (1841⫺1903) und M. Lazarus (1824⫺ 1903) der wichtigste Vertreter der J Völkerpsychologie und gilt als einer der Begründer der J Psychologie als wiss. Disziplin2. W. studierte 1851⫺55 in Heidelberg und Tübingen Medizin. Nach seiner Promotion (1855) führte er seine Studien in Berlin fort, wo er Anschluß an die von J. P. Müller (1801⫺58) vertretene neue Richtung der Physiologie fand. W. habilitierte sich 1857 und war 1858⫺62 als Assistent von H. von Helmholtz (1821⫺94) in Heidel-
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Wunsch, wünschen
berg tätig. 1864 erhielt er an der dortigen Univ. eine Professur für Anthropologie und Psychologie. 1866⫺69 wirkte W., der auch Mitbegründer des Vereins dt. Arbeitervereine war, in der 2. Kammer der Bad. Ständeversammlung als Vertreter Heidelbergs und trat für Bismarcks Pläne zur Reichseinigung ein. 1874 nahm er eine Professur für Induktive Philosophie in Zürich an, folgte aber bereits 1875 einem Ruf nach Leipzig, wo er 1879 das erste Institut für experimentelle Psychologie einrichtete3. In seiner Heidelberger Zeit setzte sich W., der sich bis dahin vor allem mit Physiologie beschäftigt hatte, intensiv mit psychol. Fragestellungen auseinander und unternahm erste Schritte auf dem Feld der Experimentalpsychologie4. Dem Phänomen der J Seele versuchte er sich mit experimentellen Mitteln, wie sie in der Physiologie zur Anwendung gelangten, zu nähern. Auch auf dem Gebiet der Philosophie5 beschäftigte sich W. mit Fragen der Beschaffenheit der Psyche. Seine wichtigsten Arbeiten verfaßte W. in Leipzig6. Seine Studien auf dem Gebiet der Völkerpsychologie, die so unterschiedliche Bereiche wie Sprache, Mythen, Kunst und Sitten abdecken, mündeten in eine umfassende Behandlung der Kulturpsychologie der Völker7. Deren Bedeutung liegt neben der Weiterentwicklung früherer Ansätze in W.s eigenständigem Zugang, der durch seine physiologische, psychol. und phil. Ausbildung geprägt ist. Von zentraler Bedeutung für W.s Analysen ist seine Differenzierung zwischen ,freier Seele‘ (Atem- oder Hauchseele einerseits und Schattenseele andererseits) und ,Körperseele‘. Das Konzept der separaten freien Seele stellt für ihn die Voraussetzung für die Entwicklung von Gottesvorstellungen dar und bringe zahllose Vorstellungen aus J Träumen und ekstatischen Zuständen (etwa von J Besessenheit) hervor, wie sie in religiösen Praktiken (etwa dem J Schamanismus) zum Ausdruck kommen und Reflexe in Mythen, Märchen, Legenden und anderen Formen des Erzählguts finden. Die Ursprünge des Erzählguts sah W. dabei außerdem in den Lebensbedingungen des frühen Menschen bzw. der sog. Naturvölker (J Naturvölkermärchen) begründet. W. vertrat ⫺ wie schon Steinthal8 ⫺ nicht nur in bezug auf die Religionsgeschichte eine evolutio-
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nistische Sicht. Als Urform allen Erzählguts ⫺ und zwar sowohl von Märchen, Sage und Legende ⫺ betrachtete er von ihm als Mythenmärchen9 bezeichnete nicht näher konkretisierte alte Erzählungen10. Zu W.s Schülern zählen u. a. F. J Boas, E´. Durkheim (1858⫺1917) und B. J Malinowski11. 1 Meischner, W.: W. W. Leben und Werk. In: Wiss. Zs. der Karl-Marx-Univ. Lpz., gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 29,2 (1980) 117⫺128; Schneider, C. M.: W. W.s Völkerpsychologie. Entstehung und Entwicklung eines in Vergessenheit geratenen wiss.shist. relevanten Fachgebietes. Bonn 1990, 165⫺194 (Schr.verz.). ⫺ 2 Hall, S.: Die Begründer der modernen Psychologie: Lotze, Fechner, Helmholtz, W. Lpz. 1914; Meischner, W.: W. W. und die Psychologie. In: W. W. Progressives Erbe, Wiss.sentwicklung und Gegenwart. Lpz. 1980, 1⫺20. ⫺ 3 Thiermann, W.: Zur Geschichte des Leipziger psychol. Inst.s. W. W. und seine Berufung an die Leipziger Univ. In: Wiss. Zs. der Karl-Marx-Univ. (wie not. 1) 129⫺ 136. ⫺ 4 W., W.: Beitr.e zur Theorie der Sinneswahrnehmung. Lpz. 1862; id.: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele 1⫺2. Lpz. 1863; id.: Grundzüge der physiologischen Psychologie 1⫺2. Lpz. 1873 (t. 1⫺3. Lpz. 61911); cf. Hiebsch, H.: W. W. und die Anfänge der experimentellen Psychologie. B. 1977; Meischner, W./Metge, A.: Die Rolle W. W.s bei der Herausbildung der experimentellen Psychologie. In: Wiss. Zs. der Karl-Marx-Univ. (wie not. 1) 151⫺ 159. ⫺ 5 W., W.: Logik. Eine Unters. der Principien der Erkenntnis und der Methoden wiss. Forschung 1⫺2. Stg. 1880/83 (t. 1⫺3. Stg. 31908); id.: Ethik. Eine Unters. der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens 1⫺2. Stg. 1886/1903 (t. 1⫺3. Stg. 4 1912); id.: System der Philosophie. Lpz. 1889 (41919); id.: Sinnliche und übersinnliche Welt. Lpz. 1914. ⫺ 6 W., W.: Phil. Studien 1⫺18. Lpz. 1881⫺ 1903; id.: Psychol. Studien 1⫺10. Lpz. 1906⫺17. ⫺ 7 id.: Völkerpsychologie. Eine Unters. der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte 1⫺10. Lpz. 1900⫺20 (hiervon t. 1⫺6. Lpz. 21904⫺15; t. 1⫺ 4. Lpz. 31911⫺20); cf. Schneider (wie not. 1); W. W. ⫺ Völkerpsychologie. Ein Reader. ed. C. Schneider. Göttingen 2008. ⫺ 8 Steinthal, H.: Mythos und Religion. B. 1870. ⫺ 9 W. 1906⫺17 (wie not. 6) t. 2,3 (1909) 473. ⫺ 10 ibid., 29 sq.; id.: Märchen, Sage und Legende als Entwicklungsformen des Mythus. In: ARw. 11 (1908) 200⫺222; cf. auch Klatt, W.: Hermann Gunkel. Göttingen 1969, 135. ⫺ 11 cf. Schneider (wie not. 1) 195⫺207.
Göttingen
Michael Knüppel
Wunsch, wünschen. Ein W. ist das Begehren oder Verlangen nach etwas, das man gern haben oder verwirklicht sehen möchte. Das Verb
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Wunsch, wünschen
wünschen kann gelegentlich die Bedeutung verlangen, fordern haben. Die von W. J Grimm seit der 3. Ausg. von 1837 gewählte Eingangsformel zu KHM 1, AaTh/ATU 440: J Froschkönig: „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“ steht programmatisch für die Gattung J Märchen; diese gilt als J W.dichtung schlechthin (J Optimismus)1: Das Märchen „stellt uns eine Welt dar, die in Ordnung ist, und befriedigt damit den letzten und ewigen Wunsch des Menschen. Es will eine echte Befriedigung dieses Wunsches sein.“2 Sowohl im soziol.-kritischen Sinn als auch pädagogisch anerkennend wurden Märchen als ,W.erfüllungsdichtung‘ bezeichnet3. Gute und böse W.e der Figuren treiben die Handlung voran, bes. in Zaubermärchen mit den komplementären Strukturelementen W. und Erfüllung, J Verwünschung und J Erlösung4. Steht das Wünschen mit materiellen J Gaben in Zusammenhang oder ist es mit magischen Handlungen verbunden, liegen Überschneidungen mit dem J Zauber vor. Im Gegensatz zum Märchen (und z. T. zur Legende) werden W.vorstellungen in Sagen häufig konkreter realisiert: Nach M. J Lüthi steht in Sagen die Erfüllung alltäglicher W.e, bes. durch Gaben, im Vordergrund: „Nahrungsmittel, Gebrauchsdinge, Erze und Mineralien aller Art, Geld und Geschmeide befriedigen die materiellen Wünsche materiell bedürftiger und materiell ausgerichteter einfacher Menschen.“5 Sagenhafte W.erfüllung (oft durch den J Teufel, wie z. B. im J FaustStoff) bleibt auf irdische W.e beschränkt und zeitlich begrenzt6. Daß solchen Gaben häufig etwas Trügerisches und Bedrohliches anhaftet, verdeutlicht der sagentypische Zweifel an solcher Art von W.erfüllung (J Pessimismus)7. Im Märchen wird mit Vorliebe eine beschränkte Anzahl von W.en bewilligt, in der Regel J drei (cf. AaTh/ATU 750 A⫺D: Die drei J W.e; Mot. F 341)8. In der Moderne sehr präsent sind W.e im Witz; häufig gewährt bzw. erfüllt eine Fee drei W.e9. Im Sinne einer moralischen Unterstützung werden im Alltag Grüße, Glückwünsche, Trinksprüche etc. als gute W.e (bene dicere) ausgesprochen10. Böse W.e oder Unheilswünsche (male dicere) wünschen jemandem ,die Pest an den Hals‘ oder jemanden dorthin, ,wo der Pfeffer wächst‘11. ,Hals- und Beinbruch‘ dagegen wird als apo-
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tropäischer W. verstanden, geht aber auf hebr. ,hazlo´che un bro´che‘ (Glück und Segen) zurück12. Jeder W. kann implizit als Eingeständnis eines subjektiv empfundenen J Mangels verstanden werden13. Eine bes. große Rolle spielt der Kinderwunsch J unfruchtbarer Frauen oder Männer, auffallend häufig in russ. und griech. Märcheneingängen14. Wird dieser erfüllt, ist das W.kind tendenziell außergewöhnlich; aus psychol. Sicht hat man den starken Kinderwunsch mit einer Schuld der Eltern in Verbindung gebracht15. Derartige Kinder kommen beispielsweise als Pflanzen (AaTh 407 A/ATU 407: cf. J Blumenmädchen), Tiere (AaTh/ATU 433 B: J König Lindwurm, AaTh/ ATU 441: J Hans mein Igel; cf. J Tiergeburt)16 oder J Däumling (AaTh/ATU 700)17 auf die Welt18. In AaTh/ATU 709: J Schneewittchen bekommt die Königin eine Tochter entsprechend ihrer W.vorstellung, doch bezahlt sie die W.erfüllung mit dem Leben. Um seine Verwünschung rückgängig zu machen, wünscht sich der Esel die Königstochter zur Frau (AaTh/ATU 430: J Asinarius). In einem ma. Schwank (AaTh/ATU 1476 A: cf. J Alte Jungfer) gilt der naive Herzenswunsch der Beterin, den sie an die hl. J Anna richtet, einem bestimmten Mann19. Der W. nach einem (konkreten) Ehemann wird in AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne auf nichtmagische Weise, als Folge von Belauschen, erfüllt. In AaTh/ATU 425 C: cf. J Amor und Psyche hingegen kann er als poetische Umschreibung aufgefaßt werden: Das vom Vater erwünschte Reisegeschenk, oft eine Rose, führt die jüngste Tochter und den J Tierbräutigam zusammen20. AaTh/ATU 675: Der faule J Junge gestattet die Erfüllung gesellschaftlich nicht genehmer oder verbotener W.e in der Phantasie: Der von der Prinzessin verspottete J unscheinbare Protagonist wünscht dieser ein Kind an (J Empfängnis: Wunderbare E. ). Der J Prinz, dessen W.e in Erfüllung gehen (AaTh/ATU 652), kann seine Gedanken Realität werden lassen. Märchenhelden bedienen sich zur Erreichung ihrer Ziele materieller oder immaterieller Gaben, dabei zielt der W. des Protagonisten primär auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse. Alt und zeitlos sind W.phantasien von
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Paradiesflüssen voll Milch oder Wein (cf. AaTh/ATU 1930: cf. J Schlaraffenland). Viele w.erfüllende J Zaubergaben dienen als Nahrungs- oder Geldspender, als Stärkungs- oder als Transportmittel zur „Verbesserung der menschlichen Minderwertigkeit“21. Mitunter stehen sie in greifbarem Bezug zu den W.en bestimmter Berufsgruppen: Der Jäger bekommt eine Büchse, die das Ziel nie verfehlt (AaTh/ATU 304: Der gelernte J Jäger), der Musikant ein Instrument, das alle tanzen läßt (AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke), der Spieler Karten, die immer gewinnen (AaTh/ATU 330 C/ATU 330: cf. J Schmied und Teufel)22. Gelegentlich hat der Märchenheld einen konkreten W. und eignet sich die zur Erfüllung benötigten Dinge im Rahmen von AaTh/ATU 518: J Streit um Zaubergegenstände an (z. B. AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau). Der Teufelsbündner in AaTh 330 A, B, D/ATU 330: cf. Schmied und Teufel entkommt seinem Gegenspieler mit Hilfe dreier W.e, die ihm der hl. J Petrus gewährt: Er wünscht sich Gegenstände, mit denen er den Teufel oder seine Gehilfen abwehren kann und die ihm J Unsterblichkeit oder nach seinem Tod Zutritt zum Himmel verschaffen. Klug wünschen auch, nach Ansicht frommer Erzähler, Helden, welche von Gott ,das ewige Himmelreich‘ erbitten (KHM 135, AaTh 403 A/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; KHM 87, AaTh/ATU 750 A). In einer Volkserzählung aus Lothringen schenkt eine dankbare Bettlerin dem Helden ein w.erfüllendes Stöckchen; er und seine Frau verlangen ,nie zu viel‘ und helfen immer den Armen23. Scheinbar wertlose Gegenstände, oft Lohn für eine gute Tat oder Verdienst, erweisen sich als W.dinge (AaTh/ATU 569: J Ranzen, Hütlein und Hörnlein). Mit einem Wunderstein24 oder J Zauberring (AaTh/ATU 560) kann der Besitzer sich alles wünschen, wozu er Lust hat. Beim Drehen des Rings oder Reiben der Wunderlampe (AaTh/ATU 561: J Alad[d]in) erscheinen dienstbare Geister (magische Helfer), die nach W.en fragen25 und diese erfüllen (müssen). Gegenüber einem ,kleinen Neger‘ (port.) oder einem schwarzen Männchen (dt.) formuliert der Besitzer nicht W.e, sondern er-
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teilt Befehle26. Eine ähnliche Funktion erfüllen J Zaubersprüche. Einige Erzähltypen handeln von törichten W.en (z. B. AaTh/ATU 775: cf. J Midas). In Var.n des Legendenschwanks AaTh/ATU 750 A äußern die Eheleute unbedacht einen banalen W. (etwa eine Bratwurst); auf diesen folgt ein zweiter, im Ärger ausgesprochener (die Bratwurst wird dem ersten Wünscher vom zweiten an die Nase gewünscht); der dritte W. muß benutzt werden, um den zweiten wieder rückgängig zu machen; am Schluß stehen die Eheleute mit leeren Händen und zerstritten da27. Überraschend viele Märchenwünsche zeitigen Unglück28. Von mißlungener Glückserfüllung erzählt AaTh 173, 828/ATU 173: J Lebenszeiten des Menschen: Der Mensch, der sich zu den 30 gewährten Jahren von Gott noch die geschenkte Zeit des Esels, des Hundes und des Affen wünscht, erhält damit auch deren Eigenschaften. Weil der Protagonist in AaTh/ATU 400 seine Frau, obwohl sie ihm dies verboten hatte, mit einem W.ring herbeiwünscht, wird sie von ihm getrennt, und er muß sich auf eine J Suchwanderung nach ihr begeben. Maßloses W.en, ja J Hybris gegenüber dem Schöpfergott lassen den J Fischer und seine Frau (AaTh/ATU 555) wieder in ihrem ursprünglichen Elend landen. AaTh/ATU 1415: J Hans im Glück wurde als Spottmärchen29 oder als schwankhafte Parodie eines W.märchens aufgefaßt: „Alle Wünsche gehen in Erfüllung, obwohl immer das Nicht-Wünschenswerte in Erfüllung geht, nämlich der Verlust des Besitzes.“30 Klug wünschen Zaubermärchenheldinnen wie in AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella: Aschenputtels Gold- und Silberwünsche für das kgl. Fest in KHM 21 sind nicht bescheiden, aber sinnvoll; J Perraults Cendrillon steht eine Patenfee beratend zur Seite. Von existentieller Bedeutung sind die W.e der vom J Inzest bedrohten Prinzessin in AaTh/ATU 510 B: cf. Cinderella31. Sie verlangt vom Vater drei kosmische Kleider und eine Tierhaut, bevor sie flieht. Gute W.e im Sinne von Wundergaben für das Neugeborene sprechen (Paten-)Feen aus (cf. J Schicksalserzählungen). In AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit begaben elf weise Frauen die Protagonistin mit Tugend, Schönheit und Reichtum. Für die Märchenhandlung
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relevant sind der Todeswunsch der dreizehnten sowie dessen Abmilderung zum J Zauberschlaf durch die zwölfte weise Frau. Mit einem letzten W. (J Gnade, letzte) retten die Gänse im Tierschwank AaTh/ATU 227: J Fuchs und Gänse ihr Leben (cf. auch AaTh/ATU 927 A⫺D: cf. Der letzte J W.; J Todesart wählen). Klug handelt, wer sich einen einzigen oder letzten W. für Notlagen aufspart, so der Bauer in Richard von VolkmannLeanders Der W.ring bzw. Mathilde, die Heldin in Die Nymphe des Brunnens von J Musäus32. Die begrenzte Anzahl gewährter W.e umgeht die Prinzessin in einer dän. Var. von AaTh/ATU 675: Sie füllt ihre Schürze mit kleinen Steinen und fordert den Helden auf, sich als dritten W. ebenso viele neue W.e zu wünschen; dann absolviert sie mit ihm eine Art W.training33. Damit die w.erfüllende Laterne in einer rätorom. Fassung von AaTh/ATU 561 nicht wieder in falsche Hände geraten kann, versenkt der König sie im Meer (cf. AaTh/ ATU 565: J Wundermühle)34. W.e im Märchen sind eng verbunden mit Phantasie und Lebensträumen35, bes. mit der Frage nach dem wahren J Glück. Dieses wird nicht immer als Erfüllung aller W.e verstanden, sondern kann, wie in AaTh/ATU 844: J Hemd des Glücklichen, als von weltlichen Gütern unabhängiger immaterieller Wert gesehen werden: Der kranke König soll das Hemd eines vollkommen glücklichen Mannes anziehen, um zu gesunden. Der einzige glückliche Mann, der sich findet, besitzt jedoch kein Hemd36. Türk. Märchen enden oft mit der Formel: ,Sie haben ihren Wunsch erreicht‘37, pers. mit: ,Sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht‘38. Bei S. J Freud ist der J Traum der Versuch einer W.erfüllung (J Traumdeutung, Traumtheorie). Für B. Boothe sind Märchen Konfigurationen psychischer Entwicklungsherausforderungen im Spiegel wunscherfüllender Modelle; gerade die Märchen der Brüder J Grimm zeigten stimmige W.dramaturgien und die ,Intelligenz des Wünschens‘39. In populären Glaubensvorstellungen vieler Völker kann sich jemand, der eine Sternschnuppe beobachtet, etwas wünschen40. 1
Rölleke, H.: Die Märchen der Brüder Grimm. Stg. 2004, 43; Wardetzky, K.: Das Glück beim Schopfe gepackt. Wünschen und W.erfüllung in Märchen von
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Kindern. In: Verlangen, Begehren, Wünschen. ed. B. Boothe. Göttingen 1999, 99⫺130, hier 100; cf. Gobrecht, B.: W.e, die in Erfüllung gehen. Von Patenfeen und W.bäumen. In: Der W. im Märchen/Heimat und Fremde im Märchen. ed. ead./H. Lox/T. Bücksteeg. Mü. 2003, 85⫺105, hier 93. ⫺ 2 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 41974, 82. ⫺ 3 Sieber, F.: W.e und W.bilder im späten dt. Zaubermärchen. In: DJbfVk. 3 (1957) 11⫺30, hier 12. ⫺ 4 Freund, W.: Märchen. Köln 2005, 140. ⫺ 5 Lüthi, M.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Bern 1943, 142; cf. id.: Psychologie des Märchens und der Sage. In: Die Psychologie des 20. Jh.s 15. ed. G. Condrau. Zürich 1979, 935⫺947, hier 944 (Sage als W.erfüllung). ⫺ 6 cf. Obenauer, K. J.: Das Märchen. Ffm. 1959, 75 sq. ⫺ 7 cf. Lüthi 1943 (wie not. 5). ⫺ 8 BP 2, 212, 225⫺228. ⫺ 9 Tuczay, C.: Das Motiv der drei W.e in Schwank, Legendenmärchen und Witz. In: Fabula 40 (1999) 85⫺109, 104⫺109; cf. Gobrecht (wie not. 1) 85. ⫺ 10 Bittner, R.: Wozu Wünschen gut ist. In: Boothe (wie not. 1) 19⫺38, hier 30⫺32. ⫺ 11 Röhrich, Redensarten 4, 1151; Wander 5, 456; Köhler-Zülch, I.: Zur imperativen Verwünschung im Märchen. In: Gobrecht u. a. (wie not. 1) 26⫺41. ⫺ 12 Röhrich, Redensarten 2, 633; Landmann, S.: Jüd. Anekdoten und Sprichwörter. Mü. 1965 (71974), 87. ⫺ 13 Heindrichs, U.: Märchen als W.dichtung? In: Gobrecht u. a. (wie not. 1) 12⫺25, hier 23. ⫺ 14 Röhrich, L.: A. N. Afanasjew und das russ. Volksmärchen. In: Afanasjew, A. N.: Russ. Volksmärchen 2. Mü. 1985, 915⫺949, hier 929 sq.; Hahn, num. 4, 5, 6, 8, 14, 15, 21, 22, 29, 31 u. ö.; cf. Gobrecht, B.: Märchenreise nach Griechenland. Reinach 2007, 22. ⫺ 15 Altmann-Glaser, C.: W.kinder im Märchen aus psychol. Sicht. In: Gobrecht u. a. (wie not. 1) 56⫺71, hier 56; Weber, K.: Kinderwunsch und W.kinder. Das gewünschte und das verwünschte Kind im Märchen und im Leben. Waiblingen 1992, 9. ⫺ 16 Obenauer (wie not. 6) 73. ⫺ 17 cf. aber Oriol, C.: The Catalan Versions of AaTh 700: a Metaphor of Childbirth. In: Fabula 38 (1997) 224⫺244, hier 234 sq., 241 sq.; ead.: „Thumbling“ (ATU 700), a Folktale from Early Childhood. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 223⫺244, hier 224⫺227, 232⫺235. ⫺ 18 Weber (wie not. 15) 29⫺ 31. ⫺ 19 cf. Lüthi, M.: Von der Freiheit der Erzähler. In: Neue Zürcher Ztg (6.6.1971) 51 sq. ⫺ 20 cf. Gobrecht, B./Horn, K.: Amor und Psyche. Grundlage aller Tierbräutigam-Märchen? In: Tierbräutigam und Tierbraut im Märchen. ed. B. Gobrecht. Ersigen 2008, 9⫺34, bes. 24⫺26; Schmidt, B.: Griech. Märchen, Sagen und Volkslieder. (Lpz. 1877) Nachdr. Hildesheim 1978, num. 10 (Rose). ⫺ 21 Riklin, F.: W.erfüllung und Symbolik im Märchen. Wien/Lpz. 1908, 19 sq. ⫺ 22 Sieber (wie not. 3) 18. ⫺ 23 Früh, S./Reitmaier, H.: Märchen vom Wünschen. Krummwisch 2009, 8⫺12. ⫺ 24 KHM (1819) 104. ⫺ 25 z. B. Uffer, L.: Rätorom. Märchen. MdW 1983, num. 25. ⫺ 26 z. B. Meier, H./Woll, D.: Port. Märchen. MdW 1975, num. 8; KHM 116. ⫺ 27 Solms, W.: Wozu drei W.e? In: Gobrecht u. a. (wie
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Wunsch: Der letzte W.
not. 1) 106⫺117, hier 110; cf. Ellis, B.: Wish. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 3. ed. D. Haase. Westport, Conn. 2008, 1031. ⫺ 28 Rölleke, H.: Glück und Unglück in Grimms Märchen zu den Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat. In: Märchen-Glück. Glücksentwürfe im Märchen. ed. S. Ehlers. Baltmannsweiler 2005, 5⫺20, hier 10. ⫺ 29 Bausinger, H.: Märchenglück. In: Zs. für Lit.wiss. und Linguistik 50 (1983) 17⫺27, hier 24; Röhrich, L.: Wunschlos (un-)glücklich. In: Gobrecht u. a. (wie not. 1) 130⫺143, hier 141. ⫺ 30 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 58. ⫺ 31 Gobrecht (wie not. 1) 89⫺93, 97; cf. BP 1, 172. ⫺ 32 Volkmann-Leander, R. von: Träumereien an frz. Kaminen. Mü. 1966, 39⫺42; Musäus, J. K. A.: Volksmärchen der Deutschen. ed. N. Miller. Mü. 1976, 279⫺325; cf. Gobrecht (wie not. 1) 99 sq. ⫺ 33 Grundtvig, S.: Dän. Volksmärchen [1]. Lpz. 1878, 116⫺124. ⫺ 34 Uffer (wie not. 25). ⫺ 35 Gobrecht, B.: Wenn W.e erfüllt und Träume wahr werden. In: Schritte ins Offene 6 (2010) 10⫺13. ⫺ 36 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 142. ⫺ 37 Spies, O.: Türk. Märchen. MdW 1991, z. B. num. 26, 27, 29, 33. ⫺ 38 Marzolph, U./Amirhosseini-Nithammer, A.: ˚ a¯nom 2. WiesDie Erzählungen der Masˇdi Galin H baden 1994, 28 sq. ⫺ 39 Boothe, B.: Einige Bemerkungen zum Konzept des Wünschens in der Psychoanalyse. In: Über das Wünschen. ed. ead./R. Wepfer/ A. von Wyl. Göttingen 1998, 203⫺224; ead.: Sozialfunktion des Märchenglücks. Dynamische Handlungslogik der Grimmschen Märchen im Spiegel der W.erfüllung. In: Ehlers (wie not. 28) 92⫺102, hier 92, 95; ead.: Wie ist es, glücklich zu sein? Märchen zeigen, wie man in der Welt des Wunderbaren sein Glück macht. In: Wie kommt man ans Ziel seiner W.e? Modelle des Glücks in Märchentexten. ed. ead. Gießen 2002, 127⫺152, bes. 134, 140⫺144, 149; ead.: Der W. im Märchen ⫺ der W. als Märchen. In: Gobrecht u. a. (wie not. 1) 42⫺55, hier 55. ⫺ 40 cf. BP 3, 234 sq., not. 3; HDA 8 (1936⫺37) 470.
Gebenstorf
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1587/ATU 927 D: J Baum zum Hängen gesucht, AaTh/ATU 1199: J Gebet ohne Ende und AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke. Der letzte W. ist auch Gegenstand moderner Witzbücher: Während der Hinrichtung auf dem Elektrischen Stuhl soll der Gefängnisdirektor die Hand des Verurteilten halten1. Bei Todeskandidaten löst das Wissen um die unmittelbar bevorstehende Hinrichtung sehr unterschiedliche Reaktionen aus, von der Akzeptanz des nahenden Todes bis hin zu (erfolgreichen) Versuchen, der Hinrichtung zu entgehen. Vor der Vollstreckung des J Urteils wird den Betroffenen häufig die Erfüllung einer letzten Bitte zugesagt2. Hist. bezeugt ist in diesem Kontext auch die sog. Henkersmahlzeit3. Die aktuelle gesellschaftliche Relevanz von Gnadengesuchen zeigt sich in den Todestrakten heutiger Gefängnisse: Weltweit warteten im Jahr 2012 fast 20000 zum Tode Verurteilte auf ihre Hinrichtung; viele Gnadengesuche werden abgelehnt4. Die reale Bedeutung des letzten W.es spiegelt sich ⫺ wenn auch ungleich weniger dramatisch ⫺ in modernen Formen von Willensbekundungen zum Lebensende. So können Interessenten in einschlägigen Internetportalen ihre letzten W.e dokumentieren. Zu den Willensbekundungen am Lebensende zählen auch Patientenverfügungen, Erklärungen des Patienten, mit denen er zukünftigen ärztlichen Maßnahmen im voraus zustimmt oder diese untersagt. Patientenverfügungen sind in Deutschland seit 2009 gesetzlich geregelt und Bestandteil der Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung5.
Barbara Gobrecht
Wunsch: Der letzte W. (AaTh/ATU 927 A, ATU 927 B⫺C) 1. Allgemeines ⫺ 2. AaTh/ATU 927 A ⫺ 3. ATU 927 B ⫺ 4. ATU 927 C
1 . All ge me in es. Das vorliegende Lemma dient als Sammelbegriff für unterschiedliche Erzählungen zum Motiv des listigen Wünschens, durch das ein zum Tode Verurteilter der J Hinrichtung entgeht. Die Thematik wird auch in den Art.n J Galgenhumor, die letzte J Gnade, J Halslöserätsel und J Todesart wählen behandelt; darüber hinaus bestehen enge inhaltliche Parallelen zu AaTh
2 . AaTh/ AT U 9 27 A. Der Erzähltyp AaTh/ATU 927 A: An Execution Evaded by Using Three Wishes versammelt Geschichten, in denen die Handlungsträger die Vollstrekkung eines gegen sie verhängten Todesurteils durch die Äußerung von drei klug gewählten W.en verhindern können: Ein (junger) Mann hält sich an einem Königshof auf, an dem Verbote gelten, auf deren Nichteinhaltung die Todesstrafe steht: Es ist verboten, bei Tisch den Fisch zu wenden, das Messer fallen zu lassen oder laut zu sprechen. Als er eines dieser Verbote übertritt, wird er zum Tode verurteilt, darf aber noch drei letzte W.e äußern, deren Erfüllung ihm zugesichert wird. Er wünscht die Krönung zum König (Kaiser), die Vermählung mit der Tochter des Königs und die Blendung der Zeugen seiner Vergehen. Dar-
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Wunsch: Der letzte W.
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aufhin behaupten alle Anwesenden, sie hätten nichts gesehen. Der Angeklagte kommt frei.
beweis ihrer Herrscher die Todesart selbst wählen dürfen.
Erste schriftl. Aufzeichnungen des Erzähltyps liegen bereits aus dem 9. Jh. vor; er begegnet bei J Notker Balbulus (Gesta Karoli Magni Imperatoris 2,6), bei Alexander J Neckam (De naturis rerum 2,40), in den J Gesta Romanorum (num. 194) sowie in der isl. Ma´gus-Saga (Kap. 76⫺78)6. Die im 19./20. Jh. aus mündl. Überlieferung aufgezeichneten Var.n von AaTh/ATU 927 A stammen überwiegend aus Europa (Lettland7, Island8, Friesland9, Türkei10). Einzelbelege gibt es aus Brasilien11 sowie aus dem arab. Sprachraum12. Die letzten W.e unterscheiden sich voneinander, doch am Schluß der Erzählung steht immer die Aufhebung des Urteils. Das Motiv der gewünschten Blendung der Zeugen tritt in den fries.13 und lett. Fassungen auf 14. In türk. Var.n wünscht sich der Verurteilte, den Herrscher schlagen oder ihn köpfen zu dürfen15. In der Compilatio singularis exemplorum (13. Jh.) stellt die Gebotsübertretung bei Tisch die letzte Episode einer längeren Erzählung dar. Das Verbot bezieht sich hier auf das Wenden von Fleisch, nicht von Fisch16:
ATU 927 B (1): Ein zum Tode Verurteilter, dem gestattet wird, selbst darüber zu bestimmen, auf welche Weise er sterben wolle, entscheidet sich für den Tod aus Altersschwäche (Mot. P 511.1).
Ein Scholar wird während seiner Reise nach Rom gleich mehrfach fälschlich verschiedener Straftaten bezichtigt, aufgrund seiner klugen Argumentation aber jedes Mal freigesprochen. Da sein Schwager ihn wegen seines Scharfsinns fürchtet, stellt er ihm eine Falle: Er führt ihn am Hof des Kaisers ein, verschweigt ihm aber die dort herrschende Tischregel. Der Scholar macht sich des Verstoßes gegen diese Regel schuldig und wird zum Tode verurteilt. Durch klug gewählte letzte W.e kann er das Urteil abwenden; er sorgt dafür, daß sein Schwager hingerichtet wird.
Mit einer geänderten Motivik, die aber gleichfalls eine Düpierung der Rechtsfinder beinhaltet, ist der letzte W. auch in der J Mensa philosophica (4,17) belegt: Ein Verurteilter erhält seine Freiheit zurück, da der Henker ihm den W., seine Leiche an den drei ersten Tagen nach der Hinrichtung zu küssen, nicht erfüllen will17. 3 . ATU 92 7 B. Der Sammeltyp ATU 927 B: Condemned Man Chooses How He Will Die faßt zwei verschiedenartige Erzählungen zusammen, in denen die Verurteilten als Gunst-
Dieser Erzähltyp ist bereits in der ma. Exempelliteratur belegt18. Die überwiegend für Europa nachgewiesenen Erzählungen sind schwankhaften Charakters bzw. gehören zu Schwankzyklen (engl.19, fläm.20, fries.21, dt.22, schweiz.23, rumän.24). ATU 927 B (1) taucht auch in den Schwankmärchen um König Friedrich d. Gr. (J Alter Fritz) auf 25. In einer jüd.26 und einer serb.27 Var. wird die gewährte Gnade, die Todesart selbst wählen zu dürfen, explizit mit den zuvor erworbenen Verdiensten des verurteilten Hofnarren begründet. Ähnlich darf der Verurteilte in einer schweiz. Var. in Anerkennung seines bis dahin untadeligen Lebenswandels selbst über seine Todesart entscheiden28. Ebenfalls weit verbreitet ist die Erzählung von J Senecas Tod, die auf J Tacitus (Annales 15,60) zurückgeht. ATU 927 B (2): Als Kaiser Nero Seneca die Selbsttötung befiehlt, bittet dieser, die Todesart selbst wählen zu dürfen. Nach der Gewährung der Bitte schneidet er sich die Pulsadern auf (Mot. Q 427).
Senecas Tod durch Verbluten wird auch in der ndd. Erbauungsliteratur29 sowie in der spätma. engl.30 und der ung.31 Exempelliteratur geschildert. Während in ATU 927 B (1) ebenso wie in AaTh/ATU 927 A der letzte W. auf eine Täuschung des Herrschers und auf die erfolgreiche Verhinderung des eigenen Todes zielt, wird er in ATU 927 B (2) als Ausdruck von Senecas Lebenskunst interpretiert32. 4 . ATU 92 7 C. Dem Erzähltyp ATU 927 C: The Last Request sind Erzählungen zugeordnet, in denen zwar nur ein einziger, dafür aber unerfüllbarer W. geäußert wird. Um seinem Tod zu entgehen, äußert der Todeskandidat den W. nach ausgefallenen Speisen: Er bittet z. B. im Winter um Erdbeeren (cf. J Wintergarten) oder um eine Mahlzeit aus Nachtigallen (Kanarienvögeln).
Erzählungen dieses Typs sind in der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s für Teile Euro-
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Wunschdichtung
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pas33 und den arab. Sprachraum34 belegt, allerdings nur spärlich. In einer bulg. Fassung gewährt J Hodscha Nasreddin dem Schlauen J Peter vor dessen Verurteilung eine letzte Bitte. Dieser wünscht sich Quitten und Wein. Da beides zu der gerade herrschenden Jahreszeit nicht zu beschaffen ist, will er im Gefängnis gemeinsam mit dem Hodscha warten; darauf zieht dieser es vor, den Schlauen Peter laufen zu lassen35. In einer fries. Var. wird einem Barbier der letzte W. gewährt, den Richter rasieren zu dürfen; er hält diesem dabei das Rasiermesser an den Hals und veranlaßt ihn so, das Todesurteil aufzuheben36; in einer anderen fries. Var. äußert der Delinquent den W., vor seinem Tod noch Hebräisch lernen zu dürfen37.
21 van der Kooi. ⫺ 22 Henßen, G.: Volk erzählt. Münsterländ. Sagen, Märchen und Schwänke. Münster 1935, num. 216; Wossidlo, R.: Volksschwänke aus Mecklenburg. ed. S. Neumann. B. 1963, num. 375; cf. HDM 2 (1934⫺40) 238 sq. ⫺ 23 Lachmereis, H.: Trümpf und Mümpf und Müschterli. Aarau 1944, 210. ⫺ 24 Stroescu, num. 3941. ⫺ 25 cf. EM 1, 401. ⫺ 26 Ausubel, N.: A Treasury of Jewish Folklore. N. Y. 1953 (41989) 288. ⫺ 27 Vrcˇevic´, V.: Srpske narodne pripovijetke. Belgrad 1868, num. 208. ⫺ 28 Lachmereis (wie not. 23 ). ⫺ 29 Schmitt, M.: Der große Seelentrost. Ein ndd. Erbauungsbuch des 14. Jh.s. Köln 1959, 179; cf. Tubach, num. 4225, 4226. ⫺ 30 Banks, M. M. (ed.): An Alphabet of Tales 1. L. 1904, num. 224. ⫺ 31 Dömötör, num. 244. ⫺ 32 cf. Hentig (wie not. 3) 130; Kl. Pauly 5 (1975) 111. ⫺ 33 van der Kooi. ⫺ 34 El-Shamy, Types. ⫺ 35 Ognjanowa, E.: Märchen aus Bulgarien. Wiesbaden 1987, num. 120. ⫺ 36 van der Kooi. ⫺ 37 ibid.
1 Uther, H.-J.: Der letzte W. Zu Rechtsvorstellungen in Volkserzählungen. In: Lox, H./Lutkat, S./Kluge, D. (edd.): Dunkle Mächte im Märchen und was sie bannt. Recht und Gerechtigkeit im Märchen. Krummwisch 2007, 225; Köhler, I.: Der politische Witz und seine erzählforscherischen Implikationen. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 71⫺85, hier 71⫺73. ⫺ 2 Uther (wie not. 1) 217⫺233; Gobrecht, B. u. a. (edd.): Der W. im Märchen. Kreuzlingen 2003. ⫺ 3 Hentig, H. von: Vom Ursprung der Henkersmahlzeit. Tübingen 1958; cf. auch Martschukat, J.: Inszeniertes Töten. Köln u. a. 2000. ⫺ 4 cf. Website von Amnesty International; Wittwer, H./Schäfer, D./Frewer, A./Feldmann, K. (edd.): Sterben und Tod. Stg. u. a. 2010, 336⫺350. ⫺ 5 Verrel, T./Simon, A.: Patientenverfügungen. Rechtliche und ethische Aspekte. Fbg 2010; Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung. In: Dt. Ärzteblatt 108,7 (2011) A 346⫺348. ⫺ 6 cf. Tubach, num. 2056; Schneider, J.: Die Geschichte vom gewendeten Fisch. In: Festschr. B. Bischoff. Stg. 1971, 218⫺225; cf. auch Köhler/Bolte 2, 651⫺657. ⫺ 7 Ara¯js/Medne. ⫺ 8 Boberg J 1182.2. ⫺ 9 van der Kooi. ⫺ 10 Eberhard/Boratav, num. 298; cf. Ting, num. 1620 A. ⫺ 11 Nascimento. ⫺ 12 El-Shamy, Types; Basset 1, num. 33; cf. auch Schwarzbaum, H.: Notes on N. B. Gamlieli’s „The Chambers of Yemen“, Hadre´ Teman. 131 Jewish-Yemenite Folktales and Legends. In: Fabula 21 (1980) 272⫺285, hier 273. ⫺ 13 van der Kooi. ⫺ 14 Ara¯js/Medne. ⫺ 15 Eberhard/Boratav, num. 298. ⫺ 16 Wesselski, MMA, num. 40; Tubach, num. 4187. ⫺ 17 cf. Tubach, num. 2876, 3297. ⫺ 18 Wesselski (wie not. 16); cf. auch Hentig (wie not. 3 ) 130; Hebel, J. P.: Schatzkästlein des rhein. Hausfreundes. ed. W. Theiß. Stg. 1981, 259 sq. ⫺ 19 Wardroper, J.: Jest upon Jest. L. 1970, 169, num. 90. ⫺ 20 Lox, H.: Van Stropdragers en de Pot van Olen. Löwen 1999, num. 56. ⫺
Göttingen
Susanne Ude-Koeller
Wunschdichtung 1. Begriff und Bedeutung ⫺ 2. Motivik ⫺ 3. Wunschinhalte ⫺ 4. Interpretationsansätze ⫺ 5. Kritische Vorbehalte
1 . B eg ri ff un d B ed eu tu ng. Der Begriff W., gelegentlich auch Wunscherfüllungsdichtung1, hat sich im dt. Sprachraum etwa seit den 1920er Jahren eingebürgert2, um ein wiederkehrendes Merkmal bestimmter Gattungen der Volkserzählung, bes. des J Zaubermärchens zu charakterisieren: daß nämlich die Erzählhandlung stark durch Projektionen bestimmt ist, hinter denen die Wünsche der Erzähler und Zuhörer bzw. Leser der Geschichten zu vermuten sind. Dazu gehören der Sieg des Schwachen über den Starken (J Stark und schwach), des Kleinen über den Großen und des Guten über den Bösen (J Gut und böse). Nicht zuletzt im guten Ende vieler Märchen manifestiert sich deren Charakter als W. Die Welt im Märchen kann auf diese Weise als eine erwünschte erscheinen, als Traum von einem anderen, besseren Leben, in dem alle Wünsche wahr werden. Das rückt den Begriff der W. in die Nähe der J Utopie. Auch J Lügengeschichten werden gelegentlich als W. bezeichnet (cf. J Verkehrte Welt)3. 2 . Mot iv ik. Das Verständnis von Märchen als W. kann sich darauf stützen, daß das
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Wunschdichtung
Thema Wünschen in vielen Texten eine wichtige Rolle spielt; sie können daher als Wunschmärchen bezeichnet werden. Oft wird aus einer anfangs bestehenden J Mangelsituation heraus ein Wunsch geäußert, der die Handlung in Gang setzt. Auch unbescheidene, unvernünftige, ja maßlose Wünsche werden erfüllt. Held oder Heldin treten dabei als selbstbewußt und unbekümmert Wünschende auf, die über die Erfüllung ihrer Wünsche (manchmal an die J Dreizahl gebunden4) ihr persönliches Glück zu erlangen suchen5. Dabei sind ihnen oft J Zaubergaben behilflich, so etwa ein Ring (AaTh/ATU 560: J Zauberring), Mantel (KHM 122, AaTh/ATU 567: Das wunderbare J Vogelherz), Hut (AaTh/ATU 566: J Fortunatus) oder Sattel (KHM 193, AaTh/ ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau). Auch können Personen aus der Anderswelt dem Held oder der Heldin als magische J Helfer zur Seite stehen und ihnen die Erfüllung ihrer Wünsche ermöglichen (AaTh/ ATU 510 A: cf. J Cinderella; AaTh/ATU 561: J Ala(d)din; AaTh/ATU 562: J Geist im blauen Licht). Verschiedene Geschichten lassen sich dabei bereits als erzählerische Auseinandersetzungen mit dem üblichen Wunschoptimismus des Märchens verstehen (J Optimismus). So kann man AaTh/ATU 1415: J Hans im Glück als schwankhafte Parodie eines Wunschmärchens lesen6. Eine eigene Kategorie der Wunschmärchen bilden ferner Erzählungen, in denen banales, unbotmäßiges oder maßloses Wünschen bestraft oder der Lächerlichkeit preisgegeben wird (AaTh/ATU 555: J Fischer und seine Frau; ATU 750 A⫺D: Die drei J Wünsche). Mit ihrem negativen Ende können derartige Erzählungen zu Trägern einer moralischen Botschaft werden, die vor unbedachtem oder törichtem Wünschen warnen und damit den Wunschoptimismus des Märchens geradezu konterkarieren7. 3 . Wun sc hi nh al te. Die Inhalte der geäußerten Wünsche sind vielfältig, zum Teil geschlechtsspezifisch und ⫺ entsprechend dem Charakter des Märchens als einer Erzählung, in der alles ,auf den Helden bezogen‘8 ist ⫺ auf individuelle Wunscherfüllung gerichtet. Auch wenn die Erfüllung der Wünsche gelegentlich durch das Zusammenwirken verschie-
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dener Personen bei der Erfüllung schwieriger J Aufgaben zustande kommt (AaTh/ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt), zielen sie doch fast immer auf das J Glück des einzelnen. Unter den spezifisch weiblichen Wünschen rangiert der Wunsch nach dem langersehnten Kind an oberster Stelle (J Schwangerschaft)9; hinzu kommt der Wunsch nach J Schönheit und prächtiger Kleidung (AaTh/ ATU 510 A). Zu den eher (wenn auch nicht ausschließlich) männlichen Wünschen gehören der Wunsch nach übernatürlichen körperlichen Kräften oder Fähigkeiten, nach schneller Fortbewegung (J Fluggeräte; J Siebenmeilenstiefel) oder der Möglichkeit, sich unsichtbar zu machen (J Tarnkappe). Typisch für viele Märchenphantasien ist der aus realen Bedürfnissen erwachsende Wunsch nach der Stillung des J Hungers und dem Ende des Elends (AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel), nach reichem und köstlichem Essen und Trinken (AaTh/ATU 565: J Wundermühle; AaTh/ ATU 563: J Tischleindeckdich), nach Reichtum (J Gold, Geld) und nach sozialer Erhöhung, wie er etwa im Erlangen der J Prinzessin durch den Helden niederer Herkunft zum Ausdruck kommt. In die Richtung sozialen Aufbegehrens (J Sozialkritik) verweist auch der Wunsch des J unscheinbaren, depravierten oder betrogenen Helden schwankhafter Märchen, sich für erlittene Unbill gewalttätig rächen zu dürfen (AaTh/ATU 1535: J Unibos; AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit; J Rache). Sexuelle Wunschphantasien werden hingegen meist in verhüllter Form zum Ausdruck gebracht (cf. allerdings AaTh/ATU 570 : J Hasenhirt)10. Viele Elemente des Märchens als W. fließen im Erzählkomplex vom J Schlaraffenland (AaTh/ATU 1930) zusammen. Zum Wunsch nach Überfluß an Essen und Trinken, nach Wohlleben ohne Arbeit (J Fleiß und Faulheit), nach sozialer Gleichheit und erotischer Libertinage treten in dieser ,populären Utopie‘11 auch Phantasien von ewiger Jugend (J Verjüngung), von anhaltender Gesundheit und einem Verschwinden des Todes. Alles in allem entfalten die Erzählungen damit ,Möglichkeitsphantasie und sogar Unmöglichkeitsphantasie‘12. 4 . I nt er pr et at io ns an sä tz e. Das häufige Thematisieren von Wünschen und Wunscher-
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Wunschdichtung
füllung im Märchen hat in der Forschung zu Interpretationen geführt, nach denen Märchen insgesamt als W. zu verstehen seien. Schon der erste Satz der J Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm weist in diese Richtung: „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat …“. Bei dieser Formulierung handelt es sich um eine späte Einfügung von W. J Grimm, die sich erst seit der 3. Aufl. der KHM (1837) findet; vermutlich wollte er dem Verständnis der Märchen damit eine gewisse programmatische Richtung geben. Seit Beginn des 20. Jh.s entfaltete sich dann das Verständnis von Märchen als W. in verschiedene Richtungen, wobei der Interpretation jeweils unterschiedliche theoretische Prämissen und Methoden zugrundelagen: (1) A. J Jolles hat zu den Merkmalen des Märchens als J einfacher Form auch deren Charakter als nicht mit den Maßstäben der Realität zu messender W. gezählt13. ⫺ (2) Nicht formgeschichtlich, sondern sozialphil. verstanden Autoren der sog. Frankfurter Schule wie E. J Bloch und W. Benjamin das Märchen als W. In seinen Wunschphantasien spiegele sich ,antizipierendes Bewußtsein‘14, aufscheinend vor allem bei den Angehörigen der Unterschichten der frühbürgerlichen Gesellschaft, die gegen die Misere der Welt, wie sie ist, eine bessere Welt fabulierten. Benjamin sprach in diesem Zusammenhang vom „befreiende[n] Zauber, über den das Märchen verfügt“. Es „gibt uns Kunde von den frühesten Veranstaltungen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alp, den der Mythos auf ihre Brust gelegt hatte, abzuschütteln“15. Diese in den 1930er Jahren nur angedeuteten sozialutopischen Interpretationsansätze zum Märchen als W. wurden nach dem 2. Weltkrieg in verschiedener Weise aufgegriffen und weitergeführt16. ⫺ (3) Auch die psychoanalytische und die tiefenpsychol. Deutung der Märchen sieht in ihnen W. (J Psychoanalyse; J Tiefenpsychologie). Bereits S. J Freud hatte in seiner Theorie der J Traumdeutung Parallelen zwischen Traum- und Märchenphantasien gezogen und die Erfüllung von Wünschen in Traum oder Märchen gewissermaßen als Sublimierung in der Realität nicht erfüllbarer Wünsche angesehen. Daran anknüpfend sah E. Fromm im Märchen lebensgeschichtlich verdrängte Wünsche auf imaginäre Weise erfüllt17. Ähn-
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lich erkannte B. Bettelheim im Märchen die positive Möglichkeit einer ,stellvertretenden Befriedigung‘ von verbotenen Wunschphantasien im kindlichen Entwicklungsprozeß18. Daß zu den Wünschen, die das Märchen auf imaginäre Weise erfülle, auch die Auseinandersetzung mit bösen und bedrohlichen Mächten gehöre, betonte W. J Scherf 19. ⫺ (4) Schließlich wurde der ,wunscherfüllende‘ Charakter des Märchens auch anthropol. verstanden. Im Märchen artikuliere sich grundsätzlich ein optimistisches Menschenbild, in dem Mut und Zuversicht über alle Unbilden triumphierten20. Nach M. J Lüthi stellt das Märchen „eine Welt dar, die in Ordnung ist, und befriedigt damit den letzten und ewigen Wunsch des Menschen“21. 5 . Kri ti sc he Vo rb eh al te. Das in J Psychologie, Psychotherapie (cf. J Psychiatrie)22 und Pädagogik heute weitverbreitete Verständnis von Märchen als W. hat vermutlich viel zur Hochschätzung dieser Gattung im intellektuellen Diskurs beigetragen. Eine generelle Bezeichnung von Märchen als W. ist allerdings nur bedingt möglich. Auch wenn mit dem Begriff W. ein wesentliches Charakteristikum vieler Märchen gefaßt wird, gilt dieses doch nicht für alle Texte, noch nicht einmal für alle Texte der KHM, auf die der Begriff allg. bezogen wird. Nach L. J Röhrich versteht man „das Wesen des Märchens noch nicht, wenn man dieses nur als ,Wunschdichtung‘ zu interpretieren sucht: Menschliche Wünsche und ihre Befriedigung sind keineswegs das alleinige ,Thema‘ des Märchens“23. Im übrigen können erfüllte Märchenwünsche auch unglücklich machen24. Wie so häufig bei der Deutung von Märchen läßt sich also auch in diesem Fall ein einziger, wenngleich wichtiger Interpretationsansatz nicht auf die gesamte Breite der Überlieferung anwenden. 1 Sieber, F.: Wünsche und Wunschbilder im späten dt. Zaubermärchen. In: Dt. Jb. für Vk. 3 (1957) 11⫺ 30, hier 13; Röhrich, L.: „und weil sie nicht gestorben sind …“ Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung der Märchen. Köln/Weimar/Wien 2002, 35. ⫺ 2 Berendsohn, W. A.: Grundformen volkstümlicher Erzählkunst in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Hbg 1922, 36. ⫺ 3 Schneider, I.: Lügengeschichte. In: Reallex. der germ. Altertumskunde 19. B. 2001, 21. ⫺ 4 Solms, W.: Wozu drei
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Wunschdinge ⫺ Wünsche: Die drei W.
Wünsche? In: Der Wunsch im Märchen/Heimat und Fremde im Märchen. ed. B. Gobrecht. Kreuzlingen/ Mü. 2003, 106⫺117. ⫺ 5 cf. Bausinger, H.: Märchenglück. In: Zs. für Lit. und Linguistik 13,50 (1983) 17⫺27. ⫺ 6 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 58. ⫺ 7 cf. Hebel, J. P.: Schatzkästlein des Rhein. Hausfreundes. ed. H. Schlaffer. Tübingen 1980, 101⫺ 103. ⫺ 8 Lüthi, Märchen (71979), 27. ⫺ 9 AltmannGlaser, C.: Wunschkinder im Märchen aus psychol. Sicht. In: Gobrecht (wie not. 4) 56⫺71. ⫺ 10 Röhrich (wie not 1) 34⫺59. ⫺ 11 Richter, D.: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie. Ffm. 1995, 41. ⫺ 12 Bausinger, H.: Anmerkungen zu Schneewittchen. In: Und wenn sie nicht gestorben sind … Perspektiven auf das Märchen. ed. H. Brackert. Ffm. 1980, 39⫺70, hier 67. ⫺ 13 Jolles (51974), 240. ⫺ 14 Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung 1. Ffm. 1973, 47; cf. id.: Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozial-Utopien. B. 1947, 9 sq. ⫺ 15 Benjamin, W.: Der Erzähler. In: id.: Gesammelte Schr. 2. Ffm. 1977, 457 sq. ⫺ 16 Woeller, W.: Der soziale Gehalt und die soziale Funktion der dt. Volksmärchen. In: Wiss. Zs. der Humboldt-Univ. zu Berlin, Ges.s- und sprachwiss. Reihe 10 (1961) 395⫺ 459, 11 (1962) 281⫺307; Richter, D./Merkel, J.: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. B. 1974, 44⫺57; Zipes, J.: Breaking the Magic Spell. Radical Theories of Folk and Fairy Tales. L. 1979, 20⫺40; Bausinger (wie not. 12) 66 sq.; Oberfeld, C.: Märchen und Utopie. In: Das selbstverständliche Wunder. Beitr.e germanistischer Märchenforschung. ed. W. Solms. Marburg 1986, 161⫺168; Pöge-Alder, K.: Märchen als mündl. tradierte Erzählungen des Volkes? Zur Wiss.sgeschichte der Entstehungs- und Verbreitungstheorien von Volksmärchen von den Brüdern Grimm bis zur Märchenforschung in der DDR. Ffm. u. a. 1994, 219; Faber, R.: „Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles.“ Über Grimm-Hebelsche Erzählung, Moral und Utopie in Benjaminscher Perspektive. Würzburg 2002. ⫺ 17 Fromm, E.: Märchen, Mythen, Träume. Stg. 1980, 49⫺59, 178⫺182; cf. auch Riklin, F.: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. Wien/ Lpz. 1908; Rank, O.: Psychoanalytische Beiträge zur Märchenforschung. Lpz/Wien 1919. ⫺ 18 Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Stg. 1977, 55 u. ö. ⫺ 19 Scherf, W.: Die Herausforderung des Dämons. Form und Funktion grausiger Kindermärchen. Mü. 1987. ⫺ 20 Horn, K.: Der Wunsch nach Freiheit im Spiegel der Märchen. In: Gobrecht (wie not. 4) 118⫺ 129, hier 126. ⫺ 21 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 41974, 82. ⫺ 22 Wilkes, J.: Märchen und Psychotherapie. In: Märchen, Märchenforschung, Märchendidaktik. ed. G. Lange. Baltmannsweiler 2004, 106⫺116. ⫺ 23 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 233; skeptisch auch Heindrichs, U.: Märchen als W.? In: Gobrecht (wie not. 4) 12⫺25. ⫺ 24 Röhrich, L.: Wunschlos (un)glücklich. ibid., 130⫺143, hier 138⫺40.
Bremen
Dieter Richter
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Wunschdinge J Zaubergaben Wünsche: Die drei W. (AaTh/ATU 750 A⫺ D), weitverbreiteter Erzählkomplex, dessen hauptsächliche Thematik der unbedachte Umgang mit übernatürlichen Personen oder den von ihnen gewährten W.n bzw. J Gaben ist. Wichtige Fragen hinsichtlich typol. Einordnung sowie ökotypischer Ausprägungen und Chronologie des u. a. von S. Top und M. Chesnutt behandelten Erzählkomplexes sind bislang ungeklärt1. AaTh/ATU 750 A: The Three Wishes2 behandelt die kluge bzw. törichte Verwendung von meist drei gewährten W.n. Da die Erzählung gewöhnlich als einfacher Schwank erscheint, ist der zu den Zaubermärchen gestellte Erzähltyp eigentlich eher als Dummen- oder Eheschwank (AaTh/ATU 1200⫺1439) zu klassifizieren3: Übernatürliche Besucher werden von armen Leuten gastfreundlich aufgenommen, von reichen hingegen abweisend behandelt. Beide Parteien erhalten als Belohnung die Erfüllung von drei W.n zugesagt. Die Armen machen klugen Gebrauch von ihren W.n, die Reichen gehen töricht damit um.
Entgegen J. J Be´diers polemisch vorgetragener Skepsis4 sind einepisodische Vorstufen von AaTh/ATU 750 A zuerst in den vorderoriental. Lit.en belegt. Der derzeit älteste bekannte Nachweis findet sich in dem Werk ¤Uyu¯ n al-ah˚ ba¯r (Wesentliche Berichte) des arab. Autors Ibn Qutaiba (gest. 889)5: Ein (anzunehmenderweise frommer) Mann erhält von einer unvermittelt auftauchenden Person ohne weitere Begründung die Mitteilung, daß Gott ihm drei W. gewähre. Auf Drängen seiner Frau überläßt ihr der Mann einen Wunsch, worauf sie sich wünscht, begehrenswert schön zu sein. Als sich die Frau daraufhin mit dem Diener einläßt, verwünscht der Mann sie in ein Schwein. Den dritten Wunsch muß er dazu verwenden, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen.
Wenngleich sich weitere Var.n dieser Fassung in verschiedenen späteren arab. und pers. Werken finden6, geht die weltweite Verbreitung der Erzählung wohl auf das möglicherweise bereits im 9. Jh. entstandene Buch der J Sieben weisen Meister zurück7. Dessen früheste erhaltene Fassung ist das auf der Grundlage eines heute verlorenen älteren Werks verfaßte Sendba¯d-na¯me (Mitte 12. Jh.) des pers.
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Wünsche: Die drei W.
Autors Zø ahiri Samarqandi. Der sexuelle Charakter der Erzählung ist hier drastisch ausgestaltet: Zuerst wünscht sich der Mann (auf Drängen seiner Frau) einen riesigen Penis, dann wünscht er ihn weg; schließlich wünscht er den ursprünglichen Zustand zurück. Durch selbständige Fassungen des Sendba¯d-na¯me sowie die in den arab. Slgen J Tausendundeine Nacht8 und Hundertundeine Nacht9 enthaltenen Versionen erreichte die Erzählung die westl. Überlieferung in den europ. Volkssprachen. Andere außereurop. Var.n (südafrik., indon.) sind wahrscheinlich auf mündl. Vermittlung zurückzuführen10. Die älteste dt. volkssprachliche Version der einepisodischen Fassung von AaTh/ATU 750 A ist die mhd. Versfassung des J Strickers (13. Jh.). Wenngleich er ein weltlicher Dichter war, zollt der Stricker der Lehrhaftigkeit des Schwanks in einer langen abschließenden Moralisation Tribut, in der er die Verschwendung der W. mit der Eitelkeit der Frau motiviert ⫺ ein Zug, der sich auch in einem lat. Prosaexemplum des 14. Jh.s findet11. Andere Var.n des einepisodischen Schwanks in der ma. volkssprachlichen Dichtung bieten die Fabeln der J Marie de France (num. 57) und (über eine lat. Zwischenstufe vermittelt) J Gerhards von Minden (num. 109): Hier überläßt der Mann zwei der von einem Zwerg gewährten W. seiner Frau; als dieser ein Knochen im Hals steckenbleibt, wünscht sie ihrem Mann einen Schnepfenschnabel, damit er den Knochen herausziehen könne; erzürnt wünscht er ihr dasselbe, und der dritte Wunsch muß dazu verwendet werden, alles wieder in Ordnung zu bringen12. 1551 verfaßte Hans J Sachs sein Meisterlied Die wünschent pewrin mit der hechel im Tone unbekümmerter Vulgarität (erzürnter Bauer wünscht seiner Frau die Hechel in den Hintern)13, die noch in dem Prosaschwankbuch Jan Tambaur (Mitte 17. Jh.)14 und in neueren mündl. Var.n erkennbar ist15. Die verschwendeten W. in J Perraults Verserzählung Les Souhaits ridicules (1697)16, die u. a. auch über das Magasin des enfans (1756/ 57) der Madame J Le Prince de Beaumont tradiert wurde17, wirken im Vergleich dazu bereinigt. Ihre Gestaltung läßt sublimierte Sexualität erkennen: Der erste Wunsch wird für eine Wurst verwandt; der zweite, damit der unbedachten Person die Wurst zur Strafe an der
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Nase klebt; der dritte, damit alles wieder beim Alten ist. Die Fabel (7,6) J La Fontaines gestaltet die Erzählung zu einer Parabel über die negativen Seiten unbedacht gewünschten Reichtums ⫺ ein Abstraktionsniveau, das der populären Überlieferung eher fremd ist. Spätestens seit Mitte des 16. Jh.s gibt es eine komplexere zweigliedrige Fassung, die den Schwank von den drei verschwendeten W.n mit einer legendenartigen Einl. über die freundliche bzw. unfreundliche Aufnahme übernatürlicher J Gäste verknüpft. Allerdings findet hier keine Bestrafung für die nur aus Habgier gewährte Gastfreundschaft des (oder der) Reichen im eigentlichen Sinn statt; vielmehr fügt sich diese Person durch ihre unbedacht geäußerten W. selbst Schaden zu (cf. auch J Imitation: Fatale und närrische I. ). Diese Kombination ist zuerst in Hans Wilhelm J Kirchhofs Wendunmuth nachweisbar18. Der um 1525/28 in Kassel geborene Kirchhof gab an, er habe die Geschichte in seiner Kindheit in der J Spinnstube gehört. Die von den Brüdern J Grimm veröffentlichte, im wesentlichen ähnliche Fassung (KHM 87)19 war ihnen aus Hessen, wahrscheinlich von dem Theologen und Lehrer F. Siebert20, zugekommen. Die einleitende Episode geht auf die Erzählung von J Philemon und Baucis aus den Metamorphosen J Ovids (8,616⫺726)21 zurück: Die Freundlichkeit des alten Ehepaars gegenüber den auf J Erdenwanderung befindlichen Göttern wird mit der Errettung vor einer Flut belohnt, in der die ungastlichen Bewohner der Umgebung umkommen (J Sintflut). Bereits im 9. Jh. ist eine Fassung von Ovids Mythos in der frz. Überlieferung mit dem hl. Martin de Vertou verbunden: In der anon. Vita antiquissima S. Martin Vertavensis wird erzählt, wie der Heilige einen freundlichen Mann und seine Frau in Sicherheit bringt, derweilen die böse Stadt Herbauge durch eine Flut zerstört wird; die Frau mißachtet die Weisung des Heiligen, nicht zurückzuschauen, und wird versteinert (cf. die J Versteinerung von Lots Frau in der alttestamentlichen Erzählung von J Sodom und Gomorrha)22. In der neueren europ. Volksüberlieferung erscheint diese Legende, allerdings oft vereinfacht, in Form ätiologischer Erzählungen wieder: Danach sind Flüsse oder Seen durch Fluten entstanden, mit denen J Christus oder J Petrus Sterbliche bestraf-
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ten, die es an Barmherzigkeit mangeln ließen, als sie ihnen unerkannt begegneten23. Die Kombination dieser Einl.sepisode mit der Erzählung von den drei W.n sowie die daraus resultierende zweigliedrige Struktur gehen möglicherweise auf den Einfluß einer gleichfalls seit dem 16. Jh. belegten, ähnlich strukturierten Erzählung zurück, in der statt dreier W. das Allomotiv (J Motivem) vom ,ersten Tagewerk‘ (Mot. D 2172.2, J 2073.1)24 Erwähnung findet: Als Belohnung für ihre freundliche Aufnahme gewährt der übernatürliche Gast seinen Gastgebern, daß sie die erste Tätigkeit am nächsten Morgen den ganzen Tag lang fortführen dürfen. Die arme arbeitsame Frau beginnt den Tag, indem sie Leinen mißt; die reiche gierige Frau will dies ebenfalls tun, geht sich vorher aber noch auf dem Abort erleichtern.
Damit nimmt die Geschichte unvermeidlich schwankhaften Charakter an. In dieser Form wurde sie von Hans Sachs in dem Meisterlied Die bruntzend beurin (1548) gestaltet25 und erscheint in zahllosen späteren Var.n, darunter einer hess., die den Brüdern Grimm durch Dorothea Wild zugekommen sein soll26. Das Motiv der belohnten Gastlichkeit ist auch zu einem Bestandteil der Sage vom J Feuersegen der Zigeuner geworden; in einer Aufzeichnung des 20. Jh.s aus den Schweizer Alpen wird es als autobiogr. Fabulat erzählt: Das Haus der Großmutter der Informantin soll das einzige im Dorf gewesen sein, das nicht durch ein Feuer zerstört wurde, weil diese den Zigeunern, die von den anderen Einwohnern abgewiesen worden waren, ein Nachtquartier gegeben hatte27. Nur gelegentlich bestimmt der Ehemann, wie bei Perrault und Grimm, selbst über alle W.28; manchmal verhält sich der Mann dumm und wird von seiner Frau gestraft29. Vorwiegend ist es in den Var.n aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s jedoch die Frau, die den ersten Wunsch verschwendet. Das gilt ebenfalls für Johann Peter J Hebels Neufassung des Schwanks als Kalendergeschichte in Prosa: Hier wird die ansonsten oft explizite gegenseitige Animosität der Ehegatten jedoch für ein bürgerliches Publikum stark heruntergespielt30. Ungeklärt ist die Beziehung zwischen KHM 87 und den angeblich chin. Erzählungen bei
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Benedikte J Naubert (1789)31, G. A. von Halem (1801)32, A. Staring (1836)33 und A. von J Haxthausen (1856)34. Bei Haxthausens Aussage, er habe seine Texte von einem Reisegefährten namens Peter Neu auf einer Reise von Eriwan nach Tiflis erzählt bekommen, und sie seien „eigentlich chinesische Märchen, die Peter in Persien gehört hatte“, handelt es sich wohl um eine ethnogr. Fiktion, denn die zweite ,Parabel‘ ist offenkundig eine Nacherzählung der Grimm-Fassung. Var.n aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ⫺ keineswegs so viele, wie man erwarten könnte ⫺ belegen die Wirkung der Grimmschen Fassung weit über die Grenzen Hessens, wo die Erzählung zusammengestellt wurde, hinaus36. KHM 87 fand auch den Weg in dt. Schulbücher37; der einfache Schwank von den verschwendeten W.n lebt als Schwundstufe in zeitgenössischen Witzen und Cartoons weiter38. AaTh/ATU 750 C: God Punishes a Bad Woman und AaTh 550 A, 750 D/ATU 750 D: God (St. Peter) and the Three Brothers sind abgeschwächte Formen von AaTh/ATU 750 A und brauchen hier nur kurz erwähnt zu werden. In AaTh/ATU 750 C wird die ungastliche Frau wie in AaTh 751 A: J Bäuerin als Specht durch Verwandlung in ein Tier (J Tierverwandlung) hart bestraft: Die Frau eines gastfreundlichen Mannes verhält sich unfreundlich gegenüber einem Bettler (Gott in unerkannter Gestalt). Sie wird zur Strafe in eine Kuh verwandelt.
AaTh 550 A, 750 D/ATU 750 D überträgt die Situation auf eine Gruppe von drei Brüdern: Zwei von drei Brüdern verhalten sich abweisend zu einem Bettler (Gott in unerkannter Gestalt), und der ihnen zuvor auf ihre W. hin gewährte Reichtum wird ihnen wieder genommen. Der dritte Bruder ist gastfreundlich und wird zusammen mit der von ihm seinerzeit erbetenen guten Frau belohnt.
Als weitere, motivisch weitläufig verwandte Erzähltypen sind zu nennen: AaTh 330 A/ ATU 330: cf. J Schmied und Teufel (drei W. als Einl.); AaTh/ATU 555: J Fischer und seine Frau (maßloser Wunsch führt zur Aufhebung aller vorher erfüllten W.); AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke (Bettler gewährt Freigebigem drei W.); AaTh/ATU 791: cf. J Christus
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und Petrus im Nachtquartier (übernatürliche Gäste werden mißhandelt und strafen). In dem ebenfalls zum größeren Erzählkomplex gehörenden Erzähltyp AaTh/ATU 750 B: Hospitality Rewarded wird Gastfreundlichkeit dadurch belohnt, daß das Tier eines armen Mannes wiederbelebt wird ⫺ ein Motiv, das J jägerzeitliche Vorstellungen spiegelt: Ein armer, aber gastfreundlicher Mann opfert sein einziges Tier, um einen Bettler (Gott in unerkannter Gestalt) zu bewirten. Seine Gastfreundlichkeit wird durch die J Wiederbelebung (Ersatz) des Tiers belohnt (cf. J Pelops).
Diese Geschichte geht letztlich auf die Lebensbeschreibung des hl. Germanus von Auxerre zurück, die in zwei lat. Texten des 9. Jh. überliefert ist und eine alte und weitverbreitete Glaubenssage enthält: Der Wundertäter verbietet, die Knochen des geschlachteten Tiers zu brechen; wenn dies nicht beachtet wird, lahmt das wiederbelebte Tier39. In einigen ma. Parallelen ⫺ so in ir. Heiligenleben und dem altnord. Mythos über den Gott J Thor ⫺ wird das Verbot übertreten, um an das Knochenmark zu kommen40. Es ist daher vielleicht kein Zufall, daß der Auslöser für die Verschwendung der W. in der Fabel der Marie de France (num. 57) das Gelüst der Frau nach dem Mark eines Schafknochens ist. Die literar. Fassung einer ndl. Hs. aus dem 17. Jh.s läßt eine Überlagerung von AaTh/ ATU 750 A durch AaTh/ATU 750 B erkennen41. Mündl. überlieferte Var.n dieser Redaktion wurden seit dem 19. Jh. in der Bretagne, dem frz.sprachigen Kanada und den nord. Ländern einschließlich Islands aufgezeichnet. Hier beträgt die Anzahl der Belohnungen für Gastfreundlichkeit (bzw. die Anzahl der verschwendeten W.) gewöhnlich vier, in Entsprechung zu den Beinen des zerlegten Tiers42; manchmal kommt für den Kopf des Tiers eine fünfte Belohnung hinzu43. 1 Top, S.: Bedenkingen en wensen bij het sprookje van „De drie wensen“ (A.-Th. 750). In: Oostvlaamse Zanten 50 (1975) 207⫺216; Chesnutt, M.: Thor’s Goats and the Three Wishes. Contributions to the History of Aarne-Thompson Types 750 A⫺B. In: Scandinavian Studies 61,4 (1989) 318⫺338, hier bes. 318⫺320, 335 sq.; cf. auch Kooi, J. van der: Wensen vervuld. In: Dekker/van der Kooi/Meder, 411⫺ 415. ⫺ 2 Ergänzend zu ATU: Nascimento; Noia Campos, C.: Cata´logo tipolo´xico do conto galego de
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tradicio´n oral. Clasificacio´n, antoloxı´a e bibliografı´a. Vigo 2010; Pinon, R.: Les Relations entre le conte folklorique et la litte´rature dialectale et re´gionaliste de Wallonie. In: Fabula 4 (1961) 20⫺80, hier 39. ⫺ 3 Chesnutt (wie not. 1) 321. ⫺ 4 Be´dier, J.: Les Fabliaux. P. 21895, 212⫺228. ⫺ 5 Marzolph, Arabia ridens 1, 199 sq. ⫺ 6 ibid. 1, 197⫺203; 2, num. 221. ⫺ 7 Chauvin 8, 51 sq., num. 19. ⫺ 8 Marzolph/ van Leeuwen 1, 419, num. 199. ⫺ 9 Marzolph, U.: The „Hundred and One Nights“: A Recently Acquired Old Manuscript. In: Treasures of the Aga Khan Museum. Arts of the Book & Calligraphy. Ausstellungskatalog Istanbul 2010, 206⫺215, hier 213 sq. ⫺ 10 cf. Schmidt, S.: Europ. Märchen am Kap der Guten Hoffnung […]. In: Fabula 18 (1977) 40⫺74, hier 63; Wieringa, E. P.: Humoristic (Obscene) Sundanese and Javanese versions of „The Story of the Three Foolish Wishes“ (Mot. J 2071). In: Fabula 38 (1997) 302⫺304. ⫺ 11 Sowinski, B.: Die drei W. des Stricker. In: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Festschr. F. Tschirch. Köln 1972, 124⫺150; Röhrich, Erzählungen 1, num. III.1; cf. Tubach, num. 5326. ⫺ 12 Röhrich, Erzählungen 1, num. III.2. ⫺ 13 ibid., num. III.3. ⫺ 14 Uther, H.-J.: Märchen vor Grimm. Mü. 1990, num. 39. ⫺ 15 z. B. Röhrich, Erzählungen 1, num. III.9⫺10; cf. auch Thompson, S.: European Tales among the North American Indians. Colorado Springs 1919, 319⫺471, hier 454, 457. ⫺ 16 Saintyves, P.: Les Contes de Perrault et les re´cits paralle`les. P. 1923, 559⫺608; cf. Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988, 24. ⫺ 17 cf. Madame Leprince de Beaumont: Magasin des enfants. In: Madame de Villeneuve. La Jeune Ame´ricaine et les contes marins […]. ed. E´. Biancardi. P. 2008, 891⫺ 1539, hier 1142⫺1144, 1481 sq., 1520⫺1522; Cornelissen, P. J./Vervliet, J. B.: Vlaamsche volksvertelsels en wondersprookjes. Lier 1900, num. 15; Lebedev, K.: Afganskie skazki. M. 1955, 117 sq. ⫺ 18 Röhrich, Erzählungen 1, num. III.4. ⫺ 19 Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 198⫺200. ⫺ 20 Schoof, W.: Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen. Hbg 1959, 81⫺87, hier 87. ⫺ 21 Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 211⫺223. ⫺ 22 AS Oct. 10, 803; cf. Tubach, num. 1086. ⫺ 23 Dh. 2, 134⫺140. ⫺ 24 Dh. 2, 140⫺153. ⫺ 25 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 6. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1913, 329 sq., Nachtrag zu num. 532. ⫺ 26 KHM/Rölleke 3, [163], 480. ⫺ 27 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 3. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1990, 499 sq.; cf. Köhler-Zülch, I.: Die Figur des ,Zigeuners‘ in dt.sprachigen Sagenslgen. In: ,Zigeunerbilder‘ in der dt.sprachigen Lit. ed. W. Solms/D. Strauß. Heidelberg 1995, 11⫺46, hier 29⫺36. ⫺ 28 cf. Bondeson, A.: Svenska folksagor fra˚n skilda landskap. Stockholm 1882, num. 41; Boekenoogen, G. J.: Van de drie wenschen. In: Vk. 17 (1905) 17 sq.; Stumme, H.: Maltes. Märchen. Lpz. 1904, num. 4. ⫺ 29 Joos, A.: Vertelsels van het vlaamsche volk 2.
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Wünsche, Karl August
Gent 1890, num. 40 ; Jacobs, J.: More English Fairy Tales. L. 1894, 99 sq.; Schenda, R.: Märchen aus der Toskana. Mü. 1996, num. 42. ⫺ 30 Röhrich, Erzählungen 1, num. III.5. ⫺ 31 Naubert, B.: Neue Volksmährchen der Deutschen 1. Lpz. 1789, 218⫺228. ⫺ 32 BP 2, 214 sq. ⫺ 33 Staring, A.: Gedichte 2. Arnhem 1836, 177. ⫺ 34 Haxthausen, A. Freiherr von: Transkaukasia […]. Reiseerinnerungen und gesammelte Notizen 1. Lpz. 1856, 336⫺339; cf. Dh. 2, 151 sq. ⫺ 35 cf. hierzu auch Benfey 1, 497. ⫺ 36 Stojanovic´, M.: Narodne pripoviedke. Zagreb 1879, 85⫺90 (kroat.); Am Ur-Quell 4 (1893) 42 sq. (jüd., wohl aus Ostgalizien); Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic./L. 1966, num. 56; Sˇmits, P.: Latviesˇu tautas teikas un pasakas 9. Waverly, Iowa 21967, 493⫺495 (Verschmelzung mit der Redaktion vom ersten Tagewerk); Gaa´l, K./Neweklowsky, G.: Erzählgut der Kroaten im südl. Burgenland […]. Wien 1983, 24⫺27; cf. auch Röhrich, Erzählungen 1, num. III.12 (hess.); Schmidt und Wieringa (wie not. 10). ⫺ 37 Tomkowiak, 316. ⫺ 38 Tuczay, C.: Das Motiv der drei W. in Schwank, Legendenmärchen und Witz. In: Fabula 40 (1999) 85⫺109, hier 104⫺109; cf. Dorson, R. M.: Negro Folktales in Michigan. Cambr., Mass. 1956, 191 sq. (parodistische Kurzform). ⫺ 39 Morris, J.: Nennius. British History and the Welsh Annals. L. 1980, 67⫺ 68; AS Juli 7, 283; Schmidt, L.: Die Volkserzählung. B. 1963, 113⫺144; Tubach, num. 2533. ⫺ 40 Sydow, C. W. von: Tors färd till Utga˚rd. In: DSt. (1910) 65⫺ 105, 145⫺182; Wikander, S.: Tors bockar och patriarkernas kalv. In: Arv 6 (1950) 90⫺99. ⫺ 41 Overbeke, A. van: Anecdota sive historiae jocosae. ed. R. Dekker/H. Roodenburg. Amst. 1991, num. 2392. ⫺ 42 Delarue/Tene`ze, num. 6⫺8 (Bretagne); Lemieux, G.: Les Vieux m’ont conte´ 8. Montre´al/P. 1976, 153⫺165; Wigström, E.: Ska˚nska visor, sagor och sägner. Lund 1880, 32⫺34; Liungman 1, 306 sq.; Hodne (Var.n 4, 14). ⫺ 43 Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung (FFC 96). Hels. 1931, 128⫺135, hier 134 (finn.); Dh. 2, 139 sq., num. 3 b (estn.); Chesnutt (wie not. 1) 331⫺334 (isl.); cf. auch Allardt, A./Perkle´n, S.: Nyländska folksagor och -sägner. Hels. 1896, num. 139 (finnlandschwed.).
Rom
Michael Chesnutt
Wünsche, Karl August, *Hainewalde bei Zittau 22. 7. 1838, † Dresden 15. 11. 1913, dt. evangel. Theologe, Orientalist und Pädagoge. W. studierte 1860⫺64 Theologie, Pädagogik und oriental. Sprachen an der Univ. Leipzig. 1864 wurde er Lehrer an der ersten Bürgerschule, ab 1866 unterrichtete er am Realgymnasium in Leipzig; von 1869 bis zu seiner Pensionierung 1905 war er an der städtischen höheren Töchterschule Dresden als Oberlehrer,
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teilweise auch als stellvertretender Direktor tätig. 1864 wurde W. an der Univ. Jena mit drei Studien zu psychol.-pädagogischen Themen promoviert: Ueber die ersten sinnlichen Empfindungen und Wahrnehmungen, Ueber die Bildung des Verstandes, De natura memoria. 1880 verlieh ihm die Univ. Jena den Titel eines Lizentiaten, 1886 den Doktortitel der evangel. Theologie ehrenhalber; 1890 erkannte ihm das Sächs. Ministerium für Kultus und öffentlichen Unterricht den Professorentitel zu. Neben seiner Lehrtätigkeit entfaltete W. eine umfangreiche wiss. Publ.s-, Übers.s- und Herausgebertätigkeit im theol., phil., literarhist. und volkskundlichen Bereich. Der Schwerpunkt liegt auf der Erforschung, Übers. und Erläuterung jüd. Schrifttums. W.s wiss. Denken war von der Aufklärung geprägt und auf eine allg. Kulturgeschichte gerichtet. Die Entwicklung der Völkerkunde und Vk. (bes. A. J Bastian; cf. J Ethnol. Theorie) verfolgte er interessiert und kritisch. Die Hinwendung zur Erzählforschung ergab sich aus W.s theol. Forschungen. In seinen Bibelstudien behandelte W. den gesamten Kanon der traditionellen Erzählforschung, im weiteren Sinn auch Liedgut1. Zugleich machte er auf die Bedeutung des J Talmuds für die vergleichende Fabel-, Sagen- und Märchenforschung aufmerksam. Trotz seines primär literarästhetischen Anliegens untersuchte W. alle Erzählgenres in ihrem hist.-geogr., sozioökonomischen und geistig-kulturellen Kontext2. Im Hinblick auf die Provenienz der Stoffe und Genres verwies er sowohl auf Parallelentstehungen (cf. J Polygenese) als auch auf Entlehnungen (mit Umprägungen) und Wanderungen (J Wandertheorie)3. Mehrere Genres hat er in Einzelstudien behandelt, wobei er ⫺ nach eigenem Bekunden4 ⫺ nicht unbedingt Vollständigkeit anstrebte5. W.s Arbeiten über Volksliteratur und mythol. Bezüge wurden von der Fachwelt z. T. kritisch aufgenommen und rezipiert6. Beanstandet wurden nicht verifizierbare mythol. Interpretationen sowie unsystematisches Herangehen an die Genredarstellung (Pflanzenfabel). Die zeitgenössisch relevanten Termini ,Volksgeist‘ und ,Volksseele‘ hat W. zwar benutzt, aber wertungsfrei und auf hist.-vergleichender Grundlage. Am weitesten haben wohl seine beiden Studien Der Sagenkreis vom ge-
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Wurfwette ⫺ Wurst in der Tasche des Pastors
prellten Teufel (Lpz./Wien 1905)7 und Die Sagen vom Lebensbaum und Lebenswasser (Lpz. 1905)8 nachgewirkt. 1
W., A.: Das bibl. Epos in der neueren dt. Litteratur. In: Jahrber. der städtischen höheren Töchterschule in Dresden […] (1880) 3⫺23; id.: Die Geschichte vom Lahmen und Blinden als Gleichniß, Erzählung und Fabel. In: Wiss. Beilage der Leipziger Ztg 66 (2. 6. 1896) 261⫺263; id.: Die Schönheit der Bibel. 1: Die Schönheit des A. T.s. Lpz. 1906; id.: Die Bildersprache des A. T.s. Ein Beitr. zur aesthetischen Würdigung des poetischen Schrifttums im A. T. Lpz. 1906; id.: Schöpfung und Sündenfall des ersten Menschenpaares im jüd. und moslem. Sagenkreise mit Rücksicht auf die Ueberlieferungen der KeilschriftLit. Lpz. 1906. ⫺ 2 z. B. id.: Die Räthselweisheit bei den Hebräern mit Hinblick auf andere alte Völker. Lpz. 1883, 31; id.: Das Rätsel vom Jahr und seinen Zeitabschnitten in der Weltlitteratur. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 9 (1896) 425⫺ 456; id.: Das finn. Volksepos Kalewala. In: Nord und Süd 62 (1892) 234⫺255; id.: Die Sagen vom Lebensbaum und Lebenswasser. Lpz. 1905. ⫺ 3 z. B. id./Landau, M.: Zu Hans Sachs’ Qu.n. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 10 (1896) 281⫺286; id.: Zwei Dichtungen von Hans Sachs nach ihren Qu.n. ibid. 11 (1897) 36⫺59. ⫺ 4 id.: Der Regenbogen in den Mythen und Sagen der Völker. In: Nord und Süd 82 (1897) 70⫺82, hier 82; id.: Vorwort. In: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel. Lpz./Wien 1905. ⫺ 5 Bolte, J.: Neuere Märchenlit. In: ZfVk. 16 (1906) 444⫺460, hier 447 (kritisch zur [Nicht-]Vollständigkeit). ⫺ 6 W., A.: Die Pflanzenfabel in der ma. dt. Litteratur. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 11 (1897) 373⫺441; id.: Die Pflanzenfabel in der neueren dt. Litteratur. In: Zs. für den dt. Unterricht 16 (1902) 20⫺47, 73⫺110; Rez. von F. Rosen zu W., A.: Die Pflanzenfabel in der Weltlit. Lpz./Wien 1905. In: Studien zur vergleichenden Lit.geschichte 7 (1907) 364⫺369; cf. z. B. EM 1, 970; EM 6, 1415; EM 8, 840. ⫺ 7 cf. auch W., A.: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel im Zusammenhange mit dem christl. Dogma von der Versöhnung der ersten Jh.e und dem altgerm. Götterglauben. In: Nord und Süd 72 (1895) 56⫺72. ⫺ 8 cf. ferner id.: Der Lebensquell in den Mythen der Völker. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 12 (1898) 85⫺97; id.: Das Wasser des Lebens in den Märchen der Völker. Eine märchenvergleichende Studie. ibid. 13 (1899) 166⫺180; id.: Die Sage vom Lebensbaum und Lebenskraut in den verschiedenen Culturreligionen. In: Nord und Süd 89 (1899) 377⫺ 397.
Dresden
Brigitte Emmrich
Wurfwette J Wettstreit mit dem Unhold
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Wurst in der Tasche des Pastors (AaTh/ATU 1785 A), Schwank aus klerikalem Umfeld, der auf einem J Mißverständnis basiert. Der J Pfarrer bekommt eine W. geschenkt, steckt sie in die rückwärtige Tasche seines Talars und geht direkt in die Kirche. Ein Hund riecht die W. und folgt ihm. Als der Geistliche auf der Kanzel (vor dem Altar) steht, will ihm der J Küster die vergessenen Abkündigungen nachbringen. Um nicht bemerkt zu werden, kriecht er die Stufen zur Kanzel hinauf und zieht den Pfarrer am Talar. Dieser denkt, es sei der Hund, und gibt dem Küster einen Tritt.
Literar. Belege für den Erzähltyp finden sich in dt. Sprache im 16. Jh. bei Hans Wilhelm J Kirchhof 1, Georg J Wickram2 und Johannes J Hulsbusch3. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s liegen bes. aus Nordeuropa zahlreiche Var.n vor (finn., finn.-schwed., schwed., lett., dän., fries., dt.4). Die süddt. literar. Versionen mit kathol. Priester am Altar bei der Messe (Elevation beim Meßopfer) und Mesner (Sigrist) haben die spätere mündl. Tradition des protestant. Nordens mit Pastor, Küster, Kanzel und Predigt wohl kaum beeinflußt. Zumeist unter seinem Talar bzw. Rock, aber auch unter der Kanzel5 oder hinter dem Altar6 verwahrt der Geistliche eine W., Mettwurst7, mehrere Würste8, ein (vier) Butterbrot9 oder Aale10, die ihm ein Gemeindemitglied unterwegs geschenkt11 oder verkauft12 hat. Weil er verschlafen hat, will er die W. frühstücken13, oder das Brot soll sein zweites Frühstück sein14. Der Hund (mehrere Hunde15) ist in der Kirche16; er darf dort fressen17 oder in der Sakristei auf seinen Herrn warten18; oder der Hund19 (mehrere Hunde20) kommt nur bis zur Kirchentür; manchmal bildet sich der Pfarrer nur ein, daß ihm ein Hund folge21. Der Küster will unbemerkt Abkündigungen22, ein Gebet für Kranke23, ein Aufgebot24, einen Predigttext25, ein Buch26 oder ein Barett27 nachreichen; der Mesner will die Alba hochheben28 oder das Meßgewand zurechtrükken29. In der Regel versetzt der Geistliche dem Küster einen Fußtritt ⫺ verbunden mit dem Bibelzitat ,So trieb er den Teufel aus‘ (cf. Lk. 11,14)30; oder er flucht, ohne zu treten31. Das Gesicht des Küsters32 oder seine Nase bluten; er seufzt nur33 oder heult vor Schmerz auf, was wie ein Psalm klingt, so daß die Gemeinde
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Wurstregen ⫺ Wut
aufwacht, sich erhebt und ein Kirchenlied anstimmt (cf. AaTh/ATU 1832 M*: cf. J Brille des Küsters)34; oder der Mesner schlägt hin35 oder fällt vier Stufen hinunter, was für einen Anfall gehalten wird36. Z. T. wird die Glaubwürdigkeit des Erzählten durch die Angabe von Details verstärkt: Dazu gehören der Schauplatz Fricktal37 oder Västergötland38, der Name des Hundes Thor39 oder des Pfaffen Hans und der Zeitpunkt der Messe um St. Martin40. Selten folgen weitere Episoden, z. B. AaTh/ ATU 1837: J Hl. Geist in der Kirche41 oder die Rache des Mesners, der wie Panurge in J Rabelais’ Gargantua et Pantagruel (2,16) Hemd, Kittel, Alba und Meßgewand des Priesters zusammenheftet; als dieser es auf den Altar legen will, steht er, da er im Sommer keine Hose trägt, entblößt da (cf. AaTh/ATU 1828*: J Weinen und Lachen bei der Predigt)42. Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 115. ⫺ 2 Wickram/Bolte, num. 103. ⫺ 3 Hulsbusch, J.: Sylva sermonum iucundissimorum […]. Basel 1568, 38. ⫺ 4 Ergänzend zu ATU: Hubrich-Messow. ⫺ 5 Kristensen, E. T.: Vore Fædres Kirketjeneste. Aarhus 1899, num. 444. ⫺ 6 ibid., num. 442. ⫺ 7 Kooi, J. van der/ Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 172. ⫺ 8 Wickram/Bolte, num. 103; Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 115; Liungman 1, 555. ⫺ 9 Kristensen (wie not. 5) num. 442, 443. ⫺ 10 ibid., num. 444. ⫺ 11 Wickram/Bolte, num. 103; Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktining I A 2. Hels. 1920, num. 340.2; 1
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Liungman 1, 555; van der Kooi/Schuster (wie not. 7). ⫺ 12 Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 115; Kristensen (wie not. 5) num. 444; Hubrich-Messow; Schmitz, B.: „Wat is de Ape doch ’n spassig Mensk!“ segg de Bur. Emsdetten 1975, 55 sq. ⫺ 13 Hackman (wie not. 11) num. 344. ⫺ 14 Kristensen (wie not. 5) num. 442. ⫺ 15 Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 115. ⫺ 16 Hackman (wie not. 11) num. 344; Liungman 1, 555. ⫺ 17 Kristensen (wie not. 5) num. 442. ⫺ 18 ibid., num. 443. ⫺ 19 van der Kooi/Schuster (wie not. 7). ⫺ 20 Hubrich-Messow; Schmitz (wie not. 12). ⫺ 21 Wickram/Bolte, num. 103; Hackman (wie not. 11); Kristensen (wie not. 5) num. 444. ⫺ 22 Hackman (wie not. 11); Kristensen (wie not. 5) num. 442. ⫺ 23 Liungman 1, 555; Kristensen (wie not. 5) num. 444. ⫺ 24 ibid., num. 443. ⫺ 25 Hubrich-Messow. ⫺ 26 van der Kooi/Schuster (wie not. 7). ⫺ 27 Schmitz (wie not. 12). ⫺ 28 Wickram/Bolte, num. 103. ⫺ 29 Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 115. ⫺ 30 Kristensen (wie not. 5) num. 443. ⫺ 31 ibid., num. 444. ⫺ 32 ibid., num. 442. ⫺ 33 ibid., num. 443. ⫺ 34 Liungman 1, 555. ⫺ 35 Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 115. ⫺ 36 Wickram/Bolte, num. 103. ⫺ 37 ibid. ⫺ 38 Liungman 1, 555. ⫺ 39 Kristensen (wie not. 5) num. 443. ⫺ 40 Wickram/Bolte, num. 103. ⫺ 41 Hackman (wie not. 11) num. 340.2. ⫺ 42 Kirchhof, Wendunmuth 1,2, num. 115.
Sterup
Gundula Hubrich-Messow
Wurstregen J Frau: Die geschwätzige F. Wut J Zorn
X Xanthippe J Ehefrau: Die widerspenstige E., J Sokrates
Xeroxlore, Sammelbezeichnung für die in der 2. Hälfte des 20. Jh.s vorwiegend in Büros und Werkstätten zirkulierenden getippten, gedruckten oder gezeichneten Einzelblätter im Briefformat, die auf Kopiergeräten ⫺ anfangs vorwiegend solche der Firma Rank Xerox ⫺ vervielfältigt und durch Faxgeräte versandt weite Verbreitung fanden. Sie wurden vorwiegend in Schreibtischschubladen gesammelt oder an Wände gepinnt. Den Terminus X. gebrauchte zuerst M. J. Preston 19741. 1975 gaben A. J Dundes und C. R. Pagter eine erste Ausw. von in den USA gesammelten photokopierten Blättern heraus; sie benutzten für das Phänomen eine Reihe variierender Bezeichnungen wie ,urban folklore‘2, ,folklore by facsimile‘, ,white-collar folklore‘ oder ,folklore of bureaucracy‘3. Später sprach Dundes auch von ,office folklore‘, ,paperwork folklore‘, ,xerographic folklore‘4 oder ,office copier folklore‘5. Keiner der amerik. Termini trägt allerdings der Tatsache Rechnung, daß die Inhalte der X. vorwiegend der Kategorie J Humor zuzurechnen sind. Diesen Umstand hat erst P. Smith mit seinem 2. Buch zur engl. X. berücksichtigt, als er im Untertitel von ,photocopy joke sheets‘ sprach6. Die Dokumentation des Phänomens ist für die USA am dichtesten7; in Europa liegen Ausg.n zur X. in Deutschland8, Dänemark9 und Schweden10 vor. Unvermeidlich unterlag auch die X. einer baldigen Kommerzialisierung und erfuhr in gereinigten nichtwiss. Publ.en Verbreitung11. Die aus dem tatsächlichen Umlauf stammenden Blätter sind daran zu erkennen, daß sie aufgrund wiederholter Kopiervorgänge und Umzeichnungen eine Art Patina aufweisen12.
Mit der traditionellen Folklore hat die X. die Kriterien der Anonymität, die rasche, Sprach- und Kulturgrenzen überschreitende Verbreitung und die Variabilität gemeinsam. Als Teil der Kultur der Angestellten ist die X. erst relativ spät in den Fokus kulturwiss. Forschung getreten13. In dieser vorwiegend städtisch geprägten Arbeitswelt bildete sich schon seit dem Ende des 19. Jh.s auf der Basis vervielfältigter Blätter eine eigene Humorkultur heraus, aus der zahlreiche Text- und Bildelemente auch in das Faxzeitalter übernommen wurden14. Empirische Studien haben gezeigt, daß beim Phänomen X. in allen Phasen, von der Entstehung über die Vermittlung bis zur Rezeption, dem Bemühen um eine eigene Ästhetik, der kollektiven Kreativität und dem Gemeinschaftsgefühl der Agierenden eine große Bedeutung zukommt15. Inhaltlich wird die X., wo immer sie wiss. dokumentiert ist, durch die beiden großen Themen Arbeitswelt und Sexualität (J Erotik, Sexualität) beherrscht. Beim ersten Thema überwiegen Inhalte, die Unzufriedenheit mit und Kritik an der Arbeitsweise des betr. Unternehmens artikulieren; indem sie Streßabbau bewirkten, hatten sie eine Art Ventilfunktion. Beim zweiten Thema dominieren der Kampf der Geschlechter sowie männliche Wunschvorstellungen und Ängste16. Die private Nutzung der Ressourcen der Arbeitsstätten sowie die öffentliche Zurschaustellung der X. wurden von den Vorgesetzten zumeist stillschweigend geduldet; nur vereinzelt wird von Zensurmaßnahmen berichtet17. Bei der Darstellungsform der X. ist im Laufe ihrer relativ kurzen Existenz ein zunehmendes Übergewicht visueller über textliche Botschaften zu registrieren18. Was die Texte betrifft, so treten die verschiedensten Mitteilungsformen auf. Meist handelt es sich um Parodien: u. a. Briefe, Zirkulare, Aufrufe, Anzeigen, Tests, Arbeitsanweisungen, Dienstvor-
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Xeroxlore
schriften oder Zeugnisse. Die narrativen Inhalte sind bisher noch nicht zum Forschungsgegenstand gemacht worden. Es erscheinen z. B. folgende Themen: Brief einer ir. (norw., jütländ.) Mutter an ihren Sohn (Tochter)19. ⫺ Brief eines Kindes an Gott mit der Bitte um Geld: fehlende Summe wird den Spendern (Postangestellten) zur Last gelegt20. ⫺ Brief eines Bräutigams an seine Braut: Handschuh gegen Unterhose vertauscht21. ⫺ Brief der Kurverwaltung an einen Kurgast: Wald-Capelle (Wayside, Wooden Chapel) mit WC verwechselt22. ⫺ Der Arsch ist der Boß (AaTh/ATU 293: J Magen und Glieder)23. ⫺ Parodien auf AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen24. ⫺ Der Tennis-Ellenbogen (Warnung vor Masturbation)25. ⫺ Die Geburtstagsparty (Chef nackt vor seiner Familie)26. ⫺ Manchmal gewinnt der Drache (graphische Parodie auf AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter)27. ⫺ Der neue Prediger (trinkt Alkohol vor der ersten Predigt)28. ⫺ Rationalisierungsfachmann kritisiert Schuberts Unvollendete29.
Mit der Einführung des Computers und der Ausbreitung des Internets mit seinen vielfältigeren und sich ständig erneuernden Text- und Bildangeboten sowie den schnelleren Möglichkeiten der Übermittlung durch E-Mail wurde die X. in eine Randposition gedrängt und verschwand vor dem Ende des 20. Jh.s. Viele Kommunikationsinhalte der X., bes. Texte, leben jedoch in den elektronischen Medien weiter30 und haben zur Herausbildung einer neuen, vielfach interaktiven Erzählkultur im Internet beigetragen31. 1
Preston, M. J.: Xerox-lore. In: Keystone Folklore Quart. 19 (1974) 11⫺26. ⫺ 2 Dundes, A./Pagter, C. R.: Urban Folklore from the Paperwork Empire. Austin 1975 (Neudr. u. d. T. Work Hard and You Shall Be Rewarded. Bloom. 1978). ⫺ 3 ibid., XII. ⫺ 4 Dundes, A.: Office Folklore. In: Handbook of American Folklore. ed. R. M. Dorson. Bloom. 1983, 115⫺120, hier 115. ⫺ 5 id./Pagter, C. R.: Never Try to Teach a Pig to Sing. Still More Urban Folklore from the Paperwork Empire. Detroit 1991, 17. ⫺ 6 Smith, P.: Reproduction is Fun. A Book of Photocopy Joke Sheets. L. 1986; cf. id.: The Complete Book of Office Mis-Practise. L. u. a. 1984. ⫺ 7 Dundes, A./Pagter, C. R.: When You’re Up to Your Ass in Alligators … More Urban Folklore from the Paperwork Empire. Detroit 1987; iid. (wie not. 5); iid.: Sometimes the Dragon Wins. Yet More Urban Folklore from the Paperwork Empire. Syracuse, N. Y.
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1996; iid.: Why Don’t Sheep Shrink When It Rains. A Further Collection of Photocopier Folklore. Syracuse, N. Y. 2000. ⫺ 8 Kutter, U.: „Ich kündige!“ Zeugnisse von Wünschen und Ängsten am Arbeitsplatz. Marburg 1982. ⫺ 9 Kofod, E. M.: Chefens Sekretær og andre beske kommentarer til hverdagens fortrædeligheder. Aalborg 1988. ⫺ 10 Palmenfelt, U.: Folkhumor i fotostat. Stockholm 1986. ⫺ 11 Locke, N.: „You Want It When?!!“ The Complete Office Graffiti. L. 1979; id.: Office Graffiti 2. L. 1981; Fagan, P./Schaffer, M.: The Office Humour Book. L. 1986; iid.: Office Humor 2. N. Y. 1992; Schuhmacher, O.: Fax. Das Buch 1⫺5. Königswinter 1991⫺95. ⫺ 12 Preston, M. J.: Traditional Humor from the Fax Machine. „All of a Kind“. In: WF 53,2 (1994) 147⫺169, hier 160. ⫺ 13 Conradson, B.: Kontorsfolket. En etnologisk studie av livet pa˚ kontor. Stockholm 1988; Lauterbach, B.: Arbeitsalltag und Bürowelt. Einblicke in Ausschnitte dt. Angestelltenkultur. In: SAVk. 86 (1990) 44⫺61; id.: Großstadtmenschen. Die Welt der Angestellten. Ffm. 1995. ⫺ 14 Kutter, U.: Photokopierte Bll. ⫺ Entzauberter Alltag! In: Kultur und Alltag. ed. H.-G. Soeffner. Göttingen 1988, 363⫺384, hier 371⫺377. ⫺ 15 Hatch, M. J./Owen, M. O.: Photocopylore at Work. Aesthetics, Collective Creativity and the Social Construction of Organizations. In: Culture and Organization 3 (1997) 263⫺287. ⫺ 16 cf. Kutter (wie not. 8). ⫺ 17 Michael, N.: Censure of a Photocopylore Display. In: J. of Folklore Research 32 (1995) 137⫺154. ⫺ 18 Preston (wie not. 12) 156. ⫺ 19 Kutter (wie not. 8) 111; Smith 1984 (wie not. 6) 14 sq., 131; Palmenfelt (wie not. 10) num. 55; Kofod (wie not. 9) 13. ⫺ 20 Dundes/Pagter 1996 (wie not. 7) num. 146. ⫺ 21 Dundes/Pagter (wie not. 2) 210 sq.; Smith 1984 (wie not. 6) 15; Kutter (wie not. 8) 56 sq.; Smith 1986 (wie not. 6) 114; Kofod (wie not. 9) 10. ⫺ 22 Dundes/ Pagter (wie not. 2) 212; Kutter (wie not. 8) 58 sq.; Palmenfelt (wie not. 10) num. 48. ⫺ 23 Dundes/Pagter (wie not. 2) 100 sq.; Kutter (wie not. 8) 59⫺62; Smith 1986 (wie not. 6) 31; Palmenfelt (wie not. 10) num. 25. ⫺ 24 ibid., num. 49; Dundes/Pagter 1996 (wie not. 7) num. 138. ⫺ 25 ibid., num. 85. ⫺ 26 Dundes/Pagter (wie not. 2) 44 sq.; Smith 1984 (wie not. 6) 18. ⫺ 27 Dundes/Pagter 1996 (wie not. 7) num. 30. ⫺ 28 Smith 1986 (wie not. 6) 122; Dundes/ Pagter (wie not. 5) 42. ⫺ 29 Smith 1986 (wie not. 6) 60. ⫺ 30 Brednich, R. W.: www.wordwidewitz.com. Humor im Cyberspace. Fbg/Basel/Wien 2005; Wehse, R.: Wie verändern Internet und Email die Bürofolklore? In: Bayer. Bll. für Vk. 8⫺9 (2006/07) 41⫺ 55. ⫺ 31 Brednich, R. W.: Die neue Erzählkultur im Internet. In: Toplore. Stories and Songs. Festschr. S. Top. Trier 2006, 8⫺20.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Y Yanagita, Kunio (geb. Matsuoka), *Fukuzaki (Präfektur Hyo¯go) 31. 7. 1875, † Tokio 8. 8. 1962, Begründer der Vk. und Märchenforschung in J Japan. Nach dem Studium der Politologie an der Univ. Tokio (Abschluß 1900) war Y. zunächst im Landwirtschaftsund Handelsministerium tätig. 1914⫺19 fungierte er als Chefsekretär des zweiten Parlaments. 1919⫺30 nahm er eine Stelle bei der Asahi-Ztg an, bei der er 1930⫺47 weiter als freier Mitarbeiter beschäftigt war. 1921⫺23 war er Mitglied des Mandat-Kommitees des Völkerbundes. Nach den wenig einflußreichen Arbeiten von K. Minakata (1867⫺1941) kamen die entscheidenden Impulse für die jap. Erzählforschung von Y. 1913⫺17 gab er zusammen mit dem Germanisten und Sagenforscher T. Takagi die Zs. Kyo¯do kenkyu¯ (Heimatforschung) heraus; 1925 begründete er die bis 1929 bestehende Zs. Minzoku (Das Volk), die sich der Heimatforschung, Völkerkunde und Vk. widmete. 1935 begründete er die Minzoku gakkai (Ges. für Folkloristik), eine Arbeitsgruppe zur Dokumentation und Erforschung der Volksüberlieferung und Vorläuferin der heutigen Nihon ko¯sho¯bungei gakkai (Jap. Ges. für Volkserzählungsforschung) und die Zs. Minkan densho¯ (Volksüberlieferung) sowie 1948 das Minzokugaku kenkyu¯sho (Inst. für Folkloristik) in Tokio1. Seine Schriften sind, ebenso wie begleitendes Material, in umfangreichen Gesamtausgaben ediert2. Y.s erste volkskundliche Veröff. war To¯no Monogatari ([Geschichten aus dem Distrikt To¯no]. Tokio 1910). Die Slg enthält persönliche Erinnerungen und Geschichten eines ortsansässigen Bauern über Gestalten des Volksglaubens wie die Yama-Onna (Bergfrau), den Yama-Otoko (Bergmann) oder den Ienokami (Hausgott). Y. wollte mit diesem Werk die tiefe Verwurzelung traditioneller Glaubensvorstellungen in der jap. Kultur dokumentieren.
Das Märchen vom Pfirsichknaben3 repräsentiert nach Y.s Ansicht die Grundstruktur des jap. Märchens: Momotaro¯ wird auf wunderbare Weise aus einem Pfirsisch geboren, den das Wasser vom Berg heruntergetragen hatte; die Erzählung handelt von Geburt, Jugend und Heldentaten des Protagonisten, so u. a. von seinem Kampf gegen die Riesen, die er mit Hilfe von drei Tieren besiegt. Da die Berge nach altjap. Vorstellungen Aufenthaltsort der Gottheiten waren, faßte Y. den Pfirsichknaben als Gotteskind auf. 1936 veröffentlichte Y. zusammen mit K. J Seki Mukashibanashi saishu¯ techo¯ (Einführung in das Sammeln von Märchen), eine handbuchartige Anleitung mit konkreter Aufforderung zum Sammeln. Sie enthält insgesamt 100 Märchen in Zusammenfassung auf der jeweils rechten Seite; die linke Seite ist freigelassen, damit die Sammler dort eine Var. des betr. Märchens aufzeichnen konnten. Wenngleich das Buch selbst von kaum jemand zurückgesandt wurde, erhielten die Herausgeber in der Folge viele aus der mündl. Überlieferung aufgezeichnete Texte. Mit Hilfe von Seki veröffentlichte Y. diese Materialien in der Märchenreihe Zenkoku mukashibanashi kiroku ([Dokumente aller Märchen von ganz Japan] 1⫺12. Tokio/Osaka 1942⫺44)4. Entsprechend seinen Vorstellungen von der Grundstruktur des jap. Märchens unterteilte Y. in seinem Hauptwerk Nihon mukashibanashi meii ([Katalog des jap. Märchens]. Tokio 1948)5 die jap. Märchen in zwei Gruppen: (1) Kan ke i m uk as hi ba na sh i (vollkommen geformtes Märchen). Für diese Märchen ist die Struktur des Heldenlebens charakteristisch. Ihre Hauptmotive sind: wunderbare Geburt; wundersames Erwachsenwerden; glückliche Ehe; Stiefkind; unterschiedliche Brüder; Entdeckung eines Schatzes; Überwindung von Gefahr; Hilfe von Tieren; die Kraft des Wortes; Macht der Klugheit. (2) H as ei mu ka sh ib an as hi (abgeleitetes Märchen): Hierzu gehören nach Y. primär Schicksalser-
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Yeats, William Butler
zählungen, Gespenstergeschichten und Schwänke (Lügengeschichten; Geschichten über fatale und närrische J Imitation; Erzählungen über dumme Dörfler). Außerdem zählte er zu dieser Gruppe Geschichten von Tieren, Vögeln und Pflanzen sowie Erzählungen, die zwischen Märchen und Sage angesiedelt sind.
Sein Klassifikationssystem für Märchen ist heute nur noch von hist. Interesse, da die jap. Märchenforschung sich seit Sekis Katalog den Klassifikationsprinzipien der finn. Schule (AaTh/ATU) angeschlossen hat. Y. erarbeitete auch einen Katalog jap. Sagen6. In diesem sind die Texte nach thematischen Aspekten in sechs Gruppen (Pflanzen; Felsen und Steine; Wasser; Hügel; Berge; religiöse Stätten) aufgelistet. 1
cf. allg. Morse, R. A.: Y. K. and the Folklore Movement. (Diss. Princeton 1974) N. Y. u. a. 1990; Kawada, M.: The Origin of Ethnography in Japan. Y. K. and His Times. L. u. a. 1993; Koschmann, J. V. (ed.): Internat. Perspectives on Y. K. and Japanese Folklore Studies. Ithaca, N. Y. 1993; Lutum, P.: [Das] Denken von Minakata Kumagusu und Y. K. Zwei Pioniere der jap. Vk. […]. Münster 2005; Takagi, M.: Y. K. to Yoroppa (K. Y. und Europa). Tokio 2006; Fukuta, A.: Y. K. no minzokugaku (Y. K. und die Vk.). Tokio 2007. ⫺ 2 Teihon Y. K. shu¯ (G. W. von K. Y.) 1⫺33. Tokio 1966⫺74; Y. K. zenshu (Neue G. W. von K. Y.) 1⫺22. Tokio 2010 sqq.; Goto, S. (ed.): Y. K. kenkyu shiryo shu¯sei (Gesamtmaterialien der Y.-Forschung) 1⫺20, Reg. t. 1⫺2. Tokio 1987. ⫺ 3 Y., K.: Momotaro¯ no Tanjo¯ (Die Geburt des Pfirsichknaben). Tokio 1930. ⫺ 4 cf. auch id.: Japanese Folk Tales. ed. F. H. Mayer. Tokio 1954 (erw. Ausg. 1960). ⫺ 5 cf. The Y. K. Guide to the Japanese Folk Tale. ed. F. H. Mayer. Bloom. 1986 (Rez. N. Naumann in Fabula 28 [1987] 138⫺ 143). ⫺ 6 Y., K.: Nihon densetsu meii (Katalog jap. Sagen). Tokio 1950.
Tokio
Toshio Ozawa
Yeats, William Butler, *Sandymount bei Dublin 13. 6. 1865, † Roquebrune-Cap Martin bei Menton 28. 1. 1939, ir. Dichter. Y. verbrachte seine Jugend abwechselnd in Irland und England; 1884⫺86 besuchte er die Metropolitan School of Art in Dublin, die er verließ, um professioneller Schriftsteller zu werden. Er war der führende Exponent der anglo-ir. literar. Renaissance und Mitbegründer des ir. Nationaltheaters, das er zusammen mit Lady Isabella Augusta Gregory (1852⫺1932) leitete.
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Darüber hinaus war Y. 1922⫺28 Senator im Parlament des Ir. Freistaats. 1923 erhielt er den Nobelpreis für Lit. Y. war Mitglied der Theosophischen Ges., des rosenkreuzerischen Hermetic Order of the Golden Dawn bzw. der Stella Matutina. Seine Dichtung ist von mystischen, spiritistischen und okkultistischen Tendenzen geprägt. Des Gälischen war Y. nicht mächtig; er hatte die altir. Heldensagen, die zusammen mit der Volksüberlieferung und der Landschaft von County Sligo sein dichterisches und dramatisches Schaffen inspirierten, durch engl. Übers.en kennengelernt. Sein auf den J Finnzyklus zurückgreifendes episches Gedicht The Wanderings of Oisin (L. 1889) ist als Dialog zwischen dem aus dem Feenland zurückgekehrten vielhundertjährigen Oisı´n (J Ossian) und dem hl. J Patrick gestaltet. Zu Y.’ Hauptthemen gehören die Überlieferungen um den Helden J Cu´ Chulainn, der außer in Gedichten (The Death of Cuchulain, 1892; Cuchulain Comforted, 1939) auch in Einaktern (zwei der vom jap. No¯-Theater beeinflußten Four Plays for Dancers, 1921) begegnet: At the Hawk’s Well behandelt Cu´ Chulainns mißlungenen Versuch, das Wasser der Jugend (J Lebenswasser) zu trinken; The Only Jealousy of Emer nimmt das Thema von Cu´ Chulainns Ehe auf. Eine weitere Geschichte aus dem J Ulster-Zyklus gestaltete Y. als Drama (Deirdre, 1907). Auch andere Gedichte wie The Lake Isle of Innisfree (1890) und Fergus and the Druid (1893) greifen auf die altir. Mythologie zurück. Die Titelgestalt des zusammen mit Lady Gregory verfaßten Einakters Cathleen Ni Houlihan (1902), eine alte Obdachlose, die sich zum Schluß in eine stolze junge Frau verwandelt, stellt die Personifikation des nach Unabhängigkeit strebenden Irland dar. Dabei handelt es sich um einen Fall neuer Mythenschöpfung. Y.’ Anthologien, Fairy and Folk Tales of the Irish Peasantry (1888) und Irish Fairy Tales (1892)1, enthalten im wesentlichen Texte aus Werken des 19. Jh.s., abgesehen von vier von D. J Hyde aus mündl. ir.sprachiger Überlieferung gesammelten und für Y. übers. Erzählungen. Die Fairy and Folk Tales of the Irish Peasantry sind z. T. mit eigenen und fremden Gedichten, die zu den Themen des Bandes passen, durchsetzt. Das Buch enthält in einzelne Abschnitte gegliederte und
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jeweils mit einer Einl. versehene Erzählungen über J Fairies, Geister, Hexen, Ärzte, die gegen Schadenzauber der Fairies helfen können, das Land der Ju´ ige), Heilige und Priester, den Teufel, gend (Tı´r na hO Riesen, Könige, Königinnen und Prinzessinnen, Adlige und Räuber; zu manchen Erzählungen lieferte Y. Anmerkungen. An internat. Erzähltypen erscheinen in dem Band AaTh/ATU 330: cf. J Schmied und Teufel2, AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder3, AaTh/ATU 501: Die drei J Spinnfrauen4, AaTh/ATU 503: J Gaben des kleinen Volkes5 und AaTh/ATU 2030: Die alte J Frau und das Schwein6. Der weniger umfangreiche Band Irish Fairy Tales enthält eine Klassifizierung der ir. Fairies; er handelt von Fairies, die auf dem Land und im Wasser leben, von bösen Geistern, Katzen, Königen und Kriegern. Von bes. Bedeutung ist die Beschreibung eines Old Biddy Hart genannten Erzählers, dessen Haus am Ben Bulben (County Sligo) Y. schon als Kind besucht hatte. In dem Band findet sich auch eine Var. von AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen7.
Y.’ Prosaband The Celtic Twilight (L. 1893) enthält den in Irland weitverbreiteten Erzähl´ Su´illeabha´in/Christiansen 2412 B: The typ O Man Who Had No Story8; in der erweiterten Ausgabe von 1908 findet sich darüber hinaus AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder9. Von einer Gräfin, die während einer Hungersnot ihre Seele dem Bösen verkauft, um ihre Pächter zu retten, und trotz des J Teufelspakts nach ihrem Tod in den Himmel aufgenommen wird, handelt Y.’ Versdrama The Countess Cathleen (1892). Das Stück The Pot of Broth (1904) basiert auf AaTh/ATU 1548: J Kieselsteinsuppe10. Einige von Y.’ Gedichten, z. B. das als Rekonstruktion eines Volkslieds konzipierte Gedicht Down by the Salley Gardens (1889), wurden zu populären Liedern. Y.’ Werk The Celtic Twilight regte Lady Gregory zum Sammeln von Volksüberlieferungen aus ihrer Heimat County Galway an; gelegentlich begleitete Y. sie dabei. Er unterstützte auch W. Y. Evans-Wentz bei den Vorbereitungen für seine wiss. Abhandlung The Fairy Faith in Celtic Countries (1911). 1 Beide Bände veröff. als Y., W. B.: Fairy and Folk Tales of Ireland. Gerrard’s Cross 1973. ⫺ 2 id.: Fairy and Folk Tales of the Irish Peasantry. L. 1888, 235⫺ 259 (aus: Carleton, W.: Tubber Derg. Dublin s. a., 232⫺256). ⫺ 3 ibid. (wie not. 2) 280⫺286 (aus: Kennedy, P.: The Fireside Stories of Ireland. Dublin 1870, 14⫺19). ⫺ 4 ibid., 286⫺290 (aus: Kennedy [wie not. 3] 63⫺67). ⫺ 5 ibid., 40⫺45 (aus: Croker, T. C.: Fairy Legends and Traditions of the South of Ireland 1. L. 1825, 23⫺36). ⫺ 6 ibid., 296⫺299 (ir.spra-
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chige Orig.e in: de hI´de, D.: Leabhar Sgeulaigheachta. Dublin 1889, 107⫺134); cf. auch not. 1. ⫺ 7 Y., W. B.: Irish Fairy Tales. L. 1892, 123⫺137 (cf. de hI´de [wie not. 6] 123⫺137). ⫺ 8 id.: The Celtic ´ Catha´in, S.: An Twilight. L. 1893, 141⫺144; cf. O Fear nach Rabh Sce´al ar bith Aige [Der Mann, der keine Geschichte hatte]. In: Be´aloideas 37⫺38 (1969⫺70) 51⫺64. ⫺ 9 id.: The Celtic Twilight and Stories of Red Hanrahan. Stratford-on-Avon 1908, 172⫺189. ⫺ 10 cf. Clarke, D. R. und R. E. (edd.): The Collected Works of W. B. Y. 2. N. Y. 2001, 109⫺ 119.
Dublin
Patricia Lysaght
Ysengrimus 1. Entstehung und Überlieferung ⫺ 2. Inhalt und Gliederung ⫺ 3. Stoffe und Motive ⫺ 4. Intention und Gehalt
1 . E nt st eh un g u nd Üb er li ef er un g. Der Y. ist das älteste Tierepos des MA.s, denn die Ecbasis captivi kann in ihrer lockeren epischen Fügung noch nicht wirklich als solches gelten1. Er wurde um die Mitte des 12. Jh.s, vielleicht 1148⫺49, in Flandern von einem Kleriker in meisterhaftem, wenn auch durchaus ma. Latein verfaßt (6574 Hexameter)2. In drei späteren Florilegien wird der Text drei verschiedenen Autoren zugesprochen: einem Nivardus, einem Balduinus Cecus und einem Bernardus, die aber leere Namen bleiben. Anspielungen weisen auf Gent als Entstehungsund/oder Bezugsort der Dichtung. Der Y. ist in 17 Textzeugen, davon vier vollständigen Hss., des 13.⫺15. Jh.s überliefert. Die Aufnahme vieler Y.-Verse in Florilegien beweist die Beliebtheit des Textes3. 2 . I nh al t u nd Gl ie de ru ng. In der ältesten vollständigen Hs. ist das Werk in sieben Bücher mit insgesamt 24 Fabeln gegliedert, in der Redaktion y2 in vier Bücher mit ebenfalls 24 Fabeln. Die Forschung des 19./ 20. Jh.s hat weitere Unterteilungen sowie Zusammenfassungen vorgenommen und die Grenzen da und dort verschoben4. Die titelgebende Hauptfigur ist der J Wolf Y.; sein ,Krieg‘ mit dem J Fuchs Reinardus (R.; J Reineke Fuchs) ist das zentrale Thema des Epos. I nh al t (nach der ältesten vollständigen Hs.5): (num. 1) A I, 1⫺180 ⫽ R. in den Fängen des Wolfs.
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R. kann Y. durch Aussicht auf Beute (die geteilt werden soll) davon abhalten, ihn zu fressen. ⫺ (num. 2) A I, 181⫺354 ⫽ R. täuscht einem Bauern vor, er könne vor Erschöpfung nicht mehr gehen. Daraufhin legt der Bauer seinen Schinken ab, um R. zu fangen. Y. raubt den Schinken. ⫺ (num. 3) A I, 355⫺ 588 ⫽ Y. läßt R. vom Schinken nur den Strick zum Aufhängen übrig. R. beschwert sich. ⫺ (num. 4) A I, 589⫺734 ⫽ R. überredet den Wolf, seinen Schwanz in das Eisloch eines zugefrorenen Teichs zu hängen, um so Fische zu fangen (AaTh/ATU 2: J Schwanzfischer). ⫺ (num. 5) A I, 735⫺1064 ⫽ Y. friert im Eis fest. R. raubt inzwischen im Dorf ein Huhn und lockt die Verfolger zum Teich. Y. wird verprügelt (AaTh/ATU 2). ⫺ (num. 6) A II, 1⫺270 ⫽ Y. verliert durch einen Axthieb seinen Schwanz, kommt so aber frei (AaTh/ATU 2 A: cf. J Schwanzlose Tiere). ⫺ (num. 7) A II, 271⫺688 ⫽ Y. als Feldmesser. R. rät dem Wolf, sein ruiniertes Fell durch Schaffelle zu ersetzen. Er soll streitenden Schafen ihre Weide zumessen und sie dabei ergreifen. Die Schafe stoßen ihn gemeinsam fast zu Tode (AaTh/ ATU 122 A: cf. J Wolf verliert seine Beute). ⫺ (num. 8) A III, 1⫺1198 ⫽ Der Hoftag. Der erkrankte Löwe ruft die Vasallen zum Rat an den Hof. R. gibt sich als heilkundiger Heimkehrer aus Salerno aus und rät zur Schwitzkur mit einem Wolfsfell. Der Bär schindet Y. (AaTh/ATU 50: Der kranke J Löwe). Der Bär hat frühere Abenteuer von Fuchs und Wolf in Verse gebracht, die nun als Binnenerzählung (num. 9⫺15) vorgetragen werden. ⫺ (num. 9) A IV, 1⫺810 ⫽ Wallfahrt der Tiere (cf. AaTh/ATU 20 D*: cf. J Tiere fressen einander). In einer Herberge erschrecken die Ziege, R. und sechs weitere Tiere Y. durch ein abgeschlagenes Wolfshaupt und malträtieren ihn (AaTh/ATU 125: cf. J Wolf flieht vor dem Wolfskopf ). Obwohl Y. Verstärkung holt, werden die Wölfe in die Flucht geschlagen (cf. AaTh/ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft). ⫺ (num. 10) A IV, 811⫺1044 ⫽ R. fängt einen Hahn, nachdem er ihn schmeichlerisch überredet hat, mit geschlossenen Augen zu krähen (AaTh/ATU 61: J Fuchs und Hahn), läßt ihn jedoch versehentlich wieder frei, um seinen Raub gegenüber einer Gruppe von Bauern verbal zu verteidigen (AaTh/ATU 6: cf. J Überreden zum Sprechen, Singen etc.). ⫺ (num. 11) A V, 1⫺324 ⫽ R. will dem Hahn einreden, es sei ein Landfriede ausgerufen worden, läßt sich aber durch angeblich nahende Jagdhunde schrecken (AaTh/ATU 62: J Friedensfabel). ⫺ (num. 12) A V, 325⫺704 ⫽ R. gibt sich als Mönch aus und überredet Y., ins Kloster (Blandinium/St. Petrus) einzutreten, wo er ,die Schafe weiden‘ soll. ⫺ (num. 13) A V, 705⫺820 ⫽ Während Y. im Kloster ist, uriniert R. auf dessen Kinder und lockt die Wölfin in den Eingang der Fuchshöhle, wo sie steckenbleibt und von ihm vergewaltigt wird (AaTh/ATU 36: J Fuchs vergewaltigt die Bärin). ⫺ (num. 14) A V, 821⫺868 ⫽ Y. verstößt gegen diverse Mönchsregeln und singt laut zur falschen Zeit (cf. AaTh/ATU 100: Der singende J Wolf ). ⫺ (num. 15) A V, 869⫺1128) ⫽ Y. verlangt
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zu trinken, öffnet im Keller alle Faßspunde und wird aus dem Kloster vertrieben (cf. AaTh/ATU 41: J Wolf im Keller). ⫺ (num. 16) A V, 1129⫺1166 ⫽ Der Hengst erschreckt den Storch. ⫺ (num. 17) A V, 1167⫺1322 ⫽ Der Hengst überlistet den Wolf, der ihn bedroht, und tritt ihm heftig gegen den Kopf (AaTh/ATU 47 B: cf. J Wolf und Pferd). ⫺ (num. 18) A VI, 1⫺132 ⫽ Der Widder Joseph bietet an, dem gierigen Wolf in den Rachen zu springen, und verwundet ihn auf diese Weise schwer. ⫺ (num. 19) A VI, 133⫺348 ⫽ Die Beuteteilung. R., Y. und der Löwe erlegen ein Kalb. Y. teilt es in drei gleiche Teile und wird dafür vom Löwen nochmals gehäutet. R. teilt fast alles dem Löwen und seiner Familie zu und erhält huldvolles Lob (AaTh/ATU 51: J Löwenanteil). ⫺ (num. 20) A VI, 349⫺550 ⫽ R. überredet Y. zu einem Schwur auf angebliche Reliquien, um sein Anrecht auf ein Eselsfell zu beeiden. Es handelt sich dabei um ein Wolfseisen, das Y. eine Pfote kostet (AaTh/ATU 44: J Eid aufs Eisen). ⫺ (num. 21) A VII, 1⫺442 ⫽ Der Tod des Wolfs. Eine riesige Sauherde greift Y. an und verschlingt ihn. ⫺ (num. 22) A VII, 443⫺504 ⫽ Verweigerung der Totenfeier für den reuelosen Verbrecher. ⫺ (num. 23) A VII, 505⫺ 548 ⫽ R.’ geheuchelte Trauer über den Toten. ¿ (num. 24) A VII, 549⫺708 ⫽ Klage der Sau Salaura über den Zustand der Welt.
Von diesen 24 Fabeln lassen sich num. 1⫺3 (Schinkenteilung), num. 4⫺6 (Fischfang), num. 10⫺11 (Fuchs und Hahn), num. 12, 14⫺ 15 (Wolf als Mönch im Kloster) und num. 21⫺24 (Schlußkatastrophe) thematisch zusammenfassen. Die Absicht, eine geschlossene Komposition rund um den Protagonisten Y. zu schaffen, ist über kausale Detailverknüpfungen hinaus am Einschub der Binnenerzählung vergangener Ereignisse (ordo artificialis) und am finalen Zug zur Katastrophe erkennbar, aber keineswegs durchgehend verwirklicht. Viele Episoden führen ein Eigenleben. Überhaupt tritt die Handlung gegenüber Dialog und Reflexion in den Hintergrund6. 3 . S to ff e u nd Mo ti ve. Der fläm. Autor schöpfte sowohl aus der lat. (antiken und postantiken) Fabeldichtung als auch aus mündl. volksläufigen Erzählungen. Davon sind viele weltweit verbreitet. In jedem Fall ist der Zeugniswert des Y. für die Erzählforschung von bes. Bedeutung, gerade weil der Autor zwar ein herausragender Rhetoriker und Stilist, aber kein passionierter Erzähler war. Nur Y.’ Tötung dürfte er ⫺ in Kenntnis eines Gedichts von Hildebert von Lavardin (1056⫺1133)7 ⫺ zum größten Teil selbst erfunden haben.
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Der Y. war vor allem in Gelehrtenkreisen seines Wortwitzes wegen berühmt und nicht als Lieferant von Fabeln, deren Handlungsverlauf sich unter der sophistischen Rhetorik kaum klar abzeichnet. In die Breite können sie über Branchen des altfrz. J Roman de Renart gewirkt haben, deren Text jedoch auch bei motivgleichen Episoden oft stark vom Y. abweicht. Der Vergleich steht immer noch unter dem Einfluß der Thesen L. Foulets (aus der Schule J. J Be´diers)8, die den Roman de Renart nach Auffassung der heutigen Forschung zu stark an den Werkbegriff des 19. Jh.s, die Schriftlichkeit und die Festigkeit der Texte binden. Unter diesem Aspekt ist zugleich die alleinige Abhängigkeit des Roman de Renart vom Y. neuerlich auf den Prüfstand zu stellen9. Nicht zufällig hat der klerikale Autor das Motiv des Wolfsmönchs als Zentrum gewählt. Vor dem Y. begegnet es bereits in anderen vergleichbaren Texten, etwa bei J Egbert von Lüttich (11. Jh.), in der Ecbasis captivi (Mitte 11. Jh.?), in De lupo (um 1100) und (vermutlich) im nur fragmentarisch erhaltenen Metrum Leonis (vielleicht von Leo von Vercelli, gest. 1026). Das Motiv vom Wolfsmönch setzt einen bibl. Vergleich narrativ um (Mt. 7,15; cf. auch Mt. 10,16). Ab wann auch die griech. Fabel AaTh/ATU 123 B: J Wolf im Schafspelz hereingespielt haben könnte, hängt von deren Datierung ab10. Für die Forschung ist bes. die Frage nach der äsopischen Herkunft (cf. J Äsopika) von großer Bedeutung. Vermutlich äsopisch ist trotz der verwirrenden Beleglage die Fabel vom Hoftag des kranken Löwen (num. 8). Sie ist erstmals im 9./10. Jh. in einer byzant. und einer (inhaltlich nicht ganz identischen) karoling. Version bekannt, was die verschiedensten Schlüsse provoziert hat11. Da es jedoch aus derselben Zeit auch eine arab. Fassung gibt, ist griech. Ursprung wahrscheinlicher, ohne daß damit ihre Vermittlung ins Abendland geklärt wäre. Jedenfalls ist die Fabel im Y. der frühma. Gestalt (wie in der Ecbasis captivi) noch weit ähnlicher als den Neuerungen des Roman de Renart. Fraglos äsopischen Ursprungs ist die Fabel vom Löwenanteil im Y. (num. 19), obwohl die ältere lat. Tradition nur einen Seitenableger davon überliefert12.
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Vermutlich stellt auch die Schinkenteilung (num. 1⫺3) nur eine Abwandlung derselben Fabel dar, wobei der Wolf an die Stelle des Löwen getreten ist. Schon ein wenig schwerer fällt die Ableitung der Fabel num. 17 von der äsopischen Tradition13. Bei den Fabeln num. 7 und 9 sind nur vage Anklänge erkennbar. Insbesondere bei dem Erzähltyp AaTh/ATU 130 in Kombination mit AaTh/ATU 125 hat die Herleitung aus mündl. Erzählgut weit mehr für sich. Erst recht liegt sie nahe beim Fischfang (num. 4⫺6) und bei Fuchs und Wölfin (num. 13), deren erstes literar. Zeugnis der Y. ist. Gleichwohl hat man Einwände gegen K. J Krohns14, O. J Dähnhardts15 und A. Grafs16 Herleitung des Erzähltyps von AaTh/ATU 2 aus Nordeuropa vorgebracht, welche davon ausgeht, daß das Fischen im Eisloch an das nördl. Klima gebunden sei und der Schwanzverlust eine ätiologische Erklärung des Stummelschwanzes des Bären darstelle. Weniger Zweifel scheint man an der sekundären Übertragung von der Bärin auf die Wölfin in AaTh/ATU 36 zu haben, obschon hier eine innere Begründung für die Priorität schwerer fällt. Sie läßt sich jedoch von außen durch das Zeugnis der J Marie de France (spätes 12. Jh.) geben, die ebenfalls die Bärin als Vergewaltigungsopfer benennt17. Die Fabel num. 20 vom Wolfseisen, die keiner äsopischen Tradition entstammt, wird erstmals im Y. erwähnt und im 13. Jh. sowohl im Roman de Renart (Branche VIII, 143⫺145) als auch in einem Spruch des Marners18 als bekannt vorausgesetzt. Daß dieser den Y. kannte, ist unwahrscheinlich. Heftig umstritten ist schließlich der mündl. oder schriftl. Ursprung der Fabel von Fuchs und Hahn in num. 10. Sie ist erst im lat. MA. (seit der Karolingerzeit) belegt, allerdings mit wechselnden Protagonisten (Alkuin, Carmen 278: Wolf und Hahn; Romulus, num. 34: Fuchs und Rebhuhn; Gallus et vulpes [12. Jh.]: Fuchs und Hahn). Hier liegt möglicherweise aber nur eine Var. zu der alten äsopischen Fabel (AaTh/ ATU 57: J Rabe und Käse) vor, die in gleicher Weise von der schmeichlerischen Ausnutzung der Eitelkeit lebt. 4 . I nt en ti on un d G eh al t. Da der Autor als wichtigstes Darstellungsprinzip die Ironie
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gewählt und überdies das Wort kaum je dem Erzähler, sondern fast immer den Akteuren überlassen hat, besteht bis heute keine Einigkeit darüber, ob das Werk auch ernstgemeinte Aussagen enthält und positive Standpunkte erkennen läßt. Unter diesem Vorbehalt sind alle Positionen der Forschung zu beurteilen. Da heißt es etwa: die sarkastische Satire wende sich im Namen des Weltklerus gegen den Mönchsklerus19, gegen den gesamten Klerus20, speziell gegen die Aufhebung der Grenze zwischen beiden21; sie demonstriere die Verderbtheit der ganzen Welt aus der Sicht eines rigoristischen Spiritualismus22 oder den Triumph der J Fortuna und der Weisheit über die Torheit23 oder eine verderbte Welt, die bereits die Zeichen eines nahen Untergangs trägt. Die Weltsicht könnte sowohl radikal christl. als auch nichtchristl., vielleicht epikureisch-utilitaristisch24 oder auch irgend etwas dazwischen sein. Der Fokus der im Y. dargestellten Welt liegt ohne Zweifel im Mönchtum. Nur wer damit äußerlich und innerlich eng vertraut ist, hat eine Chance, der Darstellung einigermaßen folgen zu können. Die Haltung des Autors zu dieser Lebenswelt kann man letztlich nicht sicher bestimmen. Es ist möglich, aber nicht zu beweisen, daß hinter der Schmähung ein Glaube an das System fortbesteht25. Eher bedurfte es „der humanisierenden Energien dieses einzigartigen vitalen Humors, um den latenten Nihilismus des Y. zu überspielen“26. Doch selbst ob diese Energien dazu ausreichten, scheint nicht ganz sicher. 1
cf. Knapp, F. P.: Das lat. Tierepos. Darmstadt 1979, 39. ⫺ 2 Voigt, E. (ed.): Y. (Halle 1884 [kritische Edition]) Nachdr. ed. J. Mann. Leiden u. a. 1987
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(ohne textkritischen Apparat) 1⫺187. ⫺ 3 cf. Mann (wie not. 2) 4. ⫺ 4 Knapp (wie not. 1) 50 sq. (Synopse). ⫺ 5 cf. Voigt (wie not. 2) CXL⫺CXLVI. ⫺ 6 cf. Mierlo, J. van: Het vroegste dierenepos in de letterkunde der Nederlanden. Antw. u. a. 1943; Jauß, H. R.: Unters.en zur ma. Tierdichtung. Tübingen 1959, 101⫺103. ⫺ 7 cf. Voigt (wie not. 2) 383. ⫺ 8 Foulet, L.: Le ,Roman de Renart‘. P. 1914. ⫺ 9 cf. u. a. The Earliest Branches of the Roman de Renart. ed. R. A. Lodge/K. Varty. Löwen u. a. 2001, XXIV sq. ⫺ 10 Knapp (wie not. 1) 148 (not. 95). ⫺ 11 ibid., 20⫺25; Kaczynski, B. M./Westra, H. J.: Aesop in the Middle Ages. In: Mittellat. Jb. 17 (1982) 31⫺38; Rädle, F.: Der Prozeß gegen den Wolf („Y.“, Buch III). In: Lit. und Recht. ed. U. Mölk. Göttingen 1996, 37⫺56. ⫺ 12 Phaedrus. Liber Fabularum. ed. L. Müller. Lpz. 1877, num. 1, 5; Der Lat. Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. ed. G. Thiele. Heidelberg 1910, num. 8; cf. dagegen Perry, num. 149. ⫺ 13 Babrius and Phaedrus/Perry, num. 187. ⫺ 14 Krohn, K.: Bär (Wolf) und Fuchs. In: JSFO 6 (1889) 23⫺46, 49⫺54. ⫺ 15 Dh. 4, 219⫺ 228. ⫺ 16 Graf, A.: Die Grundlagen des Reineke Fuchs (FFC 38). Hels. 1920, 58⫺68. ⫺ 17 Die Fabeln der Marie de France. ed. K. Warnke. Halle 1898, num. 7. ⫺ 18 Der Marner. ed. P. Strauch. Straßburg 1876, XV, 7. ⫺ 19 Voigt (wie not. 2) XCII sq. ⫺ 20 Willems, L.: E´tude sur l’Ysengrinus. Gent 1895, 46⫺50. ⫺ 21 Mann, J.: The Satirical Fiction of the „Y.“ In: Reynard the Fox. Social Engagement and Cultural Metamorphoses in the Beast Epic from the Middle Ages to the Present. ed. K. Varty. N. Y./Ox. 2000, 1⫺15. ⫺ 22 van Mierlo (wie not. 6). ⫺ 23 Jauß (wie not. 6) 93⫺113. ⫺ 24 Knapp, F. P.: Materialistischer Utilitarismus in der Maske der Satire. Magister Nivards ,Y.‘ In: Mittellat. Jb. 10 (1975) 80⫺99. ⫺ 25 Ziolkowski, J.: Talking Animals. Medieval Latin Beasts Poetry 750⫺1150. Phil. 1993, 234. ⫺ 26 Rädle (wie not. 11) 56.
Wien
Fritz Peter Knapp
Z Zachariae, Theodor Victor Hugo, *Großkmehlen bei Liebenwerda 3. 2. 1851, † Halle (Saale) 5. 5. 1934, dt. Indologe, Volkskundler und Erzählforscher1. Z., Sohn des Rechtshistorikers Karl Eduard Z. von Lingenthal (1812⫺94), stammte aus einer alten Gelehrtenfamilie. Er studierte in Göttingen und Leipzig u. a. bei T. J Benfey Klassische Philologie, Sanskrit und Vergleichende Sprachwissenschaft und wurde 1874 in Göttingen mit einer sprachwiss. Diss. über die Fabeln des J Babrius, De dictione Babriana (Lpz. 1875), promoviert. Nach Studienaufenthalten in Oxford und London habilitierte er sich 1879 für Sanskrit-Sprache und -Lit. in Greifswald und wurde dort 1883 zum außerordentlichen Professor für Sanskrit und Vergleichende Sprachwissenschaft ernannt. 1890⫺1921 lehrte Z. Vergleichende Sprachwissenschaft in Halle, wo er 1921 einen Tag vor seiner Emeritierung zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Z. publizierte bahnbrechende Arbeiten vornehmlich zur ind. Sanskrit-Lexikographie sowie zur vergleichenden Lit.geschichte, Vk. und Märchenkunde. Sein auf umfassender Quellenkenntnis basierendes Œuvre, das durch Nachdrucke gut erschlossen ist, umfaßt 122 Titel2. Seine zahlreichen volks- und erzählkundlichen Beitr.e veröffentlichte Z. vornehmlich in der ZfVk., mit deren Herausgeber J. J Bolte er zeitlebens freundschaftlich verbunden war. In seinen Studien folgte Z. weitgehend dem Ansatz Benfeys. Daß Kritik an manchen der von Benfey geäußerten Vermutungen zum ind. Ursprung oriental. und abendländ. Erzählungen und ihrer Wanderung von Indien nach Europa (J Ind. Theorie) durchaus berechtigt war, merkte Z. bereits früh an3; so wies er etwa auf U. von Wilamowitz-Moellendorf hin, der gegen Benfey von einem griech. Ursprung des Buchs von den J Sieben weisen Meistern ausging4.
Dem komparatistischen Ansatz Benfeys folgend, konnte Z. zahlreiche Erzählstoffe auf ihre Quellen zurückführen und parallele Kulturerscheinungen (gemeinsame Erzählmotive, übereinstimmende Bräuche) verschiedener Zeiten und Kulturräume nachweisen, wobei er bes. Wert auf die hist. und textgeschichtlichen Abhängigkeiten legte. Exemplarisch sind etwa seine Ausführungen zur Institution der Blutprobe (Bahrprobe)5, zu Adoptionsriten6, zu AaTh/ATU 774 A, 1169: J Köpfe vertauscht7, AaTh/ATU 1617: J Kredit erschwindelt8, AaTh/ATU 926 C: J Salomonische Urteile9 oder AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend10. Als wichtige Quellen griff er auch auf die alten Reise- und Erlebnisberichte aus dem Orient zurück, so die Historia do Mogor des Nicolo` J Manucci, der lange Zeit als Leibarzt des Mogulherrschers Aurangzeb gedient hatte11. Wenngleich man Z. heute in mancher Wertung oder Ursprungshypothese nicht mehr folgen kann, sind seine mit philol. Akribie zusammengestellten Materialsammlungen nach wie vor mit Gewinn zu studieren. 1 Printz, W.: T. Z. In: ZDMG 88 (1934) 338⫺340; Boehm, F.: T. Z. †. In: ZfVk. 43 (1934) 125 sq.; cf. Kraatz, M. und M.: Carl Cappeller ⫺ Moriz Winternitz ⫺ T. Z. Drei Biogr.n berühmter Indologen. Mü. 2010; Knobloch, J.: Die Geschichte der sprachwiss. Lehre und Forschung an der Ernst Moritz ArndtUniv. zu Greifswald. In: Festschr. zur 500-Jahrfeier der Univ. Greifswald 2. Magdeburg 1956, 234⫺238, hier 236 sq.; Archiv der Martin-Luther-Univ. HalleWittenberg, Personalakte PA 17348 (1⫺2). ⫺ 2 Z., T.: Kl. Schr. zur ind. Philologie, zur vergleichenden Lit.geschichte, zur vergleichenden Vk. Bonn/Lpz. 1920 (Nachdr. Hildesheim 1989); id.: Opera minora zur ind. Wortforschung, zur Geschichte der ind. Lit. und Kultur, zur Geschichte der Sanskritphilologie 1⫺2. ed. C. Vogel. Stg. 1977 (Bibliogr. vii⫺xiii). ⫺ 3 id.: Rez. von Benfey, T.: Kl.re Schr. 2,3⫺4. ed. A. Bezzenberger. B. 1892. In: Götting. Gelehrte Anzeigen (1892) 633⫺656. ⫺ 4 ibid., 635; cf. WilamowitzMoellendorff, U. von: Zu Plutarchs Gastmahl der Sieben Weisen. In: Hermes 25 (1890) 196⫺227. ⫺
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Z., T.: Ein Gottesurteil. In: Wiener Zs. für die Kunde des Morgenlandes 24 (1910) 344⫺349; id.: Ein salomonisches Urteil (Gesta Romanorum nr. 196). In: ZfVk. 25 (1915) 314⫺326. ⫺ 6 id: Scheingeburt. ibid. 20 (1910) 141⫺181. ⫺ 7 id.: Zu Goethes Parialegende. ibid. 11 (1901) 186⫺192. ⫺ 8 id.: Ind. Märchen aus den Lettres e´difiantes et curieuses. In: id.: Kl. Schr. (wie not. 2) 305⫺319. ⫺ 9 id. (wie not. 6); id.: Zur Geschichte vom weisen Haikar. In: ZfVk. 17 (1907) 172⫺195; id.: Rätsel der Königin von Saba in Indien. ibid. 24 (1914) 421⫺424; id.: Abendländ. Parallelen zu Ja¯taka VI,336,21 (Die Geschichte vom strittigen Garnknäuel). In: Wiener Zs. für die Kunde des Morgenlandes 26 (1912) 418⫺428; id.: Neuind. Parallelen zu Ja¯taka VI,341,22 (Die Teichaufgabe). ibid. 30 (1916) 151⫺162. ⫺ 10 id.: Zum Doktor Allwissend. In: ZfVk. 15 (1905) 373⫺ 379. ⫺ 11 id.: Niccolao Manucci als Geschichtenerzähler. ibid. 33⫺34 (1923/24) 69⫺81.
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Andreas Pohlus
Zahl. Das Vorhandensein von Z.envorstellungen ist bereits für die Jungsteinzeit nachweisbar. Z.ensysteme stehen in engem Zusammenhang mit kulturspezifischen Zählweisen. So wird das von den Sumerern ⫺ und in der Folge von den Babyloniern ⫺ verwendete Sexagesimalsystem mit astronomischen Erscheinungen (Mondphasen) in Verbindung gebracht und kann aus dem Zählen mit Fingern und Fingergliedern hergeleitet werden (vier Finger mit je drei Gliedern an einer Hand werden mit der Anzahl der Finger der anderen Hand multipliziert: 12 ⫻ 5 ⫽ 60)1; auf diese Art des Zählens geht auch das Duodezimalsystem zurück. Das Dezimalsystem zählt die fünf Finger der beiden Hände2. In der Kulturgeschichte wurden Z.en vielfach mit dem Wunderbaren (J Wunder) oder J Numinosen in Zusammenhang gebracht. In religiösen Texten erhalten sie häufig symbolische Bedeutungen3. Als bedeutungsvoll gelten Z.en z. B. in der Bibel; die Z.ensymbolik ergibt sich hier in erster Linie aus den Z.enwerten, die den Buchstaben des hebr. Alphabets entsprechen4 (eine solche Entsprechung findet sich auch beim arab. Alphabet, das ebenso wie das hebr. mit dem phöniz. korreliert5). Die ma. Wiss. der Numerologie versah die Z.en mit komplizierten symbolischen Bedeutungen; sie basierte z. T. auf der Lehre der altgriech. Pythagoreer und umfaßte wie diese die Geome-
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trie und damit Proportionen ebenso wie ganze Z.en6. Der numerische Wert von Buchstaben spielt in der jüd. J Kabbala und der frühchristl. J Gnosis eine bes. Rolle: Worte oder Sätze ergeben Gesamtzahlen, die über Gleichwertiges Aufschluß geben sollen7. Z.en und Berechnungen sind in der Astrologie und J Eschatologie von Bedeutung8. Obwohl Volkszählungen bereits aus dem alten Mesopotamien9, Ägypten10 und China11 belegt sind und z. B. in der Bibel Erwähnung finden (Lk. 2,1), existieren vereinzelt Hinweise darauf, daß das Zählen von Menschen oder wertvollen Besitztümern tabu war (Mot. C 776, C 897)12. Im A. T. bestraft Gott König David dafür, daß er das Volk zählen läßt (2. Sam. 24,10). In jüd. Glaubensvorstellungen zieht das Zählen von Menschen den Bösen Blick herbei; wenn es dennoch nötig ist, wird empfohlen, die Z.en mit einem Beiwort zu versehen und sie so unkenntlich zu machen13. Märchen, Volkslieder und Rätsel zeigen eine Vorliebe für Z.en. Diese stehen vielfach in Zusammenhang mit Zeiteinheiten (J Zeit)14 und haben z. T. formelhaften oder symbolischen Charakter (Mot. H 602, H 603, Z 71⫺Z 75)15: Die Eins steht einerseits für den solitären Protagonisten, dessen bes. Fähigkeiten hervorgehoben werden (J Exzeptionsprinzip; cf. Mot. Z 300⫺Z 399), andererseits verdeutlicht sie die Macht der Einheit in der Vielfalt (AaTh/ATU 910 F: J Einigkeit macht stark). Die Zwei verdeutlicht zum einen J Kontrast und J Polarität, zum anderen J Symmetrie (AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder, AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen, AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer, AaTh/ATU 756 C: Die zwei J Erzsünder; J Zwillinge). Die J Drei ist die erste unspezifische Gruppenbezeichnung und daher hinsichtlich der Gruppenbildung in traditionellen Erzählungen bes. relevant16. So finden sich vielfach drei Figuren: der Held und seine zwei J Brüder, die Heldin und ihre drei J Schwestern, der Held und seine drei Schwestern oder der Held und seine drei Tierhelfer (AaTh/ATU 300: J Drache, Drachenkampf, Drachentöter), oder drei Requisiten (J Zaubergaben; cf. auch AaTh/ ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter). Seit Aristoteles wird die J Dreigliedrigkeit als grundlegendes Strukturprinzip aufgefaßt; zahlreiche ⫺ auch natürliche ⫺ Phänomene wer-
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den einer triadischen Gliederung unterworfen (z. B. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft; cf. J Trinität). Entsprechend häufig begegnet Dreigliedrigkeit auch in Erzählungen. Hinzu kommt die dreifache Wiederholung einer Handlung (häufig mit J Achtergewicht). Die Vier ist wie die Zwei Ausdruck von Symmetrie17, oft aber auch von Vollständigkeit (vier Elemente, vier Temperamente, vier Himmelsrichtungen, vier J Jahreszeiten, vier kanonische Evangelien; AaTh/ATU 653: Die vier kunstreichen J Brüder)18, ebenso die Sechs (AaTh/ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt), die ein Vielfaches sowohl von zwei als auch von drei ist. Die J Sieben repräsentiert die Wochentage; sie steht für die ,vollkommene Einheit‘ (J Sieben weise Meister)19. Die Neun ist ein Vielfaches der Drei und teilweise mit dieser sowie mit der Zwölf austauschbar (z. B. AaTh/ATU 762: cf. J Mehrlingsgeburten). Allg. repräsentiert sie eine große Anzahl: Die Belagerung Trojas dauerte ebenso wie die Heimreise des J Odysseus neun Jahre20. Die Zehn bildet die Grundlage des Dezimalsystems und stellt in Form der zehn Gebote die Grundlage des jüd./christl. Wertesystems dar (J Dekalog; AaTh/ATU 1735: Die zehnfache J Vergeltung)21. Die Elf hat wie die 13 eher negative Bedeutung (Unsinnszahl) und findet sich nur selten in populärer Überlieferung (z. B. in einer Var. zu AaTh/ ATU 839: Die drei J Sünden des Eremiten22). Die J Zwölf repräsentiert die Stunden des Tages und der Nacht sowie die Anzahl der J Monate eines Jahres; sie ist wie die Drei, deren Vielfaches sie darstellt, und die Sieben eine herausragende Symbolzahl; das jüd. Lied Ehod mi yodea ([Wer kennt Eins]; AaTh/ATU 2010: cf. Zwölf) erklärt die religiöse Bedeutung der Z.en eins bis zwölf (13); AaTh/ATU 2010 A: cf. Zwölf nimmt Bezug auf die zwölf hl. Nächte der Weihnachtszeit. Die 13 gilt als Unglückszahl (cf. J Überzähliger)23. Die 14 hat als Vielfaches der Sieben Bedeutung (J Vierzehn Nothelfer). Größere Z.en bilden ebenfalls das Vielfache symbolischer Z.en, stehen daneben aber auch für eine große Anzahl bzw. Menge oder eine ,runde Summe‘24. 40 ist die Z. der Vollendung: Ein 40 Tage und Nächte währender Regen löst die J Sintflut aus, die wiederum 40 Tage anhält; J Moses bleibt 40 Tage auf dem Berg,
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auf dem er die Gesetzestafeln von Gott empfängt (Ex. 24,18); 40 Tage liegen zwischen Weihnachten und Mariä Lichtmeß sowie zwischen Ostern und Pfingsten; J Mohammed soll zur Zeit seiner ersten Offenbarungen 40 Jahre alt gewesen sein (Koran 10,16); die kanonische Slg seiner Aussprüche umfaßt 40 Überlieferungen25; eine pers. Fassung des J Papageienbuchs26 ist 40 Papageien benannt (cf. auch AaTh 676, 954/ATU 954: J Ali Baba und die vierzig Räuber; J Vierzig Wesire)27. 100 und 300 verdeutlichen eine große Menge (AaTh/ATU 1735); 300 wird in Volkserzählungen oft im Zusammenhang mit Geld, Besitztümern, Jahren oder Entfernungen verwendet28. 360 ist das Winkelmaß des vollen Kreises, das mit der Zeitmessung durch die Sonnenuhr verbunden ist; 360 Tage zählt ein ,rundes Jahr‘; ø gveda (1,164) erscheint ein Rad mit zwölf im R Abschnitten und 360 Speichen; das Bild des Baums mit einer entsprechenden Z. von Zweigen, Blättern etc. (seltener Wagen, Rad, Gebäude mit Säulen), der die Monate, Wochen und Tage des Jahres darstellen soll (cf. J Weltenbaum), findet sich in Rätseln29. 365 entspricht der Anzahl der Tage eines Jahres30: Der Historia Brittonum (Kap. 54) des Nennius (8./9. Jh.) zufolge schrieb der hl. J Patrick 365 Bücher, gründete ebensoviele Kirchen und ordinierte ebensoviele Bischöfe. 666 ist die ,Z. des Tieres‘ bzw. des Antichrist (Apk. 13,17⫺ 18); 666 Jahre vergingen zwischen der angeblichen Befleckung des Hl. Stuhls durch die J Päpstin Johanna und J Luthers Auftritt auf dem Reichstag zu Worms31. Mit Endzeiterwartungen verknüpft war das Jahr 1666 (J Praetorius, Johannes)32. In Var.n von AaTh/ATU 812: J Rätsel des Teufels rettet der Held seine Seele, indem er die symbolischen Bedeutungen einer Reihe von Z.en nennt. Religiöse oder kosmische Bedeutungen werden zudem den Z.en des J Kartenspiels (AaTh 1613, 2340/ ATU 1613) zugeschrieben. Zählen kann Teil eines Rituals zur Beschwörung übernatürlicher Mächte sein. Schon seit dem 5. Jh. ist das Rückwärtszählen in Heilritualen und magischen Gesängen belegt33. Bis in neuere Zeit wurden zur Vorhersage der Zukunft alltägliche Dinge gezählt: Die Anzahl der Vögel, die man an seinem Hochzeitstag sieht, gibt jüngeren nordamerik. Glaubensvorstellungen zufolge einen Hinweis auf die künf-
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tige Kinderzahl34. Aus dän. und nordamerik. Überlieferung sind Erzählungen belegt, wonach die Buchstaben der Namen eines vor der Heirat stehenden Paars gezählt werden, um herauszufinden, wer von beiden zuerst sterben wird, oder ob Liebespaare heiraten oder nicht35. Die Wahl symbolischer Z.en (Geburtsund Jahrestage, Anzahl geträumter Gegenstände) beim Lotteriespiel ist aus weiten Teilen Europas belegt36. Die konkret meßbare Lebensdauer verschiedener Tiere und des Menschen steht im Mittelpunkt von AaTh 173, 828/ATU 173: J Lebenszeiten des Menschen. Parallelen hierzu weist eine Erzählung auf, die bis auf J Hesiod zurückgeht37 und in Var.n in ganz Westeuropa bekannt war; sie bedient sich des Vielfachen der Lebensspanne von Tieren (Krähe, Rotwild, Phönix) zur Altersbestimmung der Erde bzw. der Götter (Mot. B 841.2)38. Im Märchen wird gelegentlich konkret angegeben, wie viele Geschwister bzw. Gefährten (zwei, drei, vier, sechs, sieben, zwölf) ein Abenteuer erleben (z. B. AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein, AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen, AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder, AaTh/ATU 513 A, AaTh/ATU 653, AaTh/ATU 654: Die behenden J Brüder, cf. auch AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe). In AaTh/ATU 327 B: J Däumling und Menschenfresser wie auch in AaTh/ATU 328: J Corvetto hat der Protagonist zwei, sechs oder zwölf ältere Geschwister; manchmal heißt er entsprechend Dreizehn39. Die Anzahl der Geschwister des Helden hat nicht unbedingt Relevanz für die Handlungsstruktur40. Dagegen dient die Wiederholung z. B. von J Aufgaben, die der Protagonist zu bestehen hat, zur Dramatisierung der Handlung, zur Stilisierung und zur Kontrastierung bzw. hat eine J retardierende Funktion; die genaue Anzahl solcher Proben ist dabei nicht festgelegt41, doch ist in Europa bes. das Dreierschema verbreitet, in anderen Kulturen lassen sich andere Muster ermitteln: Bei den Chinook in Oregon etwa liegt ein Fünfermuster mit fünf Akteuren und fünf Ereignissen vor42. In Märchen konkretisieren Z.en abgesehen von der Anzahl der Akteure eine Zeitdauer, Geldbeträge, Besitztümer oder das Alter von Kindern (J Erwachsen bei Geburt)43. In einer
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asiat. Erzählung (AaTh/ATU 2009: The Origin of Chess) freut sich ein König so sehr über die Erfindung des Schachspiels, daß er dem Erfinder erlaubt, sich alles zu wünschen, was er will. Dieser verlangt ein Korn (wohl Reis) für das erste Quadrat des Schachbretts, für jedes weitere die doppelte Menge des jeweils vorherigen ⫺ weit mehr, als der König liefern kann (ca 18,5 Trillionen). Diese zuerst in islam. Qu.n belegte Erzählung war im ma. Frankreich sehr bekannt44 und wird heute gern zur Illustration des Konzepts der geometrischen Progression herangezogen45. Das Aufzählen bzw. Zählen einer endlos scheinenden oder unendlichen Menge von Gegenständen ist ein Hauptprinzip von J endlosen Erzählungen sowie von unlösbar erscheinenden Aufgaben: Z. B. wird das Zählen von Sandkörnern oder der Sterne am Himmel verlangt (AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt, AaTh/ATU 1172: All Stones from the Stream or the Field, cf. AaTh/ATU 879: J Basilikummädchen). In dän. und nordamerik. Sagen werden Hexen oder der Teufel durch unmöglich zu erfüllende Zählaufgaben aufgehalten46. Die apotropäische Funktion von Salz und Korn in europ. Sagen wird teilweise mit der Unzählbarkeit ihrer Einzelbestandteile in Verbindung gebracht47. Eine große Anzahl bzw. Menge wird nicht immer positiv gesehen. Dies gilt bes. für eine als zu groß empfundene Kinderzahl: Nachdem die Erbsen, die eine kinderlose Frau kocht, auf ihren Wunsch hin zu Kindern werden, erschlägt die Frau alle bis auf eines, das sich versteckt hat (AaTh/ATU 700: J Däumling); in Var.n von AaTh/ATU 758: Die ungleichen Kinder J Evas schämt sich Eva so sehr über ihre vielen Kinder, daß sie einige vor Gott versteckt; in AaTh/ATU 762 will eine Adlige alle ihre Kinder bis auf eines ertränken lassen. Zahlenmäßig erfaßbar sind ferner bestimmte physische Abnormitäten, in ungewöhnlicher Anzahl vorliegende Körperteile: Ungeheuer wie der Drache (Hydra) oder der J Cerberus haben mehr Köpfe (cf. auch J Schlange), Augen (AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein) oder Glieder als üblich (Mot. B 15; Odins achtbeiniges Pferd Sleipnir); Krüppeln, aber auch mit bes. Kräften begabten Wesen fehlt mitunter einer dieser Körperteile (J Einäugiger, Einäugigkeit; J
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Halbwesen; AaTh/ATU 715: J Halbhähnchen; AaTh 1135⫺1137/ATU 1135, 1137: J Polyphem). Auch in Lügengeschichten wird Größe und Anzahl in Z.en ausgedrückt (AaTh/ATU 1930: J Schlaraffenland, AaTh/ATU 1960 ⫺1960 Z: Die ungewöhnliche J Größe; Mot. X 900⫺X 1899). Die anscheinend einfache, routinemäßige Handlung des Zählens erscheint in schwankhaften Erzählungen in verschiedenen komischen Situationen. So gelingt es einer Gruppe von Personen nicht, ihre Anzahl festzustellen, weil der Zählende versäumt, sich selbst mit einzubeziehen (AaTh/ATU 1287: Sich nicht J zählen können). Räuber werden beim Zählen der Beute verjagt, als die auf dem Baum versteckten Reisenden versehentlich etwas fallen lassen (AaTh 1653, 1653 A⫺F/ATU 1653: J Räuber unter dem Baum). Umgekehrt wird dem Lauscher ein Schreck eingejagt, der auf dem Friedhof Diebe beim Abzählen der Beute belauscht und glaubt, daß Gott und Teufel die Seelen untereinander aufteilen (AaTh/ATU 1791: J Küster trägt den Pfarrer). Mit dem Versprechen, die doppelte Summe eines geliehenen Betrags zurückzuzahlen, oder der Bitte um eine runde Summe, die ein Armer an ein Heiligenbild richtet, überlistet dieser den reichen Lauscher (AaTh/ATU 1543: Keinen J Pfennig weniger). In AaTh/ATU 1663: J Teilung der Eier sollen fünf Eier unter drei Personen aufgeteilt werden; die ungerechte Teilung wird absurd, wenngleich logisch nachvollziehbar begründet. Das Konzept der Eins-zu-einsEntsprechung liegt Schwänken zugrunde, in denen Gegenstände (Kieselsteine, Bohnen, Kartoffeln, Besen) benutzt werden, um Sünden oder Tage zu zählen (AaTh/ATU 1848: J Sündensteine, AaTh/ATU 1848 A: J Kalender des Pfarrers). Ein Dummer zählt Vögel; ein Soldat verlangt grundlos ein Bußgeld von ihm, das von der Anzahl der gezählten Tiere abhängen soll; der Dumme gibt eine falsche Z. an, um die Strafe zu verringern, ohne deren Sinnlosigkeit zu bemerken (AaTh/ATU 1683*: Counting Birds). In ATU 1543 A: The Greedy Dreamer ärgert sich ein aus dem Schlaf Erwachter darüber, daß er im Traum zehn Münzen gefordert hat, anstatt die ihm angebotenen neun zu akzeptieren.
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Viele Kinderlieder und -reime sind um Z.en strukturiert oder bauen sie ein48. In Abzählreimen, deren Spektrum von Nonsens bis zu kleinen Erzählungen reicht, bestimmt eine feste Reihe rhythmischer Sequenzen, welches Kind in einem Spiel eine bestimmte Rolle einnimmt49. Der dt. Reim „Eene, meene muh/ und raus bist du“, zu dem es verwandte Formen in Ungarn, auf den Brit. Inseln, in den Niederlanden sowie in Nordamerika gibt, soll auf einem archaischen Numerierungssystem basieren, das kelt. Schafhirten zum Zählen ihrer Tiere benutzten50. Gelegentlich dienen gezählte Tage oder Nächte als Ordnungssystem für Erzählsammlungen (J Tausendundeine Nacht; J Boccaccio, Decamerone; J Marguerite de Navarre, Heptame´ron; J Basile, Pentamerone). In der Erzählforschung werden Z.en zum Ordnen umfänglichen Textmaterials genutzt (J Anordnungsprinzipien, J Statistik). Die J geogr.-hist. Methode verlangt die Berücksichtigung aller erreichbaren Texte, die numeriert und ihrem Herkunftsland entsprechend kodiert werden. Die internat. (AaTh, ATU) sowie nationale J Typenkataloge verwenden ein numerisches bzw. ein alphanumerisches Ordnungssystem, so auch S. J Thompsons Motivsystem (J Motivkataloge)51. 1 Ifrah, G.: Universalgeschichte der Z.en. Ffm. 1993, 69⫺75, 90⫺92. ⫺ 2 cf. allg. Scriba, C. J.: The Concept of Number. Mannheim 1968; Gericke, H.: Geschichte des Z.begriffs. Mannheim 1970. ⫺ 3 Menninger, K.: Z.wort und Ziffer. Breslau 1934; Holl, O.: Z.en, Z.ensymbolik. In: LCI 4 (1972) 560 sq.; Endres, F. C./Schimmel, A.: Das Mysterium der Z. Köln 1985; Biedermann, H.: Handlex. der magischen Künste 2. Graz 31986, 465⫺467; Folkerts, M./ Kunitzsch, P./Deschauer, S.: Z.systeme, -zeichen. In: Lex. des MA.s 9. Stg./Weimar 1999, 457⫺463; Hellgardt, E./Robert, J.: Z.ensymbolik. In: RDL 3 (32003) 870⫺874. ⫺ 4 Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 21978, s. v. Z.en. ⫺ 5 Weil, G./ Colin, G. S.: Abd jad. In: EI2 1 (1960) 97 sq. ⫺ 6 Meyer, H.: Die Z.enallegorese im MA. Mü. 1975; Suntrup, R. u. a.: Z.ensymbolik, -mystik. In: Lex. des MA.s 9. Stg./Weimar 1999, 443⫺457. ⫺ 7 Horodezky, S. A.: Gematria. In: Enc. Judaica 7. B. 1931, 170⫺179; Levias, C.: Gematria. In: Jewish Enc. 5. N. Y./L. 1916, 589⫺592; Ginzberg 7, s. v. numerical value; Michell, J.: The Dimensions of Paradise. San Francisco 1988, 47⫺64; Dornseiff, F.: Das Alphabet in Mystik und Magie. Lpz./B. 21925, 91⫺ 118. ⫺ 8 Meyer, H./Suntrup, R.: Lex. der ma. Z.enbedeutungen. Mü. 1987; Hellgardt, E.: Zum Pro-
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blem symbolbestimmter und formelästhetischer Z.enkomposition in ma. Lit. Mü. 1973; Hopper, V. F.: Medieval Number Symbolism. N. Y. 1969. ⫺ 9 Fleming, D. E.: Democracy’s Ancient Ancestors. Mari and Early Collective Governance. Cambr. 2004. ⫺ 10 J. of Egyptian Archeology 40 (1954) 28 sq. ⫺ 11 Durand, J. D.: The Population Statistics of China, A. D. 2⫺1953. In: Population Studies 13,3 (1960) 209⫺256. ⫺ 12 Frazer, J. G.: Folk-Lore in the Old Testament 2. L. 1919, 555⫺563. ⫺ 13 Jewish Enc. 3. N. Y./L. 1916, 652 sq.; Trachtenberg, J.: Jewish Magic and Superstition. N. Y. 1939, 55; Isaacs, R. H.: Divination, Magic and Healing. The Book of Jewish Folklore. Northvale, N. J. 1998, 143. ⫺ 14 Harmening, D.: Wb. des Aberglaubens. Stg. 2005, 463⫺468; Schultz, W.: Gesetze der Z.enverschiebung im Mythos und in mythenhaltigen Überlieferungen. In: Mittlgen der anthropol. Ges. in Wien 40 (1910) 101⫺150. ⫺ 15 Lurker (wie not. 4); Meyer (wie not. 6) 109⫺199; Endres/Schimmel (wie not. 3); Schimmel, A.: Mystery of Numbers. N. Y. 1993; Harmening (wie not. 14) 463⫺468; Taylor, A.: An Annotated Collection of Mongolian Riddles. In: Transactions of the American Philological Soc., N. S. 44 (1954) 319⫺425, hier 361⫺364; Moses, L.: Legends by the Numbers. The Symbolism of Numbers in the Secret History of the Mongols. In: Asian Folklore Studies 55 (1996) 73⫺97; Novicˇkova, T.: Tradicionnye cˇisla v bylinach (Traditionelle Z.en in Bylinen). In: Izvestija Akademii nauk SSR, serija literatury i jazyka 43,2 (1984) 144⫺155. ⫺ 16 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/ Köln 1975, 58. ⫺ 17 EM 13, 100. ⫺ 18 Schultz (wie not. 14) 136⫺138; Endres/Schimmel (wie not. 3) 101⫺119; Lüthi (wie not. 16) 58. ⫺ 19 EM 12, 646; cf. Choi, J.: Zur Bedeutung der Z. Sieben. Eine literar- und kompositionskritische Studie zu den Vorstellungen von Fluch und Strafe im Alten Orient und im A. T. Kamen 2011. ⫺ 20 Schimmel (wie not. 15) 164⫺179; Moses (wie not. 15); EM 9, 1078, not. 34; EM 9, 1088, not. 12; Schultz, W. H.: Die Sieben- und Neunzahl im Kultus und Mythos der Griechen. Lpz. 1904, 109⫺117, 124⫺127. ⫺ 21 cf. Schmidt-Wulffen, W.: Die „Zehn kleinen Negerlein“. Zur Geschichte der Rassendiskriminierung im Kinderbuch. Münster 2010. ⫺ 22 Köhler/Bolte 1, 583, num. 450; cf. Gaster, M. (ed.): Ma’aseh Book. Phil. u. a. 1934 (Nachdr. 1981), num. 250. ⫺ 23 Lachenmeyer, N.: 13. The Story of the World’s Most Popular Superstition. N. Y. 2004. ⫺ 24 Roscher, W. H.: Die Z. 50 in Mythus, Kultus, Epos und Taktik der Hellenen und anderer Völker, bes. der Semiten. Lpz. 1917. ⫺ 25 Schöller, M. (ed.): Das Buch der Vierzig Hadithe. Ffm. 2007. ⫺ 26 Marzolph, U.: Die Vierzig Papageien. Cehel Tuti. Das pers. Volksbuch. Walldorf 1979. ⫺ 27 Schimmel (wie not. 15) 245⫺253; Lurker (wie not. 4) 367; Roscher, W. H.: Die Z. 40 im Glauben, Brauch und Schrifttum der Semiten. Lpz. 1909; Schultz (wie not. 20) 127⫺ 136. ⫺ 28 Lorenz, B.: Notizen zu Zwölf und Dreihun-
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dert im Märchen. In: Fabula 27 (1986) 42⫺45; id.: Zur literar. Bedeutung der Z. Dreihundert. In: Lit.wiss. Jb. 22 (1981) 345⫺351; Rölleke, H.: Nochmals zu den Z.en Zwölf und Dreihundert im Märchen. In: Fabula 28 (1987) 106⫺109, hier 108 sq. ⫺ 29 Taylor, A.: English Riddles from Oral Tradition. Berk./L. A. 1951, num. 1037, 1038. ⫺ 30 Schmidt, L.: 365 Fenster. Bemerkungen zu einem burgenländ. Volksliedund Sagenmotiv [1960]. In: id.: Die Volkserzählung. B. 1963, 55⫺63. ⫺ 31 Gössmann, E.: Die „Päpstin Johanna“. Der Skandal eines weiblichen Papstes. B. 21998, 149⫺214. ⫺ 32 Michell (wie not. 7) 185⫺193. ⫺ 33 Feilberg, H. F.: Bidrag til en Ordbog over jyske Almuesma˚l 1. Kop. 1894, 385 sq. ⫺ 34 HDA 8 (1936⫺37) 1673; cf. auch ibid. 2 (1929⫺30) 880⫺882 (Erbsen); Hand, W. D.: Popular Beliefs and Superstitions from North Carolina 1. Durham, N. C. 1961, num. 131⫺140, 142, 2534⫺2540; cf. 2491⫺2496 (Körner), 2433⫺2442 (Knoten in einer Schnur). ⫺ 35 Feilberg (wie not. 33) 383; Opie, I. und P.: Children’s Games in Street and Playground. Ox. 1984, 337. ⫺ 36 HDA 5 (1932⫺33) 1427⫺1431. ⫺ 37 Zitiert nach Plutarch: Moralia 5. Übers. F. C. Babbitt. L./N. Y. 1936, 380 sq., num. 415 c. ⫺ 38 Hull, E.: The Hawk of Achill or the Legend of the Oldest Animals. In: FL 43 (1932) 376⫺ 409; Stokes, W. (ed.): Lives of the Saints, from the Book of Lismore. Ox. 1890, xli sq. ⫺ 39 BP 3, 84, not. 1; Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 3; Cirese/Serafini. ⫺ 40 Rölleke (wie not. 28) 107 sq.; Schultz (wie not. 20) 109, 115, 117, 127. ⫺ 41 De´gh, L.: The Tree that Reached up to the Sky. In: ead.: Studies in East European Folk Narrative. Bloom. 1978, 263⫺316, hier 282 sq., cf. 268; Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche. Lund 1952, 28, 242 sq. (V 1 a); Gray, B.: Repetition in Oral Literature. In: JAFL 84 (1971) 289⫺303; Lüthi (wie not. 16) 71⫺75. ⫺ 42 Jacobs, M.: Content and Style of an Oral Literature. Clakamas Chinook Myths and Tales. Chic. 1959, 224⫺230. ⫺ 43 Rölleke, H.: Zeiten und Z.en in Grimms Märchen. In: Die Zeit im Märchen. ed. U. und H.-A. Heindrichs. Kassel 1989, 52⫺62; Tauberg, E./Malita, T.: Valori s¸i simboluri numerice ˆın basmele populare ruses¸ti. In: Revista de etnografie s¸i folclor 15 (1970) 237⫺241. ⫺ 44 Livingston, C. H.: Old French „Doubler l’Eskiekier“. In: Modern Language Notes 45 (1930) 246⫺ 251; Murray, H. J. R.: History of Chess. Ox. 1913, 207⫺219, 755. ⫺ 45 z. B. Banks, R.: Towing Icebergs, Falling Dominos. Princeton, N. J. 1998, 118⫺125. ⫺ 46 Baughman K 211.1; Feilberg (wie not. 33) 380⫺ 382; Hand (wie not. 34) t. 2 (1964) num. 5635⫺ 5639. ⫺ 47 HDA 4 (1931⫺32) 119; ibid. 7 (1935⫺36) 901. ⫺ 48 Böhme, F. M.: Dt. Kinderlied und Kinderspiel. Lpz. 1897, 253 sq., 308 sq., 398⫺404, 641, 713; Opie, I. und P.: Oxford Dict. of Nursery Rhymes. Ox. 21997, 391⫺398, num. 382⫺391. ⫺ 49 Bolton, H. C.: The Counting-out Rhymes of Children. L. 1888; Meier, E.: Dt. Kinder-Reime und KinderSpiele aus Schwaben. Tübingen 1851 (Nachdr. 1981),
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Zählen: Sich nicht z. können
32⫺40; Böhme (wie not. 48) 389⫺412; Opie (wie not. 35) 28⫺61. ⫺ 50 iid. (wie not. 48) num. 149; iid. (wie not. 35) 35⫺53; cf. Meier (wie not. 49) 32⫺35, 39. ⫺ 51 Lindahl, C.: Some Uses of Numbers. In: J. of Folklore Research 34 (1997) 263⫺273; Uther, H.-J.: Type and Motif-Indices 1980⫺1995. In: Asian Folklore Studies 55 (1996) 299⫺317; J. of Folklore Research 34,3 (1997) (Sonderheft Erzähltypen und -motive).
Eugene, Oregon
Christine Goldberg
Zählen: Sich nicht z. können (AaTh/ATU 1287, 1288 A), Sammelbezeichnung für zwei Dummenschwänke, die sich darüber lustig machen, daß jemand beim Abzählen einer größeren Anzahl von Menschen oder Tieren vergißt, sich selbst bzw. das eigene Reittier mitzuzählen. Zu unterscheiden sind zwei inhaltlich ähnliche, wenngleich genetisch voneinander unabhängige Ausprägungen mit unterschiedlichem Verlauf. Beide thematisieren ⫺ ähnlich wie AaTh/ATU 1284: cf. Irrige J Identität ⫺ eine menschliche Primärerfahrung und spiegeln somit einen Aspekt des kindlichen Lernprozesses. AaTh/ATU 1287: Numskulls Unable to Count Their Own Number behandelt das Kernmotiv mit einer Gruppe menschlicher Handlungsträger: Nach einem als gefährlich empfundenen Erlebnis will eine Gruppe von Dummköpfen herausfinden, ob noch alle da sind. Verschiedene Mitglieder der Gruppe zählen, allerdings rechnet der Zählende sich selbst nie mit. Schließlich geben sich die Dummen damit zufrieden, daß eine Person zu fehlen scheint. Ein Passant hilft ihnen durch einen praktischen Ratschlag festzustellen, daß niemand verloren gegangen ist.
Die ältesten Nachweise für Geschichten von Dummen, die sich auf närrische Art zählen, finden sich Anfang des 17. Jh.s in Slgen von Schildbürgergeschichten. In der Version des 1603 erschienenen dt. Schwankbuchs J Grillenvertreiber (2,25), einer Fassung des J Lalebuchs, wollen sich fünf Gesandte ihrer vollzähligen Anwesenheit versichern; zu diesem Zweck stecken sie jeweils einen Finger in eine Schüssel mit Dickmilch und zählen die Löcher1. In einem Schwank des engl. Chapbooks Mery Tales of the Mad Men of Gotham (älteste datierte Ausg. 1613) gehen zwölf Dumme an-
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geln, und ein vorbeikommender Höfling läßt sich dafür bezahlen, daß er ihnen beim Zählen hilft; dabei gibt er jedem von ihnen einen kräftigen Schlag auf den Rücken2. In ähnlicher Form erscheint der Erzähltyp Anfang des 18. Jh.s in dem von dem ital. Jesuitenmissionar C. B. Beschi in tamil. Sprache verfaßten ,Volksbuch‘ Parama´rta Guruvin Kadei (Die Abenteuer des Guru Parama´rtan): Nachdem sechs Dumme durch einen Fluß gewatet sind, wollen sie sich vergewissern, daß sie noch vollzählig sind; ein Passant belehrt sie über ihre tatsächliche Anzahl, indem er jeden einzelnen beim Abzählen schlägt. Gleich darauf erklärt ihnen eine alte Frau, sie hätten die Prügel dadurch vermeiden können, daß alle ihre Nasen in einen frischen Kuhfladen gesteckt und danach die Kuhlen gezählt hätten3. Möglicherweise besitzt der Erzähltyp in Indien eine lange Tradition, denn bereits der ind. Philosoph S´an˙kara (700⫺750) verbildlicht in seinem Werk Upades´asa¯hasrı¯ (Eintausend [Verse von] Lehren; 12,3) die menschliche Verblendung (J Schein und Sein) mit dem Verweis auf ,einen Knaben, welcher der zehnte war, aber dachte, er sei einer von den neun anderen‘4. In Entsprechung zur schriftl. Überlieferung sind Var.n von AaTh/ATU 1287 aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s für zwei große zusammenhängende Traditionsgebiete nachgewiesen5. Dies ist einerseits der gesamte europ. Bereich (mit Abstrahlungen in den angloamerik. Raum); andererseits gibt es ein relativ geschlossenes Verbreitungsgebiet mit dem ind. Subkontinent als Mittelpunkt6 sowie vergleichsweise selten dokumentierten Ausläufern nach Burma7, Indonesien, Japan8, Mittelasien (uigur.9) und in die arab. Überlieferung des Vorderen Orients. In den aus mündl. Überlieferung aufgezeichneten Var.n bewegt sich die Anzahl der Dummen zwischen drei10 und 2411, wobei die meisten Var.n sieben oder zwölf Personen erwähnen. Neben den bereits angeführten Variationen, wie die Narren belehrt werden, kommt es auch vor, daß sie ihre Hüte auf den Boden legen12, ihre Hosen ausziehen13 oder ihre Nasenabdrücke im Sand14, Schlamm15 oder Schnee16 zählen sollen17. AaTh/ATU 1287 erscheint bes. häufig zusammen mit AaTh/ATU 1290: J Schwimmen im Flachsfeld: Nach dem ,Durchschwimmen‘ des Flachsfeldes kontrol-
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Zählen: Sich nicht z. können
lieren die Dummen ihre Anzahl. Darüber hinaus steht der Erzähltyp oft in einer Kette zusammen mit anderen Schildbürgerschwänken, z. T. im Rahmen einer J Narrensuche (AaTh/ ATU 1384), so etwa mit AaTh/ATU 1201: cf. J Pferd wird getragen, AaTh/ATU 1250: J Brunnenkette, AaTh/ATU 1275: Die verkehrte J Richtung, AaTh/ATU 1288: J Beinverschränkung oder AaTh/ATU 1586 A: cf. J Fliege auf des Richters Nase. In AaTh/ATU 1288 A: Numskull Cannot Find the Donkey He Is Sitting on zählt ein Dummer seine Tiere: Ein Mann ist mit einer Anzahl von Eseln unterwegs. Als er sie zählt, rechnet er das Tier, auf dem er sitzt, nicht mit und vermißt dementsprechend einen Esel. Wenn er aber absteigt, zählt er ihre Anzahl korrekt. Deshalb zieht er es vor, neben den Tieren herzugehen.
Der Erstbeleg für AaTh/ATU 1288 A findet sich in der Witzenzyklopädie Natßr ad-durr ¯ bı¯ (gest. (etwa: Verstreute Perlen) von al-A 1030)18; der Protagonist ist hier der Eseltreiber Azhar, der zur Zeit von ¤Amr ibn Laitß (879⫺ 901), dem zweiten Herrscher der Sø affaridenDynastie, im nordöstl. Iran gelebt haben soll; er ist auch sonst in der klassischen arab. Lit. ¯ bı¯s Werk als Dummkopf bekannt19. Aus al-A schöpft u. a. die Fassung bei dem syr. Autor J Bar Hebraeus (num. 569)20. Über eine Reihe nur leicht anders gestalteter Versionen in wirkungsmächtigen Werken der arab. Lit., wie ˇ auzı¯s Ah˚ ba¯r al-H etwa J Ibn al-G ø amqa¯ (Nachrichten von den Dummen) oder dem im 19. Jh. häufig zusammen mit der Enz. von J Ibsˇ¯ıhı¯ gedr. Tamara¯t al-aura¯q (etwa: Lesefrüchte) ø igˇgˇa al-H ø amawı¯ (gest. 1434), ist die von Ibn H Erzählung bis in die arab. Schwankbücher des frühen 20. Jh.s nachgewiesen21. Auch in das im 19. Jh. kompilierte Wortley-Montague-Ms. von J Tausendundeine Nacht fand sie Eingang22. Seit den ersten erhaltenen hs. Slgen der Geschichten um Nasreddin J Hodscha aus dem 16. Jh. zählt sie fest zu deren Repertoire23. Gleichfalls seit dem 16. Jh. ist der Schwank auch in der pers. Lit. belegt, in der er noch Ende des 19. Jh.s in einer Schwanksammlung angeführt wird24. Die Schnittstelle zur europ. Überlieferung stellt die Anführung in der Fazetiensammlung des J Poggio (num. 55) dar, die eine umfangreiche Rezeption nach sich zog. Schriftl. Fas-
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sungen finden sich in europ. Schwankbüchern des 16./17. Jh.s, lat. etwa in der Silva sermonum des Johannes J Hulsbusch25, dt. im Nachtbüchlein des Valentin J Schumann26, engl. in den Mery Tales and Quicke Answers (1567)27, ndl. im Groot Klugtboek (1680)28, frz. im Recueil des plaisantes nouvelles (1578)29. Im Spanischen ist der Schwank bereits im 16./ 17. Jh. sprichwörtlich bekannt; so spielt etwa J Cervantes in seinem Don Quijote (2,57) darauf an30. Bezeichnend für die schriftl. Fassungen von AaTh/ATU 1288 A ist das Bemühen vieler Kompilatoren, durch J Lokalisierung des Ereignisses J Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Während sich das Geschehen in den frühen arab. Belegen in konkret genannten Orten im süd- bzw. nordöstl. Iran abspielt, nennt Poggio als Protagonisten Mancinus, einen Bauern aus der Gegend seiner Heimatstadt Florenz, Hans J Sachs führt einen Bauern namens Hermann aus einem Dorf bei Erfurt an31, und Schumann verlegt die Handlung in die Gegend von Eisenach32. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 1288 A vorrangig im gesamten europ. Raum sowie im Mittleren Osten (arab., pers., kurd.) und in Indien aufgezeichnet worden; Streubelege liegen aus Vietnam33, China, Puerto Rico und Südafrika vor34. Mit äußerst geringen Variationen der Handlung sind es meist zehn Esel, die gezählt werden. Relativ selten handelt es sich um eine andere Anzahl oder andere Tiere ⫺ etwa sieben35, zwölf 36 oder 1337 Esel, sieben Kamele38 oder sechs Kühe39. Eine außergewöhnliche Var. aus Bayern versieht die langatmig erzählte Geschichte mit einer tragischen Note, da der über den vermeintlichen Verlust eines Pferdes betrübte Hirt sich im Fluß ertränkt, um der Schande zu entgehen, als Dieb zu gelten40. 1 Narrenbuch. ed. F. H. von der Hagen. Halle 1811, 478 sq. ⫺ 2 Shakespeare Jest-Books 1⫺3. ed. W. C. Hazlitt. L. 1881/84/84, hier t. 3, num. 10. ⫺ 3 Widmer, W.: Die Abenteuer des Guru Parmarta. Frauenfeld 1946, 18⫺29; Oesterley, H.: Die Abenteuer des Guru Parama´rtan. In: Zs. für vergleichende Litteraturgeschichte 1 (1887) 48⫺54, hier 50 sq. ⫺ 4 A Thousand Teachings. The „Upade s´asa¯hasrı¯“ of S´an˙kara. ed. S. Mayeda. Albany, N. Y. 1992, 129, 131 (not. 2). ⫺ 5 Ergänzend zu ATU: Hubrich-Messow; Oriol/Pujol; El-Shamy, Types. ⫺ 6 Handoo, L.: Indian Numskull Tales. In: Asian Folklore Studies 42
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Zahlenrätsel
(1983) 253⫺262, hier 255. ⫺ 7 Esche, A.: Märchen der Völker Burmas. Lpz. 1976, 58 sq. ⫺ 8 Ikeda (allg. Hinweis auf einen von professionellen Geschichtenerzählern vorgetragenen Zyklus von Dummengeschichten, die einem bestimmten Ort zugeschrieben werden). ⫺ 9 Malov, S. E.: Jazyk zˇeltych ujgurov. M. 1967, num. 110. ⫺ 10 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 2. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 31989, 152. ⫺ 11 Jegerlehner, J.: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis. Basel 1913, num. 153. ⫺ 12 Knowles, J. H.: Folk-Tales of Kashmir. L. 1888, 222 sq. ⫺ 13 Bosˇkovic´-Stulli, M.: Istarski narodne pricˇe. Zagreb 1959, 97 sq. ⫺ 14 Hubrich-Messow (Var. 2, 4⫺ 7); Hauffen, A.: Die dt. Sprachinsel Gottschee. Graz 1895, 119 sq.; Joisten, C.: Contes populaires du Dauphine´ 2. Grenoble 1971, 295; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Märchen und Schwänke aus Ostfriesland. Leer 1993, num. 90; Kopisch, A.: Allerlei Geister, Mährchenlieder, Sagen und Schwänke. B. 1848, 187 sq. ⫺ 15 Brendle, T. R./Troxell, W. S.: Pennsylvania German Folk Tales. Norristown 1944, 110 sq.; Dorson, R. M.: Buying the Wind. Chic./L. 1964, 133 sq. ⫺ 16 Schambach, G./Müller, W.: Niedersächs. Sagen und Märchen. Göttingen 1945, num. 258. ⫺ 17 Var.nlisten bei BP 3, 149 sq. (not. 1); Wesselski, Hodscha Nasreddin 1, num. 261. ⫺ 18 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 977 (Nachweise zu den im folgenden angeführten arab. Qu.n). ⫺ 19 ibid., num. 988, 1210. ⫺ 20 Marzolph, U.: Die Qu. der Ergötzlichen Erzählungen des Bar Hebräus. In: Oriens Christianus 69 (1985) 81⫺125, hier 123. ⫺ 21 Marzolph, Arabia ridens 1, 221 sq. ⫺ 22 Marzolph/ van Leeuwen 1, 315 sq., num. 503. ⫺ 23 Burill, K. R. F.: The Nasreddin Hoca Stories. 1: An Early Ottoman Ms. at the Univ. of Groningen. In: Archivum Ottomanicum 2 (1970) 7⫺114, hier 47, num. 71; Wesselski, Hodscha Nasreddin 1, num. 261; cf. auch Hanauer, J. E.: Folk-Lore of the Holy Land. L. 1907, 84 sq. ⫺ 24 Christensen, A.: Les Sots dans la tradition populaire des Persans. In: Acta Orientalia 1 (1923) 43⫺75, hier 61, num. 22. ⫺ 25 EM 6, 1300. ⫺ 26 Schumann, V.: Nachtbüchlein. ed. J. Bolte. Tübingen 1893, 195, num. 24; cf. auch Frey, J.: Gartengesellschaft. ed. J. Bolte. Tübingen 1896, 228 (zu num. 24). ⫺ 27 Hazlitt (wie not. 2) t. 1, 80 sq., num. 60. ⫺ 28 cf. Schumann (wie not. 26). ⫺ 29 Koopmans, J./Verhuyck, P.: Een kijk op anekdotencollecties in de zeventiende eeuw. Amst./Atlanta 1991, num. 40. ⫺ 30 Chevalier, M.: Cuentecillos tradicionales en el Espan˜a del Siglo de Oro. Madrid 1975, num. H 5; cf. Agundez Garcı´a, J. L.: Cuentos populares andaluces (15). In: Revista de folklore 25b,295 (2005) 3⫺22. ⫺ 31 Hans Sachs: Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1905, 70, num. 283. ⫺ 32 Schumann (wie not. 26). ⫺ 33 Vietnamese Folktales. Truyeˆn Daˆn Gian Vieˆt Nam. ed. Van Thang Vo/J. Lawson. Danang 1993, 181. ⫺ 34 Ergänzend zu ATU: Noia Campos. ⫺ 35 Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 1. Jena
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1921, num. 237. ⫺ 36 Hanauer (wie not. 23). ⫺ 37 Coulomb, N./Castell, C.: La Barque qui allait sur l’eau et sur la terre. Carcassonne 1986, num. 35 (frz.). ⫺ 38 Crews, C. M.: Contes jude´o-espagnols des Balkans. ed. A. Angelopoulos. P. 2009, 21. ⫺ 39 Vo/Lawson (wie not. 33). ⫺ 40 Lang, P.: Schnurren und Schwänke aus Bayern. Bamberg 1916, num. 9.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Zahlenrätsel. Wie im Denken und im Schrifttum vergangener Jh.e spielten auch im J Rätsel Zahlen eine große Rolle1. Z. werden oft nur als eine Art Seitensproß des Rätsels angesehen. So handelt es sich nach F. J Panzer um „eine Übergangsform von der reinen Rechenaufgabe zum Rätsel“2. In der Regel werden im Z. jedoch nicht einfach Aufgaben vorgegeben, die mit einer der vier Grundrechenarten ,ausgerechnet‘ werden können, sondern die gestellte Rateaufgabe verlangt meist weniger rechnerisches Können als Scharfsinn und Kombinationsgabe. Eine Reihe früh belegter Z. erscheint im Kontext von J Rätselmärchen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Erzählung von J Ödipus (AaTh/ATU 931), der die Frage der J Sphinx (,Was ist das, was nur einen Namen hat, [morgens] vierfüßig, [mittags] zweifüßig und [abends] dreifüßig ist?‘: der Mensch) beantwortet und damit Theben befreit. A. J Aarne, der in seinen Rätselstudien jeweils den globalen hist. Befund aufgearbeitet hat, datierte auch das in verschiedenen Erzählzusammenhängen belegte Jahrrätsel (,Es gibt einen Baum, der hat zwölf Zweige‘) bis „in das entfernteste Altertum“ zurück3. Für das Jh.e hindurch verbreitete Kuhrätsel (,Vier gehen, vier hängen, zwei weisen den Weg‘) findet sich die früheste Bezeugung in der nord. HervararSaga (13. Jh.)4, doch wird auch hier ein höheres Alter vermutet5. Das gleiche gilt für die Verrätselung von Reiter und Pferd (,Zwei Köpfe, zwei Arme, vier Augen, sechs Füße‘), die ebenfalls aus der Saga-Lit. bezeugt ist6. In all diesen Fällen geht es um die „Enträtselung eines bekannten Dinges“7. Die Z. sind hier Sachenrätsel, in denen Zahlen ein wesentliches Element bilden. Diese Z. weisen, wie Aarne gezeigt hat, hinsichtlich ihrer sprachlichen Einkleidung eine große Variationsbreite auf. Seit der frühen Neuzeit sind die alten Z. auch unabhängig von ihrer ursprünglichen er-
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Zähmung der Widerspenstigen
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zählerischen Einbettung überliefert8. Daneben wurden zahlreiche weitere Z. gebildet, wie das Zahnrätsel „Es sitzen 32 Gesellchen in einem kleinen Ställchen“9 oder das Buchstabenrätsel „Es sind 24 Soldaten, die weder kochen noch braten“10, das in sehr detaillierter Form schon im Straßburger Rätselbuch (1505) begegnet11. Hier findet sich u. a. auch der dt. Erstdruck des bereits im 9. Jh. belegten Z.s ,Zwei Väter und zwei Söhne schossen drei Hasen, und jeder bekam einen‘12, für dessen Lösung weniger Rate- oder Rechenkunst als „so etwas wie Verwandtschaftsmathematik“ erforderlich ist13. In Slgen aus dem dt.sprachigen Raum, vor allem bei K. J Simrock14, R. J Wossidlo15 oder U. Bentzien16, finden sich zahlreiche Beispiele aus mündl. Überlieferung. Bei ihnen handelt es sich z. T. um knapp formulierte, schwer zu erratende Sachenrätsel („Wer hat 32 Füße und läßt sich doch nach Hause ziehen?“: Egge17; „Es liegt auf dem Rasen, hat 24 Nasen?“: Säge18). Daneben stehen komplizierte Denksportaufgaben („Ein Mann fragte ein Mädel, das Gänse hütete, wie groß ihre Herde sei. Sie anwortete: ,Zweimal so viel und halb so viel und viertel so viel. Und wenn der Herr eine Gans wär’, dann wären’s grad 100. Wieviel hab ich?‘“: 36)19. In einem Teil der Z. gehören die Zahlen nur scheinbar zur Rateaufgabe; hier geht es vielmehr darum, die in der Anlage des Rätsels versteckte Falle (J Scherzfrage) zu erkennen („Wenn neun Sperlinge auf dem Baum sitzen und der Jäger schießt zwei ab, wieviel bleiben dann noch?“: keiner, alle fliegen weg)20. Solche Z., die eigentlich nichts zu rechnen oder zu raten aufgeben, sondern auf eine falsche Fährte lenken, sollen den Gefragten nur foppen21. Hier werden die Z. zu Vexierrätseln, wie sie schon in Klerikerkreisen des MA.s der Unterhaltung dienten22. Für sie gilt wie für die meisten Z., daß sie häufiger vom Fragenden erklärt als vom Befragten gelöst werden23. Inwieweit neuere Z. internat. verbreitet sind, ist noch kaum erforscht24.
5 Peuckert, W.-E.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938, 187. ⫺ 6 Aarne (wie not. 3) t. 2, 173⫺216; Panzer (wie not. 2) 277. ⫺ 7 Weber-Kellermann, I.: Über das Volksrätsel. In: Spamer, A. (ed.): Beitr.e zur sprachlichen Volksüberlieferung. B. 1953, 111. ⫺ 8 cf. Aarne (wie not. 3) t. 1, 74⫺178; t. 2, 60⫺125. ⫺ 9 Simrock, K.: Das dt. Räthselbuch. Ffm. 1850, num. 4. ⫺ 10 Petsch, R.: Neue Beitr.e zur Kenntnis des Volksrätsels. B. 1899, 129. ⫺ 11 Straßburger Rätselbuch. ed. A. F. Butsch. Straßburg 1876, num. 326. ⫺ 12 ibid., num. 311; Hain, M.: Rätsel. Stg. 1966, 51; cf. Rademann-Veith, F.: Die skand. Rätselbücher auf der Grundlage der dt. Rätselbuch-Traditionen (1540⫺1805). Ffm. u. a. 2010. ⫺ 13 Bausinger, H.: Rätsel-Fragen. In: Rhein. Jb. für Vk. 17⫺18 (1967) 48⫺70, hier 59. ⫺ 14 Simrock (wie not. 9) num. 1, 4, 63⫺66, 89, 101, 296, 356, 376. ⫺ 15 Wossidlo, R.: Rätsel. Wismar 1897, num. 15 a⫺o, 42 a⫺f, 165 a⫺w, 352, 415, 469 a⫺c, 879, 885 a⫺b, 892, 897⫺901, 991. ⫺ 16 Bentzien, U.: Rat zu, was ist das. Rätsel und Scherzfragen aus fünf Jh.en. Rostock 1975, num. 570, 638, 652⫺654, 675, 681, 691, 724, 744, 750, 756, 771, 774, 821, 829⫺830, 833. ⫺ 17 Wossidlo (wie not. 15) num. 352. ⫺ 18 Bentzien (wie not. 16) num. 724. ⫺ 19 ibid., num. 654; Var.n z. B. bei Wossidlo (wie not. 15) num. 898⫺899. ⫺ 20 ibid., num. 879. ⫺ 21 Bentzien, U.: Rätsel. In: Strobach, H. (ed.): Dt. Volksdichtung. Lpz. 1979, 241⫺260, hier 253. ⫺ 22 ibid., 258. ⫺ 23 Bausinger (wie not. 13) 60. ⫺ 24 Taylor, A.: English Riddles from Oral Tradition. Berk. u. a. 1951; Bryant, M. (ed.): Dict. of Riddles. L. u. a. 1990; Hinweise auf Rätselslgen aus zahlreichen Sprachgebieten bei Taylor, A.: A Bibliogr. of Riddles (FFC 126). Hels. 1939, pass., 141 sq. (Z.).
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Ein Mann heiratet eine Frau, die für ihren Eigensinn (Übellaunigkeit) bekannt ist. Der Freier kann zuvor gewarnt worden sein, läßt sich aber von der großen Mitgift (reichen Erbschaft etc.) verleiten. Manchmal beginnt der Ehemann noch am Hochzeitstag mit seiner Domestizierungsstrategie. Er macht deutlich, daß er keinerlei Ungehorsam (J Gehorsam und Ungehorsam) durchgehen läßt, jagt sei-
Schulz, W.: Rätsel. In: Pauly/Wissowa 2,1 (1914) 62⫺125, hier 113 sq.; Heusler, A.: Die altnord. Rätsel. In: ZfVk. 11 (1901) 117⫺149; Meyer, H.: Die Zahlenallegorese im MA. Mü. 1975. ⫺ 2 Panzer, F.: Das Volksrätsel. In: Spamer, A. (ed.): Die dt. Vk. 1. Lpz./B. 21935, 263⫺282, hier 264. ⫺ 3 Aarne, A.: Vergleichende Rätselforschungen 1⫺2 (FFC 26/27). Hels. 1918/19, hier t. 1, 75. ⫺ 4 ibid. t. 2, 60. ⫺
Rostock
Siegfried Neumann
Zähmung der Widerspenstigen (AaTh/ATU 901), Novellenmärchen aus einer Gruppe von Eheschwänken (AaTh/ATU 900⫺909), in denen der Mann sich seine eigensinnige Ehefrau gefügig macht (z. B. AaTh/ATU 900: J König Drosselbart). Nach J. H. Brunvand, der die Erzählung monographisch untersucht hat1, läßt sie sich in ihrer Essenz auf drei Begriffe reduzieren: Heirat, Zähmung, Besserung2. Sie hat folgende Grundform3:
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Zähmung der Widerspenstigen
ner Frau Angst ein, drangsaliert oder mißhandelt sie. Daraufhin tut sie alles, was er verlangt. In einem Teil der Var.n wird anschließend die Unterwerfung der Frau vorgeführt, oft während eines Besuchs, den das Ehepaar ihren Eltern abstattet. Die anwesenden Männer wetten darum, wessen Frau die gehorsamste ist. Der Mann der ehemals eigensinnigen Frau gewinnt. Als Nachspiel wird in einigen Fassungen die ,Zähmung‘ bei der Mutter des Mädchens (der Frau eines anderen Mannes) mit oder ohne Erfolg wiederholt.
B. Nı´ Fhloinn wies nach, daß eine altchin. Anekdote über den Militärstrategen Sunzi (5. Jh. a. Chr. n.), die der chin. Historiker Sima Qian 400 Jahre später aufzeichnete, ein ähnliches Grundmotiv wie AaTh/ATU 901 enthält: Während einer Audienz des Sunzi bei König Helu von Wu schlägt der König ein Experiment vor, mit dem Sunzi seine militärischen Theorien unter Beweis stellen soll: Er soll die 180 Konkubinen des Königs militärisch ausbilden. Sunzi akzeptiert dies unter der Bedingung, daß er dabei völlig freie Hand habe. Als die Frauen seine Befehle nicht ausführen, läßt Sunzi die beiden Favoritinnen des Königs töten; daraufhin befolgen die anderen Konkubinen alle Befehle4.
Im 13. Jh. begegnet AaTh/ATU 901 in dem mhd. Gedicht Der Vrouwen zuht und in dem frz. Fabliau Sire Hain et Dame Anieuse5. In Don J Juan Manuels Conde Lucanor wird die Geschichte über ein maur. Ehepaar erzählt6; darüber hinaus enthält die Slg eine weitere vergleichbare Erzählung7. In der Mitte des 16. Jh.s findet sich eine Version bei J Straparola (8,2); die bekannteste Fassung ist J Shakespeares wohl 1592 verfaßte und erstmals 1623 gedr. Komödie The Taming of the Shrew8. Bis ins 20. Jh. hinein erschien AaTh/ATU 901 in europ. und außereurop. Schwankbüchern9. Eine detaillierte Version von AaTh/ATU 901, die eine Reihe von Ähnlichkeiten mit Shakespeares Komödie aufweist10, findet sich in S. J Grundtvigs Slg dän. Volkserzählungen11. Zusammenhänge zwischen den literar. und mündl. Var.n wurden im 19. Jh.12 sowie im 19. und 20. Jh. untersucht13. S. J Thompson ging davon aus, daß der Erzähltyp auf literar. Qu.n zurückgehe14; Brunvand legte dagegen überzeugend dar, daß Shakespeare sich auf mündl. Überlieferung stützte15. Dies wurde von Lit.wissenschaftlern weithin akzeptiert16. AaTh/ATU 901 begegnet in fast ganz Europa und wurde auch aus türk., jüd., kurd.,
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georg., arab., pers., pakistan. und sibir. Erzählüberlieferung aufgezeichnet17. In Amerika (Kanada, USA, Mexiko, Brasilien) erscheint der Erzähltyp gelegentlich in seiner europ. Ausprägung. Häufiger jedoch tritt der Erzähltyp hier als kurze witzige Geschichte auf, die anscheinend eine Neuentwicklung darstellt18; in dieser Form ist er auch in Südafrika, Australien und Irland nachgewiesen, aller Wahrscheinlichkeit nach als Re-Import aus Amerika19. Eine ähnliche Erzählung ist aus Madagaskar belegt20. In seiner der geogr.-hist. Methode verpflichteten Monogr. untersuchte Brunvand die verschiedenen Formen von AaTh/ATU 901 und die Beziehungen zu verwandten Erzählungen. Anhand von 383 Var.n aus mündl. Überlieferung und 35 literar. Texten identifizierte er sieben Subtypen, die sich oftmals überschneiden21. (1) Katzentötungs-Subtyp: Brunvand nimmt eine relativ einfache ursprüngliche Erzählung aus dem Orient, vielleicht aus Indien, an, die vom Südosten des Kontinents nach Europa gelangt sei. Ein Mann tötet eine Katze (Vogel, Hund) vor den Augen seiner Braut, um ihr Angst einzujagen; die Geschichte kann auch eine erfolglose Imitation des Vorgangs durch einen anderen Ehemann bei seiner Frau enthalten22. Die frühe literar. Fassung im Conde Lucanor enthält beide Elemente. Am besten sei der Subtyp in Versionen aus Indien und Iran sowie in sprichwörtlichen Redensarten aus Burma und der Türkei erhalten und erscheine in der mündl. Überlieferung Griechenlands, des früheren Jugoslawien, Rußlands, Estlands, Finnlands, Litauens und Irlands23. (2) Ma. Subtyp: Er findet sich in frz. und dt. literar. Texten, die bis ins 13. Jh. zurückreichen; Elemente davon haben sich bis in die neuere mündl. dt., ndl., schott. und ir. Überlieferung erhalten. In den literar. Texten sowie gelegentlich in den mündl. Var.n sind Brautvater und Bewerber Ritter. Der Vater wird als Opfer einer herrschsüchtigen Ehefrau dargestellt, die der Tochter rät, ihren zukünftigen Mann gleichfalls zu unterdrücken. Am Hochzeitstag erscheint der Bräutigam auf einem alten Pferd; er hat einen Hund und einen Falken bei sich. Nach der Hochzeit verlangt er die sofortige Abreise und das gemeinsame Reiten auf seinem Gaul; unterwegs bestraft er den Ungehorsam seiner Tiere, indem er sie tötet. Nun muß die Braut den Sattel und in einigen Var.n sogar ihren Mann tragen. Gelegentlich schildert der Subtyp die ,Z.‘ der Brautmutter durch eine Scheinoperation24. (3) Span.-frz.-dän. Subtyp: Die geogr. Verbreitung läßt einen von Südeuropa über Frankreich nach Skandinavien verlaufenden Überlieferungsstrang vermuten. In diesem Subtyp ist die Braut oft eine
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Zähmung der Widerspenstigen
Witwe, die für ihre Übellaunigkeit bekannt ist. Die Heirat findet am Morgen statt; auf dem Weg ins neue Heim muß die Frau den Sattel des getöteten Pferdes tragen. Zu Hause helfen die Ehepartner einander beim Ausziehen der Stiefel; der Mann kündigt an, stets Gleiches mit Gleichem vergelten zu wollen. (4) Engl.-ir. Subtyp: Der Einfluß dieses Subtyps macht sich auch in frz.-kanad. Fassungen bemerkbar; einige seiner Elemente begegnen ferner in der mündl. Überlieferung Skandinaviens, Estlands, Finnlands und Rußlands. Fast immer ist die Protagonistin die älteste von drei Schwestern und soll daher zuerst verheiratet werden. Vor der Hochzeit gelingt es dem Freier, ein widerspenstiges Pferd zu zähmen; zur Hochzeit trägt er alte Kleider; auf dem Heimweg tötet er sein Pferd, weil es sich weigert, über einen Zaun zu springen (ein Gewässer zu überqueren). Bei der Wette, welche Frau am besten gehorcht, werden die Frauen herbeigerufen, während sie gerade Karten spielen oder unpassend bekleidet sind. (5) Stark ausgearbeiteter nordeurop. Subtyp: Brunvand vermutete, daß dieser Subtyp in Dänemark entstand und sich von dort in die angrenzenden Länder, in Teilen sogar bis nach Irland und Kanada, verbreitet hat. Die Braut ist die älteste von drei Schwestern; weitere Motive sind das Töten von Hund und Pferd und die gewonnene Wette des Mannes. Typische Züge des Subtyps sind u. a. eine detaillierte Beschreibung der Ankunft des Bräutigams bei der Hochzeit; die Forderung des Bräutigams, daß die Braut abwegigen Behauptungen zustimmen solle, und das Biegen eines grünen Zweigs zur Demonstration der Tatsache, daß etwas geformt werden müsse, solange es jung sei. (6) Gemeineurop. Fassungen: Diese Gruppe, der ein großer Teil der von Brunvand untersuchten Var.n angehört, besteht aus meist standardisierten Erzählungen, die sich in Skandinavien, Irland sowie im finno-ugr. und slav. Gebiet finden. Es handelt sich um gekürzte, vereinfachte Texte, die beim mündl. Erzählen aus komplexeren Vorformen entstanden sind. Spezifische Elemente sind die drei Schwestern, das gemeinsame Reiten des Brautpaars auf einem Pferd, das Töten des ungehorsamen Hundes und des Pferdes (woraufhin die Frau den Sattel tragen muß) und die Wette. Nur in Irland enthält dieser Subtyp oft die Moral ,Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘ (AaTh/ATU 901 B*: cf. Wie das J Essen, so die Arbeit, Mot. W 111.3.6)25. In osteurop. Fassungen muß die Braut nach dem Tod des Pferdes oft den Wagen ziehen; auf ihre Z. kann die ihrer Mutter folgen26. (7) Amerik. Subtyp: In Amerika existiert eine spezielle Form, die relativ rezenten Datums zu sein scheint und strukturell dem Witz nahesteht. Ihr Kennzeichen ist der drohende Ausruf ,That’s once!‘. Nach Brunvand könnte sich dieser Subtyp in der Neuen Welt unter skand., ir. oder engl. Einfluß herausgebildet haben. Weil AaTh/ATU 901 ein Thema von bleibendem Interesse behandle, sei der Erzähl-
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typ aktualisiert und dann von den Massenmedien aufgegriffen worden27.
Fast die Hälfte der von Brunvand untersuchten mündl. Var.n des Erzählkomplexes Z. der W. sind ir. Texte. Dies erklärt sich aus dem bes. Reichtum der mündl. Erzählüberlieferung Irlands28 und aus der Intensität der Sammeltätigkeit der Irish Folklore Commission29. Die hohe Anzahl ir. Var.n bedeutet daher nicht unbedingt, daß AaTh/ATU 901 in Irland beliebter war als in anderen Ländern. Der Erzähltyp wurde bedeutend häufiger in ir. Sprache als im Anglo-Irischen aufgezeichnet und ist relativ selten aus dem östl. Teil des Landes belegt. In der für Irland typischen langen Form30 zeichnete B. Almqvist AaTh/ATU 901 noch 1966 ´ Gaoithı´n und 1972 in Kerry bei Mı´chea´l O auf, der die Geschichte von seiner Mutter, der bekannten Erzählerin Peig Sayers, kannte. Beide Var.n enthalten einen Zug, der auch in einigen anderen ir. und nichtir. Var.n auftritt: Der Mann gibt seiner Frau das Geld, das er bei der Wette über ihren Gehorsam gewonnen hat31. AaTh/ATU 901 ist oft mit AaTh/ATU 1370: Die faule J Frau wird kuriert und AaTh/ATU 901 B* verbunden. Daneben kommt AaTh/ ATU 901 in Kombination mit einigen weiteren internat. Erzähltypen vor, oft als Einl. oder als Forts.32 Nach Brunvands Auffassung existierten AaTh/ATU 901 und AaTh/ATU 1370 vermutlich zunächst unabhängig voneinander, bevor es durch die Dynamik der mündl. Überlieferung zu einer Kombination kam, die bes. in Finnland und angrenzenden Gebieten häufig auftritt33. Mit Blick auf die Genderspezifik wurde davor gewarnt, Erzählungen wie AaTh/ATU 901 für bare Münze zu nehmen und als Ausdruck der tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zu interpretieren34. Die Frage der Geschlechterbeziehungen wurde auch von der Shakespeare-Forschung ausführlich diskutiert. Nach Ansicht von M. B. Krims spielt in Shakespeares Stück Grausamkeit eine weit größere Rolle35. AaTh/ATU 901 hat sich bis heute in der mündl. Überlieferung gehalten. Seit Beginn des 20. Jh.s gibt es Verfilmungen von AaTh/ ATU 90136, gewöhnlich auf der Grundlage von Shakespeares Stück37. Eine bes. erfolgreiche Bearbeitung liegt mit Cole Porters Musical Kiss Me, Kate vor38.
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Zahn, Zähne
Brunvand, J. H.: The Taming of the Shrew. A Comparative Study of Oral and Literary Versions. N. Y./L. 1991; id.: The Folktale Origin of The Taming of the Shrew. In: Shakespeare Quart. 17,4 (1966) 345⫺349; id.: The Taming of the Shrew Tale in the United States. In: id. (ed.): The Study of American Folklore. N. Y. 1968 (21978), 304⫺316; id.: The Taming of the Shrew. In: Brown, M. E./Rosenberg, B. A. (edd.): Enc. of Folklore and Literature. Santa Barbara/Denver/Ox. 1998, 645 sq. ⫺ 2 Brunvand 1991 (wie not. 1) 15. ⫺ 3 ibid., 77⫺ 111. ⫺ 4 Nı´ Fhloinn, B.: From Medieval Literature to Missiles. Aspects of ATU 901 in the Twenty-first Century. In: Fabula 51 (2010) 187⫺200, hier 191⫺ 195. ⫺ 5 Frosch-Freiburg, F.: Schwankmären und Fabliaux. Göppingen 1971, 87⫺95. ⫺ 6 Schwarzbaum, Fox Fables, 406; Ranelagh, E. L.: The Past We Share. L. u. a. 1979, 160, 165, 199 u. ö.; Tekinay, A.: Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der dt. Dichtung des MA.s und den Lit.en des Orients. Ffm. u. a. 1980, 199⫺201. ⫺ 7 Brunvand 1991 (wie not. 1) 26, 172 sq., 197 u. ö. ⫺ 8 Simrock, K.: Die Qu.n des Shakespeare in Novellen, Märchen und Sagen 1. Bonn 1870, 327⫺354; Drabble, M. (ed.): The Oxford Companion to English Literature. Ox. u. a. 1985, 962; Brunvand 1966 (wie not. 1); id. 1991 (wie not. 1) 171⫺211. ⫺ 9 Roth, K.: Ehebruchschwänke in Liedform. Mü. 1977, 49; Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984, num. 144; Kristensen, E. T.: Æventyr fra Jylland 4. Kop. 1897, num. 2. ⫺ 10 Brunvand 1991 (wie not. 1) 171⫺211. ⫺ 11 Grundtvig, S.: Gamle danske Minder i Folkemunde 1⫺3. Kop. 1854⫺61, hier t. 1, num. 101; t. 3, num. 21. ⫺ 12 Douce, F.: Illustrations of Shakespeare, and of Ancient Manners 1. L. 1807, 345 (zitiert nach Brunvand 1991 [wie not. 1] 172, 208); Simrock (wie not. 8); Köhler/Bolte 1, 137; ibid. 3, 40⫺ 44; Drahomanov, M.: Taming of the Shrew in the Folklore of the Ukraine. In: Annals of the Ukrainian Academy of Arts and Sciences in the U. S. 2,1 (3), (1952) 214⫺218; dazu Brunvand 1966 und 1991 (wie not. 1); Chauvin 2, 157. ⫺ 13 Philippson, E.: Der Märchentypus von König Drosselbart (FFC 50). Hels. 1923; Frosch-Freiburg (wie not. 5); Tekinay (wie not. 6); Brunvand 1966 und 1991 (wie not. 1). ⫺ 14 Thompson, S.: The Folktale. N. Y. u. a. 1946, 104 sq., 177 sq. ⫺ 15 Brunvand 1966 (wie not. 1); id. 1991 (wie not. 1) 171⫺211. ⫺ 16 Oliver, H. J. (ed.): The Taming of the Shrew. Ox./N. Y. 1982, 49 sq.; Artese, C.: „Tell Thou the Tale“. Shakespeare’s Taming of Folktales in The Taming of the Shrew. In: FL 120 (2009) 317⫺326. ⫺ 17 Brunvand 1991 (wie not. 1) 25⫺75. ⫺ 18 ergänzend zu ATU: Nascimento; Brunvand 1968 (wie not. 1); id. 1991 (wie not. 1) 36⫺39, 63⫺65, 213⫺228. ⫺ 19 Coetzee; Adams, P./Newell, P.: The Giant Penguin Book of Australian Jokes 1. Ringwood 1999, 336; Brunvand 1991 (wie not. 1) 226 sq. ⫺ 20 Haring, 341 sq. ⫺ 21 Brunvand 1991 (wie not. 1) 257⫺265. ⫺ 22 ibid., 259. ⫺ 23 ibid. ⫺ 24 ibid., 78, 111 u. ö. ⫺ 25 ibid.,
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250⫺252. ⫺ 26 ibid., 259. ⫺ 27 Brunvand 1991 (wie not. 1) xviii, xxiii, 72⫺74, 264; id. 1968 (wie not. 1); ´ Crualaoich, Nı´ Fhloinn (wie not. 4) 187⫺200. ⫺ 28 O G.: Irish Storytelling. In: Buttimer, N./Rynne, C./ Guerin, H. (edd.): The Heritage of Ireland. Cork 2000, 171⫺177; Delargy, J. H.: The Gaelic Storyteller. In: Proc. of the British Academy 31 (1945) 3⫺ 47. ⫺ 29 Briody, M.: The Irish Folklore Commission 1935⫺1970. Hels. 2007. ⫺ 30 Brunvand 1991 (wie not. 1) 160 u. ö. ⫺ 31 ibid., 110. ⫺ 32 ibid., 259. ⫺ 33 Brunvand 1966 (wie not. 1); id. 1991 (wie not. 1) 264, 188. ⫺ 34 Atkinson, D.: „… the Wit of a Woman it Comes in Handy,/ At Times in an Hour of Need“. Some Comic Ballads of Married Life. In: WF 58,1 (Winter 1999) 73; Drahomanov (wie not. 12); Gammon, V.: Song, Sex, and Society in England, 1600⫺1850. In: Folk Music J. 4,3 (1982) 208⫺245. ⫺ 35 Krims, M. B.: The Mind According to Shakespeare. Psychoanalysis in the Bard’s Writing. Westport, Conn./L. 2006, 51⫺ 59. ⫺ 36 The Taming of the Shrew. USA 1908 (Regie David Llewelyn Griffith); The Taming of the Shrew. USA 1929 (Regie Sam Taylor); The Taming of the Shrew. Italien/USA 1967 (Regie Franco Zeffirelli); Ten Things I Hate about You. USA 1999 (Regie Gil Junger); Deliver Us from Eva. USA 2003 (Regie Gary Hardwick). ⫺ 37 cf. Internet Movie Database. ⫺ 38 Verfilmung: USA 1953 (Regie George Sidney).
Dublin
Bairbre Nı´ Fhloinn
Zahn, Zähne. Zähne (Z.e) sind sichtbare und mit dem J Knochen des Kiefers verwachsene Teile des Schädels. Sie sind in erster Linie für die Ergreifung und Zerkleinerung von Nahrung relevant und können die Funktion von Waffen übernehmen; zudem dienen sie der Artikulation von Lauten. Markante, teilweise extrem verlängerte Z.e (Eck- oder Fangzähne, Stoßzähne) sind ein Merkmal vieler Raubtiere, mitunter auch pflanzenfressender Tiere (J Elefant). Die furchteinflößende Wirkung solcher Z.e wird in der Darstellung von Fabelwesen mit zuweilen auffälligen oder scharf hervorstehenden Z.en betont (J Riese, Riesin). In mongol. Epen sind J Mangus und Mangusfrau durch große, zur Brust hinabreichende oder seitlich abstehende Hauerzähne gekennzeichnet1. Auch exotische Bilder und Stereotypen bedienen sich solcher Gestaltgebung. In sprachlicher Verarbeitung wird die bedrohliche Darstellung von Z.en im Bild vom Z.eschärfen (Wetzen) der Menschenfresser in Märchen wie AaTh/ATU 315 A: Die
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Zahn, Zähne
menschenfressende J Schwester aufgegriffen. Wahrscheinlich steht auch das in vielen frühen ethnogr. Ber.en zu findende Verstümmeln und Färben der Z.e damit in Zusammenhang2. Oft werden den Z.en bes. Kräfte zugeschrieben. Frz. Texte des 16. Jh.s erwähnen unausziehbare Z.e3, Z.e aus Eisen oder funkensprühende Z.e4. Tier- oder Menschenzähne wurden aufgrund der ihnen zugeschriebenen übernatürlichen Kräfte zur Herstellung von Amuletten genutzt5; schon in vor- und frühgeschichtlichen Funden ist aus Z.en hergestellter Schmuck nachgewiesen6. Der hl. J Johannes Evangelista schenkte seinem Schüler Patiens, als dieser zur Missionierung Galliens aufbrach, einen schmerzlos aus dem Mund genommenen Z.7 Dies läßt einen Zusammenhang zu Z.reliquien erkennen (J Reliquie), die im Christentum und in anderen Religionen häufig belegt sind; so wird im Tempel des Z.s in Kandy (Sri Lanka) die Z.reliquie des J Buddha aufbewahrt. Mit der Bedeutung von Z.reliquien spielt der J Roman de Renart im Schwur des Fuchses auf den Z. des hl. Roonel, d. h. des Hundes des Bauern Frobert an (Branche V a; cf. AaTh/ATU 44: J Eid aufs Eisen). In afrik. Khoisan-Erzählungen ist zunächst der Strauß König der Tiere; der J Löwe aber verliert die Angst vor ihm, als er ihn im Schlaf überrascht und erkennt, daß er keine Z.e besitzt8. (Große) Fang- oder Reißzähne eines Tieres, bes. des J Wolfs, versinnbildlichen im Märchen Bedrohlichkeit (AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen); dies gilt auch für auffällig lange Eckzähne, die in der Lit. und im Horrorfilm zur Ausstattung des J Vampirs gehören. In sprichwörtlichen Redensarten werden Z.e metaphorisch mit Waffen assoziert und als Drohung gebraucht (,bis an die Z.e bewaffnet‘, ,die Z.e zeigen‘)9. In populären Erzählungen10 korreliert das Aussehen der Z.e mit dem Gesundheitszustand: Die Rätselfrage des Herrschers: „Wie stehts mit den 32?“ (AaTh/ATU 921 F*: J Gänserupfen), die sich primär auf die 32 Z.e des vollständigen menschlichen Gebisses bezieht, ist auf Alter und Gesundheit des Befragten gerichtet. Die ontogenetische Entwicklung des Menschen wird allg. mit Zahnen, Z.wechsel und Z.verlust beschrieben11. Das Ausfallen der Z.e ist ein Zeichen des J Alterns12. In vielen Kulturen galt der Traum vom Ausfallen
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der Z.e als Vorahnung des nahenden J Todes13. In einer jüd. Erzählung wird der Traum des Königs, in dem er alle Z.e verliert, als Hinweis darauf gedeutet, daß seine Söhne vor ihm sterben werden14. Auch in Tierfabeln steht Z.losigkeit für Alter und Schwäche (cf. AaTh/ ATU 101: Der alte J Hund, AaTh/ATU 130: cf. J Tiere auf Wanderschaft). Das Ausziehen der Z.e kann ebenso wie das Abschneiden des Bartes zur Demütigung eines Gegners benutzt werden15. Als schwer verwesliche Teile des Körpers stehen die Z.e in Erzählstoffen oft gleichbedeutend mit Knochen (Bein) und daher in einem metaphorischen Bezug zum Tod. In Var.n von AaTh/ATU 315: Die treulose J Schwester ist die Waffe, mit der die Schwester den Protagonisten tötet, ein heimlich in dessen Bett gelegter Z. (Knochen) ihres toten Liebhabers; durch Herausziehen des Z.s wird der Protagonist wiederbelebt. Im türk. SiebenBrüder-Märchen (cf. AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder) wird die mit einem Z. Getötete ebenfalls wieder lebendig, nachdem die Mordwaffe entfernt ist16. Narrativ verarbeitet wurden auch populäre Vorstellungen zur Pflege der Z.e und der Behandlung von Z.leiden17. Die Vorstellung von der Z.fee (ags.) oder der Z.maus (bes. Südeuropa, Südamerika) sollte Kindern das erste Zahnen und den Z.wechsel erleichtern18; gleiches gilt für Zauberformeln, Tinkturen und Amulette19. Ähnliche Mittel sollten Erwachsene von Z.schmerzen, als deren Verursacher z. B. ein im Z. lebender Z.wurm angesehen wurde20, befreien21, um eine zahnärztliche Behandlung zu vermeiden (J Z.arzt). Hilfe wurde auch durch die Anrufung von Z.heiligen wie dem hl. Valentin22 oder der hl. Apollonia23 erwartet. Die zahnärztliche Behandlung bestand in der Regel im Ziehen des Z. s. Manchmal wird berichtet, daß anstelle des schmerzenden Z.s versehentlich ein gesunder gezogen wurde24 oder daß Z.e mit einem Bindfaden gezogen wurden25. Z.schmerzen waren häufig Gegenstand scherzhafter Ratschläge zum Verdrängen des Z.wehs26. Vorgetäuscht wird Z.weh vom Fuchs in AaTh/ATU 62: J Friedensfabel. Hinweise auf Z.ersatz durch Goldzähne finden sich bereits in frühneuzeitlichen Erzählungen; in einer frz. Wundererzählung des 16. Jh.s wächst einem Schulkind ein goldener Z.27;
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Zahnarzt
auch in schles. Wunderberichten des 17. Jh.s wurde von dem goldenen Z. eines zehnjährigen Knaben erzählt; später sah man darin jedoch eine Täuschung durch eine Goldkrone und einen Hinweis auf das zahnärztliche Geschick in der frühen Neuzeit28. An einem Perlen- oder Goldzahn, für einen ausgeschlagenen Z. eingesetzt, erkennt der Prinz in türk. Var.n zu ATU 879*: King Serves His Future Wife das kluge Mädchen29. Zu einem herzlichen Lachen gehört in der modernen westl. Welt die Sichtbarkeit der Z.e, womit gerade Witze über Z.losigkeit oder in unpassenden Momenten herausfallende künstliche Gebisse spielen30; Erzählungen vom kuriosen Verschwinden und Auffinden künstlicher Gebisse kursieren noch heute etwa in Altersheimen31. 1 Heissig, W.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1⫺2. Wiesbaden 1988, hier t. 1, 47, 75, 390; t. 2, 604. ⫺ 2 Thomas, C. E.: Curious Tooth Rites. In: Dental Magazine 42 (1925) 118⫺129. ⫺ 3 Schenda, R.: Die frz. Prodigienlit. in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s. Mü. 1961, 111. ⫺ 4 ibid. ⫺ 5 Baldinger, M.: Aberglaube und Volksmedizin in der Z.heilkunde. In: SAVk. 35 (1945) 23⫺52, 65⫺104, hier 28⫺32. ⫺ 6 Kahlke, H.-D.: Z.- und Muschelschmuck aus jungsteinzeitlichen Gräbern Thüringens. In: Urania 20 (1957) 252⫺256. ⫺ 7 AS Jan. 1, 469 sq.; Günter, H.: Legenden-Studien. Köln 1906, 95; id.: Die christl. Legende des Abendlandes. Heidelberg 1910, 147; Günter 1949, 274. ⫺ 8 Schmidt 2, 237. ⫺ 9 Röhrich, Redensarten 5, 1754⫺1756. ⫺ 10 Kanner, L.: Folklore of the Teeth. N. Y. 1928; Von Z.bein und Z.pein. Von der Z.e Lust und Leid. Ffm. s. a. [1950]; Gillet, M.: Les Dents dans le folklore du Centre-Ouest. In: Bulletin de la Soc. d’e´tudes folkloriques du CentreOuest 3 (1968) 51⫺76. ⫺ 11 Riegler, R./Negelein, J. von: Z.wechsel und Mythus. In: ARw. 23 (1925) 162 sq., 357. ⫺ 12 Baldinger (wie not. 5). ⫺ 13 ibid., 26⫺28. ⫺ 14 Schwarzbaum, 234. ⫺ 15 EM 9, 352. ⫺ 16 Eberhard/Boratav, num. 166. ⫺ 17 Reichborn-Kjennerud, J.: Gammelt om tenner. In: Maal og Minne (1941) 82⫺104; Boers, H.: Folketro om tænder, tandmidler og tandbehandling hos almuen i Danmark. Kop. 1954; Granger, B. H.: Of the Teeth. In: JAFL 74 (1961) 47⫺56; Casanova, M.: La Dent au folklore romand vue a` travers le Glossaire de la Suisse romande. In: Folklore suisse 65 (1975) 53⫺60. ⫺ 18 z. B. Pe´rez, el ratoncito de tus suen˜os. Argentinien/Spanien 2006 (Regie Juan Pablo Buscarini); Vries, L. de: Z.maus und Z.fee. B. 2010. ⫺ 19 FL 44 (1933) 236; Baarspul, J. A.: Het wisselen van de melktanden in Nederland en Vlaams-Belgie¨. In: Mededelingen van het Nederlands volkseigen 12 (1960) 13⫺17; Rooth, A. B.: The „Offering“ of the First Shed Tooth and the Tooth-
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Formula. Uppsala 1982; Simon, M.: Veilchenwurzel und Z.band. Zum Problem der ersten Dentition in der „Volksmedizin“. In: Medizin im kulturellen Vergleich. ed. D. Ambatielos. Münster 1997, 137⫺ 148. ⫺ 20 Kobusch, H.: Der Z.wurmglaube in der dt. Volksmedizin der letzten zwei Jh.e. Diss. Ffm. 1955. ⫺ 21 Thomas, C. E.: Some More Toothache Charms. In: British Dental J. 41 (1920) 262⫺265; Stillformel gegen Z.schmerzen. In: Niedersachsen 33 (1928) 306; Aas, I.: Innsamling av Folkemedisin om tennene. In: Maal og Minne (1929) 115⫺117; Marzell, H.: Zaubersprüche gegen Z.schmerzen. In: Z.ärztliche Mittlgen 28 (1937) 341⫺343; Leber, M.: Der Z.schmerz und seine Beseitigung. Eine Betrachtung an Hand alter Märchen, Volkssagen und volkskundlichen Aufzeichnungen. Diss. (masch.) Düsseldorf 1952; Castro Pires de Lima, F. de: A pra´tica ma´gica do arremesso do dente. In: Revista de etnografia 3 (1964) 5⫺21. ⫺ 22 Baldinger (wie not. 5) 36. ⫺ 23 Daras, H.: Verering van tandheiligen, resp. van de H. Apollonia in West-Vlaanderen, anno 1991. In: Oostvlaamse Zanten 66 (1991) 165⫺185, 207⫺233; id.: Tandheiligen doorheen Vlaanderen in 1990⫺ 1992. ibid. 69 (1994) 33⫺38. ⫺ 24 Krzyz˙anowski 1724 A. ⫺ 25 Krzyz˙anowski 1724. ⫺ 26 Sudhoff, K.: Ein Spottrezept gegen Z.schmerzen. In: Mittlgen zur Geschichte der Medizin, der Naturwiss.en und der Technik 25 (1926) 62; Clay Doyle, C.: The Power of Not Thinking. A Jocular Toothache Cure. In: Kentucky Folklore Record 29 (1983) 24⫺29. ⫺ 27 Goulart, S.: Thresor d’histoires admirables 1. Genf 1620, 10; cf. Schenda (wie not. 3) 111. ⫺ 28 Bruck, W.: Die Historie vom güldenen Z. eines schles. Knaben. B. 1920; Baldinger (wie not. 5) 32 sq. ⫺ 29 Eberhard/ Boratav, num. 374. ⫺ 30 Röhrich, L.: Aktuelle Probleme der Witzforschung. In: Kloepfer, R./JanetzkeDillner, G. (edd.): Erzählung und Erzählforschung im 20. Jh. Stg. u. a. 1981, 491⫺502, hier 492; Raff, T.: Lächeln, Lachen, Z.e-Zeigen. Gedanken zum Wandel der Mimik. In: Jb. für Vk. 24 (2001) 163⫺ 188. ⫺ 31 Meder, T./Venbrux, E.: „The False Teeth in the Cod“. A Legend in Context. In: Contemporary Legend 5 (1995) 115⫺131.
Marburg
Siegfried Becker
Zahnarzt. Die Tätigkeit des Z.es umfaßt die Behandlung von Mund- und Zahnerkrankungen, Zahn- und Kieferanomalien sowie Zahnerhaltung und -ersatz1. Zahnprothesen sind bereits im 1. Jahrtausend a. Chr. n. bei den Etruskern2 und in China3 belegt. Bei J Herodot (2,84) finden sich Hinweise auf Z.e in Ägypten. In Griechenland kannte man seit 400 a. Chr. n. eine auf wiss. Beobachtungen beruhende Zahnheilkunde4. Als Begründer der mo-
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Zahnarzt
dernen Zahnheilkunde gilt der Pariser Chirurg P. Fauchard (1678⫺1761)5. Bevor sich der Beruf des Z.es im modernen Sinne herausbildete, übernahmen im ma. Europa Bader, J Barbiere6, Chirurgen (Wundärzte), Schmiede und Zahnbrecher7 dessen Tätigkeiten8. Zahnbrecher gehörten zu den ,unehrlichen‘ Berufsgruppen: Sie wurden als Betrüger sowie als nicht ehrbar angesehen9 und durften sich lange Zeit nicht in Zünften organisieren. Fahrende Zahnbrecher boten ihre Dienste marktschreierisch feil10. Dies hat sich in Sprüchen wie „He schreˆt as en Tänbreˆker“ (viel Aufhebens um eine Sache machen) niedergeschlagen11. Die Angst vor dem Zahnbrecher und seinen oft rabiaten Methoden war groß, denn meistens bestand die Behandlung im Ziehen des schmerzenden Zahns12, ansonsten wurden gegen Zahnschmerzen Zauberformeln13 und Hausmittel14 angewandt. Ratschläge, die auf populären Glaubensvorstellungen beruhten, zielten darauf, den Zahnbrecher überflüssig zu machen: So sollte der Verzicht auf Fleisch an jedem ersten Ostertag Zahnweh vorbeugen15, ebenso das freitägliche Nägelschneiden16; zum gleichen Zweck wurde ein ausgefallener Zahn in die Spalte eines Wegkreuzes gesteckt17 oder das Moos von einem Totenkopf auf die Wange gelegt18. Zudem galt die Hausregel, „wer will bleiben gesund, wasche nie den Kopf, selten die Füsse und oft den Mund (die Zähne)“19. Im Märchen, das keine konkreten Krankheitsbilder kennt, finden sich weder Z.e noch Zahnbrecher20. In Schwänken und anderen humoristischen Gattungen begegnen sie dagegen häufiger. In der arab. Lit. finden sich Z.witze bereits seit dem MA.21 Zahnbrecher erscheinen in Schwänken und Witzen in der Regel als Betrüger (J Scharlatan), die diverse Wundermittel gegen Zahnschmerzen anpreisen22, so in einer von Johann Peter J Hebel überlieferten Var. von AaTh/ATU 1862 A: J Flohpulver: Zwei Tagediebe formen aus erbetteltem Brot Pillen. In einer Schankstube mimt einer der beiden einen Zahnschmerzgeplagten, der andere tritt als Z. auf und ,heilt‘ den Leidenden. Die Brotpillen finden daraufhin, obwohl sie mehr Schmerzen verursachen als beseitigen, reißenden Absatz23. In einer ma. arab. Erzählung bietet der Z. an, zwei Zähne statt einem zum gleichen Preis zu ziehen24. Seit
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dem 19. Jh. stellen Z.witze einen selbständigen Bereich innerhalb der Arztwitze dar25. Sie finden bes. im Internet Verbreitung, u. a. auf den Webseiten von Z.en. In Filmen finden sich Z.e eher selten; stereotyp sind sie entweder Figuren mit einer (latent) sadistischen Ader oder spießige Zeitgenossen26. 1
Bremner, M. D. K.: The Story of Dentistry. N. Y. 1946; Hoffmann-Axthelm, W.: Die Geschichte der Zahnheilkunde. B. 1973. ⫺ 2 Brockhaus 30. Lpz./ Mannheim 212006, 442. ⫺ 3 Hoffmann-Axthelm (wie not. 1) 48 sq.; Needham, J.: Science and Civilisation in China 6,6. Cambr. 2000, 102. ⫺ 4 Golder, W.: Hippokrates und das Corpus Hippocraticum. Würzburg 2007, 167; Celsus, A. C.: Von der Arzneikunde 1⫺8. ed. B. Ritter. Stg. 1840, hier t. 6, 407⫺409; t. 7, 473⫺475. ⫺ 5 Groß, D./Keil, G.: Zahnheilkunde. In: Lex. des MA.s 9. Stg./Weimar 1999, 463 sq., hier 464. ⫺ 6 cf. Ammann, J.: Das Ständebuch. (Ffm. 1568) Lpz. 1936, 51. ⫺ 7 ibid., 52. ⫺ 8 Buchner, E.: Ärzte und Kurpfuscher. Mü. 1922, num. 115; cf. Bodens, R.: Volkstümliche Zahnheilkunde und ihre Spuren im Selfkant. (Diss.) Bonn 1971, 14 sq.; Mader, B. E.: Naturheiler, Zahnreißer und Viehdoktoren. Graz/Wien/Köln 1999; Kostioutchenko, I. A.: Die Darstellung des Z.es in der Weltlit. mit dem Schwerpunkt in der russ. Lit. Diss. Bonn 2002, 102. ⫺ 9 HDA 8 (1936/37) 1402. ⫺ 10 Buchner (wie not. 8) num. 119. ⫺ 11 Wander 4, 431, num. *76; cf. auch ibid, num. *66; 3, 274, num. *248; Röhrich, Redensarten 3, 1756 sq. ⫺ 12 cf. Kostioutchenko (wie not. 8) 14, 110 sq.; z. B. The Works of John Collier (Tim Bobbin) in Prose and Verse. ed. H. Fishwick. Rochdale 1894, 344⫺346; Proskauer, C./Witt, F. H.: Bildgeschichte der Zahnheilkunde. Köln 1962; Stolz, S.: Die Handwerke des Körpers. Marburg 1992, 90. ⫺ 13 Schmidt, H.: Volkssitten und -gebräuche in Mecklenburg in Bezug auf die Zahnheilkunde. (Diss.) Rostock 1934, 19 sq., 25⫺27; Kovaliv, P.: Ukraı¨ns’ki narodni viruvannja v misjac’, jak u mahicˇnu sylu pry zamovljanni proty zubnoho bolju (Die magische Kraft des Mondes im ukr. Volksglauben in den Zauberformeln gegen Zahnschmerz). (masch.) B. 1944. ⫺ 14 Schmidt (wie not. 13) 18 sq., 20⫺25; Hoffmeister, J.: Neues zur Volksmedizin und Volkszahnheilkunde der Friesen. Greifswald 1937, 9. ⫺ 15 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1. ed. K. Willoh. Oldenburg 2 1909, 66. ⫺ 16 cf. Birlinger, A./Buck, M. R:. Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Fbg im Breisgau 1861 (Nachdr. Hildesheim/N. Y. 1974), 482, num. 11 b; Gruttmann, F.: Ein Beitr. zur Kenntnis der Volksmedizin in Sprichwörtern, Redensarten und Heiligensagen des engl. Volkes, mit bes. Berücksichtigung der Zahnheilkunde. Greifswald 1939, 13; Strackerjan (wie not. 15) 94; Wander 3, 861, num. 48. ⫺ 17 cf. 2
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Zan(n)ach, Jacob
HDA 5, 546. ⫺ 18 Birlinger/Buck (wie not. 16) num. 11 a. ⫺ 19 Wander 1, 1635, num. 44. ⫺ 20 Leber, M.: Der Zahnschmerz und seine Beseitigung. Eine Betrachtung an Hand alter Märchen, Volkssagen und volkskundlichen Aufzeichnungen. Diss. (masch.) Düsseldorf 1952, 4, 6. ⫺ 21 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 326. ⫺ 22 Nelle, F.: Ein interessanter Streit um ein Zahnheilmittel an der alten Kölner Univ. Greifswald 1939, 18 (Maßnahmen gegen Betrüger). ⫺ 23 Hebel, J. P.: Schatzkästlein des rhein. Hausfreundes. Stg. 21818, 71⫺ 73. ⫺ 24 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 945; cf. Christensen, A.: Molboernes vise gerninger. Kop. 1939, 205. ⫺ 25 z. B. Medizinischer Humor. ed. O. Hopp. B. 1889, 146⫺160; Heinemann, H.: Die 111 besten Ärztewitze. s. l. [31928], 9, 15. ⫺ 26 z. B. The Dentist. USA 1932 (Regie Leslie Pearce); Marathon Man. USA 1976 (Regie John Schlesinger); The Little Shop of Horrors. USA 1986 (Regie Frank Oz); The Whole Nine Yards. USA 2000 (Regie Jonathan Lynn); The Hangover. USA 2009 (Regie Todd Phillips); cf. Hildenbrand, H.: Der Z. im Film. Ein schräger Typ. In: Zahnärztliche Mittlgen 98,16 (2008) 28⫺34.
Göttingen
Cornelia Berres
Zan(n)ach, Jacob, luther. Schriftsteller. Abgesehen von seiner Immatrikulation an der Univ. Wittenberg am 3. 11. 15801 ist über Z.s Leben nur bekannt, was man seinen Schr. entnehmen kann. Da er sich als Lusatus und Lubbensis (Lubenensis) bezeichnete, stammte er aus der Lausitz, genauer wohl aus der Gegend von Lübben oder Lübbenau im Spreewald, nicht aus Bautzen, wie oft in der Lit. angegeben2. In Drucken aus den Jahren 1595⫺1610 bezeichnete sich Z. als Verleger bzw. Buchhändler in Zerbst3, wo er sich auch 1613 aufhielt4. Unter eigenem Namen veröffentlichte Z. eine theol. Bibliogr., Bibliotheca theologica (Mühlhausen 1591), die irrtümlich als die früheste Fachbibliographie gilt5, gefolgt von einer Bibliogr. von Bibelkommentaren und einigen Predigten (Elenchus Alphabeticus. Zerbst 1606). Für sein Hauptwerk Hist. Erquickstunden wählte er dagegen das Pseudonym Didacus Apolepht(h)es (in der 1. Aufl. des 1. Bandes: Apoliphthes). Didacus ist eine aus Spanien stammende lat. Nebenform zu Jacobus6. Apolephthes als Aorist passiv von griech. apoleipo wäre mit ,der Hinterlassene‘ oder ,der Verlassene‘ zu übersetzen.
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Das kompilatorische Werk Hist. Erquickstunden liegt in insgesamt sieben Bänden mit wechselnden Titeln und recht verwirrender Zählung vor7. Insgesamt umfaßt es gut 6600 Oktavseiten. Zuerst erschien 1609 ein Band mit ⫺ laut Titelblatt ⫺ 1500 (in späteren Aufl.n 2100) Geschichten, die jedoch nicht numeriert sind8. Ein 2. Teil erschien 16129, 1613 folgte ein 3.10, ein 4. wahrscheinlich 1620 (in späteren Aufl.n in zwei Hälften veröffentlicht)11 und ein 5. Teil 162212, danach noch 1623 ein Suppl.13 Z.s Regenten oder Käyser Chronica (Lpz. 1613) wurde seit einem Nachdr. im selben Jahr als Anh. des 1. Teils bezeichnet14. Alle Teile ⫺ bis auf das Suppl. ⫺ liegen in mehreren Aufl.n vor. Der letzte Druck (4. Teil) datiert aus dem Jahr 1629. Offenbar wurden die einzelnen Teile ⫺ und nicht das gesamte Werk ⫺ getrennt nachgedruckt, wenn das jeweilige Buch vergriffen war. Dies erklärt auch, warum die erhaltenen Ausg.n überwiegend Mischausgaben sind. Die meisten Bände erschienen bei dem Verleger Elias Rehefeld in Leipzig, zuerst in Gemeinschaft mit Johann Börner, später mit Johann Große. Die Drucker dagegen wechselten häufig. Den Titel des 1. Teils, Lhore [sic] de Recreation. Erquick-Stunden, übernahm Z. von Lodovico J Guicciardinis Fazetiensammlung, obwohl seine Kompilation sich keineswegs auf Erzählungen beschränkt, die mit einer pointierten Rede enden. Der Haupttitel Lhore de Recreation stellt eine Mischung aus dem ital. Orig. (L’hore di ricreatione […]. Antw. 1568) und seiner frz. Übers. (Les hevres de recreation […]. P. 1571) dar, während der Untertitel der dt. Übers. (Erquickstunden. Von allerley Kurtzweiligen Historien […]. Basel 1574) entstammt. In der Folgezeit wurde ,Erquickstunden‘ ein häufig benutzter Titelbestandteil von Werken unterschiedlicher Gattungen15. Während der 1. Teil von Z.s Erquickstunden ein buntes Allerlei an Historien enthält, sind manche der folgenden Teile thematisch stärker eingegrenzt. Der Anh. zum 1. Teil besteht aus einer Regentenchronik bis in Z.s Zeit, der 2. Teil erzählt „vom Ehestande vnd Haußsachen“, der dritte von der „unbestendigkeit des Glücks“, der vierte bringt Beispielerzählungen zu den Zehn Geboten (J Dekalog), der 5. Teil enthält Geschichten aus dem A. T. und den Apokryphen. Das Suppl. bringt Erzählun-
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gen aus dem N. T., heidnische Ber.e und J Prophezeiungen (J Sibyllen) zu Jesus J Christus, Ber.e über die Apostel und Jünger sowie über die Zerstörung Jerusalems (J Josephus Flavius). Den 5. Teil eröffnet ein „Einfältiges bedencken von Historien in gemein / was sie sind / was / vnd wem sie nützen / vnd wie nothwendig derer Wissenschafft einem jeden Menschen sey“16. Die Geschichte sei eine ,magistra vitae‘, der man entnehmen könne, wie Gott die Gehorsamen belohnt und die Ungehorsamen bestraft habe; dies wird mit Beispielerzählungen belegt. Für viele seiner Erzählungen gab Z. zwar einen Beleg an, doch dieser besteht selten aus mehr als dem Namen des Verf.s. Zu seinen Quellen zählen u. a. Hermann J Bonnus, Wolfgang J Bütner, J Erasmus von Rotterdam, Job(us) J Fincel(ius), Christoph J Irenaeus, Johannes J Manlius und J Valerius Maximus. Z.s Slg wurde von späteren Autoren gern ausgeschrieben, sogar außerhalb des dt. Sprachraums, wobei meistens Z.s Pseudonym zitiert wurde17. Da die einzelnen Teile der Hist. Erquickstunden im Oktavformat erschienen, häufig nachgedruckt und offenbar einzeln vertrieben wurden, ist es wahrscheinlich, daß das Werk breitere Leserschichten erreichte und nicht nur Geistlichen zur Predigtvorbereitung diente. 1
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Zauber
Album Academiae Vitebergensis […] 2. Halle 1894, 294. ⫺ 2 Bolte, J.: Z. In: ADB 44 (1898) 679; Faber du Faur, C. von: German Baroque Literature. A Catalogue of the Collection in the Yale Univ. Library. New Haven 1958, 210; Lex. des gesamten Buchwesens 8, 61. Stg. 22012, 353. ⫺ 3 Benzing, J.: Die dt. Verleger des 16. und 17. Jh.s. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18 (1977) 1077⫺1322, hier 1306; Ergänzungen: Verz. der im dt. Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jh.s (VD 16; im Internet); Das Verz. der im dt. Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jh.s (VD 17; im Internet). ⫺ 4 [Z., J.:] Dritter Theil Hist. Erquickstunden […]. Lpz. 1618, B3v. ⫺ 5 Lex. des gesamten Buchwesens (wie not. 2); cf. jedoch Breslauer, B. H./Folter, R.: Bibliography. Its History and Development. N. Y. 1984, 32 sq., 49, 52, 58. ⫺ 6 Stadler, J. E./Heim, F. J. (edd.): Vollständiges Heiligen-Lex. 1. Augsburg 1858 (Nachdr. Hildesheim 1975), 748. ⫺ 7 Die Titelaufnahmen zu Z. im VD 17 (wie not. 3) sind oft fehlerhaft; deshalb sollte dort auf die Faksimiles zurückgegriffen werden; nicht ganz vollständige Zusammenstellung der Bandfolge und Aufl.n bei Brückner, 13⫺123, hier
100; cf. jedoch Egger, C.: Lexicon nominvm virorvm et mvliervm. Rom 21963, 68. ⫺ 8 [Z., J.:] Lhore de Recreation. Erquick-Stunden. Von Tausendt Fünffhundert Außerlesenen schönen lustigen Historien vnd Geschichten […]. Lpz. 1609 u. ö. ⫺ 9 [id.:] Ander Theil Hist. Erquickstunden […]. Lpz. 1612 u. ö. ⫺ 10 [id.:] Dritter Theil/ Hist. Erquickstunden […]. Lpz. 1613 u. ö. ⫺ 11 [id.:] Vierdter Theil Hist. Erquickstunden. Catechismus Historicus genandt […]. Lpz. s. a. u. ö.; [id.:] Vierdtes Theils Hist. Erquickstunden Ander Theil […]. Lpz. s. a. u. ö. ⫺ 12 [id.:] Der Fünffte und Letzte Theil Hist. Erquickstunden […]. Lpz. 1622 u. ö. ⫺ 13 [id.:] Schließliches Complementum Hist. Erquickstunden […]. [Lpz.] 1623. ⫺ 14 [id.:] Anh. des Ersten Theils Hist. Erquickstunden / darinnen begriffen / Eine […] Beschreibung aller Regenten […]. Lpz. 1613 u. ö. ⫺ 15 cf. Brückner, 51, 99 sq.; VD 17 (wie not. 3). ⫺ 16 [Z., J.:] Fünffter Theil Hist. Erquickstunden […]. Lpz. 1628, 1⫺64, hier 1. ⫺ 17 Vries, S. de: De Groote Schouw-Plaets Der Lust-en-leerrijcke Geschiedenissen. […] Vertaeld uyt de […] Schr. van de Heeren Belley, Harsdorfer, di Vbeda, Apolephtes en andere. Utrecht 1670.
Dorpat
Jürgen Beyer
Zauber 1. Allgemeines ⫺ 2. Magie, Religion und Wiss. ⫺ 3. Z. und Wunder ⫺ 4. Populäre Erzählgenres ⫺ 5. Außereurop. Kulturen
1 . All ge me in es. Z. ist wie J Magie ein Sammelbegriff für magische Handlungen und Mittel, mit denen Macht über Menschen, Tiere und die Natur, aber auch über Götter ausgeübt werden soll1. Vermutlich wurde Z. bereits in der Frühzeit menschlicher Kultur, z. B. in Form von Jagd- oder Fruchtbarkeitszauber, praktiziert (J Jagd, Jagen, Jäger, Kap. 2; J Magisches Weltbild). Funktional dient Z. zum einen als J Abwehrzauber bzw. apotropäische Magie dem Schutz vor Unheil und dem Unheil hervorrufenden J Schadenzauber, zum anderen dem Erreichen eigener Überlegenheit und der Einflußnahme auf Mensch (Todes-, Schaden-, Liebeszauber)2 und Natur (Wetterzauber [J Wetter]3, Heilzauber [J Heilen, Heiler, Heilmittel]4). 2 . Mag ie , Rel ig io n u nd Wi ss. Die inhaltliche Bestimmung von Z. und seine Abgrenzung zu Religion und Wiss. sind theoretisch schwierig. In der ethnol. und philol. Religionsforschung stehen sich vier Haupttheorien
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gegenüber: (1) Die Religion entwickelte sich aus der Magie; (2) die Religion entstand nach dem Fehlschlag der auf kausalem Denken beruhenden Magie als Versöhnung persönlich (gedachter) Mächte wie Götter, J Dämonen, Menschen oder J Zauberer5; (3) Religion als Kommunikation mit persönlichen Wesen und Magie als Umgang mit unpersönlichen Kräften gehen auf eine gemeinsame Wurzel zurück6; (4) Magie äußert sich als ,Entartung‘ der Religion als System, das rational erklärbar und personal bezogen ist. Dem steht die Auffassung entgegen, daß Z. eine ausgebildete lehrbare und lernbare Technik darstelle, mithin eine ,vorwiss. Wiss.‘ sei, Vorläuferin nicht der Religion, sondern der Naturwissenschaften. Grundlage aller Magie sei der Glaube an ihre strenge Gesetzmäßigkeit7. Magie war nie Allg.besitz, sondern immer Wissenseigentum elitärer Kundiger (Tempelpriester, Magier, Medizinmänner, Schamanen, Runenkenner, weise Frauen). Dadurch grenzte sich Magie von naiven, Wünsche mitteilenden Z.handlungen ab (z. B. Bild- und Ähnlichkeitszauber). Erst durch ,wiss.‘ Reflexion konnte sich solch naiver Wunschzauber zur magischen Kunst entwickeln. Z. ist profan, ein Ausdruck von Macht und der souveränen Beherrschung zauberischer Kräfte. Er ist gekennzeichnet durch das Fehlen der Ehrfurcht. Objekt der Magie ist niemals das Heilige: Der Magier steht über dem machthaltigen Objekt, der religiöse Mensch unter ihm. Die Magie gehört einer entwickelten Kulturstufe an. Ihren Höhepunkt erreichte sie in den antiken Hochkulturen, hier vor allem in der Z.literatur Mesopotamiens, Ägyptens und Griechenlands, aber auch Chinas und Indiens8. 3 . Z . u nd Wu nd er. Die vermutete Nähe des Z.s zur Religion beruht auf dem immer wieder zu beobachtenden Rückgriff auf hl. Objekte, Riten, Formeln oder Zeichen (z. B. J Kreuz, Kreuzzeichen). In christl. Kulturen begegnet häufig das Zitieren von kirchlichen Benediktionen9, trinitarischen Formeln wie „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (J Trinität), J Gebeten, des Anfangs des Johannesevangeliums, in islam. von Koranversen als wirksamem Z.wort. Ma-
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gie stellt in diesem Erklärungsmodell einen Dekadenzprozeß des Religiösen dar10. Nach J. J Grimm bilden in mythischen Epochen Z. und J Wunder eng zusammengehörige Begriffe11. Die in ihnen verborgenen Kräfte sind einerseits religiös, andererseits profan, rational bewertet und technisch ausgenutzt. Sowohl im Wunderbaren wie im Z. manifestieren sich unerklärliche, übernatürliche und geheimnisvolle Kräfte, die gleichermaßen segenspendend wie fluchbringend, ,heilig‘ wie ,magisch‘ sein können. Diese Kräfte werden in einer Vielzahl von Disziplinen zwischen Parapsychologie und Wirkungsästhetik diskutiert. Zu ihrer Bezeichnung bediente sich die frühmoderne Religionswissenschaft des Terminus ,mana‘ der Melanesier und Polynesier, einer übernatürlichen, jedoch nicht physischen Macht oder Wirkung (cf. J Präanimismus)12. Die christl.-abendländ. Magietheorie kontrastiert die Z.kraft mit der Mechanik der Wunder. Der Z. bildet sowohl in seiner Physis als auch in seiner Funktion das absolut negative Spiegelbild des Wunders. Wie diesem fehlt ihm die naturwiss. Erklärung: Wunder geschehen durch die Allmacht Gottes, die Zauberer hingegen wirken dank der Hilfe der Dämonen13. Diese Divergenz wirkt in der alt- und neutestamentlichen wie in der christl. hagiographischen Wundererzählung nach: Das Wunderbare ist ursprünglich an unpersönliche Kräfte und an den menschlichen Willen (,Willenszauber‘) gebunden, später erscheint es als Gottesgnade und zuletzt als Gottes Gericht und J Gnade in der menschlichen Seele. In den antiken wie in den christl. geprägten Kulturen des Abendlandes beruht die Z.theorie auf der Vorstellung von helfenden jenseitigen Wesen (Dämon, J Teufel). Der Zauberer formuliert seinen magischen Willen; der ihm dank einer Kommunikationsvereinbarung bzw. durch einen Pakt (cf. J Teufelspakt) verpflichtete dämonische Helfer führt die zauberische Tat aus14. Die Vorstellung von der medialen Struktur des Z.s, in klarster Form ausgeprägt beim Z. mit Bildern (J Bild, Bildzauber)15, prägte bereits die ältesten Z.texte im Zweistromland16 und begegnet auch in den antiken griech. Z.papyri (J Z.buch). Die Auseinandersetzung des Augustinus mit der neuplatonischen J Dämonologie und die sich daraus ergebende Z.theorie wurde dem Abendland bes.
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durch die Etymologiae des J Isidor von Sevilla vermittelt. Bereits die antiken Z.texte überliefern nahezu ausschließlich die Rituale des apotropäischen Z.s; Anleitungen zum Schadenzauber fehlen weitgehend. Weder die jüd. Religion der Königs- noch die der exilischen und nachexilischen Zeit hat eine umfassende Magie- und Z.theorie ausgebildet17. In der Auseinandersetzung des frühen Christentums mit den nichtchristl. Religionen wurden diese dämonisiert: Aberglaube (superstitio) geriet zum Verstoß gegen das erste Gebot des J Dekalogs, Z. wurde als Götzendienst gesehen18. Daraus konnte sich in letzter Konsequenz die Vorstellung von der Magie als einem Rechtsverstoß entwickeln19. Zwar differenzieren die älteren Rechtstexte, so die Carolina (Art. 109), juristisch: Nur dann, wenn der Z. dem Schaden dient, wird der Zauberer mit dem (Feuer-)Tod bestraft. Diese Rechtspraxis vertritt einen relativ liberalen Umgang der ma. Rechtsprechung mit der Zauberei. Dies änderte sich jedoch mit den J Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit. Noch 1749 sprach J. H. Zedlers Universal-Lexicon von der ,Zauberey‘ als einem der allerschändlichsten Laster20. Der Dualismus von der Widerständigkeit des Z.s und der Rechtmäßigkeit der Religion bedingte zum einen die ma. Auseinandersetzung mit häretischen Gruppen wie den Katharern (J Bogomilen, J Ketzer), zum anderen aber auch den J Juden. 4 . P op ul är e E rz äh lg en re s. Z. und das mit ihm verbundene Wunderbare bilden „Kern und Schwerpunkt der ,eigentlichen Märchen‘“21. Z. ist der eigentliche J Helfer (oder aber J Gegenspieler) des Helden und zugleich überwirklicher Teil des Märchens22. Da dieses sich nie allzu weit von der Glaubenswirklichkeit der jeweiligen Gesellschaft entfernt, vertritt der Z. wenn schon nicht die Realität des Magischen, so immerhin menschliche J Utopien und Wünsche, etwa nach absoluter Macht. Da das Märchen handlungsorientiert ist, müssen weder das Übernatürliche und das Wunder noch der Z. ausdrücklich theol., naturphil., dämonologisch oder magiologisch begründet sein23: Magische Handlungen erscheinen im Märchen als selbstverständlich und bedürfen keiner Erläuterung, ob es sich etwa um
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die J magische Flucht (AaTh/ATU 313, 314) oder um die Befragung des Spiegels in AaTh/ ATU 709: J Schneewittchen handelt. Das Märchen unterscheidet nicht zwischen ,schwarzer‘ (magia daemoniaca) und ,weißer‘ bzw. ,natürlicher‘ Magie (magia naturalis)24; dabei lassen sich Erinnerungen an die Prinzipien des J Similia similibus (J Sympathiezauber) oder des J Pars pro toto wiederfinden. Wie in der praktizierten Magie spielen etwa J Haare oder J Blut eine wichtige Rolle. In AaTh/ATU 780: J Singender Knochen verrät ein Knochen den Mörder und führt ihn seiner gerechten Strafe zu. Zu den populären Vorstellungen vom praktizierten Z. gehören neben dem Z.buch, dem J Z.stab und dem J Z.trank vor allem die gesprochene oder geschriebene Z.formel (J Z.spruch; cf. auch J Verwünschung)25. Bereits in der Z.literatur Mesopotamiens begegnet das magische Wort26, zum Repertoire des Hexers gehören die Schwundformel des Abracadabra ebenso wie das Hokuspokus oder lautmalende Sprüche (z. B. Spucken: „toi, toi, toi“). Früheste Belege sind die Merseburger Z.sprüche, zwei ahd. Z.formeln, die im 10. Jh. aufgezeichnet wurden27. Im MA. entwickelte sich eine reiche Segens-, Gebets- und Beschwörungsliteratur gegen Krankheiten, Diebe und andere Unbilden des Alltags (z. B. Wurm-, Blut- oder Diebssegen)28. Im Märchen begegnen Z.formeln wie ,Sesam, öffne dich!‘ (AaTh/ATU 676: cf. J Ali Baba und die vierzig Räuber), ,Tischleindeckdich‘ (AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich) oder ,Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See […]‘ (KHM 19, AaTh/ ATU 555: J Fischer und seine Frau). Im Märchen kann allerdings im Gegensatz zur Sage jeder Z. gelöst werden29. Während die Hexe der Sage ihre zauberische Macht aus dem Teufelspakt oder der Teufelsbuhlschaft bezieht, setzt das Märchen das „Wunderbare, das die Hexe umgibt“30, als selbstverständlich voraus. Die Sage beruht auf populärem Glauben, auch wenn dieser nur noch in narrativer Form tradiert wird, so etwa im 19. Jh. die längst unglaubwürdig gewordenen Ber.e vom Hexensabbat (J Sabbat) oder vom Flug zum Blocksberg (J Luftreisen); demgegenüber strukturiert sich die Phantastik des Wunderbaren im Märchen als dessen wesensimmanenter
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Teil, ungeachtet der Zeit, in der es erzählt wird. Narratologisch bleibt im Märchen die Z.praktik unausgeführt: Schadender, abwehrender oder helfender Z. als Handlungsschema dient der Lösung einer Aufgabe und nicht einer poetologischen oder rhetorischen Darstellung. Z. ist in der Erzählform des Märchens präfiguriert und damit in den Kommunikationsverlauf zwischen Erzähler und Hörer, Buch und Leser einbezogen, da er bis ins 18. Jh. (und vereinzelt darüber hinaus) selbstverständlicher Teil der geglaubten Alltagswirklichkeit war. Andere Erzählgenres referieren hingegen ausführlich das jeweilige Wissen um Magie und Z. Stellvertretend für die antiken Mythologien kann die Gestalt der Zauberin J Circe stehen31, für das A. T. J Moses, dessen Z.wettstreit mit den Priestern des Pharao ihn in der Überlieferung der Nachwelt u. a. zum Erfinder des Z.stabs (Ex. 7,8⫺12) werden ließ32. Auch in der christl. Heiligenlegende finden sich Exorzisten und Zauberer, so vor allem der hl. J Cyprianus, der als Verfasser eines J Traumbuchs und von Beschwörungstexten eine wichtige Rolle im populären Z.glauben einnahm33. Sagen haben die Erinnerung an operative Magie in bes. Maße gespeichert. Magie stellte bis zur J Aufklärung und bis zum Ende der Hexenprozesse im späten 18. Jh. einen integrativen Teil sowohl der Lebenswirklichkeit als auch der theol., juristischen und naturwiss. Argumentation dar34. Die Vielschichtigkeit dieses Gesamtkonzepts in bezug auf die Bestimmung des Z.s zeigt die Behandlung der Erzählung vom J Rattenfänger von Hameln (ATU 570*) bei Athanasius J Kircher: Durch die Macht der Pfeifentöne, die der Pfeifer erzeugen konnte, wurden die Kinder entführt. Obwohl Kircher diesen Fall im Zusammenhang mit anderen Beispielen für die Wirkung der J Musik auf den Menschen diskutierte, ergab sich für ihn die klare Zuweisung zu dämonischem Z. aus einer ethischen Betrachtungsweise: es könne nicht göttlichen Willens sein oder natürliche Gründe haben, wenn Flötentöne unschuldige und wehrlose Kinder in ihr Verderben schickten35.
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Bes. die Exempel- und die Traktatliteratur erweisen sich als ergiebige Quelle für einschlägige Erzählungen. Die J Teufelliteratur, lat.36 und volkssprachliche Magiologien und Dämonologien (J. J Praetorius), den Aberglauben bekämpfende Werke37, juristische Schr. wie die von Jean J Bodin38 oder Martin J Delrio39, die J Magica-Lit. und das Predigtschrifttum verbreiteten das Wissen um die Zauberei in theoretisch-abstrakter wie narrativer Form in unterschiedlichen sozialen und intellektuellen Kreisen. Bes. Exempla erlauben es, den hist. Z.glauben in all seinen Differenzierungen zu rekonstruieren. Ihre rhetorische Funktion förderte in ebenso einfacher wie verständlicher Art die moralische Polarisierung: Sie setzt das Gute dem Bösen gegenüber (J Gut und böse), die Jungfrau Maria und die Heiligen dem Teufel, die Furcht vor der ewigen Verdammnis der Hoffnung auf eine Rettung am Ende der Tage40. In dem durch die Predigt geschaffenen Kommunikationsraum wurden möglicherweise auch die im Alltag angewandten Z.handlungen durch kirchlich-religiöse Rituale beeinflußt oder gar geformt. Den Mechanismus zwischen der Genese und der Verbreitung von Z.wissen und Z.mitteln durch Vertreter der Kirche und durch Mönche zeigt eindrücklich die Empfehlung des Hieronymus von Weilheim anläßlich der Grundsteinlegung des Klosters Erding bei München im Jahre 1694, mit der er auf die zahlreichen bei den Kapuzinern verfügbaren ,Z.mittel‘ hinwies, mit denen „vil und große Ubel verjagt werden“ könnten41. Predigten und das durch sie vermittelte, sowohl unterhaltende wie belehrende und erklärende Erzählmaterial wirkten im 17. und noch im 18. Jh. weniger aufklärerisch als informierend; sie multiplizierten geradezu das Wissen um Teufel, Hexen und Z. ,Hexenfurcht‘ wurde „lanciert, ja dem Kirchenvolk regelrecht eingebleut, die Folgen waren Verdächtigungen und Denunziation, die zu neuen Prozessen führten“42. Die Autorität der Prediger tat das Ihrige, um die Glaubwürdigkeit der Ausführungen zu unterstreichen. Dank ihrer Ausbildung dem gemeinen Kirchenvolk intellektuell überlegen, sahen sie etwa in Wetterkapriolen durchaus die natürlichen Ursachen, vertraten nach außen hin allerdings weiterhin die An-
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sicht, daß diese durch das Wirken von Hexen hervorgerufen seien (cf. auch J Wind)43. 5 . Auß er eu ro p. Ku lt ur en. Europ. Vorstellungen vom Z., wie sie seit dem europ. MA. geläufig sind, lassen sich keineswegs immer auf antike und schon gar nicht auf außereurop. Kulturen übertragen. So gilt Z. in Afrika zwar als eine strafwürdig-amoralische Handlung, die beim Eintritt ins Jenseits geahndet und bestraft wird, doch sozial und vor allem inhaltlich unterscheidet sich der Z. in Afrika wesentlich von der Magie des Westens. Die zentralafrik. Azande etwa trennen (guten) Z. von (böser) Hexerei: Z. sei eine angeborene Fähigkeit; sie werde nicht durch Sprüche, Riten und Medizinen ausgeübt. Bei Hexerei handele es sich hingegen um einen seelischen Vorgang. Zur Bekämpfung der Hexerei befragten die Azande Orakel, nutzten die Heilkunst der Z.kundigen und holten Rat bei Geheimbünden44. Derartige Geheimbünde bilden vor allem in Westafrika den beherrschenden Faktor im Leben eines Stammes und zugleich den Ort des Z.s45. Zu ihnen zählen etwa die in Sierra Leone verbreiteten Leopardenbünde. Häufig gerät der Z., maßgeblicher Teil der Identität solcher Bünde, zum Verbrechen46. Bis heute ist der Z.glaube in vielen afrik. Ländern ein wichtiger und prägender Teil der Alltagsstrategien47, und Märkte haben ein großes Angebot magischer Mittel im Angebot. Populäre europ. Vorstellungen identifizieren afrik. Z. nach wie vor häufig mit dem westind. Voodoo, eine durch afrik. Sklaven aus Dahomey geprägte Mischreligion48. Märchen im südl. Schwarzafrika sind nachhaltig durch die J Anthropomorphisierung der Natur bestimmt: Tiere sprechen nicht nur miteinander, sie leben auch wie die Menschen in Dörfern und betreiben gemeinsam Landwirtschaft49. In einem Kaffern-Märchen tötet der ,Z.zahn‘ des Kannibalen Dimo stellvertretend für diesen die Mädchen, die in den Wald gekommen sind50. Viele Situationen afrik. Märchen entstehen durch die Dynamik der belebten Natur (J Animismus), durch die fehlenden Grenzen zwischen dem Menschen auf der einen sowie Tier, Natur und den Geistern der Ahnenwelt auf der anderen Seite. Damit erscheint im Märchen der Schwarzafrikaner Z.
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als naturimmanente Selbstverständlichkeit, als Ausdruck des harmonischen Nebeneinanders von Parallel- und Gegenwelten ⫺ eine Feststellung, die auch für zahlreiche andere außereurop. Ethnien gilt. Hierdurch erweist sich die ethnol. Klassifikation des Magischen als christl.-europ. Konstrukt. 1 Daxelmüller, C.: Z.praktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993 u. ö.; Angelo, S. (ed.): The Damned Art. Essays in the Literature of Witchcraft. L. 1977; Bausinger, H. (ed.): Zauberei und Frömmigkeit. Tübingen 1966; Byloff, F.: Das Verbrechen der Zauberei. Graz 1902; Castan, Y.: Magie et sorcellerie a` l’e´poque moderne. P. 1979; Favret-Saada, J.: Les Mots, la mort, les sorts. La sorcellerie dans le Bocage. P. 1977; Garinet, J.: Histoire de la magie en France […]. P. 1818; Harmening, D.: Zauberei im Abendland. Würzburg 1991; Thorndike, L.: A History of Magic and Experimental Science 1⫺8. N. Y./ L. 1923⫺58. ⫺ 2 Birchler, U. B.: Der Liebeszauber (Philtrum) und sein Zusammenhang mit der Liebeskrankheit in der Medizin. Zürich 1975; Byloff, F.: Nestelknüpfen und -lösen. In: Archiv für Geschichte der Medizin 19 (1927) 203⫺208; Gifford, E. S.: Liebeszauber. Stg. 1964; Daxelmüller, C.: Liebeszauber. In: Stolle, W. (ed.): Liebe, Lust & Frust. Darmstadt 2008, 137⫺145. ⫺ 3 Blöcker, M.: Wetterzauber. Zu einem Glaubenskomplex des frühen MA.s. In: Francia 9 (1981) 117⫺131. ⫺ 4 Ganser, O.: Sympathie und Z.medizin. Lpz. 1921. ⫺ 5 Frazer, J. G.: The Golden Bough. A Study in Magic and Religion 1⫺ 12. L. 1906⫺15 (u. ö.); cf. Peterson, R.: Sir J. G. Frazer’s Theorie vom Wesen und Ursprung der Magie. Diss. Bonn 1929. ⫺ 6 Marett, R. R.: The Threshold of Religion. L. 1909. ⫺ 7 Daxelmüller (wie not. 1) pass. ⫺ 8 Thomsen, M.-L.: Zauberer und Zauberinnen in der Antike. In: Hexen. Mythos und Wirklichkeit. Speyer/Mü. 2009, 37⫺43; ead.: Z.diagnose und Schwarze Magie in Mesopotamien. Kop. 1987. ⫺ 9 Franz, A.: Die kirchlichen Benediktionen im MA. 1⫺2. Fbg 1909 (Nachdr. Graz 1960). ⫺ 10 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen der Religion. Stg. 1961, 26⫺28. ⫺ 11 Grimm, Mythologie 2, 861. ⫺ 12 Saintyves, P.: La Force magique. Du mana des primitifs au dynamisme scientifique. P. 1914; Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Hbg 1957; Thurnwald, R.: Neue Forschungen zum Manabegriff. In: ARw. 27 (1929) 93⫺112. ⫺ 13 Pizzurni, G.: Enchiridion exorcisticum. Lugdunum 1668, 12. ⫺ 14 Harmening, D.: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Unters.en zur kirchlich-theol. Aberglaubenslit. des MA.s. B. 1979. ⫺ 15 Brückner, W.: Überlegungen zur Magietheorie. Vom Z. mit Bildern. In: Petzoldt, L. (ed.): Magie und Religion. Darmstadt 1978, 404⫺ 419. ⫺ 16 Daxelmüller, C./Thomsen, M.-L.: Bildzauber im alten Mesopotamien. In: Anthropos 77 (1982) 27⫺64; Thomsen 1987 (wie not. 8). ⫺ 17 cf. z. B. Blau, L.: Das altjüd. Z.wesen. Bud. 1898 (Nachdr.
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Graz 1974); Ringgren, H.: Israelit. Religion. Stg. 1963, 89⫺91; Trachtenberg, J.: Jewish Magic and Superstition. N. Y. 1939. ⫺ 18 cf. Harmening (wie not. 14) pass. ⫺ 19 cf. u. a. Merzbacher, F.: Die Hexenprozesse in Franken. Mü. 1957 (21970). ⫺ 20 [Zedler, J. H.:] Grosses Universal-Lexicon aller Wiss.en und Künste 61. Lpz. 1749, 62. ⫺ 21 Lüthi, Märchen, 3. ⫺ 22 cf. Propp, V.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975, 47⫺52 (Funktion XIV). ⫺ 23 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 63⫺81. ⫺ 24 cf. Daxelmüller (wie not. 1); Heinekamp, A./Mettler, D. (edd.): Magia naturalis und die Entstehung der modernen Naturwiss.en. Wiesbaden 1978; Peuckert, W.-E.: Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der Magia naturalis im 16. bis 18. Jh. B. 1967; id.: Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie. B. 2 1956 (31976). ⫺ 25 Hampp, I.: Beschwörung, Segen, Gebet. Unters.en zum Z.spruch aus dem Bereich der Volksheilkunde. Stg. 1961. ⫺ 26 Meier, G.: Die assyr. Beschwörungsslg Maqluˆ. B. 1937. ⫺ 27 Düwel, K.: Der Erste Merseburger Z.spruch ⫺ ein Mittel zur Geburtshilfe? In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 401⫺421. ⫺ 28 z. B. Ebermann, O.: Blut- und Wundsegen […]. B. 1903; Grambo, R.: Norske trollformler og magiske ritualer. Oslo/Bergen/Tromsø 1979; Ohrt, F.: Danmarks Trylleformler. Kop./Kristiania 1917; Wanderer, K.-P.: Gedr. Aberglaube. Studien zur volkstümlichen Beschwörungslit. Diss. Ffm. 1976. ⫺ 29 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit,15. ⫺ 30 ibid., 18. ⫺ 31 Thomsen 2009 (wie not. 8). ⫺ 32 cf. Gaster, M.: The Sword of Moses. In: id.: Studies and Texts in Folklore, Magic, Medieval Romance […] 1. L. 1928, 288⫺337. ⫺ 33 Spamer, A.: Romanusbüchlein. ed. J. Nickel. B. 1958. ⫺ 34 cf. Daxelmüller, C.: Bibliogr. barocker Diss.en zu Aberglaube und Brauch 1. In: Jb. für Vk. N. F. 3 (1980) 194⫺238. ⫺ 35 id.: Quod non Hamelensi modo an fabula an historia. Barocke Traktatlit. zur Rattenfänger-Sage. In: Humburg, N. (ed.): Geschichten und Geschichte. Hildesheim 1985, 103⫺111. ⫺ 36 z. B. Della Porta, G.: Amphitheatrum magiae universae. Nürnberg 1714; id.: Magiae natvralis libri viginti. Ffm. 1591; Prierias, S.: De strigimagarum daemonumque mirandis. Rom 1520. ⫺ 37 Brunold-Bigler, U.: Teufelsmacht und Hexenwerk. Lehrmeinungen und Exempel in der Magiologia des Bartholomäus Anhorn (1616⫺1700). Chur 2003. ⫺ 38 Bodin, J.: De magorvm daemonomania. Vom Außgelaßnen Wütigen Teuffelsheer […]. Straßburg 1591. ⫺ 39 cf. Fischer, E.: Die „Disquisitionum magicarum libri sex“ von Martin Delrio als gegenreformator. Exempel-Qu. Diss. Ffm. 1975. ⫺ 40 Bremond, C./Le Goff, J./Schmitt, J.-C.: L’„Exemplum“. Turnhout 1982, 103. ⫺ 41 cf. Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 206. ⫺ 42 ibid., 214. ⫺ 43 ibid. ⫺ 44 Evans-Pritchard, E. E.: Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande. Ox. 1937, 39; cf. auch Debrunner, H.: Witchcraft in Ghana. Kumasi 1959. ⫺ 45 Dammann, E.: Die Religionen Afrikas.
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Stg. 1963, 71. ⫺ 46 ibid., 224. ⫺ 47 cf. u. a. Sagbo, S. G.: Tradition und Entwicklungsprozesse in Benin. Diss. Göttingen 2011. ⫺ 48 Müller, K. E./Ritz-Müller, U.: Soul of Africa. Magie eines Kontinents. Köln 1999. ⫺ 49 cf. Becker, F.: Afrik. Märchen. Ffm. 1973, 31⫺38. ⫺ 50 Benzel, U.: Märchen, Sagen und Fabeln der Hottentotten und Kaffern. Ffm. 1975, 65.
Würzburg
Christoph Daxelmüller
Zauberbuch 1. Allgemeines ⫺ 2. Antike ⫺ 3. MA. und Neuzeit ⫺ 4. Sage und Märchen
1 . All ge me in es. Z.er, auch Grimoires (aus frz. ,grammaire‘) genannt, sind Anleitungsund Ratgeberschriften für magische Akte (J Magie), die ihrerseits aus Handlungssequenzen zur Beschwörung okkulter Mächte bestehen. Z.er enthalten Formeln und Sprüche zum Herbeirufen von J Dämonen, die im Auftrag von J Zauberern, Magiern oder J Hexen Anweisungen ausführen, zumeist einen J Abwehr- oder J Schadenzauber. Ihre weiteste Verbreitung hatten Z.er in Europa zwischen dem Spätmittelalter und dem 18. Jh. Sie wurden in der Neuzeit durch die Hexenverfolgung häufig mit J Teufelspakten oder J Satanismus in Verbindung gebracht1. Nicht selten geht nach populären Vorstellungen vom Z. selbst eine magische Wirkung aus. Neben Hexen und Zauberern wähnte man u. a. J Alchemisten, Bader (J Barbier), J Pfarrer, J Studenten und J Zigeuner im Besitz von Z.ern. Z.er gelten als gefährlich, wenn sie in falsche Hände geraten (J Zauberlehrling), da die J Geister, die aus ihnen hervorkommen, nicht mehr gebändigt werden können. 2 . Ant ik e. Die Vorläufer ma. und neuzeitlicher Z.er liegen in babylon. Inschriften, griech. und röm. Fluchtafeln (defixiones)2 sowie ägypt. und griech. Papyri3; lat. Hss. des MA.s enthielten Rezepturen für Liebeszauber, Mittel zum Beeinflussen von J Träumen, Anweisungen zum Befragen des J Orakels oder zum Herstellen von J Amuletten. Alle alten Hochkulturen verfügten über Anleitungen für ritualmagische Akte, die schwerlich von der jeweiligen Religion zu trennen sind. Es handelt sich auch nicht um Z.er im neuzeitlichen Sinn, sondern um J Segenssprü-
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che und Formeln zur Herstellung von J Zaubertränken und Beschwörungen von Dämonen und Totengeistern. Sie wurden im Zusammenhang der Begräbnisriten auf unterschiedliche Träger (Ton, Papyrus, Sargdeckel, Wand) aufgebracht und dienten der Begleitung der Totenseele ins J Jenseits (J Unterwelt). Der ägyptische Totenkult, der mit einer Vielzahl magischer Formeln einherging, bietet eine reichhaltige Sammlung an Zauber- und Segenssprüchen4. 3 . M A. un d Neu ze it. Von den antiken Zauberanleitungen unterscheidet sich die ma. Magie durch die Trennung von göttlicher und teuflischer Magie. Bis ins frühe 16. Jh. hinein vermischte sich die scholastische Theologie des frühen 13. Jh.s mit Vorstellungen zur Heilkunde, mit moralischen Grundsätzen einer christl. Lebensführung und mit Lehren zur Beschwörung und Bändigung von Dämonen. Die mhd. Bezeichnung Zouberbuecher ist bereits aus dem 14. Jh. belegt5. Ein Hauptbegriff der Z.er jener Epoche ist magia naturalis ⫺ als Bezeichnung für eine Magie, die sich mit dem Einsatz von Naturkräften auf der Basis neuplatonischer Mystik und eines christl. Weltbilds auseinandersetzt6 und einem engen Kreis von Gelehrten vorbehalten war. Als einflußreich für die magia naturalis erwies sich die Alchemie, die vor allem in der Heilkunde des Paracelsus ihren Niederschlag fand. Von der magia naturalis sind die teuflische und die rituelle Magie zu unterscheiden, die sich auch in populärer Anleitungsliteratur finden7. Die europ. Z.er der frühen Neuzeit sind u. a. von der arab. Astralmagie beeinflußt, die im MA. auf der Iber. Halbinsel aufkam. Um 1250 wurde der Picatrix, ein bedeutendes Hb. zur Alchemie- und Magielehre, aus dem Arabischen ins Spanische übersetzt und später ins Lateinische übertragen8. Es stand unter neuplatonischen, gnostischen und jüd. Einflüssen (J Gnosis) und war einer okkulten Naturlehre verpflichtet, die Mensch und Kosmos als Einheit sah. Nach dieser kann die Macht, die von den Gestirnen ausgeht, mit Hilfe angerufener Geister und Engel in Talismane und Bilder gelenkt werden. Im 13. Jh. kamen auch lat. Kompilationen kabbalistischer Mystik wie das Buch Raziel (J Kabbala) auf.
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Die neuzeitlichen Z.er haben vielfältige Erscheinungsformen, da der Begriff Magie auf unterschiedliche Handlungen angewandt wurde. Der wichtigste Unterschied zu den Z.ern des MA.s liegt in ihrem Gebrauch als Hausbuch, oft in Kombination mit Rezepturen für den Haushalt9. Im Verlauf der frühen Neuzeit wurden Z.er vom Lateinischen in die Volkssprachen übertragen. Die bekanntesten Z.er der Neuzeit sind Clavicula Salomonis, das Romanusbüchlein, J Fausts Höllenzwang, die Ägypt. Geheimnisse des J Albertus Magnus sowie das 6. und 7. Buch Mosis; sie alle datieren aus dem 16.⫺ 18. Jh. Z.er sind in der Lit. vor allem durch das Volksbuch der Historia von D. Johann Fausten (Erstdruck Ffm. 1587) und dessen nachfolgende Bearb.en bis hin zu J Goethe bekannt geworden10. Es gibt Z.er für das Beschwören von Dämonen und J Teufeln, zur schwarzen Kunst und zur Hexerei, z. B. zum J Wetterzauber11. Ein seit dem 15. Jh. in Europa verbreitetes Z. diesen Typs ist die Clavicula Salomonis, die Anweisungen zum Beschwören der Mächte der Finsternis enthält12. Die früheste (griech.) Fassung stammt aus dem 15. Jh.; sie wurde über Italien in unzähligen Var.n vor allem in Frankreich, Spanien, England und im dt. Sprachraum verbreitet. Da es keinen nachweislichen Ursprungstext gibt, firmieren unter diesem Titel viele verschiedene Zusammenstellungen von Rezepturen in Hand- und Druckschriften13. Andere Z.er erfassen Rezepturen der seit dem 12. Jh. in Europa aufkommenden Alchemie, die aus dem arab.-griech. Kontaktraum vermittelt wurde. Sie beschäftigt sich vornehmlich mit der Herstellung des J Steins der Weisen, der Gewinnung von Gold und anderen magisch-chemischen Geheimnissen14. Die Heilung von J Krankheiten mit Hilfe magischer Lit. bildet einen weiteren Komplex von Z.ern vornehmlich der frühen Neuzeit15. Manche Z.er befassen sich mit der Vorhersage des J Schicksals und deren magischen Techniken; hierzu zählen Werke zur Geomantie und Chiromantie (J Divination) sowie sog. kabbalistische Tabellen zur Zukunftsdeutung16. Z.er können Anleitungen zum Finden von J Schätzen, auch unter Verwendung der Wünschelrute, enthalten17. Andere bringen Slgen von
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Zauberbuch
Rezepturen für vielerlei in Haus und Hof gebräuchliche magische Praktiken, etwa zum Haltbarmachen von Lebensmitteln, zum J Festbannen von Feinden oder zum Panschen von Wein18. Zahlreiche Z.er enthalten Anleitungen zu Kunststücken, Billard, Karten- und Würfelspiel sowie Taschenspielertricks19. Die im europ. Sprachraum vermutlich am weitesten verbreiteten Z.er des 18. und 19. Jh.s sind die fälschlicherweise Albertus Magnus zugeschriebenen Werke Le Grand Albert und Le Petit Albert20. Beide Werke enthalten Kompilate älterer, auch lat. Textstücke, etwa aus De Secretus mulierum libellus (1615) des Albertus Magnus oder aus De Occulta Philosophia (1510) des Agrippa von Nettesheim; einzelne Rezepturen beziehen sich auf die Heilkunde des J Paracelsus. Sie liegen seit dem ersten Jahrzehnt des 18. Jh.s gedr. vor21, wurden vielfach nachgedruckt und im 19. Jh. in Massenauflagen bes. im frz. Sprachraum verbreitet. Die weite Verbreitung erklärt sich aus dem Hausbuchcharakter, den das zusammengeführte Gesamtwerk im 19. Jh. angenommen hat. Mit seinen Rezepturen ⫺ u. a. für Liebeszauber, zur Viehheilung oder zum Abbeten von Krankheiten ⫺ fand es hauptsächlich in ländlichen Haushalten Anwendung. Das 6. und 7. Buch Mosis gibt zwar ein bibl. Alter vor, wird erstmals aber 1797 in einem Verkaufsanzeiger genannt. Ab 1849 durch den Stuttgarter Scheible-Verlag vertrieben, trug es mit dazu bei, dem Populärokkultismus des 20./21. Jh.s den Weg zu ebnen. Es knüpft an die bereits im MA. verbreitete Vorstellung an, daß J Moses ein Z. verfaßt hatte; u. a. soll er die Fähigkeit besessen haben, Menschen J unsichtbar machen zu können. Tatsächlich handelt es sich um ein Konvolut unterschiedlicher Texte zur Geisterbeschwörung, das seinen Siegeszug den Okkulta-Verlagen des 19. und 20. Jh.s verdankt. Für das 20. Jh. erwähnenswert ist der für die Initiation und Ritualhandlungen im WiccaKult kanonische Text des Wicca-Gründers G. Gardner, The Book of Shadows (1953)22. Dieses Z. ist nicht in die Tradition der Hausbücher einzuordnen, sondern findet als magisch-religiöse ,Hexen-Liturgie‘ eines neuheidnischen Ordens Gebrauch. Bekannt wurde das Buch bes. durch die Fernsehserie Charmed, die
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1998⫺2006 im US-amerik. Fernsehen ausgestrahlt wurde23. 4 . S ag e u nd Mä rc he n. In populären Erzählungen des 18./19. Jh.s haben Z.er unterschiedliche Funktionen. In Märchen werden sie eher selten genannt. Ein Z. kann etwa von einem Geist als Belohnung für dessen Befreiung verschenkt werden (AaTh/ATU 331: J Geist im Glas); eine zentrale Rolle spielen die Zaubersprüche eines explizit verbotenen Z.s in AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler. In Sagen enthalten Z.er Geheimnisse und verbotene Formeln zur Ausübung der schwarzen Kunst, die der Teufel in sie hineingebannt hat24. Aus Z.ern treten, wenn man sie falsch benutzt, Geister, greuliche Erscheinungen und unheimliche schwarze Gäste, Eulen und Raben hervor25. Manchmal handelt es um kleine Männchen, die Riesengestalt annehmen26; durch Rückwärtslesen kann man die Geister wieder in das Buch bannen27. Z.er finden sich im Keller von Spukhäusern oder unter dem Kopfkissen des Zauberers28. Sie können an die Wand gekettet sein, in Truhen verborgen oder an ungewöhnlichen oder geheimen Orten, etwa einem Ziegenstall, aufbewahrt werden29. Wer ein Z. besitzt und es zu lesen versteht, kann sich unsichtbar machen, sich in einen Baum verwandeln oder den Stein der Weisen herstellen30. In jedem Fall kann man mit Hilfe von Z.ern Erscheinungen herbeirufen, die aber nicht unbedingt dienstbar sind. In der Sage sind Z.er gefährliche Schriften, die verbotenes magisches Wissen enthalten31. Manchmal kann der Pfarrer die ungebetenen Geister vertreiben, z. B. durch einen Sack geweihter Erbsen, die er auf dem Boden ausschüttet32. 1 Daxelmüller, C.: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993, 248⫺285; Bachter, S.: Anleitung zum Aberglauben. Z.er und die Verbreitung magischen ,Wissens‘ seit dem 18. Jh. Hbg 2005; Wanderer, K.-P.: Gedruckter Aberglaube. Studien zur volkstümlichen Aberglaubenslit. Ffm. 1976. ⫺ 2 Brodersen, K./Kropp, A. (edd.): Fluchtafeln. Neue Funde und neue Deutungen zum antiken Schadenszauber. Ffm. 2004; Kropp, A.: Magische Sprachverwendung in vulgärlat. Fluchtafeln (Defixiones). Tübingen 2008. ⫺ 3 Preisendanz, K.: Papyri Graecae magicae 1⫺2. ed. A. Henrichs. Tübingen 2 1973/74; Hopfner, T.: Griech.-Ägypt. Offenbarungszauber 1. Amst. 1974; Betz, H. D.: Magic and Mystery in the Greek Magical Papyri. In: Faraone,
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Zauberer, Zauberin
C. A./Obbink, D. (edd.): Magika Hiera. Ancient Greek Magic and Religion. N. Y./Ox. 1991, 244⫺ 259; Graf, F.: Gottesnähe und Schadenzauber: Die Magie in der griech.-röm. Antike. Mü. 1996. ⫺ 4 Lehmann, A.: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart. Stg. 1898; Harmening, D.: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Unters.en zur kirchlich-theol. Aberglaubenslit. des MA.s. B. 1979; Luck, G.: Magie und andere Geheimlehren in der Antike. Stg. 1990; Harmening, D.: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Würzburg 1991; Ebeling, F.: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus von der Antike bis zur Neuzeit. Mü. 2005. ⫺ 5 DWb. 31 (1984) 331. ⫺ 6 Berns, J. J.: Naturmagie als Medienwiss. Della Porta, Harsdörffer, Knorr von Rosenroth. In: Morgen-Glantz 18 (2008) 13⫺28; id.: Medienwiss. Implikationen der Magia naturalis. In: Gedächtnisparagone ⫺ Intermediale Konstellationen. ed. S. Heiser/C. Holm. Göttingen 2010, 153⫺167. ⫺ 7 Bacon, R.: Von den geheimen Wirkungen der Kunst und Natur und Richtigkeit der Magie. Hof 1776. ⫺ 8 Picatrix. Das Ziel des Weisen von PseudoMagˇrı¯tı¯. Übers. H. Ritter. L. 1962; Picatrix. 3: The Latin Version of the Gha¯yat al-H ø akı¯m. ed. D. Pingree. L. 1986. ⫺ 9 Daxelmüller (wie not. 1) 268. ⫺ 10 Claviculæ Salomonis & Theosophia Pneumatica, Das ist, Die warhafftige Erkänntnüß Gottes, und seiner sichtigen und unsichtigen Geschöpffen […]. Wesel 1686; Spamer, A.: Romanusbüchlein. Hist.philol. Kommentar zu einem dt. Z. ed. J. Nickel. B. 1958; Der Schlüssel von dem Zwange der Höllen oder die Beschwörungen und Prozesse des Doctor Johannis Faustae […]. Hbg 1609; Albertus Magnus bewährte und approbirte sympathetische und natürliche egypt. Geheimnisse für Menschen und Vieh […]. Reutlingen 1845; Peuckert, W.-E.: Die egypt. Geheimnisse. In: Arv 10 (1954) 40⫺96; id: Das sechste und siebente Buch Mosis. In: Zs. für dt. Philologie 76 (1957) 163⫺187. ⫺ 11 Hexenbüchlein, das ist ware entdeckung und erklärung […] fürnämlicher artickel der Zauberey. s. l. [ca 1590]. ⫺ 12 Davies, O.: Grimoires. A History of Magic Book. Ox. 2009, 15, 55. ⫺ 13 Birkhan, H.: Magie im MA. Mü. 2010, 78 sq.; Werner, T.: Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im MA. Göttingen 2007, 48 sq. ⫺ 14 Kopp, H.: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Heidelberg 1886 (Nachdr. Hildesheim 1992); Probier-Stein der güldenen Natur. s. l. 1669. Valentius, B.: Dyas chymica tripartita. Ffm. 1625. ⫺ 15 Medicina Magico-Magnetica […]. Tractätlein, wie man auf sonderbare verborgne natürliche Art und Weise, […] und andre magische Mittel, vielerley schwere und gefährliche Kranckheiten verhüten und vertreiben kann. s. l. 1688. ⫺ 16 Apologia Geomantiae. s. l. 1702; Cabbalistische Tabellen. Amst. 1744. ⫺ 17 D. Heinrich Zipffels […] Civil- und Criminal-Händel. 5: Von Schatzgraben, Glücks-Buden, Spielen, und Spiritu Familiari […]. Ffm. 1721; Knoblauch, H.: Vom Wünschelrutengehen zur Ra-
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diästhesie. Die Modernisierung der Magie. In: Jb. für Vk. N. F. 19 (1996) 221⫺240; Gedanken über das Schlagen der Wünschelruthe auf die in der Erde verborgenen Erze und Metalle. Eisenach 1757; Das entlarvte Idolum der Wünschel-Ruthe. Dresden 1704. ⫺ 18 Die bekannten Hundert acht unddreißig neu entdeckten und vollkommen bewährten, aniezo aber auch zwey hundert vermehrte Geheimnisse. Lpz. 1737; Joh. Wallbergs Slg natürlicher Zauberkünste. Stg. 1754. ⫺ 19 Natürliches Zauber-Buch oder Neueröffneter Spilplatz rarer Künste. Nürnberg 1766; Harsdörffer, G. P./Schwenter, D.: Deliciae physico-mathematicae oder Mathematische und phil. Erquickstunden [1⫺3]. (Nürnberg 1636) Neudruck ed. J. J. Berns. Ffm. 1991. ⫺ 20 Seignolle, C.: Le grand et le petit Albert. Les secrets de la magie naturelle et cabalistique. P. 2008. ⫺ 21 Les admirables Secrets d’Albert le Grand, contenant plusieurs traitez sur la conception des femmes. Köln 1707; Le solide Tresor des merveilleux secrets de la magie naturelle et cabalistique de petit Albert. Genf 1704. ⫺ 22 Hutton, R.: The Triumph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft. Ox. 2001, 226⫺248. ⫺ 23 Genge, N. E.: The Book of Shadows. The Unofficial „Charmed“ Companion. Three Rivers, Mich. 2000; Shojaei Kawan, C.: Hexen, Engel, Heilige. Über das Wunderbare und das Dämonische im Unterhaltungsfilm. In: Schmitt, C. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster u. a. 2008, 139⫺156, hier 145. ⫺ 24 Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 1. Glogau 1868, 50⫺52. ⫺ 25 Grässe, J. G. T.: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen 2. Dresden 21874, 351 sq.; Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, 76⫺ 77. ⫺ 26 Gredt, N.: Sagenschatz des Luxemburger Landes. Neudruck Esch-Alzette 1963, 409. ⫺ 27 Grässe (wie not. 24) 145⫺151. ⫺ 28 Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen l. Norden/ Lpz. 1891, 381 sq. ⫺ 29 Baader, B.: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Karlsruhe 1851, 266. ⫺ 30 Gredt (wie not. 26) 410. ⫺ 31 Harsdörffer, G. P.: Der grosse Schau-Platz Lustund Lehrreicher Geschichte 2. Ffm. 1664, 297. ⫺ 32 Gredt (wie not. 26).
Augsburg
Sabine Doering-Manteuffel
Zauberer, Zauberin, Nomen agentis zu Zauber (Z.), zaubern. Z.n ist die Performanz der J Magie im magischen Ritual1 und umfaßt z. B. Wahrsagerei, Beschwörung mit Hilfe von Z.formeln (J Z.spruch), Schwarzkunst (Nigromantie), Totenbeschwörung (Nekromantie), Losen und Giftbereiten2. Schon die Hethiter (2000[?]⫺1200 v. Chr.) unterschieden zwischen den magischen Techniken der Spezialisten (Priester/Magier) und
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Zauberer, Zauberin
der populären Magie der unteren Volksschichten. Die Magie war Teil des offiziellen Kultes. Da sie als erlernbare Technik galt, entwickelte sich eine populäre Magie, die jede Art von Störung des normalen Lebens wie Naturkatastrophen, Krankheiten oder plötzliche Todesfälle auf Zauberei zurückführte3. In lat. Glossaren und Wbb., Poenitentialen und Dekreten4 werden Z.er als divinator, fascinator, incantator, magus, magicus, nigromanticus, necromanticus, praestigiator, sortilegus und veneficus bezeichnet5. Der seit dem 16. Jh. im dt. Sprachgebiet gebräuchliche Begriff Magier6 wird synonym zu Z.er verwendet. Die weibliche Entsprechung weist eine ähnlich breite Bezeichnungsskala auf: Als bösartige Z.in wird seit dem 13. Jh. die J Hexe genannt; weitere Bezeichnungen sind malefica, magica, maga, pharmaceutica, pythonista, saga, incantatrix und venefica. Auch hier wird auf Tätigkeiten abgehoben7, die bis hin zur Gleichsetzung mit der griech. J Lamia8, einer blutsaugenden Dämonin, gehen. Die Antike kannte viele Zauberer, Magier und Thaumaturgen. In dem ägypt. Papyrus Westcar wird u. a. von dem Z.er Webaoner berichtet, der ein Wachsmodel in ein lebendiges Krokodil verwandelt (J Verwandlung)9, und von dem 110 Jahre alten Z.er Djedi, der getötete Tiere wieder lebendig macht (J Wiederbelebung)10. Z.innen der Antike wie J Medea und J Circe sollen ursprünglich „Priesterinnen von Gottheiten einer längst untergegangenen Religion“ gewesen sein11. Pythagoras soll die Zukunft vorausgesagt und die J Bilokation beherrscht haben; ihm wird nachgesagt, daß er an die Metempsychose glaubte und Macht über die Tiere hatte12. Empedokles soll Kranke geheilt, J Wetter gemacht und Tote beschworen haben13. Als größter Magier des Altertums wurde Hermes Trismegistos14, eine Verschmelzung des ägypt. Gottes Thot15 mit dem griech. J Götterboten Hermes, angesehen16. In jüd. und arab. Überlieferung wird J Salomo als weise und zauberkräftig beschrieben. Er soll sich Dämonen untertan gemacht und mit ihrer Hilfe Wunder bewirkt haben (z. B. Bau des Tempels in Jerusalem) und einen magischen J Ring sowie einen Z.spiegel, mit dem er alles sehen konnte, besessen haben. Sein Ruhm reicht bis ins MA.; das Sigillum Salo-
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monis sowie die Clavicula Salomonis (13./ 14. Jh.), das berühmteste J Z.buch des MA.s, werden bis zur frühen Neuzeit als rituelle Anleitungen für magische Operationen (Graben nach J Schätzen, Zitieren von Geistern und J Schadenzauber) benutzt. Auch das Testament Salomos (4. Jh.) enthält Hinweise zur Dämonenbeschwörung und Krankenheilung sowie Anleitungen zum Z. n. In der umfangreichen populären narrativen Überlieferung erscheint Salomo als Z.er, der die J Vogelsprache versteht und über die Tiere herrscht17. Seit der Antike bis ins MA. wurden auch über Salomo hinaus J Juden allg. als Kenner und Vermittler antiker, vor allem arab. Wiss., Astrologie, Alchemie und Medizin, mit Z.ei in Zusammenhang gebracht (cf. J Kabbala). Als ,Volk des Buchs‘ sollen sie dazu Z.formeln, magische Worte und Schriftzeichen benutzt haben, die für Außenstehende unverständlich waren. Selbst Moses J Maimonides, der sich vehement gegen Z.ei, Aberglauben und alle Arten der Magie wandte, wurden magische Fähigkeiten und Z.kräfte unterstellt. In der frühen Kirche wurde Magie in großem Umfang praktiziert, und der Vorwurf der Z.ei war allgegenwärtig. Z.bücher wurden verbrannt (Apg. 19,19). Daß die Evangelien zahlreiche Wundererzählungen enthalten, weist darauf hin, daß Elemente des antiken, dämonischen und dem Z. verpflichteten Weltbildes im N. T. perpetuiert wurden18. Zahlreiche Hinweise in der Bibel lassen Rückschlüsse auf magische Praktiken zu: So besucht Saul die Hexe von Endor, eine Totenbeschwörerin (1. Sam., 3 sq.); Jesus (J Christus) läßt Geister in eine Herde Schweine fahren (Mk. 5,13) und verleiht seinen Jüngern die Macht, Dämonen auszutreiben (Mk. 6,13). Ein Beispiel für magische Praktiken ist auch die Erzählung um J Simon Magus in der Apostelgeschichte (8,4⫺ 25). Hier treten der alte Z.glaube und die Magie in Konkurrenz zu der sich ausbreitenden christl. Lehre. Die Magier beanspruchten die Kenntnis der göttlichen Geheimnisse (J Gnosis) und wurden als Thaumaturgen und Wahrsager verehrt, von den Kirchenvätern aber als Häretiker angesehen19. Jesus selbst war, wie viele andere zu seiner Zeit20, ein umherziehender Prediger und Wundertäter. Man schrieb ihm J Prophezeiungen, J Exorzismen, J Wunderheilungen und gele-
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Zauberer, Zauberin
gentlich Totenerweckungen zu und bezichtigte ihn der Magie (Mk. 3,22). Während seine Jünger apologetisches Material gegen diesen Vorwurf sammelten, belegen Überlieferungen, daß er als großer Magier verehrt wurde21. Vergleichbares wurde von dem Griechen Apollonius von Tyana (1. Jh. p. Chr. n.) berichtet, der als Theurg und Magier sowie als Sohn eines Gottes apostrophiert wurde22: Apollonius wurde in Rom der Magie angeklagt und beschuldigt, einen Knaben geopfert zu haben, um aus seinen Eingeweiden den Ausgang einer Verschwörung zur Ermordung des Kaisers Domitian vorherzusagen. Er verschwand angeblich auf wunderbare Weise aus dem Gerichtssaal23. Der wiss. Erkenntnisstand der Antike und des MA.s umfaßte eine ganze Reihe aus heutiger Sicht okkulter Elemente, die mit der Zeit in die Volkskultur übergingen. Aus diesem Grund wurden Gelehrte, Naturwissenschaftler und J Philosophen, aber auch Dichter zu J Kristallisationsgestalten, an die sich Erzählungen mit magischen Motiven (cf. J Stein der Weisen, J Verjüngung, J Wintergarten, Wunderheilung) hefteten. Hier zeigen sich „auf das Pansophische hinweisende Züge“24, die ihrerseits die Grundlage für die Übertragung vieler und z. T. widersprüchlicher Motive auf Gelehrte bilden, darunter Zarathustra (um 660⫺ ca 583)25, J Vergil26, J Apuleius, J Albertus Magnus27, Johannes Trithemius (1462⫺ 1516)28, Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486⫺1535)29 sowie J Paracelsus, in geringerem Maße auch J Ovid. Unter einem Z.er stellte man sich einen außergewöhnlich gelehrten Menschen vor, der aufgrund seines okkulten (physikalischen) Wissens verblüffende Kunststücke darbieten konnte. Wunderkräfte wurden sowohl mit Z.büchern (Grimoires) in Zusammenhang gebracht als auch mit der Vorstellung von einem J Teufelspakt, den der Gelehrte eingeht, um die Z.kunst zu erlernen30. J Isidor von Sevilla resümiert: „Bei allen diesen ist die Kunst der Dämonen aus einer unheilvollen Gemeinschaft der Menschen und bösen Engel entstanden.“31 Umherziehende Scholaren, Vaganten und Abenteurer gaben sich häufig als Z.er/Magier aus (Liber Vagatorum, um 1510)32. Die im dt.sprachigen Gebiet wohl bekannteste hist. belegte Person dieser Art ist J Faust. Dieser
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wurde in der Lit. zum Prototyp des von immensem Wissensdrang besessenen Gelehrten, Abenteurers und Schwarzkünstlers. Das poln. Pendant zu dieser Figur bildet Pan J Twardowski, ein Adliger, der wie Faust einen Teufelspakt geschlossen haben soll33. Populär war in Südtirol der ebenfalls hist. Pfeifer Huisile (geb. um 1620 in Flading), vermutlich ein umherziehender Kraxentrager (Wanderhändler), der sich als Z.er ausgab und auch als solcher angesehen wurde, da er wohl den Aberglauben der Bauern ausnutzte, ihnen Tinkturen verkaufte und Ratschläge gab34. Einer der übelbeleumdetsten Z.er, ein Verbrecher, war der sog. Z.erjackl oder Schinderjackl, eigentlich Jakob Koller (geb. um 1650/ 55), Sohn eines Abdeckers im Lungau. Wie viele andere scharte er nach dem 30jährigen Krieg eine Bande um sich, die zeitweise aus mehreren hundert Personen bestand35. Über seine ,Z.künste‘ ⫺ Verbrechen wie die Tötung von Schwangeren und J Ungeborenen, von Menschen und Vieh, deren Gliedmaßen zu magischen Zwecken benutzt wurden ⫺ waren Erzählungen verbreitet36. Anfang des 18. Jh.s kam es in Freising zu einem Prozeß gegen Kinder, die behauptet hatten, Mäuse machen zu können37; noch 1895 fiel die Z.bibliothek des ,Medikasters‘ und Geheimkünstlers Josef Wetzel aus Knollengraben bei Ravensburg den Behörden in die Hände. Sie enthielt 123 teils sehr seltene Werke, aber auch die gängigen Grimoires38. Neben mündl. tradierten Vorstellungen und Berichten über reale Personen existieren rein literar. vermittelte Erzählungen über Z.er und Z.innen. Mythol. Figuren werden in der Lit. immer neuen Deutungen unterworfen. Seit J Lukian ist die Erzählung vom J Z.lehrling belegt. Die Figur des Z.ers J Merlin aus der kelt. Mythologie wurde durch den ags. Kleriker J Geoffrey of Monmouth geprägt. In dessen Historia regum Britanniae (um 1135) ist Merlin der Sohn einer bret. Königstochter, der von einem Inkubus (J Incubus und Succubus) gezeugt wurde ⫺ also ein Sohn des J Teufels war. Um die Mitte des 13. Jh.s genossen Merlins Prophezeiungen ähnliche Popularität wie die Sibyllinischen Weissagungen (J Sibyllen). In der weiteren literar. Entwicklung wurde Merlin zum Erzieher des Königs Artus (J Artustradition)39.
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Zauberer, Zauberin
Die mhd. Epik kennt verschiedene Z.er, von denen Klingsor der bedeutendste ist. Prominent begegnet er im J Parzival (Anfang 13. Jh.) des Wolfram von Eschenbach. Die Gestalt hat Wolfram wohl aus J Chre´tien de Troyes‘ Perceval übernommen, dort ist der Z.er jedoch namenlos. Auch im Jüngeren Titurel des Albrecht von Scharfenberg (um 1270) wird Klingsor erwähnt. Im Sängerkrieg auf der Wartburg tritt er als Sterndeuter auf und sagt die Geburt der hl. J Elisabeth voraus. In der Thüring. Chronik des Johannes Rothe (um 1420) wird Klingsor als „Meister der septem artes liberales“ bezeichnet; in der weiteren Entwicklung wird er mit Wolfram als Meistersänger genannt und schließlich zum Begründer des Meistersangs ⫺ von Z.kunst ist keine Rede mehr. Aus der Erfindung Wolframs wird eine ,reale‘ Person, an deren Existenz sogar die Wiss. glaubte40. Im Roman Le Bel Inconnu (um 1200) des Renaut de Beaujeu besitzt der Z.er Mabon gewaltige Kräfte, reitet auf einem riesigen Einhorn und verwüstet durch seinen Z. eine ganze Stadt. Als ihn die begehrte Frau abweist, berührt er sie mit einem (Z.-)Buch und verwandelt sie in eine Schlange. Ein namenloser Jüngling schlägt ihm schließlich den Kopf ab, woraufhin er sich in scheußlichen Schleim verwandelt41. Die Figur des Z.ers Roaz von Glois im J Wigalois des Wirnt von Grafenberg, dessen Z.kraft auf einem Teufelsbündnis beruht und der u. a. mechanische Wunderwerke zur Kriegsführung konstruiert42, geht wohl auf Mabon zurück. In der Aufklärung wurde der Glaube an Z.künste und Z.er bekämpft. Bereits J Rabelais machte sich in Gargantua und Pantagruel über die Alectryomantie, eine Form der Weissagung durch einen Hahn, lustig43, und J Grimmelshausen überspitzte im Simplicissimus (1669) die Vorstellung von Z. und Magie ins Aberwitzige44. In der Lit. der Romantik wird der Z.er, hier vor allem Merlin, wieder zu einer vorwiegend positiven Figur, und immer häufiger erfolgen Rückgriffe auf die Vorzeit45. In populärer Überlieferung finden sich vor allem hist. belegte Personen als Gestalten der Sage wieder. Hier gewinnen Z.er ihre Kräfte aus einem Teufelspakt oder durch Zitieren dämonischer Mächte. Überaus häufig ist die Vorstellung, daß Z.er und Hexen sich mit
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übernatürlichen magischen J Fluggeräten fortbewegen können (cf. J Luftreisen). Dabei ist die Vielfalt der Fluggeräte kulturell, geogr., ergologisch und zeittypisch bedingt. Um magische Handlungen zu vollbringen, benutzen Z.er und Hexen magische Ringe, Z.sprüche, einen J Z.kreis oder J Z.stab. Die Künste von Z.ern in der populären Überlieferung weisen oft schwankhafte Züge auf, etwa wenn der Pfeifer Huisile einer jungen Frau vorspiegelt, sie wate durch Wasser, damit sie ihre Röcke hebt (AaTh/ATU 987: J Augenverblendung)46 ⫺ ein Motiv, das auch anderen Z.ern nachgesagt wird; u. a. begegnet es in einer Erzählung über Salomo und die Königin von J Saba. Im europ. Märchen finden sich Z.er seltener, vor allem im Kontext von AaTh/ATU 325: J Z.er und Schüler sowie von AaTh/ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater. In russ. Märchen ist der typische böse Z.er Kosˇcˇej Bessmertnyj (cf. AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei). Häufiger begegnen in Märchen Z.innen bzw. Hexen, wobei eine Differenzierung zwischen menschlichen und dämonischen Charakteren nicht immer eindeutig möglich ist. Sie sind ⫺ ohne daß sie immer als Z.innen oder Hexen bezeichnet würden ⫺ meist Gegenspielerinnen (z. B. AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm, AaTh/ATU 313 sqq.: J Magische Flucht, AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel, AaTh/ATU 334: J Haushalt der Hexe, AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut, AaTh/ATU 405: J Jorinde und Joringel, AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen, AaTh/ATU 709: J Schneewittchen), seltener auch dämonische, mitunter ambivalente Helferfiguren (AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen; J Baba Jaga). In der populären Lit., in Filmen und Fernsehserien des 20./21. Jh.s finden sich erneut Z.er und Z.innen47, z. B. Saruman und Gandalf in J. R. R. J Tolkiens Romantrilogie The Lord of the Rings (1954/54/55), der Druide Miraculix in den Asterix-Comics (1959 sqq.) von Rene´ Goscinny und Albert Uderzo oder die Z.er und Hexen im Gegensatz zu den nichtmagischen Menschen in den Harry Potter-Romanen von Joanne K. Rowling (1997⫺2007). 1 cf. EM 9, 5; Petzoldt, L.: Magie und Religion. Beitr.e zu einer Theorie der Magie. Darmstadt 1978. ⫺ 2 Wesche, H.: Der ahd. Wortschatz im Gebiet des Z.s
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Zauberer, Zauberin
und der Weissagung. s. l. 1940. ⫺ 3 Haas, M.: Magie und Z.ei bei den Hethitern. In: Reallex. der Assyriologie 7. B. 1990, 234⫺255, hier 234 sq.; cf. Schulz, M.: Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung. Ffm. 2000. ⫺ 4 z. B. Hartmann, W. (ed.): Das Sendhb. des Regino von Prüm. Darmstadt 2004, 130, 164, 244 sq., 413⫺423. ⫺ 5 DWb. 31 (1956) 386 sq. ⫺ 6 Pfeifer, W.: Etymol. Wb. des Deutschen 2. B. 1989, 1043. ⫺ 7 Petzoldt, L.: Magie. Weltbild, Praktiken, Rituale. Mü. 2011, 63 sq. ⫺ 8 id.: Kleines Lex. der Dämonen und Elementargeister. Mü. 32003, 119. ⫺ 9 Erman, A.: Die Märchen des Papyrus Westcar 1. B. 1890, num. 3. ⫺ 10 ibid., num. 5. ⫺ 11 Luck, G.: Magie und andere Geheimlehren in der Antike. Stg. 1990, 46. ⫺ 12 ibid., 16⫺21; cf. Dodds, E. R.: The Greeks and the Irrational. L. A. 1951. ⫺ 13 Luck (wie not. 11) 16⫺18, 20. ⫺ 14 Kroll, J.: Die Lehren des Hermes Trismegistos. Münster 1914; cf. Nock, A.-D.: Corpus Hermeticum 1⫺4. P. 1945⫺54; Mead, G. R. S.: Thrice Greatest Hermes. L. 1949; Van Moorsel, G.: The Mysteries of Hermes Trismegistus. Utrecht 1955; Gilby, C./Heertum, C. van (edd.): Magia, alchemia, scienza, dal ’400 al ’700. t. 1⫺2. Venedig 2002. ⫺ 15 Luck (wie not. 11) 20. ⫺ 16 Ebeling, F.: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Mü. 22009, 21. ⫺ 17 MacCown, C. C.: The Testament of Salomon. Lpz. 1922; Särkiö, P.: Die Weisheit und Macht Salomons in der israelit. Historiographie. Göttingen 1904; Handy, L. K.: The Age of Solomon. Leiden 1997; Wäschli, S.: Der weise König Salomon. Stg. 1998. ⫺ 18 Böcher, O.: Dämonenfurcht und Dämonenabwehr. Stg. 1970. ⫺ 19 Beyschlag, K.: Simon Magus und die christl. Gnosis. Tübingen 1974, 215. ⫺ 20 Smith, M.: Jesus der Magier. Mü. 1961, 150. ⫺ 21 ibid., pass. ⫺ 22 Philostratos: Das Leben des Apollonius von Tyana. ed. V. Mumprecht. Mü./Zürich 1983. ⫺ 23 Smith (wie not. 20) 149. ⫺ 24 Peuckert, W.-E.: Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jh. Basel 1967, 257. ⫺ 25 Jong, A. de: Traditions of the Magi. Zoroastrianism in Greek and Latin Literature. Leiden u. a. 1997, 317⫺323. ⫺ 26 Roth, K. L.: Über den Z.er Vergilius. In: Germania 4 (1859) 257⫺298, hier 265 sq.; Wood, J.: Virgil and Taliesin. The Concept of Magician in Medieval Folklore. In: FL 94 (1983) 91⫺104, hier 93; Petzoldt, L.: Virgilius Magus. Der Zauberer Virgil in der literar. Tradition des MA.s. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschrift R. Schenda. Ffm. 1995, 549⫺568, pass. ⫺ 27 id.: Albertus Mag(n)us. Albert der Große und die magische Tradition des MA.s. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): MA. Mythen 3. St. Gallen 2001, 29⫺64. ⫺ 28 Hocker, N.: Sagen von der Mosel. In: Zs. für Mythologie und Sittenkunde 1 (1853) 189⫺195, hier 189, num. 3; Ernst, T.: Schwarzweiße Magie. Der Schlüssel zum dritten Buch der Steganographia des Trithemius. In: Daphnis 25,1 (1996) 1⫺205; Brann, N. L.: Trithemius and Magical Theology. Albany, N. Y. 1999. ⫺ 29 Kuper, M.: Agrippa von Nettesheim ⫺ Ein echter Faust. B. 1994; Agrippa von Nettesheim: Die magi-
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schen Werke. ed. M. Frenschkowski. Wiesbaden 2008, 23⫺41. ⫺ 30 Petzoldt (wie not. 8) 155 sq. ⫺ 31 Möller, L.: Die Enz. des Isidor von Sevilla. Wiesbaden 2008, IX, 9⫺31. ⫺ 32 z. B. Der Z.er Matheus Niederjoher, vulgo Hoisl von Schwaz. Ein Kriminalprozeß aus dem Jahr 1650. In: Bote für Tirol und Vorarlberg (1873) num. 181⫺190; cf. auch Mayer, M.: Der Z.er Mathias Niderjoher, Vulgo Hoisl von Schwaz. In: Schönberg, D. von: Gesammelte Schr. 2. Innsbruck 1902, 425⫺529; ferner Zingerle, I. V.: Barbara Pachlerin, die Sarnthaler Hexe und Mathias Perger, der Lauterfresser. Innsbruck 1858, 23⫺54, hier 25 sq.; Heyl, J. A.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1913 (Neudruck Bozen 1989), num. 81; Jütte, R.: Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Studien zum Liber Vagatorum (1510). Köln 1988. ⫺ 33 Petzoldt, L. (ed.): Das Volksbuch von Doktor Faust (1587). Stg. 1981; Vogel, N. J.: Twardowski, der poln. Faust. Wien 1861. ⫺ 34 Holzmann, H.: Pfeiffer Huisile. Innsbruck 1954; Heyl (wie not. 32) num. 108; Petzoldt, L.: Sagen, Märchen und Schwänke aus Südtirol 2. Innsbruck/Wien 2002, pass. ⫺ 35 Byloff, F.: Die Blutgenossenschaft des Z.erjakl. In: Monatschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 18,8 (1927) 401⫺429, 416; cf. Tuczay, C. A.: Die Herzesser. Wien 2007, 78⫺86; Nagl, H.: Der Z.er-Jakl-Prozess. In: Mittlgen der Ges. für Salzburger Landeskunde 112⫺113 (1927/37) 393⫺448, hier 414 sq., 417; Beck, R.: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715⫺1723. Mü. 2011, 56 sq. ⫺ 36 cf. Petzoldt (wie not. 7) 152 (Prozeß 1730 gegen Lindauer Bürger, die eine Teufelsbeschwörung vollzogen, um einen Schatz zu heben; da der Teufel von ihnen ein ungeborenes Kind verlangt haben soll, töteten sie eine Schwangere und schnitten den Fötus heraus). ⫺ 37 Beck (wie not. 35). ⫺ 38 Beck, P.: Die Bibl. eines Hexenmeisters. In: ZfVk. 15 (1905) 412⫺424. ⫺ 39 BruggerHackett, S.: Merlin in der europ. Lit. des MA.s. Stg. 1991, 57; Goodrich, P.: The Romance of Merlin. N. Y./L. 1990; id./Lacy, N. J.: Merlin. N. Y./L. 2003. ⫺ 40 Wolf, R.: Die Gestalt Klingsors in der dt. Lit. des MA.s. In: Südostdt. Semesterbll. 19 (1967) 1⫺19. ⫺ 41 Eming, J.: Überschreitung und Vermittlung. Die Figur des Z.ers im „Bel Inconnu“. In: Buschinger, D./Spiewok, W.: Z.er und Hexen in der Kultur des MA.s. Greifswald 1994, 59⫺76. ⫺ 42 Brall, H.: Die Macht der Magie. Z.er in der hochma. Epik. In: Schaefer, U. (ed.): Artes im MA. B. 1999, 215⫺229, hier 220⫺223. ⫺ 43 Rabelais, F.: Gargantua und Pantagruel 1. ed. W. Widmer/K. A. Horst. Mü. 1968, 657; cf. Petzoldt (wie not. 7) 152; id. (wie not. 8) 109 sq. ⫺ 44 Grimmelshausen, J. H.: Der abenteuerliche Simplicissimus. ed. A. Kelletat. Mü. 1956, 166⫺168 (Buch 2, Kap. 22). ⫺ 45 Günzel, K.: Im Banne Merlins oder Der Prophet und die Romantiker. In: Schlegel, D.: Geschichte des Z.ers Merlin. Köln 1984, 150⫺159. ⫺ 46 Holzmann (wie not. 34). ⫺ 47 Shojaei Kawan, C.: Hexen, Engel, Hei-
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Zauberer und Schüler
lige. Über das Wunderbare und das Dämonische im Unterhaltungsfilm. In: Erzählkulturen im Medienwandel. ed. C. Schmitt. Münster u. a. 2008, 139⫺ 156, hier 140⫺146.
Innsbruck
Leander Petzoldt
Zauberer und Schüler (AaTh/ATU 325), Zaubermärchen, das den Erwerb von (geheimem) Wissen durch das Lesen von Büchern (J Zauberbuch) thematisiert1. Der Erzähltyp dient auch als Sammelbecken für Geschichten, die ausschließlich den Gestaltwandel (J Verwandlung) im Kampf von zwei Z.n thematisieren (jap.2, korean.3). AaTh/ATU 325 ist von der Erzählung über den J Zauberlehrling sowie von Geschichten über die Gefahren des Lesens in Zauberbüchern zu unterscheiden. Die Grundform hat folgenden Verlauf: Ein junger Mann (Junge) beginnt eine Lehre und entdeckt, daß sein Meister ein Geheimnis hat: Neben seinem normalen Handwerk ist er auch im Zaubern bewandert. Der junge Mann erlernt dieses ebenfalls (oft heimlich), kehrt nach Hause zurück und bittet seinen Vater (Mutter), ihn zu verkaufen, nachdem er sich in ein Pferd verwandelt habe; keinesfalls dürfe aber das Zaumzeug mitveräußert werden. Versehentlich verkauft der Vater dem früheren Herrn des Sohnes das Pferd dennoch zusammen mit dem Zaumzeug. Dem verzauberten Lehrling gelingt es, sich davon zu befreien, und er entkommt. Sein Herr verfolgt ihn; dabei verändern beide fortwährend ihre Gestalt. In einen Ring verzaubert, findet der junge Mann schließlich Zuflucht bei einer Frau (Mädchen, Prinzessin). Als der Meister versucht, den Ring zu ergreifen, wirft die Frau diesen gegen die Wand, und er verwandelt sich in Samenkörner. Der Meister nimmt die Gestalt eines Hahns an und beginnt, die Körner aufzupicken, doch eines davon wird zu einem Fuchs und tötet den Hahn. Der junge Mann und die Frau leben glücklich bis an ihr Ende.
Für AaTh/ATU 325 gibt es zahlreiche motivische Vorläufer: Bei J Ovid verkauft sich Mestra, die Tochter des thessalischen Königs Erysichthon sowie Geliebte des Poseidon, mehrmals in Gestalt eines Tieres (Metamorphosen 8,871⫺875). Die Eingangssituation des Märchens erscheint ähnlich in einer Erzählung im Ela¯hi-na¯me (Gottesbuch) des pers. Mystikers Faridoddin ¤Atøtøa¯r (gest. 1221), in welcher der Zauberlehrling sich dumm stellt, um hierdurch umso besser die Geheimnisse seines Meisters erkunden zu können4. Ein arab. Ms. aus dem 14. Jh. enthält eine Geschichte, in der
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es heißt, die in einen Maulesel verwandelte Zauberin La¯b dürfe keinesfalls zusammen mit dem Zaumzeug verkauft werden5. In dem ndl. Volksbuch Een schoone historie van den ridder Malegys (1556) wird erzählt, daß Malegys heimlich bei seinem Ziehvater Baldaris das Zaubern erlernt und seine Kunst gegen ihn einsetzt6. Der Verwandlungskampf von Z. und S. hat große Ähnlichkeit mit dem Kampf zwischen der Hexe Ceridwen und dem Jungen Gwion in einer Geschichte aus den J Mabinogion (Mitte 16. Jh.)7: Ceridwen braut für ihren Sohn Afagddu einen Weisheitstrank, den versehentlich der Junge (Zwerg) Gwion trinkt. Ceridwen verfolgt ihn, um ihn zu töten; er flieht und nimmt nach mehreren Verwandlungen schließlich die Gestalt eines Korns an. Dieses pickt Ceridwen als Henne auf; daraufhin wird sie schwanger und gebiert neun Monate später ihren Sohn Taliesin.
Das etwas später entstandene schott. Lied The Twa Magicians, das auch Entsprechungen in mehreren anderen europ. Ländern hat, schildert einen Verwandlungskampf zwischen einem Schmied und einem adligen Mädchen, das seine Jungfräulichkeit vor ihm bewahren will8. Die älteste bekannte Fassung von AaTh/ ATU 325 ist aller Wahrscheinlichkeit nach J Straparolas 1553 veröff. Erzählung Maestro Lattantio (8,5). Straparola griff Motive und Figurenkonstellationen aus der Erzähltradition auf und formte sie zu einer kohärenten Erzählung aus, die mit ihren sexuellen Beiklängen zeitgenössischen Erwartungen an Unterhaltungsliteratur entgegenkam. Außer in Straparola-Editionen und in Slgen wurde die Geschichte auch separat publiziert. Eine engl. Übers. erschien 16099; eine frz. Version des Straparola-Textes (1712)10 wurde 1767 ins Deutsche übersetzt11. In den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm findet sich der Stoff ab der 2. Aufl. (1819) in münsterländ. Dialekt und in halb schwankhafter Form u. d. T. De Gaudeif un sien Meester (KHM 68). Diese Erzählung, die Jenny von Droste-Hülshoff (1795⫺1859) W. Grimm zugesandt hatte12, ist die erste, die eine Wiedererkennungsszene nach Beendigung der Lehre enthält: Der Meister will auf sein Lehrgeld verzichten, wenn der Vater seinen Sohn nach einem Jahr noch wiedererkennt.
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Zauberformel ⫺ Zaubergaben
Obwohl der Sohn in einen Vogel verwandelt ist, gelingt dies dem Vater mit Hilfe eines magischen Helfers. In dieser Fassung liegt der Fokus auf dem betrügerischen Verkauf; es begegnen weder ein Ring noch eine Frau. In Ludwig J Bechsteins Version von AaTh/ATU 325 muß der Jüngling Bücher abstauben und hat so Gelegenheit, das Zauberbuch zu stehlen13. In anderen Var.n tritt der Aspekt des Zauberei in den Hintergrund: In einer serb. Fassung soll der Junge das ,Spiel, das keiner kennt‘14, in einer griech. Var. ,jede Fertigkeit, die es gibt‘ erlernen15, bevor er die Prinzessin heiraten kann. Im großen und ganzen enthalten die europ. Var.n entweder die Wiedererkennungsszene und gehen demnach auf die KHM zurück, oder sie folgen Straparola. Oriental. Belege, die allerdings starke Abweichungen aufweisen, gehen wohl ebenfalls auf Straparola zurück, z. B. in Fassungen der türk. Slg J Vierzig Wesire (num. 147) und J Tausendundeine Nacht16. Die vollständige Erzählung findet sich in einer Slg von in Ägypten aufgezeichneten Märchen des späten 19. Jh.s und wurde von C. Mardrus in seine Ausg. von 1001 Nacht aufgenommen17. Die ind. Fassung18 entspricht der Straparola-Erzählung, die mit der Papageiengeschichte aus dem Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo des J Christoforo Armeno (1557; num. 1) kombiniert ist; im Peregrinaggio wird ein totes Tier benötigt, um die Seele des Jungen aufzunehmen (J Seelentier). Die StraparolaErzählung liegt auch den jüngeren Fassungen der Rahmenerzählung des J Siddhi-Kür zugrunde: Hier finden sich die Verwandlung eines Jungen, der heimlich das Zaubern erlernt hat, in ein Pferd, der Verkauf des Tiers und der abschließende Zauberwettkampf, aber es begegnet keine Prinzessin. Ind. Var.n haben dagegen den alten Rahmen beibehalten19. In pers. Fassungen muß der Lehrling etwas bisher nicht Bekanntes oder etwas, ,was sonst niemand kann‘ erlernen20; in türk. Var.n ist von einem Spiel die Rede21. AaTh/ATU 325 begegnet auch in Kombination mit AaTh/ATU 570: J Hasenhirt (Hervorhebung der sexuellen Komponente)22 und AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich (Betonung des Erwerbs übernatürlicher Kräfte durch den Protagonisten)23.
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1 cf. allg. Ble´court, W. de: Der Z. und sein S. Die Erzählung und ihr hist. Ursprung. In: Müller-Funk, W. G./Tuczay, C. A.: Faszination des Okkulten. Tübingen 2008, 43⫺72; id.: Tales of Magic, Tales in Print. Manchester 2012, 108⫺135; Cosquin, E.: E´tudes folkloriques. P. 1922, 497⫺612; Polı´vka, J.: Magosnika˘t i negovijat ucˇenik (Der Z. und sein S. ). In: SbNU 15 (1898) 393⫺448. ⫺ 2 Ikeda. ⫺ 3 Choi, num. 122.1, 371, 374. ⫺ 4 Ritter, H.: The Ocean of the Soul. Man, the World and God in the Stories of Farı¯d al-Dı¯n ¤Atøtøa¯r. Übers. J. O’Kane. Leiden/Boston 2003, 640 sq; Boyle, J. A.: Popular Literature and Folklore in Attar’s Mathnavis. In: Colloquio italo-irano sul poeta mistico Fariduddin Attar. Rom 1978, 57⫺70. ⫺ 5 Das Buch der wundersamen Geschichten. ed. U. Marzolph. Mü. 1999, num. 6. ⫺ 6 cf. Duijvesteijn, B. W. T.: Madelgijs. De Middelnederlandse fragmenten en de overeenkomstige Hoogduitse verzen. Brüssel 1989, 24, 102; cf. auch BP 2, 67. ⫺ 7 The Mabinogi and Other Medieval Welsh Tales. Übers. P. K. Ford. Berk./L. A./L. 1977, 159⫺ 164. ⫺ 8 cf. Child 1, 399⫺403; Coirault, P.: Formation de nos chansons folkloristiques 4. P. 1963, 487⫺ 519. ⫺ 9 Armin, R.: The Italian Taylor and His Boy. L. 1609 (Nachdr. L. 1810). ⫺ 10 Le Noble, E.: Le Gage touche´. Amst. 21722, 68⫺83; Delarue, 285. ⫺ 11 Der Lehrling in der Zauberkunst. In: Saal, J. H. (ed.): Abendstunden in lehrreichen und anmuthigen Erzählungen 7 (1767) 342⫺352. ⫺ 12 Ble´court 2008 (wie not. 1) 58; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinderund Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B. 2008, 162. ⫺ 13 BP 2, 61; Bechstein, L.: Märchenbuch. ed. H.-J. Uther. MdW 1997, num. 35. ⫺ 14 Mijatovic, C.: Serbian Folk-Lore. Popular Tales. L. 1874, 219. ⫺ 15 Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, 133. ⫺ 16 Marzolph/van Leeuwen 1, 338⫺ 340, num. 16; Chauvin 5, num. 116. ⫺ 17 Spitta-Bey, G.: Contes arabes modernes. P. 1883, 1⫺11; Marzolph/van Leeuwen 1, 142, num. 479; Hahn, num. 68. ⫺ 18 cf. Sastri, N.: Dravidian Nights Entertainments. Madras 1886, 1⫺18. ⫺ 19 Thompson/Roberts. ⫺ 20 Marzolph. ⫺ 21 Eberhard/Boratav, num. 169. ⫺ 22 Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großherzog und die Marktfrau. Leer 1994, num. 19; Marzolph, U.: Wenn der Esel singt, tanzt das Kamel. Mü. 1994, 40⫺55 (pers.). ⫺ 23 Zaunert, P.: Dt. Märchen aus dem Donaulande. Jena 1926, 97; Haiding, K.: Märchen und Schwänke aus dem Burgenlande. Graz 1977, 65; Khatchatrianz, I.: Armenian Folk Tales. Phil. 1946, 19⫺26.
Sicklehatch
Willem de Ble´court
Zauberformel J Zauberspruch Zaubergaben (Mot. D 900⫺D 1699), magische Gegenstände, welche die Protagonisten bes. in Zaubermärchen von übernatürlichen J
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Zaubergaben
Helfern erhalten (J Gabe) und die ihnen zur Erreichung ihrer Ziele verhelfen. Zaubergaben (Z.n) sind Mittel der Wunscherfüllung (J Wunsch, wünschen; J Wunschdichtung)1; im weiteren Sinne werden darunter die unterschiedlichsten Zaubergegenstände gefaßt. Für A. J Aarne spielen Z.n bes. in AaTh/ ATU 563: J Tischleindeckdich, AaTh/ATU 564: J Provianttasche und AaTh/ATU 565: J Wundermühle eine Rolle, weshalb er seine vergleichende Unters. dieser Erzähltypen unter diesen Begriff stellte. In den genannten Märchen erhalten die jeweiligen Protagonisten mindestens eine Z. als Geschenk oder als Lohn für geleistete Arbeit (J Belohnung, Lohn). Die Z. ist hier in der Regel ein Gegenstand, der unbegrenzte Mengen an Speisen oder Geld spendet. Wird sie gestohlen, erhält der Protagonist oder einer seiner Brüder eine weitere Z., die zur Wiedererlangung der ersten Z. und zur Bestrafung des Diebs eingesetzt werden kann (Sack mit Heer, von selbst schlagender Knüppel oder Peitsche; cf. J Automat)2. Allg. spielen Z.n in Zaubermärchen eine Rolle: In AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein begegnet ein nahrungsspendendes Tier; der Protagonist von AaTh/ATU 562: J Geist im blauen Licht sowie von AaTh/ATU 569: J Ranzen, Hütlein und Hörnlein kann mittels der Z. dienstbare Geister oder Soldaten herbeirufen. Den Protagonisten von AaTh/ATU 592: J Tanz in der Dornhecke bewahrt ein magisches Musikinstrument vor dem Tod; in AaTh/ATU 570: J Hasenhirt treibt es die ihm anvertrauten Tiere zusammen (bringt sie zum Tanzen). Ein magischer J Hut verleiht in AaTh/ATU 328: J Corvetto Weisheit; in AaTh/ATU 566: J Fortunatus hebt er seinen Träger in die Lüfte; in AaTh/ATU 569 und in AaTh 581*: The Wishing Hat erfüllt er Wünsche3; eine J Tarnkappe (Tarnmantel) macht den Träger J unsichtbar (cf. AaTh/ATU 306: cf. Die zertanzten J Schuhe). Zu den Z.n zählen darüber hinaus magische Fortbewegungsmittel wie J Siebenmeilenstiefel und fliegende J Teppiche sowie magische J Ringe (Kap. 2,1) bzw. J Steine (AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, AaTh/ATU 560: J Zauberring, AaTh/ATU 561: J Alad[d]in). J Waffen (J Schwert4) verleihen dem Helden außergewöhnliche J Stärke (AaTh/ATU 304:
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Der gelernte J Jäger, AaTh/ATU 509: Die treulose J Mutter). Bei manchen Z.n handelt es sich um ein Teil vom Körper des Schenkers, das diesen zu Hilfe rufen kann (J Feder, J Haar, Schuppe; AaTh/ATU 552: J Tierschwäger, AaTh 553/ATU 554: J Rabe als Helfer, J Dankbare [hilfreiche] Tiere; cf. J Pars pro toto). In einer Episode sowohl von AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht als auch von AaTh/ ATU 425 A: cf. J Amor und Psyche bekommt die Protagonistin von selbst arbeitende Werkzeuge, mit denen sie ihre Anwesenheit vortäuschen kann (cf. auch AaTh/ATU 585: Spindle, Shuttle, and Needle), oder sie erfährt J Zaubersprüche zur Hervorbringung wunderbarer Gegenstände, mit denen sie sich die Erlaubnis erkauft, ihren langgesuchten Mann zu sehen (J Nächte erkauft)5. Gelegentlich weisen die Erzählungen um Z.n komische Züge auf, etwa wenn von einem Gegenstand oder einem Tier erzählt wird, an dem alles kleben bleibt (AaTh/ATU 571: J Klebezauber), von einer Puppe (Gans), die Geld scheißt (AaTh/ATU 571 C: Die beißende J Puppe), oder von einem Stock (AaTh/ATU 1391: Les J Bijoux indiscrets), welcher ,alle Löcher zum Reden bringt‘. Die Idee der Z.n parodiert der Schwank AaTh/ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit: So wird die Wirtshausrechnung eines Mannes augenscheinlich durch dessen Hut beglichen, an dem er beschwörerische Handlungen vorgenommen hatte; dies zumindest glauben die Studenten, die ihm den ,magischen‘ Hut für teures Geld abkaufen (cf. AaTh/ATU 1535: J Unibos, AaTh/ATU 1542: J Peik). Die unüberlegte Verwendung von durch übernatürliche Gestalten zugestandenen Wünschen (immaterielle Gaben) bzw. den komischen Kontrast zwischen ihrer klugen und dummen Verwendung thematisieren AaTh/ATU 675: Der faule J Junge und AaTh/ATU 750 A, D: cf. Die drei J Wünsche. Z.n werden dem Helden nicht nur geschenkt oder als Lohn für eine Arbeitsleistung zugestanden (AaTh/ATU 503: J Gaben des kleinen Volkes, cf. auch AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen)6; gelegentlich erwirbt er sie im Rahmen von AaTh/ATU 518: J Streit um Zaubergegenstände. Mitunter wird die Z. als Dank für eine geleistete Hilfe verliehen: Ein Mann, der das Leben einer jungen J
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Zaubergaben
Schlange rettet, wird von deren Vater mit einem Zauberring (AaTh/ATU 560) belohnt7; ein junger Mann erhält für die Rettung eines Kindes Zaubersalbe und Zauberschwert (AaTh/ATU 611: J Geschenke der Zwerge). In AaTh/ATU 836*: The Miser and the Eye Ointment erhält ein Gieriger eine J Salbe, die ihn Gold sehen läßt, wenn er damit eines seiner Augen einreibt; als er dies auch mit dem anderen Auge tut, erblindet er. In AaTh/ATU 591: Der stehlende J Topf wird die Z. gekauft (eingetauscht); seltener wird sie gefunden (AaTh/ ATU 304, AaTh/ATU 509). V. Ja. J Propp wies den Schenker, der den Protagonisten mit dem ausstattet, was er für die Erlangung seiner Ziele benötigt, als eine der strukturbestimmenden Figuren des Zaubermärchens aus8. Als übernatürliche Wesen, die den Protagonisten mit Z.n versehen, finden sich in ma. Epen und Romanen (J Huon de Bordeaux, J Oberon) Feen oder Gestalten religiösen Charakters (Gott, Teufel)9. Schenkerfiguren begegnen auch im Zaubermärchen. So erhält der Protagonist in AaTh/ATU 570 die magische Flöte von einer alten Frau (alter Mann), in AaTh/ATU 592 bekommt er das Musikinstrument von einem Fremden (Bettler, alter Mann). In den Märchenvarianten von AaTh/ATU 566 erhalten drei Brüder von einem Jenseitswesen Z.n, in AaTh/ATU 314 A: J Hirt und die drei Riesen und AaTh 401/ATU 400: J Prinzessin als Hirschkuh der allein agierende Held. In Erzählungen von kinderlosen Paaren bewirken oft Z.n (Apfel, Mango, Fisch) von Dämonen, Heiligen, Fakiren oder Derwischen eine wunderbare J Empfängnis10. Eine übernatürliche Ehefrau gibt ihrem menschlichen Gatten einen Wunschring, mit dem er sich augenblicks an einen anderen Ort versetzen kann (AaTh/ATU 400). Auch Tiere begegnen als derartige Helfer (AaTh/ATU 552). Wunderbare Ereignisse (J Wunder) können auch auf übernatürliche Weise herbeigeführt werden. In Heiligenlegenden kommt Lebensnotwendiges, wie Nahrung (J Speisewunder) oder Brennstoff, direkt vom Himmel und wird nicht von Wunschgegenständen hervorgebracht11. Feen verleihen neugeborenen (meist weiblichen) Kindern z. B. Schönheit oder die Fähigkeit, Kostbarkeiten hervorzubringen (AaTh 533*/ATU 404: The Blinded Bride), verheißen
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ihnen aber auch, wie in AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit, eine unheilvolle Zukunft (J Verwünschung). Z.n finden sich darüber hinaus in der Sage: Der J Freischütz stellt mit Hilfe magischer Praktiken Freikugeln her oder gießt diese, nachdem er einen J Teufelspakt geschlossen hat, zusammen mit dem Teufel. Solche Z.n können sich jedoch gegen den Schützen wenden. Auch sonst erweisen sich Z.n in Sagen als ambivalent: Zwar erhalten Menschen, z. B. J Hebammen, scheinbar wertlose Dinge als Lohn für ihre Dienste bei J Unterirdischen und Jenseitigen, die sich am nächsten Tag in Gold verwandelt haben (Mot. F 372.1), doch wird auch von der Verwandlung von Gold in Kohle erzählt12. In Alpensagen erhält der Jäger dafür, daß er die Gemsen verschont, vom Herrn der Gemsen (J Herr der Tiere) einen nie endenden Gemskäse; als er dennoch wieder auf die Tiere Jagd macht, stürzt er in einen Abgrund13. Z.n dienen gelegentlich als ,Beweis‘ für ein übernatürliches Erlebnis (Mot. D 810⫺D 829.1)14 ⫺ auch wenn ihnen keine offensichtlich magischen Fähigkeiten innewohnen: Ein Graf erhält von seiner übernatürlichen Geliebten drei wertvolle Gegenstände, als seine Frau die heimliche Liebschaft entdeckt und seine Geliebte ihn für immer verlassen muß (Grimm DS 71; cf. J Mahrtenehe: Die gestörte M. ). Die genealogische Sage vom Oldenburger J Horn erzählt von einem Grafen, dem von einer Fee ein Trinkhorn mit einem gefährlichen J Zaubertrank gereicht wird; statt es auszutrinken, verschüttet er den Inhalt und stiehlt das Horn15. Mit Z.n ausgestattete Märchenhelden sind von K. Horn als ,passive Helden‘ bezeichnet worden, da ihr Erfolg nicht auf eigene Kraft und eigenen Mut, sondern auf die Macht der Z. zurückzuführen sei16. B. Holbek hat die Z. dagegen als äußeres Zeichen des inneren Wertes des Protagonisten verstanden17. 1 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 63; Lüthi, M.: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Zürich 1943, 114. ⫺ 2 Aarne, A.: Die Z.n, eine vergleichende Märchenunters. In: J. de la Soc. finno-ougrienne 27,1 (1911/12), 1⫺96, hier bes. 47⫺55. ⫺ 3 HDA 4 (1931/ 32) 519. ⫺ 4 Siuts, H.: Jenseitsmotive im dt. Volksmärchen. Lpz. 1911, 89⫺106, 255⫺264; Lüthi (wie not. 1) 18⫺22. ⫺ 5 Swahn, J.-Ö.: The Tale of Cupid and Psyche. (Aarne-Thompson 425 & 428). Lund
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Zauberinsel ⫺ Zauberkreis
1955, 280⫺286; cf. The Pentamerone of Giambattista Basile 5. ed. N. M. Penzer. L./N. Y. 1932, 3; Guterman, N.: Russian Fairy Tales. N. Y. 1973, 580⫺ 588; KHM 88. ⫺ 6 Roberts, W. E.: The Tale of the Kind and Unkind Girls. Detroit 1994, 92, 94, 97. ⫺ 7 Aarne, A.: Vergleichende Märchenforschungen. In: J. de la Soc. finno-ougrienne 25 (1908) 39⫺44. ⫺ 8 Propp, W.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Mü. 1972, 43⫺46; cf. auch ibid., 47⫺ 52 (Zaubermittel). ⫺ 9 Guerreau-Jalabert D 810⫺D 813. ⫺ 10 Hartland, E. S.: The Legend of Perseus 1. N. Y. 1972, 74⫺85. ⫺ 11 Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 86⫺88. ⫺ 12 Lüthi (wie not. 1) 34⫺60; Mayor, A.: The Nessus Shirt in the New World. In: JAFL 108 (1995) 57⫺74, hier 66 sq. ⫺ 13 z. B. Müller, J.: Sagen aus Uri 3. Basel 1945, num. 1335⫺ 1337; Reiser, K.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus 1. Kempten 1895, num. 142; Kohlrusch, C.: Schweiz. Sagenbuch. Lpz. 1854, 17 sq., 48. ⫺ 14 Lüthi (wie not. 1) 114⫺143. ⫺ 15 Christiansen, Migratory Legends, num. 6045. ⫺ 16 Horn, K.: Der aktive und der passive Märchenheld. Basel 1983, 68⫺73, 94⫺98. ⫺ 17 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales (FFC 239). Hels. 1987, 413; cf. Lüthi, M.: The European Folktale. Bloom. 1986, 56⫺58.
Eugene, Oregon
Christine Goldberg
Zauberinsel J Insel
Zauberkreis (Mot. D 1272), Konzept von Volkserzählung, Volksglauben und populärer J Magie1. Der Kreis gilt als Inbegriff von Ausgewogenheit und Vollendung, Symbol des Göttlichen und Ausdruck der kosmischen Harmonie2; auf eine prähist. kultische Bedeutung verweisen u. a. die Steinkreise von Stonehenge und Avebury, die zu neopaganen Deutungen anregten. In solchen magisch-religiösen Zusammenhängen ist auch der Z. zu sehen. Der Z. ist ein Zeichenzauber3, der den Raum in ein Innen und ein Außen teilt und seine Kraft einerseits aus dieser Abgeschlossenheit4, andererseits aus der Symbolik der Kreisform selbst zieht. Berichte über Z.e erscheinen in Sagen, religiösen Texten, Wunderberichten und Märchen (bes. solchen mit Nähe zur Sage), in oriental. ebenso wie in westl. Überlieferung und sind ⫺ anscheinend vor allem in Form eines einschließenden, bindenden Zaubers (J Bann, J Festbannen) ⫺ seit der Antike nachweisbar: So eignet sich der
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Hirte Perdikkas im Gründungsmythos der makedon. Dynastie die Sonne als Signum kgl. Macht an5, indem er „mit dem Messer einen Kreis um den Sonnenschein auf der Diele des Gemaches [zog und] dreimal von dem Sonnenschein in seine Tasche [schöpfte]“ (Herodot 8,137)6. Laut Theophrast (372⫺288 a. Chr. n.; Historia plantarum 6,2,9) waren drei Z.e Bestandteil der magischen Praktiken beim Gewinnen der J Mandragora; ähnliches findet sich bei J Plinius (Historia naturalis 21,19; 25,21; 25,94), der auch erklärt (22,60), daß ein Skorpion nicht aus einem Kreis entkommen könne, den man mit einem Heliotrop-Zweig um ihn herum beschrieben hat. Den Erzähltexten zufolge wird der magische bzw. heilige Raum des Z.es meist nur vorübergehend geschaffen. Oft wird er mit (geweihter) Kreide7, einem Schneidewerkzeug bzw. einer Waffe aus J Eisen (Messer, Säbel, Schwert), einem Stock oder einer Rute gezogen, oder er wird durch Auslegen von (meist zauberkräftigem) Material oder einfaches Umrunden hergestellt8. In einem weiteren Sinn sind auch ringförmige Gegenstände (J Ring, J Gürtel)9, die Umgürtung von Städten oder Kirchen10 oder sakrale Bereiche mit analoger Schutzfunktion (z. B. der ,Altarkreis‘11) als Z.e aufgefaßt worden. Hexen- bzw. FairyRinge12 ⫺ d. h. Gras- oder Pilzkreise, die angeblich Tanzplätze (Mot. F 261.1, F 261.1.1, F 262.10.2) und den Eingang ins Feenreich markieren ⫺ sind dagegen ein Tabuphänomen (cf. Mot. C 523.2) und sollen von Menschen nicht betreten werden. Im europ. Märchen ist der Z. vor allem als J Abwehrzauber konnotiert (Mot. D 1381.11, G 303.16.19.15), der von Geistern und Dämonen Bedrohten Schutz und Zuflucht bietet: dem Erretter einer fluchbeladenen toten Königstochter (AaTh/ATU 307: J Prinzessin im Sarg)13, dem armen Mann bei der J Grabwache eines (reichen) Toten, den der J Teufel holen will (AaTh/ATU 815: J Schatz in der Totenhaut)14, einem Teufelsbündner (J Teufelspakt)15 oder einem J Kind, das dem Teufel verkauft oder versprochen wurde (AaTh/ATU 810: J Fallstricke des Bösen; cf. ferner Subtyp 1 von AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau). Meist tritt zum apotropäischen Aspekt noch ein operatives Moment hinzu, denn durch Ausharren im Z. wird
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Zauberkreis
meist J Erlösung bewirkt, oder der Geist bzw. Teufel wird vertrieben16. Gelegentlich kommt das Motiv des Z.es auch im Schwankmärchen vor, so in einer poln. Var. von AaTh 330 A/ ATU 330: J Schmied und Teufel, in der der Schmied in der Hölle die Teufel aus dem Z. heraus drangsaliert und die armen Seelen erlöst17. Ähnlich wie im Märchen wird auch in der Sage der Z. vielfach zum Schutz vor Zwergen, Hexen, Spuk, dem Teufel, der Wilden Jagd oder anderen Bedrohungen verwendet18, bisweilen im Rahmen einer Mutprobe, zum Erlernen bes. Fähigkeiten oder zur Aufhebung von Schadenzauber19; sogar der Teufel selbst umgibt sich mit einem Z., als er mit Goldmachen beschäftigt ist20; darüber hinaus dient der Z. in der Sage als Gegenzauber dazu, den Teufel, böse Geister, Krankheitsdämonen, Diebe, das Feuer, giftige Tiere und andere Gefahren festzubannen und dadurch unschädlich zu machen21. Böser Spuk kann den in den Z. Geflüchteten bis zum Hahnenschrei von außen bedrängen, oder er muß sich vor Gaukelbildern hüten, mit denen der Teufel ihn in Sicherheit wiegen will, und schon allein das Hinausstrecken eines Fingers kann die Wirkung des Z.es zunichte machen22. Überhaupt wird die Kraft des Z.es gegenüber der Macht der Dämonen als prekär eingeschätzt, so daß er fast immer mit anderen Schutzmitteln kombiniert wird, vor allem mit J Bibel (cf. AaTh/ATU 810), J Kreuzzeichen23 oder Weihwasser24. In KHM 31, AaTh 706: J Mädchen ohne Hände scheint die Reinigungskraft von Wasser und Tränen den Teufel stärker als der Z. abzuschrecken; in Nikolaj J Gogol’s Vij (cf. AaTh/ATU 307) hebt der Blick des Erdgeists die Wirkung des Z.es sogar völlig auf; auch in Dorothea Viehmanns Version von AaTh/ATU 400 gelingt es dem Teufel, den Z. zu brechen25; und in einer Schweizer Sage zerreißt die weiße Schlange den im Z. stehenden Schlangenbanner26. Die Unzuverlässigkeit von Z.en evozieren schon ma. Exempla: Z. B. wird die J Pfaffenköchin vom Teufel aus dem Z. geholt, den ein Ritter zu ihrer Rettung um sie gezogen hat (Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 12,20)27. Einen erfolgreichen Schutz des Eingeschlossenen thematisieren dagegen legendenartige
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Erzählungen aus verschiedensten Kulturen: So heißt es von frühchristl. kelt. Heiligen, einem arab. ,Gottesfreund‘ und einem chin. Magier gleichermaßen, sie hätten ihre Herde durch einen Z. abgeschirmt28; J Mohammed schützt seine Gefährten mit einem Z. vor den Dschinnen, ein jüd. Wundertäter seine Genossen vor kriegerischen Angriffen29. Der Z. ist ferner eine Stätte der Verhandlung mit den numinosen Mächten: In agad. und islam. Legenden flehen die Beter Gott aus einem Kreis heraus um Regen oder um Wasser an30; J Moses bittet um Heilung seiner Schwester und um Aufschub seines Todes31; in KHM 92, AaTh/ATU 400 ist der Z. Schauplatz der Unterhandlung von Vater und Sohn mit dem Teufel. Schließlich sprechen narrative Texte verschiedenster Art vom Z. als Ort der operativen Magie. In der ind. Erzählliteratur (Rahmengeschichte der J Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯; J Somadevas Katha¯saritsa¯gara 3,20) ist von grausamen Ritualen die Rede, die mit J Menschenopfern verbunden sind32. Vor allem aber geht es im Z. um Beschwörung, in europ. Erzählungen speziell des Teufels. J Zauberbücher wie Dr. Fausts vierfacher Höllenzwang (1501) popularisierten den Z. als wesentlichen Bestandteil des Beschwörungsrituals33. Analogien zu Geisterbeschwörungen im Z. bzw. in den Z. wie im 2. Teil von J Shakespeares Historiendrama Henry VI (1,4,25) oder in ma. Exempla34, u. a. zu Prophezeiungszwecken oder aus Geldgier, bieten Sagen des 19./20. Jh.s35. Diese betonen entweder furcht- und grauenerregende Aspekte, etwa wenn die Beschwörer den Teufel zum Schluß nicht mehr wegzitieren können36, oder vertreten eine rationalisierende Sichtweise, indem sie z. B. die Teufelsbeschwörer als abergläubische Dummköpfe hinstellen37. Inwieweit die narrativen Texte, bes. Sagen, tatsächlichen Volksglauben und magische Praxis spiegeln, ist im vorliegenden Kontext nicht zu klären38; für die Gegenwart liegen allerdings Hinweise sowohl für den Glauben an die magische Einkreisung des Besitztums der Opfer von Schadenzauber39 und die Heilung Verhexter im Z.40 als auch für den Z. als unkörperhaften Tempel im neopaganen Ritus vor41. 1 DWb. 15 (1956) 345 sq.; Harmening, D.: Wb. des Aberglaubens. Stg. 2005, 264 sq.; Thorndike, L.: A History of Magic and Experimental Science 1⫺8.
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Zauberlehrling
N. Y. 1923⫺58 (u. ö.), jeweils General Index, s. v. Circle, magic bzw. Circle; Thompson, R. C.: Semitic Magic. Its Origins and Development. L. 1908, Reg. s. v. Circle, Magic; Penzer, N. M. (ed.): The Ocean of Story. Being C. H. Tawney’s Translation of Somadeva’s Katha¯saritsa¯gara […] 1⫺10. Nachdr. Delhi 1984, hier t. 3, 201⫺203. ⫺ 2 Daxelmüller, C.: Kreis, Kreissymbolik. In: Lex. des MA.s 5. Stg./Weimar 1999, 1483⫺1485; cf. ferner Stewart, C.: Magic Circles: An Approach to Greek Ritual. In: J. of the Anthropological Soc. of Oxford 25,1 (1994) 91⫺101; zum antiken Bildsymbol der Schlange, die sich in den Schwanz beißt (Ouroboros), cf. Haage, B. D.: Ouroboros ⫺ und kein Ende. In: Licht der Natur. Festschr. G. Keil. Göppingen 1994, 149⫺169. ⫺ 3 HDM 2 (1934⫺40) 415. ⫺ 4 Straberger-Schusser [, M.]: Kreis. In: HDA 5 (1932⫺33) 462⫺478, hier 463. ⫺ 5 Kleinknecht, H.: Herodot und die makedon. Urgeschichte. In: Hermes 94,2 (1966) 134⫺ 146. ⫺ 6 Aly, W.: Volksmärchen, Sage und Novelle bei Herodot und seinen Zeitgenossen. Göttingen 1921, 196 sq., Zitat 196. ⫺ 7 z. B. Merkelbach, V.: Der Grabhügel. Diss. Mainz 1964, 87 sq.; HDM 2, 415; cf. HDA 5, 460⫺462. ⫺ 8 Straberger-Schusser (wie not. 4) 463 sq.; Merkelbach (wie not. 7) 87⫺89; zum Umrunden cf. Penzer (wie not. 1) t. 1, 190⫺ 193. ⫺ 9 Straberger-Schusser (wie not. 4) 464, 470; cf. z. B. Vuorela, T.: Der böse Blick im Lichte der finn. Überlieferung (FFC 201). Hels. 1967, 80⫺ 83. ⫺ 10 Saintyves, P.: Ceintures magiques et processions enveloppantes. In: RTP 25 (1910) 113⫺123, hier 113⫺116. ⫺ 11 Merkelbach (wie not. 7) 87 und pass.; cf. ferner Colshorn, C. und T.: Märchen und Sagen. Hannover 1854, num. 46. ⫺ 12 Mencej, M.: Walking in Circles. In: ead. (ed.): Space and Time in Europe. Ljubljana 2008, 35⫺65, hier 39 sq.; DWb. 4,2 (1877) 1303. ⫺ 13 cf. auch Cammann, A./Karasek, A.: Volkserzählung der Karpatendeutschen ⫺ Slowakei 1⫺2. Marburg 1981, hier t. 1, 220 sq. (Schlangentochter eines Königspaars); Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺4. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 1989⫺92, hier t. 2 (1989) 380 sq., 490 (Versuch der Erlösung einer verzauberten Schloßjungfrau). ⫺ 14 Merkelbach (wie not. 7) 87⫺91 und pass. ⫺ 15 Rittershaus, A.: Die neuisl. Volksmärchen. Halle 1902, num. 87. ⫺ 16 Be´aloideas 21 (1951/52) 309, num. 30; Krzyz˙anowski, num. 372. ⫺ 17 Piprek, J.: Poln. Volksmärchen. Wien 1918, 160⫺164. ⫺ 18 Straberger-Schusser (wie not. 4) 469 sq.; ähnlich in der islam. Heiligenlegende, cf. Gramlich, R:. Die Wunder der Freunde Gottes. Wiesbaden 1987, 424. ⫺ 19 Büchli (wie not. 13) t. 2 (1989) 600 sq.; Polite¯s, N. G.: Paradoseis 1. Athen 1904, num. 702; Stewart (wie not. 2) 91 sq. ⫺ 20 Cammann, A.: Märchenwelt des Preußenlandes. Schloß Bleckede 1973, 350. ⫺ 21 Straberger-Schusser (wie not. 4) 465⫺467; Penzer (wie not. 1) t. 2, 100. ⫺ 22 Straberger-Schusser (wie not. 4) 470 sq.; z. B. ferner Cammann/Karasek (wie not. 13) t. 1, 421. ⫺ 23 cf. schon Liber exemplorum (13. Jh.) num. 95; z. B. auch Cammann (wie not. 20)
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352. ⫺ 24 z. B. Merkelbach (wie not. 7) 32, 34, 36 sq. u. ö.; Be´aloideas 21 (1951/52) 309, num. 30 und 316, num. 43; Cammann/Karasek (wie not. 13) t. 2, 236. ⫺ 25 KHM/Rölleke 3, 166. ⫺ 26 Büchli (wie not. 13) t. 1 (1989) 815 sq. ⫺ 27 cf. ferner Tubach, num. 1071 (a). ⫺ 28 Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 100; Gramlich (wie not. 18) 424; Eberhard, Typen, num. 184. ⫺ 29 Goldziher, I.: Z.e. In: Aufsätze zur Kultur- und Sprachgeschichte vornehmlich des Orients. Festschr. E. Kuhn. Mü. 1916, 83⫺86, hier 85 sq. ⫺ 30 Scheiber, A.: Essays on Jewish Folklore and Comparative Literature. Bud. 1985, 262⫺264; Goldziher (wie not. 29) 85; id.: Zauberelemente im islam. Gebet. In: Oriental. Studien 1. Festschr. T. Nöldeke. Gießen 1906, 303⫺329, hier 308. ⫺ 31 Ginzberg 3, 260, 418. ⫺ 32 Ruben, W.: Ozean der Märchenströme 1 (FFC 133). Hels. 1944, 6; Penzer (wie not. 1) t. 2, 98 sq., 104, 112 sq.; t. 6, 167. ⫺ 33 cf. Daxelmüller (wie not. 2) 1484. ⫺ 34 Tubach, num. 1069, 1070, 1071 (b). ⫺ 35 Penzer (wie not. 1) t. 2, 98 sq. (not. 4); Cammann/Karasek (wie not. 13) t. 2, 83, 236 sq. ⫺ 36 ibid., 83. ⫺ 37 ibid., 236 sq. ⫺ 38 cf. Harmening, D.: Superstitio. B. 1979; id.: Anthropologie historique ou herme´neutique litte´raire? In: Ethnologie franc¸aise 27 (1997) 445⫺456. ⫺ 39 FavretSaada, J.: Les Mots, la mort, les sorts. La sorcellerie dans le Bocage. [P.] 1977, 210. ⫺ 40 Stewart (wie not. 2) 91 sq. ⫺ 41 Cunningham, C.: Wicca. A Guide for the Solitary Practitioner. St. Paul, Minn. 1988, 105⫺108 u. ö.; cf. Pype, K.: Transgressiviteit in rituelen van Vlaamse Wicca’s. In: Vk. 105,3 (2004) 243⫺273, bes. 260⫺ 265, 271.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Zauberlehrling, Erzählstoff mit langer literar. Tradition, als deren älteste Version eine in J Lukians Philopseude¯s (Lügenfreund)1 angeführte Geschichte gilt. Das darin geschilderte Ereignis soll sich in Ägypten zugetragen haben: Eukrates berichtet, daß sein Lehrer Pankrates immer, wenn sie in ein Wirtshaus kommen, einen hölzernen Türriegel, einen J Besen oder einen hölzernen Stößel nimmt, ihm Kleider anlegt und ihn mit magischen Worten bespricht. Sogleich wird der Gegenstand zu einem Menschen, geht hinaus, schöpft Wasser, besorgt die Mahlzeit und wartet ihnen auf. Eukrates erlauscht den J Zauberspruch des Pankrates und macht sich später selbst einen Stößel zum Diener. Doch dieser überschwemmt das Haus, weil Eukrates den Lösezauber nicht kennt. Nicht einmal dadurch, daß er ihn mit einer Axt spaltet, kann Eukrates ihn zur Ruhe bringen; stattdessen tragen nun zwei Stößel Wasser herbei. Pankrates kommt schließlich zu Hilfe, verschwindet danach aber spurlos.
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Zauberlehrling
G. A. Reichling äußerte die vage Vermutung, daß Lukians Erzählung eine demotische Quelle zugrunde liegen könne2. Das Motiv der Verdoppelung durch Zerschlagen erscheint auch in der mittelpers. Schrift Selections of Zatspram (9. Jh.)3. Ein ital. Frühdruck aus dem ausgehenden MA. enthält ein Gedicht, das offensichtlich der Eukrates-Erzählung nachgebildet ist: Ein Jüngling trifft im Wald eine häßliche Alte, die in der Nacht zu einer schönen jungen Frau wird. Er bleibt bei ihr und erhält von ihr als Diener einen Stößel, den sie mit einem Kürbiskopf versehen und bekleidet hat (J Dingbeseelung). Der Jüngling befiehlt dem Stößel, ihm Wasser zu bringen, kann ihm dann aber nicht mehr Einhalt gebieten. Als das Wasser dem Jüngling bis zum Gürtel reicht, bricht die Alte den Zauber und ermahnt ihn, seine Worte künftig mit mehr Bedacht zu wählen. Sie fertigt ihm aus einem Besenstiel einen neuen Diener an, der ihm gute Dienste leistet4.
Eine kurzgefaßte Nacherzählung des Lukian-Textes findet sich 1715 in einer engl. Abhdlg über das Hexenwesen5. Der ital. Geistliche C. Calino teilt in seinem in mehreren Aufl.n erschienenen und 1735 ins Deutsche übers. Werk Il Giovanetto Giuseppe6 eine weitere, an Lukian angelehnte Version der Erzählung mit, die aus span. Inquisitionsbüchern stammen soll7: Der J Zauberer legt einen Hut auf den Besen und zieht einen Kreis um ihn (J Zauberkreis), worauf der Besen nach seinen Wünschen fragt. Es gelingt weder dem Z., den Wassersegen zu beenden, noch den Hausbediensteten, die dem störrischen Diener mit Waffen Hände und Füße abschlagen.
Da es sich bei Calinos Werk um eine Exempelsammlung zur Belehrung von Studenten handelt, schließt die Erzählung mit einer Warnung vor den Zauberkünsten des Teufels. Unabhängig von Lukian läßt sich eine Tradition erkennen, derzufolge sich Menschen aus einem unbelebten Gegenstand einen Diener hergestellt haben sollen. Nach einer Sagenüberlieferung von der Mosel aus der Mitte des 19. Jh.s schnitzte sich der Abt Johannes Trithemius (1426⫺1516) aus Holz eine Dienerin, die alle seine häuslichen Arbeiten verrichtete8. Einer estn. Quelle zufolge wurde aus einem gebrauchten Besen ein J Kobold hergestellt, der einem Menschen möglichst ähnlich und ihm dienstbar sein sollte (J Hausgeister, J Automat)9. Das bekannteste Beispiel für die Er-
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schaffung eines dienstbaren menschenähnlichen Geschöpfs ist die jüd. Sage vom J Golem, die in der 2. Hälfte des 18. Jh.s auf den Rabbi Löw von Prag (gest. 1609) übertragen und von J. J Grimm 1808 in Deutschland bekanntgemacht wurde. Der Sage nach soll der Rabbi einen Diener aus Lehm gebildet haben, der alle groben Arbeiten im Haus für ihn ausführte. In einer Version der Sage wird berichtet, der Golem habe die Stadt Prag mit Wasser aus der Moldau überschwemmt10. Die vermutlich bekannteste Ausgestaltung des Stoffs ist J Goethes 1797 entstandene Ballade Der Zauberlehrling11: Heimlich befiehlt der Lehrling eines Zauberers einem Besen, Wasser für ein Bad herbeizuschaffen, doch er kennt den Lösezauber nicht. Als bereits das ganze Haus überschwemmt ist, spaltet er den Besen in zwei Teile; doch nun wird doppelt soviel Wasser herbeigeholt. Verzweifelt ruft der Lehrling nach seinem Meister: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“12. Mit der Formel „In die Ecke, Besen, Besen, seid’s gewesen“ beendet der Meister die Zauberhandlung13.
Es wird allg. angenommen, daß Goethe durch Christoph Martin J Wielands Übers. von Lukian zu seiner Ballade inspiriert wurde14. Möglicherweise hatte er jedoch Lukians Erzählung schon vor der Wielandschen Übers. durch seinen Hebräischlehrer J. G. Albrecht kennengelernt, dessen Lieblingsautor Goethes Lebenserinnerungen15 zufolge Lukian war. 1817 gab F. Passow den ersten Hinweis auf diese Quelle16. Die Bearb. eines angeblich alten Volksbuchs, die möglicherweise von Goethes Z. beinflußt ist, berichtet von der Frau des Rabbi, die dem Golem den Auftrag erteilt, für das Pessahfest zwei Wasserbehälter zu füllen. Der Golem überschwemmt das Haus und stellt seine Tätigkeit erst ein, als der Rabbi es ihm befiehlt. „Noch heute“, so die Quelle, „sagt man zu einem ungeschickten Handwerker: ,Du bist zur Arbeit fähig, wie Josef Golem zum Wassertragen.‘“17 Goethes Ballade hatte eine starke Nachwirkung: Der dt. Komponist Carl Loewe (Der Zauberlehrling, 1832) und der frz. Komponist Paul Dukas (L’apprenti sorcier, 1897) vertonten sie; W. J Disney verwendete u. a. Dukas’ Vertonung für seinen Zeichentrickfilm Fantasia (1940) mit Mickey Mouse als Z.; 1971 gestaltete Tomi Ungerer aus dem Stoff ein Kin-
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Zaubermärchen
derbuch18; 2009 entstand das Musical Der Z. Ein musikalisches Zauberabenteuer von Michael Wempner, und Jerry Bruckheimer benutzte das Thema in seinem Film The Sorcerer’s Apprentice (2010). 1 Lucian von Samosata: Sämtliche Werke. Übers. C. M. Wieland 1. Lpz. 1788, 149⫺197. ⫺ 2 Reichling, G. A.: A Demotic Folk-Tale the Basis of Goethe’s ,Der Z.‘ In: J. of the American Oriental Soc. 39 (1919) 295⫺298; cf. Brügger, L.: Der Z. und seine griech. Qu. In: Goethe. N. F. des Jb. der GoetheGes. 13 (1951) 243⫺258, hier 243. ⫺ 3 cf. Marzolph, U.: The Good, the Bad and the Beautiful. The Survival of Ancient Iranian Ethical Concepts in Persian Popular Narratives of the Islamic Period. In: Early Islamic Iran. ed. E. Herzig/S. Stewart. L. 2012, 18⫺ 31, hier 21. ⫺ 4 Arlia, C. (ed.): La Fabula del Pistello da l’Agliata, tratta da un’antica stampa, e La Quistione d’Amore, testo inedito del sec. XV. Bologna 1878; cf. Köhler/Bolte 2, 435⫺437. ⫺ 5 Boulton, R.: A Compleat History of Magick, Sorcery and Witchcraft 1. L. 1715, 213. ⫺ 6 Calino, C.: Il Giovanetto Giuseppe proposto a Giovanetti studiosi. Venedig 1721; cf. Reifferscheid, A.: Zu Goethes Z. In: Zs. für dt. Philologie 5 (1874) 206⫺209. ⫺ 7 Calino, C.: Junger Josef. Der studierenden Hoch-Adelichen Jugend Deß Xaveriranischen Seminarii zu Pologna In verschidenen Anreden. Augsburg 1735, 8⫺10. ⫺ 8 Hocker, N.: Sagen von der Mosel. In: Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde 1 (1853) 189⫺195, hier 189, num. 3. ⫺ 9 Boubrig, J. S. F.: Zur nähern Kenntniß der Volkssagen und des Aberglaubens der Ehsten aus dem Kirchspiele Odenpä. In: Verhandlungen der Gelehrten Estn. Ges. zu Dorpat 1,2. Lpz. 1846, 79⫺93, hier 89; Grimm, Mythologie 3, 315. ⫺ 10 Held, H. H.: Das Gespenst des Golem. Mü. 1927, 57. ⫺ 11 Der Z. Romanze. In: Musen-Almanach für das Jahr 1798. ed. F. von Schiller. Tübingen 1797, 32⫺ 37; Goethe, J. W. von: Werke 1,1 (Weimar 1887) 215⫺218. ⫺ 12 cf. Büchmann, G.: Geflügelte Worte. Ffm./B. 401995, 121. ⫺ 13 Wild, R.: Der Z. In: Goethe-Hb. 1: Gedichte. Stg./Weimar 1996, 293 sq. ⫺ 14 Brügger (wie not. 2) 243; Ribbat, E.: „Die ich rief, die Geister …“. Zur späten Wirkung einer Zaubergeschichte Lukians. In: Lukian. Die Lügenfreunde oder: der Ungläubige. ed. M. Ebner u. a. Darmstadt 2001, 183⫺194, hier 190. ⫺ 15 Goethe, J. W. von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. ed. K.D. Müller. Ffm. 1986, 139 sq. ⫺ 16 Passow, F.: Über die romantische Bearbeitung hellenischer Sagen [1817]. In: Vermischte Schr. ed. W. A. Passow. Lpz. 1843, 97⫺110, hier 108 sq. ⫺ 17 Bloch, C.: Der Prager Golem. Wien 1919, 53 sq. ⫺ 18 Hazen, B./Ungerer, T.: The Sorcerer’s Apprentice. N. Y. 1969 (dt. Übersetzung: Der Zauberlehrling. Zürich 1971).
Wellington
Brigitte Bönisch-Brednich
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Zaubermärchen 1. Allgemeines ⫺ 2. Struktur und Funktion ⫺ 3. Herkunft ⫺ 4. Rezeption
1 . All ge me in es. Z. (AaTh/ATU 300⫺749) bilden zusammen mit J Legendenmärchen (AaTh/ATU 750⫺849), J Novellenmärchen (AaTh/ATU 850⫺999) und Erzählungen vom dummen Riesen, Teufel oder Menschenfresser (AaTh/ATU 1000⫺1199) die Gruppe der ,eigentlichen J Märchen‘ und innerhalb dieser wiederum den Kern. Sie vertreten quasi den Idealtypus der Gattung und sind durch zauberische, d. h. auf rationale Weise nicht nachvollziehbare, übernatürliche Elemente charakterisiert. So führt etwa das Verzehren eines Apfels oder eines Fisches zu Schwangerschaft (J Empfängnis, wunderbare), ein Frosch verwandelt sich in einen Prinzen (J Verwandlung), ein ganzes Schloß fällt in einen 100jährigen J Zauberschlaf, ein J Zauberspruch öffnet die Höhle, die einen Schatz enthält1. Das Zaubern ist ein magischer Vorgang (J Magie), die J Verzauberung eine der Vernunft unerklärliche, geheimnisvolle Verwandlung von Personen oder Gegenständen in eine andere Gestalt oder einen anderen Zustand. Diese Metamorphose vollzieht sich ⫺ ob plötzlich oder allmählich, ob der Akteur bekannt ist oder nicht ⫺ meist als ein intendierter Prozeß, der Gutes oder Böses bewirken soll. Aus einer realen Perspektive erscheinen die Folgewirkungen verwunderlich, in der Märchensphäre hingegen selbstverständlich und unhinterfragt (cf. dagegen sog. Lügenmärchen [J Lüge, Lügengeschichte] sowie J Schwankmärchen)2. Auch das J Wunder betont das rational Unerklärliche des Geschehens, in der Regel ohne das Wunderereignis wie in den christl. J Legenden dem Wirken göttlicher oder heiliger Personen bzw. dämonischer Wesen wie dem J Teufel zuzuschreiben. So werden Z. auch Wundermärchen genannt3. C. W. von J Sydow sprach von J Chimäremärchen und zählte dazu auch eine Gruppe von Novellenmärchen (AaTh/ATU 850⫺879), wenngleich dort weder Zauber noch Wunder vorkommen4. Das Herzstück des Z.s ist die Wunscherfüllung (J Wunsch, wünschen); es handelt sich um J Wunschdichtung oder um Glückserzählungen, die für Held oder Heldin in der Regel
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Zaubermärchen
zu einem guten Ende führen: zu Heimkehr, Heilung oder Hochzeit, J Erlösung, Sieg des Gerechten und Niederlage des Bösen. Nur ein kleiner Teil der Z. (z. B. AaTh/ATU 555: J Fischer und seine Frau) hat einen schlechten Ausgang (cf. J Antimärchen)5. Trotz ähnlicher Konfliktkonstellationen unterscheidet sich das Z. deutlich vom J Mythos. In beiden Genres werden Familiendramen existentiell zugespitzt, aber während der Mythos in der Götterwelt spielt, bleibt das Z. im Irdischen verhaftet. Dort wirken Schicksalsbestimmung und Ambivalenz, hier werden J Gut und Böse strikt getrennt. Darum kann im Z., anders als im Mythos, das abgespaltene Böse für immer aus der Welt verschwinden. Im Z. triumphieren die Jungen, es siegt die Erneuerung. Das Z. ist, der dort versammelten J Bosheit und J Grausamkeit zum Trotz, lebensbejahende Dichtung schlechthin (J Optimismus)6. Allen Definitionen, stilistischen Analysen und funktionalen Bestimmungen der Gattung Märchen liegen mehr oder weniger ausdrücklich die Z. zugrunde. Das gilt bes. für M. J Lüthis Wesensbestimmung des europ. Volksmärchens, dessen Merkmale speziell auf das Z. gemünzt erscheinen: J Eindimensionalität, J Flächenhaftigkeit, J Abstraktheit, J Isolation und J Allverbundenheit, J Sublimierung und J Welthaltigkeit7. Z. lassen sich nach dem zauberischen Element differenzieren, das in der jeweiligen Erzählung dominiert, allerdings nicht immer eindeutig zu gewichten ist. A. J Aarne trennte Z. mit übernatürlichem Gegner (AaTh/ATU 300⫺399) und mit übernatürlichem oder verzaubertem Partner (AaTh/ATU 400⫺459) von Z. mit einer übernatürlichen Aufgabe (AaTh/ ATU 460⫺499) und mit übernatürlichen Helfern (AaTh/ATU 500⫺559). Er faßte ferner Z. mit bes. J Zaubergaben (AaTh/ATU 560⫺ 649) und mit übernatürlichem Können oder Wissen (AaTh/ATU 650⫺699) sowie mit anderen übernatürlichen Momenten (AaTh/ATU 700⫺749) jeweils zu einer Gruppe zusammen. Freilich sind nicht alle Forscher bereit, sämtliche Erzähltypen der Gruppe AaTh/ATU 300⫺749 als Z. zu begreifen, manche klassifizieren sie eher als Sage8. Den Z. werden vereinzelt auch Geschichten aus weiteren Bereichen der eigentlichen Märchen sowie be-
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stimmte J Tiermärchen zugerechnet9. Solche Zuordnungen beruhen z. T. auf Motivähnlichkeiten bzw. -unterschieden, werden überwiegend aber unter strukturellen oder funktionalen Aspekten getroffen. Im übrigen gibt es etliche weitere ⫺ vor allem strukturalistische ⫺ Modelle (z. B. von H. J Jason, E. M. J Meletinskij, A. I. J Nikiforov), die Z. in Subkategorien einteilen, z. B. nach ihren Plots oder dem Geschlecht der Protagonisten10. 2 . S tr uk tu r u nd Fu nk ti on. Genauer als durch ihre zauberischen Inhaltsmomente, die auch in der Sage vielfältig aufscheinen, zeigen sich die Z. durch ihre Erzählstruktur (J Struktur) bestimmt. Z. sind mehrgliedrige Geschichten, deren Episoden und Einzelmotive in einer charakteristischen Folge angeordnet und miteinander verschränkt sind. Gleichwohl bleibt genügend Spielraum, um das Z. aus mehreren Perspektiven unterschiedlich zu definieren. Stofflich betonte Lüthi im Z. das ,welthaltige‘ J Abenteuer eines Protagonisten zwischen Ausfahrt und Heimkehr11, während R. B. Bottigheimer die Wiederherstellung einer sozioökonomischen Ausgangsposition oder den Aufstieg des Helden aus Armut zu Reichtum herausstellte (restoration bzw. rise fairy tales)12; V. Ja. J Propp beschrieb die Lösung einer schwierigen J Aufgabe durch den Helden morphologisch-strukturell (J Morphologie)13; funktionell hob W. J Scherf das innere Miterleben einer Selbst- oder Partnerfindung hervor14. Neben einer solchen psychol. Sichtweise betonte B. J Holbek auch die gesellschaftsgebundene Komponente des Z.s15. Aus marxistischer Sicht galten Z. als Ausdruck „der sozialen Hoffnungen des werktätigen Volkes“16. Anhand der russ. Z. erkannte Propp eine stabile Struktur, die in ihrer vollständigen Form aus zwei Teilen besteht, von denen jeder auch für sich zu existieren vermag. Im Z. folgen nach Propp regelmäßig maximal 31 J Funktionen (im Sinne von Ereignistypen wie z. B. ,Ein Familienmitglied verläßt das Haus für eine Zeit‘, ,Der Gegenspieler wird besiegt‘, ,Der Held vermählt sich und besteigt den Thron‘) aufeinander, wobei einzelne fehlen und andere mehrmals wiederholt werden können17. Auch für Scherf war das Z. im Prinzip zweigliedrig: Im ersten Teil löst sich der Prot-
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Zaubermärchen
agonist als Heranwachsender von seinen Eltern und findet eigenständig einen Partner, doch die Bindung zerbricht an seiner Unreife; erst im zweiten Teil wird eine verläßliche Partnerbindung erreicht. Neben diesen Haupttyp stellte Scherf zweitens den bereits mit der ersten Partnerfindung endenden Typ und drittens das eigentliche J Kindermärchen18. Für Scherf gestaltete sich die Kernthematik des Z.s ⫺ Ablösung, Selbst- und Partnerfindung; gegebenenfalls das Scheitern der ersten Partnerschaft, Neuansatz, wirkliche Selbstfindung und wirkliche Partnerschaft ⫺ wie ein Drama in fünf Akten: (1) Isolation oder Exilierung, (2) Zuspitzung der Krisensituation, (3) Problemlösung, (4) erneute Bewährungsprobe, (5) transformierter Ausgangszustand19. Z. mit einem männlichen oder einem weiblichen Helden besitzen die gleiche Struktur, doch sind die sprachlich vermittelten Bilder jeweils geschlechtsspezifisch akzentuiert und spiegeln traditionelle Rollenbilder20. Anhand des reichhaltigen von E. T. J Kristensen in Jütland gesammelten Materials fokussierte Holbek in einem paradigmatischen Interpretationsmodell die im sozialen Leben wichtigen Oppositionen niedrig-/hochgestellt, jung/erwachsen, männlich/weiblich21. Die ins Wunderbare verwandelte Wirklichkeit des Z.s erscheint hier in erster Linie als ein Reflex auf soziale Zustände in der Erfahrungswelt ihrer Erzähler(innen). 3 . H er ku nf t. Der Ursprung der Z. wird seit den gezielten Sammelprojekten der Romantik in unterschiedlichen Bereichen gesucht und bis heute kontrovers diskutiert. Eine grundlegende Frage ist, ob man Z. eher als Produkte der Vergangenheit und sich wandelnder Wirklichkeitseinstellungen verstehen will oder als elementaren Ausdruck der menschlichen Psyche (J Universalie) und ob man sie überhaupt als Gattung insgesamt oder nur getrennt für einzelne Sujets konkreten Herkunftsbereichen zuordnen kann. Um 1800 sah man Z. als Erzeugnisse des ,Volksgeists‘ (J Naturpoesie), bald darauf, etwas historischer, als Überreste mythischer Überlieferung (J Mythol. Schule, J Survivaltheorie). Ihre Entstehungszeit wurde in frühen Kulturstufen der Menschheit angesetzt (J Anthropol. Theorie)22 oder bestimmten Lebensumwelten (z. B. der Eis- oder Steinzeit) zugeordnet, in
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denen man hypothetische Weltbilder wirken sah23. Einzelne Märchenmotive scheinen von älteren sozialen Institutionen inspiriert, bes. den J Initiationsriten24. Solche Hypothesen werden aber oft von recht äußerlichen Inhaltsmomenten abgeleitet, erscheinen quellenkritisch bedenklich und sind speziell auch fragwürdig im Hinblick auf eine Verallgemeinerung für alle Z. (J Altersbestimmung des Märchens). Propp führte das Entstehen der Z. aufgrund der sich in ihnen spiegelnden Produktionsverhältnisse auf patriarchale Stammesgesellschaften (J Patriarchat) zurück25, Meletinskij auf deren Zerfall26. Gegenüber der Annahme prinzipiell stabiler Märchensujets ging B. J Kerbelyte˙ von ursprünglich sehr einfachen, elementaren Zaubererzählungen aus und postulierte eine Entwicklung der Märchenstruktur, die immer wieder auf neue soziale Zustände, z. B. die Veränderung von Heiratsformen, reagiert habe27. A. J Wesselski vermutete eine literar. gestützte Ausprägung auch von Z. (J Schriftlichkeit)28. In der J Psychoanalyse werden Z. allg. auf psychische Gegebenheiten zurückgeführt und als Reflexe individueller J Träume (S. J Freud) verstanden; die analytische Psychologie (C. G. J Jung) interpretiert sie als Spiegelungen archetypischer Vorstellungen (J Archetyp) des kollektiven J Unbewußten (J Kollektivität). Gegenwärtig werden Z. unter empirischen Aspekten, ohne ihre Verankerung in archetypischen Strukturen, ihre Beeinflussung durch sozialhist. Gegebenheiten und ihre Einbindung in Erzähltraditionen zu leugnen, überwiegend als kreative Schöpfungen (J Kreativität) einzelner, meist anonym gebliebener Individuen aufgefaßt. Nach heutigem Kenntnisstand hat sich die charakteristische Textgestalt des Z.s vielfach erst im konkreten Überlieferungsprozeß (J Verbreitung, J Vermittlung), hauptsächlich wohl zwischen dem 16. und 18. Jh., herausgebildet29. Eine wichtige Rolle für die dt. und europ. Überlieferung des 19./20. Jh.s übernahmen J. und W. J Grimm, welche die Z. in ihren J Kinder- und Hausmärchen von Aufl. zu Aufl. strukturell und sprachlich immer prägnanter ausgestalteten. Als ältester Z.beleg gilt weithin Das ägypt. J Brüdermärchen in einem Papyrus aus dem 13. Jh. v. u. Z.; als eines der wenigen antiken
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Zeugnisse wird ferner die Geschichte von J Amor und Psyche (AaTh/ATU 425 sqq.) in den Metamorphosen des J Apuleius angeführt, dessen Text die strukturelle Nähe zwischen Z. und Mythos demonstriert. Die Frage, in welchem Grade das Z. als ein europ. oder ,oriental.-europ.‘30 Kulturprodukt gelten muß, ist nicht hinreichend geklärt. In Jägererzählungen der Mongolen und der indigenen Völker Nordamerikas scheint die Verwandlung von Tieren in Menschen oder von Menschen in Tiere (J Tierverwandlung) viel selbstverständlicher zu sein als in europ. Märchen31; russ. Z. stehen Glaubensvorstellungen näher als etwa dt. Z., die ihrerseits weniger wirklichkeitsnah als frz. Z. erscheinen32. 4 . Rez ep ti on. Mit periodisch wechselnder Intensität dienten Z. zumindest seit dem MA. als Mittel der J Unterhaltung. Wie sich dabei das Gewicht zwischen dem mündl. Erzählen und dem Lesen oder Vorlesen einer verschriftlichten Textfassung verteilt, wird unterschiedlich eingeschätzt. R. J Schenda hielt das gesellige Märchenerzählen für ein „kulturhistorisch spätes Lernprodukt aus Schulunterricht und Märchenlektüren nach bürgerlichen Anthologien“ in der 2. Hälfte des 19. Jh.s33. Dem stehen die Beobachtungen z. B. L. J De´ghs aus Ungarn oder Holbeks Studien aus Dänemark gegenüber, in denen die beachtliche Rolle von Erzählgemeinschaften und -situationen (z. B. Totenwache) sowie von Erzählerpersönlichkeiten sichtbar wird (J Erzählen, Erzähler)34. Beim Erzählen in Wandervogel-, Pfadfinderoder anderen Jugendgruppen des 20. Jh.s, auch in jüngerer Zeit beim professionellen Erzählen im privaten Kreis oder auf öffentlichen Bühnen sowie auf Erzählfestivals, gehören die Z. durchweg zum Kernrepertoire. Anhand der Märchenrezeption von Kindern konnte K. Wardetzky die durchschlagende Wirksamkeit des Z.musters im familiären und schulpädagogischen Kontext der Gegenwart einsichtig machen35. Hier garantiert das Märchen mit seiner Bindung an einen strikten Regelkanon kindgerechten Lustgewinn: durch die Kombination von Wiederholung und Variation, von Redundanz und Information, von Spannung und Entspannung36. Aufgrund seiner prägnanten Formensprache und Bildhaftigkeit kann das Z. seine Funktion als kreati-
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ves Spielmaterial und seelische Projektionsfläche trotz moderner Ironisierung, Parodierung und Karikierung auch heute noch behaupten. 1 Scherf 1, XXVIII sq.; id.: Lex. der Z. Stg. 1982, XI sq. ⫺ 2 cf. Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 3. ⫺ 3 Conrad, J.: Wonder Tales. In: Haase, D. (ed.): The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 3. Westport, Conn./L. 2007, 1041 sq.; Apo, S.: The Variability and Narrative Structures of Wondertales. In: SF 33 (1989) 151⫺160. ⫺ 4 EM 10, 127. ⫺ 5 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 46⫺55. ⫺ 6 Wardetzky, K.: Projekt Erzählen. Baltmannsweiler 2007, 61⫺92. ⫺ 7 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Bern 101997. ⫺ 8 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 51. ⫺ 9 Scherf, XXVIII; Liungman, Volksmärchen, 210⫺251; von Sydow, 70. ⫺ 10 Apo (wie not. 3); Holbek, B.: The Language of Fairy Tales. In: Kvideland, R./Sehmsdorf, H. K. (edd.): Nordic Folklore. Recent Studies. Bloom. 1989, 40⫺62; Jason, H.: Whom Does God Favor: The Wicked or the Righteous? The Reward-and-Punishment Fairy Tale (FFC 240). Hels. 1988; Meletinskij, E. M./Nekljudov, S. Ju./Novik, E. S./Segal, D. M.: Problemy strukturnogo opisanija volsˇebnoj skazki (Probleme der strukturellen Beschreibung des Z.s). In: Trudy po znakovym sistemam 4 (1969) 86⫺135; idd.: Esˇcˇe raz o probleme strukturnogo opisanija volsˇebnoj skazki (Noch einmal zum Problem der strukturellen Beschreibung des Z.s). ibid. 5 (1971) 63⫺91; Nikiforov, A. I.: K voprosu o morfologicˇeskom izucˇenii narodnoj skazki (Zur Frage der morphol. Erforschung des Volksmärchens). In: Festschr. A. I. Sobolevskij. Len. 1928, 173⫺178. ⫺ 11 Lüthi (wie not. 7) 4. ⫺ 12 Bottigheimer, R. B.: Fairy Tales. A New History. Albany, N. Y. 2009, 8⫺ 13. ⫺ 13 Propp, V.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Mü. 1972. ⫺ 14 Scherf, W.: Ablösungskonflikte in Z. und Kinderspiel. In: Medienund Sexualpädagogik 2,4 (1974) 14⫺24; id.: Beziehungskonflikte und Sich-Einbringen in die Inszenierung auf der imaginären Märchenbühne. In: Endres, M. (ed.): Krisen im Jugendalter. Mü. 1994, 53⫺ 71. ⫺ 15 Holbek, B.: Interpretation of Fairy Tales. Hels. 1987, 390⫺400. ⫺ 16 Woeller, W.: Märchen. In: Strobach, H. (ed.): Dt. Volksdichtung. Lpz. 21987, 118⫺154, hier 127. ⫺ 17 Propp (wie not. 13). ⫺ 18 Scherf 1994 (wie not. 14) 53. ⫺ 19 id.: Wer sind die Menschenfresser unserer Märchen? In: Erzählen über Orte und Zeiten. Festschr. H. Gerndt/K. Roth. Münster u. a. 1999, 181⫺200; cf. Wardetzky (wie not. 6) 211. ⫺ 20 Lehmann-Scherf, G.: Märchen von Töchtern. Mü. 2010, 204; ead.: Märchen von Söhnen. Mü. 2010. ⫺ 21 Holbek (wie not. 15) 412⫺416. ⫺ 22 Peuckert, W.E.: Dt. Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel. B. 1938, 11⫺26. ⫺ 23 Nitschke, A.: Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen 1⫺2. Stg. 1976. ⫺ 24 Gehrts, H.: Schamanistische Elemente im
Zaubermühle ⫺ Zauberring
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Z. In: id./Lademann-Priemer, G. (edd.): Schamanentum und Z. Kassel 1986, 48⫺89. ⫺ 25 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Z. s. Mü. 1987; cf. Holbek, B.: Eine neue Methode zur Interpretation von Z. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 23 (1980) 74⫺79, hier 78 sq. ⫺ 26 Meletinskij, E. M.: Geroj volsˇebnoj skazki (Der Held des Z.s). M. 1958. ⫺ 27 Kerbelyte˙, B.: The Development of the Tales of Magic and the Problem of Their Origin. In: Fabula 52 (2011) 74⫺ 91. ⫺ 28 Wesselski, Theorie. ⫺ 29 cf. Ble´court, W. de: Tales of Magic, Tales in Print. Manchester/N. Y. 2012, 7⫺10; Bottigheimer (wie not. 12); Fehling, D.: Amor und Psyche. Mainz u. a. 1977; Grätz, M.: Das Märchen in der dt. Aufklärung. Stg. 1988. ⫺ 30 Liungman, Volksmärchen, 37. ⫺ 31 cf. Scherf, W.: Bedeutung und Funktion des Märchens. Mü. 1982, 23⫺26; Findeisen, H.: Mensch und Tier als Liebespartner in der volksliterar. Überlieferung Nordeurasiens und in der amerik. Arktis. Augsburg 1956. ⫺ 32 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 184, 188. ⫺ 33 Schenda, R.: Von Mund zu Ohr. Göttingen 1993, 123. ⫺ 34 De´gh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962; Holbek (wie not. 15). ⫺ 35 Wardetzky, K.: Märchen-Lesarten von Kindern. B. u. a. 1992. ⫺ 36 ead. (wie not. 6) 211; ead./Weigel, C.: Bedrohte Kinder im Spiegel des Märchens. In: Thiele, J./Wallach, S. (edd.): Verborgene Kindheiten. Oldenburg 2007, 107⫺125.
München
Helge Gerndt
Zaubermühle J Wundermühle
Zauberpferd J Goldener, J Mann: Der wilde M., J Pegasus, J Pferd, J Vogel, Pferd und Königstochter
Zauberquelle J Quelle
Zauberring (AaTh/ATU 560), weltweit verbreitetes Zaubermärchen. Seine zentralen Motive sind J dankbare (hilfreiche) Tiere sowie die einen Gebotszauber bewirkende J Zaubergabe, meist ein ⫺ z. T. mit einem zauberkräftigen J Stein (Kap. 6) besetzter ⫺ Wunschring (J Ring, Kap. 2.1). AaTh/ATU 560 ist eines der ersten von A. J Aarne nach den Prinzipien der J geogr.-hist. Methode untersuchten Märchen1. Wenngleich Aarne sich auf die vergleichsweise geringe Anzahl von ca 150 (davon ca 80 finn.) Texten stützte, besitzen seine Ergebnisse nach wie vor weitestgehend
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Gültigkeit. Die von Aarne als J Urform bezeichnete Grund- bzw. Normalform des zweigliedrigen Märchens verläuft wie folgt2: Ein armer Junge bewahrt nacheinander einen J Hund und eine J Katze vor dem sicheren Tod. Nachdem er eine in Todesgefahr schwebende Schlange gerettet hat, gibt ihm deren Vater einen zauberkräftigen Stein, mit dem er sich alle Wünsche erfüllen kann. Er läßt sich ein Schloß bauen und heiratet die Prinzessin. Ein Widersacher stiehlt den Zauberstein und entführt die Prinzessin. Die dankbaren Tiere helfen ihrem Retter, den Zaubergegenstand wiederzugewinnen: Der Hund setzt die Katze auf seinem Rücken über das Wasser, und die Katze fängt eine Maus, die den Dieb dazu bringt, den in seinem Mund aufbewahrten Zauberstein auszuspucken. Als sich Hund und Katze auf dem Rückweg streiten, fällt der Zauberstein ins Meer, wird aber zurückerlangt. Mit Hilfe des Zaubersteins holt der Protagonist seine Frau zurück und stellt seine frühere Macht wieder her.
Literar. Fassungen von AaTh/ATU 560 lassen sich seit dem 17. Jh. nachweisen. Der früheste datierte Beleg ist J Basiles Märchen La preta de lo gallo (Pentamerone 4,1): Hier läßt der Held den Zauberstein, der sich im Kopf eines Hahns befunden hat, in einen Ring fassen. Zwei mißgünstige Zauberer listen seiner Tochter den Z. ab, zwei Mäuse helfen dem Helden, ihn wiederzuerlangen3. Auffällig ist, daß die dankbaren Tiere Hund und Katze fehlen sowie daß die Mäuse recht unmotiviert helfen. Basiles Version ist zudem mit zahlreichen außergewöhnlichen Motiven ausgeschmückt; so erfüllt sich der Held nach Gewinn des Zaubersteins zunächst den Wunsch nach J Verjüngung. Basiles Text diente u. a. als Vorlage für Clemens J Brentanos Märchen von Gockel und Hinkel (1815/16). Als AaTh/ATU 560 zu klassifizieren ist auch eine weitläufige Erzählung in der osman. Slg J Vierzig Wesire4. Wenngleich das Grundwerk möglicherweise bereits im 14. Jh. verfaßt wurde, ist die Erzählung nach bisherigem Kenntnisstand erst in wesentlich späteren Mss. enthalten5. Die durch AaTh/ATU 910 D: J Schatz hinter dem Nagel eingeleitete Var. von AaTh/ATU 560 beginnt mit der Rettung der Schlange und der folgenden Beschenkung des Helden mit einem Zauberspiegel. Der Diebstahl des Zaubergegenstands fehlt. Statt dessen wird der Held von Neidern in einen Brunnen geworfen und von seinen treuen Haustieren Hund und Katze gerettet6.
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Zauberring
Die Var. des mongol. J Siddhi Kür (num. 13), eines auf die ind. Erzählsammlung J Veta¯lapan˜cavim ø s´atika¯ zurückgehenden Werks, fand wohl erst im 16./17. Jh. Verbreitung; da sich das Werk auf eine bereits im frühen 11. Jh. verfaßte tibet. Fassung stützen soll, sind die darin enthaltenen Erzählungen allerdings möglicherweise bedeutend älter. In der Var. des Siddhi Kür erwirbt sich der Sohn eines Brahmanen den Dank von Maus, Affe und Bär, die ihn kurz darauf aus Todesgefahr retten; der Affe besorgt ihm einen wunscherfüllenden Edelstein, durch den der Held sein Glück macht. Nachdem er den Zauberstein unbedacht gegen die Ware eines Kaufmanns getauscht hat, holen die dankbaren Tiere ihn in einer komplizierten Aktion zurück. Als der Stein ins Wasser fällt, wird er von der klugen Maus wiederbesorgt7.
Auf die Fassung des Siddhi Kür stützt sich die Version der Brüder J Grimm (KHM 18 [1815]; KHM 104 [21819⫺61850])8; in die 7. Aufl. der J Kinder- und Hausmärchen (1857) wurde der Text nicht mehr übernommen, da W. Grimm ⫺ wohl nicht erst durch den Wiederabdruck einer bereits 1804 vorgelegten Übers. in H. J Kletkes Märchensaal (1845), sondern schon durch F. Cohens Besprechung der 2. Aufl. der KHM (1819)9 ⫺ darauf aufmerksam geworden war, daß es sich um eine Entlehnung aus dem Siddhi Kür handelte10. Aarne nicht bekannt war die gleichfalls möglicherweise auf das 17. Jh. zurückgehende, wenngleich höchstwahrscheinlich spätere Version des südind. ,Volksbuchs‘ Madana Kamaraja Kadai (Die Geschichte von Madana Kamaraja)11: Ein aufgrund einer Verleumdung vom Hof verstoßener Prinz rettet eine Katze und eine Schlange vor dem Tod. Der Vater der Schlange schenkt ihm aus Dank seinen Z. Der Prinz läßt sich einen Palast bauen und heiratet die Prinzessin. Ein durch ein Haar der Prinzessin in sie verliebter König (J Fernliebe) besorgt sich durch eine listige Alte den Ring. Dann läßt er die Prinzessin entführen, alles vom Prinzen Gewünschte zerstören und den Prinzen selbst den Verstand verlieren. Die Katze zwingt eine Ratte dazu, den Ring zurückzuholen. Daraufhin kommt der Prinz wieder zur Vernunft und wünscht, daß alles wieder wie früher werde.
Aarne betrachtete das in J Tausendundeine Nacht enthaltene Märchen von J Alad(d)in (AaTh/ATU 561)12 gleichfalls als einen literar. Beleg von AaTh/ATU 560, kannte aber den Ursprung des Textes aus der Anfang des
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18. Jh.s von A. J Galland aufgezeichneten mündl. Erzählung des syr.-maronit. Erzählers J Hanna nicht und folgte daher den irreführenden zeittypischen Vermutungen13. Nach heutigem Wissensstand kann AaTh/ATU 561 durchaus als genetisch mit AaTh/ATU 560 verwandt aufgefaßt werden14; das Verhältnis der beiden Zaubermärchentypen untereinander läßt sich aber aufgrund mangelnder älterer Belege nicht exakt klären. Eine bis in Einzelheiten mit Basiles Version übereinstimmende Fassung von AaTh/ATU 560 findet sich in dem zu Beginn der 2. Hälfte des 18. Jh.s zusammengestellten Wortley-Montague-Ms. von 1001 Nacht15. In einigen weiteren Erzählungen aus 1001 Nacht, so in der Geschichte des Schuhflickers Ma’ruf 16, erscheinen Wunschringe als mehr oder weniger handlungsrelevante Requisiten17; eine bes. Rolle kommt dem Siegelring des J Salomo zu, dem Gebotskraft über alle Dämonen und Geister nachgesagt wurde18. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 560 ohne erkennbare geogr. Schwerpunkte in zahlreichen Texten weltweit aufgezeichnet worden19. Eine klare Abgrenzung zu den anderen Erzähltypen mit Zaubergegenständen (AaTh/ATU 561⫺569) ist allerdings problematisch, da es bei den Var.n aus mündl. Überlieferung zahlreiche, von der Forschung oft als J Kontaminationen aufgefaßte Überlappungen in der Motivik gibt, so bes. mit AaTh/ATU 561 und AaTh/ATU 562: J Geist im blauen Licht. In seiner Var.ndiskussion bespricht Aarne die in den mündl. Fassungen vorkommenden Variationen folgender Elemente des Märchens20: Ursprünglicher Besitzer des Zaubergegenstands; Held des Märchens; Ursache der Abtretung des Zaubergegenstands; Ort der Abtretung des Zaubergegenstands; Art des Zaubergegenstands; Hervorzauberung des Schlosses und Heirat mit der Königstochter; Dieb des Zaubergegenstands; Grund für die Entwendung des Zaubergegenstands; Verschwinden des Zaubergegenstands und der Königstochter; Held kommt ins Gefängnis; Wiederbringer des Zaubergegenstands; Grund für die Dankbarkeit der Tiere; Weg übers Meer; Wiedererlangung des Zaubergegenstands; Aufbewahrung des Zaubergegenstands und Art und Weise der Wegnahme; Zaubergegenstand fällt ins Meer; Wiedergewinnung des Zaubergegenstands aus dem Meere; Schluß.
Allg. merkte Aarne an21, daß die asiat. Fassungen „sowohl verhältnismässig zahlreich als
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Zauberschlaf
auch im allgemeinen wohlerhalten“ und zudem logischer als die aus anderen Regionen strukturiert sind; weiter stellte er fest, daß das Märchen im östl. Europa (Rußland, Finnland, Balkan) „in ziemlich guter form erhalten, weiter im westen aber selten und gewöhnlich verdorben“ sei. Auf Aarnes Einsichten basierend stellte W. J Scherf die 1859 von M. K. J Valjavec publizierte slov. Version als ,Leitfassung‘ des Erzähltyps vor22; dieser Text sei zwar „eine stilistisch ausgefeilte Nacherzählung volkstümlicher Überlieferung“, unterscheide sich aber nur in wenigen Einzelheiten von Aarnes ,Urform‘23. Heute in erheblicher Anzahl vorliegende pers.24, türk.25 und arab.26 Var.n bestätigen die von Aarne rekonstruierte ursprüngliche Form des Märchens in geradezu idealtypischer Weise. Hinsichtlich des in AaTh/ATU 560 erscheinenden Zaubergegenstands argumentierte Aarne überzeugend, daß es ursprünglich ein Stein gewesen sein muß, denn erstens entspricht dies der Vorstellung von einem zauberkräftigen Stein im Kopf der Schlange (J Schlangenkrone, -stein), und zweitens ist der Ring in den Erzählungen oft ein Siegelring, der ⫺ wie etwa bei Basile explizit erwähnt ⫺ den zauberkräftigen Stein einfaßt27. Zudem steht das nach diesem Verständnis spätere Motiv des Z.s in Zusammenhang mit der seit alters als bes. wirkungsmächtig angesehenen Zauberkraft des Kreises (J Zauberkreis; cf. auch J Gürtel) und konnte durch seine höhere Symbolkraft eine größere Traditionspermanenz erreichen. Das auch aus zahlreichen anderen Märchen bekannte Motiv der dankbaren Tiere ist hier speziell auf die Freundschaft zwischen Hund und Katze bezogen. Unter Bezug auf das in der Realität meist wenig freundschaftliche Verhältnis dieser Tiere untereinander führt die Handlung abschließend oft zu einem Streit, der dann als Ätiologie ihre Feindschaft begründet (J Freundschaft und Feindschaft, Kap. 2.2.1)28. 1 Aarne, A.: Vergleichende Märchenforschungen. Helsingfors 1908, 1⫺82; cf. Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung. Hels. 1931, 43⫺45. ⫺ 2 Aarne (wie not. 1) 56. ⫺ 3 Scherf 1, 558 sq. ⫺ 4 BP 1, 458; Chauvin 8, 147 sq., num. 146. ⫺ 5 Behrnauer, W. F.: Die Vierzig Veziere oder weisen Meister. Lpz. 1851, XVI; Fleischer, H. O.:
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Catalogus codicum manuscriptorum Orientalium Bibliothecae Regia Dresdensis. Lpz. 1831, 22, num. 149 (Ms. datiert auf 1650); cf. auch Sheykh-Za¯da: The History of the Forty Vezirs. Übers. E. J. W. Gibb. L. 1886, x (undatiertes Ms.). ⫺ 6 cf. auch Ku´nos, I.: Turkish Fairy Tales and Folk Tales. L. 1896, 176⫺187; id.: Türk. Volksmärchen aus Stambul. Leiden (1905), num. 39. ⫺ 7 Scherf 1, 1⫺3. ⫺ 8 BP 1, 451⫺458, num. 104 a. ⫺ 9 Scherf 1, 1; Bluhm, L.: Jacob Grimms Briefwechsel mit Francis Cohen. Zur frühen Rezeption der Kinder- und Hausmärchen in England. In: id.: Grimm-Philologie. Hildesheim/Zürich/N. Y. 1995, 77⫺104, hier 86 sq.; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./N. Y. 2008, 485, num. 104. ⫺ 10 BP 1, 454. ⫺ 11 Clouston, W. A.: Popular Tales and Fictions. ed. C. Goldberg. Santa Barbara u. a. 2002, 161⫺166; The Dravidian Nights Entertainments. ed. N. Sastri. Madras 1886, num. 2; Tamul. Nächte. Die 12 Erzählungen des Ministers Buddhichaˆturya. Übers. M. Hesse. Zürich 1984, num. 2. ⫺ 12 Chauvin 5, 55⫺ 67, num. 19; Marzolph/van Leeuwen 1, 82⫺85, num. 346. ⫺ 13 Aarne (wie not. 1) 61⫺64. ⫺ 14 cf. EM 1, 246. ⫺ 15 Marzolph/van Leeuwen 1, 184 sq., num. 380. ⫺ 16 ibid., 291 sq., num. 262; cf. auch Nowak, num. 168; allg. cf. Molan, P.: Maru¯f the Cobbler. The Mythic Structure of an Arabian Nights Tale. In: Edebiyat 3 (1978) 121⫺135. ⫺ 17 Marzolph/van Leeuwen 1, 244 sq., num. 209; ibid., 402, num. 374; cf. auch ibid., 140, num. 476 (Var. von AaTh/ATU 410 nach Spitta-Bey, G.: Contes arabes modernes. Leiden/P. 1883, 105⫺111). ⫺ 18 El-Shamy, H.: A Motif Index of The Thousand and One Nights. Bloom. 2006, D 1470.1.15; Marzolph/van Leeuwen 1, 130⫺ 132, num. 177; ibid., 248⫺251, num. 227; ibid., 354⫺356, num. 526; ibid., 394⫺396, num. 443. ⫺ 19 Ergänzend zu ATU: Nascimento. ⫺ 20 Aarne (wie not. 1) 38⫺56. ⫺ 21 ibid., 78. ⫺ 22 Scherf 1, 602⫺605. ⫺ 23 ibid., 604. ⫺ 24 Marzolph (11 Var.n). ⫺ 25 Eberhard/Boratav, num. 58 (12 Var.n). ⫺ 26 El-Shamy, Types (40 Var.n). ⫺ 27 Aarne (wie not. 1) 43 sq. ⫺ 28 ibid., 53 sq.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Zauberschlaf, durch unterschiedliche zauberische Mittel (J Magie) ausgelöster Zwangsschlaf (J Schlaf) von variierender Dauer, der sowohl Individuen als auch (seltener) ein Kollektiv erfassen kann. Mitunter wird auch Hypnose als Z. bezeichnet1. H. Gehrts unterscheidet überzeugend zwischen dem ,Hellschlaf‘, der dem Schlafenden den Zugang zur göttlichen Sphäre eröffnet, und dem Z. als ,Schlaf der Betäubung‘2.
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Zauberschlaf
In der griech. Mythologie gelten Hypnos (Schlaf) und Thanatos (J Tod, Kap. 4) als Brüder. Diese motivische Verwandtschaft von Schlaf und Tod findet im literar. Sprachgebrauch bis heute ihren Ausdruck im Topos vom Tod als ,Schlafes Bruder‘3. Sie manifestiert sich beim Z. in zweierlei Hinsicht: einerseits in der Tiefe des Schlafs (AaTh/ATU 709: J Schneewittchen; J Scheintod) und andererseits in seiner mitunter extremen zeitlichen Ausdehnung. Ein 70, 100, 200, 323 oder gar 1000 Jahre4 andauernder Z. (AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit) überschreitet als ,vorläufiger Tod‘ die menschliche J Zeiterfahrung und bringt das Wirken jenseitiger Kräfte in der diesseitigen Welt zum Ausdruck5. Ähnliches zeigt sich auch im Phänomen der J Entrückung (Kap. 6⫺7), die das ,Herausfallen‘ aus der diesseitigen Zeit an die räumliche Absonderung eines Schlafenden, häufig in einem Berg oder in einer Höhle, koppelt. Hiervon wird unter Bezugnahme auf hist. Personen (etwa Friedrich Barbarossa), sagenhafte Figuren (Brunhild)6 und konkrete Orte (AaTh/ATU 766: J Siebenschläfer) am häufigsten in Sagen oder Legenden berichtet. Im Gegensatz zum Z. tritt die Entrückung dabei nicht unbedingt gegen den Willen des Schlafenden, jedenfalls nicht zu seinem Schaden, ein, und ihre Ursache oder Funktion wird häufig nur indirekt erkennbar7. Verbindungen zum Z. bestehen allerdings darin, daß der einmal Entrückte Dauer und Bedingungen seines Schlafzustands nicht beeinflussen kann. In einer ihm nach langem Schlaf fremd erscheinenden Welt sieht er sich mitunter mit Erzählungen konfrontiert, die ihn selbst und seine Entrückung zum Gegenstand haben. Früh findet sich das Motiv des Z.s im ma. Epos8, so z. B. detailliert im altfrz. Renaut de Montauban (um 1200; cf. J Haimonskinder): Der Zauberer Maugis versetzt das gesamte Heer J Karls d. Gr. und diesen selbst durch einen Zauber in den Schlaf (J Verzauberung), um sein Schwert und die Schwerter seiner Pairs ⫺ d. h. die individuellen Insignien von Status und Kampfkraft ⫺ zu entwenden9. In Maugis’ Abwesenheit kann Karl später mit J Rolands Hilfe geweckt werden, weil dieser ein anderes Zauberkraut zur Anwendung bringt. Der von Maugis verursachte Z. hätte nach Rolands Aussage allerdings wohl ohnehin um
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Mitternacht geendet10. Die Funktion des Z.s als ,ruhigstellender‘ Zwangsschlaf im weitesten Sinne findet sich auch im frz. Roman des 14. Jh.s (J Perceforest) und in anderen ma. Texten wie den J Gesta Romanorum (AaTh/ ATU 890: J Fleischpfand; cf. AaTh/ATU 861: J Rendezvous verschlafen). Unabhängig von den jeweiligen Erzählschemata und -funktionen sind die Mittel, die den Z. auslösen können, vielfältig (cf. Mot. D 1364⫺D 1364.32): Zauberkraut und J Zaubertrank (cf. AaTh/ATU 425 A: J Amor und Psyche), J Schwert und Spindel sowie J Musik. Ungewöhnliche Auslöser des Z.s sind die in Sagen begegnenden Diebslichter11. Dabei handelt es sich z. B. um eine aus Leichenteilen oder Menschenfett gefertigte Kerze (cf. auch AaTh 958 E*: Deep Sleep Brought on by a Robber)12 oder ein Totenbein13, die bewirken, daß Menschen in einen tiefen Schlaf versetzt und so beraubt werden können. Im Märchen ist die Spannung zwischen Schlafen und J Wachen häufig handlungsbestimmend14. Das bekannteste Beispiel dafür bietet sicher AaTh/ATU 410 in den Fassungen J Perraults und der Brüder J Grimm: Der Z. der Protagonistin wird zu einem kollektiven Z. ausgeweitet, und das Erwachen der Hofgesellschaft ist von der J Erlösung der Protagonistin abhängig15. In AaTh/ATU 437: J Nadelprinz ist es bei umgekehrter Verteilung der Geschlechterrollen die Protagonistin, die ihrerseits einen Prinzen aus dem Z. erlösen kann. Als Nebenmotiv findet sich der Z. dreier Königstöchter in KHM 62, AaTh/ATU 554: J Dankbare (hilfreiche) Tiere. In Maurice Maeterlincks Drama Les sept Princesses (1891) wird der Erwartungshaltung der Handelnden wie auch der Zuschauer nicht entsprochen, da eine von sieben schlafenden Schwestern von niemandem, nicht einmal von ihrem Bräutigam, geweckt werden kann. Verfremdende Var.n von AaTh/ATU 410 entstanden noch im 20. Jh., wenn z. B. die Figur der Patricia in Primo Levis La bella addormentata nel frigo (1953, veröff. 1966) ihren Körper auf eigenen Wunsch durch einen potentiell unendlichen Kälteschlaf konserviert hat16. Von gänzlich anderer Art ist der Z. im Film Groundhog Day17: Die Hauptfigur Phil Connors erwacht stets am selben Tag, am 2. Februar, dem Tag des Murmeltiers, in Punxsu-
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Zauberspruch
tawney, Pennsylvania. Connors’ Z. stellt die (potentiell unendliche) Wiederholung ein- und desselben Nachtschlafs dar und kann nicht von außen aufgehoben werden. Die Figur muß statt dessen ihr eigenes Fehlverhalten während des sich wiederholenden Tages stufenweise korrigieren. Anders als die mitunter zum Objekt degradierten schlafenden Protagonistinnen des Märchens18 kann der Protagonist so eine aktive Rolle bei der eigenen Erlösung einnehmen. 1 Göttinger, W.: Lebenstraum ⫺ Traumleben. Norderstedt 2005, 21⫺25. ⫺ 2 cf. Gehrts, H.: Von der Wirklichkeit der Märchen. Regensburg 1992, 127. ⫺ 3 Schneider, S.: Schlafes Bruder. Lpz. 1992; Smolny, C.: Komm sanfter Tod, des Schlafes Bruder. Eine Kulturgeschichte des Todes. B. 2010. ⫺ 4 Karlinger, F.: Z. und Entrückung. Zur Problematik des Motivs der Jenseitszeit in der Volkserzählung. Wien 1986, 14, 66. ⫺ 5 cf. Krawczyk, U.: Schlaf und Traum. Märchen, Brauchtum, Aberglaube. Waiblingen 2001, 43⫺53. ⫺ 6 HDA 1 (1927) 1671; Vries, J. de: Dornröschen. In: Fabula 2 (1959) 110⫺121, hier 118⫺121. ⫺ 7 Karlinger (wie not. 4) 10. ⫺ 8 Friede, S.: Die Wahrnehmung des Wunderbaren. Tübingen 2003, 295⫺298. ⫺ 9 Renaut de Montauban. ed. J. Thomas, Genf 1989, V. 10502⫺10516. ⫺ 10 ibid., V. 10974⫺10988. ⫺ 11 HDA 2 (1929/30) 229⫺234. ⫺ 12 Arndt, E. M.: Mährchen und Jugenderinnerungen 2. B. 1843, 348; Heyl, J. A.: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol. Brixen 1897, 308. ⫺ 13 HDA 2, 231; cf. auch Straßberg, S.: Die Entführung und Befreiung der Königin Ginevra. Diss. B. 1937, 35 (weitere Auslöser des Z.s). ⫺ 14 Gehrts (wie not. 2) 99⫺135. ⫺ 15 Feustel, E.: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten. (Diss. Göttingen 2002) Hildesheim/Zürich/N. Y. 2004, 344 sq.; cf. auch Krawczyk (wie not. 5) 21⫺26. ⫺ 16 cf. Benchouiha, L.: The Perversion of a Fairy Tale. Primo Levi’s „La bella addormentata nel frigo“. In: Modern Language Review 100,2 (2005) 356⫺366. ⫺ 17 USA 1993. Regie Harold Ramis. ⫺ 18 Feustel (wie not. 15) 258 sq., 272.
Göttingen
Susanne Friede
Zauberspruch, Sprachformel, die auf eine Veränderung der Wirklichkeit durch J Magie oder J Zauber zielt, z. B. auf das J Heilen von Krankheiten (J Wunderheilung), das Ergründen oder Hervorrufen von Liebesgefühlen, eine reiche Ernte oder die Schädigung eines Widersachers (J Schadenzauber)1. Z.e finden sich bereits in den frühesten schriftl. Sprachzeugnissen und stellen bis heute ein eth-
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nogr. Untersuchungsfeld außerhalb und in geringerem Umfang auch innerhalb Europas dar. Z.e sind Geheimwissen. Nach verbreiteter Auffassung verliert derjenige, der einen Z. anwendet, die Macht, sich seiner zu bedienen, wenn er ihn weitergibt2. Z.e werden daher im allg. nur flüsternd gesprochen, und ihre Kenntnis ist auf einen engen Kreis von Eingeweihten beschränkt. Formal sind Z.e durch Prosodie, Wiederholung, Reim, imperative Verbformen und die direkte Nennung eines Adressaten gekennzeichnet3. In dieser Hinsicht stehen sie Ausdrucksformen wie J Spruch, J Fluch, J Frage, J Gebet, J Segen oder J Wahrsagen nahe und lassen sich z. T. nur schwer von ihnen abgrenzen. Ein Z. kann aus einer kurzen magischen Formel bestehen; bes. populär wurden die vermutlich aus dem medizinischen bzw. aus dem religiösen Kontext stammenden Formeln ,Abrakadabra‘4 und ,Hokuspokus‘5. Längere Z.e enthalten häufig die Kombination einer kurzen Geschichte (historiola) mit einer Beschwörungsformel (incantatio), wie z. B. der 2. Merseburger Z. (hier in neuhochdt. Übers.): Phol und Wotan begaben sich ins Gehölz. / Da wurde dem Fohlen Balders sein Bein von Verrenkung betroffen. / Da besang es Sindgund mit ihrer Schwester Sunne; / da besang es Frija mit ihrer Schwester Volle; / da besang es Wotan, wie er [es] gut konnte. / So wie (die) Knochenrenkung, so wie (die) Blutrenkung, / so wie (die) Gliedrenkung [zusammengeklebt wurde] / ⫺ Knochen zu Knochen, Blut zu Blut, / Glied zu den Gliedern ⫺, so seien sie zusammengeklebt!6
Z.e der Antike sind u. a. bei Marcellus, Pelagonius und J Plinius d. Ä. überliefert7. Zweifellos gab es auch in der vorchristl. germ. Frühzeit Z.e; sie sind jedoch nicht durch Aufzeichnungen belegt. Z.e, die im christl. MA. aufgezeichnet wurden, z. B. die Merseburger Z.e, scheinen vorchristl. Elemente zu enthalten8. Viele europ. Z.e aus dem MA., die aus historiola und incantatio bestehen, basieren auf bibl. Geschichten, apokryphen Erzählungen oder Heiligenlegenden. Im allg. spielt darin mindestens eine der drei zentralen christl. Gestalten Jesus J Christus, J Petrus oder Maria eine Rolle; es können aber auch J Hiob, Longinus, drei namenlose ,gute Brüder‘, verschie-
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Zauberspruch
dene andere Heilige oder Kulturheroen auftreten9. Z.e, die in der Erzählüberlieferung und in der Lit. begegnen, ähneln in formaler Hinsicht Z.en aus ethnogr. Aufzeichnungen: Sie enthalten Wiederholungen, Reime und direkte Anreden10. Daher werden Z.e auch mit der Entstehung von Märchensingversen in Verbindung gebracht11. Längere verbale oder syntaktische Parallelen und die Verwendung komplexerer Strukturen, wie etwa historiola und incantatio, sind jedoch nicht belegt. Funktional unterscheiden sich Z.e, die in Erzählkontexten tradiert wurden, allerdings deutlich von solchen aus ethnogr. Aufzeichnungen: Im Kontext des Volksglaubens stehen Heil-, J Abwehr- oder Liebeszauber im Vordergrund; in der Volksliteratur erfüllen Z.e in erster Linie erzählinterne Zwecke und folgen Gattungskonventionen. Im Rahmen von Märchen als J Wunschdichtung (Erlangung von Reichtum, sozialem Aufstieg etc.) dienen Z.e der Dynamisierung der Handlung; sie können die gleiche narrative Funktion haben wie die häufiger begegnenden J Zaubergaben oder magischen J Helfer. Im Buchmärchen wird die Anwendung von Z.en gelegentlich durch einen J Zauberstab verbildlicht. In einer weiten Definition, die J Divination und rituelle Sprache einschließt, finden sich Z.e vor allem in Zaubermärchen (AaTh/ATU 300⫺749)12. In KHM 21, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella erhält die Protagonistin jedes Mal ein prachtvolles Kleid, wenn sie am Grab ihrer Mutter den Z. „Bäumchen rüttel dich und schüttel dich! / Wirf Gold und Silber über mich!“ spricht. In KHM 89, AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf verleiht ein Z. der Protagonistin Macht über eine Naturgewalt: „Weh’! weh’! Windchen, / nimm Kürdchen sein Hütchen, / und laß’n sich mit jagen, / bis ich mich geflochten und geschnatzt / und wieder aufgesatzt.“ So kann der Gänsejunge daran gehindert werden, der Königstochter ihre goldenen Haare auszureißen. Der Spruch „Tischchen deck’ dich!“ zaubert in KHM 36, AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich reiche Speisen auf den Tisch, die Aufforderung „Bricklebrit!“ bewirkt, daß der Esel Goldstücke speit, und bei dem Ruf „Knüppel aus dem Sack!“ beginnt der Knüppel, alle Umstehenden zu verprügeln.
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In Sagen und Legenden wird die Erfüllung von Wünschen häufig durch J Gebete bewirkt; diese lassen sich allerdings nicht immer eindeutig von Z.en unterscheiden13. Explizite Z.e finden sich in Sagen, die Hexerei und Zauberei behandeln14; oft handelt es sich dabei um Wandersagen. Hier wird oft Erfahrung mit Unerfahrenheit kontrastiert und geschildert, daß die falsche Verwendung von Z.en fatale Folgen hat (J Imitation: Fatale und närrische I.)15. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die mit AaTh/ATU 325*: cf. J Zauberlehrling verwandte Wandersage vom Umgang mit einem Zauberbuch16: Ein des Zauberns unkundiger Mensch zitiert mit Hilfe eines Zauberbuchs unabsichtlich den Teufel herbei. Der eigentliche Besitzer des Buches, ein J Zauberer, kann den J Teufel zwar schließlich vertreiben, doch die Spuren des von ihm angerichteten Unheils bleiben weiterhin sichtbar. In Var.n von AaTh/ ATU 565: J Wundermühle gelingt es unrechtmäßig in den Besitz der Zaubergabe gekommenen Personen nicht, ihrer unaufhörlichen Nahrungsproduktion Einhalt zu gebieten. Ein weiteres Beispiel bietet das weitverbreitete Sagenmotiv von der nachgeahmten Hexenfahrt: Ein Mann beobachtet eine J Hexe heimlich bei ihren Vorbereitungen zu einem Ritt auf der Ofengabel. Er versucht, es ihr nachzutun, macht aber einen Fehler beim Aufsagen des Z.s und zieht sich zahlreiche Blessuren zu17. Für das Gelingen oder Nichtgelingen des Zaubers kann auch die persönliche Eignung des Anwenders ausschlaggebend sein: In AaTh 676 ⫹ ATU 954: cf. J Ali Baba und die vierzig Räuber kann sich Ali Babas habgieriger Bruder nicht an den Z. erinnern, der den Berg öffnet; er bleibt darin gefangen und wird getötet. Ein solches Geschehen kann als Warnung vor dem Gebrauch von Z.en verstanden werden. In den massenmedial vermittelten Erzählungen der Gegenwart sind Z.e immer noch populär18, bes. in Büchern, Filmen, TV-Serien oder Comics, deren Zielgruppe Kinder sind. 1 Ohrt, F.: Trylleord. Fremmede og danske. Kop. 1922; id.: Segen. In: HDA 7 (1935/36) 1582 sq.; Hampp, I.: Beschwörung, Segen, Gebet. Stg. 1961; Holzmann, V.: ,Ich beswer dich wurm vnd wyrmin …‘ Formen und Typen altdt. Z.e und Segen. Bern 2001; Bozo´ky, E.: Charmes et prie`res apotropa¨ıques. Turnhout 2003; Roper, J.: English Verbal Charms (FFC 288). Hels. 2005. ⫺ 2 Perkmann, A.:
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Zauberstab
besprechen. In: HDA 1 (1927) 1162 sq.; Harmening, D.: Wb. des Aberglaubens. Stg. 2005, 473. ⫺ 3 Pfister, F.: Gebet. In: HDA 3 (1930/31) 359⫺361. ⫺ 4 [Zedler, J. H.:] Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wiss. und Künste 1. Lpz. 1732, 156 sq.; Jacoby, A.: Abracadabra. In: HDA 1 (1927) 95⫺ 97. ⫺ 5 Pfeifer, W.: Etymol. Wb. des Deutschen. Mü. 1999, 551; Jacoby, A.: Hokuspokus. In: HDA 4 (1931/32) 183 sq. ⫺ 6 Eichner, H./Nedoma, R.: Die Merseburger Zaubersprüche. In: Die Sprache 42 (2000/01) , 1⫺195, hier 11. ⫺ 7 Önnerfors, A.: Antike Z. e. Stg. 1991. ⫺ 8 Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler. ed. E. von Steinmeyer. B. 1916 (Nachdr. Dublin/Zürich 1971), 365⫺367, 396 sq.; Ohrt, F.: Merseburger Sprüche. In: HDA 6 (1934/35) 182 sq.; Düwel, K.: Der Erste Merseburger Z. ⫺ ein Mittel zur Geburtshilfe? In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 401⫺421. ⫺ 9 Hampp (wie not. 1) 237. ⫺ 10 Roper (wie not. 1) 131⫺133. ⫺ 11 cf. Amades, J.: Folklore de Catalunya. Barcelona 1950, 90. ⫺ 12 cf. Eleonskaja, E.: Skazka, zagovor i koldovstvo v Rossii (Märchen, Z. und Zauberei in Rußland). M. 1994, 69⫺96; Jacobsen, I./Lox, H./ Lutkat, S. (edd.): Sprachmagie und Wortzauber ⫺ Traumhaus und Wolkenschloß. Krummwisch 2004, 45⫺62, 63⫺79, 118⫺133. ⫺ 13 cf. HDA 3 (1930/31) 346⫺369; Hampp, I.: Vom Wesen des Zaubers im Z. In: Volksdichtung und Volksbrauch im Deutschunterricht 1. ed. R. Ulshöfer. Stg. 1961, 58⫺77, hier 62⫺65. ⫺ 14 Marks, L.: ,Ni o drvo, ni o kamen …‘ Magicˇne formule u hrvatskim predajama o vjesˇticama (,Weder auf Holz, noch auf Stein …‘ Magische Formeln in kroat. Sagen über Hexen). In: Narodna umjetnost 44,2 (2007) 27⫺42. ⫺ 15 cf. auch Petzoldt, L.: Dt. Volkssagen. Mü. 1970, num. 30⫺32; Alpenburg, J. N. Ritter von: Dt. Alpensagen. Wien 1861, num. 124. ⫺ 16 Christiansen, Migratory Legends, num. 3020; Hayes, K.: Folklore and Book Culture. Knoxville 1997, 59⫺73. ⫺ 17 Christiansen, Migratory Legends, num. 3045; Gonza´lez Sanz, C.: Contes de sorcie`res? Propositions de nouveaux types et sous-types de contes populaires sur la base de versions recueillies en Aragon. In: Cahiers de litte´rature orale 57⫺58 (2005) 164⫺177, hier 168, 170, 175; Mencej, M.: Narrating about Witches. In: Festschr. Uther (wie not. 8) 207⫺222, hier 216 sq. ⫺ 18 cf. Shojaei-Kawan, C.: Hexen, Engel, Heilige. Über das Wunderbare und das Dämonische im Unterhaltungsfilm. In: Erzählkulturen im Medienwandel. ed. C. Schmitt. Münster u. a. 2008, 139⫺156, hier 142⫺ 146.
Tartu
Jonathan Roper
Zauberstab, Stock oder Stab mit magischen Eigenschaften. In Märchen und Sagen ist sein Besitzer meist eine Helfer- oder Schenkerfigur, die ihn zur Unterstützung des Protagonisten
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einsetzt1. Der Z. ist eher ein Phänomen des Buchmärchens und kommt in Märchen und Sagen aus mündl. Überlieferung seltener vor2. S. J Thompsons Differenzierung zwischen magic staff (Mot. D 1254), magic wand (Mot. D 1254.1) und magic rod (Mot. D 1254.2) ist wenig überzeugend, da sich diese verschiedenen Formen des Z.s nicht eindeutig gegeneinander abgrenzen lassen. Bereits der von den Stammvätern Israels ererbte Stab des J Moses (cf. auch J Aaron) besitzt magische Eigenschaften: Er kann sich in eine J Schlange und wieder zurück verwandeln, und Moses kann mit ihm Plagen über Ägypten bringen, das Meer spalten, die Löwen vor dem Palast des Pharaos bändigen, Wasser aus einem Felsen schlagen sowie andere J Wunder bewirken. Die Zauberin J Circe verwandelt die Gefährten des J Odysseus mit ihrem Z. in Schweine (Odyssee 10,237⫺243). Im J Roman de Renart (Branche XXIV) wird die Bosheit Renarts dadurch erklärt, daß er eine Kreatur Evas (J Adam und Eva) sei; mit einem von Gott verliehenen Z. schuf diese die wilden Tiere, während Adam mit dem Z. die Nutztiere erscheinen ließ. Viele J Zaubergaben, wie etwa das J Tischleindeckdich (AaTh/ATU 563; cf. J Gegenstände handeln und sprechen), erfüllen nur spezifische J Wünsche. Demgegenüber kann durch den Z. ⫺ ähnlich wie durch den Zauberring (J Ring, Kap. 2.1) ⫺ potentiell ein großes Spektrum magischer Handlungen vollzogen werden; dabei kann auch ein J Zauberspruch zum Einsatz kommen. Am häufigsten bewirkt der Z. J Verwandlungen3. Z. B. aktiviert die Feenpatin in J Perraults Version von AaTh/ ATU 510 A: cf. J Cinderella die Verwandlungskraft des Z.s, indem sie auf Gegenstände oder Tiere schlägt und damit einen ausgehöhlten Kürbis in eine Kutsche oder Mäuse in Pferde verwandelt, oder indem sie durch Berührung mit dem Z. Cendrillons schlechte Kleider zu Gewändern aus Gold und Silber macht. Z.e können auch J Erlösung (Mot. D 771.4), J Unsichtbarkeit (Mot. D 1361.25), Schönheit (Mot. D 1337.1.9) oder Heilung (Mot. D 1342.4) bewirken, einen J Zauberschlaf (Mot. D 1364.18) oder den Tod (Mot. D 1402.10) herbeiführen, einen J Klebezauber (AaTh/ATU 571) oder die Beförderung von einem Ort zum anderen bewerkstelligen
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Zaubertrank
(Mot. D 1520.27). Auch die magischen Kräfte des der Hexe als J Fluggerät dienenden J Besens leiten sich wohl aus der Vorstellung des Z.s her. Relativ häufig werden Z.e im Rahmen einer Schatzsuche erwähnt4. Z.e werden gewöhnlich von Hexen, Feen, Zauberern oder Zwergen eingesetzt. Bes. in den frz. Feenmärchen sind sie ein Requisit der Feenpatinnen, so etwa in Perraults Fassungen von AaTh/ATU 510 A und AaTh/ATU 510 B: cf. Cinderella sowie AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit. In einem Märchen des Jean Sieur de Pre´chac (geb. 1676) erhält der Protagonist von einer Fee einen Z., „mit welchem er nur dreimal auf die Erde zu schlagen brauchte, um die Schöpfungen seiner Einbildungskraft Wirklichkeit werden zu lassen“5. In KHM 56, AaTh/ATU 1119: cf. J Bettplatztausch ⫹ AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht ⫹ AaTh/ATU 407: J Blumenmädchen kann die Protagonistin ihrer Stiefmutter, einer Hexe, entkommen, indem sie deren Z. stiehlt; auf der Flucht rettet das Mädchen sich und seinen Liebsten durch eine Reihe magischer Verwandlungen. Die genaue Beschaffenheit des Z.s wird in den Texten gewöhnlich nicht thematisiert. Konkretheit erlangen Z.e erst in Illustrationen, in denen sie sehr unterschiedlich dargestellt werden. So ähnelt der Z. der Patin in Edmund Dulacs (1882⫺1953) Illustration zu AaTh/ATU 410: Schlafende J Schönheit6 in seiner Länge eher einer Gerte7. In der Kinder- und Fantasy-Lit. des 20./ 21. Jh.s sowie ihren medialen Adaptationen ist der Z. zum stereotypen Requisit zaubernder Personen geworden; seinen unterschiedlichen Ausprägungen ist oft das Element einer leuchtenden Spitze gemeinsam8. Während der Z. einem naiven Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten magischer Handlungen entspricht, verdeutlicht die satirische Behandlung des Gegenstands bereits früh einen kritischen Abstand: Im Versus de Unibove (2. Hälfte 11. Jh.) erweckt der Trickster seine zum Schein getötete Ehefrau mit einem angeblichen Z. wieder zum Leben (cf. AaTh/ ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit, AaTh/ATU 1535: J Unibos). Für moderne Zauberkünstler bzw. Illusionisten ist der Z. ein wesentliches Hilfsmittel, da sie hiermit die
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Aufmerksamkeit des Publikums von ihren Taschenspielertricks ablenken. 1 Propp, V.: Morphologie des Märchens. ed. K. Eimermacher. Ffm. 1975, 47⫺52 (Funktion 14); Davidson, H. E.: Helpers and Adversaries in Fairy Tales. In: ead./Chaudhri, A. (edd.): A Companion to the Fairy Tale. Cambr. 2003, 99⫺122. ⫺ 2 Jorgensen, J.: A Wave of the Magic Wand. Fairy Godmothers in Contemporary American Media. In: Marvels & Tales 21 (2007) 216⫺227. ⫺ 3 HDA 8 (1038⫺41) 1647. ⫺ 4 z. B. Grässe, J. G. T.: Sagenbuch des Preuß. Staates 2. Glogau 1871, num. 917; Gonzenbach, num. 5; Kühnau, R.: Schles. Sagen 3. Lpz. 1913, 746. ⫺ 5 Hammer, K.: Frz. Feenmärchen des 18. Jh.s. B. 1969, 106⫺142. ⫺ 6 The Annotated Classic Fairy Tales. ed. M. Tatar. N. Y. 2002, 36. ⫺ 7 ibid., 98. ⫺ 8 The Wizard of Oz. USA 1939 (Regie Victor Fleming); Shrek 2. USA 2004 (Regie Andrew Adamson/Kelly Asbury/Conrad Vernon).
Philadelphia
Linda J. Lee
Zaubertrank (Mot. D 1040⫺D 1046), flüssiger Extrakt, meist aus Bestandteilen von J Pflanzen, aber auch aus anderen organischen oder anorganischen Substanzen, dem magische Eigenschaften zugesprochen werden. Da in die Herstellung von medizinisch wirksamen Tränken (J Heilen, Heiler, Heilmittel) bereits früh pharmakologische Kenntnisse einflossen, lassen sich J Magie und Wiss. nicht immer eindeutig trennen. Die Herstellung von Z.en wurde im MA. J Hexen zugeschrieben und z. B. in dt. Bußbüchern erwähnt und reglementiert1. In den nur spärlich überlieferten Rezepturen finden sich häufig die starke Alkaloide (J Gift) enthaltenden Pflanzen Alraune (J Mandragora), Tollkirsche, Bilsenkraut sowie Stechapfel; Eisenhut und Fliegenpilzzubereitungen verursachen Wahnvorstellungen (J Narkotika); Petersilie wurde einerseits bei Kinderwunsch empfohlen, in höherer Dosierung jedoch als Abortivum verwendet; Zubereitungen aus Baldrian, Brennessel2, Eisenkraut, Walnußblättern, Petersilie3 oder Liebstöckelwurzeln wird eine aphrodisische Wirkung zugeschrieben4. In Erzählungen werden Z.e meist von Frauen mit übernatürlichen Fähigkeiten (Zauberinnen, Hexen) hergestellt. Sie treten bereits in Überlieferungen der griech.-röm. Antike
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Zaubertrank
auf. In der Odyssee (J Homer) mischt J Helena den Männern des Menelaos ein halluzinogenes Kraut in den Wein (4,219⫺233); J Circe gibt J Odysseus einen Z., um ihn wie seine Gefährten in Schweine zu verwandeln (10,280⫺329). Bei J Ovid (Metamorphosen 7,159⫺349) verjüngt J Medea einen Widder5, indem sie ihn zerstückelt und dann in einem Z. kocht (J Zerstückelung, J Verjüngung). Im Katha¯saritsa¯gara des J Somadeva und ähnlich in einer Geschichte aus J Tausendundeine Nacht wird von einer magischen Speise erzählt, die J Tierverwandlung bewirkt6. In der Ha´vama´l (104⫺111) der Snorra Edda (J Edda) ´ Îredir) von Fjallar wird der Skaldenmet (O und Galarr aus dem Blut des von ihnen getöteten Wesens Kvasir und aus Honig gebraut. Er begabt jeden, der ihn trinkt, mit der Fähigkeit zu dichten, und wird daher von Odin geraubt7. In der Vo˛lsungasaga (Kap. 32) bereitet Grimhild J Sigurd einen Vergessenstrank8. Im altfrz. Sagenkreis um J Karl d. Gr. erlangt der Riese J Fierabras neue Kraft nach dem Genuß eines Z.s9. In germ. Sagen finden sich Erzählungen über die Herstellung von Heiltränken10. Nach einem irrtümlich genossenen Minnetrank, der die Ehe von Isolde und Marke sichern sollte, verlieben sich J Tristan und Isolde11. Julia (J Romeo und Julia) nimmt einen Schlaftrank zu sich, um ihren Tod vorzutäuschen (cf. J Scheintod). In einer ma. walis. Erzählung stellt Ceridwen einen Z. her, um ihren häßlichen Sohn weise zu machen; versehentlich wird dieser jedoch von Gwion Bach getrunken12. Z.e finden sich in europ. Sagen in verschiedener Ausprägung13. Tränken von dämonischen Wesen wird meist eine negative Wirkung zugeschrieben: In der frühma. Sage vom Oldenburger J Horn weigert sich Graf Otto von Oldenburg, aus dem Horn zu trinken, das ihm eine Fee darbietet, da er befürchtet, vergiftet zu werden14. In einer Sage aus der Pfalz reichen Wasserelben einer jungen Frau und später auch ihrem Vater einen Trunk, der sie an deren Welt bindet15. Dagegen kann sich wappnen, wer, wie in einer Sage von den Färöern, den Schaum von einem von Huldren angebotenen Getränk abbläst; täte er dies nicht, würde der Trinkende vergessen, wer er ist und müßte bei den Huldren bleiben16.
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Vielfach finden sich in Sagen Hinweise auf Liebestränke17: So heißt es in einer ung. Erzählung, daß unverheiratete Mädchen einen Baumstrunk durchs Dorf ziehen, ein Stück davon verbrennen und die Asche dem Mann, den sie in sich verliebt machen wollen, in einen Trank mischen sollen18. In einer Sage aus Böhmen wird erzählt, daß das Blut einer Fledermaus ein Mädchen in einen bestimmten Mann verliebt machen könne19. Zudem wird die heilkräftige Wirkung von Z.en erwähnt: Im dt. Sprachgebiet sind Erzählungen belegt, in denen sie aus von hl. Gegenständen abgeschabtem Pulver hergestellt werden: So soll der von geweihten Glocken abgekratzte Staub Fieber senken20. In einer Zürcher Sage wird ein Z. zur Heilung von Rachitis aus Espenholz hergestellt21. In Oldenburg soll eine Frau aus Bier und drei nachts vom Galgen geschnittenen Spänen einen Z. gegen das kalte Fieber gebraut haben22. In Märchen treten Z.e eher selten auf. Eine magische Wirkung hat hier bes. das J Wasser: Das J Lebenswasser kann sowohl Gebrechen heilen als auch Tote wiederbeleben; Wasser kann J Geschlechtswechsel, Tierverwandlung (AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen) oder Vergoldung bewirken (AaTh/ATU 314: J Goldener, AaTh/ATU 502: Der wilde J Mann). In Var.n von AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder verleiht ein Z. außergewöhnliche Kräfte. In einer pommer. Var. zu AaTh/ATU 307: J Prinzessin im Sarg bekommen kinderlose Eltern nach der Anwendung eines Z.s ein schwarzes Kind23. In Var.n von AaTh/ATU 400 (2): J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau verschläft der Protagonist aufgrund eines Z.s das J Rendezvous, so daß er seine Geliebte erneut suchen muß; auch in KHM 113, AaTh 313 C/ATU 313 (3): cf. J Magische Flucht wird der Königssohn durch einen Z. in Schlaf versetzt. In KHM 88, AaTh/ATU 425 A: cf. J Amor und Psyche hält ein Schlaftrank den Königssohn von der Liebsten fern. Schlaftränke sind jedoch nicht unbedingt Z.e: Der Schlaftrank, dessen sich der J Meisterdieb bedient, um seine Gegner auszuschalten (AaTh/ ATU 1525 A [1]), scheint eher die narkotisierende Wirkung von Alkohol und anderen Drogen zu nutzen. Auch Gift ist nicht unbedingt zu den Z.en zu zählen: In AaTh/ATU
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Zaunert, Paul
709: J Schneewittchen und in KHM 22, AaTh/ ATU 851: cf. J Rätselprinzessin bleibt offen, ob das Gift seine Wirkung auf magische Weise entfaltet. J Verwandlung durch Z.e scheint in Erzählungen aus mündl. Überlieferung eher selten zu sein24, findet sich jedoch in bekannten Kunstmärchen wie J Hauffs Zwerg Nase, in dem der Protagonist in ein Eichhörnchen verwandelt wird, oder J Andersens Den lille Havfrue, in dem die Meerjungfrau durch den Z. der Meerhexe Beine erhält, aber die Fähigkeit zu sprechen verliert. In Comics sowie in der Fantasy-Lit. und in deren medialen Adaptationen erfreuen sich Z.e einiger Beliebtheit: Lewis Carroll ließ J Alice im Wunderland mittels eines Z.s schrumpfen; in den Asterix-Comics (1959 sqq.) von Rene´ Goscinny und Albert Uderzo stellt der Druide Miraculix in Notsituationen einen Z. her, der außergewöhnliche Kraft verleiht, und in den Harry Potter-Romanen (1997⫺2007) von Joanne K. Rowling ist die Herstellung von Z.en ein Unterrichtsfach. 1
Schmitz, H. J.: Die Bußbücher und das kanonische Bußverfahren 1⫺2. Main 1883/98, hier t. 1, 1, 16, 18, 35, 57, 69, 83, 89 sq., 307, 314, 373, 382, 462, 536, 618, 683, cf. 18, 683; t. 2, 165 sq., 176, 190⫺ 192, 445, 448, 541; Soldan, W. G./Heppe, H.: Geschichte der Hexenprozesse 1⫺2. (B. 31911) Nachdr. Hanau 1968, hier t. 1, 288, 306, 314, 317, 382, 437, 536, 618, 683, 749; t. 2, 320, 342, 351, 364, 369, 484, 445, 448, 541, 608. ⫺ 2 Knoop, O.: Volkstümliches aus der Pflanzenwelt. In: Zs. der naturwiss. Abteilung der Dt. Ges. für Kunst und Wiss. in Posen 11,3 (1905) 80. ⫺ 3 z. B. Marzell[, H.]: Petersilie. In: HDA 6 (1934⫺35) 1527⫺1530, hier 1529. ⫺ 4 cf. allg. Abraham, H./Thinnes, I.: Hexenkraut und Z. Greifenberg 1995. ⫺ 5 Oxford Classical Dict. Ox. 21970, s. v. Medea; Bömer, F.: Metamorphosen. Kommentar 3. Heidelberg 1973, 241 sq., 278 sq. ⫺ 6 Tawney, C. H.: The Ocean of Story 6. ed. N. M. Penzer. (Delhi 2 1923) Nachdr. Delhi u. a. 1968, 55 sq. (not. 59⫺66); 1001 Nacht 5, 87⫺153; cf. Marzolph, U.: Das Buch der wundersamen Geschichten. Mü. 1999, 645. ⫺ 7 ´ Îredir. In: Lex. des MA.s 6. Stg./WeiSimek, R.: O mar 1999, 1363; cf. See, K. von: Edda, Saga, Skaldendichtung. Heidelberg 1981, 352. ⫺ 8 Genzmer, F. (ed.): Edda. Jena 1933, 187 sq. ⫺ 9 Le Person, M. (ed.): Fierabras. Chanson de geste du XIIe sie`cle. P. 2003, 142. ⫺ 10 Unter Verwendung sakraler Gegenstände: Wolf, J. W.: Beitr.e zur dt. Mythologie 1⫺ 2. Göttingen/Lpz. 1852/57, hier t. 2, 299; magische Zahlen verstärken die Kraft des Heiltranks: ibid. 1, 223, 262; Weinhold, K.: Die mystische Neunzahl bei den Deutschen. B. 1897, 29. ⫺
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11 z. B. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde 1⫺3. ed. F. Ranke. Stg. 1981, V. 11649⫺11818. ⫺ 12 Ford, P. K.: The Mabinogi and Other Medieval Welsh Tales. Berk. u. a. 1977, 159⫺181; Wood, J.: The Folklore Background of the Gwion Bach Section of Hanes Taliesin. In: Bulletin of the Board of Celtic Studies 29 (1982) 621⫺634. ⫺ 13 cf. allg. Eckstein[, F.]: Trank. In: HDA 8 (1936⫺37) 1109⫺ 1117. ⫺ 14 Christiansen, Migratory Legends, num. 6045. ⫺ 15 Grimm DS 216, 305; cf. Müllenhoff, K.: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, 194. ⫺ 16 Meyer, E. H.: Mythologie der Germanen. Straßburg 1903, 187. ⫺ 17 z. B. Anthropophyteia 10 (1913) 44⫺64 (südslav.). ⫺ 18 ZfVk. 4 (1894) 122. ⫺ 19 Grohmann, J. V.: Sagen-Buch von Böhmen und Mähren. 1: Sagen aus Böhmen. Prag 1863, 209. ⫺ 20 Hovorka, O. von/Kronfeld, A.: Vergleichende Volksmedizin 1. Stg. 1908 (Wien/Lpz. 21915), 187; Zingerle, I. V.: Sitten, Gebräuche und Meinungen des Tiroler Volkes. Innsbruck 1857, 220; ZfVk. 8 (1898) 37. ⫺ 21 SAVk. 2 (1898) 261 sq., num. 126; Heller, H.: Siegelerden, Einhorn und Mumia. Aberglaube in Volksernährung und Volksmedizin. In: Aberglaube, Magie, Religion. 16 (1995) 46⫺63. ⫺ 22 Strackerjan, L.: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1. ed. K. Willoh. Oldenburg 21909, 95. ⫺ 23 Jahn, U.: Volksmärchen aus Pommern und Rügen. Norden 1891, num. 16; cf. auch Zaunert, P.: Dt. Märchen seit Grimm. MdW 1981, num. 21. ⫺ 24 Knortz, K.: Märchen und Sagen Nordamerikas. Jena 1871, num. 39; Hahn 1, 122⫺130 (griech.).
Ummendorf
Hartwig Abraham Inge Thinnes
Zaunert, Paul, *Bielefeld 20. 10. 1879, † Kassel 24. 2. 1959, dt. Lit.wissenschaftler, Erzählforscher und Volkskundler. Z. studierte 1898⫺1905 dt. Lit., Geschichte und Rechtswissenschaften in Tübingen, München, Berlin und Marburg, wo er 1909 von E. Elster mit seiner Diss. Bürgers Verskunst promoviert wurde. Er war zeitlebens freischaffender Privatgelehrter. Nachdem Z. zunächst die Klassikerausgaben im Leipziger Verlag Bibliogr. Inst. betreut hatte, arbeitete er intensiv mit dem Diederichs Verlag zusammen. An der Begründung der Märchen der Weltliteratur (1912 sqq.) hatte Z. entscheidenden Anteil; neben F. von der J Leyen wurde er Mitherausgeber (bis 1927), trat in seiner Bedeutung für diese Reihe jedoch hinter dem Univ.sprofessor zurück1 und betreute nur wenige Bände. Selbst gab er Volks-
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Zaunert, Paul
märchen der Deutschen (1⫺2. Jena 1912) von Johann Karl August J Musäus, Dt. Märchen seit Grimm (1⫺2. Jena 1912/23, Neubearb. in einem Band durch E. J Moser-Rath 1981) sowie Dt. Märchen aus dem Donaulande (Jena 1926) heraus. Darüber hinaus betreute er W. J Wissers Plattdt. Märchen (1⫺2. Jena 1914/ 27). Im Diederichs Verlag gab Z. ferner die Reihen Dt. Sagenschatz (1⫺17. Jena 1917⫺44; Reihentitel ab 1925 Stammeskunde dt. Landschaften) und Dt. Volkheit (1⫺77. Jena 1925⫺ 31) heraus. In der Sagenreihe edierte er selbst fünf Bände: Dt. Natursagen 1: Von Holden und Unholden (Jena 1921); Rheinland-Sagen. 1: Niederrhein bis Köln ⫺ Bergisches Land ⫺ Eifel; 2: Das Rheintal von Bonn bis Mainz. Volksglaube der Gegenwart (Jena 1924); Westfäl. Sagen (Jena 1927); Hessen-Nassau. Sagen (Jena 1929). Programmatisch lag Z. auf einer Linie mit E. Diederichs, der als Kulturverleger gesellschaftspolitischen Einfluß nehmen wollte, indem er Slgen zur Verfügung stellte, um „unser Volk auf diesem Wege an die Quellen seines ersten Denkens hinzuführen“2, wie er es bereits 1912 bezüglich der MdW formuliert hatte. Die Besinnung auf das eigene ,Volkstum‘ erhielt in der von Ohnmacht und Kulturpessimismus gekennzeichneten Weimarer Republik noch größere Bedeutung. Die Sage war für Z. ein Medium zur Erneuerung der Kultur; seine programmatischen Äußerungen zeigen irrationale Tendenzen3. Gleiches gilt für das Massenbuchprojekt Dt. Volkheit4, bestehend aus den zwei Abteilungen Geschichte und Mythos. In letzterer erschienen volkskundliche Schriften wie die von Z. selbst besorgten Plattdt. Märchen (Jena 1925) und Das dt. Volksbuch von Karl d. Gr. (Jena 1929). Mit seinen Arbeiten sah sich Z. in der Nachfolge J. J Grimms; mit seiner Editionstätigkeit wollte er „Klarheit über den Urgrund unseres Wesens“5 schaffen. In den 1920er Jahren wendete sich sein Ton immer stärker ins Völkische: Seiner Auffassung nach künden die von ihm als Quellen einer dt. Prähistorie verstandenen Sagen vom Selbstverständnis der jeweiligen dt. Stämme. Dem Stammesgedanken widmete Z. im folgenden Jahrzehnt mehrere Schriften, die ab der Mitte der 1930er Jahre eine zunehmende Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut erkennen lassen6.
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Z.s Arbeiten war von Skepsis gegenüber der Wiss. geprägt. Er kritisierte die Vorgehensweise von Akademikern und betonte, die Sage solle „helfen, die Instinktsicherheit wiederzugeben und zu stärken, Ausrichtung und Weg des nationalen Lebens zu weisen“7. In einem Beitr. zu Sage und Legende im Hb. der dt. Vk. ging er zwar Grenzfragen der Gattungen nach, verweigerte jedoch explizit eine Definition der Sage, denn diese ,wächst‘, sie ist ein Stück vom Leben der Menschen, „sie ist einfach da“, gleichgültig, „wie der Fachmann sie kritisch beleuchten, benennen und klassifizieren möge“8. Kritik an der Editionspraxis der Sagenschatz-Bände übte J. J Bolte in seinen Rez.en in der ZfVk., lobte die Reihe aber als wichtige Quellensammlung. H.-J. J Uther charakterisierte Z. als Anhänger der romantischen J Fragmententheorie, der Texte nach Gutdünken kontaminiert habe9. Z. war weniger am komparatistischen Forschen interessiert als vielmehr daran, das nationale Element in den Überlieferungen zu betonen. Damit verbunden war der Gedanke einer Revitalisierung, die letzten Endes zur Ethnogenese des Dt. Reiches beitragen sollte. Als bedeutender Reihenherausgeber hatte Z. Kontakt mit Erzählforschern und Volkskundlern (J. J Künzig, G. F. J Meyer, H. J Naumann, W.-E. J Peuckert, F. Sieber). Er edierte überdies monographische Volkserzählungsbände10 und publizierte Beiträge zu Forschungsfragen aus den Bereichen Vk.11 und Folkloristik12. Für seine Tätigkeit als ,Volkstumsforscher‘ wurde Z. 1940 mit dem Lit.preis der Stadt Kassel geehrt13. 1 cf. Uther, H.-J.: Märchen und Sagen im Eugen Diederichs Verlag. In: Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag ⫺ Aufbruch ins Jh. der Extreme. ed. G. Hübinger. Mü. 1996, 376⫺410, hier 379; Diederichs, U.: Auf dem Weg zu Märchenruhm. Die Frühgeschichte der Reihe „Die Märchen der Weltlit.“ Ein Beitr. zum 100jährigen Jubiläum des Eugen Diederichs Verlages. In: Buchhandelsgeschichte (1996) H. 2, B49⫺B68. ⫺ 2 id.: Die Märchen der Weltlit. 1912⫺1996. Teil 1 der Gesamtbibliogr.: 1912⫺1945. In: Marginalien 145,1 (1997) 51⫺86, hier 77. ⫺ 3 cf. Z., P.: Volkstum und Entwicklung. In: Die Tat 5,1 (1913/14) 51⫺60. ⫺ 4 cf. Ulbricht, J. H.: „Meine Seele sehnt sich nach Sichtbarkeit dt. Wesens“. Weltanschauung und Verlagsprogramm von Eugen Diederichs im Spannungs-
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Zaunkönig
feld zwischen Neuromantik und ,Konservativer Revolution‘. In: Hübinger (wie not. 2) 335⫺374, hier 352⫺355. ⫺ 5 Z., P.: In der Nachfolge Jacob Grimms. In: Die Tat 17,1 (1925/26) 63. ⫺ 6 z. B. id.: Die Stämme im neuen Reich. Jena 1933; id.: Die dt. Stämme. Köln 1939; id.: Stammesentwicklung und Ostbesiedlung. In: Peßler, W. (ed.): Hb. der dt. Vk. 1⫺2. Potsdam 1934⫺38, hier t. 1, 120⫺135. ⫺ 7 id.: Sage und Legende. ibid. 2, 326⫺348, hier 347. ⫺ 8 ibid., 326. ⫺ 9 cf. Uther (wie not. 1) 391. ⫺ 10 Z., P. (ed.): Von Riesen und Zwergen und Waldgeistern: 50 Natursagen, Köln 1914; id.: Von Nixen und Kobolden und anderen Geistern. Köln 1914; id. (ed.): Die Märchen dt. Dichter 1⫺5. Jena 1931; id.: Sagen aus dem Taunus und Westerwald. Wiesbaden [1935]; id.: Volksmärchen aus Siebenbürgen. Jena 1939; id.: Dt. Schwänke. Jena 1940; id.: Z.s Märchenbuch. Jena 1944; id.: Die Zauberflöte. Märchen der europ. Völker. Düsseldorf 1951; id.: Wunderbare Weltreise. Märchen aus fünf Erdteilen. Reutlingen 1951; id.: Alt wie der Wald. Ostdt. Sagen und Legenden. Düsseldorf 1955; id.: Märchen aus Frankreich. B. 1959. ⫺ 11 Riehl, W. H.: Vom dt. Land und Volke. Jena 1922; Z., P.: F. K. von Savigny und seine Zeit. In: Zs. für Dt. Geisteswiss.en 4 (1941/42) 275⫺290. ⫺ 12 id.: Familie und Sage. In: Germanien 9 (1937) 76⫺83; id.: Soldatenmärchen. ibid. 12 (1940) 321⫺327, 373⫺ 378. ⫺ 13 cf. Niem, C.: Eugen Diederichs und die Vk. Ein Verleger und seine Bedeutung für die Wiss.sentwicklung. Münster u. a.
Mainz
Christina Niem
Zaunkönig (Troglodytes troglodytes), einer der kleinsten J Vögel. Da der Z. ein unscheinbares Gefieder hat und in seinem Lebensraum (dichten Gebüschen und Hecken) dem menschlichen Auge meist verborgen ist1, wurde er häufig mit anderen Vögeln verwechselt2. Seine wenig markanten Eigenschaften werden in zahlreichen ätiologischen Sagen erklärt3. In der Erzählliteratur wird der Z. vornehmlich als das im Vergleich zu anderen Vögeln kleinere Tier dargestellt4, ohne daß ihm hierbei, wie Sprichwort und Volkslied5 zeigen, ein geschärftes Profil zukommen muß. In einer Reihe von Erzähltypen wird jedoch hervorgehoben, daß er der kleinste Vogel sei. Als scharfsinniger J Trickster gewinnt er den Wettstreit oder Kampf gegen ein stärkeres Tier, indem er seine fehlende Körperkraft durch J List und Findigkeit ausgleicht (J Stark und schwach)6. Originär auf einer Tierfabel7 basierend, ist AaTh/ATU 221: cf. J
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Königswahl der Tiere in diesem Zusammenhang von bes. Bedeutung: Die Vögel beschließen, daß derjenige Vogel die Königswürde erhalten soll, der am höchsten fliegen kann. Den Wettstreit gewinnt der Z., der sich im Gefieder des J Adlers versteckt und sich daraus emporschwingt, als dieser alle anderen Vögel besiegt hat und aus Ermattung nicht mehr höher aufsteigen kann.
Doch nimmt die Königswahl der Vögel, die in vielfältigen Variationen vorliegt, für den Z. nicht immer einen positiven Ausgang8. In KHM 171 endet die Wahl letztlich ergebnislos, da der Sieg des Z.s nicht anerkannt und ein weiterer Wettstreit ausgerufen wird: Wer am tiefsten in die Erde vorstößt, solle siegen (AaTh/ATU 221 B: Test: Who Can Go Deepest in Earth?). Dem erneut durch eine List siegreichen Z. ⫺ er schlüpft in ein Mauseloch ⫺ wird abermals die Königswürde verweigert. In seinem Versteck gefangengenommen, wird er von der J Eule bewacht (Mot. A 2233.3). Als diese einschläft, entkommt er. Verängstigt wird er fortan im Verborgenen leben.
Dort, wo in der vorliegenden Erzählung der Wunsch nach politischer Ordnung erkennbar wird, wo die Vögel sich beraten und Entscheidungen treffen, zeigen sich Bezüge zu AaTh/ ATU 220: J Parlament der Vögel 9. Volksetymol. läßt sich durch die Fabel von Z. und Adler auch die Entstehung des Namens Z. erklären: So ist er in KHM 171 der „in den Zäunen herumschlüpfende“ König10. In der christl. Allegorese wird die Erzählung vom Sieg des unscheinbaren, doch hoch fliegenden Z.s als Triumph J Christi (des Königs) über den Teufel und als Aufstieg der Demut zur höchsten ewigen Seligkeit gedeutet11. Im Tierschwank AaTh/ATU 222: J Krieg der Tiere beleidigt der Bär (Wolf, Löwe) die Jungen des Z.s12. Der Z. sagt ihm daraufhin den Kampf an und verursacht so einen Krieg zwischen Vierfüßlern und Vögeln, aus dem letztere, die erkennbar Schwächeren, aber Zusammenhaltenden, aufgrund der Listigkeit und des Einfallsreichtums des Z.s als Sieger hervorgehen. In der kelt. Überlieferung spielt der Z. die größte Rolle13; so gilt er bei den Iren als magischer, mit divinatorischen Fähigkeiten ausgestatteter Vogel. Dadurch ist er ⫺ der Vogel der Druiden und zugleich der Druide der Vögel (cf. Mot. B 242.1.2.1) ⫺ wirkungsmächtiger, als es sein unscheinbares Auftreten vermuten ließe14. Die Funktion eines Omens
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Zechpreller
besitzt der Z. auch im europ. Volksglauben, in dem weitere, allerdings eher erratische Bedeutungen des Z.s begegnen15. Im Schwanktyp AaTh/ATU 1184: Letztes J Laub hilft der Z. Gott in seinem Herrschaftsteilungsstreit mit dem Teufel (Gott soll nur in der Zeit herrschen, da das Laub an den Bäumen hängt), indem er die Bäume dazu bringt, ihre verwelkten Blätter bis zum Frühling zu behalten. In westeurop., vornehmlich kelt. Natursagen fungiert der Z. als Feuerräuber (J Feuerraub, J Kulturheros); oft werden hierbei seine Federn versengt16. In Mythen nordamerik. Indianer ist er der Urheber der Pfeilkette zwischen Himmel und Erde, die die Eroberung des Feuers ermöglicht17. Indem ausgerechnet mit Hilfe des kleinsten der Vögel diese gewaltige Strecke überwunden wird, ist er auch hier zu Unerhörtem befähigt. Ausgesprochen spekulativ ist eine naturmythol. Deutung aus dem 19. Jh., die den Z. mit dem Mond gleichsetzt18. Grzimeks Tierleben 9. Zürich 1970, 213⫺217. ⫺ Keller, O.: Die antike Tierwelt. Lpz. 1913 (Nachdr. Hildesheim 1963), 82⫺84. ⫺ 3 Dh. 1⫺4, jeweils Reg. s. v. Z. ⫺ 4 Knortz, K.: Die Vögel in Geschichte, Sage, Brauch und Lit. Mü. 1913, 168⫺175; DWb. 15, 412; Gattiker, E. und L.: Die Vögel im Volksglauben. Wiesbaden 1989, 199⫺206; Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Mü. 1995, 400⫺403; Hünemörder, C.: Z. In: Lex. des MA.s 9. Mü./Zürich 1998, 494; id.: Z. In: DNP 12,2 (2002) 704. ⫺ 5 Wander 5, 513, 1820; Herder, J. G.: Stimmen der Völker in Liedern. ed. H. Rölleke. Stg. 1975, 55. ⫺ 6 Schwarzbaum, Fox Fables, 234⫺239. ⫺ 7 Klinger, W.: Z motywo´w we˛drownych pochodzenia klasycznego (Wandermotive klassischer Herkunft) 1. Posen 1921, 3⫺ 29, 57 sq.; Dicke/Grubmüller, num. 655, cf. auch num. 10, 350. ⫺ 8 Dh. 4, 160⫺184; BP 3, 278⫺283, hier 280; Gattiker (wie not. 4) 202 sq. ⫺ 9 cf. Pfeiffer, F.: Das Märchen vom Z. In: Germania 6 (1861) 80⫺ 106. ⫺ 10 KHM/Uther 3, 78. ⫺ 11 Dittrich, S. und L.: Lex. der Tiersymbole. Petersberg 2004, 568; Schmidtke, D.: Geistliche Tierinterpretation in der dt.sprachigen Lit. des MA.s (1100⫺ 1500) 1. (Diss. B. 1966) B. 1968, 455 sq. ⫺ 12 Dh. 4, 199⫺202; BP 2, 435⫺438; Schwarzbaum, Fox Fa´ Cuı´v, bles, 158⫺162; KHM/Uther 4, 196 sq. ⫺ 13 O B.: Some Gaelic Traditions about the Wren. In: Eigse 18 (1980) 43⫺66; Muller, S.: The Irish Wren Tales and Ritual. In: Be´aloideas 64/65 (1996/1997) ´ Cuı´v (wie not. 13) 43, 45⫺49, 131⫺169. ⫺ 14 cf. O 58 sq., 66. ⫺ 15 Hoffmann-Krayer[, E.]: Z. In: HDA 9 (1938/41) 881⫺884. ⫺ 16 Dh. 3, 93⫺96; Armstrong, E. A.: The Folklore of Birds. N. Y. 21970, 176⫺180; Gattiker (wie not. 4) 200, 204; Lawrence, E. A.: Hunting the Wren. Knoxville 1997, 150⫺ 1 2
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152. ⫺ 17 Le´vi-Strauss, C.: Mythologica. 4,2. Ffm. 1975, 510, 541⫺547, 580⫺582, 613, 683. ⫺ 18 De Gubernatis, A.: Die Thiere in der idg. Mythologie. Lpz. 1874 (Nachdr. Walluf/Nendeln 1978), 500 sq.
Berlin
Werner Bies
Zechpreller. Als Z. wird ein J Betrüger bezeichnet, der in Gasthaus oder Kneipe (J Wirt, Wirtin, Wirtshaus) Speisen und/oder Getränke (J Speise und Trank) in Anspruch nimmt, ohne die Zeche, d. h. die Wirtshausrechnung, zu bezahlen. Grund für das Prellen der Zeche kann wirtschaftliche Not bzw. Mittellosigkeit sein, meist werden in den betr. Erzählungen aber nicht die Ursachen, sondern vorwiegend mit Hilfe von J List und J Täuschung durchgeführte Handlungen angesprochen. Die Einkehr eines J Gastes sowie das ambivalente Verhältnis zwischen Gast und (oft betrügerischem) Wirt werden in allen Gattungen der Volkserzählung thematisiert, bevorzugt allerdings in schwankhaften Geschichten. Obwohl Z. Betrüger sind, haben sie oft die Sympathien der Leser/Zuhörer auf ihrer Seite, da ihre ausgeklügelten Winkelzüge dem Publikum ein gesteigertes Vergnügen bereiten. Gleichzeitig beinhalten Z.geschichten auch Sozialkritik, da sie den impliziten Konflikt zwischen J Arm und Reich zugunsten des mittellosen, wenngleich cleveren Z.s lösen. Bes. wandernde J Handwerksburschen und J Studenten profilieren sich im Schwank als findige, dem Wirt intellektuell überlegene Z. Solche Z.geschichten sind nach H. J Bausingers Schwanktypologie1 als Ausgleichstypen zu bezeichnen, da sie den von seiner sozialen Stellung her meist dominierenden Wirt als den letztlich Düpierten hinstellen. Daß der angesichts einer aufwendigen Lebenshaltung chronische Geldmangel der Studenten ein dankbares Thema abgab, belegen u. a. bereits die Schwankbücher des 17./18. Jh.s2. G. P. Hönns Betrugs-Lex. (21724) zählt zahlreiche Möglichkeiten der Zechprellerei auf 3. In den hist. Quellen des dt.sprachigen Raums am häufigsten nachgewiesen ist die Geschichte vom Blindekuhspiel4: Acht (drei) Studenten kehren in einem Wirtshaus ein, verzehren unmäßig viel und tun so, als ob jeder von ihnen die Zeche zahlen wolle. Sie einigen sich schließlich darauf, der Wirtin (dem explizit als naiv
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Zechpreller
charakterisierten Kellner) mit einem Tuch die Augen zu verbinden, worauf diese versuchen muß, einen von ihnen zu fangen, der dann die Rechnung begleichen werde. Während die Wirtin blind herumtappt, machen sich die Studenten aus dem Staub; zu guter Letzt erwischt sie ihren heimkehrenden Mann, und ruft, er solle alles bezahlen (Mot. K 233.2).
Das Blindekuhspiel findet sich gelegentlich auch als abschließender Streich in mehrepisodischen Z.geschichten aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s (mazedon.5, fläm.6), so auch in span. Var.n von AaTh/ATU 1526 A: Supper Won by a Trick7. Manch ein Wirtshausbesitzer durchschaute die Ränke der Z. allerdings, wie ein in der dt. Schwankliteratur seit dem 15./16. Jh. angeführter Schwank zeigt8: Zwei Gelehrte versprechen dem Wirt, die Zeche nach dem großen platonischen Weltjahr zu zahlen, weil dann der Lauf der Welt wieder seinen Anfang nehme und auch sie sich wieder einfinden würden. Der schlaue Wirt geht nicht darauf ein, sondern fordert gleich auch noch die Zeche, welche die beiden vom letzten Mal, also von vor 3000 Jahren, schuldig geblieben seien (Mot. J 1384).
Als bes. gewitzter Z. erweist sich ein Gast, der sich zunächst reichlich bewirten läßt und sich danach als angeblicher J Schinder zu erkennen gibt, worauf der Wirt ihn ⫺ aus Angst, seine Anwesenheit werde die anderen Gäste vertreiben ⫺ ohne Bezahlung verabschiedet9. In einer Gruppe von Erzählungen werden Blinde durch falsche Angaben eines Tricksters eher unfreiwillig zu Z.n (AaTh/ATU 1577: Die getäuschten J Blinden)10. Ein Betrüger täuscht vor, einem der Blinden Geld zu geben; daraufhin kehren diese in einem Wirtshaus ein. Als sich herausstellt, daß kein Geld da ist, bezichtigt der Wirt sie der Zechprellerei und verprügelt sie. Der angebliche Spender bereut seinen Streich, erbarmt sich der Blinden und befreit sie aus ihrer elenden Lage. Danach inszeniert der durchtriebene Gauner ein Verwirrspiel, um die Zeche doch schuldig zu bleiben. Am Schluß steht der Wirt als Geprellter da.
Dieser aus der ma. Fabliaux-Tradition stammende Schwank ist im 16./17. Jh. mehrfach bearbeitet worden11 und auch in die Schelmengeschichten um J Eulenspiegel und Cle´ment Marot eingegangen12. Die internat. am weitesten verbreitete Z.erzählung dürfte AaTh/ATU 1526: J Bettler als Pfand sein. Hier lassen die Betrüger einen als vornehmer Herr ausstaffierten Bettler als Si-
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cherheit für ihre Einkäufe zurück; als der Betrug entdeckt wird, haben die Betrogenen niemanden, von dem sie ihr Geld eintreiben können. Daneben erscheinen Z. in zahlreichen weiteren Erzähltypen. In einer als Z.geschichte ausgestalteten Var. von AaTh/ATU 1409 B: cf. Der gehorsame J Ehemann nimmt der zahlungsunwillige Gast die Aufforderung des Wirtes, die Bank hinunterzurutschen, J wörtlich und verläßt die Wirtsstube, ohne sich um seine Rechnung zu kümmern13. In AaTh/ATU 1555 A: Paying for Bread with Beer bestellt der Z. zuerst ein Bier, das er dann zurückgibt und statt dessen ein Brot verlangt. Als er das Brot bezahlen soll, argumentiert er, daß er doch statt dessen das Bier zurückgegeben habe; als er das Bier bezahlen soll, kann er mit Recht behaupten, er habe es nicht getrunken. Der Z. in ATU 1555 C: The Good Meal bestellt reichlich Essen und Trinken ,für sein Geld‘; als er nicht genug Geld zum Zahlen hat, ist der Wirt bereit, ihn gehen zu lassen, wenn er dem Nachbarwirt den gleichen Streich spiele; allerdings ist es gerade der Nachbarwirt, der den Betrüger geschickt hat. Zum Umfeld der Z.geschichten gehört auch AaTh/ATU 821 B: cf. J Prozeß um die gekochten Eier. Auch in AaTh/ATU 1526 A prellen die Akteure mit mehrfachen Täuschungen erfolgreich die Zeche. Der Erzähltyp besteht in der Regel aus mehreren Episoden: Drei (vier) Trickster (Diebe, Studenten, Soldaten, Lügner) beschließen, ausgiebig zu speisen. Da sie kein Geld besitzen, versorgen sie sich durch aufeinanderfolgende Betrügereien mit Fleisch (Fisch), Brot und Wein und als Zutat mit Senf. Sie geben u. a. vor, im Auftrag eines hohen Herrn (Bischof, Pfarrer, Arzt) zu handeln, der später für die Rechnung aufkommen werde. Diesem jedoch berichten die Gauner, es werde (nach der Messe) jemand vorbeikommen, der von einer heimtückischen Krankheit angesteckt, verrückt geworden oder vom (Geld-)Teufel befallen sei. Daher möge der Herr den armen Besessenen, der ständig sagt: „Ich komme, um mein Geld zu kassieren“, exorzieren (heilen). Aufgrund dieser falschen Information entstehen J Mißverständnisse, und die düpierten Gläubiger werden für verrückt gehalten. Gelegentlich lassen die Betrüger die auf trickreiche Art zusammengetragenen Nahrungsmittel in einem Gasthaus zubereiten, wonach sie die Wirtin mit dem Blindekuhspiel um die Zeche prellen.
AaTh/ATU 1526 A ist bereits in der frühen ital. Novellistik, etwa bei Girolamo J Morlini
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Zehn Gebote ⫺ Zehnter
(num. 13) oder Giovan Francesco J Straparola (13,2) nachgewiesen. Aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist der Schwank schwerpunktmäßig für den süd- und mitteleurop. Raum belegt, mit Ausläufern bis nach Ägypten. Europ. Siedler brachten ihn auch nach Übersee. Einige Var.n sind mit AaTh/ ATU 1642: Der gute J Handel14 oder mit AaTh/ATU 157715 kombiniert. Ähnlich verlaufende Z.geschichten liegen aus der modernen griech. mündl. Überlieferung vor16. AaTh/ATU 1526 A**: Waiting until the Tower Falls ist eine aus dem fläm., fries. und norddt. Raum belegte Sonderform: In einem Gasthaus beobachten Trickster aus dem Fenster, daß der Kirchturm schiefsteht. Sie wetten darum, auf welche Seite er fallen werde, und einigen sich darauf, daß der Verlierer die Rechnung begleichen solle (J Wette). Sie genießen eine gute Mahlzeit; der Wirt jedoch hat das Nachsehen.
Auch Tiere agieren gelegentlich als Z., so in einem singulär aufgezeichneten Märchen der Siebenbürger Sachsen17: Bär, Wolf, Fuchs und Hase kehren in einem Wirtshaus ein, lassen sich reichlich bewirten und versprechen, den Verzehr am folgenden Tag zu bezahlen, nachdem sie sich durch Singen etwas Geld verdient hätten. Der mißtrauische Wirt verlangt indessen, sie sollten ihre Mäntel (Pelze) als Pfand hinterlassen, worauf sie die Flucht ergreifen.
In Erzählungen, die im Zuge der Gegenreformation ein negatives Image des Reformators J Luther vermitteln sollten, wird diesem üble Zechprellerei in verschiedenen Wirtshäusern nachgesagt18. Schließlich heißt es sogar, er sei an der Himmelstür abgewiesen worden, weil er seine Zeche nicht bezahlt habe19. 1 Bausinger, H.: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967) 118⫺136. ⫺ 2 Moser-Rath, Schwank, 200, 217 sq., 382. ⫺ 3 Hönn, G. P.: Betrugs-Lex. Coburg 21724, 408⫺ 415. ⫺ 4 Moser-Rath, Schwank, 431; Moser-Rath, Predigtmärlein, 238 sq., 465 sq. ⫺ 5 Eschker, W.: Mazedon. Volksmärchen. MdW 1972, num. 54. ⫺ 6 Meyere, V. de: De Vlaamsche vertelselschat 3. Antw. 1929, num. 223. ⫺ 7 Espinosa 1, num. 197; t. 3, 233⫺239, bes. 235. ⫺ 8 Bebel/Wesselski 2, num. 84; Pauli/Bolte 2, num. 858; Montanus/Bolte 578, num. 40; Moser-Rath, Schwank, 218, 348. ⫺ 9 EMArchiv: Scheer-Geiger 1 (1673) 264, num. 86. ⫺ 10 Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 80 sq. ⫺ 11 Pauli/Bolte 1, num. 646; Rottmann, F. J.: Lustiger Historienschreiber […] 3. Hannover 1729, num.
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65. ⫺ 12 cf. Rhaue, H.: Über das Fabliau „Des trois Aveugles de Compie`gne“ und verwandte Erzählungen. Braunsberg 1914, 20⫺26. ⫺ 13 Sachs, H.: Sämtliche Fabeln und Schwänke 4. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1903, 100 sq.; Pauli/Bolte 2, num. 728. ⫺ 14 Espinosa, A. M., hijo: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 431; Espinosa 1, num. 197. ⫺ 15 wie not. 7. ⫺ 16 Orso, E. G.: Modern Greek Humor. Bloom./L. 1979, num. 82, 87. ⫺ 17 Dh. 4, 260. ⫺ 18 Brückner, 284; 299, num. 28⫺29; 300, num. 39; 322, num. 253⫺256. ⫺ 19 Brückner, 322, num. 257.
Mariakerke
Harlinda Lox
Zehn Gebote J Dekalog
Zehnfach vergolten J Vergeltung: Die zehnfache V.
Zehnter 1. Allgemeines ⫺ 2. Vermittlung und Publikmachung ⫺ 3. Kritik und Auseinandersetzungen ⫺ 4. Wandel der Semantik nach der Ablösung des Zehnten
1 . All ge me in es. Der Zehnte (Z.e) im engeren und eigentlichen Sinne meint eine religiös begründete Abgabe für den Unterhalt des Klerus und für karitative Zwecke; in der Regel handelt es sich dabei um Naturalien (als Reallast, nicht als persönliche Steuer). In einem weitergefaßten Sinne ist der Z.e eine Art Synonym oder der Inbegriff für eine feudalrechtliche Abgabe (J Feudalismus), die sich nicht mehr nur auf kirchliche Belange bezieht. In der Moderne assoziiert man mit dem Wort zunehmend eine illegitime obrigkeitliche Einzugsforderung. Auch im antiken Judentum gab es Z.abgaben (ma’aserot) an Vertreter des Priesterstandes und an die Leviten1; im Islam kann der zaka¯t (eine vor allem zur Armenfürsorge gedachte Zuwendung) wie ein Z.er verstanden werden2. Die frühe Kirche kannte den Z.en noch nicht, da von den Gläubigen freiwillige Abgaben im obengenannten Sinne erwartet wurden; erst die Konzilien von Tours (567) und von Maˆcon (585) versuchten, ihn als Rechtspflicht zu formulieren und zu etablieren (zunächst als Mahnung, dann als Satzung mit Sanktions-
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Zehnter
drohung des Kirchenausschlusses). Gegen die schon im Frühmittelalter einsetzende Übertragung des Z.einzugs an eine weltliche Macht wurde auf dem Konzil von Meaux (845) und bes. auf der 3. Lateransynode (1179) Einspruch erhoben: der Z.e sei göttlichen Rechts, kein Laie dürfe ihn besitzen3. Die kirchenrechtliche Slg des Decretum Gratiani (ca 1140) enthält nähere Referenzbestimmungen und formuliert die Aufteilungsmodi der Erträge, gerade aber auch die Androhung der Exkommunikation bei Nichtbefolgung4. Ma. Exempla und sagenhafte Geschichten versuchen deutlich zu machen, daß eine als endlos und numinos vorgestellte Macht die Entrichtung des Z.en zu belohnen oder deren Verweigerung zu bestrafen vermag. Dies spiegelt sich etwa in zwei Geschichten des J Caesarius von Heisterbach: Ein Ritter zahlt auch nach einer Mißernte den vollen Z.en von seinem Weinberg und erhält dann durch ein Wunder dessen vollen Ertrag (Dialogus miraculorum, num. 216). Hagelschlag und Mißernte im Getreidefeld und im Weinberg werden durch vorherige Nichtzahlung des Z.en erklärt. Der Ritter als Eigentümer setzt deshalb den Verlust auf die Rechnung des säumigen Verwalters (Dialogus miraculorum, num. 217). 2 . Ver mi tt lu ng un d P ub li km ac hu ng. Für die Erzählforschung stellt sich das Problem der Publikmachung, Fixierung und dauerhaft verbindlichen Überlieferung des Z.en als Rechtsanspruch in der nur semiliteralisierten Kultur der spätma. Ständegesellschaft, bes. im Kreis derjenigen, die den Z.en zu produzieren und zu erbringen hatten, nämlich die in der Landwirtschaft arbeitende, analphabetische Schicht auf lokaler Ebene. Neue Studien zu der Gewohnheitsrechtsaufzeichnung Sachsenspiegel (um 1220)5 haben gezeigt, daß Mitteilungen zur Z.abgabe dort eine deiktische Umsetzung der Heortologie in Termine des Landwirtschaftsjahres bedeuten: Mit dem Tag des hl. J Martin (11. 11.) etwa wird der Geflügelzehnt verbunden, mit dem der hl. J Margarete (15. 7.) war der Getreidezehnt gefordert. Neuere Unters.en sprechen zuweilen von einem ,erzählten Recht‘, wenn über das Aufforderungsinstrument der judikalen ,Kundschaft‘ die Schöffen aus ihrem Lebenslauf berichten, wie und für wen sie einst rechtmäßig Z.anteile
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abgegeben oder eingesammelt haben6. Die Unters. spätma. Rechtsquellen, bes. der personal und mündl. vorgetragenen sog. Kundschaften und Weistümer, zeigt eine mündl. verlautbarte Zuweisung. Gerade an der Frage von Abgaben wie dem Z.en hat sich das klassische Problem, ob es eine stabile mündl.-gedächtniskulturelle Überlieferung gegeben hat oder überhaupt geben kann und unter welchen Bedingungen sie als solche geglaubt und/oder anerkannt wird, wieder entzündet. Komplexer noch ist die Lage bei der Analyse der sog. Weistümer: Aussagen über Z.zuweisungen und ihre Vielfalt findet man allein bei J. J Grimm in 950 Belegen registriert7. Weistümer geben über die Vielfalt der Z.leistungen Auskunft und fassen ihren Umfang in griffigen, einprägsamen Sprachbildern zusammen: „was der wint beweˆt und der regen gespreˆt“ sei zehntpflichtig, heißt es etwa im Hofrecht (14. Jh.) von Weggis (Kanton Luzern)8. 3 . Kri ti k u nd Au se in an de rs et zu ng en. Die generalisierende Bestimmung, daß alles auf der Erde Gezogene zehntpflichtig sei, führte notwendig zu sozialen Konflikten, die auch in Erzählstoffen wie etwa Sagen und Schwänken zum Ausdruck gebracht wurden, so in einem Schwank des J Poggio Bracciolini (num. 155), in dem der Beischlaf eines Pfarrers mit einer verheirateten Frau als zum Z.en gehörig erklärt wird; daraufhin hält der Ehemann dem Pfarrer bei Tisch ein Gefäß mit Urin und Exkrementen hin, die der Pfarrer verkosten muß, da das auch zum Z.en gehöre9. Ein weiterer hist. Konfliktpunkt ist die mehrfache Forderung des Z.en durch verschiedene Institutionen10. In zahlreichen, teils musterhaften oder topischen Sagen verschiedener Provenienz ist die Abgabe des Z.en, dessen Umfang oder ungerechtfertigte Verwendung, Anlaß zu Auseinandersetzungen bis hin zum Totschlag11. Ein Einzelfall der Sagenbildung ist die Geschichte des Stedinger-Aufstands, die durch mittlerweile mehr als sieben Jh.e fortdauernd perpetuiert und in zahlreichen Variationen dargestellt wurde: in Form von Balladen, Liedern, Gedichten sowie Schauspielen und im Internet. Die Überlieferung um die Stedinger legt exemplarisch das Grundproblem offen, um das im Prinzip die meisten Erzählungen
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Zeichen
seit dem MA. kreisen: Der Z.e erscheint als religiös sanktionierte Abgabenleistung, ein Infragestellen oder eine Verweigerung kann mit dem Stigma des Ketzertums und mit der Androhung von Strafen im Jenseits ausgemalt werden12. 4 . Wan de l d er Se ma nt ik na ch de r Abl ös un g d es Z. en. In J. H. Zedlers Universallexicon wurde die Kritik am Z.en noch in einen moralischen und religiösen Kontext gestellt, ohne die Abgabe in ihrem Prinzip in Frage zu stellen13. Gegen Ende des 18. Jh.s begann jedoch eine durchschlagende Kritik am wirtschaftlichen Sinn und Nutzen des Z.en, die in knapper Form schon bei A. Smith gebündelt war14. In K. T. Welckers und C. von Rottecks Staats-Lex. wird der Z.e zur Zeit seiner Ablösung als nachteilig für eine intensive Landwirtschaft beschrieben15; ebenso urteilt am Ende des 19. Jh.s Brockhaus’ Konversations-Lex., da dem „Zehntherrn eine Teilnahme am Mehrertrag ohne Teilnahme an Risiko und Kosten zugewendet sein würde“16. Der Z.e entwickelte sich seither mehr und mehr zum Inbegriff und zur Metapher für eine anachronistische, ungerechte und sinnwidrige Abgabe, wird jedoch in Erzählungen, deren Hauptthemen und Gattungstypik durchaus unterschiedlich sein können, bis in die Erzählforen des Internets präsent gehalten. Auch im Format ,Erzählung als Werbeanzeige‘ werden einschlägige Anspielungen gebraucht, hier zumeist in satirischer Absicht: Über einen Internet-Blog wurde das Märchen vom edlen Lord Purplepulli verbreitet, in dem der Protagonist lernt, wie man sich „ohne den Zehnt zu entrichten“ in den Besitz von Filmen und Musikstücken bringen kann; eine im Internet publizierte Werbeanzeige propagierte mit dem Märchen vom Gesundheitsfonds, es sei falsch, „alle den gleichen Zehnt in einen Topf zahlen“ zu lassen, und ein kommentierend-narrativ angelegter Artikel aus der Onlinezeitung faz.net sprach im Kontext der Debatte um die Steuerfahndung in der Schweiz davon, der deutsche Finanzminister wolle dort seinen Z. abholen17. 1
Reichman, R.: Z.abgaben/Antikes Judentum. In: RGG 8 (42005) 1793. ⫺ 2 Hutter, M.: Z.abgaben/Religionsgeschichtlich. ibid., 1791 sq., hier 1792. ⫺ 3 Riis, T.: Z. In: Lex. des MA.s 9. Mü. 2002, 499⫺ 502; Becker, H. J.: Z. In: Hwb. zur dt. Rechtsge-
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schichte 5. B. 1998, 1629⫺1631; Kottje, R.: Z. In: LThK 10 (2001) 1394⫺1398; Körting, C./Leonhard, C./Zimmermann, G.: Z. In: TRE 36 (2004) 488⫺ 504. ⫺ 4 Corpus iuris canonici 1. ed. E. L. Richter. Lpz. 1879, 801 sq. ⫺ 5 Lück, H. (ed.): Sachsenspiegel. Commentarium. Aufsätze und Unters.en. Graz 2011; Munzel-Everling, D./Effinger, M.: Der Sachsenspiegel. Die Heidelberger Bilderhs. CD-ROM Heidelberg 2009; Schmidt-Wiegand, R./Milde, W.: Der Oldenburger Sachsenspiegel. Graz 2006; iid.: Gott ist selber Recht. Die vier Bilderhss. des Sachsenspiegels Oldenburg, Heidelberg, Wolfenbüttel, Dresden. Wolfenbüttel 1992. ⫺ 6 Teuscher, S.: Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im SpätMA. Ffm. 2007, 118 sq. ⫺ 7 Grimm, J.: Weisthümer 1⫺7, Göttingen 1840/40/42/63/66/69/78, hier t. 1, 162; cf. auch Volk, O.: Wirtschaft und Ges. am Mittelrhein vom 12. bis zum 16. Jh. Wiesbaden 1998 (zur Vielfalt). ⫺ 8 ibid. ⫺ 9 cf. Wesselski, A.: Johann Sommers ,Emplastrum Cornelianum‘. In: Euphorion 15 (1908) 1⫺ 19, hier 14, num. 53. ⫺ 10 Wesselski, Arlotto 1, num. 2. ⫺ 11 Peuckert-Archiv, Freiburg, s. v. Z.er; Klapper, MA., num. 44, 195; HDS 1 (1961) 102; Strohal, R.: Hrvatskih narodnih pripovijedaka knjiga 3. Karlovac 1904, num. 5 (dt. bei Bosˇkovic´-Stulli, M.: Erzählungen vom kollektiven Mord. In: Fabula 33 [1992] 245⫺253, hier 246); cf. auch Zender, M.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 1966, num. 32, 34, 35, 42, 45, 67; Burde-Schneidewind, G.: Hist. Volkssagen aus dem 13. bis 19. Jh. t. 4. B. 1977, num. 1, 2, 69, 134, 359 u. ö. ⫺ 12 Köhn, R.: „Lieber tot als Slav‘!“ Der Stedingeraufstand in der dt. Lit. (1836⫺1975). In: Oldenburger Jb. 80 (1980) 1⫺57; ibid. 81 (1981) 83⫺144; cf. auch Schmeyers, J.: Die Stedinger Bauernkriege. Lemwerder 2004; Brückner, W.: Bildgebrauch und Kreuzzug gegen Bauern im 13. Jh. Oder die Nazis in Stedingen [1988]. In: id.: Volkskunde als hist. Kulturwiss. 2. Würzburg 2000, 332⫺340. ⫺ 13 Zedler, J. H.: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wiss.en und Künste 61. Halle/ Lpz. 1749, 375⫺438, s. v. Zehend. ⫺ 14 Smith, A.: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. L. 1776, 832, 837. ⫺ 15 Mathy, K.: Z. In: Das Staats-Lex. Enc. der sämmtlichen Staatswiss.en für alle Stände 12. ed. C. von Rotteck/K. T. Welcker. Lpz. 2 1848, 827⫺835. ⫺ 16 Brockhaus’ Konversations-Lex. 16. Lpz. 141898, 931. ⫺ 17 Belegbll. im Sagenarchiv Fbg, Slg. Internetquellen.
Freiburg/Br.
Michael Prosser-Schell
Zeichen, Phänomen, von dem auf ein anderes (nichtzeichenhaftes) Phänomen geschlossen werden kann (aliquid stat pro aliquo)1. Die Bedeutung eines Z.s ist wahrnehmungsund interpretationsabhängig (cf. J Interpreta-
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Zeichen
tion, J Hermeneutik), sie wird dem Z. zugesprochen; das Z. ist nicht selbstreferentiell2. Z. vermitteln (repräsentieren) über einen Begriff bzw. eine Vorstellung die Dinge der Realität3. Dabei unterscheidet man drei Kategorien von Z.: Indexikalische Z. werden anderen Entitäten aufgrund von Erfahrungswerten zugeordnet (z. B. Krankheitssymptome, Naturerscheinungen). Bei ikonischen Z. basiert das Zuordnungsprinzip auf einer Ähnlichkeitsbeziehung (z. B. Bilder). Z., die aufgrund von Konvention, der Festlegung ihrer Bedeutung innerhalb eines geschlossenen Systems, zugeordnet werden und auf Arbitrarität, dem Nichtvorhandensein einer natürlichen Beziehung zwischen Z. und Bezeichnetem, beruhen, werden als symbolische Z. bezeichnet (z. B. Sprache, mathematische Z.)4. Die wiss. Betrachtung von Z. bzw. Z.systemen ist Teil der Erkenntnistheorie und der Sprachphilosophie. Sie geht auf antike Ansätze zurück (Aristoteles), die moderne Semiotik entstand jedoch erst im 20. Jh.; als ihr Begründer gilt der amerik. Philosoph und Logiker C. S. Peirce (1839⫺1914). Peirce hatte sich mit Z. und Z.systemen einerseits aus erkenntnistheoretischer Perspektive befaßt (triadisches Modell von Objekt, Z. und Interpretant)5, andererseits Z.typen klassifiziert (Index, Ikon, Symbol). In seiner Nachfolge führte C. W. Morris (1901⫺79) die Unterscheidung von Syntaktik, Semantik (J Semantische Analyse) und Pragmatik in die Z.theorie ein6. F. de Saussure (1857⫺1913) differenzierte zwischen drei Aspekten von Sprache (langage: menschliches Sprachvermögen, langue: einzelne Sprachen, parole: konkreter Sprachgebrauch) sowie zwischen signifiant (Z.form) und signifie´ (Z.inhalt)7; auf seinen Überlegungen zum bilateralen (dyadischen) Z.begriff fußt die Entwicklung der Lit.semiotik (Formalismus, J Strukturalismus, Poststrukturalismus) sowie der strukturalen Sprachwissenschaft (Kopenhagener Schule)8. Das Erzählen ⫺ gleichgültig, ob es sich um die mündl. Weitergabe eines Geschehens, dessen schriftl. Fixierung, seine anderweitig medial gebundene Repräsentation oder Mischformen davon handelt ⫺ ist auf die Mittelbarkeit zeichenhafter J Kommunikation vor allem durch Sprache angewiesen. Die explizite Thematisierung symbolischer Z. findet sich in tra-
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ditionellen Erzählungen eher selten (AaTh 924, 924 A⫺B/ATU 924: J Z.disput; cf. auch J Sprachmißverständnisse, J Symbolik)9. Doch da diese ebenso wie ihre medialen Adaptationen auf der Darstellung von Quasirealitäten10 basieren und ihr Inventar sich an der realen Lebenswelt ihrer Erzähler bzw. Autoren orientiert, bedienen sie sich der Repräsentation allg. gängiger indexikalischer sowie ikonischer Z. Indexikalische Z. sind auf allen Ebenen der Ausgestaltung von Erzählungen anzutreffen, von der J Kleidung (cf. J Barfuß), J Requisiten, J Erkennungszeichen, körperlichen Besonderheiten (J Bart, J Kahlkopf, J Krüppel, J Rothaarig), J Gebärden, J Charaktereigenschaften oder Lebensumständen (J Lebenszeichen) der Figuren über die Darstellung von Handlungsorten (J Schloß, cf. J Wegmarkierung) bis hin zu Handlungselementen. Derartige Z. lassen Aussagen z. B. über soziale Zugehörigkeiten, Stimmungslagen oder intellektuelle Fähigkeiten von Figuren zu und haben konkrete Funktionen für die J Dynamik der Erzählung, etwa wenn der J Drachentöter (AaTh/ATU 300) dem Drachen die Zungen herausschneidet und damit später beweisen kann, den Drachen getötet zu haben. Die indexikalische Funktion von Z. wird in Erzählungen jedoch auch instrumentalisiert: Die zum Beweis für die Tötung eines Menschen vorgezeigten Organe stammen von einem Tier (J Tierherz als Ersatz); die im Komplex der Erzählungen von der unschuldig verfolgten J Frau (Kap. 3. 1.2) angeblich zu findenden Z. weiblicher Untreue werden durch List beigebracht (cf. J Tiergeburt). Indexikalische Z. haben in traditionellen Erzählungen zudem eine gattungsspezifische Implikation und liefern dem Rezipienten damit Informationen für ein grundsätzliches Textverständnis. Ihre Hinweisfunktion ist häufig mit gattungstypischen Elementen des Wunderbaren (J Wunder) verbunden, die sich jedoch auch gattungsübergreifend finden: Außergewöhnliche J Stärke, übernatürliches J Wachstum (J Erwachsen bei Geburt, J Kind spricht [weint] im Mutterleib) und J Z. edler Herkunft eines Helden signalisieren seine herausgehobene Stellung. Bes. Begabungen von Figuren zeigen etwa deren magische Fähigkeiten und damit zugleich ihre Funktion inner-
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Zeichen edler Herkunft
halb einer Erzählung an (J Hexe; J Teufel; J Zauberer, Zauberin). J Prodigien fassen z. B. Naturereignisse als göttliche Z. (J Weisung, himmlische) auf. Das Wunder in religiösen Erzählungen ist ein Z. göttlicher Wirkmächtigkeit (cf. J Blutwunder; J Brotlegenden; J Gespannwunder; J Gottesurteil; J Grab, Grabwunder; J Schweben; J Unverweslichkeit). In Zaubermärchen werden konkrete, für die Entwicklung der Handlungsdynamik relevante indexikalische Z. mit Elementen des Wunderbaren verbunden. So weist in AaTh/ATU 311: cf. J Mädchenmörder das J Blut am Schlüssel, das sich nicht mehr entfernen läßt, darauf hin, daß die Frau das verbotene J Zimmer betreten hat, es ist zugleich aber ein Hinweis auf ein übernatürliches Ereignis und damit auf entsprechende Erzählgattungen (cf. AaTh/ATU 314: J Goldener, AaTh/ATU 710: J Marienkind). Sagentypisch dienen übernatürliche Ereignisse (J Verschwinden, J Versinken) dagegen der Bestrafung (J Strafe) etwa von J Blasphemie, J Frevel oder Teufelsbündnerei (J Teufelspakt). Auf der Ebene der extratextuellen Kommunikation sind Elemente von Erzählungen zu situieren, die z. B. als Hinweis auf deren geogr. Herkunft verstanden werden können, so wenn das Inventar einer Erzählung regionale Spezifika aufweist. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist etwa die Spinne J Anansi aus westafrik. Kontext (cf. auch J Ökotyp). Im Medienzeitalter nimmt die Bedeutung ikonischer Z. für die Adaptation traditioneller wie auch für neue populäre Erzählungen, die sich inter- oder transmedialer bzw. multimodaler Verfahren bedienen, zu. Gleichzeitig verändert sich die Bedeutung von Z. vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen. Diesem Wandel stellt sich die Erzählforschung11 ebenso wie die interdisziplinär orientierte Narratologie12. 1 Trabant, J.: Elemente der Semiotik. Tübingen 1996, 25; cf. Titzmann, M.: Z. In: RDL 3 (32003) 877⫺ 880. ⫺ 2 Ernst, P.: Pragmalinguistik. B. 2002, 73 sq. ⫺ 3 Trabant (wie not. 1) 24. ⫺ 4 Peirce, C. S.: Phänomen und Logik der Z. Ffm. 21993; Dürr, M./ Schlobinski, P.: Deskriptive Linguistik. Göttingen 2006, 166; cf. auch Busse, D.: Semantik. Paderborn 2009, 30. ⫺ 5 Peirce (wie not. 4); cf. allg. Liszka, J. J.: A General Introduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce. Bloom./Indianapolis 1996. ⫺ 6 Mor-
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ris, C. W.: Foundations of a Theory of Signs. Chic. 1938 (dt.: Grundlagen der Z.theorie. Ffm. 1972). ⫺ 7 Saussure, F. de: Cours de linguistique ge´ne´rale 1⫺ 2. ed. R. Engler. Wiesbaden 1967/74. ⫺ 8 Hjelmslev, L.: Omkring sprogteoriens grundlaeggelse. Kop. 1943; Brøndal, V.: Essais de linguistique ge´ne´rale. Kop. 1943; Uldall, H. J.: Outline of Glossematics 1. Kop. 1967. ⫺ 9 cf. auch EM 3, 46. ⫺ 10 cf. Wolf, W.: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Tübingen 1993, 190 und pass. ⫺ 11 cf. z. B. Bacchilega, C.: Postmodern Fairy Tales. Phil. 1997; Ke´rchy, A. (ed.): Postmodern Reinterpretations of Fairy Tales. Lewiston u. a. 2011; Zipes, J.: The Enchanted Screen. N. Y. u. a. 2011. ⫺ 12 cf. z. B. Nünning, V. und A.: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002; Ryan, M.L. (ed.): Narrative across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln/L. 2004; Heinen, S./Sommer, R. (edd.): Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research. B./N. Y. 2009.
Göttingen
Doris Boden
Zeichen edler Herkunft, märchentypische Adelsnachweise. Im Zaubermärchen wird die adlige Abstammung eines Geschlechts oder einer Person nicht durch urkundliche Nachweise, sondern durch bestimmte angeborene oder erworbene Merkmale bezeugt. Von den J Erkennungszeichen unterscheiden sich Z. e. H. dadurch, daß sie permanente körperliche oder geistige Charakteristika sind (cf. J Deszendenzproben). Hist. Adelshäuser achteten auf Reinheit des Blutes und Vererbung des Standes vom Vater auf den Sohn1. Mit adliger Herkunft wurde in weiten Teilen Europas hist. geläufig langes, blondes Haar, helle Haut, ,blaues Blut‘2 oder eine große Nase in Verbindung gebracht. Z. e. H. im Märchen helfen männlichen Herrschern, ihre Vaterschaft zu sichern3 oder dynastische Fragen zu klären. Kosmische Z. (J Sonne, J Mond oder J Stern auf Stirn oder Brust) oder Z. aus Gold oder Silber zeigen die herrschaftliche Abkunft eines Kindes an: Sie sind Sinnbilder ihrer Besonderheit und gleichzeitig oft ihrer Schönheit und Tugend4. Werden derartige Z. nichtadligen Märchenfiguren verliehen, bestätigen sie zwar nicht deren edle Herkunft, können aber, wie in Var.n von AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut oder von AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen5, den ,inneren Adel‘ bezeugen und dazu führen, daß die so Ausge-
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Zeichen edler Herkunft
zeichnete von einem Herrscher oder Edelmann geheiratet und damit auch nach den geltenden sozialen Maßstäben geadelt wird. Kinder mit derartigen Z. e. H. können dem kgl. Vater schon vor der Geburt versprochen werden: Bes. häufig findet sich das Motiv in AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne. In einer Var. dieser Erzählung aus J Tausendundeine Nacht verspricht die jüngste der drei Schwestern dem König von Persien einen schönen und tapferen Prinzen: „Sein Haar müßte auf der einen Seite golden und auf der anderen silbern sein.“6 AaTh/ATU 707 ist bes. in der russ. Folklore und Lit. weit verbreitet7; bei A. N. J Afanas’ev findet sich eine Var., in der neun Zarensöhne, erst Drillinge, dann Sechslinge, ,die Beine golden bis ans Knie, die Arme silbern bis zum Ellenbogen, die Haare voller kleiner Sternchen‘ haben8. In einer griech. Var. wird dem Herrscher ein Knabe mit dem Morgenstern und ein Mädchen mit dem Abendstern auf dem Gesicht versprochen9; mehrfach ist von einem Jungen mit der Sonne auf der Stirn und seiner Zwillingsschwester mit dem Mond auf der Brust die Rede10. Regelmäßig werden solche Gold- und Silberkinder gleich nach der Geburt vertauscht (cf. J Tiergeburt); an ihren bes. Merkmalen erkennt der König seine erwachsenen Kinder jedoch wieder (J Wiedererkennen): in einer awar. Fassung den Sohn an den Perlenzähnen, die Tochter an den goldenen Locken11. In literar. Bearb.en werden derartige Z. eher rationalisiert. So tragen Kinder bei Geburt goldene Halsketten, wie in der Schwanenkindersage des J Johannes de Alta Silva (J Schwanritter, Kap. 2.1; AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder, Kap. 2) oder bei Madame d’ J Aulnoy12. Ein goldenes Kreuz auf der Stirn einer Gräfin und ihrer Tochter verweist auf christl. Überformung13. Andere Symbole, wie die eingebrannte Lilie (Wappenbild der Bourbonen) auf der Brust eines Jungen in einem bask. Märchen, finden sich seltener14. Goldenes Haar als Z. e. H. ist im Zaubermärchen bes. häufig15. Daß die Haare der Heldin in KHM 89, AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf ,eitel Gold‘ sind, bezeugt ihre kgl. Abstammung. Das Goldhaar eines Jünglings gilt formelhaft als Z. e. H.16, obwohl
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es z. B. in den meisten Var.n von AaTh/ATU 314: J Goldener erst erworben werden muß. Bes. Taten, etwa ein J Drachenkampf, adeln den einfachen Helden gewissermaßen; sein Goldhaar weist ihn am Ende als künftigen König aus17. Goldene Körperteile werden im Märchen versteckt: aus Angst vor Räubern (KHM 85, AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder), um den wahren Stand zu verbergen (KHM 136, AaTh/ ATU 314 ⫹ AaTh/ATU 502: Der wilde J Mann)18, oder aus Schamgefühl, wenn die Königstochter goldene Male auf Brust oder Bauch hat19. Zarte Haut und Empfindlichkeit können ebenfalls ein Z. e. H. sein (AaTh/ATU 704: J Prinzessin auf der Erbse)20. Gelegentlich kann aber auch auf den Thron gelangen, wer eine prinzessinnenhaft empfindliche Haut vortäuscht (AaTh/ATU 545 A: J Katzenschloß). Für russ. sozialutopische Sagen des 17.⫺ ˇ istov den Nachweis 19. Jh.s führte K. V. J C einer engen Verbindung von angeblichen Z. e. H. mit der ma.-feudalen Vorstellung von der ,physischen Ausschließlichkeit der Personen mit Zarenblut‘21. In Rußlands Geschichte eigneten sich, bes. im 18. Jh.22, Dutzende von Hochstaplern Namen und Titel eines Zaren oder Zarensohns an. Als Kronprätendenten23 bzw. zukünftige ,Erretter‘, derzeit allerdings noch gedemütigte Helden, fanden sie Anhänger im Volk24. Oft wiesen sie sich mit gefälschten Herkunftsnachweisen aus (Zarenkrone, goldene und silberne Medaille auf der Schulter, Stern auf der Brust, Halbmond und Stern zwischen den Schultern, Mond auf dem Rükken, Brusthaare in Form eines Kreuzes)25. 1 Labatut, J.-P.: Les Noblesses europe´ennes de la fin du XVe sie`cle a` la fin du XVIIIe sie`cle. [P.] 1978, 71. ⫺ 2 Röhrich, Redensarten 1, 210; Labatut (wie not. 1). ⫺ 3 z. B. Afanas’ev, num. 285. ⫺ 4 Prato, S.: Sonne, Mond und Sterne als Schönheitssymbole in Volksmärchen und -liedern. In: ZfVk. 5 (1895) 363⫺ 383, hier 374; ibid. 6 (1896) 24⫺52; Uther, H.-J.: Schönheit im Märchen. In: Lares 52,1 (1986) 5⫺ 16. ⫺ 5 Basile 3,10; Spies, O.: Türk. Märchen. MdW 1991, num. 33; Christensen, A.: Pers. Märchen. MdW 1979, num. 7; Gobrecht, B.: Basiles Feen, ital. Katzen und Grimms „Frau Holle“. Ital.-dt. Märchenbeziehungen. In: Märchenspiegel 7,1 (1996) 3⫺ 5, hier 5. ⫺ 6 1001 Nacht 5, 154⫺219, hier 155. ⫺ 7 cf. Scherf, 811⫺816, bes. 815. ⫺ 8 Afanas’ev, num. 284; cf. Märchenfrauen. Von starken und schwachen
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Zeichendisput
Frauen im Märchen. Übers. B. Gobrecht. Fbg 1996, 91⫺97, 145 sq. ⫺ 9 Hahn 2, num. 69 (Var. 1). ⫺ 10 Ognjanowa, E.: Märchen aus Bulgarien. Wiesbaden 1987, num. 77; cf. Prato (wie not. 4) 380 sq.; Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln 1975, 33. ⫺ 11 Schiefner, A.: Awar. Texte. SPb. 1873, num. 12. ⫺ 12 Madame d’Aulnoy: Contes. 2: Contes nouveaux ou Les Fe´es a` la mode. ed. P. Hourcade. P. 1998, 343⫺406, bes. 346, 351. ⫺ 13 Vernaleken, T.: Kinderund Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. Wien/Lpz. 21892, num. 33 (niederösterr.). ⫺ 14 Webster, W.: Basque Legends. L. 1879, 22⫺32. ⫺ 15 Lüthi (wie not. 10) 26. ⫺ 16 HDM 1, 10. ⫺ 17 Haltrich, J.: Dt. Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Wien 31882, num. 11. ⫺ 18 cf. auch Lemke, E.: Volkstümliches aus Ostpreußen 3. Allenstein 1899, num. 59; Uffer, L.: Rätorom. Märchen. MdW 1983, num. 8. ⫺ 19 Stier, G.: Ung. Sagen und Märchen. B. 1850, num. 11; Moser-Rath, E.: Dt. Volksmärchen. MdW 1984, num. 3 (schwankhaft). ⫺ 20 Shojaei Kawan, C.: The Princess on the Pea. Andersen, Grimm and the Orient. In: Fabula 46 (2005) 89⫺115. ⫺ 21 ˇ Cistov, K. V.: Der gute Zar und das ferne Land. Russ. sozial-utopische Volkslegenden des 17.⫺ 19. Jh.s. Münster u. a. 1998, 178, 195; cf. Rez. B. ˇ istov Gobrecht in Fabula 40 (1999) 324⫺326. ⫺ 22 C (wie not. 21) 164 sq. ⫺ 23 cf. Frenzel, Stoffe, 145⫺ ˇ istov (wie not. 21) 137. ⫺ 148 (Demetrius). ⫺ 24 C 25 ibid., 29, 59 sq., 76, 181, 196, 177.
Gebenstorf
Barbara Gobrecht
Zeichendisput (AaTh 924, 924 A⫺B/ATU 924), satirische Erzählung über die mißlungene (jedoch als gelungen empfundene) J Kommunikation (cf. J Mißverständnisse; J Schwerhörig, Schwerhörigkeit) im Rahmen einer gelehrten Disputation, bei der einer vorwiegend geistlichen Sinngebung eine vulgärbanale gegenübersteht1: Zwei Männer von unterschiedlichem Status und/ oder unterschiedlichem kulturellen Hintergrund halten einen Disput in Zeichensprache, wobei sie die Gesten aus der Perspektive ihrer divergierenden Weltsicht und Interessenlage einsetzen bzw. interpretieren. Der Opponent des (gelehrten, ranghohen) Herrn ist meist ein (ungebildeter, bauernschlauer, öfters J einäugiger) Angehöriger der unteren Stände, der die Vertretung der Gegenpartei in J Verkleidung übernommen hat und nach Überzeugung des ersten Disputanten den Sieg im Z. davonträgt.
Die benutzten Zeichen und die ihnen beigelegten Bedeutungen sind einander ⫺ bei aller Varianz im Detail ⫺ im wesentlichen sehr ähn-
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lich, wobei der erste Disputant meist von religiösen Inhalten ausgeht, der zweite dagegen an Handgreiflichkeiten denkt; und während der erste meint, eine tiefsinnige theol. oder phil. Unterredung geführt zu haben, über die er äußerst befriedigt ist, fühlt der zweite sich verspottet oder physisch bedroht und will den ersten grob in seine Schranken weisen. Zum Austausch mehrerer Handzeichen kommen abschließend häufig noch Gegenstände, die aus der Tasche geholt und einander gezeigt werden. Charakteristische Zeichen und ihre Bedeutungen sind z. B.: Ein erhobener Finger (erster Disputant [D1]: Es gibt nur einen Gott; es gibt nur einen gerechten Weg/ zweiter Disputant [D2]: Er verspottet mich wegen meiner Einäugigkeit; er droht, mir ein Auge auszustechen). ⫺ Zwei erhobene Finger (D1: Es gibt Gott Vater und Sohn; neben Gott steht der Prophet J Mohammed; es gibt zwei gerechte Wege: zum Himmel und zur Hölle/ D2: Ich sehe mit einem Auge so viel wie du mit zweien; ich stech dir gleich beide Augen aus). ⫺ Drei erhobene Finger (D1: Es gibt auch noch den hl. Geist; die Christen haben drei Götter/ D2: Wir beide haben zusammen aber nur drei Augen; ich stech dir die Augen aus und schneide dir die Nase ab). Geöffnete Hand (D1: Alle Dinge sind Gott offenbar; Gottes Barmherzigkeit steht allen offen/ D2: Er will mich auf die Backe hauen). ⫺ Faust (D1: Die drei christl. Götter sind eins [J Trinität]; Gott hat Gewalt über alle Dinge; Gottes Barmherzigkeit ist auf die Auserwählten beschränkt/ D2: Gleich kriegst du eine aufs Haupt). Nach oben zeigender Finger (D1: Gott ist im Himmel; Gott ist der Schöpfer des Himmels/ D2: Er will mich in die Luft werfen; er will mich aufhängen). ⫺ Nach unten zeigender Finger (D1: Gott ist auch auf der Erde; Gott ist auch der Schöpfer der Erde/ D2: Fahr zur Hölle; ich zertrample dich gleich; ich werde runterfallen). ⫺ Nach vorn zeigender Finger (D1: Alle Menschen stammen von J Adam ab/ D2: Er will mir ein Auge ausreißen). ⫺ Zwei nach vorn zeigende Finger (D1: Alle Menschen stammen von J Adam und Eva ab/ D2: Ich reiß dir gleich beide Augen aus). Orange oder Apfel (D1: Und doch glauben alle an denselben Gott; Gott schenkt auch Süßes; die Welt ist rund; Grund der Erbsünde/ D2: Jetzt will er mich mit der Frucht versöhnlich stimmen; er verspottet meine Heimat, die solche Früchte nicht hervorbringt). ⫺ Stück Brot (D1: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein; das Wesentliche hat Vorrang vor dem Luxus; Brot des Abendmahls siegt über die Erbsünde/ D2: Es ist aber das Brot, das den Menschen ernährt; ich bin mit Brot vollständig zufrieden). ⫺ Ausschütten von Getreide oder Nüssen (D1: Gott hat die Juden in alle Welt zerstreut/ D2: Das ist Ver-
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Zeichendisput
schwendung [Sünde]). ⫺ Wiederaufsammeln des Getreides (D1: Gott wird die Juden wieder sammeln/ D2: Ich kann es gut zum Essen brauchen).
Wichtige Impulse zur Definition und Dokumentation des Erzähltyps, der in Europa, ausgehend von der Romania, seit dem 13. Jh. belegt ist, gab R. J Köhler2. In Japan ist die Geschichte H. J Ikeda zufolge bereits im 11./ 12. Jh. nachgewiesen. AaTh 924, 924 A⫺B/ ATU 9243 ist in literar. und mündl. Überlieferung europaweit und vom Nahen bis hin zum Fernen Osten verbreitet sowie in Mexiko, Argentinien und bei kanad. Sephardim4 belegt. Die Struktur der Erzählungen ist insgesamt stabil, eine Tendenz zur Ökotypisierung ist nur begrenzt erkennbar, und es ist daher anzunehmen, daß schriftl. Vermittlung bei der Verbreitung die Hauptrolle spielte. Die Var.n lassen sich größtenteils in drei Gruppen einteilen: In Gruppe 1 ergibt sich der Z. im Rahmen einer Gesandtschaft und steht damit in einem (macht-)politischen Kontext; in Gruppe 2 wird er von Vertretern verschiedener religiöser Bekenntnisse ausgetragen; in Gruppe 3 handelt es sich um eine gelehrte Disputation, wobei die Gruppen 2 und 3 einander näher stehen bzw. gewisse Überschneidungen aufweisen. Außer in Gruppe 3 bleibt öfters unerklärt, warum der Disput mit Hilfe von Zeichen geführt wird; manchmal sollen durch den Z. komplizierte Erörterungen vermieden werden, oder der verkleidete Ungebildete greift zu diesem Mittel, weil ihm verboten ist, auch nur ein einziges Wort zu sagen, oder ein Tauber soll den Z. austragen; ferner kann es sich auch um die Überbrückung von Sprachschwierigkeiten handeln. Die früheste europ. Fassung von AaTh 924, 924 A⫺B/ATU 924 findet sich in der Pandekten-Glosse des ital. Rechtsgelehrten Accursius (gest. um 1260) und ist gleichzeitig ein Beispiel für Gruppe 1 (Z. im Rahmen einer Gesandtschaft)5: Die Römer bitten die Griechen um ihre Gesetze; die Griechen senden einen Weisen nach Rom, um herauszufinden, ob die Römer derer würdig sind; die Römer lassen sich im Z. durch einen Narren vertreten. Accursius knüpft hier, wie mehrere Var.n der Gruppe 1, fabulierend an ein hist. Ereignis an, nämlich die Entsendung von drei röm. Bürgern nach Griechenland, u. a. zur Erkundung der Gesetze Solons (Mitte 5. Jh. a. Chr. n.; Livius
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3,31,8). In dieser Version und ähnlich u. a. im altfrz. Dialog Placides et Time´o (1303; Kap. 398⫺405)6, bei Juan J Ruiz (Libro de buen amor, Strophe 44⫺70), Johannes J Pauli7, Hans J Sachs8 oder La´jos Ko´nyi (1782)9 wird den Griechen und Römern kurioserweise ein christl. Weltverständnis zugeschrieben; der hist. Gesandtschaft näher kommt ein isl. Predigtexemplum, in dem ein Römer sich dem Z. im Ursprungsland der Gesetze (hier Byzanz) unterziehen muß10. Andere Var.n von Gruppe 1 weisen abweichende Rahmenbedingungen ¯ søim aus Graauf: Bei dem arab. Autor Ibn ¤A nada (1359⫺1426) fühlt ein muslim. König sich vom byzant. Kaiser bedroht und schickt Friedensbotschafter11; in einer ital. Versfassung der J Sieben weisen Meister (Mitte 15. Jh.) sondieren die Karthager, ob sie mit den Römern Krieg anzetteln sollen12; in den J Vierzig Wesiren (num. 112) glaubt sich ein Mönch als Gesandter einer tributunwilligen christl. Provinz beim Z. besiegt und zahlt dem muslim. König die Abgaben13; einer neueren russ. Volkserzählung zufolge kann durch den Z. eines russ. Soldaten mit dem Gesandten des dt. Kaisers der 1. Weltkrieg hinausgezögert werden14. Die Var.n der spätestens seit dem 15. Jh. nachgewiesenen Gruppe 2 betreffen einen Religionsstreit oder eine eher private Auseinandersetzung zwischen den Vertretern verschiedener religiöser Bekenntnisse: zwischen Juden und Christen15, Juden und Muslimen16 oder Christen und Muslimen17, dem evangel. und dem kathol. Pfarrer18. An die Gebärdensprache ma. Mönche19 erinnert die kors. Volkserzählung über einen Z. zwischen Franziskanern und Dominikanern: Die beiden Orden sollen einen Predigtwettstreit austragen; die Franziskaner fürchten die Wortgewalt der Dominikaner und erbitten einen Z., den sie mit Hilfe des Spaßvogels Grossu Minutu gewinnen20. Z. T. ist der Ausgang des Z.s in Gruppe 2 von existentieller Bedeutung für die Betroffenen. So sollen in einem Schwank von Hans Rosenplüt (ca 1400⫺60)21 bei einem Streit zwischen den jüd. und den christl. Bewohnern einer ndl. Stadt entweder die einen oder die anderen den Ort verlassen, und es gewinnen die Christen (wobei jedoch die Haltung des Nürnberger Autors als kritisch gegenüber der von seiner Heimatstadt angestrebten Vertreibung der Ju-
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Zeichendisput
den eingeschätzt wird22); in jüd. Erzähltexten rettet das Bestehen im Z. die Juden vor kollektiver Ausweisung, Verlust des Vermögens, Übertritt zum Christentum oder Tötung23. In Gruppe 3 wird erzählt, daß ein fremder Gelehrter oder Prinz in eine berühmte Univ.sstadt reist, um dort einen Z. zu erleben, der ihm als der Gipfel der Wiss. vorkommt. Der früheste Beleg hierfür erscheint bei J Rabelais (Pantagruel, Kap. 18⫺20): Der engl. Gelehrte Thaumastes möchte mit Pantagruel (der sich durch Panurge vertreten läßt) in Paris Fragen der Magie, Alchemie, Kabbala, Geomantie, Astrologie und Philosophie erörtern. Untypisch ist, daß die grotesken Zeichen keinerlei Deutung erfahren; Thaumastes verspricht jedoch eine Publikation über den Z. Im frühen 17. Jh. spottete Franc¸ois Be´roalde de Verville, die Genfer Hochschule verdanke ihren Ruf einem Tischler aus Montargis, der beim Z. für die Gelehrten eingesprungen war24. In späterer Zeit fanden Var.n von Gruppe 3 durch Kalender und Witzblätter weite Verbreitung25: So beklagt der span. Gesandte am engl. Hof, daß es an keiner Univ. Professoren für Zeichensprache gäbe, doch James I. widerspricht im Scherz mit Verweis auf die Univ. Aberdeen, woraufhin dort ein einäugiger Metzger als Professor verkleidet wird26. Ähnliche Geschichten handeln vom Z. eines ind. Prinzen mit einem einäugigen Faktotum der Studenten an der Univ. Leiden27, einem fremden Professor und einem Müller in Cambridge28 oder einem ausländischen Wesir und einem Bauern an einer ägypt. Univ.29 Weitere Var.n, die sich keiner dieser drei Gruppen direkt zuordnen lassen, stehen Gruppe 3 insofern nahe, als sie den Z. als intellektuelles Spiel betrachten30 oder populäre Gelehrtenkritik üben31; bei Giovanni J Sercambi ist der Z. zwischen dem von Siena nach Viterbo geschickten selbsternannten Notar und den dortigen Gelehrten Teil einer schwankhaften Reifungsgeschichte32. Auch implizite Kritik an überheblichen Monarchen kommt vor33. Verbindungen mit anderen Erzähltypen, wie in einer arab. Slg des 14. Jh.s oder in der tschech. Zunftsatzungsparodie J Frantova pra´va, sind eher selten34. In einigen Var.n liefert ein kluger Disputant beide Interpretationen des Z.s, sowohl eine geistliche
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und/oder politische als auch eine vulgäre oder banale35. Der Ursprung des Erzähltyps wurde in Indien vermutet36; den ältesten ind. Beleg bildet jedoch anscheinend erst die Fassung des J Katha¯ratna¯kara (um 1600; num. 43). Sie stellt eine Brücke zwischen Ost und West dar, denn sie paßt hinsichtlich der aggressiven Auffassungen der Zeichen zu den westl. Versionen, unterscheidet sich von ihnen aber in bezug auf die phil. Sinngebungen: Ein berühmter Weiser hat Lust, mit den Gelehrten des Königs zu disputieren, die sich von einem einäugigen Ölmüller vertreten lassen; die Disputation besteht aus dem Zeigen von einem Finger (D1: Gibt es nur eine Seele?), zwei Fingern (D1: D2 sagt, es gibt eine erlöste Seele und eine auf J Seelenwanderung befindliche), fünf Fingern (D1: Es gibt fünf Elemente) und der Faust (D1: D2 sagt, sie sind nur vereint wirksam). Sehr viel frühere Textzeugen liegen anscheinend im Fernen Osten vor. Der älteste jap. Beleg im Konjaku monogatari ([Slg von Erzählungen aus der Vergangenheit] Mitte 11.⫺ 1. Hälfte 12. Jh.) soll auf den Reisebericht Ta t’ang hsi yü chi (Aufzeichnungen über die westl. Länder aus der Zeit der großen T’angDynastie) des Chinesen Hsüan tsang (600⫺ 664) zurückgehen; eine weitere frühe jap. Fassung soll sich im Uji shu¯i monogatari ([Slg von Erzählungen aus Uji] Anfang 13. Jh.) finden37. Die ostasiat. Var.n38 scheinen insgesamt von buddhist. Weltsicht und fernöstl. phil. Konzepten geprägt. Sie handeln von einem buddhist. Wanderpriester (Höfling), der den Z. mit seinesgleichen sucht, jedoch an einen Tofuoder Reiskuchenverkäufer (Schuster, Metzger) gerät. Der erste faßt die Zeichen in tiefgründiger oder weltkluger Weise auf, der andere im Rahmen des von ihm betriebenen Handels; die Zeichen selbst nehmen z. T. andere Formen an (Kreis, fünf Finger, Berührung verschiedener Körperteile). Var.n des Gesandtschaftstyps (Gruppe 1) sind aus Südostasien und Korea nachgewiesen. Sie stehen im Kontext von Eroberungsbestrebungen durch den chin. Kaiser bzw. der politischen Abhängigkeit von China; durch den Z. wird entweder Gefahr für Land oder Eigentum abgewendet, oder die Chinesen sind von der Weisheit oder politischen Klugheit des Vertreters des kleineren Landes tief beeindruckt39.
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Zeichendisput
Als bestenfalls thematisch verwandt darf eine Reihe von Erzählungen bezeichnet werden, auf die in der Forschungsliteratur in Zusammenhang mit AaTh 924, 924 A⫺B/ATU 924 immer wieder hingewiesen wurde: so die anhand von Symbolen bzw. symbolischen Handlungen geführte Kommunikation40 zwischen J Alexander d. Gr. und dem ind. Philosophen41, zwischen den Skythen und dem Perserkönig Darius (Herodot 4,131 sq.)42 oder zwischen Tarquinius Superbus und seinem Sohn Sextus (Livius 1,54)43. Ähnlich sind auch die ind. Erzählungen von der Zauberhand44 oder der Zeichensprache der Prinzessin (cf. AaTh 516 A, 861/ATU 861: J Rendezvous verschlafen)45 sowie AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt46 von AaTh 924, 924 A⫺B/ATU 924 abzugrenzen. 1
cf. Looze, L. de: To Understand Perfectly is to Misunderstand Completely: „The Debate in Signs“ in France, Iceland, Italy and Spain. In: Comparative Literature 50,2 (1998) 136⫺154; Sverlij, M.: ¿Quie´n interpreta? „La disputa por sen˜as“ en „Pantagruel“, el „Libro de buen amor“ e Ibn Asim de Granada. In: Artal, S. G. (ed.).: Para leer a Rabelais. Buenos Aires 2009, 139⫺147; Saba, M. N.: El sentido en cuestio´n: versiones de la disputa por sen˜as en Ibn Asim de Granada, Juan Ruiz e Franc¸ois Rabelais. ibid., 149⫺158; Komar Varela, C. R.: La (in)comunicacio´n en la disputa por sen˜as de Ibn Asim de Granada, en el „Libro de buen amor“ y en „Pantagruel“. ibid., 159⫺169. ⫺ 2 Köhler/Bolte 2, 479⫺494; cf. ferner Basset 1, 297⫺300 (⫽ ibid. 1. ed. A. Chraı¨bi. P. 2005, 184⫺186, num. 36); Heckscher[, K.]: Geheimsprache. In: HDM 2 (1934⫺40) 421⫺435, hier 426 sq.; Sercambi, G.: Novelle 1. ed. G. Sinicropi. Florenz 1995, 219 sq. ⫺ 3 Ergänzend zu ATU: Soroudi 924. ⫺ 4 Elbaz, A. E.: Folktales of the Canadian Sephardim. Toronto u. a. 1982, num. 19. ⫺ 5 Köhler/Bolte 2, 482. ⫺ 6 Placides et Time´o ou Li secre´s as philosophes. ed. C. A. Thomasset. Genf/P. 1980, 192⫺197; id.: Une Vision du monde a` la fin du XIIIe sie`cle. Commentaire du dialogue de Placides et Time´o. Genf 1982, 232⫺235. ⫺ 7 Pauli/Bolte, num. 32. ⫺ 8 Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs 4. ed. E. Goetze/C. Drescher. Halle 1903, num. 243. ⫺ 9 György, L.: Ko´nyi Ja´nos Democritusa. Bud. 1932, 32⫺34; cf. ferner EM-Archiv: Ruckard, Lachende Schule (1736) 177, num. 121. ⫺ 10 Tubach, num. 2275; Gering, H.: Islendzk Æventyri 1⫺2. Halle 1883, num. 83; weitere Exempla cf. Köhler/Bolte 2, 482. ⫺ 11 ¯ søim al-Andalusı¯: H Ibn ¤A ø ada¯Åiq al-aza¯hir. ed. R. ¤Abdarrahø ma¯n. Beirut 1978, 187⫺189; Antologı´a de cuentos de la literatura universal. ed. G. Mene´ndez Pidal/E. Bernis. Barcelona u. a. 21954, 172 sq.; Basset (wie not. 2). ⫺ 12 Storia di Stefano figliuolo d’un
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imperatore di Roma. ed. P. Rajna. Bologna 1880, Canto 22, 1⫺25. ⫺ 13 Behrnauer, W. F. A.: Die Vierzig Veziere oder weisen Meister. Lpz. 1851, 111⫺113; Gibb, E. J. W.: The History of the Forty Vezirs. L. 1886, 115⫺118; Le Cabinet des fe´es 16. Amst./P. 1785, 90⫺95; Pe´tis de la Croix: Histoire de la sultane de Perse et des vizirs […]. ed. R. Robert […]. P. 2006, 128⫺131; Penzer, N. M. (ed.): The Ocean of Story. Being C. H. Tawney’s Translation of Somadeva’s Katha¯saritsa¯gara […] 6. Nachdr. Delhi u. a. 1984, 249 sq. ⫺ 14 Potjavin, V. M.: Narodnaja poe˙zija Gor’kovskoj oblasti. Gor’kij 1960, num. 32; cf. ferner Eberhard/Boratav, num. 312. ⫺ 15 Schwarzbaum, 119; Gaster, M.: The Exempla of the Rabbis. L./Lpz. 1924, num. 443; Tille, Soupis 2,1, 250 sq. (2 Var.n); Krzyz˙anowski, Var. 3; Christensen, N.: Folkeeventyr fra Kær herred. ed. L. Bødker. Kop. 1963⫺67, 88 sq., num. 58; Gaa´l, K./Neweklowsky, G.: Erzählgut der Kroaten im südl. Burgenland. Wien 1983, num. 20. ⫺ 16 Schwarzbaum, 116 sq. ⫺ 17 Anthropopytheia 2 (1905) 410 sq.; Oriol/Pujol 924 A. ⫺ 18 Tille, Soupis 2,1, 251 (2. Var.); Benzel, U.: Sudetendt. Volkserzählungen. Marburg 1962, num. 221. ⫺ 19 Barakat, R. A.: The Cistercian Sign Language. Kalamazoo, Mich. 1975; Bruce, S. G.: Silence and Sign Language in Medieval Monasticism. The Cluniac Tradition c. 900⫺1200. Cambr. 2007; Villwock, A.: Monastische Gebärdensprachen und Gebärdensprachanwendung im Kloster. In: Das Zeichen 91 (2012) 266⫺282. ⫺ 20 Massignon, G.: Contes corses. Aix-en-Provence 1963, num. 94; cf. Cirese/Serafini; ferner Noia Campos 924; Puerto, J. L.: Cuentos de tradicio´n oral en la Sierra de Francia. Salamanca 1995, num. 156. ⫺ 21 Grubmüller, K.: Novellistik des MA.s. Ffm. 1996, 978⫺1001. ⫺ 22 ibid., 1344 sq. ⫺ 23 Schwarzbaum, 116 sq.; Gaster (wie not. 15); Noy, D.: Folktales of Israel. Chic. 1963, num. 38; Loewe, H.: Der Schwank vom Z. In: ZfVk. 28 (1918) 126⫺129; ibid. 30⫺32 (1920⫺22) 63; EM-Archiv: Aufzeichnung einer 1926 in Jalcˇukov (Ukraine) gehörten Erzählung durch Z. Sofer. ⫺ 24 [Be´roalde de Verville, F.:] Le Moyen de parvenir 2. s. l. s. a., 198⫺200. ⫺ 25 Köhler/Bolte 2, 486; György (wie not. 9) 34. ⫺ 26 cf. Köhler/Bolte 2, 486⫺488 (mit weiteren Var.n); Caland, W.: Der Schwank vom Z. in Litauen und Holland. In: ZfVk. 24 (1914) 88⫺90, hier 88 sq.; ähnlich Folk-lore Record 3,1 (1880) 128 sq. ⫺ 27 Caland (wie not. 26) 89 sq.; cf. ferner van der Kooi 924 B (Var. 2; Professor aus Paris in Amsterdam); EM-Archiv: Studentenerzählung der 1930er Jahre, aufgezeichnet von J. R. W. Sinninghe. ⫺ 28 Folk-Lore Record 2 (1879) 173⫺176. ⫺ 29 Nowak, num. 466; cf. ferner Cascudo, L. da Caˆmara: Trinta „estorias“ brasileiras. Lissabon 1955, 32 sq. ⫺ 30 Gwynn Jones, T.: Welsh Folklore and Folk-custom. L. 1930, 234 sq.; Grobbelaar, P. W.: Die Volksvertelling as kultuuruiting. Diss. (masch.) Stellenbosch 1981, 924 B. ⫺ 31 ´ .: König Ma´tya´s und die Ra´to´ter. Lpz./ Kova´cs, A Weimar 1988, 248⫺250; Bauer, L.: Das palästin. Arabisch. Lpz. 31913, 164 sq. ⫺ 32 Sercambi (wie
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Zeichenvertauschung ⫺ Zeiller, Martin
not. 2) num. 16. ⫺ 33 Papashvily, G. und H.: Yes and No Stories. N. Y./L. 1946, 61⫺64 (georg.); Bodding, P. O.: Santal Folk Tales 2. Oslo 1927, num. 29. ⫺ 34 Marzolph, U.: Das Buch der wundersamen Geschichten. Mü. 1999, num. 9 (⫹ AaTh/ATU 1641 ⫹ AaTh/ATU 1556); Tille, Soupis 1, 259 sq. (⫹ AaTh/ ATU 1641 ⫹ AaTh/ATU 1641 B); Lamerant, G.: Flaamsche wondervertellingen uit Fransch Vlaanderen. Brüssel [1909], 93⫺100 (⫹ AaTh/ATU 671); Kristensen, E. T.: Fra Bindestue og Kølle 1. Kop. 1896, num. 15 (⫹ AaTh/ATU 1641); Kvideland, R./ Eirı´ksson, H. Ö.: Norw. und isl. Volksmärchen. B. 1988, num. 58 (norw.; ⫹ AaTh/ATU 1641). ⫺ 35 Wheeler, H. T.: Tales from Jalisco, Mexico. Phil. 1943, num. 9; Gaudes, R.: Kambodschan. Volksmärchen. B. 1987, num. 53 (dreierlei Deutungen). ⫺ 36 z. B. Köhler/Bolte 2, 489. ⫺ 37 Ikeda 924. ⫺ 38 Ikeda 924; Seki, num. 321; Ting 924 A; z. B. Hammitzsch, H.: Jap. Volksmärchen. MdW 1981, num. 84; cf. ferner Lo˝rincz 924 A. ⫺ 39 Gaudes (wie not. 35); Karow, O.: Märchen aus Vietnam. MdW 1972, num. 18; Zaborowski, H.-J.: Märchen aus Korea. MdW 1975, num. 70; Choi, num. 638; EMArchiv: Erzählung eines burmes. Studenten, 1960 von Z. Sofer in Göttingen aufgezeichnet. ⫺ 40 Köhler/Bolte 2, 489⫺493; cf. Heckscher (wie not. 2) 421⫺435. ⫺ 41 Köhler/Bolte 2, 490, cf. 491 sq.; cf. Basset 1, 299 sq. ⫺ 42 Köhler/Bolte 2, 492; Basset 1, 299. ⫺ 43 Köhler/Bolte 2, 493; weitere Beispiele cf. z. B. Schwarzbaum, 117⫺119. ⫺ 44 Basset 1, 299; Köhler/ Bolte 2, 489 sq. ⫺ 45 cf. Penzer (wie not. 13) 247⫺ 249. ⫺ 46 cf. Gaster (wie not. 15).
Göttingen
Michael Chesnutt Christine Shojaei Kawan
Zeichenvertauschung J Erkennungszeichen
Zeiller, Martin, *Ranten bei Murau (Obersteiermark) 17. 4. 1589, † Ulm 6. 10. 1661, österr.-dt. Kompilator und Polyhistor. Der Sohn eines luther. Pfarrers (Schüler Philipp J Melanchthons) studierte ab 1608 in Wittenberg Theologie, Geschichte und Jurisprudenz. Zwischen 1612 und 1629 bekleidete er die Stellung eines Hofmeisters und Erziehers im Dienst oberösterr. protestant. Adelshäuser und unternahm mit den jungen Adligen Reisen innerhalb des Dt. Reichs (Böhmen, Altdorf, Straßburg) sowie nach Frankreich und Italien. Nach seiner Heirat (1630) mit der Witwe eines Kaufmanns erhielt Z. das Bürgerrecht in Ulm. Dort wurde er 1633 zum Aufseher über das Gymnasium, 1641 zum Zensor der hist. und
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phil. Bücher und 1643 zum Inspektor der dt. Schulen ernannt1. Z. gehört zu den produktivsten Autoren des 17. Jh.s. Er ist vor allem durch seine umfangreichen, mehrfach aufgelegten Reiseberichte und die in Zusammenarbeit mit dem Buchdrucker und Kupferstecher Matthäus Merian (1593⫺1651) entstandenen topographischhist. Werke bekannt. Seine fachkundigen Reisebeschreibungen (1632⫺40) zeugen von einem breiteren Interesse an Land und Leuten2. Seinen Deskriptionen fügte Z. Überlieferungen aus der Chronik-, Historien-, Kompilations- und Mirakelliteratur hinzu, oft auch frühe Nachweise3, und lockerte damit die ansonsten nüchterne Darstellung auf. Später folgten das Hb. Fidus Achates, Oder Getreuer Reisgefert (Ulm 1651, 1653, 1661 u. ö.; lat. 1653) mit einer Beschreibung von 160 Reiserouten durch Europa und das etwa 1300 Seiten umfassende Hb. von allerley nutzlichen Erinnerungen, anmuethigen und lustigen, erbaulichen, Denckwürdigen, und meistentheils Neuen Exempeln oder Beyspielen 1⫺2 (Ulm 1655 [1656, 1661]), das Landschaftsbeschreibungen und Berichte über Länder (auch über Amerika) sowie eigene Reiseerlebnisse enthält, darüber hinaus kulturhist. Artikel mit Beobachtungen über den Alltag, über Ackerbau, Berge, Brücken, Ehestand, Speisen und Getränke (bes. über J Bier), Morde, Narren, Trunkenheit, Zauberei und abergläubische Vorstellungen. Die Anthologie Miscellanea, Oder Allerley zusam[m]en getragene Politische / Historische / und andere denckwürdige Sachen (Ulm 1661) betrachtete Z. „als eine Vermehrung / Anhang oder gleichsam Dritter Theil“ seines Hb.s. Das oft nachgeahmte Modell bietet topographische Erläuterungen, nützliche Hinweise und die Beschreibung von Reiserouten. Eingestreut sind aber auch „andere denckwürdig Historische / mit Politischen und lustigen discursen vermengte / sachen […]“4. Z. berief sich auf ältere Quellen, gab oftmals die Leitfassung einer außergewöhnlichen Begebenheit wieder und äußerte sich mit gebotener Distanz. So schrieb er z. B. über den Brokken, dieser werde „vor den höchsten Berg in Teutschland gehalten / darauff die Zauberer ihren Sabbath halten sollen“. Wie frühere Chronisten zweifelte er die ältere Ableitung des Namens Brocken von den germ. Brukte-
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Zeiller, Martin
rern, die dort gesiedelt haben sollen, an und sprach sich unter Berufung auf die umliegenden Bewohner für den Namen Blocksberg aus5. Aus der jahrelangen Zusammenarbeit mit Merian entstand mit der Topographia Germaniae6 ein einzigartiges, mehrfach aufgelegtes enzyklopädisches Großwerk mit Ansichten, Karten und Beschreibungen von Städten, Orten, Schlössern und Klöstern, für das Merian die Kupferstiche und Z. die Texte beisteuerte7. Die Topographia Germaniae ist neben Merians Biblia Sacra (1625/29) und dessen J Theatrum Europaeum Denckwürdiger Geschichten die bedeutendste mehrbändige Edition des 17. Jh.s. Darüber hinaus verfaßte Z. zahlreiche und vielfach aufgelegte Kompendien8, die ihn mit Jacob Daniel J Ernst, Erasmus J Francisci, Eberhard Werner J Happel u. a. zu einem der wichtigsten Kompilatoren im 17. Jh. machten. Episteln oder Sendschreiben […] [1]⫺6. Ulm 1640/41/43/44/46/51; t. 7: Centuria Epistolarum Miscellanearum. Das ist: Hundert Episteln / oder SendSchreiben / von underschiedlichen, Politischen / Hist. / und andern Materien / und Sachen. Ulm 1662 (1663); u. d. T. Sechshundert und Sechs Episteln / Oder Sendschreiben 1⫺2. Ulm/Marburg 1656/Ulm 1657. ⫺ Chronicon Parvum Sueviae, Oder Kleines Schwäb. Zeitbuch […]. Ulm 1653. ⫺ Ein Hundert Dialogi, oder Gespräch / Von unterschiedlichen Sachen / zu erbaulicher Nachricht / auch Nutzlichem Gebrauch / und Belustigung. Ulm 1653. ⫺ Hist. Anzeiger / Vieler Heiliger / Hocherleuchter / und auß den Schrifften bekanter […] Leute beeder Geschlechts. Ulm 1658 (Ffm. 1658). ⫺ Centuria Variarum Quaestionum, Oder / Ein Hundert Fragen […] [1]⫺4. Ulm/Stg. 1658/Ulm/Nürnberg 1659/59/60. ⫺ Collectanea, Das ist Nachdenckliche Reden / verwunderlich / und seltzame Geschichten / und andere sonderbare Sachen […]. Ulm 1658. ⫺ [anonym:] Exempel-Büchlein / Darinn als in einem Spiegel / allerley Laster und Untugenden / sampt ihrer Bestraffung vorgestellt / und andere Sachen mehr […]. Ulm 1660 (drei Teile in einem Band).
Den Lesern dieser Gebrauchsliteratur wurden neben chronikalischen Berichten (über Hexen und Teufel), Kuriositäten und Wundergeschichten kulturhist. Begebenheiten, aber auch Sensations- und Horrorgeschichten dargeboten. Z. steuerte ferner neue Themen aus der sog. Magica- und Tragica-Lit. bei. Er nutzte die aus den protestant. Exempelsammlungen bekannten Quellen und Stoffe, allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, daß er in den Beispielgeschichten für Prediger und
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Hausväter dem Moment der Unterhaltung eine stärkere Gewichtung gab und eine universalhist. Betrachtung und Bewertung anstrebte9. Kennzeichnend für die Geschichten und Begebenheiten in Z.s Werken sind allg. stilistische Kürze, präziser Aufriß der Handlung, Anschaulichkeit und eine Deutung unter Verwendung von Sprichwörtern (auch aus anderen europ. Volkssprachen, bes. aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen). Die Titel zielen auf potentielle Leserinteressen ab, konzipiert entweder als Ratgeber für allg. Bedürfnisse, als Slg von merk- und denkwürdigen Nachrichten aus aller Welt, als Exempelsammlung mit didaktisch-homiletischem Interesse und ausdrücklichem Hinweis auf Tugenden und Laster, als ein Kunterbunt politischer und hist. Nachrichten oder als biogr. Lex. mit einer Zusammenstellung vorbildhafter Handlungen und Eigenschaften von Heiligen und weltlichen Kristallisationsgestalten. Als Herausgeber besorgte Z. außerdem die letzte Aufl. von Samuel J Meigers dreiteiliger und vielfach ausgeschriebener Kompilation Nucleus historicum (Ulm 61649). Er überprüfte zu diesem Zweck alle Geschichten anhand der angegebenen Quellen, brachte Korrekturen ein und ließ nicht Verifizierbares mit dem Zusatz ,Meigerius‘ stehen. Wichtig ist Z. auch als Vermittler frz. Lit. Eine der beliebtesten Ausg.n der sich seit dem 16. Jh. etablierenden Tragica-Lit., Les Histoires tragiques de nostre temps (1614, erw. 1619) des Franc¸ois de Rosset (1571⫺1619)10, übersetzte Z. ins Deutsche. Das an verschiedenen Druckorten (ab 1624) unter abweichenden Titeln (z. B. Les Histoires tragiques de nostre temps: Das ist: Newe / Warhafftige / trawrig / kläglich und wunderliche Geschichten / die wegen Zauberey / Diebstal und Rauberey / Ehrgeitz / und anderer Seltzamben unnd Denckwürdigen zuefälle […] sich mehrern theils in Franckreich […] zugetragen haben. Linz 1624) erschienene Werk war mit über zwei Dutzend dt. Aufl.n ein großer buchhändlerischer Erfolg und diente Georg Philipp J Harsdörffer als Muster für seine Schauplatz-Anthologien11. Über die Zusammenstellung grausiger und blutrünstiger Geschichten und Begebenheiten hinaus enthält sie so manches schwankhaftnovellistische Stück; doch auch moralische Belehrungen fehlen nicht. Außerdem übersetzte
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Z. ⫺ und nicht, wie lange Zeit angenommen, Christoph J Lehmann ⫺ die alphabetisch und thematisch geordnete Schwank- und Anekdotensammlung Le Chasse ennui ou l’onneste entretien des bonnes compagnies des Louis Caron [Garon] (1574⫺1631?) ins Deutsche (Exilium melancholiae, Das ist/ Unlust Vertreiber. Ffm. 1643 [1655, 1669])12. Schon zu Lebzeiten genoß Z. wegen seiner Belesenheit und seines ungeheuren literar. Sammelfleißes großes Ansehen13; Kritik an seinen Ausg.n scheint nur vereinzelt geäußert worden zu sein14. Von Z. zehrten (mitunter ausgiebig) u. a. Johann Jacob Bräuner (1647⫺ 1737), Samuel J Gerlach, Rudolph Huber (1625⫺88), Johannes J Mollerus, Johann Jacob J Otho, Johann Nikolaus Pfitzer (1634⫺ 74) bei seiner Bearb. des J Faust des Georg Rudolf Widmann (1674), Johannes J Praetorius, Wolfgang J Rauscher, Daniel J Schneider, Johannes J Stieffler, Christian Thomasius (1655⫺1728) oder Just Christoph Udenius (1631⫺86)15. Miscellanea, Collectanea und Curiosa Z.s finden sich in den vor allem seit dem 18. Jh. vermehrt entstandenen Reisebeschreibungen (z. B. J Rheinromantik) nicht mehr als Exempla für das Handeln Gottes, sondern losgelöst von theol. Aspekten. Die kleinen Geschichten und Begebenheiten dienten Literaten als Vorlage oder Versatzstücke für Prosa- oder Versfassungen16, wurden von Herausgebern von Sagensammlungen als Belege für Ortssagen und sog. hist. Sagen genutzt (A. J Birlinger, J. und W. J Grimm, A. J Schöppner, J. G. T. J Grässe)17; einige wurden als frühe Zeugnisse von Spuk- und Hexengeschichten, vermittelt über J. C. von Strambergs Rhein. Antiquarius (1845 sqq.), von Hermann J Hesse wiederentdeckt. 1 [Zedler, J. H.:] Grosses Universal-Lexicon aller Wiss.en und Künste 61. Halle/Lpz. 1749, 708⫺711; Häcker, O.: M. Z. In: Schwäb. Lebensbilder 1. ed. H. Haering/O. Hohenstatt. Stg. 1940, 563⫺573; Sterzl, H. M.: Erasmus Francisci. Leben und Werke (1627⫺1694). Diss. (masch.) Erlangen 1951, bes. 19⫺21; Brunner, W.: M. Z. 1589⫺1661. Ein Gelehrtenleben. Ausstellungskatalog Graz 1989 (21990); Kühlmann, W.: Z., M. In: Killy, W. (ed.): Lit.lex. 12. Gütersloh/Mü. 1992, 473 sq.; Dünnhaupt, G.: J. W. Z. (1591⫺1635). In: Personalbibliogr.n zu den Drukken des Barock 6. Stg. 1993, 4356⫺4372. ⫺ 2 Kutter, U.: Z. ⫺ Lehmann ⫺ Krebel. Bemerkungen zur Ent-
wicklungsgeschichte eines Reisehb.s […]. In: Griep, W./Jäger, H.-W. (edd.): Reisen im 18. Jh. Heidelberg 1986, 10⫺33; id.: Reisen ⫺ Reisehbb.⫺ Wiss. (Diss. Göttingen) Neuried 1996. ⫺ 3 Köhler-Zülch, I.: Die Hexenkarriere eines Berges: Brocken alias Blocksberg. Ein Beitr. zur Sagen-, Hexen- und Reiselit. In: Narodna umjetnost 30 (1993) 47⫺81, hier 62 (Teufelsmauer). ⫺ 4 Z., M.: Itinerarium Germaniae novantiquae oder Teutsches Reyßbuch durch Hoch- vnd Nider Teutschland. Straßburg 1632, Vorrede (unpaginiert). ⫺ 5 ibid., 141; cf. Köhler-Zülch (wie not. 3) 52. ⫺ 6 Topographia Germaniae 1⫺16. Ffm. 1642⫺ 54. ⫺ 7 Schuchardt, C.: Die Z.-Merianschen Topographien […] [1896]. In: Philobiblon 3 (1959) 293⫺ 339. ⫺ 8 Kühlmann, W.: Lektüre für den Bürger. Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhist. Reihenwerke M. Z.s (1589⫺1661). In: Brückner, W./ Blickle, P./Breuer, D. (edd.): Lit. und Volk im 17. Jh. 2. Wiesbaden 1982, 917⫺934. ⫺ 9 Rehermann, 21; Brückner, 629. ⫺ 10 Grande, N.: Le Roman au XVIIe sie`cle. Rosny 2002, cf. Reg. ⫺ 11 Battafarano, I. M.: Von Sodomiten und Sirenen in Neapel. Barocke Erzählkunst bei M. Z. und Georg Philipp Harsdörffer. In: Simpliciana 21 (1999) 125⫺ 139; zur Schauplatz-Metapher cf. Brückner, 103 sq. ⫺ 12 Zur Autorschaft Z.s cf. überzeugend Schäfer, W. E.: Moral und Satire. Konturen oberrhein. Lit. des 17. Jh.s. Tübingen 1992, 1⫺29. ⫺ 13 cf. Schenda, R.: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Z. und frz. Tragica des 16. und 17. Jh.s. In: Volkskultur ⫺ Geschichte ⫺ Region. Festschr. W. Brückner. Würzburg 1990, 530⫺551, hier 538 sq. ⫺ 14 Stackhouse, J. G.: Early Critical Response […]. The „Dialogi“ of M. Z. In: J. for English and German Philology 73 (1974) 487⫺496. ⫺ 15 Rehermann, 211; Wyl, K. de: Rübezahl-Forschungen. Die Schr. des M. Johannes Prätorius. Breslau 1909, 98, 103; cf. Uther, H.-J.: Merkwürdige Lit. CD-ROM B. 2005; Brückner, 52. ⫺ 16 Martin, D.: Barock um 1800. Bearb. und Aneignung dt. Lit. des 17. Jh.s von 1770 bis 1830. Ffm. 2000, bes. 584⫺ 640. ⫺ 17 Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CDROM B. 2003.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Zeit 1. Grundlagen ⫺ 2. Z. in Erzählungen ⫺ 3. Erzählzeiten ⫺ 4. Erzählen als hist. Phänomen ⫺ 5. Z. als Gegenstand der Erzählforschung
1 . G ru nd la ge n. Als die „nicht umkehrbare, nicht wiederholbare Abfolge des Geschehens, die als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am Entstehen und Vergehen der Dinge erlebt wird“1, ist die Z. ein gerichteter Prozeß, der sich der Erklärung entzieht. Unter
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den drei Dimensionen Raum (J Raumvorstellungen), Z. und Gesellschaft (J Soziales Milieu) ist die Z. wegen ihrer Flüchtigkeit und prinzipiellen Unkonkretheit jene, die am schwierigsten zu fassen ist. Der kosmologisch vorgegebenen Naturzeit steht die vom Menschen durch Z.messung (J Z.bestimmung) gesetzte konventionelle Z. gegenüber. Die Gliederung der Z. in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist eine wichtige kulturelle Ordnungsleistung. Allerdings gibt es auch Kulturen ohne Z.vorstellungen2 und Sprachen, in denen zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht unterschieden wird3. In der Dominanz der Wahrnehmung von und der Orientierung4 auf Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zeigen sich gleichfalls große Unterschiede zwischen den Kulturen5. Hinsichtlich der Vorstellungen von Z. werden zumeist vier Konzepte unterschieden: Z. als (1) linear fortschreitender Prozeß (lineare Z.), (2) ständige rhythmische Wiederholung (zyklische Z.)6, (3) liminale (bzw. epochale) Z.7 und (4) ,Traumzeit‘8, d. h. mythische Z. bzw. Z.losigkeit; die beiden letzteren Konzepte werden manchmal auch zusammengefaßt. Beim Umgang mit Z. wird vor allem zwischen monochronen und polychronen Kulturen unterschieden9: Bei ersteren werden etwa Aufgaben nacheinander erledigt, während bei letzteren auf eine Gleichzeitigkeit mehrerer Tätigkeiten Wert gelegt wird. In mehreren Kulturen ist die Z. personifiziert (Mot. Z 122; J Personifikation), oder sie wird als göttlich imaginiert (griech. Chronos, iran. Zurva¯n). 2 . Z . i n E rz äh lu ng en. In der Bedeutung der Z. gibt es zwischen den Erzähltraditionen kulturelle Unterschiede, die ihren Niederschlag etwa in den jeweils bevorzugten Gattungen oder in den Formen des Erzählens finden; allerdings weisen diese gemeinsame Züge auf 10. Z. ist in Erzählungen relativ und formbar und wird oft (z. T. extrem) gedehnt oder kontrahiert11. Erzählungen neigen daher dazu, die Z. entweder als Z.raum der meist langen Dauer oder aber als Z.punkt des herausgehobenen, oft schicksalhaften Moments erscheinen zu lassen. In Erzählungen sind ⫺ wie im realen Leben ⫺ prinzipiell alle Z.vorstellungen vorhanden, doch dominieren die zyklische Z. und das
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menschliche Handeln in ihr: Der J Tag ist gegliedert durch regelmäßige Z.en des Essens (Mot. A 1511), des Schlafens, des Arbeitens oder des Kirchgangs, das Jahr durch Aussaat und Ernte, Heiligen- und Festtage12, der Lebenszyklus durch die herausgehobenen Z.punkte von J Geburt, J Hochzeit und J Tod. Häufige Motive sind daher die zyklischen Z.einheiten Stunde, Tag und J Tageszeiten, J Nacht (J Mitternacht), Woche (AaTh/ATU 2012: Die sonderbare J Woche), J Monat, Jahr und J Jahreszeiten (Mot. A 1485) sowie allg. die J Lebenszeiten des Menschen (AaTh/ ATU 173, 828). In vielen Erzähltraditionen sind die Monate und Jahreszeiten personifiziert. Der Erholung von Arbeit dienende Z.einheiten wie Freizeit oder Urlaub spielen erst in modernen Erzählungen eine Rolle. Die meist vagen, oft topischen Z.angaben verweisen darauf, daß Erzählungen und Lieder daneben stark zur liminalen bzw. epochalen Z. und zur mythischen Z. bzw. Z.losigkeit neigen. Sie bringen die subjektive oder erinnerte Z. eines Individuums, einer Gruppe oder einer Gesellschaft13 zum Ausdruck. Hierdurch kommt ihnen als Speicher des kommunikativen und vor allem des kulturellen Gedächtnisses eine überaus wichtige Rolle zu, es macht sie damit aber auch zu Trägern des mythischen Bewußtseins14, das häufig politisch instrumentalisiert wird15. Erzählungen und Lieder sind demgegenüber nur selten Registratoren linearer Z. und neigen nicht zu zeitlicher Präzision oder Historisierung. Auf die lineare Z. verweisen etwa Sagen über eingehaltene oder verstrichene Fristen (cf. J Teufelspakt), (auto)biogr. und neuere hist. Erzählungen16 sowie Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten über Z. und Z.management (z. B. ,Morgenstund hat Gold im Mund‘, ,Z. ist Geld‘; cf. auch AaTh/ ATU 288 B*: J Eile mit Weile)17. Hinsichtlich der unterschiedlichen Handhabungen von Z. in den Erzählgattungen liegen die meisten und grundsätzlichsten Beobachtungen zum Märchen vor. M. J Lüthi hat hervorgehoben, daß „in der flächenhaften Welt des Märchens auch die Dimension der Z.“ fehle (J Flächenhaftigkeit) und daß damit eine „Unempfindlichkeit des Märchens gegen das Ablaufen der Zeit“18 einhergehe, so daß „die Vergangenheit spannungslos neben der Gegenwart“ stehe19. Wesensmerkmal des
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Märchens sei die Z.losigkeit20, wie dies auch an J Eingangsformeln und J Schlußformeln erkennbar ist. Es herrsche eine zeitliche Starrheit, in der es keinerlei Werden gebe: Die Märchenhelden besitzen entweder die ewige Jugend, oder aber sie sind alt oder uralt, doch niemals J altern sie21. L. J Röhrich und H. J Rölleke stellten heraus, daß es im Märchen durchaus genaue Z.angaben und feste Termine gebe, daß diese aber nur symbolisch oder topisch gemeint seien22 oder aber ⫺ bei hist. Gestalten im Märchen ⫺ eine fiktive Historizität erzeugen sollen23. Z.losigkeit kennzeichnet auch die Kunstmärchen des 19. Jh.s24. Lüthi25 und spätere Autoren26 haben auf zeitliche Anomalien hingewiesen, die zeigen, daß im Märchen (und ähnlichen Gattungen) mehrere Universen mit je anderen Z.modalitäten (Diesseits/Jenseits, Menschenwelt/Feenwelt etc.) nebeneinander existieren, zwischen denen die Protagonisten nahezu folgenlos wechseln können (J Eindimensionalität). Aus dieser Synchronie verschiedener Z.en ergibt sich zum einen eine Z.dehnung, also das langsamere Verstreichen der Z. in der jenseitigen Welt (AaTh/ATU 471 A: J Mönch und Vöglein; AaTh/ATU 766: J Siebenschläfer; J Entrückung), zum andern eine Z.verdichtung, also das weit schnellere Verstreichen der Z. in einem anderen Erfahrungsmodus (AaTh/ATU 681: J Relativität der Z.)27. Auffälligerweise gibt es etwa in der jap. Märchentradition keine Koexistenz von Z.universen28. Die Lit.didaktikerin T. Jesch parallelisiert die beiden Modi des Z.erlebens im Märchen mit dem Traumerleben und deutet den Wechsel von einer zeitlichen Welt in die andere als Grenzüberschreitung des Protagonisten, die zu dessen Initiation und Subjektwerdung führe29. Weitere Spezifika des Märchens sind der Z.stillstand30, wie er am deutlichsten in AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit (J Zauberschlaf) ausgeprägt ist, sowie die als Z.umkehr auffaßbare Umkehr des Geschehens, die sich etwa in der J Wiederbelebung von Toten oder in der magischen J Verjüngung zeigt. Von herausragender Bedeutung ist im Märchen schließlich der kairos31, der richtige Z.punkt, der über Glück und Unglück, Erfolg und Mißerfolg des Helden entscheidet; Hinweise auf den guten bzw. schlechten oder den vom J Schicksal vorbestimmten Z.punkt muß der Held genau beach-
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ten und zur richtigen Z. am richtigen Ort sein; andernfalls erleidet er Schaden (J Fersenklemmen). Von bes. Bedeutung ist auch der Z.punkt der Geburt des Helden (J Sonntagskind). Mehr noch als in Märchen dominiert in Mythen32 und Legenden durch deren Streben nach überzeitlichen Aussagen die Z.losigkeit; während es aber etwa unter dem Einfluß der westl. Moderne bei ursprünglich schriftlosen Völkern zu einer Verbindung des mythischen mit dem hist. Bewußtsein kommt33, ist in den westl. Industrienationen ⫺ etwa in Gestalt des Neopaganismus ⫺ eine gewisse Zunahme des mythischen Denkens zu beobachten34. Für die Sage stellte Lüthi demgegenüber fest, daß sich in ihr „die Wesenheit der Zeit in ihrer ganzen tiefenbildenden Realität“ entfaltet35: Das Altern der Figuren ist sichtbar, sie unterliegen der ,Macht der Z.‘36. Dies gilt vor allem für die Glaubenssage, die manchmal einen hist. Kern haben kann37. Wichtig ist auch in vielen Sagen der richtige bzw. falsche Moment, das pünktliche Erscheinen zur vereinbarten Stunde38. In hist. Sagen und Geschichten39, hist. Liedern und Epen, in der Oral History, in Anekdoten wie auch beim lebensgeschichtlichen Erzählen besteht im Prinzip der Anspruch auf Historizität (J Geschichtlichkeit), doch neigen alle diese Gattungen mehr oder weniger zur Überführung der linearen in die epochale Z. oder in die Z.losigkeit; Grund hierfür ist zum einen die Spezifik des menschlichen Erinnerns (J Vergessen und Erinnern), zum andern die Tendenz zur Fokussierung auf Epochen und Z.enwenden (für Mitteleuropa etwa Schwedenzeit, Franzosenzeit, 1. und 2. Weltkrieg, kommunistische Machtübernahme, politische Wende 1989 etc.)40. Für das lebensgeschichtliche Erzählen hat A. J Lehmann vier strukturierende zeitliche Leitlinien ausgemacht, von denen zwei (hist. und private Z.) der linearen und zwei (Lebenslauf, Naturzeit) der zyklischen Z. zuzuordnen sind41. Die Z. ist in Erzählungen implizite Rahmenbedingung, doch wird sie auch recht oft bewußt gemacht und thematisiert, etwa wenn es um die Lebenszeit des Menschen (AaTh 173, 828/ATU 173; AaTh/ATU 899: J Alkestis; J Lebensjahre: Die verschenkten L.), um den Wechsel in eine andere Z.dimension, um Fristen und Termine geht. Dem Helden wird für
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seine J Aufgaben ein fester zeitlicher Rahmen gesetzt, oft so knapp bemessen, daß er auf magische Helfer angewiesen ist (cf. z. B. AaTh/ ATU 313 sqq.: J Magische Flucht; AaTh/ATU 500: J Name des Unholds). Dabei zeigt sich, daß alle Erzählungen ⫺ je nach Kultur ⫺ für Z.angaben entweder relativ unkonkrete bzw. dehnbare Werte oder aber bestimmte stereotype J Zahlen (J Drei, Dreizahl; J Sieben; J Zwölf) bevorzugen42. Ein Thema ist auch der unbedachte Umgang des Helden mit seiner Z., etwa wenn er sich ⫺ wie in AaTh/ATU 861: J Rendezvous verschlafen ⫺ schlafen legt. Z.verschwendung und Säumigkeit werden gerügt oder bestraft, während sorgsamer Umgang mit Z. positiv bewertet wird (cf. auch J Fleiß und Faulheit); der Pünktlichkeit wird dabei in monochronen Kulturen ein höherer Wert beigemessen als in polychronen43. Einen bes. Umgang mit Z. stellt die Z.reise oder Z.wanderung des Helden in die Vergangenheit oder Zukunft dar (J Jenseitswanderungen); die Z.reise durch eine Z.maschine ⫺ wie sie zuerst in H. G. Wells’ Science Fiction-Roman The Time Machine (1895) erscheint ⫺ ist ein populäres Motiv von Lit. und Film44. Allg. legen traditionelle Erzählungen wie Märchen oder Sagen, deren Handlung weitgehend chronologisch strukturiert ist, eine differenzierte Betrachtung von Z.strukturen nur bedingt nahe. Demgegenüber kann für populäre Lit. mit komplexeren Z.strukturen auf narratologische Arbeiten zurückgegriffen werden, wie etwa diejenigen des Strukturalisten G. Genette, der u. a. das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Z. (Ellipse ⫽ Auslassung, summarische Erzählung, Szene ⫽ meist Dialog, deskriptive Pause) sowie die Chronologie bzw. Anordnung von Handlungselementen (z. B. Vor- und Rückgriffe) analysiert hat45. 3 . E rz äh lz ei te n. Es gibt viele übliche oder traditionelle Z.en und Gelegenheiten des Erzählens, sei es im Alltag (J Spinnstube; J Wirt, Wirtin, Wirtshaus), sei es zu bes. Anlässen (Hochzeit, Jubiläum, Begräbnis etc.). Eine wichtige Z. des Erzählens und des Lesens von Erzählungen sind seit Jh.en J Reisen, worauf nicht nur J Chaucers Canterbury Tales und die Schwankbücher des 16.⫺18. Jh.s mit Titeln wie J Z.vertreiber verweisen, sondern
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auch die heutige Fülle an Gebrauchsliteratur für Touristen. Eine Herausforderung für den mündl. Vortrag ist das Z.management, soll doch die Aufmerksamkeit der Zuhörer nicht verloren gehen: Neben der Wahl des zeitlichen Rahmens, der Länge der einzelnen Stücke und der Gesamtdauer des Vortrags46 ist auch die Fähigkeit des Erzählers entscheidend, die erzählte Z. im Bewußtsein der Zuhörer erstehen zu lassen. Der sich über viele Stunden oder Tage erstrekkende Vortrag von Epen mit mehreren tausend Versen stellt an Epensänger wie Zuhörer diesbezüglich hohe Anforderungen47. Um eine geschickte Form des erzählerischen Z.managements handelt es sich in der Rahmenerzählung der oriental. Slg J Tausendundeine Nacht, in der die Erzählerin J Scheherazade durch Erzeugung von Spannung und Neugier ihr eigenes Leben retten kann. 4 . E rz äh le n a ls hi st . P hä no me n. Erzählen und Erzählungen sind Reflex ihrer hist. Z. (J Sozialgeschichtliche Aspekte, J Realitätsbezüge) und haben einen direkten oder indirekten Bezug zu ihr. Sie stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zwischen der J Stabilität ihrer Formen, Inhalte und Aussagen (J Kontinuität) und dem hist. Wandel, der sich seit Beginn der Moderne erheblich beschleunigt hat (J Variabilität). Dieser Wandel hat einerseits zu einer verstärkten Anpassung der Erzählungen (J Modernismen, J Requisit; cf. auch J Historisierung, J Entmythisierung), andererseits aber auch zu vielen Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen, zeitlichen Verzerrungen (J Anachronismus, J Cultural lag) und Regressionen (J Mythos) geführt. Starker hist. Wandel erzeugt stets ein verstärktes hist. Bewußtsein, was zu vermehrtem Interesse an hist. relevanten Gattungen wie Chronikliteratur, Historienliteratur, Lebensgeschichten oder Oral History führen kann, doch löst die Erfahrung rapiden Wandels oft auch die Verklärung der Vergangenheit (Nostalgie) oder aber die Flucht in eine imaginierte Zukunft (J Science Fiction; J Utopie, Utopia) aus. 5 . Z . a ls Ge ge ns ta nd de r E rz äh lf or s ch un g. Die Erzählforschung hat ihre Anfänge in der Auseinandersetzung mit der Frage
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der zeitlichen Einordnung von Erzählungen und Liedern. Das primäre Ziel der Theorien und Schulen des 19. Jh.s war die J Altersbestimmung, das Ermitteln der Chronologie und die hist. Zuordnung der Stoffe. Dabei herrschte die Auffassung vor, sie seien Relikte einer fernen Vorzeit (J Archaische Züge im Märchen, J Reliktgebiete, J Survivaltheorie) und als Zeugen ursprünglichen mythischen Denkens (J Mythol. Schule) zu deuten. Die hist. Einordnung der Erzählungen wurde weithin abgelehnt, moderne Elemente blieben unbeachtet oder wurden eliminiert. Erst die J geogr.-hist. Methode machte die Untersuchung der J Verbreitung der Erzählungen in der hist. Z. (wie auch im geogr. Raum) zur Grundlage der Erzählforschung. Während in neueren kontextorientierten Arbeiten (J Kontext) mit ihrem Fokus auf J Kommunikation der zeitliche Wandel und die hist. Dimension eine untergeordnete Rolle spielen, bleibt die Dimension Z. für den Prozeß der J Vermittlung von Erzählungen und die Veränderungen, die sie dabei erfahren (J Biologie des Erzählguts), eminent wichtig. Brockhaus Enz. 24. Wiesbaden 191994, 470. ⫺ 2 Sinha, C. u. a.: When Time is not Space. The Social and Linguistic Construction of Time Intervals in an Amazonian Culture. In: Language and Cognition 3,1 (2011) 137⫺169. ⫺ 3 cf. Dahl, Ø.: When the Future Comes from Behind. Malagasy and Other Time Concepts and Some Consequences for Communication. In: Internat. J. of Intercultural Relations 19,2 (1995) 197⫺209. ⫺ 4 Gell, A.: The Anthropology of Time. Cultural Constructions of Temporal Maps and Images. Ox. 1992; Levine, R.: Eine Landkarte der Z. Wie Kulturen mit Z. umgehen. Mü./Zürich 1997; Drascek, D.: „Die Z. der Deutschen ist langsam, aber genau.“ Vom Umgang mit der Z. in kulturvergleichender Perspektive. In: ZfVk. 103 (2007) 1⫺19. ⫺ 5 Kluckhohn, C./Strodtbeck, F. L.: Variations in Value Orientations. N. Y. 1961; Erlich, V. S.: Historical Awareness and the Peasant. In: The Peasant and the City in Eastern Europe. ed. I. P. Winner u. a. Cambr., Mass. 1984, 99⫺109; Roth, K.: Z., Geschichtlichkeit und Volkskultur im postsozialistischen Südosteuropa. In: Zs. für Balkanologie 31 (1995) 31⫺45; id.: Z. und Interkulturelle Kommunikation. In: Rhein. Jb. für Vk. 33 (1999/2000) 25⫺ 36. ⫺ 6 cf. Drascek, D.: Z.kultur. Zur Rhythmisierung des Alltags zwischen zyklischer und linearer Z.ordnung um die Jh.wende. In: Natur ⫺ Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. ed. R. W. Brednich u. a. Münster 2001, 395⫺ 404. ⫺ 7 Halpern, J. M./Christie, T. L.: Time. A Tri1
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partite Sociotemporal Model. In: Dimensions of Time and Life. ed. J. T. Fraser. Madison 1995, 187⫺ 198; Roth 1995 (wie not. 5) 33, 39 sq. ⫺ 8 Christie, M. F.: Aborigines in Colonial Victoria 1835⫺86. Sydney 1979; Duerr, H. P.: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Ffm. 1985. ⫺ 9 Hall, E. T.: The Silent Language. Garden City 1959, 95, 140⫺161; id.: Monochronic and Polychronic Time. In: Intercultural Communication. ed. L. A. Samovar/R. E. Porter. Belmont, Calif. 1997, 277⫺284. ⫺ 10 Mohr, W.: Fiktive und reale Darbietungszeit in Erzählung und Drama. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 517⫺ 529; Nicolaisen, W. F. H.: The Structure of Narrated Time in the Folktale. In: Calame-Griaule, G./GörögKarady, V./Chiche, M. (edd.): Le Conte, pourquoi? comment?/Folktales, Why and How? P. 1984, 417⫺ 436. ⫺ 11 cf. allg. Genette, G.: Die Erzählung. Mü. 1994. ⫺ 12 cf. Pinon, R.: Les mille et une Mesures du temps. Croissance et de´croissance de la journe´e dans les traditions populaires d’Europe occidentale. Lüttich 2007. ⫺ 13 Skendi, S.: The Songs of the Klephts and the Hayduks. History or Oral Literature? In: Serta Slavica. In memoriam Aloisii Schmaus. ed. W. Gesemann u. a. Mü. 1971, 666⫺673. ⫺ 14 cf. Petzoldt, L.: Die Geburt des Mythos aus dem Geist des Irrationalismus. Überlegungen zur Funktion des Mythischen in der Gegenwart. In: id.: Märchen ⫺ Mythos ⫺ Sage. Marburg 1989, 80⫺88; id.: Der verkleidete Herrscher. Zur mythischen Sinngebung hist. Prozesse und ihrer Aktualisierung in der Sage. ibid., ˇ olovic´, I.: Die Erneuerung des 89⫺100. ⫺ 15 cf. C Vergangenen. Z. und Raum in der zeitgenössischen politischen Mythologie. In: Bosnien und Europa. Die Ethnisierung der Gesellschaft. ed. N. Stefanov/ M. Werz. Ffm. 1994, 90⫺103; id.: Mythen des Nationalismus. Ahnen, Gräber, Gene in der neuserb. Ideologie. In: Lettre internat. (Herbst 1994) 19⫺21. ⫺ 16 cf. Fischer, H.: Das mündl. Gedächtnis. Kriegsund Notzeiten in Volkserzählungen der Gegenwart. In: Das Bild der Welt in der Volkserzählung. ed. L. Petzoldt. Ffm. 1993, 9⫺26. ⫺ 17 Cox, H. L.: Morgenstund hat Gold im Mund. Sprichwörter mit einer Z.-Komponente im Sprichwortschatz Bonner Student(inn)en. In: Rhein. Jb. für Vk. 33 (1999/2000) 81⫺95; Friese, H.-G.: Z.erfahrung im Alltagsbewußtsein am Beispiel des dt. Sprichworts der Neuzeit. Ffm. 1984. ⫺ 18 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Bern 31968, 20. ⫺ 19 ibid., 23. ⫺ 20 Betz, O.: Das Gewicht der Stunde. Märchen zwischen Z. und Ewigkeit. In: Die Z. im Märchen. ed. U. und H.-A. Heindrichs. Kassel 1989, 11⫺24; Karlinger, F.: Vom Stillstand der Z. in der Volkserzählung. ibid., 141⫺147; Tisˇcˇenko, Nikolaj V.: Obstojatel’stva mesta i vremeni i ich poe˙ticˇeskie funkcii v russkoj volsˇebnoj skazke (Verhältnisse von Ort und Z. und ihre poetische Funktion im russ. Zaubermärchen). Len. 1985. ⫺ 21 Lüthi (wie not. 18) 21. ⫺ 22 Rölleke, H.: Z.en und Zahlen in Grimms Märchen. In: Heindrichs (wie
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not. 20) 52⫺62, hier 61. ⫺ 23 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 207; id.: Geschichte und Geschichten. Zur Historizität von Volksprosa. In: Petzoldt (wie not. 16) 27⫺43. ⫺ 24 Birrell, G.: The Boundless Present. Space and Time in the Literary Fairy Tales of Novalis and Tieck. Chapel Hill 1979. ⫺ 25 Lüthi (wie not. 18) 22 sq. ⫺ 26 Heindrichs (wie not. 20); Jesch, T.: Das Subjekt in Märchenraum und Märchenzeit. Eine struktural-psychoanalytische Textstudie vor der Folie antipädagogischen Denkens. Wien 1998. ⫺ 27 Karlinger (wie not. 20); Jesch (wie not. 26) 236 sq. ⫺ 28 Naumann, N.: Z., Z.gefühl, Z.vorstellungen im jap. Märchen. In: Heindrichs (wie not. 20) 148⫺160, hier 153 sq. ⫺ 29 Jesch (wie not. 26) 13. ⫺ 30 Karlinger (wie not. 20); Jesch (wie not. 26) 261⫺ 275. ⫺ 31 Vonessen, F.: Der richtige Augenblick. Über den Kairos im Märchen. In: Heindrichs (wie not. 20) 35⫺52; Jesch (wie not. 26) 244⫺251; Betz (wie not. 20). ⫺ 32 cf. Mythes et repre´sentations du temps. ed. D. Tiffeneau. P. 1985. ⫺ 33 Hill, J. D.: Rethinking History and Myth. Indigenous South American Perspectives on the Past. Urbana 1988. ⫺ 34 Petzoldt, Geburt (wie not. 14). ⫺ 35 Lüthi (wie not. 18) 22. ⫺ 36 ibid. ⫺ 37 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 205⫺207. ⫺ 38 Wildhaber, R.: „Die Stunde ist da, aber der Mann nicht.“ Ein europ. Sagenmotiv. In: Rhein. Jb. für Vk. 9 (1958) 65⫺88. ⫺ 39 Fischer (wie not. 16); Seidenspinner, W.: Sage, Archäologie, Historie. Überlegungen zur Verortung hist. Sagen. In: Petzoldt (wie not. 16) 65⫺77; Graf, K.: Heroisches Herkommen. Überlegungen zum Begriff der „hist. Überlieferung“ am Beispiel heroischer Traditionen. ibid., 45⫺64. ⫺ 40 cf. z. B. Koleva, D. u. a.: Sla˘nceto na zalez pak sresˇtu men. Zˇitejski razkazi (Die untergehende Sonne scheint mir wieder ins Gesicht. Lebensgeschichtliche Erzählungen). Sofia 1999; Gospodinov, G. (ed.): Az zˇivjah socializma. 171 licˇni istorii (Ich lebte den Sozialismus. 171 persönliche Geschichten). Plovdiv 2006. ⫺ 41 Lehmann, A.: Erzählstruktur und Lebenslauf. Ffm. 1983, 13⫺17. ⫺ 42 Rölleke (wie not. 22); Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 205⫺207; cf. auch Marzolph, U.: Ortsangaben in der pers. Volkslit. In: Erzählter Raum in Lit.en der islam. Welt/Narrated Space in the Literatures of the Islamic World. ed. R. Haag-Higuchi/C. Szyska. Wiesbaden 2001, 31⫺ 42. ⫺ 43 Hall (wie not. 9). ⫺ 44 Bigelow, J.: Time Travel Fiction. In: Reality and Humean Supervenience. ed. G. Preyer/F. Siebelt. Lanham, Md. 2001, 58⫺91; Wüthrich, C.: Z.reisen und Z.maschinen. In: Philosophie der Z. ed. T. Müller. Ffm. 2007, 191⫺219. ⫺ 45 Genette (wie not. 11). ⫺ 46 cf. Heindrichs, H.-A.: Hörzeit und gehörte Z. ⫺ zur Bestimmung musikalischer Elemente im Volksmärchen. In: Heindrichs (wie not. 20) 160⫺171; Siegmund, W.: Verzaubert zwischen Z. und Ziel: der Mensch. ibid., 83⫺103. ⫺ 47 z. B. Lord, A. B.: The Singer of Tales. Cambr. 1960, 14⫺17; Braun, M.: Das serbokroat. Heldenlied. Göttingen 1961, 83⫺88.
München
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Zeitalter
Klaus Roth
Zeitalter 1. Archaische, antike und bibl. Modelle ⫺ 2. Europ. Modelle ⫺ 3. Außereurop. Modelle
1 . Arc ha is ch e, an ti ke un d b ib l. Mo d el le 1. Bereits archaische Erzählkulturen kennen einen kategorialen Unterschied zwischen der Gegenwart und einer ferneren Vergangenheit (J Zeitbestimmung). Diese wird bei austral. Ureinwohnern als Traumzeit der Gegenwart als aition (J Ätiologie) gegenübergestellt2. Inuit unterscheiden zwischen ,alten Geschichten‘ (Mythen) und ,neuen Geschichten‘ (Sagen, Familienerinnerungen), deren unterschiedliche Dignität und deren differierender sozialer Ort einen Abstand der Z. konstituieren3. Im Gegensatz dazu unterscheidet etwa das antike jüd.-apokalyptische Schema ,diesen Äon‘ und einen ,kommenden Äon‘: das ,andere‘ Z. liegt nun also in der Zukunft4. Von einer Z.vorstellung über solche Dichotomien hinaus kann man aber vor allem sprechen, wenn sich das kategoriale Anderssein von Vergangenheit und Zukunft in sukzessive Epochen ausdifferenziert. Die Evokation langer Zeiträume kann sich z. B. in Genealogien, Dynastieabfolgen oder Göttergenerationen ausdrücken, die wie bei Hethitern und Griechen unterschiedliche Zustände der Zivilisation verkörpern (J Theogonie), oder in denen auf göttliche Herrscher halbgöttliche und menschliche folgen (Sumer, Babylon, Ägypten). Der sumer.-babylon. Kulturraum hat vor allem zyklische, astral konnotierte Z.modelle geschaffen5. Grundlegend für die abendländ. Z.mythen wurden antike griech. und bibl. Modelle, in erster Linie die Vorstellung vom Zyklus der Metallzeitalter (goldenes, silbernes, bronzenes, eisernes Z.; J Weltzeitmythen). Diese ist offenbar am Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit entstanden, einer Epoche massiver Technologieverschiebungen (cf. Jos. 17,14⫺18; Ri. 1,19)6, und hat einen zivilisationskritischen Grundtenor. J Hesiod (Erga kai he¯merai 156⫺173) variierte das ihm wohl aus oriental. Quellen vorgegebene Dekadenzschema durch retardierende Zwischenschaltung einer ,heroischen‘ Zeit. Die gegenwärtige ,eiserne Zeit‘ erscheint als Epoche von kriegerischer Gewalt und Sittenverfall7. Im Kontrast dazu kann ein vormaliges ,goldenes Z.‘ in Festen (Kronien, Saturnalien) vergegenwärtigt8
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Zeitalter
wie auch zur ideologischen Verherrlichung neuer Herrscher bzw. im Kontext politischer Umwälzungen benutzt werden (Sonnensymbolik: Gold als Metall der Sonne). Dies läßt sich z. B. schon unter Augustus und Nero9, häufiger ab der J Renaissance10 beobachten. Der Fabeldichter J Babrios knüpfte im Proömium zu seinen Fabeln die Konvention der Fabel, Tiere sprechen zu lassen, an die Vorstellung, in der Goldenen Zeit hätten sich Tiere und Menschen verbal verständigen können. Bereits in der antiken Komödie begegnet das Goldene Z. auch als J Schlaraffenlandphantasie (AaTh/ATU 1930)11. Einen katastrophenartigen Übergang von einem Z. zum anderen (mit starkem Kulturverlust) kannten u. a. Platon, Aristoteles und etwas abweichend davon die Stoiker mit der Lehre periodischer Weltbrände und einer ,ewigen Wiederkehr‘12. Z.mythen sind nicht selten mit Wasser- oder Feuerkataklysmen, in denen ein Z. zu Ende geht, verbunden (cf. die Parallele J Sintflut/Weltbrand in der Bibel [2. Petr. 2,4⫺10; 3,3⫺10] und in der apokryphen Vita Adae et Evae13; J Eschatologie). Im vorislam. Iran (Bahman Yasˇt 1,3) diente ein Mythos von vier bzw. sieben durch Metalle symbolisierten Z.n (unbekannter Dauer) einer kritischen Sicht auf die sassanid. Epoche14. Im bibl. Buch Daniel (Kap. 2 und 7) wird das oriental. Schema historisiert: Dem mythischen Metallzeitalter werden hist. Imperien der jüngeren Vergangenheit gegenübergestellt (symbolisiert auch als wilde Tiere), denen das kommende Reich Gottes (symbolisiert als Mensch) ein Ende bereiten wird15. Dieses Schema wurde zum Referenzrahmen einer heilsgeschichtlichen Epochenlehre bis weit in die Neuzeit und zum wichtigsten Baustein abendländ. Geschichtsmythologie16. 2 . E ur op . Mod el le. Im westl. MA. wirkte die antike Weltalterlehre vor allem in der von J Ovid (Metamorphosen 1,89⫺150) geprägten Fassung nach (cf. auch J Seneca, Epistulae morales 90), wurde aber von christl. Stoffen überlagert. Da das Röm. Reich als viertes Reich bis in die Wirren der Epoche des Antichrist bestehen sollte (cf. 2. Thess. 2,1⫺12), konnten europ. Staaten plausibel als dessen direkte Fortsetzungen qualifiziert werden (,translatio imperii‘, klassisch bei Otto von
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Freising17). Neben christl. Var.n eines Vier-Z.Schemas (Eusebius/Hieronymus, Chronicon; Orosius) trat ein Sechs- bzw. Sieben-Z.Schema (Augustinus, De civitate dei 22,30,5; De Genesi contra Manichaeos 1,23; J Isidor von Sevilla, Etymologiae 5,38; Nennius, Historia Brittonum 5; Beda Venerabilis, Chronicus sive de sex aetatibus mundi), bei dem das sechste Z. mit der Geburt Jesu J Christi (oder mit J Johannes Baptista) beginnt. Mit diesen Schemata koexistierten Raster wie das astrologische Sieben-Z.-Schema (Firmicus Maternus [4. Jh. p. Chr. n.], Mathesis 3,1,10⫺15)18 und Spekulationen über ein astrales ,Großes Jahr‘ (u. a. schon bei Platon, Timaios 39 D)19. Marginalisiert wurden von den christl. Kirchen dagegen chiliastische Modelle (Apk. 20,1⫺6: tausendjähriges irdisches Friedensreich als separater Zustand vor dem eigentlichen Reich Gottes), die dennoch in religiösen Bewegungen am Rand der Kirchen immer wieder Anhänger fanden. Außerdem bewahrte die Bildungstradition durch MA. und Neuzeit die Erinnerung u. a. an ägypt. (Sothiszyklus: 1461/60 Jahre) und babylon. astrale Periodisierungen (Saroszyklus: 3600 Jahre), wie sie auch die islam. Astrologie kennt20. Bis in die frühe Neuzeit haben die meisten europ. Z.spekulationen und -theorien einen antiken und/oder bibl. Bezugsrahmen (Überwindung der Vier-Reiche-Lehre durch Jean J Bodin, S. von Pufendorf) 21. Qualifikationen der Gegenwart als Beginn eines neuen Z.s gab es bereits im MA. (z. B. sollte nach Joachim von Fiore 1260 das Z. des Hl. Geistes beginnen)22; seit der Renaissance gewannen sie an Bedeutung. Im 18. Jh. verdrängten die ebenfalls in der Antike belegten, aber seltenen23 Fortschrittsparadigmen die älteren Dekadenzschemata. Häufig begegneten zeitalterübergreifende Metaphern (Analogie mit Lebensaltern: Jugend/Alter der Welt24; Weltenwoche)25. Retardierend zwischen Gegenwart und Eschaton traten im MA. Legenden über einen Endkaiser, eine Endschlacht etc. auf 26. Eine der wichtigsten Beobachtungen zu Z.mythologien ist die Fluktuation zwischen protologischen und eschatologischen Z.motiven: Urzeit und Endzeit können einander entsprechen27. Z.szenarien prägen bis zur Gegenwart die Wahrnehmung der Geschichte. So periodi-
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Zeitalter
sierte der Hallenser Historiker C. Cellarius in seiner Historia universalis (1702) die Weltgeschichte in Altertum, MA. und Neuzeit. Ab dem 17. Jh. werden die Jh.e stärker als eigene Epochen wahrgenommen; dabei handelt es sich in gewisser Hinsicht um eine Säkularisationsform der etrusk.-röm. Saecula-Lehre (ein Saeculum endet, wenn alle Menschen tot sind, die zu seinem Beginn gelebt haben)28. Die in MA. und früher Neuzeit theol. geprägten Z.spekulationen nahmen kaum Einfluß auf populäres Erzählgut. Gelegentlich wurde der Übergang von der heidnischen zur christl. Zeit thematisiert, so in der ir. Erzählung Connlas Meerfahrt29 oder im Sagenkreis um den Zwergenkönig Laurin30. In Irland etwa wurde durch die Historisierung mythischer Stoffe die mythische Geschichte zu einem Z. der Vergangenheit31. Die symbolischen Konnotationen von J Gold und J Eisen, die im Märchen begegnen, erinnern weitläufig an die Metallzeitaltermythen, etwa wenn Eisen apotropäisch gegen dämonische Mächte einer früheren Zeit steht. Z.wechsel können darüber hinaus als Rückzug mythisch-phantastischer Wesen thematisiert werden (Auszug der Zwerge32, Fortgang der Elfen [Mot. F 388]33 etc.). In diesem Sinne wurde auch AaTh/ATU 113A : J Pan ist tot gedeutet. 3 . Auß er eu ro p. Mo de ll e. Ein Vier-Z.Paradigma ist auch kulturübergreifend auffallend häufig (Mot. A 1101), wobei die Gegenwart meist als Ende des vierten Z.s , eine Verfalls- und Dekadenzzeit34, qualifiziert wird. In der hinduist. Tradition hat eine Lehre von regelmäßig wiederkehrenden Z.n einen quasi kanonischen Status35: Vier yugas (Weltperioden) sind benannt nach Würfen im Würfelspiel: krøtayuga (4800 Götterjahre, deren jedes 360 Menschenjahren entspricht), treta¯yuga (3600 Götterjahre), dva¯parayuga (2400 Götterjahre) und kaliyuga (1200 Götterjahre). Diese bilden ein maha¯yuga (12000 Götterjahre bzw. 4320000 Menschenjahre), dessen 1000 fache Wiederholung einen Tag Brahmas (des Schöpfergottes) ergibt (cf. Ps. 90,4). Oft gleichgesetzt mit einem Tag und einer Nacht Brahmas wird ein ka´lpa (Weltperiode, eigentlich Satzung, Brauch), die Zeit einer Weltdauer zwischen J Schöpfung und J Zerstörung. 100 Jahre Brahmas (die seiner Lebensdauer entsprechen) ma-
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chen eine Weltperiode aus, und diese folgen einander in unendlicher Zahl (Ma¯navadharmas´a¯stra 1,68⫺74; 1,79⫺86; Maha¯bha¯rata 3,148; 3,186; 3,188). Diese Vorstellungen werden in den Pura¯nø as entfaltet und mit mythischen Erzählmotiven gefüllt36. Nach allg. Überzeugung ist das derzeitige kaliyuga, dessen Beginn nach westl. Zeitrechnung auf den 17./18. Febr. 3102 a. Chr. n. angesetzt wird, von Gewalt und Unmoral gekennzeichnet. M. L. West hat die Übereinstimmungen zwischen griech. und ind. Z.mythen auf eine parallele Rezeption babylon. Mythen zurückgeführt37. Mit dem Entstehen eines ind. Geschichtsbewußtseins wurden in diese Mythologie hist. Stoffe, aber auch populäres Erzählgut eingezeichnet, so in einem der ersten hist. Werke des Hinduismus, Kalhanø as Geschichte der Könige Kaschmirs (Ra¯jatøaranginø ¯ı, Mitte 12. Jh.), das den Beginn des kaliyuga als einen Ausgangspunkt nimmt. Auch im Buddhismus sind Z. Gegenstand eines mythol. Weltwissens, das die Integration zahlreicher Erzählstoffe als Ereignisse in früheren Reinkarnationen J Buddhas erlaubt. Zahlenspekulationen über die Dauer von Z.n sprechen in signifikantem Unterschied zu westl. Modellen oft von Millionen und Milliarden von Jahren und sind grundsätzlich zyklischer Natur. Der Palitext Sam ø yutta Nika¯ya kennt die Fabel vom Eisenberg, der alle 100 Jahre von einem feinen Seidentuch gestreift und abgetragen sein wird, ehe ein ,unmeßbares Z.‘ vergangen ist (J Ewigkeit)38. Im Buddhismus werden die Z. durch das Kommen der vergangenen und zukünftigen Inkarnationen Buddhas gegliedert, die aber abgesehen vom hist. Buddha Gestalten der Legende sind (ähnlich bei den Jainas)39. Die Z. werden durch Aufstieg, Verfall und Neubegründung der buddhist. Lehre definiert. Ähnlich verbinden sich im iran. Nationalepos Sˇa¯hna¯me (J Firdausı¯) tradierte Z.mythen mit hist. Stoffen. Die iran. Überlieferung (cf. Großer Bundahisˇn, erst in islam. Zeit fixiert; aber schon Plutarch, De Iside et Osiride, Kap. 46, 47 aus Theopomp) kennt einen linearen Weltprozeß, in dem wie in Israel (oder in Varros Drei-Z.-Lehre40) mythische und hist. Elemente ineinandergreifen. Eine 12000-Jahre-Sequenz reicht von der Schöpfung über den
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Zeitalter
Konflikt zwischen Ahura Mazda¯ und Angra Mainyu bis zum Eschaton41. Offenbar unabhängig von anderen Traditionen sind die Z.schemata der Azteken (J Aztekisches Erzählgut), J Maya, Hopi u. a. indian. Ethnien42, die sich mit astral-kosmischer Symbolik verbinden (meist vier bzw. fünf Z. ). Sonnen- und Mondfinsternisse, Naturkatastrophen, aber auch politisch-militärische Umwälzungen können Signale von Z.wechseln sein. Nach aztek. Lehre gehören zu jedem Z. eine eigene Sonne und ein Agens, welches die Katastrophe herbeiführt (Jaguar, Wind, Feuerregen, Wasser). Die mythischen Motive, mit deren Hilfe weltweit Z.wechsel dargestellt werden (Weltbrand, Weltflut, Kentern der Erde auf dem Ozean, Kampf zwischen Göttern und titanisch-dämonischen Kräften, Befreiung eines gefesselten Unholds etc.) sind im allg. älter als ihre Systematisierung in eschatologischen Sequenzen und begegnen daher auch isoliert43. Verwandt sind Mythen aufeinanderfolgender Weltschöpfungen, wie sie ebenfalls bei indian. Völkern nicht selten (Mot. A 630), aber auch z. B. in der jüd. J Kabbala bezeugt sind. Der Traktat Massekhet Azilut ([Traktat der Emanation] ca 1300) kennt vier bzw. fünf Schöpfungen zunehmender Immanenz, aus denen schließlich die materielle Welt hervorgeht (cf. schon Genesis Rabba 1; Aboth de Rabbi Nathan 37,1). Ab etwa 1880 verbindet die klassische Theosophie (H. P. Blavatsky44) westl. und östl. Z.mythen (vor allem nach Visø nø u Pura¯nø a) mit wiss. Spekulationen. Astrologisch-esoterischer Symbolik verdankt sich die Vorstellung von einem bevorstehenden Wassermann-Z.45, dessen Anfangsjahr unterschiedlich bestimmt wird. Z.folgen dienen auch hier zivilisationskritischen und utopischen Leitideen. 1 Seeliger, K.: Weltalter. In: Roscher, W. H. (ed.): Ausführliches Lex. der griech. und röm. Mythologie 6. Lpz./B. 1937, 375⫺430; Jacobi, H. u. a .: Ages of the World. In: ERE 1 (1908) 183⫺210; Heckel, H.: Z. In: DNP 12,2 (2002) 706⫺709; Gatz, B.: Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen. Hildesheim 1967; Schwabl, H.: Weltalter. In: Pauly/Wissowa Suppl. 15 (1978) 783⫺850; Callatay¨, G. de: Annus Platonicus. A Study of World Cycles in Greek, Latin and Arabic Sources. Löwen 1996; Campion, N.: The Great Year. Astrology, Millenarianism and History in the Western Tradition. L. 1994; Strobel, A.: Weltenjahr, große Konjunktion
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und Messiasstern. In: Haase, W. (ed.): Aufstieg und Niedergang der röm. Welt 2,20,2. B./N. Y. 1987, 988⫺1187; Smith, J. Z.: Ages of the World. In: Enc. of Religion 1. ed. M. Eliade. N. Y. u. a. 1987, 128⫺ ˆ ge d’or et l’aˆge de fer. P. 1984. ⫺ 133; Neyton, A.: L’A 2 Spencer, B. W./Gillen, F. J.: The Native Tribes of Central Australia. L. 1899, 387⫺449; Rose, F.: Die Ureinwohner Australiens. Lpz. 1969, 38⫺44. ⫺ 3 Rink, H.: Tales and Traditions of the Eskimo. Edinburgh/L. 1875 (Nachdr. Mineola, N. Y. 1997), 83. ⫺ 4 cf. Bousset, W.: Die Religion des Judentums im späthellenist. Z. Tübingen 31926; McGinn, B. (ed.): Enc. of Apocalypticism 1. N. Y. 1998; Tilly, M.: Apokalyptik. Tübingen 2012. ⫺ 5 Zur astronomischen Basis cf. Kelley, D. H./Milone, E. F. (edd.): Exploring Ancient Skies. An Encyclopedic Survey of Archaeoastronomy. N. Y. 2005. ⫺ 6 cf. Zwingenberger, U.: Eisenzeit 1. In: Wiss. Bibellex. (im Internet); Griffith, J. G.: Archaeology and Hesiod’s Five Ages. In: id.: Atlantis and Egypt. Cardiff 1991, 237⫺ 248. ⫺ 7 West, M. L.: Hesiod. Works and Days. Ox. 1978 (Neuaufl. 1982), 172⫺204; Rohde, E.: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen 1. Lpz./Tübingen 1898 (Darmstadt 21980), 91⫺110; Most, G. W.: Hesiod’s Myth of the Five (or Three or Four) Races. In: Proc. of the Cambr. Philological Soc. 43 (1998) 104⫺127; Burkert, W.: Apokalyptik im frühen Griechentum. In: Hellholm, D. (ed.): Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East. Tübingen 1983, 237⫺254. ⫺ 8 Frenschkowski, M.: Offenbarung und Epiphanie 1. Tübingen 1995, 83 sq. ⫺ 9 Kienast, D.: Augustus. Darmstadt 21992, Reg. s. v. Goldenes Z. ⫺ 10 Scholz-Hänsel, M.: Goldenes Z. In: Enz. der Neuzeit 4. Stg./ Weimar 2006, 989⫺991. ⫺ 11 Seeliger (wie not. 1) 396 sq. ⫺ 12 Waerden, B.-L. van der: Das Große Jahr und die ewige Wiederkehr. In: Hermes 80 (1952) 129⫺155. ⫺ 13 cf. Johnson, M. D.: The Life of Adam and Eve. In: Charlesworth, J. H. (ed.): The Old Testament Pseudepigrapha 2. L. 1985, 249⫺295, hier 292. ⫺ 14 Cereti, C.: The Zand ¯ı Wahman Yasn. A Zoroastrian Apocalypse. Rom 1995, 149. ⫺ 15 Seeliger (wie not. 1) 425; cf. Aemilius Sura bei Velleius Paterculus 1,6,6. ⫺ 16 Wendehorst, S.: Vier-Reiche-Lehre. In: Enz. der Neuzeit 14. Stg./ Weimar 2011, 324⫺328; Schmidt, R.: Aetates mundi. In: Zs. für Kirchengeschichte 67 (1955) 288⫺317; Stammler, W.: Goldenes Z. In: HDA 3 (1931) 927⫺ 931; Levin, H.: The Myth of the Golden Age in the Renaissance. Bloom. 1969; Schuler, P.-J.: Weltära, -alter. In: Lex. des MA.s 8. Stg./Weimar 1999, 2158 sq.; Gerwing, M.: Weltende, Weltzeitalter. ibid., 2168⫺2172; Haeusler, M.: Das Ende der Geschichte in der ma. Weltchronistik. Köln u. a. 1980. ⫺ 17 Buchner, R. (ed.): Ausgewählte Qu.n zur dt. Geschichte des MA.s. 16: Otto Bischof von Freising: Chronik oder Die Geschichte der zwei Staaten. ed. W. Lammers. Darmstadt 62011. ⫺ 18 cf. Meyer, H./ Suntrup, R.: Lex. der ma. Zahlenbedeutungen. Mü. 1987, 486; Cumont, F.: Catalogus codicum astrologicorum 4. Brüssel 1903, 113⫺118. ⫺ 19 cf. de Calla-
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Zeitbestimmung
tay¨ (wie not. 1). ⫺ 20 Abu¯ Ma¤sˇar on Historical Astrology. The Book of Religions and Dynasties (On the Great Conjunctions) 1⫺2. ed. K. Yamamoto/C. Burnett. Leiden 1999. ⫺ 21 Pufendorf, S. von: Über die Verfassung des dt. Reiches. Übers. und eingeleitet von H. Bresslau. B. 1922. ⫺ 22 cf. Lambert, M.: Ketzerei im MA. Augsburg 2001, 279. ⫺ 23 Edelstein, L.: The Idea of Progress in Antiquity. Baltimore 1967; Bury, B. J.: The Idea of Progress. L. 1924. ⫺ 24 Boll, F.: Die Lebensalter. In: id.: Kl. Schr. zur Sternkunde des Altertums. Lpz. (1913) 1950, 156⫺224. ⫺ 25 cf. allg. Demandt, A.: Metaphern für Geschichte. Mü. 1978. ⫺ 26 Bonsen, F. zur : Die Schlacht am Birkenbaum. Essen 1940; Möhring, H.: Der Weltkaiser der Endzeit. Stg. 2000. ⫺ 27 cf. Gunkel, H.: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Göttingen 1895. ⫺ 28 Thulin, C. O.: Die etrusk. Disziplin 3. Göteborg 1909 (Nachdr. Darmstadt 1968), 63⫺75. ⫺ 29 Müller-Lisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1962, 10⫺14. ⫺ 30 EM 3, 663. ⫺ 31 ´ ´ ga´in, D.: The Lore of Ireland. Woodbridge O hO u. a. 2006, 478⫺481. ⫺ 32 HDA 9 (1941) 1104 sq. ⫺ 33 DBF B 1, 205 sq., 294 sq., 310 sq., cf. 278, 407. ⫺ 34 cf. Frenschkowski (wie not. 8) 15⫺246, bes. 82⫺ 85. ⫺ 35 Jacobi u. a. (wie not. 1) 200⫺202; Kirfel, W.: Die Kosmographie der Inder. Bonn/Lpz. 1920, 331⫺ 339; Moeller, V.: Die Mythologie der vedischen Religion und des Hinduismus. In: Haussig, H. W. (ed.): Wb. der Mythologie 5. Stg. 1984, 121 sq., 199 sq. ⫺ 36 cf. Wilson, H. H.: The Vishnø u Pura¯nø a 1. L. 21864, 45⫺54. ⫺ 37 West, M. L.: The East Face of Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth. Ox. 1997, 312⫺319; id.: Indo-European Poetry and Myth. Ox. 2007, 23; cf. Hummel, S.: Eurasian Mythology in the Tibetan Epic of Ge-sar. Neu-Delhi 1998, 35. ⫺ 38 The Connected Discourses of the Buddha. A Translation of the Sam ø yutta Nika¯ya by Bhikkhu Bodhi 1. Ox. 2000 , 654⫺656. ⫺ 39 Klimkeit, H.-J.: Die Heilsgestalten des Buddhismus. In: Bechert, H. u. a. (edd.): Der Buddhismus 1. Stg. 2000, 235⫺245; Vall Pouissin, L. de la: Ages of the World (Buddhist). In: ERE 1 (1908) 187⫺190; Jain, J. P.: The Jaina Sources of the History of Ancient India. (Delhi 1964) rev. Ausg. Neu-Delhi 2005, 16⫺ 31. ⫺ 40 Censorinus: Betrachtungen zum Tag der Geburt. ,De die natali‘. ed. K. Sallmann. Lpz. 1988, 21. ⫺ 41 Colpe, C.: Altiran. und zoroastrische Mythologie. In: Haussig (wie not. 35) 4 (1986) 246⫺250, 333⫺ 340; id.: Sethian and Zoroastrian Ages of the World. In: id.: Iranier ⫺ Aramäer ⫺ Hebräer ⫺ Hellenen. Tübingen 2003, 403⫺415. ⫺ 42 Köhler, U.: Aztekische Religion. In: Figl, J. (ed.): Hb. Religionswiss. Innsbruck u. a. 2003, 245⫺258, hier 248 sq.; Lehmann, W. (ed.): Die Geschichte der Königreiche von Colhuaca´n und Mexico. Stg./B. 1938, 322⫺327; Schele, L./Freidel, D.: Die unbekannte Welt der Maya. Mü. 1991, 67⫺76; Waters, Frank: Book of the Hopi. N. Y. 1963, 3⫺27. ⫺ 43 cf. dagegen Olrik, A.: Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang. B./
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Lpz. 1922; Linke, B. M. (ed.): Untergangsmythologie in den Religionen. Ffm. 2003. ⫺ 44 Blavatsky, H. P.: The Secret Doctrine 1⫺2. (L. 1888) ed. B. de Zirkoff Adyar. Madras 1978 u. ö. ⫺ 45 cf. Frenschkowski, M.: Mysterien des Urchristentums. Wiesbaden 2007, 129⫺136.
Hofheim
Marco Frenschkowski
Zeitbestimmung. Jede Form der Z. steht in direktem Bezug zu einer konkreten Vorstellung von Zeit, die ihrerseits als kulturelle Ordnungsleistung eine jeweils spezifische Ausformung erfahren hat1. Dies gilt auch dann, wenn sich die Z. auf natürliche oder kosmische Abläufe wie den zyklischen Wechsel von J Tag und J Nacht oder den der J Jahreszeiten bezieht. Als elementare Praktik ermöglicht Z. erst eine genauere Planung und Koordination von Terminen, Handlungs- und Arbeitsabläufen. Z. setzt entsprechende Techniken bzw. Hilfsmittel voraus. Der Wechsel von Tag und Nacht sowie der Wechsel der Jahreszeiten, die Beobachtung von Sonnenstand, Mondphasen und Sternenlauf wurden bereits in antiken Kulturen zur Z. herangezogen. Auf dieser Basis entwickelten sich die frühesten an Mond (Lunarjahr) oder Sonne (Solarjahr) orientierten J Kalender mit einer Unterteilung in J Monate und Wochen sowie eine Feinstrukturierung des Tages. Parallel dazu verlief die Entwicklung von Hilfsmitteln zur Z., in der Frühzeit bes. Sonnen- und Wasseruhren (Klepsydren), seit Anfang des 14. Jh.s Räderuhren mit mechanischer Hemmung sowie Sanduhren2. Zur Bestimmung der J Tageszeit diente neben dem Sonnenstand etwa die Schattenlänge des eigenen Körpers oder markanter Objekte wie Berge, Bäume oder Gebäude; die je nach Sonnenstand unterschiedliche Schattenlänge ist auch das Grundprinzip der Sonnenuhr. Im christl. Raum war das Läuten der J Glocken aus bestimmten Anlässen, zu festgelegten Tageszeiten oder im Stundentakt von zentraler Bedeutung3. In der Nacht sagte vielerorts der Nachtwächter die Stunden an (cf. auch J Mitternacht). Das in der Neuzeit wichtigste Medium der Z. ist die Uhr; diese setzte sich in breiten Schichten der Bevölkerung jedoch nur allmählich durch4. Hist. orientierte sich die Z.
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Zeitbestimmung
häufig an ritualisierten Praktiken (Kirchgang, Gebetszeiten, Kaffeetrinken); heute zählt hierzu auch der Beginn beliebter Fernsehsendungen5. Seit dem 19. Jh. boten die Durchfahrt von Zügen sowie Fabriksirenen oder Schulglocken zeitliche Orientierung6. Für die Bestimmung von Zeiträumen bildete zunächst der eigene Körper ein wichtiges Bezugsmedium, wenn von einem ,Augenblick‘, ,im Handumdrehen‘ oder dem ,Tagewerk‘ die Rede ist. Vielfach galten auch gängige Praktiken wie die Kochzeit von Eiern oder von Reis oder die Sprechzeit bekannter Gebete (J Vaterunser, Rosenkranz) als standardisierte Zeiteinheiten7. Zwischen Erzählungen und Z. bestehen vielschichtige Verbindungen8. Kalender verzeichnen zyklisch wiederkehrende Gedenk- oder Festtage, die einen konkreten Anlaß für bestimmte Erzählungen bieten können (z. B. J Ostermärlein)9. In der christl. Kirche legte die Perikopenordnung fest, welche Bibelstellen an welchen Tagen zu lesen waren, und beeinflußte eine entsprechende Predigt- und Erzählpraxis (J Predigt; J Predigtexempel, Predigtmärlein)10. Dies gilt auch für die Festtage von J Heiligen, mit deren J Vita sich biogr. Erzählungen und Bauernregeln verbinden (J Hagiographie)11. Im Märchen bringen typische J Eingangsformeln wie ,Es war einmal …‘ oder ,Vor langer, langer Zeit …‘ betont zeitliche Unbestimmtheit zum Ausdruck12. Auch in der Erzählhandlung spielt die exakte Z. eine untergeordnete Rolle. Zwar sind Aufgaben häufig bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu meistern, doch wird dieser oft nur vage mit ,Tagesanbruch‘ oder ,binnen Jahresfrist‘ angegeben13. Die Bestimmung einer Sekunde der J Ewigkeit in AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt wird gleichnishaft gelöst. Hilfsmittel zur Z. wie Uhren fungieren gelegentlich als Requisiten, etwa wenn das jüngste Geißlein in KHM 5, AaTh/ ATU 123: J Wolf und Geißlein im Uhrkasten Zuflucht findet. Exakte Zeitangaben wie der Bezug auf J zwölf Uhr (mittags oder nachts) sind eher topisch zu verstehen. In Sagen wirken Zeitangaben konkreter als im Märchen14. Häufig sind Aufgaben bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (Mitternacht, erster Hahnenschrei) zu bewältigen, woran der Protagonist mangels Zeitkontrolle meist im
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letzten Augenblick scheitert (cf. AaTh/ATU 1199: J Qual des Brotes [Flachses]). Beim Vordringen in eine jenseitige Welt verliert der Held oft jeden Zeitbezug, „wie denn die Zeit da unten [bei der Wasserfrau] eine ganz andere ist als bey uns“15 (cf. AaTh/ATU 471 A: J Mönch und Vöglein). Als unlösbar erweist sich zudem die Bestimmung des eigenen Todeszeitpunkts (cf. ATU 934 H [4]: J Todeszeit wissen). Die Bedeutung der Z. in Erzählungen korreliert nur bedingt mit der jeweiligen Alltagsrealität sowie mit einem modernen, primär linearen Zeitverständnis. Von Pünktlichkeit, Streß im Umgang mit den Zwängen moderner Arbeit oder Versuchen, sich des Zeitdrucks durch Zeitmanagement, Manipulation oder Verzicht von Uhren zu befreien, ist kaum die Rede16. Vielmehr dominiert ein subjektzentrierter Umgang mit der Zeit, bei dem der Held seinen natürlichen Bedürfnissen folgt. So legt der Schnelläufer in AaTh/ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt noch kurz vor dem Ziel ein Schläfchen ein, vermag aber den Zeitverlust mittels übernatürlicher Fähigkeiten oder Requisiten (J Siebenmeilenstiefel) wieder einzuholen. Nicht strenge Zeitkontrolle ist für das Glück entscheidend, sondern der richtige Augenblick (griech. kairos)17. ,Morgenstund hat Gold im Mund‘, heißt es im Sprichwort, und ,Alles hat seine Zeit‘18. Im traditionellen Erzählgut machen sich, relational zu den jeweiligen Zeitvorstellungen, unterschiedliche Formen der Z. bemerkbar. Während die lineare Uhrzeit und eine Z. mittels Uhren geringe Bedeutung aufweisen, scheinen ein zyklisches Zeitverständnis und eine Z. mittels Beobachtung natürlicher oder ritualisierter Vorgänge relativ häufig19. Problematisch ist die Z. bei Übergangszeiten (liminale Zeiten), bei Zeit, die stehengeblieben scheint (frozen time), wenn gleichzeitig unterschiedliche Zeitvorstellungen vorliegen und wenn die Zeitverhältnisse bei der Begegnung mit dem Übernatürlichen (z. B. im J Jenseits) unklar bleiben20. Beim (auto)biogr. Erzählen (J Autobiographie) hat die Z. einen festen Stellenwert, da es häufig der Chronologie des Lebenslaufs folgt21. Dabei wird versucht, wichtige individuelle Erlebnisse zu bestimmten hist. Ereignissen in Beziehung zu setzen.
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Zeitbestimmung
Oft erscheinen Erzählungen vor dem Hintergrund unserer gegenwärtigen, durch ständige Z. geprägten Kultur bes. deshalb reizvoll, da in ihnen ein unproblematischer Umgang mit der ausreichend vorhandenen Zeit und der Fähigkeit der Protagonisten, ihr Handeln primär an ihren eigenen Bedürfnissen auszurichten, herrscht22. So heißt es in Michael Endes Märchenroman Momo (1973): „Denn für das richtige Leben muß man Zeit haben.“23 Auch in der Erzählforschung spielt die Z. eine Rolle, etwa bei der Frage der hist. Verortung von Erzählungen (J Altersbestimmung des Märchens). Dies ist zumal dann entscheidend, wenn ein hohes (J Survivaltheorie) oder ein bestimmtes Alter (romantische J Kontinuitätsprämissen; cf. J Romantik) bes. wertgeschätzt wird24. 1
cf. allg. DWb. 31, 553 sq.; Meyers Enzyklopädisches Lex. 25. Mannheim/Wien/Zürich 91981, 638; Rifkin, J.: Uhrwerk Universum. Die Zeit als Grundkonflikt des Menschen. Mü. 1988; Levine, R.: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen. Mü. 1998, bes. 16. ⫺ 2 Gendolla, P.: Zeit. Zur Geschichte der Zeiterfahrung. Vom Mythos zur „Punktzeit“. Köln 1992; Dohrn-van Rossum, G.: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen. Mü. 1995; ders.: Uhr, -macher. In: Lex. des MA.s 8. Mü. 2001, 1181⫺1184. ⫺ 3 Schnitzler, T.: Angelusläuten. In: LThK 1 (21986) 542 sq.; Corbin, A.: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jh.s. Ffm. 1995; Boer, H.-P.: Das Glokkenläuten im Dorf. Hist. Läuteformen und Läutebrauchtum am Beispiel der Stifts- und Pfarrkirche St. Martinus zu Nottuln. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 41 (1996) 101⫺142. ⫺ 4 Elixhauser, U./Krajicek, H.: Die Uhr im Bauernhaus. Amerang 1992; Mühe, R./Kahlert, H./Techen, B.: Kuckucksuhren. Mü. 1988; iid.: Wecker. Mü. 1991. ⫺ 5 Aveni, A.: Rhythmen des Lebens. Eine Kulturgeschichte der Zeit. Stg. 1991; Schneider, M./Geißler, K. A. (edd.): Flimmernde Zeiten. Vom Tempo der Medien. Stg. 1999. ⫺ 6 Seifert, E. K.: Arbeitszeit in Deutschland. Herausbildung und Entwicklung industrieller Arbeitszeiten von der frühen Industrialisierung bis zum Kampf um die 35-Stunden-Woche. Wuppertal 1985; Beck, S.: Nachmoderne Zeiten. Über Zeiterfahrung und Zeitumgang bei flexibilisierter Schichtarbeit. Tübingen 1994; Drascek, D.: „Früh um 6 Uhr habe ich schon nahezu 24 Stunden Verspätung …“. Zur Verbreitung der Armbanduhr und die zeitliche Rhythmisierung des Alltags um 1900. In: Rhein. Jb. für Vk. 33 (1999) 51⫺65. ⫺ 7 Gockerell, N.: Zeitmessung ohne Uhr. In: Maurice, K./Mayr, O. (edd.): Die Welt als Uhr. Dt. Uhren und Automaten 1550⫺ 1650. Mü./B. 1980, 133⫺145. ⫺ 8 Lüthi, M.: Das eu-
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rop. Volksmärchen. Mü. 71981, bes. 20⫺23; Ilomäki, H.: Time in Finnish Folk Narratives. In: FL (1998) 17⫺33. ⫺ 9 Wendorff, R.: Tag und Woche, Monat und Jahr. Eine Kulturgeschichte des Kalenders. Opladen 1993; Hirschfelder, G.: Freitag der 13. ⫺ ein Unglückstag? In: ZfVk. 97 (2001) 29⫺48. ⫺ 10 Moser, D.-R.: Perikopenordnung und Vk. In: Jb. für Vk. (1983) 7⫺52; Mezger, W.: Feste im Kirchenjahr. In: Markschies, C./Wolff, H. (edd.): Erinnerungsorte des Christentums. Mü. 2010, 477⫺491; Drascek, D.: „… eure Lampen sollen brennen.“ Zum Bedeutungswandel der Lichtermetaphorik von Martinsbräuchen im Kontext von Perikopenordnung und Predigtlit. In: Prosser-Schell, M. (ed.): Szenische Gestaltungen christl. Feste. Münster u. a. 2011, 11⫺28. ⫺ 11 Hauser, A.: Bauernregeln. Eine schweiz. Slg. Zürich/Mü.1973; Groschwitz, H.: Mondzeiten. Zu Genese und Praxis moderner Mondkalender. Münster u. a. 2008. ⫺ 12 Glasser, R.: Der Zeitbegriff des Märchens. In: Geistige Arbeit (1936) H. 23, 11 sq.; Ranke, K.: Die Welt der Einfachen Formen. B./N. Y. 1978, 650; Lüthi (wie not. 8); Heindrichs, U. und H.A. (edd.): Die Zeit im Märchen. Kassel 1989, 141⫺ 147. ⫺ 13 Bröcker, L.: Wenn du keine Zeit hast, solltest du nicht Kaiser sein. Phil. Überlegungen zum souveränen Umgang mit Zeit im Alltag und Märchen. In: Heindrichs (wie not. 12) 24⫺34, hier 29; Rölleke, H.: Zeiten und Zahlen in Grimms Märchen. ibid., 52⫺67; Bak, K.: Die Zeitmodalitäten im Märchen von der Insel der Glückseligkeit. ibid., 62⫺ 67. ⫺ 14 Ranke (wie not. 12) 656. ⫺ 15 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 2. Augsburg 1858, 202. ⫺ 16 Wendorff, R.: Pünktlichkeit ⫺ die blasseste aller Tugenden? In: id.: Der Mensch und die Zeit. Opladen 1988, 123⫺132; Held, M./Geißler, K. A. (edd.): Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße. Stg. 1993; Geißler, K. A.: Zeit leben. Vom Hasten und Rasten, Arbeiten und Lernen, Leben und Sterben. Weinheim/B. 61997; Adam, B./Geißler, K. A./Held, M. (edd.): Die Nonstop-Gesellschaft und ihr Preis. Vom Zeitmißbrauch zur Zeitkultur. Stg./Lpz. 1998; Drascek, D.: „Denn für das richtige Leben muß man Zeit haben“. Vom Streß mit der Zeit in kulturvergleichender Perspektive. In: Bayer. Jb. für Vk. (2005) 167⫺173. ⫺ 17 Vonessen, F.: Der richtige Augenblick. Über den Kairos im Märchen. In: Heindrichs (wie not. 12) 35⫺52. ⫺ 18 Friese, H.G.: Zeiterfahrung im Alltagsbewußtsein. Am Beispiel des dt. Sprichworts in der Neuzeit. Ffm. 1984, 73⫺81; Cox, H. L.: Morgenstund hat Gold im Mund. Sprichwörter mit einer Zeit-Komponente im Sprichwortschatz Bonner Student(inn)en. In: Rhein. Jb. für Vk. 33 (1999) 81⫺95. ⫺ 19 Schmied, G.: Zyklische Zeit ⫺ lineare Zeit. In: Wendorff, R. (ed.): Im Netz der Zeit. Menschliches Zeiterleben interdisziplinär. Stg. 1989, 118⫺127; Drascek, D.: Zeitkultur. Zur Rhythmisierung des Alltags zwischen zyklischer und linearer Zeitordnung um die Jh.wende. In: Brednich, R. W./Schneider, A./Werner, U. (edd.): Natur ⫺ Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf
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Zeitschrift ⫺ Zeitung
Mensch und Umwelt. Münster u. a. 2001, 395⫺ 404. ⫺ 20 Hall, E. T.: Monochronic and Polychronic Time. In: Samovar, L. A./Porteri, R. E. (edd.): Intercultural Communication. Belmont 1994, 264⫺271; Karlinger, F.: Zauberschlaf und Entrückung. Zur Problematik des Motivs der Jenseitszeit in der Volkserzählung. Wien 1986; Bak (wie not. 13) 64; Roth, K.: Zeit, Geschichtlichkeit und Volkskultur im postsozialistischen Südosteuropa. In: Zs. für Balkanologie 31 (1995) 31⫺45. ⫺ 21 Lehmann, A.: Erzählstruktur und Lebenslauf. Ffm./N. Y. 1983; Bourdieu, P.: Die biogr. Illusion. In: Bios 3 (1990) 75⫺81. ⫺ 22 Nahrstedt, W.: Raubt uns die Freizeit den letzten Schlaf? Freizeitpädagogik rund-um-die-Uhr? In: Fromme, J./Hatzfeld, W./ Tokarski, W. (edd.): Zeiterleben ⫺ Zeitverläufe ⫺ Zeitsysteme. Bielefeld 1990, 9⫺25. ⫺ 23 Ende, M.: Momo oder Die seltsame Geschichte von den ZeitDieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Stg. 1973, 57 sq. ⫺ 24 Röhrich, L.: Geschichte und Geschichten. Zur Historizität von Volksprosa. In: Petzoldt, L. (ed.): Das Bild der Welt in der Volkserzählung. Ffm. 1993, 27⫺ 43; Seidenspinner, W.: Sage, Archäologie, Historie. Überlegungen zur Verortung hist. Sagen. ibid., 65⫺ 77.
Regensburg
Daniel Drascek
Zeitschrift J Illustrierte
Zeitung 1. Newe Z. ⫺ 2. Periodische Presse ⫺ 3. Z.en als Quelle der Erzählforschung ⫺ 4. Z.en als Quelle der Alltagskulturforschung
1 . New e Z. Die Z. (mittelndd. tidinge: Kunde, Botschaft) ist ein zunächst geschriebenes, nach Erfindung der Buchdruckerkunst in der Regel gedr. verbreitetes Medium zur J Vermittlung bzw. J Verbreitung von Informationen, die der Meinungsbildung dienen sollen1. Während man heute mit diesem Begriff vor allem die Regelmäßigkeit des Erscheinens assoziiert, trifft dies für die Frühzeit der Z. noch nicht zu. Die nach 1500 aufkommenden J Flugblätter und Flugschriften mit dem Wort Z. im Titel waren Ephemera, d. h. Gelegenheitsdrucke, die zu bestimmten Anlässen oder Ereignissen herausgegeben wurden. Das Wort Z. hat dabei die Bedeutung von Nachricht. Wie heutige Publ.sorgane hatten die Drucke den Anspruch auf Aktualität; deshalb bezeichneten sie sich vielfach als ,Newe Z.‘2
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Sie versprachen für die abgedruckten Nachrichten J Glaubwürdigkeit und gebrauchten daher häufig das Epitheton wahrhaftig (,Warhafftige Newe Z.‘); zur Erhöhung der Attraktivität waren sie oft mit Holzschnitten illustriert. In der Frühzeit überwogen Druckschriften mit politischen und religiösen Inhalten3, aber mit der Ausbreitung der Lesefähigkeit und dem Erreichen einer größeren Öffentlichkeit weitete sich das Themenspektrum auf die Einbeziehung von J Sensationen aus. Diese wurden in der Regel mit dem Attribut ,erschröcklich‘ gekennzeichnet. Bevorzugte Themenbereiche der Newen Z.en des 16./17. Jh.s waren (1) Wunderereignisse (Prodigien, Monstren, Wunder- und Mißgeburten), (2) Verbrechen und ihre Bestrafung (Mord, Hexerei, Blasphemie, Meineid, Hostienfrevel, mangelnde Ehrerbietigkeit gegen die Eltern, Hartherzigkeit gegen die Armen, Brot- und Markfrevel), (3) Unglücksfälle und J Katastrophen. Der Begriff Newe Z. war in der frühen Neuzeit so populär, daß er gelegentlich auch für andere Inhalte benutzt wurde; so ist die anonym erschienene Slg Alte Newe Z. von der Welt Lauff (s. l. 1592) eine Anthologie von 54 Fabeltexten4. E. Seemann bezeichnete derartige, in Liedform abgefaßte Texte als Z.slieder5. Sie bedienten sich bekannter geistlicher und weltlicher Melodien und wandten sich mit spezifischen Eingangsformeln (,Nun höret zu, ihr Christenleut‘) an ein breites Publikum. Die Popularität des Genres wurde dadurch noch verstärkt, daß sich für ihre Darbietung an öffentlichen Plätzen und erhöhten Orten die neue Kommunikationsform des Z.ssingens etablierte, wobei die Sänger parallel zum Liedvortrag die Inhalte mit Hilfe großer Bildtafeln veranschaulichten (cf. J Bänkelsang)6. Da die Verfasser vielfach Geistliche waren, dienten die Texte zugleich als moralische Instanz, denn sie endeten stets mit einer Warnung und einem Appell zu Reue, Umkehr und Buße. Z.ssänger hat es in Deutschland bis ins 19. Jh. hinein gegeben7. Auch aus Frankreich (nouvelles a` sensation, canards, faits divers)8 und England (broadsides, street ballads)9 sind vergleichbare Erscheinungsformen reich bezeugt. 2 . P er io di sc he Pr es se. Regelmäßig erscheinende Z.en kennt man in Deutschland
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Zeitung
seit dem Beginn des 17. Jh.s10. Diese häufig Relation, Meß-Relation oder Aviso genannten Printmedien waren allerdings zunächst nicht für ein breites Publikum bestimmt, sondern wurden vorwiegend von Gelehrten, Politikern und Kaufleuten gelesen11. Sie enthielten u. a. auch Meldungen über Sensationen und Kuriositäten sowie traditionelle Erzählstoffe. Hierdurch sind die frühen periodischen Blätter für die Erzählforschung von hoher Relevanz12. Im dt.sprachigen Raum gab es gegen Ende des 17. Jh.s bereits ca 60 Presseorgane und damit mehr als im gesamten übrigen Europa zusammen13. In dieser Zeit entstand mit C. Stielers Z.s-Lust und -Nutz auch die erste Gesamtdarstellung zum dt. Pressewesen; darin wird die Funktion der Nachrichtenblätter so definiert: „Der Zweck der Zeitungen ist die Ersättigung der Lesenden Neugirigkeit und Benachrichtigung der Welthändel.“14 Stielers der J Aufklärung verpflichtete Anleitung zum ,vernünftigen Z.lesen‘ wollte den Kreis der Rezipienten allerdings auf die gebildeten oberen und mittleren Schichten der Bevölkerung begrenzt wissen, wohingegen Kindern, Knechten und Mägden, Handwerkern, gemeinen Bürgern und Bauern die Lektüre vorenthalten bleiben sollte; sie sollten lieber in der Bibel lesen15. Im 18. Jh. wuchs die Zahl der Z.en in Deutschland auf über 200 an. „Die Zeitung war in dieser Zeit das einzige öffentliche Medium, das dem stetig wachsenden Bedürfnis nach aktuellen politischen, militärischen und gesellschaftlich relevanten Informationen aus den unterschiedlichsten Bereichen und Regionen angemessen Rechnung trug.“16 Z.en standen neben dem J Kalender und den seit 1722 neu auf dem Markt erscheinenden Intelligenzblättern17 vielfach im Dienste der Volksaufklärung und wandten sich vor allem an die ländliche Bevölkerung. Gegen Ende des 18. Jh.s heißt es in einer Quelle: „Fast in jedem Dorfe werden jetzt Zeitungen gelesen, aber immer ist es nur einer oder etliche, die sie lesen, und die hernach mit dem, was sie darinnen gefunden zu haben glauben, die Neugier derer befriedigen, die nicht lesen können oder wollen. Gemeiniglich ist die Schenke, oder das Haus des Vorlesers der Ort, wo dies geschieht und darüber glossiret wird.“18 Mehr und mehr informierte sich auch der kleinbürgerliche Stand aus Z.en19. Der
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Einfluß der Z.en auf die Ausbreitung der Lesefähigkeit ist daher hoch zu veranschlagen; eine bes. Bedeutung kommt dabei den vielerorts entstandenen Lesegesellschaften zu (J Lesen; Lesestoffe, populäre)20. Im 19. Jh. trat aufgrund zunehmender Zielgruppenorientierung neben die regionale Vielfalt der Presse die soziale und politische Differenzierung. Jetzt erhielt z. B. sogar der Stand der Dienstboten (cf. J Gesinde, Kap. 4.3) eigene Presseorgane mit Titeln wie Leitstern für christl. Jungfrauen, Haus und Herd oder Küche und Haus. Diese enthielten eine Fülle von Erzählstoffen, die dazu dienen sollten, die Dienstboten mit J moralischen Geschichten zu christl. Lebenswandel, Kinderliebe und Sparsamkeit zu erziehen und sie vor den Gefahren der Großstadt und der Sozialdemokratie zu warnen21. 3 . Z .e n a ls Qu el le de r E rz äh lf or s ch un g. Die Vorliebe für Sensationen und Kuriositäten ist der modernen Presse bis zur Gegenwart erhalten geblieben. Dabei standen und stehen solche Meldungen aus der Tagespresse bei vielen unkritischen Lesern in hohem Ansehen, und ihre J Glaubwürdigkeit wird beim Weitererzählen oft mit der Aussage, es habe in der Z. gestanden, bekräftigt22. George Orwell berichtet in seinem Roman Coming Up for Air (1939) von einem bürgerlichen Z.sleser, der alles glaubt, was er liest, und lediglich bei der Geschichte von dem Mann, der im Roten Meer drei Tage im Bauch eines Wals überlebt haben soll, etwas skeptisch wird23. W. Heim sah in dieser Leichtgläubigkeit der Rezipienten ein „Erbstück des fast religiös anmutenden Zeitungsglaubens der Aufklärung“24; für die Schweiz faßte H. Trümpy seine Erfahrungen folgendermaßen zusammen: „Wer erlebt hat, wie in dörflichen Verhältnissen manche Zeitungsleser sogar den Roman unter dem Strich für bare Münze nehmen, ,weil es doch in der Zeitung steht‘, wird die Presse als einen Faktor der Volkskunde nicht hoch genug einschätzen können.“25 Die die Glaubwürdigkeit strapazierenden Z.smeldungen entziehen sich der Nachprüfbarkeit oft dadurch, daß der Ort des Geschehens als weit entfernt angegeben wird. Da solche Nachrichten stets mit dem Anspruch der Wahrhaftigkeit publiziert werden, stehen sie unter den narrativen Gattungen der
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Zeitung
J Sage als einer geglaubten, für wahr gehaltenen Erlebnis- oder Ereignisgeschichte am nächsten. Für die in der Presse kolportierten ,sagenhaften‘ Themen und Motive hat sich in der Forschung der Begriff der Z.ssage etabliert. Diese gelangt oftmals aufgrund mündl. Überlieferung in die Z. und wird nach erfolgter Lektüre durch Weitererzählen wiederum ein Teil der mündl. Tradierung. Die Rolle der Z. als Transportmittel für Erzählstoffe ist erst relativ spät erkannt worden26. In den frühen 1930er Jahren erschienen mehrere Aufsätze zu diesem Thema. Nachdem L. J Schmidt 1932 in einem Aufsatz über die Ballade von den J Mordeltern (AaTh/ATU 939 A)27 auf Zeugnisse in Tageszeitungen aufmerksam gemacht hatte, bat G. Jungbauer 1933 in der Sudetendt. Zs. für Vk. um Zusendung weiterer Z.ssagen, die noch im gleichen Jahr einzutreffen begannen28. Eine erste theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Z.ssage unternahm O. Görner. Anhand der populären Erzählthemen AaTh/ATU 939 A und J Geschlechtswechsel, die häufig in Tageszeitungen erschienen waren, arbeitete er heraus, daß die Glaubwürdigkeit solcher Geschichten durch ihre Aufnahme in das Printmedium Z. erhöht werde. Die Tageszeitung komme dem Bedürfnis der Leser nach ,Unterhaltenseinwollen‘ und ,Erfahrenwollen‘ dadurch entgegen, daß sie das Erzählte als wahres Geschehen ausgebe29. Nach dem 2. Weltkrieg lenkte W. J Anderson in zwei Aufsätzen mit zahlreichen Beispielen von Sagen, Schwänken und Witzen aus Tageszeitungen das Interesse der Forschung erneut auf Periodika als Quelle der Erzählforschung30. Stärkeres Interesse zog die Rolle der Z. und anderer Medien bei der Verbreitung alter und neuer Sagenbildungen auf sich31. Jüngere Sagensammlungen enthalten neben Texten aus mündl. Überlieferung auch solche aus periodischen Printmedien32, und in den zahlreichen Ausg.n von sog. modernen oder zeitgenössischen Sagen33 spielt die Z. als Quelle eine wichtige Rolle34. B. af Klintberg hat anhand von schwed. Restaurant-Erzählungen und dem J Gerücht von der angeblichen Kontamination israel. Orangen mit Quecksilber gezeigt, daß internat. Presseorganen bei der Verbreitung solcher angstauslösender Nachrichten eine große Bedeutung zu-
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kommt35. Auch für Großbritannien liegt eine Dokumentation von modernen Z.ssagen vor36; weitere Studien entstanden u. a. in Kroatien37, Norwegen38, Finnland39, Deutschland40, Argentinien41 und Belgien42. Z.en sind darüber hinaus eine Quelle für Anekdoten, Schwänke, Witze, Rätsel43 und Sprichwörter44. Mit dem Medium Z. eng verbundene Phänomene wie J Werbung45, Annoncen, Karikaturen46 und Comics47 bieten dem Erzählforscher und Volkskundler reiches Untersuchungsmaterial48. Für die Ausbreitung der Lesefähigkeit und die Vermittlung von Lit. kommt bes. dem Z.sroman eine große Bedeutung zu (cf. auch J Trivialliteratur)49. 4 . Z .e n a ls Qu el le de r All ta gs ku lt ur f or sc hu ng. Die in den späten 1960er Jahren einsetzende Hinwendung der volkskundlichen Forschung zu Gegenwartsproblemen führte auch zu einer über die Erzählforschung hinausreichenden umfassenderen Nutzung von Z.en als Quelle. Erste Anstöße gingen 1967 von K. V. Riedel aus, der die Orientierungsund Ordnungsfunktion der Presse für das Volksleben und ihre Rolle für Formung und Ausdruck der öffentlichen Meinung hervorhob50. Neben ihrer Bedeutung für die Erzählforschung sah R. J Schenda in der Z. eine wichtige Quelle für die Erforschung des sozialen Lebens vergangener Jh.e und der Gegenwart, da sie als Ergänzung und Korrektiv zu den Ergebnissen empirischer Feldforschung dienen könne51. Einzeluntersuchungen haben dies bestätigt52. Das von Schenda publizierte System der Archivierung von Z.sausschnitten im Ludwig Uhland-Institut der Univ. Tübingen diente als Anregung für die Gründung zahlreicher weiterer Z.sarchive im In- und Ausland. Ein im österr. Mattersburg veranstaltetes wiss. Symposium führte 1983 Forscher zusammen, die an entsprechenden Dokumentationseinrichtungen mitarbeiten53. Die Z. ist ihrem Wesen und ihrer Tradition nach eine „konservierende und eine konservative Institution“54. Auch wenn dem Volksmund zufolge ,nichts so alt ist wie die Z. von gestern‘, so bleibt sie doch für den hist. Forschenden ein unverzichtbares Reservoir an Informationen. Koch, H.-A.: Z. In: RDL 3 (32003) 886⫺889. ⫺ Lang, H. W.: Die Neue Z. des 15. bis 17. Jh.s. Entwicklungsgeschichte und Typologie. In: Presse und 1 2
1271
Zeitung
Geschichte 2. Mü. u. a. 1987, 57⫺60. ⫺ 3 Weller, E.: Die ersten dt. Z.en. Mit einer Bibliogr. (1505⫺1599). (Stg. 1872) Nachdr. Hildesheim 1962; Schottenloher, K.: Flugblatt und Z. B. 1922. ⫺ 4 Sobel, E.: Alte Newe Z. Berk./L. A. 1958. ⫺ 5 Seemann, E.: Newe Z. und Volkslied. In: Jb. für Volksliedforschung 3 (1932) 87⫺119; Brednich, R. W.: Z.slied. In: RDL 3 (32003) 889⫺891. ⫺ 6 id.: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jh.s 1⫺2. Baden-Baden 1974/75, t. 1, 184⫺243; t. 2, 83⫺89. ⫺ 7 Schütz, E./ Sachs, M.: Der Z.ssänger Philipp Keim (1804⫺1884) aus Diedenbergen. Wiesbaden-Erbenheim 1993. ⫺ 8 Seguin, J.-P.: L’Information en France avant le pe´riodique. 517 canards imprime´s entre 1529 et 1631. P. 1964. ⫺ 9 A Collection of Seventy-Nine Black-Letter Ballads and Broadsides. (L. 1867) Nachdr. Detroit 1968; Bloom, J. H.: English Tracts, Pamphlets and Printed Sheets. A Bibliogr. 1⫺2. L. 1922; Collison, R.: The Story of Street Literature. Forerunner of the Popular Press. L. 1973; Shephard, L.: The History of Street Literature. Detroit 1973. ⫺ 10 Schröder, T.: Die ersten dt. Z.en. Tübingen 1995. ⫺ 11 Fischer, H.-D. (ed.): Dt. Z.en des 17. bis 20. Jh.s. Pullach 1972; Böning, H. (ed.): Dt. Presse. Bio-bibliogr. Hbb. zur Geschichte der dt.sprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. t. 1⫺2. Stg.-Bad Cannstatt 1996/97. ⫺ 12 Buchner, E.: Das Neueste von gestern. Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten dt. Z.en 1⫺5. Mü. 1911⫺13 (16. Jh.⫺1799); id.: Ärzte und Kurpfuscher. Kulturhist. interessante Dokumente aus alten dt. Z.en. Mü. 1922; id.: Medien, Hexen und Geisterseher. Kulturhist. interessante Dokumente aus alten dt. Z.en und Zss. (16. bis 18. Jh.). Mü. 1926. ⫺ 13 Wilke, J.: Nachrichtenausw. und Medienrealität in vier Jh.en. B./N. Y. 1984, 218. ⫺ 14 Stieler, C.: Z.sLust und -Nutz. (Hbg 1695) Neudr. ed. G. Hagelweide. Bremen 1969, 27. ⫺ 15 ibid., 39⫺41. ⫺ 16 Blome, A.: Die Z. als hist. Qu. In: ead. (ed.): Z., Zs., Intelligenzblatt und Kalender. Beitr.e zur hist. Presseforschung. Bremen 2000, 161⫺176, hier 165. ⫺ 17 Böning, H.: Pressewesen der Aufklärung ⫺ Intelligenzblätter und Volksaufklärer. In: DoeringManteuffel, S./Mancˇal, J./Wüst, W. (edd.): Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schr. im Alten Reich. B. 2001, 69⫺119. ⫺ 18 Kann und soll der Bauer lesen? und was soll er lesen? In: Wittenbergsches Wochenblatt zum Aufnehmen der Naturkunde und des ökonomischen Gewerbes 1 (1793) 203; cf. Böning, H.: „Ist das Z.slesen auch dem Landmann zu verstatten?“ Überlegungen zum bäuerlichen Lesen in der dt. Aufklärung. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern u. a. 1995, 39⫺ 54. ⫺ 19 Möller, H.: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jh. B. 1969, 269 sq.; Böning, H.: Z.en und Zss. für das „Volk“. Von den Anfängen bis ins 19. Jh. In: Siegert, R. (ed.): Volksbildung durch Lesestoffe im 18. und 19. Jh. Bremen 2012, 141⫺170. ⫺ 20 Jentsch, I.: Zur Geschichte des Z.slesens in Deutschland am Ende des 18. Jh.s. Mit bes. Berücksichtigung der ge-
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sellschaftlichen Formen des Z.slesens. Diss. Lpz. 1937. ⫺ 21 Goebel, R.: Dienstbotenztgen. Ffm. u. a. 1994. ⫺ 22 Kvideland, R.: Det stod i avisa! In: Tradisjon 3 (1973) 1⫺12; Oring, E.: Legendry and the Rhetoric of Truth. In: JAFL 121,480 (2008) 127⫺166. ⫺ 23 Orwell, G.: Coming Up for Air. L. (1939) 1959, 47. ⫺ 24 Heim, W.: Neue Z.sfabeln. In: SAVk. 44 (1954) 68⫺75, hier 70. ⫺ 25 Trümpy, H.: Presse und Vk. ibid. 51 (1961) 73⫺78, hier 78. ⫺ 26 Moser, O.: Z.ssage ⫺ Volkssage. In: Beitl, K. (ed.): Probleme der Gegenwartsvk. Wien 1985, 12⫺150; cf. Kaindl, R. F.: Weitere Beitr.e zum modernen Aberglauben und Zauberglauben. Moderne Sagenbildung. In: ZfVk. 27 (1917) 241⫺245. ⫺ 27 Schmidt, L.: Zur Ballade ,Die Mordeltern‘. In: Das dt. Volkslied 34 (1932) 116 sq. ⫺ 28 Karasek, A.: Eine Z.ssage vom „geschlachteten und gepökelten Brüderchen“. In: Sudetendt. Zs.für Vk. 6 (1933) 100⫺102; id.: Eine Z.ssage vom ,Leichenkammer-Frevel‘ aus Mähren. ibid 8 (1936) 14 sq.; Kügler, H.: Z.ssagen. ibid. 6 (1933) 217 sq. ⫺ 29 Görner, E.: Vk. und Tagesztg. In: Mitteldt. Bll. für Vk. 8 (1933) 73⫺84. ⫺ 30 Anderson, W.: Volkserzählungen in Tagesztgen. In: Rhein. Jb. für Vk. 10 (1959) 163⫺175; id.: Volkserzählungen in Tagesztgen und Wochenbll. In: Humaniora. Festschr. A. Taylor. Locust Valley, N. Y. 1960, 58⫺68. ⫺ 31 Bausinger, H.: Strukturen des alltäglichen Erzählens. In: Fabula 1 (1959) 239⫺254, hier 248⫺251. ⫺ 32 Schenda, R./Doornkaat, H. ten (edd.): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Bern/Stg. 1988; Fischer, H.: Volkserzählungen zwischen Rhein und Eifel. Siegburg 2007. ⫺ 33 cf. EM 11, 1047 sq. (Bibliogr.). ⫺ 34 Klintberg, B. af: Modern Migratory Legends in Oral Tradition and Daily Papers. In: Arv 37 (1981) 153⫺160, hier 153. ⫺ 35 cf. auch Fischer, H.: Die Instrumentalisierung von Sagen in Z.en und Zss. In: Lares 65 (1999) 31⫺49. ⫺ 36 Hobbs, S.: The Folk Tale as News. In: Oral History 6,2 (1978) 74⫺ 86. ⫺ 37 Bosˇkovic´-Stulli, M.: Z.en, Fernsehen, mündl. Erzählen in der Stadt Zagreb. In: Fabula 20 (1979) 8⫺17. ⫺ 38 Skjelbred, A. H. B.: Sta˚r det i avisen? Avisen som folkloristisk kilde. In: Tradisjon 13 (1983) 101⫺109. ⫺ 39 Bergmann, A.: Finns det myter i dagstidningar? In: Nostalgi og sensasjoner. Folkloristisk perspektiv pa˚ mediekulturen. Turku 1995, 69⫺94. ⫺ 40 Gerndt, H.: Vermischtes. Die Z.snachricht als Sage. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 48⫺ 59. ⫺ 41 Blache, M.: Aproximacio´n al folklore de los periodistas. In: Revista de investigaciones folklo´ricas 11 (1996) 44⫺51; ead.: La cadena de transmisio´n mediacional en una leyenda contempora´nea. El caso de las mutiladas como meta´fora de la crisis argentina actual. In: Estudos de literatura oral 9⫺10 (2003/04) 39⫺55. ⫺ 42 Dielens, J.: Het is gebeurd, het stond in die krant! Een onderzoek naar het verschijnen van moderne sagen in de krant Het Laatste Nieuws (1998, 1999, 2000). In: Vk. 106 (2005) 155⫺186. ⫺ 43 Avdikos, E. G.: Grecian Riddle-Jokes. In: FL 10
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Zeitvertreiber
(1999) 108⫺125. ⫺ 44 Bosˇkovic´-Stulli, M.: Proverbs and Proverbial Expressions in a Zagreb Newspaper. In: Folklore on Two Continents. Festschr. L. De´gh. Bloom. 1980, 180⫺186; Järv, R.: Is Providing Proverbs a Tough Job? References to Proverbs in Newspaper Texts. In: FL 10 (1999) 77⫺107. ⫺ 45 Bies, W.: Traditionelles Erzählen in der Werbung. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 353⫺ 379. ⫺ 46 Päge, H.: Karikaturen in der Z. Diss. Dortmund 2007. ⫺ 47 Blackbeard, B./Williams, M. (edd.): The Smithsonian Collection of Newspaper Comics. Wash. 1977; Horn, M. (ed.): 100 Years of American Newspaper Comics. An Illustrated Enc. N. Y. 1996; Schroeder, H.: Die ersten Comics. Z.s-Comics in den USA von der Jh.wende bis zu den dreißiger Jahren. Reinbek 1982. ⫺ 48 Rihtman-Augusˇtin, D.: „We Were Proud to Live with You, and Now Immensely Sad to Have Lost You“. A Chronicle of the War through Newspaper Death Notices. In: Narodna umjetnost 30 (1993) 279⫺302. ⫺ 49 Wieber, F.: Der dt. Z.sroman im 20. Jh. Eine volkskundliche Auseinandersetzung. Halle 1933; Haug, W.: Der Z.sroman oder der Kongress der Ausdrucksberater. Zürich 1980; Oscarsson, I.: „Fortsättning följer“. Följetong och forsättningsroman i dagspressen till ca 1850. Lund 1980. ⫺ 50 Riedel, K. V.: Tagespresse und Vk. In: Beitr.e zur dt. Volks- und Altertumskunde 11 (1967) 7⫺33, hier 28, 33. ⫺ 51 Schenda, R.: Die Z. als Qu. volkskundlicher Forschung. In: Württemberg. Jb. für Vk. (1970) 156⫺ 168. ⫺ 52 Roth-Blümcke, H.: Tagesztgen als Qu. der volkskundlichen Forschung. Diss. Tübingen 1956; Treiber, A.: Die Dorfztg von Hildburghausen als evangel. Lektüreangebot. In: Jb. für Vk. 22 (1999) 72⫺92. ⫺ 53 Beitl, K. (ed.): Methoden der Dokumentation zur Gegenwartsvk. Die Z. als Qu. Wien 1988. ⫺ 54 Schenda (wie not. 51) 156.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Zeitvertreiber, auch ,Zeit-Verkürzer‘, ist die Bezeichnung für einen frühneuzeitlichen Buchtypus, der unterhaltsame Kurzgeschichten und Lachnummerntexte enthält und in der germanistischen Forschung zur Schwankliteratur gerechnet wird (J Kompilationsliteratur, J Schwankbücher). Daß darunter Johannes J Paulis Schimpf und Ernst ein veritables geistliches Exempelbuch darstellt, hat die kirchliche Kritik seiner Zeit so wenig sehen wollen wie die frühe Erzählforschung. Die ältere akademische Fokussierung auf das angeblich dt. 16. Jh. hat die entsprechenden Drucke des 17. Jh.s, die vielfach mit den Schlagworten ,Scherz‘ oder ,Schimpf‘ versehen waren, zunächst weniger in den Blick kommen lassen. Erst mit E. J Moser-Raths Studien
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und Ausw.edition sind bibliogr. Grundlagen erstellt worden1. Man darf Kompilationen dieser Art neben die gleichzeitigen Spezialsammlungen der J Magica- sowie der Tragica-Lit. (J Mordgeschichten) stellen und sie als Jucunda bezeichnen, nämlich fröhliche Ergötzlichkeiten. Da sie allein der J Unterhaltung dienten, das heißt dem Verkürzen der Langeweile, und nicht auch der Belehrung und Erbauung, wurden sie von Theologen und Pädagogen immer wieder verteufelt, voran mit dem Argument der Unziemlichkeit der darin enthaltenen Fazetien oder ,schmutzigen‘ Witze und mit der Unterstellung des Unzuchtsverdachts wegen der reichlich vorhandenen Erotica-Thematik2. Darum erschienen derartige Werke auf dem Büchermarkt in der Regel gegen geltende Vorschriften ohne Orts- und Druckerangaben sowie ohne echte Autorennennung. Dies erschwerte zwar die Aufnahme der Titel in die offiziellen, von der J Zensur beobachteten Frankfurter und Leipziger Meßkataloge, minderte aber nicht den Vertrieb dieser Kompilationen3. Autoren und Verleger selbst haben mit dem Anschein der Seriosität geworben, z. B. im Fall von Joco-Seria. Das ist lustige, kurtzweilige, beneben sehr nutzliche und ehrliche Zeitvertreibung (1631) oder Die Ehr-, Lehr- und Sittsame Burger-Lust (1663, sechs weitere Ausg.n bis 1755)4. Sie sind gemacht, um ⫺ wie es im Titel der Burger-Lust heißt ⫺ dediziert Allen eines Melancholischen, langweiligen, und unfrölichen Gemüts behafften, wie dann auch den Aderläßneren, Podagränischen, und Raisenden, oder auff was weiß sie Patienten, jhre Zeit hierdurch zu verkürtzen […].5 Auch die anonyme Dresdner Apophthegmata-Slg Das Buch der Weisen und Narren von 1705 warb im Titel mit derlei Hinweisen: Aus allerhand Schrifften, Büchern und täglicher Erfahrung zusammengetragen, und zu beliebiger wie auch zuläßlicher Zeit-Verkürzung […] mitgetheilt6. Die unter dem Pseud. Rudolph von Sinnersberg herausgegebene Slg Belustigung Vor Frauenzimmer und Junggesellen (1727⫺70 mindestens fünf Mal erschienen) war Zum anmuthigen Zeit-Vertreib ans Licht gebracht. Der anonyme universitäre Lustigmacher (1762) nennt sich gesamlet durch Semper Lustig und zwar denen Müßigen zum Vergnügen, denen Melancholischen zur Auf-
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Zeitvertreiber
munderung, und denen die Zeit zu lang wird zum Zeitvertreib. Im Haupttitel führen die beiden umfangreichsten Slgen der Gattung die Bezeichnung Z., voran der in 4. Aufl. 1685 (weitere Ausg.n 1700, 1720) erschienene Neuausgebutzte, Kurtzweilige Z., Welcher außgeziert mit allerhand lustigen Hofreden, lächerlichen Schwäncken, artigen Schnacken, nachdencklichen wolgerissenen Possen, kurtzweiligen Begebnüssen, merckwürdigen Geschichten, nützlichen Erzehlungen, klugen Sprüchen, und wolgegebenen Poetischen Ergötzlichkeiten, […]. Nur einen Nachweis gibt es bis heute von einem weiteren Semper Lustig, dessen umfangreiches Sammelwerk in auffälliger Anlehnung an obigen Titel 1702 auf den Markt kam: Der gantz neu-ausgeheckte und nun zum Vor-Schein kommende Kurtzweilige Zeit-Verkürzer Welcher mit 700 auserlesenen lustigen Hofreden, lächerlichen Schwäncken, nachdencklichen Possen, nützlichen Erzehlungen, und artlichen Begebenheiten also ausgebutzet und ⫺ verkaufswichtig ⫺ Zur Wolzulässigen Geistes-Erfrisch- und Aufmunterung in den Schrancken der Erbarkeit bestehend vorgestellt werden7. In anderen Druck-Traditionen stehen die beiden Einzeltitel: Curieuser Zeitvertreib, das ist: kurtze, aber lustige Historien, kluge Reden und Antworten, welche mit guter Vergnügung und Belustigung der Compagnie können gelesen und erzehlet werden (Köln 1693) sowie der nur 80 Seiten umfassende Angenehme Zeitvertreib lustiger Gesellschaften oder Räthsel, witzige Einfälle, kleine Geschichten, Karten-Künsten, Gesundheiten etc. etc. Neueste Aufl. (Ffm./Lpz. 1786). Der bair. Benediktinerpater Odilo J Schreger nannte 1754 sein erfolgreichstes Unterhaltungs- und Exempelbuch Lustig- und Nutzlicher Zeit-Vertreiber (bis 1802 elf Aufl.n). Mit ihm und seiner preßpolizeilich korrekten Publ.sweise in Süddeutschland gerät die kathol. Leserschaft in den Blick, um die schon die von Moser-Rath neu edierte und kommentierte Burger-Lust mit dem Titelhinweis geworben hatte: Durch einen gut Cathol. Authorn Colligiert und beschriben. Mit kirchlicher Approbation versehen kam 1702/03 eine Übers. des Utile cum dulci des ital. Jesuiten Carolo J Casalicchio in Augsburg auf den Markt zu Christl. erlaubter-Gemüths-Ergetzung. Ebenso verfuhr Joseph Albert J Conlin, Pfarrer aus
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dem Ries, der gleich J Abraham a Sancta Clara die Narrenwelt zwischen 1706 und 1711 in seinen sieben großen Bänden Der Christl. Welt-Weise mit Hunderten lustig und lächerlicher Begebenheiten aufs Korn nahm, deren sich nit allein die Herrn Pfarrer auf der Cantzel, sondern auch ein jede Privat-Persohn, bey ehrlichen Gesellschaften nutzlich bedienen können, womit das Vortragen oder Vorlesen gemeint war ⫺ die übliche Kommunikationsart jener Zeit des weitverbreiteten Analphabetismus. Die eigentlichen Z. sind in aller Regel kleinformatig und daher im Wortsinne Taschenbücher. Sie sind eine zentrale Vermittlungsinstanz für die mündl. Überlieferung literar. tradierter narrativer Texte, wie dies etwa die Burger-Lust verdeutlicht: E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Aus w. ) 8: num. 1 ⫽ Alchemist mit leerem Beutel entlohnt (Mot. K 1966.2). ⫺ 2 ⫽ AaTh/ATU 1416: Die neue J Eva. ⫺ 3 ⫽ Narr hält Kirchengesang für bedrohlichen Lärm (Mot. J 1823.2). ⫺ 5 ⫽ cf. AaTh/ATU 1828*: J Weinen und Lachen bei der Predigt. ⫺ 7 ⫽ Bauer und diebische Studenten (Mot. K 358). ⫺ 9 ⫽ AaTh/ ATU 1678: cf. J Junge weiß nichts von Frauen. ⫺ 11 ⫽ AaTh/ATU 1362 A*: J Dreimonatskind. ⫺ 15 ⫽ Mann nimmt fünf Ehefrauen, um eine gute zu finden (Mot. T 251.0.3). ⫺ 16 ⫽ AaTh/ATU 1920 D: cf. J Lügenwette. ⫺ 19 ⫽ AaTh/ATU 1567 C: Den großen J Fisch befragen. ⫺ 22 ⫽ cf. AaTh/ATU 1833: The Clergyman’s Rhetorical Question Misunderstood. ⫺ 23 ⫽ AaTh/ATU 1833 A: cf. J Katechismusschwänke. ⫺ 24 ⫽ cf. AaTh/ATU 1833 B: cf. Katechismusschwänke. ⫺ 28 ⫽ Pfeifen soll Glöckchen am Klingelbeutel ersetzen (Mot. X 442). ⫺ 41 ⫽ AaTh/ATU 1540: J Student aus dem Paradies (Paris). ⫺ 43 ⫽ AaTh/ATU 1702: cf. J Stottererwitze. ⫺ 44 ⫽ AaTh/ATU 1827: cf. J Predigtschwänke. ⫺ 47 ⫽ AaTh/ATU 1741: J Priesters Gäste. ⫺ 48 ⫽ Wieviel Tuch braucht Gott für einen Mantel? (Mot. J 1291.3.1). ⫺ 54 ⫽ Dieb wird zum Verlust der Ohren verurteilt, hat aber keine mehr (Mot. J 1184.2). ⫺ 55 ⫽ AaTh/ ATU 1527 A: cf. J Räuber betrogen. ⫺ 56 ⫽ AaTh/ ATU 1624 B*: J Speckdieb. ⫺ 57 ⫽ Mönch soll Edelmann über Bach tragen, läßt ihn fallen (Mot. J 1638). ⫺ 58 ⫽ AaTh/ATU 1698 C: cf. J Schwerhörig, Schwerhörigkeit. ⫺ 59 ⫽ Zechpreller spielen mit Wirtin ,Blinde Kuh‘ (Mot. K 233.2). ⫺ 62 ⫽ AaTh/ ATU 1361: J Flut vorgetäuscht. ⫺ 64 ⫽ Richter, der das Fluchen verbietet, flucht selbst (Mot. W 133.1). ⫺ 69 (a) ⫽ AaTh/ATU 1861 A: cf. J Bestechung. ⫺ 70 ⫽ AaTh/ATU 1950: J Faulheitswettbewerb. ⫺ 74 ⫽ Ohrfeige für den Richter (Mot. J 1193.2). ⫺ 76 ⫽ cf. AaTh/ATU 1242 A: J Entlastung des Esels. ⫺ 79 ⫽ AaTh/ATU 1735: Die zehnfache J Vergeltung. ⫺ 80 ⫽ Geistlicher im Bett mit vier Füßen angetroffen (Mot. J 2283). ⫺ 82 ⫽
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Zelenin, Dmitrij Konstantinovicˇ
Warum Gott so wenig Freunde hat (Mot. J 1261.1.2). ⫺ 86 ⫽ AaTh/ATU 1534 D*: Sham Dumb Man Wins Suit. ⫺ 92 ⫽ Kleines Weib das kleinste Übel (Mot. J 229.10, J 1442.13). ⫺ 99 ⫽ Was Gott in Abwesenheit des Mannes bescherte (Mot. J 1279.2). ⫺ 101 ⫽ Christ und Jude disputieren über Einhaltung der Gebote Gottes (Mot. J 1262.3). ⫺ 105 ⫽ cf. AaTh/ATU 1833 H: cf. Predigtschwänke. ⫺ 106 ⫽ AaTh/ATU 1296 B: J Tauben im Brief. ⫺ 115 ⫽ AaTh/ATU 1828: The Rooster at Church Crows. ⫺ 118 ⫽ Bischof als geistlicher und weltlicher Herr (Mot. J 1289.2). ⫺ 119 ⫽ cf. AaTh/ATU 1853: cf. J Müllerschwänke. ⫺ 120 ⫽ Bestechung: Bauer schmiert dem Richter die Hände (Mot. J 2475). ⫺ 124 ⫽ cf. AaTh/ATU 1825 B: cf. Predigtschwänke. ⫺ 126 (a) ⫽ Einfältiger Kirchenbesucher mißversteht Pumpermette (Mot. J 1823.2). ⫺ 127 ⫽ AaTh/ATU 1419 B: J Bock im Schrank. ⫺ 128 ⫽ AaTh/ATU 1417: Die abgeschnittene J Nase. ⫺ 129 ⫽ AaTh/ATU 1463: cf. J Brautproben. ⫺ 132 ⫽ Einfältiger Patient verzehrt Rezept (Mot. J 2469.2). ⫺ 134 ⫽ Bauer meint, er werde von Gespenst verfolgt (Mot. J 1782.2). ⫺ 136 ⫽ AaTh/ATU 1430: cf. J Luftschlösser. ⫺ 138 ⫽ Ehefrau die größte Last (Mot. T 251.1.5). ⫺ 140 ⫽ cf. AaTh/ ATU 1373 A: Die schwache J Esserin. ⫺ 141 ⫽ cf. AaTh/ATU 1350: Die rasch getröstete J Witwe. ⫺ 144 ⫽ AaTh/ATU 1553: J Ochse für fünf Pfennig. ⫺ 146 ⫽ Schiffbrüchiger ißt Salz, damit ihm Wasser besser schmeckt (Mot. J 861.2).
Obwohl es dem Titel nach sozusagen reine Z. gab, sind die Grenzen zu den in der Forschung einst für klassisch gehaltenen Schwankbüchern und zur moralischen Exempelliteratur durchaus fließend. Am charakteristischsten ausgeprägt erscheint die Büchergattung in Ausg.n von einerseits reiner Kompilation und andererseits thematisch und motivlich bedingter wilder Mischung jeglicher Textsorten. 1 Moser-Rath, Schwank, 52 sq. und Bibliogr.; ead. „Burger-Lust“. Unterhaltende Gebrauchslit. im 17. Jh. In: Brückner, W./Blickle, P./Breuer, D. (edd.): Lit. und Volk im 17. Jh. Wiesbaden 1985, 881⫺898, hier 884 sq. ⫺ 2 ibid., 80⫺130. ⫺ 3 Düsterdieck, P.: Buchproduktion im 17. Jh. Eine Analyse der Meßkataloge für die Jahre 1637 und 1658. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1974) 163⫺220. ⫺ 4 Moser-Rath, Schwank, 367⫺409. ⫺ 5 cf. Völker, L: Langeweile. Unters. zur Vorgeschichte eines literar. Motivs. Mü. 1975, 14⫺66, 128⫺133, pass. ⫺ 6 cf. Moser-Rath, Schwank, 44, 293, 463. ⫺ 7 ibid., 463, 475; Staats- und Univ.sbibl. Göttingen, 8 FAB VI, 115. ⫺ 8 Nach Moser-Rath, Schwank, 410⫺459.
Würzburg
Wolfgang Brückner
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Zelenin, Dmitrij Konstantinovicˇ, *Ljuk (Kreis Sarapul, Udmurtien) 21. 10. (2. 11.) 1878, † Leningrad 30. 8. 1954, russ. Ethnograph, Erzählforscher und Dialektologe1. Z. besuchte 1891⫺98 das Priesterseminar in Sarapul. 1899⫺1905 studierte er an der Univ. Jur’ev (heute Tartu) russ. Dialektologie, schloß sein Studium mit einer 1913 publizierten sprachwiss. Arbeit ab und erwarb 1915 den Magistergrad. Ab 1906 arbeitete er in Petersburg als Redakteur des Slovar’ russkogo jazyka (Wb. der russ. Sprache) bei der Russ. Akad. der Wiss.en, 1915⫺16 unterrichtete er an der dortigen Univ., 1916 wurde er zum Lehrer für höhere Frauenkurse nach Char’kov berufen, 1917 in Petrograd mit der Ocˇerki russkoj mifologii. 1: Umersˇie neestestvennoj smert’ju i rusalki ([Skizzen zur russ. Mythologie. 1: Eines unnatürlichen Todes Gestorbene und Rusalkas]. Petrograd 1915) promoviert2. Während der russ. Revolution und des Bürgerkriegs lebte Z. in Char’kov. 1925 übernahm er die Leitung der neugegründeten Abteilung Zˇivaja starina (Lebendes Altertum) des Inst. literatur i jazykov Zapada i Vostoka (Inst. für Lit. und Sprachen des Westens und Ostens) an der Univ. Leningrad und wurde Mitglied der Akad. der Wiss.en der UdSSR. Seit 1926 arbeitete er am Museum für Anthropologie und Ethnographie (Kunstkammer). Nach dem dt. Überfall auf die Sowjetunion wurde Z. im November 1941 zuerst nach Alma-Ata, dann nach Samarkand evakuiert. Nach seiner Rückkehr nach Leningrad arbeitete er bis zu seinem Ruhestand 1949 wieder am Ethnogr. Inst.3 Z.s erste Arbeiten hatten heimatkundlichen Charakter4. Im Rahmen eines von V. N. Tenisˇev initiierten Projekts über die Bauern in Zentralrußland5 sammelte Z. volkskundliche Materialien (heute im Archiv des Russ. Ethnogr. Museums St. Petersburg). Der größte Teil seiner Publ.en widmet sich folkloristisch-ethnogr. sowie dialektologischen Themen6. Die Grundlage seiner Diss. zur J Rusalka und den ,gefangenen‘, d. h. eines unnatürlichen Todes gestorbenen Toten sind Riten. Bei der Russ. Geogr. Ges. veröffentlichte Z. zwei große bibliogr. Werke: Bibliograficˇeskij ukazatel’ russkoj e˙tnograficˇeskoj literatury o vnesˇnem byte narodov Rossii. 1700⫺1910. ([Bibliogr. Index der russ. ethnogr. Lit. über die äußere Lebensweise der Völker Rußlands. 1700⫺1910]. SPb.
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Zelenin, Dmitrij Konstantinovicˇ
1913) und Opisanie rukopisej ucˇenogo archiva Russkogo geograficˇeskogo obsˇcˇestva 1⫺3 ([Beschreibungen der Hss. des wiss. Archivs der Russ. Geogr. Ges.]. Petrograd 1914/15/16). Mit Unterstützung von M. Vasmer publizierte er den Band Russ. (Ostslav.) Vk. (B./Lpz. 1927), der für westeurop. Ethnographen lange Zeit Hauptquelle zur Kultur der Ostslaven blieb7. Z.s Arbeiten zum Vierzeiler (cˇastusˇka) haben zur Anerkennung dieser Gattung in der russ. Folkloristik beigetragen8. Einen wichtigen Beitr. leistete Z. zur Entwicklung der russ. Märchenforschung: Während seiner Forschungsreise in die Gouvernements Vjatka und Perm’ (1908) zeichnete er ca 200 Märchen auf. Zusammen mit z. T. unveröff. Materialien anderer Sammler publizierte Z. diese Erzählungen mit Anmerkungen, u. a. zu den Erzählern, in Velikorusskie skazki Permskoj gubernii. S prilozˇeniem dvenadcati basˇkirskich skazok i odnoj mesˇcˇerjakskoj ([Großruss. Märchen des Gouvernements Perm’. Mit einem Anh. von 12 baschkir. und einem meschtscherjak. Märchen]. Petrograd 1914/15) und in Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. S prilozˇeniem sˇesti votjackich skazok ([Großruss. Märchen des Gouvernements Vjatka. Mit einem Anh. von sechs wotjak. Märchen]. Petrograd 1915)9. In den 1920er und 1930er Jahren verfaßte Z. eine Reihe von Werken zur Wortmagie. In einem Aufsatz behandelte er die religiös-magische Funktion von ,Protomärchen‘, mit denen Jagdtiere und Walddämonen gütig gestimmt werden sollen (cf. J Herr der Tiere)10. In der grundlegenden Arbeit Tabu slov u narodov Vostocˇnoj Evropy i severnoj Azii 1⫺2 ([Das Worttabu bei den Völkern Osteuropas und Nordasiens]. Len. 1929/30) befaßte sich Z. mit der Entstehung von J Tabus in einer voranimistischen Epoche. Dem Problem der Entwicklung primitiver Religionen widmete sich Z. in seinen großen Unters.en Kul’t ongonov v Sibiri: Perezˇitki totemizma i ideologija sibirskich narodov ([Der Ongon-Kult in Sibirien: Totemistische Relikte und die Ideologie sibir. Völker]. M./Len. 1936) und Totemy-derev’ja v skazanijach i obrjadach evropejskich narodov ([Baumtotems in den Sagen und Bräuchen europ. Völker]. M./Len. 1937)11. 1
Karskij, E. F. u. a.: Zapiska ob ucˇenych trudach prof. D. K. Z.a (Ber. über die wiss. Werke von Prof. D. K. Z. ). In: Izvestija akademii nauk SSSR 18,6,19
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(1925) 879⫺883; Tarasova (Vasina), A. I./Kameneckaja, R. V.: Ukazatel’ trudov D. K. Z.a i osnovnoj literatury o nem (Verz. der Werke von D. K. Z. und der Lit. über ihn). In: Problemy slavjanskoj e˙tnografii (k 100-letiju so dnja rozˇdenija cˇlena-korrespondenta AN SSSR D. K. Z.a). Len. 1979, 221⫺237. ⫺ 2 Z., D. K.: Izbrannye stat’i: Ocˇerki russkoj mifologii. Umersˇie neestestvennoj smert’ju i rusalki. ed. E. E. Levkievskaja. M. 1995; Rez.en V. V. Bogdanov in E˙tnograficˇeskoe obozrenie (1916) H. 3/4, 172; V. N. Charuzina in Zˇivaja starina (1916) H. 4, 331⫺ 336; E. G. Kagarov in Russkij filologicˇeskij vestnik (1917) H. 1/2, 261⫺265. ⫺ 3 Bezˇkovicˇ, A. S.: D. K. Z. (1878⫺1954). Nekrolog. In: Izvestija vsesojuznogo geograficˇeskogo obsˇcˇestva 87 (1955) 376⫺369; Vasina, A. I.: D. K. Z. (Kratkij ocˇerk zˇizni i tvorcˇestva) (D. K. Z. [Kurze Skizze über Leben und Werk]). In: Opisanie kollekcij rukopisej naucˇnogo archiva Geograficˇeskogo obsˇcˇestva SSSR. Len. 1973, 7⫺19; Problemy slavjanskoj e˙tnografii (Probleme der slav. Ethnogr.). Gedenkschr. D. K. Z. Len. 1979, 221⫺237; Ivanova, T. G.: Russkaja fol’kloristika nacˇala XX veka v biograficˇeskich ocˇerkach (Die russ. Folkloristik am Anfang des 20. Jh.s in biogr. Skizzen). SPb. 1993, 135⫺167. ⫺ 4 Z., D. K.: Kratkij istoricˇeskij ocˇerk Sarapul’skogo duchovnogo ucˇilisˇcˇa (Kurze hist. Skizze über die Priesterschule von Sarapul). In: Vjatskie eparchial’nye vedomosti (1899) H. 15, 772⫺787; (1899) H. 16, 824⫺839; (1899) H. 17, 880⫺894; id.: Iz Sarapul’skoj chroniki (Aus der Chronik von Sarapul). In: Istoricˇeskij vestnik (1899) H. 9, 966⫺972. ⫺ 5 Tenisˇev, V. N.: Programma e˙tnograficˇeskich svedenij o krest’janach central’noj Rossii (Progr. ethnogr. Mittlgen über die Bauern Zentralrußlands). Smolensk 1898. ⫺ 6 id.: Iz svadebnych obrjadov Vjatskoj gubernii (Aus den Hochzeitsbräuchen des Gouvernements Vjatka). In: Vjatskie gubernskie vedomosti (1899) H. 90 (Beilage); id.: Osobennosti v govore russkich krest’jan jugo-vostocˇnoj cˇasti Vjatskoj gubernii (Besonderheiten der Mundart der russ. Bauern des südöstl. Teils des Gouvernements Vjatka). In: Zˇivaja starina (1901) H. 1, 81⫺96; id.: Otcˇet o poezdke (letom 1901 goda) v Jaranskij uezd (Vjatskoj gubernii) dlja izucˇenija narodnogo govora (Ber. über die Reise [im Sommer 1901] im Kreis Jaransk [Gouvernement Vjatka] zur Unters. der Mundart). In: Ucˇenye zapiski Imperatorskogo Jur’evskogo universiteta (1902) H. 3, 1⫺17; id.: Otcˇet o dialektologicˇeskoj poezdke v Vjatskuju guberniju (Ber. über eine dialektologische Reise ins Gouvernement Vjatka). SPb. 1903; id.: Troecypljatnica (e˙tnogr. issledovanie) (Troecypljatnica [eine ethnogr. Unters.]). In: Pamjatnaja knizˇka Vjatskoj gubernii i kalendar’ na 1906 god. Vjatka 1906, 1⫺52; id.: Narodnyj obycˇaj „gret’ pokojnikov“ (Der Volksbrauch des „Wärmens der Verstorbenen“). In: Sbornik Char’kovskogo istoriko-filologicˇeskogo obsˇcˇestva (1909) H. 18, 256⫺ 271; id.: Obrjadovoe prazdnestvo soversˇennoletija devicy u russkich (Das rituelle Fest zur Volljährigkeit eines Mädchens bei den Russen). In: Zˇivaja starina
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Zender, Matthias
(1911) H. 2, 233⫺246; id.: „Obycˇennye“ polotenca i obycˇennye chramy (Russkie narodnye obycˇai) („Alltägliche“ Handtücher und alltägliche Tempel [Russ. Volksbräuche]). ibid. (1911) H. 1, 1⫺20; id.: Russkie narodnye obrjady so staroj obuv’ju (Russ. Volksbräuche mit alten Schuhen). ibid. (1913) H. 1/2, 1⫺ 16; id.: K voprosu o rusalkach (Kul’t pokojnikov, umersˇich neestestvennoj smert’ju u russkich i u finnov) (Zur Frage der Rusalkas [Der Kult der eines unnatürlichen Todes Gestorbenen bei Russen und Finnen]). ibid. (1911) H. 3/4, 354⫺424; cf. allg. id.: Izbrannye trudy: Stat’i po duchovnoj kul’ture. 1901⫺13 (Ausgewählte Werke: Aufsätze über die geistliche Kultur. 1901⫺13). ed. T. A. Bernsˇtam u. a. M. 1994. ⫺ 7 id.: Vostocˇnoslavjanskaja e˙tnografija (Ostslav. Ethnogr.). ed. T. A. Bernsˇtam/T. V. Stanjuˇ istov. M. 1991. ⫺ 8 id.: Novye vejanija kovicˇ/K. V. C narodnoj poe˙zii (Neue Strömungen der Volkspoesie). In: Vestnik vospitanija (1901) H. 8, 86⫺98; id.: Pesni derevenskoj molodezˇi, zapisannye v Vjatskoj gubernii (Lieder der Dorfjugend, aufgezeichnet im Gouvernement Vjatka). In: Pamjatnaja knizˇka Vjatskoj gubernii i kalendar’ na 1903 god. Vjatka 1902, 19⫺103; id.: Das heutige russ. Schnaderhüpfl (cˇastusˇka). In: Zs. für slav. Philologie 1,3⫺4 (1925) 343⫺370. ⫺ 9 id.: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii. ed. T. G. Ivanova. SPb. 1997; id.: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii. ed. T. G. Ivanova. SPb. 2002; Rez. E. F. Karskij in Russkij filologicˇeskij vestnik (1916) H. 1/2, 321 sq. ⫺ 10 id.: Religiozno magicˇeskaja funkcija fol’klornych skazok (Die religiösmagische Funktion von Volksmärchen). In: Festschr. S. F. Ol’denburg. Len. 1934, 215⫺240; cf. auch id.: Magicˇeskaja funkcija slov i slovesnych proizvedenij (Die magische Funktion von Worten und Wortwerken). In: Festschr. N. Ja. Marr. Len. 1935, 507⫺516; cf. auch id.: The Genesis of the Fairy Tale. In: Ethnos (1940) 54⫺58. ⫺ 11 cf. allg. id.: Izbrannye trudy. Stat’i po duchovnoj kul’ture. 1917⫺34 (Ausgewählte Werke. Aufsätze über die geistliche Kultur. 1917⫺34). ed. T. G. Ivanova. M. 1999; id.: Izbrannye trudy. Stat’i po duchovnoj kul’ture. 1934⫺54 (Ausgewählte Werke. Aufsätze über die geistliche Kultur. 1934⫺54). ed. T. G. Ivanova. M. 2004.
St. Petersburg
Tat’jana G. Ivanova
Zender, Matthias, *Niederweis (Kreis Bitburg) 20. 4. 1907, † Bonn 20. 12. 1993, dt. Volkskundler. Z. studierte ab 1926 Vk., Geschichte und Germanistik in Bonn, Innsbruck und Wien. 1929 übernahm er eine Stelle als ,wiss. Hilfsarbeiter‘ bei der rhein. Landesstelle des Atlas der dt. Vk. und am Rhein. Wb.; 1938 wurde er bei dem Volkskundler J. Müller in Bonn mit der Diss. Die Sage als Spiegelbild von Volksart und Volksleben im westl. Grenz-
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land 1 promoviert. Eine beabsichtigte Habilitation fand zunächst aus politischen Gründen nicht statt. 1941⫺44 war Z. als Kriegsverwaltungsrat Spezialreferent für Areler Volkstumsfragen in Arlon (Belgien), danach Soldat. 1946 wurde in Belgien ein Untersuchungsverfahren wegen seiner polit. Betätigung zur NS-Zeit gegen ihn eingeleitet, das 1949 jedoch ohne Anklage eingestellt wurde2. 1954 erfolgte die Habilitation in Bonn mit einer Arbeit zur Heiligenverehrung in Europa nach hist. Quellen3. Im selben Jahr übertrug die Dt. Forschungsgemeinschaft Z. die Neubearbeitung des Atlas der dt. Vk., später verbunden mit der Leitung der Koordinationsstelle des Ethnol. Atlas Europas. 1954⫺60 war er Landesverwaltungsrat beim Landschaftsverband Rheinland in Köln. Im Anschluß an die Umhabilitierung an die Univ. zu Köln (1958) wurde Z. ebenda zum außerordentlichen Professor ernannt; 1963 nahm er einen Ruf an die Univ. Bonn an. Bis zur Emeritierung 1974 war er Direktor des volkskundlichen Seminars und Abteilungsleiter für rhein. Vk. am Inst. für geschichtliche Landeskunde an der Univ. Bonn. Z. war langjähriger Mitherausgeber der Zs. für Vk., der Rhein.-westfäl. Zs. für Vk., des Rhein. Jb.s für Vk., der Rhein. Vierteljahrsblätter und der Ethnologia Europaea 4. Bereits in seiner Schüler- und frühen Studentenzeit hatte Z. in seiner Heimat mit der Aufzeichnung mündl. Erzählungen begonnen5. 1923⫺29 und 1933⫺34 erhob er bei mehr als 800 Erzählern und Erzählerinnen etwa 10000 Sagen, Geschichten und Schwänke sowie 200 Märchen. Eine Ausw. veröffentlichte er 1935 und 19366. Die in den südl. Rheinlanden, der Westeifel und in den angrenzenden Gebieten auf seinen Fuß- und Fahrradwanderungen zusammengetragenen Texte bildeten die Grundlage für seine Diss.7 Mehrfach berichtete Z. über seine ,Kundfahrten‘ und die Erfahrungen bei seinen Feldforschungen8. Seine 1935 erschienene Slg Volkssagen der Westeifel gab er u. d. T. Sagen und Geschichten aus der Westeifel um 560 Texte erw. neu heraus (Bonn 1966). Es folgten zwei nochmals erw. Aufl.n, so daß der gesamte Ertrag von Z.s Erhebungen aus den 1930er Jahren gedruckt sein dürfte9. Die Neuauflage der Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel von 1935 erfuhr ebenfalls eine Erweiterung um 120
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Zender, Matthias
bislang unveröff. Geschichten, die Z. nun aus der Mundart in die Schriftsprache übertrug10. Die Slgen stattete er teilweise mit Kommentaren und Verz.sen der Erzähler aus. Sie zählen zu den mustergültigen volkskundlichen Editionen11. Z.s Hauptarbeitsgebiete neben der Erzählforschung waren die religiöse Vk. und die kartographische Darstellung volkskultureller Phänomene12. 1985 brachte er die neue Folge des Atlas der Dt. Vk. zum Abschluß13. Der geogr. Schwerpunkt von Z.s Unters.en lag im Rheinland, doch zum Vergleich bezog er benachbarte Landschaften und europ. Länder ein14. Die Arbeit am Rhein. Wb. und am Atlas der Dt. Vk. blieb nicht ohne Einfluß auf Z.s Arbeiten zur Erzählforschung. Sein Interesse ging über die bloße Dokumentation von Erzählinhalten hinaus und bezog die Erzähler, das Erzählverhalten und die Erzählumstände in die Beobachtungen ein15. Der kontextuelle Ansatz, der kulturelle, psychol. und soziale Aspekte beachtet, erbrachte tiefere Einsichten in Erzählabläufe und Erzählüberlieferung16. Mit seiner Berücksichtigung der geogr. Verbreitung von Sagen und Sagenmotiven öffnete Z. den Blick für Vergleiche und landschaftliche Unterschiede17. 1
Z., M.: Die Sage als Spiegelbild von Volksart und Volksleben im westl. Grenzland. Ein Beitr. zur Vk. von Eifel und Ardennen. Diss. (Teildruck) Bonn 1940. ⫺ 2 Cox, H. L.: Volkserzählungen aus der Gegend von Arlon. Aus dem Nachlaß von M. Z. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 41 (1996) 9⫺43, hier 9. ⫺ 3 Z., M.: Räume und Schichten ma. Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Vk. Die Heiligen des mittleren Maaslandes und der Rheinlande in Kultgeschichte und Kultverbreitung. Düsseldorf 1959 (Köln 21973). ⫺ 4 Wiegelmann, G.: M. Z. 20. 4. 1907⫺20. 12. 1993. In: ZfVk. 90 (1994) 261⫺ 264; Cox, H. L.: M. Z. 1907⫺1993. In: Rhein. Vierteljahrsbll. 58 (1994) 17⫺25; id.: Nachruf M. Z. 1907⫺1993. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 39 (1994) 11⫺19; Mannheims, H.: Volkskundlerinnen und Volkskundler im Rheinland heute. Bonn 1995, 75. ⫺ 5 cf. Mangold, J.: Schr.verz. M. Z. über die Jahre 1925⫺1987. Bonn 1987, 13. ⫺ 6 Z., M.: Volkssagen der Westeifel. Bonn 1935; id.: Volksmärchen und Schwänke aus der Westeifel. Bonn 1935; id.: In Eifel und Ardennen. Bonn 1936. ⫺ 7 id. (wie not. 1). ⫺ 8 id.: Zur Sagenforschung in der Eifel. In: Eifel-Vereinsbl. 31 (1930) 6 sq.; id.: Sagenerzähler in der Westeifel. In: Eifel-Kalender für das Jahr 1936. Bonn 1935, 81 sq.; id.: Bei den Erzählern von Sagen und
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Märchen in der Eifel. In: Die Eifel 75 (1980) 162⫺ 164; id.: Sage und Bericht. Beobachtungen beim Sammeln von Volkserzählungen in der Eifel. In: Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985/86) 247⫺257. ⫺ 9 id.: Sagen und Geschichten aus der Westeifel. Bonn 3 1980; id.: Sagen aus der Westeifel. 4Bonn 1986. ⫺ 10 id.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 21984. ⫺ 11 Fischer, H.: Die rhein. Volkserzählforschung. In: Rhein. Jb. für Vk. 28 (1989/90) 7⫺28, hier 11; Jeske, H.: Sammler und Slgen von Volkserzählungen in Schleswig-Holstein. (Diss. Flensburg 2000) Neumünster 2002, 85. ⫺ 12 Z., M.: Schutzheilige der Haustiere im Rheinland. In: Rhein. Vierteljahrsbll. 5 (1935) 70⫺85; id.: Die Verehrung des hl. Quirinus in Kirche und Volk. Neuß 1967; id.: Die Verehrung des hl. Severinus in Köln. In: Annalen des Hist. Vereins für den Niederrhein 155 (1954) 257⫺285; id.: Die Verehrung von drei hl. Frauen im christl. Mitteleuropa und ihre Verbreitung in alten Vorstellungen. In: Bonner Jbb., Beiheft 44 (1987) 213⫺228; id. (wie not. 3). ⫺ 13 Atlas der Dt. Vk. N. F. Auf Grund der von 1929 bis 1935 durchgeführten Slgen. Lfg 1⫺3. ed. id., Lfg 4⫺5 ed. id./ G. Grober-Glück/G. Wiegelmann, Lfg. 6⫺7 ed. M. Z./ H. L. Cox/G. GroberGlück/G. Wiegelmann. Marburg 1958⫺84. ⫺ 14 Z., M.: Die kulturelle Stellung Westfalens nach den Slgen des Atlas der dt. Vk. In: Der Raum Westfalen. 4,2: Beitr.e zur Vk. und Baugeschichte. ed. H. Aubin u. a. Münster 1965, 1⫺69; id.: Die Verehrung des hl. Dionysius von Paris in Kirche und Volk. In: Landschaft und Geschichte. Festschr. F. Petri. Bonn 1970, 528⫺551; id.: Die Termine der Jahresfeuer in Europa. Erläuterungen zur Verbreitungskarte. Göttingen 1980, 1⫺3, 5 sq., 9⫺12, 18⫺20, 105⫺121; zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Atlas der dt. Vk. cf. Schmoll, F.: Die Vermessung der Kultur. Der „Atlas der dt.Vk.“ und die Dt. Forschungsgemeinschaft 1928⫺1980. Stg. 2009. ⫺ 15 id.: Qu.n und Träger der dt. Volkserzählung. In: Rhein. Vierteljahrsbll. 7 (1937) 25⫺46; id.: Volkserzählungen als Qu. für die Lebensverhältnisse vergangener Zeiten. In: Rhein. Jb. für Vk. 21 (1973) 114⫺169; id.: Buch, Schule und Volkserzählung. In: Fabula 20 (1979) 265⫺276. ⫺ 16 id.: Brauch und Sagen als Spiegelbild des Volkslebens in seiner Sonderheit. In: Volkstümliches Überlieferungsgut in alter und neuer Heimat. Beilage zur Rhein. Heimatpflege 4 (1978) 21⫺29. ⫺ 17 id.: Schinderhannes und andere Räubergestalten in der Volkserzählung des Rheinlandes. In: Rhein.westfäl. Zs. für Vk. 2 (1955) 84⫺94; id.: Volkssage und Kulturraumforschung. In: Fabula 9 (1967) 303⫺ 312; id.: Die Verbreitung von Sagenmotiven und Vorstellungen des Volksglaubens im Rheinland. In: Limburg. Neerlands Volksleven 21,1 (1971) 39⫺51; id.: Historiolinguistik, Vk., Kulturraumforschung. In: Sprachgeschichte. Ein Hb. zur Geschichte der dt. Sprache und ihrer Erforschung 1. ed. W. Besch u. a. B. 1984, 228⫺241.
Hennef
Helmut Fischer
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Zenker-Starzacher, Elli
Zenker-Starzacher, Elli, *Wien 20. 12. 1914, † St. Veit 4. 4. 1993, österr. Märchensammlerin und Erzählforscherin1. Starzacher studierte seit 1933 an der Univ. Wien Germanistik, Geschichte, Anglistik und Vk. und wurde 1937 mit der Diss. Das Märchen und sein Erzähler2 promoviert, in der sie das Märchen als nord. Geistesgut idg.-ar. Ursprungs beschrieb3. 1938 heiratete sie den in der völkisch orientierten Jugendbewegung aktiven G. Zenker, einen Mitarbeiter K. J Haidings. 1941⫺44 war sie Lehrerin am Kindergärtnerinnenseminar Hasenleiten, 1945⫺46 Dolmetscherin für die YMCA in St. Veit, 1946⫺80 Lehrerin und später Professorin an Hauptschulen in St. Veit und Wien, an der Lehrerbildungsanstalt in Wien sowie am Gymnasium in St. Veit. Von A. J Karasek wurde Starzacher mit der ,Geländeforschung‘ in den dt. Sprachinseln im östl. Europa vertraut gemacht4. 1936 besuchte sie zur Vorbereitung ihrer Sammelfahrten mit Haiding die Sommeruniversität in Debrecen, an der u. a. R. Hartmann unterrichtete5. 1936⫺38 unternahm sie fünf ,Märchenfahrten‘ nach Oberungarn6, zunächst als Mitglied eines Arbeitskreises des Österr. Wandervogels, der sich unter Leitung Haidings der ,Grenzlandarbeit‘ im Burgenland verschrieben hatte7. Wie Zenker und Haiding stand Z.-S. der Wiener J Mythol. Schule nahe8. Seit 1937, vermehrt nach dem 2. Weltkrieg, zeichnete sie auch Kärntner Volkserzählungen auf 9. Das von ihr gesammelte Material bereitete sie selbst für das Zentralarchiv der dt. Volkserzählung in Marburg auf 10. In ihren erzählkundlich relevanten Arbeiten beschäftigte sich Z.-S. vor allem mit den Erzählern der Märchen und ihrem sozialen Umfeld11. Anhand von Fotos bemühte sie sich auch, Gestik12 und Mimik der Erzähler einzufangen (ca 90 Fotos und einige Negative im Johannes-Künzig-Inst., Freiburg). Sie unterschied männer- und frauenspezifische Formen und Genres des Erzählens und ging davon aus, daß das Märchen in wenigen Familien begabter Erzähler weiterüberliefert wird13. Allen ihren Arbeiten lag ein politischer und ,volksbildnerischer‘ Anspruch zu Grunde: Durch die ,Allerwelt-Zivilisation in den Großstädten‘ war nach ihrer Ansicht das ,volksechte Erzählen‘, das sie an eine ländliche, von Fremdeinflüssen geschützte Gemeinschaft gebunden
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sah, gefährdet14. Bis zu ihrem Tod hing sie den ihre frühen Arbeiten bestimmenden Theorien, wie der Zweiweltentheorie E. J Mudraks und den mythol. Ansichten von K. J Spieß, an15. Für ihre Veröff.en reinigte sie die Märchen von allzu derben Szenen und glich die stenographisch im Dialekt aufgenommenen Texte an die Schriftsprache an16. 1 cf. Kausel, E. (ed.): Volkskundler in und aus Österreich (unter Berücksichtigung von Südtirol). Wien 1987, 124; Moser, O.: Dr. E. Z.-S. zum Gedenken. In: Die Kärntner Landsmannschaft (1993) H. 5, 13⫺ 15; Zenker, E.: Mein Lebenslauf. In: Cammann, A./ Karasek, A.: Ungarndt. Volkserzählung aus dt. Siedlung im altung. Raum 1. Marburg 1982, 351⫺354; cf. auch Völkische Wiss. ed. W. Jacobeit/H. Lixfeld/ O. Bockhorn (in Zusammenarbeit mit J. R. Dow). Wien/Köln/Weimar 1994, 508. ⫺ 2 Starzacher, E.: Das Märchen und sein Erzähler. Ein Beitr. zur Wesenserkenntnis des Märchens vom Überlieferungsträger her. Diss. (masch.) Wien 1937. ⫺ 3 Emmerich, W.: Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforschung im Dritten Reich. Tübingen 1968, 246⫺248. ⫺ 4 Zenker (wie not. 1) 352. ⫺ 5 cf. Fata, M.: Rudolf Hartmann. Das Auge des Volkskundlers. Fotowanderfahrten in Ungarn im Spannungsfeld von Sprachinselforschung und Interethnik. Tübingen 1999, 47. ⫺ 6 Cammann/Karasek (wie not. 1) 339⫺350. ⫺ 7 cf. Mindler, U.: „ … obwohl ich überhaupt keine Zugeständnisse gemacht habe und meine gesamtdt. Einstellung den Fachkollegen durchaus bekannt ist …“ Anmerkungen zu Karl Haiding (1906⫺1985). In: ÖZfVk. 113,2 (2010) 179⫺202, hier 184. ⫺ 8 Moser (wie not. 1) 14; Jacobeit u. a. (wie not. 1) 508. ⫺ 9 cf. Z.-S., E.: Das Märchen vom Senavogel. In: Carinthia 129 (1939) 311⫺320; ead.: Der Senavogel und andere Kärntner Märchen. Klagenfurt 1975. ⫺ 10 ead. (wie not. 1) 352. ⫺ 11 ead.: Lebendiges Märchen. Eine dt. Märchenerzählerin aus Ungarn. In: Wiener Zs. für Vk. 49 (1939) 1⫺28; ead.: Ein Wiener Märchen vom „Goldvogel Phönix“. ibid. 50 (1940) 1⫺11; ead.: Eine dt. Märchenerzählerin aus Ungarn. Mü. 1941; ead.: Ein ungarländ. dt. Märchen vom Goldenen Vogel und sein Erzähler. In: Dt. Vk. 4,4 (1942) 185⫺190; ead.: Junges Volk, alte Überlieferung. ibid. 5,2 (1943) 58⫺ 62. ⫺ 12 cf. Haiding, K.: Von der Gebärdensprache der Märchenerzähler (FFC 155). Hels. 1955. ⫺ 13 cf. allg. Z.-S. 1941 (wie not. 11) 7⫺49; ead.: Märchen aus dem Schildgebirge. Dt. Erzählgut aus Ungarn. Klagenfurt 1986, 97⫺141. ⫺ 14 Starzacher, E.: Lebendige Märchenpflege im Schildgebirge und im Bakonyer Wald. In: Neue Heimatbll. 3,1⫺2 (1938) 90⫺ 100, hier 90 sq. ⫺ 15 cf. Emmerich (wie not. 3) 248. ⫺ 16 Z.-S., E.: Es war einmal … Dt. Märchen aus dem Schildgebirge und dem Buchenwald. Wien 1956; ead. (wie not. 13).
Freiburg/Br.
Elisabeth Fendl
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Zensur
Zensur (von lat. censura) bedeutete in röm. Zeit Prüfung, Beurteilung, aber auch strenge sittliche Haltung; seit 366 a. Chr. n. bezeichnete Z. ein obrigkeitliches Verfahren zur Vermögenseinschätzung und Sittengerichtsbarkeit, das vom Zensor ausgeübt wurde1. Wenngleich Z. bereits im ZA. handschriftlicher Publikation ausgeübt wurde, entstand mit der Erfindung des Buchdrucks und der daraus resultierenden größeren Verbreitung von Schrifttum in anderem Ausmaß als bisher ein verstärkter Bedarf der Kontrolle und Überwachung von Druckerzeugnissen. Diese kann definiert werden als „Behinderung, Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen vor oder nach ihrer Publizierung“2. Gegenstand obrigkeitlicher, d. h. sowohl staatlicher als auch kirchlicher Z. waren und sind stets die drei wichtigsten Konfliktfelder Politik, Religion und Moral. Im Deutschen wurde das Wort Z. erst im 17. Jh. heimisch. Die Einführung der Z. des Schrifttums begann in Deutschland allerdings bereits 1485/86 im Bistum Mainz, in Zusammenhang mit der dort entwickelten neuen Technik des Druckens mit beweglichen Lettern. 1496 schloß sich Kaiser Maximilian II. mit der Ernennung des ersten Superintendenten des Bücherwesens dem Z.verfahren an3. Im 16. Jh. wurde die Z. aufgrund des überragenden Einflusses der durch die J Reformation verbreiteten Druckerzeugnisse (J Flugblatt, Flugschrift) in den dt. Territorien weiter verschärft, vor allem durch die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit von Druckern auf Residenz- und Universitätsstädte. Die schärfste denkbare Art von Z. ist die Verweigerung der Druckerlaubnis, wie sie etwa von der röm.-kathol. Kirche durch den Index verbotener Druckschriften (erstmals 1559, auf dem 2. Vatikan. Konzil 1965 abgeschafft) praktiziert wurde4; sie gipfelt in der bereits für die Spätantike nachweisbaren Bücherverbrennung5. In England übernahm die Krone 1538 durch Einführung einer kgl. Vorzensur die Beaufsichtigung über alle Druckerzeugnisse, und 1557 erfolgte die Einrichtung einer Druckergilde (Company of Stationers), mit welcher die Niederlassung von Druckern zur Erleichterung der intensiven Z. des engl. Druckwesens auf London beschränkt wurde6.
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Aus der Sicht der Erzählforschung ist festzuhalten, daß die Z. im ausgehenden MA. und in der frühen Neuzeit fast ausschließlich auf politische und religiöse Inhalte abzielte7 und die dritte der genannten Kategorien ⫺ Moralvorstellungen, bes. zur Körperlichkeit (J Erotik, Sexualität; J Obszönitäten; J Skatologie) ⫺ eine geringe Rolle spielte. So wurden z. B. die oft derben Fastnachtspiele und Schwänke des Hans J Sachs kaum je beanstandet; der Autor grenzte aufgrund der Nürnberger Z.bestimmungen8 nur die Konfessionspolemik aus seinen Werken weitgehend aus. Ein 1581 von dem konservativen bayer. Juristen Johann Baptist Fickler veröffentlichter, aus dem Lateinischen übersetzter Traktat, der die teilweise derb erotische Unterhaltungsliteratur seiner Zeit (J Schwankbücher) stärker der Z. unterwerfen wollte, blieb Episode9. Ein Jh. später hatten Themenvielfalt, Umfang und Reichweite der Unterhaltungsliteratur weiter zugenommen, so daß z. B. der jesuit. Prediger W. J Rauscher kaum noch etwas dagegen ausrichten konnte, wenn er für die Z. der Krämerläden auf den Märkten (J Kolportageliteratur) plädierte und den Verkäufern drohte: „Wehe dem Verhandler solcher Bücher! Besser hienge jhnen ein Mülstain an dem Hals / und wurden in das Meer versenckt / als ein Truhen auff dem Rucken, warinnen sie die Aergernuß in die Stätt und Märckt überbringen.“10 Wie u. a. D. Breuer herausgearbeitet hat11, ist Z. immer im Zusammenhang mit den geltenden Normen und hist. Veränderungen in den Wertvorstellungen einer Gesellschaft zu sehen. Im Prozeß der J Zivilisation hat sich in der Neuzeit den Forschungen von N. Elias zufolge die Scham- und Peinlichkeitsschwelle in der europ. Gesellschaft stark zugunsten von Affektkontrolle und weitreichender Verhaltensregulierung verschoben12. Diese Vorgänge hatten u. a. auch starke Auswirkungen auf die Darstellung menschlicher Bedürfnisse in der gedruckten Lit. Sowohl in der Hochliteratur als auch in populären J Lesestoffen wurde etwa seit der Mitte des 18. Jh.s vor allem der gesamte Bereich der Erotik und Sexualität zum J Tabu und fiel damit der obrigkeitlichen Z. zum Opfer. Wie G. J Legman hervorhob, waren von dieser Tabuisierung jedoch Darstellungen aus dem Themenbereich Gewalt, Grau-
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samkeit, Folter, Mord und Totschlag nicht betroffen13, und dieser Zustand dauerte in den 1950er Jahren noch an: „three out of every four lines of fiction printed today […] are concerned with murder and death, very exactly described, while never daring to describe exactly the opposite acts of sexual intercourse and life, for fear of being called pornography and going to jail“14. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten in der Bill of Rights 1776 die Meinungs- und Pressefreiheit als Grundrecht deklariert, und auch in der Frz. Revolution war die Aufhebung der staatlichen Z. eine der Hauptforderungen. In Deutschland und Österreich dagegen führten die Karlsbader Beschlüsse von 1819 zu einer Verschärfung des Z.wesens. Im Vormärz wurden daher Forderungen nach Einführung der ,Preßfreiheit‘ immer lauter. Ein Flugblatt von 1847 aus Baden postulierte in § 2: „Wir verlangen Preßfreiheit; das unveräußerliche Recht des menschlichen Geistes, seine Gedanken unverstümmelt mitzuteilen, darf uns nicht länger vorenthalten bleiben.“15 Nach der Revolution von 1848 wurde die Z. in Deutschland und Österreich vorübergehend gesetzlich aufgehoben, was zu einem starken Anschwellen von Publ.sorganen mit freiheitlichem Gedankengut führte. In einer Flugschrift von 1848 wird dies mit Begeisterung begrüßt: „Mit der Zensur ist’s aus, aus für immer. Gott sei’s gedankt.“16 In der Erklärung der Dt. Grundrechte in der Paulskirchenversammlung in Frankfurt am Main am 28. 3. 1849 heißt es: „Die Pressefreiheit darf unter keinen Umständen durch vorbeugende Maßnahmen, namentlich durch Zensur […] beschränkt, suspendiert oder aufgehoben werden“17. Dieser Verfassungsentwurf trat nie in Kraft, und in der Folge wurde die neue Pressefreiheit erneut zahlreichen Einschränkungen unterworfen. Bes. Medien für die Information und Unterhaltung einer breiten Öffentlichkeit waren wie in der ersten Hälfte des 19. Jh.s den staatlichen Z.maßnahmen ausgesetzt18. Zensiert wurde die Produktion von populären Bildern, bes. Bilderbogen, Karikaturen, öffentliche Zurschaustellungen durch Guckkasten, Panoramen, Bänkelsang, Drehorgelspieler, Puppentheater. Am stärksten betroffen war die gesamte, ständig expandierende Produk-
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tion von Lieddrucken und populären Lesestoffen19. R. J Schenda hat in seiner Sozialgeschichte der populären Lesestoffe dem Z.wesen des 19. Jh.s ein umfangreiches Kap. gewidmet20, in welchem er das dichte Netz der Z.bestimmungen in Deutschland und teilweise auch in Frankreich daraufhin befragte, wie Z. organisiert war und wie der staatliche Z.wahn sich in oft grotesker Weise niedergeschlagen hat. Zu den Auswirkungen der Z. auf dt. Leihbibliotheken und Lesegesellschaften hat E. H. J Rehermann geforscht21. Auch die J Kinder- und Jugendliteratur war zum geistig-seelischen Schutz der unmündigen Mitglieder der Gesellschaft von staatlicher Beaufsichtigung, Bevormundung und Unterdrückung betroffen22. Vom Nützlichkeitsprinzip der Spätaufklärung ausgehend verweigerte die staatliche Z. im 19. Jh. allem die Existenzberechtigung, was dem kontinuierlichen Funktionieren des Staatswesens zuwiderlief 23. Was die Staatsbürger aus geduldeter, nützlicher Lektüre lernen sollten, „war fromm zu denken, praktisch zu handeln, von Abenteuern nur zu träumen, mit ihrem Los zufrieden zu sein und Befehle auszuführen“24. Erst die in Weimar am 11. 8. 1919 beschlossene Verfassung des Dt. Reiches enthielt in § 118 den Grundsatz: „Eine Zensur findet nicht statt.“25 Der gleiche Satz ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 in § 5 verankert, und ähnliches trifft auf viele andere freiheitlich-demokratisch verfaßte Staaten zu. Aber selbst in den Demokratien ist Z. kein unbekanntes Wort. Z. der öffentlichen Meinung durch Überwachung der Medien kann in Kriegs- und Krisenzeiten jederzeit wieder in ihr Recht eintreten, und in autoritär regierten Staaten ist sie immer noch die Regel26. Allerdings ist im ZA. der immer intensiver werdenden elektronischen Kommunikation eine flächendeckend wirksame Kontrolle der öffentlichen Meinung heute mit ständig wachsendem Aufwand verbunden. Von der durch Staats- oder Kirchenorgane ausgeübten Beaufsichtigung der Druckerzeugnisse und ihrer Hersteller ist die Selbstzensur zu unterscheiden27. Sie führt dazu, daß die Urheber von für die Öffentlichkeit bestimmten Äußerungen der obrigkeitlichen Z. zuvorkommen (,die Schere im Kopf‘28). Ein frühes Beispiel für den Wandel der gesellschaftlichen
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Zensur
Einstellung zur Sexualität in Erzählungen ist die Slg J Tausendundeine Nacht. In ihrer arab. Heimat waren ihre offenherzige Sprache und unverhüllte Darstellung von Intimitäten traditionsgemäß geduldet, wenn auch von den Gebildeten verachtet. Die Geschichte der Z. dieses Werkes beginnt mit A. J Galland, der in seiner frz. Übersetzung (1704⫺15) sämtliche Passagen ausließ, die er mit dem Geschmack seiner Leser für unvereinbar hielt. Gleiches wiederholte sich ein Jh. später im viktorian. prüden Großbritannien bei dem engl. Übersetzer E. W. Lane, der ganze Geschichten, Gedichte und längere Passagen unterdrückte29. In Ägypten wurden 1985 3000 Exemplare einer unzensierten, in Beirut gedr. Ausg. konfisziert30. Die seit J Herder im ausgehenden 18. Jh. in vielen europ. Ländern in Gang gekommene Sammeltätigkeit von Volkstraditionen aus mündl. Überlieferung folgte den durch den Zivilisationsprozeß vorgegebenen Normen. Die Sammler hatten in den seltensten Fällen das gesamte Repertoire von Traditionsträgern ⫺ Erzählern und Sängern ⫺ in allen seinen Facetten im Auge, sondern ließen alles, was mit den gesellschaftlichen Konventionen unvereinbar schien, außer Betracht. Und da es in den meisten Fällen Gelehrte waren, die mit den Informanten zusammentrafen, unterlagen letztere der Präventivzensur der Gemeinschaft31, übten ihrerseits Selbstzensur und präsentierten oft nur die harmloseren Teile ihres Repertoires32. So sind erotische, obszöne, fäkalische oder sonstwie anstößige Themen in den Standardsammlungen des 19. Jh.s weitgehend ausgeblendet. Die Editionspraxis kann durch das Wortfeld Selektion, Verharmlosung, Unterdrückung, Ästhetisierung, Pädagogisierung etc. charakterisiert werden. Verständlich wird dieser Umgang mit den Sammelergebnissen aufgrund der ideologischen Prämissen, unter denen gesammelt wurde: Seit J. und W. J Grimm galten Volksüberlieferungen als wertvoller Teil des nationalen Erbes und als Qu. für die Mythologie der Vorzeit. Die J Kinderund Hausmärchen sind das beste Beispiel für die fortschreitende Anpassung (J Bearbeitung) von Folkloretexten an die Normen der bürgerlichen Gesellschaft33. Die für das Lesepublikum umgeformten Texte aus populärer Überlieferung wurden in
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den Rang von Lit. (in der Reihe Die Märchen der Weltliteratur [1912⫺2003] sogar in den der Weltliteratur) erhoben und dadurch zum Gegenstand der Lit.wissenschaft. Zur Frage der Sexualität im Märchen hat sich z. B. M. J Lüthi folgendermaßen geäußert: „Ebenso entwirklicht sind im Märchen die sexuellen und erotischen Stoffkerne. Brautwerbung, Hochzeit, Ehe, Wunsch nach einem Kinde sind zentrale Motive des Märchens. Aber jede eigentliche Erotik fehlt.“34 Lüthi hat für die Ausblendung bzw. Verharmlosung sexueller und anderweitig anstößiger Motive den Begriff der J Sublimation geprägt. Zu seinen Ergebnissen konnte er allerdings nur kommen, weil er sich im wesentlichen der KHM und der Ausg.n in der Reihe Die Märchen der Weltliteratur als Qu.n bediente. F. J Karlinger hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß jemand, der seine Kenntnisse lediglich aus der Lektüre von bearbeiteten Märchentexten bezieht, die wahren Lebensbereiche des Märchens (J Biologie des Erzählguts) nicht kennt und zu falschen Schlüssen neigt. Aufgrund seiner Feldforschungserfahrungen in vielen Teilen der Romania stellte er heraus, daß z. B. der J Koitus in seinen verschiedensten Erscheinungsformen ein wesentlicher Bestandteil des in ,freier Wildbahn‘ unter Erwachsenen erzählten Märchens war und ist35. Aber es gab unter den Herausgebern von Texten aus mündl. Überlieferung auch Ausnahmen. Ein Beispiel für die gesamtheitliche Erfassung eines Balladen- und Liedrepertoires bietet der volkskundliche Teil des Werkes von R. Burns (1759⫺96). Burns hat in seiner schott. Heimat alles aufgezeichnet, was ihm vorgesungen wurde, und dabei auch vor derben oder obszönen Stücken nicht haltgemacht. Erst die Nachwelt hat die von dem Verfasser selbst nicht geübte Z. nachgeholt. Seine Slg The Merry Muses of Caledonia erschien vollständig zum ersten Mal 1800 im Druck, aber in den zahlreichen Nachdr.en sind von den 85 von Burns gesammelten Texten durch die späteren Herausgeber insgesamt 35 als anstößig ausgesondert worden36. Die erste vollständige Ausg. (im Privatdruck) erschien erst wieder 1897, ein Jh. nach Burns‘ Tod. A. N. J Afanas’ev geriet aufgrund seiner Veröff.en frivoler Märchenerzählungen und nichtkanonisierter Heiligenlegenden mehrfach
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in Konflikt mit den Behörden des Zarenregimes und der kirchlichen Z.behörde; er sah sich daher gezwungen, seine mit obszönen und skatologischen Texten durchsetzte Märchensammlung Russkija zavetnyja skazki ([Russ. geheime Märchen]. Genf [1872]) im Ausland zu publizieren. Der in Norddeutschland tätige Märchensammler W. J Wisser hat einen Teil seiner Aufzeichnungen in einer Edition ,für Erwachsene‘ veröffentlicht, seine Texte aber selbst dort einer sorgfältigen Selbstzensur unterworfen, da er seinen weiblichen Lesern derbe Stücke nicht zumuten wollte37. Der amerik. Sammler V. J Randolph trug bei seiner Herausgabe der in den Ozark Mountains aufgezeichneten mündl. Überlieferungen dem Puritanismus der amerik. Gesellschaft durch Selbstzensur Rechnung, indem er alles, was zur ,bawdy lore‘ gehörte, von der Publ. ausschloß und in einem eigenen Band vereinte. Für diesen konnte er lange keinen Verleger finden. Erst als durch amerik. Slgen mit freizügigen Inhalten wie die von R. Abrahams38 und B. Jackson39 der Boden bereitet war, konnte der Band 1976 u. d. T. Pissing in the Snow and Other Ozark Folktales erscheinen. In Europa hatten sich die Schranken für die wiss. fundierte Publ. erotischer und skatologischer Texte schon früher geöffnet. In Wien entstand ein von dem libertinistisch gesinnten, von S. J Freud beeinflußten Volkskundler F. S. J Krauss angeführtes Zentrum, das sich die Veröff. bis dato unterdrückter Volksliteratur zur Aufgabe gesetzt hatte. In den J Anthropophyteia und ihren Beiwerken sowie in ähnlichen Publ.sorganen wie den J Krypta´dia brach sich jetzt alles Bahn, was zuvor niemand herauszugeben gewagt hätte (cf. auch J Zote). Wenngleich der Wagemut und die Initiative dieser Forscher anerkennenswert sind, leisteten sie aus wissenschaftshist. Sicht, indem sie nur das Erotische, Obszöne, Skatologische und Perverse zur Geltung kommen ließen, auch einen Beitr. zur Verfälschung von Volksüberlieferungen. Wenn Legman in der Etablierung einer erotischen Lit. eine Reaktion auf die Schaffung einer nichterotischen Lit. sieht40, gilt dies auch für die Produktion von Texten der Volksüberlieferung. 1 Kanzog, K.: Z. In: RDL 3 (32003) 891⫺894, hier 891. ⫺ 2 Breuer, D.: Geschichte der literar. Z. in Deutschland. Heidelberg 1982, 9. ⫺ 3 ibid., 23 sq.;
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cf. Eisenhardt, U.: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Hl. Röm. Reich Dt. Nation (1496⫺1806). Karlsruhe 1970. ⫺ 4 Wolf, H.: Index: Der Vatikan und die verbotenen Bücher. Mü. 22006; cf. z. B. Senn, D.: „Le piacevoli Notti“ (1550/53) von Giovan Francesco Straparola, ihre ital. Editionen und die span. Übers. „Honesto y agradable Entretenimiento de Damas y Galanes“ (1569/81) von Francisco Truchado. In: Fabula 34 (1993) 45⫺65. ⫺ 5 Verweyen, T.: Bücherverbrennungen. Heidelberg 2000. ⫺ 6 Voss, V.: Die Entwicklung der Z. in England von der Einführung des Buchdrucks bis 1640. Magisterarbeit Düsseldorf 1998, 35⫺43. ⫺ 7 Brückner, W.: Die Gegenreformation im politischen Kampf um die Frankfurter Buchmessen. Die kaiserliche Z. zwischen 1567 und 1619. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 48 (1962) 67⫺86. ⫺ 8 Müller, A.: Z.politik der Reichsstadt Nürnberg. In: Mittlgen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 49 (1959) 66⫺169; Hampe, T.: Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler im ZA. der Spätgotik und der Renaissance 1⫺3. Wien/Lpz. 1904. ⫺ 9 Fickler, J. B.: Von Verbot vnnd auffhebung deren Bücher und Schrifften / so in gemain one nachtheil / vnnd verletzung des gewissens / auch der frumb vnd erbarkeit / nit mögen gelesen oder behalten werden. Mü. 1581; cf. Breuer (wie not. 2) 42⫺47. ⫺ 10 Rauscher, W.: Oel und Wein Deß Mitleidigen Samaritans Für die Wunden der Sünder 1. Dillingen 1689, 184; cf. Moser-Rath, E.: Lesestoff fürs Kirchenvolk. In: Fabula 29 (1988) 48⫺72. ⫺ 11 Breuer (wie not. 2) 12. ⫺ 12 Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation 1⫺2. Ffm. 1997, hier t. 1, 75⫺85; t. 2, 408⫺420. ⫺ 13 Legman, G.: Love & Death. A Study in Censorship. N. Y. 1949, 10⫺ 24. ⫺ 14 id.: The Horn Book. Studies in Erotic Folklore and Bibliogr. New Hyde Park, N. Y. 21966, 76. ⫺ 15 Obermann, K.: Flugblätter der Revolution. B. 1970, 47. ⫺ 16 Marbach, O.: Was heißt Preßfreiheit? Ein offener Brief an Jedermann. Lpz. 1848, 21. ⫺ 17 Kemper, G. H.: Pressefreiheit und Polizei. B. 1964, 21. ⫺ 18 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Ffm. 3 1988, 91. ⫺ 19 Verz. derjenigen Druckschriften, anderen Schr. und Bildwerke, welche von preuß. Behörden […] zum Feilbieten im Umherziehen nicht zugelassen worden sind. B. 1908. Nachträge 1⫺10 (1909⫺17). ⫺ 20 Schenda (wie not. 18) 91⫺141. ⫺ 21 Rehermann, E. H.: Zentralisierungs- und Verschärfungstendenzen bei der Handhabung des Z.gesetzes gegenüber Leihbibl.en und Leseges.en im Königreich Hannover von 1831⫺1848. In: Wolfenbütteler Schr. zur Geschichte des Buchwesens 3 (1980) 311⫺323. ⫺ 22 Schenda, R.: Z. der Kinder- und Jugendlit. In: Lex. der Kinder- und Jugendlit. 3. Weinheim/Basel 1984, 847⫺849. ⫺ 23 id. (wie not. 18) 133. ⫺ 24 ibid., 141. ⫺ 25 Giese, F.: Verfassung des Dt. Reiches vom 11. August 1919. B. 61925, 316. ⫺ 26 cf. z. B. Fischer, H.: „Spielbähn“ im Dritten Reich. Volksüberlieferung in der politischen Z. In: Volkskultur an Rhein und Maas 16,1⫺2 (1997) 22⫺33. ⫺ 27 cf. Marzolph, U.: Cultural Property and
Zentaur ⫺ Zentralafrikanisches Erzählgut
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the Right of Interpretation. Negotiating Folklore in the Islamic Republic of Iran. In: J. of Folklore Research 49,1 (2012) 1⫺24, hier 19; ferner id.: What Is Folklore Good for? ibid. 35,1 (1998) 5⫺16. ⫺ 28 Broder, H. M. (ed.): Die Schere im Kopf. Über Z. und Selbstzensur. Köln 21979. ⫺ 29 Lane, E. W.: The Thousand and One Nights, Commonly Called, in England, The Arabian Nights’ Entertainments 1⫺3. L. 1838⫺41. ⫺ 30 Marzolph/van Leeuwen 2, 515⫺ 517, hier 517; Grotzfeld, H. und S.: Die Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“. Dortmund 22012, 111, not. 1. ⫺ 31 Bogatyrev, P. G./Jakobson, R.: Die Folklore als eine bes. Form des Schaffens. In: Donum Natalicium Schrijnen. Nijmegen/Utrecht 1929, 900⫺913, hier 903. ⫺ 32 z. B. Rölleke, H.: Neue Ergebnisse zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm [1986]. In: id.: Die Märchen der Brüder Grimm. Qu.n und Studien. Trier 2000, 37⫺44, hier 42; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B. 2008, 27, 81, 249, 339 sq., 511. ⫺ 33 cf. Dollerup, C./Holbek, B./Reventlow, I./Rosenberg Hansen, C.: The Ontological Status, the Formative Elements, the „Filters“ and Existences of Folktales. In: Fabula 25 (1984) 241⫺265. ⫺ 34 Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Bern 71981, 65. ⫺ 35 Karlinger, F.: Erscheinungsformen und Funktionen sexueller Episoden im Zaubermärchen. In: Anales de la Universidad de Chile 17 (1988) 205⫺222. ⫺ 36 Legman (wie not. 14) 170⫺236, hier 170. ⫺ 37 Wisser, W.: Plattdt. Volksmärchen. Ausg. für Erwachsene. MdW 1914, XXVII sq. ⫺ 38 Abrahams, R.: Deep Down in the Jungle. Negro Narrative Folklore from the Streets of Philadelphia. Hatboro, Pa 1954. ⫺ 39 Jackson, B.: Get Your Ass in the Water and Swim Like Me. Cambr., Mass. 1974. ⫺ 40 Legman (wie not. 13) 75.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Zentaur J Fabelwesen Zentralafrikanisches Erzählgut 1. Allgemeines ⫺ 2. Mündl. Überlieferung: Dokumentation und Gattungen ⫺ 2.1. Märchen ⫺ 2.2. Lieder ⫺ 2.3. Sprichwörter und Rätsel ⫺ 2.4. Epos ⫺ 2.5. Erzählforschung
1 . All ge me in es. Die Großregion Zentralafrika (Z.) umfaßt den Osten des westafrik. Schilds sowie den Westen des Großen afrik. Grabenbruchs, beide südl. der Sahara gelegen. Zu ihr werden acht Staaten gerechnet: der Tschad, die Zentralafrik. Republik, Kamerun, Äquatorialguinea, Gabun, der Inselstaat Sa˜o Tome´ und Prı´ncipe im Golf von Guinea, die Republik Kongo (Kongo-Brazzaville) und die
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Demokratische Republik Kongo (Kongo-Kinshasa, früher Zaı¨re). Im Süden wird Z. begrenzt von Angola und Sambia, im Osten vom Sudan und der Region der Großen Seen mit den Anrainerstaaten Burundi und Ruanda, im Westen von Nigeria. Z. hat nur einen geringen Anteil an Meeresküsten; sein Kontinentalbereich war bis Ende des 19. Jh.s wenig erschlossen1. Im 20. Jh. grenzten hier verschiedene Kolonialreiche aneinander, deren größtes frz. war: Die frz. Gebiete Gabun, Mittel-Kongo (heute Republik Kongo), Tschad sowie Ubangi-Schari (heute Zentralafrik. Republik) bildeten die Kolonie Frz.-Äquatorialafrika (1910⫺58). Daneben gab es belg. (Demokratische Republik Kongo), dt. (Kamerun), port. (Sa˜o Tome´ und Prı´ncipe) und span. (Äquatorialguinea) Kolonialgebiete. Nach der Unabhängigkeit blieben die Sprachen der Kolonisatoren offizielle Landessprachen. Die in Z. gesprochenen einheimischen Sprachen2 gehören vor allem zu den Niger-KongoSprachen, von denen hier drei Gruppen vertreten sind: die Adamawa-Ubangi-Sprachen im Norden, die bantoiden Sprachen in Südkamerun und die Bantusprachen in der äquatorialen Waldzone. Südl. des Tschad-Sees gibt es auch afroasiat. und hamito-semit. Sprachen. Mehrere der einheimischen Sprachen haben den Status von Nationalsprachen erlangt, so das Sango in der Zentralafrik. Republik, das Lingala, Kikongo, Swahili und Tshiluba in der Demokratischen Republik Kongo sowie das Lingala und Kikongo in der Republik Kongo. Einige der Sprachen sind wichtige zentralafrik. Verkehrssprachen; das Kikongo, die Verkehrssprache der beiden Kongo-Republiken, das auch in Angola und Gabun gesprochen wird, zählt nahezu zehn Millionen Sprecher; das außer in den beiden Kongo-Republiken auch in der Zentralafrik. Republik und in Angola benutzte Lingala hat etwa 30 Millionen Sprecher. 2 . M ün dl . Ü be rl ie fe ru ng : D ok um en t at io n u nd Ga tt un ge n. Material zur mündl. Überlieferung Z.s findet sich sowohl in allg. afrikanistischen Bibliogr.n3 als auch in Werken, die sich mit bestimmten zentralafrik. Kulturen befassen4. Einige hauptsächlich westafrik. Kulturen behandelnde thematische
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Studien, z. B. über das Kind5, die Ehe6, die ,Schwierige‘ (la fille difficile)7 oder den Erzähltyp AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände8, enthalten auch Analysen zu zentralafrik. Kulturen. Auch nach Einführung von Schriftsystemen für manche der zentralafrik. Sprachen im 19. Jh. besitzt die mündl. Überlieferung in Z. einen hohen Stellenwert9. Dabei handelt es sich teils um Allgemeingut, wie Märchen, Sprichwörter, Rätsel und Lieder, teils um Wissen, das von Spezialisten tradiert wird, wie Genealogien10, Epen oder die Texte bestimmter Rituale. Die Klassifizierung und Erfassung von Gattungen der zentralafrik. Überlieferung sind allerdings überaus kompliziert, denn einerseits weichen die Kategorien bei verschiedenen Kulturen voneinander ab, andererseits entsprechen sie selten den von ausländischen Forschern eingebrachten oder vorgeschlagenen Begrifflichkeiten11. Wenngleich neuere Forschungen systematisch bemüht sind, die mündl. Überlieferung der zentralafrik. Kulturen umfassend zu dokumentieren, bleibt eine entsprechende Analyse meist noch zu leisten, und die Dokumentationen sind je nach Kultur recht ungleichmäßig. Die im folgenden verwendeten Gattungsbezeichnungen Märchen, Lied, Sprichwort, Rätsel und Epos müssen daher mit Vorbehalt benutzt werden. 2 .1 . M är ch en. Für Märchen, die am besten belegte Gattung der zentralafrik. Überlieferung, hat W. Lambrecht 1967 einen ersten Typenkatalog auf relativ begrenzter Materialbasis vorgelegt12. Jede zentralafrik. Ethnie hat ihr eigenes Repertoire an Märchen. Diese werden von allen Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaft erzählt, nie von spezialisierten Überlieferungsträgern13. Publ.en liegen meist nur in (frz.) Übers. vor (Kamerun14, Zentralafrik. Republik15, Gabun16, Tschad17, Demokratische Republik Kongo18), manchmal auch zweisprachig (Kamerun19, Zentralafrik. Republik20). Letzteres gilt bes. für Publ.en der Reihen Fleuve et Flamme des Conseil Internat. de la langue franc¸aise (seit 1977)21 und Contes et le´gendes des mondes des Pariser Verlagshauses L’Harmattan, die sich bes. an Kinder richtet22. Anscheinend werden Märchen in Z. nicht wie in vielen westafrik. Gesellschaften als ,Lügen‘ aufgefaßt23, sondern fast immer als ,Er-
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zählungen der Vergangenheit‘24. Diese Vergangenheit ist jedoch nicht hist. Art, sondern bezieht sich eher auf ein mythisches Universum, das kurz vor Beginn der heutigen Welt existierte. Zentralafrik. Märchen setzen häufig Tierfiguren in Szene, die sich wie Menschen verhalten. Sie inszenieren zudem oft den Gegensatz zwischen einem intelligenten und listigen sowie einem dummen Handlungsträger. Die Gegensatzpaare sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Gegenüber Westafrika, wo zwei Tiere das Monopol für Klugheit zu besitzen scheinen ⫺ die J Spinne (J Anansi) und der J Hase25 ⫺ ist in Z. die Intelligenz unterschiedlich verteilt: Bei den Mafa in Nordkamerun steht dem schlauen Eichhörnchen der dumme Schwimmkäfer gegenüber26, bei den Uldeme dagegen der menschliche Trottel Abaga27. Im Waldgebiet der Zentralafrik. Republik treibt bei den Ngbaka-ma’bo die J Schildkröte ihr Spiel mit dem Panther28, während bei den Pygmäen der Held eine Zwergantilope ist29. Bei den in der Savanne lebenden Gbaya ist die tierische Intelligenz auf mehrere Vertreter kleiner Arten wie Schildkröte, Hase, Eichhörnchen oder Zwergantilope verteilt; diese behalten stets die Oberhand über die großen Tiere wie Panther, Löwe, Elefant, die ihrerseits immer die Verlierer sind30. Allerdings ist auch in den meisten zentralafrik. Überlieferung die Spinne31 eine der Hauptfiguren von Märchen. Sie ist der J Kulturheros der Märchen der Gbaya32, der sich in gleicher Weise der Intelligenz des Kindes (Entdeckungshunger, Erfahrungsbegierde) wie des Erwachsenen (List) bedient und als Gegenspieler der bösen Gottheit Gbason sowie als Verteidiger der Menschen auftritt33. Sou, der Kulturheros der Märchen der Sara, ist im Verhalten der Spinne vergleichbar34. Für die Azande hat E. Evans-Pritchard die Spinne als J Trickster bezeichnet35. Die Spinne heißt To oder Seto bei den Ngbaka-ma’bo und den Manza, Tule bei den Gbanzili und den Nzakara36, Tole bei den Monzombo und den Isongo, Mbai bei den Yakoma, Toro oder Tere bei den Banda-Gruppen und Wanto bei den Gbaya. In zentralafrik. Märchen erscheinen auch phantastische Wesen ⫺ monströse Verschlingergestalten, Fabeltiere ⫺ und menschliche Fi-
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guren, die einerseits typisierte Wesen wie die häufig vorkommenden Aussätzigen, seltener die in den Märchen der Banda der Zentralafrik. Republik begegnenden Bruchleidenden37, sind oder andererseits als einzigartig und außergewöhnlich gekennzeichnet werden, wie das Holzhammerkind, das Stockmädchen oder das Rundkopfkind38. Die Märchen der Tupuri und der Mbaye, einer Untergruppe der Sara, erzählen ausgiebig von Hexern und Hexen39. Dagegen scheint die Figur des in Westafrika äußerst präsenten ,Enfant terrible‘40 in Z. marginal zu sein bzw. ganz zu fehlen. Wenngleich das Leben im Märchen vergleichbare Züge wie das Alltagsleben aufweist, sind die erzählten Ereignisse meist außergewöhnlicher Art. Sie gehören einem Bereich der Phantasie an, der als Teil einer fernen, außerhalb der Zeit liegenden Vergangenheit dargestellt wird. Demgegenüber verweisen gelegentlich vorkommende hist. Erzählungen auf eine ganz bestimmte Zeit; dies bringen etwa die Uldeme zum Ausdruck, indem sie solche hist. Erzählungen immer mit den Worten ,Was sich zur Zeit von … zutrug‘ einleiten41. Die Entwicklung moderner Technologien, bes. des Internets, macht das dokumentierte Erzählgut Z.s weltweit zugänglich und ermöglicht die großflächige mündl. Verbreitung von Märchen in den einheimischen Sprachen. Allerdings sind die im Internet publizierten Quellen hinsichtlich ihrer Zusammenstellung, Transkription und Übersetzung nur bedingt verläßlich. 2 .2 . L ie de r. In einer speziellen Form der Märchen, die man als J Cante fables bezeichnen könnte, spielen Lieder eine wichtige Rolle42; darüber hinaus machen Musik und Gesang einen wesentlichen Teil der Epen aus. Auch als separate Gattung ist das Liedgut in Z. von großer Bedeutung. Als Liedgattungen sind u. a. Arbeits-, Initiations-, Schlaf- und Festlieder sowie Trauergesänge zu unterscheiden ⫺ fast jeder Anlaß des öffentlichen oder privaten Lebens kann mit einem Lied begleitet werden. Die bei den Punu in Gabun gelegentlich bei Trauungen oder Urteilsverkündungen vorgetragenen Lieder erlauben eine Interaktion zwischen Vortragendem und Publikum43. Ein solcher Wechselgesang zwischen Erzähler
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und Zuhörern wird oft auch bei den Liedeinlagen der Märchen praktiziert. Gesungene Gebete44, Zaubergesänge, Schlaflieder oder Initiationslieder45 basieren teils auf feststehenden Repertoires, teils werden sie frei gestaltet ⫺ z. B. die von Männern gepflegten ,Lieder zum Denken‘ bei den Gbaya46 oder die Lieder zur Zither bei den Ngbaka ma’bo. Mehrere Studien wurden den Liedern der Nzakara gewidmet47, bes. solchen, die lange Gedichte bilden und zur Harfe vorgetragen werden48. Gut untersucht sind auch die polyphonen Gesänge der Aka-Pygmäen49 und der Baka-Pygmäen50. 2 .3 . S pr ic hw ör te r u nd Rä ts el. Die Kurzformen Sprichwort und Rätsel werden von ihren Trägern meist in feststehender Form memoriert. Beide können nur auf der Grundlage einer spezifischen kulturellen Bildung entschlüsselt werden. Sofern diese Genres in einer Kultur klar voneinander unterschieden werden, ist das Rätsel spielerischer gestaltet; das Sprichwort hat demgegenüber eine Aussagekraft, der in der betr. Kultur großer Wert beigemessen wird. Rätsel bilden eine literar. Gattung mit einem mehr oder weniger festen Repertoire51. Sie dienen zur Zerstreuung der Jugendlichen, Jungen wie Mädchen; dabei werden Bilder formuliert, die kulturimmanent verständliche Konzepte zum Ausdruck bringen. Sprichwörter sind in allen Kulturen Z.s gut belegt. Ihre Unters. gestaltet sich bes. deshalb schwierig, da sie wesenhaft der unmittelbar gesprochenen Kommunikation angehören. Außer einigen Sammlungen ⫺ z. B. von Manza-52 und Vili-Sprichwörtern53 ⫺ gibt es diverse Studien über ihren Gebrauch, bes. bei den Gbaya54, den Vute55 und den Azande56. Die Azande pflegen darüber hinaus komplexe indirekte Redeweisen, die es ihnen ermöglichen, je nach Situation auf wörtliche oder übertragene Bedeutungen Bezug zu nehmen57. 2 .4 . E po s. Epen werden in Z. von spezialisierten Überlieferungsträgern tradiert; man findet sie nur in bestimmten Kulturen58. Das Epos der Fang (Kamerun/Gabon), von dem mehrere Versionen existieren, wird mit dem Saiteninstrument mvet(t) begleitet und daher gewöhnlich ebenfalls als mvet bezeichnet59. Es
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erzählt von dem in einer mythischen Vorzeit angesiedelten Konflikt zwischen dem unsterblichen Volk der Engong und dem sterblichen Volk der Oku. Während in den mündl. Realisierungen des Epos keine zwangsläufige inhaltliche Entwicklung stattfindet, gibt es ein relativ festgelegtes Repertoire von wiederkehrenden Handlungsträgern und narrativen Topoi. Eine zentrale Rolle spielen Akte der Magie, deren überzeugende Performanz für den Erzähler eine Herausforderung darstellen60. Andere zentralafrik. Epen sind eher genealogische oder Gründungserzählungen, z. B. die Olende- und Nzebi-Epen der Obamba in Gabun61, das Mpomo-Epos der Ndzimu im Osten Kameruns62, Nsong’a Lianja, ein Epos der Mongo in der Demokratischen Republik Kongo63, das Mwindo-Epos der Nyanga in der Demokratischen Republik Kongo64 oder das Mumbwang-Epos der Punu in Gabun65. 2 .5 . E rz äh lf or sc hu ng. Ein überregionales Forschungszentrum, das sich mit dem Studium des zentralafrik. Erzählguts beschäftigt, ist das Centre internat. de recherche et de documentation sur les traditions et les langues africaines. Das Zentrum wurde 1977 durch eine von der UNESCO sowie der Organisation für afrik. Einheit unterstützte Initiative verschiedener zentralafrik. Staaten gegründet und hat seinen Sitz in Yaounde´, Kamerun. Schwerpunkt der Tätigkeit des Instituts sind das Studium von Geschichte, Sprachen und kulturellem Erbe der Region, wozu ausdrücklich auch die Erforschung der mündl. Überlieferung sowie der regionalen Sprachen gezählt wird. Zu den eher regionalen Forschungszentren gehört das 2004 gegründete Centre d’e´tudes en litte´rature gabonaise in Libreville, Gabun, das u. a. eine Abt. für afrik. Lit.en unterhält. Das Laboratoire universitaire de la tradition orale et des dynamiques contemporaines an der Omar Bongo-Univ. in Libreville beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Dokumentation und Erforschung musikalischer Traditionen in Gabun und dem südl. Kamerun. 1
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Zerberus ⫺ Zersagen, Zersingen
Doko. ⫺ 38 Colombel, V. de.: Contes oulde´me´s (Nord-Cameroun). Löwen u. a. 2005. ⫺ 39 Kleda (wie not. 14); Fortier, J.: Dragons et sorcie`res. Contes et moralite´s du pays Mbai-Moissala. P. 1974. ⫺ 40 Görög, V./Platiel, S./Rey-Hulman, D./Seydou, C.: Histoires d’enfants terribles (Afrique noire). P. 1980. ⫺ 41 de Colombel (wie not. 19) 75. ⫺ 42 Eno Belinga (wie not. 14); Bois, P.: Le Chant de chantefable chez les Evuzok du Sud Cameroun. In: L’Ethnographie 79 (1983) 43⫺68. ⫺ 43 Nzamickale, D.: L’Art oratoire chez les Bapunu du Gabon. Diss. Lyon 2012. ⫺ 44 Thomas (wie not. 20). ⫺ 45 Chants du Njembe chez les Ake´le´ du Gabon (im Internet). ⫺ 46 Dehoux, V.: Chants a` penser gbaya (Centrafrique). P. 1986; id./Monino, Y./Roulon, P.: Musique gbaya, Chants a` penser. P. 1977 (1992) (Schallplatte); Dehoux, V./ Roulon, P.: Musique pour sanza en pays gbaya. Genf 1993 (Schallplatte und Begleitheft); iid.: Musique gbaya. Chants a` penser [2]. P. 1995 (CD und Text). ⫺ 47 Penel, J.-D.: Noms et chants des Zande du Haut Mbomou. Bangui 1974; Boyd, R./Ruiz, O. E.: El Kpazigi, un ge´nero de cancio´n femenina zande. In: Estudios africanos 7,14⫺15 (1994) 41⫺ 81. ⫺ 48 Dampierre, E. de: Satires de Lamadani. P. 1987; id.: Poe`tes nzakara. P. 1985. ⫺ 49 Arom, S.: Polyphonies et polyrythmies instrumentales d’Afrique Centrale 1⫺2. P. 1985; id.: Anthologie de la musique des pygme´es Aka. P. 2002 (2 CDs). ⫺ 50 Fürniss, S.: Le Syste`me pentatonique de la musique des pygme´es Aka (Centrafrique). Diss. P. 1992. ⫺ 51 Ngoura, C.: La Devinette ches les gens du „fleuve infini“. In: Graines de parole, puissance du verbe et traditions orales. Festschr. G. Calame-Griaule. P. 1989, 267⫺280; Roulon-Doko, P.: Les Devinettes en pays gbaya. In: Terrains d’Afrique. Festschr. F. Cloarec-Heiss. L. 2004, 121⫺135. ⫺ 52 Hoch, J.-P.: Recueil de proverbes manza 1⫺2. Bangui 1982. ⫺ 53 Mavoungou Pambou, R.: Proverbes et dictons du Loango en Afrique centrale 1⫺2. P. 1997/2000. ⫺ 54 Roulon, P./Doko, R.: La parole pile´e. Acce`s au symbolisme chez les Gbaya ’bodoe de Centrafrique. In: Cahiers de litte´rature orale 13 (1983) 33⫺49. ⫺ 55 Siran, J.-L.: Signification, sens, valeur. Proverbes et noms propres en pays voute´. In: Poe´tique 72 (1987) 403⫺429; id.: Rhetoric, Tradition and Communication. The Dialectics of Meaning in Proverb Use. In: Man N. S. 28,2 (1993) 225⫺242; id.: La Parole est une feˆte et les proverbes ne sont pas tristes. In: J. des Africanistes 67,2 (1997) 166⫺172. ⫺ 56 Pritchard, E.: The Zande Trickster [1963]. In: Peoples and Cultures of Africa. N. Y. 1973, 437⫺464; id.: Zande Proverbs. Final Selection and Comments. In: Man 64 (1964) 1⫺5. ⫺ 57 id.: Sanza, a Characteristic Feature of Zande Language and Thought. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 18,1 (1956) 161⫺180; Penel, J.-D.: Quelques Aspects du langage indirect chez les Zandes du Haut-M’Bomou. Bangui 1975; Buckner, M.: Zande. In: The Greenwood Enc. of World Folklore and Folklife 1. ed. W. M. Clements. Westport, Conn./L.
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2006, 227⫺233, hier 231. ⫺ 58 cf. allg. Belcher, S.: Central African Epics. In: MacDonald, M. R.: Traditional Storytelling Today. Chic./L. 1999, 6⫺8; Mulokozi, M. M.: The African Epic Controversy. With Reference to the ,Enanga‘ Epic Tradition of the Bahaya. In. Fabula 43 (2002) 4⫺17. ⫺ 59 Ndong Ndoutoume, T.: Le Mvett 1⫺2. P. 1970/75; id.: Le Mvet, l’homme, la mort et l’immortalite´. P. 1993; Pepper, H./Wolf, P. de: Un Mvet de Zwe´ Ngue´ma. Chant e´pique fang. P. 1972; Mallart Guimera, L.: Les Interludes du mvet de zwe` ngue´ma. In: J. des Africanistes 79,1 (2009) 209⫺240. ⫺ 60 Belcher (wie not. 58) 7. ⫺ 61 Okoumba-Nkoghe, M.: Olende´, une e´pope´e du Gabon. P. 1990; id.: Nze´bi (e´pope´e). Libreville 2001. ⫺ 62 Binam Bikoi, C.: Mpomo, le prince de la grande rivie`re. E´pope´e nzime´ du Cameroun. P. 2007. ⫺ 63 Boelaert, E.: Nsong’a Lianja. L’Epope´e des Nkundo. Bamanya 1986. ⫺ 64 Biebuyck, D. P.: The Epic as a Genre in Congo Oral Literature. In: Dorson, R. M. (ed.): African Folklore. Bloom. 1972, 257⫺273; id.: Hero and Chief. Epic Literature from the Banyanga (Zaı¨re Republic). L. A. 1978; id./Mateene, K. C.: Mwindo Epic from the Banyanga. Berk. 1989; iid.: Mwendo, une e´pope´e nyanga (R. D. Congo). P. 2002. ⫺ 65 Kouenzi-Mikala, J. T.: Mumbwanga ou l’e´pope´e des Bapunu. Diss. Lyon 1980.
Baulne-en-Brie
Paulette Roulon-Doko
Zerberus J Cerberus
Zersagen, Zersingen. Alle dt. Verben mit der Vorsilbe ,zer-‘ haben die negative Konnotation von Destruktion. Die hier behandelten Phänomene beziehen sich einerseits auf Erzählungen und andererseits auf Lieder. Der ältere Begriff ist das Zersingen. Als „fachausdruck für die formzerstörung“1 des J Volksliedes wurde dieser Terminus zuerst 1831 von J. von J Görres gebraucht, der in seinem Nachruf auf Achim von J Arnim dem Mitherausgeber von Des Knaben Wunderhorn ⫺ ebenso wie J Goethe in seiner WunderhornRez.2 ⫺ das Recht zugestand, „alte, zersungene Lieder, die Allen aber keinem Einzelnen mehr einzeln angehören, wieder herzustellen“3. Theodor Fontane nannte 1854 im Kommentar zu der von ihm ins Deutsche übertragenen Ballade Lord William und Schön-Margret ein Fragment dieses Liedes „die einzigen Ueberbleibsel einer seitdem nicht blos zersungenen, sondern völlig verlorengegangenen alten Ballade“4. Bei der im 19. Jh. in der Liedforschung vorherrschenden Suche nach der J
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Zersagen, Zersingen
Urform von Liedern ist es nicht verwunderlich, daß Umformungen durch den Volksmund vielfach als Entstellung, Verderbnis, Zerrüttung, Zerrissenheit, naiver Unsinn oder wunderliches Überspringen5 angesehen wurden; durch Eliminierung derartiger Abänderungen wollte man die Originalgestalt von Liedern und Balladen wiederherstellen. Die zweibändige Edition der Alten hoch- und ndd. Volkslieder (1844/45) von Ludwig J Uhland ist diesem Editionsprinzip verpflichtet. Auf den durch das Zersingen eintretenden Veränderungsprozeß von Liedern im Übergang von der Individual- zur Kollektivdichtung (J Rezeption) begründete J. Meier seine Studien über Kunstlieder im Volksmunde (1906). Er verfolgte an zahlreichen Beispielen die durch Mißverständnisse und Entstellungen hervorgerufenen Veränderungen von Liedtexten; allerdings vermied er den wertenden Begriff des Zersingens und formulierte statt dessen: „absichtslos werden die Lieder umgesungen […], zwecklos und unbewußt“6. H. J Naumann nannte den Prozeß des Zersingens von Liedern eine fortschreitende Anpassung an die ,primitive Gemeinschaftspsyche‘7. Seine Schülerin R. Dessauer stand mit ihrer Diss. über das Zersingen 1928 im Bann der Naumannschen Theorie vom J Gesunkenen Kulturgut. Auch sie wollte die Veränderungen im Volkslied psychol. erklären und auf die seelische Struktur der Liedträger zurückführen, die Teil der ,primitiven Gemeinschaft‘ seien8. In der Folge bahnte sich allmählich ein wertneutraleres Verständnis für die Überlieferungsvorgänge an9. W. Heiske behandelte ständisches Umsingen im erzählenden Lied und sah darin den positiven Beitr. der Liedträger zu einer Aneignung von Balladen durch Umformung10. Auch Meier betrachtete das Umsingen als „eine bedeutende und hoch zu wertende geistige Tätigkeit“11. Eine Systematik der Textveränderungen in der Liedüberlieferung hat E. Seemann vorgenommen, der zwischen destruktiven und konstruktiven Wandlungen unterscheidet und als wichtigste Parameter Gedächtnislücken, Mißverständnisse, Hörfehler und J Kontaminationen benennt12. Das Volkslied weist in Strophenform, Rhythmus, Reim und Melodie Elemente der J Stabilität auf. Die Veränderungen von Volkspoesie im Laufe ihrer mündl. Tradierung sind Aus-
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druck der J Variabilität13; sie gilt als das „positive Merkmal des Volksliedes“14. Allerdings sollte mehr als bisher zwischen unbeabsichtigten und absichtlich herbeigeführten Modifikationen differenziert werden. Die Volksprosa ist bei der Weitergabe in mündl. Überlieferung noch stärkeren Veränderungen unterworfen als das Volkslied, bes. sobald sie nicht mehr durch Erzählgemeinschaften (J Conduit-Theorie, J Selbstberichtigung) oder durch Buchlektüre (J Lesen) begleitet wird. Auf dieses Schicksal von Märchen, das durch Haltlosigkeit, aber zugleich auch Ungebundenheit und Freiheit charakterisiert sei, hat zuerst A. J Wesselski hingewiesen: „in dem Volksmunde löst sich das Märchen auf: das Märchen zerflattert“15. Zum Beweis stellte er zusammen mit G. Jungbauer bei Schülerinnen einer zweiten Klasse der Mädchenbürgerschule in Komotau einen Versuch an, in welchem er das Dornröschen-Märchen (AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit) im Unterricht unvorbereitet niederschreiben ließ, mit dem Ergebnis, daß das Märchen schon in der ersten Nacherzählung starke Spuren der Destruktion aufwies (J Experimentelle Erzählforschung)16. In der späteren Forschung hat man den Prozeß des Zersagens nicht mehr ausschließlich negativ bewertet. So mußte zwar auch M. J Lüthi zugeben, daß das Märchen von Laienerzählern vielfach abgewandelt, ,zerzählt‘ und dadurch verdorben wird, aber er würdigte auch den gegenläufigen Vorgang, daß Märchentexte auf diesem Weg „zurechterzählt, vervollkommnet und weiterentwickelt werden ⫺ von Laien für Laien“17. Lüthi fand im ,Zerzählen‘ ⫺ „Fehlleistungen im Lauf der mündl. Überlieferung“ ⫺ auch eine Erklärung für kompositionelle Mängel des Märchens, z. B. für funktionslos gewordene J blinde Motive18. Das Ergebnis des Zurechterzählens nannte er demgegenüber J Zielform. Lüthis Schülerin K. Horn hat fünf Merkmale des Zerfalls im traditionellen Erzählgut unterschieden und an den Märchenerzählungen ung. Erzählerpersönlichkeiten festgemacht: starke Aufschwellung bzw. Reduktion des Texts, Überwiegen der Subjektivität, Verlust der magischen Substanz und Auflösung des Sujets19. Zusammenfassend gilt für die Erzählforschung, was bereits Meier20 für die Volksliedforschung postuliert hatte: „Jede einzelne
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Zerstörung
Variante ist für sich schon ein Zeugnis menschlicher Art, menschlicher Kunst und menschlichen Versagens. Jede einzelne Variante, die vollkommenere ebenso wie die unvollkommenere, verdient es, befragt zu werden.“21 Das ,Versagen‘ bei der adäquaten Wiedergabe einer Volkserzählung hat Kurt Tucholsky in seiner satirischen Kurzgeschichte Ein Ehepaar erzählt einen Witz veranschaulicht22. Die Veränderungen von Lit. und Volksdichtung im dt. Sprachraum durch Verhören ist Gegenstand zweier populärer Slgen23. 1 DWb. 15, 770. ⫺ 2 Rez. J. W. Goethe in Jenaische Allg. Lit. Ztg 3 (1806) 137⫺148, hier 147; cf. Des Knaben Wunderhorn. Alte dt. Lieder 3. Gesammelt von A. von Arnim und C. Brentano. (Heidelberg 1808) ed. H. Rölleke. Stg. 1977, hier 377. ⫺ 3 Görres, J.: Gesammelte Schr. 15: Geistesgeschichtliche und politische Schr. der Münchner Zeit (1828⫺1838). ed. E. Deuerlein. Köln 1958, 304. ⫺ 4 Fontane, T.: Altengl. Balladen, frei übertragen. In: Argo (1854) 200⫺236, hier 233. ⫺ 5 Uhland, L.: Alte hoch- und ndd. Volkslieder mit Abhdlgen und Anmerkungen 3. Stg. 31893, 8 sq. ⫺ 6 Meier, J.: Kunstlieder im Volksmunde. Halle 1906, LXXXVIII. ⫺ 7 Naumann, H.: Grundzüge der dt. Vk. Lpz. 21929, 114. ⫺ 8 Dessauer, R.: Das Zersingen. Ein Beitr. zur Psychologie des dt. Volksliedes. Diss. Berlin 1928, 9⫺11; cf. Goja, H.: Das Zersingen der Volkslieder. Ein Beitr. zur Psychologie der Volksdichtung. In: Imago 6 (1920) 132⫺242. ⫺ 9 Wienker-Piepho, S.: Mißverständnisse als destruktives und produktives Element in der Liedforschung. In: Erzählen über Orte und Zeichen. Festschr. H. Gerndt/K. Roth. Münster u. a. 1999, 219⫺239, hier 230. ⫺ 10 Heiske, W.: Ständisches Umsingen im erzählenden Volkslied. In: Jb. für Volksliedforschung 6 (1938) 32⫺52. ⫺ 11 Meier, J.: Wege und Ziele der dt. Vk.forschung. In: Dt. Forschung. B. 1928, 7⫺35, hier 16 sq. ⫺ 12 Seemann, E./Wiora, W.: Volkslied. In: Dt. Philologie im Aufriß 2. B. 21960, 349⫺395, hier 362. ⫺ 13 Strobach, H.: Variabilität. Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen. In: Jb. für Volksliedforschung 6 (1966) 1⫺9. ⫺ 14 Bausinger (21980), 269. ⫺ 15 Wesselski, Theorie, 127. ⫺ 16 ibid., 131. ⫺ 17 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/Köln1975, 8. ⫺ 18 ibid., 78. ⫺ 19 Horn, K.: Wandlung und Auflösung traditionellen Erzählgutes im heutigen Dorf (Textanalysen). In: Märchenerzähler, Erzählgemeinschaft. ed. R. Wehse. Kassel 1983, 52⫺62, 177 sq. ⫺ 20 Meier (wie not. 6) XVII. ⫺ 21 Lüthi (wie not. 17) 210. ⫺ 22 Tucholsky, K.: G. W. 9. Reinbek 1975, 300⫺303. ⫺ 23 Hacke, A./Sowa, M.: Der weiße Neger Wumbaba. Kleines Hb. des
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Verhörens. Mü. 2004; iid.: Der weiße Neger kehrt zurück. Zweites Hb. des Verhörens. Mü. 2007.
Göttingen
Rolf Wilhelm Brednich
Zerstörung bezeichnet als Gegenbegriff zu Herstellung oder Errichtung (J Schöpfung) einen meist physischen Vorgang, der auf die teilweise oder völlige Vernichtung (Beschädigung, Verwüstung) von Sachen zielt; zurück bleiben Überreste wie J Asche, Ruinen1, Trümmer oder Wracks. In bezug auf Menschen bezeichnet Z. vorrangig die Vernichtung von Ansehen oder Existenz. In der internat. Erzählüberlieferung ist Z. ein häufiges Motiv2. Es findet sich vor allem in Epen, Sagen, Legenden, Exempla und hist. Liedern. Z. und ihre Folgen werden dabei in Abhängigkeit von ihrer Bedeutung für den Helden bewertet: Ist der Held von Z. bedroht oder gar ihr Opfer, ist sie angstbesetzt und stark negativ konnotiert; geht es hingegen um die J Schädigung des Gegenspielers oder um Z. zur Abwehr einer Gefahr, wird sie toleriert oder sogar positiv bewertet. Dies entspricht der zutiefst ambivalenten Einstellung des Menschen: Einerseits ist die existentielle J Angst vor der Z. des eigenen Lebens oder Besitzes tief verwurzelt; andererseits bringt die Z. fremden oder feindlichen Eigentums Gewinn, etwa durch Vernichtung von Konkurrenz. Auch eine lustvolle Komponente kann mit Z. verknüpft sein. Horror- bzw. Schauergeschichten spielen ebenso mit dieser Ambivalenz wie Kriminalgeschichten. Z. betrifft in Erzählungen weitestgehend Materielles: Zerstört wird die ganze Welt (J Eschatologie, J Jüngstes Gericht, J Weltzeitmythen), ein Königreich, eine Armee oder deren Waffen (Mot. J 621); vernichtet werden Ernte (Mot. K 2351.1.1) oder Vieh (Mot. K 1440; AaTh/ATU 1004: J Schwänze in der Erde), Städte (Troja [J Homer; J Trojan. Pferd]; Jerusalem [cf. J Josephus Flavius, Bellum Judaicum]; Mot. K 2354, P 711.4) und Dörfer, Burgen und Festungen (Mot. H 1562.12, M 356.1.4, Q 552.14.1), Brücken und Türme, Tempel und Kirchen (Mot. M 364.10), Schiffe und Fahrzeuge, Denkmäler und Statuen (Mot. D 1661.1) oder der ganze Besitz (Mot. K 1400, J 2129.2, Q 486, Q 595). Selte-
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Zerstörung
ner wird der Begriff Z. für Immaterielles und Abstraktes wie J Ehe3, J Freundschaft, J Liebe oder Stolz (Mot. D 1359.6) verwendet. Für die Vernichtung von Leben gibt es sehr unterschiedliche Ursachen; diese können von (personifiziert gedachter) J Krankheit (J Pest) über J Mord (J Gift, J Menschenopfer) oder J Selbstmord bis zu J Hinrichtung (J Enthauptung; J Ertränken, Ertrinken) reichen. Die Verwesung toter Körper (J Leiche, J Tod) kann metaphorisch wie real als ultimativer Ausdruck der Z. des Lebens verstanden werden. Bei den Verursachern von Z. kann zwischen Naturgewalten, übernatürlichen Wesen und Menschen unterschieden werden, wobei in vielen Fällen mehrere dieser Faktoren zusammenwirken. Vorwiegend in Sagen wird Z. durch Naturgewalten thematisiert (J Katastrophenmotive); diese entfalten ihre Wirkung allerdings nur selten von sich aus. Meist werden sie durch das Eingreifen übernatürlicher Wesen oder von Menschen aktiviert, entweder als J Strafe für Frevel, Hybris, Grausamkeit, Bosheit, Sünde oder Verletzung eines Tabus oder aber aus J Neid oder J Rache (J Schadenzauber). Die wichtigsten zerstörerischen Naturgewalten sind J Erdbeben, J Wind (AaTh 973: J Mann als Sturmopfer), J Donner und J Blitz, J Feuer, Kälte (Mot. A 1040), J Wasser (J Sintflut; J Regen, Regenwunder), sowie Bergsturz oder Baumschlag; eine übernatürliche Strafe kann auch das J Versinken (im Wasser, in der Erde) bewirken. Die zerstörerischen übernatürlichen Wesen und Kräfte sind vielfältig. In der antiken Überlieferung bringen neben Göttern Wesen wie die J Gorgonen, die J Sirenen oder J Skylla und Charybdis dem Menschen Tod und Verderben. In der Erzählüberlieferung können nahezu alle dämonischen Wesen (Hexe, Fee, Oger, Riese, Zwerg, Troll etc.) zerstörend wirken. Der J Teufel ist der Zerstörer schlechthin, doch auch weibliche Wesen wie die J Baba Jaga oder die J Lamia bringen oft großes Unheil. Zerstörische Kräfte werden zudem oft durch J Magie bzw. J Zauber freigesetzt, wobei etwa die Tötung eines Menschen durch Z. einer ihm gehörenden Sache oder seines Bildes erfolgen kann (Mot. D 2061.2.2.3, G 271.4.3; cf. auch J External soul). Doch auch von positiven Wesen wie Gott kann Z. ausge-
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hen (J Hiob, AaTh/ATU 938: J Placidas; J Sodom und Gomorrha). Allerdings können übernatürliche Wesen auch Retter vor Z. (J Helfer) sein und glückliche oder gottgefällige Menschen vor Z. bewahrt werden (Mot. M 294, Q 152.1, Z 356). Der Mensch spielt die entscheidende Rolle als Zerstörer. In Erzählungen sind die dabei wohl häufigsten Motive Feindschaft, Rache und Bestrafung, wobei dem J Krieg, dem Überfall (J Räuber, Räubergestalten) und ähnlichen Formen von Aggression große Bedeutung zukommt. Allg. ist zur Vernichtung des Feindes bzw. zur Z. seines Besitzes jede List erlaubt: Der Knecht zerstört das Eigentums seines Herrn (AaTh/ATU 1002: cf. J Zornwette). Z. aus religiöser, ideologischer oder politischer Gegnerschaft betrifft vor allem Tempel, Kirchen, Bilder und Statuen, darunter auch Herrscherbilder oder J Götzenbilder, und Symbole (cf. Mot. F 960.3.1, M 364.10, Q 558.17). Auf einer emotionalen Ebene ist Schädigung aus Bosheit, Neid oder J Eifersucht recht häufig: Streitende Erben zerstören aus Neid die gesamte Hinterlassenschaft (Mot. J 2129.2); eine Frau zerstört aus Eifersucht eine freundschaftliche Beziehung ihres Mannes (Mot. K 2131.3). Z. kann auch aus außergewöhnlicher J Stärke oder falscher Einschätzung eigener Fähigkeiten resultieren: J Goldener (AaTh/ ATU 314) wütet aus lauter Übermut im Garten seines Dienstherrn; der J Zauberlehrling vermag es zwar, einen Zauber zu bewirken, nicht aber ihn zu bändigen, als er sich zerstörerisch auswirkt. Das Märchen ist mit seiner J Eindimensionalität und J Flächenhaftigkeit gegenüber Z. und ihren Folgen relativ gleichgültig. Errichtung und Z. erscheinen in Märchen und Sagen oft als eine in magischer Weise umkehrbare Transformation: Erbautes kann über Nacht immer wieder zerstört werden (Mot. G 303.14.1)4, Zerstörtes kann wieder erstehen (cf. Mot. M 364.10, Q 521.7), Tote werden (durch Wundermittel) wiederbelebt (J Wiederbelebung). Allerdings bietet selbst magische J Unverwundbarkeit keinen kompletten Schutz vor Z. (J Achillesferse, J Wunde). Manche Erzählungen spielen mit angeblicher oder vorgetäuschter Z.: J Mäuse fressen angeblich Eisen (AaTh/ATU 1592); ein
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Zerstückelung
Mann prahlt, ein fernes Dorf mit einem Stein zerstören zu können (AaTh/ATU 1063 A: cf. J Wettstreit mit dem Unhold); ein Fuchs täuscht Verletzung vor (cf. AaTh/ATU 3: J Scheinverletzungen). In AaTh/ATU 1361: J Flut vorgetäuscht wird das Gerücht einer bevorstehenden Naturkatastrophe verbreitet ( J Scheinkatastrophe). In humoristischen Erzählungen spielt Z. gelegentlich eine Rolle, etwa wenn der Knecht die Aufträge seines Herrn J wörtlich nimmt bzw. sie bewußt destruktiv oder im Zusammenhang einer fatalen oder närrischen J Imitation oder einer törichten Handlung ausführt (Mot. K 1400⫺K 1499): Bauern brennen aus Dummheit ein Haus nieder (AaTh/ATU 1281: cf. J Katze als unbekanntes Tier); der Dummkopf verbrennt sein eigenes Haus, um die darin befindlichen Schädlinge zu vernichten (AaTh/ATU 1282: House Burned Down to Rid It of Insects); die beabsichtigte J Hausreparatur (AaTh/ATU 1010) führt zur Z. des Hauses; ein Ehepaar zerstört seinen bescheidenen Besitz durch Imaginieren künftigen Reichtums (AaTh/ATU 1430: cf. J Luftschlösser; cf. auch AaTh/ATU 1386⫺1387 A, 1450: J Kluge Else). Im Gegensatz zu Humor, dem grundsätzlich ein versöhnliches Element innewohnt, ist J Schwarzer Humor als unversöhnlich und zerstörerisch angesehen worden5. Z. kann auch im Affekt durch Wut oder Zorn, Raserei oder J Besessenheit angerichtet werden. Gelegentlich münden derartige Fälle in J Selbstschädigung und Selbstverstümmelung. Die extreme Form der Z. als Selbstzweck äußert sich als blanke Gewalt, auch Z.swut, Z.slust oder Vandalismus genannt. Wenngleich sich diese Form der Z. nicht im populären Erzählgut findet, werden Gewalt und Z. gelegentlich in den populären Medien verherrlicht bzw. wird deren Verherrlichung kritisiert. Internat. bekannte Beispiele hierfür sind etwa der 1971 durch Stanley Kubrick verfilmte Roman Clockwork Orange (1962) von Anthony Burgess oder der Spielfilm Natural Born Killers von Oliver Stone (1994). Die zeremonielle Z. oder Vernichtung von materiellen Gütern, etwa in Form eines ritualisierten Vergeudungswettbewerbs (potlatch)6, dient demgegenüber der Mehrung von Sozialprestige. 1 Ruinen aus den Sagen des Nordens 1⫺3. Danzig 1800⫺04; Ruinen oder Taschenbuch zur Geschichte verfallener Ritterburgen und Schlösser, nebst ihren
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Sagen, Legenden und Mährchen 1⫺2. Wien [nach 1826]; Stoldt, H.-H.: Die Geschichte der RuinenPoesie in der Romantik. Diss. Kiel 1924; Kander, L.: Die dt. Ruinenpoesie des 18. Jh.s bis in die Anfänge des 19. Jh.s. Diss. Heidelberg 1933. ⫺ 2 cf. Mot., s. v. Destroyed, Destroying, Destruction. ⫺ 3 Gjerdman, O.: Hon som var värre än den onde. In: Saga och sed (1941) 1⫺91; Odenius, O.: „Hon som var värre än den onde“ i svensk tradition. In: Karlsson, L. (ed.): Den ljusa medeltiden. Stockholm 1984, 197⫺ 218. ⫺ 4 Megas, G.: Die Ballade von der ArtaBrücke. Saloniki 1976. ⫺ 5 Hellenthal, M.: Schwarzer Humor. Theorie und Definition. Essen 1989; cf. EM 12, 355. ⫺ 6 Jonaitis, A. (ed.): Chiefly Feasts. The Enduring Kwakiutl Potlatch. Ausstellungskatalog Seattle 1991.
München
Klaus Roth
Zerstückelung. Die Z. von Menschen ist eine bes. grausame Tötungsart. In Form der Vierteilung, z. B. mit Hilfe von Pferden oder Ochsen (Mot. Q 416), war sie im MA. und in der frühen Neuzeit daher als J Hinrichtungsart für bes. schwere Verbrechen vorgesehen (z. B. für Königsmord)1. In Märchen erscheint Z. zwar als J Strafe für die Übeltäter (AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej)2, meist aber nicht als Tötung, sondern erst nach dem Tod des Opfers als Schändung. Als solche wird Z. in der europ. Erzähltradition als grausam (J Grausamkeit) und verwerflich wahrgenommen, so etwa in der Erzählung von J Medea, die drei Stücke der Leiche ihres Bruders Apsyrtos hinter das Schiff wirft, um ihre Verfolger abzulenken (Mot. R 231). In einer der Ausprägungen von AaTh/ ATU 927: J Halslöserätsel, dem sog. Ilo-Rätsel, hat die verbrecherische Königin aus Haut und Knochen des ermordeten Geliebten (Mot. H 805) Gegenstände anfertigen lassen und sagt: „Aus der Liebe trinke ich, / Auf der Liebe sitze ich, / In die Liebe sehe ich“ (die Tasse ist der Schädel; Stuhl und Spiegel sind aus Knochen des Toten gefertigt)3. Als bes. schrecklich erscheinen Erzählungen, in denen J Ungeborene aus dem Körper ihrer Mutter herausgeschnitten und (teilweise) gegessen werden (cf. Mot. H 792; AaTh/ATU 927, AaTh/ATU 851: cf. J Rätselprinzessin)4. Im verbotenen J Zimmer (Mot. C 611; bes. in AaTh/ATU 311: cf. J Mädchenmörder, AaTh/ATU 894: J Geduldstein, AaTh/ATU 955: J Räuberbräuti-
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Zerstückelung
gam) enthüllen blutige Leichenteile die Verbrechen des Gegenspielers. Obwohl das Motiv der Z. vordergründig eher im Kontext der J Zerstörung menschlichen Lebens wahrgenommen wird, kann es in der Erzählüberlieferung im Zusammenhang mit einer anschließenden Erneuerung durchaus auch positive Implikationen haben. Schöpfungsmythen erzählen von der Entstehung der Welt bzw. des Universums aus Körperteilen eines erschlagenen Gottes (z. B. ind. Purusha, chin. P’an-ku, babylon. Tia¯mat) oder Riesen (z. B. altnord. Ymir; Mot. A 614, A 614.1, A 642, A 642.1; J Aztek. Erzählgut; J Inka; J Sintflut). In Erzählungen werden Überreste Ermordeter, die entweder gesammelt oder einfach weggeworfen wurden, zu einer Pflanze oder einem Tier (cf. J Seelentier), so in AaTh/ATU 720: J Totenvogel und AaTh/ ATU 407: J Blumenmädchen (bes. Basile 1,2). In AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein und AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella entsteht aus den Knochen oder anderen Überresten der toten Mutter des Mädchens oft eine Pflanze oder ein Tier, das der Heldin Beistand leistet5. Die getötete Protagonistin von AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen verwandelt sich in einen Baum, der zerhackt wird; doch aus einem Splitter des Holzes wird erneut das Orangenmädchen. Die Z. erlangt in der Erzählüberlieferung vor allem Bedeutung in Verbindung mit der J Wiederbelebung des Opfers, wobei oftmals ein Körperteil fehlt (Mot. E 33; J Kleiner Fehler, kleiner Verlust). Mitunter dienen Z. und Wiederbelebung von Menschen zu deren Heilung von J Krankheit oder zu deren J Verjüngung, wobei die Nachahmung solcher Praktiken meist fatale Folgen hat (J Imitation: Fatale und närrische I.; cf. AaTh/ATU 8, AaTh 8 A/ATU 8, AaTh/ATU 152: J Schönheitskur; AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue6; AaTh/ATU 753: J Christus und der Schmied). Z. und anschließende Wiederbelebung aus den zusammengelegten J Knochen begegnen auch im Zusammenhang mit getöteten Tieren (J Herr der Tiere). Der Vorgang hat dann eher den Charakter eines J Wunders und wird in der Regel von Göttern oder Heiligen vollbracht (AaTh/ATU 750 B: cf. Die drei J Wünsche, AaTh/ATU 785: J Lammherz)7.
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Die Z. im Märchen wurde mit religiösen Ritualen in Zusammenhang gebracht (J Schamanismus8, J Jägerzeitliche Vorstellungen, J Satanismus). In der griech. und röm. Mythologie ist sie mit sparagmos genannten bacchischen (dionysischen) oder orphischen Riten verbunden, bei denen Tiere und Menschen (z. B. J Orpheus und Pentheus) von ekstatischen Mänaden in Stücke gerissen worden sein sollen9. S. J Freuds Mythos von der ,Urhorde‘ und ihrer ,Totemmahlzeit‘ zufolge töteten die Söhne ihren Vater, zerstückelten und verspeisten ihn10. Nach O. J Rank können Z. und Wiederbelebung in Mythos oder Märchen sowohl Kastration als auch rituelle Opferung bedeuten11. Die Interpretationen H. von J Beits variieren entsprechend der Rolle des Zerstückelten in der jeweiligen Erzählung12. Im weiteren Sinne stellt das Motiv der Z. Zerstörung und Erneuerung dar13 und wurde als Form der J Initiation verstanden14. 1 Amira, K. von: Die germ. Todesstrafen. Mü. 1922, 131⫺134, 380⫺387. ⫺ 2 cf. auch KHM 60, AaTh/ ATU 567 ⫹ 300 ⫹ 303; KHM 76, AaTh/ATU 652; KHM 111, AaTh/ATU 304 ⫹ Mot. Q 483; Cammann, A.: Westpreuß. Märchen. B. 1961, 81. ⫺ 3 Köhler/Bolte 1, 350⫺360, 372 (Zitat p. 356); BP 1, 196; Abrahams, R.: Between the Living and the Dead (FFC 225). Hels. 1980, N 145⫺N 191. ⫺ 4 Busch, W.: Ut oˆler Welt. Mü. 1910, 131 sq.; Abrahams (wie not. 3) N 15⫺N 42; Norton, F. J.: The Prisoner who Saved His Neck With a Riddle. In: FL 53 (1942) 27⫺57, hier 42⫺49. ⫺ 5 Cox, M. R.: Cinderella. L. 1893, 477 sq. (not. 7), 515⫺517 (not. 66); Köhler/Bolte 1, 258 sq., 272 sq.; Cosquin, num. 23. ⫺ 6 Ralston, W. R. S.: Russian Folk-Tales. L. 1873, 351⫺356. ⫺ 7 Legenda aurea/Graesse, Kap. 107; Banks, M. M. (ed.): An Alphabet of Tales […] 1. L. 1904, 254 sq., num. 370; cf. Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 84 sq. ⫺ 8 Eliade, M.: Shamanism. Princeton 1964, 34⫺45, 53, 66, 159, 249. ⫺ 9 Otto, W. F.: Dionysos. Mythos und Kultus. Ffm. 1933; cf. dagegen Brill’s New Pauly 4. Leiden/ Boston 2002, 496⫺509, bes. 506; Bömer, F.: P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Kommentar 5. Heidelberg 1980, 237⫺254, Anmerkungen zu Buch 11, Z. 1⫺66. ⫺ 10 Freud, S.: Totem und Tabu. Wien 1922, 133⫺216. ⫺ 11 Rank, O.: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Lpz./Wien (1912) 21926, 283⫺290. ⫺ 12 Beit, H. von: Symbolik des Märchens 3. Bern 1957, 261 (Reg. s. v. zerstückeln). ⫺ 13 Silberer, H.: Das Z.smotiv im Mythos. In: Imago 3 (1914) 502⫺523. ⫺ 14 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens.
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Zeuge
Mü./Wien 1987, 112⫺118, 164⫺167, cf. auch 155⫺ 158, 230⫺238, 305 sq., 452.
Eugene, Oregon
Christine Goldberg
Zeuge 1. Begriff ⫺ 2. Rechtssprichwörter ⫺ 3. Mythen, religiöses Erzählgut, Märchen ⫺ 4. Schwänke ⫺ 5. Tiere und Gegenstände als Z.n
1 . B eg ri ff. Z.n sind Personen, die eigene sinnliche Wahrnehmungen über ein bestimmtes Geschehnis vermitteln. Die größte Bedeutung hat der Z. im Bereich der Gerichtsbarkeit (J Rechtsfälle, J Mordgeschichten), wo er zur Findung der J Wahrheit beitragen soll (J Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit), sei es, daß er dem Gericht Tatsachen aus eigenem Erleben wiedergeben (Augen-, Tat- oder Wahrnehmungszeuge) oder etwas über den Ruf einer Person (Leumundszeuge) aussagen soll. Geschäftszeugen werden eigens zu Rechtshandlungen hinzugezogen, um gegebenenfalls über den Vorgang aussagen zu können, bes. bei J Verträgen und Testamenten (auch Trauzeuge). In diesen Funktionen wird der Z. auch in der Volkserzählung thematisiert. Daneben spielen Z.n in den Religionen eine bes. Rolle: die J Märtyrer oder Blutzeugen (von griech. martys: Z.) bestimmen als Z.n des Glaubens den Kult durch ihre Gedenktage, Legenden und Bilder in vielfältiger Weise1. In der Zeitgeschichte sind Zeitzeugen von großer Bedeutung für die Rekonstruktion von Geschehnissen bes. der Alltagsgeschichte (J Autobiographie, J Familiengeschichten, J Lebensgeschichte, J Oral History, J Vergessen und Erinnern). 2 . Rec ht ss pr ic hw ör te r. Als Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts im gerichtlichen Verfahren sind Z.n oftmals Gegenstand von Rechtssprichwörtern, d. h. allg. bekannten, volksläufigen Rechtsregeln in kurzer, prägnanter Form2. Sie sind Bestandteil der Volkssprache und finden sich, gelegentlich versteckt, in vielen Volkserzählungen: „Aller guten Dinge sind drei“ (z. B. in KHM 2, AaTh/ ATU 15: J Gevatter stehen; J Drei, Dreizahl) hebt eigentlich auf die Mindestmitgliederzahl einer Vereinigung ab; „Ein Zeuge ⫺ kein
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Zeuge“ ist nicht so sehr eine Paradoxie3, sondern eine weitverbreitete Rechtsregel, die besagt, daß zur Wahrheitsfindung ein Z. nicht genügt, sondern mehrere (in der Regel zwei bis drei) erforderlich sind (cf. Mt. 18,16). Der Satz stammt aus dem röm. Recht (Codex Justinianus 4,20,9) und findet sich auch im A. T. (Gen. 19,15). Er ist vielfach überliefert4; in der Version „Ein Mann ⫺ kein Mann“ nahm J Luther den Satz in seine Slg von Sprichwörtern auf 5. Entsprechend dieser Regel gilt: „In zweier Zeugen Mund wird allerwegs die Wahrheit kund“6 oder „In dreier Zeugen Mund liegt alle Wahrheit“7. Vergleichbares findet sich z. B. auch im islam. Recht: Einer Klage wird in der Regel stattgegeben, wenn der Kläger zwei männliche Z.n beibringen kann8. In dem Sprichwort „Sieben Zeugen soll man eher glauben als einem gesiegelten Brief“9 wird der Primat des Z.nbeweises gegenüber dem Urkundenbeweis deutlich. Erst später galt dann: „Wo man Briefe hat, bedarf man keines Zeugen“10 oder „Briefe sind besser als Zeugen“11. Auf einer älteren Stufe hieß es: „Wer mehr Zeugen hat, behält“12 (behalten ⫽ Recht bekommen). Der Gedanke, daß zum Abschluß von Rechtsgeschäften und bei Rechtshandlungen möglichst viele Z.n beizuziehen sind, um dem Akt größere Bestandskraft zu verleihen, findet sich schon in der Lex Saxonum (entstanden um 800), vor allem dann im Sachsenspiegel (Landrecht 3,21,§1; Lehnrecht 40 §1; Lehnrecht 70). Die Bilderhandschriften zum Sachsenspiegel verleihen dem Sprichwort zudem visuell Gestalt. Die Regel dürfte indes nur auf wenige Ausnahmefälle anwendbar gewesen sein13. 3 . Myt he n, re li gi ös es Er zä hl gu t, M är ch en. Hinweise auf die Bedeutung von Z.n und Z.nschaft finden sich bereits im griech. Mythos: J Pelops stößt Myrtilos von einem Felsen, um den Z.n und Mittäter seines betrügerischen Sieges über König Oinomaos loszuwerden. Polydektes schickt J Perseus, den unbequemen Z.n seiner Liebe zu J Danae, in den vermeintlich sicheren Tod, als er ihm gebietet, das Haupt der Medusa (J Gorgo, Gorgonen) zu holen14. Im A. T. vernimmt J Daniel die beiden Alten, die J Susanna des Ehebruchs beschuldigten, getrennt voneinander als Z.n und fragt
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Zeuge
sie, unter welchem Baum die Tat stattgefunden habe; als sie unterschiedliche Bäume nennen (Eiche, Mastixbaum), wird die Falschheit ihrer Aussagen offenbar (ATU 1543 E*: J Baumzeuge). Die vermeintliche Schuld einer J Frau (Kap. 3. 1.2) wird auch in anderen Erzählungen durch falsche Aussagen bzw. J Verleumdungen angeblicher Z.n ,bewiesen‘ (z. B. AaTh/ATU 712: J Crescentia15, AaTh/ATU 882: cf. J Cymbeline, J Genovefa). Die Wahrheit ist also mit Hilfe von Z.n oft nur schwer oder gar nicht zu ermitteln, weil Z.n bestochen (J Bestechung), parteiisch oder meineidig (J Eid, Meineid) sind, und es bedarf kluger J Richter (J Salomo) und geschickter Z.nbefragung (AaTh/ATU 926 C: cf. J Salomonische Urteile). In AaTh/ATU 756 C*: J Z. aus der Hölle steht der Z. nicht mehr zur Verfügung, und ein Wunder hilft der Wahrheit zum Sieg: Ein Pächter holt die Quittung über die bezahlte Pacht von seinem verstorbenen Grundherrn aus der Hölle (Heiliger erweckt Toten). Als letzte Möglichkeit gegen falsche Z.n, korrupte Richter oder betrügerische Prozeßgegner bleibt dem ungerecht Gerichteten nur deren Ladung in das Tal Josaphat, wo nach der Überlieferung das J Jüngste Gericht stattfindet (J Vorladung vor Gottes Gericht). Damit sollten die Falschheit des Gegners und die Ungerechtigkeit von Obrigkeit und Gerichten kundgetan werden. Allerdings wurde eine solche Ladung als schwerer Angriff auf die Ehre und das Ansehen der Gerichte und Behörden, ja sogar als Gotteslästerung gesehen und unter schwere Strafen gestellt16. In einem weitgefaßten Verständnis handelt es sich auch dann um Z.nschaft, wenn wie in AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer der Protagonist ein Gespräch belauscht, das für den Fortgang der Handlung zentral ist (cf. J Belauschen, J Wachen). Eine Z.nschaft im engeren Sinne liegt jedoch nur dann vor, wenn, wie in AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam, ein Verbrechen beobachtet wird. 4 . S ch wä nk e. In humoristischen Erzählungen eröffnet sich ein weites Feld für das Motiv des Z.n. So spielt dieser häufig in Erzählungen eine Rolle, in denen die Untreue von Ehepartnern bloßgestellt wird (J Ehebruchschwänke: z. B. AaTh/ATU 1355 B, 1358
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A⫺C, 1358*, 1725: J Ehebruch belauscht; AaTh/ATU 1423: Der verzauberte J Birnbaum; cf. auch AaTh/ATU 1417: Die abgeschnittene J Nase; AaTh/ATU 1419 B: J Bock im Schrank). In AaTh/ATU 1381: cf. Die geschwätzige J Frau diskreditiert ein Mann seine Frau absichtlich: In der Gewißheit, daß sie überall von dem gefundenen Schatz erzählen und dieser deshalb verlorengehen wird, inszeniert er wunderbare und unglaubwürdige Ereignisse, die die Frau ebenfalls zum besten gibt und daher nicht ernst genommen wird. Der Z. in AaTh/ ATU 1590: J Eid auf eigenem Grund und Boden kann durch einen Trick vermeiden, einen Meineid zu leisten, obwohl er nicht die Wahrheit sagt17. Skeptizismus gegenüber Z.nschaft und Gericht findet sich vielfach in ma. arab. Erzählungen. So wird der Rechtsgrundsatz, daß es mindestens zweier Z.n bedarf, in parodistischer Manier aufgegriffen: Der von seinem Sexualpartner Beschuldigte weist darauf hin, daß es zum Nachweis homosexuellen Beischlafs zweier Z.n bedürfe18. Dagegen hat die Aussage des als unehrlich geltenden Webers nur zusammen mit zwei glaubhaften Z.n Gültigkeit ⫺ mithin allein keinerlei Beweiswert19. Die Glaubwürdigkeit von Z.en wird ⫺ oft in Zusammenhang mit der Seriosität von Richtern ⫺ aufs Korn genommen: Ein unglaubwürdiger Z. will an seiner Stelle eine glaubwürdige Person aussagen lassen, die allerdings mit der betr. Angelegenheit nichts zu tun hat20. Ein Reicher soll als Z. abgelehnt werden, weil er die Pilgerfahrt nach Mekka noch nicht gemacht habe; um das Gegenteil zu beweisen, macht er unsinnige Angaben21. Da ein Z. als unglaubwürdig gilt, wenn er nicht einige Koranverse zitieren kann, gibt er unsinnige Reime von sich und wird vom Richter akzeptiert22. Ein Richter will Z.n ablehnen, die nicht wissen, wie viele Palmen in dem umstrittenen Dattelhain stehen; daraufhin soll der Richter sagen, wie viele Säulen seine Moschee hat, doch er weiß es nicht23. In einem Ehebruchprozeß sagt ein Z., er habe den Mann und die Frau beim Geschlechtsakt beobachtet; als er sagen soll, was genau er gesehen habe, entgegnet er, es sei ihm eigentlich unklar, was passiert ist24. Ein anderer entgegnet auf dieselbe Frage: ,Selbst wenn ich unter dem Hintern der
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Zeuge
Frau gewesen wäre, hätte ich nicht gesehen, ob der Stift in der Dose war‘25. Auch in modernen europ. Erzählungen spielen Z.n gelegentlich eine Rolle. In einem rumän. Text will ein Bürgermeister das Grundstück einer Witwe an sich bringen und bedient sich dazu zweier Zigeuner als Z.n; zum Prozeß erscheint allerdings nur einer von ihnen und erklärt dem Richter, er könne auch für den anderen aussagen, denn beide seien vom Bürgermeister bestochen worden26. In einer anderen rumän. Erzählung fragt der Richter einen Z.n, ob er mit einer der Parteien verwandt sei; dieser verneint, lehnt es aber ab, seine Aussage zu beschwören: Das habe er noch nie gemacht, weil ihm der rechte Arm (Schwurarm) fehle27.
5 . Tie re un d G eg en st än de al s Z .n. In populären Erzählungen können Tiere und seltener auch Gegenstände sprechen (singen) und deshalb die Funktion von Z.n übernehmen. Solche nichtmenschliche Z.nschaft begegnet vor allem in Erzählungen aus dem Bereich der wunderbaren Wahrheitsenthüllung (AaTh/ ATU 780⫺799): In AaTh/ATU 780: J Singender Knochen enthüllt die Flöte, die aus dem J Knochen eines Ermordeten gemacht ist, das Verbrechen. Auch der aus dem Grab eines getöteten Jungen gestiegene J Totenvogel (AaTh/ATU 720) legt von dem Mord Zeugnis ab. In AaTh/ATU 781: cf. J Kindsmörderin bedarf es dagegen eines ,Übersetzers‘: Ein junger Mann muß die Sprache der Vögel erlernen, um die Taube, die auf das Kindergrab hinweist, verstehen zu können. Darüber hinaus begegnen Tierzeugen in Exempla, wie in AaTh/ATU 243 A: J Ehebruch verraten, einer Erzählung, in der ein Vogel eine Frau der Untreue bezichtigt. In AaTh/ ATU 510 A: cf. J Cinderella weisen die Tierzeugen auf die verstümmelten Füße der falschen Bräute hin bzw. verraten dem Prinzen, wo die Protagonistin versteckt gehalten wird. Auch in Tiermärchen spielen Z.n eine Rolle: In AaTh/ATU 20 D*: cf. J Tiere fressen einander rettet sich der Wiedehopf vor dem gefräßigen Fuchs, indem er vorgibt, Z.n zur Bekräftigung seiner Unschuld beibringen zu wollen (cf. auch AaTh/ATU 61 A: J Fuchs als Beichtvater). Daneben gibt es zahlreiche ,stumme‘ Z.n (ATU 960 C: J Bratenwunder; Knochen28).
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Sie offenbaren Verbrechen mitunter indirekt, durch die Selbstentlarvung des Täters (AaTh/ ATU 960 A: J Kraniche des Ibykus; AaTh/ ATU 960, 960 B: J Sonne bringt es an den Tag). Entsprechende Formen der J Selbstschädigung finden sich auch in schwankhaften Erzählungen, wobei hier in der Regel um nichteingehaltene Verträge oder um Wertgegenstände gestritten wird (AaTh/ATU 1543 D*: Stone as Witness, ATU 1543 E*29). Geheime Grenzzeugen wie Scherben, Kohlen, Gips, Kalk, Asche, Eierschalen oder sog. Grenzunterlagsscheiben30 erlauben es, den genauen Verlauf einer J Grenze festzustellen, wenn der Grenzstein verrückt wurde31. Im weiteren Sinne sind zu den stummen Z.n auch J Erkennungszeichen, die die Identität einer Person ,bezeugen‘, und (Zauber-)Gegenstände zu zählen, welche die J Keuschheit ihrer Trägerinnen anzeigen sollen (AaTh/ATU 833 B: Der bestrafte J Verführer, AaTh/ATU 1391: Les J Bijoux indiscrets). Die Instrumentalisierung stummer Z.n findet sich z. B. in der Erzählung vom sprechenden J Pferdekopf (AaTh/ATU 533), in der die Protagonistin ein J Schweigegebot umgeht: Sie muß schwören, keinem Menschen von ihrem Schicksal zu erzählen; doch klagt sie ihr Leid einem Gegenstand und wird belauscht (cf. AaTh/ATU 894: J Geduldstein). 1
Kohlberg, E.: Shahı¯d [martyr]. In: EI2 9 (1997) 203⫺207; Pannewick, F. (ed.): Martyrdom in Literature. Visions of Death and Meaningful Suffering in Europe and the Middle East from Antiquity to Modernity. Wiesbaden 2004. ⫺ 2 Schmidt-Wiegand, R.: Dt. Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Mü. 2002, 10 sq.; Maissen, F.: Rechtsgrundsätze in rätorom. Sprichwörtern. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und rechtlichen Vk. 13 (1991) 247⫺280. ⫺ 3 Dagegen EM 12, 1102; cf. Schott, C.: Ein Z., kein Z. Zu Entstehung und Inhalt eines Rechtssprichworts. In: Festschr. F. Elsener. Sigmaringen 1977, 222⫺232. ⫺ 4 Foth, A.: Gelehrtes röm.-kanonisches Recht in dt. Rechtssprichwörtern. Tübingen 1971, 147. ⫺ 5 Dithmar, R.: Luthers Fabeln und Sprichwörter. Darmstadt 32010, num. 37. ⫺ 6 Goethe, J. W. von: Faust 1. ed. U. Gaier. Stg. 2011, V. 3013 sq. ⫺ 7 Graf, E./Dietherr, M.: Dt. Rechtsprichwörter. Nördlingen 21869 (Neudruck Aalen 1975), num. 491. ⫺ 8 Peters, R.: Shahı¯d [witness]. In: EI2 9 (1997) 207 sq. ⫺ 9 Graf/Dietherr (wie not. 7) num. 556. ⫺ 10 ibid., num. 451. ⫺ 11 ibid., num. 452. ⫺ 12 ibid., num. 431. ⫺ 13 Janz, B.: Rechtsprichwörter im Sachsenspiegel. Eine Unters. zur Text-Bild-Relation in den Codices pictu-
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Zeuge aus der Hölle
rati. Ffm. 1989, 214⫺221; Schempf, H.: Wer mehr Z.n hat, behält. Rechtsikonographische Anmerkungen zu einem Rechtssprichwort. In: Kocher, G./ Lück, H./Schott, C. (edd.): Signa Iuris. Beitr.e zur Rechtsikonographie, Rechtsarchäologie und rechtlichen Vk. 11. Halle 2013, 247⫺266. ⫺ 14 Kytzler, B.: Die vielen frühen Formen der Danae¨. Bilder einer Königstochter von Homer bis Hygin. In: id. (ed.): Sermones Salisburgenses XII. Salzburg 2004, 115⫺ 122. ⫺ 15 Marzolph, U.: Crescentia’s Oriental Relatives. The „Tale of the Pious Man and His Chaste Wife“ in the ,Arabian Nights‘ and the Sources of Crescentia in Near Eastern Narrative Tradition 22,2 (2008) 240⫺258. ⫺ 16 z. B. Hardung, S.: Die Vorladung vor Gottes Gericht. Bühl-Baden 1934; Carlen, L.: Die Ladung vor Gottes Gericht. In: id.: Beitr.e zur Waliser Rechtsgeschichte. Brig 1970, 9⫺11. ⫺ 17 Kretzenbacher, L.: Südost-Entsprechungen zur steir. Rechtslegende vom Meineid durch betrügerische Reservatio mentalis (AT 1590). In: Köstlin, K./ Sievers, K. D. (edd.): Das Recht der kleinen Leute. Festschr. K. S. Kramer. B. 1976, 125⫺139. ⫺ 18 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1087. ⫺ 19 ibid., num. 679. ⫺ 20 ibid., num. 302. ⫺ 21 ibid., num. 1138. ⫺ 22 ibid., num. 903. ⫺ 23 ibid., num. 126. ⫺ 24 ibid., num. 35. ⫺ 25 ibid., num. 39. ⫺ 26 Stroescu 1, num. 3265. ⫺ 27 ibid. 2, num. 4695. ⫺ 28 Schmidt, L.: Die Volkserzählung. B. 1963, 48⫺54, 368 sq. ⫺ 29 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 447. ⫺ 30 Künßberg, E. von: Rechtliche Vk. Halle 1936, Abb. 13. ⫺ 31 id.: Geheime Grenzzeugen. In: Das Rechtswahrzeichen (1940) H. 2, 68⫺83; id. (wie not. 30) 132 sq.
Korntal
Herbert Schempf
Zeuge aus der Hölle (AaTh/ATU 756 C*). Die zwischen Sage und Mirakel oszillierende Erzählung handelt von dem problematischen Verhältnis zwischen Grundbesitzer und Pächter (cf. auch J Feudalismus, J Herr und Knecht), das mit Hilfe eines Helfers zugunsten des Pächters ausgeht: Ein Pächter kann eine Pachtzahlung nicht nachweisen, da der Grundbesitzer unerwartet verstorben ist und er eine Quittung noch nicht ausgehändigt (verweigert) hat. Als die Witwe (Sohn) die Quittung einfordert, macht sich der Pächter betrübt auf den Weg zur J Hölle. Mit Hilfe eines Männchens (Engel, Heiliger, Teufel, Geistlicher, Wahrsagerin) gelangt er an einen geheimnisvollen Ort (ins feuerspeiende Berginnere [des Vesuvs]), sieht den Grundbesitzer mit anderen (beim Kartenspielen, Trinken) in Flammen (glühender Hitze), erfährt von ihm unter massivem Beistand des Helfers, wo die Quittung liegt (der Beleg wird ausgestellt), und ist von seiner Bedrängnis befreit.
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AaTh/ATU 756 C* ist mehrfach in frz., dt., schweiz., österr., poln., slov. und friaul. und vereinzelt in estn., litau., dän. und ir. Überlieferung belegt. Nach den eingehenden Unters.en L. J Kretzenbachers liegt die Vollform der Erzählung in einer barocken und vermutlich in Unterkrain entstandenen Legendenballade aus der 2. Hälfte des 18. Jh.s vor; sie ist mit dem hl. J Antonius von Padua als hilfreichem Begleiter bei der Suche nach dem Grundbesitzer verbunden1. Sie findet sich mit weiteren 36 Liedern über den Heiligen in einem Liederbuch des Pädagogen J. Ambozˇicˇ (1737⫺87 [oder 1793]), das vermutlich der Propaganda des im Wallfahrtsort Zdenska vas bei Dobrepolje (Unterkrain) verehrten Heiligen dienen sollte2. Weitere textliche und bildliche (Hinterglasmalereien, Bienenstockbrettchen, Ölbilder) Darstellungen des Bestätigungswunders sind bis Mitte des 20. Jh.s in dieser Region verschiedentlich nachgewiesen worden3. Als Vorlage für die Versfassung könnten nach Kretzenbacher zwei im Königreich Neapel verortete und zum Festtag des hl. Antonius in den J Acta martyrum et sanctorum (1742) der Bollandisten abgedruckte Prosalegenden gedient haben. Die eine Legende verbindet das Geschehen mit dem gewissenhaften Bauern und dem ungetreuen Grundherrn, der eine Bestätigung über das gepachtete Land verweigert hatte. In der anderen Legende spielt die Handlung im Kaufmannsmilieu einer südital. Handelsstadt: Der Kaufmann ist zugleich ein Geldverleiher, der seinen J Schuldner der Falschaussage bezichtigt. Mit Hilfe des Heiligen kommt er aus dem Gefängnis frei und klärt den Sachverhalt auf 4. Ein Heiliger als Helferfigur begegnet außerhalb Südosteuropas nur noch in einer Fassung aus der Oberpfalz: Der hl. J Joseph als Beistand bes. der einfachen Leute holt den gefesselten Teufel mit Amtmann und Richter kurzzeitig aus der Hölle und zwingt sie, die Quittung erneut auszustellen5. Anstelle des Heiligen tritt ein namenloser Geistlicher auf (ir.)6. Im Zuge der Säkularisierung von Legenden wurde vor allem im protestant. Nordeuropa die Rolle des Helfers z. B. von einem Fremden7, einem schwarzen Männchen8 oder einer Wahrsagerin9 übernommen. Gelegentlich ist die Geschichte zur Steigerung der Anschaulichkeit erweitert: So heißt es in dt. Var.n, daß
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Zeugungsweihe
der Höllenbesucher z. B. ein Beweismittel für die Begegnung mit dem Toten erhält, das sich bei der Übergabe an die Frau des Verstorbenen durch die Tischplatte brennt10. Im Zentrum der Soziallegende mit Trostund Mahnfunktion steht, wie in vergleichbaren Überlieferungen auch, das Mirakel mit dem Heiligen als vielgerühmtem Helfer der einfachen Leute und Vollstrecker der J Gerechtigkeit; in Sagenfassungen geht es eher darum, daß eine Sozialordnung nur funktionieren kann, wenn sich alle an die ihnen zugewiesenen Rollen halten. In beiden Erzählgenres werden der soziale Status quo, die unterschiedliche Ordnung der Stände und die Verteilung von Armut und Reichtum (J Arm und reich), als gottgegeben nicht in Frage gestellt. Die Sagenfassungen sind aus der Sicht des kleinen Mannes erzählt, ihm gehört die Sympathie der Erzähler, während der Grundbesitzer und dessen Nachkommen als geldgierig dargestellt werden. Es erscheint daher nur folgerichtig, daß der Pächter aus der Hölle, dem Ort des Schreckens, ins Leben zurückkehren kann. Historisierende Züge mit Nennung von Jahreszahlen oder Anküpfungen an reale Orte, wie sie bereits in den Acta sanctorum zu finden sind, dienen zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit11. 1 Kretzenbacher, L.: Der Z. aus der H. In: Alpes Orientales 1 (1959) 33⫺78 (⫽ id.: Die Soziallegende vom „Z.n aus der H.“. In: id.: Legende und Sozialgeschehen zwischen MA. und Barock. Wien 1977, 65⫺ 88; id.: Geheiligtes Recht. Aufsätze zu einer vergleichenden rechtlichen Vk. in Mittel- und Südosteuropa. ed. B. Sutter. Wien/Köln/Graz 1988, 115⫺ 132); id.: Die Volksdichtung im dt.-slaw. Grenzraum Südosteuropas. In: Südosteuropa-Jb. 6 (1962) 18⫺ 33, bes. 25⫺32; id.: Rechtslegenden abendländ. Volksüberlieferung. Graz 1970, 17 sq; Schempf, H.: Rechtslegenden zur kirchlichen Macht. Die Zeugen aus dem Jenseits. In: Signa Iuris 10. ed. A. Gulczyn´ski. Halle 2012, 93⫺106. ⫺ 2 id. 1988 (wie not. 1) 116⫺119. ⫺ 3 ibid., 120, 126 sq., 131 und Abb. 11⫺ 13 (nach p. 280). ⫺ 4 AS Iunii 2, 773, §§ 138⫺140. ⫺ 5 Schönwerth, F.: Aus der Oberpfalz 3. Augsburg ´ Su´illeabha´in/Christiansen. ⫺ 7 De1859, 139. ⫺ 6 O larue/Tene`ze. ⫺ 8 Rölleke, H. (ed.): Märchen aus dem Nachlaß der Brüder Grimm. Bonn 31983, num. 34. ⫺ 9 Graber, G.: Sagen aus Kärtnen. Lpz. 1914, 191. ⫺ 10 Sommer, E.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen 1. Halle 1846, num. 60; cf. auch Müller/Röhrich H 61. ⫺
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11 z. B. Graber (wie not. 9) num. 253 (Schloß zu Tanzenberg); Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 632 („vor ollen Tiden“); cf. auch Kretzenbacher 1988 (wie not. 1) 119⫺121.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Zeugungsweihe, selten gebrauchter Terminus für ein in Märchen und Sage weitverbreitetes Motiv aus dem Komplex vom J Kind, das dem Teufel verkauft oder versprochen wird (cf. Mot. S 210⫺S 237): Ein ungeborenes (ungezeugtes) Kind wird (wissentlich oder unwissentlich) einem übernatürlichen Wesen (Gott, Dämon) versprochen, dem das Kind zu Lebzeiten dienen (nach seinem Tod gehören) soll (J Dienst beim Dämon).
Vom J Teufelspakt unterscheidet sich die Z. dadurch, daß über das Leben eines Dritten entschieden wird, während im Teufelspakt ein Mensch dem Teufel vorwiegend das eigene Leben oder Seelenheil übereignet. Die Z. ist Einleitungssequenz unterschiedlichster Handlungsgeschehen, z. B. kann sie einer J Suchwanderung vorausgehen (AaTh/ ATU 313 sqq.: J Magische Flucht). Die Gründe für die Übereignung des Kindes sind ebenfalls unterschiedlich. So kann das Versprechen erfolgen, um einer langen Kinderlosigkeit Abhilfe zu schaffen1, so etwa in AaTh/ ATU 756 B: J Räuber Madej, einer Var. von AaTh/ATU 314: J Goldener2, AaTh/ATU 502: Der wilde J Mann3 und AaTh/ATU 710: J Marienkind 4, oder es dient zur Erlangung eines Vorteils: In AaTh/ATU 316: J Nixe im Teich verspricht der Vater aus Geldgier das, ,wovon er nichts weiß‘5. Das Versprechen kann jedoch auch eine Person geben, die sich in einer mißlichen Lage befindet: In AaTh/ ATU 500: J Name des Unholds kann die Müllerstochter die ihr gestellte Aufgabe nur mit Hilfe eines übernatürlichen Wesens erfüllen, muß diesem dafür aber ihr J erstes Kind versprechen (cf. auch AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm). Nach L. J Röhrich, der sich teilweise auf O. Höfler stützt, kann die Z. zum einen mit den Gottgeweihten, den Nasiräern alttestamentlicher Vorstellungen, die oft schon vor ihrer Geburt Gott versprochen waren (J Simson; J Johannes Baptista, Hl.; cf. J Jeph-
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tha)6, in Zusammenhang gebracht werden. Zum anderen führt er sie auf die Odinsgeweihten germ. Vorstellungen zurück, in denen ausschließlich Söhne geweiht wurden, die dem Gott lebenslang dienen mußten oder ihm geopfert wurden7. Im Märchen hat die Z. für den Betroffenen meist keine langfristig negativen Folgen8. Im Unterschied dazu ist sie in der Sage aufgrund der Dämonisierung heidnischer Vorstellungen deutlich stärker von negativen Konsequenzen für die Beteiligten geprägt (J Robert der Teufel)9. Röhrich schloß daraus, daß das Märchen eine ältere Kulturstufe repräsentiere als die Sage: Im Märchen werde das Kind unterschiedlichen jenseitigen Wesen versprochen, in der Sage werde jedoch nur noch mit dem Teufel paktiert, und der Bund manifestiere sich in einer vertraglichen Abmachung, einer Verschreibung, die (mit Blut) zu unterzeichnen ist (cf. auch J Vertrag)10. 1
Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 121⫺123; id.: German Devil Tales and Devil Legends. In: JFI 7 (1970) 21⫺35, hier 31. ⫺ 2 Kretschmer, P.: Neugriech. Märchen. MdW 1917, num. 41. ⫺ 3 BP 3, 97 (Var. A3). ⫺ 4 Leskien, A.: Balkanmärchen. MdW 1915, num. 48; Laographia 15,2 (1954) 306⫺308 (griech.). ⫺ 5 cf. Cammann, A.: Märchenwelt des Preußenlandes. Schloß Bleckede 1973, 225⫺227. ⫺ 6 wie not. 1. ⫺ 7 Höfler, O.: Germ. Sakralkönigtum. 1: Der Runenstein von Rök und die germ. Individualweihe. Tübingen 1952, 87 sq., 154 sq., 205⫺214, 257; Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 118⫺121; id. 1970 (wie not. 1). ⫺ 8 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 118. ⫺ 9 ibid., 120 sq. (weitere Beispiele). ⫺ 10 ibid., 118.
Göttingen
Johanna Ella
Zeus, höchster Gott des griech. Pantheons. Z. wird regelmäßig als ,Vater‘ oder ,Vater der Götter und der Menschen‘ angesprochen, nicht in der Bedeutung eines Schöpfergottes, der alle Götter und die Menschheit hervorgebracht hat, sondern weil er die Welt der Götter und der Menschen mit patriarchalischer Machtvollkommenheit regiert1. Sein Name, der ide. Ursprungs ist (< *dye¯u-, eine Wurzel, die in Zusammenhang mit Himmel, Leuchten und Tag steht) und eine enge Verbindung mit der lat. Bezeichnung für Gott (deus) aufweist, verbindet ihn mit dem strahlenden Himmelslicht2. Hiervon leitet sich seine Funktion als
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Wettergott ab, der Himmelserscheinungen wie Wolken, J Regen, Sturm (J Wind), J Donner und J Blitz lenkt3. In der griech. Dichtung wie im regulären Sprachgebrauch wurde er als Urheber dieser Phänomene bezeichnet (,Z. regnet‘)4, eine Vorstellung, die in der populären Komödie karikiert wurde (Aristophanes, Nephelai [Die Wolken] 368⫺373: Z. macht Regen, indem er durch ein Sieb uriniert). Z. ist in der gesamten griech. Mythologie und literar. Produktion omnipräsent5. Zahlreiche Mythen sind für die Volksüberlieferung und populäre Lit. relevant. Geburt und Kindheit von Z. entsprechen dem Schema der Erzählungen über die J Aussetzung von Kindern, denen Großes bevorsteht6. Aus der heterogenen Überlieferung läßt sich folgende Biographie erstellen: Der Vater des Z. ist der Titan Kronos, Sohn der Gaia (Erde) und des Uranos (Himmel). Da diesem prophezeit wird, daß einer seiner Sprößlinge ihn zu Fall bringen werde, verschlingt er nacheinander alle ihm von seiner Frau Rhea geborenen Kinder. Als Z. zur Welt kommt, versteckt Rhea ihn in einer Höhle auf einem Berg und läßt Kronos statt dessen einen in Windeln gewickelten Stein verschlingen7. Der Säugling Z. wird von Tieren genährt (J Tieramme): Eine Ziege säugt ihn, Bienen füttern ihn mit Honig8. Als Z. herangewachsen ist, bringt er Kronos mit einem Brechmittel dazu, seine verschluckten Kinder wieder auszuspucken. Dann kämpft er gegen Kronos und dessen Geschlecht, die Titanen (cf. J VaterSohn-Motiv), besiegt sie und erlangt die Herrschaft über das Universum9. Später kämpft Z. gegen Typhon, ein Ungeheuer mit hundert Drachenköpfen und flammenden Augen, das sich der Macht der Götter entgegenstellt (J Drache, Drachenkampf, Drachentöter)10. In einigen Versionen kann Typhon Z. zunächst besiegen, schneidet ihm die Sehnen aus Händen und Füßen und sperrt ihn in eine Höhle, oder er stiehlt seine Donnerkeile und versteckt sie. Z. erhält das Gestohlene durch den Beistand anderer Götter oder Helden wieder zurück und streckt das Ungeheuer schließlich mit seinen Donnerkeilen nieder11.
Der Aufstieg des Z. zur Herrschaft und seine frühen Kämpfe besitzen Parallelen in den Mythologien des Nahen Ostens, die z. T. bis ins Detail gehen: Der Sturmgott Z. setzt seinen Vater Kronos ab, der seinerseits seinen Vater Uranos entthront und kastriert hatte. Dieses Muster liegt auch dem hethit. Mythos über die göttliche Herrschaftsabfolge zugrunde: Anu (Himmel) wird von Kumarbi kastriert und abgesetzt, der wiederum die Macht an den
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Sturmgott Tesˇsˇub verliert12. Die Kämpfe des Z. gegen die Titanen und Typhon sind mit verschiedenen nahöstl., hethit. (Tesˇsˇubs Konflikt mit Kumarbi und Kumarbis riesigem Felsungeheuer Ullikummi) und mesopotam. (Marduks Kampf gegen das Meerungeheuer Tiamat) Mythen vergleichbar13. Die Erzählungen, in denen Typhon Z. die Sehnen oder die Donnerkeile raubt, besitzen u. a. eine Entsprechung in dem nord. Mythos, in dem J Thors Hammer von dem Riesen Thrym entwendet wird (cf. auch AaTh/ATU 1148 B: Thunder’s Instruments)14. Als Gott der Weltordnung und Gerechtigkeit15 straft Z. Frevler. Mit seinem Donnerkeil vernichtet er Salmoneus, der den Rang und die Attribute des Z. für sich beansprucht, und Asklepios, der es wagt, die Toten zu erwecken. J Tantalus bestimmt er zu ewigen Qualen, weil jener das Vertrauen der Götter mißbraucht und ihnen zur Prüfung ihrer Weisheit seinen eigenen Sohn zur Speise vorgesetzt hatte. Ixion bindet er zur Strafe dafür, daß er versucht hatte, Hera zu verführen, an ein wirbelndes Rad16. Prometheus, der zuerst die Götter beim Opfer betrügt und später das Feuer stiehlt (J Feuerraub), läßt Z. an einen Felsen ketten und schickt einen J Adler, der jeden Tag an seiner Leber frißt17. Ein großer Teil der Z.-Mythologie behandelt Liebesaffären mit Göttinnen und sterblichen Frauen, bei denen Z. gewöhnlich bedeutende Götter und Helden zeugt18. Um einer Weissagung vorzubeugen, nach welcher der Sohn seiner ersten Frau Metis ihn in der Himmelsherrschaft ablösen werde, verschlingt Z. seine mit Athene schwangere Gattin; Athene wird dann aus seinem Haupt geboren19. Vielfach bedient sich Z. der J Verwandlung, um sich einer begehrten Frau zu nähern: Er verwandelt sich in einen J Stier, um Europa zu entführen, in einen J Schwan, um sich mit Leda zu vereinigen, und in einen goldenen Regen, um sich Zugang zu der gefangenen J Danae zu verschaffen; Alkmene erscheint er in Gestalt ihres Gatten J Amphitryon und Kallisto in der ihrer Jagdgefährtin Artemis (J Gestalttausch)20. Sogar zur J Verführung Heras verwandelt sich Z.: In Gestalt eines J Kukkucks findet er seinen Weg in ihren Schoß21. Spuren eines Verwandlungswettkampfs (Mot. D 615; cf. AaTh/ATU 325: J Zauberlehrling)
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enthält die Geschichte über Z. und Nemesis: Um der Verfolgung des Z. zu entgehen, flieht Nemesis über Land und Meer und verwandelt sich in verschiedene Tiere; als sie schließlich zur J Gans wird, paart sich Z. in Gestalt eines Ganters mit ihr22. Die antike Lit. und Kunst stellen die Liebesgeschichten des Z. oft in leichter und humoristischer Weise dar (Aristophanes, Nephelai, 1080⫺1082; Ornithes [Die Vögel], 556⫺560)23. Im 4. Jh. a. Chr. n. entwickelte sich eine populäre Lustspielgattung, welche die Liebeshändel des Z. mit sterblichen Frauen und die außergewöhnlichen Geburten seiner Kinder in possenhafter Weise behandelt24. Gelegentlich unternimmt Z. zusammen mit anderen Göttern eine J Erdenwanderung in menschlicher Gestalt, um die Gastfreundschaft der Menschen zu prüfen, Tugend zu belohnen und Bosheit zu bestrafen. Den kinderlosen Hyrieus beschenkt Zeus (zusammen mit Poseidon und dem J Götterboten Hermes) mit einem Sohn, indem die drei Götter ihren Samen in die Haut eines geopferten Stieres fließen lassen und dem Gastgeber befehlen, den Ledersack in der Erde zu begraben; daraus entsteht nach zehn Monaten der Riese Orion25. In einem Dorf in Phrygien erfahren Z. und Hermes nur im Haus des frommen alten Ehepaars J Philemon und Baucis freundliche Aufnahme; zum Lohn verwandeln die Götter das Haus in einen prächtigen Tempel, machen die beiden zu dessen Priestern und gewähren ihnen den Wunsch, zur selben Stunde sterben zu dürfen26. Als Lykaon Z. Menschenfleisch vorsetzt, läßt Z. einen Donnerkeil auf sein Haus niedergehen und verwandelt den Frevler in einen Wolf 27. Diese Geschichten sind von nahöstl. Erzählungen beeinflußt (cf. die Rolle Gottes im A. T.) und besitzen Analogien zu späteren Märchen über Gastlichkeit und Ungastlichkeit (J Gast) wie etwa AaTh/ATU 750 A⫺B: cf. Die drei J Wünsche28. Die moderne griech. Volksüberlieferung übertrug die Funktion des Z. als Wettergott auf Gottvater oder den Propheten J Elias29. Der Kampf des Z. gegen die Titanen hat in Sagen aus Zakynthos und Chios überlebt, die vom Kampf Gottes gegen die Riesen berichten30. Eine sizilian. Erzählung über die Liebesaffäre des Z. mit der Nymphe Thaleia könnte
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sich in J Basiles Version von AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit (Pentamerone 5,5) niedergeschlagen haben31. In der europ. Lit. und Kunst werden die Liebesbeziehungen des Z. immer wieder aufgegriffen. So war das Abenteuer mit Alkmene und Amphitryon ein populärer Komödienstoff 32. Noch im 20./21. Jh. erscheint Z. in Filmen und Fernsehserien, die auf den alten Mythen basieren, so etwa Clash of the Titans (USA 1981, Regie Desmond Davis; Neuverfilmung USA 2010, Regie Louis Leterrier)33; Z.Mythen liefern Material für Fantasy und Fiction mit übernatürlichem Inhalt34. Als prototypischer Ausdruck uneingeschränkter Kontrolle und Macht wurde Z. zum Markennamen für unterschiedliche Computerartikel35. 1
Lloyd-Jones, H.: The Justice of Z. Berk. 1971, 32 sq.; Schwabl, H.: Z. In: Pauly/Wissowa, Suppl. 15 (1978) 993⫺1481, hier 1009⫺1013. ⫺ 2 ibid., 999⫺ 1001. ⫺ 3 ibid., 1013⫺1020, 1045⫺1048; Burkert, W.: Greek Religion. Cambr., Mass. 1985, 125 sq.; Dowden, K.: Z. L./N. Y. 2006, 10⫺13, 54⫺57. ⫺ 4 Theophrastus: Characters. ed. J. Diggle. Cambr. 2004, 339 sq. ⫺ 5 Schwabl (wie not. 1) 1203⫺1319. ⫺ 6 Rose, H. J.: A Handbook of Greek Mythology. L. 1958, 288⫺290; Binder, G.: Die Aussetzung des Königskindes. Meisenheim 1964, 11⫺13, 64, 120, 125 sq. ⫺ 7 Hesiod, Theogonie 453⫺491; Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 1,1,5⫺7; Gantz, T.: Early Greek Myth. Baltimore/L. 1993, 41⫺43; Dowden (wie not. 3) 32⫺35. ⫺ 8 Kallimachos, Hymne 1,48⫺51; Antoninus Liberalis 19; cf. Binder (wie not. 6) 45⫺ 50. ⫺ 9 Hesiod, Theogonie 492⫺506, 624⫺735; Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 1,2,1; Gantz (wie not. 7) 44⫺48. ⫺ 10 Hesiod, Theogonie 820⫺868; cf. Binder (wie not. 6) 58⫺62. ⫺ 11 Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 1,6,3; Nonnos, Dionysiaca 1,145⫺2,712; Gantz (wie not. 7) 48⫺51. ⫺ 12 Hoffner, H. A.: Hittite Myths. Atlanta 1998, 42⫺ 65; Pecchioli Daddi, F./Polvani, A. M.: La mitologia ittita. Brescia 1990, 115⫺162. ⫺ 13 Walcot, P.: Hesiod and the Near East. Cardiff 1966, 1⫺49; West, M. L.: The East Face of Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth. Ox. 1997, 103⫺ 105, 276⫺286, 300⫺304; Nagar, D.: Fight of the Gods and Giants. In: Archetypes and Motifs in Folklore and Literature. ed. J. Garry/H. El-Shamy. Armonk/L. 2005, 32⫺37. ⫺ 14 Hansen, W.: Ariadne’s Thread. A Guide to Internat. Tales Found in Classical Literature. Ithaca/L. 2002, 305⫺314. ⫺ 15 Burkert (wie not. 3) 129 sq.; Lloyd-Jones (wie not. 1) 1⫺ 7, 27⫺36. ⫺ 16 Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 1,9,7; 3,10,3 sq.; Epitome 1,20; Gantz (wie not. 7) 91 sq., 171, 531⫺536, 718⫺721; Arafat, K. W.: Classical Z. A Study in Art and Literature. Ox. 1990, 140⫺ 142. ⫺ 17 Hesiod, Theogonie 521⫺616; Aeschylus,
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Der gefesselte Prometheus; Gantz (wie not. 7) 152⫺ 163; Vernant, J.-P.: Myth and Society in Ancient Greece. N. Y. 1988, 183⫺201. ⫺ 18 cf. Schwabl (wie not. 1) 1225⫺1258; Ashliman, D. L.: Entrance into Girl’s (Man’s) Room (Bed) by Trick. In: Garry/ElShamy (wie not. 13) 289⫺294, bes. 290. ⫺ 19 Hesiod, Theogonie 886⫺900; Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 1,3,6; Gantz (wie not. 7) 51 sq.; cf. Burkert (wie not. 3) 129. ⫺ 20 Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 2,4,1; 2,4,8; 3,1,1; 3,8,2; 3,10,7; Gantz (wie not. 7) 210 sq., 300⫺ 302, 319 sq., 374⫺377, 725⫺727. ⫺ 21 Scholium zu Theokritos 15,64; Pausanias 2,17,4. ⫺ 22 West, M. L.: Greek Epic Fragments. Cambr., Mass./L. 2003, 88⫺91 (Kypria, Fragmente 10 und 11); Athenaios, Deipnosophistai 334 c⫺d; Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 3,10,7; Rose (wie not. 6) 293, 303; Luppe, W.: Zeus und Nemesis in den Kyprien. Die Verwandlungssage nach Pseudo-Apollodor und Philodem. In: Philologus 118 (1974) 193⫺ 202. ⫺ 23 Schwabl (wie not. 1) 1309⫺1315; Dowden (wie not. 3) 39⫺52; Arafat (wie not. 16) 64⫺87, 172⫺174. ⫺ 24 Konstantakos, I. M.: Towards a Literary History of Comic Love. In: Classica et Mediaevalia 53 (2002) 141⫺171, hier 156⫺167. ⫺ 25 Palaephatus, De incredibilibus 51; Ovid, Fasti 5,493⫺ 544. ⫺ 26 Ovid, Metamorphosen 8,618⫺724. ⫺ 27 ibid. 1,198⫺243; Apollodoros, Bibliothe¯ke¯ 3,8,1. ⫺ 28 Rose (wie not. 6) 299; West (wie not. 13) 122⫺124; Hansen (wie not. 14) 211⫺223; Gunkel, H.: Das Märchen im A. T. Tübingen 1917, 76⫺80; Calder, W. M.: New Light on Ovid’s Story of Philemon and Baucis. In: Dundes, A. (ed.): The Flood Myth. Berk. 1988, 101⫺111. ⫺ 29 Lawson, J. C.: Modern Greek Folklore and Ancient Greek Religion. Cambr. 1910, 72⫺ 74; Dowden (wie not. 3) 119 sq. ⫺ 30 Lawson (wie not. 29); Schmidt, B.: Griech. Märchen, Sagen und Volkslieder. Lpz. 1877, 131. ⫺ 31 Macrobius, Saturnalia 5,19,17⫺24; Servius zu Vergil, Aeneis 9,581; BP 1, 435⫺441; Vogt, F.: Dornröschen ⫺ Thalia. In: Beitr.e zur Vk. Festschr. K. Weinhold. Breslau 1896, 195⫺235. ⫺ 32 Shero, L. R.: Alcmena and Amphitryon in Ancient and Modern Drama. In: Transactions and Proc. of the American Philological Assoc. 87 (1956) 192⫺238; Frenzel, Stoffe (102005), 53⫺56. ⫺ 33 Solomon, J.: The Ancient World in the Cinema. New Haven, Conn./L. 2001, 19, 113, 116. ⫺ 34 Clute, J./Grant, J. (edd.): The Enc. of Fantasy. L. 1997, 1047. ⫺ 35 Dowden (wie not. 3) 135.
Athen
Ioannis M. Konstantakos
Ziege. Zusammen mit dem Schaf gilt die Z. als das älteste wirtschaftlich genutzte Haustier. Bereits um 8000 a. Chr. n. wurden Wildziegen im Vorderen Orient domestiziert. Die Hausziege (Capra aegarus hircus) ist heute fast über die ganze Welt verbreitet. Sie ist genügsam, ro-
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bust und einfacher als Rinder zu halten. Als die ,Kuh des kleinen Mannes‘ begegnet sie in Liedern, Erzählungen (z. B. AaTh/ATU 1834: J Pfarrer mit der feinen Stimme) sowie in der populären Druckgraphik und ist als Haus-, aber auch als Reittier ein stereotypes Attribut bestimmter Personengruppen, bes. des J Schneiders, der oft auch hinsichtlich seines Erscheinungsbildes (Z.nbart) mit der Z. verglichen wird1. Sie ist von großem wirtschaftlichem Nutzen, da ihr Fleisch, ihre Milch und ihr Fell verwendet werden. Wenn in Erzählungen Bock oder Lamm erwähnt werden, ist nicht immer eindeutig, ob es sich um Z. oder Schaf handelt2. In mythol. Erzählungen gilt die weibliche Z. als Sinnbild für Nahrungsspende und Fruchtbarkeit, der Z.nbock für Stärke, Lebenslust und Lüsternheit. Beide Aspekte waren schon in der griech. Mythologie stark ausgeprägt: Die Göttermutter Rhea versteckte ihren neugeborenen Sohn J Zeus vor seinem Vater Kronos in einer Grotte auf Kreta. Dort nährte ihn die Z. Amalthea mit ihrer Milch (J Tieramme). Ein abgebrochenes Horn der Amalthea wurde von Zeus in ein Füllhorn verwandelt3. Der Wald- und Weidegott Pan, am ganzen Leibe behaart und mit Z.nhörnern und -füßen ausgestattet, verkörperte die dem Z.nbock zugeschriebene Lüsternheit und Wildheit4. Seit dem späten MA. bestimmte Pans Gestalt das Bild des J Teufels5. Ebenso wie Pan war auch die Chimäre (von griech. chimaira ⫽ Z.) ein Mischwesen. Sie war vorne Löwe, in der Mitte Z. und hinten Schlange6. In griech. Überlieferung ist die Z. Entdeckerin geheiligter Orte7. Nach einer alttestamentlichen Erzählung belud J Aaron einen Bock mit allen Sünden Israels und jagte diesen sprichwörtlich gewordenen Sündenbock in die Wüste (Lev. 16,20⫺22). In der altnord. Mythologie wird der Wagen des Donnergottes J Thor von zwei Z.nböcken gezogen. Werden diese geschlachtet und verzehrt, kann Thor sie mit seinem Hammer wiederbeleben (J Wiederbelebung)8. Ätiologischen Sagen zufolge schuf der Teufel sich die Z. als Reittier9. Hans J Sachs bezeichnet die Z. als Schöpfung des Teufels10. In anderen europ. schwankhaften dualistischen Schöpfungserzählungen soll der Teufel versucht haben, Gott zu imitieren, als dieser die
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Kuh oder das Schaf schuf, brachte aber nur die Z. zustande (J Imitation: Fatale und närrische I.)11. Nach Überlieferungen der Geˆ-Indianer in Südamerika hat ihr verbrannter und wieder lebendig gewordener Kulturheros die Z. und andere Tiere aus seiner eigenen Asche geschaffen12. Sambilikita, der mythische Held der Südwest-Bantu in Angola, soll entweder aus einem Ei geschlüpft oder von einer Z. geboren worden sein13. Der Schwanz der Z. ist kurz, weil der wütende Teufel ein (großes) Stück davon abgerissen hat14 oder weil der Wolf in einer ähnlich wie AaTh/ATU 123: J Wolf und Geißlein angelegten Erzählung dem kleinsten Zicklein den Schwanz abgefressen hat15. Andere Geschichten erklären die Herkunft des Z.nbarts16, den strengen Geruch des Z.nbocks17, das Zottelhaar an seinen Beinen18 oder weshalb die Z. anders als Esel und Hund von der Straße flieht, wenn ein Auto kommt19. Die Widerspenstigkeit der Z.n, die so mancher Hirt erfuhr, wird Anlaß für die Geschichten von störrischen und boshaften Z.n gewesen sein. Am bekanntesten ist die Erzählung von der lügnerischen Z., die ihrem Besitzer erklärt, seine Söhne hätten sie nicht gut geweidet; der erboste Vater jagt seine Söhne daraufhin fort (AaTh/ATU 212: Die boshafte J Z.). Vom Starrsinn und seinen üblen Folgen handelt die auf J Plinius zurückgehende Fabel AaTh/ATU 202: J Böcke auf der Brücke: Da keiner nachgeben und ausweichen will, stürzen beide in die Tiefe. Eine störrische Z. ist Mittelpunkt des Kettenmärchens AaTh/ATU 2015: J Z. will nicht heim: Die Z. gehorcht dem Hütejungen nicht, auch nicht all denen, die ihm helfen wollen; erst der Stich einer Biene treibt sie heim20. Tiergeschichten verarbeiten oft die Konfrontation der schwachen Z. mit ihren Hauptfeinden, den Raubtieren. In der Rätselgeschichte AaTh/ATU 1579: J Wolf, Z. und Kohlkopf kann die Z. nicht mit dem Kohlkopf allein gelassen werden, weil sie ihn vertilgen würde, mit dem Wolf ebenfalls nicht, weil er sie fressen würde. Die Kraft der Z. wird manchmal unterschätzt: In AaTh/ATU 122 E: Wait for the Fat Goat läßt der Troll (Wolf) die beiden kleinen Z.nböcke eine Brücke passieren und wartet auf den großen, fetten; der aber stößt ihn in den Fluß. Selten ist die Z. dumm und unterliegt, wie in AaTh/ATU 31: The Fox
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Climbs from the Pit on the Wolf’s Back. Hier springt sie in einen Brunnen und ermöglicht so dem Fuchs das Entkommen, ist selbst aber gefangen; in AaTh/ATU 127 A*: The Wolf Induces the Goat to Come down from a Cliff and Devours It läßt sie sich vom Wolf überreden, von einer unzugänglichen Klippe herunterzukommen und wird gefressen; in ATU 127 B*: Goat Eats in Garden and is Caught wird sie gefangen und obendrein verspottet. In den meisten Fällen aber triumphiert die Z. durch Schläue und List (J Stark und schwach). So schafft sie es in den in Asien und Afrika beliebten Bluff-Geschichten selbst in aussichtsloser Lage, die Gegner (Tiger, Hyäne, Wolf) in die Flucht zu schlagen. In Var.n von AaTh/ATU 126: J Schaf verjagt den Wolf kneift die Z. ihr Kind; als es laut schreit, behauptet sie gegenüber dem Tiger, es weine, weil es Hunger auf Tigerfleisch habe (cf. AaTh/ATU 1149: J Kinder begehren das Fleisch des Unholds)21. In anderen Erzählungen erklären die jungen Tiere dem Wolf, daß ihre Hörner zum Wolftöten und ihre Hodensäcke zum Würzen des Wolfsfleisches dienten22; Z.n brüsten sich, am Vortag schon fünf Hyänen getötet zu haben23 oder allein durch ihren Blick und durch Augenblinzeln töten zu können (afrik. Var.n von AaTh/ATU 125: J Wolf flieht vor dem Wolfskopf und AaTh/ATU 126)24; eine wiederkäuende Z. gibt an, Steine zu kauen25. Wie das J tapfere Schneiderlein (AaTh/ATU 1640) das Wildschwein sperrt die Z. den Wolf in einer Kapelle ein (Mot. K 731)26. Der J Romeo und Julia-Thematik verwandt sind die in Afrika und Asien beliebten Erzählungen über die Freundschaft zwischen dem Kind eines Raubtiers und dem Kind einer Z. (Antilope, Kuh, Menschenfrau); dabei entgeht das Zicklein nur selten den Tötungsabsichten der Raubtiereltern27, meist rächt das Raubtierkind dann den Tod seines Freundes und tötet die eigenen Eltern28. Die weite Verbreitung derartiger teilweise schon auf äsopische Fabeln29 zurückgehender Tiergeschichten führte zu einer häufigen Verwendung in der Emblematik30, die Erfahrungen mit dem (störrischen) Haustier auch zu zahlreichen Sprichwörtern und Redensarten31. Als Erscheinungsform der toten Mutter begegnet in Var.n von AaTh/ATU 511: J Ein-
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äuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein neben der Kuh die Z.: Sie versorgt ihre mißhandelte Tochter liebevoll und führt an ihrer Stelle schwere Arbeit aus. In KHM 130, AaTh/ATU 511 ist das J Tischleindeckdich-Motiv (AaTh/ ATU 1841) mit der Z. verbunden, die mit der Formel: „Zicklein, meck, Tischlein, deck!“ gebeten wird, Essen zu spenden. In Estland erzählt man von sieben Zicklein, die ein bis sieben Augen haben und in einer aus Zucker, Gebäck und Käse gebauten Hütte im Himmel leben; der Held erreicht sie über eine J Bohnenranke und ißt sich dort satt32. In slav. Var.n von AaTh/ATU 563 erscheint anstelle des Goldesels auffallend häufig eine Gold spendende Z.33 Der goldene J Bock (AaTh/ATU 854) hingegen ist kein Tier mit magischen Kräften, sondern eine Art J Trojan. Pferd, ein goldenes Kunstwerk, in dem sich der Held versteckt, um Zutritt in das Gemach der Prinzessin zu gewinnen. In den Kreis der in Tiergestalt geborenen Protagonisten gehört das Z.nmädchen34: In dem im Mittelmeerraum und auf dem Balkan verbreiteten Erzähltyp AaTh/ATU 409 A: The Girl as Goat wünscht sich eine kinderlose Frau ein Kind, auch wenn es Tiergestalt hätte, und bringt eine Z. zur Welt. Als Lebensretter seines Herrn erscheint der Z.nbock in der ind. Redaktion von AaTh/ATU 670: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch. Er rät ihm, nicht dem Drängen seiner Frau nachzugeben, sein Geheimnis zu verraten, sondern sie so lange zu prügeln, bis sie aufhöre zu fragen35. 1 Hasse, M.: Das Schneiderlied. In: Brednich, R. W./ Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volksliedes 1. Mü. 1973, 801⫺831, hier 814⫺829. ⫺ 2 Schenda, R.: Das ABC der Tiere. Mü. 1995, 406⫺412. ⫺ 3 Hunger, H.: Lex. der griech. und röm. Mythologie. Reinbek 1981, 28. ⫺ 4 ibid., 300. ⫺ 5 Gottschalk, H.: Lex. der Mythologie der europ. Völker. B. 1973, 166. ⫺ 6 Hunger (wie not. 3) 82. ⫺ 7 Loukatos, D. S.: Le Motif de la che`vre de´couvrant des lieux sacre´s en Gre`ce. In: Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte. Festschr. M. Zender. Bonn 1972, 465⫺469. ⫺ 8 Sydow, C. W. von: Tors färd till Utga˚rd. In: DSt. (1910) 65⫺105, 145⫺182; Wikander, S.: Tors bockar och patriarkernas kalv. In: Arv 6 (1950) 90⫺99. ⫺ 9 Dh. 1,2, 153 sq. ⫺ 10 Sachs, H.: Werke 1. ed. E. Goetze. Tübingen 21953, num. 172; cf. Lixfeld, H.: Gott und Teufel als Weltschöpfer. Mü. 1971, 54⫺65, hier 54⫺57. ⫺ 11 ibid., 57⫺65; Guenther, M.: Bushman Folktales. Stg. 1989, 50. ⫺ 12 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk
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Ziege: Die boshafte Z.
Literature of the Geˆ Indians 1. L. A. 1978, num. 46. ⫺ 13 Seifert, M.: Derjenige, der sich selbst erschaffen hat … Motivunters.en zu Heldenerzählungen aus Nordnamibia und Südangola. Köln 2009, 266. ⫺ 14 Dh. 1, 153 sq. ⫺ 15 Dh. 4, 277. ⫺ 16 Dh. 1, 2. ⫺ 17 Dh. 3, 233. ⫺ 18 Dh. 3, 45 sq. ⫺ 19 Schmidt, S.: Tiergeschichten in Afrika. Erzählungen der Damara und Nama. Köln 1996, num. 61. ⫺ 20 Müller, I.: Die Mkuyu-Trommel. Märchen und Fabeln aus den Bergen von Süd-Pare (Tanzania). Erlangen 1996, 79 sq. ⫺ 21 North Indian Notes & Queries 3 (1893/94) 65. ⫺ 22 Taube, E.: Volksmärchen der Mongolen. Mü. 2004, num. 25. ⫺ 23 Frobenius, F.: Atlantis 1⫺11. Jena 1921⫺28, hier t. 11, 122 (Bassari, Togo). ⫺ 24 Klipple; Frobenius (wie not. 23) t. 9 (1924) 124 (Nupe, Nigeria); 10 (1926) 248 (Yoruba, Nigeria). ⫺ 25 Dh. 3, 206 sq.; Lambrecht, num. 1162; Baer, F.: Sources and Analogues of the Uncle Remus Tales (FFC 228). Hels. 1980, 130. ⫺ 26 Tene`ze, M.-L.: Quatre Re´cits du loup. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 351⫺367, hier 366 sq. ⫺ 27 Müller (wie not. 20) 111 sq.; Chatelain, H.: Folktales of Angola. Boston/N. Y. 1894, 190⫺ 195. ⫺ 28 Schmidt, S.: Tricksters, Monsters and Clever Girls. African Folktales ⫺ Texts and Discussions. Köln 2001, 254 sq.; North Indian Notes & Queries 3 (1893/94) 122⫺133. ⫺ 29 Dicke/Grubmüller, num. 650⫺652; Schwarzbaum, Fox Fables, 306⫺ 308, 325⫺329. ⫺ 30 Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Hb. zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jh.s. Stg. 1976, 532⫺536. ⫺ 31 Röhrich, Redensarten 5, 1771 sq. ⫺ 32 Päär, P./ Türnpu, A.: Estonian Folktales. Tallinn 2005, 87⫺ 92. ⫺ 33 BP 1, 351⫺360. ⫺ 34 Hahn, num. 14 (griech.); Angelopoulos, A.: Fiance´e exotique, fiance´e-animal? In: Cahiers de litte´rature orale 57/58 (2005) 117⫺138. ⫺ 35 Aarne, A.: Der tiersprachenkundige Mann und seine neugierige Frau (FFC 15). Hamina 1914, 50.
Hildesheim
Sigrid Schmidt
Ziege: Die boshafte Z. (AaTh/ATU 212), Tiermärchen mit der Moral, daß man niemandem ohne weiteres aufs Wort glauben darf, und daß man sich vor J Lüge und Betrug (J Betrüger) hüten soll. Ein Vater läßt seine drei Söhne (Töchter, Ehefrau) nacheinander die Z., deren Milch oft die einzige Einkommensquelle darstellt, weiden. Am Ende des Tages bestätigt die Z. demjenigen, der sie von der Weide holt, jeweils, daß sie genug gefressen habe. Zuhause erzählt sie dem Vater allerdings, daß sie noch Hunger habe, weil sie nicht genug fressen durfte. Im Zorn jagt der Vater die Söhne nacheinander aus dem Haus (tötet sie). Als er die Z. selbst weidet, sieht er, daß sie reichlich frißt. Da sie den-
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noch verkündet, sie habe noch Hunger, versteht er, daß die Z. lügt. Die Z. wird geschlachtet (geschoren und vertrieben; flieht mit dem Messer im Rücken).
Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 212 hauptsächlich für Europa sowie sporadisch für den Mittleren Osten und Afrika (Ägypten, Sudan, Südafrika) belegt. Wenngleich R. J Schenda in dem Erzähltyp eine spätma. Warnerzählung sieht1, sind keinerlei ältere schriftl. Belege nachgewiesen. Meist endet die Erzählung mit der Tötung bzw. der Vertreibung der Z. Manche Var.n bringen eine andere Begründung, warum der Halter die Z. schlachtet ⫺ etwa, weil sie keine Milch mehr gibt2. AaTh/ATU 212 wird oft selbständig erzählt, kommt aber auch in Kombination mit anderen Märchen vor. In der recht häufigen Verbindung mit AaTh/ATU 123 : J Wolf und Geißlein wird die Z. nach ihrer Flucht Mutter der Zicklein, die der Wolf fressen will3. Eine motivische Überschneidung mit AaTh/ATU 123 ergibt sich auch, wenn die Z. nach ihrer Flucht in den Bau eines Fuchses (Hase) eindringt, indem sie ihre Stimme verstellt (Mot. K 311.3)4. Regelmäßig dient AaTh/ATU 212 als Einleitung für das Zaubermärchen AaTh/ATU 563: J Tischleindeckdich. Erstmalig erscheint diese Kombination in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm: KHM 36 geht auf die Erzählung von Jeanette Hassenpflug aus Kassel zurück, die die Geschichte laut eigener Angabe von der „alten Mamsell Storch bei Henschel“ hörte5. Mit großer Sicherheit sind alle späteren Aufzeichnungen, die AaTh/ATU 212 mit AaTh/ATU 563 kombinieren, von der Fassung der Brüder Grimm abhängig6. Wenn die Z. sich im Fuchsbau verkriecht, verjagt sie die Bewohner mit Drohungen7 oder durch ihr angsteinflößendes Äußeres. Auch ein zu Hilfe eilender Bär (Wolf, Löwe, Hase) flieht vor ihr. Erst als ein eher unscheinbares oder scheinbar unterlegenes Tier (Biene, Wespe, Hummel, Ameise, Krabbe; Hahn, Igel, Stachelschwein) die Z. sticht, flüchtet sie aus der Höhle. Sie rennt weg, oder sie wird gefangen und von den anderen Tieren gefressen. Diese Episode zeigt Ähnlichkeiten mit dem oft selbständig aufgezeichneten Formelmärchen AaTh/ATU 2015: J Z. will nicht heim und wird gelegentlich damit verwechselt8. In der
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Ziege will nicht heim
Slowakei ist AaTh/ATU 212 auch als Kinderspiel und Kettenlied bekannt9. In den meisten publizierten Texten spricht die Z. in Reimform, z. B. niederdt.: „Eck bin säo satt / Eck mag näin blatt“10. Beim mündl. Vortrag kann das Märchen sehr lebhaft und humorvoll gestaltet werden, indem etwa die Antworten der Z. mit einer meckernden Stimme wiedergegeben werden: „Ich bin so satt, / Ich mag kein Blatt: meh! meh!“ (KHM 36). Manchmal werden die Verse gesungen11. 1
Schenda, R.: Märchen aus der Toskana. MdW 1996, 362. ⫺ 2 z. B. Galkin, P./Kitajnik, M./Kustum, M.: Russkie narodnye skazki Urala. Sverdlovsk 1959, 155⫺157. ⫺ 3 z. B. Dardy, L.: Anthologie populaire de l’Albret 2. Agen 1891, 337⫺349; Fabre, D./Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 2. P. 1973, 199⫺215; Javorskij, J. A.: Pamjatniki galicko-russkoj narodnoj slovesnosti. Kiev 1915, 161 sq.; Maugard, G.: Contes des Pyre´ne´es. P. 1955, 211⫺219; Lambert, L.: Contes populaires du Languedoc. Carcassonne 1985, 131⫺137; Massignon, G.: Folktales of France. Chic. 1968, 71⫺73; Meyrac, A.: Traditions, coutumes, legendes et contes des Ardennes. Charleville 1890, 462⫺465; Ramanau˘, E. R.: Belaruskija narodnyja kazki. Minsk 1962, 299⫺ 303. ⫺ 4 Jech, J.: Tschech. Volksmärchen. B. 21984, 24⫺26. ⫺ 5 KHM/Rölleke 3, 457. ⫺ 6 cf. auch Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B. u. a. 2008, 88⫺92. ⫺ 7 z. B. Fox, N.: Märchen und Tiergeschichten. Saarlautern 1942, 132, 134; Ortutay, G.: Ung. Volksmärchen. B. (1957) 6 1980, num. 64. ⫺ 8 Liungman, Volksmärchen, 29; Ranke, K.: Folktales of Germany. Chic. 1966, 201. ⫺ 9 Gasˇparı´kova´, V.: Slowak. Volksmärchen. MdW 2000, 308. ⫺ 10 cf. z. B. Busch, W.: Ut oˆler Welt. Mü. 1910, 44. ⫺ 11 Ortutay (wie not. 7) 544; Massignon (wie not. 3) 257.
Amsterdam
Theo Meder
Ziege will nicht heim (AaTh/ATU 2015), weitverbreitetes Kettenmärchen, das AaTh/ ATU 2030: Die alte J Frau und das Schwein nahesteht. Ein Junge versucht vergeblich, eine Z. nach Hause zu treiben. Auch alle herbeigerufenen (zufällig vorbeikommenden) Helfer (Kuh, Esel, Hund, Fuchs, Bär, Hase; Hahn) bleiben erfolglos. Erst als eine J Ameise (J Wolf; J Biene, Wespe, Stechfliege, Grille) die Z. beißt (sticht), läuft sie heim.
AaTh/ATU 2015 ist wie AaTh/ATU 2030 in Europa und Asien sowie in Teilen Nord- und
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Südamerikas verbreitet. Die typischen Handlungsträger von AaTh/ATU 2015 sind Z. und Ameise. Die Z. zeigt Eigenschaften, die als charakteristisch für diese Tierart gelten: Launenhaftigkeit, Eigensinn, Flinkheit und Wendigkeit. Bei der Ameise werden weniger die ihr traditionell zugeschriebenen Tugenden (Fleiß, Voraussicht, Geduld, Ausdauer) hervorgehoben als ihre Fähigkeit, trotz ihrer geringen Größe eine große Wirkung zu erzielen. In der Toskana gibt es zu diesem Erzähltyp u. d. T. La capra ferrata eine Gruppe von schriftl. und mündl. Fassungen, denen folgender Ablauf gemeinsam ist1: Ein Kind, aus dessen Haus die Z. nicht weichen will, macht durch sein Weinen eine alte Frau und danach einen alten Mann auf die Situation aufmerksam. Die beiden bieten an, die Z. gegen eine Entlohnung (Weizen, Käse etc.) zu vertreiben. Zwei Versuche enden erfolglos, denn jedesmal erschreckt die Z. die Helfer mit dem Satz: ,Ich bin die beschlagene Z. mit dem Eisenmaul und der Schwertzunge; wenn du nicht fortgehst, zerschneide ich dich wie eine Rübe!‘ Ein Vogel unternimmt einen dritten Versuch, die Z. zu vertreiben; auf ihre Drohung antwortet er: ,Und ich bin das Vögelchen, das dir mit seinem Schnabel ein trockenes Loch macht!‘ Daraufhin flieht die Z.
In einer sizilian. Fassung wird hingegen die Bitte geäußert, die Z., die sich unter dem Bett einer Frau versteckt hat, möge vertrieben werden; die nacheinander herbeigerufenen Helfer verlangen keine Gegenleistung. Die Z. flieht, als eine Grille ihr droht2. In bulg. Var.n flieht der Z.nbock, nachdem er von einem Käfer, einer Mücke oder einem Krebs gezwickt bzw. gestochen wurde3. In einer Erzählung aus Mexiko lösen die Tränen des kleinen Jungen, dessen Chilipflanzen von einem Lamm gefressen werden, spontane Hilfeangebote aus, die aber wirkungslos bleiben. Schließlich bietet der Junge einer Ameise eine ansehnliche Entlohnung in Form von Mais an, die diese auf eine geringe Menge reduziert. Das Lamm flieht, als es von der Ameise ins Bein gebissen wird4. In einer puertorican. Var. sind die Helfer ein Ochse, eine Spinnerameise und eine Feuerameise; letztere hat Erfolg, weil sie mit einem schmerzhaften Biß droht5. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen AaTh/ATU 2015 und AaTh/ATU 2030 ist die Beziehung der Helfer untereinander: In AaTh/ ATU 2015 besteht die Helferreihe aus Gliedern, die beziehungslos nebeneinander stehen,
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Ziege: Die hoffärtige Z. ⫺ Zielform
in AaTh/ATU 2030 aus solchen, die voneinander abhängig bzw. aufeinander bezogen sind. Im ersten Fall kann man von einer rein additiven Reihe sprechen; im zweiten Fall handelt es sich entweder um eine einfache Kette (A stößt B, der C stößt etc.) oder um eine kumulative Kette (A befiehlt X, heimzugehen / Weigerung; A befiehlt B, X zu beißen, damit X heimgeht / Weigerung; A befiehlt C, B zu schlagen, damit B X beißt, damit X heimgeht / Weigerung, etc.). Dieses formale Differenzierungsmerkmal zwischen den beiden Erzähltypen wurde nicht immer beachtet. In der 2. Auflage von AaTh wird AaTh 2015*: The Goat Who Would not Leave the Hazel Bush zu AaTh/ATU 2015 statt zu AaTh/ATU 2030 gestellt, obwohl AaTh 2015* die für AaTh/ATU 2030 charakteristische kumulative Kette aufweist. ATU betont hingegen das formale Motiv der Beziehung zwischen den Helfern, indem AaTh 2015* nun AaTh/ATU 2030 subsumiert ist6. Unter den Formelmärchen sind die Var.n von AaTh/ATU 2015 die schlichtesten; sie stellen noch geringere kognitive Anforderungen an den Leser bzw. Hörer als die Var.n von AaTh/ATU 2030. Der Erzähltyp bietet sich daher an, die psycholinguistische Bedeutung von Kettenmärchen zu verdeutlichen. In Kettenmärchen sind die Handlungen und Interaktionen überwiegend sensorisch-motorischer Art; sie sind bes. leicht zu verstehen, weil sie dem elementarsten Schema der symbolischen Handlung (Wunsch ⫺ Mittel zu seiner Durchsetzung ⫺ Resultat) nahestehen7. Die Bedeutung der Kettenmärchen für den Prozeß des kindlichen Spracherwerbs liegt darin, daß sie die Wiederholung von Interaktionen und ihre additive und/oder kettenmäßige Einbindung in eine erzählerische Logik miteinander kombinieren. 1 BP 1, 347; Cirese/Serafini; Imbriani, V.: La novellaja fiorentina. Livorno 1877, num. 42. ⫺ 2 cf. Pitre´, G.: Fiabe, novelle e racconti popolari siciliane 3. Palermo 1875, num. 133. ⫺ 3 BFP. ⫺ 4 Robe, S. E.: Mexican Tales and Legends from Los Altos. Berk./L. A./ L. 1970, num. 140, cf. 141. ⫺ 5 JAFL 40 (1927) 386, num. 86. ⫺ 6 cf. auch Ancelet, B. J.: Cajun and Creole Folktales. The French Oral Tradition of South Louisiana. Princeton 1994, 29 sq.; Calvin, C./ Chartois, J.: A French Cumulative Tale. In: JAFL 62 (1949) 42⫺47; Eberhard/Boratav, num. 24, 27. ⫺ 7 Petitat, A./Pahud, S.: Les Contes se´riels ou la ca-
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te´gorisation des virtualite´s primaires de l’action. In: Poe´tique 133 (2003) 15⫺34.
Lausanne
Andre´ Petitat
Ziege: Die hoffärtige Z. J Tiere: Die eitlen T.
Zielform. Der Begriff Z. wurde von M. J Lüthi auf der Grundlage von Unters.en an Märchen, Sagen und Volksliedern geprägt; er läßt sich auf alle Gattungen der Volkserzählung übertragen1. Nach Lüthi entwickelt sich die Z. durch ,Zurechterzählen‘ (cf. J Zersagen, Zersingen) aus der J Urform oder aus einer im Verlauf der Überlieferung entstandenen Übergangsform durch die in ihr keimhaft enthaltenen inhaltlichen und sprachlichen Möglichkeiten: „In den Worten und Wortgruppen, in den Stoffpartikeln und Motiven der sprachlichen Gebilde sind eine Unzahl von Strebungen enthalten, die nach Verwirklichung zielen. [. ..] Sie entsprechen dem Zielbedürfnis, das zu den Grundlagen nicht nur des Kunstschaffens, sondern des menschlichen Daseins überhaupt gehört.“2 Diese Entwicklung, das ,Sichselbermachen‘ der Erzählung, sei in der Volksdichtung stärker ausgeprägt als in der Individualliteratur, weil erstere williger den Intentionen der Sprache, des Motivs und der Gattung folge. Für jeden Erzähltyp existiere jedoch nicht nur eine einzige Z., weil sich vor dem Hintergrund differierender kultureller und religiöser Ideale sowie der Intention des einzelnen Erzählers verschiedene Ziele ergeben könnten. Für Erzählungen, in denen alle ihnen innewohnenden Möglichkeiten optimal verwirklicht sind, verwendete Lüthi den Begriff Hochform3. Nicht immer, doch in vielen Fällen ist die Hochform mit der Z. identisch. Wirkkräfte, die von einer Urform zur Z. führen, sind inhaltlich-motivische Konstellationen, Stilzwang, psychische und soziale Voraussetzungen oder im menschlichen Geist bewußt oder unterschwellig stets gegenwärtige Grundthemen, die miteinander in Konflikt geraten können, wobei sich bald das eine, bald das andere Ziel durchsetzt. Hierzu tragen auch die Mechanismen der von A. J Olrik definier-
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Zielform
ten J Epischen Gesetze bei, ebenso wie W. J Andersons Gesetz der J Selbstberichtigung. Allerdings bedingen Erzählgelegenheit und Erzählabsicht, die quasi organische Weiterentwicklung des Erzählguts und die Erzähler-Hörer-Gemeinschaft (J Performanz, J Zuhörer), die Ausgestaltung des Erzählguts immer neu4. Lüthi akzeptierte durchaus, daß durch analoge psychische Erlebnisse und Abläufe, wie sie sich überall und zu allen Zeiten einstellen, auch analoge Erzählungen entstehen können (J Polygenese), war aber überzeugt davon, daß dies für die Genese einer Z. als Erklärung nicht ausreicht. Ebenso negativ beurteilte er rein soziol. Ansätze wie denjenigen von V. M. J Zˇirmunskij5. Lüthis Unters. ist der (vorläufige) Abschluß einer langen Diskussion über die J Kontinuität von Volkserzählungen (J Stabilität, J Variabilität), die von den Vertretern der J geogr.hist. Methode6 begonnen wurde. Diese hatten versucht, aus den bekannten Var.n eines Erzähltyps die Urform von Volkserzählungen zu rekonstruieren und scheiterten an verschiedenen Punkten ihres eigenen Kriterienkatalogs, vornehmlich an den nicht objektivierbaren Merkmalen ,Natürlichkeit‘ und ,Logik‘. Fast zeitgleich begegnete erstmals der ebenfalls nicht eindeutig definierte Terminus J Grundform, den A. J Aarne7 und K. J Ranke8 als deckungsgleich mit Urform verwendeten. Lüthi dagegen betrachtete die Grundform als „Grundmöglichkeiten der Erzählung“, ebenso wie A. J Jolles, dessen J Einfache Formen Lüthi als Grundformen bezeichnet9. Dem Konzept der Z. verwandt sind Interpretationen der analytischen Psychologie, wonach jede Var. einen Versuch darstellt, das zugrundeliegende archetypische Geschehen (J Archetypus) zu formulieren10. Dies kritisierte Ranke als untauglichen Versuch am untauglichen Objekt11. In eine ähnliche Richtung wie Lüthi zielte M. Weber mit seinem Konzept des Idealtypus12, das D. Ben-Amos jedoch als für die Folkloristik wenig brauchbar ablehnte13. Aus Sicht der Kommunikationsforschung und Medienpädagogik mit Schwerpunkt auf dem gestaltenden Erzähler hat sich N. Kober mit ähnlichen Phänomenen beschäftigt14. Relevant für die Diskussion des Begriffs ist auch der von G. J Ortutay eingeführte Begriff
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der J Affinität: Verwandte oder ähnliche Erzähltypen und Konstruktionen üben aufeinander Anziehungskraft aus, was zu neuen Erzähltypen, Formen und Var.n führt. Lüthis Begriff Hochform weist auch Ähnlichkeiten mit dem Begriff ,Idealtext‘ auf, den der Textlinguist B. Marfurt für die ideale Formulierung und die sorgfältig abgestimmte Auswahl sowie Kombination der einzelnen Textelemente des Witzes verwendete: Vor allem die zentralen Stellen ⫺ Eingangssätze und J Pointe ⫺ erlaubten kaum je eine Abweichung von der idealen Textformulierung. Einzelne Elemente der komplexen Gesamtstruktur ließen sich nicht beliebig auswechseln, ohne daß der gesamte Witz entscheidend verändert oder zerstört würde15. In der Vk. wurde Lüthis Z. wenig diskutiert. Lediglich H. J Lixfeld hat die Brauchbarkeit des Begriffs für den Witz bestätigt16. 1 Lüthi, M.: Urform und Z. in Sage und Märchen. In: Fabula 9 (1967) 41⫺54 (⫽ id.: Volkslit. und Hochlit. Bern/Mü. 1970, 198⫺210; engl.: New Observations and Reflexions Concerning the Phenomenon „Z.“ [End Form, Goal Form]. In: Folklore Today. Festschr. R. Dorson. Bloom. 1975, 357⫺368); id.: Das Volksmärchen als Dichtung. Düsseldorf/ Köln 1975, 8, 69, 84 sq., 89 sq., 168, 177, 180, 184; Lüthi, Märchen, 83, 85, 118. ⫺ 2 ibid., 204 sq. ⫺ 3 id. 1970 (wie not. 1) 199. ⫺ 4 EM 7, 201. ⫺ 5 Schirmunski, V.: Vergleichende Epenforschung 1. B. 1961, 23. ⫺ 6 cf. Krohn, K.: Die folkloristische Arbeitsmethode. Oslo 1926, 111⫺117. ⫺ 7 Aarne, A.: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung (FFC 13). Hamina 1913, 39⫺56, hier 48. ⫺ 8 EM 1, 749. ⫺ 9 Lüthi, M.: Volksmärchen und Volkssage. Zwei Grundformen erzählender Dichtung. Bern/Mü. 1961, 7; Lüthi, Märchen, 14. ⫺ 10 Isler, G.: Die Sennenpuppe. Basel 1971, 32. ⫺ 11 Ranke, K.: Einfache Formen. In: Fischer Lex. Lit. 2,1. Ffm. 1965, 198 sq. ⫺ 12 Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1921⫺22, 51972, pass. ⫺ 13 Ben-Amos, D.: Do We Need Ideal Types (in Folklore)? Turku 1992. ⫺ 14 Kober, N.: „Ja, natürlich! Ich erzähle frei“. Worauf es beim freien, mündl. Erzählen von Märchen und Geschichten ankommt. Bad Sooden-Allendorf 32012. ⫺ 15 Marfurt, B.: Textsorte Witz. Möglichkeiten einer sprachwiss. Textsorten-Bestimmung. Tübingen 1977; Lixfeld, H.: Z.en im Witz. Zur Variabilität und Stabilität in der Erzählüberlieferung. In: Fabula 20 (1979) 107⫺115, hier 109 sq. ⫺ 16 ibid.
Reichertshausen
Rainer Wehse
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Zigeuner, Zigeunerin
Zigeuner, Zigeunerin 1. Allgemeines ⫺ 2. Stereotypen ⫺ 3. Erzählforschung
1 . All ge me in es. Die Figuren des Zigeuners (Z.s) und der Z.in sind Repräsentationen der J Sinti und Roma in der Wahrnehmung der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften. Als ethnische Minderheiten stehen sie ⫺ vergleichbar den J Juden ⫺ in europ. Volksüberlieferungen für die den Normen und Werten der Mehrheiten nicht entsprechenden Anderen und sind bei Fehlen hist. Selbstzeugnisse von jahrhundertelanger Stereotypisierung geprägt (J Stereotypen; J Stereotypen, ethnische; J Vorurteil; J Rassismus). Die etymol. Herkunft der Fremdbezeichnungen Z. (dt.), tsiganes (frz.), cigani (bulg.) etc. ist nicht endgültig geklärt: Als wohl zugrundeliegend wird mittelgriech. tsinganos angenommen, das wahrscheinlich auf die Athinganoi (mittelgriech. Name einer gnostischen Sekte) zurückzuführen ist; die Begriffe gypsy (engl.) oder gitano (span.) leiten sich vom vermeintlichen Herkunftsland Ägypten her. Weitere frühe Fremdbezeichnungen verdeutlichen religiöse, aus der christl. Gemeinschaft ausgrenzende Konnotationen wie J Heiden (westl. Hochdt.), Tatern ([Tataren] ndd., östl. hochdt., nordeurop.), sarraciner ([Sarazenen] frühneuhochdt.), farao nerek/pharone ([Pharaonen] ung./siebenbürg.) und bohe´miens (frz.; vermutete Herkunft aus Böhmen mit Anklang an hussit. Häretiker)1. Der Begriff Z., seine Äquivalente und deren Kontextfelder sind negativ belegt und werden auch als Schimpfwort gebraucht (J Diskriminierung). Diese Konnotation verfestigte sich in Sprichwörtern und wurde zum Bestandteil von Alltagswissen2. 2 . S te re ot yp en. Über die seit Anfang des 15. Jh.s in Mittel- und Westeuropa von den Mehrheitsgesellschaften wahrgenommenen Roma-Gruppen lag um 1500 für den gesamten Raum das bis heute fast unveränderte Bild eines nomadischen Volks dunkler Hautfarbe und religiöser Indifferenz vor, das stiehlt, bettelt, zaubert und spioniert ⫺ fixiert z. B. im span. Recht, in der sog. Pragmatica von 1499; differenziert wurde politisch-geogr. bedingt nur im Fall des Vorwurfs, Z. seien türk. Spione, aufgrund dessen etwa der Freiburger
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Reichstag von 1498 die Ausweisung aller Roma beschloß und sie bei Nichtbefolgung für vogelfrei erklärte3. In Einklang mit den von Chroniken, hist., theol. und phil. Werken4 sowie Enz.en5 kolportierten Stereotypen fand in Mittel- und Westeuropa eine obrigkeitliche Vertreibungspolitik, flankiert von Duldungsund Beherbungsverboten, statt. Galten Roma zunächst als fremdes Volk, so wurden sie seit dem 16. Jh. vorwiegend als soziale Gruppe gesehen, als Fahrende unter J Bettlern und J Gauklern6. Ende des 18. Jh.s, als sich ihr vermeintlicher Gaunerjargon als eine mit dem Sanskrit verwandte eigene Sprache erwies, wurden sie als eigenständige Ethnie ind. Ursprungs erkannt. H. M. G. Grellmann zufolge, der in seinem internat. rezipierten Z.sachbuch alte Stereotypen als ,rassische‘ Merkmale aufgriff, entstammten Roma der verachtetsten, auch ,Parias‘ genannten ind. Unterkaste7. Auf Grellmann griff u. a. J Herder zurück, der sie eine ,verworfene ind. Kaste‘8 nannte. Seit der Zeit des Sturm und Drang findet sich die Figur des Z.s vermehrt als literar. Sujet. Dichter der Romantik wie Ludwig J Tieck, Achim von J Arnim, Clemens J Brentano, Walter J Scott und Aleksandr J Pusˇkin setzten sie in einen neuen Bezugsrahmen. Sie benutzten bedenkenlos, z. T. auf Grellmann basierend, Z.stereotypen zu künstlerischer Selbstreflexion, redämonisierten die Figur, stellten sie meist retrospektiv und stets marginalisiert als außerhalb der Gesellschaft stehend dar. Von den impliziten, als positiv erachteten Projektionen9 wirkten Bilder von grenzenloser Freiheit nachhaltig, etwa im frz. Begriff Bohe`me für antibürgerliche Künstlermilieus oder trivialisiert als Klischee vom ,lustigen Z.leben‘ (cf. J Wilde: Der edle W. ). Neben die Figur der alten, häßlichen, betrügerischen und wahrsagenden Z.in trat in der sog. Z.romantik die erotisch attraktive, junge und schöne Z.in. Sie ist bereits präsent als Preciosa bei J Cervantes (La gitanilla, 1613) und Mignon bei J Goethe (Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/96) und erlangte Berühmtheit als Esmeralda bei Victor Hugo (Notre-Dame de Paris, 1831) und Carmen bei Prosper Me´rime´e (Carmen, 1847)10. Allerdings sind Preciosa und zahlreiche ihrer Nachfolgerinnen von Z.n entführte Kinder und daher nur scheinbar Z.innen. Sie dienten in der Hoch-11, Trivial-
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und Jugendliteratur12 einer Popularisierung des Vorwurfs, daß Roma Kinder raubten ⫺ ein den Roma jedoch nie nachgewiesenes, vielmehr an ihnen selbst praktiziertes Verbrechen13. Multifunktional einsetzbar ist bes. das sich hartnäckig haltende Klischee des Wandertriebs als angeblich anthropol. Konstante, obwohl Roma in Mittel- und Westeuropa lange systematisch daran gehindert wurden sich niederzulassen und in Südosteuropa mehrheitlich seßhaft waren14: Nomadentum wurde positiv als Zeichen von Freiheit, negativ als Zeichen für Primitivität und Unzivilisiertheit attribuiert oder als staatlich abzuwehrende Gefahr beschworen. Bis heute sind Z.stereotypen in allen Gesellschaftsschichten tief verwurzelt; sie werden in Süd-, Mittel- und Westeuropa seit der in den 1990er Jahren einsetzenden Migration von Roma aus Südosteuropa erneut aktiviert15. Symptomatisch ist die Behandlung der Roma-Überlebenden des Holocausts in der dt. Rechtsprechung der 1950er Jahre als nicht rassisch, sondern kriminalpräventiv Verfolgte (u. a. unter Anführung des Spionagevorwurfs)16 ebenso wie die erst 1982 offiziell erfolgte staatliche Anerkennung des in der NSZeit an Sinti und Roma verübten Völkermords. Seit den 1980er Jahren begann ⫺ initiiert durch Bürgerrechtsbewegungen und das Engagement der Sinti und Roma selbst ⫺ eine wiss. Auseinandersetzung mit der Geschichte der ,Z.forschung‘, die sich als eine „oftmals mehr oder minder kunstvoll gehandhabte Technik des Plagiats“ erwies17. Abgesehen von einigen früheren Arbeiten18 finden sich seit den 1990er Jahren vermehrt Forschungen zu Z.stereotypen in Schul-19 und Kinderbüchern20, Film21 und Comic22, in fiktionaler wie nichtfiktionaler Lit. Diese untersuchen im Kontext der seit der Neuzeit stattfindenden ökonomischen und territorialen Umwälzungen das Bild des Z.s als Konstrukt, das der Legitimierung politischen Handelns und der Identitätsbildung europ. Gesellschaften dient. 3 . E rz äh lf or sc hu ng. In der Erzählforschung liegen nur wenige und kaum übergreifende systematische Studien zum Bild des Z.s vor23. Neben der Bereitstellung einer breiteren Materialbasis wären für differenziertere
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ebenso wie für generellere Aussagen Analysen der Varianz derselben Geschichten mit der Figur des Z.s in von Roma unter sich oder für die Mehrheitsbevölkerung bzw. in von NichtRoma erzählten Var.n aufschlußreich, ebenso Unters.en zur sprachlichen Gestaltung der Texte: z. B. zeigen sich pejorative Tendenzen, wenn von einem ,Z.chen‘ die Rede ist, wenn spezifische Bezeichnungen für Roma wie slovak. Dezˇo oder bulg. Mango benutzt werden oder wenn der Z. stereotyp als „schwarzbrauner Heidesohn“, „ein Zigeuner, der leicht und lustig nach dieses Volkes Art seinen Weg ging“24, gezeichnet wird. Letzeres ist offensichtlich eine Zutat der Herausgeber und als ein Indiz für Z.romantik zu werten, deren Einfluß in den Sujets der seit dem 19. Jh. aufgezeichneten Texte generell nicht festzustellen ist. Ätiologien, die z. T. im Lauf der Jh.e entstanden und bes. in südost-, ost- und nordeurop. Aufzeichnungen vorliegen, ordnen Herkunft und Verhaltensweisen der Roma in ein christl.-ethnozentrisches Weltbild ein25. Eine erste Gruppe erzählt von der Erschaffung des Z.s: Gott benutzte minderwertiges Material, ließ aus Versehen die Haut des Z.s schwarz werden, oder der erste Z. wurde vom Teufel erschaffen. Eine zweite Gruppe führt die Abstammung der Z. auf J Kain oder Ham zurück, die zur ewigen Wanderschaft verflucht worden seien. Eine dritte Gruppe lastet den Vorfahren der Roma selbst die Schuld an ihrem Elend an: Im Kontext des jüd. Exodus heißt es, die Z. gehörten zum Volk des Pharao und seien mit seinem Heer ertrunken, bis auf ein einziges Paar, das sich nun wandernd von Bettelei und Diebstahl ernähre; der Heiligen Familie hätten Z. die Herberge verweigert und wären deswegen zur Wanderschaft verflucht worden (ATU 750 E [8]: Flight to Egypt)26; durch Schmieden stumpfer Nägel für die Kreuzigung Jesu J Christi (bzw. scharfer Nägel; Stehlen eines Nagels) hätten sie sein Leiden erschwert (bzw. gemildert) und müßten zur Strafe ewig wandern und sich durch Diebstahl ernähren (hätten als Dank die Lizenz zum Stehlen erhalten) (AaTh/ATU 1638*: Why It Is not a Sin for a Gypsy to Steal)27; oder sie hätten den hl. Gregorius (ihren Bischof) verleumdet, der sie daher zu Wanderschaft, Betteln, Lügen und Diebstahl verflucht hätte28.
Die im normensetzenden kirchlichen Umfeld verankerten Erzählungen konditionieren durch ihre deterministische Konzeption die Roma als eine von Anfang an andere, minderwertige Klasse von Menschen mit einer negativ zu bewertenden Lebensweise. Die Fest-
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schreibung der Roma als Nomaden, Bettler und J Diebe entspricht biologistischen Kategorien, sie erklärt und rechtfertigt den ihnen zugewiesenen niedrigen Sozialstatus und ihre Marginalisierung. Roma dienten ⫺ ähnlich wie das J Gesinde aus oberschichtlicher Sicht ⫺ zur negativen Projektion des christl.abendländ. Arbeitsethos. Manche Texte zeigen Parallelen zu intentional diskriminierenden Erzählungen über J Ahasver, den J Ewigen Juden (AaTh/ATU 777) oder über die Erschaffung anderer Völker, etwa der J Türken aus bulg. Sicht; gelegentlich treten Z. zusammen mit anderen Ethnien auf, wie in der gegenüber den Juden negativen Rolle in der Ätiologie des jüd. Exodus29 oder in Erzählungen über die Verteilung von Gütern und Eigenschaften durch Gott30. In europ. Zauber- und Novellenmärchen spielt die Figur des Z.s eine sehr geringe Rolle; in den J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm erscheint sie z. B. überhaupt nicht. Singulär findet sich in den Märchensammlungen Ludwig J Bechsteins der literar. Topos des Kinderraubs mit der Gestalt einer häßlichen alten Z.in als Entführerin ⫺ hier hatte Bechstein auf eine in Des Knaben Wunderhorn aufgenommene Ballade Brentanos zurückgegriffen31. Den europ. Typenkatalogen zufolge treten Z. allg. als austauschbare Gegenspieler, selten als Protagonisten, auf; zudem erscheinen sie nur in Var.n relativ weniger Erzähltypen. Überregional verbreitet ist z. B. die Figur der Z.in als Usurpatorin der Stelle der wahren Braut in südosteurop. und iber. Var.n von AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen, regional begrenzt hingegen in bulg. Var.n zu AaTh 437/ATU 894 (2): J Nadelprinz32. Singulär ist port. und span. für AaTh/ATU 311 B*: The Singing Bag ein Z. als böser Mann mit dem Mädchen im Sack belegt33. In bulg. und slovak. Var.n von AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe und in slovak. Var.n von AaTh/ATU 307: J Prinzessin im Sarg besiegt ein Z. die dämonischen Kräfte34.
Die in Var.n der jeweiligen Erzähltypen alternativ auftretenden Figuren, z. B. armer Mann, Bettler, Dieb, alter Soldat, Knecht oder Teufel und dämonischer Bartloser, verweisen auf ein geringes Sozialprestige der Roma und auch auf eine ihnen zugeschriebene Nähe zum magischen Bereich. Im Erzählkomplex vom dummen Teufel oder Unhold (AaTh/ATU 1000⫺1199) nimmt
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bes. in Var.n aus Südosteuropa öfters ein Z. die Rolle des schlauen Protagonisten ein, dessen physisch stärkerer Gegner in ung. Var.n häufiger der Teufel, in rumän. und bulg. meist ein Drache ist, so in mehreren Episoden des J Wettstreits mit dem Unhold (AaTh/ATU 1045: Das große J Seil ⫹ AaTh/ATU 104935, AaTh/ ATU 1051: J Baum biegen, fällen, tragen36, AaTh/ATU 106037, AaTh/ATU 107038, AaTh/ ATU 108439, AaTh/ATU 108840, AaTh/ATU 109641, AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil 42, AaTh/ATU 1149: J Kinder begehren Fleisch des Unholds43) und in AaTh/ATU 1640: J Tapferes Schneiderlein44. Als ,unheroischer‘ Held besiegt der Z. den Gegner allein durch Schlauheit, List und Täuschung. Außerordentlich große regionale Unterschiede zeigen sich im Bereich des Schwanks. In der dt.sprachigen Schwankliteratur erscheint die Figur des Z.s kaum. Findet sich in der 1. Hälfte des 16. Jh.s bei Johannes J Pauli und Hans J Sachs die aufklärerisch anmutende Fabel über einen Z., der erst lernen muß, daß nicht Wahrheit erwünscht ist, sondern Schmeichelei und Betrug (AaTh/ATU 48*: Flatterer Rewarded, Honest One Punished), so kolportiert das Schwankbuch J Grillenvertreiber (1605) aus Chroniken entnommene Negativstereotypen 45. Auch im 17./18. Jh. spielen Außenseiter, Bettler, Gaukler und „für Einheimische ebenso fremdländisch-unheimlich wie in ihrem Gehaben kuriös anmutende“ Z. so gut wie keine Rolle: die „feudal-bürgerlichbäuerliche Gesellschaft blieb bei der Wahl ihrer Schwankfiguren weitgehend unter sich“46. Hingegen sind in Südosteuropa und auch in der Slowakei ⫺ Gebieten, in denen Roma seit Jh.en größtenteils seßhaft lebten ⫺ Schwänke über Z. weit verbreitet. Die Figur des Z.s ist dabei ambivalent gezeichnet: Er kann schlau und durchtrieben sein, aber auch dumm und lächerlich. In Gerichtsverfahren erscheint der Z. als kluger Verteidiger (AaTh/ATU 821 B: cf. J Prozeß um die gekochten Eier47), die Bestechlichkeit des Richters einkalkulierender Angeklagter oder Zeuge (AaTh/ ATU 1660: J Stein für den Richter48; cf. AaTh/ATU 1546: Besitz eines J Goldklumpens vorgetäuscht49) oder sich verrückt stellender Beschuldigter (AaTh/ ATU 1585: J Pathelin50). Er agiert als listiger Pferdehändler (AaTh/ATU 1631: J Pferd geht nicht über Bäume51), trickst als Beichtender den Popen aus (AaTh/ATU 1800: Nur eine Kleinigkeit J stehlen52;
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AaTh/ATU 1807 A: J Eigentümer weist Gestohlenes zurück53), rächt sich an diesem für nicht gezahlten Lohn54, macht als Dieb mit ihm gemeinsame Sache (AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend 55) oder verschafft sich geschickt eine Mahlzeit (AaTh/ATU 1568*: Die umgedrehte J Schüssel 56; AaTh/ATU 1548: J Kieselsteinsuppe57; AaTh/ATU 1578*: The Inventive Beggar58). Ansonsten tritt der Z. oft als Dummkopf auf (AaTh/ATU 1319: J Eselsei ausbrüten59; AaTh 1586 A/ATU 1586: cf. J Fliege auf des Richters Nase60; AaTh/ATU 1328*: Letting Milk Boil Over61) und wird mit Schildbürgerstreichen verbunden (BFP 1266 B*: Bitte um Steuersenkung; BFP 1296 A*: Dummköpfe bitten um zwei Sommer und einen Winter)62. Er ist religiös unwissend (BFP 1832 G***: Der Sohn ist draußen; AaTh 1810 A*/ATU1832 D*: How Many Sacraments are There? 63), hält Gelübde nicht ein (AaTh 1553 A/ATU 778: Geloben der großen J Kerze64), redet sich bei Diebstahl mit mehr oder minder fadenscheinigen Argumenten heraus (AaTh/ATU 1624 B*: J Speckdieb65; AaTh/ATU 1624: Thief’s Excuse: The Big Wind 66; AaTh/ATU 1624 C*: The Horse’s Fault 67) und ist bestrafter Verführer (AaTh/ATU 1730: J Liebhaber bloßgestellt)68 oder betrogener Ehemann (BFP 1333*: Ein Z. erschreckt einen Hirten). Er ist faul (AaTh/ATU 1561: Three Meals in a Row; BFP 1561*****: Der zuverlässige Diener)69, ängstlich (BFP 1348 E: Vor Angst gestorben; BFP 1348 C: Der Z. und der imaginäre Bär70), ein Aufschneider (AaTh/ATU 1920 A [3]: cf. J Lügenwette)71, Angeber (AaTh/ATU 1920 D: cf. Lügenwette72; AaTh/ATU 1348: Der einfallsreiche J Junge73) oder unrealistischer Träumer (AaTh/ATU 1430 [1]: cf. J Luftschlösser)74.
Auf die Figur des Z.s wurden seit dem Barock im damaligen Königreich Ungarn Züge des verspotteten Bauern und Soldaten übertragen75; sie zeigt Nähe zu J Schelmengestalten wie Pa˘cala˘76 in rumän. sowie J Hodscha Nasreddin und Chita˘r Peta˘r (J Peter: Schlauer P.) in bulg. Schwänken und wird in die Schemata von Dummen-, Schildbürger-, J Beichtund J Katechismusschwänken eingepaßt. Ausschließlich von Z.n wird erzählt, sie hätten ihre Kirche aufgegessen (AaTh/ATU 1932: Church Built of Cheese) ⫺ eine Geschichte, die in Z.sachbüchern als Indiz angeblicher Gottlosigkeit der Roma dient77. Übergreifend werden Armut und Hunger78 sowie meist negativ markierte, auch erfolglose Überlebensstrategien thematisiert. Schwänke über von Z.n düpierte Richter und Pfarrer wurden sicher auch als Ventil indirekter Sozialkritik von Unterprivilegierten der Mehrheitsgesellschaften genutzt. Doch scheint weniger mit als über den Z. gelacht worden zu sein und zu werden. Von
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Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaften erzählte Schwänke, die Roma verächtlich machen und der Lächerlichkeit preisgeben, demonstrieren Überlegenheit und sichern die eigene soziale Position79. Es dient zur Erhaltung dieses Status, wenn der Figur des Z.s in Dummen- und Schildbürgerschwänken eine genetische Unveränderlichkeit der Roma unterstellt wird. Die Z.-Schwankstereotypen werden in Witzen, die in Bulgarien zu den am weitesten verbreiteten ethnischen Witzen gehören, in schärferer Form weitertradiert80. In den zahlreichen von mythol. und nationalen Interessen dominierten Sagensammlungen des 19. Jh.s ist die Figur des Z.s, zumindest im dt.sprachigen Bereich, eher marginal und vor allem in magischen Kontexten präsent81. Z.innen verüben einerseits J Schadenzauber oder verfluchen Personen, die sie beim Betteln oder bei der Bitte um Unterkunft abweisen, wehren jedoch andererseits Schadenzauber ab, entlarven Hexen oder heilen Krankheiten ⫺ eine Ambivalenz, die sie von der Figur der J Hexe unterscheidet. Z.innen sagen auch Todes- und Brandfälle sowie das Ende von Kriegen voraus, Z. können festbannen und Diebe festsetzen. Während es sich hier um keine bes. ,Z.künste‘, sondern auch für Einzelfiguren der Mehrheitsgesellschaft (Hexen, Zauberer, Schwarzkünstler, Sonntagskinder) angenommene Fähigkeiten handelt, wurde die Sage von der Demonstration eines Feuerzaubers im Stroh (J Feuersegen der Z.) fast ausschließlich über Z. erzählt. In Sagen werden auch Trickdiebstähle, etwa mit Hilfe vorgetäuschter magischer Heilfähigkeit, thematisiert. Einige Sagen lasten den Z.n an, sie würden altersschwache Angehörige lebendig begraben (AaTh/ATU 981: J Altentötung), ein seit der Antike belegter und seit dem 16. Jh. auf die Wenden, seit dem 17. Jh. auch auf Roma übertragener Topos.
Auch wenn die Verwünschung grausamer und geiziger Gutsbesitzer, die Hilfe bei Schadenzauber und Krankheiten sowie der Schutz vor Brandgefahr scheinbar akzeptiert oder dankbar angenommen wurden, stabilisierten solche Vorstellungen gleichzeitig den Vorwurf, daß Roma generell Zauberer seien. Sie verstärkten eine Angst und Furcht erweckende Dämonisierung der aus der christl.-abendländ. Gesellschaft ausgegrenzten Minderheit. Mit ihren negativen Stereotypen waren solche Erzählungen durch kirchliche Schriften zur Bekämpfung des Aberglaubens sowie Werke zur
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Warnung vor Betrügerei und Diebstahl kontinuierlich popularisiert worden und wirkten auch dank gebildeter Schichten weiter fort: z. B. wurde der angebliche frühere Brauch der Altentötung bei Roma noch in den 1960er Jahren durch einen von der dt. Bundesregierung beauftragten ,Z.experten‘ als Tatsache verbreitet82; Roma erlebten als nomadisches ,dunkles Zaubervolk‘, ,Magier aus dem Morgenland‘ und ,Träger uralter Naturmagie‘ eine Renaissance in rezenten, sich auch auf Sagen berufenden esoterisch ausgerichteten biologistisch argumentierenden Publ.en83. Im gegenwärtigen Erzählen ⫺ eher vereinzelt in modernen Sagen84 und exzessiver in Schwänken und Witzen im Anonymität gewährenden Internet ⫺ findet eine Fortsetzung der Verbreitung von Negativstereotypen statt, die ein zunehmend aggressives und feindliches Romabild zeichnen85. 1 Pfeifer, W.: Etymol. Wb. des Dt. 3. B. 1989, 2030 sq., abgedruckt in Bär, J. A. und S.: Zur Verwendung des Wortes ,zigeuner‘ in der Frühen Neuzeit. In: Awosusi, A. (ed.): Stichwort: Z. Zur Stigmatisierung von Sinti und Roma in Lexika und Enz.en. Heidelberg 1998, 119⫺155, hier 141 sq.; Bär, J. A.: Z.stereotype in Dialekt- und Mundartwbb. des Dt. ibid., 45⫺70, hier 48; Reichert, F.: Cingani sive populus Pharaonis. ibid., 159⫺166; Maciejewski, F.: Elemente des Antiziganismus. In: Giere, J. (ed.): Die gesellschaftliche Konstruktion des Z. s. Zur Genese eines Vorurteils. Ffm./N. Y. 1996, 9⫺28, hier 16. ⫺ 2 Bär/Bär und Bär (wie not. 1); Krekovicˇova´, E.: Zwischen Toleranz und Barrieren. Das Bild der Z. und Juden in der slowak. Folklore. Ffm. u. a. 1998, 41 und pass.; Görög-Karady, V.: Le Folklore du me´pris. Le Tsigane dans la pense´e populaire europe´enne. In: Cahiers de litte´rature orale 30 (1991) 115⫺155, hier 149⫺152; Drettas, G.: „Si tu te de´tournes pour e´viter le vent, tu verras, derrie`re toi, le Tsigane“ […]. ibid., 203⫺234, hier 212⫺214; Solms, W.: Z.bilder. Ein dunkles Kapitel der dt. Lit.geschichte. Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik. Würzburg 2008, 48⫺50. ⫺ 3 Kenrick, D.: The Origins of Anti-Gypsyism. The Outsiders’ View of Romanies in Western Europe in the Fifteenth Century. In: Saul, N./Tebbutt, S. (edd.): The Role of the Romanies. Images and Counter-Images of ,Gypsies‘/ Romanies in European Cultures. Liverpool 2005, 79⫺84; Gilsenbach, R.: Weltchronik der Z. 1: Von den Anfängen bis 1599. Ffm. u. a. 1994 (21997). ⫺ 4 Gronemeyer, R.: Z. im Spiegel früher Chroniken und Abhdlgen. Gießen 1987. ⫺ 5 z. B. [Zedler, J. H.:] Großes vollständiges Universal-Lexicon 62. Lpz./ Halle 1749, 520⫺544; cf. Wigger, I.: Ein eigenartiges Volk. Die Ethnisierung des Z.stereotyps im Spiegel
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von Enz.en und Lexika. In: Awosusi (wie not. 1) 13⫺43, hier 13⫺18. ⫺ 6 Höck, A.: Recht auch für Z.? Ein Kap. Minderheitenforschung nach hess. Archivalien. In: Das Recht der kleinen Leute. Festschr. K.-S. Kramer. B. 1976, 77⫺88; Fricke, T.: Z. im ZA. des Absolutismus. Pfaffenweiler 1996. ⫺ 7 Grellmann, H. M. G.: Hist. Versuch über die Z. (Dessau/ Lpz. 1783) Göttingen 21787, 319⫺342; Ruch, M.: Zur Wiss.sgeschichte der dt.sprachigen „Z.forschung“ von den Anfängen bis 1900. Diss. Fbg 1986, 92⫺134; Willems, W.: Außenbilder von Sinti und Roma in der frühen Z.forschung. In: Giere (wie not. 1) 87⫺108; Breger, C.: Grellmann ⫺ der „Z.forscher“ der Aufklärung. In: Engbring-Romang, U./ Strauß, D. (edd.): Aufklärung und Antiziganismus. Seeheim 2003, 50⫺65. ⫺ 8 Herder, J. G.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: id.: Sämmtliche Werke 14. ed. B. Suphan. B. 1909, 284. ⫺ 9 Epstein Nord, D.: Gypsies & the British Imagination, 1807⫺1930. N. Y. 2006; Solms (wie not. 2) 129⫺272; Bogdal, K.-M.: Europa erfindet die Z. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. B. 2011, 177⫺303. ⫺ 10 Kalkuhl, C.: Die schöne Z.in zwischen Romantisierung und Verbannung. In: Engbring-Romang/Strauß (wie not. 7) 66⫺81; Solms (wie not. 2) 189⫺207, 209⫺214, 231⫺251, 255⫺265; Eulberg, R.: Das Bild der „Z.in“ als Potenzierung von Stereotypen ⫺ Anmerkungen zum Wechselverhältnis von Geschlecht und Ethnie/The Image of the Female „Gypsy“ as a Potentation of Stereotypes ⫺ Notes on the Interrelation of Gender and Ethnicity. In: Bahlmann, L./Reichelt, M. (edd.): Reconsidering Roma. Aspects of Roma and Sinti Life in Contemporary Art. Göttingen 2011, 53⫺61, 63⫺70; Bogdal (wie not. 9) 87⫺104, 195⫺203, 225⫺227, 248⫺ 253. ⫺ 11 Solms (wie not. 2) 159⫺167; id.: Zur literar. Tradition des „Kinderraubs“. In: Engbring-Romang, U./ Solms, W. (edd.): „Diebstahl im Blick“? Zur Kriminalisierung der „Z.“. Seeheim 2005, 180⫺195. ⫺ 12 Kommers, J.: Kinderroof of zigeunerroof? Z.s in kinderboeken. Utrecht 1993; Brüggemann, T.: „Manche Leute sagen, dass Z. kleine Kinder stehlen.“ Zum Motiv des Kindesraubes in Jugendbüchern. In: Awosusi, A. (ed.): Z.bilder in der Kinderund Jugendlit. Heidelberg 2000, 61⫺88. ⫺ 13 Schäfer, W.: Wider den Vorwurf des Kinderraubs. In: Engbring-Romang/Solms (wie not. 11) 141⫺179; Maciejewski, F.: Kinderraub oder Z.raub? Zwei Anmerkungen zu Brüggemann. In: Awosusi (wie not. 12) 89⫺95; cf. Leimgruber, W./Meier, T./Sablonier, R.: Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse. Hist. Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizer Bundesarchiv. Bern 1998. ⫺ 14 Drettas (wie not. 2) 207 sq.; Heuss, H.: Civil Society, Desegregation, Antiziganismus. Roma in Bulgarien. In: Uerlings, H./Patrut, I.-K. (edd.): ,Z.‘ und Nation. Repräsentation ⫺ Inklusion ⫺ Exklusion. Ffm. 2008, 469⫺481. ⫺ 15 Hund, W. D.: Romantischer Rassismus. Zur Funktion des Z.stereotyps. In: id. (ed.): Z.bilder. Schnittmuster rassisti-
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Zigeuner, Zigeunerin
scher Ideologie. Duisburg 2000, 9⫺30; Gabler, D.: Der Geschmack der Freiheit. Vom Igelbraten zum Z.schnitzel. ibid., 124⫺136; Winckel, Ä.: Antiziganismus. Rassismus gegen Roma und Sinti im vereinigten Deutschland. Münster 2002; Barber-Kerrovan, A.: Time of the Gypsies ⫺ Eine Neuauflage westl. Kulturstereotype? In: Tschernokoshewa, E. (ed.): Dialogische Begegnungen: Minderheiten ⫺ Mehrheiten aus hybridologischer Sicht. Münster 2011, 54⫺71; Sors, E.: Die Z. Bestätigtes oder revidiertes Stereotyp bei Exkursionsteilnehmern? In: Z. und wir. ed. I.-M. Greverus/H. Schilling. Ffm. 1979, 255⫺273. ⫺ 16 Kenrick, D./Puxon, G.: Sinti und Roma ⫺ die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat. Göttingen 1981, 139⫺144 (Orig.: The Destiny of Europe’s Gypsies. L. 1972); Zülch, T. (ed.): In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt. Zur Situation der Roma (Z.) in Deutschland und Europa. Reinbek 1979, 147⫺167, 168⫺171. ⫺ 17 Martins-Heuß, K.: Zur mythischen Figur des Z.s in der dt. Z.forschung. Ffm. 1983, 59. ⫺ 18 Ebhardt, W.: Die Z. in der hochdt. Lit. bis zu Goethes ,Götz von Berlichingen‘. Diss. Göttingen 1928; Niemandt, H.-D.: Die Z.in in den rom. Lit.en. (Diss. Göttingen 1955) Ffm. u. a. 1992; Berger, H.: Das Z.bild in der dt. Lit. des 19. Jh.s. Diss. Waterloo, Ontario 1972. ⫺ 19 Kenrick, D.: The Portrayal of the Gypsy in English Schoolbooks. In: Internat. Schulbuchforschung 6,1 (1984) 38⫺47; Hancock, I.: Gypsies in Our School Libraries. In: Collection Building 8 (1987) 8⫺15; Strauß, A. (ed.): „Z.bilder“ in Schule und Unterricht. Marburg 2008. ⫺ 20 Binns, D.: Children’s Literature and the Role of the Gypsy. Manchester 1984; Hancock, I.: The Origin and Function of the Gypsy Image in Children’s Literature. In: The Lion and the Unicorn 11,1 (1987) 47⫺59; Briehl, P. G.: Lumpenkind und Traumprinzessin. Zur Sozialgestalt der Z. in der Kinder- und Jugendlit. seit dem 19. Jh. Diss. Gießen 1989. ⫺ 21 Bernard, C./Sewering-Wollanek, M.: Sinti und Roma im Film. Wiesbaden 2001; Schmid, T.: Antiziganismus im fiktionalen Film? „Z.“-Bilder in der Abenteuerserie „Arpad der Z.“ Magisterarbeit (masch.) Osnabrück 2010. ⫺ 22 Dolle-Weinkauff, B.: Von zierlichen Z.innen und Roma-Rambos. Beobachtungen zum Z.bild im zeitgenössischen Comic. In: Awosusi (wie not. 12) 97⫺116. ⫺ 23 Bartosz, A.: Wizerunek cygana w folklorze (Das Bild des Z.s in der Folklore). In: Zbornik radova XXXII Kongresa udruzˇenja folklorista Jugoslavije 1. Novi Sad 1985, 151⫺154; Kunej, R./Serec Hodzˇar, A.: „Jaz bi rad Cigajnar bil …“. Podoba Ciganov v slovenskem ljudskem pripovednisˇtvu in persnisˇtvu („Ich möchte ein Z. sein …“. Das Bild der Z. in der slov. Volkerzählung und -dichtung). In: Jezernik, B. (ed.): „Zakaj pri nas zˇive Cigane in ne Romi“. Narativne podobe Ciganov/Romov. Ljubljana 2006, 87⫺100; Kilia´nova´, G.: Gracias, Mor! Das narrative Bild und Selbstbild der Roma. In: Hose, S. (ed.): Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. Bautzen 2008, 66⫺76, hier 68⫺72; Georgieva, A.: Ciganin.
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In: Otcˇena´sˇek, J./Baeva, V. (edd.): Recˇnik na terminite i personazˇite ot slovesnija folklor 1. Sofia/Prag (im Druck). ⫺ 24 Krekovicˇova´ (wie not. 2) 41 sq.; Dinekov, P./Stojkova, S.: Bitovi prikazki i anekdoti. Sofia 1963, 567, 589, 592; Schott, A. und A.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. ed. R. W. Brednich/I. Talos¸. Buk. 1975, num. 49, 51. ⫺ 25 Überblick nach Görög-Karady (wie not. 2); Georˇ uzˇdijat“ spored ba˘lgarskite etiologicˇni gieva, A.: „C legendi („Der Fremde“ nach bulg. ätiologischen Sagen). In: ead.: Obrazi na drugostta v ba˘lgarskija folklor. Sofia 2003, 45⫺93, hier 55⫺58, 60⫺62; cf. auch Andersen, D. M.: Finnish Folk-accounts for the Origins of the Gypsies. In: J. of the Gypsy Lore Soc. 1,2 (1976) 73⫺78; Görög-Karady, V.: Proble`mes d’identite´ et re´cits de cre´ation hongrois sur l’origine des Tziganes. In: Kalevala et traditions orales du monde. ed. M.-M. J. Fernandez-Vest. P. 1987, 399⫺410. ⫺ 26 Köhler-Zülch, I.: Die Hl. Familie in Ägypten, die verweigerte Herberge und andere Geschichten von ,Z.n‘ ⫺ Selbstäußerungen oder Außenbilder? In: Strauß, D. (ed.): Die Sinti/RomaErzählkunst im Kontext europ. Märchenkultur. Heidelberg 1992, 35⫺84, hier 38⫺55. ⫺ 27 ead.: Die Geschichte der Kreuznägel: Version und Gegenversion? Überlegungen zu Roma-Var.n. In: Chesnutt, M. (ed.): Telling Reality. Kop./Turku 1993, 219⫺234; Drettas (wie not. 2) 208 sq. ⫺ 28 Georgieva (wie not. 25) 55⫺57, 84⫺86. ⫺ 29 Görög-Karady (wie not. 2) 133⫺136; Georgieva (wie not. 25) 61. ⫺ 30 Görög-Karady (wie not. 2) 137⫺142; Georgieva (wie not. 25) 62. ⫺ 31 Bechstein, L.: Märchenbuch. ed. H.-J. Uther. Mü. 1997, num. 19; Solms (wie not. 2) 164 sq. ⫺ 32 Shojaei Kawan, C.: Xenophobie und weibliche Klage im Märchen von den drei Orangen. In: Hose (wie not. 23) 42⫺56, hier 44 sq.; BFP 437. ⫺ 33 Bødker, L./Hole, C./D’Aronco, G.: European Folk Tales. Kop. 1963, 167⫺172 (port.); Espinosa, A. M.: Cuentos populares de Castilla y Leo´n 2. Madrid 1988, num. 365. ⫺ 34 BFP 306; Gasˇparı´kova´ 1, 157 sq. und 2, 401 sq. ⫺ 35 Schott (wie not. 24) num. 43; Kova´cs, A.: Ung. Volksmärchen. MdW 1966, num. 51; Preindlsberger-Mrazovic´, M.: Bosn. Volksmärchen. Innsbruck 1905, 73⫺81; Afanas’ev, num. 149. ⫺ 36 MNK; BFP. ⫺ 37 MNK; BFP (Var. 2, 3); Schott (wie not. 24) num. 43; Afanas’ev, num. 149. ⫺ 38 BFP. ⫺ 39 MNK; Sklarek, E.: Ung. Volksmärchen. Lpz. 1901, num. 24; Kova´cs (wie not. 35) num. 44. ⫺ 40 BFP. ⫺ 41 MNK; Sklarek (wie not. 39). ⫺ 42 MNK; Schott (wie not. 24) num. 43; BFP. ⫺ 43 MNK; Schott (wie not. 24) num. 43; Afanas’ev, num. 149. ⫺ 44 BFP. ⫺ 45 Solms (wie not. 2) 51⫺68. ⫺ 46 Moser-Rath, Schwank, 247 sq., cf. 282. ⫺ 47 Gasˇparı´kova´, num. 31, 249, 321; cf. Kilia´nova´ (wie not. 23) 70 (einer der am weitesten verbreiteten slovak. Schwänke über Z.); Berze Nagy; Stroescu, num. 3023; Schott (wie not. 24) num. 51; BFP. ⫺ 48 Stroescu, num. 5525; Krauss, F. S.: Z.humor. Lpz. 1907, 47 sq. ⫺ 49 Po-
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Zigeunererzählungen ⫺ Zimmer: Das verbotene Z.
lı´vka 5, 75 sq.; BFP. ⫺ 50 Stroescu, num. 5672; Kova´cs (wie not. 35) num. 45. ⫺ 51 MNK; Stroescu, num. 4932; BFP. ⫺ 52 Stroescu, num. 5315. ⫺ 53 MNK; Stroescu, num. 5317. ⫺ 54 Kilia´nova´ (wie not. 23) 69. ⫺ 55 BFP; cf. Stroescu, num. 4650. ⫺ 56 Stroescu, num. 3588⫺3590, 3643; cf. BFP 1568*****; Krauss (wie not. 48) 140 sq. ⫺ 57 MNK; Krauss (wie not. 48) 200 sq. ⫺ 58 BFP. ⫺ 59 MNK; Stroescu, num. 3844. ⫺ 60 Stroescu, num. 3692, 3856. ⫺ 61 Stroescu, num. 3917; BFP. ⫺ 62 cf. BFP 1266 C*; BFP 1314* (cf. AaTh 1290 A*). ⫺ 63 Stroescu, num. 3863, cf. 3864. ⫺ 64 Stroescu, num. 4780; Schott (wie not. 24) num. 41; BFP 778; Krauss (wie not. 48) 45 sq. ⫺ 65 MNK; Stroescu, num. 5447. ⫺ 66 Stroescu, num. 5448; BFP; Krauss (wie not. 48) 87 sq. ⫺ 67 MNK; Stroescu, num. 5321; BFP. ⫺ 68 BFP; cf. MNK 1730 A*; cf. Krekovicˇova´ (wie not. 2) 51 sq.; Kilia´nova´ (wie not. 23) 69 sq. ⫺ 69 Stroescu, num. 5065, cf. allg. num. 5058⫺5106 (ca 50 % handeln vom faulen Z.). ⫺ 70 Dima, A.: Rumän. Märchen. Lpz. 1944, num. 44. ⫺ 71 Stroescu, num. 4902; Krauss (wie not. 48) 159⫺ 161. ⫺ 72 Stroescu, num. 4919; BFP. ⫺ 73 Stroescu, num. 5813; BFP; cf. BFP 1348 A; Cepenkov, M. K.: Makedonski narodni prikazni 4. ed. K. Penusˇliski. Skopje 1989, num. 489, 603. ⫺ 74 MNK 1430 B*; Stroescu, num. 4040, 4041; BFP 1430 B, 1430 C, 1681*. ⫺ 75 Küllös, I.: A ciga´nyok a´bra´zola´sa a 17.⫺ 18. sza´zadi ke´ziratos közkölte´szetben (Die Darstellung der Z. in der hs. Dichtung des 17.⫺18. Jh.s). In: Ciga´ny ne´prajzi tanulma´nyok 1 (1993) 132⫺150; Angaben nach Krekovicˇova´ (wie not. 2) 36, 61. ⫺ 76 Lebarbier, M.: L’Identite´ de´nature´e. Pa˘cala˘ et le Tsigane dans les contes face´tieux roumains. In: Sivers, F. de (ed.): Questions d’identite´. P. 1989, 133⫺ 150. ⫺ 77 MNK; Stroescu, num. 5713; cf. BFP 1303*; ÍorIevic´, D. M./Milosˇevic´-ÍorIevic´, N.: Srpske narodne pripovetke i predanja iz Leskovacˇke oblasti. Belgrad 1988, num. 202; Bosˇkovic´-Stulli, M.: Narodne pripovetke. Zagreb 1963, num. 107; Köhler-Zülch (wie not. 26) 56⫺58. ⫺ 78 z. B. Stroescu, cf. allg. num. 3588⫺3643 (meist versucht ein Z., bei seinem rumän. Paten Essen zu beschaffen); Lebarbier, M.: Tsiganiada. Le Tsigane dans l’e´pope´e de Ion Budai-Deleanu et dans les contes face´tieux roumains. In: Cahiers de litte´rature orale 30 (1991) 177⫺201, hier 194. ⫺ 79 Krekovicˇova´ (wie not. 2) 52, 61; Görög-Karady (wie not. 2) 143 sq. ⫺ 80 Stanoev, S.: Vica˘t i cuzˇdijat. Ciganite (Der Witz und das Fremde. Die Z. ). In: Predstavata za „drugija“ na balkanite. ed. N. Danova. Sofia 1995, 314⫺319; id.: Vica˘t i negovite poslanija (Der Witz und seine Botschaften). Sofia 2005, 90⫺92. ⫺ 81 Überblick nach Köhler-Zülch, I.: Die Figur des ,Z.s‘ in dt.sprachigen Sagenslgen. In: ,Z.bilder‘ in der dt.sprachigen Lit. ed. W. Solms/D. Strauß. Heidelberg 1995, 11⫺46; Fischer, H.: „Heiden“ und „Z.“ in rhein. Volkserzählungen. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 54 (2009) 43⫺61; cf. Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 4. ed. U. Brunold-
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Bigler. Disentis 1992, 119 sq. (Reg.); Klintberg, B. af: The Types of the Swedish Folk Legend (FFC 300). Hels. 2010, Reg. s. v. Gypsy, tattare. ⫺ 82 Arnold, H.: Die Z. Fbg 1965, 181 (mit Zitat aus Heimreich, A.: Nordfries. Chronik. Kiel 1666); KöhlerZülch (wie not. 81) 27 sq. ⫺ 83 Golowin, S.: Z.-Magie im Alpenland. Geschichten um ein vergessenes Volk. Frauenfeld/Stg. 1973 (Vorw. A. Niederer); id.: Der ewige Z. im Abendland. Mü. 1980; id.: Die Welt des Tarot. Geheimnisse und Lehre der 78 Karten der Z. Mü. 1997; cf. Speit, A.: Der ewige Z. Esoterik zwischen Z.magie und Zivilisationskritik. In: Hund (wie not. 15) 109⫺123. ⫺ 84 Köhler-Zülch (wie not. 81) 43⫺46. ⫺ 85 Krekovicˇova´, E.: Insˇtrumentaliza´cia a transforma´cia vzt’ahu autoobraz ⫺ heteroobraz v kolektı´vnej pamäti v cˇase. Komicka´ figu´rka Ro´ma v tradicˇnej folklo´rnej anekdote a na internete (Instrumentalisierung und Transformation der Beziehung von Selbst- und Außenbild im kollektiven Gedächtnis in diachroner Perspektive. Die komische Figur des Rom im traditionellen Volksschwank und im Internet). In: ead. u. a. (edd.): Folklo´r a komunika´cia v procese globaliza´cie. Bratislava 2005, 67⫺72; Kilia´nova´ (wie not. 23) 71 sq.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
Zigeunererzählungen J Sinti, Roma Zimmer: Das verbotene Z. (Mot. C 611), Erzählmotiv aus dem Bereich von J Verbot bzw. J Tabu, das in unterschiedlichen narrativen Zusammenhängen erscheint1. Es geht dabei allg. um einen Raum, dessen J Tür nicht geöffnet bzw. der als einziger innerhalb eines Gebäudes nicht betreten werden darf (J Exzeptionsprinzip). Das Verbot bezweckt erzählintern meist die Wahrung eines J Geheimnisses, kann aber auch als eine J Prüfung zur Feststellung des (mangelnden) J Gehorsams ausgestaltet sein. Strukturell wird gerade durch die ,paradoxe Handlungsaufforderung‘2, mit welcher der betr. Handlungsträger explizit auf etwas hingewiesen wird, das gleichzeitig nicht beachtet werden soll, bes. Interesse bzw. J Neugier entfacht, wodurch für die Leser bzw. Zuhörer Dynamik und Spannung der Erzählung gesteigert werden. In der internat. Überlieferung ist das Motiv vor allem charakteristisch für die Erzählungen vom J Mädchenmörder (AaTh/ATU 311, 312) und vom J Marienkind (AaTh/ATU 710). In AaTh/ATU 311 geraten zwei von drei Schwestern nacheinander in die Gewalt eines
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Zimmer: Das verbotene Z.
dämonischen Wesens. Sie öffnen ein verbotenes (v.es) Z., das voller Leichen ist. Ihr Fehlverhalten wird offensichtlich, da der J Schlüssel zu dem Z. blutig geworden ist, oder weil sie sich weigern, Menschenfleisch zu essen, und sie werden vom Dämon getötet. Die dritte Schwester entgeht durch eine List dem gewaltsamen Tod, erweckt ihre Schwestern durch das Zusammensetzen der Knochen wieder zum Leben, und zusammen können sie entkommen3. In AaTh/ATU 312 verbietet der Mann seiner jungen Frau, ein bestimmtes Z. zu betreten, doch sie beachtet das Verbot nicht und entdeckt dort die Leichen ihrer Vorgängerinnen4. Um der drohenden Ermordung zu entgehen, ruft sie ihre Brüder, die den Mörder (z. T. mit Hilfe eines Hundes oder anderen Tieres) töten und ihre Schwester befreien. Von psychol. interessierter Seite ist das v.e Z. in dieser Erzählung als Teilaspekt des Innenlebens des Unholds betrachtet worden5. Ähnlich wie die Protagonistin von AaTh/ATU 312 entdeckt der Held eines jap. Märchen im Haus eines weiblichen Unholds Knochen und flieht6; ein anderer Märchenheld sieht, wie in dem v.en Z. blasse Jammergestalten gepeinigt werden7. In AaTh/ATU 710 verspricht ein Vater seine Tochter der Jungfrau Maria oder einer schwarzen Frau. Diese nimmt sie mit in den Himmel (auf ein Schloß), wo sie ein bestimmtes Z. nicht betreten darf. Als sie es dennoch tut, erblickt sie Gott (Christus, Maria), wodurch ihre Haare golden werden. Da sie ihre Tat vor der Herrin leugnet, wird sie mit Stummheit (Blindheit, Taubheit) sowie Verbannung bestraft und erst nach einer Leidensphase wieder erlöst. In der wiss. Lit. hat die J Grausamkeit Marias in dieser Erzählung Befremden ausgelöst8. Man kann darin ein christl. Lehrstück über die Folgen des Ungehorsams sehen9, aber man kann sich auch fragen, was das Marienkind durch sein Fehlverhalten letztlich erreicht ⫺ nämlich die Rückkehr ins irdische Leben. Diese Interpretation wird auch durch die Var.n mit der schwarzen Frau gestützt, denn diese wird schließlich infolge des Ungehorsams erlöst10. In einer Reihe anderer Erzähltypen dient das Motiv des v.en Z.s als ,Übergangsmotiv‘11 zur Begründung einzelner Attribute, so vor
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allem der goldenen bzw. vergoldeten Haare der Protagonisten in AaTh/ATU 314: J Goldener bzw. AaTh/ATU 532: Das hilfreiche J Pferd oder AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen. In vergleichbarer Weise dient das Motiv des v.en Z.s in der Geschichte des dritten Bettelmönches, einer der Erzählungen des bereits im 15. Jh. belegten Kerns von J Tausendundeine Nacht, dazu, die Ursache des Leids des einäugigen Protagonisten zu begründen12: Nach dem Einnähen in eine Tierhaut wird der Mann von einem riesigen Vogel auf einen wunderbaren Berg gebracht (cf. AaTh/ATU 936*: J Hasan von Basra), wo er eine beglückende Zeit mit übernatürlichen Heldenjungfrauen verbringt. Während ihrer Abwesenheit kann er allerdings seine Neugier nicht zügeln und öffnet die v.e Tür des vierzigsten Z. s. Darin ist ein Pferd, das ihn auf die Erde zurückbringt und ihm mit seinem Schwanz ein Auge ausschlägt13. Auf ähnliche Weise wird auch der Jäger Olode in einem Yoruba-Märchen durch das Öffnen der v.en Tür in einem jenseitigen Reich in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt14. Das Übertreten des Tabus muß allerdings nicht langfristig negative Folgen für den Protagonisten haben: In der Eingangsepisode von KHM 6, AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes sowie in einer Khoisan-Var. von AaTh/ ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt verliebt sich der Jüngling in ein Mädchen, dessen Bild er in der v.en Kammer seines Vaterhauses gesehen hat (J Fernliebe)15. Ähnlich wie in der Geschichte des dritten Bettelmönches genießt der Held einer bereits für das 15. Jh. belegten arab. Erzählung des Typs AaTh/ATU 725: cf. J Prophezeiung künftiger Hoheit sein Glück im Reich der Heldenjungfrauen, bis er eines Tages alleingelassen wird. Das Pferd, das er in dem v.en Z. vorfindet, ist hier allerdings die verzauberte Schwester der Anführerin, die ihm zum Erfolg verhilft16. In einer anderen Erzählung aus 1001 Nacht erlangt der Mann das Federkleid der J Schwanjungfrau nur dadurch, daß er das Verbot, ein bestimmtes Z. zu betreten, mißachtet. Dies bleibt zunächst ohne Konsequenz für ihn; allerdings ist in dem späteren Verlust der übernatürlichen Frau die moralisch notwendige Sanktionierung seines Verhaltens zu sehen (AaTh/ATU 400: J Mann auf
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Zimmerische Chronik
der Suche nach der verlorenen Frau; J Mahrtenehe: Die gestörte M.)17. Neben dem v.en Z. im eigentlichen Sinn gibt es auch Räume bzw. Türen, die für alle Menschen außer für den vom J Schicksal vorherbestimmten Helden verboten sind18. Dies ist etwa der Fall in arab. Erzählungen, in denen einzig der Held im Geisterhaus überlebt19 oder in denen nur er die Tür des unterirdischen Gemachs mit dem für ihn bestimmten Schatz öffnen kann20. 1
Hartland, E. S.: The Forbidden Chamber. In: FL 3 (1885) 193⫺242; Ashliman, D. L.: Tabu: Forbidden Chambers. In: Archetypes and Motifs in Folklore and Literature. ed. J. Garry/H. El-Shamy. Armonk/ L. 2005, 118⫺121; cf. Eberhard/Boratav, Motivindex s. v. Z. ⫺ 2 Watzlawick, P./Beavin, J. H./Jackson, D. D.: Menschliche Kommunikation. Bern/Stg./ Wien 71985, 178⫺203. ⫺ 3 cf. u. a. Hempen, D.: Bluebeard’s Female Helper. The Ambiguous Role of the Strange Old Woman in the Grimms’ „Castle of Murder“ and „The Robber Bridegroom“. In: FL 108 (1997) 45⫺48; Lovell-Smith, R.: Anti-housewives and Ogres’ Housekeepers. The Roles of Bluebeard’s Female Helper. ibid. 113 (2002) 197⫺214. ⫺ 4 Christiansen, R. T.: The Sisters and the Troll. In: Studies in Folklore. Festschr. S. Thompson. Bloom. 1957, 24⫺39; Kotseva, Y.: The Motif of the Forbidden Room in the Bulgarian Fairy Tales. In: Bulgarian Folklore 3 (1977) 34⫺48; cf. auch Schechter, H.: The Bosom Serpent. Folklore and Popular Art. Iowa City 1988, 25⫺48 („Bloody Chamber“ im modernen Horrorfilm). ⫺ 5 Rieken, B.: Tiefenpsychol. Zugänge zum Motiv der v.en Kammer. In: Jacobsen, I./Lox, H./Lutkat, S. (edd.): Sprachmagie und Wortzauber/ Traumhaus und Wolkenschloss. Krummwisch 2004, 274⫺289, hier 276 sq. ⫺ 6 Ikeda 334. ⫺ 7 Ikeda 956 A. ⫺ 8 Riedel, I.: Tabu im Märchen. Die Rache der eingesperrten Natur. Mü. 1996, 11 sq.; Scherf 2, 850; Tatar, M.: Von Blaubärten und Rotkäppchen. Salzburg/Wien 1990, 27; Solms, W.: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 1999, 180. ⫺ 9 Moser, D. R.: Christl. Märchen. In: Gott im Märchen. ed. J. Janning u. a. Kassel 1982, 92⫺113, hier 99⫺103. ⫺ 10 Rieken (wie not. 5) 284 sq.; cf. Franz, M. L. von: Bei der schwarzen Frau. In: Märchenforschung und Tiefenpsychologie. ed. W. Laiblin. Darmstadt 51995, 299⫺344. ⫺ 11 EM 5, 830. ⫺ 12 Kirby, W. F.: The Forbidden Doors of the Thousand and One Nights. In: FL 5 (1887) 112⫺124, bes. 115. ⫺ 13 Marzolph/van Leeuwen 1, 340 sq., num. 18; ibid., 285 sq., num. 195. ⫺ 14 Courlander, H./Eshugbayi, E. A.: Olode the Hunter and Other Tales from Nigeria. N. Y. 1968, 32⫺ 36 (zitiert nach MacDonald, M. R.: The Storyteller’s Sourcebook. Detroit 1982, C 611.1.1*). ⫺ 15 Schmidt 2, num. 1073.2. ⫺ 16 Das Buch der wundersamen Geschichten. ed. U. Marzolph. Mü. 1999, num. 5. ⫺
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17
Kirby (wie not. 12) 116⫺120; Marzolph/van Leeuwen 1, 238⫺240, num. 178. ⫺ 18 El-Shamy, H.: A Motif Index of „The Thousand and One Nights“. Bloom. 2006, C 611.1.0.1§. ⫺ 19 Kirby (wie not. 12) 114; Marzolph/van Leeuwen 1, 223, num. 203. ⫺ 20 ibid., 442 sq., num. 101; Bremond, C.: Deux Notes comple´mentaires. In: Les Arabes et l’ours. ed. A. Miquel. Heidelberg 1994, 99⫺123.
Wien
Bernd Rieken
Zimmerische Chronik. Die Hauschronik1 des südwestdt. Adelsgeschlechtes der Grafen von Zimmern2 ist in der Mitte des 16. Jh.s entstanden. Genauer bestimmen läßt sich die Entstehungszeit durch den Beginn der Arbeit an Hs. A (1554)3, den Übergang zu Hs. B unter Abschrift des bereits Bestehenden (1564/ 65)4 und den Tod des Verf.s, Graf Froben Christoph von Zimmern, mutmaßlich am 27. 11. 15665. Die zeitgenössisch nie gedruckte6 Chronik liegt in zwei Hss. vor, die unterschiedliche Bearb.sstufen dokumentieren7. Hs. A ist eine auf Repräsentation hin angelegte frühe Fassung (Folioformat, Pergament, ursprünglich ill.)8; sie wurde bei der stetigen Ausweitung des Stoffs9 aufgegeben und nur noch als Vorlage für die Forts. benutzt; dabei wurden wohl auch zahlreiche Blätter entfernt. Hs. B repräsentiert die letzte (unfertige) Fassung10; diese ist charakterisiert durch das Nebeneinander eines chronologisch11 erzählenden Grundstocks (p. 1⫺1181), zahlreicher Nachträge (1182⫺ 1557) und eines Quellenverzeichnisses (1158⫺ 1561). Wenngleich Hinweise von Fall zu Fall verdeutlichen, an welcher Stelle die Nachträge im Hauptteil einzufügen sind, ist die redaktionelle Anpassung und Glättung der Schnittstellen unterblieben. Eine Bemerkung zeigt, daß der Chronist an die Weiterführung seines Werks durch spätere Generationen dachte12. Im Werk nennt sich kein Autor; zudem herrscht grundsätzlich (wenngleich keineswegs lückenlos) die Er-Form auch dort vor, wo sich die Autorstimme vermuten läßt. Die Niederschrift wurde zum größten Teil von dem gräflichen Sekretär Johannes Müller besorgt, der zudem eine wichtige Rolle bei der Beschaffung und Archivierung des umfangreichen Materials gespielt haben könnte13. Der durch juristische Kenntnisse, literar. Interessen, eigene
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Zimmerische Chronik
Chronistentätigkeit und den Besitz einer umfangreichen Bibl.14 ausgewiesene Onkel Wilhelm Werner Graf von Zimmern dürfte „der wichtigste Beiträger und Berater“ gewesen sein15. Die Z. C. gliedert sich in 20916 (bzw. 22017) chronologisch angeordnete Kap., welche die Geschichte des Geschlechts beginnend bei seinen mythischen Uranfängen, den Cimbern, bis zur Gegenwart des Chronisten (Schloßbau in Messkirch 1557, Geburt der Tochter Sibylla 155818) darstellen. Jedes Kap. wird mit einer längeren Überschrift eröffnet, die durch häufige Nennung des jeweiligen Protagonisten und eines einschlägigen Sachthemas Regestenfunktion hat. Auf einer zweiten Ebene, jener der Ereignisgeschichte, lassen sich „etwa sechs mehr oder minder scharf voneinander abgrenzbare Abschnitte“ festlegen19; deren letzter kann durch das Auftreten des Verf.s als autobiogr. gelten20. Mit steigender Gegenwartsnähe wächst das verfügbare Material und entsprechend die Breite der Darstellung. Die Z. C. bietet aus der Perspektive eines adligen Geschlechts Historiographie21, d. h. herrschafts- und statuslegitimierende memoria22, wie sie das 16. Jh. verstand. Die Darstellung ist (zumindest aus Sicht der positivistischen Geschichtswissenschaft des 19. und frühen 20. Jh.s) gekennzeichnet durch eine „weitschweifige, vom eigentlichen ziele oft fern abirrende methode“23. Dabei sind ,unhist.‘ Einfügungen vielfach bereits auf Textebene durch einleitende („Hiebei kan ich nit underlassen, ain schimpfliche abenteuer [...] zu erzellen“24) oder schließende („Aber ad propositum“25) Erzählerbemerkungen markiert. Mehrfach wird explizit faßbar, daß der Chronist damit der delectare-Forderung26 zeitgenössischer Poetik und dem Vollständigkeitspostulat der Historiographie27 folgt. Aus Sicht der älteren Geschichtsforschung hatten demnach manche Partien als fabulös und damit unhist. zu gelten28, allenfalls belangvoll für Lit.wissenschaft, Rechtshistorie29, Vk.30 oder Motivforschung31. Die umfangreichen Register und Anmerkungen der 2. Aufl. von K. A. Baracks Ausg.32 arbeiteten so einer disziplinär geteilten Auswertung der Chronik zu. Gelegentlich wird solches Material literar. produktiv33. Entsprechend dieser Werksicht werden bis in die Gegenwart auf Histörchen
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fixierte, den Textzugang durch sprachliche Modernisierung vereinfachende, zugleich aber bereits in den Buchtiteln mit Patina versehene Anthologien publiziert34. Für die hist. und vergleichende Erzählforschung besitzt die Z. C. vor allem aufgrund der zahlreich enthaltenen traditionellen Erzählstoffe Bedeutung. E rz äh ls to ff e u nd -m ot iv e ( Au sw.) 35: 1, 27, Z. 20 und 28, Z. 35; 3, 49, Z. 40 und 613, Z. 19; 4, 146, Z. 7⫺147, Z. 12 ⫽ Übernatürliche Ehefrau (J Melusine) darf bei bestimmten Gelegenheiten nicht angeschaut werden (Mot. C 31.1.2; J Tabu). ⫺ 1, 27, Z. 21 und 28, Z. 36⫺32, Z. 24 ⫽ Die gestörte J Mahrtenehe (J Peter von Staufenberg; Mot. C 30 sq., C 932). ⫺ 1, 64 sq. ⫽ Hl. J Leonhard befreit Menschen aus Gefangenschaft. ⫺ 1, 315, Z. 12⫺36 ⫽ AaTh/ATU 1288: J Beinverschränkung. ⫺ 1, 318, Z. 8⫺14 und 17⫺24 ⫽ AaTh/ATU 1250: J Brunnenkette (Bauern von Wittershausen, Gaienhofen). ⫺ 1, 323⫺327 ⫽ AaTh/ATU 990: Die tote J Frau kehrt zurück (mehrere Var.n). ⫺ 1, 348, Z. 15⫺18 ⫽ Blutspur eines Mordes ist nicht zu entfernen (Mot. D 1654.3, J Blut). ⫺ 1, 355⫺359 ⫽ AaTh/ATU 992 A: J Buße der Ehebrecherin (hier in positiver Var. ein vom hl. Ulrich gewirktes Wunder). ⫺ 1, 454, Z. 8 und 3, 263, Z. 31: ,Venusberg‘ metonymisch für Höfe mit lockeren Sitten. ⫺ 1, 577, Z. 18⫺25 und 3, 529, Z. 38⫺531, Z. 12: J Faust. 2, 30, Z. 19⫺31, Z. 13; 33, Z. 1 und 35, Z. 4; 4, 308, Z. 4 ⫽ Berichte über Aufenthalte im Venusberg (Mot. F 131.1; J Venus). ⫺ 2, 111 ⫽ J Almosen der Minne. ⫺ 2, 174, Z. 34⫺175, Z. 33 und 175, Z. 34⫺ 176, Z. 39 ⫽ AaTh 2401/ATU 1343*: J Kinder spielen Schweineschlachten (zwei Versionen; cf. auch J Apfelprobe). ⫺ 2, 200 sq. ⫽ Bilderstürmer entfernt als Vogelscheuche aufgestellte hölzerne J Gans; Wildgänse kehren zurück und richten großen Schaden an. ⫺ 2, 262, Z. 30⫺38 ⫽ Blut eines Geköpften als Heilmittel (cf. Mot. F 955.1). ⫺ 2,451 sq. ⫽ Schlagfertiger Reliquienschwindler (Mot. J 762.1, K 1976). 3, 198, Z. 21⫺200, Z. 6 ⫽ ATU 570*: J Rattenfänger von Hameln. 4, 188, Z. 25⫺189, Z. 9 ⫽ AaTh/ATU 113A: J Pan ist tot. ⫺ 4,177, Z. 37 sq. ⫽ J Jägerlatein (,waidtsprüch‘ als Synonym für Lüge).
Literarhist. interessant sind auch andere selbständige Werke der Grafen von Zimmern, so etwa das dem Großvater Johann Werner d. Ä. zugeschriebene Märe vom enttäuschten Liebhaber36, ein geistlicher Spruch37 und eine Minnewerbung38, beide dem Onkel Gottfried Werner zugeschrieben, sowie eine geistliche und eine weltliche Reimrede des Onkels Wilhelm Werner39; dazu kommt ein in der Z.n C. überliefertes Lied Konrads von Bickenbach40.
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Auch die 1959 erschienene Arbeit von B. R. Jenny konnte die positivistische Unterscheidung zwischen quellenfundierten Partien und ,Schwankkapiteln‘ nicht wirklich überwinden, immerhin gab sie jedoch letzteren durch die Auffassung der Chronik als Weltspiegel einen pauschal erfaßten Sinn41. Erst die Monogr.n von G. Wolf 42 und M. J. Brisˇki43 nehmen das Werk mit seinem Nebeneinander von funktional aufeinander bezogenen faktographischen und fiktionalen Passagen ganzheitlich und detailliert in den Blick. Wolf geht dabei von methodologischen Konzepten des new historicism aus (Geschichte als Konstrukt), während Brisˇki sich der Ansätze einer volkstümlichen Lachkultur (M. Bachtin44) und der narrativen Dialogizität bedient. Beides läuft auf eine Sicht hinaus, die im Prinzipiellen, i.e. in der Ansetzung eines einheitlichen, wenngleich multiperspektivisch angelegten Diskurses, übereinstimmt. Differenzen liegen im methodologischen Instrumentarium und in den Akzentsetzungen. Wolf betont stärker den historiographischen Aspekt und zeigt sich an poetologischen Problemen interessiert45, Brisˇki bringt mit einiger Systematik die Frage der unterschiedlichen Formen und Funktionen der Komik ins Spiel. Ein vexierbildähnliches, nur aus ungewöhnlichem Blickwinkel lesbares Gemälde (sog. Anamorphose46) belegt die epochentypische Faszination der Grafen durch optische Rätsel. Der Bezug zwischen dem Interesse an perspektivischen Spielen und den vielfachen Perspektivierungen der Chronik bleibt zu erörtern. Aus Sicht der Erzählforschung liegen so plausible erste Antworten auf die Frage nach der Funktion von fiktionalem Material im Rahmen einer frühneuzeitlichen Geschlechterchronik vor. Ungelöst ist dabei freilich das grundlegende Problem der Materialerhebung. Wolf interpretiert dem chronologischen Gang der Chronik entlang eine Vielzahl fiktionaler Einfügungen47, doch liegt dem kein systematischer Zensus der entsprechenden Passagen zugrunde; damit fehlt schon eine Übersicht über das Betrachtete und das Weggelassene. Brisˇki bringt demgegenüber im Anhang eine nach Chronikkapiteln geordnete, mit rund 700 Positionen sehr umfangreiche Auflistung von ,komischen Erzählformen‘, doch werden deren Definition und namentlich deren Verhältnis zu
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traditionellen Gattungsbegriffen der Erzählforschung nicht erörtert: Die durchgehende (schon sprachlich wenig geglückte) Wendung ,komische Erzählform‘ wird kurzerhand mit Schwank gleichgesetzt, ohne daß dieser effektiv terminologisch besetzte Begriff erörtert würde48. Definitorisch kaum abzusichern ist zudem die formalisierende Unterscheidung von Kap.n mit ,hist. Diskurs‘ einerseits und ,Schwankkapiteln‘49 andererseits. Ungelöst sind ferner die Probleme der Quellen und des Quellenbewußtseins beim Chronisten. Konkret wird etwa Heinrich J Bebel als Quelle genannt50. Übereinstimmungen zwischen dessen Fazetien51 und der Z.n C.: Bebel 1, num. 13 ⫽ 2, 451. ⫺ 21 ⫽ 2, 432. ⫺ 63 ⫽ 2, 451 sq. ⫺ 2, num. 15 ⫽ 2, 260 sq. ⫺ 37 ⫽ 2, 136. ⫺ 48 ⫽ 4, 256. ⫺ 129 ⫽ 2, 488. ⫺ 3, num. 43 ⫽ 2, 531. ⫺ 69 ⫽ 2, 278. ⫺ 177 ⫽ 2, 561. ⫺ 179 ⫽ 4, 127 sq.
Der Frage nach den in der Z.n C. verwendeten Gattungsbegriffen ist Wolf nachgegangen52. Demzufolge bezeichnet im Selbstverständnis des Verf.s histori/historia einen wahren Bericht; auf Seite der Fiktion erscheinen Bezeichnungen wie schwank, sage, fabel, mörlin53; außerdem verwendet die Z. C. Bezeichnungen wie bossen, facetia, fatzen oder spruch. Die Äußerungen des Chronisten zur Melusine-Erzählung lassen vermuten, daß sich für ihn gewisse Überlieferungen in ihrem Wahrheitsgehalt verändern konnten54. Für die Erzählforschung stellt sich die Aufgabe, einen umfassenden Katalog von Erzählgut mit Erschließung älterer und zeitgenössischer (allenfalls als Quelle des Chronisten in Betracht kommender) Parallelen zu erstellen. Anhand eines solchen Katalogs ließe sich sodann prüfen, wie diese Materialien ins Mikrogefüge des Chronikberichts eingearbeitet wurden ⫺ etwa durch narrative Überleitungen zur Orientierung des Lesers, durch Quellenberufungen oder Aussagen zum Wahrheitsanspruch (J Glaubwürdigkeit) und zur hermeneutischen Intention der jeweiligen Einfügung ⫺ und welche Funktionen sie im Einzelfall erfüllen. Jenseits aller höchstens punktuell anwendbaren modernen Gattungsbezeichnungen erscheint dabei der bislang nicht in Betracht gezogene Begriff des J Exemplums dazu geeignet, die Funktionen der Erzählmaterialien adäquat zu analysieren und zu beschreiben.
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Neuere Arbeiten wenden sich der Chronik erneut mit kulturgeschichtlichen Fragestellungen (Konversationskultur, Komik) zu55. 1
Z. C. 1⫺4. ed. K. A. Barack. Fbg/Tübingen 21881/ 81/81/82 (Nachdruck ed. P. Herrmann. Meersburg 1932); Die Chronik der Grafen von Zimmern. Hss. 580 und 581 der Fürstlich Fürstenberg. Hofbibl. Donaueschingen 1⫺3. ed. H. Decker-Hauff. Konstanz/ Stg. 1964/67/72 (prinzipiell andere Anlage der Edition; unvollständig, nur bis Z. C. 3, 514, ohne jeden Nachtrag). ⫺ 2 cf. Wolf, G.: Von der Chronik zum Weltbuch. Sinn und Anspruch südwestdt. Hauschroniken am Ausgang des MA.s. B. 2002, 514 (Stammtafel). ⫺ 3 ibid., 138. ⫺ 4 ibid., 138 sq. ⫺ 5 Baumgart, H.: Studien zur Z.n C. des Grafen Froben Christoph und zur Mainzer Bistumschronik des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern. Diss. (masch.) Fbg 1923; Jenny, B. R.: Graf Froben Christoph von Zimmern. Geschichtsschreiber ⫺ Erzähler ⫺ Landesherr. Lindau/Konstanz 1959, 119 sq. ⫺ 6 cf. Schnell, R.: Zur Geselligkeitskultur des männlichen Adels in Deutschland. Das Fallbeispiel Z. C. (1552⫺66). In: id. (ed.): Konversationskultur in der Vormoderne. Köln 2008, 441⫺471, hier 444, 460. ⫺ 7 Jenny (wie not. 5) 17⫺19; Decker-Hauff (wie not. 1) t. 1, 9 sq.; Wolf (wie not. 2) 133 sq.; Brisˇki, M. J.: Die Z. C. Studien zur Komik als Medium der Dialogisierung des hist. Diskurses. Ffm. 2005, 16 sq. ⫺ 8 Stuttgart, Württemberg. Landesbibl., cod. Don 581 (296 Bll.). ⫺ 9 Wolf (wie not. 2) 150. ⫺ 10 Stuttgart, Württemberg. Landesbibl., cod. Don 580 (1581 Seiten, Folioformat, Wappenbilder). ⫺ 11 cf. Wolf (wie not. 2) 135⫺137 (zur älteren Diskussion über die systematische Anlage der Chronik). ⫺ 12 Barack (wie not. 1) t. 4, 326. ⫺ 13 Jenny (wie not. 5) 39 sq. ⫺ 14 cf. Wolf (wie not. 2) 130 sq. (not. 4); Achnitz, W.: Die poeten und alten historien hat er gewist. Die Bibl. des Johann Werner von Zimmern als Paradigma der Lit.geschichtsschreibung. In: Miedema, N. R./Suntrup, R. (edd.): Lit. ⫺ Geschichte ⫺ Lit.geschichte. Ffm. 2003, 315⫺333; Heinzer, F.: Hs. und Druck im Œuvre der Grafen Wilhelm Werner und Froben Christoph von Zimmern. In: Dicke, G./Grubmüller, G. (edd.): Die Gleichzeitigkeit von Hs. und Buchdruck. Wiesbaden 2003, 141⫺166. ⫺ 15 Wolf (wie not. 2) 135; anders (doch ohne substantielle Argumente) Eser, T.: Schiefe Bilder. Die Zimmernsche Anamorphose und andere Augenspiele aus den Slgen des Germ. Nationalmuseums. Nürnberg 1998, 37⫺39; Bastress-Dukehart, E.: The Zimmern Chronicle. Aldershot 2002, 44 sq.; Heinzer (wie not. 14) 144. ⫺ 16 cf. Wolf (wie not. 2) 497⫺513. ⫺ 17 ibid. (Einschübe bei Kap. 9, 28, 30, 32, 42, 43, 47, 72, 131); cf. Brisˇki (wie not. 7) 17 sq. (not. 12). ⫺ 18 cf. Jenny (wie not. 5) 223 (not. 158); Wolf (wie not. 2) 138⫺140. ⫺ 19 ibid., 148⫺152; cf. Brisˇki (wie not. 7) 20⫺23 (macht ⫺ wohl irrtümlich ⫺ 7 Teile geltend). ⫺ 20 Wolf (wie not. 2) 364⫺415 (Chronik als Autobiogr.). ⫺
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Jenny (wie not. 5) 151⫺186; Wolf (wie not. 2) 155⫺173. ⫺ 22 Barack (wie not. 1) t. 2, 100, Z. 40⫺ 101, Z. 2. ⫺ 23 ibid., t. 4, 322; cf. Jenny (wie not. 5) 22⫺24, 187 sq.; Eser (wie not. 15) 10. ⫺ 24 Barack (wie not. 1) t. 2, 192, Z. 24 sq. ⫺ 25 ibid., t. 3, 496, Z. 12. ⫺ 26 ibid., t. 2, 30, Z. 10⫺14; t. 2, 310, Z. 17⫺ 30; t. 4, 13, Z. 10⫺14. ⫺ 27 ibid., t. 2, 96, Z. 15⫺20, Wolf (wie not. 2) 151. ⫺ 28 cf. Jenny (wie not. 5) 22⫺ 24 (Abriß der Forschungsgeschichte). ⫺ 29 Barack (wie not. 1) t. 1, 163, Z. 4⫺14 (Froschlehen); cf. Grimm, Rechtsalterthümer 1, 491 sq.; ibid., t. 2, 636, Z. 27 sq. (Umschreibung des Ehebruchs in flagranti in der antiken Gesetzgebung); cf. allg. Bader, K. S.: Die Zimmersche Chronik als Qu. rechtlicher Vk. Fbg 1942, 34 sq. ⫺ 30 Barack (wie not. 1) t. 2, 96, Z. 23⫺25 (Palmesel); ibid., t. 2, 431 sq.; t. 3, 376, Z. 20⫺25 (risus paschalis); ferner t. 2, 362, Z. 6⫺ 18. ⫺ 31 cf. die von Barack (wie not. 1) in den Fußnoten ausgeschöpften Auflistungen F. Liebrechts in Germania 14 (1869) 385⫺405, 18 (1873) 175⫺185; ferner Göttingische gelehrte Anzeigen (1869) 1298⫺1306; Zs. für dt. Kulturgeschichte N. F. 1 (1872) 391⫺308, 350⫺377. ⫺ 32 Barack (wie not. 1). ⫺ 33 cf. Gottfried Kellers Gedichte „Has von Überlingen“ (Barack [wie not. 1] t. 2, 497, Z. 38⫺498,7) und „Der Narr des Grafen von Zimmern“ (ibid., t. 2, 548, Z. 34⫺ 549,4). ⫺ 34 Aus der Chronika Derer von Zimmern. Historien und Kuriosa aus sechs Jh.en dt. Lebens urkundlich erzählt. ed. B. Ihringer. Ebenhausen 1911; Wappen, Becher, Liebesspiel. ed. J. Bühler. Ffm. 1940; Von Rittern, Bauern und Gespenstern. Geschichten aus der Chronik der Grafen von Zimmern. ed. G. Haug. Messkirch 1996 u. ö.; Die Welt ist die Welt. Noch mehr Geschichten aus der Chronik der Grafen von Zimmern. ed. id. Messkirch 1997. ⫺ 35 Stellenangaben nach Barack (wie not. 1). ⫺ 36 cf. ibid., t. 1, 586⫺608; Verflex. 4 (21983) 813⫺816; Ziegeler, H.-J.: Erzählen im SpätMA. Mü. 1985, 562 (Reg.); Wolf (wie not. 2) 286⫺293, Kocher, U.: Boccaccio und die dt. Novellistik. Amst. 2005, 289⫺329; Glauch, S.: Ich-Erzähler ohne Stimme. In: Haferland, H./Meyer, M. (edd.): Hist. Narratologie. Mediävistische Perspektiven. B. 2010, 149⫺185. ⫺ 37 Barack (wie not. 1) t. 4, 213⫺215. ⫺ 38 ibid., 215⫺ 233; Verflex. 6 (1987) 598 sq. (zur Frage der Autorschaft). ⫺ 39 Barack (wie not. 1) t. 4, 233⫺237, 238⫺ 247. ⫺ 40 cf. ibid., t. 2, 195 sq.; Verflex. 5 (1985) 139⫺141. ⫺ 41 Jenny (wie not. 5) 191 sq., 189 sq. (zeittypische Vorliebe für Schwänke). ⫺ 42 Wolf (wie not. 2); id.: Alhie mueß ich ain gueten schwank einmischen. Zur Funktion kleinerer Erzählungen in der Z.n C. In: Grubmüller, K./Johnson, L. P./Steinhoff, H.-H. (edd.): Kleinere Erzählformen im MA. Paderborn 1988, 173⫺186; id.: Froben Christoph von Zimmern. In: Dt. Dichter der frühen Neuzeit 1450⫺ 1650. ed. S. Füssel. B. 1993, 512⫺528. ⫺ 43 Brisˇki (wie not. 7). ⫺ 44 Bachtin, M.: Lit. und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Mü. 1969. ⫺ 45 Wolf (wie not. 2) 289⫺293 (Analyse des Märes
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vom enttäuschten Liebhaber). ⫺ 46 cf. Eser (wie not. 15) 37⫺39 und pass. ⫺ 47 Wolf (wie not. 2) pass. ⫺ 48 Brisˇki (wie not. 7) 48 sq. ⫺ 49 ibid., 49. ⫺ 50 cf. Barack (wie not. 1) t. 2, 97, Z. 11 sq. ⫺ 51 Nach Bebel/Wesselski. ⫺ 52 Wolf (wie not. 2) 152⫺ 155. ⫺ 53 cf. id. 1988 (wie not. 42) 174 (Belege für Anekdote, Gnome, Legende, Märe, Minnelied, Sage). ⫺ 54 cf. ibid., 153 sq.; Barack (wie not. 1) t. 4, 146, Z. 15⫺147, Z. 12. ⫺ 55 Ertzdorff-Kupfer, X. von: Felix Fabris „Evagatorium“ und „Eygentlich Beschreibung“ und der Bericht über die Pilgerfahrt des Freiherrn Johann Werner von Zimmern. In: Jb. für internat. Germanistik 31 (1999) 54⫺86; Wolf, G.: Starke Frauen ⫺ schwache Männer. In: Gaebel, U./ Kartschoke, E. (edd.): Böse Frauen ⫺ gute Frauen. Trier 2001, 273⫺286; Wolf, G.: „das die herren was zu lachen hetten“. In: Röcke, W./Velten, H. R. (edd.): Lachgemeinschaften. B. 2005, 145⫺169; Dicke, G.: Fazetieren. Ein Konversationstyp der ital. Renaissance und seine dt. Rezeption im 15. und 16. Jh. In: Lutz, E. C./Thali, J./Wetzel, R. (edd.): Lit. und Wandmalerei. Tübingen 2005, 155⫺188; Schnell (wie not. 6); Gottwald, C.: Lachen über das Andere. Eine hist. Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Bielefeld 2009, bes. 91⫺107.
Muri
Andre´ Schnyder
Zincgref, Julius Wilhelm, *Heidelberg 3. 6. 1591, † St. Goar 12. 11. 1635, dt. Autor, Sprichwortsammler, Übersetzer und Jurist. Z. besuchte seit 1607 die Univ. Heidelberg und hörte zunächst Vorlesungen über Philologie, Philosophie und Geschichte, bis er sich zum Studium der Rechte entschloß. 1611⫺16 unternahm er eine Studienreise, die ihn über die Schweiz nach Frankreich, England und in die Niederlande führte. 1619 erwarb er in Heidelberg den Grad eines Doktors der Rechte. Als kurpfälz. Generalauditor der Heidelberger Garnison mußte er bei der Eroberung Heidelbergs durch die kaiserlichen Truppen unter Tilly 1622 die Stadt verlassen und floh über Frankfurt nach Straßburg, wo er zeitweise als Übersetzer und Sekretär für den frz. Gesandten W. Marescot tätig war. Aus gesundheitlichen Gründen mußte er diese Tätigkeit aufgeben und siedelte 1625 nach Worms über. Nach seiner Heirat 1626 lebte Z. als Privatgelehrter in der Pfalz; 1632 übernahm er das Amt eines Landschreibers in Kreuznach, später in Alzey. Nach der Schlacht bei Nördlingen (1634), die mit dem Sieg der kaiserlichen Truppen über die Schweden und Protestanten endete, flüch-
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tete Z. zu seinem Schwiegervater nach St. Goar und starb ein Jahr später an der Pest1. Z. gehört mit Jan Gruter, Georg Michael Lingelsheim, Matthias Bernegger, Balthasar Venator und Johann Leonhard Weidner zu den einflußreichen späthumanistischen Heidelberger und Straßburger Poeten, die z. T. miteinander freundschaftlich verbunden waren. Ihre Zusammenarbeit geht bes. aus dem 1619 in Oppenheim erschienenen Emblembuch Emblematum Ethico-Politicorum Centuria (dt. Ausg. u. d. T. Sapientia picta. Das ist Künstliche Sinnreiche Bildnussen vnd Figuren. Ffm. 1624 [1633, 1698]; frz./dt. Heidelberg 1664 [1666, 1681]) hervor ⫺ eine Gemeinschaftsarbeit, zu der Gruter, Lingelsheim, der Kupferstecher Jacques Granthomme und der Drucker Johann Lancelot Beiträge geliefert hatten. Das Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz gewidmete Werk enthält eine umfassende, calvinist. gefärbte Staats- und Regierungslehre2. Für die Erzählforschung bedeutsam sind Z.s 1618 anonym und ohne Ortsangabe erschienenen Facetiæ pennalivm mit 191 Texten. Facetiæ pennalivm / Das ist / Alerleylustige / Schulbossen / auß Hieroclis facetiis Philosophorum zum theil verteutschet / und zum theil auß dem täglichen Prothocollo der heutigen Pennal zusammengetragen. Mit sampt etlichen angehengten vnderschiedlichen Characterismis oder Beschreibungen dess Pennalismi, Pedantismi, vnd Stupiditatis oder der Stockheiligkeit3.
Die bis Mitte des 17. Jh.s allein zwölfmal aufgelegte (und vermehrte) Slg enthält eine Fülle von Texten zur Gelehrtenschelte, in denen Z. in Anlehnung an literar. Traditionen, z. B. den J Philogelos (Übers. von 20 Texten), die E¯thikoi charakte¯res (Ethische Charakterbilder) des Theophrast (4./3. Jh. a. Chr. n.) und die Prologues tant se´rieux que face´tieux (1610) des Bruscambuille (i.e. Jean Gracieux), und unter dem Eindruck seiner Reiseerfahrungen die akademische Welt mit ihren Neigungen zu Pennalwesen, Pedanterie und Provinzialismus beschrieb. Typ en - u nd Mo ti vv er z. (Ausw.): 1[a] ⫽ AaTh/ ATU 1682: J Pferd fasten lehren. ⫺ 1[h] ⫽ Mann stellt sich mit geschlossenen Augen vor einen Spiegel, um sich anzuschauen, während er schläft (Mot. J 1936). ⫺ 3[b] ⫽ ATU 1284 C: „You, Or Your Brother?“ ⫺ 3[e] ⫽ cf. AaTh/ATU 1284: Irrige J Identität. ⫺ 5[c] ⫽ AaTh/ATU 1920 G: cf. J Lügenwette. ⫺ 11[a] ⫽ AaTh/ATU 1225 A: J Kuhfladen
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auf dem Dach. ⫺ 12[e] ⫽ Einer warnt seine Gefährten vor dem Betreten eines Erbsenackers, sie würden sich verbrennen: er habe kürzlich Erbsen gegessen, die zu heiß gewesen seien (Mot. J 2214.1). ⫺ 13[g] ⫽ AaTh/ATU 1278: Die merkwürdige J Markierung. ⫺ 17[d] ⫽ AaTh/ATU 1336 A: cf. J Spiegelbild im Wasser. ⫺ 24[c] ⫽ Sterbender fürchtet weiten Weg zum Himmel. ⫺ 31[c] ⫽ AaTh/ATU 1242 A: J Entlastung des Esels. ⫺ 34[a] ⫽ AaTh/ATU 1562: J „Denk dreimal, bevor du sprichst.“ ⫺ 36[c] ⫽ AaTh/ ATU 1861*: cf. J Bürgermeisterwahl. ⫺ 37[c] ⫽ AaTh/ATU 1862 C: Die einfältige J Diagnose.
Eine noch größere Nachwirkung als die Facetiæ pennalivm erzielte die für die hist. J Sprichwortforschung wie auch für die Vermittlung populären Erzählguts4 wichtige Slg Der Teutschen Scharpfsinnige kluge Sprüch (Straßburg 1626), eine zunächst einbändige Ausg. mit Spruchweisheiten, die Z. zusammengestellt hatte. Auf die Neuausgabe 1628 folgte 1631 ein zweiter, wesentlich schmalerer Band. Nach Z.s Tod erschienen rasch weitere Ausg.n (Straßburg 1639; Danzig 1640), die Z.s Freund Johann Leonhard Weidner mit geringfügig abweichendem Titel um einen 3. Band erweiterte (Leiden 1644, Amst. 1653). Diese Ausg. wurde 1655 durch Weidners Sohn Johann Wilhelm um zwei Bände ergänzt (weitere Ausg.n Ffm. 1683, 1693)5; Teilausgaben sind selten6. Diese Slg kurzer zweiteiliger und situationsbezogener Apophthegmata enthält ⫺ mit dem Anschein von Historizität ⫺ ,denkwürdige‘ Aussprüche der ,Teutschen‘. Sie markiert dadurch die Ablösung von Beispielen antiken Gedankenguts, behält jedoch die eingeführten formalen Prinzipien und Genremerkmale bei. Durch die Einbettung der Spruchweisheiten in satirische oder ,witzige‘ Sinnzusammenhänge hat die Slg einen hohen Unterhaltungswert. Die Spruchweisheiten übernahm Z. keineswegs immer wörtlich, sondern er bemühte sich oft um größere Anschaulichkeit und eine Verstärkung der Pointen. Nach dem Urteil W. J Mieders hat Z. seine Slg „nicht einfach wie ein Schulmeister zusammengetragen, sondern sein Werk mit Engagement und Vorsatz ausgearbeitet“7. Wie die berühmten Sprichwortsammler des 16. Jh.s (Johannes Agricola [ca 1494⫺1566], Sebastian J Franck und der Buchdrucker Christian Egenolff [1502⫺55]) hatte sich Z. zum Ziel gesetzt, die dt. Lit.sprache in ihren Sinnsprüchen, Klugreden, Apophthegmata,
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Bonmots, Redensarten, Sprichwörtern etc. zu dokumentieren, um ihr neben den anderen Nationalsprachen und dem Lateinischen einen gebührenden Platz zu verschaffen. In der Vorrede (1653) kritisiert er das bisherige Unvermögen der ,Scribenten‘; sie hätten ,durch vnfleiß‘ versäumt, Sprichwörter als ,vox populi‘ zu sammeln und diesen ,vorrath‘ nutzbringend einzusetzen. Die Struktur der Slg orientiert sich grob an der Ständeordnung sowie an männlichen Personengruppen; Frauen aller Stände sind mit Aussprüchen kaum vertreten8. Ein Abschnitt mit witzigen Aussprüchen aus der Narrenliteratur9, darunter solchen von J Claus Narr10 und J Eulenspiegel11, fehlt nicht12. Die Aussprüche und Klugreden ⫺ das Qu.nverzeichnis nennt über hundert Autoren und Werktitel (zumeist in lat. Sprache) ⫺ stammen auch von Zeitgenossen wie Friedrich J Taubmann, Matthias Bernegger (1582⫺1640), Johann Michael J Moscherosch oder Christoph Koeler (1602⫺58). Eine Reihe von Aussprüchen führte Z. auf ungenannte Personen zurück, etwa auf einen Metzger aus Rostock13, einen Bauern14, einen Arzt15, einen Wirt16 oder einen Bettler17. Z.s Slg enthält wichtige Früh- oder sogar Erstbelege für Sprichwörter, Redensarten, Sinnsprüche, Maximen und geflügelte Worte (z. B. ,dem Teufel die Kerze anzünden‘, ,die Saw vorsetzen‘, ,einen in Harnisch bringen‘ ,oˆ Sancta Simplicitas‘)18. Die Nachwirkung Z.s ist sowohl in der Schwank- und Unterhaltungsliteratur (cf. Schriften von J Abele von Lilienberg, S. J Gerlach, O. J Schreger) als auch in der Volksliteratur (z. B. L. J Aurbacher, J. und W. J Grimm) faßbar19. K. F. W. J Wanders Sprichwörter-Lexicon und das DWb. der Brüder Grimm bemühten Z.s Slg für Zitatbelege (zumeist als ,Zinkgref‘), werteten die Ausg. allerdings nicht systematisch aus. Typ en - u nd Mo ti vv er z. (Ausw.): 1, 32 ⫽ ATU 921 C: Why Hair of Head is Gray before the Beard. ⫺ 55 ⫽ AaTh/ATU 179: Was der J Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert. ⫺ 144 ⫽ AaTh/ATU 1621 A*: Donkey Refuses to Drink after It Has Had Enough. ⫺ 161 ⫽ cf. AaTh/ATU 1853: Anecdotes about Millers. ⫺ 198 ⫽ cf. AaTh/ATU 1558: J Kleider machen Leute. ⫺ 242 ⫽ AaTh/ATU 1563*: Die schreckliche J Drohung. ⫺ 250 ⫽ AaTh/ATU 928: J Bäume für die nächste Generation. ⫺ 253 ⫽ ATU 1861 A: cf. J Bestechung. ⫺ 253 ⫽ AaTh/ATU 1534: Die Urteile des J Schemjaka.
1373
Zingerle, Ignaz Vinzenz
2, 39 ⫽ AaTh/ATU 1558 . ⫺ 69 sq. ⫽ Akten dreschen (J Advokat). ⫺ 93 sq. ⫽ AaTh/ATU 890: J Fleischpfand. 3, 25 ⫽ cf. AaTh/ATU 1558. ⫺ 40 ⫽ AaTh/ATU 778*: J Kerzen für den Heiligen und den Teufel. ⫺ 59 ⫽ AaTh/ATU 1282: House Burned Down to Rid It of Insects. ⫺ 106 ⫽ AaTh/ATU 1288: J Beinverschränkung. ⫺ 109 ⫽ AaTh/ATU 1830: J Wettermacher. ⫺ 116 ⫽ AaTh/ATU 1829: cf. Das lebendige J Heiligenbild. ⫺ 204 ⫽ cf. ATU 920 C*: The Choice of a Wife. ⫺ 219 ⫽ AaTh/ATU 276: J Krebs und seine Jungen. ⫺ 241 ⫽ AaTh/ATU 1610: J Teilung von Geschenken und Schlägen. ⫺ 242 ⫽ cf. AaTh/ ATU 1823: cf. J Taufschwänke. ⫺ 255 ⫽ AaTh/TU 1842: J Testament des Hundes. ⫺ 257 ⫽ AaTh/ATU 1698 C: cf. J Schwerhörig, Schwerhörigkeit. ⫺ 287 ⫽ AaTh/ATU 754: J Glückliche Armut. ⫺ 288 ⫽ AaTh/ATU 1562. ⫺ 289 ⫽ AaTh/ATU 1628: Der gelehrte J Bauernsohn. ⫺ 289 ⫽ AaTh/ATU 1853: cf. J Müllerschwänke. ⫺ 310 ⫽ AaTh/ATU 1351 A*: J Zunge gesucht. ⫺ 312 ⫽ AaTh/ATU 1699: cf. J Sprachmißverständnisse. ⫺ 316 ⫽ AaTh/ATU 778*. ⫺ 327 ⫽ AaTh/ATU 1562 B: J Pflichtenzettel. ⫺ 329 ⫽ AaTh/ATU 1529 A*: The Exchange of Horses. ⫺ 332 ⫽ AaTh/ATU 1354 A*: Widower’s Relief. ⫺ 333 ⫽ AaTh/ATU 1807 A: J Eigentümer weist Gestohlenes zurück. ⫺ 334 ⫽ AaTh/ATU 1800: Nur eine Kleinigkeit J stehlen. ⫺ 334 ⫽ AaTh/ATU 1630 A*: Son Has Only Beaten Father’s Cap. ⫺ 334 ⫽ AaTh/ATU 1585: J Pathelin. ⫺ 336 ⫽ AaTh/ ATU 1804 B: J Scheinbuße. ⫺ 337 ⫽ AaTh/ATU 1558.
Aus protestant. Sicht äußerte sich Z. immer wieder kritisch, z. T. polemisch, über politische Tagesereignisse und Vorgänge seiner Zeit, u. a. in ill. Flugblättern (Der Röm. Vogelherdt, 1623) und satirischen Flugschriften (Newe Ztgen Von unterschiedlichen Orten, 1619; Ztg auß der Churpfaltz, 1621; Quotlibetisches Weltkefig, 1623). Es ist anzunehmen, daß sich unter den anonymen Kleindrucken aus der 1. Hälfte des 30jährigen Kriegs weitere bislang unentdeckte Texte Z.s befinden20. Eine geplante Gesamtausgabe der Werke Z.s wurde nicht zu Ende geführt21. 1 Schnorr von Carolsfeld, F.: J. W. Z.s Leben […]. In: Archiv für Litteraturgeschichte 8 (1879) 1⫺58, 446⫺490; Graupner, R. G. P.: J. W. Z. und seine Apophthegmata. Diss. (masch.) Lpz. 1923; Schilling, M.: Z. In: Lit.lex. 12. ed. W. Killy. B./Boston 22011, 682⫺684. ⫺ 2 Harper, A.: Z.’s Emblem Book of 1619. Local and European Significance. In: id./Höpel, I. (edd.): The German-Language Emblem in Its European Context. Glasgow 2000, 79⫺95; Rawles, S.: More Sextos. Two Editions of Z.’s „Emblematum ethico-politicorum centuria“. In: The Library 7,3 (2002) 317⫺320. ⫺ 3 Z., J. W.: Facetiae Pennalium. ed. D. Mertens/T. Verweyen. Tübingen 1978, VIII⫺
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XL; Moser-Rath, Schwank, 171⫺182; Re´mi, C.: Zur polyphonen Komposition von Z.s Skandalschrift „Facetiae Pennalium“. In: Kühlmann, W./Wiegand, H. (edd.): Julius Wilhelm Z. und der Heidelberger Späthumanismus. Ubstadt-Weiher 2011, 321⫺ 345. ⫺ 4 cf. Verweyen, T.: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jh. Bad Homburg/B./ Zürich 1970, bes. 119⫺127; Moser-Rath, Schwank, 171⫺182. ⫺ 5 Dünnhaupt, G.: Bibliogr. Hb. der Barocklit. 3. Stg. 1981, 2005⫺2018; id.: Personalbibliogr.n zu den Drucken des Barock 6. Stg. 1993, 4356⫺4372. ⫺ 6 Z., J. W.: Scharfsinnige Sprüche der Teutschen, Apophthegmata genannt. ed. B. F. Guttenstein. Mannheim 1835; id.: Der Teutschen scharfsinnige kluge Sprüch. ed. K.-H. Klingenberg. Lpz. 1982 (Ffm. 1985). ⫺ 7 Mieder, W.: Vorwort. In: Z.: Teutsche Apophthegmata: das ist Der Teutschen Scharfsinnige kluge Sprüche. Hildesheim 2006 (Nachdr. der Ausg. Amst. 1653), hier t. 1, XXV. ⫺ 8 EM-Archiv: Zincgref-Weidner 1 (1653) 48, 129, 131 sq., 246, 260; ibid. 2 (1653) 75. ⫺ 9 ibid. 1 (1653) 269⫺282. ⫺ 10 ibid., 269⫺276; ibid. 2 (1653) 52 sq. ⫺ 11 ibid. 1 (1653) 276 sq. ⫺ 12 cf. Mieder (wie not. 7) XVII⫺XX (Analyse). ⫺ 13 EM-Archiv: ZincgrefWeidner 1 (1653) 231. ⫺ 14 ibid., 232. ⫺ 15 ibid., 244. ⫺ 16 ibid., 256. ⫺ 17 ibid., 268. ⫺ 18 cf. Mieder (wie not. 7) XXVI⫺XXIX (Aufstellung). ⫺ 19 cf. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CD-ROM B. 2003. ⫺ 20 Schilling, M.: „Der Röm. Vogelherdt“ und „Gustavus Adolphvs“. Neue Funde zur politischen Publizistik J. W. Z. s. In: GRM 62, N. F. 31 (1981) 289⫺303; id. (wie not. 1) 683. ⫺ 21 cf. Z., J. W.: Gesammelte Schr. 2,1: Emblemata ethico-politica. Text; 2,2: Erläuterungen und Verifizierungen; 3: Facetiae Pennalium; 4,1: Apophthegmata teutsch. Text; 4,2: Apophthegmata teutsch. Erläuterungen und Verifizierungen. ed. D. Mertens/T. Verweyen. Tübingen/B. u. a. 1978/93/2011.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Zingerle, Ignaz Vinzenz, *Meran 6. 6. 1825, † Innsbruck 17. 9. 1892, Tiroler Volkskundler, Germanist, Erzählforscher und Schriftsteller1. Der Sohn eines Kaufmanns siedelte nach Abschluß seiner Schulausbildung 1843 nach Innsbruck über, gründete dort ⫺ gemeinsam u. a. mit F. J. J Vonbun ⫺ die literar. Vereinigung Aurora und veröffentlichte unter dem Pseud. Gottfried von Lebenberg erste, romantisch beseelte Gedichte. 1844⫺47 studierte er in Brixen Theologie, 1845⫺46 unterbrochen durch einen Aufenthalt im Kloster Marienberg im Vinschgau. Nach dem Erhalt der niederen Weihen nahm er 1848 eine Stelle am Gymna-
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Zingerle, Ignaz Vinzenz
sium in Innsbruck an und übernahm die Redaktion der Tiroler Lit.zeitschrift Phönix. 1857 wurde Z. mit seiner Studie Die Oswaldlegende und ihre Beziehungen zur dt. Mythologie (Stg./Mü. 1856; J Oswald) in Tübingen promoviert. Nachdem er kurze Zeit die Innsbrukker Univ.sbibliothek geleitet hatte, wurde Z. 1859 zum ersten Ordinarius für Germanistik an der Innsbrucker Univ. ernannt. Z. war ein typischer Vertreter der ersten Gelehrtengeneration nach den Brüdern J Grimm und Anhänger der J mythol. Schule. Bereits in jungen Jahren stand Z., von L. J Schmidt als der „bedeutendste österreichische Volkskundler der germanistischen Richtung“2 eingeschätzt, in Kontakt mit führenden Gelehrten seiner Zeit wie K. J Simrock, L. J Uhland und M. Haupt (1808⫺74) und war Beiträger zu J. W. J Wolfs Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde3 und F. Pfeiffers (1815⫺68) Germania4. Das Spektrum seiner volkskundlichen Arbeiten umspannt neben Volksglaube und Mythologie die narrativen Gattungen der mündl. Überlieferung, Kinderreim und -spiel5, Volksmedizin, Brauch und Rechtsaltertümer6. Gemeinsam mit seinem Bruder, dem Theologen und Orientalisten Josef Thomas Zingerle (1832⫺91)7, war Z. Begründer und zugleich einflußreichster Vertreter der Erzählforschung romantischer Prägung in Tirol. Die sentimental-romantische Gedichtform seiner Sagen aus Tirol (Innsbruck 1850) brachte ihm allerdings bereits damals Kritik ein8. Zusammen mit seinem Bruder gab er die Märchenausgaben Kinder- und Hausmärchen aus Tirol (Innsbruck 1852 [Gera 21870, Innsbruck 31911]) und Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland (Regensburg 1854) heraus ⫺ auch letztere im wesentlichen mit Texten aus dem Tiroler Raum. Beide Bände lassen deutlich den Einfluß der Grimmschen J Kinder- und Hausmärchen erkennen. Z. sandte sie den Grimms zu und stand fortan mit ihnen in Briefkontakt9. 1859 folgte als Ergebnis intensiver Sammeltätigkeit die wiss. Ausg. Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol (Innsbruck 1859). Die stark von J. Grimms Dt. Mythologie geprägte Slg enthält 764 Sagen und sechs Märchen zusammen mit Orts- und Qu.nangaben, einem Reg. und Anmerkungen. Den Stand der jeweiligen Forschungsarbeit dokumentiert der Briefwechsel (1862⫺66) zwischen Z. und dem Luzerner Sa-
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genforscher A. Lütolf (1824⫺79)10. 1863 publizierte Z. eine Slg von Anekdoten und Geschichten über Margarethe Maultasch (1318⫺ 69), die sagenumwobene Herrscherin von Tirol11. Kurz vor Z.s Tod erschien eine erw. Aufl. der Sagen aus Tirol (Innsbruck 1891) mit jetzt 1022 Texten. Noch stärker der Grimmschen Mythologie verpflichtet ist die umfangreiche Slg Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes (Innsbruck 1857 [21871]); in den dort zusammengebrachten Volksglaubensvorstellungen glaubte Z. vielfältige Spuren germ. Mythologie zu erkennen. Im Anh. zu dieser Slg druckte Z. die Aberglaubensliste aus dem Sittenspiegel Pluomen der Tugent (1411; J Fiore di virtu`) des Südtiroler Dichters Hans Vintler ab12. Zu ihren Texten gelangten die Brüder Z. u. a. durch das Studium von Ztgen und anderen Qu.n, durch eigene Erhebungen bzw. Aufzeichnungen mündl. Erzählungen und über Gewährsleute13; Z. griff dabei mehrmals auf das Mittel des Sammelaufrufs in lokalen Zeitungen zurück14. Obwohl Josef Zingerle nach 1854 nicht mehr als Mitherausgeber genannt wird, belegen im Familienarchiv erhaltene Briefe, daß er viel zu den späteren Ausg.n beigetragen hat15. Die Bearb.skriterien der Texte lassen sich u. a. an der erhaltenen Orig.zuschrift eines Märchens aufzeigen: Josef änderte sowohl Figuren (ersetzte z. B. ein Männlein durch den Teufel) als auch Motive und bes. den Schluß, um so eine schlüssige Erzählung zu schaffen16. 1 Wurzbach, C.: Biogr. Lex. des Kaiserthums Oesterreich 60. Wien 1891, 146⫺149; Rogenhofer-Suitner, H.: I. V. Z. ⫺ Leben. In: Mittlgen aus dem BrennerArchiv 11 (1992) 8⫺10; ead. (ed.).: I. V. Z. Meran 1992. ⫺ 2 Schmidt, L.: Geschichte der österr. Vk. Wien 1951, 99; Schneider, I.: I. V. Z. und seine Bedeutung für die österr. Vk. In: Mittlgen aus dem Brenner-Archiv 11 (1992) 18⫺27.⫺ 3 cf. Z., I. V.: Die Kröte und der Volksglaube in Tirol. In: Zs. für dt. Mythologie und Sittenkunde 1 (1853) 7⫺18; id.: Die Hexen fahren um Salz. ibid. 4 (1859) 149 sq.; cf. ferner Wurzbach (wie not. 1) 147. ⫺ 4 cf. Z., I. V.: Zur dt. Heldensage. In: Germania 2 (1857) 434. ⫺ 5 id.: Das dt. Kinderspiel im MA. Innsbruck 21873. ⫺ 6 Die Tirol. Weistümer 1⫺4,1⫺2. ed. I. V. Z. u. a. Wien 1875/77/80/91. ⫺ 7 Wurzbach (wie not. 1) 155; Zingerle, A.: Zingerle, Josef. In: ADB 45 (1900) 319 sq. ⫺ 8 cf. Bothe für Tirol und Vorarlberg H. 84 (1851) 428 sq. ⫺ 9 Rogenhofer-Suitner, H.: „was kümmern uns die, welchen das verständnis von dem
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Zipes, Jack
werth der alten überlieferungen fehlt!“ (Wilhelm Grimm). Der Briefwechsel zwischen den Brüdern Grimm und I. V. Z. In: Mittlgen aus dem Brenner Archiv 8 (1989) 44⫺66. ⫺ 10 Hengartner, E.: „Wie schätzbar oft die kleinsten Sagen und Gebräuche sein können.“ (I. V. Z.). Der Briefwechsel zwischen den beiden Sagenforschern Alois Lütolf (Innerschweiz) und I. V. Z. (Tirol), 1862⫺1866. In: Der Geschichtsfreund 138 (1985) 12⫺54. ⫺ 11 Z., I. V.: Margarete von Tirol, die Maultasche. Innsbruck 1863. ⫺ 12 cf. auch id.: Die Pluomen der Tugend des Hans Vintler. Innsbruck 1874. ⫺ 13 Rogenhofer-Suitner, H.: Bemerkungen zu den Märchen- und Sagenslgen der Brüder Z. In: Der Schlern 61 (1987) 395⫺412, hier 397. ⫺ 14 Z., I. V.: An die Freunde der vaterländischen Volkslit. In: Bothe für Tirol und Vorarlberg (1851) H. 66, 337; id.: Für die Slg der Sitten und Gebräuche der Grafschaft Tirol. In: Beilage zur Volks- und Schützenztg 81 (1856) 427 sq. ⫺ 15 cf. Rogenhofer-Suitner, H.: Der prächtige Schmied von Rumpelbach. Ein Märchen der Brüder Z. In: Fabula 33 (1992) 111⫺115. ⫺ 16 ibid.
Innsbruck
Ingo Schneider
Zipes, Jack, *New York 7. 6. 1937, US-amerik. Germanist und Märchenforscher1. Z. studierte 1955⫺59 Politikwissenschaften am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, und 1959⫺65 engl. und vergleichende Lit.wissenschaften an der Columbia Univ. in New York, wo er 1965 mit einer Studie zum Typus des romantischen Helden in der dt. und amerik. Lit. promoviert wurde2; 1962⫺63 verbrachte er an den Univ.en München und Tübingen. Danach war er an den germanistischen Abteilungen der New York Univ. (1967⫺72), der Univ. of Wisconsin in Milwaukee (1972⫺ 86), der Univ. of Florida in Gainesville (1986⫺ 89) und der Univ. of Minnesota in Minneapolis (1989⫺2008) tätig. Z. wurde u. a. mit dem Internat. Brüder Grimm-Preis des Internat. Inst. for Children’s Literature in Osaka (1999) sowie dem Katharine Briggs Award der Folklore Soc. (2007) in London ausgezeichnet. Z. ist ein überaus produktiver Wissenschaftler mit einem breitem Interessenspektrum3. Viele seiner Studien auf dem Gebiet der Kinderliteratur4 und der Volkserzählung, bes. des Märchens, sind Pionierleistungen. Als Übers.5 und Herausgeber6, u. a. mehrerer Anthologien7, hat er den Kanon klassischer Erzählungen hinterfragt, auf vernachlässigte Autoren und Texte aufmerksam gemacht und der
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engl.sprachigen Forschung neue Quellen erschlossen. Im Mittelpunkt seiner komparatistischen Forschungen steht das dt., engl., amerik., frz. und ital. Erzählgut, doch gehen seine Arbeiten auch über diesen Bereich hinaus. Mit seinen auf der Kritischen Theorie und der Kulturkritik der Frankfurter Schule basierenden Studien will Z. die ideologische Grundlage sowie die kultur- und soziohist. Bedingungen erforschen, welche die Produktion und Rezeption literar. und kultureller Werke beeinflussen8. In seiner ersten größeren Studie zum Märchen, Breaking the Magic Spell. Radical Theories of Folk and Fairy Tales (Austin 1979; Lexington 22002), machte Z. eine engl.sprachige Leserschaft u. a. mit den soziohist. Methoden dt. Wissenschaftler zur kritischen Auseinandersetzung mit der Märchen- und Kinderliteratur vertraut. In Fairy Tales and the Art of Subversion. The Classical Genre for Children and the Process of Civilization (L. 1983; N. Y. 2 2006) beschäftigte er sich unter Bezug auf die zivilisationstheoretischen Schriften von N. Elias9 mit klassischen Märchen als Instrument der Sozialisation. Innerhalb eines weiten soziohist. Rahmens hat Z. u. a. die Beziehung des Märchens zum Mythos10, die Rolle des Geschlechts und seine Behandlung im Märchen11, die Druckgeschichte und Adaptation klassischer Erzählungen12, das Märchen im Kontext der Kinderliteratur13 sowie die Theorie und Geschichte des Märchenfilms14 untersucht. In seinen neuesten Studien bezieht Z. Erkenntnisse aus der Evolutionspsychologie, der Relevanztheorie und der Sprachentwicklungstheorie ein15. Trotz seiner Kritik an der repressiven Rolle der klassischen Märchen schließt sich Z. der Auffassung E. J Blochs vom Märchen als einer utopischen Gattung an, die den Unterdrückten Hoffnung schenke und neuartige Überlebensstrategien biete16. Sein Vertrauen in das emanzipatorische Potential des Märchens bringt ein Interesse an Geschichten mit sich, welche die üblichen, in klassischen Buchmärchen zum Ausdruck kommenden Werte untergraben17. Zusammen mit P. Brosius, dem künstlerischen Direktor der Children’s Theatre Company in Minneapolis, gründete Z. dort 1997 Neighborhood Bridges, ein erfolgreiches Projekt zur Förderung des Erzählens sowie der Lese- und Schreibfähigkeit in einer Gemeinschaft18.
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Zˇirmunskij, Viktor Maksimovicˇ
1
Marvels & Tales 16,2 (2002; Sonderheft „J. Z. and the Sociohistorical Study of Fairy Tales“); Joosen, V.: Z., J. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 3. ed. D. Haase. Westport, Conn. 1987, 1052⫺1054. ⫺ 2 Z., J.: The Great Refusal. Studies of the Romantic Hero in German and American Literature. Bad Homburg/Ffm. 1970. ⫺ 3 Marvels & Tales 16 (2002) 132⫺139 (Bibliogr.). ⫺ 4 Z., J. (ed.): The Oxford Enc. of Children’s Literature 1⫺4. N. Y./Ox. 2006. ⫺ 5 id.: Beauties, Beasts, and Enchantments. Classical French Fairy Tales. N. Y. 1989; id.: The Complete Fairy Tales of the Brothers Grimm. N. Y. 32003; id.: The Fairy Tales of Hermann Hesse. N. Y. 1995; id.: Beautiful Angiola. The Lost Sicilian Folk and Fairy Tales of Laura Gonzenbach. N. Y. 2006; id./Russo, J.: The Collected Sicilian Folk and Fairy Tales of Giuseppe Pitre` 1⫺2. N. Y. 2008. ⫺ 6 Z., J. (ed.): The Oxford Companion to Fairy Tales. Ox. 2000. ⫺ 7 id.: Victorian Fairy Tales. The Revolt of the Fairies and Elves. N. Y./L. 1987; id.: Spells of Enchantment. The Wondrous Fairy Tales of Western Culture. N. Y. 1991; id.: The Great Fairy Tale Tradition. From Straparola and Basile to the Brothers Grimm. N. Y. 2001. ⫺ 8 cf. EM 9, 382. ⫺ 9 Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation 1⫺2. Ffm. 1977. ⫺ 10 Z., J.: Fairy Tale as Myth/Myth as Fairy Tale. Lexington 1994. ⫺ 11 id.: Don’t Bet on the Prince. Contemporary Feminist Fairy Tales in North America and England. N. Y. 1986; id.: The Trials and Tribulations of Little Red Riding Hood. N. Y./L. (1983) 21993. ⫺ 12 id.: The Brothers Grimm. From Enchanted Forests to the Modern World. N. Y. u. a. (1983) 22002. ⫺ 13 id.: Happily Ever After. Fairy Tales, Children, and the Culture Industry. N. Y. 1997; id.: Relentless Progress. The Reconfiguration of Children’s Literature, Fairy Tales, and Storytelling. N. Y. 2009. ⫺ 14 id.: The Enchanted Screen. The Unknown History of Fairy-Tale Films. N. Y./L. 2011. ⫺ 15 id.: Why Fairy Tales Stick. The Evolution and Relevance of a Genre. N. Y. 2006; id.: The Irresistible Fairy Tale. The Cultural and Social History of a Genre. Princeton 2012. ⫺ 16 id. 32003 (wie not. 5) xxxvi. ⫺ 17 id./ Richter, D./Dolle, B.: Es wird einmal. Soziale Märchen der Zwanziger Jahre. Mü. 1983; Z., J.: Fairy Tales and Fables from Weimar Days. Hanover, N. H./L. 1989; id.: The Outspoken Princess and the Gentle Knight. A Treasury of Modern Fairy Tales. N. Y. 1994. ⫺ 18 id.: Creative Storytelling. Building Community, Changing Lives. N. Y./L. 1995; id.: Speaking Out. Storytelling and Creative Drama for Children. N. Y. 2004; Children’s Theatre Company. Neighborhood Bridges (im Internet).
Detroit
Donald Haase
ˇ irmunskij, Viktor Maksimovicˇ, *St. PetersZ burg 21. 7. (2. 8.) 1891, † ebenda (Leningrad) 31. 1. 1971, russ. Folklorist, Lit.historiker und
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Philologe. 1908⫺12 studierte Zˇ. an der Univ. St. Petersburg Romanistik und Germanistik; 1912/13 besuchte er Vorlesungen in München, ˇ . als Dozent Berlin und Leipzig. 1915 begann Z an der Abteilung für Rom. und Germ. Philologie der Univ. Petrograd zu arbeiten; von 1917 an war er zwei Jahre Professor für Rom. und Germ. Philologie an der Univ. Saratov, 1919 wurde er Professor an der Abteilung für Germanistik und Westeurop. Lit.en an der Univ. Petrograd (mit Unterbrechungen bis 1949). Promoviert wurde Zˇ. 1924 mit einer Arbeit über Byron und J Pusˇkin. 1933, 1935 und 1941 wurde Zˇ. mehrmals von den sowjet. Sicherheitskräften festgenommen, da seine Dialektforschungen über die dt. Bevölkerung der UdSSR Verdacht erregten; 1933 wurde ihm dennoch die Leitung der neueingerichteten Abteilung für Westeuropa am Pusˇkinhaus (Pusˇkinskij dom), dem Lit.institut der Akad. der Wiss.en in Leningrad, übertragen. Während des 2. Weltkriegs hielt sich Zˇ. in Tasˇkent auf, wo er 1941⫺44 Professor am Pädagogischen Inst. und Direktor der Abteilung für Folklore der Akad. der Wiss.en der Usbek. Sowjetrepublik war. 1939 wurde er korrespondierendes Mitglied der Russ. Akad. der Wiss.en ˇ . nach Leningrad der UdSSR. 1944 kehrte Z zurück, wo er 1949 im Zuge der von A. A. Zˇdanov organisierten ,antikosmopolitischen‘ Säuberungskampagne seine Stellung als Professor verlor. Zur Last gelegt wurden ihm sein Bekenntnis zu der von A. N. J Veselovskij begründeten Forschungsrichtung sowie ,schädliche Komparatistik‘. 1954 wurde Zˇ. rehabilitiert und erhielt den Lenin-Orden. 1954⫺56 war er Professor an dem nach A. I. Herzen (Gercen) benannten Pädagogischen Inst. in Leningrad und von 1957 bis zu seinem Tod Direktor der Sektion für Ide. Sprachen der Leningrader Abteilung der Akad. der Wiss.en der UdSSR, deren ordentliches Mitglied er 1965 wurde1. In seiner frühen wiss. Laufbahn orientierte sich Zˇ. vor allem an den Arbeiten Veselovskijs. In seinem ersten Buch befaßte er sich mit der dt. Romantik2. Seine erste Arbeit auf dem Gebiet der Folkloristik, ein Aufsatz zur engl. Volksballade, stammt ebenfalls aus dieser Zeit3. Seit Beginn der 1920er Jahre interessierte sich Zˇ. zunehmend für Poetik4. Aufgrund der sowjet. Kritik am russ. Formalis-
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Zittath, Öppe
ˇ . in der mus, dem er nahestand, wandte sich Z 2. Hälfte der 1920er Jahre der Linguistik und Folkloristik zu. 1926⫺31 leitete er eine Expedition zu dt. Siedlungsgebieten in der Ukraine, auf der Krim und im Kaukasus, auf der ca 5000 dt. Volkslieder gesammelt wurden (heute im Archiv des Pusˇkinhauses). Zˇ. besuchte mehrmals Deutschland (1929/30)5 und publizierte mehrere dt.sprachige Arbeiten über die Volksüberlieferung dt. Siedler in der UdSSR6. ˇ . mit Während des 2. Weltkriegs begann Z der Erforschung der mündl. tradierten Epen der Turkvölker Mittelasiens, vor allem usbek. Heldenepen7. Bes. Aufmerksamkeit schenkte er dabei dem Alpomisch-Epos8, ferner dem kirgis. J Manas-Epos und dem oghus. Epenzyklus J Dede Korkut Kitabi, in denen sich ähnliche (Haupt-)Figuren finden und die sich in dem auch in der Odyssee (cf. J Odysseus) vertretenen Motiv von der J Heimkehr des Gatten (AaTh/ATU 974) überschneiden9. Er befaßte sich mit dem Ursprung und der Entwicklung der Epen, analysierte Handlungsstruktur, Figuren sowie Epensänger und arbeitete die allg. Charakteristika von Volksdichtung herˇ. aus. Frühe Formen der Epenhandlung fand Z in sog. Heldenmärchen10. Hierzu gehören u. a. die Brautwerbung des Helden und sein Kampf gegen mythische Wesen, wilde Tiere etc., die mit mythischen und schamanistischen Vorstellungen über den Herrscher der J Unterwelt und die J Jenseitsreise des Helden verbunden sind11. In den 1950er und 1960er Jahren veröffentlichte Zˇ. eine Reihe von Arbeiten über finn., slav. und dt. Epen12. In diesen Studien entwickelte der Autor seine hist.-typol. Theorien weiter, z. B. zur ,heroischen Idealisierung‘ in J Bylinen13. Zˇ. zufolge stellen die epischen Heldendichtungen die Geschichte gebrochen durch das Prisma der Variation in der Volksüberlieferung dar, d. h. sie bilden ein verinnerlichtes System poetischer Kunstgriffe, die sich von einer Performanzsituation zur anderen verändern. 1 Berkov, P. N./Levin, Ju. D.: Vstupitel’naja stat’ja (Vorwort). In: Akademik V. M. Zˇ. Bibliograficˇeskij ocˇerk. SPb. 2001, 9⫺25. ⫺ 2 Zˇ., V. M.: Nemeckij romantizm i sovremennaja mistika (Die dt. Romantik und die moderne Mystik). SPb. 1914. ⫺ 3 id.: Anglijskaja narodnaja ballada (Die engl. Volksballade). In: Severnye zapiski 1916, 91⫺99. ⫺ 4 id.: Teorija sticha (Verstheorie). Len. 1976. ⫺ 5 Schirmunski, V.:
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Volkskundliche Forschungen in den dt. Siedlungen der Sowjetunion. In: Brandsch, G. (ed.): Dt. Vk. im außerdt. Osten. B./Lpz. 1930, 52⫺81. ⫺ 6 z. B. id.: Die dt. Kolonien in der Ukraine. Geschichte, Mundarten, Volkslied, Vk. Charkov 1928. ⫺ 7 Zˇ., V. M./ Zarifov, H. T.: Uzbekskij narodnyj geroicˇeskij e˙pos (Das usbek. Heldenepos). M. 1947. ⫺ 8 Zˇ., V. M.: Skazanie ob Alpamysˇe i bogatyrskaja skazka (Die Erzählung von Alpomisch und das Heldenmärchen). M. 1960. ⫺ 9 Schirmunski, V. M.: Vergleichende Epenforschung. B. 1961; Zˇ., V. M.: Narodnyj geroicˇeskij e˙pos. Sravnitel’no-istoricˇeskie ocˇerki (Das volkstümliche Heldenepos. Vergleichend-hist. Skizzen). M. 1962; Zhirmunski, V. M. (ed.): The Epic Folk-singers in Central Asia (Tradition and Artistic Improvisation). Proc. of the 7th Internat. Congress of Anthropological and Ethnological Sciences. M. 1964; Chadwick, N. K./Zhirmunski, V. M.: Oral Epics of Central Asia. Cambr. 1969. ⫺ 10 Zˇ., V. M.: Tjurkskij geroicˇeskij e˙pos (Das turksprachige Heldenepos). Len. 1974, 335, 337, pass. ⫺ 11 id. (wie not. 8) 297. ⫺ 12 id.: E˙picˇeskoje tvorcˇestvo slavjanskich narodov i problemy sravnitel’nogo izucˇenija e˙posa (Die epische Kunst der slav. Völker und Probleme der vergleichenden Epenstudien). In: id.: Sravnitel’noe literaturovedenije. Vostok i Zapad. Len. 1979, 192⫺280. ⫺ 13 id. (wie not. 8) 109; cf. auch Propp, V. Ja.: Russkij geroicˇeskij e˙pos (Das russ. Heldenepos). Len. 1955; Charvilachti, L.: Poe˙tika e˙picˇeskoj tradicij. Aspekty vossozdanija i rekompozicii (na materiale russkogo, ingermanlandskogo i altajskogo e˙posa) (Die Poetik der epischen Tradition. Aspekte der Vergegenwärtigung und Rekomposition [anhand von Material des russ., ingermanländ. und altai. Epos]). M. 1998.
Helsinki
Lauri Harvilahti
Zittath, Öppe, *Odenpäh (Livland) ca 1607, † Stockholm 11. 11. 1688, luther. Geistlicher. Z., uneheliches Kind eines estn. Dienstmädchens und eines dt. Adeligen, besuchte mit (anonymer) finanzieller Unterstützung seines Vaters die Lateinschule in Reval und begann 1625 ein Theologiestudium in Rostock, das er in Leipzig, Jena, Straßburg und Uppsala fortsetzte. 1632 erwarb er in Uppsala den Magistergrad. Er ist der einzige Este, der im 17. Jh. an einer Univ. studierte. 1633 wurde er zum Pastor der dt. Gemeinde in Stockholm berufen und bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tod1. In seiner Magisterdissertation setzt Z. sich mit den Namen von Gelehrten, bes. dem Einfluß der Namen auf ihre Träger, auseinander2 ⫺ ein Ansatz, der von der Erzählforschung erst in jüngster Zeit aufgegriffen
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Zittath, Öppe
wurde3. In der Vorrede erläutert Z., daß sein Vorname ⫺ in heutiger Rechtschreibung o˜pe ⫺ auf dt. ,Lernen‘ bedeute4 und ihn stets angespornt habe, seine gelehrten Studien fortzusetzen. Diese Vorrede ist die wichtigste Quelle zu Z.s Lebenslauf bis zu diesem Zeitpunkt. Für die Erzählforschung von größerer Bedeutung ist ein fast 1000seitiger Folioband: Armamentarium Historiarum, das ist: Wolstaffirtes Zeughauß außerlesener Geschichten/ zur accuraten beschiessung von […] Zuhörern göttlichen Worts […] Auff daß sie im Hause des Herrn/ nicht schlaffen noch schna˚rchen [sic]. […] Anführung zu der Cantzel⫽Artilleri […] (Stockholm 1642). Der martialische Titel erklärt sich daraus, daß G. Meyer, kgl. Kanonengießer und Z.s Pfarrkind, die Druckkosten übernommen hatte5. Einen großen Teil der Erzählstoffe entnahm Z. früheren Exempelsammlungen, z. B. von A. J Hondorff, S. J Meiger und Z. J Rivander. Eine weitere wichtige Quelle war F. Menius’ Slg livländ. Prodigien6. Z.s Buch enthält außerdem zahlreiche Erstbelege sog. moderner J Sagen (Kap. 10), die sämtlich als wirkliche Begebenheiten erzählt werden (J Glaubwürdigkeit, J Wahrheit). Das Armamentarium ist heute sehr selten; nur drei vollständige Exemplare aus öffentlichen Bibliotheken sind bekannt. Die Exemplare der Stadtbibliotheken Lübeck und Riga sind seit dem 2. Weltkrieg verschollen, das Exemplar der Kgl. Bibl. Stockholm wird aus konservatorischen Gründen nicht mehr ausgeliehen7. Ein bisher nicht identifiziertes Fragment (p. 5⫺52) mit Ergänzungen von Z.s Hand findet sich in der Wolfenbütteler Slg Salzdahlum8. Neben seinen beiden gedr. Werken hinterließ Z. eine umfangreiche Slg hs. Predigten, in denen Exempla aus dem Armamentarium wirkungsvoll in die Auslegung der Bibeltexte eingebaut sind. Außerdem stammt aus Z.s Feder die erste estn. Übers. äsopischer Fabeln. Diese Hs. war schon als Druckvorlage bearbeitet, wurde aber aus unbekannten Gründen nicht veröffentlicht. Sowohl die Äsop-Übers. als auch die Predigtsammlung wurden 1996 beim Brand der Landesbibliothek Linköping zerstört. In einschlägigen dt. Studien zum protestant. Predigtexemplum findet Z. keine Beachtung9,
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wahrscheinlich weil man ⫺ wie auch noch neuere Katalogisierungsprojekte zeigen10 ⫺ den dt.sprachigen Buchdruck in Skandinavien nicht im Blick hatte. Die estn. Forschung scheint Z. zu verübeln, daß er sich germanisierte, und übergeht ihn mit Schweigen11. Die Fabelübersetzung zeigt jedoch, daß Z. seine Herkunft keineswegs vergessen hatte. Die schwed. Erzählforschung arbeitet kaum mit frühneuzeitlichen Quellen und ist nicht für die Verwendung dt.sprachiger Lit. bekannt. Dennoch läßt sich Z.s Bedeutung kaum überschätzen. Er ist der mit Abstand am häufigsten zitierte Autor in Predigten und Erzählsammlungen des 17. Jh.s, obgleich viele Verfasser ihn wohl nur aus zweiter Hand kannten. Sein Name wurde, weil er so berühmt war, oft abgekürzt, aber stets in latinisierter Form genannt, wobei dem Nachnamen meistens irrtümlich eine Neutrums-Endung angefügt wurde: Opus Citatum. 1 Hellström, G.: Stockholm stads herdaminne 2. Stockholm 1953, 107⫺109; cf. auch Tering, A.: Lex. estländ., livländ. und kurländ. Studenten an europ. Univ.en 1561⫺1800. ed. J. Beyer. Köln (in Vorbereitung). ⫺ 2 Stalenus, J. L. (praeses) ⫺ Z., Ö. (auctorrespondens): Diss. philol. de virorvm ervditorvm nominibvs […]. Uppsala 1632. ⫺ 3 Klintberg, B. af: „Lieber Herr Kvichelauer“. Na˚gra folkloristiska synpunkter pa˚ namn, inte minst folkloristernas egna. In: Livets gleder […]. Festschr. R. Kvideland. Stabekk 1995, 142⫺152; Beyer, J.: Jürgen und der Ewige Jude. Ein lebender Heiliger wird unsterblich. In: Arv 64 (2008) 125⫺140. ⫺ 4 Wiedemann, F.: Ehstn.-dt. Wb. SPb. 21893, 740. ⫺ 5 cf. L[iljegre]n, M.: Meyer. In: Svenska män och kvinnor 5. Stockholm 1949, 294. ⫺ 6 cf. Donecker, S.: Arbeiten und Projekte des Dorpater Professors Friedrich Menius in den 1630er Jahren. In: Forschungen zur balt. Geschichte 6 (2011) 31⫺60, hier 48. ⫺ 7 cf. Beyer, J.: The Influence of Reading Room Rules on the Quality and Efficiency of Historical Resarch. In: Text. Svensk tidskrift för bibliografi 8,3 (2013) (im Druck). ⫺ 8 cf. R[uppelt], G.: Karl Otto von Salzdahlum. In: id./Solf, S. (edd.): Lex. zur Geschichte und Gegenwart der Herzog August Bibl. Wolfenbüttel. Wiesbaden 1992, 90 sq. ⫺ 9 Brückner; Rehermann. ⫺ 10 Beyer, J.: How Complete Are the German National Bibliogr.s for the 16th and 17th Centuries […]? In: Walsby, M./Kemp, G. (edd.): The Book Triumphant. Leiden/Boston 2011, 57⫺77. ⫺ 11 Laugaste, E.: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Geschichte der estn. Wiss. von der Volksdichtung) [1]. Reval 1963; Kuutma, K./Jaago, T. (edd.): Studies in Estonian Folkloristics and Ethnology. Dorpat 2005.
Dorpat
Jürgen Beyer
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Zivilisation, Zivilisierung
Zivilisation, Zivilisierung. Die Etymologie der Begriffe Zivilisation (Z.) und Zivilisierung (Zg.) verweist auf lat. civis (Bürger); das Röm. Recht bezeichnete mit civis Romanus den „Bürger des Stadt und Land umfassenden Stadtstaates (civitas)“. Diese Bedeutung findet sich auch nach der Antike in der Semantik des Rechts (res civiles: bürgerliche Dinge)1, beispielsweise in der oft synonymen Verwendung von Zivilrecht und bürgerlichem Recht. Ab dem 17. Jh. wird Z. mit Kultur (lat. colere: anbauen, bearbeiten, Ackerbau betreiben) kontrastiert2. In einem Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich zeigte N. Elias, daß seit dem 17. Jh. ein Wandel von „einem sozialen zu einem nationalen Gegensatz“ den dt. Gebrauch des Z.sbegriffs bestimmte3. Der frz. Begriff civilisation konnte sich „auf politische oder wirtschaftliche, auf religiöse oder technische, auf moralische oder gesellschaftliche Fakten beziehen“4. In Deutschland hingegen prägte sich eine spezifische bürgerliche Tradition aus, die sich weniger durch soziale Formen und mündl. Kommunikation denn als Negativum der allerorten präsenten höfischen Lebensweise konstituierte. Das aufsteigende Bürgertum habe in Deutschland vor allem gegen höfisches Verhalten agiert und weniger gegen die adelig-ständischen gesellschaftlichen Verhältnisse. Damit und mit der positiven Bezugnahme auf Bildung als Kultur, Aufrichtigkeit, Innerlichkeit und Sein versus Oberflächlichkeit, äußere Höflichkeit und Schein der höfischen Aristokratie situierte sich diese aufsteigende soziale Formation „so gut wie vollständig jenseits der politischen Sphäre“ und verstärkte so die politisch vergleichsweise machtlose Position der „mittelständischen Intelligenz“. Während der Terminus Z. in Deutschland abgewertet wurde, entwickelte er sich in Frankreich, Großbritannien und in den USA zu einem Begriff, der das ganze Volk oder die Menschheit meint5. Elias hat diese Spaltung als Kultur/Z.s-Antithese bezeichnet und sozialhist. interpretiert6. Einen Höhepunkt dieser Polarisierung markiert die Zeit des 1. Weltkriegs; exemplarisch steht dafür O. Spenglers Untergang des Abendlandes (1918)7. Bei der Herausbildung der ethnol. Disziplinen seit dem 19. Jh. wurden die Begriffe Kultur und Z. zunächst synonym verwendet:
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„Kultur oder Zivilisation [ist] im weitesten ethnographischen Sinne der Inbegriff“ all dessen, was „der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat“8. Diese Verwendung der Begrifflichkeiten und die in den Kulturwissenschaften wie in den Ethnologien disziplinenbegründende Dynamik des Kulturbegriffs speisen sich weniger aus den mit der Dichotomie Kultur/Z. einhergehenden Dynamiken als aus der modernen Dichotomie Kultur/J Natur. Zg. wiederum ist ein Konzept, das Elias in seiner Theorie vom Prozeß der Z. als Analysekategorie und als Interpretament verwendete9. Er bezeichnete damit die Operationsweise des Prozesses der Z., den er mit der Neuzeit ansetzt. Zg. meint bei ihm einen Wandel, bei dem sich als Soziogenese Staatenbildung (und dabei bes. die Entstehung eines Gewalt- und Steuermonopols) mit der Ausprägung immer weiter reichender Interdependenzketten bei gleichzeitig zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung verknüpft. Das Komplement der Soziogenese ist die Psychogenese, bei der sich Fremd- in Selbstzwänge umwandeln. Elias beschrieb das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen und dessen Auswirkung auf die Erzählüberlieferung (Sammler und Autoren reagierten mit ,Selbstzensur‘; J Zensur)10. Beide Dimensionen der Zg. (Soziogenese und Psychogenese) sind ineinander verwoben, keine geht der anderen hist. oder logisch voraus. Elias schränkte seine Aussage im Titel des Werks11 zwar auf die Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes ein, doch konzipierte er Zg. als eine gerichtete Entwicklung, die im Laufe der Geschichte alle Klassen, Stände, Schichten und Milieus der europ. Gesellschaften und auch alle Gesellschaften weltweit bis hin zu einem (zukünftigen) Status durchwirkt, den er als Pazifizierung des Subjekts wie der Gesellschaften definierte. Dagegen wurden aus diskursanalytischer, geschichtswiss., volkskundlicher, psychoanalytischer sowie sozialanthropol. Sicht grundlegende Einwände erhoben12. Auf das Potential von Volkserzählungen als Quelle für zivilisationstheoretische oder kulturhist. Fragestellungen wurde in der Vk. hingewiesen (J Sozialgeschichtliche Aspekte)13. In der Erzählforschung wurde die sozialhist. und habitustheoretische Rekonstruktion des
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Zivilisation, Zivilisierung
Z.sbegriffs von Elias rezipiert14. J. J Zipes verwendete Elias’ Konzept der Zg. in der Märchen- und Erzählforschung analytisch. Während Elias eine allg. Entwicklung von Subjektund Gesellschaftsformen meinte und den Begriff eher positiv konnotierte, verstand Zipes ihn bei seiner sozialhist. Lesart machttheoretisch und kritisch. Er sah Märchen als eines der zentralen Instrumente der J Sozialisation in der westl. Z., mit dem ein spezifisches Machtgefüge zugunsten der kulturellen und sozialen Eliten tradiert wird15, und erörterte dies exemplarisch an J Perraults Märchen16. Nach Zipes dienten Märchen als Medium der Internalisierung sozialer Zwänge und Beschränkungen17. Ihm zufolge war Perrault einer der Vorreiter der Verbürgerlichung mündl. überlieferter Volksmärchen18. Diese Verschiebung sei zudem mit einer Veränderung des Adressatenkreises des Genres einhergegangen. So erläuterte Zipes am Beispiel von AaTh/ ATU 425 C: cf. J Amor und Psyche, daß aus einem Märchendiskurs über Manieren mit Beispielen für Erwachsene und Kinder eine fast ausschließlich an Kinder gerichtete Märchenpredigt wurde, in der Mäßigung und Vernunft als zentrale J Werte fungieren19. Dieses Phänomen glaubte Zipes in den von ihm als klassisch bezeichneten Märchen von Perrault, den Brüdern J Grimm und J Andersen verorten zu können20. Die Werke von George Sand und Oscar Wilde stehen seiner Meinung nach den ,autoritären‘ Tendenzen des Märchens entgegen und erweitern den Bedeutungshorizont des Genres mit utopischen und subversiven Experimenten21. Zipes verband somit die Machtdimension von Märchenstoffen mit einer sozialhist. Aufschlüsselung ihrer Produktion. Ohne das (Vor-)Lesen oder Erzählen als Praxis der J Rezeption empirisch untersucht zu haben, bezeichnete er autoritäre und ideologische Effekte als Indoktrination22. Nach der Überwindung romantisierend-völkischer Behauptungen im Kontext einer kulturpessimistischen Kritik an Z.23 wurde Elias’ These der Zg. von seiten der Vk. in Frage gestellt. Es wurde argumentiert, daß Volkskultur nicht in den beschriebenen hist. Prozessen der Bemächtigung aufgehe, sondern „kulturelle Autonomie“ besitze, die sich gerade „in der permanenten Auseinandersetzung mit der Macht einer anderen Kultur“ artikuliere24. R.
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Muchembled beschrieb das Verhältnis der Kultur des Volkes gegenüber der Kultur der Eliten zwar ähnlich wie Elias als Bemächtigung, allerdings verknüpfte er dies nicht mit dem positiv wertenden Postulat der Zg., sondern ähnlich wie Zipes kritisch als ,Verdrängung der Volkskultur‘. Darüber hinaus fordert die Frage nach den nicht vollständig ,umformbaren‘ (bei Elias: zivilisierbaren) Trieben im Individuum kulturanthropol. dazu auf, die Dynamiken, die im Subjekt und in der Gesellschaft aufgrund des „Unbehagens in der Kultur“25 (S. J Freud) entstehen, kulturanalytisch als ,Rückseite‘ des Z.sprozesses zu konzipieren und zu untersuchen26. 1 Zedler, J. H.: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wiss.en und Künste 31. Lpz./Halle 1742, 685 sq. ⫺ 2 Fisch, J.: Z., Kultur. In: Brunner, O./ Conze, W./Kosseleck, R. (edd.): Geschichtliche Grundbegriffe 7. Stg. 1992, 679⫺774; Pflaum, M.: Die Kultur-Z.s-Antithese im Deutschen. In: Knobloch, J. u. a. (edd.): Europ. Schlüsselwörter. 3: Kultur und Z. Mü. 1967, 288⫺427. ⫺ 3 Elias, N.: Über den Prozeß der Z. Soziogenetische und psychogenetische Unters.en 1⫺2. Bern/Mü. 21969. ⫺ 4 ibid. t. 1, 2. ⫺ 5 Fisch (wie not. 2) 705⫺730. ⫺ 6 Elias (wie not. 3) t. 1, 1⫺64. ⫺ 7 Pflaum (wie not. 2) 327⫺ 348. ⫺ 8 Tylor, E. B.: Die Anfänge der Kultur. Lpz. 1873, 32. ⫺ 9 Elias (wie not. 3) t. 2, 445, 453. ⫺ 10 ibid. t. 1, 75⫺89, 263⫺309, t. 2, 397⫺409. ⫺ 11 ibid. t. 1, 1⫺64. ⫺ 12 z. B. Vowinckel, G.: Z.sformen der Affekte und ihres körperlichen Ausdrucks. In: Zs. für Soziologie 18 (1989) 362⫺377; Duindam, J. F. J.: Myths of Power. Norbert Elias and the Early Modern European Court. Amst. 1995; Jeggle, U.: Zur Dialektik von Anständig und Unanständig im Z.sprozeß. In: ÖZfVk. 46 (1995) 293⫺304; Dinges, M.: Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik der Z.stheorie von Norbert Elias. In: Sieferle, R. P./Breuninger, H. (edd.): Kulturen der Gewalt. Ffm. 1998, 171⫺194; Arditi, J.: Etiquette Books, Discourse and the Deployment of an Order of Things. In: Theory, Culture & Soc. 16,4 (1999) 25⫺ 48; Goody, J.: Elias and the Anthropological Tradition. In: Anthropological Theory 2 (2002) 401⫺412; id.: The Theft of ,Civilization‘. Elias and Absolutist Europe. In: id.: The Theft of History. Cambr. 2006, 154⫺179. ⫺ 13 Köstlin (wie not. 22). 14Elias (wie not. 3) t. 1, 1⫺64. ⫺ 15 Zipes, J.: Fairy Tales and the Art of Subversion. L. 1983, 18. ⫺ 16 ibid., 20. ⫺ 17 ibid., 22. ⫺ 18 ibid., 27. ⫺ 19 ibid., 41. ⫺ 20 ibid., 177. ⫺ 21 ibid., 171. ⫺ 22 ibid., 18. ⫺ 23 Ranke, K.: Z. und Volkstum. In: Beitr.e zur Dt. Volks- und Altertumskunde 1 (1954) 9⫺20. ⫺ 24 Köstlin, K.: Die „Hist. Methode“ der Vk. und der „Prozeß der Z.“ des Norbert Elias. In: Volkskultur ⫺ Geschichte ⫺ Region.
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Zopf ⫺ Zorn
Festschr. W. Brückner. Würzburg 1990, 58⫺76; Muchembled, R.: Kultur des Volkes ⫺ Kultur der Eliten. Stg. 1978. ⫺ 25 Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur. Wien 1930. ⫺ 26 Jeggle (wie not. 11).
Münster
Elisabeth Timm
Zopf J Haar
Zorn, Zustand starker Gemütsbewegung (J Affekte, J Gefühle). Z. steht vor allem in zwei polaren Bedeutungstraditionen: Aristoteles bezeichnet Z. als ein dem Menschen von der Natur gegebenes berechtigtes Verlangen, eine ungerecht erlittene Kränkung zu entgelten und damit eine verletzte Ordnung wiederherzustellen. Anders versteht die Stoa Z. als krankhafte Störung der rationalen Weltwahrnehmung1. Die aktuelle kulturanthropol. Erforschung von Gefühlen ordnet Z. in eine Typologie von sechs zentralen Grundgefühlen ein, zu denen auch Angst, Trauer, Freude, Abscheu und Neugier gehören2. Sie thematisiert Z. nicht als spontan ausgelebte affektive Reaktion, sondern als soziale Konstruktion. Entsprechend gilt auch die vielrezipierte These von N. Elias, die Vormoderne sei durch eine mangelnde Kontrolle über die Triebstruktur (also auch über aggressive Reaktionen; J Aggression) gekennzeichnet3, heute als überholt. Man geht vielmehr von einem Gesamtsystem ,symbolischer Emotionen‘ aus, die durch materielle und immaterielle Zeichen die Kommunikation vormoderner Gesellschaften steuerten4. Erwies sich eine Konsensfindung als schwierig, so beschwichtigte ein Vermittler die erhitzten Gemüter verschiedener Parteien. Fragen nach J Schuld, Verantwortung und Sühne für im Z. (oder Wahnsinn) begangene Bluttaten bestimmen das antike Schrifttum; hierfür stehen bes. die Vatermorde der griech. Theogonie5. Für die europ. Gedankenwelt geradezu archetypisch prägend wurde die Erzählung von J Ödipus (AaTh/ATU 931; cf. ATU 931 A: J Elternmörder), der im Z. einen Mann erschlägt, ohne ihn als seinen Vater zu erkennen. In den Mythen werden folgenreiche Taten vor allem dem Z. von Göttern oder Halbgöttern sowie von Helden zugeschrieben: J Zeus will J Sisyphus aus Z. töten lassen; Athene
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verwandelt Arachne in eine J Spinne; J Achilleus zieht sich aus Wut über die durch Agamemnon erfahrene Kränkung aus dem Kampf um Troja zurück und bringt die Griechen dadurch in Bedrängnis. Im MA. dominiert die alttestamentliche bibl. Vorstellung vom hl. Z. Gottes, dem allein es zukomme, am Tag des J Jüngsten Gerichts irdisches Unrecht zu strafen. Naturereignisse wie J Blitz und J Donner, J Erdbeben und J Sintflut werden kulturübergreifend als Ausdruck göttlichen Z.s aufgefaßt. Menschlicher Z. gilt demgegenüber als J Hybris und mangelnde Selbstbeherrschung. So wurde Z. in Bußbüchern und Predigten gegeißelt, von dem Mönch Johannes Cassianus (ca 360⫺435) in seine Acht-Laster-Lehre aufgenommen und in der Folge unter die sieben Hauptsünden (J Sünde) gerechnet. Auch Thomas von Aquin ordnete Z. im 13. Jh. als „irreflexiv agierende, konkupiszible (,begehrliche‘)“ Leidenschaft ein6. Vor allem gilt dies für den Herrscher: Denn über andere kann nur herrschen, wer sich selbst beherrscht. Fürstenspiegel (J Speculum principum) und moralische Texte des MA.s und der Aufklärung sind bemüht, durch Beispiele die Negativfolgen zorniger Reaktionen aufzuzeigen. In den verschiedenen Fassungen des ind. J Pan˜catantra bzw. von J Kalila und Dimna wird ein besonnener, rationaler Umgang mit dem Z. angemahnt. Das hier eingeführte Strukturmodell begründet eine umfangreiche Texttradition, die sich etwa im sog. Ratschlagmärchen fortsetzt (AaTh/ ATU 910, 910 A⫺B: Die klugen J Ratschläge). In einer alten griech. und arab. Erzählung vermeidet der Herrscher späteren Z., indem er einen kostbaren Becher, der ihm geschenkt wurde, lieber selbst zerbricht, bevor es den Dienern passiert7. Im J Ruodlieb (Ende 11. Jh.) wird dem Titelhelden u. a. die J Weisheitslehre erteilt: ,Laß dich nicht vom Z. hinreißen, sondern spare deine Rache bis zum nächsten Tag auf.‘ Diese Regel bewährt sich im folgenden, so daß der Protagonist sich als zukünftiger König qualifiziert (cf. Mot. J 571⫺J 571.4.2). Während bei diesem Muster belohnt wird, wer die J Tugendlehren anwendet, zeigen andere Texte die J Strafe, die schicksalhaft denjenigen ereilt, der unbedacht den Z. eines anderen erweckt hat. In der zum Motivkomplex der J Mahrtenehe/Feenliebe
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Zorn
zu rechnenden Erzählung von J Melusine/J Undine führt dies zum Zerbrechen der mit einem Tabu belasteten Beziehung zwischen einem Menschen und einem mythischen Wesen: Die Nixe wird trotz des Verbots beleidigt und verschwindet gekränkt. In der frühen Neuzeit wird die kollektive Disziplinierung der Affekte gefordert und eingeübt. Eine öffentliche Kontrolle über den individuellen Gefühlshaushalt wird in Europa im höfischen und städtischen Zusammenleben auf personeller (,Polizey‘, Nachtwächter) sowie institutioneller Ebene (Einrichtung von ,Anstalten‘ für Auffällige) etabliert. Vor der Gefahr der ,Krankheit Z.‘ für die Gemeinschaft warnte etwa der Arzt Johannes J Weyer8. Doch gibt es auch eine positive Einstellung gegenüber dem Ausdruck einer gerechten Empörung. Wie vom Vater im Himmel wird auch vom Herrscher auf Erden erwartet, daß er sich gegen Ungerechtigkeiten empört9, denn der „,rituelle‘ Zorn machte […] die eigene Konfliktbereitschaft deutlich“10. Auch wird die Tat, die von der Willkürherrschaft des J Tyrannen befreit, als heldenhaft gefeiert. Z. bedingt den Kampf um eine gerechte Ordnung sowie Wandlungen und Umbrüche von Werthaltungen und kommt im Aufbegehren gegen soziale Ungerechtigkeit in Aufständen und Revolutionen zum Ausdruck; der ,Volkszorn‘ kann aber auch instrumentalisiert werden. In Märchen spielt Z. als handlungsauslösendes Motiv eine große Rolle. Das Märchen gilt mit seiner flächenhaften Grundstruktur (J Flächenhaftigkeit) und seinen eindimensionalen Gestalten (J Eindimensionalität) als ,emotionsfeindlich‘, und in der Tat wird Z. als Gefühl nicht in seiner Tiefe ausgelotet. Die Dynamik dieses Gefühls entlädt sich jedoch in konkreten Akten und Taten. In AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen wird der Prinz von einer alten Frau verflucht, als er ihr einen Krug zerbricht. In AaTh/ATU 900: J König Drosselbart erzürnt der Hohn der Prinzessin gegenüber ihren Freiern ihren Vater, der sie einem Bettler zur Frau gibt. Der faule J Junge (AaTh/ATU 675) wünscht der hochnäsigen Prinzessin eine Schwangerschaft an, und der über die befleckte Ehre seiner Tochter erboste König läßt diese, den Burschen und ihr Kind aussetzen. Die Protagonisten von AaTh/ATU
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517, 725: J Prophezeiung künftiger Hoheit ziehen den Z. ihres kgl. Vaters auf sich, als sie entweder von ihrem angekündigten Aufstieg berichten oder die Auskunft über die Prophezeiung verweigern, und werden vertrieben. In AaTh/ATU 923: J Lieb wie das Salz erscheint dem König der Vergleich seiner Tochter als Beleidigung, weshalb er sie verstößt. Aus Z. über den vermeintlichen Beischlaf mit seiner Frau tötet einer der Brüder in AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder den anderen. In AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens soll der Protagonist getötet werden, weil seine Brüder seinen Vater gegen ihn aufbringen. Doch hat Z. nicht nur negative Folgen: In AaTh/ATU 440: J Froschkönig erlöst die Königstochter den Frosch aus seiner Tiergestalt, indem sie ihn wütend an die Wand wirft. In Var.n von AaTh/ATU 441: J Hans mein Igel richten die beiden Schwestern, die den Prinzen in Tiergestalt abgelehnt haben, ihren Z. auf sich selbst und töten sich aus Neid (J Selbstschädigung, Selbstverstümmelung), als die dritte Schwester für die Rückverwandlung des Königssohnes belohnt wird und der Prinz sie heiratet. Der wütende Zwerg in AaTh/ATU 500: J Name des Unholds reißt sich in Stücke, als er erkennen muß, daß er sich selbst verraten hat. Im Schwank AaTh/ATU 1082 A: J Soldat und Tod platzt der Tod vor Wut, als er die Überlegenheit des Menschen einsehen muß. In der J Z.wette (AaTh/ATU 1000) provoziert einer der Wettpartner den Z. des anderen durch das J Wörtlichnehmen seiner Aufträge. Eheschwänke und -witze verhandeln die Frage nach der Überlegenheit im alltäglichen Geschlechterkampf in Umkehrung der herrschenden Moral: Der Z. des Ehemannes über die Faulheit seiner Frau wird in AaTh/ATU 1405: Die faule J Spinnerin von dieser listig umgelenkt. Eine positive Auswirkung hat der Z. in AaTh/ATU 1643: J Geld im Kruzifix: Die zornige Reaktion des Dummen führt zur Entdekkung eines verborgenen Schatzes. Auffallend ist, daß Z. in Erzählungen vor allem männlichen Gestalten zugestanden wird. Psychol. Deutungen fassen negative Figuren wie die J Stief- oder Schwiegermutter als Ventile für die Rezipierenden auf, die Aggressionen auf diese Vertretergestalten projizieren können11.
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Zornwette
1 Behringer, W./Leppin, V.: Gefühl. In: Enz. der Neuzeit 4. Stg. 2006, 247⫺254, hier 249; cf. auch DWb. 32, 90⫺107; Lehmann, J. F.: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Lit.geschichte des Z. s. Freiburg 2012; Badura, B. A./Weber K. (edd.): Ira ⫺ Wut und Z. in Kultur und Lit. Gießen 2013. ⫺ 2 Behringer/Leppin (wie not. 1) 248; Wehler, H.-U.: Emotionen in der Geschichte. In: Dipper, C. u. a. (edd.): Europ. Sozialgeschichte. B. 2000, 461⫺473; cf. Reinhard, W.: Lebensformen Europas. Eine hist. Kulturanthropologie. Mü. 2004. ⫺ 3 Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation 1. Bern 1969, 263⫺283. ⫺ 4 Althoff, G.: Symbolische Emotionen, Ehrungen und Geschenke. In: Melville, G./Straub, M. (edd.): Enz. des MA.s 2. Darmstadt 2008, 255 sq. ⫺ 5 EM 13, 480. ⫺ 6 Thomas von Aquin: Summa Theologiae 1⫺2, 22⫺48 (zitiert nach Behringer/Leppin [wie not. 1] 248). ⫺ 7 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 924. ⫺ 8 Weyer, J.: Vom Z. Iracundiae antidotum. Von der gefährlichen Kranckheit dem Z./ und derselbigen Phil. und Theol. Cur oder Ertzney. Wittenberg 1585. ⫺ 9 Althoff, G.: Z. In: Lex. des MA.s 9. Stg./ Weimar 1999, 675. ⫺ 10 id. (wie not. 4) 255. ⫺ 11 Watson, P. A.: Ancient Stepmothers. Myth, Misogyny and Reality. Leiden/N. Y./Köln 1994.
Flensburg
Bea Lundt
Zornwette (AaTh/ATU 1000, 1002), Rahmen für schwankhafte Episoden um einen Arbeitsvertrag zwischen J Herr und Knecht (AaTh/ATU 1000⫺1029), die dem Komplex der Geschichten von Mensch und dummem J Teufel (AaTh/ATU 1000⫺1199) zugeordnet sind. Beide Erzähltypen erfüllen dieselbe Funktion und treten in der Regel nicht selbständig auf. AaTh/ATU 1000: Contest Not to Become Angry ist ungleich häufiger als AaTh/ ATU 1002: Destroying the Master’s Property belegt. AaTh/ATU 1000 bildet die Klammer für unterschiedliche Episoden, an deren jeweiligem Ende mit der Frage, ob der Herr sich (immer noch) nicht ärgere, auf die einleitende Vereinbarung zurückgegriffen wird1. Ein listiger Knecht (armer Junge, starker Mann) schließt mit einem Bauern (Teufel, Oger, Pfarrer) einen J Vertrag (J Wette), gemäß dem derjenige, der zuerst (bevor der Kuckuck ruft) wütend wird, eine drastische physische Bestrafung erhalten soll. Indem der Knecht die Aufträge J wörtlich nimmt (die Arbeiten mutwillig falsch ausführt), fügt er seinem Herrn so eklatante J Schädigungen zu, daß dieser schließlich die Beherrschung verliert. Der Herr versucht zu entkommen, entgeht jedoch der vereinbarten J Strafe nicht.
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W. Hansen hat darauf hingewiesen, daß bereits in der im 1. Jh. n. u. Z. anonym verfaßten Vita Aesopi (J Äsop) eine Gruppe von Episoden prinzipiell ähnlich strukturiert ist2; hier handelt es sich jedoch nicht um eine gegenseitige Vereinbarung, sondern um die einseitige Androhung von Strafe, falls der Sklave die Anweisungen seines Herrn nicht wörtlich exakt ausführe. In Verbindung mit AaTh 888 A*, 949*/ATU 888 A*: The Basket Maker findet sich der Erzähltyp in einem im 19. Jh. abgefaßten Ms. von J Tausendundeine Nacht3. Aus der mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s ist AaTh/ATU 1000 in zahlreichen Var.n für ganz Europa, den Vorderen Orient sowie weite Teile Asiens, Nordafrikas, Nord-, Mittel- und Südamerikas belegt. Als Arbeitgeber agieren einerseits vorwiegend Bauern, Gutsherren oder Geistliche4, andererseits werden auch der Teufel5, Riesen6, Trolle7 und Oger8 genannt. Frauen als Vertragspartner sind eher die Ausnahme9, während die Ehefrau des Herrn als Ratgeberin und häufig als Opfer vorkommt, so bes. in den oft am Ende stehenden Erzähltypen AaTh/ATU 1029: J Frau als unbekanntes Tier und AaTh/ ATU 1120: J Teufel tötet Frau und Kinder. Als Gegenspieler des Herrn tritt oft der märchentypisch jüngste von drei Brüdern auf 10; ebenso wird jedoch auch ein einzelner Held genannt11, manchmal der J Starke Hans (AaTh/ATU 650 A)12. Während der Herr gelegentlich durch körperliche Merkmale ⫺ z. B. der türk. Köse als J Bartloser ⫺ gekennzeichnet ist, trägt der Knecht, falls überhaupt, entweder einen der üblichen Märchennamen oder einen sprechenden J Namen, so etwa der türk. Kelog˘lan (J Kahlkopf)13. In span.sprachigen Fassungen erscheint typischerweise die Schelmenfigur Pedro de Urdemalas14. Lokalisierte Var.n sind selten15. Die zwischen Herr und Knecht vereinbarten drastischen Strafen bestehen meist im Abschneiden von Nase und/oder Ohren16 oder dem Herausschneiden von Hautstreifen, die als Schnürsenkel dienen sollen17, aus dem Rücken18. Zur Steigerung der Schmerzen werden Salz und Pfeffer in die Wunde gestreut19. Schlimmstenfalls droht der Tod20. Dieses Schicksal erleiden manchmal zunächst die beiden älteren Brüder des Helden21, oder sie
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Zornwette
kommen zumindest verstümmelt wieder nach Hause22; ihr Mißgeschick spornt den jüngsten an, sich an dem grausamen Herrn zu rächen. Oft schickt der Herr seinen Knecht zu einem bedrohlichen Wesen in der trügerischen Hoffnung, daß dieser dort umkomme23; allerdings überlebt der Gewitzte den J Wettstreit mit dem Unhold (AaTh/ATU 1049 etc.) und kehrt zum Ärger des Herrn wohlbehalten zurück. Als Lohn dafür, daß er sich (trotz schäbiger Behandlung oder schwieriger Aufträge) nicht ärgert, wird dem Knecht eine hohe Geldsumme und bisweilen die Hand der Tochter des Herrn in Aussicht gestellt24. Var.n, die dem Komplex AaTh/ATU 650 A zugeordnet sind, unterscheiden sich dadurch, daß keine gegenseitige Bestrafung vereinbart wird, sondern der Protagonist sich als Lohn etwa ausbedingt, seinem Herrn eine Ohrfeige verabreichen zu dürfen; dieser möchte seinen Arbeiter, der zuviel ißt und alles beschädigt, einerseits gerne loswerden, fürchtet aber andererseits seine Kraft. Die Anzahl der Handlungen, mit denen der Knecht in AaTh/ATU 1000 seinen Herrn in Rage bringt, variiert. Pro Text kommen bis zu sechs Episoden vor; längere Ketten treten seltener auf. Aus der Gruppe AaTh/ATU 1000⫺ 1029 sind Reihungen bzw. Kombinationen außer mit zahlreichen Schwänken, in denen das Wörtlichnehmen eine zentrale Rolle spielt (AaTh/ATU 1007, 1008, 1011, 1012, 1012 A, 1013, 1016, 1017), mit folgenden Schwanktypen belegt: AaTh/ATU 1001: J Holz hacken, AaTh/ATU 1003: Plowing, AaTh/ATU 1004: J Schwänze in der Erde, AaTh/ATU 1005: A Bridge (Road) of Carcasses, AaTh/ATU 1006: J Augenwerfen, AaTh/ATU 1006*: „Kill the Sheep That is Looking at You“, AaTh/ATU 1009: J Tür bewacht, AaTh/ATU 1010: J Hausreparatur und AaTh/ATU 1029. Darüber hinaus liegen häufiger Kombinationen vor mit AaTh/ATU 1049, AaTh/ATU 1060: Squeezing the (Supposed) Stone, AaTh/ATU 1062: Throwing the Stone, AaTh/ATU 1088: J Trinkwette, AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil, AaTh/ATU 1120, AaTh/ATU 1132: Flight of the Ogre with His Goods in the Bag, AaTh/ ATU 1562 B*: Dog’s Bread Stolen, AaTh/ ATU 1563: J „Beide?“ und AaTh/ATU 1685: Der dumme J Bräutigam.
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Die Schädigungen des Herrn durch den Knecht steigern sich normalerweise: Sie beginnen bei gegenständlichem Besitz (Getreide, Fuhrwerk, Haus) und gehen über Tiere, Kinder und Eltern bis hin zur Tötung der Ehefrau (AaTh/ATU 1120), was schließlich das Faß zum Überlaufen bringt. AaTh/ATU 1002 erfüllt prinzipiell dieselbe Funktion wie AaTh/ATU 1000 und schließt entsprechende Episoden ein; allerdings fehlt hier das Element des Arbeitsvertrags bzw. der Wette25: Ein Knecht schädigt seinen Herrn (Oger, Geistlicher) mutwillig, indem er dessen Eigentum zerstört (verkauft, verschenkt, eintauscht).
AaTh/ATU 1002 ist ausschließlich aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s bekannt. Die von diesem Erzähltyp aufgezeichneten Var.n sind insgesamt seltener als die von AaTh/ATU 1000. Verbreitungsschwerpunkt ist der europ. Raum, mit wenigen Belegen etwa aus Indien, China oder Amerika. 1 cf. z. B. Treimer, K.: Slow. Märchen. Wien/Lpz. 1944, 34⫺36; Pelen, J. N.: Le Conte populaire en Ce´vennes. P. 1994, num. 128 a. ⫺ 2 Hansen, W.: Ariadne’s Thread. Ithaca/L. 2002, 234⫺240, bes. 237⫺241. ⫺ 3 Marzolph/van Leeuwen 1, 416 sq., num. 390. ⫺ 4 Fokos-Fuchs, D. R.: Volksdichtung der Komi (Syrjänen). Bud. 1951, num. 4. ⫺ 5 Rausmaa. ⫺ 6 Hackman, O.: Finlands svenska folkdiktning I A 2. Hels. 1920, num. 202. ⫺ 7 Hodne. ⫺ 8 Coulomb, N./Castell, C.: La Barque qui allait sur l’eau et sur la terre. Carcassonne 1986, num. 14. ⫺ 9 JAFL 35 (1922) 47 (puertorikan.). ⫺ 10 Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 107. ⫺ 11 Gaudes, R.: Kambodschan. Volksmärchen. B. 1987, num. 69. ⫺ 12 Zingerle, I. J.: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. Regensburg 1854, 183⫺186. ⫺ 13 Eberhard/Boratav, num. 357. ⫺ 14 Espinosa 1, num. 163⫺167; Espinosa, J. M.: Spanish Folktales from New Mexico. N. Y. 1937, num. 52 (⫽ Meier, H.: Span. und port. Märchen. MdW 1940, num. 69). ⫺ 15 Me´lusine 1, 465⫺472 (Brest, Plouvenez-Moe¨dre, Belle-Isle-en-Terre, Saint-E´lo); Oestrup, J.: Contes de Damas. Leiden 1897, num. 1 (Bagdad); Kristensen, E. T.: Danske folkeæventyr 3. Viborg 1888, num. 28 (Seeland, Højelse bei Køge); Rausmaa SK 3, num. 11 (Karkku, Teufelsklippe im Kulovesi); Grannas, G.: Plattdt. Volkserzählungen aus Ostpreußen. Marburg 1957, num. 38 (Memel, Greenlind). ⫺ 16 Sheik-Dilthey, H.: Märchen aus dem Pandschab. MdW 1976, num. 70. ⫺ 17 Chase, R.: The Jack Tales. Cambr. 1858, num. 7. ⫺ 18 Stumme, H.: Märchen und Gedichte aus der Stadt Tripolis in Nordafrika. Lpz. 1898, num. 4. ⫺
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Zote
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Hackman (wie not. 6) num. 318.4. ⫺ 20 Ramstedt, G. J.: Kalmück. Sprachproben. Hels. 1909, num. 6. ⫺ 21 Hoogasian-Villa, S.: 100 Armenian Tales and Their Folkloristic Relevance. Detroit 1966, num. 71. ⫺ 22 cf. Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 17. ⫺ 23 Parsons, E. C.: Folk-Lore from the Cape Verde Islands 1. Cambr./ N. Y. 1923, num. 40. ⫺ 24 Marzolph, U.: Wenn der Esel singt, tanzt das Kamel. Mü. 1994, num. 4 (pers.). ⫺ 25 Hahn, num. 11 (griech.).
schung9. G. J Legmans Standardwerk Rationale of the Dirty Joke 1⫺2 (N. Y. 1968/75 [Nachdr. Bloom. 1982]) ist eine akribische Unters. sexueller und skatologischer Tabubereiche anhand von in der nordamerik. Gesellschaft des 20. Jh.s erzählten Z.n; es liefert gleichzeitig ⫺ wie auch der grundlegende Motivkatalog von F. Hoffmann10 ⫺ eine brauchbare Klassifizierung der vielfältigen Themenbereiche:
Sterup
(1) Kinder: kindliche Vorstellungen von Sexualität, Penisneid, Masturbation, J Inzest, Pädophilie; (2) Dummköpfe: sexuelle Unwissenheit, Mißverhältnisse; (3) Tiere: J Sodomie; (4) Männer: Primat des J Koitus, J Verführung; (5) Sadismus: J Vergewaltigung, Potenzprahlerei; (6) Frauen: weibliche Wahrnehmung der männlichen J Genitalien, weiblicher Kastrationskomplex; (7) vorehelicher Geschlechtsverkehr: Geburtenkontrolle, Anwendung von Kondomen; (8) Heirat und Ehe: J Schwiegereltern, J Jungfräulichkeit, J Hochzeitsnacht, oraler und rektaler Koitus, bezahlter Geschlechtsverkehr, J alte Leute, J Impotenz (cf. auch J Eheschwänke und -witze); (9) außerehelicher Geschlechtsverkehr (J Ehebruch, J Ehebruchschwänke und -witze); (10) Homosexualität (J Homophilie): Sado-Masochismus, Fellatio, männlicher Samen, homosexuelle Vergewaltigung; (11) J Prostitution; (12) Ekelerregendes: Skatophilie, Körperabsonderungen, Erbrochenes; (13) J Kastration: Vagina dentata (cf. AaTh/ ATU 507 C: J Giftmädchen), Beschneidung, J Kannibalismus; (14) sexuelle J Euphemismen, vulgärer Sprachgebrauch, Beleidigungen; (15) Skatologie: J Arsch, Urinieren, J Furzen, Exkremente, Koprophagie, analer Sadismus.
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Gundula Hubrich-Messow
Zote (auch unanständiger, schmutziger, pornographischer Witz, euphemistisch Herrenwitz), Witz oder Schwank mit erotischem bzw. sexuellem (J Erotik, Sexualität)1 oder skatologischem (J Exkremente, J Skatologie) Inhalt (J Obszönitäten). Die Themen der Z. unterliegen starken J Tabus, die einerseits mit der individuellen Schamschwelle des Erzählers bzw. Hörers und andererseits mit (hist. stark variierenden) gesellschaftlichen Einstellungen in Zusammenhang stehen; dabei ist nach S. J Freud der Lustgewinn um so höher, je stärker die durchbrochenen Tabus sind2. „Durch die Schilderung des Normwidrigen greift der Witz auch die Norm selbst an“3; andererseits bestätigt er die J Norm durch die fiktive Verletzung aber auch wieder. Während Z.n vor dem 19. Jh. durchaus druckfähig waren4, wurden sie in der bürgerlich prüden Zeit weitgehend in die Randzone „einer gewissen suberotischen populären Literatur“5 abgedrängt (J Zensur). Erst um die Wende zum 20. Jh. begann die Wiss., zunächst zögerlich, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Namhaftes Organ für derartige Unters.en war die Zs. J Anthropophyteia (1904⫺13), in der F. S. J Krauss eine Fülle südslav. Materials veröffentlichte6; ähnlich gelagerte Beiträge internat. Provenienz erschienen in der Zs. J Krypta´dia (1883⫺1911). Eine vergleichbare Linie verfolgt mit großem zeitlichen Abstand die Zs. Maledicta (1977 sqq.). Anfang des 20. Jh.s entstanden erste wiss. Monogr.n7. Ein Paradigmenwechsel vollzog sich seit den 1960er Jahren, als zahlreiche gesellschaftliche Tabus bekämpft wurden. Resultat war u. a. eine große Anzahl populärer Slgen zu Themenbereichen der Z.8 Parallel dazu entwickelte sich eine ernstzunehmende volkskundliche For-
Der Gliederung hinzuzufügen wären auf formaler Ebene Beispiele, die erotische oder fäkale Assoziationen hervorrufen, jedoch eine harmlose Auflösung haben („Da oben fliegt ein Geier, der zeigt uns seine … Turnschuhe“). Umgekehrt bekommen zunächst harmlos wirkende Stücke eine zotige Bedeutung, wenn man in entsprechenden Texten z. B. nur jede zweite Zeile liest oder Blätter mit neutralen Kritzeleien auf bestimmte Art zusammenfaltet und gegen das Licht hält11. Es existieren von einer Erzählung begleitete, schrittweise Papierfaltungen mit sexueller Auflösung, Gegenstände als Quasi-Pointe, witzähnliche Sprachspiele („Sag mal einen Satz mit Bochum und Köln. ⫺ Er boch um die Ecke um zu pinköln“), Einwortwitze (,Prostata‘ beim Zutrinken) oder die Übernahme volksläufiger Witzerzähltypen in Bilderwitz12 und Bildpostkarte13.
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Zuccalmaglio, Vincenz Jacob von
Beim Erzählen von Z.n können unterschiedliche Interessen im Vordergrund stehen, so etwa die Pointe, ein individuelles Interesse an Erotik, das Überspielen eigener Schamhaftigkeit oder eine bewußte Provokation bzw. Kompromittierung der Zuhörer. Kinder sind, entwicklungspsychol. bedingt, bes. empfänglich für Z.n14. Durch Kenntnis der von Älteren übernommenen sexuellen Witze können sie ihren Rang in der Gruppe der Gleichaltrigen erhöhen und mit Fäkal- und Ekelwitzen sogar Macht über Erwachsene ausüben, denen sie damit z. B. den Appetit verderben. L. J Röhrich führte Potenzprahlereien und Impotenzwitze auf männliche Inferioritätsgefühle zurück, die auch Anlaß vieler erotischer Witze mit misogyner Tendenz seien15. E. J Moser-Rath empfand die männliche Reduktion von Frauen auf Sex, die für Z.n typisch sei, als diffamierend16. A. J Dundes konstatierte für die Deutschen eine Bevorzugung skatologischer vor sexuellen Überlieferungen und zog daraus ⫺ in der Forschung umstrittene ⫺ Schlüsse auf den dt. Nationalcharakter17. 1
Foer, J.: Moonwalking with Einstein. The Art and Science of Remembering Everything. N. Y. 2011, 46. ⫺ 2 Freud, S.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Ffm. 1958. ⫺ 3 EM 4, 264. ⫺ 4 cf. z. B. Moser-Rath, Schwank, 12, 38, 49, 68, 83⫺85, 100, 130. ⫺ 5 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Mü. 1970, 372. ⫺ 6 Krauss, F. S.: Südslav. Volksüberlieferungen, die sich auf den Geschlechtsverkehr beziehen. In: Anthropophytheia 2 (1905) 265⫺439; 4 (1907) 329⫺341; 6 (1909) 440⫺468; 7 (1910) 416⫺457; 8 (1911) 430⫺466; 9 (1912) 512⫺528. ⫺ 7 Blümml, E. K./Polsterer, J. (i.e. J. Latzenhofer): Futilitates. Beitr.e zur volkskundlichen Erotik 1⫺4. Wien 1908. ⫺ 8 Grüninger, G.: Der Damenwitz. Mü. 1964; Dor, M./Federmann, R.: Der galante Witz. Mü. 1966; Mann, D.: Der Stammtisch lacht. Witze für die Männerrunde. Wiesbaden 1969; Pardon Erotikon. Ffm. 1969; Warden, F./Sternberg, L.: Wie hätten Sie’s denn gern? Witze und Frechheiten zum Herrenabend. Wiesbaden 1969; Wilkat, J.: Mit Witz und Wonne. Eine Slg galanter Witze, frivoler Bonmots und amouröser Anekdoten. Mü. 1969; Wunderer, R.: Iocus pornographicus 1⫺2. Schmiden 1969; Zentner, K.: Der pikante Witz. Stg. 1969; Flax, P.: Party-Witze. Mü. 41970; Ta´rka´nyi, L.: Die verruchtesten Witze der Josephine Mutzenbacher. Mü. 1970; Herzog, W.: Über Sex kann ich nur lachen. Ffm./ B./Wien 1971; Schreiber, H.: Jeder treibt’s auf seine Weise. Erotische Witze aus aller Welt. Tübingen/Basel 1971; id.: 222 spitze Witze. Ffm. 1976; Orso, E. G.: Modern Greek Humor. A Collection of Jokes and Ribald Tales. Bloom. 1979. ⫺ 9 Ellis, A.: The
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Folklore of Sex. N. Y. 1960; Dundes, A./Georges, R. A.: Some Minor Genres of Obscene Folklore. In: JAFL (1962) 221⫺226; Halpert, H.: Folklore and Obscenity. Definitions and Problems. ibid., 190⫺ 194; Legman, D.: Toward a Motif-Index of Erotic Humor. ibid. 227⫺248; id.: Misconceptions in Erotic Folklore. ibid., 200⫺208; id.: The Horn Book. Studies in Erotic Folklore and Bibliogr. N. Y. 1964; Schlaffer, H.: Musa Iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stg. 1971; Davis Johnson, R.: Folklore and Women. In: JAFL 86 (1973) 211⫺224; Dundes, A.: Here I Sit. A Study of American Latrinalia. In: id. (ed.): Analytic Essays in Folklore. Den Haag/P. 1975, 177⫺191; Russel, B. H.: Otomi Obscene Humor. In: JAFL 88 (1975) 383⫺392; Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 151⫺173; Høvring, E.: Den bortfløjne mødom samt andre skæmtsomme og erotiske folkeeventyr. s. l. 1985; Palmenfelt, U.: Stereotypical Characters in Erotic Jokes. In: Röhrich, L./ Wienker-Piepho, S. (edd.): Storytelling in Contemporary Societies. Tübingen 1990, 147⫺153; Thomas, J. B.: Dumb Blondes, Dan Quayle, and Hillary Clinton: Gender, Sexuality, and Stupidity in Jokes. In: JAFL 110 (1997) 277⫺313; Hadjitaki-Kapsomenou, C.: Obscene Humour in Folk Narratives in Northwestern Greece. In: Folklore. New Perspectives. ed. J. Handoo/R. Kvideland. Mysore 1999, 213⫺218; Stanoev, S.: „Mrasnite“ vitsove („Dreckige“ Witze). In: Ba˘lgarski folklor (2002) H. 3⫺4, 109⫺123. ⫺ 10 Hoffmann, F.: Analytical Survey of Anglo-American Traditional Erotica. Bowling Green, Ohio 1973. ⫺ 11 Kutter, U.: „Ich kündige!“ Zeugnisse von Wünschen und Ängsten am Arbeitsplatz. Marburg 1982, 25 und Anlagen. ⫺ 12 Röhrich (wie not. 9) Abb.en nach p. 152, 160, 164, 170. ⫺ 13 Wehse, R.: Die „unanständige“ brit. Bildpostkarte und die Volkserzählung. In: Volkskundliche Fallstudien. ed. B. Lauterbach/C. Köck. Münster/N. Y./B. 1998, 115⫺136. ⫺ 14 Brunvand, J.: Sex in the Classroom. In: JAFL 73 (1960) 250 sq.; id.: Further Notes on Sex in the Classroom. ibid. 75 (1962) 62; Zumwalt, R.: Plain and Fancy: A Content Analysis of Children’s Jokes Dealing with Adult Sexuality. In: WF 35,4 (1976) 258⫺267; Wehse, R.: Warum sind die Ostfriesen gelb im Gesicht? Die Witze der 11⫺14jährigen. Ffm./ Bern 1983, pass. ⫺ 15 EM 4, 265. ⫺ 16 EM 5, 128; cf. auch Schenda, R.: Witze, die selten zum Lachen sind. In: ZfVk. 74 (1978) 58⫺75. ⫺ 17 Dundes, A.: Life is Like a Chicken Coop Ladder. A Portrait of German Culture through Folklore. N. Y. 1984; id.: Sie mich auch! Das Hinter-Gründige in der dt. Psyche. Weinheim/Basel 1985.
Reichertshausen
Rainer Wehse
Zuccalmaglio, Vincenz Jacob von (Pseud.e Montanus, der alte Fuhrmann, der Alte vom Berge, Julius Berger, Volksfreund), *Schle-
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Zuccalmaglio, Vincenz Jacob von
busch (heute Stadtteil von Leverkusen) 26. 5. 1806, † Grevenbroich 21. 11. 1876, Jurist und Sammler von Volksüberlieferung. Z., der einer ital. Zuwandererfamilie entstammte, studierte 1816⫺31 in Heidelberg Rechtswiss.en, ab 1848 war er Notar in Hückeswagen bei Köln, ab 1856 in Grevenbroich. 1874 wurde ihm der Titel eines Justizrats verliehen1. Z. zeigte sein Leben lang großes Interesse für das Leben der Menschen im rhein.-berg. Raum2 und beteiligte sich an den politischen Auseinandersetzungen der Zeit3. Im sog. Kulturkampf wandte er sich gegen die kathol. Kirche und die Ultramontanen, die Anhänger des Papstes4, und trat in die altkathol. Kirche ein. Seine nationale Haltung verband sich mit einer antifrz. Neigung5. Z. war Autor geschichtlicher Darstellungen, die er als Beitr.e zur ,Volksbelehrung‘ verstand6, und beschäftigte sich intensiv mit Regionalgeschichte7, wobei er allerdings oft kompilatorisch und unkritisch vorging8. In seinen Gedichten und Balladen, die er meist in der Mundart seiner berg. Heimat verfaßte, bemühte er sich, im Geist der Romantik den ,Volkston‘ zu treffen9. Er unterstützte seinen Bruder Anton Wilhelm von Z. (1803⫺69; Pseud. Wilhelm von Waldbrühl) bei seiner Slg von Volksliedern10; den von ihm postum herausgegebenen Liedern und Leuschen seines Bruders fügte er selbstgesammelte ,Stöckelcher‘ (Schnurren) an11. Außerdem versuchte er sich an Erzählungen und dramatischen Werken12. Z.s zweibändige, unter dem Pseud. Montanus veröff. Slg Die Vorzeit der Länder CleveMark, Jülich-Berg und Westphalen (Solingen/ Gummersbach 1837) enthält populäres Erzählgut der rhein. Landschaft13: Legenden, Volkssagen und Romanzen, Geschichten, Sagen und Biogr.n, die Z. „aus dem Munde einzelner mährchenkundiger Weilerbewohner“ aufgezeichnet oder schriftl. Darstellungen entnommen hatte14. Er bearbeitete die Texte vielfach poetisch oder im Stil mündl. Überlieferung und fügte eigene Erfindungen ein. Die 125 Texte haben fast alle einen Bezug zum Berg. Land. In seiner Darstellung der dt. Volksfeste, Volksbräuche und des Volksglaubens verzichtete er auf die Wiedergabe von Texten und beließ es bei inhaltlichen Aussa-
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gen, Kommentierungen und mythol. Erklärungen15. Mehr als 30 Jahre später gab A. W. von Z. die Slg seines Bruders ,in wiss. Umarbeitung‘ neu heraus. Der 1. Band enthält 358 bis dahin unveröff. Nummern, von denen nur 16 der Ausg. von 1837 entnommen sind. A. W. von Z. gestaltete diejenigen Texte neu, denen er thematische „Beziehungen und Andeutungen aus vorchristlicher Zeit“16 und Verknüpfungen mit Götterlehre und Volksglauben zuschrieb. Einige Texte entnahm er anderen Sagensammlungen. Im Gegensatz zu seinem Bruder verzichtete A. W. von Z. auf eigene Erfindungen und gab die Erzählungen nach eigener Aussage so wieder, wie sie aufgezeichnet wurden und „sich im Munde des Volkes erhalten haben“. Quellenangaben fehlen17. Der 2. Band von 1871, den V. J. von Z. allein herausgab, läßt erkennen, daß er sich bemühte, das Werk seines Bruders A. W. fortzuführen und der wiss. Erzählforschung anzunähern18. Dieser 2. Band umfaßt etwa 120 bislang unveröff. Sagen, geschichtliche Berichte und biogr. Erzählungen, weitere zwölf finden sich bereits in der früheren Aufl. Seitens der wiss. Erzählforschung wurde Z.s Umgang mit der Volksliteratur wegen der romantischen Zutaten aus eigener Erfindung wiederholt kritisiert19. Bereits J. J Bolte vermißte „gewissenhafte Treue gegenüber der Überlieferung und wissenschaftliche Schulung“20. 1 Schnorrenberg, J.: Z., V. J. von. In: ADB 45 (1900) 469⫺471; Westfäl. Autorenlex. 2. ed. W. Gödden/I. Nölle-Hornkamp. Paderborn 1994, 489⫺494; Kölner Autoren-Lex. 1. ed. E. Stahl. Köln 2000, 255 sq. ⫺ 2 Montanus: Bergisches in Land und Leuten. Remscheid 1876. ⫺ 3 Laux, S.: V. von Z. (1806⫺ 1876). In: Cepl-Kaufmann, G./Lange, H.-S. (edd.): Kultur und bürgerlicher Lebensstil im 19. Jh. Grevenbroich 2004, 88⫺101. ⫺ 4 Z., V. von: Die dt. Kokarde, ein politischer Katechismus für’s dt. Volk. Köln 1848. ⫺ 5 id.: Dt. oder Wälsch? Eine kathol. Stimme aus Hohenstaufen’scher Zeit über den jetzt erwachten Kampf zwischen Staat und Kirche. Elberfeld 1872; id.: Katholiken! Was hat man aus Eurer Religion gemacht? Bonn 1876. ⫺ 6 id.: Die Geschichte des dt. Volkes. Ein Büchlein zur Belehrung für den schlichten Bürgers- und Bauersmann. Köln 1848. ⫺ 7 id.: Die Mosel und ihre nächsten Umgebungen von Coblenz bis Trier. Koblenz 1833; id.: Die Geschichte des Brandenburg.-Preuß. Staates. Solingen 1939; id.: Geschichte und Beschreibung der
Zuerst ⫺ Zufall
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Stadt und des Kreises Mülheim am Rhein. Köln 1846. ⫺ 8 [Cardauns, H.:] Der alte Fuhrmann (V. von Z.) heimgefahren von einem Rhein. Antiquarius. Köln 1875. ⫺ 9 Z., V. von: Der Maimorgen. Ein Pfingstgeschenk für Kinder. In Versen mit Nachbildung der Vogelstimme. Koblenz 1834. ⫺ 10 Baumstark, E./Z., A. W. von (edd.): Dt. Volkslieder mit ihren Original-Weisen 2. B. 1840. ⫺ 11 Waldbrühl, W. von: Rhingscher Klaaf. Rheinfränk. Lieder und Leuschen. Nebst einer Zugabe: Stöckelcher von Montanus. Opladen 1869; cf. Wiora, W.: Die rhein.-berg. Melodien bei Z. und Brahms. Bad Godesberg 1953.⫺ 12 Z., V. von: Der Kurfürst in Hückeswagen, oder: Das Maifest, ein Schauspiel in drei Abtheilungen. Solingen 1856; id.: Dat Verzällchen vam Fuß un vam Wolf. Elberfeld 1872; Montanus: Johann Wilhelm. Ein dramatisches Charakter- und Zeitbild in fünf Aufzügen. Opladen 1876. ⫺ 13 Fischer, H.: Die rhein. Volkserzählforschung. In: Rhein. Jb. für Vk. 28 (1989/90) 7⫺28, hier 10. ⫺ 14 Montanus: Die Vorzeit der Länder Cleve-Mark, Jülich-Berg und Westphalen 1⫺2. Solingen/Gummersbach 1837, iv. ⫺ 15 id.: Die dt. Volksfeste, Volksbräuche und dt. Volksglaube in Sagen, Märlein und Volksliedern. Iserlohn 1854 (Nachdr. Remscheid 1983). ⫺ 16 id.: Die Vorzeit. Sagen und Geschichten der Länder Cleve-Mark, Jülich-Berg und Westphalen 1⫺2. ed. W. von Waldbrühl/Montanus. Elberfeld 1871, hier t. 1, iv. ⫺ 17 id.: Die Vorzeit der Länder Cleve-Mark, JülichBerg und Westphalen 1. ed. W. von Waldbrühl. Elberfeld 1870, viii. ⫺ 18 id. (wie not. 16) t. 2. ⫺ 19 Brückner, W.: Sagenbildung und Tradition. In: ZfVk. 57 (1961) 26⫺69, hier 61; Schenda, R.: Mären von dt. Sagen. In: Geschichte und Ges. 9 (1983) 26⫺ 48, hier 43. ⫺ 20 [Bolte, J.:] Notizen. In: ZfVk. 22 (1912) 440.
Hennef
Helmut Fischer
Zuerst J Erster, Erstes, Zuerst Zufall. Von Z. ist die Rede, wenn ein Ereignis ohne erkennbare Ursache eintritt bzw. zwei oder mehrere Ereignisse ohne erkennbaren kausalen Zusammenhang (J Kausalität) zusammentreffen. Wann in realen Kontexten von Z. gesprochen und ob Z. überhaupt als existent angesehen werden kann, wird seit Aristoteles diskutiert1: Kontingenzen werden entweder aufgrund der Komplexität der sie bedingenden Faktoren als lediglich (noch) nicht voraussagbar oder aber als tatsächlich nicht exakt bestimmbar angesehen2. In den antiken Lit.en wurde der Z. mit den Unwägbarkeiten der Existenz in Zusammen-
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hang gebracht. Doch liegt gerade in ihnen die Herausforderung, weshalb der Z. als J Bewährungsprobe für den Helden konstitutiv wird3. Mit der Vorstellung von einer göttlichen Vorsehung (J Schicksal, cf. J Magisches Weltbild) seit der Spätantike wurde die Kategorie des Z.s durch die eines göttlichen Plans, einer göttlichen J Gerechtigkeit (Kap. 3.1), aufgehoben und bestenfalls noch auf das menschliche Denken bezogen, weshalb der Z. im religiösen Erzählgut praktisch irrelevant ist (AaTh/ATU 759: J Engel und Eremit)4. Doch erscheint in der ma. Lit. auch der Mensch, dessen Leben als Pilgerfahrt aufgefaßt wird, zu diesem Plan in Beziehung gesetzt: Die Stationen seiner Reise unterliegen nicht dem Z., sondern sind ihm vorbestimmt (cf. J Fortuna)5. Einen Reflex dieser Vorstellung bilden superstitiöse Praktiken, bei denen aus kontingenten Erscheinungen Zusammenhänge abgeleitet werden, auch wenn diese nur oberflächlicher Natur sind (z. B. Erfahren der Zukunft durch Bleigießen)6. Seit der Neuzeit mußte mit der zunehmenden Bedeutung individuellen Handelns die Kausalitäts- und Kontinuitätsvorstellungen zuwiderlaufende Wirkung des Z.s neu konzeptualisiert werden. Die Kontingenz erschien nunmehr als Notwendigkeit7. Seit dem 19. Jh. wurde die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung erneut in Frage gestellt und der Z. strukturell relevant. Z. erweist sich insofern als kulturspezifische Variable8. In narrativen Texten sind hinsichtlich der Kategorie Z. grundsätzlich drei Perspektiven zu berücksichtigen: Auf der thematischen Ebene wird hier eine Quasirealität erzeugt9, der gegenüber sich der Rezipient wie gegenüber realen Entitäten verhalten kann. Geht also etwa die Kognitionspsychologie davon aus, daß Menschen Z.e im Bereich sichtbarer Erscheinungen vor dem Hintergrund von deren Wahrscheinlichkeit beurteilen10, so gilt dies auch für den Leser oder Hörer eines Erzähltexts in bezug auf dessen Handlung: Das, was in der Realität als Z. erscheinen würde, wird in narrativen Texten zunächst ebenfalls als zufällig empfunden. Auf dieser Ebene kann der Z. darüber hinaus explizit thematisiert werden. Auf der Ebene der Handlungslogik ist der Z. z. T. suspendiert, da Textelementen hier eine Funktion in bezug auf den Text selbst zuge-
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Zufall
sprochen wird (J Logik, Kap. 3): Was auf der thematischen Ebene als Z. erscheinen mag, ist handlungslogisch gesehen ein (unabdingbares) Element der Erzählstruktur. Diese Annahme ist vor allem für literar. Texte geltend gemacht worden, deren Gemachtheit der tschech. Strukturalist J. Mukarˇovsky´ als ,Absichtlichkeit‘ apostrophierte11. Diese auf den Text (nicht jedoch auf den Autor) bezogene Kategorie ist als ,die bedeutungsmäßige Vereinheitlichung des Werks‘ aus der Perspektive des Rezipienten zu verstehen, d. h. sie betrifft die Möglichkeit, den literar. Text als sinnhaftes Ganzes wahrzunehmen. Als unabsichtlich, d. h. zufällig, erscheinen dem Rezipienten im Gegensatz dazu Textelemente, die sich dem Versuch einer Sinnbildung verweigern. Welcher Teil eines Werks als zufällig aufgefaßt wird und welcher nicht, ist zwar nicht beliebig, sondern durchaus durch den Text determiniert, jedoch abhängig von der (konkreten) Rezeption. Die Kategorien Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit bzw. Z. stehen insofern mit der prinzipiellen Mehrdeutigkeit fiktionaler Texte in Zusammenhang. Noch einmal anders stellt sich die Kategorie Z. aus der Perspektive der Produktion von Texten dar. Als problematisch erweist sich dabei die vielfach hypothetische Unterscheidung zwischen Z. und Absichtlichkeit hinsichtlich der Intention eines realen Autors12. In der Narratologie wurde die Instanz Autor daher wiederum an den Text angebunden und etwa als ,Prinzip der künstlerischen Einheit des Werks‘ verstanden13 bzw. als ,Subjektinstanz werkimmanenter Art‘, zu der eine Autorpersönlichkeit hypostasiert wird14. Da im Begriff des Autors die Differenz zwischen Werkinstanz und realer Person verschwimmt, ergeben sich Unklarheiten bes. in Hinblick auf Textsorten, die einen eindeutig bestimmbaren Autor nicht unbedingt aufweisen. In der Volksdichtung bzw. Volkserzählung, die durch J Kollektivität und J Anonymität geprägt ist, wird insofern auch die Kategorie des Z.s wieder relevant. Im Gegensatz zu literar. Texten oder Buchmärchen unterliegen mündl. tradierte Erzählungen einer J Variabilität, die mit der konkreten Intention eines individuellen Autors nur bedingt in Zusammenhang gebracht werden kann. Hier greifen vielmehr Prozesse, die entweder als Mangel (J
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Zersagen, Zersingen) oder als (nur mehr oder weniger bewußtes) ,Zurechterzählen‘ (J Zielform) aufgefaßt wurden. Im Ergebnis funktionslos gewordene Textelemente (J Blindes Motiv) belegen, daß die produktionsseitige Variabilität in mündl. tradierten Erzählungen grundsätzlich sehr viel ausgeprägter ist als in literar. Texten15. In der Erzählforschung ist die Kategorie Z. für alle drei genannten Perspektiven relevant, sie wird jedoch in unterschiedlichem Maß wahrgenommen. Während Z. produktionsseitig vor allem mit hist. J Faktizität verknüpft wird und systematisch keine große Rolle spielt, ist seine Bedeutung für die Phänomenologie von Erzählungen und seine Funktionalisierung für die Handlungslogik nicht zu übersehen16, wobei letzteres in der Regel implizite Voraussetzung für die Interpretation von Erzähltexten ist. Die genannten kulturspezifischen Ausprägungen von Z. finden sich dabei nur zum Teil wieder. Zufällig erscheinende Handlungselemente erweisen sich in erster Linie als schicksalhaft (z. B. J Erster, Erstes, Zuerst)17. Zugespitzt hat dies M. J Lüthi formuliert: „Man könnte auch sagen: Das Märchen ist eine Dichtung, die den Zufall nicht kennt.“18 Damit meint er, daß der Z. lediglich eine „Konsequenz des abstrakten Märchenstils“19 sei. Zudem korreliert der Z. mit dem Wunderbaren: Ob eine Handlung durch ein J Wunder oder wie etwa in manchen Sagen oder in Novellenmärchen durch Z. ausgelöst wird, ist für die Handlungsdynamik nicht unbedingt entscheidend. Aufgrund ihrer gattungsübergreifend handlungsauslösenden Funktion finden sich Z.e auf der thematischen Ebene häufig am Anfang von Erzählungen oder Handlungskomplexen20 oder als J retardierendes Moment: In Var.n von AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit wird die 13. Fee versehentlich vergessen; zufällig sind die Eltern des herangewachsenen Mädchens an dem Tag, an dem die Prophezeiung eintreten soll, nicht anwesend. Der Geblendete in AaTh/ATU 613: Die beiden J Wanderer belauscht zufällig das Gespräch von Teufeln, in dem er u. a. erfährt, wie er sein Augenlicht zurückerhalten kann (cf. auch J Belauschen). In AaTh/ATU 894: J Geduldstein beobachtet die Protagonistin zufällig einen Menschenfresser.
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Zug ⫺ Zuhörer
Z.e finden sich aber auch am Ende von Erzählungen. Die J Erlösung des Prinzen in AaTh/ATU 440: J Froschkönig erfolgt zufällig, als die Prinzessin ihn wütend an die Wand wirft. Der J Name des Unholds (AaTh/ATU 500) wird durch Z. herausgefunden. Der Protagonist von AaTh/ATU 590: Die treulose J Mutter wird mit dem Wasser aus einer zufällig entdeckten heilkräftigen Quelle gerettet. J Schneewittchen (AaTh/ATU 709) wird durch einen Z. wiederbelebt. In Erzählungen von unschuldig verfolgten J Frauen (Kap. 3. 1.2) werden der Ehemann und seine verstoßene Frau häufig durch einen Z. wieder zusammengeführt. In schwankhaften Erzählungen nehmen Z.e komische oder parodistische Züge an: Durch Z. berichtet der Verführer einer verheirateten Frau in AaTh/ATU 1420 D: cf. J Pfand des Liebhabers deren Ehemann von seinem Abenteuer. In AaTh/ATU 1355 B: cf. J Ehebruch belauscht wird ein Dummer zufällig Zeuge eines Ehebruchs ⫺ und für seine Diskretion belohnt. Die J Räuber unter dem Baum (AaTh/ ATU 1653) werden von versehentlich fallengelassenen Gegenständen der zufällig auf demselben Baum sitzenden Reisenden getroffen und so in die Flucht geschlagen. In AaTh/ATU 1739: J Priester soll Kalb gebären glaubt der Priester, er habe das Kalb, das zufällig in der Nähe ist, geboren. Grotesk wirkt die Zufälligkeit der Aneinanderreihung von Handlungselementen in AaTh/ATU 1537: Die mehrmals getötete J Leiche ebenso wie in AaTh/ATU 2021, 2022: J Tod des Hühnchens (cf. auch J Jägerlatein). 1
Rottenecker, W.: Z. In: Lex. des MA.s 9. Stg./Weimar 1999, 682 sq.; cf. Bubner, R.: Die Aristotelische Lehre vom Z. In: Graevenitz, G. von/Marquard, O./ Christen, M. (edd.): Kontingenz. Mü. 1998, 3⫺21; Wetz, F. J.: Die Begriffe „Z.“ und „Kontingenz“. ibid., 27⫺34; Vogt, P.: Kontingenz und Z. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte. B. 2011. ⫺ 2 cf. Ruelle, D.: Chance and Chaos. Princeton 1991; Ströker, E.: Kontingenz und Faktizität in wiss.stheoretischer Perspektive. In: von Graevenitz u. a. (wie not. 1) 109⫺116; Gierer, A.: Z. und naturgesetzliche Notwendigkeit. ibid., 123⫺139. ⫺ 3 Daemmrich, H. S. und I. G.: Themen und Motive in der Lit. Tübingen/Basel 21995, 380⫺382, hier 380; cf. Söring, J.: Tragödie. Notwendigkeit und Z. im Spannungsfeld tragischer Prozesse. Stg. 1982. ⫺ 4 Rottenecker (wie not. 1). ⫺ 5 Daemmrich (wie not. 3); cf. Haug, W.:
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Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Z., literar., im MA. und in der frühen Neuzeit. In: von Graevenitz u. a. (wie not. 1) 151⫺172; Assmann, A.: Let It Be. Kontingenz und Ordnung in Schicksalsvorstellungen bei Chaucer, Boethius und Shakespeare. ibid., 225⫺244; Herberichs, C./Reichlin, S. (edd.): Kein Z. Konzeptionen von Kontingenz in der ma. Lit. Göttingen 2010. ⫺ 6 HDA 1 (1927) 1389⫺1392; cf. ibid. 2 (1929⫺30) 1160; ibid. 4 (1931⫺32) 1398; ibid. 5 (1932⫺33) 1355; ibid. 8 (1937) 912. ⫺ 7 Daemmrich (wie not. 3); cf. Nef, E.: Der Z. in der Erzählkunst. Bern 1970; Makropoulos, M.: Modernität als Kontingenzkultur. In: von Graevenitz u. a. (wie not. 1) 55⫺79; Haug (wie not. 5). ⫺ 8 Daemmrich (wie not. 3); cf. Köhler, E.: Der literar. Z., das Mögliche und die Notwendigkeit. Ffm. 1993. ⫺ 9 Wolf, W.: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Tübingen 1993, 31, 203. ⫺ 10 Kahneman, D. (ed.): Judgement under Uncertainty. Heuristics and Biases. N. Y. 1982. ⫺ 11 Mukarˇovsky´, J.: Za´meˇrnost a neza´meˇrnost v umeˇnı´ (Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit in der Kunst) [1943]. In: id.: Studie z estetiky. Prag 1966, 116⫺147, hier 130. ⫺ 12 cf. Lüthi, M.: Das europ. Volksmärchen. Mü. 41974, 52. ⫺ 13 Mukarˇovsky´, J.: Die Persönlichkeit in der Kunst [1944]. In: Jannidis, F. u. a. (edd.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stg. 2000, 65⫺79, hier 73. ⫺ 14 Schmid, H.: Das Problem des Individuums im tschech. Strukturalismus. In: Schwarz, W. F. (ed.): Prager Schule. Ffm. 1997, 265⫺303, hier 296; cf. Barthes, R.: Der Tod des Autors [1968]. In: Jannidis u. a. (wie not. 13) 185⫺ 193, hier 193; Foucault, M.: Was ist ein Autor? [1969]. ibid., 198⫺229. ⫺ 15 cf. dagegen Moser, D.R.: Die Homerische Frage und das Problem der mündl. Überlieferung aus volkskundlicher Sicht. In: Fabula 20 (1979) 116⫺136. ⫺ 16 Leeming, D. A./Sader, M. (edd.): Storytelling Enc. Phoenix, Ariz. 1997, 106 sq.; Ernst, E./Garry, J.: Chance and Fate. In: Garry, J./El-Shamy, H.: Archetypes and Motifs in Folklore and Literature. Armonk, N. Y./L. 2005, 323⫺332. ⫺ 17 Röhrich, Märchen und Wirklichkeit, 235. ⫺ 18 Lüthi (wie not. 12) 51. ⫺ 19 ibid. ⫺ 20 Löwis of Menar, A. von: Der Held im dt. und russ. Märchen. Jena 1912, 54.
Göttingen
Doris Boden
Zug J Detail
Zuhörer. Grundsätzlich zielt Zuhören auf ein kognitives, in vielen Fällen auch auf ein emotionales Verstehen; Z. sind Rezipienten eines J Vermittlungsprozesses. Um das Gehörte erfassen, verarbeiten und interpretieren zu können, greifen sie auf ihren persönlichen,
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Zuhörer
sprachlichen und kulturellen Hintergrund zurück und stellen Bedeutung her1. Während eines mündl. Sprechakts sind der oder die Z. in der Regel körperlich anwesend2. Situationsabhängig variiert dabei die Anzahl der Z.: Es kann sich um eine Person, um mehrere Personen oder um ein großes Publikum handeln. Auch wenn das Zuhören im Kollektiv infolge gruppendynamischer Prozesse als bes. intensives Erlebnis wahrgenommen werden kann3, sind Z. nicht als homogene Gruppe zu verstehen, sondern als Individuen mit divergierenden Voraussetzungen und Erwartungen4. In der griech. Antike nahm das Erlernen eines ,zuhörerfreundlichen‘ Sprechens einen wichtigen Platz in der rhetorischen Ausbildung ein5. Aristoteles bezeichnete die Z. als ,richtungsgebend‘ für den Redner (Rhetorik 1,3); Cicero beurteilte die Qualität einer Rede nach dem Grad der emotionalen Anteilnahme, die sie bei den Z.n hervorruft (Brutus 54,199), und bezeichnete eine große Z.schaft als wichtigste Inspirationsquelle des Redners (De oratore 2,83,338); Quintilian betonte, daß die Reaktion der Z. auf den Vortragenden anfeuernd wirke (Institutio oratoria 10,7,16). In den Fokus der Erzählforschung gerieten die Z. erst mit einiger Verzögerung, obwohl sie in traditionellen Erzählsituationen eine maßgebliche Rolle spielen6. Während der J Performanz vollzieht sich eine beständige J Interaktion zwischen dem J Erzähler und seinen Z.n7. Diese sind Mitspieler und Mitgestalter8, denn sie können bereits vor dem Erzählen oder währenddessen ein Feedback geben, etwa durch spontanes Bekunden von Erstaunen, Zweifel und Widerspruch, durch Lob, Tadel oder das Zeigen von Ungeduld. Indem sie hämische oder scherzhafte Kommentare abgeben, an den Erzähler oder an die anderen Z. Verständnisfragen richten oder das Erzählte unter Hinweis auf Selbsterlebtes affirmieren, werden sie zu wesentlichen Faktoren des Erzählprozesses9. Die Werte und Normen einer Gesellschaft in Verbindung mit der jeweils herrschenden Erzählkultur bestimmen, welche Formen der Rückmeldung die anderen Z. sowie der Erzähler angemessen oder ungebührlich finden10. Paralinguistische Mittel intensivieren den Austausch zwischen den Z.n und dem Erzähler.
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Die Erwartungshaltung der Z. und ihre unmittelbaren Reaktionen wirken entscheidend auf den Erzähler und den Erzählinhalt ein; ein neuer Z.kreis kann den Erzähler z. B. zu einer ausführlicheren oder besseren Performanz inspirieren11, und ein hohes Maß an Z.beteiligung kann die Qualität einer Geschichte deutlich steigern12. Eine situationsbezogene Anpassung der narrativen Strategien an die Voraussetzungen und die Erwartungen der Z. entscheidet im allg. über Erfolg oder Mißerfolg des Erzählers13. Daher beeinflussen die Zusammensetzung der Z.schaft und ihre Reaktionen nicht nur die Länge der Erzählung14, sondern sogar die Wortwahl des Erzählers sowie seine Betonung einzelner Wörter15. Ob die Z. innerlich beteiligt, ob sie gelangweilt oder ermüdet sind, kann der Erzähler in allen Phasen der Performanz feststellen, z. B. durch Zurufe, die eine Antwort der Z. erfordern16. Das Zuhören hatte in bäuerlichen Gemeinschaften, in denen das Erzählen oft eine der wenigen Unterhaltungsmöglichkeiten darstellte, eine bes. Bedeutung, so etwa in den J Spinnstuben17. Bei der Feldarbeit entstanden temporäre Z.gemeinschaften18. Z. können auch selbst zu Erzählern werden. In traditionellen Gemeinschaften ist es üblich, daß die Erzähler wechseln19. Bei jedem Erzählerwechsel wird entweder das vorherige Thema anhand einer anderen Erzählung aufgenommen oder ein neues Thema angeschnitten. Das Beibehalten desselben Themas kann ein Zeichen für die Zustimmung der Z. sein. Im idealen Fall sind alle Anwesenden in gleichem Maße am Erzählen, Zuhören und an der Interaktion beteiligt20. In allen Gemeinschaften gibt es überdurchschnittlich kompetente Erzähler, die häufig in einer J Familientradition stehen. Sie sind bei den Z.n bes. beliebt, werden von ihnen umworben, zum Erzählen ,bestellt‘ und bezahlt oder beschenkt21. Eine Ausnahmesituation stellt das Interview eines J Feldforschers mit einem Erzähler dar. Als bes. interessierter Z. kann der Forscher seinem J Informanten mehr Raum geben als in einer ,normalen‘ Erzählsituation realisierbar wäre, er kann Fragen stellen und Metaerzählen ermöglichen. Material, das bei einem Interview erhoben wird, ist immer das Ergebnis intensiven Zuhörens: Oft erzählt der Erzähler
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Zˇukovskij, Vasilij Andreevicˇ
dem Forscher die längste Var. einer bestimmten Geschichte22. Auch in urbanen, technisierten Gesellschaften kann sich das Zuhören neben dem Lesen von Erzählungen behaupten: Autorenlesungen ziehen ein großes Publikum an, im Kontext der Erwachsenen- und Altenbildung haben sich etliche Erzählcafe´s etabliert, und mit Hörbüchern oder Downloads von eingelesenen Texten lassen sich nicht nur zahlreiche Z. erreichen, sondern auch beachtliche Umsätze erzielen. 1
Dundes, A.: Metafolklore and Oral Literary Criticism. In: Brunvand, J. (ed.): Readings in American Folklore. N. Y. 1979, 404⫺415, hier 411; Stahl, S. K. D.: Literary Folkloristics and the Personal Narrative. Bloom./Indianapolis 1989, 33; Braid, D.: Personal Narrative and Experiential Meaning. In: JAFL 109 (1996) 5⫺30, hier 9; Carrol, N.: Moderate Moralism versus Moderate Autonomism. In: The British J. of Aesthetics 38 (1998) 419⫺424; Kaivola-Bregenhøj, A.: History Bursts into Story. Women’s Tales of War. In: Folklore Fellows’ Network 37 (2009) 2⫺ 17. ⫺ 2 El-Shamy, H.: Audience. In: Folklore. An Enc. […] 1. ed. T. A. Green. Santa Barbara u. a. 1997, 70. ⫺ 3 Sturm, B.: An Analysis of Five Interviews with Storylisteners to Determine how They Perceive the Listening Experience. In: MacDonald, M. R. (ed.): Traditional Storytelling Today. An Internat. Sourcebook. Chic./L. 1999, 568. ⫺ 4 Schenda, R.: Von Mund zu Ohr. Göttingen 1993, 203; Brown, M. E.: Pot of Gold: Rainbow’s End. Meaning: Tale. In: Arv 40 (1984) 89⫺94, hier 91. ⫺ 5 Ueding, G.: „Niemand kann ein größerer Redner sein als Hörer.“ Über eine Rhetorik des Hörens. In: Vogel, T. (ed.): Über das Hören. Tübingen 21998, 45⫺68, hier 51. ⫺ 6 El-Shamy (wie not. 2) 71; Bauman, R: Verbal Art as Performance. In: American Anthropologist 77 (1975) 290⫺311; Glassie, H.: Folk Art. In: Dorson, R. M. (ed.): Folklore and Folklife. Chic./L. 1972, 253⫺280, hier 278; Hymes, D.: Breakthrough into Performance. In: Ben-Amos, D./Goldstein, K. S. (edd.): Folklore. Performance and Communication. Den Haag/P. 1975, 11⫺74. ⫺ 7 Routarinne, S.: Kertomuksen rakentaminen (Der Aufbau einer Erzählung). In: Tainio, L. (ed.): Keskustelunanalyysin perusteet. Tampere 1997, 155; Bas¸göz, I˙.: The Tale-Singer and His Audience. In: Ben-Amos/Goldstein (wie not. 6) 143⫺203; Braid (wie not. 1) 7. ⫺ 8 Scherf, W.: Das Märchenpublikum. Die Erwartung der Z. und Leser und die Antwort des Erzählers. In: Diskussion Deutsch 91 (1986) 479⫺496, hier 481. ⫺ 9 De´gh, L.: Folktales and Society. Bloom. 1969, 119. ⫺ 10 Tannen, D.: Conversational Style. Analyzing Talk among Friends. Norwood, N. J. 1984, 108; Edwards, C.: „Stop me if you’ve heard this one“. Narrative Disclaimers as Breakthrough into Performance. In: Fabula 25 (1984), 214⫺228. ⫺
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11 Kaivola-Bregenhøj, A.: Narrative and Narrating. Variation in Juho Oksanen’s Storytelling (FFC 261). Hels. 1996, 169, 179; Bauman, R.: Story, Performance and Event. Contextual Studies of Oral Narrative. Cambr. 1986, 102; Ellis, B.: „Ralph and Rudy“. The Audience’s Role in Recreating a Camp Legend. In: WF 41,3 (1982) 169⫺191, hier 171. ⫺ 12 ibid., 113⫺119. ⫺ 13 Braid (wie not. 1) 17; Palmenfelt, U.: Per Arvid Säves möten med människor och sägner. Stockholm 1993, 185; Sturm (wie not. 3) 563. ⫺ 14 De´gh (wie not. 9) 83. ⫺ 15 Tannen, D.: Oral and Literate Strategies in Spoken and Written Narratives. In: Language 58 (1982) 1⫺21, hier 18. ⫺ 16 De´gh (wie not. 9) 84; Sturm (wie not. 3); Haring, L.: Framing in Narrative. In: The Arabian Nights in Transnational Perspective. ed. U. Marzolph. Detroit 2007, 135⫺153. ⫺ 17 De´gh (wie not. 9) 98. ⫺ 18 ibid., 95. ⫺ 19 Bauman (wie not. 11) 101 sq.; Fabre, D./ Lacroix, J.: La Tradition orale du conte occitan 1. P. 1974, 133. ⫺ 20 Tannen, D.: You Just Don’t Understand. Women and Men in Conversation. N. Y. 1990, 140. ⫺ 21 De´gh (wie not. 9) 75, 100 sq.; Kaivola-Bregenhøj, A.: The Narrator as Reporter or Performer. In: Fabula 52 (2011) 32⫺42, hier 36 sq. ⫺ 22 ead. (wie not. 11) 175.
Kerava
Annikki Kaivola-Bregenhøj
ˇ ukovskij, Vasilij Andreevicˇ, *Misˇenskoe Z (Gouvernement Tula) 29. 1. (9. 2.) 1783, † Baden-Baden 12. (24.) 4. 1852, russ. Dichter und Übersetzer. Zˇ. war der uneheliche Sohn einer leibeigenen Türkin und eines Adligen, bei dem er aufwuchs; um der Leibeigenschaft zu entgeˇ uhen, wurde Zˇ. von dem Adligen Andrej Z kovskij adoptiert. Nach dem Besuch des Adelspensionats der Moskauer Univ. arbeitete Zˇ. 1800/01 im kaiserlichen Salzkontor in Moskau; danach kehrte er nach Misˇenskoe zurück. 1808⫺10 lebte er in Moskau und arbeitete dort ab 1809 als Redakteur für die Zs. Vestnik Evropy (Europ. Bote). Nach einem weiteren Aufenthalt in Misˇenskoe (1811) wurde er 1812 zur Landwehr eingezogen und nahm am Krieg gegen Napoleon teil. 1813 kehrte er krankheitsbedingt nach Moskau zurück, wo er sich in der literar. Ges. Arzamas engagierte. 1815 trat er als Lehrer in den Dienst des Zarenhofs und unternahm in dessen Gefolge, aber auch allein, mehrere Europareisen (Deutschland, Italien, England, Schweiz). 1818 wurde Zˇ. zum Mitglied der Russ. Akad. ernannt. 1841 verließ er den Hof und übersiedelte nach Deutschland (Frankfurt am Main, später Baden-Baden). Zˇ.
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Zˇukovskij, Vasilij Andreevicˇ
wurde in Deutschland begraben, sein Leichnam später jedoch nach St. Petersburg überführt1. Zˇ. wurde vor allem als elegischer Dichter, als Verfasser der ersten russ. Kunstballaden und durch seine Übers.en bzw. Adaptationen von Werken der Weltliteratur bekannt2; sein Schaffen markiert den Beginn der russ. Romantik3. 1802 erschien Zˇ.s Elegie Sel’skoe kladbisˇcˇe (Der Dorffriedhof), eine Bearb. von Thomas Grays Elegy Written in a Country Churchyard (1748)4. Zˇ. verfaßte 39 Balladen, die in der Mehrzahl Adaptationen, u. a. von Dichtungen J Goethes und J Schillers, darstellen5. Seine Balladen Ljudmila (1808), Svetlana (1813) und Lenora (1831) sind russifizierte Adaptationen von J Bürgers J Lenore (AaTh/ATU 365)6. Unter dem Eindruck seiner Kriegserfahrungen entstand Zˇ.s wohl bekanntestes Gedicht, der patriotische Hymnus Pevec vo stane russkich voinov ([Der Sänger im Lager der russ. Krieger], 1812/1815). 1806/07 übersetzte Zˇ. etwa 30 Fabeln von J La Fontaine und Jean-Pierre Claris de Florian (1755⫺94) und später weitere Fabeln von J Lessing7. 1817⫺19 übertrug er das aus dem 12. Jh. stammende sog. Igorlied ins Neurussische; diese Adaptation war zunächst J Pusˇkin zugeschrieben worden8. Zwischen 1828 und ˇ . größtenteils nach dt. Vorla1850 übersetzte Z gen Teile der Ilias (J Homer), den Untergang Trojas aus J Vergils Aeneis sowie die Odyssee, zudem Teile des ind. J Maha¯bha¯rata, des pers. Sˇa¯hna¯me (J Firdausı¯) sowie des span. Epos El Cantar de mio Cid (12. Jh.)9. Zˇ.s Übers. der Odyssee ist bis heute die populärste in russ. Sprache. In den 1820er Jahren und später in Deutschland verfaßte Zˇ. freie Übers.en von Märchen J Perraults sowie der Brüder J Grimm10. In den 1830er Jahren entbrannte zwischen Zˇ. und Pusˇkin ein regelrechter Dichterwettstreit. In dieser Zeit entstand Zˇ.s Versmärchen Skazka o care Berendee, o syne ego Ivane-Carevicˇe, o chitrostjach Kosˇcˇeja bessmertnogo i o premudrosti Mar’i-Carevny, Kosˇcˇeevoj docˇeri (Märchen vom Zaren Berendej, seinem Sohn IvanCarevicˇ, den Listen des unsterblichen Kosˇcˇej und der Allwissenheit Mar’ja-Carevnas, der Tochter Kosˇcˇejs; cf. AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei). Es basiert auf einem 1824 von Pusˇkin aufgezeichneten Märchen sowie
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Zˇ.s Übers. von KHM 56, AaTh/ATU 313: J Magische Flucht ⫹ AaTh/ATU 407: J Blumenmädchen; das Motiv von Kosˇcˇej als Meereskönig geht möglicherweise auf eine Byline zurück11. In dieser Zeit entstanden zudem die Versmärchen Spjasˇcˇaja carevna (Die schlafende Zarentochter), eine Version von KHM 50, AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit12, Tjul’panovo derevo ([Der Tulpenbaum] 1841), das an KHM 47, AaTh/ATU 720: J Totenvogel angelehnt ist, und Skazka o Ivane-Carevicˇe i serom volke ([Märchen von Ivan-Carevicˇ und dem grauen Wolf] 1845), das dem gleichnamigen Text aus J Afanas’evs Slg entspricht (AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter)13, darüber hinaus aber auch auf andere Märchen zurückgreift14. Unvollendet blieb Zˇ.s Adaptation des satirischen Tierepos J Frosch-Mäuse-Krieg (Vojna mysˇej i ljagusˇek), die u. a. auf dem Froschmeuseler von Georg J Rollenhagen sowie auf Episoden aus Fabeln von Ivan Andreevicˇ J Krylov und Michail Alekseevicˇ J Dmitriev basiert15. Zˇ.s Werke haben in Rußland nach wie vor einen hohen Bekanntheitsgrad und wurden z. T. medial adaptiert; sein bekanntestes Versmärchen, Skazka o care Berendee, wurde 1969 verfilmt16. 1 Afanas’ev, V.: Zˇ. M. 1986, 393. ⫺ 2 cf. z. B. Gugnin, A. A.: Zarubezˇnaja poe˙zija v perevodach V. A. Zˇukovskogo 1⫺2 (Nichtruss. Poesie in den Übers.en von V. A. Zˇ.). M. 1985. ⫺ 3 Städtke, K.: Russ. Lit.geschichte. Stg./Weimar 2002, 126. ⫺ 4 Agafonova, ˇ ukovskogo M. A.: E˙legii Greja v perevode V. A. Z (Grays Elegien in der Übers. von V. A. Zˇ.). (im Internet). ⫺ 5 Gugnin, A. A.: Nemeckaja poe˙zija v perevodach V. A. Zˇukovskogo (Dt. Dichtung in Übers.en von V. A. Zˇ.). M. 2000; Sˇamanskaja, L. P.: Zˇ. i Sˇiller. Poe˙ticˇeskij perevod v kontekste russkoj literatury (Zˇ. und Schiller. Die poetische Übers. im Kontext der russ. Lit.). M. 2000; Imposti, G.: Translating and Transforming Literary Genres. From the Gerˇ .’s Russian „Ballada“. In: La quesman Ballad to Z tione romantica 1,2 (2009) 83⫺98. ⫺ 6 Lauer, R.: Geschichte der russ. Lit. Mü. 2000, 142⫺144; Giesemann, G.: Drei Frauen ⫺ drei Charaktere. In: Itinera slavica. Festschr. R.-D. Kluge. Mü. 2002, 103⫺ 112. ⫺ 7 Ajzikova, I. A.: Neopublikovannaja proza V. A. Zˇukovskogo (iz tetradej, sostavlennych dlja zanjatij s Velikoj Knjaginej Aleksandroj Fedorovnoj) (Die unpublizierte Prosa von V. A. Zˇ. [aus Heften, zusammengestellt für den Unterricht der Großfürstin Alexandra Fedorovna]). In: Vestnik Tomskogo gosudarstvennogo universiteta (2003) H. 227, 121⫺ 124. ⫺ 8 Slovo o polku Igoreve v perevode Al. Serg.
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Zunge
Pusˇkina (Die Erzählung über den Heerzug Igors in ˇ tenija v imperaÜbers. von Al. Serg. Pusˇkin). In: C torskom obsˇcˇestve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom universitete (1882) H. 2, I⫺IX, 1⫺ 16. ⫺ 9 Weise, K.: V. A. Zˇ. als Interpret des span. Cid-Poems in Russland. In: Rumänisch und Romanisch. Festschr. R. Windisch. Rostock 2003, 261⫺ 292. ⫺ 10 Detskij sobesednik (1826) H. 2, 95⫺124; Eleonskaja, E.: Zˇ. ⫺ perevodcˇik skazok (Zˇ. ⫺ Märchenübers.). In: Russkij filologicˇeskij vestnik (1913) H. 3, 161⫺170. ⫺ 11 Gordon, K.: Unters.en zum russ. romantischen Versmärchen. Hildesheim/Zürich/N. Y. 1983, 163 sq. ⫺ 12 ibid., 175. ⫺ 13 Afanas’ev, num. 168. ⫺ 14 Gordon (wie not. 11) 190. ⫺ 15 ibid. ⫺ 16 Varvarakrasa, dlinnaja kosa (Die schöne Varvara mit dem langen Zopf). UdSSR 1969 (Regie Aleksandr Rou).
Göttingen
Anastasija Au
Zunge. Nach gängigen Vorstellungen ist die Z. der alleinige Sitz der Sprechfertigkeit. Als solcher wird sie in der Kulturgeschichte, die mit ihrer Erzählgeschichte weitgehend identisch ist, vornehmlich wahrgenommen, denn oft, etwa in Mythos und Religion, werden Z. und Sprache, nicht selten untrennbar, aufeinander bezogen; cf. z. B. engl. ,tongue‘ mit der Doppelbedeutung Z. und Sprechvermögen/ Sprache1. Bes. die Artikulation gilt als Leistung der Z. (cf. J Z.nbrecher). In der Erzählliteratur und in der Symbolik erweist sie sich als bedeutender, überaus machtvoller, auch geschmeidiger, oft sehr ambivalent bewerteter Körperteil2. In einer jüd. Rangstreitfabel3 beansprucht jedes Glied des Körpers, allen anderen übergeordnet zu sein, da von seiner Leistung alle abhängig seien (J Magen und Glieder). Als eindeutig überlegene Siegerin geht die Z. hervor, die eindrücklich beweist, daß sie als einziges Werkzeug menschlicher Sprache durch ihr Tun über Leben und Tod entscheiden kann: Dem durch die Z. boshaft provozierten, den Herrscher beleidigenden Mißverständnis folgt das Todesurteil, das selbstverständlich alle Glieder betreffen würde; die Strafe wird erst aufgehoben, als die Z. den Herrscher über das Mißverständnis aufklärt. Die Fabel dient auch als Illustration zu Spr. 18,21 („Tod und Leben stehen in der Macht der Z.“)4. In einer Erzählung der Vita Aesopi, die einer jüd. Erzählung nahesteht5, wird der Sklave J
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Äsop ausgeschickt, auf dem Markt das beste zu kaufen, das es gibt; ein anderes Mal soll er das schlechteste bringen. Beide Male trägt er Z.n herbei und löst dieses Paradoxon folgendermaßen auf: Die Z. stelle das Höchste und Niedrigste zugleich dar; einerseits sei sie die Grundlage von Weisheit, Kunst und Handel, andererseits die Quelle allen Übels und aller Verderbnis, von Hochmut, Mißgunst, Zwietracht, Streit und Feindschaft6. Sogar kosmogonische Geltung kommt der Z. in einem altägypt. Mythos zu, in dem J Herz und Z. als Schöpfungsorgane des Schöpfergottes fungieren; sie stehen für optimal zusammenwirkend gedachtes Denken und Sprechen7. Alles Erzählen von wirkmächtigen Z.n geht von der implizierten Bedeutung mündl. J Kommunikation aus, die für spätere schriftlastigere Kulturen nicht immer selbstverständlich sein muß. Als ,Medium‘ des Heiligen, als Bindeglied zwischen Gott und den Menschen, begegnet die Z. im religiösen Erzählen. Sie ist Ort gottgefälligen Sprechens, bes. der Gottespreisung (Ps. 126,2). Das pfingstliche Zeichen der Herabkunft des Hl. Geistes sind Feuerzungen; diese lassen sich auf den Häuptern der versammelten Apostel nieder, die daraufhin in fremden Sprachen (Z.n) sprechen können (Apg. 2,3 sq.)8. Weitaus häufiger jedoch, so in Sprichwort, Redensart, (warnendem) Exemplum, Emblematik und humoristischer Kurzprosa, steht die Z. für die negativen Seiten des Sprechens, für unbedachtes törichtes Reden, das dringend der Zügelung durch die Vernunft bedarf, für Lüge, Täuschung und Verstellung (cf. Ausdrücke wie ,doppelzüngig‘ und ,mit gespaltener Z. reden‘), Schmeichelei, Heuchelei, aggressives und verletzendes Sprechen (scharfe, spitze Z.), J Verleumdung und J Geschwätzigkeit9. Letztere wird in mehr oder minder misogynen Geschichten über die Z.10 als frauentypisch verspottet (cf. AaTh/ATU 1351 A*: J Z. gesucht). Die Volksliteratur kennt auch das Manipulieren, etwa das Feinhämmern der Z. zur Verschleierung der Identität: In AaTh/ATU 327 F: J Hexe und Fischerjunge macht die Hexe den Fischerjungen so glauben, sie sei seine Mutter11; in Var.n von AaTh/ATU 123: J
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Wolf und Geißlein verschafft sich der Wolf mit Hilfe dieser List Zugang zu seinen Opfern12. Nicht nur in verbaler, sondern auch in körpersprachlicher Hinsicht kann die Z. negativ besetzt sein. So begegnet die herausgestreckte Z. als Spottgebärde (ursprünglich wohl als Abwehrgebärde)13. In der chin. Erzähltradition erschrecken die Geister der Erhängten die Lebenden durch ihre weit heraushängenden Z.n14. In Tibet kommt dem Herausstrecken der Z. jedoch eine positive Bedeutung als Willkommensgruß zu, bes. als Zeichen des Respekterweisens gegenüber Höherstehenden15. Von alters her zählt das Herausreißen oder Herausschneiden der Z. als schmerzhafte, oft todbringende Verstümmelung zu den bes. grausamen J Folterarten oder Körperstrafen. Im Sinne einer spiegelnden J Strafe wird die Z. beschädigt, wenn sie (bei Meineid [J Eid, Meineid], Verrat, Verleumdung) Instrument oder Vehikel bzw. Ort des Vergehens war: Gleiches soll mit Gleichem vergolten werden (analoge J Talion)16. So werden J Frevler und Lästerer in christl. Legenden und Exempla mit einer faulenden, nach ihrem Tod mit einer schwarzen und verbrannten Z. bestraft17. Umgekehrt werden in christl. Wundererzählungen Verletzungen der Z. bei Gottesfürchtigen und Heiligen geheilt, abgeschnittene oder abgebissene Z.n wieder eingesetzt18. Gute Taten, die mit Hilfe der Z. vollbracht wurden, werden nach dem Tod mit der J Unverweslichkeit der Z. belohnt19, so im Falle des hl. J Johannes von Nepomuk, der das ihm als Beichtvater auferlegte Schweigegebot auch unter Folter einhält (redensartlich ,sich lieber die Z. abbeißen‘)20. Durch Heraustrennen der Z. werden Menschen auf drastische Weise zum J Schweigen gebracht (J Stumm, Stummheit): Im griech. Mythos schneidet Tereus der von ihm vergewaltigten Philomela die Z. ab, damit sie niemandem von seiner Tat berichten kann (Ovid, Metamorphosen 6,556⫺560)21; J Märtyrer in christl. Legenden sollen auf diese Weise am Gottesbekenntnis gehindert werden (legendentypisch wundersam bewahren sie dennoch ihre Sprechfertigkeit)22; in Schwänken wird so verhindert, daß der dumme Räuber seine Kumpane herbeirufen kann23. Auch Natursagen nennen als Grund, warum einige Tiere keine
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oder eine versehrte Z. haben, oft deren Verstümmelung24. Selbstverstümmelung zur Bewahrung der Keuschheit liegt vor, wenn sich in einer Heiligenlegende ein Märtyrer gegen die Anfechtungen der Wollust wehrt, indem er sich seine Z. abbeißt und sie der Frau, die ihn versuchen will, ins Gesicht spuckt (cf. AaTh/ATU 706 B: Die keusche J Nonne)25. Als Teil des J Mundes (cf. auch AaTh/ATU 2204: The Dog’s Cigar) kommt der Z. generell sexuelle Bedeutung zu26. In einer Schwankerzählung wird einer Ehebrecherin zur Strafe die Z. abgebissen27. Dem Drachentöter, der die Jungfrau aus der Gefangenschaft des Ungeheuers erlöst, dient die Z., die er dem besiegten, märchentypisch oft siebenköpfigen und daher siebenzüngigen J Drachen (in Var.n dem Riesen) herausgeschnitten hat, als J Erkennungszeichen, oft auch ,Wahrzeichen‘28 genannt. In der prototypischen Erzählhandlung weist sich der Drachentöter, indem er die abgeschnittenen Z.n (auch zusammen mit Andenken der Prinzessin) vorzeigt, als der wahre Bezwinger aus. Er überführt seinen Gegenspieler, einen J Usurpator, der behauptet, das Ungeheuer bewältigt zu haben, jedoch nur die Drachenköpfe, nicht aber die Drachenzungen vorweisen kann, als Betrüger. An einen ursprünglichen Jagdzauber erinnern die Forderungen der Auftraggeber(innen) eines Mordes, als Beweis für die Tötung ihrer Opfer die Z. der Toten herbeizubringen29: Aus Mitleid mit den Unschuldigen wird der Tötungsbefehl nicht ausgeführt und ersatzweise die Z. eines getöteten Tieres gezeigt (cf. J Tierherz als Ersatz). Relativ selten begegnet die Z. in Erzählungen von Täuschungen, Übertölpelungen und Bestrafungen, in denen Körperteile heimlich verzehrt (cf. AaTh/ATU 785: J Lammherz) oder vielfältig traktiert, z. B. abgebissen werden (cf. AaTh/ATU 838: J Sohn am Galgen). Vor allem wenn es nicht um Verfehlungen oder Symbolwerte der Z. geht, oder wenn es sich um konturenarme Mischerzähltypen handelt, ist die Z. ein austauschbares Requisit und oft nur Var. eines ansonsten häufiger vorkommenden Körperteils (Nase, Ohr in AaTh/ATU 838, Herz in AaTh/ATU 785). Dies gilt auch für das Einklemmen der Z. des Unholds oder der Hexe zum Zwecke der Bändigung in AaTh/ATU 1143: cf. J Einklemmen unholder Wesen30.
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The Oxford English Dict. 11. Ox. 1933 (Nachdr. Ox. 1961), 128⫺131, bes. 128. ⫺ 2 Jeggle, U.: Der Kopf des Körpers. Eine volkskundliche Anatomie. Weinheim/B. 1986, 29 sq., 160, 166; Lurker, M. (ed.): Wb. der Symbolik. Stg. 51991, 856 sq. ⫺ 3 Wesselski, MMA, 242 sq.; Bin Gorion, M. J.: Der Born Judas 1. Wiesbaden 1959, num. 22; cf. Chavannes 3, num. 439. ⫺ 4 cf. auch Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 31987, 436⫺438. ⫺ 5 cf. Schwarzbaum, Fox Fables, XVIII, XLVI, 309 sq. ⫺ 6 Perry, B. E.: Aesopica 1. Urbana, Ill. 1952, 121⫺123; Österley, H. (ed.): Steinhöwels Äsop. Stg. 1873, 19 sq., 53⫺55; Tubach, num. 4916, cf. auch num. 4898; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1040. ⫺ 7 Ku[rth], D.: Z. In: Lex. der Ägyptologie 6. Wiesbaden 1986, 1425⫺1427. ⫺ 8 Seeliger, S.: Pfingsten. In: LCI 3 (1990) 415⫺423. ⫺ 9 Wander 5, 630⫺644; Henkel, A./Schöne, A. (edd.): Emblemata. Stg. 1967, s. v. Z.; Tubach, num. 4898⫺4916; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 582; Röhrich, Redensarten 3, 1778⫺ 1781; cf. auch ibid. 1, 326. ⫺ 10 Pauli/Bolte 1, num. 137 sq. ⫺ 11 BP 1, 42; Kerbelyte˙, B.: Litau. Volksmärchen. Wiesbaden 1978, num. 33. ⫺ 12 Hahn 2, num. 85 (griech.); cf. Kerbelyte˙ (wie not. 11) num. 36. ⫺ 13 Röhrich, Redensarten 3, 1780. ⫺ 14 Eberhard, W.: Erzählungsgut aus Südost-China. B. 1966, 193, 219 sq., 239. ⫺ 15 Tafel, A.: Meine Tibetreise. Eine Studienfahrt durch das nordwestl. China und durch die innere Mongolei in das östl. Tibet. Stg./B./Lpz. 2 1923, 359; Everding, K.-H.: Tibet: Lamaistische Klosterkulturen, nomadische Lebensformen und bäuerlicher Alltag auf dem „Dach der Welt“. Köln 1993, 26. ⫺ 16 Quanter, R.: Die Leibes- und Lebensstrafen bei allen Völkern und zu allen Zeiten. Lpz. 2 1906 (Neudr. Aalen 1970), 287⫺295. ⫺ 17 Tubach, num. 4905⫺4907; Brückner, 499; Hahner, G.: Der Exempelgebrauch im Lauretanum Mariale des Laurentius Lemmer, Würzburg 1687. Würzburg 1984, num. 106. ⫺ 18 Tubach, num. 4567, 4901, 4914; Brückner, 216; Hahner (wie not. 17) num. 87. ⫺ 19 Brückner, 226. ⫺ 20 Moser, D.-R.: Verkündigung durch Volksgesang. B. 1981, 258 sq. ⫺ 21 Wa[ldner], K.: Prokne. In: DNP 10 (2001) 388 sq. ⫺ 22 Günter 1949, 145; Legenda aurea/Benz, 765. ⫺ 23 Hahn 1, num. 34 (griech.); BP 1, 526; Cammann, A.: Märchenwelt des Preußenlandes. Schloß Bleckede 1973, 284⫺287. ⫺ 24 cf. z. B. Dh. 1, 281 sq.; ibid. 3, 28 sq., 147 sq. ⫺ 25 Legenda aurea/Benz, 111; Delehaye, H.: Les Le´gendes hagiographiques. Brüssel 41955, 34; Tubach, num. 4911; Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. B./N. Y. 1981, 36 sq. (cf. auch Reg., s. v. Z. ). ⫺ 26 Borneman, E.: Sex im Volksmund. Reinbek 1971, Wb. und Reg. s. v. Z. . ⫺ 27 Schumann, V.: Nachtbüchlein (1559). ed. J. Bolte. Tübingen 1893, num. 3. ⫺ 28 Leyen, F. von der: Die Welt der Märchen 1⫺2. Düsseldorf 1953/ 54, t. 1, 24, 84, 90; t. 2, 243. ⫺ 29 Propp, V.: Die hist. Wurzeln des Zaubermärchens. Mü./Wien 1987,
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344. ⫺ 30 Müller-Lisowski, K.: Ir. Volksmärchen. MdW 1923, num. 24.
Berlin
Werner Bies
Zunge gesucht (AaTh/ATU 1351 A*), zu den Eheschwänken und -witzen gehörender Erzähltyp, in dem genretypisch auf die Redegewandtheit bzw. J Geschwätzigkeit der Frauen angespielt wird. Nach einem Streit spricht ein Ehepaar nicht mehr miteinander. Nach zwei Tagen (Wochen, einem Monat, langer Zeit) zündet der Mann eine Kerze (Laterne) an und beginnt, Haus und Hof (Kommodenschublade, Schrank) gründlich zu durchsuchen. Irgendwann siegt die J Neugier der Frau, und sie fragt, was der Mann denn suche. Die Antwort lautet: ,Deine Z. (Sprache, Stimme, Mund)!‘
AaTh/ATU 1351 A* ist seit dem 17. Jh. aus dt. und ndl. Schwanksammlungen überliefert, so etwa bei Odilo J Schreger oder Julius Wilhelm J Zincgref 1. Im 19. Jh. wurde die Erzählung als Kalendergeschichte tradiert2. Aus mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s wurde der Erzähltyp in weiten Teilen Europas aufgezeichnet; im einzelnen liegen finn., lett., ndl., fries.3, fläm., dt., schweiz., ital., ung.4 und tschech.5 Belege vor. Viele Var.n beziehen ihre Pointe zusätzlich daraus, daß die Bezeichnungen für Z. und Sprache in der jeweiligen Sprache homonym sind. Die finn. und karel. Var.n sind in vier Versionen (je zwei westl. bzw. östl.) differenziert worden, deren gemeinsames Motiv die Suche nach der Z./Sprache bzw. allg. einem Wort ist. Während die eine der westfinn. Versionen im wesentlichen der Grundform entspricht, sucht in der anderen ein Finne, der zu Gast in einem schwed.sprachigen Haus ist, nach der finn. Sprache. Analog dazu sucht in den ostfinn. Versionen ein Fremder den ihm verweigerten Gruß bzw. die Schwiegermutter die angemessene Anrede durch die Schwiegertochter6. Der Hauptakteur von AaTh/ATU 1351 A* ist überwiegend der Mann, der die Neugier seiner Frau so lange reizt, bis diese über deren Sturheit oder Ärger siegt; nur selten wendet eine Frau diese List an7. Meist ist ein Streit oder die Kritik des Mannes, daß die Frau zu viel rede, die Ursache für das Schweigen. Gelegentlich spricht die Frau aus Ärger über die Trunksucht ihres Mannes nicht mit ihm8.
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Zungenbrecher
In einer ndl. Var. dient der inhaltlich ähnlich verlaufende Erzähltyp AaTh/ATU 1351: J Schweigewette als Einleitung9: Ein Ehepaar beschließt, daß derjenige, der zuerst redet, eine geliehene Pfanne zurückgeben muß. Jeder geht schweigend seiner Arbeit nach. Schließlich beginnt der Mann mit einer Lampe überall zu suchen, bis die Frau fragt, was er denn suche. 1 Moser-Rath, Schwank, 315; Overbeke, A. V.: Anecdota sive historiae jocosae. Amst. 1991, num. 1580. ⫺ 2 EM 7, 874. ⫺ 3 Kooi, J. van der: Volksverhalen uit Friesland. Utrecht/Antw. 1979, num. 5; id./ Meerburg, B. A. G.: Fries. Märchen. MdW 1990, num. 87; Poortinga, Y.: It fleaned skip. Folksforhalen fan Stefen de Bruin. Ljouwert 1977, num. 40. ⫺ 4 ´ .: König Ma´tya´s und die Ra´to´ter. Lpz./ Kova´cs, A Weimar 1988, num. 124. ⫺ 5 Simonides, D.: Skarb w garncu. Opole 1979, num. 12. ⫺ 6 Rausmaa, SK 6, 456. ⫺ 7 EM-Archiv: Zincgref-Weidner, Apophthegmata 3 (1653) 310; Harpagiander, Lexicon (1718) 393, num. 1941; Overbeke (wie not. 1); van der Kooi (wie not. 3). ⫺ 8 Grannas, G.: Volk aus dem Ordenslande Preußen erzählt. Marburg 1960, num. 85; Kapfhammer, G.: Bayer. Schwänke. Düsseldorf/Köln 1974, 105; Kooi, J. van der/Schuster, T.: Der Großfürst und die Marktfrau. Leer 1994, num. 115 (oldenburg.). ⫺ 9 van der Kooi/Meerburg (wie not. 3); cf. Dekker/van der Kooi/Meder, 417.
Göttingen
Johanna Ella
Zungenbrecher, Sprachspiel (J Wortspiel), das auf der Kombination von nacheinander schwer zu artikulierenden Lauten basiert, die möglichst schnell und/oder mehrfach hintereinander gesprochen werden müssen. Syntaktisch weisen Z. Ähnlichkeiten zu Sprichwörtern und Redensarten auf 1. Sie bedienen sich meist der Wiederholung einer begrenzten Anzahl dominanter Konsonanten, oft als Alliterationen, und wurden daher auch als Zungenund Sprechübung, Zungenwetzer2 oder Wortakrobatik3 bezeichnet. Z. sind kurz, ihre Inhalte ganz der Funktion untergeordnet und daher nur begrenzt sinnhaft (J Nonsens). Häufig finden sie in Form eines Wettbewerbs Anwendung4, dann wird z. B. gezählt, wie oft ein Z. in einem Atemzug wiederholt werden kann5. Darüber hinaus erscheinen sie in weiteren Kontexten und haben eine Reihe anderer Funktionen. So dienen Z. dem Üben von Zungenfertigkeit und werden daher u. a. von
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Schauspielern und Erzählern genutzt6. Bei den Crow-Indianern Nordamerikas z. B. werden Z. mit Rätseln verbunden7. Im Englischen können sie die Form von Limericks annehmen: „When a jolly young fisher named Fisher,/ Went fishing for fish in a fissure,/ A fish with a grin/ Pulled the fisherman in./ Now they’re fishing the fissure for Fisher.“8 Z. werden häufig mit erotischen und sexuellen Inhalten verbunden9. Sie können dazu benutzt werden, eine Person mit harmlos wirkenden Zungenübungen dazu zu bringen, unwillentlich Anstößiges zu sagen: So bei der Wiederholung von „Im dichten Fichtendickicht wachsen dicke Fichten dicht an dicht“; die schnelle Repetition von „Hirsch heiß ich“ erzeugt einen ähnlichen Effekt mit fäkalem Bezug. Auch Häufungen von Homonymen, deren Artikulation nicht unbedingt schwierig ist, können als Z. aufgefaßt werden, z. B. „Wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen nach“10. Derartige Z. können nach dem Alphabet angeordnet sein bzw. sich vorrangig an bestimmten Buchstaben orientieren11. Derselbe Z. kann von einer Basisversion über immer anspruchsvollere Zwischenstufen zu einer hochkomplizierten Endform gesteigert werden: Aus „Three witches watch three Swatch watches. Which witch watches which swatch watch?“ wird „Three Swiss witchbitches, which wished to be switched Swiss witchbitches, wish to watch three Swiss Swatch watch switches. Which Swiss witchbitch which wishes to be a switched Swiss witchbitch, wishes to watch which Swiss Swatch watch switch?“12 Z. finden sich mitunter auch im Lied13, so z. B. im Kanon Heut kommt der Hans zu mir in der refrainartigen Passage „Ob er aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau oder aber überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiß“14. Eine Sonderform des Z.s ist der ,Sprachtest‘15. Dabei soll ein Nichtmuttersprachler oder Dialektunkundiger typische, aber schwer auszusprechende Wörter oder Sätze des jeweiligen Idioms korrekt aussprechen. Diese Sprechübung stellt die Einzigartigkeit einer Mundart oder Sprache mit einem gewissen Stolz in den Vordergrund. Der Spaß ergibt sich aus der Konstellation Könner ⫺ Nichtkönner, wobei ein wenig Schadenfreude auf Seiten des ersteren über die Unfähigkeit des
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Zungenbrecher
letzteren mitschwingen mag. Im schott. „It’s a bra bright night this night“ geht es um das Zungen-R und das als gutturales ,ch‘ gesprochene ,gh‘, die für Engländer eine Schwierigkeit darstellen. Im Niederländischen wird die richtige Aussprache von „Uibe uit Scheveningen“ geprüft. Im Schweizerischen erscheint die Aussprache der landschaftlich variierenden Begriffe „Chäschüechli“ (Käsekuchen) und „Chuchichäschtli“ (Küchenschrank) für Ausländer schwierig. Im Dänischen bildet „Rødgrød med fløde“ (Rote Grütze mit Sahne) einen beliebten Sprachtest, im Deutschen das „Streichholzschächtelchen“. Gelegentlich dominiert auch das reine Klangspiel, so im Oberpfälzischen auf die Frage, wo ein Blumenstock am günstigsten hinzustellen sei: „Do dadia da. Do dadia da a. Do dada da a dadian.“ (Da verdorrt er dir. Da verdorrt er dir auch. Da würde er dir auch verdorren.) Ein ähnlich gelagertes Beispiel stammt aus Polen: „Kro´l Karol kupit kro´lowej Karolinie korale koloru koralowego.“ (König Karl kaufte Königin Karoline korallenrote Korallen.) Im Tschechischen kennt man ein charakteristisches Beispiel ganz ohne Vokale: „Strcˇ prst skrz krk.“ (Steck den Finger durch den Hals.) Das Türkische jongliert mit Umlauten: „Üc¸ küc¸ük öpüc¸ük.“ (Drei kleine Küsse.) Ein sehr alter Beleg für einen Sprachtest findet sich im A. T. (Ri. 12, 4⫺6): Um die Gegner aus Ephraim an der Flucht zu hindern, müssen alle, die einen der von den Männern aus Gilead besetzten Jordanübergänge passieren wollen, das Wort ,Schibboleth‘ sagen. Da die Ephraimiter kein ,sch‘ aussprechen können, wurden sie als Feinde identifiziert und getötet. Einem ähnlichen Test sollen die Franzosen während des Aufstands von 1282 (Sizilian. Vesper) durch die Sizilianer unterzogen worden sein: Diese ließen sie das Wort ,ceciri‘ (Kichererbse) aussprechen16. Die weitgehend der mündl. Überlieferung zuzurechnende Gattung des Z.s hat in der Forschungsliteratur kaum Beachtung gefunden. Entsprechende Kompilationen sind teilweise völlig unkommentiert und kommen ohne Herkunftsnachweise aus17. Das mit Abstand umfangreichste Material findet sich im Internet, wobei reine Slgen von Z.n rar sind. Zahlreich vertreten sind Z. in Slgen von J Kinderfolklore18. I. und P. Opie bezeichneten sie als be-
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liebtestes Wortspiel der Kinder19, vielleicht als Reminiszenz an die Schwierigkeiten des frühkindlichen Spracherwerbs. In gemischten, nicht altersbezogenen Slgen sind Z. eher ein Nebenprodukt20. Obwohl einzelne Überlieferungsträger in der Regel nur wenige Stücke kennen, kann es regional durchaus eine Fülle von Z.n geben: A. J Senti hat z. B. für das schweiz. Sarganserland 45 Belege gesammelt21. Bedingt durch seine ohne Funktionsverlust nur schwer veränderbare Form, zeigt der Z. eine erstaunliche Konstanz und Resistenz gegenüber Variation. I. und P. Opie konnten einen Z. („Peter Piper picked a peck of pickled peppers“) bis 1797 zurückverfolgen22. Hist. Belege gehen bis ins 15. Jh. zurück23. Der bekannteste dt.sprachige Z. ist „Fischers Fritz fischt frische Fische“. Er findet sich in fast allen entsprechenden Slgen, auch wenn diese mehrheitlich eher regionale Sammelschwerpunkte haben. 1 Permjakov, G. L.: From Proverb to Folk-Tale. M. 1979, 88. ⫺ 2 Senti, A.: Reime und Sprüche aus dem Sarganserland. Basel 1979, 53. ⫺ 3 Bausinger (21980), 85. ⫺ 4 Stoll, E.: Kinder- und Volkslieder, Reime und Sprüche aus Stadt und Kanton Bern. Zürich 1907, 41. ⫺ 5 Züricher, G.: Kinderlied und Kinderspiel im Kanton Bern. Zürich 1902, 95. ⫺ 6 Kober, N.: Die Könnerschaft mündl. Erzählkunst. Diss. Augsburg 2008, 78⫺85, 150. ⫺ 7 Lowie, R. H.: Crow Raid-Speech Puzzles. In: JAFL 27 (1914) 330 sq. ⫺ 8 Schöne, A.: Engl. Wortspiele und Sprachscherze. Bonn 21978, 12. ⫺ 9 Mook, M. A.: Tongue Tanglers from Central Pennsylvania. In: JAFL 72 (1959) 291⫺296; Brunvand, J.: „Sarah“. A Tongue-Twister Song. ibid., 296 sq.; Porter, K.: Further Reflections on Pennsylvania Tongue Twisters. ibid., 253; Gaignebet, C.: Le Folklore obsce`ne des enfants. P. 21980, 15, 315. ⫺ 10 Senti (wie not. 2) num. 393. ⫺ 11 Higginson, T. W.: [On the Letter F. in an Alphabet Verse Tongue Twister]. In: JAFL 5 (1892) 147 sq.; Guggenmos, J.: Es las ein Bär ein Buch im Bett. Z. von A bis Z. Recklinghausen 1978. ⫺ 12 Archiv R. Wehse. ⫺ 13 Brunvand (wie not. 9). ⫺ 14 Schulten, G. (ed.): Der Kilometerstein. Wolfenbüttel/Bad Godesberg 24[ca 1980], 48. ⫺ 15 Brucker, B.: Zwölf zünftige Zipfelmützenzwerge. Z. und Schüttelreime. Bindlach 2005, 117⫺130. ⫺ 16 Runciman, S.: The Sicilian Vespers. Cambr. 1958, 212. ⫺ 17 z. B. Schwartz, A.: A Twister of Twists, a Tangler of Tongues. Tongue Twisters. (Phil. 1972) L. 1974; id.: Buzzing Bumblebees and Other Tongue Twisters. N. Y. 1982. ⫺ 18 Brenner, A.: Basler. Kinder- und Volksreime aus der mündl. Überlieferung gesammelt. Basel (1856) 2 1902, 84; Rochholz, E. L.: Alemann. Kinderlied
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Zur Mühlen, Hermynia
und Kinderspiel aus der Schweiz. Lpz. 1857, bes. 25, 28, 32; Rolland, R.: Rimes et jeu de l’enfance. P. 1883; Hewins, C. M./P[otts], W. J.: Peter Piper versus Peter Pipernus. In: JAFL 5 (1892) 241; Potts, W. J.: Peter Piper’s Proper Pronunciation of Perfect English versus Peter Pipernus. ibid., 74⫺76; Züricher (wie not. 5); Stoll (wie not. 4); Fiechtner, F.: Volks- und Kinderreime der Deutschen aus Bessarabien. Stg. 1949; Gaignebet (wie not. 9); Ketelsen, B.M.: Kinder- und Jugendspiele aus Schleswig-Holstein. Husum 1980, 54; Große Holtforth, I.: Gudrun das Truthuhn u. a. tierische Z. Stg. 2010. ⫺ 19 Opie, I. und P.: The Lore and Language of Schoolchildren. L./Ox./N. Y. (1959) 1973, 30. ⫺ 20 Pitre`, G.: Indovinelli, dubbi, scioglilingua del popolo siciliano. Turin/ Palermo 1897; McAllester, D. P.: Riddles and Other Verbal Play among the Comanches. In: JAFL 77 (1964) 251⫺257; Emrich, D.: The Nonsense Book of Riddles, Rhymes, Tongue Twisters, Puzzles, and Jokes from American Folklore. N. Y. [1970]. ⫺ 21 Senti (wie not. 2). ⫺ 22 Opie (wie not. 19) 30. ⫺ 23 Rochholz (wie not. 18) 32; Leland, C.: Possible Origins of a Nursery Rhyme. In: JAFL 4 (1891) 170 sq.
Reichertshausen
Rainer Wehse
Zur Mühlen, Hermynia (geb. Herminie Isabella Maria Folliot de Crenneville; Pseud.e Maria Berg, Lawrence H. Desberry, Traugott Lehmann, Franziska Maria Rautenberg), *Wien 12. 12. 1883, † Radlett, Hertfordshire 20. 3. 1951, österr. Schriftstellerin, Publizistin und Übersetzerin. Nach bestandenem Examen als Volksschullehrerin (1901) wurde ihr von den Eltern die Ausübung des Berufs als nicht standesgemäß untersagt. Ab 1890 unternahm sie mit den Eltern, vor allem mit ihrem Vater, dem Diplomaten Viktor de Crenneville, Reisen in zahlreiche Länder Europas, Nordafrikas und des Nahen Ostens; 1908 heiratete sie einen dt. Gutsbesitzer. Nach ihrer Scheidung (1913) und einer Lungenerkrankung (1914) hielt sich Z. M. überwiegend in der Schweiz auf, wo sie während des 1. Weltkriegs im Kontakt mit revolutionären Emigranten stand. Nachdem Z. M. 1919 zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dem ung. Übersetzer S. I. Klein, von Davos nach Frankfurt am Main übergesiedelt war, schloß sie sich der kommunistischen Partei an und entfaltete eine rege Tätigkeit als Publizistin und Übersetzerin amerik., engl., frz. und russ. Lit. (u. a. Leonid Andre’ev, Jerome K. Jerome, Upton Sinclair, Hugh Seymour Walpole)1. Daneben entstan-
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den eigene Erzählungen und ⫺ teilweise autobiogr.2 ⫺ Romane, Kriminalromane (unter Pseud.), Kurzgeschichten, Hörspiele und sozialkritische Märchen. 1933 ging Z. M. zunächst nach Wien, wo sie zunehmend Distanz zur kommunistischen Partei entwickelte, 1938 emigrierte sie in die Tschechoslowakei und ⫺ nach kurzem Aufenthalt in Budapest ⫺ ein Jahr später nach England, wo sie bis zu ihrem Tod zusammen mit Klein in ärmlichen Verhältnissen in der Nähe Londons lebte. Mit ihren über zwei Dutzend zwischen 1920 und 1930 entstandenen Märchen, die in der dt. linksrevolutionären Presse sowie in Buchausgaben veröffentlicht wurden und bis in die 1930er Jahre zahlreiche fremdsprachige Ausg.n erfuhren3, zählt Z. M. zu den führenden Autoren der proletarischen Kinder- und Jugendliteratur. Die dt. Ausgaben wurden von prominenten Avantgarde-Künstlern wie George Grosz, John Heartfield, Karl Holtz, Rudolf Schlichter oder Heinrich Vogeler illustriert. Die durchwegs von politisch-aufklärerischen Intentionen geprägten Erzählungen knüpfen in der Wahl ihrer Stoffe und Motive an Volksmärchen, Kunstmärchen und literar. Zeitströmungen an und konstruieren daraus kritische Parabeln über den Kapitalismus, die bürgerliche Gesellschaft und die Möglichkeiten, sie zu überwinden4. So wird etwa in Ali, der Teppichweber in oriental. Einkleidung auf AaTh/ATU 555: J Fischer und seine Frau Bezug genommen, um die Folgen der Ausbeutung von Lohnarbeit zu demonstrieren (J Sozialkritik)5. Das Märchenstück Aschenbrödel wiederum greift auf den Erzähltyp AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella zurück, um die Solidarität aller unterdrückten ,Schwestern‘ zu evozieren6, und Der Knecht kann als kollektivistische Var. von AaTh/ATU 565: J Wundermühle gelesen werden7. Daneben finden sich häufig Variationen bibl. Motive, so etwa in Said, der Träumer, einem Märchen, dessen Protagonist eine kritische Anspielung auf den christl. Messias darstellt8, oder in Die drei Freunde, einer Parodie der Weihnachtsgeschichte, in der die Arbeiter Kaspar, Melchior und Balthasar (cf. Hll. J Drei Könige) einem roten Stern folgen, der sie zur „glücklichen Stadt der Werktätigen“ führt9. Nicht wenige Erzählungen tragen deutlich expressionistische Züge10. Am auffällig-
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Zweig: Der grünende Z.
sten ist jedoch der Einfluß J Andersens, erkennbar nicht zuletzt an den sprechenden Tieren, Pflanzen und Gegenständen, die in Z. M.s populärstem Märchenband Was Peterchens Freunde erzählen über die Gesellschaft und deren notwendige Veränderung aufklären11. In der Weimarer Republik fanden Z. M.s Märchen vielfach positive Resonanz in der linken Lit.kritik und Pädagogik, wenngleich die agitatorische Note bisweilen auch negativ beurteilt wurde12. Der kommunistische Erziehungstheoretiker E. Hoernle wurde durch Z. M. zur Forderung nach einem neuen, klassenbewußt-proletarischen und industriellen Märchen inspiriert13. Nach 1945 gerieten Z. M.s Märchen in Vergessenheit, bis die 1968er Bewegung ihnen in der Bundesrepublik zu einer Renaissance im Kontext antiautoritärer und antibürgerlicher Erziehungskonzepte verhalf 14. Als die Forderung nach einer neuen, realistischen Kinderliteratur in den Vordergrund trat, wurde jedoch das Märchenkonzept Z. M.s erneut obsolet15. In der DDR wurden ihre Märchen nahezu ausschließlich in dokumentarisch angelegten oder bibliophilen Ausg.n nachgedruckt, nicht aber als Kinderund Jugendlektüre16. 1
Grünzweig, W./Schulz, S. (edd.): „Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen …“. Wieland Herzfelde, Upton Sinclair, H. Z. M. Briefwechsel 1919⫺ 1927. Bonn 2001. ⫺ 2 cf. vor allem Z. M., H.: Ende und Anfang. Ein Lebensbuch. B. 1929 (Nachdr. B./ Weimar 1976); ead.: Reise durch ein Leben. Bern/ Lpz. 1933. ⫺ 3 cf. Melzwig, B.: Dt. sozialistische Lit. 1918⫺1945. Bibliogr. der Buchveröff.en. B./Weimar 1975, 415⫺426; Altner, M.: H. Z. M. Eine Biogr. Bern 1997, 213⫺216. ⫺ 4 cf. Dolle-Weinkauff, B.: Das Märchen in der proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendlit. der Weimarer Republik 1918⫺1933. Ffm. 1984, 49⫺97; Wallace, A.: H. Z. M.: The Guises of Socialist Fiction. Oxford 2009. ⫺ 5 Z. M., H.: Ali, der Teppichweber. Fünf Märchen. Ill. von J. Heartfield. B. 1923, 9⫺15. ⫺ 6 ibid., 39⫺ 48. ⫺ 7 ibid., 25⫺33. ⫺ 8 cf. Z. M., H.: Said der Träumer. Ein Märchen. Ill. von R. Schlichter. B. 1927. ⫺ 9 Die drei Freunde. In: ead.: Das Schloß der Wahrheit. Ill. von K. Holtz. B. 1924, 49⫺54. ⫺ 10 Dolle-Weinkauff (wie not. 4) 27⫺48. ⫺ 11 Z. M., H.: Was Peterchens Freunde erzählen. B. 1921; cf. auch ead.: Der Rosenstock. B. 1922; ead.: Der Spatz. B. 1922; ead.: Der Besen. In: Holtz (wie not. 9) 41⫺45. ⫺ 12 cf. G. G. L. (i.e. Alexander, Gertrud): Lit. des Malik Verlags. In: Die rote Fahne (18.12.1920); Löwy, R.: Märchenbücher. In: Die sozialistische Erziehung 7,5 (1927) 105⫺111, hier
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110. ⫺ 13 cf. Hoernle, E.: Grundfragen proletarischer Erziehung. B. 1929 (Nachdr. ed. L. von Werder. Ffm. 1973), 101, 207 sq. ⫺ 14 cf. Möbius, H.: Revolutionäre Märchen der 20er Jahre. In: Kürbiskern 7,2 (1971) 267⫺270; Freiberger, M.: Gesellschaftliche Wirklichkeit und kindliche Phantasie. ibid. 10,1 (1974) 51⫺67; Dolle, B.: Widersprüche im entschwundenen Land. In: Kinder ⫺ Bücher ⫺ Medien 5 (1982) 17, 25⫺27. ⫺ 15 cf. Richter, D./Merkel, J.: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. B. 1974, 131⫺134; Dreher, I.: Die dt. proletarisch-revolutionäre Kinder- und Jugendlit. zwischen 1918 und 1933. B. 1975, 22⫺27. ⫺ 16 z. B. Z. M. 1921 (wie not. 11); Was Peterchens Freunde erzählen (wie not. 11); ead.: Die Märchen der Armen 1⫺4. B. 1923/24 (Nachdr. in einem Band Lpz. 1982); ead.: Das Schloß der Wahrheit. B. 1924 (Nachdr. 1983); ead.: Der Spatz. Märchen. ed. M. Altner. B. 1984.
Frankfurt am Main
Bernd Dolle-Weinkauff
Zweig: Der grünende Z., vorwiegend im Kontext jüd.-christl., z. T. auch islam. religiöser Überlieferung dokumentiertes Motiv, welches das wunderbare oder unerwartete Austreiben eines trockenen Stücks Holz betrifft (Mot. F 971.1). Da aus anscheinend trockenem Holz tatsächlich Stecklinge geschnitten werden, aus denen unter den entsprechenden Bedingungen Pflanzen wachsen, kann angenommen werden, daß das Motiv vom g.n Z. auf Beobachtungen natürlicher Vorgänge zurückgeht. Als ,Z.‘ gilt dabei auch bearbeitetes (d. h. vermutlich totes) Holz wie der Schaft einer Waffe oder eines Werkzeugs. In den ältesten Belegen für dieses Erzählmotiv erscheint der Z. als Stab und damit als Symbol der Befehlsgewalt und Macht seines Besitzers. So träumt Klytämnestra in Sophokles’ Tragödie Elektra (V. 417⫺423), daß ihr ermordeter Gatte Agamemnon von den Toten zurückkehrt und sein Zepter am Herd aufgepflanzt, wo es sich zu einem Gehölz auswächst, das ganz Mykene überschattet. Wie hier schlägt ein dürrer Stock oft Wurzeln und wird zu einem lebendigen J Baum1: Ein Olivenbaum im griech. Troizen soll aus der Keule des J Herakles entstanden sein, der sie gegen ein Bild des Gottes Hermes gelehnt hatte2. Ein von J Romulus geworfener, im Boden des Palatin verkeilter Speer soll zu einer Kornelkirsche geworden sein3. Der Dornbusch im engl. Glastonbury soll aus dem Wanderstab des J Joseph von Arimathia erwachsen sein und an
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Weihnachten und im Frühjahr (Ostern) Blüten getragen haben (cf. J Wintergarten)4. Nach einer anderen Legende entstand aus einem Z. vom Baum der Erkenntnis im Garten Eden (J Paradies) der Baum, der das Holz für das Kreuz J Christi lieferte (ATU 772: J Kreuzholzlegende)5. In Illustrationen zu mystischen Legenden des MA.s wird das Kreuz Christi zum J Lebensbaum, aus dem Blätter sprießen6. Ortssagen zufolge wurde der Platz für ein Gebäude (z. B. einen Tempel) gewählt, weil dort ein trockener Z. oder eine trockene Rute Wurzeln gebildet hat und ausgeschlagen sein soll7. J Moses und sein Bruder J Aaron besitzen einen Stab, der beim Streit um das Amt des Hohepriesters am selben Tag grünt, blüht und Mandeln trägt und dadurch Aaron als den von Gott auserwählten Priester kennzeichnet (Num. 17,16⫺26; J Erkennungszeichen). Ähnlich wird in der J Legenda aurea die Findung des zukünftigen Ehemanns der Jungfrau Maria beschrieben: Alle unverheirateten Männer des Stamms David werden aufgefordert, eine Rute zum Altar zu bringen; die Rute des Auserwählten werde zum Zeichen ergrünen und der heilige Geist sich in Gestalt einer Taube darauf niederlassen. Dies geschieht mit J Josephs Stab8. Gelegentlich erscheint ein g.r Z. in Gründungsmythen einer Dynastie. In aus Spanien und Osteuropa bekannten ma. Legenden stimmt ein Pflüger, z. B. der Westgote Wamba oder Prˇemysl von Böhmen (J Libussa), seiner Wahl zum König erst zu, nachdem sein in die Erde gepflanzter Stock (Rute) austreibt9. Die meisten Beispiele für austreibende Z.e finden sich seit dem 4. Jh. in den Viten von Heiligen (J Acta martyrum et sanctorum) und anderer religiöser Persönlichkeiten: Das sog. Stabwunder wird mit dem hl. Aninas, Sabinianus, Vedastus und Tresanus in Zusammenhang gebracht10. Solche Mirakel dienen der Glorifizierung von J Märtyrern, als Unschuldsbeweise (J Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit), Zeichen göttlicher Vergebung, Bestätigung der religiösen Berufung oder der Bischofswahl (cf. die funktionale Nähe zu Aarons blühendem Stab)11. In Legendenmärchen ist der grünende Stab ebenfalls Zeichen göttlicher Vergebung. Der Erzähltyp AaTh/ATU 756: The Three Green
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Twigs dient dabei als Sammeltyp für Erzählungen wie AaTh/ATU 756 A: Der selbstgerechte J Eremit, AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej und AaTh/ATU 756 C: Die zwei J Erzsünder, die schildern, wie ein Mann abscheuliche Verbrechen begeht, doch das Ergrünen eines trokkenen Z.es, Knüppels oder Stabs nach einer langen Zeit der J Buße und J Reue anzeigt, daß Gott die Sünden vergeben hat (J Elternmörder, cf. AaTh/ATU 755: J Sünde und Gnade). Manchmal pflegt der Sünder selbst den dürren Z., indem er Wasser für ihn herbeiträgt12: In einem ma. Exemplum soll ein Novize einen trockenen Ast täglich wässern; nach langer Zeit schlägt der Ast tatsächlich aus und belohnt den Gehorsam seines Pflegers13. In der J Tannhäuser-Legende bereut der Held sein Liebesverhältnis zu J Venus; der Stab des Papstes treibt Blüten und zeigt damit die Vergebung von Tannhäusers Sünden an ⫺ jedoch zu spät, denn dieser ist bereits zu seinem heidnischen Lebenswandel zurückgekehrt14. Nach einer erstmals im 9. Jh. nachgewiesenen Legende bereut Lot den mit seinen Töchtern im Zustand der Trunkenheit begangenen Inzest; J Abraham weist ihn an, drei brennende Fakkeln in die Erde zu pflanzen und so lange Wasser für sie herbeizutragen, bis sie austreiben15. In diesen jüd.-christl. und islam. Legenden erscheint ein g.r Z. als Zeichen der Absolution16. In einer Erzählung aus Israel erlegt ein Rabbi einem getauften Juden erst Buße für seine Sünden auf, als ein trockener Stab ergrünt17. In ähnlicher Ausprägung findet sich das Motiv im J Pan˜catantra: Ein Brahmane soll den Mord, den er begangen hat, sühnen, indem er einen Stößel in die Erde steckt und gießt, bis dieser austreibt; als er mit dem Stößel einen anderen Übeltäter tötet, ergrünt der Stößel am nächsten Tag18. Der Kontrast zwischen dem grünen und dem trockenen Baum, auf den in der Bibel Bezug genommen wird (Dan. 4,7⫺11; Mt. 21,18⫺22), steht in Verbindung mit dem Motiv des abgestorbenen Baums, der vor dem Ende der Welt wieder ergrünen soll (J Eschatologie; J Sibyllen, Kap. 3)19. Entsprechend werden im Volksglauben Bäume oder Pflanzen, die außerhalb der normalen Zeit blühen, mitunter als Zeichen des nahenden Todes aufgefaßt20.
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Zweigliedrigkeit ⫺ Zweikampf
Neuere Var.n greifen die Ereignisse der ma. Heiligenlegenden wieder auf, indem sie das Motiv vom Stabwunder als Zeichen göttlicher Vergebung adaptieren und mitunter direkt mit dem unerkannt in Erscheinung tretenden Christus in Verbindung bringen (J Erdenwanderung der Götter)21. In einer rumän. Erzählung ist es Gott selbst, der als Bettler verkleidet bei einem Reichen und einem Armen Einlaß begehrt; er belohnt den Armen, der ihn bewirtet hatte, und verheiratet später dessen Sohn mit der Tochter des Reichen, wozu er sich des Stabwunders bedient22. In populären Erzählungen wird das Motiv auch mit einfachen Menschen in Zusammenhang gebracht23: In einer kroat. Erzählung wird ein Wirt, der seine Gäste hinterhältig ermordet hat, von einem Pfarrer dazu gebracht, den Stiel einer Hacke solange mit Wasser, das er im Mund vom Brunnen herträgt, zu gießen, bis daraus ein Baum gewachsen ist, der Früchte trägt; als dies geschehen ist, stirbt der Mörder erlöst durch die Buße24. In humoristischer Wendung heißt es, das Grab J Eulenspiegels sei mit einem Pappelstock oder einem umgedrehten Lindenbaum (mit der Krone in der Erde und den Wurzeln gen Himmel) bepflanzt; als das Holz Blätter trägt, wird dies als Zeichen dafür verstanden, daß der Unheilstifter in den Himmel gekommen ist25. 1
Barry, P.: The Blossoming Rod. In: The Open Court 31 (1917) 620⫺633. ⫺ 2 Pausanias 2,31,10. ⫺ 3 Plutarch, Vitae parallelae, Romulus 20,4⫺6; Ovid, Metamorphosen 15,561⫺564. ⫺ 4 Brewer, E. C.: A Dict. of Miracles. Phil. [1934], 155 sq. ⫺ 5 Tubach, num. 5373; E´tienne de Bourbon, num. 494; Legenda aurea/Graesse, num. 68 (64). ⫺ 6 Hall, T. N.: The Cross as Green Tree in the „Vindicta Salvatoris“ and the Green Rod of Moses. In: English Studies 72 (1991) 297⫺307; Rowlatt, U.: A Flowering Cross in the Robert de Lindesey Psalter. In: FL 110 (1999) 95⫺98. ⫺ 7 Saintyves, P.: La Verge fleurie d’Aaron ou le baˆton sec qui reverdit. In: id.: Essais de folklore biblique. P. 1922, 59⫺137, hier 104⫺110. ⫺ 8 Legenda aurea/Graesse, num. 126. ⫺ 9 Saintyves (wie not. 7) 97⫺100; Krappe, A. H.: The Ploughman King. In: Revue hispanique 46 (1919) 516⫺546; 56 (1922) 265⫺284; Schott, A. und A.: Rumän. Volkserzählungen aus dem Banat. ed. R. W. Brednich/I. Talos¸. Buk. 1971, num. 64. ⫺ 10 EM 1, 77. ⫺ 11 Saintyves (wie not. 7) 61⫺96; Brewer (wie not. 4) 53 sq.; Loomis, C. G.: White Magic. Cambr., Mass. 1948, 94 sq.; Toldo 1908, 48⫺60; Frenken, G.: Wunder und Taten der Heiligen. Mü. 1925, 209; Henkel, A./Schöne, A.: Emblemata. Stg. 1996, 156 sq. ⫺
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12
BP 3, 463⫺471; Andrejev, N. P.: Die Legende von den zwei Erzsündern (FFC 54). Hels. 1924, bes. 34, 41 sq.; id.: Die Legende vom Räuber Madej (FFC 69). Hels. 1927, 126⫺155; cf. Tubach, num. 3664. ⫺ 13 Tubach, num. 4605; An Alphabet of Tales […] 1⫺ 2. ed. M. M. Banks. L. 1904/05, num. 568; Polo de Beaulieu, M.-A. (ed.): La Scala coeli de Jean Gobi. P. 1991, num. 762; Barry (wie not. 1) 630 sq. ⫺ 14 Moser, D.-R.: Die Tannhäuser-Legende. B./N. Y. 1977, 30 und pass.; Ammann, A. N.: Tannhäuser im Venusberg. Zürich 1964, bes. 165⫺197. ⫺ 15 Andrejev 1924 (wie not. 12) 97⫺100; Megas, G. A.: He¯ peri metanoias tou Lo¯t apokryphos paradosis kai hai schetikai me aute¯n laikai die¯ge¯sis (Die apokryphe Tradition zur Bekehrung Lots und die sie begleitenden Volkserzählungen). In: Laographia 28 (1972) 337⫺352; id.: Die Legende von den zwei Erzündern in den griech. Volksüberlieferungen. In: Fabula 16 (1975) 113⫺120, hier 114, 119. ⫺ 16 Goebel, F. M.: Jüd. Motive im märchenhaften Erzählungsgut. (Diss. Greifswald 1930) Gleiwitz 1932, 34⫺37; Scheiber, A.: Essays on Jewish Folklore and Comparative Literature. Bud. 1985, 418⫺420; Saintyves (wie not. 7) pass. ⫺ 17 Jason, H.: Märchen aus Israel. MdW 1982, num. 30 (⫽ Ma’assehbuch, num. 178). ⫺ 18 Wesselski, A.: Der gottgefällige Mord. In: Archiv orienta´lnı´ 2 (1930) 39⫺53, hier 49⫺53. ⫺ 19 Peuckert[, W. E.]: Dürrer Baum. In: HDA 2 (1929⫺30) 505⫺513; Bennett, M. R.: The Legend of the Green Tree and the Dry. In: Archaeological J. 83 (1929) 21⫺32; Quinn, E. C.: The Quest of Seth for the Oil of Life. Chic. 1962, 102⫺136; Peebles, R. J.: The Dry Tree. Symbol of Death. In: Vassar Medieval Studies. ed. C. F. Fiske. New Haven 1923, 59⫺79. ⫺ 20 HDA 8 (1936⫺37) 999. ⫺ 21 Busk, R. H.: The Folk-Lore of Rome. L. 1874, 207; cf. El-Shamy, Types, num. 0756C1§; HDM 2, 549⫺551; Ranke 756; Bechstein, L.: Dt. Sagenbuch. ed. K. M. Schiller. Meersburg/Lpz. 1930, num. 144, 603, 736. ⫺ 22 Schott (wie not. 9) 225 sq. ⫺ 23 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 649; Schirmeyer, L.: Osnabrücker Sagenbuch. Osnabrück 1920, 80. ⫺ 24 Gaa´l, K./Neweklowsky, G.: Erzählgut der Kroaten im südl. Burgenland. Wien 1983, num. 43. ⫺ 25 Neumann, S.: Ein mecklenburg. Volkserzähler. Die Geschichten des August Rust. B. 1968, num. 125; Wossidlo, R./Neumann, S.: Volksschwänke aus Mecklenburg. B. 1963, num. 379.
Eugene, Oregon
Christine Goldberg
Zweigliedrigkeit J Dichotomie
Zweikampf. Der Begriff Z. bezeichnet eine ,organisierte‘, d. h. verabredete und nach festen Regeln durchgeführte, mit J Waffen aus-
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Zweikampf
getragene Auseinandersetzung. Damit ist er abzugrenzen von waffenlosen Kampfformen (z. B. Ringen) sowie vom bewaffneten Einzelkampf, der sich spontan aus einer eher zufälligen Begegnung der Kombattanten entwickelt und in seinem Ablauf weitgehend durch die jeweiligen Umstände, bes. die Art der verfügbaren Bewaffnung, den äußeren Rahmen der Begegnung und die augenblickliche körperliche und mentale Konstitution der Kämpfenden determiniert ist1. Im 3. Gesang der Ilias (J Homer) wird ein öffentlicher Z. zwischen Menelaos und Paris ausgetragen, der den zäh verlaufenden Trojan. Krieg abkürzen und eine Entscheidung herbeiführen soll. Menelaos behält die Oberhand, wird aber von einem trojan. Zuschauer mit einem Pfeil verletzt. Dieser grobe Verstoß gegen die Regeln läßt den Versuch scheitern, die kriegerischen Auseinandersetzungen durch einen Z. mit Stellvertretungscharakter zu kanalisieren. In J Vergils Aeneis (12. Buch) kommt es zum entscheidenden Z. zwischen J Äneas und seinem Erzfeind Turnus, dem König der Rutuler. Dieser tötet den unerfahrenen jungen Krieger Pallas in einem Z. und entehrt den Erschlagenen, indem er ihm den Waffengürtel abnimmt. Nachdem Äneas Turnus im Z. besiegt hat, ist er zunächst gewillt, dem Unterlegenen Gnade zu gewähren, tötet ihn jedoch, als sein Blick auf den erbeuteten Gürtel fällt. Der röm. Historiker J Tacitus berichtet in seiner Germania (Kap. 10) vom Brauch der Germanen, im Kriegsfall einen Z. zwischen einem Gefangenen der feindlichen Seite und einem Angehörigen des eigenen Stammes austragen zu lassen, dessen Ausgang als Vorentscheidung für den gesamten Kriegsverlauf gelte. Das von Tacitus zur Bezeichnung dieses Z.s verwendete Verb ,commitere‘ scheint ein terminus technicus des Gladiatorenwesens zu sein, einer professionalisierten und auf Schauwert ausgerichteten Version des Z.s. Im frühen und hohen MA. wurde der Z. neben der Feuer- und Wasserprobe als eine Form des J Gottesurteils in Gerichtsprozessen eingesetzt, beginnend mit der Lex Burgundionum und endend mit dem Verbot von Gottesurteilen auf dem 4. Laterankonzil (1215)2. Eine rechtshist. Weiterentwicklung stellt der gerichtliche Z. (lat. duellum, hieraus nhd. Duell für eine davon abweichende, außergerichtlich-private
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Form des Z.s) dar, der seit dem 9. Jh. belegt ist und bes. im Sachsenspiegel (13. Jh.) detailliert behandelt wird3. Innerhalb der sich ab dem 11. Jh. von Frankreich aus in Europa etablierenden höfisch-ritterlichen Kultur (J Ritter) fanden Formen des Z.s Aufnahme in das Repertoire des J Turniers, bes. in dessen Königsdisziplin, das Lanzenstechen (Tjost). Kulturübergreifend begegnet der Z. auch im Kontext des verbreiteten J Vater-Sohn-Motivs: Ohne einander zu erkennen, stehen sich Vater und Sohn in einem Z. gegenüber, der mit dem Tod des Sohns oder mit Wiedererkennen und Versöhnung enden kann. Narratologisch betrachtet erscheint der Z. auf den ersten Blick als ein ,freies Motiv‘, das in unterschiedlichen epischen Gattungen vorkommt, hierin dem Drachenkampf oder der Brautwerbung vergleichbar. Eine nähere Betrachtung ergibt jedoch ein differenzierteres Bild der Distribution und narrativen Funktionalisierung der Z.motivik. Sozial- und mentalitätsgeschichtlich konzentriert sich der Z. im Spiegel seiner narrativen Verarbeitung wesentlich auf eine Oberschicht freier, waffentragender (Groß-)Bauern, Adliger und Krieger und ihre Standesideologie, die auch einen bestimmten Ehrbegriff und ein gewisses Elitebewußtsein umfaßt4, d. h. auf jene privilegierte Klasse, die auch realhist. der hauptsächliche Träger der Z.kultur war und diese in Gestalt des Duells bis ins frühe 20. Jh. hinein fortsetzte5. Die großepische germ. Heldendichtung zeichnet eine Vorliebe für den Reihenzweikampf aus, in dem eine größere Zahl von Helden, in zwei Mannschaften gruppiert, sukzessive zur J Kraftprobe gegeneinander antritt, so im Wormser Rosengarten-Epos6 und in der altnorw. ÏiÎreks saga7 (beide 13. Jh.); in beiden Texten stehen sich die zwei Hauptgestalten der germ. Heldenepik gegenüber, der J Drachentöter J Sigurd und J Dietrich von Bern. Der Z. nimmt hier turnier- und schaukampfartige Züge an. Charakteristisch für die höfische Versepik ist die Kontrastierung des im Hofmilieu angesiedelten symmetrischen Z.s mit dem Drachenkampf als einem in bezug auf Größe und Ausstattung sowie Ausgangssituation der Kämpfer asymmetrischen Einzelkampf, der während einer Aventiurefahrt in der Wildnis ausgetra-
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Zweikampf
gen wird. Markante Beispiele bieten die J Tristan-Romane des Thomas de Bretagne (ab 1170) und Gottfrieds von Straßburg (um 1210): Tristan bestreitet einen Z. gegen den ir. Räuber Morold und tötet diesen, wird aber von einem Splitter aus Morolds Giftlanze verwundet und bedarf der Heilung, die er, eine falsche Identität vortäuschend, von Morolds zauberkundiger Schwester erhält. Ein gerichtlicher Z. zwischen Tristan und dem betrügerischen Truchseß, der die Drachentötung für sich reklamiert, wird angesetzt, findet aber nicht statt, da der Betrüger aus Furcht nicht antritt. Diesen Z.motiven stehen als aventiurehafte Einzelkämpfe Tristans Siege über den Drachen und den Riesen Urgan gegenüber, die untereinander sowie mit dem Morold-Kampf strukturell und inhaltlich verbunden sind; so entspricht die giftige Drachenzunge, die Tristan dem Untier ausschneidet und die ihn bewußtlos werden läßt, der Wunde durch den Schwertsplitter. Das letztgenannte Motiv zählt zum Standardrepertoire von Z.schilderungen der höfischen Epik und ihrer Ausläufer; der Schwertsplitter löst den nachfolgenden Handlungskreis um die Suche nach Linderung aus; als Erkennungszeichen des Helden ist er die Basis für sein späteres Erkanntwerden durch die heilende Jungfrau (meist durch Vergleich des Splitters mit der von ihm verursachten Scharte am Schwert des im Z. Getöteten). Zu den wenigen Texten, in denen ein Z. den gesamten Handlungsbogen determiniert, zählt die mittelengl. Romanze Sir Gawain and the Green Knight (spätes 13. Jh.; J Gawein), die das Z.motiv in physischer wie ethischer Dimension mit dem Motivstrang der Heldenprüfung verbindet. Kurioserweise erscheint der sonst allenfalls für eine Nacht unterbrochene Z. hier in segmentierter Form: Gawain führt den ersten Schlag gegen den Grünen Ritter an einem Neujahrsabend in der Artusburg aus, der Gegenschlag findet vereinbarungsgemäß exakt ein Jahr später bei der Grünen Kapelle statt. Von anderer Art als der ritterliche Z. der höfischen Epik ist der altisl. Holmgang, der ursprünglich auf einer Insel ausgetragene, ritualisierte Z. der Wikingerzeit, der größtenteils erst in der narrativen Überformung der im 13./ 14. Jh. aufgezeichneten Sagaliteratur vorliegt8. Dort werden Holmgänge aus einem festen Be-
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stand wiederkehrender Gründe ausgetragen: Rivalität um die Liebe einer Frau, Nichtanerkennung von Urteilssprüchen des Things, religiöse Konflikte zwischen Heiden und Christen, Erbstreitigkeiten, Herausforderungen marodierender Berserker9. Der schematisierte Ablauf der Holmgang-Episoden, die wiederkehrenden Figurenkonstellationen und die teilweise grotesk überzeichnete Gewalt in den Kampfschilderungen lassen auf einen hohen Fiktionalisierungsgrad schließen. Obwohl ein Z. vorwiegend zwischen zwei männlichen Figuren ausgetragen wird, existieren auch zahlreiche literar. Quellen für einen Z. zwischen einem Mann und einer Frau. Meist handelt es sich hierbei um die Besiegung einer widerspenstigen Prinzessin, einer (jungfräulichen) Königin oder einer J Heldenjungfrau, die sich dem Werben ihrer Freier widersetzt und sich nur dem vermählen will, der sie im Z. besiegt (cf. AaTh/ATU 519: The Strong Woman as Bride [Brunhilde]). In diesen Kontext gehören auch die Kampfspiele des J Nibelungenlieds (6. Aventiure), in denen Siegfried ⫺ verborgen unter der J Tarnkappe ⫺ an Gunthers Stelle Brünhild auf Isenstein besiegt (J Stellvertreter). Das Märchen kennt den bewaffneten Z. unter menschlichen Kombattanten kaum; bei den beschriebenen Kämpfen handelt es sich in der Regel um spontane Einzelkämpfe. Zweifellos ist dies in der flächenhaften Charakteristik (J Flächenhaftigkeit) und der fehlenden psychol. Tiefendimensionierung (J Eindimensionalität) der Märchenfiguren begründet, die eher auf Impulse von außen reagieren, als aus einem reflektierten, bewußten Entschluß heraus zu handeln10. Dies schließt das Empfinden von Ehrverletzungen, Ruhmessucht oder Todesverachtung und die überlegte Entscheidung für die Aufforderung zu einem Z. oder die Annahme einer solchen weitgehend aus. Ein agonaler Wettstreit mit einem gewissen Organisationsgrad begegnet jedoch in Form des J Wettkampfs. Dem Z. am ähnlichsten ist der Zauberwettkampf (AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler). Mit den sozialen, kulturellen und technologischen Veränderungen, die den Übergang vom traditionellen Z. zum neuzeitlichen Duell determinieren, wandeln sich auch Formen und Inhalte der Repräsentationen des Zeichensy-
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stems Z. In der Erzählkunst stehen seit dem 18. Jh. die Kritik an dieser zunehmend als anachronistisch empfundenen Institution und die Problematik ihres sozialen Fortlebens bei gleichzeitiger Illegalität im Vordergrund, zuweilen auch die kathartische Funktion des Duellmotivs11. Eine vergleichbare Rolle hat der Z. auch im Film. In beiden Gattungen kommt dem Motiv des Showdowns, das vor allem im Western, aber auch im Actionthriller, in der Science Fiction und in der Fantasy-Literatur begegnet, eine Sonderstellung zu. Dabei handelt es sich um einen ,finalen‘ Z., in dem der Held als Abschluß der Handlung die durch den Antagonisten gestörte (Welt-)Ordnung wiederherstellt12. 1 Schild, W.: Z. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 34. B./N. Y. 22007, 592⫺594; Steuer, H.: Einzelkampf. ibid. 7 (21989) 51⫺54. ⫺ 2 See, K. von u. a. (edd.): Kommentar zu den Liedern der Edda 6. Heidelberg 2009, 821. ⫺ 3 Holzhauer, H.: Der gerichtliche Z. In: Sprache und Recht. Festschr. R. SchmidtWiegand. B./N. Y. 1986, 263⫺283. ⫺ 4 Friedrich, U.: Die ,symbolische Ordnung‘ des Z.s im MA. In: Braun, M./Herberichs, C. (edd.): Gewalt im MA. Mü. 2005, 123⫺158, hier 125⫺129. ⫺ 5 Kügler, D.: Das Duell. Z. um die Ehre. Stg. 1986; Frevert, U.: Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. Bielefeld 1989. ⫺ 6 Junghans, H. A.: Der Rosengarten. Lpz. 1876, V. 530⫺577. ⫺ 7 Erichsen, F.: Die Geschichte Thidreks von Bern. Jena 1924, 260⫺264. ⫺ 8 Beck, H.: Holmgang. In: Reallex. der Germ. Altertumskunde 15. B./N. Y. 22000, 78 sq. ⫺ 9 ibid., 79. ⫺ 10 See, K. von: Germ. Heldensage. Ffm. 1971, 29. ⫺ 11 Frenzel, Motive (62008), 112⫺125. ⫺ 12 cf. C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod). Italien, USA 1968 (Regie Sergio Leone); Highlander. USA/Großbritannien 1986 (Regie Russell Mulcahy); Star Wars: Episode VI ⫺ Return of the Jedi. USA 1983 (Regie Richard Marquand).
Göttingen
Matthias Teichert
Zweimal verheiratet J Eheschwänke und -witze Zweites Gesicht J Eidetik, J Geistersichtig Zwerg 1. Allgemeines ⫺ 2. Äußeres und Kleidung ⫺ 3. Charakter, Lebensgewohnheiten und bes. Fähigkeiten ⫺ 4. Umgang mit Menschen ⫺ 5. Herkunft und Verschwinden ⫺ 6. Z.e in der Lit. und Alltagskultur der Neuzeit
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1 . All ge me in es. Z.e sind kleinwüchsige, menschenähnliche Wesen der niederen Mythologie1, die in bezug auf Körpergröße, Eigenschaften und Lebensweise z. T. nur schwer von Wesen wie J Elfen, J Fairies, J Kobolden oder Schraten zu unterscheiden sind. Leichter lassen sie sich von J Trollen abgrenzen, da diese häufig als J Riesen beschrieben werden. Ähnlichkeiten mit Z.en weist auch die Figur des J Däumlings (AaTh/ATU 700) auf, obwohl hier die Dimension des Übernatürlichen fehlt. Synonyme für Z.e sind oft nur regional verwendete Bezeichnungen wie Wald-, Erd-, Berg-, Haule-, Heinzel- oder Wichtelmännchen, gelegentlich spricht man auch vom unterirdischen (J Unterirdische) oder dem Kleinen Volk2. Mit den Schwarzelben (svarta´lfar) in der J Edda des Snorri Sturluson dürften ebenfalls Z.e gemeint sein3. Im Mythos, in Sagen und Märchen Nordund Mitteleuropas spielen Z.e häufig eine wichtige Rolle. Literar. treten sie regelmäßig in ma. Heldenepen und höfischen Romanen wie auch in Werken der Neuzeit in Erscheinung. 2 . Äuß er es un d K le id un g. Das wichtigste gemeinsame Merkmal aller Z.e ist ihre geringe Körpergröße, die von Daumenlänge bis zu einer Elle variieren kann4. Im Vergleich zu den Proportionen eines normalen Erwachsenen sind die Extremitäten oft zu kurz und die Köpfe zu groß5; manchmal werden die Füße der Z.e auch als deformiert bzw. vogelähnlich beschrieben. A. Lütjens unterteilte die Z.e in drei Typengruppen: Typ 1 ist durch die Kombination von Kleinwüchsigkeit und Alter charakterisiert; als typischen Repräsentanten bezeichnet Lütjens den bärtigen, ,altersgrauen‘ Alberich des Nibelungenlieds6. Der Z. des eher seltenen Typs 2, vertreten durch Auberon (J Oberon) in der frz. Chanson de geste J Huon de Bordeaux und Alberich im mhd. Heldenepos Ortnit, hat das Aussehen eines Kindes, ist aber in Wirklichkeit mehrere hundert Jahre alt7. Die Vertreter des Typs 3, der ausschließlich im höfischen Roman begegnet, sind kleinwüchsig, aber normal proportioniert und wie Ritter gekleidet8. Im folgenden wird der ,prototypische‘ Z. des Typs 1 dargestellt, da dieser im Volksglauben, in der mündl. Überlieferung und in den
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Zwerg
diversen literar. Genres am häufigsten begegnet. Der dem ,Kindchenschema‘ entsprechende Körperbau der Z.e dieses Typs kontrastiert mit ihren alten, runzligen Gesichtern, den grauen Haaren und dem langen J Bart (Mot. F 541.2.3.1), der sich, wie z. B. beim Ringkampf J Siegfrieds mit Alberich im J Nibelungenlied 9 oder in KHM 161, AaTh/ ATU 426: J Mädchen und Bär, oft als die Stelle erweist, durch die der Z. zu Schaden kommen kann (cf. AaTh 1159, 1160/ATU 1159: J Einklemmen unholder Wesen). Dominierende Farben der Z.nkleidung (cf. Mot. F 451.2.7), oft eine Bergmanns- oder altertümliche Bauerntracht, sind grau, grün und rot; ein fester Bestandteil der Kleidung, wenn nicht überhaupt ein Erkennungszeichen der Z.e ist die meist rote, spitze Mütze, die gelegentlich auch als J Tarnkappe fungiert10. Dieses Bild vom Z. wurde im 19. Jh. von Kinderbuchillustratoren aufgegriffen und wirkte seither stark prägend11. Zum Alter der Z.e heißt es in einer Sage, sie seien mit drei Jahren erwachsen und mit acht Jahren Greise12. 3 . C ha ra kt er, L eb en sg ew oh nh ei te n u nd be s. Fä hi gk ei te n. Populären Vorstellungen zufolge leben Z.e vor allem in J Höhlen, die wohnlich eingerichtet, wenn nicht sogar prachtvoll ausgestattete Paläste sind; gelegentlich wohnen sie auch in (Grab-)Hügeln, im Wald oder in verlassenen Almhütten. Bestimmte Höhlen und Felsspalten werden in Sagen als Zugänge zum Z.enreich gedeutet; das Eindringen in das Territorium der Z.e, z. B. in den Rosengarten des Königs Laurin, ist den Menschen streng verboten (Mot. F 451.4)13. Soweit sie nicht als Wald-, Berg- oder Hausgeister Einzelgänger sind, leben Z.e in Familien, heiraten und ziehen Kinder auf; an der Spitze des Volkes steht meist ein König. Ihre bevorzugte Tätigkeit ist die Suche nach Erzen und Edelsteinen, die sie als J Schatz hüten oder mit großer Kunstfertigkeit verarbeiten, oft zu Zaubergegenständen und wunderbaren Waffen (J Schmied): So sind z. B. in der nord. Mythologie J Thors Hammer, Odins Speer und Freyrs Schiff SkiÎblaÎnir das Werk von Z.en (Snorra Edda, Ska´ldskaparma´l, Kap. 61)14. Neben dem Bergbau und der Schmiedekunst werden den Z.en auch Hausarbeiten wie
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Kochen, Backen, Brauen oder Waschen zugeschrieben, die in Sagen oft als ätiologische Erklärungen für Nebel oder die zeitweilige Trübung von Gewässern dienen15. Zu den übernatürlichen Fähigkeiten der Z.e gehören neben der erstaunlichen Kraft, die sie oft wunderbaren Requisiten wie einem J Zauberring, J Gürtel oder Stein verdanken, und dem Unsichtbarmachen (J Unsichtbar) auch das Annehmen einer Tiergestalt (J Tierverwandlung). So verwandelt sich z. B. im frz. Roman de Gaufrey (Ende 13. Jh.) der Z. Malabron in ein Pferd und in einen Stier, während der Z. Andvari im Reginsmal (Lieder-Edda) und in der Ska´ldskaparma´l (Kap. 62) der Snorra Edda als Hecht einen Goldschatz in einem Wasserfall hütet16. In diesen Kontext gehört auch die J Verzauberung von Menschen, z. B. in KHM 161 die Verzauberung des Prinzen in einen Bären oder die Verwandlung J Gaweins in einen Z. in einer ndl. Version des J Lancelot17. Daneben verfügen Z.e über die Gabe der J Prophezeiung und kennen die Geheimnisse der Natur, werden manchmal aber auch als Auslöser von Krankheiten gesehen18. In der nord. Tradition müssen sie sich vor dem Tageslicht hüten, da sie sonst versteinert werden19 (J Versteinerung, Mot. F 451.3.2.1). In bezug auf ihre religiöse Haltung erscheinen die Z.e ambivalent, da sie einerseits das Kreuz, Kirchenlieder und Glocken verabscheuen (Mot. F 451.5.9.3), andererseits aber christl. Gottesdienste oder Taufen feiern und das Fluchen ablehnen20. Die Liebe der Z.e zu Musik, Tanz und Geselligkeit bildet oft auch eine Gelegenheit für den Kontakt zu Menschen. 4 . U mg an g m it Me ns ch en. Ein Großteil der Z.e betr. Motive in der mündl. Überlieferung und in der Lit. bezieht sich auf ihre Begegnung mit Menschen, wobei die Z.e als scheu und manchmal überempfindlich, oft aber als gutmütig und freundlich erscheinen: Sie laden Menschen ein, mit ihnen zu feiern bzw. nehmen heimlich an einem Fest (z. B. Hochzeit) in der Menschenwelt teil (Mot. F 451.5.17, F 451.6.3). Z.e helfen Menschen in vielfältiger Weise (cf. Mot. F 451.5.1), indem sie z. B. unschuldig Verfolgte bei sich aufnehmen (cf. AaTh/ATU 709: J Schneewittchen), heimlich in der J Nacht diverse Haus- und Handwerksarbeiten erledigen21, mit wunder-
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baren J Gaben bzw. rechtzeitigem Eingreifen Menschen aus akuter Not retten22 oder sie bei der Bewältigung unlösbar scheinender Aufgaben unterstützen, wie z. B. im Motiv vom J Wintergarten. In diesen Zusammenhang gehört auch die Rolle von Alberich und Oberon als Mentoren ihrer Schützlinge Ornit und Huon. Dank ihrer prophetischen Begabung und Naturkenntnisse heilen Z.e auch Krankheiten23, warnen vor Feuer und Naturkatastrophen oder helfen Bergleuten bei der Erzsuche24. Umgekehrt erhalten Z.e auch von den Menschen Hilfe, z. B. durch Leihen von Kochgeschirr (die Z.e stellen oft aber auch ihr eigenes zur Verfügung)25, durch Versorgen mit Nahrung (Mot. F 451.5.23) oder ⫺ am häufigsten belegt ⫺ durch Geburtshilfe (Mot. F 451.5.5)26. Der vermeintlich kurze Aufenthalt der J Hebamme in der Z.enwohnung dauert, wie sich bei der Rückkehr in die Menschenwelt herausstellt, mehrere Jahre (J Jenseitswanderungen). Als Lohn für diese oder auch andere Hilfeleistungen erhalten die Menschen oft etwas J Unscheinbares oder scheinbar Wertloses (z. B. Erde, Kohle, Blei), das sich aber später in Gold verwandelt, sofern es nicht verachtet und weggeworfen wird (Mot. F 451.5.4)27. Die Z.e erwarten für ihre Hilfe oft eine Gegenleistung, die aber ein bestimmtes Maß nicht überschreiten darf, da sie sich sonst als ,ausgelohnt‘ betrachten und verschwinden (Mot. F 451.5.10.9)28. Fast immer müssen auch das Geheimnis um die Tätigkeit der Z.e sowie andere Abmachungen (z. B. der richtige Umgang mit dem Geschenk) respektiert werden, da sonst die Hilfe bzw. die wunderbare Gabe verlorengeht oder Menschen wie in AaTh/ATU 503: J Gaben des kleinen Volkes29 für ihren Verstoß bestraft werden. Häufig belegte negative Verhaltensweisen der Z.e sind zum einen der Diebstahl von Nahrung, vorzugsweise das Plündern von Erbsenfeldern unter dem Schutz der Tarnkappe30, zum anderen die J Entführung von Frauen und Kindern. Entführungen und sexuelles Bedrängen von Frauen finden sich vor allem in der ma. Epik, z. B. im J Orendel (V. 2413⫺ 2500), wo ein Z. die Gattin des Protagonisten zu vergewaltigen versucht, oder im Laurin (Ende 13. Jh.), wo die Schwester Dietleibs vom Z.enkönig gefangengehalten wird (J
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Brautraub, J Ehe)31. Die Zeugung des Protagonisten im Ortnit ist nicht als Ehebruch zu verstehen, sondern als Hilfe des Z.enkönigs Alberich, damit das Reich Lamparten einen Thronfolger erhält; in den verschiedenen Bearb.en des J Sibylla-Stoffes legt sich der Z. entweder aus sexueller Begierde ins Bett der schlafenden Königin, oder er wird unwissentlich dazu mißbraucht, die Frau zu kompromittieren32. Im J Friedrich von Schwaben wiederum geht der menschliche Titelheld eine Beziehung mit der Z.nkönigin Jerome ein und zeugt mit ihr ein Kind. Die Entführung von Kindern durch Z.e findet sich vor allem im häufig belegten Sagenmotiv vom J Wechselbalg (Mot. F 451.5.2.3), welches offenbar auf der Vorstellung beruhte, daß mit Behinderungen geborene Kinder von Z.en untergeschoben wurden und mit drastischen Maßnahmen, z. B. Mißhandlung, entlarvt oder zurückgetauscht werden könnten. Eine andere Form der (letztlich erfolglosen) Kindesentführung zeigt sich im Erzähltyp AaTh/ATU 500: J Name des Unholds, in dem das Kind dem Z. als Bezahlung für die geleistete Hilfe versprochen wird33. Ein ausschließlich ,bösartiger‘ Z. ist eher selten, begegnet aber z. B. in KHM 161. Am ehesten zeigen einzelne Z.e des höfischen Romans negative Züge, z. B. Maliclisier in der Eingangsaventiure des J Erek, der den Protagonisten in Gegenwart der Königin demütigt und mit einer Geißel schlägt, oder Meloˆt, der intrigante Hofastrologe König Markes in Gottfrieds von Straßburg J Tristan und Isolde. Andere Z.e wiederum entsprechen vollkommen dem positiven Bild des höfischen Ritters, wie z. B. König Guivreiz im Erek34. 5 . H er ku nf t u nd Ve rs ch wi nd en. Mythol. Erklärungen für den Ursprung der Z.e (Mot. F 451.1) finden sich z. B. in der Völuspa´ der Lieder-Edda. Hier heißt es, sie seien von den Göttern aus den Kadavern der Riesen Brimir und Ymir geschaffen. In der Vorrede des gedr. Straßburger Heldenbuchs (ca 1480) wird dagegen ausgeführt, daß Gott zuerst die Z.e zur Gewinnung von Erzen und Edelsteinen und dann die Riesen zum Schutz der Z.e geschaffen habe; die Gefährlichkeit der Riesen machte dann die Erschaffung der Helden notwendig (Völuspa´, Lieder-Edda bzw. Gylfa-
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ginning, Snorra Edda, Kap. 14)35. Der ags. J Beowulf und das ir. Leabhar na h-Uidre ([Buch der braunen Kuh], ca 1100) fassen die Z.e ⫺ und andere Monstren ⫺ als Nachkommen J Kains bzw. des von J Noah verfluchten Cham36 auf; andere christl. Deutungen setzen die Z.e mit gefallenen Engeln oder mit den Seelen ungetaufter Kinder gleich37. Eine Fülle von Sagenmotiven bezieht sich auf die Vertreibung der Z.e (Mot. F 451.9). Gründe dafür sind u. a. ihr Entdecktwerden (z. B. beim Diebstahl von Nahrung), technische Neuerungen (z. B. Hammerwerke)38, das ,Auslohnen‘, aber auch böse Streiche der Menschen39 oder der mißbräuchliche Umgang mit Geschenken bzw. ein Verstoß gegen die damit verbundenen Gebote. Manchmal ist der plötzliche Aufbruch der Z.e auch mit AaTh/ATU 113 A: J Pan ist tot verknüpft40. In norddt. Belegen muß manchmal ein J Fährmann das gesamte Z.envolk in seinem Boot über einen Fluß bringen41. 6 . Z .e in de r L it . u nd Al lt ag sk ul tu r d er Ne uz ei t. Z.e haben heute einen festen Platz in Kinderbüchern, Filmen und FernsehSerien; europaweit bekannt ist z. B. Peyos Comic-Serie Les Schtroumpfs (Die Schlümpfe; 1958 sqq.). Ebenso finden Z.e sich in FantasyRomanen und den daraus entwickelten sog. Rollenspielen in der Nachfolge J. R. R. J Tolkiens42. Z.e bzw. Kleinwüchsige können als Medium der Zeit- und Gesellschaftskritik fungieren, wie z. B. die Liliputaner als satirisches Zerrbild der Engländer in Jonathan J Swifts Gulliver’s Travels (1726) oder Oskar Mazerath als Chronist der dt. Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jh.s in Günter J Grass’ Die Blechtrommel (1959). In der dt. Alltagskultur gilt der Gartenzwerg als Symbol und zugleich als Karikatur des Kleinbürgerlichen43. 1
Röhrich, L.: Von der Mythologie zur kulturhist. Erzählforschung ⫺ am Beispiel der Z.enmotivik. In: Die Brüder Grimm und die Geisteswiss.en. ed. B. Lauer. Kassel 1999, 15⫺42, hier 17 sq.; id.: Z.sagen und -märchen. In: Märchenspiegel 9 (1998) 3⫺9, hier 3. ⫺ 2 Müller-Bergström, W.: Z.e und Riesen. In: HDA 9 (1938⫺41) 1008⫺1138, bes. 1009⫺1024; Lecouteux, C.: Z.e und Verwandte. In: Euphorion 75 (1981) 366⫺378, hier 368 sq. ⫺ 3 id.: Les Nains et ˆ ge. P. 1988, 129 sq.; Tarantul, les elfes au Moyen A E.: Elfen, Z.e und Riesen. Unters. zur Vorstellungswelt germ. Völker im MA. Ffm. u. a. 2001, 374 sq. ⫺
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4 Müller-Bergström (wie not. 2) 1024; Lecouteux, C.: Les Monstres dans la litte´rature allemande du ˆ ge 1⫺2. Göppingen 1982, hier t. 1, 64. ⫺ Moyen A 5 ibid. 2, 153. ⫺ 6 Lütjens, A.: Der Z. in der dt. Heldendichtung des MA.s. Breslau 1911, 68 sq. ⫺ 7 Lecouteux (wie not. 2) 140. ⫺ 8 Müller-Bergström (wie not. 2) 1028⫺1031; Lütjens (wie not. 6) 69⫺79. ⫺ 9 Das Nibelungenlied. ed. S. Grosse. Stg. 1997, 154, Strophe 497. ⫺ 10 Müller-Bergström (wie not. 2) 1030. ⫺ 11 Gilmour, S. J.: Die Figur des Z.es in den ,Kinderu. Hausmärchen‘ der Brüder Grimm. In: Fabula 34 (1993) 9⫺23. ⫺ 12 Müller-Bergström (wie not. 2) 1038; cf. EM 4, 308. ⫺ 13 z. B. Grimm DS 303; cf. auch Müller-Bergström (wie not. 2) 1040⫺1044. ⫺ 14 EM 12, 106 sq. ⫺ 15 Müller-Bergström (wie not. 2) 1050 sq.; EM 1, 1132. ⫺ 16 cf. Lecouteux (wie not. 2) 82. ⫺ 17 cf. ibid., 154 sq. ⫺ 18 Müller-Bergström (wie not. 2) 1058⫺1061. ⫺ 19 cf. HDM 1, 433; Klingenberg, H.: Alvı´ssma´l. Das Lied vom überweisen Z. In: GRM N. F. 17 (1967) 113⫺142; cf. auch EM 13, 966. ⫺ 20 Müller-Bergström (wie not. 2) 1110 sq.; zu Gottesdiensten cf. Grimm DS 27. ⫺ 21 cf. Müller-Bergström (wie not. 2) 1083⫺1085; KHM 39 (1). ⫺ 22 z. B. Brunold-Bigler, U.: Hungerschlaf und Schlangensuppe. Bern u. a. 1997, 48 sq. (,ewiger‘ Käse als Geschenk in Hungersnot), 135 (Rettung verirrter Kinder); EM 12, 1008 sq. ⫺ 23 EM 1, 850. ⫺ 24 Müller-Bergström (wie not. 2) 1087; Grimm DS 40, 45; Grimm DS t. 3, 20; Jontes, L.: Von Grubenmanndln, Schachtzwergen, Berggeistern und Kobolden. Z.e als mythische Wesen im Überlieferungskreis der Bergleute. In: Die Z.e kommen! ed. V. Hänsel/D. Kramer. Trautenfels 1993, 141⫺152; EM 2, 150. ⫺ 25 cf. Müller-Bergström (wie not. 2) 1072 sq. ⫺ 26 cf. ibid., 1074 sq. und KHM num. 39 (2); Grimm DS 41; Grimm DS t. 3, 46. ⫺ 27 Mot. F 451.5.4.; cf. Müller-Bergström (wie not. 2) 1080 sq. ⫺ 28 Künzig, J.: Ausgelohnt. In: HDM 1 (1930⫺33) 152⫺154; EM 1, 724. ⫺ 29 cf. MüllerBergström (wie not. 2) 1088 sq.; sowie Grimm DS 29, 31, 150, 302. ⫺ 30 z. B. Grimm DS 153, 156; ibid. t. 3, 45. ⫺ 31 Flood, J. L.: Laurin. In: Müller, U./Wunderlich, W. (edd.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen 1999, 375. ⫺ 32 Habicht, I.: Der Z. als Träger metafiktionaler Diskurse in dt. und frz. Texten des MA.s. Heidelberg 2010, 163⫺173. ⫺ 33 Gilmour (wie not. 11). ⫺ 34 Hartmann von Aue: Erec. ed. T. Cramer. Ffm. 1972, V. 73⫺108 (Maliclisier), V. 4280⫺ 4317 (Guivreiz); Gottfried von Straßburg: Tristan 2. edd. F. Ranke/R. Krohn. Stg. 31985, V. 14235⫺ 15115. ⫺ 35 Das dt. Heldenbuch. ed. A. von Keller. Stg. 1867, 1 sq. ⫺ 36 Lecouteux (wie not. 4) 153 sq., 180. ⫺ 37 Müller-Bergström (wie not. 2) 1036 sq. ⫺ 38 Grimm DS 34, 36. ⫺ 39 Grimm DS 148 sq. ⫺ 40 Grimm DS 70; ibid. t. 3, 14. ⫺ 41 Grimm DS, 38, 45, 156. ⫺ 42 Stephens, J.: Dwarf, Dwarves. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 1. ed. D. Haase. Westport, Conn. 2008,
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Zwerghirsch
286 sq. ⫺ 43 Hartlaub, G. F.: Der Gartenzwerg und seine Ahnen. Heidelberg 1962.
Graz
Bernd Steinbauer
Zwerghirsch (malai. kancil oder pelandok), kleines paarhufiges Säugetier ohne Hörner, das nicht zur Familie der Hirsche gehört; das Wort kancil ist verwandt mit malai. kechil (klein). Z.e sind nachtaktive Wiederkäuer, die sich von Blättern, kleinen Zweigen und Früchten ernähren. Die asiat. Gattung (lat. tragulus) ist in Indien, Sri Lanka, Malaysia, Indonesien und auf den Philippinen verbreitet; ihre bes. Merkmale sind gekrümmter Rücken, dünne Beine und spitze Schnauze. Erzählungen über den Z. sind im geogr. Horizont der malays. Halbinsel, dem westl. Teil Indonesiens und bei den Chams in Vietnam verbreitet1. Im Gegensatz zu den menschlichen J Trickstern der südostasiat. Überlieferung wie Sieng Mieng (Laos), Sithanonchai (Thailand) oder A Chej (Kambodscha) ist der Z. ein Trickster in Tiergestalt2. In der Überlieferung Malaysias ist der Z. oft mit dem Ehrentitel ,Meister des Waldes‘ versehen (mentri belukar, wörtlich: Minister des neuen Waldes), oder er heißt Shah-alam-di-rimba (Herrscher des Primärwaldes), bisweilen verballhornt zu Salamdi-Bimba3. Erzählungen über den Z. spielen oft ausschließlich in der Tierwelt, wenngleich er manchmal auch mit einer Dorfgemeinschaft in Kontakt kommt. Die Haupteigenschaft des Z.s ist seine scheinbare Verletzlichkeit. Oft wird auch die Ängstlichkeit des Tiers ausdrücklich betont. In gefährlichen Situationen ⫺ etwa der Konfrontation mit einem Raubtier (Tiger, Krokodil) ⫺ verbirgt der Z. seine Angst, spielt den Überlegenen und behandelt seinen Gegner mit Verachtung, oder er lenkt die Aufmerksamkeit seines Gegners von sich ab. Der mächtige Gegner läßt sich durch dieses Gebaren täuschen (J Täuschung), faßt keinen Verdacht und wird so von dem kleineren Tier überlistet (J Stark und schwach)4. In einem typischen Beispiel aus Malaysien rettet der Z. sich bei der Konfrontation mit dem Tiger dadurch, daß er vortäuscht, ein Wespennest sei der Gong des J Salomo; obwohl er den Tiger davor warnt, den
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Gong zu berühren, schlägt dieser darauf und wird von den Wespen verjagt5. Einige Z.erzählungen lassen sich auf ind. Überlieferung zurückführen, etwa das J Hitopades´a oder die buddhist. J Ja¯takas. So könnte die Geschichte, in der der Z. mit einer klebrigen Attrappe gefangen wird und sich dadurch rettet, daß er seinen Tod vortäuscht, auf der Ja¯taka-Erzählung von dem Prinzen beruhen, der dem bösen Dämon einen Schlag verpaßt, dann aber an diesem festklebt6. Den Rezipienten der Erzählungen ist deutlich, daß die Abenteuer des Z.s in übertragenem Sinn Situationen des einfachen Menschen in einer gefährlichen Welt verkörpern. Der Z. steht dabei stellvertretend für den armen Dorfbewohner, der mit einem raffgierigen Vertreter der Regierung, einer erpresserischen Behörde oder der Ausbeutung durch einen Wucherer in Berührung kommt; immer weiß er sich durch kluge Ablenkungsmanöver aus seinem fast aussichtslosen Zustand zu retten. Ein in ganz Südostasien verbreiteter Erzählzyklus handelt davon, wie der Z. den Tiger überlistet7. Seit dem 20. Jh. sind Erzählungen vom Z. standardmäßig in Publ.en indon. Märchen vertreten und wurden in zahlreichen Slgen auch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht8. 1 Brandes, J.: Dwerghertverhalen. In: Tijdschrift voor Ind. Taal-, Land- en volkenkunde 37 (1894) 27⫺49, 50⫺64, 366⫺389; Winstedt, R. O.: Some Mouse-Deer Tales. In: J. of the Straits Branch of the Royal Asiatic Soc. 45 (1906) 61⫺69; Laidlaw, G. M.: A Pelondok (Kantjil) Tale. ibid. 48 (1907) 27⫺96; Hooijer, G. B./Vreugde, L. J.: Dwerghert verhalen (kantjil fabelen) uit den Oost-Indischen Archipel. Amst. 1921; Mees, C. A.: Hikajat Pelandock Djinaka. Een Malais Dwerghert Verhaal. Santpoort 1929. ⫺ 2 McKean, P. F.: Mouse-Deer (Kantjil) in Malayo-Indonesian Folklore. Alternative Analyses and the Significance of a Trickster-Figure in SouthEast Asia. In: Asian Folklore Studies 30 (1970) 71⫺ 84; Epskamp, K. F.: Ambiguous Animals and their Roguish Tricks. Mouse Deer Stories in Indonesia. In: The Leiden Tradition in Structural Anthropology. Festschr. P. E. de Josselin de Jong. Leiden 1987, 123⫺139. ⫺ 3 Skeat, W. W.: Malay Magic. Being an Introduction to the Folklore and Popular Religion of the Malay Peninsula. L. 1900, 179. ⫺ 4 Kratz, E. U.: Indon. Märchen. MdW 1973, 275. ⫺ 5 Windstedt, R. O.: A History of Classical Malay Literature. Kuala Lumpur 1969, 7 sq. ⫺ 6 ibid., 7; cf. The Ja¯taka or the Buddha’s Former Births 1. ed. B. Cowell. Cambr. 1895, num. 55. ⫺ 7 Hambruch, P.:
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Zwillinge
Malai. Märchen. MdW 1922, num. 16. ⫺ 8 Hillman, A./Skeat, W. W.: Salam the Mouse-Deer. Wonder Stories of the Malayan Forest. L. 1938; Courlander, H.: Kantchil’s Lime Pit, and Other Stories from Indonesia. N. Y. 1950; Alibasah, M. M.: Indonesian Mouse Deer Fables. Jakarta 1986; Shepard, A.: The Adventures of Mouse Deer. Olympia, Wash. 2005.
Göttingen
Barend-Jan Terwiel
Zwillinge (Mot. T 685), zwei Kinder derselben Eltern, die gleichzeitig gezeugt und kurz hintereinander, meist am selben Tag, geboren werden. Physiologisch gesehen unterscheidet man zweieiige Zwillinge (Z.e), die sich aus zwei befruchteten Eizellen entwickeln und daher genetisch nicht ähnlicher sind als gewöhnliche Geschwister, und eineiige Z.e, die durch Teilung einer befruchteten Eizelle entstanden sind; sie haben dasselbe Geschlecht und sind genetisch identisch1. Geschwister (J Bruder, Brüder; J Schwester) stehen zueinander in einer Verwandtschaftsbeziehung, die von individueller wie von sozialer Bedeutung ist2; Z.e als spezielle Art von Geschwistern und als eher seltene Erscheinung sind ein biologisches Phänomen mit bedeutenden psychol. und sozialen Konsequenzen. Der Geburt von Z.en wird kulturabhängig unterschiedliche Bedeutung beigemessen, so auch in Erzählungen. Männlichen Z.en wurde dabei der Vorzug gegeben3: Bei den Berbern hatte die J Mutter von Z.en einen hohen sozialen Status4. Allg. scheinen negative Aspekte zu überwiegen: Nach populären Vorstellungen sind J Mehrlingsgeburten (AaTh/ATU 762) eine Folge des Ehebruchs der Mutter (Mot. T 586.3)5. Das Motiv begegnet bereits im altägypt. Mythos6 und seit dem 2. Jh. p. Chr. n. in frühen jüd. parareligiösen Überlieferungen: Der gefallene Engel Samael zeugte J Kain, J Adam dagegen J Abel, und Eva trug beide aus7. Die Vorstellung von der Unkeuschheit der Mutter von Z.en findet sich auch in der Erzählung von ¤Umar ibn an-Nu¤ma¯n aus J Tausendundeine Nacht, in der die Geliebte des Titelhelden Z.e gebiert8. Bei indigenen Völkern, bei denen die Vorstellung vom Ehebruch der Frau ebenfalls zu finden ist, wurden Z.e (oder, wie bei den Azteken, zumindest ein Z.) oft getötet9, und ihre Mutter mußte sich einer strengen Reinigung unterziehen10. Oft glaubte
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man, daß Z.e magische Kräfte besäßen ⫺ bei den Cherokee nahm man an, daß sie mythische Wesen sehen könnten11 ⫺ oder in irgendeiner Weise nicht ,normal‘ seien: Die Shawnee sollen geglaubt haben, daß der ältere Z. einen bösen Einfluß auf die Familie haben würde, weshalb er häufig weggegeben wurde12. Z.sfrüchte (doppelte Früchte oder Nüsse) wurden von jungen Frauen aus Angst vor einer Z.sgeburt nicht verzehrt13. Mitunter wurden Z.sgeburten auf die größere Virilität des J Vaters zurückgeführt14. In der Erzählüberlieferung können drei Hauptgruppen von Z.en unterschieden werden: (1) biologische, (2) quasibiologische und (3) soziale Z.e. Die Interaktion zwischen biologischen oder sozialen Brüdern ist weltweit eines der großen Themen der Erzählüberlieferung. Blutsbrüderschaft und biologische Z.sschaft werden dabei mitunter gleichgesetzt15. (1) Biologische Z.sbrüder erscheinen in AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder; sie werden aufgrund wunderbarer J Empfängnis gleichzeitig geboren (cf. Mot. F 577.2, P 251.5.2). Einer von ihnen zieht auf Abenteuer aus und gerät in Lebensgefahr; der andere erkennt dies an einem J Lebenszeichen, folgt dem Bruder und rettet ihn. In thematisch verwandten Erzähltypen finden sich anstelle der Z.e Brüder (z. B. AaTh/ATU 318: cf. Das ägypt. J Brüdermärchen, AaTh/ATU 303 A: J Brüder suchen Schwestern). Z.sschwestern scheinen in der Volksüberlieferung, abgesehen von AaTh/ ATU 711: Die schöne und die häßliche J Schwester, kaum relevant zu sein16. Auch werden bei Schwestern offenbar grundsätzlich eher gegensätzliche Charakterzüge betont (cf. J Stiefgeschwister); eine Ausnahme bildet die Erzählung von J Mädchen und Bär (AaTh/ ATU 426), in der die Schwestern komplementäre Züge tragen. Gemischtgeschlechtliche Z.e finden sich in der internat. Erzählüberlieferung dagegen häufig. Sie sind ein archetypisches Element in der Religion bzw. im Mythos. Göttliche Z.e waren oftmals zugleich Ehepaare, wie die ägypt. Z.spaare Geb und Nut, Osiris und Isis sowie Seth und Nephthys17. Manche Z.e lieben sich schon vor der Geburt; in populären Überlieferungen ist das Motiv der Z.e, die sich gegenseitig ⫺ bes. bei ihrer Geburt ⫺ am Daumen lutschen, geläufig. Es begegnet vor allem
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Zwillinge
in ägypt. Var.n von AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne18. Im griech. Mythos von Byblis und Caunus (Ovid, Metamorphosen 7,454⫺665) gesteht die unsterblich in ihren Z.sbruder Caunus verliebte Byblis diesem ihre Liebe. Der von der Idee des J Inzests abgestoßene Bruder flieht in die Fremde. Seine liebeskranke Schwester verfolgt ihn zunächst, schließlich löst sie sich in den Strömen ihrer Tränen auf und verwandelt sich in eine Quelle19. In den Erzählungen aus 1001 Nacht findet sich ein mythischer Bericht über die Erschaffung von Iblı¯s (cf. J Teufel): Gott befiehlt sieben Z.sbrüdern, ihre Schwestern zu heiraten; sechs Paare gehorchen, nur einer der Brüder weigert sich; zur Strafe wird er in einen Wurm verwandelt, der zu Iblı¯s wird20. In semit. Kulturen erklärt das Thema von Z.sbrüdern und -schwestern als Nachkommen Adams und Evas den Ursprung einer Reihe zentraler psychokultureller Faktoren, die mit der Entwicklung entscheidender Charakterzüge (der modalen Persönlichkeit) in Zusammenhang stehen. Hierzu gehört der Ursprung des Konflikts gleichgeschlechtlicher Geschwister aufgrund der Bevorzugung des einen, die Tötung Abels durch Kain, der seine Z.sschwester nicht an diesen als Ehefrau verlieren will; die Entstehung des Hasses dadurch, daß eine der Töchter von Adam und Eva nicht heiraten kann, weil sie keinen Z.sbruder hat, den sie gegen einen Gatten aus einem anderen Z.spaar ,tauschen‘ kann21. Aus psychoanalytischer Perspektive kann die Heirat zwischen Z.en als Vermeidung der Vorstellung, daß Adams Söhne ihre Mutter geschwängert hätten (cf. J Ödipus), gesehen werden22. Ähnliche Motive begegnen auch in anderen kulturellen Kontexten. So läßt in einer Erzählung der Zande aus dem Südsudan eine Frau ihren Z.sbruder töten; seine Knochen pflanzt sie ein, und diese werden zu einem Mann, den sie heiratet23. Gemischtgeschlechtliche Z.e finden sich darüber hinaus vor allem in Var.n von AaTh/ ATU 707, bes. in der Überlieferung des Nahen Ostens24. Anscheinend werden entsprechende Erzählungen, in denen oft die Z.sschwester ihren Bruder (Brüder) rettet, vor allem von Frauen erzählt und kommen nur selten in männlich geprägten Slgen vor25. Das Motiv der Rettung durch die Z.sschwester begegnet auch im altägypt. Mythos von Isis und Osiris,
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in dem Isis ihren Z.sbruder und Gatten wiederbelebt26. Auch in der Erzählung von ¤Umar ibn an-Nu¤ma¯n findet sich das Motiv der Rettung durch die Z.sschwester27. Die altägypt. Erzählung erscheint abgesehen davon in erstaunlich treuer Wiedergabe in der Überlieferung Ostafrikas28. Darüber hinaus können Z.e als gegensätzliches Paar und als J Doppelgänger in Erscheinung treten, die als J Kulturheroen den Gegensatz zwischen J Gut und Böse verkörpern (J Dualismus)29. Im alten Ägypten repräsentierten Osiris und Seth das Gute und das Böse und wurden häufig als Z.e dargestellt30. Nach zoroastr. Vorstellungen soll der oberste Gott Ahura Mazda¯ (Herr Weisheit) die Z.e Spenta Mainyu (hl. Geist) und Angra Mainyu (Gott der Lügen und der Finsternis) gezeugt haben31. Die J Dioskuren der griech.-röm. Mythologie sind zugleich Z.e und Halbbrüder; die röm. Mythologie sieht in dem Z.spaar J Romulus und Remus die Begründer Roms32. Von den nordamerik. Onondaga stammt eine Erzählung, in der eine Frau die ersten Männer als Z.e zur Welt bringt. Der eine wird normal geboren, der andere aus ihrer Achselhöhle. Das Achselkind wird der Ahnherr der schlechten Menschen, es tötet seine Mutter und beschuldigt seinen Bruder der Tat33. In J Schöpfungsmythen werden Z.e zu Sonne und Mond34. Die metaphorische Vorstellung von einst verbundenen, dann getrennten Elementen könnte mit dem Phänomen der siames. Z.e in Verbindung gebracht werden (Mot. A 1225.1)35: Dem Koran (21,30) zufolge waren Himmel und Erde vereint, bevor Gott sie voneinander trennte36. Das Motiv biologischer siames. Z.e findet sich in Erzählungen nur sporadisch (Mot. F 523). (2) Im weiteren Sinne können als Z.e zwei Personen mit zwillingsähnlichen Bindungen verstanden werden. Zu diesen zählen quasibiologische Z.e, Halbbrüder, die denselben Vater haben und zur gleichen Zeit geboren werden37. Halbbrüder sind beispielsweise Isaak und Ismael, die Söhne J Abrahams38, oder in der Erzählung von Qamar al-Zama¯n und Budu¯r in 1001 Nacht die Prinzen al-Amgˇad und alAs¤ad, die zusammen aufwachsen, essen, trinken, in einem Bett schlafen und sich niemals trennen39. Gemischtgeschlechtliche Z.e dieser Art entstehen bei der Verheiratung von Brü-
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Zwillinge
dern mit Schwestern. In der Erzählung von Nu¯r ad-Dı¯n ¤Alı¯ und seinem Sohn Badr adDı¯n Hasan aus 1001 Nacht werden sie in derselben Nacht gezeugt und in derselben Nacht geboren40; in der Erzählung von den zwei Wesiren und ihren Kindern im Wortley-Montague-Ms. von 1001 Nacht arrangieren die Väter die J Verlobung ihrer zugleich gezeugten und zugleich geborenen Kinder bereits vor ihrer Geburt41. Auch wenn über die Väter nichts bekannt ist und nur die Mütter Geschwister sind, können deren zur selben Zeit geborene Kinder als quasibiologische Z.e aufgefaßt werden42. Eine andere Kategorie dieser Art von Z.sschaft geht auf die Vorstellung zurück, daß bei der Geburt eines Menschen gleichzeitig ein ihm entsprechendes übernatürliches Wesen geboren wird, das an den Menschen gebunden ist und stirbt, wenn der Mensch stirbt43. Dieser Glaube hat seine Wurzeln in der ägypt. Antike44. (3) Unter sozialer Z.sschaft wird in erster Linie J Blutsbrüderschaft verstanden. Diese entsteht durch ein Ritual der Blutmischung, wozu entweder Wunden dienen und/oder jeweils der eine vom Blut des anderen erwählten Z.s trinkt. Dieses Phänomen ist meist auf Männer beschränkt45. Es findet sich in den J Gesta Romanorum (num. 47; cf. AaTh/ATU 303, AaTh/ATU 1364: J Blutsbruders Frau). Ein religiöses Gegenstück zur Blutsbrüderschaft bildet das Bündnis der Bruderschaft unter Gott, wie es bei den islam. mystischen Bruderschaften typisch ist46. Eine andere Art sozialer Z.e sind Milchgeschwister, d. h. Kinder, die von derselben Frau (Amme) gestillt wurden (J Säugen, Mot. P 313). In der islam. Erzählüberlieferung begegnet häufig die J Adoption des Helden durch eine Ogerin, nachdem es dem Helden gelungen ist, an ihren Brüsten zu saugen (Mot. T 671); infolgedessen wird der biologische Sohn der Ogerin zum Helfer des Helden47. Derartige Beziehungen liegen auch zwischen männlichen und weiblichen Milchgeschwistern vor48. Die emotionale Bindung von Z.en verdeutlicht ein Ereignis aus der Zeit des sog. arab. Frühlings 2011: Die Z.sschwester eines toten Märtyrers träumt davon, daß ihr Bruder möchte, daß sie in seinem Leben nach dem Tode als Braut zu ihm kommt (denn ,alle [Märtyrer] sind verheiratet‘)49.
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1 English, H. B. und A.: A Comprehensive Dict. of Psychological and Psychoanalytical Terms. N. Y. 1966, 566. ⫺ 2 El-Shamy, H.: Brother and Sister (Type 872*). A Cognitive Behavioristic Analysis of a Middle Eastern Oikotype. Bloom. 1979, 3; cf. auch id.: The Brother-Sister Syndrome in Arab Family Life. Socio-cultural Factors in Arab Psychiatry. In: Internat. J. of Sociology of the Family 11,2 (1981) 313⫺323, hier 320. ⫺ 3 El-Shamy, Types 873A§, 874A§, 883§ (Mot. P231.0.1§, P234.0.1§, P234.0.1.1§, T145.2.2§). ⫺ 4 El-Shamy, Types 156B*, 248 (Mot. D1705§); cf. auch id.: Religion among the Folk in Egypt. Westport, Conn./L. 2008, 183⫺186; zu Drillingsmüttern cf. Westermarck, E.: Ritual and Belief in Morocco 1. L. 1926, 47. ⫺ 5 Duggan, A.: Persecuted Wife, Motifs S 410⫺S 399. In: Archetypes and Motifs in Folklore and Literature. ed. J. Garry/H. El-Shamy. Armonk, N. Y. 2005, 409⫺415, hier 413. ⫺ 6 Budge, E. W.: The Gods of the Egyptians 2. L. 1904, 187. ⫺ 7 Gifford, D.: The Theme of Twins in Relation to that of the Trickster in Latin American Mythology and Folklore. In: Folklore Studies in the Twentieth Century. ed. V. J. Newall. Woodbridge, 1980, 192⫺198, hier 195; Jung, L.: Fallen Angels in Jewish, Christian and Mohammedan Literature. N. Y. 1974, 85. ⫺ 8 El-Shamy, H.: Siblings in „Alf laylah wa-laylah“. In: Marzolph, U. (ed.): The Arabian Nights in Transnational Perspective. Detroit 2007, 83⫺101, 91 sq.; cf. auch id.: A Motif Index of „The Thousand and One Nights“. Bloom. 2006, 696; Marzolph/van Leeuwen 1, 430⫺436. ⫺ 9 StandDict., 1135. ⫺ 10 ibid., 1134. ⫺ 11 ibid. ⫺ 12 ibid. ⫺ 13 ibid., 1134 sq. ⫺ 14 ibid., 1134. ⫺ 15 cf. Donovan, J./Miller, N. F.: Blood-Brotherhood and Other Rites of Male Alliance. Portland, Oreg. 2010; cf. Burton, R. F.: The Book of the Thousand Nights and a Night 3. s. l. 1885, 151 (not. 1). ⫺ 16 cf. ferner El-Shamy, H.: Tales Arab Women Tell. Bloom. 1999, 279⫺285, num. 35; cf. El-Shamy, Types 1419, 1419E (P252.9.1§). ⫺ 17 cf. Ions, V.: Egyptian Mythology. L. 1968, 46⫺48. ⫺ 18 El-Shamy, Folk Traditions, Mot. A164.1.0.1§; El-Shamy, Types 318B§ (Mot. A164.1.0.1§); cf. Budge (wie not. 6) 187; Ions (wie not. 17) 50 sq.; El-Shamy, H.: Folktales of Egypt. Chic. 1980, num. 9; id.: Sister and Brother. In: Garry/El-Shamy (wie not. 5) 349⫺359, hier 354 sq. ⫺ 19 cf. ibid. ⫺ 20 id. 2006 (wie not. 8); id.: Mythological Constituents of Alf Laylah wa Laylah. In: The Arabian Nights and Orientalism. ed. Y. Yamanaka/T. Nishio. L. 2006, 25⫺46. ⫺ 21 El-Shamy, Folk Traditions, A1297.1§, A1388.2§; id. 2008 (wie not. 4) 84 sq. ⫺ 22 El-Shamy, Types 312F§, 327L§, 450, 451A, 451B§, 713A§, 720, 780A, 872A§, cf. auch 123C§, 850A§ (Mot. P798.1.0.5§). ⫺ 23 id. 1980 (wie not. 18) num. 2; Evans-Pritchard, E. E.: The Zande Trickster. L. 1967, num. 32; cf. ElShamy 1979 (wie not. 2) num. 35 (Typ 872*); id. 1999 (wie not. 16) num. 25, 208⫺215, 434 sq. ⫺ 24 ibid., 58 (not. 98); cf. id. 1980 (wie not. 18) 65, num. 9; id., Sister and Brother (wie not. 18). ⫺ 25 id. 1980 (wie not. 18); El-Shamy, Types 327A, 450, 451,
1453
Zwinger, Theodor(e)
511, 511A, 707, 720, 872*; id.: Oral Traditional Tales and the Thousand Nights and a Night. The Demographic Factor. In: The Telling of Stories. ed. M. Nøjgaard u. a. Odense 1990, 63⫺117, hier 83 (not. 99). ⫺ 26 Budge (wie not. 6) 186⫺194; Spence, E.: Myth and Legends of Ancient Egypt. N. Y. 1927, 68⫺80. ⫺ 27 Marzolph/van Leeuwen 1, 430⫺436; cf. auch El-Shamy 2006 (wie not. 8) 696; Marzolph/van Leeuwen 1, 430⫺436. ⫺ 28 Arewa, num. 3338; Lindblom, G.: Kamba Folklore 2. Uppsala 1935, num. 16, 17; El-Shamy, H.: Belief and Non-Belief in Arab, Middle Eastern and sub-Saharan Tales. The Religious-Non-Religious Continuum. In: al-Ma¤tßu¯ra¯t asˇsˇa¤bı¯ya 3,9 (1988) 7⫺21; cf. id. 1980 (wie not. 18) 238 sq. ⫺ 29 Harris, J. R.: Boanerges. Cambr. 1913, 217; Peternel, J.: The Double. In: Garry/El-Shamy (wie not. 5) 453⫺457, hier 453 sq.; El-Shamy, H./ Schrempp, G.: Union of Opposites, or Coniunctio Oppositorum. ibid., 481⫺488; Schott, R.: Aus Leben und Dichtung eines westafrik. Bauernvolkes. Ergebnisse völkerkundlicher Forschungen bei den Bulsa in Nord-Ghana 1966/67. Köln/Opladen 1970, 54⫺ 82. ⫺ 30 El-Shamy 1980 (wie not. 18) num. 14; cf. auch id.: ,Noble and Vile‘ or ,Genuine and False‘? Some Linguistic and Typological Comments on Folktales of Egypt. In: Fabula 24 (1983) 341⫺346. ⫺ 31 Garry, J.: Good and Evil. In: Garry/El-Shamy (wie not. 5) 458⫺463, hier 459. ⫺ 32 Rathmayr, R.: Z.e in der griech.-röm. Antike. Wien 2000. ⫺ 33 Garry (wie not. 31) 460. ⫺ 34 StandDict., 1136 sq. ⫺ 35 Ions (wie not. 17) 46 sq.; West, J. A.: Serpents in the Sky. The High Wisdom of Ancient Egypt. N. Y. 1979, 97, cf. 139 sq. ⫺ 36 cf. El-Shamy 2008 (wie not. 4) 27. ⫺ 37 Lyons, M. C.: The Arabian Epic 3. Cambr. 1995, 651⫺660; cf. Marzolph/van Leeuwen 1, 355. ⫺ 38 ¤Ara¯Åis a1-maja¯lis fı¯ qisøasø alanbiya¯Å or „Lives of the Prophets“. As Recounted by Abu¯ Ishø aq Ahø mad Ibn Muhø ammad Ibn Ibra¯hı¯m al-Tha¤labı¯. Übers. W. M. Brinner. Leiden u. a. 2002, 139. ⫺ 39 Marzolph/van Leeuwen 1, 341⫺345. ⫺ 40 ibid., 317⫺319. ⫺ 41 ibid., 426; cf. auch El-Shamy, Types 303C§, 572§, 871B§, 885, 900C§, 923C§, 970 (Mot. M146.4.1§); ElShamy, Folk Traditions, Mot. M146.4.1§. ⫺ 42 LeviStrauss, C.: Myth and Meaning. Cracking the Code of Culture. N. Y. 1995, 28. ⫺ 43 El-Shamy 2008 (wie not. 4) 80⫺86; Ions (wie not. 17) 133. ⫺ 44 Blackman, W.: The Fellahin of Upper Egypt. L. 1968, 288. ⫺ 45 cf. Roth, K./Wolf, G.: Südslav. Volkskultur. Bibliogr. zur Lit. in engl., dt. und frz. Sprache zur bosn.-herzegowin., bulg., mazedon, montenegrin. und serb. Volkskultur. Columbus, O. 1993, 187 sq. ⫺ 46 cf. El-Shamy, Types 325, 462, 551, 551A, 709, 872B1§, 873B§ (P351.1§, T300.1§); id. 2006 (wie not. 8); id. 2008 (wie not. 4) 299, 301. ⫺ 47 id. 1980 (wie not. 18) 58, num. 8; id. 1999 (wie not. 16) 244⫺ 246, num. 30; cf. id. 2008 (wie not. 4) 104⫺106. ⫺ 48 Fa¯dø il, M. ¤A.: at-Tura¯tß (Das kulturelle Erbe) 2. Bagdad 1965, 158⫺161, num. 7⫺8; cf. El-Shamy, Types 0329, num. 1; id. 2007 (wie not. 8) 99 sq. ⫺ 49 El-Shamy, H.: Beyond Oedipus. The Brother Sis-
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ter Syndrome as Depicted by Tale Type 872*. Bloom. 2013, 9⫺13; cf. id. 2008 (wie not. 4) 41 sq., 171⫺173; id. 1999 (wie not. 16) 314 sq., 450.
Bloomington
Hasan El-Shamy
Zwinger, Theodor(e) (auch Theodorus Zuingerus), *Basel 2. 8. 1533, † ebenda 10. 3. 1588, schweiz. Mediziner und Humanist1, nicht zu verwechseln mit seinem Enkel gleichen Namens (1597⫺1654), einem reformierten Pfarrer und Theologieprofessor in Basel. Z. begann 1548 ein Studium in Basel, reiste aber kurz darauf ohne Wissen seiner Familie nach Lyon, wo er sich als Buchhändlergeselle durchschlug. In Paris machte er die Bekanntschaft des hugenott. Gelehrten Petrus Ramus (1515⫺72) und lernte Latein, Griechisch, Hebräisch und Syrisch. 1553 kehrte er nach Basel zurück, wo er sich mit Medizin beschäftigte. Möglicherweise durch Vermittlung seines Onkels Johannes Oporinus (1507⫺68) konnte Z. dank eines Stipendiums des Buchdruckers Pietro Perna nach Padua gehen, wo er bei Girolamo Mercuriale (1530⫺1606) Medizin studierte und 1559 promoviert wurde. Im selben Jahr kehrte er nach Basel zurück, wurde dort in das Ärztekollegium und die medizinische Fakultät aufgenommen und heiratete Valeria Rüdin, die wohlhabende Tochter eines Zunftmeisters. Hierdurch aller materiellen Sorgen enthoben, konnte er sich auf seine Laufbahn als Wissenschaftler konzentrieren. Ab 1565 unterrichtete er an der Univ. Basel Griechisch, ab 1571 Ethik sowie ab 1580 bis zu seinem Tod theoretische Medizin. Brieflich verkehrte er mit zahlreichen Gelehrten in Europa2. Seine Beschäftigung mit den Thesen des J Paracelsus, einem Gegner der damals verbreiteten Viersäftelehre, brachte Z. die Kritik seiner Kollegen ein. Als Autor steht Z. in der Tradition seines Stiefvaters Conrad J Lycosthenes, der wiederum Anleihen bei den von ihm edierten Apophthegmata des J Erasmus von Rotterdam gemacht hatte. Z.s Bedeutung für die hist. und vergleichende Erzählforschung gründet vor allem auf dem Theatrum vitae humanae, omnium fere eorum, quae in hominem cadere possunt, bonorum atque malorum exempla historica, ethicae philosophiae praeceptis acco-
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Zwinger, Theodor(e)
modata, et in XIX. libros digesta, comprehendens: ut non immerito historiae promptuarium, vitaeque humanae speculum nuncupari possit. A Conrado Lycosthene Rubeaquense […] inchoatum […]. Cum gemino indice, kurz Theatrum vitae humanae (auch Theatrum humanae vitae), einer Kompilation von Stoffen aus Antike, MA. und Humanismus, die Z. unter Verwendung des Nachlasses seines Stiefvaters 1565 in Basel herausgab. Das Werk ist das erste neuzeitliche praxisorientierte Universallexikon in lat. Sprache. Die Erstausgabe ist ein Folioband mit annähernd 1500 Seiten; die späteren Aufl.n wurden jeweils erweitert. Die Ausg.n Basel/P. 1571 und Basel 1586 besorgte Z. selbst, die Ausg. Basel 1604 wurde von seinem Sohn Jakob herausgegeben3. Z.s Kompendium gilt als die umfangreichste Wissenssammlung, die ein einzelner in der frühen Neuzeit zusammengetragen hat. Das Werk ist unterteilt nach ordines, ein auf Aristoteles zurückgehendes Verfahren, das Z. bei Petrus Ramus kennengelernt hatte4. Diese Struktur sollte es dem Leser ermöglichen, jedes Element im Zusammenhang einer umfassenden Moralphilosophie zu begreifen5. Inhaltlich handelt es sich um eine Slg beispielhafter Geschichten zu allg. Lebensproblemen, um ein historiarum promptuarium, in das ,alles, was man liest und hört‘, eingelagert und bei Bedarf hervorgeholt werden kann6. Das Werk bildet die Ordnung der Dinge nach einer komplexen ordo essentialis mit 118 libri ab, die ihrerseits wieder in tituli und diese in loci gegliedert sind7. Die Struktur visualisiert der Verf. mit Hilfe zahlreicher Tabellen, die das gesamte verfügbare Wissen auffindbar und benutzbar machen sollen; in den Ausg.n 1586 und 1604 füllen sie mehrere hundert Seiten. Im rhapsodus exemplorum stellte Z. unter Vernachlässigung chronologischer Aspekte Vergleichbares belehrend nebeneinander. Z. verstand sein ,Wissenstheater‘ als eine Anleitung zu richtigem Handeln in allen Lebenslagen, und zwar nicht nur für seine Zeitgenossen, sondern auch für spätere Generationen8. Allerdings war ihm die Unvollständigkeit und Vorläufigkeit seines Werks bewußt; er betrachtete es als Anstoß, der andere zu Ergänzungen und Verbesserungen anregen sollte. Damit begründete er eine Tradition, in der praktisches, aus Erfahrung gespeistes Wissen
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höher geschätzt wird als abstraktes Wortwissen. Folgerichtig beanspruchte die Visualisierung der Dinge in derartigen Enz.en immer größeren Raum; sie erreichte ihren Höhepunkt mit dem Orbis sensualium pictus (1653) des Johann Amos Comenius. Weitergeführt wurde Z.s Theatrum von dem Antwerpener Jesuiten Laurentius J Beyerlinck (1578⫺1627), der in seinem Magnum theatrum vitae humanae (Köln 1631) Z.s systematische Ordnung in eine alphabetische überführte9. Mit der letzten Ausg. dieses Werks (Venedig 1707) endet die lange Editionsgeschichte von Z.s Wissenssammlung. Gesammeltes Wissen strukturierte Z. auch in seinem Methodus apodemica in eorum gratiam, qui cum fructu in quocunque tandem vitae genere peregrinari cupiunt (Basel 1577, Straßburg 21594), einer Methodologie des Reisens, die bis ins 17. Jh. wegweisend blieb. Im Vorwort bedauert Z., daß er als junger Mann selbst den Fehler begangen habe, Wissen ungeordnet anzuhäufen10. 1 cf. allg. [Zedler, J. H.:] Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wiss.en und Künste 64. Lpz./ Halle 1750, 1698⫺1701; Thommen, R.: Z., T. In: ADB 45 (1900) 543 sq.; Wenneker, E.: Z., T. In: Biogr.-bibliogr. Kirchenlex. 16. Hamm 1999, 1597⫺ 1600; Karcher, J.: T. Z. und seine Zeitgenossen. Episode aus dem Ringen der Basler Ärzte um die Grundlehren der Medizin im ZA. des Barocks. Basel 1965; Gilly, C.: Zwischen Erfahrung und Spekulation. T. Z. und die religiöse und kulturelle Krise seiner Zeit. In: Basler Zs. für Geschichte und Altertumskunde 77 (1977) 57⫺137, 79 (1979) 125⫺223. ⫺ 2 Zedelmaier, H.: Navigieren im Text-Universum. T. Z.s „Theatrum Vitae Humanae“. In: metaphorik.de 14 (2008) 113⫺135, hier 116. ⫺ 3 Brückner, 105 sq. ⫺ 4 Friedrich, U.: Grenzen des Ordo im enzyklopädischen Schrifttum des 16. Jh.s. In: Meier, C. (ed.): Die Enz. im Wandel vom HochMA. bis zur Frühen Neuzeit. Mü. 2002, 391⫺408, hier 395⫺ 401. ⫺ 5 Schmidt-Biggemann, W.: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wiss. Hbg 1983, 59⫺66. ⫺ 6 Z., T.: Theatrum humanae vitae. Basel 1565, 16. ⫺ 7 Ong, W. J.: Commonplace Rhapsody. Ravisius Textor, Z. and Shakespeare. In: Bolgar, R. R. (ed.): Classical Influences on European Culture, A. D. 1500⫺1700. Cambr. 1976, 91⫺128, hier 111⫺120. ⫺ 8 Z. (wie not. 6) 18 sq. ⫺ 9 Brückner, 106. ⫺ 10 Stagl, J.: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550⫺ 1800. Wien u. a. 2002, 85, 158.
Bamberg
Heidrun Alzheimer
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Zwölf
Zwölf, neben der J Drei und der J Sieben eine der wichtigsten Symbolzahlen der Kulturgeschichte. Schon aus frühen Hochkulturen ist die Rolle der Z. als bes. J Zahl überliefert1. In der Bibel bezeichnet sie die Anzahl der Stämme Israels, der J Apostel und der Tore des himmlischen Jerusalems, in der germ. Mythologie die Zahl der Götter2. Die Ursachen für die Wertschätzung der Zahl Z. liegen wohl wesentlich in ihren arithmetischen Eigenschaften begründet: Z. besitzt zwei, drei, vier und sechs als echte Teiler. Dies qualifiziert die Zahl und ihre Vielfachen für die Anwendung in verschiedenen Alltagskontexten, in denen einfache Teilungen (Halbieren, Dritteln, Vierteln) häufig vorkommen, weshalb duodezimale Strukturen im Münz-, Maß- und Gewichtswesen, aber auch bei der Zusammenfassung von Mengen (Dutzend) weit verbreitet waren. Zählreihen schlossen oftmals mit der Z. als Schwellenwert3. Bis heute ist die Zahl, z. B. in der Teilung des Tages in z. bzw. 24 Stunden, präsent; das (Sonnen-)Jahr umfaßt z. J Monate sowie die z. Tierkreiszeichen. Das Duodezimalsystem wird mit dem bei Sumerern und später Babyloniern verbreiteten Sexagesimalsystem in Verbindung gebracht, das auf astronomische Erscheinungen zurückgeführt wird (heute noch präsent bei Winkel- und Zeitmessung) und aus dem Zählen mit Fingern und Fingergliedern hergeleitet werden kann (vier Finger mit je drei Gliedern an einer Hand werden mit der Anzahl der Finger der anderen Hand multipliziert: 12 ⫻ 5 ⫽ 60)4. Die Z. symbolisiert Vollständigkeit und Abgeschlossenheit (bis heute gegenwärtig in der Z.meilenzone, den z. Sternen der Europaflagge etc.). Daraus erklärt sich u. a., daß die Z. im Rechtswesen bes. Verbreitung fand (röm. Z.tafelgesetze, Zwölferrat, im germ. Bereich z. Richter, z. Eideshelfer, bisweilen Volljährigkeit mit z. Jahren, Festsetzung von Bußen in Form von z. Geldeinheiten etc.)5. Im Jahreslauf hat die Zahl in den sog. z. hl. Nächten (auch Zwölften, Rauhnächte) bes. Bedeutung. Zahlreiche Volksbräuche sind mit diesem Zeitraum im Mittwinter (in der Regel 25. 12.⫺6. 1.) verbunden; sie enthalten meist Bezüge zur Mythologie und dem Glauben an das Wirken höherer Mächte6: Z. B. soll das Waschen von Wäsche in dieser Zeit Unheil be-
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wirken. Das Dreschen, das Brechen von Flachs, das J Spinnen und andere Tätigkeiten sollen das Verderben von Getreide, Äpfeln und Birnen oder der Verzehr von Hülsenfrüchten Hautkrankheiten bewirken7. Bei der Zusammenfassung von Gruppen aller Art durch die Z. ist die Zahl kanonisiert, was bedeutet, daß ihre Symbolbedeutung im Vordergrund steht, so daß bisweilen die Quantifizierungsfunktion, d. h. die tatsächlich vorhandene Anzahl von Einheiten/Personen, irrelevant ist8. In populären Erzählungen erscheint die Z. in zwei Formen: Entweder ist sie in die Zahlenreihe eingebunden, deren Abschluß sie darstellt, oder sie bezeichnet ⫺ weit häufiger ⫺ die Anzahl bestimmter Elemente. Die Z. ist hier als Zahl nicht funktionalisiert, sondern durch andere Symbolzahlen (drei, sieben, neun) austauschbar. Zahlenreihen sind teilweise explizit mit der Symbolbedeutung der Zahlen verbunden: In AaTh/ATU 812: J Rätsel des Teufels soll der Protagonist dem J Teufel die ,z. Worte der Wahrheit‘, d. h. die Symbolbedeutung der Zahlen bis z. (bis 3, 5, 7, 10) nennen9; erst nach dem Erreichen des Schwellenwertes ist der zuvor eingegangene Vertrag mit dem Teufel (J Teufelspakt) hinfällig. Für die Lösung des Rätsels wird dem Protagonisten ein Zeitraum von z. Jahren eingeräumt10; der Zeitpunkt für die Nennung der Lösung wird auf z. Uhr nachts festgesetzt (KHM 125)11; die magische Funktion der Z. wird durch die Aufzählung der Symbolbedeutungen in Form eines Gebets, das den Teufel bannt, herausgestellt12. In dem Kettenmärchen AaTh/ATU 2010: Ehod mi yodea (One; Who Knows?) werden den Zahlen von eins bis z. theol. Bedeutungen (jüd./christl.) zugeschrieben, deren Kenntnis verhindert, daß der Teufel sich der Seele bemächtigt. Das Kettenmärchen war seit dem 15./16. Jh. Teil der dt. Pessach-Aggada und erscheint zumeist in Liedform u. d. T. Die z. (hl.) Zahlen13; seit dem 17. Jh. finden sich in weiten Teilen des christl. Europa religiöse und weltliche Parallelen; islam. Entsprechungen stammen aus Westasien14; auch in die Populärliteratur hat AaTh/ATU 2010 Eingang gefunden15. Das Zahlenlied überschneidet sich wegen der theol. Interpretation der Zahlen bisweilen mit dem geistlichen Stundenlied, in dem
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Zwölf
die Zahlen bis z. den z. Stunden des Tages zugeordnet werden, die dann ebenfalls eine theol. Deutung erfahren16; zudem ist es oft in AaTh/ATU 812 eingebettet. In AaTh/ATU 2010 fungiert die Z.zahl ⫺ wie in anderen Kettenmärchen17 ⫺ als Zählgrenze, oft mit mnemotechnischer Motivation. Eine aufsteigende Zahlenreihe findet sich auch in AaTh/ATU 2010 A: The Twelve Days (Gifts) of Christmas: Hier wird erzählt, wie mit Weihnachten beginnend z. Tage lang Geschenke überbracht werden, wobei sich die Zahl der geschenkten Objekte von Tag zu Tag erhöht, am 12. Tag also z. Geschenke überbracht werden. Dieser vor allem in Nordeuropa verbreitete Erzähltyp nimmt Bezug auf die z. hl. Nächte und damit auch auf die Z. als Symbolzahl der germ. Mythologie18. Var.n behandeln die z. (neun) Tage vor Weihnachten19. Die z. Bilder des J Kartenspiels (AaTh 1613, 2340/ATU 1613) werden theol. ausgedeutet oder als Symbole für die z. Monate des Jahres aufgefaßt20. Beliebt ist in populären Erzählungen die Verwendung der Z.zahl für Fristen oder Altersangaben21: In Sagen und Märchen ist die wohl am häufigsten verwendete Zeitangabe z. Uhr22. Bes. in Sagen gilt die Zeit um z. Uhr mittags (J Tageszeiten, Kap. 3.2) und z. Uhr nachts (J Mitternacht) als für Menschen gefährlich, da dann Geister, Gespenster und Dämonen ihr Unwesen treiben (J Spuk). Die J Wilde Jagd, aber auch J Totenprozessionen sollen in den Rauhnächten unterwegs sein23. In Märchen laufen Fristen um z. Uhr ab (J Perraults Cendrillon [AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella]; KHM 4, AaTh/ATU 326: J Fürchten lernen; AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens24; J Tag, Tage); nach z. Jahren wird ein Lebensabschnitt vollendet: Ein einem dämonischen Wesen versprochenes Kind (J Kind dem Teufel verkauft oder versprochen) wird im Alter von z. Jahren in einen Turm gesperrt (KHM 12, AaTh/ATU 310: J Jungfrau im Turm) oder soll ihm in diesem Alter übergeben werden (AaTh/ATU 710: J Marienkind); um ihre Brüder zu erlösen, muß die Protagonistin von AaTh/ATU 451 (1): J Mädchen sucht seine Brüder z. Jahre schweigend spinnen und weben25.
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Z. Elemente begegnen vielfach in literar. Qu.n: So gibt es in der ma. frz. Epik, u. a. im J Rolandslied, z. Paladine J Karls d. Gr.n (cf. J Reali di Francia, J Haimonskinder). Im mittellat. Versroman J Ruodlieb werden einem Ritter z. Ratschläge erteilt (cf. AaTh/ATU 910 A, B: cf. Die klugen J Ratschläge). Die Odnatussage in der Kaiserchronik (Mitte 12. Jh.) nennt z. Mitverschworene26. In der VafÌru´Înisma´l (V. 20⫺55) der Lieder-Edda (J Edda) stellt Odin dem Riesen VafÌru´Înir zunächst z., dann sechs Fragen, bevor er ihn bezwingt. Auch in Sagen und Märchen findet sich die Anzahl z. ausgesprochen häufig27. Z. Brüder begegnen in KHM 9, AaTh/ATU 451, z. Schwestern in KHM 133, AaTh/ATU 306: Die zertanzten J Schuhe, z. Feen und z. goldene Teller in AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit. Das 12., verbotene J Zimmer beherbergt ein Geheimnis (KHM 3, AaTh/ATU 710). Den J Personifikationen der z. Monate in AaTh/ ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen werden Eigenschaften zugeschrieben, insgesamt treten sie als Gruppe auf. Den Abschluß einer Steigerungsreihe bildet die Zahl Z. z. B. in J Drachentötermärchen, in denen der Protagonist erst einen vier-, dann einen acht- und schließlich einen z.köpfigen Drachen bezwingen muß (AaTh/ATU 300 A). Die Symbolbedeutung der Z. wird bisweilen auch auf ihre Bruchteile (bes. 6) und Vielfache (24, 36, 60, 120) übertragen. Auch sie (bevorzugt 6 und 24) werden als Schwellenwerte gebraucht (z. B. AaTh/ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt28). Der arithmetisch ,vorteilhaften‘ Z. mit vielen echten Teilern stehen die Primzahlen 11 und 13 gegenüber, welche die Harmonie der Z. nicht erreichen bzw. übertreten und damit Ungünstiges darstellen oder bewirken. Symbolisiert die Z. das Gute, so stehen die 11 und die 13 für das Böse: die Sünde29 oder ,des Teufels Dutzend‘30. Die 11 hat im Karneval Bedeutung (Elferrat, Karnevalsbeginn). Tritt zu einer Gruppe von z. ein 13. Element hinzu, so stört es die Harmonie, und das Unglück nimmt seinen Lauf (J Überzähliger; AaTh/ ATU 410). 1 Endres, F. C./Schimmel, A.: Das Mysterium der Zahl. Mü. 1996, 209⫺221. ⫺ 2 Lurker, M.: Wb. bibl. Bilder und Symbole. Mü. 21978, 375⫺377. ⫺
Zwölf Wahrheiten ⫺ Zyklus
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3 Schuppener, G.: Germ. Zahlwörter. Sprach- und kulturgeschichtliche Unters.en insbesondere zur Zahl 12. Lpz. 1996. ⫺ 4 Ifrah, G.: Universalgeschichte der Zahlen. Ffm. 1993, 69⫺75, 90⫺92. ⫺ 5 Siebs, B. E.: Weltbild, symbolische Zahl und Verfassung. Aalen 1969, 62⫺86. ⫺ 6 Schuppener, G.: Zwischen den Jahren. In: id./Tetzner, R. (edd.): Kultur und Mythos. Lpz. 1997, 53⫺70. ⫺ 7 Schmidt, J. G.: Die gestriegelte Rocken-Philosophie 1⫺2. Chemnitz 1718/22, hier t. 1, 95⫺97; 2, 221⫺227. ⫺ 8 Schuppener (wie not. 3) 113; Endres/Schimmel (wie not. 1) 210. ⫺ 9 cf. auch Narodna umjetnost 7 (1968) 342 (absteigende Zahlenreihe). ⫺ 10 z. B. Poortinga, Y.: De ring fan it ljoch. Fryske folksforhalen. Baarn/ Ljouwert 1976, 180. ⫺ 11 cf. Kristensen, E. T.: Danske folkeæventyr. Viborg 1888, 306. ⫺ 12 wie not. 9. ⫺ 13 Erk/Böhme 3, num. 2130⫺2132; cf. Brednich, R. W./Röhrich, L./Suppan, W. (edd.): Hb. des Volksliedes 2. Mü. 1975, 326 sq. ⫺ 14 BP 3, 15 (not. 1); Yoffie, L. R. C.: Songs of The Twelve Numbers and Echod Mi Yodea. In: JAFL 62 (1949) 382⫺411; Taylor, A.: An Annotated Collection of Mongolian Riddles. In: Transactions of the American Philological Soc. N. S. 44 (1954) 319⫺425, hier 361⫺364, num. 986⫺992 (Interpretation einer Reihe von Zahlen); Fuks-Mansfeld, R.: Echad mi jodea. De geschiedenis van en lied. In: Studia Rosenthaliana 26 (1992) 85⫺90. ⫺ 15 Schenda, R.: Volk ohne Buch. Ffm. 31988, 417. ⫺ 16 Bolte, J.: Eine geistliche Auslegung des Kartenspiels. In: ZfVk. 11 (1901) 387⫺406, bes. 397⫺405. ⫺ 17 z. B. Karlinger, F./Mykytiuk, B.: Legendenmärchen aus Europa. MdW 1967, 22⫺24. ⫺ 18 Schuppener (wie not. 6). ⫺ 19 Liungman, Volksmärchen, 350. ⫺ 20 cf. auch Bolte, J.: Zu den Karten- und Zahlendeutungen. In: ZfVk. 13 (1903) 84⫺88. ⫺ 21 Lorenz, B.: Notizen zu Z. und Dreihundert im Märchen. In: Fabula 27 (1986) 42⫺45; Rölleke, H.: Nochmals zu den Zahlen Z. und Dreihundert im Märchen. In: Fabula 28 (1987) 106⫺109. ⫺ 22 cf. z. B. Uther, H.-J.: Dt. Märchen und Sagen. CDROM B. 2003; id.: Europ. Märchen und Sagen. CDROM B. 2004, s. v. z. ⫺ 23 Sartori, P.: Zwölften. In: HDA 9 (1938⫺41) 979⫺992. ⫺ 24 Scherf 2, 1362 sq. ⫺ 25 Scherf 2, 1157. ⫺ 26 Ohly, E. F.: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Münster 1940 (Darmstadt 21968), 101 sq. ⫺ 27 wie not. 22. ⫺ 28 Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972, num. 58 (12 Protagonisten). ⫺ 29 Moser, D.-R.: Fastnacht ⫺ Fasching ⫺ Karneval. Graz/Wien/Köln 1986, 165⫺180. ⫺ 30 Weinreich, O.: Triskaidekadische Studien. Gießen 1916, 31.
Leipzig
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Zyklus 1. Allgemeines ⫺ 2. Mythische Zyklen ⫺ 3. Narrative Zyklen ⫺ 4. Geschichtszyklen
1 . All ge me in es. Ein Z. (griech. kyklos: Kreis, Kreislauf, Ring) bildet eine elementare Sinnfigur der Geschlossenheit, die sich durch eine Kreis- und Wiederholungsfigur der Finalität entzieht. Sie ist kennzeichnend vor allem für das mythische Denken, welches das menschliche Leben im Horizont natürlicher (Planetenzyklen, Jahres-, Wochen-, Tageszeiten) oder kultureller (Heiligenkalender, Geburts-, Hochzeitstage) Rhythmen verortet und ihm dadurch Stabilität verleiht1. In der J Mythologie wird der generischen Zyklik von ,Mutter Natur‘ (natura naturans) die zyklische Ordnung des Kosmos durch einen Schöpfergott (natura naturata) gegenübergestellt2. Die Vertrautheit mit dem ewigen Rhythmus der Planeten besitzt ihr Gegenbild im Wechsel von Entstehen und Vergehen (Genealogie), Glück und Unglück (J Fortuna), der dem Z. eine periodische Finalität einschreibt. Texte, die im mythischen Ritual Erinnerung sichern, werden unter Rekurs auf die Kreismetapher und ihre Konnotationen als Z. gefaßt. Dies gilt auch für Textsammlungen, deren Erzählungen um einen Mittelpunkt ⫺ einen Helden oder ein Thema ⫺ kreisen, weiterhin für Slgen von Geschichten, die über sich wiederholende Vollzugsformen des Erzählens strukturiert sind (J Rahmenerzählung), sowie für Texte, deren narrativer Spannungsbogen immer wieder zu seinem Anfang zurückkehrt: Märchen-, Novellen-, Gedicht- und Liedzyklen, Sagenkreise und Romanzyklen. Immer geht es darum, die Spannung von zyklischer und finaler (instrumenteller) Funktion des Erzählens zu modellieren. Literaturanthropol. Ansätze versuchen, literar. Zyklen mit lebensweltlichen, sozialen und ökonomischen Wiederholungsfiguren zu verbinden und verweisen auf den elementaren Status von Rhythmisierung3.
Georg Schuppener
Zwölf Wahrheiten J Kartenspiel Zyklopen J Einäugiger, Einäugigkeit, J Riese, Riesin
2 . Myt hi sc he Zy kl en. Zyklen sind elementarer Bestandteil von Kulturen, die durch mündl. Überlieferung geprägt sind; sie stellen häufig ein Serialitätsphänomen dar. Zyklik realisiert sich einerseits in der Vergegenwärtigung mythischer Ursprungsereignisse im Ri-
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Zyklus
tus, andererseits in der immer wieder erneuerten Erinnerung tradierter Erzählungen im geselligen Erzählen. Wenn antike Opferriten auf der Erinnerung an heroische Mythen (z. B. Prometheus; J Feuerraub) basieren, können sie beide Aspekte verbinden4. Bekannt sind J Schöpfungs- und Gründungsmythen in fast allen Kulturen wie etwa der Manabozho-Z. der Algonkin, der im Rahmen der Erzählungen um den Trickster und J Kulturheros Manabozho von dessen Erschaffung der Erde berichtet5. Um den tibet. Helden J Geser Khan ranken sich mythische Erzählungen von Inkarnation, Heilstaten und Höllenfahrt, in denen der Protagonist das Böse überwindet und zum Heilsbringer wird6. Analog besteht der kelt. J Finnzyklus aus einer Reihe von Erzählungen, die an der Schnittstelle von Heidentum und Christentum entstanden sind. In ihnen erklären Heroen ⫺ z. B. Caoilte, J Ossian, Oscar ⫺ die mythol. Differenz von Sterblichkeit und J Unsterblichkeit, Diesseits und J Jenseits (J Unterwelt), Seßhaften und Nomaden, sie bieten ätiologische Ableitungen von Gräbern, Hügeln, Wäldern und Brücken und geben dadurch Einblick in Struktur und Ereignisse der Vorzeit. In der Begegnung alter paganer Helden und junger christl. Heiliger wird die zyklische Struktur kelt. Mythen durch die christl. Finalitätsfigur (Heilsgeschichte) allerdings nicht vollständig absorbiert, vielmehr geraten die Koordinaten der christl. Kultur in eine herausfordernde Spannung zur kelt. Mythologie7. Noch die christl. Legendensammlungen, z. B. die J Legenda aurea, lassen sich inhaltlich und performativ als zyklische Erzählungen auffassen, da sie nicht nur immer wieder dasselbe Thema der imitatio J Christi aktualisieren, sondern weil ihre Anordnung auch im rituellen Kontext des Kirchenjahres verankert ist: Jeder Tag des Jahres ist dem Gedenken eines Heiligen gewidmet, und der Rhythmus hl. Feste strukturiert die Erinnerung. 3 . Nar ra ti ve Zy kl en. Zyklik kann sich auch jenseits mythischer Erinnerung als reines Erzählphänomen realisieren. Größere Erzählkomplexe, etwa Tierepen wie der J Roman de Renart, die aus einem Z. von z. T. nur locker miteinander verbundenen Tiererzählungen bestehen, bestätigen ein Prinzip von Textvarianz
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mündl. Erzählgemeinschaften, das den je neuen Entwurf einer Geschichte vor dem Hintergrund kursierender Fassungen profiliert8. Gegenüber solcher Reihenbildung basieren andere Slgen auf einem zyklischen Erzählrahmen, z. B. der Sindbad-Z. (cf. J Sieben weise Meister). In J Tausendundeine Nacht besteht das Erzählprinzip darin, durch Wiederholung die J Zeit ,stillzustellen‘, um J Scheherazades Hinrichtung zu verhindern und durch eine seriell organisierte Finalität den Herrscher von seiner Tötungsabsicht abzubringen9. In J Boccaccios Decamerone dient das Erzählen der 100 Novellen dazu, die Monate der Pestgefahr durch ein die Zeit suspendierendes Erzählen zu überbrücken. Boccaccios Technik der zyklischen Rahmenerzählung aufgreifend, entfalten spätere Novellensammlungen (z. B. von Jeanne Flore10, J Marguerite de Navarre oder Jacques Yver11) eine differenzierte Technik ,zyklisch erzählten Erzählens‘; dabei wird über das Spiel mit der Erzählinstanz normatives und reflexives Erzählen ausbalanciert12. Zyklik kann schließlich die Struktur einzelner Erzählungen prägen, wenn etwa in Longos’ Daphnis und Chloe (ca 3. Jh.) das Liebesgeschehen sich im Rhythmus bukolischer Naturzyklen verortet oder wenn die Reise des hl. J Brandan in der Navigatio-Fassung am liturgischen Z. des Kirchenjahres ausgerichtet wird13. In einem weitergefaßten Sinn wurde auch der über ganz Europa, in weiten Teilen Asiens sowie in Nordafrika verbreitete Erzählkomplex um Aschenputtel (AaTh/ATU 510 A⫺B: J Cinderella) als Z. aufgefaßt14. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch um das Phänomen, daß sich bestimmte Erzählinhalte an J Kristallisationsgestalten anlagern, wie etwa auch im Fall von J Ha¯ru¯n ar-Rasˇ¯ıd oder J Hodscha Nasreddin. 4 . G es ch ic ht sz yk le n. Zyklen finden sich auch im Rahmen der Geschichtsdichtung. Die frz. J Chanson de geste-Tradition kennt eine Vielzahl von Königs- und Empörergesten in zyklischer Gestalt: Karls-Z. (J Karl d. Gr.), Willehalms-Z. (J Willehalm), Vivien-Z.15 etc. Diese ,lignagegebundenen Zyklen‘ bestehen zunächst aus Liedern mit relativ hoher Selbständigkeit, entwickeln sich aber durch zunehmende biogr. Auffüllung und Verknüpfung
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zu zyklischen Familienromanen, die „den Zwangscharakter eines immer erneuten Kampfes gegen Verrat und Exil und die Vorläufigkeit jedes endgültigen Sieges im Zeichen des Lignage“ inszenieren16. In den Familienromanen wird die Finalität der Erzählung durch das zyklische Prinzip der Genealogie aufgehoben. Sie bilden über ihre Verkettungstechnik eine hist. Vorstufe für die großen Romanzyklen des Realismus wie Honore´ de Balzacs Come´die humaine (1822⫺47) oder E´mile Zolas RougonMacquart (1871⫺93). 1 Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen. 2: Das mythische Denken. Darmstadt 1958. ⫺ 2 Frye, N.: Der Große Code. Die Bibel und Lit. (L. 1982) Anif 2007, 91⫺93. ⫺ 3 Braungart, W.: Zur Poetik literar. Zyklen. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. ed. K. Csu´ri. Tübingen 1996, 1⫺27; Müller, J.: Das zyklische Prinzip in der Lyrik. In: GRM 20 (1932) 1⫺20; Plumpe, G.: Zyklik als Anschauungsform hist. Zeit. Im Hinblick auf Adalbert Stifter. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. ed. J. Link/W. Wülfing. Stg. 1984, 201⫺225. ⫺ 4 Vernant, J.-P.: Mythos und Religion im alten Griechenland. Ffm. 1995, 63⫺75. ⫺ 5 Gille, J.: Der Manabozho-Flutzyklus der Nord-, Nordost- und Zentralalgonkin. Göttingen 1929. ⫺ 6 Hermanns, M.: Das National-Epos der Tibeter. Regensburg 1965; Heissig, W.: Unters.en zu den Erzählstoffen in den „neuen“ Kap.n des mongol. Geser-Z. Opladen 1983. ⫺ 7 Ramnoux, C.: The Finn Cycle. The Symbols of a Celtic Legend. In: The Crane Bag 2 (1978) 80⫺88; Gregory, I. A.: Gods and Fighting Men. L. 1904. ⫺ 8 Jauß, H. R.: Alterität und Modernität der ma. Lit. Mü. 1977, 17. ⫺ 9 Klotz, V.: Erzählen als Enttöten. Vorläufige Notizen zu zyklischem, instrumentellem und praktischem Erzählen. In: Erzählforschung. ed. E. Lämmert. Stg. 1982, 319⫺334. ⫺ 10 Flore, J.: Comptes amoureux. Touchant la punition que faict Ve´nus de ceulx qui contemnent et mesprisent le vray amour. Lyon 1537. ⫺ 11 Yver, J.: Le Printemps d’Yver, contenant plusieurs histoires discourues en cinq journe´es. P./Antw. 1572. ⫺ 12 Wehle, W.: Novellenerzählen. Frz. Renaissancenovellistik als Diskurs. Mü. 1981, 156⫺174. ⫺ 13 Haug, W.: Vom Imram zur Aventüre-Fahrt. In: id.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tübingen 1989, 379⫺408, hier 382. ⫺ 14 cf. Rooth, A. B.: The Cinderella Cycle. Lund 1951; Ting, N.-t.: The Cinderella Cycle in China and Indo-China (FFC 213). Hels. 1974. ⫺ 15 La Chanson de Guillaume. Übers. F. Suard. P. 1991; Les Enfances Vivien. ed. C. Wahlund/H. von Feilitzen. Uppsala/P. 1895. ⫺ 16 Wolfzettel, F.: Zur Stellung und Bedeutung der „Enfances“ in der altfrz. Lit. In: Zs. für frz. Sprache und Lit. 83 (1973) 317⫺348; 84 (1974) 1⫺32, 338 sq.; cf.
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Heintze, M.: König, Held und Sippe. Heidelberg 1991, 525⫺535.
Göttingen
Udo Friedrich
Zypern. Die im östl. Mittelmeer gelegene Insel Z., anfänglich Teil der altgriech. Welt und Zivilisation, war nach einer Periode röm. Besatzung zunächst lange Bestandteil des byzant. Reichs (330⫺1191); danach war sie von Kreuzfahrern besetzt (1192⫺1489) und stand unter venezian. Herrschaft (1489⫺1571); seit Ende des 16. Jh.s war sie Teil des Osman. Reichs und gehörte seit 1878 zum brit. Empire. 1960 erlangte sie die Unabhängigkeit. Gemäß der zeitgleich durchgeführten Volkszählung waren von den ca 574000 Einwohnern rund 80 % griech. und ca 18 % türk. Zyprioten1. Nach ethnischen Konflikten wurde die Insel 1974 im Zuge der türk. Invasion geteilt; die 1983 proklamierte Türk. Republik Nordzypern ist internat. nicht anerkannt. Im 19. Jh. begannen Intellektuelle aus Griechenland auf Z. mit der Aufzeichnung von Volksüberlieferungen2. Erste Veröff.en von volkskundlichem Material wurden in den 1860er Jahren von I. Myriantheus3, G. Loukas4, M. P. Lambros5 und S. Menardos6 vorgelegt. A. Sakellarios publizierte in der 1. Aufl. (1868) seines Überblickswerks zu Z. acht zypr. Volkserzählungen7 (1891 in der 2. Aufl. auf 17 Texte erweitert8). Eine der Erzählungen erschien 1869 in ital. Übers.9; F. J Liebrecht brachte 1870 eine vollständige kommentierte dt. Übers. heraus10. Dem dominierenden wiss. Interesse des 19. Jh.s entsprechend betrachtete Sakellarios zypr. Erzählungen als Relikte antiker griech. Mythen. Im 20. Jh. erschienen u. a. die Slgen von N. Kliridis11, I. Diller12 und K. Hadjiioannou13. In seinem Kommentar zur Erzählsammlung von N. Konomis14 ging G. A. J Megas auf die Besonderheiten der zypr. Volkserzählungen im Vergleich zur allg.griech. sowie zur weiteren balkan. und europ. Überlieferung ein15. Die Archive der Helle¯nike¯ Laographike¯ Etaireia (Griech. Ges. für Vk.)16, des Kentro Erevne¯s te¯s Helle¯nike¯s Laographias (Forschungszentrum für griech. Vk.) der Akad. in Athen17, der Univ.en Athen18 und Saloniki19 sowie des Kentro Episte¯monikon Erevnon Kyprou (Zypr. Forschungszen-
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trum)20 besitzen umfangreiche volkskundliche Materialien, so auch zahlreiche bislang unveröff. Volkserzählungen. Das traditionelle Z. war durch kleine ländliche Gemeinschaften geprägt, in denen Erzählen ein Bestandteil des täglichen Lebens war. Die ländliche Bevölkerung erzählte sich zum Zeitvertreib bei der Arbeit oft Geschichten21, so bei der Ernte oder beim Entkörnen der Baumwolle. Nach G. Kechagioglou sind viele der aus der zypr. mündl. Überlieferung aufgezeichneten Texte sehr umfangreich22. Zypr. Volkserzählungen sind allg. gekennzeichnet durch einen Hang zur Individualisierung der Handlung, eine analytische Betrachtung der Emotionen der Helden sowie die Ausgestaltung beschreibender Episoden und Handlungsdetails. Anschauliche Beispiele hierfür bieten Var.n von AaTh/ATU 433 B: cf. J König Lindwurm23 und AaTh/ATU 890: J Fleischpfand 24. Zypr. Tiererzählungen sind meist als moralische Geschichten ausgestaltet25. Das zypr. Material bestätigt Megas’ Auffassung von der zentralen Rolle der Tiererzählungen im allg.griech. Korpus. 54 Erzähltypen des Katalogs griech. Tiermärchen (darunter 21 Ökotypen) führen zypr. Var.n an26. Hierzu gehören AaTh 9 A/ATU 9: cf. J Tausch von Pseudotätigkeiten, AaTh/ATU 20 D*: cf. J Tiere fressen einander, AaTh/ATU 60: J Fuchs und Kranich, AaTh 2 A/ATU 64: cf. J Schwanzlose Tiere, AaTh 122 J/ATU 47 B: cf. J Wolf und Pferd, AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn, AaTh/ATU 159 B: cf. J Feindschaft zwischen Tieren und Mensch und AaTh/ATU 275: cf. J Wettlauf der Tiere. Die Erzählungen enden oft mit einer sprichwörtlichen Redewendung als Moral27. In Zaubermärchen ist der Held gewöhnlich der jüngste Bruder; aufgrund seiner Nähe zu dem Haupthelden der byzant. Akritendichtung (J Byzant. Erzählgut, Kap. 4.1) wird er als Digenides bezeichnet. Beliebte Heldenmärchen sind AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter28, AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen und AaTh/ ATU 551: J Wasser des Lebens. Ebenfalls verbreitet sind die Themen der unschuldig verfolgten Frau (AaTh 403 A/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella, AaTh/ATU 707: Die
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drei goldenen J Söhne), der zauberkundigen Ehefrau (AaTh/ATU 402: J Maus als Braut, AaTh/ATU 465 A/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt)29, des übernatürlichen Ehemanns (AaTh/ATU 425: cf. J Amor und Psyche, AaTh/ATU 432: J Prinz als Vogel) sowie der scharfsinnigen Heldin (AaTh/ ATU 875: Die kluge J Bauerntochter). Kindliche Helden sind Tyrimos (AaTh/ATU 327 B: J Däumling und Menschenfresser, AaTh/ATU 328: J Corvetto)30 und Robithas (AaTh/ATU 700: J Däumling). Spezielle Studien liegen zu den griech.-zypr. Var.n von AaTh/ATU 667: J Pflegesohn des Waldgeistes31 und AaTh/ATU 425 A: cf. Amor und Psyche32 sowie zur Geschichte von J Judas Ischarioth33 vor. Im schwankhaften Erzählgut stehen gewöhnlich närrische Frauen, Schwiegermütter und Popen im Mittelpunkt34. Auch der faule Junge (cf. J Askeladden) und der Weise Narr J Hodscha Nasreddin spielen eine Rolle. Aufgrund der geopolitischen und hist. Gegebenheiten spielten die Türkei und Italien beim kulturellen Austausch mit Griechenland eine wichtige Rolle, doch sind nach Megas auch ältere byzant. und moderne balkan. Traditionselemente zu berücksichtigen35. R. M. J Dawkins vertrat die Auffassung, die griech. Volkserzählung sei trotz der Brückenfunktion Griechenlands zwischen Ost und West von großer Unabhängigkeit gekennzeichnet36. Wenngleich vor allem das griech. Erzählgut auf Z. gut erforscht ist, liegen auch einige wenige Slgen türk.-zypr. Erzählungen vor, die hauptsächlich von lokalen Sammlern oder Studenten in der Zeit nach der türk. Invasion und Besetzung des Nordteils der Insel zusammengetragen wurden37. Die gemeinsame traditionelle Lebensform beider Bevölkerungsgruppen läßt vermuten, daß Erzählungen der türk. Zyprer zahlreiche Gemeinsamkeiten mit denen ihrer griech. Nachbarn aufweisen. Volkserzählungen enthalten gelegentlich Elemente, die auf eine friedliche Koexistenz hinweisen, wobei die Erzähler sich an eine gemischte Zuhörerschaft zu richten scheinen: Wenn z. B. in einem Märchen aus St. Dometios (AaTh/ATU 402 ⫹ AaTh 465 A/ATU 465) die wunderbare Braut nachts ohne ihre Katzenhaut im Hof erscheint, leuchtet der Ort von ihrer Schönheit so, daß alle denken, der Tag sei angebrochen, worauf die Priester die Kirchenglocke läuten und der Hodscha aufs Minarett steigt38.
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Statistical Service of Cyprus (im Internet). ⫺ Rogge, S. (ed.): Z. und der Vordere Orient im 19. Jh. Die Levante im Fokus von Politik und Wiss. der europ. Staaten. Münster 2009. ⫺ 3 Myriantheus, I.: Peri ton archaion Kyprion (Über die alten Zyprer). Athen 1868. ⫺ 4 Loukas, G.: Asmata Kypriaka (Zypr. Lieder). In: Chrysallis 3,62 (1865) 429⫺431; id.: O Kyprios ophis (Die zypr. Schlange). In: Pandora 19,440 (1868) 157⫺159; id.: Philologikai episkepseis ton en to bio ton neoteron Kyprion mne¯meion ton archaion (Philol. Besuche bei den alten Monumenten, die für die modernen Zyprer lebendig sind). Athen 1874. ⫺ 5 Lambros, M. P.: Asmata Kypriaka anekdota (Unveröff. zypr. Lieder). In: Chrysallis 3,53 (1865) 150 sq. ⫺ 6 Menardos, S.: Toponimikai kai laographikai meletai (Studien über zypr. Ortsnamen und Volksüberlieferung). ed. M. Christodoulou. Nikosia 1970. ⫺ 7 Sakellarios, A.: Ta Kypriaka. 3: I en Kypro glossa (Über Z. 3: Die Sprache in Z. ). Athen 1868, 136⫺173. ⫺ 8 id.: Ta Kypriaka […] 2. Athen 1891, 299⫺358, 889. ⫺ 9 Comparetti, D.: La leggenda cipriota. In: D’Ancona, A.: La leggenda di Vergogna e la Leggenda di Giuda. Bologna 1869, 115⫺129. ⫺ 10 Liebrecht, F.: Cypr. Märchen. In: Jb. für rom. und engl. Lit. 11 (1870) 345⫺385; cf. Köhler/Bolte 1, 365⫺377. ⫺ 11 Kliridis, N.: Kypriaka paramythia (Zypr. Märchen) 1⫺3. In: Kypriakai Spoudai 23 (1959) 1⫺48; ibid. 25 (1961) 1⫺110; ibid. 26 (1962) 1⫺118. ⫺ 12 Diller, I.: Zypriot. Märchen. Athen 1982. ⫺ 13 Hadjiioannou, K.: Laographika Kyprou (Vk. von Z.). Nikosia (1984) 1997. ⫺ 14 Konomis, N.: Kypriaka paramythia (Zypr. Märchen). In: Laographia 20 (1962) 303⫺408. ⫺ 15 Megas, G. A.: Se¯meioseis eis ta kypriaka paramythia the¯s sylloge¯s N. Konomi (Anmerkungen zu den zypr. Märchen der Slg N. Konomis). ibid., 409⫺445. ⫺ 16 Varvounis, M. G./ Kouzas, G. X.: To Archeio tou „Laographikou Frontistiriou“ tou G. A. Mega. Analytikos katalogos (Das Archiv des „Volkskundlichen Lehrbuchs“ von G. A. Megas. Analytischer Katalog). Athen 2007. ⫺ 17 Spyridakis, G. K./Karakasis, S.: Laographiki apostoli eis tin Kypron (Eine volkskundliche Expedition in Z.). In: Annual of the Folklore Archive of the Academy of Athens 13⫺14 (1960⫺61) 301⫺350. ⫺ 18 Miligou-Markantoni, M.: Kypriaka xeirografa tou Spoudastiriou laographias tou Panepistimiou Athinon (Zypr. Mss. der volkskundlichen Bibl. an der Univ. Athen). In: Proc. of the First Symposium on Cypriot Folklore. ed. A. Rousounidis. Nikosia 1985, 113⫺118. ⫺ 19 Rousounidis, A. X.: Kypriaka xeirografa sto Spoudastirio laographias tou Aristoteleiou Panepistimiou Thessalonikis (Zypr. Mss. in der volkskundlichen Bibl. der AristotelesUniv. Saloniki). In: Annual Review of the Cyprus Research Centre 18 (1991) 77 sq. ⫺ 20 Kypri, T.: O laographikos ploutos tou Archeiou proforikis paradosis (Der volkskundliche Reichtum des Archivs für mündl. Überlieferung). In: Ethnographica 14 (2009) 39⫺43. ⫺ 1 2
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Sakellarios (wie not. 8) 300. ⫺ 22 Kechagioglou, G./Papaleontiou, L.: Istoria te¯s Neotere¯s Kypriake¯s logotechnias (Geschichte der modernen zypr. Lit.). Nikosia 2010, 183⫺196. ⫺ 23 Yiagoullis, K. G.: Kypriaka paradosiaka paramythia ek stomatos Elenis Mich. Satsia apo to Geri-Piroi (1887⫺1982) (Zypr. traditionelle Erzählungen, vorgetragen von Helena Mich. Satsia aus Geri-Piroi [1887⫺1982]). Nikosia 2009, 70⫺79. ⫺ 24 Univ. Athen, Laographiko Archeio ⫺ Syllogi xeirografon, num. 764 (1969) 333⫺ 344. ⫺ 25 Dijk, G.-J. van: Ainoi Logoi Mythoi. Fables in Archaic, Classical and Hellenistic Greek Literature. Leiden 1997; Kliridis, N.: Istories to¯n zoo¯n te¯s Kyprou (Tiergeschichten auf Z. ). In: Kypriakai Spoudai 13 (1949) 1⫺141; Xiouta, P.: Kypriake¯ laographia to¯n zoo¯n (Zypr. Vk. über Tiere). Nikosia 1978 (2001); Hadjiioannou, K.: Kypriakoi mythoi (Zypr. Mythen). Nikosia 2001. ⫺ 26 Megas. ⫺ 27 Loukatos, D. S.: Neoellinikoi paramiomythoi (Neugriech. redensartliche Mythen). Athen 1978. ⫺ 28 Zum Folgenden cf. Megas u. a., Magic Folktales. ⫺ 29 Megas, G. A.: Der um sein schönes Weib Beneidete. AaTh 465. In: HessBllfVk. 49/50 (1958) 135⫺150; Ange´lopoulos, A.: Fiance´e exotique, fiance´e animale? In: Cahiers de litte´rature orale 57⫺58 (2005) 117⫺138. ⫺ 30 Katrinaki, E.: Le Cannibalisme dans le conte merveilleux grec (FFC 295). Hels. 2008, 158⫺233. ⫺ 31 Megas, G. A.: Der Pflegesohn des Waldgeistes (AT 667), eine griech. und balkan. Parallele. In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 211⫺231; Megas u. a., Magic Tales *667 A. ⫺ 32 Megas, G. A.: Ai kypriakai parallagai tou peri Erotos kai Psyche¯s paramythioy (Die zypr. Var.n des Märchen von Amor und Psyche). In: Papadopoulos, T./ Christodoulou, M. (edd.): Proc. of the First Internat. Symposium on Cypriot Studies (Nikosia 1969) 3,2. Nikosia 1973, 211⫺219. ⫺ 33 Puchner, W.: Das Judasgericht auf Z. In: ÖZfVk. 85 (1982) 402⫺405; id.: Europ. Ödipusüberlieferung und griech. Schicksalsmärchen. In: Balkan Studies 26 (1985) 321⫺ 349. ⫺ 34 Meraklis, M. G.: Eutrapeles diigisis. To koinoniko tous periexomeno (Witze und Anekdoten. Ihr sozialer Gehalt). Athen 1980. ⫺ 35 Megas, G. A.: Der griech. Märchenraum und der Katalog der griech. Märchenvar.n. In: Kongreß Kiel/Kopenhagen 1959, 199⫺205; cf. Antoniadis-Bibikou, H.: Recherches sur les conditions historiques de la formation du diffe´rent et du commun dans la culture des pays balkaniques. In: E´tudes balkaniques 3 (1996) 5⫺27. ⫺ 36 Dawkins, R. M.: Modern Greek in Asia Minor. Cambr. 1916, 219⫺230; id.: 45 Stories from the Dodekanese. Cambr. 1950, 21. ⫺ 37 cf. Yorganciog˘lu, O. M.: Kıbrıs Türk Folkloru (Türk.-zypr. Folklore). Mag˘usa 1980; Sakaog˘lu, S.: Kıbrıs Türk Masalları (Türk.-zypr. Märchen). Ankara 1983. ⫺ 38 Zakchaiou-Pasiali, F.: Ta paramythia tou patera mou (Volkserzählungen meines Vaters). Nikosia 1992, 28⫺42. 21
Athen
Marianthi Kaplanoglou
Nachträge
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¯ bı¯, Abu¯ Sa¤d Mansøu¯r ibn al-H A ø usain al-
¯ bı¯, Abu¯ Sa¤d Mansøu¯r ibn al-H ø usain alA ¯ vı¯, auch Abu¯ Sa¤ı¯d), *A ¯ ba (A ¯ ve[h]; bei (auch A Sa¯ve[h], Iran) ca 960, † wohl Rei (heute Stadtteil von Teheran) ca 1030, Verf. einer umfangreichen Enz. unterhaltsamer Kurzprosa in arab. Sprache1. Aus den wenigen verfügbaren ¯. Angaben über sein Leben geht hervor, daß A bei bedeutenden schiit. Gelehrten seiner Zeit studierte und in der Spätzeit der Buyiden-Dynastie (930⫺1062) in Rei das Amt des Wesirs bekleidete. ¯ . verfaßte u. a. die erst kürzlich wiederentA deckte Dichtungsanthologie al-Uns wal-¤urs (etwa: Geselligkeit und Festlichkeit)2 sowie eine (nur aus späteren Erwähnungen bekannte) Geschichte der Stadt Rei3. Seine für die hist. und vergleichende Erzählforschung wichtige Enz. Natßr ad-durr wa-nafa¯Åis al-gˇauhar (etwa: Zerstreute Perlen und kostbare Edelsteine)4 gibt der Autor als Auszug aus seinem weitaus umfangreicheren, nicht erhaltenen Werk Nuzhat al-adı¯b (Unterhaltung des Gebildeten) aus. In sieben Bänden mit insgesamt mehr als 100 Kapiteln stellt er viele Tausend weitgehend humoristische Kurzerzählungen zusammen. Jeder Band widmet sich schwerpunktmäßig einer bestimmten Thematik, die allerdings nicht immer klar erkennbar ist5: Band 1 behandelt neben zwei der Glaubensgrundlagen des Islam ⫺ dem Koran und dem als normativ angesehenen Verhalten (sunna) des Propheten J Mohammed ⫺ die zentrale Voraussetzung des islam. Glaubens schiit. Prägung, die Anerkennung von Mohammeds Schwiegersohn ¤Alı¯ sowie dessen männlichen Nachkommen als einzig gerechtfertigten Nachfolgern Mohammeds; Band 2 widmet sich der Frühzeit des Islam anhand der sog. rechtgeleiteten Kalifen (632⫺61) und der frühen Prophetengenossen; Band 3 führt über die Kalifen der Dynastie der Omaiyaden (661⫺750) zu den bedeutenden Herrschern der zu Lebzeiten des Autors herrschenden Dynastie der Abbasiden (749⫺1258); Band 4 behandelt u. a. Frauen, Band 5 außergewöhnliche Gestalten der islam. Geschichte, Band 6 die Beduinen6; Band 7 enthält mehrere Kapitel aus dem Bereich der Weisheitsliteratur.
Das Werk weist sowohl von Band zu Band als auch inhaltlich innerhalb der einzelnen Bände ein deutliches Gefälle im Niveau auf, das von den Grundlagen des islam. Selbstverständnisses in Band 1 bis hin zu ausgesprochen vulgären bzw. obszönen Themen (t. 4, Kap. 10: Schürzenjäger und Hurenböcke; t. 5,
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Kap. 14⫺16: männliche Prostituierte und Transvestiten, aktiv und passiv praktizierende Homosexuelle; t. 6, Kap. 16: laute und leise Furzer) reicht. Dabei wirkt das vom Autor reklamierte Prinzip einer bewußten Mischung von ,Scherz und Ernst‘7 zunehmend als Lippenbekenntnis, denn in keinem anderen bekannten Werk der arab. Lit. findet sich ein derartig gedrängtes, weitgehend humoristisch geprägtes Panoptikum der frühen arab.-muslim. Gesellschaft8. Gemäß der vorwiegend kompilatori¯ .s Enz. schen Praxis arab. Werke enthält A schwerpunktmäßig aus unterschiedlichen, heute nur noch z. T. greifbaren Quellen zusammengestelltes Material. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.)9: t. 2, p. 134 ⫽ Strafe für unerlaubten Beischlaf im Traum: Schatten des Träumers verprügeln (cf. AaTh/ATU 1804 B: cf. J Scheinbuße). ⫺ 211 ⫽ Einäugiger schätzt Esel exakt auf Hälfte des tatsächlichen Preises (Mot. X 122). ⫺ 216 ⫽ Angeblicher Prophet soll als Wunder ein Schloß öffnen: Ich bin Prophet, kein Schlosser! (Mot. J 1289.1). ⫺ 226 ⫽ AaTh/ATU 1321 A: Fright at the Creaking of a Wheelbarrow (Mill). ⫺ 226 ⫽ AaTh/ATU 830 C: J Gottes Segen. ⫺ 237 ⫽ Musiker fragt hungrigen Gast, welche Melodie er hören möchte: Brutzeln der Bratpfanne! (Mot. J 1343.1). ⫺ 252 ⫽ AaTh/ATU 1533: Die sinnreiche J Teilung des Huhns. ⫺ 3, 254 ⫽ cf. AaTh/ATU 1446: Laßt sie J Kuchen essen! ⫺ 262 und 270 ⫽ Weiser Narr will anstelle der Verrückten in der Stadt lieber die Vernünftigen aufzählen: Das geht schneller (Mot. J 1443). ⫺ 263 ⫽ AaTh/ATU 1645 B: Der gesiegelte J Schatz. ⫺ 267 ⫽ AaTh/ATU 1641 B*: Who Stole from the Church? ⫺ 291 ⫽ AaTh/ATU 2040: J Häufung des Schreckens. ⫺ 4, 108 ⫽ AaTh/ATU 1543 D*: cf. J Baumzeuge. ⫺ 110 ⫽ Zum Tode Verurteilte erbitten als letzte J Gnade, Wasser trinken zu dürfen. Hierdurch werden sie zu Gästen des Herrschers und erlangen Begnadigung (Mot. J 1183.1). ⫺ 112 ⫽ cf. AaTh/ATU 1617: J Kredit erschwindelt (1.1.) ⫺ 113 ⫽ AaTh/ATU 1555 B: The Wine and Water Business. ⫺ 118 ⫽ ATU 1871 B: King Cannot Destroy the City. ⫺ 122 ⫽ cf. AaTh/ATU 1565: J Kratzverbot. ⫺ 130 ⫽ AaTh/ATU 1534 D*: Sham Dumb Man Wins Suit. ⫺ 135 ⫽ cf. AaTh/ATU 763: J Schatzfinder morden einander. ⫺ 136 ⫽ AaTh/ATU 982: Die vorgetäuschte J Erbschaft. ⫺ 145 ⫽ AaTh/ ATU 1331: J Neidischer und Habsüchtiger. ⫺ 255 ⫽ cf. ATU 281: Miscellaneous Tales of Gnats (2). ⫺ 258 ⫽ ATU 1871 D: The Cynic and the Bald-headed Man. ⫺ 278 ⫽ Dummer betrachtet es als Wunder, daß schwarzes Schaf weiße Milch gibt (Mot. J 1291.1.1). ⫺ 295 ⫽ Wiedervergeltung (J Talion) als Strafe dafür, daß Mann Frau unerlaubt geküßt hat: Frau zieht Klage zurück (Mot. J 1174.2). ⫺ 303 ⫽
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¯ bı¯, Abu¯ Sa¤d Mansøu¯r ibn al-H A ø usain al-
ATU 1394: Polygynist Man Loses His Beard. ⫺ 304 ⫽ AaTh/ATU 1362 A*: J Dreimonatskind. ⫺ 5, 307 ⫽ Dummer soll vier Dirham unter drei Leute aufteilen: Zwei bekommen je zwei Dirham, der dritte nichts (Mot. J 1241.2). ⫺ 308 ⫽ Wohin reitet der Mann auf dem durchgegangenen Maultier? ⫺ Wo das Maultier hin will! (Mot. J 1483.2). ⫺ 309 ⫽ AaTh/ATU 1009: J Tür bewacht. ⫺ 313 ⫽ AaTh/ATU 1689 B: J Rezept gerettet. ⫺ 316 ⫽ AaTh/ATU 1592 B: J Topf hat ein Kind. ⫺ 316 ⫽ ATU 1348**: The Man Who Believes His Own Lie. ⫺ 322 ⫽ Angebettelte haben weder Geld, noch Kleidung, noch Essen. ⫺ Dann kommt mit mir betteln gehen! (Mot. J 1334). ⫺ 322 ⫽ Bettler kann nichts erhalten, weil Hausherrin nicht da ist: Ich will Brot, nicht Beischlaf! (Mot. J 1332). ⫺ 329 ⫽ Schüler behauptet, der andere habe sich selbst ins Ohr gebissen (Mot. J 2376). ⫺ 6, 351 ⫽ AaTh/ATU 1920 F: cf. J Lügenwette. ⫺ 521 ⫽ Besoffener wehrt sich gegen den Vorwurf, er sehe doppelt (cf. Mot. J 1623, X 121.1). ⫺ 521 ⫽ cf. AaTh/ATU 774 A, 1169: J Köpfe vertauscht. ⫺ 538 ⫽ AaTh/ATU 1889 F: J Gefrorene Worte. ⫺ 7, 41 ⫽ ATU 1369: The Woman’s Tree. ⫺ 44 ⫽ ATU 1871 E: The Cynic and the Stone-Throwing Boy. ⫺ 49 ⫽ ATU 1871 Z: Other Anecdotes about Diogenes (2) (hier Sokrates). ⫺ 55 ⫽ Herrscher zerbricht kostbaren Becher: Es ist besser, daß ich es tue, bevor es den Dienern passiert und ich darüber in Zorn gerate (Mot. J 2522). ⫺ 56 ⫽ ATU 1368: Marriage to a Small Woman: The Smaller Evil. ⫺ 73 ⫽ Weiser rechtfertigt sich, daß er danach bezahlt wird, was er weiß ⫺ nicht danach, was er nicht weiß (Mot. J 911.1). ⫺ 225 ⫽ AaTh/ATU 875 A: Girl’s Riddling Answer Betrays a Theft. ⫺ 228 ⫽ Eigenschaften des Weins lassen den Trinkenden nacheinander wie Tiere sein: Pfau, Affe, Löwe, Schwein (Mot. A 2851). ⫺ 238 ⫽ cf. ATU 278 C: The Thirsty King Kills His Faithful Falcon. ⫺ 275 ⫽ Löwin bekommt nur ein Junges: Dafür ist es ein Löwe (Mot. J 281.1). ⫺ 275 ⫽ AaTh/ATU 51: J Löwenanteil. ⫺ 276 ⫽ Gefangene Füchse werden sich beim Kürschner wieder treffen (Mot. J 1424). ⫺ 276 ⫽ Angebliches Gespräch der Eulen: Mit diesem Herrscher werden wir immer genug Ruinen haben (Mot. J 816.1; cf. J Vogelsprache). ⫺ 277 ⫽ AaTh/ATU 150: Die drei J Lehren des Vogels. ⫺ 278 ⫽ Falke tadelt Haushuhn, weil es dem Menschen nicht so zuverlässig wie er diene; Huhn kontert, es habe noch nie einen Falken am Bratspieß gesehen (Mot. J 1423). ⫺ 306 ⫽ Gebetsrufer läuft nach Gebetsruf weg: Will wissen, wie weit seine Stimme reicht (Mot. J 1941). ⫺ 314 ⫽ AaTh/ATU 1826: cf. J Predigtschwänke. ⫺ 330 ⫽ Satirische Ratschläge des Lastträgers (cf. AaTh/ ATU 150: Lehren: Die drei L. des Vogels). ⫺ 343 ⫽ AaTh/ATU 1341 C: Robbers Commiserated. ⫺ 344 ⫽ Gestohlenes Hemd beim Versuch, es zu verkaufen, wieder gestohlen: zum Einkaufspreis verkauft (Mot. J 1397). ⫺ 344 ⫽ Eigentümer folgt dem Einbrecher, der seine gesamte Habe fortträgt: Ich denke, wir ziehen um! (Mot. J 1392.1). ⫺ 350 ⫽ ATU 1284 C:
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„You, or Your Brother?“ ⫺ 355 ⫽ Dummkopf verspricht Finder seines entlaufenen Esels zwei Esel als Belohnung: Wegen Freude des Wiederfindens! (Mot. J 2085.1). ⫺ 358 ⫽ cf. AaTh/ATU 1266*: A Third for One-Fourth. ⫺ 359 ⫽ ATU 1288 B: The Stolen Donkey. ⫺ 361 ⫽ AaTh/ATU 1288 A: Sich nicht J zählen können. ⫺ 362 ⫽ AaTh/ATU 1213: The Pent Cuckoo. ⫺ 367 ⫽ AaTh 1278*/ATU 1278: cf. Die merkwürdige J Markierung. ⫺ 367 ⫽ cf. AaTh/ATU 1336 A: cf. J Spiegelbild im Wasser. ⫺ 373 ⫽ Dummer will seine Hälfte des Hauses verkaufen, um mit dem Erlös die andere Hälfte dazu zu erwerben (Mot. J 2213.6). ⫺ 378 ⫽ Dumme meinen, Minarett sei von sehr langen Menschen errichtet; oder es sei zuerst liegend am Boden gebaut und erst später aufgerichtet (Mot. J 2711). ⫺ 390 ⫽ Fehler des neuen Hauses: Tür der Toilette so eng, daß kein Tisch hindurchgeht (Mot. J 2236). ⫺ 404 ⫽ Arzt verschreibt Mann mit Magenverstimmung Augensalbe, damit er nicht noch einmal verbranntes Brot ißt (Mot. J 1603). ⫺ 410 ⫽ Bettler wird durch Schicksalswendung reich und heiratet Witwe des Geizigen (Mot. L 432).
U. J Marzolph hat aufgezeigt, daß das Kita¯b Natßr ad-durr als konkrete Vorlage für den Großteil des syr. geschriebenen Buchs der ergötzlichen Erzählungen des J Barhebräus diente10, von dem man lange Zeit annahm, daß der Autor die „Erzählungen aus sehr verschiedenen Literaturen und Sprachen zusammengetragen“11 habe. Aus dem 15. Jh. liegt ein anonymes Luba¯b Natßr ad-durr (Das Beste aus Natßr ad-durr) vor12, das sich zwar vom Titel her als Exzerpt aus dem Grundwerk ausgibt, aber auch nicht darin enthaltenes Material bringt. Die über Parallelstellen belegbare Nachwirkung reicht darüber hinaus etwa von an-Nuwairı¯s (gest. 1322) Niha¯yat al-arab (Der Herzenswunsch) über as-Suyu¯tø¯ıs (gest. 1505) Tuhø fat al-mugˇa¯lis (Geschenk des Gefährten) bis zum anonymen J Nuzhat al-udaba¯Å (17. Jh.)13. 1 ¯ ., Abu¯ Sa¤ı¯d. In: Enc. Iranica Mazzaoui, M. M.: A 1,2. L. u. a. 1985, 217 sq.; Da¯¤eratol-ma¤a¯ref-e tasˇaiyyo¤/Enc. of Shi¤a. Teheran 1369/1990, 6; Marzolph, Arabia ridens 1, 38⫺45; Z ß aka¯Åi Sa¯vı¯, M.: Abu¯ ¯ vi va Natßr ad-durr (Abu¯ S. al-A ¯ . und [sein S.-e A ¯ yene-ye pazˇuhesˇ 4,20 Buch] Natßr ad-durr). In: A ¯ ., Abu¯ S. M. ibn al-H (1372/1993) 31⫺38. ⫺ 2 A ø . al-: al-Uns wal-¤urs. ed. I¯. F. Ya¯rid. Damaskus 1999; cf. Bin Na¯gˇ¯ı, H.: Ma¯ gˇaÅa fı¯ „Da¯Åirat al-ma¤a¯rif al-isla¯¯ . (Was in der miyya“ ¤an kita¯b „Natßr ad-durr“ lil-A „Enc. Islamica“ über das Buch „Natßr ad-durr“ von ¯ . steht). In: al-¤Arab 25,9⫺10 (1421/2000) 422⫺ al-A 425, 25/11⫺12 (1421/2000) 526⫺530; Zß aka¯Åı¯ Sa¯vı¯, ¯ vı¯. In: A ¯ yene-ye M.: „al-Uns wal-¤urs“-e Abu¯ S.-e A
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Abrahams, Roger D.
pazˇu¯hesˇ 74 (1381/2002) 167⫺175. ⫺ 3 Zß aka¯Åi Sa¯vı¯ (wie not. 1) 33; id. (wie not. 2) 168. ⫺ 4 Textausg.n: ¯ ., Abu¯ S. M. ibn al-H A ø . al-: Natßr ad-durr 7. ed. ¤U. Bu¯g˙a¯nmı¯. Tunis 1983; ibid. t. 1⫺7. ed. M. ¤A. Qurna u. a. Kairo 1980/81/84/85/87/89⫺90/91; ibid. t. 1⫺7 (in 4 Bänden). ed. H ˚ . ¤A. Mahø fu¯zø . Beirut 1424/2003; Teilübers. Owen, C.: Arabian Wit and Wisdom from ¯ .’s Nathr ad-durar. In: J. of the Abu¯ Sa¤ı¯d al-A American Oriental Soc. 54 (1934) 240⫺275; cf. fer¯ . und sein Werk ner Boughanmi, O.: Studien über al-A Natr ad-durr. Diss. Mü. 1963; Khalidov, A. B.: A ¯ . In: Manuscripta Ms. of an Anthology by al-A Orientalia 7,2 (2001) 60⫺63. ⫺ 5 cf. Marzolph, Arabia ridens 1, 40⫺42. ⫺ 6 cf. Binay, S.: Die Figur des Beduinen in der klassischen arab. Lit. (Diss. Halle 2005) Wiesbaden 2006. ⫺ 7 cf. allg. Marzolph, U.: ,Erlaubter Zeitvertreib‘. Die Anekdotenslgen des Ibn ˇ auzı¯. In: Fabula 32 (1991) 165⫺180. ⫺ 8 Maral-G ¯. zolph, Arabia ridens 1, 43. ⫺ 9 Nach der Ausg. A 1980⫺91 (wie not. 4). ⫺ 10 Marzolph, U.: Die Qu. der Ergötzlichen Erzählungen des Bar Hebraeus. In: Oriens Christianus 69 (1985) 81⫺125; Mahø gˇu¯b, Sø . ¤A.: Kita¯b „Tßunna¯ye¯ Meghahø hø ekß a¯ne“ al-Hika¯ya¯t almudø hø ika li-Abı¯ ’l-Faragˇ Ibn al-¤Ibrı¯ wa-atßar kita¯b ¯ . fı¯hi (Das „Buch der erNatßr ad-durr li-Abı¯ S. al-A götzlichen Erzählungen“ des Bar Hebraeus und die ¯ . darin). Spuren des Buchs Natßr ad-durr von al-A Kairo 1426/2006; Marzolph, U.: The Migration of Didactic Narratives across Religious Boundaries. In: Didaktisches Erzählen. Formen literar. Belehrung in Orient und Okzident. ed. R. Forster/R. Günthart. Ffm. u. a. 2010, 173⫺188, hier 184 sq. ⫺ 11 EM 1, 1240 sq. ⫺ 12 Ms. Paris, Bibliothe`que nationale, arabe 3490. ⫺ 13 cf. Marzolph, Arabia ridens 2, 277⫺280.
Göttingen
Ulrich Marzolph
Abrahams, Roger D., *Philadelphia 12. 6. 1933, US-amerik. Folklorist und Amerikanist. A. studierte 1951⫺61 engl. Lit. am Swarthmore College, Pennsylvania sowie Lit. und Folklore an der Columbia Univ. in New York und an der Univ. of Pennsylvania in Philadelphia, an der er 1961 mit einer Arbeit zu Sprachspielen bei der afro-amerik. Bevölkerung in Philadelphia promoviert wurde1. 1960⫺79 lehrte er an der Univ. of Texas in Austin und 1979⫺85 an den Scripps and Pitzer Colleges in Claremont, Kalifornien; 1985⫺ 2002 war er als Professor of Folklore and Folklife an der Univ. of Pennsylvania in Philadelphia tätig. A. wirkte u. a. an der Einrichtung des Smithsonian Festival of American Folklife (1967) und des American Folklife Center der Library of Congress (1976) mit. 1979 war er
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Präsident der American Folklore Soc.; 2005 erhielt er deren Kenneth S. Goldstein Award. Als Pionier der J Performanzstudien untersuchte A. u. a. Theorie und Geschichte der Volksüberlieferung, Aspekte der Kreolisierung, Fest und Volksschauspiel, Volkslied, Sprachspiel und Volkserzählung. Eines seiner zentralen Arbeitsgebiete ist die Erforschung afrik.-amerik. und karib. mündl. Ausdrucksformen2, in deren Rahmen er u. a. auf die Funktion von Rassenstereotypen bei der sozialen Interaktion verwies3. In seinen Studien zum Zusammenspiel unterschiedlicher Kulturen zeigte A., daß naiv erscheinende Nachahmungen kultureller Praktiken der Engländer in der afrik.-amerik. Überlieferung parodistische und kritische Tendenzen haben können4. Eine ähnlich gelagerte Studie gilt den Begegnungen engl. Siedler mit Indianern im kolonialen Amerika5. Die von A. zusammen mit A. Paredes und R. Bauman etablierte Forschungsrichtung versteht die Volksüberlieferung nicht als harmonischen Ausdruck grundlegender Werte in einer geschlossenen Gemeinschaft, sondern als ein ,Um-die-Wette-Schreien an der Grenze‘, das der Abgrenzung unterschiedlicher Gemeinschaften voneinander dient6. Die von A. herausgegebenen Anthologien afrik. und afrik.-amerik. Volkserzählungen basieren sowohl auf Archivmaterial als auch auf im Zuge eigener Feldforschungen erhobenen Texten7. Sein wichtigster theoretischer Beitrag zur Erzählforschung betont das ständige Neuentstehen der Gattungen, die sich unter bes. gesellschaftlichen Umständen durch das Zusammenspiel persönlicher Macht und sozialer Beschränkung herausbilden8. In seiner Unters. der afrik.-amerik. ,Toasts‘ ⫺ mündl. Gedichte, die in epischer Breite Taten mit Verstoßcharakter schildern ⫺ zeigte A., wie Erzählungen zur Behauptung männlicher Macht in einem Kontext struktureller Diskriminierung genutzt werden9. Seine Studien zur Karibik befaßten sich mit rhetorischen Strategien in einer Situation der Koexistenz konkurrierender Modelle von Eloquenz und Männlichkeit10. Kulturelle Kreativität entsteht A. zufolge aus dem intensiven Kontakt unterschiedlicher Überlieferungen. Indem Akteure von niedrigem sozialem Status neue Ausdrucksmöglichkeiten finden, erschaffen sie auch neue Gat-
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tungen. So wies A. nach, wie die westind. J Cante fable aus Neubearbeitungen engl. Balladen vor dem Hintergrund afrik. Trickstererzählungen entsteht11; die spezifische Ausgestaltung der westind. Nansi ’tory (J Anansi) ist im Kontext der Totenwache angesiedelt12. In A.’ Neudefinition der traditionellen Gattungsklassifikation reicht das Spektrum der sozialen Interaktion von der ,totalen interpersonellen Beteiligung‘ der dialogorientierten Genres über dramatische Gattungen zu den ,fiktiven‘ Genres (darunter den Formen der Volkserzählung) und schließlich bis zur materiellen Kultur, in der eine vollständige Trennung zwischen Produzenten und Verbrauchern herrscht13. Ausgehend von der Annahme, daß Heterogenität und Konflikt die Grundvoraussetzungen für das Entstehen von Volksüberlieferung bilden, verstand A. Erzählereignisse als kollektiv konstruierte, prekäre Räume erlaubter Reflexion in einer ungewissen Welt14. 1
A., R. D.: Deep Down in the Jungle … Negro Narrative Folklore from the Streets of Philadelphia. Chic. 1970. ⫺ 2 z. B. id.: Talking Black. Rowley, Mass. 1976; id. u. a.: Blues for New Orleans. Mardi Gras and America’s Creole Soul. Phil. 2006. ⫺ 3 z. B. A., R. D.: The Negro Stereotype. Negro Folklore and the Riots. In: JAFL 83 (1970) 229⫺249, cf. 249⫺258. ⫺ 4 id./Szwed, J. F.: After Africa. Extracts from British Travel Accounts and Journals. New Haven 1983; A., R. D.: Singing the Master. The Emergence of African American Culture in the Plantation South. N. Y. 1992. ⫺ 5 id.: History and Folklore. Luck-Visits, House-Attacks, and Playing Indian in Early America. In: Cohen, R./Roth, M. S. (edd.): History and … Histories within the Human Sciences. Charlottesville 1995, 268⫺295. ⫺ 6 Bauman, R./A., R. D. (edd.): And Other Neighborly Names. Social Process and Cultural Image in Texas Folklore. Austin 1981. ⫺ 7 A., R. D.: African Folktales. Traditional Stories of the Black World. N. Y. 1983; id.: Afro-American Folktales. Stories from Black Traditions in the New World. N. Y. 1985. ⫺ 8 id.: Personal Power and Social Restraint in the Definition of Folklore. In: Paredes, A./Bauman, R. (edd.): Towards New Perspectives in Folklore. Austin 1972, 16⫺30. ⫺ 9 id. (wie not. 1). ⫺ 10 id.: The Man-of-Words in the West Indies. Performance and the Emergence of Creole Culture. Baltimore 1983. ⫺ 11 id.: Child Ballads in the West Indies. In: J. of Folklore Research 24 (1987) 107⫺134. ⫺ 12 id.: Storytelling Events. The Structure of Nonsense on St. Vincent. In: id. (wie not. 10) 157⫺200. ⫺ 13 id.: The Complex Relations of Simple Forms. In: Ben-Amos, D. (ed.): Folklore Genres. Austin 1976, 193⫺214. ⫺
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id.: Complicity and Imitation in Storytelling. In: Cultural Anthropology 1 (1986) 223⫺237.
Columbus, Ohio
Dorothy Noyes
Afghanistan. Der heutige Staat A. ist ein Produkt neuzeitlicher Kolonialpolitik1. Bis zum 18. Jh. wurde das Gebiet von unterschiedlichen pers.- bzw. turksprachigen Dynastien kontrolliert. Stammesbündnisse der Paschtunen konsolidierten eine Monarchie, die im 18. Jh. den größten Teil des heutigen A. beherrschte. Nachdem die seit ca 1840 andauernden brit. Kolonialbestrebungen 1919 zu Ende gegangen waren, wurde A. 1933⫺73 eine konstitutionelle Monarchie und war seit 1973 eine Republik, die 1978⫺92 von sowjet. gestützten marxistischen Regimes geführt wurde; es folgten Bürgerkrieg und Herrschaft der islamistischen Taliban. Nach den Terroranschlägen vom 11. Sept. 2001 erfolgte eine militärische Intervention unter Führung der USA. Trotz einer gewissen Demokratisierung ist die Situation in A. nach wie vor von heftigen Konflikten geprägt. A. ist in ethnischer und sprachlicher Hinsicht ein überaus vielfältiger Staat. Die Bevölkerung umfaßt etwa zur Hälfte Gruppen, welche Dari, die afghan. Var. des modernen Persisch, sprechen (30 % Sunniten, gewöhnlich J Tadschiken genannt; 15 % schiit. Hazara; ca 5 % weitgehend turkstämmige sunnit. Aimaken); die andere Hälfte der Bevölkerung umfaßt ca 40 % überwiegend sunnit. Paschtunen (J Pakistan, Kap. 3.3), ca 10 % sunnit. J Usbeken und J Turkmenen sowie zahlreiche kleinere Gruppen. Die Dari-sprachigen Jat (Jugi), gesellschaftlich marginalisierte Handwerker und Unterhaltungskünstler, sind möglicherweise mit den Roma (J Sinti, Roma) verwandt2. Die alteingesessene jüd. Stadtbevölkerung ist seit den 1940er Jahren vollständig ausgewandert, zum Großteil nach Israel, wo manche ihrer traditionellen Lieder und Erzählungen archiviert worden sind3. 1978 lebten 85 % der afghan. Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gegenden, wo sie Landwirtschaft und Viehzucht betrieben; ähnlich hoch war der Anteil der Analphabeten. Aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg sind zahllose Menschen in den Iran, nach Pakistan und in andere Länder geflüchtet.
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Afghanistan
Das zentrale Gebirge A.s, der Hindukusch, bildete hist. eine geogr. und strategisch bedeutsame Barriere zwischen den europ. Imperialmächten (Rußland, Großbritannien), die Zentral- und Südasien im 19. Jh. beherrschten. Allerdings wurde das Gebirge seit prähist. Zeiten von zahlreichen ⫺ als ,Seidenstraße‘ bezeichneten ⫺ Handelsstraßen durchquert und umgeben, die den Fernen Osten sowie Mittelund Südasien mit dem iran. Hochland, Anatolien, dem Mittelmeerraum und letztlich mit Europa verbanden. Es ist davon auszugehen, daß sich auf diesen Handelswegen auch mündl. überlieferte Erzählungen verbreiteten. Im folgenden werden traditionelle mündl. Erzählungen in Dari-Persisch behandelt. Überblicke zur Geschichte der Erzählüberlieferung und -forschung haben R. Rahmoni4 und M. Mills5 vorgelegt. Das Interesse afghan. Wissenschaftler an mündl. Überlieferung läßt sich etwa 100 Jahre zurückverfolgen. Die ersten Texte erschienen in den 1920er Jahren in der Kulturzeitschrift Sera¯gˇ al-ah˚ ba¯r (Lampe der Nachrichten). In seinem Leitfaden zur Erfassung der afghan. Volksliteratur benutzte S. Guya¯ 1939 als erster den pers. Begriff mardom-sˇena¯si (Ethnologie)6. In den späten 1960er Jahren erschien die Kulturzeitschrift Lmar (Sonne), deren kurze illustrierte Beiträge u. a. Erzählungen, Lieder, Spiele, Rätsel, Sprichwörter und Texte anderer Gattungen der mündl. Überlieferung abdruckten und behandelten. Seit den frühen 1970er Jahren gab das Kulturministerium eine ausschließlich der Volksüberlieferung gewidmete Zs. heraus, die kurze Beiträge zur lokalen Überlieferung, darunter Erzähltexte, veröffentlichte; sie erschien zunächst u. d. T. Folklor, dann als Farhang-e h˚ alq bzw. Farhang-e mardom (Volkskultur)7; die Zs. wurde in den späten 1980er Jahren eingestellt. Zahlreiche Forscher haben sich seit den 1960er Jahren mit der Sammlung und Unters. der Volksüberlieferung befaßt. E. Sˇahra¯ni sammelte vorrangig Sprichwörter8. H. Baghban verfaßte eine umfangreiche Diss. mit textbezogenen und soziol. Analysen des Volksschauspiels in Herat9. A. Sˇo¤ur veröffentlichte u. a. eine Unters. von über 600 Rätseln, z. T. im Dialekt, sowie eine Einführung in europ. Theorien zur mündl. Kommunikation10. A. A. ˇ awid publizierte eine Slg von Lokalsagen, G
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die zuvor von R. Hackin und A. A. Kohzad in frz. Sprache veröffentlicht worden waren11. In den 1980er und 1990er Jahren erschienen weitere Monogr.n und Erzählsammlungen12. Während der marxistischen Herrschaft wurden ursprünglich auf Tadschikisch verfaßte methodische Abhdlgen zur Erzählforschung auf Dari veröffentlicht, so bes. von Rahmoni; dieser führte seit den 1980er Jahren u. a. unabhängige Feldforschungen zur Aufzeichnung von Texten aus der afghan. mündl. Überlieferung durch13. Eine Pionierleistung war Rahmonis systematische Beschreibung von Gattungen und Untergattungen in der Dari-sprachigen Erzähltradition14. Die 1980er Jahre bildeten den Höhepunkt der Publ.en zur mündl. Überlieferung A.s; die Erhebungen für viele dieser Monogr.n stammen wahrscheinlich aus der Zeit vor 1978. Demgegenüber förderte die marxistische Regierung Veröff.en in Kabul lebender Wissenschaftler als Beitrag zu einem positiv gewerteten kulturellen Nationalismus. Mills legte Unters.en über mündl. Märchenperformanzen vor, die sie 1975/76 in Herat aufgezeichnet hatte15. Die Dari-sprachigen Märchen A.s sind meist nach U. J Marzolphs Typologie des pers. Volksmärchens klassifizierbar16. Ökotypische Varianz zeigt sich z. B. darin, daß neben dem iran. Schah ¤Abba¯s (1571⫺1629) Mahø mud von Ghazni (971⫺1030) als Kristallisationsfigur des gerechten Herrschers erscheint. Manche Erzähler haben afghan. Lokalkolorit in Wandererzählungen oder Erzählungen aus literar. Qu.n eingefügt17. Einige Slgen konzentrieren sich auf epische Erzählungen über lokale Helden18. Die Interdependenz zwischen mündl. und schriftl. Erzählen bildete bis in die jüngste Vergangenheit die Norm in A.: Angehörige der alphabetisierten Minderheit lasen vor oder erzählten mündl. nach, und Schriftsteller griffen routinemäßig auf mündl. Überlieferung zurück. In den 1970er Jahren waren Darbietungen des iran. Nationalepos Sˇa¯hna¯me (J Firdausı¯) selten geworden, nur gelegentlich wurden noch Prosafassungen von Sˇa¯hna¯me-Erzählungen oder verwandten Geschichten, bes. über den Helden Rostam, vorgetragen. Im Nordosten wurde das tadschik. Gurogli-Epos (J Körog˙lu) bis in die frühen 1970er Jahre ge-
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Afghanistan
sungen19. Die im Iran und auf dem ind. Subkontinent gedr. Heftchenliteratur, hauptsächlich Liebesromanzen, Heldenerzählungen und Legenden, wie sie noch Mitte des 20. Jh.s verkauft wurden, ist zu Beginn des 21. Jh.s praktisch aus dem Handel verschwunden20. Wenngleich in einigen Regionen A.s die Gewalt anhält und es nach wie vor Angriffe auf öffentliche Schulen, bes. Mädchenschulen, gibt, wächst das Interesse an Schulbildung kontinuierlich; dasselbe gilt für die Nutzung der Massenmedien und von Mobiltelefonen. Das 1978 in Kabul eingerichtete Fernsehen, in der Zeit der Taliban verboten, boomt seit 2001, womit u. a. eine Überfrachtung der afghan. Kultur durch ausländische (ind., europ. und amerik.) Musik und Filme verbunden ist. Die überaus populäre Sendung Afghan Star von Tolo TV holte Gesangs- und Tanzdarbietungen aus den kulturellen Randbereichen einer beliebten, wenngleich von islam. Autoritäten mißbilligten Professionalität in eine globale massenmediale Amateur-Arena. Damit ersetzen neue urbane Unterhaltungsmedien traditionelle mündl. Formen der Unterhaltung. Auch die afghan. Bevölkerung in der Diaspora trägt weiter zur Dokumentation und Erforschung der afghan. Erzählüberlieferung bei. Im Iran lebende Afghanen engagieren sich auf dem Gebiet neuer Dichtung und Prosa21. Iran. und afghan. Verlage bringen neue Slgen afghan. Märchen heraus22. Der bewegende Kriegsroman Syngue´ Sabour. Pierre de patience (P. 2008) von Atiq Rahimi ist eine literar. Adaptation des in A. weitverbreiteten Märchens AaTh/ATU 894: J Geduldstein. ¯ rya¯nfar verfaßte an der Univ. DuSˇ. H. A schanbe eine Diss. über ¤Ali, den Vetter und Schwiegersohn des Propheten J Mohammed23. Die Veröff. von elf Erzählungen aus der mündl. Überlieferung durch Y. Ioannesyan ist sprachwiss. ausgerichtet24. Bei der älteren Bevölkerung A.s und bei Teilen der Jugend besteht nach wie vor Interesse an mündl. tradierten Volkserzählungen. Außer Oral History haben bes. Legenden ein Publikum, letztere oft im Kontext von Predigten in Moschee und Rundfunk. Sprichwörter sind als erzählerische Kommentare in täglichem Gebrauch, aber das Wissen der Benutzer um die ihnen zugrundeliegenden Geschichten ist z. T. begrenzt25. Grundsätzlich werden Erhaltung
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und Weitervermittlung der Repertoires der Erzähler sowohl durch die Migrationsbewegungen als auch durch die Massenmedien beeinträchtigt. 1
Barfield, T.: A. A Cultural and Political History. Princeton 2010. ⫺ 2 ibid., 23⫺31; Baghban, H.: The Context and Concept of Humor in Magadi Theater 1⫺4. Diss. Bloom. 1976. ⫺ 3 Soroudi. ⫺ 4 Rahø ma¯ni, R.: Ta¯rih˚ -e gerd-a¯vari, nasˇr va pazˇuhesˇ-e afsa¯neha¯ye mardom-e fa¯rsi zaba¯n (Geschichte der Slg, Veröff. und Unters. der Märchen der pers.sprachigen Völker). Schiraz 2001, bes. 132⫺151, 194⫺208. ⫺ 5 Mills, M.: Oral and Popular Literature in Dari Persian of A. In: Kreyenbroek, P. G./Marzolph, U. (edd.): Oral Literature of Iranian Languages. L. 2010, 303⫺321. ⫺ 6 Guya¯, S.: Ra¯hnema¯-ye folklor (Leitfaden zur Volksüberlieferung). Kabul 1939. ⫺ 7 cf. Toufiq, ¤A.: Owsa¯ne-ye si sa¯ne (Die Erzählung von dreißigerlei Arten). Kabul s. a. (Slg von 17 Dialektmärchen, die in den 1980er Jahren in der Zs. erschienen waren). ⫺ 8 Sˇahra¯ni, E.: Amsßa¯l va hø ekam (Sprichwörter und Redensarten). Kabul 1975; id.: Zø arbolmasßalha¯-ye dari-ye Afg˙a¯nesta¯n (Dari-Sprichwörter aus A. ). Union City, Calif., 1999. ⫺ 9 Baghˇ ista¯nha¯-ye sˇafa¯hiban (wie not. 2). ⫺ 10 Sˇo¤ur, A.: C e dari (Mündl. Rätsel in Dari). Kabul 1986; id.: Mofa¯heme-ye sˇafa¯hi va seir-e ta¯rih˚ i-e a¯n dar Afg˙a¯nesta¯n (Mündl. Kommunikation und ihre hist. Charakteristika in A. ). Kabul 1988. ⫺ 11 ˇ Gawid, A. A.: Afsa¯neha¯-ye qadim-e sˇahr-e Ka¯bol (Alte Märchen aus der Stadt Kabul). Kabul 1964; Hackin, R./Kohzad, A. A.: Le´gendes et coutumes afghanes. P. 1953. ⫺ 12 cf. u. a. Siya¯mak, A. Zø .: Morg˙-e toh˚ m-e tøala¯Åi (Der Vogel mit den goldenen Eiern). Kabul s. a. (1980er Jahre?); Rahø ma¯ni, R.: Namuneha¯-ye folklor-e dari 1⫺3 (Proben der Dariˇ ina, sprachigen Volksüberlieferung). Kabul 1984; G Y. A.: Afsa¯neha¯-ye Nurista¯ni (Märchen aus Nuristan). Kabul 1991. ⫺ 13 Rahø ma¯ni (wie not. 12); id.: Afsa¯neha¯-ye dari (Dari-Volksmärchen). Teheran 1995; Rahmoni, R.: Prostonarodnaja literatura sovremennogo A.a (Die populäre Lit. des modernen A.s) 1⫺2. M. 1994. ⫺ 14 id.: Afsona va zhenrho-ye digar-i nasr-i shafohi (Volkserzählungen und andere Prosagenres). Duschanbe 1999. ⫺ 15 Mills, M.: Oral Narrative in A. The Individual in Tradition. N. Y./ L. 1990; ead.: Rhetorics and Politics in Afghan Traditional Storytelling. Phil. 1991. ⫺ 16 Marzolph. ⫺ 17 Mills, M.: „Alf Laylah“ in Performance. A. [2004]. In: Marzolph, U. (ed.): The Arabian Nights in Transnational Perspective. Detroit 2007, 313⫺330. ⫺ 18 z. B. Yaqin, G. H.: ¤Ayya¯ra¯n va ka¯ka¯ha¯-ye H ˚ ora¯sa¯n dar gostare-ye ta¯rih˚ (Heroische Trickster und Draufgänger aus Khorasan im Lauf der Geschichte). Kabul 1986. ⫺ 19 Sakata, H. L.: Music in the Mind. Wash. 22002. ⫺ 20 cf. Marzolph, U.: Da¯sta¯nha¯-ye sˇirin. 50 pers. Volksbüchlein aus der 2. Hälfte des 20. Jh.s. Stg. 1994; Hanaway, W. L./Nasir, M.: Chapbook Publishing in Pakistan. In: Hanaway,
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Agricola, Johann
W. L./Heston, W. (edd.): Studies in Pakistani Popular Culture. Islamabad/Lahore 1996, 339⫺ 615. ⫺ 21 Olszewska, Z.: The Pearl of Dari. Poetry and Personhood among Young Afghans in Iran. Bloom. (im Druck). ⫺ 22 Rahø ma¯ni 1995 (wie not. 13); Kha¯vari, M. J.: Qesøsøeha¯-ye Haza¯raha¯-ye Afgha¯nesta¯n (Erzählungen der Hazara A.s). Teheran 1387/2008; id.: Ha˙ aznavi, A. R.: Asa¯tøir, za¯resta¯n. Teheran 1388/2009; G nasßr-e dari-e Afg˙a¯nesta¯n. Sih qesøsøe (Fabeln, DariProsa A. s. 30 Erzählungen). Teheran 1382/2003; Hotak, H.: Doh˚ tar-e Souda¯gar. Afsa¯neha¯-ye folklorik-e afg˙a¯ni (Die Kaufmannstochter. Afghan. Mär˙ .: chen). Kabul 1389/2009 (22010); Beresˇna¯, A. G Liya¯n, doh˚ tar-e pa¯desˇa¯h-e Ba¯h˚ tar. Qesøsøeha¯ va afsa¯neha¯ az adabiya¯t-e zaba¯n-e dari mah˚ søusø-e atøfa¯l va nougˇava¯na¯n (Liya¯n, die Tochter des Königs Ba¯khtar. Geschichten und Märchen aus der mündl. DariÜberlieferung, bes. für Kinder und Jugendliche). ¯ rya¯nfar, Sˇ. H.: Sima¯-ye hø az˙rat-e Kabul 2000. ⫺ 23 A ¤Ali dar farhang-e mardom-e fa¯rsizaba¯n (Die Person ¤Alis in der Kultur pers.sprachiger Völker). Duschanbe 2001. ⫺ 24 Ioannesyan, Y.: Afghan Folktales from Herat. Amherst, N. Y. 2009. ⫺ 25 Mills, M.: Gnomics: Proverbs, Aphorisms, Metaphors, Key Words and Epithets in Afghan Discourses of War and Instability. In: Green, N./Arbabzadah, N. (edd.): A. in Ink. Literature between Disapora and Nation. N. Y. 2013, 229⫺251.
Deer Harbour, Wash.
Margaret Mills
Agricola, Johann (eigentlich Johann Schnitter [Schneyder, Sneider], auch genannt Magister Islebius oder Magister Eisleben), *Eisleben 20. 4. 1494 (eventuell schon 1490 oder 1492), † Berlin 22. 9. 1566, dt. Theologe, Pädagoge und Sprichwortsammler. Nach dem Studium an der Artistenfakultät der Univ. Leipzig (1509/10) unterrichtete A. als Lehrer in Braunschweig; 1515/16 studierte er Theologie bei J Luther in Wittenberg und befreundete sich mit J Melanchthon. Er erwarb dort den Grad eines Magisters (Febr. 1518), wurde Baccalaureus biblicus der Theol. Fakultät (Sept. 1519) und studierte 1521⫺23 Medizin. Ab 1523 wirkte er als Dozent an der Theol. Fakultät und betätigte sich als Katechet und Prediger. 1525⫺36 war er (mit Unterbrechungen) Pfarrer an der Nikolaikirche in Eisleben und Leiter der neugegründeten Lateinschule. Er organisierte das evangel. Schul- und Kirchenwesen und begleitete seinen Landesherrn, den sächs. Kurfürsten Johann den Beständigen, 1526/29 als Reichstagsprediger nach Speyer und 1530
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nach Augsburg. Wegen wiederholter Auseinandersetzungen mit dem Kurfürsten kehrte er Ende 1536 nach Wittenberg zurück und wurde 1539 Mitglied des Konsistoriums, 1540 Hofprediger des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg und 1543 Generalsuperintendent der Mark. Durch A.s engagierte Mitarbeit am Augsburger Interim von 1548 zog er sich die Feindschaft evangel. Theologen zu, doch gelang es ihm 1552 im sog. Osiandrischen Streit, seinen Ruf als Lutheraner wiederherzustellen1. A. gab Luthers Predigten über das J Vaterunser (1518) heraus, verfaßte die erste dt. Schulordnung (1525) sowie lat. und dt. Bibelkommentare (1525, 1530) und Kirchenlieder. Noch vor Luther entwarf er zur praktischen Glaubensvermittlung mit Elementa pietatis (Eisleben 1527, Hagenau 1527) einen lat. J Katechismus, der im gleichen Jahr in dt. Sprache als Eine Christl. kinder zucht ynn Gottes wort und lehre herauskam (erw. 1528, überarbeitet 1541). Außerdem wirkte er als Übersetzer lat. Schriften von Melanchthon (1527) und Jan Hus (1529, 1536), verfaßte ein Schuldrama über Hus (1537) und übertrug die Komödie Andria des J Terenz (1543). Für die Erzählforschung von bes. Bedeutung sind A.s Sprichwortsammlungen2. Dabei handelt es sich nach der weniger bekannten Slg ndd. J Sprichwörter mit lat. Übers.en (1513, 31515) des Anton Tunnicius um die ersten volkssprachlichen Kompilationen in dt. Sprache. Die erste Ausg. Drey hundert Gemeyner Sprichworter (Hagenau 1529) wurde bereits im Erscheinungsjahr mehrfach in Hagenau nachgedruckt, erfuhr aber auch Kritik, u. a. von Luther3 und von Ludwig von Passavant, der bes. die Polemik gegen Herzog Ulrich von Württemberg zurückwies4, die A. in der 2. Aufl. herausnahm. Als Druckorte weiterer Ausg.n von 1529 sind Zwickau, Erfurt, Nürnberg (Lpz. 1530; ndd. Magdeburg s. a.) bekannt. Im selben Jahr folgte mit Das Ander teyl gemeyner Deutscher sprichwortter eine Forts. (Eisleben, Hagenau, Erfurt und Nürnberg) mit 450 (eigentlich 449) Sprichwörtern, hernach mit dem 1. Teil in einem Band und in geänderter Reihung zusammengefaßt u. d. T. Sybenhundert vnd Fünfftzig Teutscher Sprichwörter (Hagenau 1534, 1537; s. l. 1541, 1548, 1558). Eine Slg von Hofsprichwörtern gab
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Agricola, Johann
A. u. d. T. Fünfhundert Gemainer Newer teutscher Sprüchwörter (Eisleben 1548) heraus5. Bereits in der Vorrede von 1529 äußerte sich A. zu Form, Inhalt und Geschichte der Sprichwörter und beklagte das Fehlen von Slgen in dt. Sprache: schließlich hätten die ,alten‘ Deutschen wie andere Völker auch „gesetze und rechte“ als moralische Maximen „ynn kurtze wort verfasset“; es sei notwendig, diese für jedermann gültigen Verhaltensvorschriften als moralische Lehren zu bewahren und anzuwenden. Seine Slgen enthalten neben Sprichwörtern, Redensarten und einigen Wellerismen nach dem Vorbild der Adagiorum collectanea (1500) des J Erasmus von Rotterdam eine Art Sprichwortessays6: philol. Erklärungen und Kommentare sowie Auslegungen, veranschaulicht durch Anekdoten, Historien, Fabeln und Mären7. Die Anordnung der Sprichwörter ist weder alphabetisch noch thematisch, aber auch nicht unsystematisch. Häufiger folgen zusammengehörige Themen oder Akteure aufeinander. Die Spruchweisheiten sind aus unterschiedlichsten Qu.n, die A.s stupendes Wissen bezeugen, zusammengetragen. Vorwiegend griff er auf Bibelstellen zurück8, aber auch auf antik-heidnisches und/oder spätma.-christl. Erzählgut sowie auf zeitgenössische Autoren und Werke. Eine ungenannte Qu. ist eine spätere Ausg. der Proverbia communia (Erstdruck Deventer 1480; auch ndd. und lat. Ausg.n); die Slgen von Heinrich J Bebel und Tunnicius dürfte A. gekannt und benutzt haben9. Häufig zitiert sind Hugo von Trimbergs Renner (spätes 13./frühes 14. Jh.) und Freidanks Bescheidenheit (frühes 13. Jh.). Prosa ist mitunter gemischt mit Verseinlagen. Öfter finden sich lat. oder griech. Sprichwörter als Marginalien. Zur Absicherung gegen kritische Einwände bekannte A. freimütig, er schätze seine Stücke als nicht immer konform mit den ethischen Vorstellungen seiner Zeitgenossen ein (1534, num. 677). Zur Illustrierung von Sprichwortweisheiten flocht er zeittypische Vorstellungen über J Narren und die J verkehrte Welt ein sowie bemühte mehrfach düstere Prophezeiungen über den Weltuntergang (J Eschatologie) und das J Jüngste Gericht (1534, num. 667, 710, 711). Herrschaftsansprüche des Mannes10 und traditionelle frauenfeindliche Äußerungen begegnen durchgängig. Als Anhänger der Re-
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formation bemühte A. Luther und Melanchthon und streute konfessionspolemische Äußerungen ein. Die Stücke differenzierte A. nur gelegentlich als ,historien‘ (1548, num. 1, 10) oder als ,fabeln oder märlin‘ (1534, num. 710), aber nicht als Anekdoten (was sie meist sind). Bei ihm begegnen z. T. die ersten Belege für bekannte Sprichwörter (1534, num. 81: ,Wenn dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen.‘) oder frühe Nachweise von Märchen- und Sagengestalten wie ,aschenbrodel‘ (1534, num. 515; AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella) und J Frau Holle: Danach ist die Holde eine Hexe, die auf einem Mantel, Bock oder Rokken zum Blocksberg fährt (1529, 301)11. Die spätere Slg von Hofsprüchen (1548) mit zumeist neuen Beispielen verzichtet weitestgehend auf die Einfügung von Erzählbeispielen aus der volkssprachlichen Lit., begnügt sich mit kurzen Sacherläuterungen, lenkt den Blick auf sprachliche Besonderheiten oder zieht mit dem Ziel einer moralischen Unterweisung vergleichend bibl. Texte heran. Offenbar beeinflußt von seinen eigenen Erfahrungen als Hofprediger, kritisierte A. das Leben am Hofe, prangerte die Hofgesellschaft an (Verschwendungssucht, Opportunismus) und tadelte, wie auch schon in den früheren Slgen, Herrscher, welche die verliehene irdische Macht nicht zum Wohl des ,regiments‘ einsetzen, willkürliche Urteile fällen, unbarmherzig gegen die Untertanen vorgehen und ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen12. Allerdings wird der Herrschaftsanspruch im Sinne von Luthers obrigkeitsstaatlichem Denkmuster per se nicht angezweifelt. Typ en - u nd Mo ti vv er z. (Ausw.)13: num. 23 ⫽ Nobiskrug als Wirtshaus des Teufels. ⫺ 27 ⫽ Der Philosoph Xanthos auf Samos kauft den Sklaven J Äsop wegen seiner klugen Antwort, man solle einen Menschen nicht nach seinem Äußeren beurteilen. ⫺ 43 ⫽ J Eulenspiegel erschreckt prahlerischen Wirt mit ausgestopftem Wolf. ⫺ 68 ⫽ AaTh/ATU 93: J Worte des Herrn sind ernstzunehmen (hier Grasmücke). ⫺ 93,449 ⫽ ATU 288 B**: J Eile mit Weile. ⫺ 101 ⫽ Der keusche J Joseph. ⫺ 107 ⫽ AaTh/ATU 231: J Kranich und Fische (hier Krebs). ⫺ 113 ⫽ AaTh/ATU 34 A: cf. J Spiegelbild im Wasser. ⫺ 116 ⫽ Teufel läßt sich von Einsiedler nicht täuschen. ⫺ 128 ⫽ ATU 910 M: J Gebet für den Tyrannen. ⫺ 131 ⫽ AaTh/ATU 217: J Katze und Kerze. ⫺ 156 ⫽ AaTh/ATU 1342: J Heiß und kalt aus einem Mund. ⫺ 188 ⫽ AaTh/ATU 729: Die goldene J Axt des Meermannes. ⫺ 199 ⫽ AaTh/ATU
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Agricola, Johann
282 C*: J Laus und Floh. ⫺ 203 ⫽ AaTh/ATU 1510: J Witwe von Ephesus. ⫺ 236 ⫽ J Antonius (Eremita) und der Bogenschütze (Tubach und Dvorˇa´k, num. 272). ⫺ 249 ⫽ Nach dem Tode des Esels wird aus seinem Fell eine Pauke verfertigt (Mot. N 255.2). ⫺ 253 ⫽ Fatale J Imitation: Affe will Arbeit des Zimmermanns nachahmen und bleibt in Baumspalte stecken (Mot. J 2413.4.3). ⫺ 264 ⫽ AaTh/ATU 758: Die ungleichen Kinder J Evas. ⫺ 266 ⫽ AaTh/ATU 201: Der freie J Wolf (hier Hund). ⫺ 288 ⫽ Dem ungerechten Richter Kambyses wird die Haut abgezogen und über den Richterstuhl gespannt, den sein Sohn einnehmen muß (Tubach und Dvorˇa´k, num. 2859; Dömötör, num. 210; cf. J Urteil). ⫺ 297 ⫽ cf. AaTh 173, 828/ATU 173: J Lebenszeiten des Menschen. ⫺ 301 ⫽ J Ach (auch num. 324, 667, 719; Mot. C 21); J Vierzehn Nothelfer; Zwerge borgen von Menschen Haushaltsgeschirr (Mot. F 451.5.10.3; Grimm DS 33). ⫺ 314 ⫽ AaTh/ATU 910 F: J Einigkeit macht stark. ⫺ 334 ⫽ AaTh/ATU 927: J Halslöserätsel. ⫺ 354 ⫽ AaTh/ ATU 822: J Christus als Ehestifter. ⫺ 389, 390 ⫽ Prophezeiungen (Grimm DS 293). ⫺ 414 ⫽ ATU 1368**: The Nine Skins of the Women (hier drei Häute). ⫺ 593 ⫽ AaTh/ATU 75*: J Wolf und Amme. ⫺ 622 ⫽ Adler testet Augen der Jungen im Sonnenlicht (Tubach und Dvorˇa´k, num. 1839). ⫺ 623 ⫽ AaTh/ATU 1645: J Traum vom Schatz auf der Brücke. ⫺ 624 ⫽ AaTh/ATU 1364: J Blutsbruders Frau. ⫺ 648 ⫽ AaTh/ATU 179: Was der J Bär dem sich Totstellenden ins Ohr flüstert. ⫺ 664 ⫽ Wolf beklagt sich darüber, daß er gehaßt und verfolgt werde (Mot. U 11.2.1; Dicke/Grubmüller, num. 653). ⫺ 667 ⫽ Treuer Eckart als Warner (J Tannhäuser). ⫺ 685 ⫽ J Alexander d. Gr. zähmt das Pferd Bucephalus (Tubach und Dvorˇa´k, num. 96; Dömötör, num. 228). ⫺ 688 ⫽ AaTh/ATU 960 A: J Kraniche des Ibykus (hier Hund). ⫺ 743 ⫽ Äbtissin zieht versehentlich die Beinkleider ihres Liebhabers über den Kopf und stellt sich dadurch bloß (Mot. K 1273).
Die Attraktivität von A.s Slgen resultiert daraus, das er das Bedürfnis nach Geschichten über menschliche Verhaltensweisen befriedigte und ethische Lehren in einem sinnvollen, nach Sprichwörtern orientierten Konzept anschaulich machte. Wie die z. T. beträchtlichen Übernahmen aus A.s Werken zeigen, wirkten sie anregend auf vergleichbare Kompilationen von Eberhard Tappius (1539), Sebastian J Franck (1541) und Christian Egenolph (1532, 1548), später bei Eucharius J Ey(e)ring (1601⫺03). Auch die Verf. der Kompilationsund Memorabilienliteratur und die Verf. von Exempelsammlungen des 16./17. Jh.s griffen direkt oder über Zwischenträger auf die von A. dargebotenen Materialien zurück, doch ist der Nachweis der genauen Vorlage häufig infolge häufig fehlender Quellenangaben schwie-
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rig. Später nutzte wohl auch J Grimmelshausen die Slgen A.s. P. Hilscher berief sich beim Mansfelder Gespenst auf A.14 Ab Ende des 18. Jh.s wurden A.s Slgen Gegenstand der Forschung15 und weiterer Auswertung (z. B. J. M. Sailer16, K. F. W. J Wander). Auch die Herausgeber von Sagensammlungen wie die Brüder J Grimm, L. J Aurbacher oder J. G. T. J Grässe schöpften aus A.s Werken17. 1
Bautz, F. W.: A., J. In: Biogr.-Bibliogr. Kirchenlex. 1. Hamm 1975, 57⫺59; Rogge, J.: A., Johannes. In: TRE 2 (1978) 110⫺118; Koch, E.: A., Johannes. In: Die dt. Lit. Biogr. und bibliogr. Lex. 2 B 2. ed. H.G. Roloff. Bern 1985, 453⫺480; ibid. 2 A 1 (1991) 481⫺496; Jaumann, H. (ed.): Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit 1. B./N. Y. 2004, 12 sq. ⫺ 2 A., Johannes: Die Sprichwörterslgen 1⫺2. ed. S. L. Gilman. B./N. Y. 1971. ⫺ 3 cf. Dithmar, R.: Martin Luthers Fabeln und Sprichwörter. Darmstadt 21995, 231⫺233; Schwitzgebel, B.: Noch nicht genug der Vorrede: Zur Vorrede volkssprachiger Slgen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jh.s. Tübingen 1996, 195 sq. ⫺ 4 Latendorf, F.: Ludwig von Passavant gegen A.’s Sprichwörter. In: Jahrber. über das Gymnasium Fridericianum (Schwerin 1873) 3⫺34 (Abdruck der Streitschrift); Gilman, S. L.: Johannes A. of Eisleben’s Proverb Collection (1529). The Polemicizing of a Literary Form and the Reaction. In: The Sixteenth-Century J. 8 (1977) 77⫺84. ⫺ 5 Aufstellung bei A. (wie not. 2) t. 2, 319⫺335. ⫺ 6 Röhrich, L./Mieder, W.: Sprichwort. Stg. 1977, 42. ⫺ 7 cf. bes. Grau, H.-D.: Die Leistung Johannes A.s als Sprichwortsammler. Diss. Tübingen 1968; Schwitzgebel (wie not. 3) 98⫺110. ⫺ 8 Zu Vorlagen im einzelnen cf. Grau (wie not. 7); A. (wie not. 2) t. 2, 353⫺369. ⫺ 9 Meadow, M.: Volkscultur of humanistencultur? Spreekwoorden verzamelingen in de zestiende-eeuwse Nederlanden. In: Volkskundig bulletin 19 (1993) 208⫺240. ⫺ 10 Moser-Rath, E.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Stg. 1991, 137. ⫺ 11 cf. auch Hain, M.: Vorw. In: A., Johannes: Sybenhundert und fünfftzig Teutscher Sprichwörter verneuert und gebessert. (Nachdr. der Ausg. Hagenau 1534) Hildesheim/N. Y. 1970, V*⫺XI*. ⫺ 12 Kiesel, H.: „Bei Hof, bei Höll.“ Unters.en zur literar. Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979, hier 112⫺119; Schwitzgebel (wie not. 3) 107⫺110. ⫺ 13 Numerierung nach der Ausg. von 1534, cf. A. (wie not. 2) t. 1. ⫺ 14 Hilscher, P.: Curiöse Gedancken von Wütenden Heere. Dresden/ Lpz. 1702, 38 sq. ⫺ 15 Ende, C. am: Nachricht von den verschiedenen Editionen der Sprüchwörter des Johannis Agricolae und des Sebastian Franck. Nürnberg 1798; Zumpf, K. F.: Ueber Johannes A.s dt. Sprichwörter. In: Philomathie von Freunden der Wiss. und Kunst 2 (1820) 235⫺244. ⫺ 16 Sailer, J. M.: Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und
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Allerleirauh
Geist dt. Sprichwörter. Augsburg 1810. ⫺ 17 cf. Uther, H.-J.: Merkwürdige Lit. CD-ROM B. 2005, s. v. A.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Allerleirauh (AaTh/ATU 510 B), vor allem in Europa weithin bekanntes Zaubermärchen mit dem zentralen Motiv der unter häßlichem Schein verborgenen Schönheit (cf. AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella; AaTh/ATU 314: J Goldener; J Schön und häßlich)1. Eine systematische Dokumentation bietet die Arbeit von M. R. J Cox2. In der Normalform der europ. mündl. Var.n verläuft die Handlung folgendermaßen: Ein König verspricht seiner sterbenden Frau, er werde sich nur wiederverheiraten, wenn die Nachfolgerin ihr an Schönheit gleichkomme (ihr gleichsehe, ihr der Ring oder die Kleidung der Verstorbenen passe etc.). Seine Wahl fällt schließlich auf die eigene Tochter (J Inzest), die als einzige die Bedingung erfüllt. Diese widersetzt sich dem Ansinnen ihres Vaters und verlangt (auf Rat einer Helferin) Bedenkzeit und Geschenke, meist wunderbare (kosmische) Kleider (Sonnen-, Mond- und Sternenkleider; Kleider mit allen Blumen der Erde, allen Fischen des Meeres). Unter Mitnahme dieser Gewänder (u. a. in einer J Nuß) entkommt sie in einer Tarnkleidung (aus Fell, Holz, Pflanzenschalen) und verdingt sich an einem fremden Königshof (als Küchen-, Gänsemagd etc.). Dort wird sie mit einem Spottnamen gerufen, der sich auf ihre seltsame Verhüllung bezieht: A. (⫽ allerlei Pelz [KHM 65]), Peau d’aˆne3, Catskin4, Coateen of the Rushes5, Maria di legno (hölzerne Maria)6, Betta Pilusa (haarige Betty)7, Zuccaccia (häßlicher Kürbis)8, Suverina/Corchuelo (Korkeiche/Körkchen)9 etc. Bei drei aufeinanderfolgenden Bällen (in der Kirche) erregt sie in ihren prachtvollen Kleidern allg. Aufmerksamkeit; der König (Prinz) verliebt sich in sie und macht ihr kostbare Geschenke (Ring etc.). Typisch für viele Var.n ist die mehrfache Mißhandlung oder grobe Beleidigung der Magd durch den König (er wirft ihr z. B. Waschbekken, Stiefel, Bürste an den Kopf ) sowie, in Analogie dazu, das mehrfache Wortgeplänkel, das sich ergibt, als der König die schöne Tänzerin nach ihrer Herkunft fragt (Antwort etwa: ,aus Becken-, Stiefel-, Bürstenschmeiß‘)10. Der König, der nicht weiß, wie er die Schöne wiedersehen kann, erkrankt aus Liebeskummer. Die Magd bereitet ihm dreimal ein Gericht, dem sie als J Erkennungszeichen seine Geschenke beigibt (läßt z. B. den Ring in die Suppe fallen). Endlich merkt er, wer sie ist, und heiratet sie.
Über Europa hinaus liegen für AaTh/ATU 510 B Nachweise aus dem weiteren Mittelmeerraum, Asien (bes. Vorderer Orient, Iran)
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sowie Nord- und Südamerika vor. Typol. wird das A.-Märchen gewöhnlich zusammen mit AaTh/ATU 510 A, AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein, AaTh 511 A: Der rote J Ochse sowie AaTh/ATU 923: J Lieb wie das Salz dem sog. Cinderella-Zyklus11 zugeordnet und in der Regel als Unter- oder Nebentyp des Aschenputtel-Märchens (AaTh/ ATU 510 A) behandelt. Es bestehen allerdings gravierende strukturelle und thematisch-motivische Unterschiede12: (1) Erzählschema: AaTh/ATU 510 B: Wiedererlangung des ursprünglichen Status (von der Königstochter zur Küchenmagd zur Königin) ⫺ AaTh/ ATU 510 A: Aufstieg (from rags to riches: von der niedrige Dienste tuenden Tochter zur Königin); (2) Familienkonstellation: AaTh/ATU 510 B: Vater als Gegenspieler ⫺ AaTh/ATU 510 A: Stiefmutter und -schwestern als Gegenspielerinnen; (3) Form des Mißbrauchs: AaTh/ATU 510 B: Versuch des Inzests ⫺ AaTh/ATU 510 A: Erniedrigung und Ausbeutung der Arbeitskraft; (4) Umgang mit der Schönheit der Heldin: AaTh/ ATU 510 B: Geschenk von (der Erhöhung der Schönheit dienenden) kostbaren Kleidern als Anzahlung auf sexuelle Dienste einerseits, Tarnung durch Selbstentstellung andererseits ⫺ AaTh/ATU 510 A: Schönheit wird in den Schmutz gezogen; (5) Konzeption der Hauptfigur: AaTh/ATU 510 B: A. besitzt einerseits eine kosmisch überhöhte, andererseits eine animalisch-naturhafte Dimension, symbolisiert durch die Festgewänder und die phantastisch-monströse tierische oder pflanzliche Alltagshülle ⫺ AaTh/ATU 510 A: Aschenputtel nimmt in einem zivilisierten Gemeinwesen den niedrigsten sozialen Rang ein; (6) Raumdimension: AaTh/ATU 510 B: von der Heimat in die Fremde ⫺ AaTh/ATU 510 A: kein Ortswechsel; (7) Verhalten der Heldin: AaTh/ATU 510 B: Wagnis von Flucht und Neuanfang in der Fremde ⫺ AaTh/ATU 510 A: scheinbare Passivität, Initiative zur Veränderung der Situation erfolgt versteckt.
Im wesentlichen haben AaTh/ATU 510 B und AaTh/ATU 510 A nur das Ball- und Flirtthema gemeinsam; A.s Aschenputteldasein in Form niedriger Dienste an einem fremden Ort dagegen entspricht eher Märchen wie AaTh/ ATU 314 oder AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf. Die prinzipiellen Unterschiede schließen allerdings Vermischungen von AaTh/ ATU 510 B und AaTh/ATU 510 A nicht aus, wie sie speziell in der skand. Überlieferung erscheinen13. AaTh/ATU 510 B ist anscheinend der einzige weitverbreitete Märchentyp, in dem der
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Inzestversuch des Vaters in einem großen, wenn nicht überwiegenden Teil der Var.n fester Bestandteil der Handlung ist14, während z. B. in mündl. Fassungen von AaTh/ATU 706: J Mädchen ohne Hände das in ma. literar. Vorläufern enthaltene Inzestmotiv kaum vorkommt. Auf AaTh/ATU 510 B deutende Einzelmotive erscheinen schon im 13. Jh. in der Vo˛lsunga saga und der Saga von J Ragnar Lodbrok: J Aslaug bekommt ein Überlebensmittel und wird mit kostbaren Kleidern und Juwelen in einem Harfenkasten nach Norwegen transportiert, wo sie ein Aschenputteldasein erwartet und sie den Namen Kra´ka (Krähe) erhält15 ⫺ letzterer Zug wird in Zusammenhang mit dem Krähenpelz in skand. Var.n von AaTh/ATU 510 B gebracht16. Darüber hinaus begegnen charakteristische Züge des Erzähltyps bereits in der Legende der ir. Königstochter Dympna oder Dipne (Inzestmotiv; die Bitte um 40 Tage Aufschub beantwortet der Vater mit Geschenken von Juwelen und kostbaren Kleidern; Flucht)17 und in der Lit. des span. Siglo de Oro, u. a. bei Lope de J Vega (eingebackener Ring als Erkennungszeichen)18; eine Novelle des Bonaventure J Des Pe´riers (1558, num. 129) greift sowohl auf Aschenputtel- (Ameisen helfen beim Körnerauflesen) als auch A.-Motive (Eselshaut zur Abschreckung des Liebhabers) zurück19. Die früheste nachweisbare Fassung von AaTh/ATU 510 B findet sich Mitte des 16. Jh.s bei J Straparola (1,4 [cf. ATU 510 B*: The Princess in the Chest]; mit Detailreminiszenzen an die Aslaug-Überlieferung): Aufgrund des seiner verstorbenen Frau gegebenen Versprechens will Tebaldo, der Fürst von Salerno, seine Tochter Doralice heiraten, der als einziger der Ring ihrer Mutter paßt. Doralice wird von ihrer Amme unter Beigabe eines Überlebenselixiers in ihrer Kleidertruhe versteckt; der Vater läßt die Truhe verkaufen, die in den Besitz des Königs von England gelangt. Doralice fegt als heimliche Haushälterin dessen Schlafzimmer und schmückt sein Bett mit Blumen; er entdeckt und heiratet sie. Die weitere Handlung entspricht der 2. Episode von AaTh/ATU 894: J Geduldstein.
Aus dem von Straparola verwendeten realistischen Truhenmotiv ⫺ auch bekannt aus Novellenmärchen wie AaTh/ATU 881: cf. J Frau in Männerkleidung und AaTh/ATU 896: The Lecherous Holy Man and the Maiden in a Box ⫺ könnte das Holzkleidmotiv in mündl.
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ital. Var.n entstanden sein20. Mit Straparolas novellistischer Version von AaTh/ATU 510 B kontrastiert J Basiles Bearb. als Zaubermärchen (2,6): Um ihrem begehrlichen Vater zu entgehen, verwandelt sich die Tochter auf Rat einer Alten in eine Bärin, indem sie einen Holzspan in den Mund nimmt; ein Königssohn verliebt sich in sie, als er sie in ihrer wahren Gestalt sieht. Die Bärin kocht für den liebeskranken Prinzen und schmückt sein Bett mit Blumen; die Entzauberung erfolgt durch einen Kuß.
Während in Großbritannien die ,adventures of Catskin‘ zusammen mit AaTh/ATU 887: J Griseldis zum ersten Mal 1766 in Oliver Goldsmiths Roman The Vicar of Wakefield als Kindermärchen genannt sind21, ist in Frankreich eine Märchenheldin namens Peau d’aˆne durch vielfache literar. Erwähnungen bezeugt22, von Noe¨l J Du Fails Propos rustiques (1547; Kap. 5) bis hin zu Molie`res Malade imaginaire (1673; 2,11) und J La Fontaines Fabeln (1678; 8,4). 1694 publizierte J Perrault sein gleichnamiges Versmärchen: Hier sind erstmals die wunderbaren Geschenke (Himmels-, Mond- und Sonnenkleid) sowie als letzte Gabe eine Tierhaut (hier Haut des kgl. Goldesels) belegt; die Feenpatin läßt die kostbaren Besitztümer unterirdisch in einer Truhe transportieren; der Prinz entdeckt das Geheimnis der Magd im Schweinestall bei einem Blick durch das Schlüsselloch. Zum ersten Mal im Rahmen einer vollständigen Version von AaTh/ATU 510 B findet hier auch das Motiv des Rings als Erkennungszeichen Verwendung (allerdings nicht als Geschenk des Prinzen, sondern als mitgebrachtes Schmuckstück der Prinzessin, das sie in einen Kuchen einbackt); die Lösung bringt eine Ringprobe (ähnlich der Schuhprobe in AaTh/ATU 510 A).
Die früheste dt.sprachige Version veröffentlichte in den 1780er Jahren J Musäus (Die Nymphe des Brunnens), ohne Inzestmotiv (ersetzt durch Flucht der Heldin aus der belagerten väterlichen Raubritterburg) und mit einer Nixe als Helferin; der Hochzeit folgt eine Episode, in der die Schwiegermutter (ähnlich wie z. B. in AaTh/ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder) die Protagonistin der Kindestötung bezichtigt. Bei Musäus erscheinen erstmals das Ballmotiv sowie das Ringmotiv in seiner geläufigen Form. Eine Binnenerzählung aus Carl Nehrlichs Roman Schilly (1798), mit anderem Eingang (Vertreibung durch die Stiefmutter)23, bildet zusammen mit zwei
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mündl. Var.n eine der Vorlagen für die Fassung der Brüder J Grimm (KHM 65)24, die mit Inzest-, Kleider- und Ballmotiv der Normalform von AaTh/ATU 510 B entspricht, das Motiv der Erkennungszeichen jedoch ähnlich wie bei Perrault gestaltet und den in der mündl. Überlieferung vielfach präsenten Dialog (,Woher kommst du, Täubchen?‘ ,Aus der Nähe von Schüsselstadt/Handtuchstadt/ Kammstadt‘25) entstellt. Die verwandte Erzählung Prinzessin Mäusehaut (KHM 71 [1812]) gehört zu der als AaTh/ATU 923 typisierten Gruppe von Märchen, in denen das Inzestmotiv durch das Motiv ,Lieb wie das Salz‘ ersetzt ist26. Ludwig J Bechstein27 macht aus dem begehrlichen einen absolut willfährigen Vater, der für die von der Tochter gewünschte Zaubergerte (welche ihr später u. a. zu einem Wagen verhilft) seine Seele verkauft; bei Bechstein enthalten sind der populär geläufige Dialog sowie der auch sonst in der mündl. dt. Überlieferung öfter bezeugte Zauberspruch: „Hinter mir dunkel, und vor mir klar,/ Daß niemand sehe, wohin ich fahr!“28 Die klassischen Buchmärchenfassungen von AaTh/ATU 510 B zeigen also weitgehende inhaltliche Unabhängigkeit, auch wenn den Autoren vorausgehende literar. Bearb.en bekannt gewesen sein könnten29. Ingesamt zu klären wären das Verhältnis der in Einzelzügen teilweise eigenständigen mündl. Überlieferung zu den literar. Fassungen, regionale Eigenheiten und die Spezifik der Var.n aus dem außereurop. Mittelmeerraum, Asien und Amerika. C. Goldberg hält Erzählungen ohne Ballund Flirtszenen, in denen sich die Protagonistin in der Haut einer alten Frau verbirgt, für eine prototypische Vorform von AaTh/ATU 510 B30. Im frühen 20. Jh. hatte P. J Saintyves das Inzestmotiv im Licht der Sonnenmythologie und das Märchen von A. als Kommentar zu Karnevalsbräuchen verstanden31. Überhaupt stehen Interpretationen von AaTh/ATU 510 B meist in Zusammenhang mit der Inzestproblematik, die u. a. als Veranschaulichung eines Ablöseprozesses der Tochter vom Vater und von kollektiven väterlichen Werten aufgefaßt wird32. Als Bedeutungsäquivalent des Inzestwunschs von Vater und/oder Tochter in AaTh/ATU 510 B faßt A. J Dundes das Motiv ,Lieb wie das Salz‘ in AaTh/ATU 923 und
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in J Shakespeares King Lear auf 33. H. ElShamy läßt nur von Männern erzählte Var.n von AaTh/ATU 510 B als Ausdruck inzestuöser Tendenzen gelten und versteht von Frauen erzählte Versionen als Projektionen34. Hinterfragt wurde auch die ethische Berechtigung des (z. T. als latente Entlastung des Vaters verstandenen35) Versprechens am Totenbett der Mutter36, und es wurde (in Unkenntnis der Textgeschichte) in bezug auf die Erstfassung von KHM 65 die Ansicht vertreten, der König, mit dem A. sich vermählt, sei mit ihrem Vater identisch37. Arab. Var.n deutete I. Muhawi in Hinblick auf Fragen von Fremdkontrolle und Selbstbestimmung des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität, speziell auch im Kontext der Verschleierungspraxis38. Auf ein scheinheiliges rhetorisches Vorgehen des Vaters (z. B.: „Ich habe vor meinem Haus einen Apfelbaum stehen; wer soll die Frucht davon essen, ich oder ein Fremder?“) hatte schon A. J Wesselski aufmerksam gemacht39. 1
Cox, M. R.: Cinderella. Three Hundred and Fortyfive Variants of Cinderella, Catskin, and Cap o’ Rushes […]. L. 1893; Rooth, A. B.: The Cinderella Cycle. Lund 1951. ⫺ 2 Cox (wie not. 1) 53⫺79 und pass. ⫺ 3 cf. Delarue/Tene`ze; z. B. auch Maspons y Labro´s, F.: Lo rondallayre 2. Barcelona 1872, 72⫺ 75; Henßen, G.: Ungardt. Volksüberlieferungen. Marburg 1959, num. 88. ⫺ 4 DBF A 1, 177⫺179; Jacobs, J.: More English Fairy Tales. L. 1894, 189⫺ 194. ⫺ 5 Be´aloideas 2 (1930) 368⫺371. ⫺ 6 Zanazzo, G.: Novelle, favole e leggende romanesche. Turin/ Rom 1907, num. 24; Busk, R. H.: The Folk-lore of Rome. L. 1874, 84⫺90, cf. 66⫺84. ⫺ 7 Gonzenbach, num. 38; Aprile, R.: Die Schöne mit den sieben Schleiern. Stg. 1997, num. 17 (Sizilien). ⫺ 8 Comparetti, D.: Novelline popolari italiane 1. Turin 1875, num. 57; Nerucci, G.: Sessanta novelle popolari montalesi. Florenz 21891, num. 11. ⫺ 9 Lombardi Satriani, R.: Racconti popolari calabresi 2. s. l. 1956, num. 94; De Nino, A.: Usi e costumi abruzzesi 3. Florenz 1883, num. 17; Camarena Laucirica, J.: Cuentos tradicionales recopilados en la provincia de Ciudad Real. [Ciudad Real] 1984, num. 103, 104. ⫺ 10 Geschichtsbll. für Stadt und Land Magdeburg 15 (1880) 70 sq.; Vernaleken, T.: Kinder- und Hausmärchen. Wien/Lpz. 21892, num. 33; Mode, H.: Zigeunermärchen aus aller Welt 2. Wiesbaden 1984, num. 85 (aus der Slovakei); Busk (wie not. 6) 84⫺ 90. ⫺ 11 Cox und Rooth (wie not. 1). ⫺ 12 cf. auch Rooth (wie not. 1) 116; Voretzsch [, K.]: A. In: HDM 1 (1930⫺33), 47⫺49, hier 48; Scherf, 14⫺18, hier 14; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmär-
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Alltagsmärchen
chen“ der Brüder Grimm. B./Boston 22013, 153⫺ 155. ⫺ 13 cf. Rooth (wie not. 1) 120⫺123; Ranke 2, 125⫺127. ⫺ 14 cf. Cox (wie not. 1) 53⫺79; zu beschönigenden Tendenzen bei Sammlern des 19. Jh.s cf. Köhler-Zülch, I./Shojaei Kawan, C.: Les Fre`res Grimm et leurs contemporains. In: D’un Conte … a` l’autre. ed. V. Görög-Karady. P. 1990, 249⫺260, hier 257. ⫺ 15 Rooth (wie not. 1) 126⫺134. ⫺ 16 ibid., ˚ berg, G. A.: Nyländska Folk132⫺134; cf. ferner A sagor 2. Helsingfors 1887, num. 248; Säve, P. A./ Gustavson, H.: Gotländska sagor 2,1. Uppsala 1955, num. 183; Schier, K.: Schwed. Volksmärchen. MdW 21974, num. 33. ⫺ 17 Cox (wie not. 1) lxv sq. ⫺ 18 Chevalier, M.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983, 70 sq. ⫺ 19 Wetzel, H. H.: Märchen in den frz. Novellenslgen der Renaissance. B. 1974, 74 sq. ⫺ 20 cf. not. 6. ⫺ 21 Coote, H. C.: Catskin; the English and Irish Peau ˆ ne. In: FL 3 (1880) 1⫺25, hier 1. ⫺ 22 cf. BP 2, d’A 50 sq., not. 1. ⫺ 23Rölleke, H.: A. In: Fabula 13 (1972) 153⫺159. ⫺ 24 KHM/Rölleke 3, [127] sq., 471 sq.; Uther (wie not. 12). ⫺ 25 Afanas’ev, num. 291. ⫺ 26 Cox (wie not. 1) 80⫺87. ⫺ 27 Bechstein, L.: Sämtliche Märchen. ed. W. Scherf. Mü. 1965, 477⫺ 483. ⫺ 28 Bartsch, K.: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1. Wien 1879, num. 4; Jb. des Vereins für meklenburg. Geschichte und Alterthumskunde 5 (1840) 84⫺86. ⫺ 29 cf. z. B. Soriano, M.: Les Contes de Perrault. [P.] 1968, 113⫺124. ⫺ 30 Goldberg, C.: The Donkey Skin Folktale Cycle (AT 510B). In: JAFL 110 (1997) 28⫺46. ⫺ 31 Saintyves, P.: Les Contes de Perrault et les re´cits paralle`les. P. 1923, 87⫺208. ⫺ 32 Belmont, N.: Poe´tique du conte. [P.] 1999, 215⫺218; Kast, V.: Familienkonflikte im Märchen. Mü. 31991, 15⫺34. ⫺ 33 Dundes, A.: „To Love My Father All“: A Psychoanalytic Study of the Folktale Source of „King Lear“ [1976]. In: id.: Cinderella. A Folklore Casebook. N. Y./L. 1982, 229⫺244. ⫺ 34 El-Shamy, H.: Tales Arab Women Tell. Bloom./Indianapolis 1999, 130. ⫺ 35 Wesselski, Theorie, 140. ⫺ 36 Gorgulla, A.: „… und darum auch, daß ein eigentliches Erziehungsbuch daraus werde.“ Die „Kinder- und Hausmärchen“ im pädagogischen und politischen Diskurs ihrer Zeit. [Würzburg 2011] 241⫺250, hier 247⫺ 249. ⫺ 37 Dollerup, C./Reventlow, I./Rosenberg Hansen, C.: A Case Study of Editorial Filters in Folktales: A Discussion of the „A.“ Tales in Grimm. In: Fabula 27 (1986) 12⫺30, bes. 21⫺24. ⫺ 38 Muhawi, I.: Gender and Disguise in the Arabic „Cinderella“: A Study in the Cultural Dynamics of Representation. ibid. 42 (2001) 263⫺283. ⫺ 39 Wesselski, Theorie, 140; Muhawi (wie not. 38) 268.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Alltagsmärchen (von russ. bytovaja skazka), seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s1 in der Erzählforschung Rußlands/der Sowjetunion und in der
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Folge in einem Teil der (ehemaligen) Ostblockstaaten (J Marxismus) verwendeter Terminus für eine Untergattung des J Märchens, die sich durch einen stärkeren Bezug auf Themen des alltäglichen Lebens und eine realistischere Darstellungsweise vom J Zaubermärchen abgrenzen läßt2. Über den Inhalt des Begriffs A. besteht kein Konsens. Häufig werden darunter den sozialkritischen Aspekt betonende Märchen verstanden. Im weiteren Sinn werden zu A. Erzählungen gerechnet, die im internat. Typenkatalog AaTh/ATU den J Novellenmärchen (AaTh/ATU 850⫺999), den Märchen vom dummen Unhold (AaTh/ATU 1000⫺ 1199) und den J Schwänken (AaTh/ATU 1200⫺1999)3 sowie z. T. auch den J Legendenmärchen (AaTh/ATU 750⫺849)4 zugeordnet werden. Im engeren Sinn umfassen A. nur schwankhafte (bzw. humorvolle, komische, satirische) mehrepisodische Geschichten über Familienleben, Dumme und Schlaue, Diebe und Räuber, Geistliche, J Herren und Knechte5. Ju. I. Judin, der entsprechende Texte im Sinne der strukturalistisch-semiotischen Herangehensweise V. Ja. J Propps untersuchte, plädierte dafür, das A. als eigenständige Gattung aufzufassen, da es sich hinsichtlich Genese, Komposition und Typologie der Helden vom Novellenmärchen unterscheide6. Ansonsten wird überwiegend die Ansicht vertreten, daß das schwankhafte bzw. satirische A. vom Schwank (sog. Volksanekdote) abzugrenzen sei7. 1ˇ
Cubinskij, P. P.: Trudy e˙tnograficˇesko-statisticˇeskoj e˙kspedicii v Zapadno-Russkij kraj (Arbeiten der ethnogr.-statistischen Expedition in das westruss. Gebiet) 2. SPb. 1878, 4, 489⫺679; cf. Vavilova, M. A.: Russkaja bytovaja skazka (Das russ. A. ). Vologda 1984, 6. ⫺ 2 Vavilova (wie not. 1) 6⫺24; Sokolov, Ju.: Skazka (Märchen). In: Literaturnaja e˙nciklopedija 2. M./Len. 1925, 804⫺806; Fedosik, A. S.: Skazka bytovaja (A.). In: Vostocˇnoslavjanskij fol’klor. ed. K. P. Kabasˇnikov u. a. Minsk 1993, 315; Zueva, T. V.: Skazka bytovaja (A.). In: ead. (ed.): Russkij fol’klor. Slovar’-spravocˇnik. M. 2002, 220 sq.; EM 2, 1024 sq. ⫺ 3 Anikin, V. P.: Russkaja narodnaja skazka (Das russ. Volksmärchen). M. 1959, 187⫺217; Propp, V. Ja.: Russkaja skazka (Das russ. Märchen). ed. Ju. S. Raskazov. M. 2000, 283⫺ 341; Lintur, P. V.: Ukr. Volksmärchen. B. 1972 (21981), num. 86⫺123. ⫺ 4 Dinekov, P.: Bitovi prikazki i anekdoti (A. und Schwänke). In: id./Stojkova, S. (edd.): Bitovi prikazki i anekdoti. Sofia 1963, 5⫺51; Ambainis, O.: Lett. Volksmärchen. B.
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Alpomisch
1977 (21979), num. 88⫺128. ⫺ 5 Pomeranceva, E˙. W.: Russkaja ustnaja proza (Russ. mündl. Prosa). M. 1985, 78⫺87; Pomeranzewa, E.: Russ. Volksmärchen. B. 1964 (51967), num. 64⫺91; Koceva, J.: Prikazki (Märchen). In: Etnografija na Ba˘lgarija 3. Sofia 1985, 283⫺285. ⫺ 6 Judin, Ju. I.: Russkaja narodnaja bytovaja skazka (Das russ. volkstümliche A. ). M. 1998; id.: Durak, sˇut, vor i cˇert (Istoricˇeskie korni bytovoj skazki) (Dummkopf, Narr, Dieb und Teufel [Die hist. Wurzeln des A.s].). M. 2006; cf. dagegen Barabanava, L. P.: Zˇanravaja, sjuzˇetnaja i idejna-tematycˇnaja ahul’nasc navelistycˇnych i bytavych kazak (Gemeinsamkeiten von Novellen- und A. hinsichtlich von Genre, Sujet und Thema). Minsk 1993. ⫺ 7 cf. z. B. Fedosik, A. S.: Anekdot (Schwank). In: Kabasˇnikov u. a. (wie not. 2) 8; Zueva, T. V.: Anekdot (Schwank). In: ead. (wie not. 2) 7⫺9; Dinekov (wie not. 4) 36⫺41; Koceva (wie not. 5) 285⫺287; Judin 1998 (wie not. 6) bes. 27, 55 sq., 132.
Sofia
Doroteja Dobreva
Alpomisch, unter den Turkvölkern Zentralasiens weitverbreitetes mündl. Epos um den Helden A. (usbek.; russ. Alpamysˇ; kasach. und karakalpak. Alpamıs). Inhaltlich ist das Epos in zwei Teile gegliedert: im 1. Teil wirbt der Held erfolgreich um die ihm versprochene J Braut; im 2. Teil gerät er in J Gefangenschaft und kehrt nach seiner Befreiung gerade noch rechtzeitig vor der erzwungenen Wiederverheiratung seiner Frau zurück. Die usbek. Version verläuft wie folgt1: (1) Zwei Brüder, Boybo‘ri und Boysari, haben lange keine Kinder. Als ihre Frauen nach Erhörung ihrer Gebete je einen Jungen und ein Mädchen zur Welt bringen (Mot. D 1925.3), werden diese einander versprochen (cf. Mot. T 61.5.1; J Verlobung): Boybo‘ris Sohn A. soll Boysaris Tochter Barchin heiraten. Es kommt jedoch zum Streit zwischen den Brüdern, und Boysari zieht mit seinen Stammesgenossen in das Land der Kalmücken. Barchin, zu einer Schönheit herangewachsen, verkündet, daß sie ihre Hand nur demjenigen geben werde, der aus verschiedenen Wettkämpfen als Sieger hervorgeht (J Freier, Freierproben). A. eilt ins Land der Kalmücken und geht, z. T. mit Hilfe seines kalmück. Freundes Qorajon, der sich zum Islam bekehrt hat, als Sieger aus den Wettkämpfen hervor. Er heiratet Barchin und kehrt mit ihr und Qorajon in die Heimat zurück. (2) Boysari bleibt bei den Kalmücken und wird von diesen gedemütigt. A. kommt ihm zu Hilfe, wird aber von einer alten Frau im Auftrag des Chans der Kalmücken in eine Falle gelockt: Da er J unverwundbar ist, wird A. betrunken gemacht und in ein unterirdisches Verlies geworfen. Während seiner Ge-
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fangenschaft gelingt es ihm, durch eine Wildgans eine Nachricht an seine Familie zu schicken, doch bleibt der Befreiungsversuch des herbeigeeilten Qorajon erfolglos. Nach sieben Jahren wird A. schließlich mit Hilfe der in ihn verliebten Tochter des Chans, Tovka, befreit. Er klettert an dem mit übernatürlicher Hilfe verlängerten Schweif seines Pferdes aus dem Verlies, rächt sich am Kalmückenchan und dessen Kriegern und kehrt siegreich zu seiner Familie zurück. In der Heimat hatte inzwischen Ultantoz, ein Sohn Boybo‘ris und einer Sklavin, die Herrschaft ergriffen und A.s Eltern, dessen Schwester und auch dessen nach dem Weggang des Helden geborenen Sohn in Not und Elend gebracht. Jetzt will er Barchin heiraten. A. wird von seinem treuen Hirten Qultoy an einer Narbe an der Schulter erkannt (Mot. H 51; J Erkennungszeichen). Er verkleidet sich als Qultoy und nimmt an den Hochzeitsspielen teil. Dabei schießt er mit dem Bogen seines Vorfahren, den nur er spannen kann (Mot. H 331.4.2), und beteiligt sich am Wettsingen, zuletzt mit seiner Frau, die in ihren Versen ihre Treue zu A. bekundet. Schließlich gibt sich der Held zu erkennen. Ultantoz wird bestraft, und A. ist wieder glücklich mit seiner Frau, seiner Familie und seinen Stammesgenossen vereint.
In seiner grundlegenden Unters. zu Verbreitung und Entstehung des Epos hat V. J Zˇirmunskij die verschiedenen Fassungen in vier Gruppen eingeteilt2. Die von der Überlieferung her älteste Version ist die oghus. Erzählung von Bamsı Beyrek im J Dede Korkut Kitabi, einem Erzählzyklus, der in zwei Hss. aus dem 16. Jh. überliefert ist, wohl aber bereits im 14. Jh. verfaßt wurde3. Die Erzählung spielt im östl. Anatolien, wobei die Protagonisten auf der türk. Seite Oghusen und auf der feindlichen Seite Christen sind. In der Kungrater Version gehören die Helden zum Stamm Kungrat (usbek. Qo‘ng‘irot), dessen Feinde die Kalmücken sind; hierzu zählen usbek., kasach. und karakalpak. A.-Epen, vom Usbekischen beeinflußte tadschik. Vers- und Prosaerzählungen sowie Volkserzählungen in Buchara-Arabisch4. In einer nicht näher spezifizierten Märchenwelt spielen die tatar. und baschkir. Volkserzählungen von Alpamysˇa/Alpamsˇa, die von Zˇirmunskij unter Einbeziehung kasach. Volkserzählungen zur kiptschak. Version zusammengefaßt wurden5, und das altaitürk. Heldenmärchen Alyp-Manasˇ 6. Die verschiedenen Fassungen des A.-Stoffs weisen jenseits ihrer spezifischen hist. und geogr. Kontexte sowie trotz der stilistischen und erzähltechnischen Anpassungen an die je-
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Amazonen
weiligen Erzähltraditionen große Übereinstimmungen in bezug auf den Handlungsverlauf, die Struktur sowie die verschiedenen Figuren und ihre Rollen auf. Zˇirmunskijs Ansicht, die früheste Entwicklungsstufe des Epos liege im altai. Heldenmärchen, läßt sich nicht belegen. Zudem handelt es sich beim altaitürk. sog. Heldenmärchen in der Regel (wie auch bei Alyp-Manasˇ) um Versdichtung, die im Stil des altai. Heldenepos rezitiert wird, also keineswegs um ,archaische‘ Prosaerzählungen. Allg. akzeptiert ist hingegen die Annahme, daß die Oghusen den A.-Stoff trotz späterer Adaption der Erzählung an die anatol. Umwelt aus Zentralasien mitbrachten, daß also die Anfänge des Stoffs vor dem 11. Jh. liegen müssen. Auffällig ist die große Ähnlichkeit der Ereignisse bei der Rückkehr des Helden im 2. Teil des Epos zur Odyssee (J Odysseus; AaTh/ ATU 974: J Heimkehr des Gatten)7. Wie dies genau zu interpretieren ist, muß offen bleiben, da weitere alte Belege für den A.-Stoff fehlen. 1
cf. allg. Reichl, K.: Das usbek. Heldenepos A. Wiesbaden 2001. ⫺ 2 Zˇirmunskij, V. M.: Skazanie ob Alpamysˇe i bogatyrskaja skazka (Die Geschichte von A. und das Heldenmärchen). M. 1960; cf. auch Chadwick, N. K./Zhirmunsky, V.: Oral Epics of Central Asia. Cambr. 1969, 292⫺296; Reichl, K.: Turkic Oral Epic Poetry. N. Y. 1992, 333⫺351. ⫺ 3 Hein, J.: Das Buch des Dede Korkut. Zürich 1958, 79⫺130; Ruben, W.: Ozean der Märchenströme. 1: Die 25 Erzählungen des Dämons. Mit einem Anh. über die 12 Erzählungen des Dede Korkut (FFC 133). Hels. 1944, 206⫺227. ⫺ 4 cf. Zˇirmunskij (wie not. 2) 15⫺62. ⫺ 5 ibid., 85⫺113. ⫺ 6 ibid., 140⫺155; Surazakov, S. S. (ed.): Altay baatyrlar (Altai. Helden) 2. Gorno-Altajsk 1959, 28⫺67; Koptelov, A. L. (ed.): Geroicˇeskie skazanija zapisany ot skazitelja N. U. Ulagasˇeva (Heldenerzählungen aufgezeichnet von dem Sänger N. U. Ulagasˇev). Gorno-Altajsk 1961, 24⫺67. ⫺ 7 Zhirmunsky, V. M.: The Epic of „Alpamysh“ and the Return of Odysseus. In: Proc. of the British Academy 52 (1966) 267⫺286.
Bonn
Karl Reichl
Amazonen, mythisches Volk, das ausschließlich aus kriegerischen Frauen besteht1. Der Begriff Amazone wird etymol. aus griech. amazos (brustlos, einbrüstig) hergeleitet, denn angeblich störte die rechte Brust die Frauen beim Spannen des Bogens so, daß sie diese entfernten (Justinus 2,4,11)2. A. begegnen in
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zahlreichen populären und literar. Texten, künstlerischen Darstellungen sowie anderen medialen Präsentationen3. Der Begriff Amazone wird heute auch allg. als Bezeichnung für starke Frauengestalten verwandt. Unter den ambivalenten Deutungsangeboten der Antike dominiert das Bild der wilden, oft berittenen Kriegerin aus einem Gegenreich4. Die früheste Erwähnung von A. findet sich im 8. Jh. a. Chr. n. in der Ilias (J Homer): Priamos erzählt, er habe auf der Seite der Phryger gegen die A. gestritten (3,184⫺189), und J Bellerophon soll das ,männergleiche‘ Heer der A. in Lykien besiegt haben (6,186). J Herodot (4,21⫺117) bringt die A. mit den Skythen in Verbindung, die sie ,Männer tötend‘ nennen. Andere griech. Autoren erwähnen sie als Gründerinnen von kleinasiat. Städten oder Stifterinnen von Heiligtümern, so etwa des Tempels der Artemis von Ephesos5. Im MA. siedelt eine Fülle lat. sowie volkssprachlicher Texte die A. in einem nordeurop. Land, in einer Stadt oder auf einer Insel an6. A. erscheinen in Weltchroniken, etwa bei Orosius (Historia adversum paganos 3,18); sie spielen in den Ursprungsmythen zahlreicher Völker eine Rolle, etwa in der Origo Gentis Langobardorum (7. Jh.) oder der böhm. Chronik des Cosmas von Prag (Beginn 12. Jh.)7. Im 7. Jh. berichtet J Isidor von Sevilla von der Vernichtung der A. (Etymologiae 9,2,64). Weltkarten visualisieren die A. einerseits in Idealgestalt, andererseits als Kuriosum unter den Monstren und Ungeheuern und verorten sie am Rand der bekannten Welt8. Im J Alexanderroman wird von dem Beilager des makedon. Eroberers mit der A.königin Thalestris erzählt9. In der Renaissance wird die Virago, die autarke starke Jungfrau, zum Ideal der Zeit. Herrscherinnen wie Elisabeth I. von England ließen sich mit den kämpferischen Attributen der A. ⫺ wie Helm und Schild ⫺ darstellen, um ihre Macht zu demonstrieren10. Dem Archetyp der A.tradition wurden jetzt auch die Eigenschaften Weisheit, Reichtum und Unabhängigkeit zugeschrieben. Solche Heldinnen waren in den Galerien berühmter Frauen im 17. Jh. ein Standardmotiv der Malerei und Druckgraphik11. Mit der ,Entdeckung‘ exotischer Länder in Übersee im 16. Jh. wurden die europ. Vorstel-
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Angelopoulos, Anna
lungen u. a. auf Amerika übertragen: Die Europäer projizierten die als bedrohlich empfundene Erfahrung der Fremdheit auf vermeintliche A., deren Gefährdungspotential mit Negativassoziationen wie „Hinterlist, Gewalttätigkeit und Wollust“12 charakterisiert wurde. Angesichts der Konstruktion polarer Geschlechterwelten, die Krieg und Kampf in der Natur des männlichen Geschlechts verankern, überwiegt erst in der Moderne eine Negativbewertung des A.topos13. In Gestalt kämpferischer Frauen lebt die A.vorstellung noch im 20. Jh. weiter14. In traditionellen Volkserzählungen erscheinen A. relativ selten. Zahlreiche kämpferische Frauengestalten15 sowie von Frauen dominierte Gesellschaften werden in J Tausendundeine Nacht und verwandten Geschichtensammlungen der arab. Lit erwähnt16. In der europ. Überlieferung weisen Erzählungen über Walküren oder die J Frau in Männerkleidung (J Heldenjungfrau) Analogien zum Motiv der A. auf. Wenngleich die A. z. T. als Zeugnis einer realgeschichtlichen matriarchalen Phase (J Matriarchat) betrachtet wurden, die vor der klassischen Antike bestanden habe17, gilt es nach jüngeren archäologischen Grabungen für die steppennomadischen Regionen Osteuropas und Asiens als erwiesen, daß die Bewaffnung von Frauen als Schutz gegen wilde Tiere und Überfälle ebenso wie ihre Beteiligung am Krieg weit verbreitet waren. Es handelt sich somit um ein universalhist. Phänomen, das in zahlreichen nomadischen und agrarischen Gesellschaften bestanden hat18. Salmonson, J.: The Enc. of Amazons. N. Y. 1991. ⫺ Justinus: Philippische Geschichte 1. Übers. C. Schwartz. Stg. 1834, 92. ⫺ 3 Frenzel, Motive (62008) 11⫺26. ⫺ 4 Töpffer, A.: Amazones. In: Pauly/Wissowa 1,2 (1894) 1754⫺1789. ⫺ 5 cf. A. Geheimnisvolle Kriegerinnen. Ausstellungskatalog Mü. 2010, 2 sq. (Antike), 306 sq. (6.⫺20. Jh.). ⫺ 6 Wesche, M./ Lewicki, R.: A. In: Lex. des MA.s 1. Mü. 1999, 514 sq.; Reinle, C.: Exempla weiblicher Stärke? Zu den Ausprägungen des ma. Amazonenbildes. In: Hist. Zs. 270 (2000) 1⫺38. ⫺ 7 Geary, P. J.: Am Anfang waren die Frauen. Ursprungsmythen von den A. bis zur Jungfrau Maria. Mü. 2006, 50⫺61. ⫺ 8 Baumgärtner, I.: A. in ma. Weltkarten. In: A. (wie not. 5) 195⫺203. ⫺ 9 Kondratiuk, D.: A. im Alexanderroman. ibid., 187. ⫺ 10 Die Galerie der Starken Frauen. Die Heldin in der frz. und ital. 1 2
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Kunst des 17. Jh.s. Ausstellungskatalog Düsseldorf 1995. ⫺ 11 Kroll, R.: Die A. zwischen Wunsch- und Schreckbild. In: Garber, K. u. a.: Der Frieden ⫺ Rekonstruktion einer europ. Vision 1. Mü. 2001, 521⫺ 537. ⫺ 12 Tscherpel, G.: A. In: Enz. der Neuzeit 1. Stg. u. a. 2005, 293⫺296, hier 294. ⫺ 13 Lundt, B.: Das Geschlecht von Krieg im MA. In: Obenaus, A./ Kaindel, C. (edd.): Krieg im ma. Abendland. Wien 2010, 411⫺435. ⫺ 14 Franke-Penski, U.: A. in der modernen Populärkultur. In: A. (wie not. 5) 278⫺ 285. ⫺ 15 Wienker-Piepho, S.: Frauen als Volkshelden. Ffm. u. a. 1988. ⫺ 16 Marzolph/van Leeuwen 2, 474 sq.; Kruk, R.: The Warrior Women of Islam. L. 2014. ⫺ 17 z. B. Pöllauer, G.: Die verlorene Geschichte der A. Klagenfurt 2002. ⫺ 18 Fialko, E.: Skyth. ,A.‘ in den Nordschwarzmeersteppen. In: A. (wie not. 5) 119⫺122, hier 122.
Flensburg
Bea Lundt
Angelopoulos, Anna, *Saloniki 19. 1. 1951, griech. Erzählforscherin und Psychoanalytikerin. A. studierte 1968⫺72 Griech. Philologie an der Aristoteles-Univ. Saloniki, 1978⫺80 Angewandte Sprachwissenschaften an der E´cole Supe´rieure d’Interpre`tes et de Traducteurs (ESIT) der Univ. Paris III sowie 1984⫺ 88 Ethnologie an der E´cole des Hautes E´tudes en Sciences Sociales in Paris, wo sie mit der Diss. La Naissance merveilleuse et le destin du he´ros dans le conte merveilleux grec (P. 1988) promoviert wurde. 1980⫺2013 arbeitete A. als Dolmetscherin für das Europaparlament in Straßburg und Brüssel sowie für weitere internat. und frz. Institutionen; darüber hinaus ist sie seit 1981 Lehrbeauftragte an der ESIT. Seit 2002 ist sie Mitglied der Fe´de´ration des Ateliers de Psychanalyse und unterhält in Paris eine eigene psychoanalytische Praxis. Sie ist Gründungsmitglied des Groupe de Recherche Europe´en sur les Narrations Orales (2003). A.’ Diss. befaßt sich mit dem Phänomen der wunderbaren J Empfängnis und J Geburt im griech. Zaubermärchen. Ihre zahlreichen Aufsätze zur Interpretation von Märchen sind bes. dem Denken von C. J Le´vi-Strauss und dessen Schülerin N. Belmont verpflichtet1. Ein Grundprinzip der Märcheninterpretation besteht für A. darin, so viele Var.n eines Erzähltyps wie möglich zu erfassen. Märchenhelden haben für sie die gleiche Valenz wie Helden klassischer Mythen. Ökotypische Motive der griech. Erzählüberlieferung analysierte sie im
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¤Antar-Roman
Sinne von A. J Dundes’ Konzept der Allomotive2, z. B. das Motiv des aus Tränen geborenen Sohns in AaTh/ATU 301 B: cf. Die drei geraubten J Prinzessinnen und das Motiv der übernatürlichen Ehefrau bzw. Tierfrau in AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau, AaTh/ATU 402: J Maus als Braut und AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt3. Für ihre Deutung der von Schlangen bewohnten Frau in AaTh 505⫺508/ATU 505, 506*, 507: J Dankbarer Toter4 griff A. auf S. J Freuds Aufsatz über das Jungfräulichkeitstabu5 zurück. Über ihre theoretischen und analytischen Forschungen hinaus widmete sich A. intensiv der Arbeit am griech. Typenkatalog6. Auf der Basis des umfassenden Archivs von G. A. J Megas publizierte sie mit einem von ihr geleiteten Team vier Bände zum Zaubermärchen7. Darüber hinaus veröffentlichte sie kommentierte Ausg.n griech. Märchen, die z. T. bis dato unbekanntes Material enthalten8. 1
A., A.: Muscambre, le fils de l’inceste. La fabrication mythique des enfants. In: L’Homme 105 (1988) 49⫺63; ead.: Fuseau des cendres. In: Cahiers de litte´rature orale 25 (1989) 71⫺95; ead.: Vampires d’Orient. L’e´criture d’un mythe. ibid. 45 (1999) 63⫺86; ead.: Stahtopouta. Transformations du conte de Cendrillon. In: Ek ton ysteron 6 (2002) 160⫺169; ead.: Le Conte d’Eros et Psyche´ dans la litte´rature orale. In: Topique 75 (2001) 155⫺169; ead.: Le Reˆve typique et le conte. In: Cahiers de litte´rature orale 51 (2002) 203⫺213; ead.: Nom et blason du he´ros. ibid. 52 (2002) 145⫺156; ead.: La Fille de Thalassa. In: Estudos de literatura oral 11⫺12 (2005/06) 17⫺32; ead.: Greek Legends about Fairies and Related Tales of Magic. In: Fabula 51 (2010) 217⫺224. ⫺ 2 ead.: I paradoxi diadromi ton dakryon (Das Paradox des Tränenweges). In: Diavazo (1985) 81⫺95; ead.: Blanche-Neige ou l’enfant-anceˆtre. In: Daedalus 1⫺ 2 (1994) 170⫺188; ead.: Les Transformations colore´es de „Blanche-Neige“. In: Fabula 49 (2008) 203⫺ 217. ⫺ 3 ead.: Fiance´e exotique, fiance´e-animal? In: Cahiers de litte´rature orale 57⫺58 (2005) 117⫺ 138. ⫺ 4 ead.: Un Homme nu, le couteau a` la main. In: Cahiers de litte´rature orale 46 (1999) 101⫺125. ⫺ 5 Freud, S.: Studienausg. 5. ed. A. Mitscherlich. Ffm. 1972, 211⫺228. ⫺ 6 cf. Megas/Puchner; A., A./Kaplanoglou, M./Katrinaki, E.: The Fifth Volume of the Greek Folktale Catalogue. In: Fabula 50 (2009) 118⫺121. ⫺ 7 A., A./Brouskou, A.: Epexergasia paramythiako¯n typo¯n kai parallago¯n AT 700⫺749 (Überarbeitung von Märchentypen und Var.n zu AaTh 700⫺749). Athen 1994; eaed.: Epexergasia […] AT 300⫺499 1⫺2. Athen 1999; A., A./Kaplanoglou, M./Katrinaki, E.: Epexergasia […] AT 500⫺559.
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Athen 2004; eaed.: Epexergasia […] AT 560⫺699. Athen 2007; Megas, G. A./A., A./Brouskou, A./Kaplanoglou, M./Katrinaki, E.: Catalogue of Greek Magic Folktales (FFC 303). Hels. 2012. ⫺ 8 Høeg, C.: Sarakatsanika paramythia (Märchen der Karakatschanen). ed. A. A. Athen 2002; Crews, C. M.: Contes jude´o-espagnols des Balkans. ed. A. A. P. 2009; cf. ferner A., A.: Helle¯nika paramythia (Griech. Märchen). t. 1: Hoi paramythokores (Die Märchentöchter). Athen 1991; t. 2: Ta alle¯lovora (Die Kannibalen). Athen 2004; ead.: Contes de la nuit grecque. P. 2013.
Athen
Emmanouela Katrinaki
¤Antar-Roman. ¤Antar (¤A.; auch ¤Antara) ist der legendäre Held des arab. Volksromans Sı¯rat ¤Antara ibn Sˇadda¯d. Über den hist. ¤A. ist wenig mehr bekannt, als daß er ein Beduinendichter der vorislam. Epoche war, dem eine der berühmten sieben ,hängenden Oden‘ zugeschrieben wird1. Der einem europ. Ritterroman vergleichbare ¤A.-Roman erzählt von den Abenteuern des Beduinenhelden ¤A. und seines Stamms, den Banu¯ ¤Abs. Die dargestellten Ereignisse spielen zum größten Teil in der vorislam. Epoche, es erscheinen jedoch zahlreiche Elemente, die späteren Zeiten angehören. I nh al t2: ¤A. ist der uneheliche Sohn von Sˇadda¯d, dem Anführer der Banu¯ ¤Abs, und der zusammen mit ihren beiden Söhnen bei einem Raubzug erbeuteten schwarzen Sklavin Zabı¯ba. Eine wichtige Rolle als ¤A.s treuer Helfer spielt vor allem sein als ¤ayya¯r (Kundschafter) agierender Halbbruder Sˇaybu¯b. Bereits als Kind ist ¤A. größer, stärker und wilder als die anderen Knaben seines Alters, die ihn sehr fürchten. Früh verliebt er sich in ¤Abla, die Tochter seines Onkels Ma¯lik. Die Wechselfälle ihrer Liebe und Ehe bilden einen der Hauptstränge der Erzählung. Den zweiten Hauptstrang bilden ¤A.s Anstrengungen, den Nachteil seiner unehelichen Geburt durch Heldentaten auszugleichen. Gegenüber seinem Vater Sˇadda¯d kämpft er um Anerkennung. Von ¤Ablas Vater will er als Schwiegersohn akzeptiert werden. Die Grundstruktur der Erzählung ist durch eine Reihe von Konflikten geprägt. Neben den Spannungen zwischen ¤A. und seinem Stamm spielen einerseits die Rivalität zwischen den ¤Abs und ihrem Bruderstamm Faza¯ra eine Rolle, andererseits die Spannungen zwischen den nord- und den südarab. Stämmen. ¤A. hat als Feind wie als Verbündeter sowohl mit den Byzantinern als auch mit den Persern zu tun. Die Byzantiner sind mit den Franken und den syr. Ghassanidenkönigen verbündet, während die Perser die Lachmidenkönige von H ø ¯ıra auf ihrer Seite haben.
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¤Antar-Roman
Die Handlung des Volksromans ist von Kämpfen, Raubzügen, Angriffen aus dem Hinterhalt, Verrat, Liebesbeziehungen und Abenteuern in der Fremde geprägt. Die späteren Abschnitte der Erzählung führen ¤A. im Westen bis nach Rom und Andalusien, im Osten bis nach Indien sowie im Süden nach Ostafrika, wo er entdeckt, daß der Negus sein Großvater ist. Bei der Verteidigung Roms tötet ¤A. Buhinma (Bohemund von Tarent, Sohn von Robert Guiscard?); bei einer anderen Gelegenheit wird er ein so wertvoller Verbündeter für die Franken und Byzantiner, daß sie ihm in Konstantinopel ein Denkmal errichten. Elemente der J Kreuzzüge spielen eine herausragende Rolle3. Übernatürliches und Wunderbares sind von untergeordneter Bedeutung. Es tritt eine beachtliche Zahl fremder wie arab. Kriegerinnen auf, von denen einige mit ¤A. kämpfen und ihn später heiraten4. ¤A. stirbt durch einen vergifteten Pfeil seines blinden Feindes Wizr. Ruhig auf seinem Pferd sitzend, hält seine Leiche den Feind noch viele Tage fern. Drei von ¤A.s Kindern nehmen Rache für den Tod ihres Vaters. Die beiden christl. Söhne entstammen ¤A.s Beziehungen zu Prinzessinnen in Konstantinopel bzw. Rom. Die riesengroße schwarze und erst nach ¤A.s Tod geborene ¤Unaitira ist die Tochter einer arab. Kriegerin und spielt eine Hauptrolle im Schlußteil des Zyklus5. Anscheinend soll dieser letzte Teil der islam. Legitimierung des Zyklus dienen: Der Prophet J Mohammed äußert Bewunderung für ¤A.s Taten und ruft dazu auf, ¤A. im Gedächtnis zu bewahren. Die Banu¯ ¤Abs bekehren sich zum Islam.¤Unaitira, ihre Mutter und ihre fünf Söhne werden standhafte Kämpfer in den Kriegen des frühen Islam.
Wann der hist. ¤A. zum populären Helden wurde und wie sich die Erzählungen über ihn zu einem umfangreichen Erzählzyklus entwikkelten, kann nur vermutet werden. Bereits der arab. Historiker al-Hamda¯nı¯ (gest. 945) erwähnt ¤A. und ¤Abla im Zusammenhang einer Schlacht mit den Jemeniten6. Der jüd. Konvertit SamauÅal ibn Yahø ya¯ (gest. 1174) spricht in seiner Autobiographie davon, daß er in seiner Jugend lange Erzählzyklen wie den von ¤A. gelesen habe7. Der Arzt Ibn asø-Sø a¯Åig˙ (Mitte 12. Jh.) war dafür bekannt, daß er Hss. der ¤A.-Erzählungen kopierte8, und von einem gewissen Zainaddı¯n Sø a¯lih ibn ¤Alı¯ ibn Buhø tur wird berichtet, daß er die Sı¯rat ¤Antara nach seiner Gefangennahme (1261) durch den Mamlukensultan Baibars in der Haft abgeschrieben habe9. Spätestens seit dem 12. Jh. wurden die zunächst einzeln umlaufenden Erzählungen über ¤A. offenbar zu einem größeren Zyklus ausgearbeitet. Dieser wurde bis zum Ende des 19. Jh.s sowohl mündl. als auch
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schriftl. überliefert, wobei die seit dem 15. Jh. erhaltenen Hss.10 wie auch die seit Mitte des 19. Jh.s vorliegenden populären Druckausgaben beträchtliche Unterschiede aufweisen11. Hinsichtlich der Performanz des Volksromans berichtete der Orientalist E. W. Lane in der 1. Hälfte des 19. Jh.s aus Kairo, daß der ¤A.-Roman von spezialisierten Erzählern aus Büchern vorgelesen wurde12. Im 20. Jh. wurde der Volksroman in literar. Arabisch mit volkstümlicher Aussprache13 und gelegentlichen Zusammenfassungen in Umgangssprache14 vorgetragen. Noch Ende des 20. Jh.s fanden sich in Marokko Erzähler, welche den in Reimprosa verfaßten Text mit perfekter Beherrschung von Rhythmus und Reim darboten15. J. von J Hammer-Purgstall veröffentlichte 1811 eine erste wiss. Abhdlg zum ¤A.-Roman16. Unter der großen Zahl späterer Studien sind W. Ahlwardts ausführliche Zusammenfassungen der Berliner Hss. von bes. Bedeutung17. Wichtige Arbeiten zum ¤A.-Roman haben B. J Heller18, P. Heath19 und D. Cherkaoui20 vorgelegt. Zu den zahlreichen literar. und künstlerischen Bearb.en der ¤A.-Erzählung21 zählen Chekri Ghanims 1910 in Paris aufgeführtes Stück ¤A.22 und Nikolaj Andreevicˇ RimskijKorsakovs symphonische ¤A.-Suite (1868). In den westl. Adaptationen steht oft die Liebesgeschichte zwischen ¤A. und ¤Abla im Mittelpunkt23. Blache`re, R.: ¤Antara. In: EI2 1 (1960) 521 sq. ⫺ Lyons, M. C.: The Arabian Epic 1⫺3. Cambr. 1995, hier t. 2, 18⫺44; t. 3, 17⫺76. ⫺ 3 cf. id.: The Crusading Stratum in the Arabic Heroic Cycles. In: Crusaders and Muslims in Twelfth-Century Syria. ed. M. Shatzmiller. Leiden u. a. 1993, 147⫺161; H ˚ ursˇ¯ıd, F.: al-H ø uru¯b al-søalı¯biyya wa-’l-adab asˇ-sˇa¤bı¯ (Die Kreuzzüge und die populäre Lit.). In: Dira¯sa¯t isla¯mı¯ya 5 (1414⫺15/1994⫺95) 129⫺177. ⫺ 4 Kruk, R.: The Warrior Women of Islam. Female Empowerment in Arabic Popular Literature. L. 2014. ⫺ 5 ibid.; Vermeulen, U.: ¤Unaytara, la fille d’¤A. In: Proc. of the 14th Congress of the Union Europe´enne des Arabisants et Islamisants. Bud. 1995, 305⫺ 312. ⫺ 6 al-Hamda¯nı¯: al-Iklı¯l min ah˚ ba¯r al-Yaman 9. Kairo 1368/1948, 168⫺170; cf. ferner Norris, H. T.: The Adventures of ¤A. Warminster 1980, 43⫺60. ⫺ 7 SamauÅal al-Mag˙ribı¯: Badß l al-magˇhu¯d fı¯ ifhø a¯m alyahu¯d. ed. M. H ø . al-Fiqqı¯. Kairo 1358/1939, 16. ⫺ 8 Ibn abı¯ Usøaybi¤a: ¤Uyu¯n al-anba¯Å fı¯ tøabaqat alatøibba¯Å 1. ed. A. Müller. Königsberg 1884, 290. ⫺ 9 Sø a¯lihø ibn Yahø ya¯: Kita¯b TaÅrı¯h˚ Bairu¯t. ed. P. L. Cheikho. Beirut 1902, 113. ⫺ 10 Heath, P.: The 1 2
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Aprile, Renato
Thirsty Sword. Sı¯rat ¤A. and the Arabic Popular Epic. Salt Lake City 1996, 233⫺238; cf. ferner Booger, M. van den: Antar Overseas. Arabic Mss. in Europe in the Late 18th and Early 19th Century. In: O ye Gentlemen. Festschr. R. Kruk. Leiden/Boston 2007, 339⫺352. ⫺ 11 Heath (wie not. 10) 232⫺239; Kruk, R.: Sı¯rat ¤Antara ibn Shadda¯d. In: The Cambridge History of Arabic Literature. Arabic Literature in the PostClassical Period. ed. R. Allen/D. S. Richards. Cambr. 2006, 304 sq. ⫺ 12 Lane, E. W.: An Account of the Manners and Customs of the Modern Egyptians. (Nachdr. der Ausg. 1860) Kairo/N. Y. 2003, 414; cf. auch Hamilton,T.: Antar, a Bedoueen Romance 1. L. 1819, xviii. ⫺ 13 Kruk, R./Ott, C:. ,In the Popular Manner‘. Sı¯ra-recitation in Marrakesh anno 1997. In: Edebiyat 10 (1999) 183⫺198. ⫺ 14 Abel, A.: Formation et constitution du Roman d’Antar. In: La poesia epica e la sua formazione. Rom 1970, 717⫺730; Zeggaf, A.: Le Conte oral marocain. The`mes et structures (l’exemple de Marrakech). Diss. Toulouse 1978, 64. ⫺ 15 Zu den prosodischen und musikalischen Aspekten des Vortrags cf. Ott, C.: Sı¯rat al-Mugˇa¯hidı¯n (al-Amı¯ra D ß a¯t alHimma). Hss., Überlieferung und der Kontext von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Diss. B. 1998, 220⫺227. ⫺ 16 Hammer-Purgstall, J. von: Historia ¤A. alias ¤Antara. In: Fundgruben des Orients 2 (1811) 304⫺306; cf. auch id.: Les Aventures d’Antar […] 1⫺4. P. 1868. ⫺ 17 Ahlwardt, W.: Verz. der arab. Hss. der kgl. Bibl. zu Berlin 8. B. 1896, 80⫺99, num. 9123⫺9137. ⫺ 18 Heller, B.: Die Bedeutung des arab. ¤A.-R.s für die vergleichende Lit.kunde. Lpz. 1931; id.: Sı¯rat ¤A. In: EI2 1, 518⫺521. ⫺ 19 Heath (wie not. 10). ⫺ 20 Cherkaoui, D.: Le Roman de ¤A. Une perspective litte´raire et historique. P. 2000. ⫺ 21 cf. Steinbach, U.: Dha¯t al-Himma. Kulturgeschichtliche Unters.en zu einem arab. Volksroman. Wiesbaden 1972, 2; Norris (wie not. 6) 1⫺4. ⫺ 22 Ghanem, C.: A., pie`ce en cinq actes. P. 1910. ⫺ 23 z. B. Richmond, D.: ¤A. and ¤Abla, a Bedouin Romance. L. u. a. 1978.
Leiden
Remke Kruk
Aprile, Renato, *Catania 8. 1. 1930, ital. Lit.wissenschaftler, Erzählforscher und Kunsthistoriker. A. studierte an der Univ. Rom ital., dt. und engl. Lit. (1949⫺55; 1955 Promotion mit einer Diss. zu J. F. Herbarts Moralphilosophie), Vk. bei P. J Toschi (1950⫺53) sowie Kunstgeschichte (Staatsexamen 1957). 1956⫺ 67 unterrichtete er ital. Lit., Geschichte und Kunstgeschichte an röm. höheren Schulen, 1967/68 Latein an der Rudolf Steiner-Schule Schloß Hamborn bei Paderborn. Danach war er an der Freien Univ. Berlin tätig, zunächst
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1968⫺70 als Italienischlektor, 1971⫺95 als Professor für Italianistik. Seit 2000 lebt er in Lugnano in Teverina (Umbrien) und beschäftigt sich u. a. mit therapeutischer Kunst. Für seinen Indice delle fiabe popolari italiane di magia (1995) wurde er 2000 mit dem Premio Paolo Toschi ausgezeichnet. In seinen frühen Jahren schrieb A. Gedichte1, besorgte verantwortlich die Revision der 1955er Aufl. des dt.-ital. Bands der Großen Sansoni-Wbb.2 und legte eine Einführung in die Kunstgeschichte3 sowie Beitr.e zur christl. Ikonographie4 vor. 1979 veröffentlichte er ein Buch zur Kultur und geschichtlichen Bedeutung der Etrusker5. Es folgten zwei kommentierte Sammlungen repräsentativer sizilian. Zaubermärchen: 1991 erschien eine Ausg. klassischer Märchentexte, überwiegend von G. J Pitre` und L. J Gonzenbach, die A. aus dem Sizilianischen bzw. dem Deutschen in die ital. Hochsprache übersetzt hatte (unter Beibehaltung der sizilian. Dialektverse)6; 1997 brachte er in dt. Sprache Transkriptionen von 1968/69 sowie 1984 aufgenommenen Tondokumenten sizilian. und südital. Märchen aus der Discoteca di Stato (Rom) heraus, ergänzt durch einige ältere, bereits veröff. Texte7. 1995 publizierte A. einen Teilkatalog der ital. Zaubermärchen8, der nach dem Vorbild des von P. J Delarue begründeten frz. Typenkatalogs analytisch angelegt ist. Jeder Erzähltyp bzw. jede Typengruppe wird zunächst durch ein allg. Handlungsschema definiert; danach werden nach Kulturlandschaften geordnet gedr. und ungedr. (vor allem die in der Discoteca di Stato archivierten, zuvor kaum zugänglichen9) Var.n einzeln durch eine Inhaltsanalyse erschlossen; Tabellen und Verbreitungskarten vermitteln einen Überblick über die Präsenz des jeweiligen Erzähltyps in Italien. Die Kommentare sind einem mythol. Märchenverständnis verpflichtet10. Bes. eingehend beschäftigte sich A. mit dem Märchen von J Amor und Psyche (AaTh/ATU 425 sqq.), dem sechs bzw. acht Texte seiner beiden Märchenausgaben, rund hundert Seiten seines Typenkatalogs und mehrere Aufsätze gewidmet sind11 und das A. als prototypisch für das Zaubermärchen sowie als in einem umfassenderen Sinne archetypisch versteht12.
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Ara¯js, Ka¯rlis
A., R.: Semente d’autunno. Poesie. Mailand 1955. ⫺ Wb. der ital. und dt. Sprache/Dizionario delle lingue italiana e tedesca. Wiesbaden/Florenz/Rom 1955. ⫺ 3 A., R.: Introduzione allo studio della storia dell’arte 1⫺3. Rom 1957. ⫺ 4 Bibliotheca Sanctorum 1. Rom 1961, 63 sq., 170, 327 sq., 407⫺411, 823, 989 sq., 1100⫺1113, 1223⫺1225; t. 2 (1962) 1293 sq., 1316⫺1321; t. 3 (1962) 1303⫺1305; t. 4 (1964) 184⫺ 189, 413 sq. ⫺ 5 A., R.: Die Etrusker. Mythos und Geschichte im Zentrum des Mittelmeerraumes. Stg. 1979; cf. id.: Aspetti della spiritualita` etrusca. In: Antroposofia 61,2 (2006) 7⫺55. ⫺ 6 id.: La fiaba di magia in Sicilia. Palermo 1991. ⫺ 7 id.: Die Schöne mit den sieben Schleiern. Sizilian. Zaubermärchen. Übers. D. Brauer. Stg. 1997. ⫺ 8 id.: Indice delle fiabe popolari italiane di magia. 1: AT 300⫺451. B. 1995; cf. Rez. H.-J. Uther in Fabula 37 (1996) 372 (Neuaufl. t. 1,1⫺2. Florenz 2000; cf. Rez.en L. Rubini in Fabula 42 [2001] 317 sq. und C. Bacchilega in Marvels & Tales 16 [2002] 294 sq.). ⫺ 9 Bei Cirese/ Serafini nur summarisch verzeichnet. ⫺ 10 cf. auch A., R.: Dalla preistoria alla fiaba. In: Antroposofia 65,2 (2010) 45⫺57. ⫺ 11 id. (wie not. 6) num. 1⫺3, 5, 6, 32; id. (wie not. 7) num. 1⫺7, 23; id. 1995 (wie not. 8) 569⫺666; id. 2000 (wie not. 8) t. 1,2, 664⫺778; id.: Amor e Psiche. Note intorno alla fiaba popolare di magia. In: Antroposofia 55,2 (2000) 36⫺52; id.: Amor und Psyche. Über die Grundform des Volksmärchens. In: Die Drei 71,5 (2001) 24⫺32. ⫺ 12 id. (wie not. 6) 16⫺18; id. (wie not. 7) 241 sq. 1 2
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Ara¯js, Ka¯rlis, *Riga 20. 12. 1929, † ebenda 25. 3. 2001, lett. Folklorist1. A. studierte 1949⫺53 Lett. Sprache und Lit. am Staatlichen Pädagogischen Inst. in Riga. Von 1953 bis zu seinem Ruhestand 1999 arbeitete er in der Abteilung für Folklore des Etnogra¯fijas un folkloras institu¯ts ([Inst. für Ethnographie und Folklore]; seit 1956 Inst. für Sprache und Lit., seit 1992 Inst. für Lit., Folklore und Kunst) an der Akad. der Wiss.en (seit 1999 Univ. Lettlands). 1964 wurde er mit der Arbeit Krisˇja¯n¸a Barona „Latvju dainas“ un to nozı¯me latviesˇu folkloristika¯ (Krisˇja¯nis Barons’ „Latvju dainas“ und ihre Bedeutung für die lett. Folkloristik) promoviert2. Seit 1993 war er Mitglied der Akad. der Wiss.en Lettlands. Für seine Leistungen bei der Herausgabe von Volksliedern erhielt er 1999 den lett. Staatspreis. A. war u. a. an der Herausgabe der dreibändigen Slg lett. Volkslieder Latviesˇu tautasdziesmas: Izlase (Riga 1955/56/57) und der auf 15
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Bände angelegten Edition Latviesˇu tautasdziesmas ([Lett. Volkslieder]. Riga 1979 sqq.) beteiligt. In seiner Diss. erforschte er die bedeutendste lett. Volksliedsammlung; dem lett. Volksliedsammler Krisˇja¯nis Barons (1835⫺ 1923) widmete er weitere Publ.en3. A. war zudem einer der bedeutendsten lett. Märchenspezialisten seiner Zeit. Er wirkte an der Herausgabe der ersten großen Ausg. lett. Märchen in sowjet. Zeit mit4 und publizierte mehrere systematische und repräsentative Märchensammlungen, in die er auch bislang unveröff. Archivtexte (jeweils mit Qu.nangaben) aufnahm5, die z. T. auch auf Russisch erschienen6; die Texte ordnete er nach AaTh an. U. d. T. Latviesˇu pasaku tipu ra¯dı¯ta¯js ([Typenverzeichnis lett. Märchen]. Riga 1977) publizierte A. eine erw. Fassung von A. J Mednes Katalog lett. Tiermärchen7, in die auch deren Vorarbeiten zu einem Zaubermärchenkatalog einflossen. Er typisierte die Texte nach AaTh und ergänzte sie durch neugesammeltes Material sowie durch Schwänke, Witze und Formelmärchen. Der Katalog erfaßt nach regionalen Kriterien angeordnet alle Aufzeichnungen des Latviesˇu folkloras kra¯tuve (Lett. Folklorearchiv; über 67000 Texte) sowie die Märchen der Slg Latviesˇu pasakas un teikas 1⫺15 ([Lett. Märchen und Sagen]. Riga 1925⫺37) von P. J Sˇmits. Die Typenbeschreibungen sind im Anh. in russ. und engl. Sprache angeführt. Zahlreiche Typenbezeichnungen und -beschreibungen unterscheiden sich von AaTh, wobei neue Erzähltypen manchmal unmotiviert hinzugefügt wurden8. Dennoch gebührt A. das Verdienst, das System der internat. Erzähltypen auf diese Weise noch vor L. G. J Barags weißruss. Katalog (1978) zum ersten Mal auch für die damalige Sowjetunion zugänglich gemacht zu haben. Auf Grund dieser Veröffentlichung wurde A. 1979 als einer der wenigen Erzählforscher der Sowjetunion und, ohne zunächst selbst davon Kenntnis zu haben, in die Internat. Soc. for Folk Narrative Research aufgenommen9. A. legte zudem kleinere Ausg.n lett. Schwänke, die ebenfalls unveröff. Archivmaterial enthalten10, und weiterer Gattungen lett. Volksdichtung vor11. 1
Pakalns, G.: K. A. (1929⫺2001). In: Fabula 42 (2001) 314⫺316. ⫺ 2 A., K.: Krisˇja¯nis Barons un „Latvju dainas“ (Krisˇja¯nis Barons und die „Latvju
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Archive
dainas“). Riga 1985. ⫺ 3 z. B. id. (ed.): Atmin¸as. Sta¯sta Krisˇja¯nis Barons un laikabiedri (Lebenserinnerungen. Erzählt von Krisˇja¯nis Barons und seinen Zeitgenossen). Riga 1985. ⫺ 4 Alksnı¯te, A. u. a.: Latviesˇu tautas pasakas (Lett. Volksmärchen). Riga 1956 (21994, 32002). ⫺ 5 A., K.: Latviesˇu tautas pasakas (Lett. Volksmärchen) 1⫺3. Riga 1964/66/67 (Vorw. O. Ambainis); Lerchis-Pusˇkaitis, A.: Dzˇu¯kstes pasakas (Märchen aus Siuxt). ed. K. A. Riga 1980 (21991, 32003); A., K.: Trı¯s ve¯ja mezgli (Die drei Windknoten). Riga 1988; id.: Pasaku mezˇs (Der Märchenwald). Riga 2000. ⫺ 6 z. B. id.: Latysˇskie narodnye skazki. Skazki o zˇivotnych (Lett. Volksmärchen. Tiermärchen). Riga 1965; id.: Latysˇskie narodnye skazki. Volsˇebnye skazki (Lett. Volksmärchen. Zaubermärchen). Riga 1967; id.: Latysˇskie narodnye skazki. Bytovye skazki (Lett. Volksmärchen. Alltagsmärchen). Riga 1968. ⫺ 7 Medne, A.: Latviesˇu dzı¯vnieku pasakas (Lett. Tiermärchen). Riga 1940. ⫺ 8 Biezais, H.: Nozı¯mı¯gs darbs latviesˇu folkloras pe¯tniecı¯ba¯ (Ein wesentliches Werk in der lett. Folkloreforschung). In: Jauna¯ Gaita 123 (1979) 57⫺ 59 (auch im Internet). ⫺ 9 Politere, I.: Katram sava laime (Jeder hat sein [eigenes] Glück). In: Lauku Avı¯ze (19.12.1999) 12. ⫺ 10 A., K.: Latviesˇu tautas anekdotes (Lett. Volksschwänke). Riga 1960; id.: Kas gudrs, tam padoms (Wer klug ist, weiß Rat). Riga 1971; cf. id.: Latysˇskie narodnye anekdoty (Lett. Volksschwänke). Riga 1963. ⫺ 11 id.: Saule se¯ja sudrabin¸u (Die Sonne sät Silber). Riga 1972 (Volkslieder); id.: Kas var dziesmas izdzieda¯t? (Wer kann alle Lieder singen?). Riga 1974; id.: Dainas. Riga 1983 (21990); cf. id.: Ai, baga¯ti Ziemassve¯tki (Oh, du reiches Weihnachten). Riga 1989 (Volkslieder, Volksspiele, Volksglauben); id.: Pilna nora baltu avju (Die Weide voll weißer Schafe). Riga 1994 (Rätsel); id.: Katram sava laime (Jeder hat sein [eigenes] Glück). Riga 1999 (Sagen); cf. id.: Saule ka¯pa augstu kalnu (Die Sonne stieg auf den hohen Berg). Riga 1991 (Volksglauben im Jahreslauf).
Riga
Guntis Pakalns
Archive. Mit der Bezeichnung Archiv (A.; von griech. arche¯: Behörde, Amtsstelle)1 ist zunächst die Verwahrung von Behörden-, d. h. von Verwaltungsschriftgut gemeint, das für die rechtliche und administrative Nutzung erhalten bleiben soll2. In der engeren Definition sichern, verwahren, ordnen und erschließen A.e Schrift-, Bild- und Tonträger, neuerdings auch digitale bzw. digitalisierte Daten, die zunächst aus administrativen Vorgängen erwachsen sind. Erst in der Neuzeit wurden A.bestände zu Qu.n für die hist. Forschung. A.e verstehen sich heute ganz im Sinne von J Novalis gern als kollektives Gedächtnis der Nation3, das
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nicht nur Zeugnisse der Vergangenheit überliefert, sondern geschichtsphil. Reflexion ermöglicht und damit Teil einer Konstruktion von Gegenwart ist4. In weiter gefaßter Verwendung wird der Begriff A. auf empirisch erhobene Qu.nbestände und ihre Dokumentation in Mss. und Typoskripten (wie den Slgen von Volkserzählungen) bezogen und etwa auch für Publ.en in Form von Zss. (z. B. A. für Kulturgeschichte, Schweiz. A. für Vk., Archivio per lo studio delle tradizioni popolari, Archivio di etnografia) in Anspruch genommen. A.quellen administrativer Provenienz werden nicht nur von der hist. Forschung genutzt, sondern sind auch für die Vk./Europ. Ethnologie relevant. Diese richtet den Blick zunächst auf das Gegenwärtige, weiß ihn jedoch durch den Blick auf das Gewordene zu fundieren, muß mithin die Historizität von Kulturen immer mitdenken5. Solche A.quellen werden zudem in methodischen Überlegungen zur volkskundlich-ethnol. J Feldforschung und zur Bedeutung der A.e als epistemischen Orten reflektiert6. Auch die Erzählforschung greift immer wieder darauf zurück, um die hist. Kontexte ihrer Slgen zu erfassen. Zudem verwahren A.e, aber auch Hss.abteilungen großer Bibl.en Codices und ma. Sammelhandschriften, die für die Erzählforschung relevant sind. Bedeutende Nachlässe wie die Slg von F. X. von J Schönwerth (Regensburg)7 sind in A.en erhalten; im A. der Ung. Akad. in Budapest fand V. J Voigt 1960 das vollständige Ms. der ersten, durch G. von J Gaal erfaßten ung. Märchensammlung. Die großen Nachlaßbestände der Brüder J Grimm an der Staatsbibliothek Berlin und im Staatsarchiv Marburg sind ein weiteres Beispiel für die ergiebigen archivalischen Ressourcen der hist. Erzählforschung. Doch nicht nur die in A.en administrativer Provenienz (staatliche, kommunale oder kirchliche A.e, Wirtschafts-, Parteien- oder Verbandsarchive, Presse- oder Filmarchive) verwahrten Qu.n werden in der volkskundlichethnol. Forschung genutzt; gerade die folkloristische Forschung produziert mit dem Erheben und Erschließen, Auswerten und Dokumentieren von volkskundlichem Material eigene Slgen in oft erheblichem Umfang. In diesen Aktivitäten werden die Versuche zur zentralen Erfassung nationalen Erzählguts er-
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Archive
kennbar, die im späten 19. Jh. und in der 1. Hälfte des 20. Jh.s in Europa zur Etablierung der Folklorearchive führten. In J Rußland und den ehemaligen Sowjetrepubliken wurden an den Akad.n der Wiss.en große Folklorearchive aufgebaut, denen neben Nachlässen bedeutender Folkloristen (u. a. M. K. J Azadovskij, V. S. J Bachtin, D. M. J Balasˇov, ˇ ikovani; J Abchasen, J Jakuten) in M. J. J C den 1970er und 1980er Jahren durch verordnete Erhebungen an den Univ.en aller Sowjetrepubliken erhebliches Material zuwuchs (J Georgier, J Kalmücken, J Tadschiken). Eines der weltweit größten Folklorearchive wurde seit den 1930er Jahren von der Irish Folklore Commission in Dublin (J Irland) zusammengetragen. Umfangreiche Bestände enthalten die Israel Folktale Archives (J Israel) an den Univ.en Haifa (gegründet 1955) und Jerusalem (gegründet 1968)8. Aufzeichnungen zur Erzählüberlieferung der J Armenier sind in mehreren wiss. und musealen Einrichtungen Eriwans archiviert. Erzählungen des J Irak wurden in der Bibl. des Irak. Nationalmuseums in Bagdad gesammelt. Meist gingen die Initiativen zur Gründung von Folklorearchiven von einzelnen Wissenschaftlern oder Fachverbänden aus. An der ung. Nationalbibliothek in Budapest wurde 1917 G. J Ro´heim mit der Einrichtung eines ung. Folklorearchivs beauftragt (J Ungarn). In J Rumänien gründete I. Mus¸lea 1930 das Arhiva de folclor a Academiei Romaˆne in Klausenburg, I. H. Ciubotaru 1968 ein Folklorearchiv für Moldau und die Bukowina in Ias¸i, und auch an anderen Univ.en entstanden A.e. Erzählsammlungen der J Slovaken wurden von der Slovak. Ges. für Vk. in einem Folklorearchiv der Slovak. Akad. der Wiss.en in Bratislava zusammengetragen. Die seit 1885 aufgebaute Slg mallorquin. Märchen von A. M. J Alcover befindet sich in Palma de Mallorca (J Katalanen), ein Großteil der heutigen Bestände volkskundlicher A.e in Athen geht auf das Wirken von G. A. J Megas zurück (J Griechenland). Erzählsammlungen der J Montenegriner sind im zentralen Hist. A. (Istorijske Arhiv) in Kotor erfaßt. In der J Türkei trug P. N. J Boratav 1938⫺48 mit Unterstützung von Assistenten und Studenten ein A. an der Univ. Ankara zusammen; sein gesamtes Material ist seit 1998 im Dokumenta-
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tionszentrum der Türk. Stiftung für Sozialund Wirtschaftsgeschichte in Istanbul dokumentiert9. Das iran. Volkskundearchiv in Teheran wurde von A. Engˇavi Sˇira¯zi aufgebaut (J Iran)10. In J Kanada trugen C. M. J Barbeau und L. J Lacourcie`re 1946 zur Gründung der Archives de Folklore an der Laval Univ. in Quebec bei. In Buenos Aires werden Slgen am Instituo Nacional de Antropologı´a archiviert (cf. S. J Chertudi, J Argentinien). In J Ägypten wurde 1957 ein Folklore-Zentrum in Kairo gegründet. 1994 wurde ein Folklore- und Musikarchiv am Institute of African and Asian Studies der Univ. Khartum eingerichtet (J Sudan). Das der Mythologie und den Erzählungen Afrikas gewidmete A. von L. J Frobenius befindet sich in dem 1925 in Frankfurt am Main gegründeten Forschungsinstitut für Kulturmorphologie (seit 1945 Frobenius-Inst.)11. Der großen wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung der Erzählforschung in den nord. und balt. Ländern entspricht die Einrichtung mehrerer umfangreicher A.e. In Helsinki wurden schon im späten 19. Jh. große Slgen im A. der Finn. Lit.gesellschaft (Suomalaisen Kirjallisuuden Seura) zusammengetragen (J Finnland, J Karelier), an dem seit 1934 M. J Haavio mit der Kartierung und Systematisierung befaßt war. Die Erzählüberlieferung der J Lappen ist in Helsinki, Turku, Oslo und Tromsø, Uppsala und Umea˚ dokumentiert. Nach dem 1. Weltkrieg wurden in den balt. Ländern A.e nach finn. Vorbild gegründet. Das A. Estn. Folklore (Eesti Rahvaluule Arhiiv) in Tartu entstand 1927 unter Leitung von O. J Loorits (J Esten, J Liven). 1924 wurde die intensive Sammeltätigkeit zur Erzählüberlieferung der J Letten am Lett. Folklorearchiv (Latviesˇu folkloras kratuve) in Riga aufgenommen. Angeregt durch einen längeren Forschungsaufenthalt in Helsinki begann J. J Balys ab 1935 mit der Slg volkskundlich relevanten Materials aus Litauen im Litau. Vk.archiv in Kaunas, das 1940 nach Vilnius überführt wurde (J Litauer). In Oslo befindet sich die Norsk folkminnesamling (J Norwegen); die Unters. und Klassifikation der ab 1904/05 durch A. J Olrik, H. F. J Feilberg und H. O. Lange aufgebauten umfangreichen Bestände der Dansk Folkemindesamling in Kopenhagen wurde
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Archive
von I. M. J Boberg weitergeführt und systematisiert (J Dänemark). In den J Vereinigten Staaten von Amerika wurden mit Gründung der American Folklore Soc. (1888) und des Bureau of American Ethnology (1897) Sammlungsbestände aufgebaut, in denen bes. durch F. J Boas und R. Benedict auch die indigene Erzählüberlieferung Berücksichtigung fand. S. J Thompson erweiterte auf dieser Grundlage A. J Aarnes Typenkatalog (AaTh) und nutzte sie, um seinen Motivkatalog zu entwickeln. 1976 wurde das American Folklife Center an der Library of Congress in Washington gegründet12. Mit der Entwicklung neuer Techniken entstanden umfangreiche Digitalisierungsprojekte, so das Ethnographic Video for Instruction & Analysis (EVIA) Digital Archive Project der Indiana Univ. und der Univ. of Michigan, in dem auch die Archives of Historical and Ethnographic Yiddish Memories einbezogen sind. Erzählungen der argentin. Araukaner sind im Nachlaß von R. Lehmann-Nitsche im Ibero-Amerik. Inst. in Berlin enthalten. Auch in J Deutschland firmierten volkskundliche Großprojekte13 meist unter dem Namen A.: das Dt. Volksliedarchiv in Freiburg, das aus dem Nachlaß von R. J Wossidlo 1954 hervorgegangene Wossidlo-A. in Rostock sowie das von G. J Henßen ab 1936 in Berlin aufgebaute, seit 1948 in Marburg befindliche und an die Univ. angeschlossene Zentralarchiv der dt. Volkserzählung, in dem auch Sammlernachlässe des 19. Jh.s ausgewertet wurden. An dem 1950 in Freiburg gegründeten Johannes-Künzig-Inst. (seit 2013 Inst. für Vk. der Deutschen des östl. Europa) wurden umfangreiche Aufzeichnungen zur Erzählüberlieferung der Flüchtlinge und Vertriebenen erhoben; weitere A.e zur Erzählüberlieferung, zur Sagen-, Schwank- und Unterhaltungsliteratur bestehen in Freiburg und Göttingen (aufgebaut u. a. von E. J Moser-Rath, W.-E. J Peuckert). Mit zunehmender Zugänglichkeit entsprechender technischer Möglichkeiten beginnen sich im 21. Jh. auch im Bereich der A.e digitale Medien durchzusetzen, und das Internet gewinnt zunehmend an Bedeutung. So werden etwa im katalan. elektronischen A. RondCat, in ndl.14 und fläm.15 Datenbanken Erzählungen aus mündl. Überlieferung zugänglich ge-
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macht; die Internat. Soc. for Studies in Oral Tradition ermöglicht Besuchern ihrer Webseite den Zugang zu derzeit mehr als 70 OnlineA.en, die sich mit der Sammlung traditioneller mündl. Artefakte befassen. Bereits mit der Fokussierung auf J alltägliches Erzählen wurde die Bedeutung der subjektiven Erinnerung für das Memorieren reflektiert, der subjektiven Erinnerung von Menschen zumal, die selten Geschichte geschrieben haben16, Menschen, deren Handeln, Denken und Fühlen sich auf die kleinen und großen Prozesse der politischen Entscheidungen und sozialen Strukturen nicht unmittelbar auswirkte. Mit dieser Entwicklung subjektorientierter Forschungsperspektiven und Methoden rückten Qu.n des kommunikativen Gedächtnisses in den Fokus der volkskundlichen Forschung17; sie dienten jedoch nicht im Sinne einer J Oral History der historiographischen Abgleichung und Erweiterung des Deutungshorizonts geschichtlicher Ereignisse, sondern der Analyse von Konstruktionsprozessen der Erinnerung, also der narrativen Verarbeitung von Biogr. und biogr. Kontext18. Auch diese Alltagserzählungen, Memorate und biogr. Erinnerungen wurden in A.en, z. B. dem A. für alltägliches Erzählen in Hamburg19, festgehalten. In den Folklorearchiven werden zudem Slgen dokumentiert20, die Erinnerungen aus zweiter, dritter oder vierter Hand festhalten, mithin eine Reflexion der Rezeptionsprozesse mündl. oder reoralisierter Überlieferung, ja auch der medialen Qu.n voraussetzen, jener Erzählstoffe also, die im dokumentierten Text Herkunft und Tradierungsprozeß oft nicht erkennen oder nur mühsam erschließen lassen21. In diesem Zusammenhang hat auch die Erschließung der Printmedien (cf. u. a. J Zeitung) als Qu.n in der fachspezifischen Dokumentation und Auswertung Berücksichtigung erfahren22. Die Slgen, die aus solchen Projekten zum biogr. Erzählen oder aus Auswertungen etwa von Ztgen hervorgegangen sind, wurden meist nach inhaltlichen Fragekomplexen, d. h. nach dem Pertinenzprinzip, strukturiert. Darin unterscheiden sich fachspezifische Slgen von A.en administrativer Provenienz. Dabei sind die in den Folklorearchiven dokumentierten Texte ausführlich methodologisch hinterfragt und hinsichtlich ihres selektiven Umgangs mit Er-
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Archive
innerung sowie hinsichtlich ihrer Konstruktion von Geschichte reflektiert worden23. Die vergleichenden Studien veranschaulichen damit ein Grundproblem archivarischer Ordnung und Dokumentation. Auch in den A.en administrativer Provenienz entscheiden die Archivare mit der Kassation über die A.würdigkeit des Schriftguts24 und nehmen damit, auch wenn ihre Ordnungskriterien klaren Regeln folgen und heute meist dem Provenienzprinzip verpflichtet sind25, Deutungsmacht über Geschichte wahr26. Diese A.e dokumentieren die chronologisch aufeinander aufbauenden Entscheidungen in Politik und Verwaltung, sie dienen der Legitimation und Vergewisserung künftiger Entscheidungen und der Geschichtsschreibung, der Rekonstruktion und Kontextualisierung hist. Ereignisse. Solche A. sind einer diachronen Perspektive verpflichtet, sie arbeiten gewissermaßen gegen die Zeit, sie organisieren Chronologie, um in der Retrospektive Geschichte als Prozeß aufeinanderfolgender Handlungen und Entscheidungen zu verstehen, zu beurteilen und auch immer wieder neu deuten zu können. In dieser streng chronologischen und der Herkunft der Qu.n verpflichteten Ordnung wird eine Überlieferung gespeichert und bereitgestellt, die nicht nur für eine institutionenund personengeschichtliche Kontextualisierung der eigenen fachspezifischen Forschungsarbeit und ihrer Überlieferung unerläßlich ist, sondern auch die Aufgaben von Erzählarchiven neu überdenken läßt. Hat nicht gerade die volkskundliche Erzählforschung dazu beigetragen, das Erzählen als konstitutiven Prozeß des Erinnerns und J Vergessens zu begreifen27? Läßt nicht die narrative Konstruktion der Erinnerung ein Vergessen des Vergangenen zu und ermöglicht darum auch ein Verdrängen, räumt damit ein, daß das Unerträgliche aus dem Bewußtsein verschwindet? Muß darin nicht auch die Dokumentation einer Erinnerung ansetzen, die nicht vergessen werden darf? Für die Reflexion der politischen und gesellschaftlichen Prozesse im 20. Jh., z. B. für die Aufarbeitung und künftige Vermittlung des Völkermords im nationalsozialistischen Deutschland wurde der Aufbau von A.en zur Dokumentation von Zeitzeugenberichten, von erzählten und damit authentischen autobiogr.
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Erinnerungen immer wichtiger. An vielen Holocaust-Zentren sind Text- und Filmarchive aufgebaut worden28. 1
Franz, E. G.: Einführung in die A.kunde. Darmstadt 72007, 1. ⫺ 2 Zur Genese des Archivarberufs cf. Ottnad, B.: Das Berufsbild des Archivars vom 16. Jh. bis zur Gegenwart. In: Aus der Arbeit des Archivars. Festschr. E. Gönner. Stg. 1986, 1⫺22; Eckhardt, W. A. (ed.): Wiss. Archivarsausbildung in Europa. Marburg 1989. ⫺ 3 Obenaus, H.: Archivische Überlieferung und gesellschaftliche Wirklichkeit. In: A.e und Gesellschaft. Siegburg 1996, 9⫺ 33. ⫺ 4 Franz (wie not. 1) 1 sq. ⫺ 5 Brednich, R. W.: Qu.n und Methoden. In: id. (ed.): Grundriß der Vk. B. 32001, 77⫺100, hier 84⫺86; Hartmann, A./Meyer, S./Mohrmann, R.-E. (edd.): Historizität. Vom Umgang mit Geschichte. Münster 2007; Lipp, C.: Perspektiven der hist. Forschung und Probleme der kulturhist. Hermeneutik. In: Hess, S./Moser, J./ Schwertl, M. (edd.): Europ.-ethnol. Forschen. Neue Methoden und Konzepte. B. 2013, 205⫺246. ⫺ 6 Ingendahl, G./Keller-Drescher, L.: Hist. Ethnografie. Das Beispiel A. In: SAVk. 106 (2010) 241⫺263. ⫺ 7 Drascek, D. u. a. (edd.): Schönwerth ⫺ „mit so leisem Gehör gesammelt.“ Neue Perspektiven auf Franz Xaver von Schönwerth (1810⫺1886) und seine Forschungen zur Alltagskultur der Oberpfalz. Regensburg 2011. ⫺ 8 cf. Hasan-Rokem, G.: The Birth of Scholarship out of the Spirit of Oral Tradition: Folk Narrative Publ.s and National Identity in Modern Israel. In: Fabula 39 (1998) 277⫺290. ⫺ 9 Birkalan, H.: Pertev Naili Boratav (1907⫺1998). ibid. 45 (2004) 113⫺117, hier 116. ⫺ 10 Marzolph, U.: Seyyid Abolqa¯sem Engˇavi Sˇira¯zi (1921⫺1993) und das iran. Volkskundearchiv. ibid. 35 (1994) 118⫺124. ⫺ 11 Frobenius, L.: Animal Husbands, Magic Horns and Water Spirits. Folktales from Southern Africa 1⫺3. ed. S. Dinslage. Köln 2009. ⫺ 12 cf. Bulger, P. A.: Looking Back, Moving Forward. The Development of Folklore as a Public Profession. In: JAFL 116 (2003) 377⫺390. ⫺ 13 Schmitt, C. (ed.): Volkskundliche Großprojekte. Münster u. a. 2005. ⫺ 14 Meder, T.: From a Dutch Folktale Database towards an Internat. Folktale Database. In: Fabula 51 (2010) 6⫺22; id.: Corpora Ethnographica Online. Strategien der Digitalisierung kultureller A.e und ihrer Präsentation im Internet. ibid. 54 (2013) 117⫺ 120. ⫺ 15 Effelterre, K. van: www.volksverhalenbank.be. The Disclosure of a Rich Collection of Flemish Folk Legends on the Internet. ibid. 46 (2005) 314⫺323. ⫺ 16 cf. bes. Niethammer, L. (ed.): Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst. Einladung zu einer Geschichte des Volkes in NRW. Berlin u. a. 2 1985. ⫺ 17 Brednich, R. W. u. a. (edd.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiogr. Materialien in der volkskundlichen Forschung. Fbg 1982; Lehmann, A.: Erzählstruktur und Lebenslauf. Ffm.
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Aristoteles
1983. ⫺ 18 id.: Erzählen eigener Erlebnisse zum Alltag. In: ZfVk. 74 (1978) 198⫺215; id.: Rechtfertigungsgeschichten ⫺ über eine Funktion des Erzählens eigener Erlebnisse im Alltag. In: Fabula 21 (1980) 65⫺86. ⫺ 19 id.: Das „A. für Alltägliches Erzählen“ am Inst. für Vk. der Univ. Hamburg. In: Schmitt (wie not. 13) 115⫺126; Schröder, H. J.: A. für „Alltägliches Erzählen“ im Hamburger Inst. für Vk. In: Bios 1 (1988) 113⫺119. ⫺ 20 ibid. ⫺ 21 Röhrich, L./Wienker-Piepho, S. (edd.): Storytelling in Contemporary Societies. Tübingen 1990. ⫺ 22 Beitl, K. (ed.): Methoden der Dokumentation zur Gegenwartsvk. Die Ztg als Qu. Wien 1988. ⫺ 23 cf. Deneke, B.: Sage und Geschichte im 19. Jh. In: Jb. für Vk. 11 (1988) 67⫺82; Graf, K.: Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der ,hist. Sage‘. In: Fabula 29 (1988) 21⫺47; Seidenspinner, W.: Mythen von hist. Sagen. Materialien und Notizen zum Problemfeld zwischen Sage, Archäologie und Geschichte. In: Jb. für Vk. 11 (1988) 83⫺104; id.: Sagen als Gedächtnis des Volkes? Archäologisches Denkmal, ätiologische Sage, kommunikatives Erinnern. In: Brednich, R. W./Gerndt, H. (edd.): Erinnern und Vergessen. Göttingen 1991, 525⫺534. ⫺ 24 Ottnad, B. u. a.: Methoden und Leitlinien des Archivars zur Erfassung, Bewertung und Aussonderung von A.gut (Landesregierung/Landesverwaltung, Kommunalverwaltung, Wirtschaft). In: Der Archivar 25 (1972) 27⫺50. ⫺ 25 Papritz, J.: A.wiss. 1⫺4. Marburg 2 1983. ⫺ 26 cf. Stamm, I.: Mächtige Hüter der Qu.n. Archivare entscheiden, ob und welche Zeugnisse später gefunden und interpretiert werden können. In: Bad. Tagblatt (12.5.2012) H. 110, 13 (Findbuch als Machwerk von Archivaren). ⫺ 27 Goeing, A.-S./ Grafton, A. T./Michel, P. (edd.): Collectors’ Knowledge: What Is Kept, What Is Discarded/ Aufbewahren oder wegwerfen: wie Sammler entscheiden. Leiden 2013. ⫺ 28 cf. Scrase, D./Mieder, W. (edd.): The Holocaust. Introductory Essays. Burlington 1996; iid. (edd.): The Holocaust. Personal Accounts. Burlington 2001.
Marburg
Siegfried Becker
Aristoteles, *Stageira 384 v. u. Z., † Chalkis 322, zusammen mit J Sokrates und Platon einer der bis heute einflußreichsten Philosophen der griech. Antike1. A., Sohn des Leibarztes des makedon. Königs Amyntas III., trat 367 in die Akademie Platons in Athen ein, an der er bis kurz nach dessen Tod (348) forschte und lehrte. 342⫺40 war A. Erzieher J Alexanders d. Gr. 335 kehrte er nach Athen zurück und gründete seine eigene Schule, den Peripatos. Aufgrund politischer Spannungen zog A. sich Ende des Jahres 323 nach Chalkis auf Euböa zurück, wo er wenige Monate später starb. Durch seine breite Nachwirkung in zahlreichen Wissensgebieten besitzt A. eine heraus-
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ragende Stellung in der europ. Geistesgeschichte2. Das Spektrum der erhaltenen Lehrschriften reicht von Logik, Wiss.stheorie und Politik über Naturlehre, Metaphysik, Ethik und Staatslehre bis zur Dichtungstheorie. Häufig zitiert wird seine grundlegende Einsicht, daß nur dem Menschen die Ausdrucksmöglichkeit des J Lachens eignet (De partibus animalium, 673a). Relevanz für die hist. und vergleichende Erzählforschung besitzt A. u. a. durch die in seinen wirkungsmächtigen tierund naturkundlichen Schriften niedergelegten Erkenntnisse, die in praktisch allen relevanten Artikeln der EM zitiert werden (cf. J Bestiarien; J Biene, J Delphin, J Edelstein, J Einhorn, J Elefant, J Fledermaus, J Fliege etc.). Darüber hinaus weisen zahlreiche Werke des A. disparate Bezüge zur populären Überlieferung auf. Zur Illustration der Redekunst etwa zitiert A. mit deutlicher politischer Intention zwei Fabeln. Die erste von ihnen richtet sich gegen die J Tyrannen und erzählt von dem Pferd, das den Menschen um Hilfe gegen den Hirsch bittet; da der Mensch die Bedingung stellt, das Pferd solle sich Zügel anlegen und reiten lassen, versklavt es sich selbst (Rhetorik 2,1393b). A. hat diese auch von J Horaz (Epistolae 1,10,34⫺38) erzählte Fabel vermutlich dem Werk des Historikers Philistos entnommen3; der Dichter Stesichoros soll sie den Bürgern von Himera erzählt haben, als sie ihrem Feldherrn (und später berüchtigten Tyrannen) Phalaris die von diesem erbetene Leibwache geben wollten. Die Fabel vom Fuchs und den Läusen warnt vor einer unbedachten radikalen Durchsetzung demokratischer Prinzipien: Der von Läusen befallene Fuchs lehnt es ab, sich von diesen befreien zu lassen, denn sonst kämen neue, die noch blutrünstiger wären (Rhetorik 2,1393b). Diese Fabel (cf. ATU 910 L [1]: cf. J Fliegen sollen nicht vertrieben werden; ATU 910 M: J Gebet für den Tyrannen) wird J Äsop zugeschrieben, der sie in der Verteidigungsrede für einen zum Tode verurteilten Parteiführer auf Samos angeführt haben soll; er wollte damit davor warnen, den Angeklagten zu töten, denn an seiner Stelle kämen andere, die das Staatsvermögen erneut plündern würden4. Im Rahmen der theoretischen Begründung der drei Staatsverfassungen (Politik 3,284a)
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Aristoteles
wird ferner auf die zum Umfeld der J Königswahl der Tiere (cf. AaTh/ATU 221) gehörende Fabel angespielt, nach der die Hasen bei einer Versammlung, an der auch die Löwen teilnehmen, gleiches Recht für alle verlangen5. Diese Fabel entnahm A. einer Schrift von Antisthenes, dem Begründer des Kynismus6. Weitere internat. verbreitete Erzählstoffe, die A. zitiert oder auf die er anspielt, sind u. a. die Parabel vom grausamen Vater und seinem ebenso grausamen Sohn (Nikomachische Ethik 7,7,1149b; cf. AaTh/ATU 980 C: J Großvater und Enkel) sowie die vom Musiker, dessen Lohn darin besteht, daß ihm eine großzügige Bezahlung in Aussicht stellt wird (Nikomachische Ethik 9,1,4,1164a; cf. AaTh/ATU 1804 B: cf. J Scheinbuße). Darüber hinaus greift A. zahlreiche volkstümliche Geschichten auf, die eher regionale Verbreitung besitzen. Dazu gehört etwa die Erwähnung der Stute aus Pharsalos und des ihr ähnlichen Fohlens (Politik 2,1262a), die in Bezug zu A.’ Kritik am platonischen Idealstaat steht7. Im Zusammenhang mit der Einsicht, daß nicht das Empfinden überlegener Macht, sondern der Zorn aufgrund persönlicher Kränkung das am häufigsten vorkommende Motiv der Verschwörung gegen Tyrannen sei (Politik 5,1311a⫺b), zitiert A. eine Anekdote, mit der die Verschwörung gegen Periander, den Tyrannen von Ambrakia, begründet wird: Bei einem Symposion hatte der Tyrann seinen Geliebten gefragt, ob er schon von ihm schwanger sei (1311a)8. Nach A. sind diejenigen Sagen die eindrücklichsten, in denen die Zufälligkeit des Ereignisses als absichtliche Wirkung erscheint. Als Beispiel hierfür verweist er auf die Statue eines gewissen Mitys in Argos, die auf dessen Mörder fiel und ihn tötete (Poetik 1452a)9. Feinschmecker wünschen sich nach A. nicht nur eine lange Zunge, sondern den langen Rachen eines Kranichs, wie Philoxenos, der Sohn des Eryxis (Eudemische Ethik 3,2,1231a; cf. auch Nikomachische Ethik 3,13,1118a). Die ausführliche Erörterung zum sinnlichen Genuß verleiht dieser Erzählung eine humoristische Note10. Unter den populären Stoffen bei A. finden sich ferner Geschichten, die der allg. Erfahrung widersprechen, jedoch weit verbreitet sind: die Erzählung über den assyr. König Sardanapal, der angeblich aus Verachtung ge-
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stürzt wurde, da man ihn unter den Frauen spinnen gesehen hatte (Politik 5,1312a)11; die Paradoxa über die Menschenfresser auf Pontos und die Frau, die Schwangere zerriß, um die Embryos zu verzehren (Nikomachische Ethik 7, 1148b)12; die Geschichte über die Schläfer im Heroentempel von Sardinien, die das Zeitgefühl verloren hatten (Physis 4,218b; cf. AaTh/ATU 766: J Siebenschläfer). Eine enge Beziehung zur Volksüberlieferung weisen auch die zahlreichen in A.’ Schriften zur Argumentation angeführten Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten auf, so etwa die in der Rhetorik zitierten Sprüche ,Gleichaltrige ergötzen einander‘ oder ,Krähe zu Krähe‘13; einen ähnlichen Gedanken drückt auch der Spruch ,Das Knie ist näher als die Wade‘ (Nikomachische Ethik 9,1168b) aus. Die in ihrem Ergebnis gescheiterte Bemühung um etwas Gutes wird durch die Redewendung ,den (gefüllten) Krug vor der Tür zerbrechen‘ zum Ausdruck gebracht (Rhetorik 1,1363a)14. Daß auch Gutes im Übermaß Schaden anrichten kann, verdeutlicht die Redensart ,wie der Karpathier den Hasen‘ (Rhetorik 3,1413a): Sie erklärt sich dadurch, daß es auf Karpathos ursprünglich keine Hasen gab; nachdem sie eingeführt waren, wurden die sich rasch vermehrenden Tiere zur Plage15. Extreme Gewinnsucht prangert die Redensart ,sogar vom Leichnam nehmen‘ (Rhetorik 2,1383b) an. In der Poetik (1458a; cf. auch Rhetorik 3,1405b) bemerkt A., daß das Wesen des Rätsels als Metapher darin bestehe, unvereinbare Begriffe miteinander zu verknüpfen, gleichwohl aber etwas tatsächlich Vorhandenes zu bezeichnen. Offenbar kannte A. viele Rätsel, die vermutlich aus einer unter dem Verfassernamen Kleobouline (offenbar ein Pseud.) bekannten Rätselsammlung entnommen sind. Als Beispiel führt A. die verrätselte Formulierung zum Anlegen eines Schröpfkopfes an: ,Ich sah einen Mann, der mit Feuer Erz auf einen Mann klebte‘16. Schließlich tritt A. auch selbst als Protagonist populärer Erzählungen in Erscheinung, so etwa in ma. Exempeln17. Bei dem Schwank AaTh/ATU 1501: J A. und Phyllis handelt es sich allerdings um eine ursprünglich ind. Wandererzählung, die erst in europ. Quellen seit dem 13. Jh. auf A. gemünzt wurde.
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Aromunen
1 Ross, W. D.: Aristotle. L. 1923 (51949); Düring, I.: A. Darstellung und Interpretation seines Denkens. Heidelberg 1966; id.: Aristotle in the Ancient Biographical Tradition. Göteborg 1957. ⫺ 2 id.: Von A. bis Leibniz. Einige Hauptlinien der Geschichte des Aristotelismus. In: Antike und Abendland 4 (1954) 118⫺154; cf. Touloumakos, J.: A.’ Politik 1925⫺ 1985. In: Lustrum 40 (1998) 65⫺127. ⫺ 3 cf. Berve, H.: Die Tyrannis bei den Griechen. Mü. 1967, 130. ⫺ 4 Perry, B. E.: Aesopica. Urbana, Ill. 1952, num. 427; Plutarch, Moralia 790c⫺d; Krapinger, G.: A.’ Rhetorik. Stg. 1999, 218. ⫺ 5 Perry (wie not. 4) num. 241. ⫺ 6 Aubonnet, J.: Aristote. Politique 2. P. 1973, 258 sq. ⫺ 7 Newman, W. L.: The Politics of Aristotle 4. Ox. 1902, 240; Gigon, O.: A.’ Politik. Zürich 21971, 365. ⫺ 8 Newman (wie not. 7) 427 sq.; Aubonnet (wie not. 6) 207; Berve (wie not. 3) 506. ⫺ 9 Fuhrmann, M.: A. Poetik. Stg. 1982, 115. ⫺ 10 Touloumakos, J.: Witz und Humor bei A. In: Tekmeria 2 (1998) 120⫺134, hier 121 sq.; Dirlmeier, F.: A. Nikomachische Ethik. B. 31964, 351. ⫺ 11 Gigon (wie not. 7) 487; Aubonnet (wie not. 6) 210; Newman (wie not. 7) 435. ⫺ 12 Dirlmeier (wie not. 10) 485. ⫺ 13 Krapinger (wie not. 4) 211, not. 126⫺129. ⫺ 14 Cope, E. M.: The Rhetoric of Aristotle 1. ed. J. E. Sandys. (Cambr. 1877) Nachdr. Hildesheim u. a. 1970; Krapinger (wie not. 4) 208; Grimaldi, W.: Aristotle. Rhetoric. A Commentary 1. N. Y. 1980, 133. ⫺ 15 cf. Cope (wie not. 14) 141 sq. ⫺ 16 cf. Schultz, W.: Rätsel. In: Pauly/Wissowa 2,1 (1914) 62⫺125, hier 95 (Kleobouline als [fiktive] Tochter des Weisen Kleoboulos); Fuhrmann (wie not. 9) 130. ⫺ 17 Tubach, num. 327⫺333.
Saloniki
Ioannis Touloumakos
Aromunen. Die A. (auch Wlachen, Kutzowlachen, Zinzaren) sind als ehemals nomadische Schaf- und Ziegenhirten in vielen Regionen Südosteuropas inselhaft verbreitet, mit Siedlungsschwerpunkten in Nordgriechenland, Südalbanien und J Rumänien (Kap. 2.3). Unter den Nationalstaaten Südosteuropas hegte Rumänien aufgrund der sprachlichen Verwandtschaft des Rumänischen mit dem Aromunischen bereits im 19. Jh. ein bes., jedoch weniger kulturelles als politisches Interesse an den A. Die frühe schriftl. Geschichte des aromun. Erzählguts ist daher mit den nationalen Bestrebungen Rumäniens auf der südl. Balkanhalbinsel verbunden. Spätestens im 14./15. Jh. bildete sich in Osteuropa eine epische Tradition aus, die teilweise auf wesentlich älteren Sujets und Motiven beruht1. Die ältesten dezidiert ostroman. Epen entstanden noch vor den walach. und moldau.
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Fürstentümern im 16. Jh.2 Zentrale Figuren wie der Drachenkämpfer J Georg kommen als Yiorgu oder Ai-Yioryi auch bei den A. vor3. Aus dieser Zeit sind auch hist. Balladen in aromun. Sprache erhalten wie der Bauopfermythos von der Arta-Brücke4 und die Ballade vom verlorenen Lamm Miorit¸a5. Nach der Einrichtung rumän. Schulen in aromun. Siedlungen seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s erschienen aromun. Märchentexte u. a. in einer Fibel von A. Bagav6 sowie in Zss. wie Fratøilia, Macedonia und Lumina. Eine erste kleine Slg mit frz. Übers. ist in den ,makedorumän.‘ Texten von M. G. Obedenaru und I. Bianu enthalten7. Die erste wiss. Annäherung an das aromun. Märchen unternahm 1895 G. Weigand8, der in seiner Volkslitteratur der A. neun Märchen vorstellte. 1905 veröffentlichte P. N. Papahagi 139 Märchen mit Glossar9. Die zum 100jährigen Jubiläum des Erscheinens herausgegebene 2. Aufl. wurde um die Einl. und das Glossar gekürzt und in ,moderner‘ aromun. Orthographie verfaßt10. Die intensivste Auseinandersetzung mit der Volksliteratur der A. erfolgte in Rumänien, da eine große Gruppe der A. im Laufe der 1920er Jahre von der südl. Balkanhalbinsel nach Rumänien auswanderte. Dort wirkende aromun. Autoren wie Papahagi und H. Caˆndroveanu setzten den Schwerpunkt auf den Vergleich mit der Volksliteratur der Rumänen11. In der ehemals zu Jugoslawien gehörenden Republik Makedonien (J Mazedonier) beschäftigen sich A. Popvasileva und K. LiakuAnovska mit dem Sammeln und dem Studium aromun. Märchen: 1987 veröffentlichte Popvasileva 39 Märchen und lieferte eine knappe Einordnung nach AaTh sowie Informationen zu den Erzählern12. Diese Arbeit ist bes. wertvoll, weil die Autorin sich dieselben Märchen einmal auf Aromunisch und einmal auf Makedonisch erzählen ließ. Dabei stellte sie fest, daß mit dem Wechsel der Sprache ein Wechsel des Stils einherging, sich die Erzähler stark dem Publikum anpaßten und viele die Märchen nur auf Aromunisch erzählen konnten13. 1995 veröffentlichte Liaku-Anovska 40 (von 250) von ihr aufgenommene Märchen, die von 18 Erzählern stammen14. Dies ist die einzige Arbeit, die einen Einblick in die Persönlichkeit und Herkunft aromun. Erzähler bietet und beschreibt, wie ihnen die Märchen vermittelt
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Aromunen
wurden. 2007 folgte eine umfangreiche Slg derselben Autorin15. In Griechenland veröffentlichte Z. PapazisiPapatheodoru 96 aromun. Märchen mit griech. Übers. (1996), die im Distrikt Trikala in Thessalien und im westl. Makedonien aufgenommen worden waren16. Die Vorstellung der Erzähler ist sehr knapp, wiss. Kommentare werden nicht geboten. Für Albanien fehlen vergleichbare Arbeiten. Im Aromunischen wird das Märchen als pa˘rmith bezeichnet. Das vom neugriech. paramythi abgeleitete Wort bildet weitere Wortarten (z. B. pa˘rmitusescu [erzählen]) und ist in zahlreiche Redewendungen eingegangen (z. B. agiungu pa˘rmith [zur Legende werden]). Dabei kann sich pa˘rmith auch auf Erzählformen beziehen, die keine Märchen im engeren Sinn sind. Das aromun. Märchen ist von der Lebenswelt der Hirten geprägt17: Weiden und Wälder, Vögel und Schlangen, Sonne und Sterne, Gesteine und Gewässer nehmen in den meisten Märchen eine bes. Rolle ein. Auch die Hierarchie der patriarchalischen Hirtengesellschaft wird in den Texten abgebildet. In den Märchen der Hirten ist die Rolle des Helden oft von einem Hirten besetzt, während in den Erzählungen der Herdenbesitzer die Hirten ungebildet und erfolglos sind und mächtige Kaufleute im Zentrum der Handlung stehen. Männermärchen beanspruchen oft Glaubwürdigkeit für sich, während Frauenmärchen eher phantastische Elemente enthalten und einen Schwerpunkt auf gesellschaftliche Regeln legen. Helden- und Kriegsgeschichten werden häufiger auf Griechisch erzählt, Märchen moralischen und familiären Inhalts häufiger auf Aromunisch. Unter den seßhaften A. scheint das Märchenerzählen seit langem üblicher zu sein als unter den Wanderhirten18. Welche Bevölkerungsgruppe jedoch das umfangreichere Erzählrepertoire hat, ist umstritten. Teils wurde der ackerbautreibenden Bevölkerung der größere Märchenschatz zugesprochen19 und das aromun. Märchen vor allem vor dem Hintergrund der Volksliteratur der anderen Balkanvölker gesehen20, teils wurde aber auch der Reichtum des überlieferten aromun. Märchengutes betont21. Ein Blick auf die Aufnahmedaten der bisherigen Märchensammlungen zeigt,
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daß die meisten Märchen im Winter erzählt wurden. Orte des Erzählens waren im familiären Rahmen das große Bett neben dem Ofen und außerhalb des Hauses die Sennhütten, an denen sich die Hirten trafen, sowie die Waschplätze am Dorfrand22, an denen die Frauen zusammenkamen. Da es heute keine einsprachigen A. mehr gibt, stellt sich die Frage, in welcher Sprache die A. ihr Erzählgut während ihrer Assimilierung pflegten. Die griech. Einflüsse sind deutlich am stärksten, da das Griechische nicht nur auf griech. Territorium Schrift- und Handelssprache war. So erschienen in Griechenland Märchensammlungen aus aromun. Dörfern in griech. Sprache; nur Zauberformeln oder direkte Rede werden auf Aromunisch in griech. Schrift wiedergegeben23. Da sich bei den A. bis heute keine einheitliche Schriftlichkeit durchsetzen konnte, sind die Märchen hervorragende Beispiele mündl. Überlieferung. Die wenigen Märchenerzähler, die nach wie vor unter den A. zu finden sind, scheinen von Schriftvarianten kaum beeinflußt. Gacak, V. M.: E˙picˇeskaja poe˙zija Jugo-Vostocˇnoj Evropy (Epische Dichtung des süd.-östl. Europa). In: Istorija vsemirnoj literatury 3. M. 1985, 512⫺ 519; cf. auch id.: Vostocˇno-romanskij geroicˇeskij e˙pos (Das ostroman. Heldenepos). M. 1967, 30. ⫺ 2 id. 1985 (wie not. 1) 515. ⫺ 3 ibid., 516 sq.; id. 1967 (wie not. 1) 32 sq. ⫺ 4 Schladebach, K.: Die aromun. Ballade von der Artabrücke. In: Jahresber. des Inst.s für Rumän. Sprache 2 (1894) 79⫺121. ⫺ 5 Ga˘lus¸ca˘Cıˆrs¸mariu, T. u. a.: Miorit¸a. Buk. 1992; Dahmen, W.: Der Miorit¸a-Stoff bei Dakorumänen und A. In: Balkan-Archiv N. F. 19/20 (1995) 553⫺557. ⫺ 6 Bagav, A.: Cartea de alegere. Buk. 1887. ⫺ 7 Obedenaru, M. G./Bianu, I.: Texte macedo-romaˆne. Basme s¸i poesii poporale de la Crus¸ova. Buk. 1891. ⫺ 8 Weigand, G.: Die A. Ethnogr.-philol.-hist. Unters.en über das Volk der sog. Makedo-Romanen oder Zinzaren. 2: Volkslitteratur der A. Lpz. 1895, 210⫺ 266. ⫺ 9 Papahagi, P. N.: Basme aromaˆne s¸i glosar. Buk. 1905. ⫺ 10 id.: Pa˘rmiti arma˘neshti. Constant¸a 2005. ⫺ 11 Papahagi, P.: Din literatura populara˘ a aromaˆnilor. Buk. 1900; Caˆndroveanu, H.: Antologie de proza aromaˆna˘. Buk. 1977. ⫺ 12 Popvasileva, A.: Dvojazicˇnoto raskazˇuvanje na narodni prikazni. Vlasˇko-makedonski i makedonsko-vlasˇki relacii (Zweisprachiges Erzählen von Volkserzählungen. Wlach.-makedon. und makedon.-wlach. Beziehungen). Skopje 1987. ⫺ 13 ibid., 299. ⫺ 14 Liaku-Anovska, K.: Socijalnata pripadnost na narodnite raskazˇuvacˇi Vlasi (Soziale Herkunft der wlach. Volkserzähler). Skopje 1995. ⫺ 15 ead.: Vlasˇkite narodni pri1
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¤Atøtøa¯r, Faridoddin Abu¯ H ø a¯med Mohø ammad
kazni od istocˇna Makedonija (Wlach. Volksmärchen aus Ostmakedonien). Skopje 2007. ⫺ 16 Papazisi-Papatheodoru, Z.: Paramythia ton Vlachon (Märchen der Wlachen). Athen 1996. ⫺ 17 cf. Noulas, V./Zbinden, N.: Aromun. Hirtenerzählungen aus dem Pindusgebirge. Zürich 1981. ⫺ 18 Papahagi (wie not. 9) VII. ⫺ 19 Weigand (wie not. 8) 210. ⫺ 20 ibid., 210 sq. ⫺ 21 Papahagi (wie not. 9) XXV. ⫺ 22 ibid., XX. ⫺ 23 Kahl, T./Karzis, A.: Ipirotika paramythia/Märchen aus dem Epirus. Köln/Saloniki 2006; Tsami, A. L.: Palia pisoderitika paramythia (Alte Märchen aus Pisoderi) 2. Saloniki 1991.
Jena
Thede Kahl
ø a¯med Mohø ammad, ¤Atøtøa¯r, Faridoddin Abu¯ H *Nisˇa¯pur ca 1145, † ebenda 1221, pers. mystischer Dichter und Hagiograph1. Über ¤A.s Leben ist wenig mehr bekannt, als daß er als Drogist bzw. Apotheker (arab./pers. ¤atøtøa¯r) arbeitete. Offenbar hat er seine Heimatstadt nie verlassen. Nach der Überlieferung traf ¤A. kurz vor seinem Tod bei der Durchreise des jugendlichen J Rumi von Balh˚ nach Mekka mit diesem zusammen2. Bei der Eroberung von Nisˇa¯pur durch die Mongolen starb ¤A. eines gewaltsamen Todes. ¤A. gehört mit Sana¯Åi (gest. 1131) und Rumi (gest. 1273) zum ,Triumvirat‘ der bedeutenden pers. mystischen Dichter und gilt zusammen mit diesen sowie mit J Nezø a¯mi (gest. 1209) und Sa¤di (gest. 1292) als einer der großen Geschichtenerzähler der älteren neupers. Lit.3 Vor allem H. Ritter hat ¤Atøtøa¯rs nicht unkomplizierte Weltsicht und sein mystisches Denken westl. Lesern zugänglich gemacht4. Neben einer Zusammenstellung von Heiligenviten5 und zwei Slgen lyrischer Gedichte6 umfaßt ¤A.s Schaffen eine größere Anzahl von „werken belehrenden und erzählenden inhalts in versen“7, sog. masßnavis, deren Echtheit allerdings unterschiedlich bewertet wird8. Mit Sicherheit von ¤A. verfaßt sind die Werke einer ersten Gruppe, die „zu den schönsten blüten der neupersischen poesie“9 gezählt werden. Sie enthalten jeweils innerhalb einer spezifischen J Rahmenerzählung zahlreiche, meist kurze banale weltliche Geschichten, die ¤A. in bedeutungsschwere symbolische Erzählungen verwandelt. Hierzu gehören vorrangig das Asra¯rna¯me (Buch der Geheimnisse), das Ela¯hi-na¯me (Gottesbuch), das Mantøeq atø-tøeir (Die Vogel-
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sprache)10 und das Mosøibat-na¯me (Buch der Plage). Zahlreiche der in diesen Werken enthaltenen Geschichten gehen auf ältere, oft arab. Quellen zurück11. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.)12: Asra¯rna¯me, Kap. 6, num. 7 (600) ⫽ Lahmer und Blinder stehlen zusammen (Mot. N 886). ⫺ 7,6 (94) ⫽ Kloakenfeger wird von Wohlgeruch ohnmächtig (Mot. U 133.1)13. ⫺ 8,1 (192) ⫽ Schwarzer hält eigenes Spiegelbild im Wasser für Fratze (cf. AaTh/ATU 1336 a: cf. J Spiegelbild im Wasser)14. ⫺ 10,1 (192) ⫽ Säufer will sich selbst als Pfand für Wein geben15. ⫺ 11,1 (602) ⫽ Papagei stellt sich tot, um aus Gefangenschaft zu entkommen16. ⫺ 11,6 (81) ⫽ Dummer nimmt Kerze mit, um Sonne anzuschauen (cf. ATU 1871 F: Diogenes and the Lantern). ⫺ 11,9 (645) ⫽ Schielender zerschlägt eine der zwei Flaschen, die er sieht17. ⫺ 11,12 (352 sq.) ⫽ Alte Frau stutzt Schnabel und Krallen des Falken, damit er ,vernünftig‘ aussieht18. ⫺ 13,1 (85) ⫽ Erwiderung auf Frage nach Verstecktem: Soll nicht gesehen werden!19 ⫺ 13,4 (86) ⫽ Naiver verspottet: Minarett ist angeblich fruchttragender Baum. ⫺ 19,1 (41) ⫽ Spottender Jüngling wird im Alter den Bogen (gekrümmten Rücken) ganz umsonst bekommen20. ⫺ 20,9 (214) ⫽ AaTh/ATU 32: J Rettung aus dem Brunnen. ⫺ 20,11 (222) ⫽ Wunder: Lebender Wurm im Inneren eines Steins21. ⫺ 21,3 (568) ⫽ Maus führt Kamel am Halfter zum Mauseloch (Mot. J 953.17). ⫺ 23,1 (159) ⫽ Narr wundert sich, warum Verkäufer seine Zuckermandeln nicht selbst ißt. ⫺ 29,14 (99) ⫽ Geiziger stirbt lieber, als sich mit teurem Rosenwasser besprengen zu lassen. Ela¯hi-na¯me 1,1 (366⫺369) ⫽ AaTh/ATU 712: J Crescentia22. ⫺ 2,5 (326) ⫽ AaTh/ATU 928: J Bäume für die nächste Generation. ⫺ 4,1 (640 sq.) ⫽ AaTh/ATU 325: J Zauberer und Schüler23. ⫺ 5,5 (303) ⫽ Inkonsequenter Konvertit betrübt sowohl J Christus als auch J Mohammed24. ⫺ 5,10 (302) ⫽ Als Anwesender merkt, daß der Vorbeter während des Gottesdienstes an Kuh denkt, muht er (cf. AaTh/ ATU 1835 D*: J Vaterunser beten, ohne an anderes zu denken)25. ⫺ 6,1 (37) ⫽ Flucht vor dem Todesengel ist vergeblich (J Schicksal). ⫺ 7,1 (205) ⫽ Dummer erhält Macht, aus Knochen Lebewesen zu erschaffen (cf. J Pelops). Er wendet dies bei Löwenknochen an und wird von dem Löwen gefressen. ⫺ 10,4 (583) ⫽ Streit, wer Lieblingsfrau ist, geschlichtet: Mann gibt jeder insgeheim einen Ring. ⫺ 12,14 (94) ⫽ AaTh/ATU 280 A: J Grille (hier Wespe) und Ameise. ⫺ 13,1 (119) ⫽ König ist Sklave seiner Begierden26. ⫺ 13,13 (97) ⫽ AaTh/ATU 150: Die drei J Lehren des Vogels (hier: Sperling). ⫺ 14,1 (114) ⫽ Alexander erfährt von Zauberdingen: J Lebenswasser schenkt Unsterblichkeit, J Zaubersalbe läßt Schätze sehen (auch 14,2 [75]; Mot. D 1323.5), Zaubertrommel löst Kolik. ⫺ 14,10 (379) ⫽ Fuchs stellt sich tot, um aus Gefangenschaft zu entkommen, läßt sich verstümmeln und flieht erst, als man ihm das Herz herausschneiden will. ⫺ 15,7 (35) ⫽ Ring, der
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¤Atøtøa¯r, Faridoddin Abu¯ H ø a¯med Mohø ammad
die Laune des Königs ändern soll, trägt die Inschrift: „Auch dieses geht vorüber.“ ⫺ 17,2 (44 sq.) ⫽ Falke tadelt Haushuhn, weil es dem Menschen nicht so zuverlässig wie er diene; Huhn kontert, es habe noch nie einen Falken am Bratspieß gesehen (Mot. J 1423)27. ⫺ 18,1 (119) ⫽ Legende von Bulu¯qiya28. ⫺ 20,4 (526 sq.) ⫽ Treuer Gefolgsmann kastriert sich selbst, um Verdacht der Untreue auszuräumen. Mantøeq atø-tøeir 9,1 (125) ⫽ König schießt auf Apfel auf dem Kopf eines Sklaven (J Schützenkünste). ⫺ 21,4 (216) ⫽ Gefangene Füchse werden sich beim Kürschner wieder treffen (Mot. J 1424)29. ⫺ 26,1 (36 sq.) ⫽ Kontamination der Sagen vom sterbenden Schwan und vom Phönix aus der Asche. ⫺ 27,2 (249) ⫽ Sklave ißt auch bittere Frucht, um verehrten Herrn nicht zu enttäuschen30. ⫺ 34,7 (182) ⫽ Immer wenn Mann waschen will, regnet es. ⫺ 38,5 (88) ⫽ Definition der J Ewigkeit31. Mosøibat-na¯me 0 (146) ⫽ Bittsteller wird immer abgelehnt: erbittet zuerst zu wenig, dann zuviel32. ⫺ 4,3 (38 sq.) ⫽ Bestohlener wartet am Friedhof auf den Dieb: Hierher muß er zwangsläufig kommen! ⫺ 4,7 (103) ⫽ Kuh des Mannes, der Milch mit Wasser gepanscht hat, wird von Überschwemmung weggetragen. ⫺ 7,1 (116) ⫽ Wert des weltlichen Reiches: Durstiger Herrscher gibt halbes Königreich für Trinken, würde andere Hälfte für Wasserlassen geben33. ⫺ 7,3 (122) ⫽ ATU 759 E: J Müller von Sanssouci (hier: Haus einer alten Frau)34. ⫺ 10,5 (589) ⫽ Vielfraß ißt mit allen fünf Fingern ⫺ weil er keine sechs hat35. ⫺ 13,4 (321) ⫽ Wanze braucht sich bei Platane nicht zu entschuldigen: War noch nicht einmal bemerkt worden36. ⫺ 15,1 (95 sq.) ⫽ AaTh/ ATU 763: J Schatzfinder morden einander. ⫺ 16,4 (254) ⫽ Galgenhumor: Mörder lacht auf dem Weg zur Hinrichtung, will verbleibende Zeit fröhlich verbringen. ⫺ 17,6 (143) ⫽ Armer lacht, als der Dieb nichts zu stehlen findet37. ⫺ 23,4 (148) ⫽ Dummer bindet sich Kürbis als Erkennungszeichen an (AaTh/ ATU 1284*: cf. Irrige J Identität)38. ⫺ 23,6 (62) ⫽ Erstaunlichster Aspekt der Seefahrt ist heile Heimkehr39. ⫺ 23,14 (126) ⫽ Hof des Herrschers kein angemessener Ort für Rechtsgelehrten40. ⫺ 24,1 (131) ⫽ Kuh der Untertanen gibt weniger Milch, als der Herrscher sie für sich begehrt. ⫺ 24,5 (116 sq.) ⫽ ATU 1971 C: The Cynic Wants Sunlight41. ⫺ 26,1 (389) ⫽ Schöne wimmelt lästigen Verehrer ab: Schwester ist angeblich noch schöner42. ⫺ 26,3 (97 sq.) ⫽ AaTh/ATU 750 A: Die drei J Wünsche.
Die Werke ¤A.s sind aufgrund der Komplexität seiner Weltsicht langfristig nicht annähernd so populär geworden wie die seines jüngeren Zeitgenossen Rumi43. Dabei greift das Masßnavi Rumis in vielen Fällen auf ¤A. zurück44 und hat damit zum Weiterleben von dessen Geschichten beigetragen. 1 Ritter, H.: ¤A., Farı¯d al-Dı¯n Muhø ammad b. Ibra¯hı¯m. In: EI2 1 (1960) 752⫺755; Reinert, B.: ¤A., Farı¯d-al-dı¯n. In: Enc. Iranica 3. N. Y. 2000, 20⫺
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25. ⫺ 2 cf. Foru¯za¯nfar, B.: Zendega¯ni-ye Moula¯na¯ ˇ ala¯loddin Mohø ammad […]. Teheran 1333/1954, G ˇ ala¯17 sq.; Ritter, H.: Philologica. 11: Maula¯na¯ G laddı¯n Ru¯mı¯ und sein Kreis. In: Der Islam 26 (1942) 116⫺158, hier 117 sq. ⫺ 3 cf. Bruijn, J. T. P.: Persian Sufi Poetry. Richmond 1997, 84⫺127. ⫺ 4 Ritter, H.: Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Farı¯duddı¯n ¤A. Leiden (1955) 21978 (engl. Übers.: The Ocean of the Soul. Leiden/Boston 2003). ⫺ 5 Attar, Farid al-Din: Muslim Saints and Mystics. Episodes from the Tadhkirat al-Auliya’ (Memorial of the Saints). Übers. A. J. Arberry. L. u. a. 1966. ⫺ 6 cf. Die nächtlichen Gespräche des Fariduddin ¤Attar. Übers. B. M. Weischer. Mü. 1981; Fifty Poems of ¤A. Übers. K. Avery/A. Alizadeh. Melbourne 2007. ⫺ 7 Ritter 1978 (wie not. 4) 1. ⫺ 8 cf. bes. id. (wie not. 1). ⫺ 9 id. 1978 (wie not. 4). ⫺ 10 ¤A., F.: Mantøiq atø-tøeir. ed. R. Sˇafi¤i-Kadkani. Teheran 1383/2004; Übers.en: id.: The Conference of the Birds. Übers. C. S. Nott. L. 1954; id.: Die Konferenz der Vögel. Übers. K. Föllmer. Wiesbaden 2008. ⫺ 11 Sø an¤atiniya¯, F.: MaÅa¯h˚ ezß -e qesøasø va tamsßila¯t-e masßnaviha¯-ye ¤A. (Die Qu.n der Geschichten und Allegorien der Masßnavis von ¤A.). Teheran 1369/ 1990; Marzolph, Arabia ridens 2, 287 sq. ⫺ 12 Angabe mit Kap., num. sowie p. bei Ritter 2003 (wie not. 4). ⫺ 13 Marzolph, Arabia ridens 1, 173⫺180. ⫺ 14 cf. ibid. 2, num. 982. ⫺ 15 cf. ibid., num. 777. ⫺ 16 cf. Friend, H.: The Tale of the Captive Bird and the Traveler. In: Medievalia et Humanistica N. S. 1 (1970) 57⫺65; Schwarzbaum, Fox Fables, 365⫺ 369. ⫺ 17 Marzolph, U.: Der Schieler und die Flasche. Zur Rezeption einer arab. Anekdote in der pers. mystischen Dichtung. In: Oriens 32 (1990) 124⫺138. ⫺ 18 Chauvin 3, 60, num. 24; Wesselski, Hodscha Nasreddin 1, num. 37; Marzolph, Arabia ridens 1, 73, 99. ⫺ 19 ibid. 2, num. 98. ⫺ 20 ibid., num. 1142. ⫺ 21 cf. Chauvin 3, 163. ⫺ 22 Marzolph, U.: Crescentia’s Oriental Relatives: The „Tale of the Pious Man and His Chaste Wife“ in the Arabian Nights and the Sources of Crescentia in Near Eastern Narrative Tradition. In: Marvels & Tales 22,2 (2008) 240⫺258, 299⫺311; Lewis, F. D.: One Chaste Muslim Maiden and a Persian in a Pear Tree. Analogues of Boccaccio and Chaucer in Four Earlier Arabic and Persian Tales. In: Metaphors and Imagery. Studies in Classical Persian Poetry. ed. A. A. Seyed-Gohrab. Leiden 2011, 137⫺203, hier 164⫺180; id.: The Tale of the Righteous Woman (Whose Husband Had Gone on a Journey). In: Converging Zones. Persian Literary Tradition and the Writing of History. Festschr. A. Banani. Costa Mesa, Calif. 2012, 200⫺219. ⫺ 23 Boyle, J. A.: Popular Literature and Folklore in Attar’s Mathnavis. In: Colloquio italo-irano sul poeta mistico Fariduddin Attar. Rom 1978, 57⫺ 70. ⫺ 24 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 301. ⫺ 25 cf. ibid., num. 1246. ⫺ 26 ibid., num. 287. ⫺ 27 ibid., num. 91. ⫺ 28 Chauvin 7, 54⫺59. ⫺ 29 Mar-
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¤Aufi, Sadidoddin Mohø ammad
zolph, Arabia ridens 2, num. 341. ⫺ 30 ibid., num. 721. ⫺ 31 cf. BP 3, 232. ⫺ 32 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 525. ⫺ 33 ibid., num. 370. ⫺ 34 ibid., num. 415. ⫺ 35 ibid., num. 754. ⫺ 36 ibid., num. 53. ⫺ 37 ibid., num. 955. ⫺ 38 ibid., num. 1023. ⫺ 39 ibid., num. 736. ⫺ 40 ibid., num. 734. ⫺ 41 ibid., num. 623. ⫺ 42 ibid., num. 1076. ⫺ 43 cf. Marzolph (wie not. 17) 124. ⫺ 44 ibid., 126 (Masßnavi 1,327⫺335 ⫽ Asra¯r-na¯me 11,9; 1,1547⫺1848 ⫽ 11,1; 2,323⫺349 ⫽ 11,2; 2,3436⫺3477 ⫽ 21,3; 4,257⫺300 ⫽ 7,6).
Göttingen
Ulrich Marzolph
¤Aufi, Sadidoddin Mohø ammad (auch ¤Awfı¯), *Buchara (?) ca 1175, † Delhi (?) ca 1232, pers. Autor1. Als Abkömmling einer Familie, die sich von ¤Abdarrahø ma¯n ibn ¤Auf, einem Gefährten des Propheten J Mohammed herleitete, genoß ¤A. eine solide Ausbildung in Buchara. Den Großteil seines Lebens verbrachte er unstet in den Städten eines Gebiets, das von Mittelasien bis Nordwestindien reicht. Währenddessen setzte er seine Studien bei verschiedenen Lehrern fort und hatte diverse Positionen inne, so etwa um 1223 das Amt eines Richters. Belegt sind u. a. Aufenthalte in Samarkand (1201), Chorazm (1203), Nisˇa¯pur (1206) sowie Herat und Sigˇista¯n (bis 1215); 1220 war ¤A. in Lahore, 1223 in Khanbayat (Cambay) und später, wahrscheinlich bis zu seinem Tod, in Delhi. ¤A. verfaßte u. a. eine 1223 fertiggestellte pers. Übers. von Tanu¯h˚ ¯ıs (gest. 994) Geschichtensammlung al-Faragˇ ba¤d asˇ-sˇidda (Freude nach Leid)2 sowie das panegyrische Werk Mada¯Åehø as-soltøa¯n (Lobreden auf den Herrscher), beide nicht erhalten. Sein ca 1220/21 vollendetes Loba¯b al-alba¯b (Die Quintessenz der Herzen) ist eine wichtige Anthologie neupers. Dichtung mit Biogr.n der Dichter, die allerdings weitgehend als unkritisch zusammengestellt eingeschätzt wird3. Für die hist. und vergleichende Erzählforschung besitzt ¤A.s umfassende Kompilation ˇ ava¯me¤ al-hø eka¯ya¯t va lava¯me¤ ar-reva¯ya¯t G (etwa: Gesammelte Geschichten und glänzende Überlieferungen) Bedeutung, die er ˇ oneidi, Wesir 1228 dem Nezø a¯m al-molk al-G des mongol. Herrschers Iltutmisˇ, widmete. Das hinsichtlich seiner Quellen und Inhalte von M. Nizamuddin vorbildlich erschlossene Werk4 ist noch nicht vollständig ediert5. Es
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enthält in vier Büchern zu je 25 Kapiteln insgesamt 2113 Geschichten, die der Autor aus ca 100 z. T. nicht identifizierbaren bzw. heute nicht mehr erhaltenen arab. und pers. Quellen zusammengestellt hat6. Gelegentlich zitiert er aus eigenem Erleben (num. 1588, 2011). Auch etwa zwei Drittel der Geschichten aus seiner Übers. von Tanu¯h˚ ¯ıs al-Faragˇ ba¤d asˇ-sˇidda hat ¤A. inkorporiert7. Die vier Bücher behandeln in anekdotischer Form und ohne substantiellen Kommentar des Autors ein breites Spektrum, das von diversen religiösen und hist. Themen (Buch 1) über eine antithetische Behandlung der conditio humana (Buch 2 und 3) bis hin zu Mirabilien und Kuriosa (Buch 4) reicht. (1) Gott, Propheten und Heilige, Könige und Kalifen, bedeutende Männer (num. 1⫺1182): Der Schöpfer und seine Schöpfung; Wunder der Propheten; islam. Heilige; die alten Könige von Iran, Griechenland, China und Indien, Herrscher der Türken und Araber; Kalifen; Gerechtigkeit; Tugenden der Herrscher; prägnante Aussprüche; Bestrafungen; Bittsteller, weise Entscheidungen, Großzügigkeit; Weisheit großer Männer; kluge Urteile und Entscheidungen; Listen und Kriegslisten; Ratgeber; kluge Ratschläge von Weisen und Heiligen; schlagfertige Erwiderungen; Richter; Sekretäre; Favoriten und Höflinge; Ärzte; Wahrsager; Astrologen; Dichter; Musikanten; Weise. ⫺ (2) Lobenswerte menschliche Eigenschaften (num. 1183⫺1540): Bescheidenheit; Demut; Vergebung; Milde; Edelmut; Wohlerzogenheit und Disziplin; Gnade; Gottvertrauen; Großzügigkeit; Güte; Gastfreundlichkeit; Mut; Geduld und Ausdauer; Dankbarkeit; Vorsicht und Wachsamkeit; Enthaltsamkeit und Frömmigkeit; Bemühen; Schweigen und Sprechen; Treue; Nächstenliebe; Geheimnisse; Ehrlichkeit; edler Charakter; Ausdauer und Bestimmtheit; Ratsuchen. ⫺ (3) Tadelnswerte menschliche Eigenschaften (num. 1541⫺1789): Unterschiedliche Temperamente; Mißgunst und Neid; Geiz und Habgier; Habsucht; Räuber; Bettler; Falschheit und Wahrheit; Häretiker und Pseudo-Propheten; Kargheit; Meineide und gebrochene Versprechen; Ignoranz; Tyrannei; Hartherzigkeit und Menschlichkeit; Schlechtigkeit und Unerzogenheit; Extravaganz und Verschwendung; Unehrlichkeit; Unzucht; Undankbarkeit; üble Nachrede und Spitzelei; Voreiligkeit; unreligiöse Personen; kluge und intelligente Frauen; keusche und tugendhafte Frauen; unkeusche und gottlose Frauen; Frauenlisten. ⫺ (4) Erstaunliches, Wunderbares und Kurioses (num. 1790⫺2113): Vorteile des Diensts bei den Herrschern; Nachteile des Diensts bei den Herrschern; Furcht und Hoffnung; Nutzen von Gebeten und Segen der Frömmigkeit; denkwürdige Gebete;
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¤Aufi, Sadidoddin Mohø ammad
gute Omina und merkwürdige Ereignisse; Rettung aus gefährlichen Situationen; Rettung vor Wegelagerern; Rettung vor wilden Tieren; unglückliche Liebe; glückliche Liebe; Rettung vor Vernichtung; Schicksal: Glück und Unglück; Mißgeburten; Langlebigkeit; die Klimata; die Byzantiner, Araber, Inder, Äthiopier und die Bewohner der Inseln (im Kasp. Meer); Monumente und bemerkenswerte Gebäude; verzauberte Gebäude und Gegenden; eigenartige natürliche Gegenstände; merkwürdige Eigenarten von Tieren; wilde Tiere; außergewöhnliche Tiere; merkwürdige Vögel; lustige und witzige Geschichten und Anekdoten.
In diesem Rahmen bringt ¤A. auch zahlreiche Erzählungen, die in der internat. Überlieferung verbreitet sind. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.)8: num. 38 (1,1,38) ⫽ AaTh/ATU 960 A: J Kraniche des Ibykus. ⫺ 369 (1,6,7) ⫽ ATU 759 E: J Müller von Sanssouci (hier: Haus einer alten Frau). ⫺ 390 ⫽ AaTh/ ATU 207 C: J Glocke der Gerechtigkeit. ⫺ 724 (1,13,49) ⫽ AaTh/ATU 248 A: The Elephant and the Lark. ⫺ 1144 (1,25,4) ⫽ AaTh/ATU 655, 655 A: Die scharfsinnigen J Brüder. ⫺ 1164 (1,25,24) ⫽ AaTh/ ATU 1533: Die sinnreiche J Teilung des Huhns. ⫺ 1165 (1,25,25) ⫽ cf. AaTh/ATU 930: J Uriasbrief ⫹ AaTh/ATU 851 A: cf. J Rätselprinzessin (Kap. 3). ⫺ 1166 (1,25,26) ⫽ cf. AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter. ⫺ 1391 (2,12,11) ⫽ Schützenkünste des Bahra¯m Gur (Mot. N 621). ⫺ 1424 (2,15,13) ⫽ cf. AaTh/ATU 160: J Dankbare Tiere, undankbarer Mensch. ⫺ 1467 ⫽ J Athis und Prophilias9. ⫺ 1549 ⫽ AaTh/ATU 976: Die vornehmste J Handlung. ⫺ 1561 (3,3,2) ⫽ AaTh/ATU 928: J Bäume für die nächste Generation. ⫺ 1564 (3,3,5): cf. AaTh/ATU 280 A: J Grille und Ameise. ⫺ 1577 (3,4,7): AaTh 888 A*: The Basketmaker. ⫺ 1591 (3,5,8) ⫽ cf. AaTh/ATU 1529: J Dieb als Esel. ⫺ 1594 (3,6,2) ⫽ AaTh/ATU 1525 K: Ubiquitous Beggar. ⫺ 1599 (3,6,7) ⫽ AaTh/ATU 1556: Die doppelte J Pension. ⫺ 1700 (3,15,4) ⫽ AaTh/ATU 1592: J Mäuse fressen Eisen. ⫺ 1722 (3,19,2) ⫽ AaTh/ATU 1353: Böses J Weib schlimmer als der Teufel. ⫺ 1732 (3,20,3) ⫽ AaTh 916 (II c)/ATU 178 C: The Thirsty King Kills His Faithful Falcon. ⫺ 1733 (3,20,4) ⫽ AaTh/ATU 178 A: J Hundes Unschuld. ⫺ 1766 (3,23,8) ⫽ AaTh/ATU 712: J Crescentia10. ⫺ 1787 (3,25,5) ⫽ Vielliebchen-Spiel (Marzolph *1351 B). ⫺ 1779 (4,2,1) ⫽ AaTh/1510: J Witwe von Ephesus. ⫺ 1915 (4,12,4) ⫽ Kannibalische Grabräuberin11. ⫺ 1926 (4,13,6) ⫽ Flucht vor dem Todesengel ist vergeblich (J Schicksal)12.
Wie die große Anzahl erhaltener Mss.13 belegt, ist ¤A.s Werk über die Jh.e kontinuierlich beliebt geblieben. Eine konkrete inhaltliche Nachwirkung läßt sich für ca 20 pers.sprachige Werke belegen14. Aus dem 15./16. Jh. liegen drei Übers.en in türk. Sprache vor15. Auch
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heute noch sind zahlreiche Ausw.ausgaben des ˇ ava¯me¤ al-hø eka¯ya¯t auf dem pers. Buchmarkt G vertreten16. 1
Nizø a´mu’d-dı´n, M.: Introduction to the „Jawa´mi¤u’l-hø ika´ya´t wa lawa´mi¤u’r-riwa´ya´t“ of Sadı´du’ddı´n Muhø ammad al-¤Awfı´. L. 1929, 3⫺14; Nizamuddin, M.: ¤Awfı¯, Muhø ammad b. Muhø ., Sadı¯d al-Dı¯n. In: EI2 1 (1960) 764; Matı¯nı¯, J.: ¤Awfı¯, Sadı¯d-al-dı¯n. In: Enc. Iranica 3. N. Y. 2000, 117 sq. ⫺ 2 Nizø a´mu’ddı´n (wie not. 1) 14⫺20, 90⫺94; cf. allg. Wiener A.: Die Faragˇ ba¤d asˇ-sˇidda-Lit. In: Der Islam 4 (1913) 270⫺298, 387⫺420. ⫺ 3 ¤A., S. M.: Loba¯b al-alba¯b 1⫺2. ed. E. G. Browne/Mirza¯ Muhø ammad. L./Leiden 1903/06. ⫺ 4 Nizø a´mu’d-dı´n (wie not. 1). ⫺ 5 ¤A., ˇ ava¯me¤ al-hø eka¯ya¯t va lava¯me¤ ar-reva¯ya¯t. t. S. M.: G 1, Kap. 1, 2⫺3. ed. M. Mo¤in. Teheran 1335/1956, 2 2535; ibid. 1, Kap. 1⫺4. Hyderabad 1966; ibid. 1, ˇ . Sˇe¤a¯r. Teheran 1366/1987 (51995); Kap. 5. ed. G ibid. 2,1. ed. A.-B. Mosøaffa¯. Teheran 1359/1980 (Kap. 1⫺15); ibid. 2,2. ed. A.-B. und M. Mosøaffa¯. Teheran 1362/1983 (Kap. 16⫺25); ibid. 3,1. ed. A.B. Mosøaffa¯. Teheran 1352/1973 (Kap. 1⫺11); ibid. 3,2. ed. A.-B. und M. Mosøaffa¯. Teheran 1353/1974 (Kap. 12⫺25); ibid. 4,1. ed. M. Mosøaffa¯. Teheran 1370/1991 (Kap. 1⫺10) (Neuausg. t. 1,2⫺3,2. ed. A.B. und M. Mosøaffa¯. Teheran 1386⫺87/2007⫺08); cf. auch ibid. 1,2. Faks. ed. M. Ramazø a¯ni. Teheran 1335/1956 (Kap. 11⫺25). ⫺ 6 Nizø a´mu’d-dı´n (wie not. 1) 35⫺103, 273⫺276; Mosøaffa¯, A.-B.: Mana¯be¤ˇ ava¯me¤ al-hø eka¯ya¯t. In: Gouhar 25 e gomsˇode-ye G (1345/1966) 38⫺45; cf. auch Marzolph, Arabia ridens 1, 101⫺103; t. 2, 288. ⫺ 7 Nizø a´mu’d-dı´n (wie not. 1) 93 sq.; Mosøaffa¯, A.-B.: Faragˇ ba¤d asˇ-sˇidda ˇ ava¯me¤ al-hø eka¯ya¯t. In: Yag˙ma¯ 285 (1351/1972) va G 137⫺143, 286 (1351/1972) 204⫺208. ⫺ 8 Nach Nizø a´mu’d-dı´n (wie not. 1) 140⫺261 (zitiert mit num. sowie [Buch, Kap., num.]). ⫺ 9 Grimm, W.: Die Sage von Athis und Prophilias [1865]. In: id.: Kl.re Schr. ed. G. Hinrichs. B. 1883, 346⫺366, hier 350. ⫺ 10 Marzolph, U.: Crescentia’s Oriental Relatives. The „Tale of the Pious Man and His Chaste Wife“ in the „Arabian Nights“ and the Sources of „Crescentia“ in Near Eastern Narrative Tradition. In: Marvels & Tales 22,2 (2008) 240⫺258. ⫺ 11 Hamori, A.: Folklore in Tanukhi. The Collector of Ramlah. In: Studia Islamica 71 (1990) 65⫺75. ⫺ 12 cf. auch ¤Atøtøa¯r, Ela¯hi-na¯me 6,1; Rumi, Masßnavi 1, V. 956⫺968. ⫺ 13 Nizø a´mu’d-dı´n (wie not. 1) 107⫺ 124. ⫺ 14 ibid., 26⫺30. ⫺ 15 ibid., 31; cf. auch Hammer-Purgstall, J. von: Rosenöl 2. (Stg./Tübingen 1813) Nachdr. Hildesheim u. a. 2004, xiii. ⫺ 16 z. B. ˇ ava¯me¤ al-hø eka¯ya¯t. ed. R. Sˇira¯zi. TeheQesøsøeha¯-ye G ˇ ava¯me¤ al-hø eran 1386/2007; Qesøsøeha¯-ye sˇirin-e G ka¯ya¯t. ed. N. Kesˇa¯varz. Teheran 1387/2008; Bar goˇ ava¯me¤ al-hø eka¯ya¯t. ed. G ˇ . Sˇe¤a¯r. Teheran zide-ye G 1390/2011.
Göttingen
Ulrich Marzolph
1541
Banu¯ Hila¯l
Banu¯ Hila¯l, arab. Stamm, dessen Erlebnisse in einem umfangreichen volkstümlichen Epos (arab. sı¯ra), der Sı¯rat Banı¯ Hila¯l (Sı¯rat B. H.), auch al-Hila¯lı¯ya genannt, erzählt werden (cf. allg. J Arab.-islam. Erzählstoffe, Kap. 7)1. Die B. H., ursprünglich in Zentralarabien (Nagˇd) beheimatet2, wanderten im 10.⫺11. Jh. zusammen mit den Banu¯ Sulaim nach Nordafrika aus und eroberten das heutige J Tune˚ aldu¯n (gest. sien. Der tunes. Historiker Ibn H 808/1406) verstand den zerstörerischen Einfall der B. H. als Teil der sich zyklisch wiederholenden Auseinandersetzungen zwischen Seßhaften und Nomaden3. Das gesungen vorgetragene Epos über die Taten der Helden der B. H. und ihrer Widersacher vom berber. Stamm der Zana¯ta ist das lebendigste Zeugnis arab. Epik. Es umfaßt fünf Erzählkreise, die ihrerseits zahlreiche, darunter auch von der Haupterzählung abschweifende Episoden enthalten4: (1) Die biogr. Einführung berichtet von den Ereignissen der ersten Generation der B. H. in Zentralarabien bis zur Zeit der großen Hungersnot, die sie zur Auswanderung zwang. Der Emir Rizq heiratet alH ˚ adø ra¯Å, Tochter des Scherifen von Mekka. Beim Anblick eines Raben bittet die unfruchtbare al-H ˚ adø ra¯Å Gott um einen Sohn, und sei er auch so schwarz wie dieser Rabe (J Empfängnis, wunderbare). Sie gebiert den schwarzen Baraka¯t, worauf Rizq seine Gemahlin verstößt. Der Knabe, nun genannt Abu¯ Zaid, wächst bei den Zahø la auf, wird ein kühner Ritter und rächt die Ehre seiner Mutter, indem er, ohne es zu wissen, seinen eigenen Vater zum Zweikampf herausfordert und besiegt (J Vater-Sohn-Motiv). Darauf erkennt ihn Rizq als Sohn an. (2) Die Erkundungsmission: Nach sieben Jahren Hungersnot entschließen sich die B. H. zur Auswanderung und zur Suche nach einer neuen Heimat. Sie rüsten eine Erkundungsmission aus, deren Führung sie Abu¯ Zaid übertragen. Dieser wählt sich einige junge Gefährten, und zusammen gelangen sie als fahrende Dichter verkleidet in den Maghreb, wo sie Bekanntschaft mit den berber. Zana¯ta und ihrem Fürsten machen. Nach unglücklichen Abenteuern kehrt Abu¯ Zaid mit dem Vorsatz, die B. H. nach Nordafrika zu führen, nach Arabien zurück. (3) Der Zug nach Westen: Unter der Führung des ø asan und dem Kommando des Abu¯ Zaid Sultan H verlassen die B. H. die arab. Halbinsel. Der hervor˙ a¯nim wird gedemüß iya¯b ibn G ragende Heerführer D tigt, da ihm nur die Aufsicht über die Kamele übertragen wird. Nach Streifzügen im Irak und in Syrien gelangen die B. H. nach Ägypten und schließlich nach Nordafrika. Das Land wird erobert, Pflanzungen und Felder werden verwüstet. Abu¯ Zaid kann
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den Berberfürsten von Tunis nicht im Zweikampf bezwingen; dieser wird von D ß iya¯b getötet. (4) Die sieben Herrschaften: Nach Übernahme ß iya¯b im Übermut und eigder Herrschaft handelt D net sich ausgedehnte Ländereien an. Sultan H ø asan schickt Boten an ihn aus, die er alle töten läßt. Mit ß iya¯b gefangen zu einer List gelingt es dem Sultan, D nehmen. Nach sieben Jahren Gefangenschaft kommt D ß iya¯b frei und führt einen Bruderkrieg gegen die anderen Krieger der B. H. (5) Der sog. ,Diwan der Waisen‘ berichtet über die Rache der 90 Waisen der durch D ß iya¯b getöteten ˇ a¯ziya, der Helden unter der Führung von al-G Schwester des Sultans H ø asan. D ß iya¯b wird gefangen genommen und gehängt. Der Bruderkrieg führt zur Auflösung des Stammes der B. H., die sich mit den Völkern des Maghreb vermischen.
Die Sı¯rat B. H. hat ihre Ursprünge wahrscheinlich in Versen der Dichter unter den Kriegern der B. H., welche die Taten ihres Stammes besangen5. Dieser Kern von Erzählungen inspirierte Geschichtenerzähler, die ihn im Lauf der Zeit bearbeiteten und um neue Episoden erweiterten. Im Zuge der Tradierung verschriftlicht, dienten Hss. der Sı¯rat B. H.6 späteren Erzählern als Textgrundlage für ihren Vortrag; auf ihnen beruhen auch die Lithographien des 19. Jh.s und die zahlreichen späteren Druckausgaben (Erstausgabe Kairo 1865). Daneben wirkten an der Überlieferung illiterate, wenngleich professionelle Dichter mit, oft aus dem Milieu von Roma. Die Helden der Sı¯rat B. H. sind häufig Hauptfiguren von lokalen Gründungssagen, die sich auf Ruinen alter Burgen, Dämme und Gräber beziehen. Die große Auswanderung soll im Jemen begonnen haben, wo sich noch heute einige Stämme für Nachkommen der B. H. halten, die beim Aufbruch ,vergessen‘ wurden7. In Nordafrika, bes. in Südtunesien, hat der Durchzug der B. H. in der Toponomastik Spuren hinterlassen, die man als Belege für die Wahrhaftigkeit der erzählten Episoden ansieht; Hauptfiguren darin sind az-Zana¯tı¯ ˚ alı¯fa, der Berberfürst von Tunis und WiderH ˙ a¯sacher der B. H., sein Bezwinger D ß iya¯b ibn G nim und die für ihre Schönheit und Klugheit ˇ a¯ziya8. berühmte Heldin al-G Erzählungen aus dem Umkreis der Sı¯rat B. H. finden sich mit zahlreichen regionalen Var.n in der gesamten arab. Welt9, auch südl. der Sahara10. In der ägypt. Überlieferung liegt der Akzent auf dem heldenhaften und ritterlichen Aspekt, meist in Verbindung mit den li-
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Bascom, William Russel
stenreichen Unternehmungen des Abu¯ Zaid alHila¯lı¯11. In Kairo wurden im 19. Jh. die zahlreichen Geschichtenerzähler nach den Stämmen benannt, deren Heldentaten sie besangen12. In ihren Aufführungen verbinden die Erzähler gesungene poetische Passagen (Dialoge, Schilderung der Zweikämpfe, Höhepunkte der Erzählung) mit überleitenden und verbindenden Rezitativen. Der musikalischrhythmische Aspekt wird durch Begleitung mit der Trommel oder dem Saiteninstrument raba¯ba unterstrichen13. 1
cf. allg. Heath, P.: Sı¯ra sha¤biyya. In: EI2 (1998) 9, 689⫺691; Canova, G.: Sı¯ra Literature. In: Enc. of Arabic Literature 2. L./N. Y. 1998, 726 sq.; id.: Gli studi sull’epica popolare araba. In: Oriente moderno 57 (1977) 211⫺226; id.: Twenty Years of Studies on Arabic Epics. ibid. N. S. 22 (2003) v⫺xxii (mit Bibliogr.); cf. allg. Lyons, M. C.: The Arabian Epic. Heroic and Oral Story-Telling 1⫺3. Cambr. 1995. ⫺ 2 ˇ amharat an-nasab. Das genealogische Werk cf. G des Hisˇa¯m Ibn Muhø ammad al-Kalbı¯ 1⫺2. ed. W. Caskel. Leiden 1966, hier t. 1, Tabelle 92; t. 2, 11⫺ 13. ⫺ 3 Ibn H ˚ aldu¯n: Kita¯b al-¤Ibar 1⫺7. Beirut 1959, hier t. 6, 31; t. 7, 160; Ibn Khaldoun: Histoire des Berbe`res et des dynasties musulmanes de l’Afrique septentrionale 1. Übers. W. M. de Slane. (P. 1925) Nachdr. P. 1968, 28 sq. ⫺ 4 Hartmann, M.: Die Benı¯ Hila¯l-Geschichten. In: Zs. für afrik. und ocean. Sprachen 4 (1898) 289⫺315; Lyons (wie not. 1) t. 2, 120⫺150; t. 3, 237⫺300; cf. auch Grech, R. L.: Indexation de la Geste des B. H. a` partir de deux e´ditions paralle`les 1⫺3. Algier 1989; Reynolds, D. F.: B. H. In: Essays in Arabic Literary Biography. 1350⫺1850. ed. J. E. Lowry/D. J. Stewart. Wiesbaden 2009, 77⫺ 91. ⫺ 5 cf. Ayoub, A.: Approche de la poe´sie be´douine hilalienne chez Ibn Khaldoun. In: Actes du colloque internat. sur Ibn Khaldoun. Algier 1978 [1983], 321⫺345; Sowayan, S.: The Hila¯lı¯ Poetry in the Muqaddima. In: Oriente moderno N. S. 22 (2003) 277⫺306. ⫺ 6 cf. Ahlwardt, W.: Verz. der arab. Hss. der Kgl. Bibl. zu Berlin 8. B. 1896, num. ` propos 9188⫺9361; Ayoub, A.: Sı¯rat Banı¯ Hila¯l. A de quelques mss. conserve´s a` Berlin-Ouest. In: Revue d’histoire maghre´bine 11,33⫺34 (1984) 19⫺40. ⫺ 7 cf. Canova, G.: Testimonianze hilaliane nello Yemen orientale. In: Studi yemeniti 1 (1985) 161⫺196; id.: Remarques sur l’histoire de ¤Azı¯z ben H ˚ a¯leh du cycle e´pique hilalien. In: The Arabist 13⫺14 (1995) 173⫺191; id.: Una ricerca tra i B. H. di Wadi Marh˚ a (Yemen). In: Quaderni di studi arabi 11 (1993) 193⫺ 214; id.: B. H. Tales from Southern Arabia. In: Oriente moderno N. S. 22 (2003) 361⫺375. ⫺ 8 Bel, A.: La Djaˆzya, chanson arabe. In: J. asiatique 9,19 (1902) 289⫺347; 9,20 (1902) 169⫺236; 10,1 (1903) 311⫺366; Qı¯qa, ¤A.: La Geste hilalienne. Tunis 1968; Pantu˚cˇek, S.: Das Epos über den Westzug der B. H. ˇ a¯ziya al-hila¯lı¯ya Prag 1970; al-Marzu¯qı¯, M.: al-G
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ˇ a¯ziya]. Tunis 1978; Baker, [Die B. H.-Prinzessin al-G C. A.: The Hilali Saga in the Tunisian South. Diss. Bloom. 1978; Galley, M./Ayoub, A.: Histoires des Beni Hilal. P. 1983; Saada, L.: La Geste hilalienne, version de Bou Thadi (Tunisie). P. 1985; Nacib, Y.: Une Geste en fragments. P. 1994; Chellig, N.: Jazya, princesse berbe`re. Algier 1998; Sirat Beni Hilal. Actes de la 1e`re table ronde internat. sur la Geste des Be´ni Hilal. Tunis 1989; Banu Hilal, geste et histoire. Actes du colloque internat. sur les B. H. Algier 1996. ⫺ 9 Norris, H. T.: The Rediscovery of the Ancient Sagas of the B. H. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 51 (1988) 462⫺481. ⫺ 10 Patterson, J. R.: Stories of Abu Zeid the Hilali in Shuwa Arabic. L. 1930. ⫺ 11 Lyons (wie not. 1) t. 2, 148⫺150; t. 3, 295⫺300. ⫺ 12 cf. Lane, E.: An Account of the Manners and Customs of the Modern Egyptians. (ed. E. S. Poole. L. 5 1860) Nachdr. ed. J. Thompson. Kairo 2003, 391⫺ 425. ⫺ 13 Yu¯nus, A.: Fı¯ ’t-ta¯rı¯h˚ wa-’l-adab asˇ-sˇa¤bı¯ (Über Geschichte und Volkslit.). Kairo 1956; Abnoudy, A.: La Geste hilalienne. Kairo 1978; id.: asSı¯ra al-hila¯lı¯ya (Das Volksepos der B. H.) 1⫺5. Kairo 1988; Canova, G.: Egitto. 1: Epica. Mailand 1980 (Schallplatte); id.: Il poeta epico nella tradizione araba. In: Quaderni di studi arabi 1 (1983) 87⫺ 104; Connelly, B.: Arabic Folk Epic and Identity. Berk. 1986; ead.: Three Egyptian Reba¯b-Poets. Individual Craft and Poetic Design in Sı¯rat Banı¯ Hila¯l. In: Edebiyaˆt 2 (1988) 117⫺147; Slyomovics, S.: The Merchant of Art. An Egyptian Oral Epic Poet in Performance. Berk. 1987; Reynolds, D.: Heroic Poets, Poetic Heroes. An Ethnography of Performance in an Arabic Oral Epic Tradition. Ithaca/L. 1995.
Neapel
Giovanni Canova
Bascom, William Russel, *Princeton (Illinois) 23. 5. 1912, † San Francisco 11. 9. 1981, US-amerik. Ethnologe, Folklorist und Afrikanist1. B. studierte an der Univ. von Wisconsin in Madison und erwarb dort ⫺ nach einem B. A. in Physik ⫺ 1936 einen M. A. in Ethnologie. Er wurde 1939 bei M. Herskovits im Fach Ethnologie an der Northwestern Univ. in Chicago mit einer Diss. über Kultgruppen der Yoruba in Nigeria promoviert2. 1945⫺57 lehrte er Ethnologie an der Northwestern Univ. 1957⫺79 war er Professor für Ethnologie an der Univ. of California in Berkeley, wo er Narrativik sowie afrik. und allg. Folkloristik lehrte und zugleich Direktor des Robert H. Lowie Museum of Anthropology (seit 1991 Phoebe A. Hearst Museum) war3. 1953/54 war B. Präsident der American Folklore Soc. Für
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Bascom, William Russel
die Monogr. Ifa Divination: Communication Between Gods and Men in West Africa (Bloom. 1969) erhielt er 1969 den Pitre`-Preis. Zu seinem 70. Geburtstag erschien posthum eine Festschr.4 Sowohl in B.s Wahl seines Forschungsgegenstands als auch in seinem kontextorientierten ethnol. Zugang zur Volksüberlieferung und seiner anti-evolutionistischen Einstellung zeigt sich der Einfluß von Herskovits und F. J Boas. Seit seinen frühen Feldforschungen bei den Yoruba (seit 1938) befaßte sich B. mit der ethnogr. Kontextualisierung von Sprichwörtern. Hieraus entstanden wichtige Arbeiten zur Kulturvermittlung bei den Nachkommen von Yoruba-Sklaven auf Kuba, bes. die vergleichende hist. Studie zu Volksüberlieferung und Volksglaube der Yoruba, Sixteen Cowries: Yoruba Divination from Africa to the New World (Bloom./L. 1980)5. In seiner Funktion als Präsident der American Folklore Soc. bemühte sich B. um die Überbrückung der Kluft zwischen der ethnol. und der philol. Fraktion in der amerik. Folkloristik und trat für einen funktionalistischen Ansatz (J Funktionalismus) ein6. In Berkeley war B. an der Einrichtung des M. A.-Programms für Folkloristik (1965) beteiligt, wodurch eine inhaltliche Neuausrichtung der Folkloristik, die bis dato ⫺ u. a. unter Einfluß von A. J Taylor ⫺ literar. und philol. orientiert war, in Richtung einer ethnol. Fundierung in Gang kam. Z. T. aufgrund der schwerpunktmäßigen Betrachtung vorliterar. Gesellschaften in der Ethnologie war B.s Auffassung von Volksüberlieferung grundsätzlich mit Mündlichkeit und dem Konzept einer ,verbal art‘ verbunden7. B.s zentraler Beitrag zur Erzählforschung, sein Aufsatz The Forms of Folklore: Prose Narratives (1965), verdeutlicht die Heterogenität der damaligen Ansätze8. B. verstand Volksüberlieferung als narrativ und in den Gattungen Mythos, Sage und Märchen repräsentiert9. Für die bestimmenden Aspekte jeder dieser Gattungen (Kontext, Performanz, Funktion) orientierte er sich (gegen C. W. von J Sydow10) an B. J Malinowski11. B. wollte eine ,gewisse Übereinstimmung unter den Folkloristen‘ hinsichtlich der Gattungsdefinition erzielen, seine auf formalen Merkmalen beruhende
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Argumentation ist jedoch zirkulär12. Er definierte Volksüberlieferung weder strukturell noch thematisch. Durch ihre Verengung auf Prosaformen schloß er zudem wichtige Kategorien mit ebenfalls narrativem Charakter aus, wie z. B. Verserzählung, Epos und Ballade. Darüber hinaus beruhen die Voraussetzungen für B.s Verständnis der drei Formen von Volkserzählung auf ontologischen Prämissen (Glaube, Zeit). Nach B.s Darstellung werden Mythos und Sage geglaubt, während das Wunderbare im Märchen als solches erkannt wird. Entsprechende Glaubensvorstellungen werden durch modernes Wissen abgelöst; der Erzählforscher wird dadurch zum skeptischen Außenseiter, dessen Glaubenssysteme der Analyse nicht zugänglich sind. Zudem bringt B. Mythos und Sage mit hist. Zeit in Verbindung, während das Märchen außerhalb dieser stehe ⫺ eine Auffassung, die es nicht erlaubt, moderne Mythologien oder die Logik (Chronologie) von Märchen zu betrachten. Obwohl B. Mythos, Sage und Märchen nicht als universelle Kategorien ansieht, schreibt er diesen Gattungen unter Bezugnahme auf unterschiedlichste ethnogr. Arbeiten eine transkulturelle Bedeutung zu13. Wissenschaftsgeschichtlich ist B.s Beitrag zur Erzählforschung unstrittig; allerdings sind seine Begrifflichkeiten für die Erzählforschung häufig nicht eindeutig anwendbar. 1
Crowley, D./Dundes, A.: Obituary. W. R. B. (1912⫺1981). In: JAFL 95 (1982) 465⫺467. ⫺ 2 B., W. R.: „Secret Societies“, Religious Cult-groups, and Kinship Units among the West African Yoruba. Diss. (masch.) Chic. 1939. ⫺ 3 cf. id.: African Arts. An Exhibition at the Robert H. Lowie Museum of Anthropology of the Univ. of California. Ausstellungskatalog Berk. 1967. ⫺ 4African Religious Groups and Beliefs. Festschr. W. B. Delhi 1982. ⫺ 5 cf. ferner B., W. R.: The Relationship of Yoruba Folklore to Divining. In: JAFL 56 (1943) 127⫺131; id.: The Sociological Role of the Yoruba Cult-group. Menasha 1944 (Nachdr. N. Y. 1969); id.: Literary Style in Yoruba Riddles. In: JAFL 62 (1949) 1⫺16; id./Gebauer, P.: Handbook of West African Art. Milwaukee 1953; B., W. R.: Urbanization among the Yoruba. In: American J. of Sociology 60 (1955) 446⫺454; id.: The Yoruba of Southwestern Nigeria. Case Studies in Cultural Anthropology. N. Y. 1969; id.: African Art in Cultural Perspective. N. Y. 1973; id.: The Early Historical Evidence of Yoruba Urbanism. In: Damachi, U. G./Seibel, H. D. (edd.): Social Change and Economic Development in Nigeria.
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Bauman, Richard
N. Y. 1973, 11⫺39. ⫺ 6 id.: Folklore and Anthropology. In: JAFL 66 (1953) 283⫺290; id.: Four Functions of Folklore. ibid. 67 (1954) 333⫺349. ⫺ 7 id.: Verbal Art. ibid. 68 (1955) 245⫺252; id.: Folklore, Verbal Art, and Culture. ibid. 86 (1973) 374⫺381; cf. auch die in dieser Zeit entstandenen Slgen id.: African Dilemma Tales. The Hague u. a. 1975; id.: African Folktales in the New World. ed. B. M. Bascom. Bloom./L. 1992 (Rez. R. Abrahams in Fabula 35 [1994] 133 sq.). ⫺ 8 id.: The Forms of Folklore: Prose Narratives. In: JAFL 78 (1965) 3⫺20. ⫺ 9 ibid., 3 sq. ⫺ 10cf. ibid., 4. ⫺ 11 id.: Malinowski’s Contributions to the Study of Folklore. In: FL 94 (1983) 163⫺172, hier 164 sq. ⫺ 12 id. (wie not. 8) 3, 19. ⫺ 13 ibid., 5.
Kensington, Calif.
JoAnn Conrad
Bauman, Richard, *New York 28. 10. 1940, US-amerik. Folklorist. B. studierte 1957⫺61 Englisch an der Univ. of Michigan (Abschluß B. A.), 1962 legte er den M. A. in Folkloristik bei R. M. J Dorson an der Indiana Univ. in Bloomington ab; 1968 wurde er an der Univ. of Pennsylvania in Philadelphia, an der er mit M. Leach und D. Hymes zusammenarbeitete, im Fach American Civilization mit einer Arbeit über die Quäker in Pennsylvania in der 2. Hälfte des 18. Jh.s promoviert. B. lehrte 1968⫺86 an der Univ. of Texas in Austin, wo er das Center for Intercultural Studies in Folklore and Ethnomusicology leitete. Danach kehrte er als Leiter des Folklore Institute und des Research Center for Language and Semiotic Studies nach Bloomington zurück; 1991 bis zu seiner Emeritierung 2008 war er dort Distinguished Professor of Folklore and Ethnomusicology, Communication and Culture, and Anthropology; 1997 begründete er das Department of Communication and Culture an der Univ. Bloomington mit. B. ist Fellow der American Folklore Soc. und der Finn. Akad. der Wiss.en und wurde mit dem Edward Sapir Prize der Soc. for Linguistic Anthropology (2006) sowie dem Lifetime Scholarly Achievement Award der American Folklore Soc. (2008) geehrt. Für die Erzählforschung relevant ist B.s Beschäftigung mit einer Ethnographie des Sprechens, die den Fokus von entkontextualisierten Strukturen der Sprache auf die Untersuchung sozialer, kultureller, ästhetischer und politischer Dimensionen von Sprachgepflo-
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genheiten und verbalen Repertoires verschiebt. Diese Neuorientierung machte die Erzählüberlieferung zum Gegenstand von Forschungen über ästhetisch verfeinerte Sprechweisen und veranlaßte Folkloristen, sich mit der Prägung von Volksüberlieferung durch J Kontexte sowie mit der Struktur sozialer Begegnungen zu befassen1. B. trug dazu bei, die falsche Dichotomie zwischen der Vergegenständlichung von Traditionalität als bestimmten kulturellen Formen innewohnender Eigenschaft und ihrer Ablehnung als problematisches Konzept zu überwinden. Er faßte Traditionalisierung als aktiven gesellschaftlichen Prozeß auf, als Rahmen für kulturelle Formen und Praktiken und somit als Ausdruck bestimmter Arten von J Kontinuität projizierter Vergangenheiten2. B.s zu einem Klassiker gewordenes Werk Verbal Art as Performance (Prospect Heights, Ill. 1977/21984) ermöglichte der Folkloristik eine Schwerpunktverschiebung von der Beschreibung fester Beziehungen zwischen Texten und Kontexten auf die J Performanz. Diese charakterisierte B. als Form der gesprochenen verbalen J Kommunikation, die darin besteht, daß Verantwortung gegenüber einem Publikum übernommen wird, wenn diesem das Vorhandensein kommunikativer Kompetenz vermittelt wird. B. hob die zentrale Stellung der Performanz als Ort der sozialen Begegnung hervor und begründete die Attraktivität der Volksüberlieferung mit der Beherrschung bestimmter Formen sowie mit der Einzigartigkeit bestimmter Performanzen. In seinem Werk über die Quäker im 17. Jh. und das Island des 13. Jh.s eröffnete B. neue Möglichkeiten des Austauschs zwischen Folkloristik und Geschichtswissenschaft3. Zusammen mit C. L. Briggs legte B. eine Neuanalyse der Genealogien von Traditionalität und Modernität vor. Statt Volksüberlieferung als autonomes Erbe der Vergangenheit aufzufassen, ging es B. und Briggs um die mit Modernität, Wiss., Rationalität und Sprache in Verbindung stehende fortwährende Produktion von Konzepten und Praktiken im Kontext von Volksüberlieferung und Traditionalität4. B. trug dazu bei, M. Bachtins Konzepte von Dialogizität und Intertextualität in Hinblick auf Volkserzählungen fruchtbar zu machen. B. und Briggs untersuchten gesellschaftliche und
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Belmont, Nicole
ästhetische Dimensionen der ,Entextualisierung‘ in Hinblick auf die Re- und Dekontextualisierung früherer Diskurse und wiesen auf entsprechende Neupositionierungen von Texten hin5. Darüber hinaus untersuchte B. die Auswirkungen von Innovationen in der Tontechnik in Hinblick auf das dadurch erzeugte Verständnis von Mündlichkeit, Performanz und Erzählen. Anhand von Tonaufzeichnungen von Wahlkampfreden aus dem späten 19. Jh., anderen rhetorischen Formen sowie Variete´shows zeigte B., wie solche Live-Darbietungen und ihre gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Auswirkungen wahrgenommen wurden6. Während z. B. Dorson und A. J Dundes die Folkloristik als autonome Disziplin positionierten, die von anderen Disziplinen abzugrenzen sei, vertritt B., ähnlich wie A. Paredes und B. Kirshenblatt-Gimblett, einen zwischen den Disziplinen vermittelnden Ansatz. 1
B., R./Sherzer, J. (edd.): Explorations in the Ethnography of Speaking. Cambr. 1974/21989; cf. B., R.: Story, Performance, and Event. Contextual Studies of Oral Narrative. Cambr. 1986. ⫺ 2 id.: A World of Others’ Words. Cross-Cultural Perspectives on Intertextuality. Ox. 2004. ⫺ 3 id.: Let Your Words Be Few. Symbolism of Speaking and Silence among Seventeenth-Century Quakers. Cambr. 1983. ⫺ 4 id./Briggs, C. L.: Voices of Modernity. Language Ideologies and the Production of Social Inequality. Cambr. 2003. ⫺ 5 iid.: Poetics and Performance as Critical Perspectives on Language and Social Life. In: Annual Review of Anthropology 19 (1990) 59⫺88; cf. Briggs, C. L./B., R.: Genre, Intertextuality, and Social Power. In: J. of Linguistic Anthropology 2 (1992) 131⫺172. ⫺ 6 B., R.: The Remediation of Storytelling. Narrative Performance on Early Commercial Sound Recordings. In: Telling Stories. Building Bridges among Language, Narrative, Identity, Interaction, Society and Culture. ed. A. De Fina/D. Schiffrin. Wash. 2010, 23⫺43.
Berkeley
Charles L. Briggs
Belmont, Nicole, *Paris 20. 11. 1931, frz. Erzählforscherin. B., die ihr gesamtes wiss. Leben in Paris verbrachte, wurde 1949⫺53 an der E´cole du Louvre ausgebildet und studierte 1953⫺68 Ethnologie an der Sorbonne. 1957⫺ 60 arbeitete sie am Muse´e National des Arts et Traditions Populaires, danach bei C. J Le´vi-
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Strauss am Institut d’Ethnologie; seit dessen Gründung (1960) ist sie Forscherin am Laboratoire d’Anthropologie Sociale. 1968 wurde sie bei Le´vi-Strauss mit einer Diss. über die Bedeutung ungewöhnlicher Geburten promoviert1. Ab 1972 lehrte sie Religionsanthropologie traditioneller europ. Gesellschaften an der ´ tudes; 1981⫺2006 E´cole Pratique des Hautes E war sie Directrice d’E´tudes an der E´cole des Hautes E´tudes en Sciences Sociales und lehrte dort anthropol. Analyse der mündl. Überlieferung. Hier gründete sie 1983 zusammen mit dem Psychoanalytiker J.-P. Valabrega das Seminar „Anthropologie et psychanalyse“, das ein Ort des interdisziplinären Austauschs und der Diskussion ist, ebenso wie ihr Seminar „L’Oralite´, l’e´crit et la me´moire“. B. befaßte sich zunächst mit Riten, Glaubensvorstellungen und Bräuchen der westl. Welt2. In Paroles paı¨ennes. Mythe et folklore. Des Fre`res Grimm a` P. Saintyves (P. 1986) untersuchte sie Entstehung und Entwicklung der Erzählforschung in Frankreich und im Europa des 19./20. Jh.s; darüber hinaus erforschte sie deren ideologische Prämissen sowie spätere Theorien zur Erklärung der mythischen Elemente der populären Kultur, die von der Kirche als Aberglaube, von wiss. Seite hingegen als J Survivals betrachtet wurden. B.s Ausgangspunkt waren dabei die im 19. Jh. von Institutionen wie der Acade´mie Celtique3 durchgeführten großen ethnogr. Erhebungen sowie die Forschungsergebnisse von P. J Se´billot und H. J Gaidoz. Bes. Bedeutung für B.s Arbeit haben A. van J Genneps Werk und sein Konzept der Übergangsriten (J Initiation)4. B.s Studie Poe´tique du conte (P. 1999) beschreibt die Anfänge der Erzählforschung zu Beginn des 19. Jh.s; das Spiel mit Wahrheit und Fiktion in der mündl. Erzählkunst; den unbewußten Prozeß der Konstruktion der Märchen, den B. mit der von S. J Freud beschriebenen Traumarbeit vergleicht; die Spezifik der Zaubermärchen mit kindlichen Protagonisten (cf. z. B. AaTh/ATU 700: J Däumling), die Geburt des Helden und seinen Weg zur Reifung, die untergründige Präsenz des Mythos im Zaubermärchen (z. B. AaTh/ATU 510 A⫺ B: J Cinderella)5 sowie Veränderungen, die aus der Verschriftlichung mündl. Erzählungen resultieren. In weiteren Arbeiten kontrastierte B. die weibliche Initiation mit derjenigen
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Ben-Amos, Dan
männlicher Helden6; in einem Aufsatz wies sie auf die zunehmende Anzahl weiblicher Überlieferungsträger in traditionellen Gesellschaften hin7. B.s außerordentliches erzählforscherisches Engagement ist durch ihren Einsatz für die Cahiers de litte´rature orale, u. a. als Herausgeberin zahlreicher Themenhefte, sowie durch eine Vielzahl von Veröff.en dokumentiert: Der Sammelband Mythe, conte et enfance. Les e´critures d’Orphe´e et de Cendrillon (P. 2010) enthält 22 zwischen 1985 und 2005 entstandene Aufsätze; er beginnt mit Arbeiten über verschiedene Formen der mündl. Erzählung und schließt mit Erkenntnissen, die sich aus Brüchen in der Überlieferung gewinnen lassen. Mit zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen für ein breites Publikum und professionelle Erzähler hat sie dem frz. Märchenrevival Aspekte der wiss. Forschung zum Märchen und zur Mündlichkeit nahegebracht. Darüber hinaus verfaßte B. Artikel für zahlreiche Nachschlagewerke8, gab kommentierte Editionen wenig bekannter Texte heraus9 und führte in die Werke von Anthropologen und Folkloristen wie J. G. J Frazer10, F.-M. J Luzel11, O. Havard12 oder E. J Cosquin13 ein. Sie ist Herausgeberin der Reihe Le Langage des contes, in der Studien und Texte aus unterschiedlichsten Kulturgebieten veröffentlicht werden. Ihre Publ.en zu den Themen Geburt und Kindheit, zur Darstellung des Kindes oder zu Erzählungen mit erzieherischem Anliegen wenden sich u. a. an Therapeuten, Lehrer und Erzieher, die professionell mit Erzählungen arbeiten. 1
B., N.: Les Signes de la naissance. P. 1971 (Neuausg. 1983). ⫺ 2 ead.: Mythes et croyances dans l’ancienne France. P. 1973. ⫺ 3 ead.: Aux Sources de l’ethnologie franc¸aise. L’Acade´mie celtique. P. 1995. ⫺ 4 ead: Arnold van Gennep, le cre´ateur de l’ethnographie francœ aise. P. 1974; ead.: La Notion de rite de passage. In: Les Rites de passage aujourd’hui. ed. P. Centlivres/J. Hainard. Lausanne 1981, 9⫺ 19. ⫺ 5 ead./Lemirre, E.: Sous la Cendre. Figures de Cendrillon. P. 2007. ⫺ 6 B., N.: Filles perse´cute´es, filles mutile´es, femmes. P. 2001, 85⫺94; ead.: Silence, mutisme et discre´tion. L’itine´raire structurant des figures fe´minines dans le conte. In: Contes: l’universel et le singulier. ed. A. Petitat. Lausanne 2002, 177⫺ 186. ⫺ 7 ead.: La Figure de la conteuse dans la tradition orale. In: Il e´tait une Fois … les contes de fe´es. Ausstellungskatalog P. 2001, 503⫺511. ⫺ 8 cf. u. a.
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ead.: Folklore. In: Enc. Universalis 7. P. 1984, 1079⫺1086; ead.: Contes populaires et mythes. In: Dict. des Mythologies 1. ed. Y. Bonnefoy. P. 1981, 209⫺213; ead.: Les Fe´es. Croyances et le´gendes populaires en France. ibid., 401⫺403; ead.: France. E´le´ments mythiques dans le folklore francœ ais. ibid., 433⫺437. ⫺ 9 ead.: Textes ine´dits sur le folklore franc¸ais contemporain. P. 1975. ⫺ 10 ead./ Izard, M.: Introduction au Rameau d’or de Frazer 1⫺4. P. 1981/83/83/84, hier t. 1, 5⫺30. ⫺ 11 ead.: Vorw. In: Luzel, F.-M.: Le´gendes chre´tiennes. Rennes 2001, i⫺xiv. ⫺ 12 ead.: Vorw. In: Contes populaires de Haute-Bretagne [1881 aufgezeichnet]. ed. J.-L. Le Craver. La Boue`ze 2007, 7⫺18. ⫺ 13 ead.: Einl. In: Cosquin, E.: Contes. ed. N. B. Arles 2003 (Rennes 2012), ix⫺xxxiii.
Toulouse
Josiane Bru
Ben-Amos, Dan, *Petah-Tikvah (Israel), 3. 9. 1934, in den USA wirkender israel. Folklorist. B.-A. studierte 1958⫺61 engl. und hebr. Lit. an der Hebrew Univ. in Jerusalem sowie 1961⫺67 Folkloristik an der Indiana Univ. in Bloomington. Als Magisterarbeit legte er 1964 einen Kommentar mit Motivindex zu den Erzählungen über den als Baal Shem Tov (Akronym Besht) bekannten Rabbi Israel ben Eliezer (ca 1700⫺60) vor1; in seiner Diss. (1967) beschäftigte er sich mit den narrativen Formen in der J Agada2. 1966⫺67 lehrte B.-A. als Assistant Professor für Ethnologie an der Univ. of California, Los Angeles. Seit 1967 ist er an der Univ. of Pennsylvania in Philadelphia beschäftigt, zunächst als Dozent für Folkloristik3; 1970 wurde er zum Associate Professor ernannt, 1977 zum Professor für Folkloristik und Vk., 1999 zum Professor für Folkloristik, Asien- und Nahostwissenschaften. B.-A. ist Herausgeber der Raphael Patai Series in Jewish Folklore and Anthropology (Detroit 1990 sqq.) sowie der Reihe Translations in Folklore Studies (Bloom. 1981 sqq.). Zu B.-A.’ Arbeitsgebieten gehören außer der Geschichte und Theorie der Folkloristik4 vor allem die jüd. und die afrik. Volksüberlieferung5; unter den narrativen Gattungen hat er sich bes. mit Prosaerzählungen, Sprichwort, Rätsel, Mythos und den komischen Genres beschäftigt. Zur Geschichte der jüd. Volksüberlieferung, zum jüd. Witz sowie zu Geschichte, Gattungen und Formen der Volksüberliefe-
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Bennett, Gillian
rung hat B.-A. zahlreiche Publ.en vorgelegt6. Zu seinen wichtigsten Beitr.n auf dem Gebiet der Folkloristik gehören im Bereich der J Performanztheorie die Definition der Volksüberlieferung als künstlerische Kommunikation in kleinen Gruppen7 sowie im Bereich der Gattungstheorie die Unterscheidung zwischen den von Wissenschaftlern zum Zweck der Klassifizierung benutzten analytischen Kategorien und den von Erzählern und Zuhörern gebrauchten Begriffen (J Gattungsprobleme)8. B.-A.’ Buch Sweet Words. Storytelling Events in Benin (Phil. 1975) ist eine ethnogr. Studie zu Erzählereignissen in der Familie sowie solchen offizieller Art, an denen der Autor auf Feldforschungsaufenthalten in Benin City (Nigeria) seit 1966 beobachtend teilgenommen hat. Zu seinen wichtigsten Publ.en auf dem Gebiet der jüd. Erzählüberlieferung zählen der zusammen mit J. R. Mintz herausgegebene Band In Praise of the Baal Shem Tov (Bloom. 1970) sowie eine gekürzte, mit komparatistischen Anmerkungen versehene Ausg. von E. J Bin Gorions Slg klassischer jüd. Erzählungen9. B.-A.’ umfangreichster Beitr. zur Erzählforschung ist Folktales of the Jews, eine auf fünf Bände geplante, ausführlich kommentierte Slg von Erzählungen aus den Beständen des Israel Folktale Archive in Haifa; die bislang vorliegenden drei Bände beschäftigen sich mit der Überlieferung der Sepharden, Erzählungen aus Osteuropa sowie Erzählungen aus der arab. Welt10. 1
B.-A., D.: In Praise of the Besht. Commentary and Motif-Index. Magisterarbeit (masch.) Bloom. 1964. ⫺ 2 id.: Narrative Forms in the Haggadah. Structural Analysis. Diss. (masch.) Bloom. 1967. ⫺ 3 Miller, R.: Of Politics, Disciplines, and Scholars. MacEdward Leach and the Founding of the Folklore Program at the Univ. of Pennsylvania. In: The Folklore Historian 21 (2005) 17⫺34, hier 20. ⫺ 4 B.-A., D./Goldstein, K. S. (edd.): Folklore. Performance and Communication. Den Haag 1975; B.-A. (ed.): Folklore Genres. Austin 1976; id./Weissberg, L. (edd.): Cultural Memory and the Construction of Identity. Detroit 1999. ⫺ 5 B.-A., D.: The Writing of African Oral Tradition. A Folkloristic Approach. In: The Conch 2,2 (1970) 69⫺79; id.: Two Benin Storytellers. In: African Folklore. ed. R. Dorson. Garden City 1972, 103⫺114; id.: The Elusive Audience of the Benin Storyteller. In: JFI 9 (1972) 177⫺184; id.: Folklore in African Society. In: Research in African Literatures 6,2 (1975) 165⫺198. ⫺ 6 id.: The ‘Myth’ of Jewish Humor. In: WF 32 (1973) 112⫺131; id.: Tal-
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mudic Tall Tales. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 25⫺43; id.: Folklore in Context. Neu Delhi/Madras 1982; id.: Jewish Folklore Studies. In: Modern Judaism 11 (1991) 17⫺66; id.: Jewish Folk Literature. In: Oral Tradition 14 (1999) 140⫺274. ⫺ 7 id.: Toward a Definition of Folklore in Context. In: JAFL 84 (1971) 3⫺15. ⫺ 8 id.: Analytical Categories and Ethnic Genres. In: id. (wie not. 4) 215⫺240. ⫺ 9 Bin Gorion, M. J.: Mimekor Yisrael. Selected Classical Jewish Folktales. ed. D. B.-A. Bloom. 1990. ⫺ 10 B.-A., D.: Folktales of the Jews. 1: Tales from the Sephardic Dispersion. Phil. 2006; 2: Tales from Eastern Europe. Phil. 2007; 3: Tales from Arab Lands. Phil. 2011.
Philadelphia
Linda J. Lee
Bennett, Gillian, *Shrewsbury 25. 9. 1939, engl. Folkloristin. B. studierte 1957⫺60 Englisch und Philosophie an der Univ. Sheffield (B. A. 1960). Nachdem sie sich mit einem Aufbaustudium an der Univ. Birmingham als Lehrerin qualifiziert hatte, unterrichtete sie 1961⫺ 78 u. a. an Grundschulen, höheren Schulen und in der Erwachsenenbildung. 1978⫺80 studierte sie Moderne engl. Sprache und Kulturelle Überlieferung an der Univ. Sheffield; dort legte sie 1980 die Magisterarbeit Storytelling in an Occupational Folk Group vor und wurde 1985 mit der Diss. Supernatural Belief, Memorate and Legend in a Modern, Urban Environment (unveröff.) promoviert. Von 1984 an war B. dem Centre for English Cultural Tradition and Language/National Centre for English Cultural Tradition der Univ. Sheffield wiss. eng verbunden; 2004⫺08 forschte sie am Department for Human Communication der Manchester Metropolitan Univ. B. ist Gründungsmitglied der Internat. Soc. for Contemporary Legend Research (ISCLR, 1988) sowie des British Folk Studies Forum (1985); 1994⫺ 2004 war sie Herausgeberin der brit. Zs. Folklore und der Folklore Soc. Mistletoe Series; 2005⫺07 gab sie die FOAFtale News (Mittlgsblatt der ISCLR) heraus. B.s thematische Schwerpunkte sind medizinische Folklore, Krankheit und Tod. Das Material ihrer Diss. bildet die Grundlage für das Buch Traditions of Belief: Women and the Supernatural (Harmondsworth 1987; erw. und rev. u. d. T. „Alas, Poor Ghost!“ Traditions of Belief in Story and Discourse. Logan, Utah 1999). Hier untersucht sie Memorate über die
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Bennett, Gillian
Präsenz der Toten in der Welt der Lebenden auf Zusammenhänge zwischen Erzähltem und Geglaubtem vor dem Hintergrund übernatürlicher wie rationalistischer Traditionen und hist. Qu.n1. In Bodies. Sex, Violence, Disease, and Death in Contemporary Legend (Jackson, Miss. 2005) behandelt sie sechs traumabesetzte Erzählkomplexe der zeitgenössischen Überlieferung, die z. T. auf eine sehr lange Vergangenheit zurückblicken: Geschichten über tierische Parasiten im menschlichen Körper2, über Organdiebstahl, Vergiftung und Infizierung, die Erzählung von den J Mordeltern (AaTh/ATU 939 A) und die Ritualmordlegende (J Jude, Judenlegenden, Kap. 3)3. Mit theoretischen Aspekten der zeitgenössischen Erzählüberlieferung setzte sich B. intensiv auseinander: mit der Definition der zeitgenössischen Sage4 sowie der Sage und des Narrativen allg.5, mit dem Aspekt von Wahrheit und Fiktion und wie Erzähler damit umgehen6, mit Problemen beim Sammeln und Klassifizieren zeitgenössischer Sagen7 sowie mit deren Erzählstruktur und Performanz8. Darüber hinaus befaßte sie sich mit der Geschichte der engl. Folkloristik9 und mit aktuellen Themen10. Zusammen mit Kollegen publizierte B. mehrere Tagungsbände der seit 1982 an der Univ. Sheffield veranstalteten Seminare zur zeitgenössischen Sage, aus denen die ISCLR entstand, ferner zwei Bibliogr.n und eine Anthologie11; darüber hinaus gab sie einen Tagungsband zu Formen des Humors12, die Lebensgeschichte eines engl. Steinbrucharbeiters13 und eine Slg von Geistergeschichten14 heraus. 1
cf. ferner B., G.: Heavenly Protection and Family Unity. The Concept of the Revenant among Elderly Urban Women. In: FL 96 (1985) 87⫺97; ead./Bennett, K.: The Presence of the Dead. An Empirical Study. In: Mortality 5 (2000) 139⫺157; eaed.: „And there’s always this great hole inside that hurts“. An Empirical Study of Bereavement in Later Life. In: Omega 42 (2001) 237⫺252. ⫺ 2 cf. auch B., G.: Bosom Serpents and Alimentary Amphibians. A Language for Sickness. In: Illness and Healing Alternatives in Western Europe. ed. M. GijswijtHofstra/H. Marland/H. de Waardt. L. 1997, 224⫺ 242; ead.: Medical Aspects of the Bosom Serpent. In: Contemporary Legend N. S. 3 (2000) 1⫺26. ⫺ 3 cf. auch ead.: Towards a Revaluation of the Legend of ,Saint‘ William of Norwich and Its Place in the Blood Libel Legend. In: FL 116 (2005) 119⫺139. ⫺
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4 ead.: The Phantom Hitchhiker: Neither Modern, Urban nor Legend? In: Perspectives on Contemporary Legend. Proc. of the Conference on Contemporary Legend, Sheffield, July 1982. ed. P. Smith. Sheffield 1984, 45⫺63; ead.: What’s ,Modern‘ about the Modern Legend? In: Fabula 26 (1985) 219⫺229. ⫺ 5 ead.: „Belief Stories“: The Forgotten Genre. In: WF 48 (1989) 289⫺311; ead.: Are Legends Narratives? In: Talking Folklore 6 (1989) 1⫺12; ead.: Narrative as Expository Discourse. In: JAFL 99 (1986) 415⫺434. ⫺ 6 ead.: Women’s Personal Experience Stories of Encounters with the Supernatural: Truth as an Aspect of Storytelling. In: Arv 40 (1984) 79⫺ 87; ead.: Legend. Performance and Truth. In: ead./ Smith, P. (edd.): Monsters with Iron Teeth. Perspectives on Contemporary Legend 3. Sheffield 1988, 13⫺36. ⫺ 7 ead.: Problems in Collecting and Classifying Urban Legends. A Personal Experience. In: ead./Smith, P./Widdowson, J. D. A. (edd.): Papers. Perspectives on Contemporary Legend 2. Sheffield 1987, 15⫺30. ⫺ 8 ead.: „And I Turned Round to Her and Said …“. A Preliminary Analysis of Shape and Structure in Women’s Storytelling. In: FL 100 (1989) 167⫺183; ead.: Playful Chaos. Anatomy of a Storytelling Session. In: ead./Smith (edd.): The Questing Beast. Perspectives on Contemporary Legend 4. Sheffield 1989, 193⫺212; ead.: ,And …‘. Controlling the Argument, Controlling the Audience. In: Fabula 31 (1990) 208⫺216. ⫺ 9 ead.: Geologists and Folklorists: Cultural Evolution and „The Science of Folklore“. In: FL 105 (1994) 25⫺37; ead.: The Thomsian Heritage in the Folklore Soc. (London). In: J. of Folklore Research 33 (1996) 212⫺220; ead.: Charlotte Sophia Burne, Shropshire Folklorist, First Woman President of the Folklore Soc. and First Woman Editor of FL 1⫺2. In: FL 111 (2000) 1⫺21 (mit G. Ashman); 112 (2001) 95⫺106. ⫺ 10 z. B. ead./Rowbottom, A.: „Born a Lady, Died a Saint“: The Deification of Diana in the Press and Popular Opinion in Britain. In: Fabula 39 (1998) 197⫺208. ⫺ 11 B./Smith/Widdowson (wie not. 7); B./Smith (wie not. 6); iid. (wie not. 8); iid. (edd.): A Nest of Vipers. Perspectives on Contemporary Legend 5. Sheffield 1990; iid. (edd.): Contemporary Legend. The First Five Years. Abstracts and Bibliogr.s from the Sheffield Conferences on Contemporary Legend 1982⫺ 1986. Sheffield 1990; iid. (edd.): Contemporary Legend. A Folklore Bibliogr. N. Y. 1993; iid. (edd.): Contemporary Legend. A Reader. N. Y. 1996; iid. (edd.): Urban Legends. A Collection of Internat. Tall Tales and Terrors. Westport/L. 2007. ⫺ 12 B., G. (ed.): Spoken in Jest. Sheffield 1991 (Rez. U. Marzolph in Fabula 35 [1994] 136⫺138). ⫺ 13 ead./Mellor, A.: „Now All You Buggers with Clogs on!“ A Longnor Life. Matlock 1992. ⫺ 14 B., G.: The 100 Best British Ghost Stories: True Stories from the Oral Tradition. Stroud 2012.
Dublin
Patricia Lysaght
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Berber
Berber. Der Begriff B. (von griech. barbaros: unzivilisiert) hat sich bes. im Zuge der europ. Kolonisierung Nordafrikas verbreitet; eigenkulturell wird heute die Bezeichnung Amazigh (freier Mensch) verwendet1. Die B. sind neben den Arabern die zweitgrößte ethnische Gruppe in weiten Teilen Nordwestafrikas (bes. J Marokko, J Algerien) sowie den nördl. Landesteilen von Mali, Burkina Faso und Niger2. Die Gesamtzahl der Sprecher des Berberischen (Eigenbezeichnung Tamazight) wird auf 12⫺ 25 Millionen geschätzt3. Durch Auswanderung bedingt findet man B.gemeinschaften auch in Frankreich, Belgien, Spanien und den Niederlanden4. Der Unters. und Förderung von Sprache und Kultur der B. widmen sich das Haut Commissariat a` l’Amazighite´ (Algerien, seit 1995) und das Inst. royal de la culture amazighe (Marokko, seit 2001). Der Gebrauch von Schrift ist für Nordafrika bereits durch zweisprachige Stelen aus dem 6. Jh. v. u. Z. belegt5. Wenngleich die B. verschiedene Schriftarten (das libysche, das arab. und das lat. Alphabet sowie die TifinaghSchrift) benutzten, sind ihre Erzählungen und Dichtungen hauptsächlich mündl. überliefert. Zu Beginn des 20. Jh.s aufgezeichnete Geschichten stehen in Zusammenhang mit dem Zyklopen-Thema der Odyssee (AaTh/ATU 1137: cf. J Polyphem)6 und dem Psyche-Stoff in den Metamorphosen des J Apuleius (AaTh/ ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche)7; letzterer stammte aus der B.stadt Madaura (heute M’daourouch in Algerien). Themen von Volkserzählungen der B. lassen sich auch in arab. und berber. Hss. des 16. Jh.s nachweisen8. Hagiographische Erzählungen und Legenden in Versen sind in berber. Hss. des 19./ 20. Jh.s aus der Sous-Region in Südmarokko bewahrt9. Die Hauptgattungen der mündl. Überlieferung sind Volkserzählungen und/oder Fabeln (timucuha, tinfusin, tiqsøidin), Lieder und religiöse Gesänge (ihellil, izlan, isefra) sowie Sprichwörter und Rätsel (lemtul, tiqunzin)10. Obwohl Bezeichnungen, Beschreibungen und Gebrauch mündl. Gattungen in den verschiedenen Gebieten voneinander abweichen, gibt es Parallelen zwischen den lokalen Gattungen11. Eigenkulturelle Definitionen der berber. Überlieferung berücksichtigen sowohl Form
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und Inhalt als auch Ort bzw. Anlaß der Performanz12. Ähnliche Inhalte können in lyrischen wie narrativen Formen behandelt werden; es gibt keine strenge Trennung zwischen Poesie und Prosa13. Es besteht allerdings eine weitläufige Unterscheidung zwischen Genres, die im öffentlichen Raum vorgetragen werden, und solchen, die ihren Platz im Familienkreis haben; zu letzteren gehören die sog. Formelerzählungen (wie timucuha und tinfusin), die mit standardisierten J Eingangs- und J Schlußformeln eingeleitet bzw. beendet werden14. Poetische Gattungen werden gewöhnlich gesungen und von Musik begleitet. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer von schriftl. arab. Vorbildern beinflußten Gattung mit religiöser Thematik und der gesungenen Dichtung, die sich weiter in lange und kurze Formen sowie männliche und weibliche Gattungen ausdifferenziert15. Die traditionelle Dichtung der B. umfaßt Lieder, Gesänge und Gedichte für alle Arten alltäglicher Handlungen ebenso wie für bes. Anlässe16. Aus kurzen Weisheitsversen können komplexe religiöse Gesänge gebildet werden, die von Dichtern etwa im marokkan. Sous bei feierlichen Zeremonien dargeboten werden17. Erbauliche Erzählgedichte behandeln das Leben von Heiligen, mythische Ursprünge von Orten und die Abenteuer von einfachen Menschen oder Königen und Prinzessinnen; eines dieser Gedichte erzählt etwa von den Liebenden Fadel und Attouche, aus deren Leichen zwei Flüsse entspringen, die schließlich vereint ins Meer fließen18. Bei den Abendgesellschaften der Tuareg, zu denen sich junge Männer und Frauen treffen, besingen die Dichter kriegerische Zusammenstöße und Liebesbegegnungen in der Wüste, die Schönheit der Geliebten, der Kamele und der endlosen Weiten, oder sie klagen über deren Vergänglichkeit und fragen nach dem Sinn des Lebens19. Rätsel und Sprichwörter sind oft mit anderen Gattungen verbunden, bes. in Form prägnanter und moralisierender Zusammenfassungen am Anfang oder am Ende von Formelerzählungen. In den Formelerzählungen liefern die menschlichen Handlungsträger Vorbilder und Identifikationsmuster, während Oger egoistisches und unsoziales Betragen veranschaulichen20. Die Formeln der Erzählungen haben
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Berber
apotropäische Funktion: Sie sollen die mit der jeweiligen Erzählung verbundenen Gefahren sowie schlechte Einflüsse ableiten. Formelerzählungen können auch Themen und Figuren enthalten, die sonst in Legenden oder hagiographischen Erzählungen begegnen21. In vielen Erzählzyklen geht es darum, wer der Schlauere ist. Bei den Tieren sind dies z. B. J Schakal und J Igel. In der Menschenwelt erscheinen J Trickster wie Beckerker (Aures), Si Mousa und Brouzes (Rif, Mittlerer Atlas); der bekannteste von allen, Si Djeha (Si Djoha), ist das von arab. und türk. Qu.n beeinflußte berber. Äquivalent des J Hodscha Nasreddin22. Diese Geschichten sind humorvoll im Ton, bringen allerdings gesellschaftliche Normen und akzeptiertes Verhalten zum Ausdruck. Chroniken, hagiographische Erzählungen und Ätiologien werden in gesprochener oder gesungener Form bei ritualisierten öffentlichen Anlässen vorgetragen. Die im Mittleren Atlas (Marokko) verbreiteten tikefrine (Geschichten über die Vergangenheit) handeln ebenso von Kämpfen zwischen den Stämmen und der verlorenen Unabhängigkeit wie von alltäglichen Angelegenheiten, z. B. den Lebenshaltungskosten oder Steuern. Hagiographische Erzählungen berichten von den Taten islam. Heiliger wie Sidi Moussa, Sidi Hammouda und Lalla Mimouna23. Einen mythischen Erzählzyklus bilden die Tuareg-Erzählungen über den riesenwüchsigen Kulturheros Amerolqis. Er ist der Erfinder des Tifinagh, der ältesten Schrift der B., die er als Kommunikationsmittel bei seinen Liebesabenteuern nutzt24. Die Existenz anthropogonischer Mythen in der Kabylei (Algerien) ist bereits bei L. J Frobenius belegt25. Infolge der Alphabetisierung und unterschiedlicher neuer Medien paßt sich die mündl. Überlieferung der B. an neue Kontexte an26. Die klassischen Liedgenres erleben eine Renaissance in den sog. modernen Liedern, die u. a. mit Elementen der Popmusik arbeiten27. Neue Formen und Funktionen populärer Überlieferung entstehen, wenn Volkserzählungen im Familienkreis oder in der Schule durch Filme, Romane, Kinderbücher und Cartoons eine Neubelebung erfahren. Auch dank internat. Aufmerksamkeit28 tragen Erzähler auf den städtischen Plätzen wieder Geschich-
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ten vor und führen komische Stücke auf. In Form von Videoaufzeichnungen oder Veröff.en im Internet erfährt die mündl. Überlieferung der B. eine Aktualisierung29. 1
Chaker, S.: Amazigh, (le/un) Berbe`re. In: Enc. berbe`re 4. Aix-en-Provence 1987, 562⫺568. ⫺ 2 Lanfry, J.: Les Berbe`res, leur langue, leur culture. In: E´tudes et documents berbe`res 1 (1986) 41⫺59; Brett, M./ Fentress, E.: The B. s. Ox. 1996; Camps, G.: Avertissement. Eˆtre berbe`re. In: Enc. berbe`re 1. Aix-enProvence 1984, 7⫺48. ⫺ 3 Basset, A.: La Langue berbe`re. L./N. Y./Toronto 1952; Taı¨fi, M.: Unite´ et diversite´ du berbe`re. In: E´tudes et documents berbe`res 12 (1994) 119⫺138; Bougchiche, L.: Langues et litte´ratures berbe`res des origines a` nos jours. P. 1997; Chaker, S.: Le Berbe`re. In: Les Langues de France. ed. B. Cerquiglini. P. 2003, 215⫺227. ⫺ 4 Aissati, A. el-/Bos, P.: Arabic and B. in the Netherlands and France. In: Multilingualism in a Multicultural Context. Case Studies on South Africa and Western Europe. ed. G. Extra/J. Maartens. Tilburg 1998, 179⫺ 195; Chaker, S.: La Langue berbe`re en France. In: Enseignement des langues d’origine et immigration nord-africaine en Europe. ed. M. Tilmatine. P. 1997, 15⫺30; Chafik, M.: Amazighen. Amst. 1989. ⫺ 5 Chaker, S.: Libyqe. E´criture et langue. In: Enc. berbe`re 28⫺29. Aix-en-Provence 2008, 4395⫺4409. ⫺ 6 Germain, G.: Ulysse, le Cyclope et les Berbe`res. Du nouveau sur l’Odysse´e? In: Revue de litte´rature compare´e 15 (1935) 573⫺623; Galand-Pernet, P.: Litte´ratures berbe`res. P. 1998, 112 sq. ⫺ 7 Dermenghen, E.: Le Mythe de Psyche´ dans le folklore nordafricain. In: Revue africaine (1945) 41⫺81. ⫺ 8 Basset, H.: Essai sur la litte´rature des Berbe`res. (Algier 1920) P. 2001, 55 (not. 3); Lewicki, T.: De quelques Textes ine´dits en vieux berbe`re. In: Revue des e´tudes islamiques (1934) 275⫺296, hier 282, 288; Ould-Braham, M.: Lecture de 24 textes berbe`res me´die´vaux […]. In: Litte´rature orale arabo-berbe`re (1987) 87⫺ 125. ⫺ 9 Galand-Pernet (wie not. 6) 26 sq.; cf. auch Bounfour, A.: Mss. berbe`res en caracte`res arabes. In: Enc. berbe`re 30. Aix-en-Provence 2010, 4554⫺4563, Laporte, J.-P.: Mss. latins d’Afrique. ibid., 4563⫺ 4568. ⫺ 10 Bounfour, A.: Introduction a` la litte´rature berbe`re 1. P./Löwen 1999, 20⫺26; Galand-Pernet (wie not. 6) 45⫺69; Merolla, D.: De l’Art de la narration tamazight (berbe`re). P./Löwen 2006, 104⫺ 118; cf. auch Topper, U.: Märchen der Berber. MdW 1986. ⫺ 11 Bounfour (wie not. 10); Galand-Pernet (wie not. 6); Merolla, D.: Peut-on parler d’un Espace litte´raire ´ tudes et documents berbe`res 13 (1995) kabyle? In: E 5⫺25; ead. (wie not. 10). ⫺ 12 ibid., 116 sq. ⫺ 13 Basset (wie not. 8) 172; Galand-Pernet (wie not. 6) 77. ⫺ 14 Dallet, J.-M.: Contes kabyles ine´dits 3. FortNational 1967, 27. ⫺ 15 Bounfour (wie not. 10) 19. ⫺ 16 id./Ameziane, A.: Anthologie de la poe´sie berbe`re traditionnelle. P. 2010; Webber, S.: Arab and B. Oral Traditions in North Africa. In: The Cambridge His-
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Bettelheim, Bruno
tory of African and Carribean Literature 1. ed. F. A. Irele/S. Gikandi. Cambr. 2004, 51⫺70. ⫺ 17 Bounfour (wie not. 10) 6, 16. ⫺ 18 Galand-Pernet (wie not. 6) 63⫺66. ⫺ 19 Casajus, D.: Le Poe`te et le silence. In: Graines de parole. Puissance du verbe et tradition orale. Festschr. G. Calame-Griaule. P. 1989, 283⫺297; cf. auch id.: La Tente et la solitude. P./Cambr. 1987; Foucauld, C. de: Chants touaregs. P. (1925) 1997. ⫺ 20 Merolla, D.: Le Conte kabyle. In: Enc. berbe`re 14. Aix-en-Provence 1994, 2082⫺ 2088. ⫺ 21 Basset (wie not. 8); Bounfour, A.: Introduction a` la litte´rature berbe`re. 2: Le Re´cit hagiologique. Maghreb ⫺ Sahara. P./Löwen 2005; Galand-Pernet (wie not. 6); Lacoste-Dujardin, C.: Le Conte kabyle. P. 1970; Merolla (wie not. 10). ⫺ 22 cf. Basset (wie not. 8) 107⫺116; De´jeux, J.: Djoha. He´ros de la tradition orale arabo-berbe`re. Que´bec 1978. ⫺ 23 Merolla (wie not. 10) 111⫺113; Guennoun, S.: Litte´rature des Berbe`res de la Haute-Moulouya [1938]. In: E´tudes et documents berbe`res 8 (1991) 113⫺134; Bounfour (wie not. 21); Moulie´ras, A.: Le´gendes et contes merveilleux de la grande Kabylie. Texte kabyle 1⫺2. P. 1896/97; id.: Traduction […] 1⫺2. Übers. C. Lacoste. P. 1965; Stumme, H.: Märchen der Schluh von Tazerwalt. Lpz. 1895. ⫺ 24 AghaliZakara, M./Drouin, J.: Traditions touare`gues nige´riennes. Amerolqis, he´ros civilisateur pre´islamique, et Aligurran, arche´type social. P. 1979. ⫺ 25 Frobenius, L.: Volksmärchen der Kabylen 1⫺3. Jena u. a. 1921/21/22. ⫺ 26 Merolla (wie not. 10) 75⫺82. ⫺ 27 Morgan, A.: Tinariwen. Sons of the Desert. 2007 (im Internet). ⫺ 28 cf. den Dokumentarfilm „AlHalqa ⫺ Im Kreis der Geschichtenerzähler“ (Regie Thomas Ladenburger. Deutschland 2010). ⫺ 29 Merolla, D.: Digital Imagination and the ,Landscape of Group Identities‘. The Flourishing of Theatre, Video and ,Amazigh Net‘ in the Maghrib and B. Diaspora. In: J. of North African Studies 7,4 (2002) 122⫺131; cf. auch Lafkioui, M./Merolla, D. (edd.): Oralite´ et nouvelles dimensions de l’oralite´. P. 2008.
Leiden
Daniela Merolla
Bettelheim, Bruno, *Wien 28. 8. 1903, † Silver Spring, Maryland 13. 3. 1990, österr.amerik. Psychoanalytiker, Kinder- und Sozialpsychologe1. B. studierte ab 1921 an der Univ. Wien Germanistik, später auch Philosophie und Geschichte. 1926 mußte er die väterliche Fabrik übernehmen und unterbrach sein Studium. 1937 wurde er mit einer Arbeit über Immanuel Kant promoviert2. Nach dem ,Anschluß‘ Österreichs an das Dt. Reich wurde B. wegen seiner jüd. Herkunft verhaftet und war elf Monate lang in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald interniert; 1939
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konnte er in die USA emigrieren. 1940⫺42 war er an der Univ. Chicago als Assistent in der Abteilung für Pädagogik tätig; 1942⫺44 arbeitete er am Rockford College in Illinois und danach wieder in Chicago, von 1952 bis zu seiner Emeritierung 1973 als ordentlicher Professor für Psychologie. Parallel zu seiner universitären Tätigkeit übernahm er 1944 die Leitung der Sonia Shankman Orthogenic School in Chicago, die er zu einer Modellinstitution für die milieutherapeutische Behandlung seelisch schwer erkrankter Kinder und Jugendlicher machte3. Durch seine innovativen therapeutischen Konzepte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bereits in Fachkreisen berühmt, erreichte B. mit seiner Monogr. The Uses of Enchantment. The Meaning and Importance of Fairy Tales (N. Y. 1976), deren dt. Übers. unter dem Titel Kinder brauchen Märchen (Stg. 1977) erschien, auch ein größeres Publikum. B. ging davon aus, daß es die größte und schwierigste Aufgabe für jeden Menschen sei, im Leben einen Sinn zu finden. Märchen seien dabei hilfreich, weil in ihnen „die schweren inneren Spannungen so zum Ausdruck [kommen], daß [das Kind] diese unbewußt versteht; und ohne die heftigen inneren Kämpfe des Heranwachsenden herunterzuspielen, bieten sie Beispiele dafür, wie bedrückende Schwierigkeiten vorübergehend oder dauerhaft gelöst werden können“4. B.s Märcheninterpretationen, die sich auf dem Boden der Triebtheorie S. J Freuds bewegen, werden seitens der volkskundlichen Erzählforschung mit großer Skepsis betrachtet. Die Kritik bezieht sich darauf, daß sie kaum Var.n berücksichtigen, sich vorwiegend auf die J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm beschränken, hist. und soziokulturelle Aspekte außer acht lassen und die psychoanalytische Theorie dogmatisch auf die Texte anwenden5. Wenn B. etwa in AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel ausschließlich ,primitive Oralität‘ am Werke sieht, die es zu überwinden gelte6, dann vernachlässigt er die Unterernährung der Kinder als soziales Problem7; und wenn er den angeblichen Ödipuskomplex der Heldin in AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella damit zu begründen versucht, daß sie sich an dem typischen Muttersymbol Herd aufhalte, wird dessen Bedeutung überbewertet, zumal
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Aschenputtel eigentlich am Grab der Mutter daheim ist und von dort die Kraft erhält, den Prinzen zu heiraten und damit den vermeintlichen oder tatsächlichen Ödipuskomplex zu überwinden8. Dennoch hat B. dem Märchen und seiner Verbreitung einen Dienst erwiesen, denn in einer Zeit, in der es durch gesellschaftskritische Reformbestrebungen in Mißkredit geraten war, machte er in seinem Buch, das zu einem Bestseller wurde, deutlich, daß die vermeintliche J Grausamkeit im Märchen sowie der eindeutige J Dualismus von J Gut und böse kindgemäß sind9. 1
Kaufhold, R. (ed.): Annäherung an B. B. Mainz 1994; id.: „Falsche Fabeln vom Guru?“ Der „Spiegel“ und sein Märchen vom bösen Juden B. B. In: Behindertenpädagogik 38,2 (1999) 160⫺187; Sutton, N.: B. B. Auf dem Weg zur Seele des Kindes. Hbg 1996. ⫺ 2 B., B.: Das Problem des Naturschönen und die moderne Aesthetik. Diss. (masch.) Wien 1937. ⫺ 3 id.: Love is not Enough. The Treatment of Emotionally Disturbed Children. N. Y. 1950 (dt. Liebe allein genügt nicht. Die Erziehung emotional gestörter Kinder. Stg. 1971); id.: Symbolic Wounds: Puberty Rites and the Envious Male. N. Y. 1954 (dt. Die symbolischen Wunden. Pubertätsriten und der Neid des Mannes. Mü. 1975); id.: The Children of the Dream. L./N. Y. 1969 (dt. Die Kinder der Zukunft. Gemeinschaftserziehung als Weg einer neuen Pädagogik. Mü. 1971). ⫺ 4 B., B.: Kinder brauchen Märchen. Mü. 211999, 12. ⫺ 5 Horn, K.: Brauchen Menschen Märchen? In: Fabula 34 (1993) 1⫺8; Pöge-Alder, K.: Märchenforschung. Tübingen 2007, 210⫺220; Schwibbe, G.: Volkskundliche Erzählforschung und (Tiefen-)Psychologie. In: Fabula 43 (2002) 264⫺276; Solms, W.: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 1999, 9⫺17. ⫺ 6 B. (wie not. 4) 186. ⫺ 7 Rieken, B.: Therapeutisches Interesse und ein Blick hinter die Kulissen. In: Bendix, R./Marzolph, U. (edd.): Hören, Lesen, Sehen, Spüren. Märchenrezeption im europ. Vergleich. Baltmannsweiler 2008, 113⫺128, hier 121 sq. ⫺ 8 id.: Die Individualpsychologie Alfred Adlers und ihre Bedeutung für die Erzählforschung. In: Fabula 45 (2004) 1⫺32, hier 12. ⫺ 9 B. (wie not. 4) 15.
Baden bei Wien
Bernd Rieken
Bosnien und Herzegowina. B. und H. liegt im westl. Balkan und grenzt im Norden und Westen an Kroatien (J Kroaten), im Osten an Serbien (J Serben) und im Südosten an Montenegro (J Montenegriner). Die Region war Teil des Röm. Reichs, lag seit ihrer slav. Besiedlung im 6./7. Jh. im Spannungsfeld zwi-
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schen Byzanz, dem Frankenreich, Kroatien, Bulgarien sowie Serbien und stand seit Anfang des 12. Jh.s zusammen mit Kroatien bis zur osman. Eroberung im 15. Jh. formell unter ung. Oberhoheit. Seit Ende des 12. Jh.s entstand ein sich territorial erweiternder bosn. Staat mit eigener Kirche. Ein Zusammenhang der bosn. Kirche mit den J Bogomilen ist umstritten1. Nach der osman. Eroberung wurde die Region zunächst in mehrere Verwaltungseinheiten aufgeteilt und war seit 1580 Teil einer weitere osman. Eroberungen in Slavonien, Kroatien und Dalmatien umfassenden osman. Provinz B. Nach dem Russ.-Osman. Krieg (1877/78) wurde B. und H., obwohl formal noch Teil des Osman. Reichs, unter österr.ung. Verwaltung gestellt und 1908 von Österreich-Ungarn annektiert. Die Ermordung des österr.-ung. Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo (1914) wird als Auslöser des 1. Weltkriegs angesehen, in dessen Folge B. und H. Teil einer selbständigen Monarchie (1918⫺41) wurde. Nach dem 2. Weltkrieg wurde B. und H. einer der Bundesstaaten der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Nach dem Austritt aus dem Staatenverband wurde 1992 die unabhängige Republik B. und H. ausgerufen; nach dem B.krieg (1992⫺95) entstand B. und H. mit der Föderation B. und H. und der Serb. Republik als Teilrepubliken. Laut einer Volkszählung lebten 1991 in B. und H. fast 4,4 Millionen Menschen, davon mehr oder minder konfessionell geprägt 43,5 % bosniak.muslim., 31,2 % serb.-orthodoxe und 17,4 % kroat.-röm.-kathol. Bosnier sowie Minderheiten wie Juden und Roma2. B. und H. ist seit alters durch Migration und die Verflechtung verschiedener religiöser und ethnischer Einflüsse geprägt: In den Städten ist die Bevölkerung ethnisch gemischt; homogene ländliche Volksgemeinschaften stehen in gegenseitiger Abhängigkeit. Dieses bes. Konglomerat hat seine Spuren auch in populären Werken der mündl. Überlieferung hinterlassen und zur Entstehung spezifischer Erzählweisen, Stoffe, Motive und Figuren geführt3. Weil kroat. und serb. Erzählgut aus B. und H. bereits in den entsprechenden EM-Artikeln berücksichtigt wurde, liegt in diesem Artikel der Schwerpunkt auf der Erzählüberlieferung der Bosniaken. Da sich Einflüsse türk.-osman. und islam. Provenienz nicht nur in der bosn.
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Überlieferung, sondern generell bei den Südslaven finden4 und die wechselseitige Beeinflussung mündl. Erzählungen durch die Tatsache begünstigt wurde, daß die sprachliche Verständigung zwischen den Ethnien unproblematisch ist, gestaltet sich die ethnische Differenzierung mündl. Erzählungen aus diesem Gebiet schwierig. Ältere Slgen lassen ethnische Zuordnungen nur teilweise zu, im Grunde erfolgte diese erst nach dem Zerfall Jugoslawiens und mit der Entstehung seiner Nachfolgerepubliken nach 1990. Einen bes. Stellenwert haben in der bosn. Überlieferung Balladen, Romanzen und epische Lieder, zu deren Vortrag in osman. Zeit professionelle Sänger an die Höfe geholt wurden5. Wohl in der H. entstand im 17. Jh. die Hasanaginica, ein Klagegesang der bosn. Muslime6, der in J Goethes Adaptation 1778 in J Herders Volksliedern erschien und in zahlreiche weitere Sprachen übersetzt wurde7. Bosniak. epische Lieder unterscheiden sich von vergleichbaren südslav. Werken durch ihre Dramatik und reiche Ausgestaltung8 sowie durch ihre Nähe zur osman.-türk. bzw. islam. Lit.9 Balladen werden von Frauen, Heldenlieder mit Begleitung der Gusle, einem Streichinstrument, von Männern vorgetragen. Das Sammeln bosniak. epischer Lieder setzte Ende des 19. Jh.s u. a. durch K. Hörmann und F. S. J Krauss ein10 und wurde im 20. Jh. durch Sammler wie M. Murko fortgesetzt11. In den 1930er Jahren unternahmen M. J Parry und A. B. J Lord im damaligen Jugoslawien Feldforschungen und konnten ihre J Formeltheorie (J Oral Poetry) u. a. anhand des Vortrags epischer Lieder durch bosniak. Guslaren bestätigen12. Erste Aufzeichnungen mündl. Erzähltexte in B. und H. gehen auf den Chronisten Mula M. Basˇeskija aus Sarajevo (18. Jh.) zurück, dessen umfangreiche Tagebücher eine Slg humoristischer Erzählungen in türk. Sprache enthalten13. Die ersten bosn. Zauber- und Novellenmärchen wurden Mitte des 19. Jh.s von dem Schriftsteller Ivan Franjo Jukic´ aufgezeichnet14. Die erste veröff. Slg von bosn. Erzähltexten aus der mündl. Überlieferung, Bosanske narodne pripovjedke ([Bosn. Volksmärchen]. Sisak 1870), wurde von Studenten des Franziskanerklosters in Íakovo vorgelegt; sie enthält
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13 Märchen15. Bis zum Ende des 19. Jh.s gab es mehrere Sammelinitiativen16: Mündl. Prosa wurde von dem Archimandriten von Mostar, J. Pamucˇina17, von V. Bogisˇic´ (aus Kroatien)18, V. Vrcˇevic´ (aus der H.)19, N. Tordinac20 und K. Blagajic´21 (beide aus Kroatien), M. Kapetanovic´22 (aus der H.), N. Dvorovic´ (aus Kroatien)23, E. Mulabdic´24 sowie O. Sulejmanpasˇic´-Skopljak25 (beide aus B.) aufgezeichnet. Von ihrer Gründung (1885) bis zu ihrer Einstellung (1914) druckte die Zs. Bosanska vila (Die bosn. Vila) eine umfangreiche Ausw. bosn. Erzählungen, die von einer ganzen Reihe von Sammlern beigebracht worden waren26. In der 1. Hälfte des 20. Jh.s wurde die Erzählsammlung Muslimanske pripoviesti iz Bosne (Muslim. Geschichten aus B.) in den Zss. Behar (Blüten, 1900⫺11) und Novi behar (Neue Blüten, 1927⫺45) veröffentlicht. Zu Beginn des 1. Weltkriegs entstanden die Slgen des Ethnographen L. GrIic´-Bjelokosic´27 und des ´ orovic´ (beide H.)28. In den Historikers V. C 1930er Jahren wurden in der Region auch Sagensammlungen zusammengetragen29. Seit dem Ende des 2. Weltkriegs bis in die 1970er Jahre wurden Sammelbestrebungen institutionalisiert und von der Ethnol. Abteilung des Zemaljski muzej (Landesmuseum) sowie vom Inst. za proucˇavanje folklora (Inst. für Folkloreforschung) in Sarajevo durchgeführt. Auch der Schriftsteller und Volkskundler Alija Nametak30 und Schüler der Gazi-Husrev-BegKoranschule in Sarajevo machte sich um die Aufzeichnung von Volkserzählungen verdient31. Anfang des 20. Jh.s erschienen bosn. Märchen in dt. Sprache: M. PreindlsbergerMrazovic´ legte 1905 eine Slg bosn. Märchen vor32; die Slg von Krauss (1914) besteht zu beinahe der Hälfte aus bosn. Texten33. Das Korpus bosn. mündl. Erzählungen umfaßt 2014 ca 3000 Aufzeichnungen. In bosn. Sagen34, Märchen und Tiererzählungen vermischen sich südslav. und türk. Ele´ oso (Köse; J mente35. Die Märchenfiguren C ´ elo (Kelog˘lan; J Kahlkopf) und Bartloser), C Hero stammen aus der türk. Überlieferung. Novellenmärchen und schwankhafte Erzählungen überwiegen sowohl in quantitativer Hinsicht als auch in Hinblick auf ihren Umfang. In bosn. Erzählungen sind u. a. folgende Märchentypen nachgewiesen:
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AaTh/ATU 15: J Gevatter stehen; AaTh/ATU 36: J Fuchs vergewaltigt die Bärin; AaTh/ATU 64: J Schwanzlose Tiere; AaTh/ATU 155: J Undank ist der Welt Lohn; AaTh/ATU 159 B: J Feindschaft zwischen Tieren und Mensch. AaTh/ATU 314: J Goldener; AaTh/ATU 314 A: J Hirt und die drei Riesen; AaTh/ATU 365: J Lenore; AaTh/ATU 402: J Maus als Braut; AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut; AaTh/ATU 513 A: J Sechse kommen durch die Welt; AaTh/ATU 513 B: J Schiff zu Wasser und zu Lande; AaTh/ATU 518: J Streit um Zaubergegenstände; AaTh/ATU 530: J Prinzessin auf dem Glasberg; AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue; AaTh/ ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter; AaTh/ ATU 554: cf. J Dankbare (hilfreiche) Tiere; AaTh/ ATU 560: J Zauberring; AaTh/ATU 566: J Fortunatus; AaTh/ATU 570: J Hasenhirt; AaTh/ATU 655, 655 A: Die scharfsinnigen J Brüder; AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne; AaTh/ATU 735: J Glück und Unglück. AaTh/ATU 756 B: J Räuber Madej; AaTh/ATU 769: J Tränenkrüglein; AaTh/ATU 825: cf. J Noah; AaTh/ATU 840: J Strafen im Jenseits. AaTh/ATU 881: cf. J Frau in Männerkleidung; AaTh/ATU 890: J Fleischpfand; AaTh/ATU 910: J Schatz hinter dem Nagel; AaTh/ATU 920: J Sohn des Königs und Sohn des Schmieds; AaTh/ATU 927: J Halslöserätsel; AaTh/ATU 960, 960 B: J Sonne bringt es an den Tag; AaTh/ATU 981: J Altentötung36.
Im Vergleich zur kroat. und serb. Überlieferung sind in der bosn. Erzähltradition humoristische Elemente ausgeprägter. In bes. Maße überschneiden sich türk. und südslav. Erzähltraditionen in Erzählungen um J Hodscha Nasreddin37. Schwankhafte Erzählungen weisen z. T. Züge von schwarzem Humor und Groteske auf. Es finden sich bes. folgende Erzähltypen: AaTh/ATU 1000: cf. J Zornwette; AaTh/ATU 1045: cf. Das große J Seil; AaTh/ATU 1049: cf. J Wettstreit mit dem Unhold; AaTh/ATU 1052: cf. J Baum biegen, fällen, tragen; AaTh/ATU 1063, 1088: cf. Wettstreit mit dem Unhold; AaTh/ATU 1115: J Mordversuch mit dem Beil; AaTh/ATU 1200: J Salzsaat; AaTh/ATU 1241: J Baum tränken; AaTh/ATU 1250: J Brunnenkette; AaTh/ATU 1383: J Teeren und federn; AaTh/ATU 1405: Die faule J Spinnerin; AaTh/ATU 1525 sqq.: J Meisterdieb; AaTh 1525 N/ ATU 1525 E: J Diebswette; AaTh/ATU 1535: J Unibos; AaTh/ATU 1611, 1612: cf. J Wettklettern, -schwimmen; AaTh/ATU 1654: J Räuber in der Totenkammer; AaTh/ATU 1920: cf. J Lügenwette; AaTh/ATU 2033: J Heilung des Hähnchens38.
Bis heute sind in B. und H. Witze u. a. über Mujo und Suljo (Mustafa und Suleyman) verbreitet39.
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Da bosn. mündl. überlieferte Erzählungen häufig im allg. Kontext der südslav. Überlieferung aufgezeichnet und publiziert wurden, hat man sie in erster Linie vor dem Hintergrund serb. und kroat. Überlieferungen betrachtet40, doch liegen von südslav. Forscher auch Analysen ausschließlich bosn. Stoffe, die von einheimischen Sammlern aufgezeichnet wurden, vor41, und zunehmend wird in B. und H. selbst die Erforschung der eigenen mündl. Überlieferung vorangetrieben42. 1
Balic´, S.: Das unbekannte B. Europas Brücke zur islam. Welt. Köln/Weimar/Wien 1992, 90⫺95; Hösch, E./Nehring, K./Sundhausen, H. (edd.): Lex. zur Geschichte Südosteuropas. Wien/Köln/Weimar 2004, 121, 123⫺129, 276 sq.; Bijedic´, E.: Der Bogomilenmythos. Eine umstrittene ,hist. Unbekannte‘ als Identitätsquelle in der Nationsbildung der Bosniaken. (Diss.) Heidelberg 2009. ⫺ 2 Balic´, S.: Kultura Bosˇnjaka (Die Kultur der Bosniaken). Wien 1973; id. (wie not. 1). ⫺ 3 cf. allg. Roth, K./Wolf, G.: Südslav. Volkskultur. Bibliogr. […]. Columbus, O. 1993. ⫺ 4 Köhler-Zülch, I.: Slavic Tales. In: Haase, D. (ed.): The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 3. Westport, Conn./L. 2008, 871⫺881, hier 880. ⫺ 5 Kresˇevljakovic´, H.: Kapetanije u Bosni i Hercegovini (Herrschaft in B. und H. ). Sarajevo 1954, num. 13. ⫺ 6 Lucerna, C.: Die südslav. Ballade von Asan Agas Gattin und ihre Nachbildung durch Goethe. B. 1905; Murko, M.: Das Original von Goethes „Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga“ (Asan-aginica) in der Lit. und im Volksmunde durch 150 Jahre. Brünn u. a. 1937. ⫺ 7 Isakovic´, A.: Hasanaginica 1774⫺1974. Sarajevo 1975. ⫺ 8 Schmaus, A.: Studije o krajinskoj epici (Studien über die Epik der Krajina). Zagreb 1953, 93⫺95. ⫺ 9 z. B. Krauss, F. S.: Das Fräulein von Kanizsa. Ein Abenteuer auf der Adria. Ein moslim. Guslarenlied in 2 Fassungen. In: Ethnol. Mittlgen aus Ungarn 4 (1895) 27⫺40, 94⫺109, 138⫺151; 5 (1896) 26⫺28, 96 sq., 217 sq.; 6 (1897) 34⫺36. ⫺ 10 Narodne pjesme Muslimana u Bosni i Hercegovini. Sabrao Kosta Hörmann 1888⫺1889 (Volkslieder der Muslime in B. und H. Gesammelt von Kosta Hörmann 1888⫺89). Sarajevo 1976; Krauss, F. S.: Das Lied von Gusinje. Ethnol. Mittlgen aus Ungarn 1 (1887) 323⫺328; id.: Sveta Nedjelica (Die hl. Frau Sonntag). Ein Guslarenlied aus B. ibid., 130⫺137; id.: Orlovicˇ. Der Burggraf von Raab. Ein mohammedan.-slav. Guslarenlied aus der H. Fbg 1889; id./Dragicˇevic´, T.: Guslarenlieder aus B. und dem Herzogsland. In: Am Urquell, N. S. 1 (1890) 2⫺6, 24⫺30, 40⫺46, 56⫺61, 78⫺82; Krauss, S.: Mehmed’s Brautfahrt (Smailagic´ Meho). Ein Volksepos der südslav. Mohammedaner. Übers. C. Gröber. Wien 1890; Krauss (wie not. 9); id.: Bojagic´ Alile’s Glück und Grab. Zwei muslim. Guslarenlieder. Leiden 1986; id.: Theseus im Guslarenliede. Ein Herzogländ. Guslarenlied. In: Laogra-
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phia 11 (1935) 337⫺386; cf. Koller, E.: Klänge aus B. Dresden 1901; Buturovic´, Í.: The Folk Epic Tradition of the Moslems in Bosnia and Herzegovina from the Beginning of the 16th Century until the Publication of Hörmann’s Collection (1888). In: Wiss. Mittlgen des bosn.-herzegowin. Landesmuseums 3:B (1980) 5⫺110; ead.: Bosanskomuslimanska usmena epika (Bosn.-muslim. mündl. Epik). Sarajevo 1992. ⫺ 11 Murko, M.: Die Volksepik der bosn. Mohammedaner. In: ZfVk. 19,1 (1909) 13⫺30; id.: Ber. über phonographische Aufnahmen epischer, meist mohammedan. Volkslieder im nordwestl. B. im Sommer 1912. Wien 1912; id.: Ber. über eine Bereisung von Nordwestbosnien und der angrenzenden Gebiete von Kroatien und Dalmatien behufs Erforschung der Volksepik der bosn. Mohammedaner. Wien 1913; id. (wie not. 6). ⫺ 12 Lord, A. B.: Avdo MeIedovic´, Guslar. In: JAFL 69 (1956) 320⫺330; id.: Homeric Echoes in Bihac´. In: Zbornik za narodni zˇivot i obicˇaje Juzˇnih Slavena 40 (1962) 313⫺320; id.: An Example of Homeric Qualities of Repetition in MeIedovic´’s „Smailagic´ Meho“. In: Serta Slavica. Festschr. A. Schmaus. Mü. 1971, 458⫺464; id.: Tradition and the Oral Poet: Homer, Huso and Avdo Medjedovic´. In: Atti del convegno internazionale sul tema. La poesie epica e la sua formazione, Roma 1969. Rom 1979, 13⫺28. ⫺ 13 Nametak, N.: Folklorna graIa u neobjavljenom dijelu Basˇeskijinog ljetopisa (Die Folklorematerialien im unveröff. Teil von Basˇeskijas Chroniken). Sombor 1985, 373⫺ 376. ⫺ 14 Jukic´, I. F.: Narodne pripoviedke (Volkserzählungen). In: Bosanski prijatelj 1 (1850) 131, 138; ´ oric´, B.: Ogled o Ivanu Franji Jukic´u (Essay über C Ivan Franjo Jukic´). In: id.: Sabrana djela 3. Sarajevo 1973, 7⫺101. ⫺ 15 Smailbegovic´, E.: Pregled sakupljanja i izdavanja narodnih pripovijedaka u Bosni i Hercegovini (Übersicht über das Sammeln und die Edition von Volkserzählungen in B. und H. ). In: Godisˇnjak Odjeljenja za knjizˇevnost (1977) 139⫺ 176, hier 149. ⫺ 16 cf. BP 5, 110⫺113. ⫺ 17 Pamucˇina, J.: Sˇaljive srpske narodne pripovijetke (Scherzhafte serb. Volkserzählungen). In: Srpski knjizˇevni glasnik (1903) H. 9, 308⫺380, num. 4, 5. ⫺ 18 Bogisˇic´, V.: Narodne pjesme iz starijih, najcˇesˇc´e primorskih zapisa (Volkslieder aus alten, vor allem in der Küstenregion gesammelten Schr.). Belgrad 1878. ⫺ 19 Vrcˇevic´, V.: Narodne satiricˇno-zanimljive podrugacˇice, skupio ih po Boki Kotorskoj, Crnoj Gori, Dalmaciji, a najvisˇe po Hercegovini (Volkstümliche satirisch interessante Persiflagen, gesammelt in der Bucht von Kotor, Montenegro, Dalmatien und bes. in der H. ). Dubrovnik 1883 (21888); id.: Narodne humoristicˇke gatalice i varalice, skupio ih po Boki Kotorskoj, Crnoj Gori, Dalmaciji, a najvisˇe po Hercegovini (Volkstümliche humoristische Rätsel und Gaunergeschichten, gesammelt in der Bucht von Kotor, Montenegro und Dalmatien und bes. in der H. ). Dubrovnik 1884 (21885, 31894); id.: Narodne basne, skupio ih po Boki, Crnoj Gori, Dalmaciji, a najvisˇe po Hercegovini (Volksfabeln, gesammelt in der
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Bucht [von Kotor], Montenegro, Dalmatien und vor allem der H. ). Dubrovnik 1883; id.: Niz srpskih pripovijedaka, vec´inom o narodnom suIenju po Boki, Crnoj Gori i Hercegovini (Eine Reihe serb. Erzählungen, vor allem über das Volksgericht in der Bucht [von Kotor], Montenegro und der H. ). Pancˇevo 1881; id.: Narodne pripovijesti i presude iz zˇivota po Boki Kotorskoj, Hercegovini i Crnoj Gori (Volkserzählungen und -urteile aus dem Leben in der Bucht von Kotor, der H. und Montenegro). Dubrovnik 1890; id.: Hercegovacˇke narodne pjesme (koje samo Srbi Muhamedove vjere pjevaju) (Herzegowin. Volkslieder [die nur Serben mohammedan. Glaubens singen]). Dubrovnik 1890. ⫺ 20 Tordinac, N.: Hrvatske narodne pjesme i pripoviedke iz Bosne (Kroat. Volkslieder und -erzählungen aus B. ). Vukovar 21883. ⫺ 21 Blagajic´, K.: Hrvatske narodne pjesme i pripoviedke iz Bosne (Kroat. Volkslieder und -erzählungen aus B. ). Zagreb 1886. ⫺ 22 Kapetanovic´ Ljubusˇak, M.: Narodno blago (Der Volksschatz). Sarajevo 1887. ⫺ 23 Dvorovic´, Nj. [i.e. Hofbauer, D.]: Hrvatsko narodno blago (Der kroat. Volksschatz). Senj 1888. ⫺ 24 Mulabdic´, E.: Rukovijet sˇale (Eine Handvoll Scherze). Sarajevo 1893. ⫺ 25 Sulejmanpasˇic´-Skopljak, O.: Srpske narodne pripovijetke (Serb. Volkserzählungen). Sarajevo 1898. ⫺ 26 cf. BP 5, 110⫺113. ⫺ 27 GrIic´-Bjelokosic´, L.: Stotina sˇaljivih pricˇa (Hundert humoristische Erzählungen). Mostar ´ orovic´, V.: Srpske narodne pripovijetke 1902. ⫺ 28 C (Serb. Volkserzählungen). Novi Sad 1909; cf. Smailbegovic´ (wie not. 15). ⫺ 29 id.: Narodna predaja o Sarajevu (Volkssagen über Sarajevo). Sarajevo 1986; cf. Jagic´, V./Köhler, R.: Eine Midas-Sage in bosn. Fassung. In: Archiv für slav. Philologie 14 (1892) 148⫺150; Ivancˇevic´, P. S.: Ruinen und Sagen der Krajina. In: Wiss. Mittheilungen aus B. und der H. 1 (1893) 469⫺477. ⫺ 30 Nametak, A.: Muslimanske pripoviesti iz Bosne (Muslim. Geschichten aus B. ). Sarajevo 1944; id.: Narodne pripovijesti bosansko-hercegovacˇkih muslimana (Volkserzählungen der bosn.-herzegowinaer Muslimen). Sarajevo 1975. ⫺ 31 Narodne pripovijetke iz Bosne i Sandzˇaka (Volkserzählungen aus B. und dem Sandzˇak). Sarajevo 1977. ⫺ 32 Preindlsberger-Mrazovic´, M.: Bosn. Volksmärchen. Wien 1905. ⫺ 33 Krauss, F. S.: Tausend Sagen und Märchen der Südslaven. Lpz. 1914. ⫺ 34 Smailbegovic´ (wie not. 29) 232. ⫺ 35 Bosˇkovic´Stulli, M.: Narodne pripovijetke iz Mostara (Zapisi Balda Bogisˇic´a) (Volkserzählungen aus Mostar [Aufzeichnungen von Baldo Bogisˇic´]). In: Bilten Instituta za proucˇavanje folklora 3 (1955) 57⫺84. ⫺ 36 cf. Preindlsberger-Mrazovic´ (wie not. 32); Krauss (wie not. 33); Dervisˇevic´, A.: Novelisticˇka i sˇaljiva pricˇa u bosˇnjacˇkoj usmenoj prozi (Novellenmärchen und humoristische Erzählungen in der bosniak. mündl. Prosa). Diss. Sarajevo 2010, 84⫺171. ⫺ 37 Maglajlic´, M.: Nasruddin Khoja in Bosnia. In: III. Milletlerarası Türk Folkloru Kongresi Bildirileri 2. Ankara 1986, 231⫺236; id.: Nasrudin-Hodzˇa na srpskohr-
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Bremond, Claude
vatskom jezicˇnom prostoru (Nasreddin Hodscha im serbokroat. Sprachraum). In: Makedonski folklor 19 (1986) 45⫺49; id.: Nasrudin-hodzˇa u Bosni (Nasreddin Hodscha in B. ). In: id.: Usmeno pjesnisˇtvo od stvaralaca do sakupljacˇa. Tuzla 1989, 106⫺112; Hadzˇiosmanovic´, L.: Nasruddin-hodzˇa u Bosni i Hercegovini i njegova paralela u Turskoj (Nasreddin Hodscha in B. und der H. und seine Parallele bei den Türken). In: Makedonski folklor 19 (1986) 33⫺ 38; Dervisˇevic´ (wie not. 36) 229⫺252. ⫺ 38 cf. Preindlsberger-Mrazovic´ (wie not. 32); Krauss (wie not. 33); Dervisˇevic´ (wie not. 36) 171⫺207. ⫺ 39 Planjac, B. H.: Bosanski vicevi (Bosniak. Witze). Tesˇanj 2000; Beganovic´, F.: Nije grijesˇno kad je smijesˇno (Nicht sündig ist, was lustig ist). Tesˇanj 2001. ⫺ 40 Smailbegovic´ (wie not. 15) 143 sq. ⫺ 41 ibid., 146. ⫺ 42 Palavestra, V.: Narodne pripovijetke i predanja (Volkserzählungen und Sagen). In: Glasnik Zemaljskog muzeja Bosne i Hercegovine u Sarajevu, N. S. 19 (1964) 146⫺168; id.: Folk Tales and Legends from the Environs of Lisˇtica. In: Wiss. Mittlgen des Bosn.-Herzegowin. Landesmuseums 2:B (1976) 245⫺268; id.: Les De´placements miraculeux de sanctuaires dans la tradition orale de la Bosnie-Herze´govine. ibid. (2000) 197⫺207; id.: Historijska usmena predanja iz Bosne i Hercegovine (Die hist. mündl. Überlieferung aus B. und H. ). Sarajevo/ Zemun 2004; Buturovic´, Í. und L.: Djevojka ⫺ ptica zlatna perja. Antologija usmene pricˇe u Bosni i Hercegovini (Das Mädchen ⫺ der Vogel mit den goldenen Federn. Eine Anthologie mündl. Erzählungen in B. und H. ). Sarajevo 1997; Softic´, A.: Jednom bio car. Odabrane bosˇnjacˇke bajke (Es war einmal ein Zar. Ausgewählte bosniak. Märchen). Sarajevo 2000; ead.: Usmena proza Bosˇnjaka (Die mündl. Prosa der Bosniaken). Sarajevo 2004; cf. Palavestra, V.: Die Volkserzählungsforschung in B. und in der H. In: Kongreß Kiel/Kopenhagen, 253⫺256.
Sarajevo
Munib Maglajlic´
Bremond, Claude, *Vendoˆme 1. 3. 1929, frz. Semiotiker und Erzählforscher. B. studierte Soziologie an der Sorbonne in Paris; 1972 wurde er dort mit der Arbeit Logique du re´cit (P. 1973) promoviert. 1979⫺94 war er Directeur d’e´tudes an der E´cole des Hautes E´tudes en Sciences Sociales in Paris und leitete am Centre National de la Recherche Scientifique eine Forschergruppe zu Texten und Kontexten von J Tausendundeine Nacht. B.s Diss., sein Hauptwerk auf dem Gebiet der Semiotik, besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil befaßt sich mit der Morphologie V. Ja. J Propps sowie den Theorien von J. J Be´dier, A. J Dundes, A. J. J Greimas und T. Todorov (J Morphologie des Erzählguts). Im zwei-
1572
ten Teil wird die Märchenhandlung als unveränderlicher dreigliedriger Prozeß dargestellt: (1) Möglichkeit einer Transformation, (2) Handeln oder Nichthandeln, um diese Transformation zu erreichen, (3) Erreichen oder Nichterreichen der Transformation. Noch nicht abgeschlossen sind B.s Arbeiten am Index logique des passions, actions et motivations dans Les Mille et une Nuits1. Der Index erfaßt die Themen und Motive nicht empirisch oder induktiv, sondern bedient sich einer systematisch deduktiven Arbeitsweise2. Zur arab.-oriental. Erzählliteratur legte B. zahlreiche Veröff.en vor3, u. a. eine Abhdlg über Die Geschichte des Lastträgers und der drei Damen4. Darüber hinaus untersuchte er afrik. Erzählungen, z. B. AaTh/ATU 175: J Teerpuppe5 sowie das Syntagma Verdienst/Belohnung6. In weiteren Studien befaßte er sich mit ma. Exempla, bes. mit der Tierwelt bei J Jacques de Vitry7, ma. Formen des Zaubermärchens8, der Beziehung zwischen Erzählung und hist. Realität9 sowie mit der ,Etymologie‘ der Erzählung10. B.s Aufsatz zum Thema der auseinandergerissenen Familie erbrachte neue Erkenntnisse zur Entstehung von AaTh/ATU 938: J Placidas und zu den Beziehungen dieses Erzähltyps zu AaTh/ATU 884: cf. J Frau in Männerkleidung sowie AaTh/ATU 567: Das wunderbare J Vogelherz11. Seine Unters. der span.-port. Ballade La princesa cautiva analysiert AaTh 506 A/ATU 505: cf. J Dankbarer Toter und ma. Var.n dieses Erzähltyps12. Ferner erforschte B. weitverbreitete Motive wie z. B. das goldene Haar (AaTh/ATU 314: J Goldener; AaTh/ATU 707: Die drei goldenen J Söhne; J Zeichen edler Herkunft), wobei er eine Genealogie skizzierte, die von dem altägypt. J Brüdermärchen ausgeht und sich in zwei Linien teilt: Die eine führt zu AaTh/ATU 302 B und AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder, die andere entwickelt sich in Richtung auf AaTh/ATU 318, AaTh/ATU 560: J Zauberring, AaTh/ATU 670: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch, AaTh 534: The Youth Who Tends the Buffalo Herd, AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue, AaTh/ATU 550: J Vogel, Pferd und Königstochter und AaTh/ ATU 551: J Wasser des Lebens13. 1
cf. B., C.: Vers un index des actions narratives. In: CRISOL. Typologie des formes narratives bre`ves au ˆ ge 2,3. P. 2000, 243⫺250. ⫺ 2 cf. id.: Un Moyen A
1573
Bruford, Alan James
Index parmi d’autres. In: Classer les re´cits. ed. A. Chraı¨bi. P. 2007, 19. ⫺ 3 cf. id./Berlioz, J.: Belphe´gor ou le diable mal marie´. In: L’Histoire 153 (1992) 30⫺ 36; B., C.: L’Ascension du mont inaccessible. In: Studia islamica 76 (1992) 97⫺118; id./Darbord, B.: Tawaddud et Teodor. Les enjeux ludiques du savoir. In: L’enciclopedismo medievale. ed. M. Picone. Ravenna 1994, 253⫺273; B., C.: Deux Notes comple´mentaires. 1: Le Ne`gre, l’ours, le singe. 2: Notule sur l’ours eurasien. In: Miquel, A.: Les Arabes et l’ours. Heidelberg 1994, 99⫺126. ⫺ 4 id.: En decœ a` et au-dela` d’un Conte. Le devenir des the`mes. In: Bencheikh, J. E./B., C./Miquel, A. (edd.): Mille et un Contes de la nuit. P. 1991, 79⫺258. ⫺ 5 cf. id.: La Statue enduite de glu. Le roˆle des Portugais dans la diffusion en Afrique et en Ame´rique d’un the`me d’origine indienne. In: Litte´rature orale, traditionnelle, populaire. P. 1987, 515⫺521; id.: The Clandestine Ox. The Transformation of an African Tale. In: New Literary History 8,3 (1977) 393⫺410. ⫺ 6 cf. id.: Les Bons re´compense´s et les me´chants punis. In: Se´miotique narrative et textuelle. ed. C. Chabrol. P. 1973, 96⫺ 121. ⫺ 7 id.: Le Bestiaire de Jacques de Vitry. In: Berlioz, J./Polo de Beaulieu, M.-A. (edd.): L’Animal ˆ ge. Rennes 1999, 111⫺122; exemplaire au Moyen A id./Le Goff, J./Schmitt, J.-C.: L’„Exemplum“. Turnhout 1982, 108⫺143. ⫺ 8 B., C.: La Nef de Saint Nicolas. In: id./Berlioz, J./Velay-Vallantin, C.: Formes me´die´vales du conte merveilleux. P. 1989, 123⫺ 129; id.: Les Enfants-Cygnes. ibid., 141⫺154; id.: Asinarius. ibid., 211⫺226. ⫺ 9 cf. id.: Le Conte et l’historienne. In: Le Monde alpin et rhodanien 3⫺4 (1993), 117⫺136 (Rez. zu Velay-Vallantin, C.: L’Histoire des contes. P. 1993). ⫺ 10 cf. id.: L’E´tymologie des contes. In: Fe´eries 3 (2006) 183⫺213 (Rez. zu Belmont, N. [ed.]: Contes populaires de Lorraine d’Emmanuel Cosquin. Arles 2003). ⫺ 11 id.: La Famille se´pare´e. In: Communications 39 (1984) 5⫺45. ⫺ 12 id.: Le Romance de „La princesa cautiva“ et l’e´volution du the`me du mort reconnaissant. In: id./Fisher, S. (edd.): Le Romancero ibe´rique. Madrid 1995, 129⫺138. ⫺ 13 id.: Le Motif du cheveu d’or. In: Guerreiro, M. V. (ed.): Literatura popular portuguesa. Lissabon 1992, 25⫺42; cf. auch id.: De La Femme achete´e (AT 887A*) a` La Princesse de´livre´e d’esclavage (AT 506 A). In: Cahiers de litte´rature orale 46 (1999) 39⫺77 (Themenheft „Le Mort reconnaissant“).
Paris
Aboubakr Chraı¨bi
Bruford, Alan James, *Edinburgh 10. 5. 1937, † West Linton 8. 5. 1995, schott. Erzählforscher1. B. studierte 1957⫺61 am St. John’s College in Cambridge Geschichte und Altenglisch. Angeregt durch den für seine ausgedehnten Feldforschungen bekannten schott. Folkloristen C. Maclean schloß B. 1961⫺65 ein
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Keltistikstudium an der Univ. Edinburgh an. Im Rahmen dieses Studiums verbrachte er ein Jahr am Dublin Institute for Advanced Studies und führte Forschungsarbeiten bei der Irish Folklore Commission und der Royal Irish Academy aus. 1965 wurde B. in Edinburgh mit der Unters. Gaelic Folk-Tales and Mediæval Romances, die der Entwicklung ir. Romanzen von ma. Hss. bis zu mündl. Repertoires der Erzähler des 20. Jh.s gewidmet ist, promoviert2. Seit 1965 war er an der School of Scottish Studies in Edinburgh als wiss. Archivar und Dozent tätig (zunächst Assistant Lecturer, 1968 Lecturer, 1984 Senior Lecturer, 1995 Reader). Seit 1971 war B. Hauptherausgeber und häufiger Beiträger der Zs. Tocher, die der Veröffentlichung von Archivmaterial der School of Scottish Studies gewidmet ist. B. war ferner Archivar und Vorsitzender der Scottish Oral History Group. B. katalogisierte Materialien in den drei in Schottland gesprochenen Sprachen Gälisch, Scots und Englisch und entwickelte Klassifizierungssysteme für die umfangreichen Slgen von Hexen- und Fairy-Sagen im Archiv der School of Scottish Studies3. Seit 1965 unternahm er ausgedehnte Feldforschungen auf den Äußeren Hebriden, den Orkney- und Shetlandinseln sowie dem schott. Festland. Er arbeitete zur Datierung und geogr. Verbreitung von Sagen in Schottland4. Seine vergleichenden Unters.en der schott. Versionen von AaTh/ ATU 709: J Schneewittchen5 und AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt 6 geben Aufschluß über deren Einordnung im weiteren hist.-geogr. Kontext. Bes. Interesse zeigte B. an der lebendigen Erzählüberlieferung der schott. Traveller7. Ein Schwerpunkt von B.s wiss. Arbeit war die Beschäftigung mit dem Verhältnis von literar. Texten und ihren modernen mündl. Performanzen8. Seine diesem Thema gewidmete Diss.9 wurde zu einem Standardwerk der schott. und ir. Erzählforschung. Darüber hinaus legte B. eine Reihe namhafter Publ.en über die hist. Aspekte der gäl. Erzähltradition, bes. der Heldenerzählungen, vor10 . In seiner Studie zu den Editionen einiger klassischer gäl. Publ.en von Volksüberlieferungen im späten 19./frühen 20. Jh. warf B. Fragen nach deren Textualisierung und Authentizität im gesellschaftlichen Kontext auf 11 . Er untersuchte die
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Brunold-Bigler, Ursula
Vermittlung von Erzählungen sowie Memorierungs- und Vermittlungsprozesse, bes. der für gäl. Traditionsträger spezifischen außergewöhnlich langen Erzählungen12. Ferner beschäftigte sich B. mit Brauch und Volksglauben (dem Übernatürlichen, dem Zweiten Gesicht, Fairies und Zauber), mit populärem Wortschatz sowie mit der gäl. Liedtradition Schottlands und Irlands, Balladen und Volksliedern in Scots und Volksmusik allg.13 1
Nicolaisen, W. F. H.: A. B. (1937⫺1995). In: Fabula 36 (1995) 304⫺306; Bennett, M.: A. B. 1937⫺1995. In: Folk Music J. 7,2 (1996) 273⫺275. ⫺ 2 B., A.: Gaelic Folk-tales and Mediaeval Romances. A Study of the Early Modern Irish ,Romantic Tales‘ and Their Oral Derivatives. Dublin 1969 (⫽ Be´aloideas 34). ⫺ 3 B., A./Macdonald, D. A.: Scottish Traditional Tales. Edinburgh 1994; B., A.: Scottish Gaelic Witch Stories. A Provisional Type-List. In: Scottish Studies 11 (1967) 13⫺47; id.: Problems in Cataloguing Scottish Supernatural and Historical Legends. In: JFI 16,3 (1979) 155⫺166. ⫺ 4 id.: Legends Long Since Localised or Tales Still Travelling? In: Scottish Studies 24 (1980) 43⫺62. ⫺ 5 id.: A Scottish Gaelic Version of „Snow-White“. In: Scottish Studies 9 (1965) 153⫺174. ⫺ 6 id.: The King’s Questions (AT 922). ibid. 17 (1973) 147⫺154. ⫺ 7 id.: Highland Fairy Legends. Ipswich 1978; id.: The Green Man of Knowledge and Other Scots Traditional Tales. Aberdeen 1982. ⫺ 8 z. B. id.: „Eachtra Chonaill Gulban“. An Irish Hero-Tale in Ms. and Oral Tradition. In: Be´aloideas 31 (1963⫺65) 1⫺50. ⫺ 9 id. (wie not. 2). ⫺ 10 id.: Murchadh mac Briain an Dı´threabhach (Murchadh mac Briain, ein Einsiedler). In: Eigse 12 (1969) 301⫺326; id.: An Ceatharnach Caol Riabhach (Der Kern in schmalen Streifen). In: Scottish Studies 14 (1970) 133⫺154; id.: Oral and Literary Fenian Tales. In: The Heroic Process. ed. B. ´ Catha´in/P. O ´ hE´alaı´. Dublin 1987, Almqvist/S. O 25⫺56. ⫺ 11 id.: „Deirdire“ and Alexander Carmichael’s Treatment of Oral Sources. In: Scottish Gaelic Studies 14 (1983) 1⫺24. ⫺ 12 id.: Recitation or Re-creation? Examples from South Uist Storytelling. In: Scottish Studies 22 (1979) 27⫺44; id.: Memory, Performance and Structure in Traditional Tales. In: Arv 37 (1981 [1983]) 103⫺109. ⫺ 13 z. B. id.: The Sea-Divided Gaels. Some Relations between Scottish Gaelic, Irish and English Traditional Songs. In: Irish Folk Music Studies 1 (1972⫺73) 4⫺27; id./Munro, A.: The Fiddle in the Highlands. Inverness 1974; B., A.: The Singing of Fenian and Similar Lays in Scotland. In: Ballad Research. ed. H. Shields. Dublin 1986, 55⫺70; id.: Workers, Weepers and Witches. The Status of the Female Singer in Gaelic Society. In: Scottish Gaelic Studies 17 (1996) 61⫺70.
Edinburgh
John Shaw
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Brunold-Bigler, Ursula, *Basel 13. 3. 1950, Schweizer Kulturwissenschaftlerin und Historikerin. Sie studierte Vk., Schweizer Geschichte und Neuere Allg. Geschichte an der Univ. Basel, an der sie 1980 bei H. Trümpy mit der Diss. Die religiösen Volkskalender der Schweiz im 19. Jh. (Basel 1982) promoviert wurde. 1983⫺86 arbeitete sie als wiss. Mitarbeiterin am Rät. Museum in Chur. Seit 1986 ist sie als freiberufliche Kulturwissenschaftlerin tätig. Dem Themenumfeld ihrer Diss. widmete B.B. eine Reihe weiterer Arbeiten1; darüber hinaus beschäftigte sie sich intensiv mit religiöser Alltagskultur2. Einen Schwerpunkt ihrer Forschung bildet die Erzähl- und Lesekultur der J Schweiz3 mit bes. Fokus auf der bündner. bzw. rätorom. Kultur; vielfach stehen dabei sozialgeschichtliche und autobiogr. Aspekte im Zentrum4. Zu B.-B.s Hauptarbeitsgebieten gehört die Volkserzählung, bes. die Sage, wobei das Verhältnis von mündl. Überlieferung und Schriftlichkeit, sozialgeschichtliche Aspekte und die kritische Auseinandersetzung mit der J Mythol. Schule einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden. Angeregt durch die Forschungen R. J Schendas beleuchtete sie dabei auch Steuerungs- und Ausblendungsprozesse in Schweizer Volkserzählungen bzw. in der Sagen- und Märchenüberlieferung5. B.-B. edierte eine Sagensammlung der bündner. Dichterin Nina Camenisch (1826⫺1912)6, A. Büchlis Volkserzählungssammlung Mythol. Landeskunde von Graubünden, für die sie umfangreiches Material aus Büchlis Nachlaß aufgearbeitet hat7, sowie Slgen rätorom. Märchen8. Hist.-kritische Lesarten hat B.-B. auch zur Magiologia (Basel 1674) des B. Anhorn9, zu dem Berner Volkskundler M. Sooder (1885⫺ 1955)10 sowie zu D. J Jecklin, J. J Jegerlehner, J. J Müller, A. J Senti, O. J Sutermeister und L. J Uffer vorgelegt. Nach Einschätzung B.-B.s verhinderte die Dominanz mythol. Deutungen über lange Zeit Überlegungen zum sozialhist. wie sozialpsychol. Gehalt von Sagen11. Ebendiesen arbeitete sie mittels qualitativer Inhaltsanalyse und unter Einbeziehung archivalischer und anderer relevanter Qu.n in Hungerschlaf und Schlangensuppe (Bern 1997) und weiteren Studien heraus; sie versteht Sagen als Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmuster von Wirk-
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Brunvand, Jan Harold
lichkeit und liest die alpinen Sagen als Reflexe eines prekären Alltags12. In jüngeren Veröff.en widmete sich B.-B. der neueren Sozialgeschichte der Frau in Graubünden: In Geburtszeiten (Chur 2006) werden Schwangerschaft und Geburt als einschneidende Erfahrung im Lebenszusammenhang von Frauen zwischen 1950 und 2000 auf der Basis narrativ-biogr. Interviews dokumentiert, gefolgt von einer Einbettung der subjektiven Empfindungen und individuellen Erfahrungen der Betroffenen in den Kontext der Körpergeschichte13. Der ebenfalls auf lebensgeschichtlichem Erzählen beruhende Band Frauen schaffen Heimat (Chur 2013) dokumentiert das Leben von Migrantinnen in Graubünden14. 1
B.-B., U.: Religion, Moral, Erziehung. In: Kalender-Bilder. Illustrationen aus schweiz. Volkskalendern des 19. Jh.s. Basel 1978, 40⫺45; ead.: Das Bild der Nichtseßhaften in schweiz. Volkskalendern des 18. und 19. Jh.s. In: St. Galler Kultur und Geschichte 18 (1988) 311⫺350; ead.: Der Bündner Kalender ⫺ Notizen zu einem wichtigen Volkslesestoff im 19. Jh. In: Bündner Monatsblatt (1981) 142⫺154; ead.: Der Vorschlag J. H. Kaltschmidts zur Herausgabe eines bündner. Volkskalenders. ibid. (1983) 304⫺325; ead.: „Den ersten hinkenden Bott neue Zeit herausgegeben“ oder die Tagebuchnotizen einer Appenzeller Kalendermacherfamilie (1771⫺1819). In: SAVk. 79 (1983) 63⫺84. ⫺ 2 ead.: Das Totenbildchen. Entstehung und Wandel eines religiösen Brauchs. In: Wiederentdeckung der Volksreligiosität. ed. J. Baumgartner. Regensburg 1979, 291⫺301; ead.: Das Lektüreangebot für Katholiken des 19. Jh.s, dargestellt am Beispiel der Schweiz. Kirchenzeitung. In: Jb. für Vk. 5 (1982) 169⫺212; cf. auch ead.: Die Rose von Jericho (Anastatica Hierochuntica), eine weihnächtliche Orakelpflanze. In: SAVk. 73 (1977) 121⫺126; ead.: Der Hirsch als religiöses Symbol. In: Bündner Schulblatt 43,6 (1983/ 84) 30⫺36. ⫺ 3 ead.: Zeugnisse populärer Schreibkultur aus Graubünden (ca. 1750⫺1900). In: Jahresber. 1986 des Rät. Museums Chur (1987) 40⫺80; ead.: Populäre Lesestoffe und populäres Leseverhalten in der Schweiz des 19. Jh.s. In: Hb. der schweiz. Volkskultur 3. ed. P. Hugger. Zürich 1992, 1307⫺ 1320; ead.: Schweizer Märchensammler. In: Märchen und Märchenforschung in Europa. ed. D. Röth/W. Kahn. Ffm. 1993, 229⫺237, 305⫺307. ⫺ 4 ead.: Jakob Stutz’ (1801⫺1877) Autobiogr. „Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben“ als Qu. populärer Lesestoffe im 19. Jh. In: SAVk. 75 (1979) 28⫺ 42; cf. auch Otto Carisch. Rückblick auf mein Leben. Autobiogr. eines Pfarrers, Schulmanns, Philanthropen und Lexikographen (1789⫺1858). ed. U. Brunold. Chur 1993, XI⫺XVII (Einl. U. B.-B.). ⫺
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5 B.-B., U.: Steuerungs- und Ausblendungsprozesse in der Schweizer Volkserzählproduktion. In: Erinnern und Vergessen. ed. B. Bönisch-Brednich/R. W. Brednich/H. Gerndt. Göttingen 1991, 501⫺511; ead.: Sagenüberlieferung. In: St. Gallen. Geschichte einer literar. Kultur 1⫺2. ed. W. Wunderlich. St. Gallen 1999, hier t. 1, 501⫺526; t. 2, 517⫺523; ead.: Die Überlieferung von Sagen. In: Hb. der Bündner Geschichte 3. ed. J. Simonett. Chur 2000, 147⫺173; ead.: Rätorom. Märchen aus Graubünden. Internat. Wandergut oder Eigenproduktion? In: Histoire des Alpes ⫺ Storia delle Alpi ⫺ Geschichte der Alpen 11 (2006) 185⫺192. ⫺ 6 ead.: Die Sagenslg der Dichterin Nina Camenisch (1826⫺1912) von Sarn. ead. [ed.] Disentis 1987. ⫺ 7 Büchli, A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺4. ed. U. B.-B. Disentis 2 1989/31989/90/92; cf. B.-B., U.: Qu.nkritische Studie zu Arnold Büchlis Volkserzählungsslg „Mythol. Landeskunde von Graubünden“. In: Bündner Monatsblatt (1985) 221⫺264. ⫺ 8 Decurtins, C.: Die drei Winde. Rätorom. Märchen aus der Surselva. ed. U. B.-B. Chur 2002; B.-B., U.: Die drei Hunde. Rätorom. Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Chur 2004. ⫺ 9 ead.: Teufelsmacht und Hexenwerk. Lehrmeinungen und Exempel in der „Magiologia“ des Bartholomäus Anhorn (1616⫺ 1700). Chur 2003. ⫺ 10 ead.: Melchior Sooder (1885⫺1955) und seine Zugänge zur bern. Volkserzählung. In: SAVk. 85 (1989) 43⫺72; ead.: Hist.kritische Lesarten von Melchior Sooders Volkserzähltexten. In: Das Bild der Welt in der Volkserzählung. ed. L. Petzoldt u. a. Ffm. u. a. 1993, 99⫺ 113. ⫺ 11 ead.: Überlegungen zum soziohist. Gehalt von Bündner Sagen. In: Dona Folcloristica. Festschr. L. Röhrich. Ffm./Bern/N. Y./P. 1990, 33⫺47. ⫺ 12 ead.: Rekonstruktionsversuche integraler Erzählwirklichkeit. In: Petzoldt u. a. (wie not. 10) 143⫺162; ead.: Die Armut, die Krankheit und das „leide Wetter“. Zur narrativen Verarbeitung des Passionalen in alpinen Sagen. In: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Festschr. R. Schenda. Bern/B./Ffm. 1995, 117⫺131; cf. auch ead.: Historien von Krieg, Pest und Hunger. Bemerkungen zu den „Commentationes“ des Johannes Rütiner, St. Gallen 1529⫺1539. In: SAVk. 94 (1998) 175⫺187; ead.: Wolfsmensch und Bärenhexe. Tiere in Sagen und Märchen aus den Alpen. Chur 2010. ⫺ 13 Geburtszeiten. Geschichten vom Kinderkriegen in Graubünden 1950⫺2000. ed. ead./R.-N. Preisig. Chur 2006. ⫺ 14 Frauen schaffen Heimat. Migrantinnen in Graubünden erzählen. ed. B.-B., U./S. Conzett. Chur 2013.
Zürich
Ingrid Tomkowiak
Brunvand, Jan Harold, *Cadillac, Michigan, 23. 3. 1933, US-amerik. Folklorist1. B., Sohn einer Einwandererfamilie aus Kristiansand (Südnorwegen), studierte an der Michigan
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Brunvand, Jan Harold
State Univ. in East Lansing (1955 B. A. in Journalismus, 1957 M. A. in Englisch); im Fach Folklore besuchte er Lehrveranstaltungen von R. J Dorson, der sein Mentor wurde. 1956⫺57 verbrachte B. ein Jahr als FulbrightStipendiat in Norwegen. 1957⫺61 setzte er sein Studium, zunächst des Englischen, dann der Folkloristik, an der Indiana Univ. in Bloomington fort, wo er am Folklore Institute auch als Forschungsassistent in der Bibl. sowie als Archivar arbeitete. 1961 wurde er mit der von W. E. J Roberts betreuten Diss. The Taming of the Shrew. A Comparative Study of Oral and Literary Versions (gedr. N. Y. 1991) promoviert. 1961⫺65 lehrte B. an der Univ. of Idaho in Moscow, 1965⫺66 am English Department der Southern Illinois Univ. in Edwardsville und 1966⫺96 am English Department der Univ. of Utah in Salt Lake City. 1976⫺80 war er Herausgeber des JAFL und 1985 Präsident der American Folklore Soc. Er ist Fellow des Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal und erhielt 2003 dessen Distinguished Skeptic Award. B. hat sich vor allem mit den Beziehungen zwischen Volksüberlieferung und Lit., der Folklore des nordamerik. Westens und generell der Volksüberlieferung Nordamerikas befaßt. Er veröffentlichte 13 Bücher sowie ca 150 Aufsätze und kleinere Beiträge. B.s erste Arbeit auf dem Gebiet der Erzählforschung ist eine Unters. der Figur des J Askeladden in norw. Märchen2. Seine Diss. ist eine der geogr.-hist. Methode verpflichtete Monogr. zu AaTh/ATU 901: J Zähmung der Widerspenstigen, in der er mehr als 400 Var.n des Erzähltyps berücksichtigte. Er kam zu dem Schluß, daß der Erzähltyp auf eine recht einfach strukturierte Erzählung oriental. (ind.?) Ursprungs zurückgeht und sich im Laufe der Überlieferung in insgesamt sieben Subtypen ausdifferenzierte. J Shakespeares Komödie The Taming of the Shrew geht nach seiner Erkenntnis keineswegs nur auf literar. Versionen zurück, sondern weist deutlichen Einfluß der mündl. Überlieferung auf 3. Darüber hinaus publizierte er einen Aufsatz über eine lokale J Münchhausen-Gestalt im nördl. Idaho4 und verfaßte ein Lehrbuch zur amerik. Volksüberlieferung5 sowie eine Anleitung zum Sammeln von Folklore in Utah6.
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Vorrangig ist B. für seine Arbeiten zur modernen bzw. zeitgenössischen Sage bekannt. B. hält für diese Textsorte bis heute an dem Begriff urban legend fest, wenngleich die Forschung mittlerweile gezeigt hat, daß solche Sagen keineswegs auf städtische Überlieferung beschränkt sind7. Sein erstes Buch, The Vanishing Hitchhiker (N. Y. 1981), ursprünglich als Textsammlung für die Lehre konzipiert, wurde zu einem großen Überraschungserfolg und verschaffte B. vor allem beim allg. Publikum nationalen Ruhm. Es folgte eine ganze Reihe weiterer Bücher: The Choking Doberman (N. Y. 1984); The Mexican Pet […] (N. Y. 1988); Curses! Broiled Again! […] (N. Y. 1989); The Baby Train […] (N. Y. 1993); The Big Book of Urban Legends (N. Y. 1994; zusammen mit R. L. Fleming und R. F. Boyd); Too Good to Be True. The Colossal Book of Urban Legends (N. Y. 1999); The Truth Never Stands in the Way of a Good Story (Urbana, Ill. 2001); Be Afraid, Be very Afraid (N. Y. 2004). Auch nach der Publ. von The Enc. of Urban Legends (Santa Barbara u. a. 2001, 22012) beschäftigt sich B. weiter mit der Gattung8. Bereits 1993 entwickelte B. ein Typisierungssystem für die Gattung, das die von ihm selbst publizierten Texte nach zehn themenorientierten Gesichtspunkten klassifiziert9: (1) Legends about Automobiles. ⫺ (2) Legends about Animals. ⫺ (3) Horror Legends. ⫺ (4) Accident Legends. ⫺ (5) Sex and Scandal Legends. ⫺ (6) Crime Legends. ⫺ (7) Business and Professional Legends. ⫺ (8) Legends about Governments. ⫺ (9) Celebrity Rumors and Legends. ⫺ (10) Academic Legends. 1
Thursby, J. S.: J. H. B. and the Urban Legend. In: Folklore in Utah. A History and Guide to Resource. ed. D. Stanley. Logan 2004, 97⫺102. ⫺ 2 B., J. H.: Norway’s Askeladden. The Unpromising Hero and Junior Right. In: JAFL 72 (1959) 14⫺23. ⫺ 3 cf. auch id.: The Folktale Origin of The Taming of the Shrew. In: Shakespeare Quart. 17 (1966) 345⫺359; id.: The Taming of the Shrew in the United States. In: id. (ed.): The Study of American Folklore. N. Y. 1968, 304⫺316; id.: The Taming of the Shrew. In: Enc. of Folklore and Literature. ed. M. E. Brown/ B. A. Rosenberg. Santa Barbara u. a. 1998, 645 sq. ⫺ 4 id.: Len Henry. North Idaho Munchausen. In: Northwest Folklore 1 (1965) 11⫺19. ⫺ 5 id.: The Study of American Folklore. N. Y. 1968 (41998); cf. auch id.: On Being a Folklorist. In: Missouri Folklore Soc. J. 25 (2003) 1⫺17. ⫺ 6 id.: A Guide
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Büchli, Arnold
for Collectors of Folklore in Utah. Salt Lake City 1971. ⫺ 7 cf. EM 11, 1042. ⫺ 8 B., J.: The Vanishing ,Urban Legend‘. In: Midwestern Folklore 30,2 (2004) 5⫺20. ⫺ 9 id.: A Type-Index of Urban Legends. In: id.: The Baby Train […]. N. Y. 1993, 325⫺ 347; cf. Schneider, I.: Contemporary Legends ⫺ Sagen der Gegenwart. (Unveröff. Habilitationsschrift) Innsbruck 2001, 210 sq.
Provo
Jacqueline Thursby
Büchli, Arnold, *Lenzburg 27. 5. 1885, † Chur 13. 10. 1970, bedeutendster schweiz. Sagensammler1. B. studierte zunächst Theologie und danach Altphilologie und Germanistik an den Univ.en Basel (1906⫺09), München (1909⫺10) und Freiburg im Breisgau (1910). 1911 besuchte er in Zürich Vorlesungen bei dem Dialektologen A. Bachmann. Aus wirtschaftlichen Gründen mußte B. die Univ. 1911 verlassen; im selben Jahr legte er das aargau. Bezirkslehrerexamen für Deutsch, Latein und Griechisch ab und arbeitete danach als Lehrer. 1942 ließ er sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen und zog nach Chur, wo er bis zu seinem Tod freiberuflich als Feldforscher tätig war. Schon in den 1930er Jahren hatte B. systematisch mit dem Sammeln von Sagen in den Tälern des dreisprachigen (dt., ital., rätorom.) Kantons Graubünden begonnen. Die zu B.s Lebzeiten erschienenen zwei Bände der Mythol. Landeskunde von Graubünden (Aarau 1958/66) wurden für die Neuausgabe von U. Brunold-Bigler mit unveröff. Materialien aus B.s Nachlaß sowie durch einen 3. Textband und einen Reg.- und Einführungsband ergänzt2. Die Herausgeberin zeichnet darin das wissenschaftsgeschichtliche Umfeld der Slg und deren Rezeption nach. Da B. die sprachliche und inhaltliche Authentizität der Slgen von C. J Decurtins und D. J Jecklin in Frage stellte3, verzichtete er in seinen Publ.en der aufgezeichneten Texte bewußt auf eine inhaltliche Bearbeitung und beließ den verwendeten ,restringierten Kode‘, mit dem Erzählern und Erzählerinnen „viel Inhalt auf kurzer Strecke“4 wiedergeben. Dennoch lassen sich archaisierende und purifizierende Eingriffe bei der Wiedergabe der Mundart ausmachen. In dieser Hinsicht waren die Walserforscher W. Schott und P. Zinsli B.s wiss. Vorbilder5.
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Als erster Sammler in der Schweiz ordnete B. seine Materialien geogr. an, ließ innerhalb der erforschten Ortschaft die erzählenden Individuen vor dem Hintergrund ihrer Biogr.n zu Wort kommen und fügte Photographien von Landschaften, Dörfern und den Erzählern bei. B. befragte ca 1000 Personen, davon die Hälfte Frauen. Sein Bewußtsein von der Bedeutung des kommunikativen Kontexts der Volksüberlieferung geht auf die dt. Erzählforscher F. J Ranke, O. Brinkmann und G. J Henßen zurück. Allerdings war B. auch durch die J Mythol. Schule beeinflußt. Die Täler des Alpenkantons Graubünden betrachtete er ebenso wie E. L. Rochholz6, F. J. J Vonbun und C. Caminada7 als Reliktgebiete der rät. Mythologie. Für seine Feldforschungen benutzte B. mit großer Wahrscheinlichkeit den Fragebogen über die schweiz. Vk., den H. Bächtold-Stäubli erstellt hatte8. Aufgrund der Vorgaben des Fragebogens lag B.s Schwerpunkt auf der sog. niederen Mythologie9, weshalb Sagen mit spezifisch kathol. Glaubensinhalten in seinen Slgen proportional unterrepräsentiert sind10. Die große Anzahl der Totensagen ist bedingt durch die Interessendominanzen der mehrheitlich betagten Erzähler und Erzählerinnen, die es „selber nicht mehr weit zum Friedhof“ hatten11. Zahlreiche Hexensagen, auch solche, welche die Fähigkeit der Tierverwandlung12 thematisieren, belegen den starken Einfluß von Hexenprozeßakten auf das mündl. Erzählen (in den Drei Bünden dauerten die Verfolgungen bis ca 1750)13. 1
Röhrich, L.: Die Sagenslgen der alemann. Schweiz in der Gegenwart. In: id.: Sage und Märchen. Fbg/ Basel/Wien 1976, 58⫺81, hier 60⫺63; Doornkaat, H. ten: A. B. (1885⫺1970). In: Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. ed. R. Schenda/H. ten Doornkaat. Bern/Stg. 1988, 521⫺597; Brunold-Bigler, U.: A. B. und seine „Mythol. Landeskunde von Graubünden“. In: B., A.: Mythol. Landeskunde von Graubünden 1⫺4. ed. U. Brunold-Bigler. Disentis 2 1989/31989/90/92, hier t. 4, 5⫺35; Schenda, R.: Schweizer Sagen. In: Hb. der schweiz. Volkskultur 3. ed. P. Hugger. Zürich 1992, 1279⫺1293, hier 1289 sq. ⫺ 2 B. (wie not. 1) t. 1⫺4. ⫺ 3 Brunold-Bigler (wie not. 1) 22 sq. ⫺ 4 Petzoldt, L.: Probleme und Dimensionen des Erzählerischen in der Lit. und Volksdichtung. In: Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ed. L. Röhrich/E. Lindig. Tübingen 1989, 67⫺81, hier 74. ⫺ 5 BrunoldBigler (wie not. 1) 21 sq.; ead.: Rekonstruktionsversuche integraler Erzählwirklichkeit. In: Das Bild der
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Burde-Schneidewind, Gisela
Welt in der Volkserzählung. ed. L. Petzoldt u. a. Ffm. 1993, 143⫺162, hier 152 sq. ⫺ 6 Heule, M.: Ernst Ludwig Rochholz (1809⫺1892). In: Schenda/ten Doornkaat (wie not. 1) 245⫺273. ⫺ 7 cf. Caminada, C.: Die verzauberten Täler. Die urgeschichtlichen Kulte und Bräuche im alten Rätien. Olten/Fbg 1961; cf. Schenda/ten Doornkaat (wie not. 1) 555 sq. ⫺ 8 Brunold-Bigler (wie not. 1) 20; Abdruck des Fragebogens in SAVk. 31 (1931) 101⫺142. ⫺ 9 EM 9, 1080. ⫺ 10 Brunold-Bigler (wie not. 1) 17. ⫺ 11 B. (wie not. 1) t. 1, XXIV. ⫺ 12 Brunold-Bigler, U.: Wolfsmensch und Bärenhexe. Tiere in Sagen und Märchen aus den Alpen. Chur 2010. ⫺ 13 Giger, H.: Hexenwahn und Hexenprozesse in der Surselva. Chur 2001, 27⫺29.
Zizers
Ursula Brunold-Bigler
Burde-Schneidewind, Gisela (geb. Schneidewind), *Radeburg (bei Dresden) 2. 7. 1920, † Linz 27. 7. 1992, dt. Erzählforscherin. Sie war 1945⫺47 Neulehrerin in Großröhrsdorf (Oberlausitz) und studierte ab 1947 in Dresden Germanistik und Vk. (bei A. Spamer) und ab 1949 in Leipzig Germanistik, Anglistik und Nordistik. Nach ihrem Diplom in Germanistik (1952) wurde sie Assistentin bei T. Frings, der sie 1955 mit einer sprachwiss. Diss. promovierte1. 1956 holte W. J Steinitz sie ans Inst. für dt. Vk. der Akad. der Wiss.en zu Berlin, an dem sie bis 1987 tätig war. B.-S. war Redakteurin und Mitherausgeberin der Reihe Volksmärchen des Akad.-Verlags (B. 1957⫺ 90), in der 15 Bände erschienen2. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag auf dem Gebiet der Sagenforschung, auf dem sie sich als exponierte Vertreterin der Steinitz-Schule vor allem der Unters. des sozialkritischen Gehalts sowie des Wirklichkeitsbezugs der dt. Volkssage widmete (J Sozialkritik). Dafür bot die Slg R. J Wossidlos aus Mecklenburg reiches Material, das B.-S. in mehreren Aufsätzen auswertete3 und in der Edition Herr und Knecht. Antifeudale Sagen aus Mecklenburg (B. 1960) als 1. Band der Reihe Dt. Sagen demokratischen Charakters publizierte. In der Folge weitete sie die Thematik räumlich und zeitlich aus und legte mit ähnlicher Ausrichtung und unter Nutzung von gedrucktem und archiviertem Sagengut in derselben Reihe die Bände Hist. Volkssagen zwischen Elbe und Niederrhein (B. 1969, 21973) und (gemeinsam mit C. Agricola) aus Süddeutschland überlieferte
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Hist. Volkssagen aus dem 13.⫺19. Jh. (B. 1977) vor. In diesem Zusammenhang entstanden ebenfalls mehrere Aufsätze4. Die folgende Sagenedition Das steinerne Weib. Volkssagen aus fünf Jh.en (Rostock 1979) bezog neben hist. Sagen auch die wichtigsten mythischen Sagen des dt. Sprachraums mit ein. Für H. J Strobachs Einführungsband in die dt. Volksüberlieferung verfaßte B.-S. den Abschnitt zur Sage5. In den 1960er Jahren engagierte sich B.-S. zusammen mit I.-M. J Greverus, L. J Röhrich und I. Müller für einen dt. Sagenkatalog6, dessen 1. Teil über die Totensagen 1967 erschien7; dieses dt.-dt. Projekt konnte jedoch aus politischen Gründen nicht fortgeführt werden8. Aus B.-S.s zeitgleichen Erhebungen zu einer mecklenburg. Ortsmonographie über das Dorf Damshagen9 erwuchs ein auf hist. Sagen und Erlebnisberichten der Einwohner basierender Aufsatz zur Geschichte und Erzählüberlieferung dieses Ortes10. Daneben befaßte sich B.S. mit allg. Fragen der Erzählforschung11 und trug zu einer von Strobach initiierten Geschichte der dt. Volksdichtung bei12. Der Artikel J Herr und Knecht in der EM bietet eine Art Resümee ihrer Forschungen. 1
cf. S., G.: Die Wortsippe ,Arbeit‘ und ihre Bedeutungskreise in den ahd. Sprachdenkmälern. In: Beitr.e zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 81 (1959) 174⫺187 (Auszüge). ⫺ 2 Neumann, S.: G. B.-S. 60 Jahre. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 23, N. F. 8 (1980) 219 sq.; Martischnig, M.: Volkskundler in der Dt. Demokratischen Republik heute. Wien 1990, 29⫺31; Strobach, H.: G. B.-S. (1920⫺1992). In: Fabula 34 (1993) 105 sq. ⫺ 3 Schneidewind, G.: Der Sagenkreis um den mecklenburg. Gutsherrn Georg Haberland. In: DJbfVk. 5 (1959) 8⫺43; ead.: Ein hist. Ereignis des 17. Jh.s in Mecklenburg und seine Überlieferung in der Volkssage. In: Kongreß Kiel/ Kopenhagen 1959, 378⫺384; ead.: Die Volkserzählung bei Fritz Reuter. In: Fritz Reuter. Festschr. zum 150. Geburtstag. Rostock 1960, 156⫺170; ead.: Zu einigen antifeudalen Sagentypen. In: DJbfVk. 8 (1962) 159⫺165. ⫺ 4 B.-S.: Der Bauer in der dt. Volkssage. ibid. 11 (1965) (Festschr. W. Steinitz) 35⫺ 45; ead.: Zur Frage der folkloristischen und literar. Sagentradierung. In: Leˇtopis C 11/12 (1968) 27⫺37; ead.: Bauernkriege des 16. Jh.s in der Sagenüberlieferung. In: Der arm man 1525. Volkskundliche Studien. ed. H. Strobach. B. 1975, 274⫺287. ⫺ 5 ead.: Sage. In: Dt. Volksdichtung. ed. H. Strobach. Lpz. 1979 (Ffm. 1979), 83⫺117. ⫺ 6 ead.: Ber. über eine vorbereitende Besprechung für einen dt. Sagenkata-
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Calame-Griaule, Genevie`ve
log. In: Tagung der „Internat. Soc. for Folk-Narrative Research“ in Antwerp (6.⫺8. Sept. 1962). Antw. 1963, 86⫺91; ead.: Zur Katalogisierung hist. Volkssagen. In: Acta Ethnographica 13 (1964) 27⫺41; ead.: Ergebnisse der Zusammenarbeit tschechoslowak. und dt. Folkloristen auf dem Gebiet der Sagenkatalogisierung. In: DJbfVk. 12 (1966) 76⫺78. ⫺ 7 ead./Greverus, I.-M.: Dt. Sagenkatalog. Vorber. ibid. 13 (1967) 339⫺345; Müller, I./Röhrich, L.: X. Der Tod und die Toten. ibid., 346⫺397. ⫺ 8 cf. Kehl, M.: Zur dt.-dt. Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sagenforschung zwischen 1959 und 1963. In: Thüringer Hefte für Vk. 4 (1995) 7⫺45. ⫺ 9 B.-S., G.: Damshagen. Vom Gutsarbeiterdorf zum sozialistischen Dorf. In: Probleme und Methoden volkskundlicher Gegenwartsforschung. ed. W. Jacobeit/P. Nedo. B. 1969, 33⫺41. ⫺ 10 ead.: Damshagen ⫺ Erzählüberlieferungen aus der Geschichte des Dorfes. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte 18, N. F. 3 (1975) 106⫺132. ⫺ 11 ead.: Funktion und Tradierung in der Volksprosa bis zum Ausgang des 19. Jh.s. ibid. 23, N. F. 8 (1980) 41⫺47. ⫺ 12 ead.: Volksdichtung in der frühen Feudalgesellschaft. In: Geschichte der dt. Volksdichtung. ed. H. Strobach. B. 1981, 23⫺38; ead.: Volksdichtung 1789⫺1870. ibid., 85⫺112; ead.: Volksdichtung im Faschismus. ibid., 159⫺166.
Rostock
Siegfried Neumann
Calame-Griaule, Genevie`ve, *18. 11. 1924 Paris, † 23. 8. 2013 Fontainebleau, frz. Ethnologin mit Forschungsschwerpunkt Westafrika; Tochter des Ethnologen Marcel Griaule (1898⫺1956). G. Griaule studierte Klassische Lit. und Philologie sowie Arabisch an der E´cole Nationale des Langues Orientales Vivantes in Paris; dort erwarb sie 1949 die Agre´gation für Grammatik. 1951 begann sie, für das Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris zu forschen; 1952 heiratete sie den frz. Geiger Blaise Calame. 1965 reichte C.-G. an der Sorbonne in Paris ihre aus zwei Publ.en zu Ethnographie und Sprache der westafrik. Dogon bestehende The`se d’E´tat ein1; 1966⫺90 war sie Directrice de recherche am CNRS, für das sie bis 2011 aktiv war. 1976 begründete C.-G. gemeinsam mit Kollegen die Zs. Cahiers de litte´rature orale, die sie bis 2011 als Herausgeberin betreute. 1989 wurde ihr eine Festschrift gewidmet2. 1946 begleitete Griaule ihren Vater, der seit 1931 im westafrik. Bandiagara-Felsmassiv ethnolog. Feldforschungen betrieb, mit der Absicht, ein Wb. der Dogon-Sprache zu erstellen.
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Bereits bei diesem ersten Aufenthalt in Afrika sammelte sie Erzählungen, zunächst als Qu. für das geplante Wb., in zunehmendem Maße aber aus Interesse an den Geschichten selbst. Anfangs erzählten ihr Kinder relativ schlichte Tiergeschichten; später bekam sie auch intensiveren Kontakt zu anerkannten Erzählerinnen und Erzählern3. Darüber hinaus untersuchte C.-G. Fragen im Umfeld sprachlicher Äußerungen: Spracherwerb und -produktion, die Rolle der Sprache im sozialen Leben, ihre mythol. Verankerung und ihre Stellung in der schriftlosen Gesellschaft der Dogon4. An der mündl. Überlieferung, bes. an märchenhaften Erzählungen, interessierte C.-G., in welcher Weise diese auf den Prozeß des gleichzeitigen Erwerbs von Sprache und Kultur einwirken. Zu diesem Zweck erarbeitete sie Forschungs- und Analysemethoden, die den Beziehungen zwischen sprachlichen und kulturellen Sachverhalten Rechnung tragen. Durch ihre methodischen und theoretischen Ansätze wurde sie in Frankreich zur Pionierin der Ethnolinguistik, bes. der Erforschung der mündl. Überlieferung5. Diese stand auch im Mittelpunkt der Arbeit einer von ihr geleiteten Forschergruppe am CNRS6. Mit dem Ziel, die mündl. Erzählüberlieferung im Prozeß der Performanz zu beschreiben und dabei die vier Hauptelemente Text (Botschaft), Kontext, Vermittler und Sprachäußerung sowie auch das Publikum und die Interaktion gleichermaßen zu berücksichtigen, dokumentierte C.-G. das Erzählen in authentischen Erzählsituationen. Gemeinsam mit E. Bernus, mit dem sie in den 1970er⫺80er Jahren Feldforschungen bei einer Gruppe von Tuareg (Isawaghen) in Niger unternahm, verwendete sie die damals innovativen Erhebungstechniken Photographie und Filmaufzeichnung7. Sie analysierte Gestik, Mimik und Körperhaltung der Erzähler, erstellte vergleichende Analysen der Gebärdensprache von Frauen, männlichen jungen Adeligen, Schmieden und Abkömmlingen von Sklaven und beschrieb Unterschiede, die nicht nur durch die individuelle Erzählweise8, sondern auch durch gesellschaftliche Restriktionen bedingt waren9. Über Frankreich hinaus zeigt die Arbeit von C.-G. überall dort Nachwirkung, wo die Erforschung der J Litte´rature orale eine Vorrangstellung einnimmt, bes. in den Ländern Afrikas10.
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Calvino, Italo
1 C.-G., G.: Dict. dogon, dialecte to`ro: langue et civilisation. P. 1968; ead.: Ethnologie et langage. La parole chez les Dogon. P. 1965 (Nachdr. Limoges 2009). ⫺ 2 Graines de parole: puissance du verbe et traditions orales. Festschr. G. C.-G. P. 1989, 429⫺ 441. ⫺ 3 cf. C.-G., G./Gay-Para, P.: La Parole du monde. P. 2002. ⫺ 4 cf. C.-G., G. (wie not. 1); Bilot, A./Bohbot, M./C.-G., G./Ndiaye, F.: Masques du pays Dogon. P. 2003. ⫺ 5 cf. C.-G., G. (ed.): Le The`me de l’arbre dans les contes africains 1⫺3. P. 1969/70/74; ead.: Pour une E´tude ethnolinguistique des litte´ratures orales africaines. In: Langages 18 (1970) 22⫺47; ead. (ed.): La Me`re traıˆtresse et le tueur de dragons. Permanence et me´tamorphoses du conte populaire. P. 1975; ead./Görög-Karady, V./ Chiche, M.: Le Conte. Pourquoi? Comment? Analyse des contes, proble`mes de me´thodes. P. 1984; C.-G., G.: Des Cauris au marche´. Essais sur des contes africains. P. 1987. ⫺ 6 ead. (ed.): Langage et cultures africaines. Essais d’ethnolinguistique. P. 1977. ⫺ 7 ead./Bernus, E.: Geste du conteur et son image. P. 1981. ⫺ 8 C.-G., G.: Le Langage gestuel des conteurs Touareg. In: J. des Africanistes 41 (1971) 252 sq.; ead.: Pour une E´tude des gestes narratifs. In: Langage et Cultures africaines. ed. ead. P. ´ tat 1977, 303⫺359; ead.: La Gestuelle de conteurs. E d’une recherche. In: Gentili, B./Paioni, G. (edd.): Oralita` Cultura, letteratura, discorso. Rom 1985, 301⫺314; ead.: Dites-le avec des Gestes. Comment e´tudier la gestuelle des conteurs. In: Cahiers de litte´rature orale 63⫺64 (2008) 83⫺108 (Sonderheft „Pratiques d’enqueˆtes“). ⫺ 9 ead.: Contes tendres, contes cruels du Sahel nige´rien. P. 2002. ⫺ 10 z. B. Kabore´, O.: Les Oiseaux s’e´battent. Chansons enfantines au Burkina-Faso. P. 1993; Gue´dou, G. A. G.: Xo´ et gbe`. Langage et culture chez les Fon (Be´nin). P. 1985; Ndiaye, R.: La Place de la femme dans les rites au Se´ne´gal. Dakar 1986.
Paris
Ce´cile Leguy
Calvino, Italo, *Santiago de las Vegas (Kuba) 15. 10. 1923, † Siena 19. 9. 1985, ital. Schriftsteller1. C. studierte ab 1941 zunächst Agrarwissenschaft, danach Lit.wissenschaft in Turin. 1944 trat er in die Kommunistische Partei Italiens (KPI) ein und nahm an Partisanenkämpfen gegen ital. und dt. Faschisten teil. 1947 schloß er das Studium der Lit.wissenschaft mit einer Arbeit über Joseph Conrad (1857⫺1924) ab. 1947⫺49 arbeitete er als Kulturredakteur der KPI-Ztgen L’Unita` und Rinascita; danach war er bis zu seinem Tod als Lektor für den Turiner Verlag Einaudi tätig (ab 1961 als externer Mitarbeiter). 1957 trat C. aus der KPI aus. Im selben Jahr hatte er mit
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dem Roman Il barone rampante seinen internat. Durchbruch als Autor. 1967⫺80 lebte er in Paris, danach in Rom. Als Autor mehrerer Romane sowie zahlreicher Erzählungen, in denen das Märchenhafte eine wichtige Komponente darstellt2, wurde C. Ende 1953 die Aufgabe übertragen, für die Einaudi-Reihe Classici della fiaba eine populäre nationale Märchensammlung für Kinder und Erwachsene zusammenzustellen3. Als Berater standen ihm C. G. Vidossi, P. J Toschi und G. J Cocchiara zur Seite. C. griff Cocchiaras Empfehlung auf, sich an AaTh zu orientieren, entwickelte aber eine eigene Klassifizierungsmethode. Von V. Ja. J Propp übernahm er die Auffassung des Ursprungs der Märchen in archaischen Riten4. 1956 erschien C.s Ausg. Fiabe italiane, eine Slg mit einer langen hist.-dokumentarischen und methodologischen Einführung, ausführlichen Kommentaren zu den 200 Texten5 und einer Bibliogr. Die von C. geogr. angeordneten Märchen stammen zumeist aus bekannten Ausg.n des späten 19./frühen 20. Jh.s. Beinahe alle ital. Regionen6 und ca 160 Erzähltypen sind vertreten7. Auswahlkriterien waren für C. neben dem Regionalkriterium Repräsentativität, narrative Qualität sowie Vollständigkeit. Zaubermärchen machen die Hälfte der Slg aus, gefolgt von Novellen-, Legenden-, Tiermärchen sowie Anekdoten, Schwänken und einigen Lokalsagen. C. übersetzte Dialektmärchen in die Schriftsprache, d. h. in ein Standarditalienisch, das mundartliche Spuren nicht ganz tilgt; sechs Texte wurden aus dem Französischen und fünf aus dem Deutschen übersetzt8. Er bearbeitete alle Texte intensiv sprachlich-stilistisch, und ähnlich wie J. und vor allem W. J Grimm, auf die er sich ausdrücklich berief, sah er es als gerechtfertigt an, zahlreiche Texteingriffe vorzunehmen. Die Umarbeitung entsprach dem Ziel, eine in sich geschlossene und lesbare Anthologie anzufertigen9. Darüber hinaus ist C.s Bearbeitungsmethode vor allem durch vier Merkmale gekennzeichnet: Tilgung von Spuren des mündl. Vortrags, Beachtung des Erzählrhythmus, Suche nach einer stringenten Erzähllogik sowie Betonung des Ironischen10. Die Fiabe italiane erfuhren eine sehr breite und anhaltende Rezeption und wurden in zahlreiche Sprachen übertragen11.
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Camarena Laucirica, Julio
C. steht in der Tradition der großen Märchensammler des 19. Jh.s12, ohne deren ideologische Prämissen zu teilen13. Für seine Poetik hatte die Arbeit an der Märchensammlung die Bedeutung eines Marksteins bzw. Wendepunkts: Die dadurch gewonnene Einsicht in die unendlichen kombinatorischen Möglichkeiten des Materials mündete in seine produktionsästhetische Theorie des Erzählens14 als „Experiment mit Bauelementen möglicher Geschichten“15 ein. Die klare, symbolisch verdichtete Märchensprache trug dazu bei, Begriffe von Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Durchsichtigkeit und Vielschichtigkeit ausreifen zu lassen, die C. als ,Vorschläge‘ für die Lit. ,des nächsten Jahrtausends‘, als sein Vermächtnis und zugleich als Manifest des reifen ital. Postmodernismus hinterließ16. 1
Benussi, C.: Introduzione a C. Bari 1989; Barenghi, M.: C. Bologna 2009. ⫺ 2 C., I.: La tradizione popolare nelle fiabe. In: Storia d’Italia 5. ed. R. Romano/ C. Vivanti. Torino 1973, 1251⫺1264; Barenghi, M.: Il fabiesco nella narrativa di C. In: Inchiesta sulle fate. I. C. e la fiaba. ed. D. Frigessi. Bergamo 1988, 27⫺37; Falcetto, B.: Fiaba e tradizione letteraria. ibid., 39⫺60; Pagetti, C.: I. C., il fantastico, la fantascienza. ibid., 61⫺72; C., I.: Sulla fiaba. ed. M. Lavagetto. Torino 1988; Salvemini, F.: Il realismo fantastico di I. C. Rom 2001; Benson, S.: Cycles of Influence. Fiction, Folktales, Theory. Detroit 2003, 67⫺114; Deidier, R.: Le forme del tempo. Miti, fiabe, immagini di I. C. Palermo 2004, 41⫺76; Nistico`, R.: C. magico. La fiaba come destino. In: La fiaba e altri frammenti di narrazione popolare. ed. L. Morbiato. Florenz 2006, 113⫺124. ⫺ 3 C., I.: Lettere 1940⫺1985. ed. L. Baranelli. Mailand 2000; id.: Cocchiara e le „Fiabe italiane“. In: Demologia e folklore. Studi in memoria di Giuseppe Cocchiara. ed. I. Baumer u. a. Palermo 1974, 395⫺404; Pavese, C.: Lettere 1926⫺1950. t. 2. ed. L. Mondo/I. C. Turin 1968; Clerici, L.: Il progetto editoriale delle Fiabe italiane. In: Frigessi (wie not. 2) 73⫺94. ⫺ 4 C., I.: Fiabe italiane raccolte dalla tradizione popolare durante gli ultimi cento anni e trascritte in lingua dai vari dialetti. Turin 1956, XXXIX. ⫺ 5 Rez. W. Anderson in Fabula 1 (1958) 283⫺287, hier 285. ⫺ 6 Cusatelli, G.: Il modello dei Grimm. In: Frigessi (wie not. 2) 106 sq. ⫺ 7 Ausführliche Klassifikation im EM-Archiv, Göttingen. ⫺ 8 Andrews, J. B.: Contes ligures. P. 1892, num. 2⫺7; Gonzenbach, num. 185⫺187; Schneller, C.: Märchen und Sagen aus Wälschtyrol. Innsbruck 1867, num. 42, 43. ⫺ 9 Mugnaini, F.: Riscrittura d’autore e racconto del documento. In: Frigessi (wie not. 2) 121⫺146 (zu toskan. Märchen). ⫺ 10 Cruso, S.: Guida alla lettura di I. C. Fiabe italiane. Rom 2007, bes. 15⫺46 und 115⫺117; ferner Beckwith, M.: I. C. and the Nature of Italian
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Folktales. In: Italica 64 (1987) 244⫺262. ⫺ 11 u. a. C., I.: Contes italiens. Übers. E. Bonan. [P.] 1959; id.: Contes populaires italiens 1⫺4. P. 1980⫺ 84; id.: Italian Fables. Übers. L. Brigante. N. Y. 1959; id.: Italian Folktales. Übers. G. Martin. Harmondsworth/N. Y. 1980; id.: Ital. Märchen. Übers. L. Rüdiger. Zürich 1975; id.: Die Braut, die von der Luft lebte und andere ital. Märchen. Übers. B. Kroeber. Mü./Wien 1993; id.: Cuentos populares italianos. Übers. C. Gardini. Madrid 1990; id.: Il favolista contemporaneo (1981). In: cf. id.: Sono nato in America … Interviste 1951⫺1985. ed. L. Baranelli. Mailand 2012, 448⫺463; Beckwith (wie not. 10). ⫺ 12 Clemente, P.: Documento del racconto e racconto del documento. In: Frigessi (wie not. 2) 109⫺119. ⫺ 13 C., I.: Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millennio. Mailand 1988, bes. 37, 47; id.: Lettere 1940⫺1985. ed. L. Baranelli. Mailand 2000, bes. 429⫺433, 449⫺451, 457⫺460. ⫺ 14 id.: Cibernetica e fantasmi. Appunti sulla narrativa come processo combinatorio. 1967. In: id.: Saggi 1945⫺1985. ed. M. Barenghi. Mailand 1995, 205⫺225 (dt.: Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Lit. und Gesellschaft. Mü./Wien 1984). ⫺ 15 Schmitz-Emans, M.: Seetiefen und Seelentiefen. Literar. Spiegelungen innerer und äußerer Fremde. Würzburg 2003, 17; ead.: Gespenstische Rede. In: Gespenster. Erscheinungen, Medien, Theorien. ed. M. Baßler u. a. Würzburg 2005, 248. ⫺ 16 C. 1988 (wie not. 13).
Zürich
Luisa Rubini
Camarena Laucirica, Julio, *Ciudad Real 21. 2. 1949, † Madrid 22. 11. 2004, span. Erzählforscher1. C. L. studierte 1967⫺71 Wirtschaftswissenschaften an der Univ. Bilbao (ohne Abschluß). Seit 1972 hatte er diverse Posten im Wirtschaftsministerium in Madrid inne. Auf dem Gebiet der Erzählforschung arbeitete der autodidaktisch gebildete C. L. Zeit seines Lebens unabhängig und ohne institutionelle Anbindung. Seine umfangreiche Spezialbibliothek wird heute im Centro de Estudios Cervantinos in Alcala´ de Henares aufbewahrt. Anfang der 1980er Jahre begann C. L., bei Verwandten, Nachbarn und Freunden in Piedrabuena (Provinz Ciudad Real), dem Heimatort seines Vaters, Erzählungen aus der mündl. Überlieferung aufzuzeichnen; über die Dörfer der näheren Umgebung dehnte er seine Feldforschungen nach und nach auf die Provinzen Madrid, Cuenca und Toledo aus. In einem zweiten Schritt fertigte er von den auf Tonband aufgezeichneten Erzählungen peinlich genaue Abschriften an2. Die Tier- und
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Cardigos dos Reis, Isabel Cristina David
Zaubermärchen aus der Mancha veröffentlichte er u. d. T. Cuentos tradicionales recopilados en la provincia de Ciudad Real (Ciudad Real 1984)3. Kurz darauf schloß sich C. L. einer ethnogr.-anthropol. Forschergruppe an, die J. Caro Baroja am Consejo Superior de Investigaciones Cientı´ficas in Madrid leitete. Als treibende Kraft sorgte er für die Herausgabe der bis dahin unveröff. Sammlung Cuentos populares de Castilla y Leo´n 1⫺2 (Madrid 1987/88), die der US-amerik. Forscher A. M. J Espinosa junior in den 1930er Jahren zusammengetragen hatte. In seiner Anthologie Cuentos de los siete vientos 1⫺2 (Madrid 1987/88) stellte C. L. Erzählungen aus der mündl. Überlieferung der span.sprachigen Regionen zusammen. Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre arbeitete er mit dem Seminar Mene´ndez Pidal in Madrid zusammen, an dem eine große Balladensammlung aus der Provinz Leo´n vorbereitet wurde. C. L. selbst sammelte, überwiegend in seinen Ferien, in den Dörfern der Provinz Erzählungen, die er u. d. T. Cuentos tradicionales de Leo´n 1⫺2 (Madrid/Leo´n 1991) veröffentlichte. 1995 legte C. L. einen Katalog zu Volkserzählungen aus Kantabrien vor4. Seine Zusammenarbeit mit dem frz. Lit.wissenschaftler M. Chevalier, einem Spezialisten für die span. Lit. des 16./17. Jh.s, führte zur gemeinsamen Veröffentlichung der ersten vier Bände des span. Typenkatalogs, Cata´logo tipolo´gico del cuento folklo´rico espan˜ol (Madrid 1995/97/Alcala´ de Henares 2003/03), in dem sowohl kastil. als auch katalan., galic., bask. und sephard. Var.n aufgeschlüsselt werden. Die weiteren Bände des Katalogs blieben durch C. L.s frühen Tod ebenso unveröffentlicht wie seine Sammlung von Erzählungen, die er im Gebiet Las Hurdes (Provinz Ca´ceres) aufgezeichnet hatte. Von C. L.s weitgespannten Interessen zeugt eine Reihe von Aufsätzen, u. a. zu Reminiszenzen klassischer Mythen in der zeitgenössischen mündl. Überlieferung5, iber. Wolfsmythologie und span. Werwolfsagen6, span. und hispanoamerik. Fassungen von AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit7, der Spezifik der bask. Volkserzählung8, den in den span. Schelmenromanen des 16./17. Jh.s vorkommenden volkstümlichen Erzählungen9 und den Parallelen zu bibl. Erzählungen in der populären
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Überlieferung10. Zu dem dt.sprachigen Hb. zur Märchenforschung in Europa trug er die Artikel über Spanien und Portugal bei11. 1
Chevalier, M.: J. C. L. (1949⫺2004). In: Fabula 46 (2005) 328⫺330; Bibliografı´a de J. C. In: Estudos de literatura oral 11⫺12 (2005/06) 14⫺16 (Gedenkschrift J. C. L. ). ⫺ 2 C. L., J.: Los cuentos de tradicio´n oral en Castilla-La Mancha. In: I jornadas de estudio del folklore castellano-manchego. Cuenca 1983, 87⫺104. ⫺ 3 cf. auch id.: Cuentos tradicionales recopilados en la provincia de Ciudad Real 2. ed. J. M. Pedrosa/M. Ramı´rez Soto/F. Toledano Soto. Ciudad Real 2012. ⫺ 4 id.: Repertorio de los cuentos folklo´ricos en Cantabria. Santander 1995; cf. auch Gomarı´n Guirado, F./C. L., J.: Seis cuentos de tradicio´n oral en Cantabria. Santander 1994. ⫺ 5 C. L., J.: Algunos mitos cla´sicos en la tradicio´n oral castellano-manchega. In: II jornadas de etnologı´a de Castilla-La Mancha. Cuidad Real 1984, 127⫺156. ⫺ 6 id.: Mitologı´a del lobo en la Penı´nsula Ibe´rica. In: La leyenda. ed. J. P. Etienvre. Madrid 1989, 267⫺ 289. ⫺ 7 id.: La bella durmiente en la tradicio´n oral ibe´rica e ibero-americana. In: Revista de dialectologı´a y tradiciones populares 40 (1985) 259⫺278. ⫺ 8 id.: Las peculiaridades de la cuentı´stica vasca. In: Euskera 37 (1991) 405⫺432. ⫺ 9 id.: El cuento de tradicio´n oral y la novela picaresca. In: Revista de dialectologı´a y tradiciones populares 43 (1988) 67⫺ 86. ⫺ 10 id.: La tradicio´n oral en el Antiguo Testamento. Aproximacio´n al legado de los Patriarcas. In: Estudos de literatura oral 9⫺10 (2003/04) 57⫺78; 11⫺12 (2005/06) 33⫺49. ⫺ 11 id.: Das Märchen in Portugal. In: Märchen und Märchenforschung in Europa. ed. D. Röth/W. Kahn. Ffm. 1993, 179⫺189; id.: Das Märchen in Spanien. ibid., 257⫺268.
Madrid
Jose´ Manuel Pedrosa
Cardigos dos Reis, Isabel Cristina David, *Lissabon 25. 11. 1942, port. Erzählforscherin. C. studierte 1962⫺66 an der Univ. Lissabon sowie 1966⫺68 an der Univ. Coimbra Engl. und Dt. Philologie (B. A. 1968). Nach dem Studium arbeitete sie freiberuflich als Übersetzerin1, lebte 1971⫺92 als Hausfrau und Mutter in London und studierte 1985⫺92 am King’s College Portugiesisch (M. A. 1988). 1992 wurde sie dort mit der Arbeit In and Out of Enchantment ([FFC 260] Hels. 1996) promoviert. 1993⫺2012 war C. an der Univ. der Algarve in Faro tätig, an der sie bis 2002 vorwiegend im Fach Portugiesisch Lehrveranstaltungen zu Themen aus dem Bereich der Erzählforschung abhielt. Seitdem widmet sie sich
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Carter, Angela Olive
ausschließlich der Arbeit in dem von ihr 1994 mitbegründeten Centro de Estudos Ataı´de Oliveira, das sie bis 2012 leitete; das Institut leistet Grundlagenforschung auf dem Gebiet der wiss. Erfassung der port. mündl. Erzählüberlieferung und organisiert Feldforschungen. 1995 gründete C. die Zs. Estudos de literatura oral, als deren Herausgeberin sie bis 2006 fungierte. 1997 initiierte sie den Aufbau des Arquivo Portugueˆs do Conto Tradicional, dessen Ziel die Dokumentation der port. Erzählüberlieferung ist (2013 über 9000 Einheiten). Auf dieser Grundlage erstellte C. als Hauptverantwortliche mit P. Correia und J. J. Dias Marques den 2006 in engl. Sprache veröff. port. Typenkatalog2. Dieser basiert auf dem System von AaTh/ ATU und zieht vergleichend auch eine Reihe von Regionalkatalogen heran; bes. eng war die Zusammenarbeit mit J. Camarena Laucirica und H. J Jason. Im port. Katalog sind 104 neue internat. Erzähltypen nachgewiesen; einige davon übernahm C. Noia Campos in ihren galic. Typenkatalog3. Seit 2006 baut C. zusammen mit Correia ein Archiv port. Sagen auf, dessen im Internet zugängliche Datenbank 2013 3500 Einheiten umfaßte. C. ist ferner Gründungsmitglied des Groupe de recherche europe´en sur les narrations orales (2003). C.s Diss., die das Zaubermärchen als logisch strukturierte, wenngleich rational nicht erschließbare Gattung in den Blick nimmt, ist von den Theorien des Londoner Ethnologen C. Knight4 beeinflußt. Anhand der port. Var.n von AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder, AaTh/ATU 516: Der treue J Johannes, The Little Snake (cf. AaTh 533*/ATU 404: The Blinded Bride) und AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht deutete C. den Dualismus von Verzauberung und Erlösung unter Bezug auf den weiblichen Zyklus5. Daneben hat C. eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht6; u. a. hat sie Märchen mit einer Verwandlung der Heldin (z. B. AaTh/ATU 510 A⫺B: J Cinderella) sowie Märchen mit Gegenspielerinnen (z. B. AaTh/ATU 480: Das gute und das schlechte J Mädchen) im Licht einer zyklischen weiblichen Lebenswirklichkeit untersucht7 oder Schuhe und ihren Gebrauch als Indiz für den Gegensatz zwischen männlichen und weiblichen Lebensbedingungen betrachtet8. Angeregt durch die Forschungen von M.-L. J Tene`ze beschäf-
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tigte sie sich darüber hinaus mit Gattungsproblemen9. Seit ihrer Pensionierung arbeitet C. an einer erw. port.sprachigen Fassung des port. Typenkatalogs. 1
cf. Gray, M.: Em nome de todos os meus. ed. M. Gallo. Amadora 1972; Knef, H.: O cavalo dado. Amadora 1973 (anhand der frz. Übers.). ⫺ 2 C., I. (unter Mitarbeit von P. Correia/J. J. Dias Marques): Catalogue of Portuguese Folktales (FFC 291). Helsinki 2006. ⫺ 3 Noia Campos. ⫺ 4 cf. Knight, C.: Blood Relations. Menstruation and the Origins of Culture. New Haven/L. 1991. ⫺ 5 Rez.en C. Bacchilega in Marvels and Tales 11 (1997) 200⫺202; A. Nenola in FF Network 15 (April 1998) 19⫺21; M. Stanonik in Traditiones 27 (1998) 315. ⫺ 6 z. B. C., I.: Finding a Voice. Silenced Maidens in the Symbolic World of Fairytales. In: Maidens, Snakes and Dragons. L. 1991, 51⫺70; ead.: La Dame de la mer. Une me´lusine portugaise. In: L’Imaginaire de la nation. ed. C.-G. Dubois. Bordeaux 1991, 185⫺192; ead.: Portuguese Fairytales. A Missing Piece in the European Jigsaw. In: Portuguese at Leeds. ed. L. Jesse. Leeds 1995, 73⫺97; ead.: Female Model, Male Worldview. An Analysis of Two Portuguese Fairytales. In: Petzoldt, L. (ed.): Folk Narrative and World View. Ffm. 1996, 133⫺144; ead.: Finding the Voices of Fairytales. In: Folklore and Gender. ed. L. Handoo/R. B. Bottigheimer. Mysore 1999, 95⫺102; ead.: Once upon a Time in Vale Judeu. In: Traditional Storytelling Today. ed. M. R. MacDonald. Chic./L. 1999, 281⫺284; ead.: Deux Contes qui se pensent entre eux. In: Cahiers de litte´rature orale 57⫺58 (2005) 77⫺85; ead.: The Enchanted Calendar of the ,Mouras Encantadas‘. In: Time and Space. ed. M. Mencej. Ljubljana 2008, 105⫺128; ead.: Portuguese Tales. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales. ed. D. Haase. Westport, Conn./L. 2008, 758⫺762; ead.: O prı´ncipe encantado em sapo e o sapo que nunca foi prı´ncipe. Ecos contrastantes de um mesmo conto tradicional. In: Miscelaˆnea de estudos 2. Festschr. M. M. G. Delille. Coimbra 2011, 811⫺822. ⫺ 7 ead.: Da fase a` face. Transmutacœ o˜es do tempo nos contos femininos. In: Estudos de literatura oral 2 (1996) 67⫺78. ⫺ 8 ead.: The Wearing and Shedding of Enchanted Shoes. ibid. 5 (1999) 219⫺228. ⫺ 9 ead.: Parvo ou hero´i? O uso da meta´fora nos contos jocosos e maravilhosos da tradicœ a˜o oral. In: A primavera toda para ti. Festschr. H. Macedo. Lissabon 2004, 283⫺287.
Faro
J. J. Dias Marques
Carter, Angela Olive (geb. Stalker), *Eastbourne (East Sussex) 7. 5. 1940, † London 16. 2. 1992, brit. Schriftstellerin1. Sie begann ihre berufliche Laufbahn 1959 als Journalistin beim Croydon Advertiser. 1962⫺65 studierte
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Carter, Angela Olive
sie an der Univ. Bristol Englisch mit Schwerpunkt ma. Lit. 1969⫺72 lebte sie in Japan2. 1976⫺87 lehrte sie kreatives Schreiben an Univ.en in England, den USA und Australien (Sheffield Univ., 1976⫺78; Brown Univ., Providence, 1980/81; Univ. of Adelaide, 1984; Univ. of East Anglia, Norwich, 1984⫺87). Sie schrieb u. a. Rez.en für die London Review of Books und verfaßte für die New Society und den Guardian Beitr.e über Mode, Essen und Film3. C.s schriftstellerisches Werk liegt an den Schnittstellen von Magischem Realismus und Neugotik, von Postmodernismus und Feminismus4. C. veröffentlichte vier Slgen mit Kurzgeschichten5, neun Romane, Hörspiele, Drehbücher, das Libretto der bislang nicht aufgeführten Oper Orlando: or, The Enigma of the Sexes und einige Schauspiele6, zwei Bände mit Gedichten sowie Kinderbücher7. Darüber hinaus gab sie u. a. zwei Märchenanthologien8 und zwei Bände mit Übers.en der Märchen von J Perrault9 heraus. C.s umfassendes Verständnis von Lit. als ,erzählt, nicht geschrieben ⫺ gehört, nicht gelesen‘10 betrifft bes. ihr Interesse am Zusammenspiel von Geschlechtlichkeit und Macht im Märchen11. Für C. waren Volkserzählungen eng verbunden mit der Welt der einfachen Leute12. Sie unterstrich den ,heroischen Optimismus‘13 des Märchens14, betrachtete die Gattung gleichzeitig aber auch als sexuell gewalttätig15. In zahlreichen Werken erfand C. das Märchen als Inspirationsquelle für ihr eigenes Schaffen neu16 ⫺ von ihren Romanen Fireworks (L. 1974) und The Magic Toyshop (L. 1967) über Nights at the Circus (L. 1981) bis hin zu American Ghosts and Old World Wonders (L. 1993)17. Dabei war es ihr stets ein Anliegen, die normative ideologische Funktion von Volkserzählungen zu untergraben und sich gegen die Infantilisierung von Märchen als Kinderliteratur auszusprechen. Aufgrund von C.s Einfluß sind engl.sprachige Schriftsteller und Schriftstellerinnen, denen das Märchen als zentraler Referenzpunkt dient, als ,A. C. Generation‘ bezeichnet worden18 ⫺ u. a. Margaret Atwood, Antonia Susan Byatt, Robert Coover, Salman Rushdie und Jeanette Winterson. C.s bekanntestes Experiment mit dem Märchen ist The Bloody Chamber (L. 1979), eine
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Slg von Kurzgeschichten, die Märchen wie AaTh/ATU 312: cf. J Mädchenmörder, AaTh/ ATU 545 B: Der gestiefelte J Kater, AaTh/ ATU 709: J Schneewittchen, AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit und AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen aufgreifen. C. trägt ausdrücklich verschiedene Versionen von AaTh/ATU 425: J Amor und Psyche und von AaTh/ATU 410 vor, führt z. T. moderne Requisiten in die Märchen ein oder vermischt diese mit Vampiroder Werwolfgeschichten. Auch in anderen Kurzgeschichten C.s finden sich Bezüge zu Märchen19. Frühe Kritiker von The Bloody Chamber betonten die provokative Assoziation von Sexualität und Märchen20. Durch interdisziplinär verankerte Interpretationen21 weiter erschlossen, umfaßt das Verständnis von C.s Schaffen zu Beginn des 21. Jh.s ihre Befürwortung demokratischer Kunstformen22 sowie ihre kreative Verwendung der Heterogenität und der Hybridität des Märchens als Intertext23. Der Film The Company of Wolves (USA 1984; Regie Neil Jordan), den C. mitgestaltete, greift ihre gleichnamige Kurzgeschichte von 1979 auf. Unter Verwendung von Elementen des Surrealismus und des Horrorfilms arbeitet er innerhalb der Rotkäppchen-Erzählung zusätzliche Geschichten als Traumsequenzen ein24. C.s Übers.en der Märchen von Perrault richten sich gegen eine ahist. Verschmelzung von Märchen zu mythisch verklärten oder in Art der Filme der J Disney-Studios romantisierten Erzählungen25. Damit weisen sie C. ebenso wie ihre eigenen Werke als eine subversive und ironische Kommentatorin aus, die populäre wie wiss. Umgangsweisen mit Märchen und märchenhafter Lit. maßgeblich beeinflußt hat. 1
Warner, M./Jordan, N./Coover, R.: Obituaries. A. C. In: The Independent (18.2.1992) 25; cf. allg. Sage, L. (ed.): Flesh and the Mirror. Essays on the Art of A. C. L. 1994; ead.: A. C. Plymouth 1994; Gamble, S.: A. C. Basingstoke 2009; Clapp, S.: A Card from A. C. L. 2012. ⫺ 2 cf. The Writer’s Imagination. Interviews with Major Internat. Women Novelists. ed. O. Kenyon. Bradford 1992, 23⫺33. ⫺ 3 C., A.: Nothing Sacred. Selected Writings. L. 1982; ead.: Expletives Deleted. L. 1992; ead.: Shaking a Leg. Journalism and Writings. ed. J. Uglow. L. 1997. ⫺ 4 Suleiman, S. R.: Subversive Intent. Gender, Politics, and the Avant-Garde. Cambr. 1990;
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Chesnutt, Michael James Stuart
Robinson, S.: A. C. and the Circus of Theory. In: ead.: Engendering the Subject. Gender and Self-Representation in Contemporary Women’s Fiction. Albany, N. Y. 1991, 77⫺134; Gamble, S.: A. C. Writing from the Front Line. Edinburgh 1997; Day, A.: A. C. The Rational Glass. Manchester 1998; Munford, R. (ed.): Re-Visiting A. C. Texts, Contexts, Intertexts. Basingstoke 2006; Benford, J.: Postmodern Feminist Fantasy. s. l. 2008; Andermahr, S./Phillips, L. (edd.): A. C. New Critical Readings. L. 2012. ⫺ 5 C., A.: Burning Your Boats. L. 1995. ⫺ 6 ead.: The Curious Room. ed. M. Bell. L. 1996. ⫺ 7 ead.: Donkey Prince. N. Y. 1970; ead.: Comic and Curious Cats. L. u. a. 1979; ead.: Sea-Cat and Dragon King. L. 2000; cf. Zipes, J.: Crossing Boundaries with Wise Girls. A. C.’s Fairy Tales for Children. In: Marvels & Tales 12 (1998) 147⫺154. ⫺ 8 C., A. (ed.): The Virago Book of Fairy Tales. L. 1990; ead. (ed.): The Second Virago Book of Fairy Tales. L. 1992. ⫺ 9 ead. (ed.): The Fairy Tales of Charles Perrault. L. 1977; ead. (ed.): Sleeping Beauty and Other Favourite Fairy Tales. L. 1982. ⫺ 10 ead. 1990 (wie not. 8) ix. ⫺ 11 Makinen, M.: A. C.’s „The Bloody Chamber“ and the Decolonisation of Feminine Sexuality. In: Feminist Review 42 (1992) 2⫺15. ⫺ 12 C. 1990 (wie not. 8) ix, xi. ⫺ 13 Warner, M.: From the Beast to the Blonde. On Fairy Tales and Their Tellers. L. 1994, 197. ⫺ 14 Roemer, D./Bacchilega, C. (edd.): A. C. and the Fairy Tale. Detroit 2001. ⫺ 15 Goldsworthy, K.: Interview. A. C. In: Meanjin 44,1 (1985) 4⫺13, hier 8. ⫺ 16 Clapp, S.: On Madness, Men, and Fairy Tales. In: The Independent (9.6.1991) 26 sq. ⫺ 17 cf. Warner, M.: A. C. Bottle Blonde, Double Drag. In: Sage, Flesh and the Mirror (wie not. 1) 243⫺256. ⫺ 18 Benson, S.: Introduction. In: id. (ed.): Contemporary Fiction and the Fairy Tale. Detroit 2008, 1⫺19, hier 2; cf. ferner id.: A. C. and the Literary Märchen. In: Roemer/Bacchilega (wie not. 14) 30⫺64; Sage, L.: A. C. The Fairy Tale. ibid., 65⫺82; Roemer, D. M./Bacchilega, C.: Introduction. ibid., 7⫺25; Harries, E. W.: Twice upon a Time. Women Writers and the History of the Fairy Tale. Princeton 2001. ⫺ 19 Ryan-Sautour, M.: Authorial Ghosts and Maternal Identity in A. C.’s „Ashputtle or The Mother’s Ghost. Three Versions of One Story“ [1987]. In: Marvels & Tales 25,1 (2011) 33⫺50; Langlois, J.: Andrew Borden’s Little Girl. Fairy-Tale Fragments in A. C.’s „The Fall River Axe Murders“ and „Lizzie’s Tiger“. In: Roemer/Bacchilega (wie not. 14) 204⫺ 224. ⫺ 20 Duncker, P.: Re-Imagining the Fairy Tales. A. C.’s Bloody Chambers. In: Literature and History 10,1 (1984) 3⫺14; Grossman, M.: „Born to Bleed“. Myth, Pornography and Romance in A. C.’s „The Bloody Chamber“. In: Minnesota Review 30⫺31 (1988) 148⫺160. ⫺ 21 Bacchilega, C.: Postmodern Fairy Tales. Gender and Narrative Strategies. Phil. 1997, pass. ⫺ 22 Gamble, S.: Penetrating to the Heart of the Bloody Chamber. A. C. and the Fairy Tale. In: Benson 2008 (wie not. 18) 20⫺46, hier 42 sq. ⫺ 23 Makinen, M.:
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Theorizing Fairy-Tale Fiction, Reading Jeanette Winterson. ibid., 144⫺177. ⫺ 24 Haase, D.: Is Seeing Believing? Proverbs and the Film Adaptation of a Fairy Tale. In: Proverbium 7 (1990) 89⫺104; Crofts, C.: Anagrams of Desire. A. C.’s Writing for Radio, Film and Television. Manchester 2003; Zipes, J.: The Enchanted Screen. The Unknown History of FairyTale Films. N. Y. 2011, 147⫺150. ⫺ 25 Hennard Dutheil de la Roche`re, M.: Reading, Translating, Rewriting. A. C.’s Translational Poetics. Detroit 2013; Zipes, J.: The Remaking of Charles Perrault and His Fairy Tales. In: C., A.: Little Red Riding Hood, Cinderella, and Other Classic Fairy Tales of Charles Perrault. L. 2008, i⫺xxxiv.
Honolulu
Cristina Bacchilega
Chesnutt, Michael James Stuart, *Edinburgh 18. 9. 1942, Erzählforscher und Philologe schott.-ir. Herkunft. C. studierte 1961⫺ 64 Altengl. und Germ. Philologie sowie Altisländisch am Magdalen College in Oxford (B. A. 1964, M. A. 1968), danach am Univ. College Dublin (1964⫺69), an der Univ. Kopenhagen (1967) und an der Univ. Reykjavı´k (1967/68). In seiner wiss. Entwicklung wurde er bes. durch die Dubliner Folkloristen S. J ´ Duilearga und B. Almqvist sowie den isl. O Hss.forscher und Dichter Jo´n Helgason beeinflußt. 1969⫺71 lehrte er Anglistik an der Univ. Göteborg. Seine weitere Laufbahn verbrachte er an der Univ. Kopenhagen: 1971⫺82 am Inst. für Anglistik, 1982⫺85 als Dekan der Phil. Fakultät, 1986⫺99 am Inst. für Folkloristik (Direktor 1992⫺99) und 1999⫺2007 als Forscher an Den Arnamagnæanske Samling. In den 1990er Jahren fungierte er als Vertreter Dänemarks im Vorstand des Nordic Institute of Folklore in Turku. C.s erster größerer Beitr. zur Erzählforschung war eine Abhdlg zu AaTh/ATU 160: J Dankbare Tiere, undankbarer Mensch1. Andere Arbeiten sind traditionellen Sagen (u. a. ATU 779*: J Tänzersage, AaTh/ATU 1645 A: J Guntram)2 und Erzählstoffen (u. a. AaTh/ATU 750 A⫺B: cf. Die drei J Wünsche; J Knabenkönig; J Vater-Sohn-Motiv)3 gewidmet. Zahlreiche Arbeiten C.s galten der Volksballade4. Darüber hinaus beschäftigte sich C. mit der Geschichte der Erzählforschung, bes. mit Blick auf die nord. Länder5, sowie mit Fragen von Diffusion, mündl. bzw. schriftl. Vermittlung und Polygenese6. Immer wieder kehrte C.
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Chevalier, Maxime
auch zur vieldiskutierten Frage einer Interdependenz zwischen der kelt. und der altnord. Erzählüberlieferung im MA. zurück7. Auf dem Gebiet der ma. Dichtung setzte sich C. vor allem mit der Saga-Lit. auseinander8. Er untersuchte u. a. die rudimentäre Saga-Biogr. des altnorw. Orkney-Herrschers Haraldr MaddaÎarson (1134⫺1206)9, gab liturgische Texte heraus10 und setzte Helgasons Arbeiten zur Edition der Egils saga Skallagrı´mssonar fort11. 1
C., M.: The Grateful Animals and the Ungrateful Man. An Oriental Exemplum and Its Derivatives in Medieval European Literary Tradition. In: Fabula 21 (1980) 24⫺55. ⫺ 2 id.: The Colbeck Legend in English Tradition of the Twelfth and Thirteenth Centuries. In: Folklore Studies in the Twentieth Century. ed. V. Newall. Woodbridge 1980, 158⫺166; id.: Nordic Variants of the Guntram Legend. In: Arv 47 (1991) 153⫺165; id.: The Three Laughs. A CelticNorse Tale in Oral Tradition and Medieval Literature. In: Islanders and Water-Dwellers. ed. P. Lysaght u. a. Blackrock 1999, 37⫺49; id.: „Cath Maige Tuired“. A Parable of the Battle of Clontarf. In: Northern Lights. Festschr. B. Almqvist. Dublin 2001, 22⫺33. ⫺ 3 id.: Thor’s Goats and the Three Wishes. Contributions to the History of AarneThompson Types 750 A⫺B. In: Scandinavian Studies 61,4 (1988) 328⫺338; id.: The Fatherless Hero in the Playground. Irish Perspectives on the Norse Legend of Sigurd. In: Be´aloideas 68 (2000) 33⫺65; ´ r manna minnum. id.: Ævinty´ri a´ miÎöldum. In: U Greinar um ´ıslenskar Ìo´Îsögur. ed. B. HafstaÎ/H. Bessason. Reykjavı´k 2002, 117⫺126. ⫺ 4 id.: The Ballad History of the Lifetime of Mary Queen of Scots. In: UNIFOL 1986. Kop. 1987, 125⫺152; id.: Minstrel Reciters and the Enigma of the Middle English Romance. In: Culture & History 2 (1987) 48⫺67; id.: Aspects of the Faroese Traditional Ballad in the Nineteenth Century. In: Arv 48 (1992) 247⫺259; id./Larsen, K. (edd.): Føroya KvæÎi. 7: History, Ms.s, Indexes. Kop. 1996; C., M.: Minstrel Poetry in an English Ms. of the Sixteenth Century. Richard Sheale and MS. Ashmole 48. In: The Entertainer in Medieval and Traditional Culture. ed. F. G. Andersen u. a. Odense 1997, 73⫺100; id.: Bevussrı´mur and Bevusar tættir. A Case Study of Icelandic Influence on Faroese Balladry. In: Opuscula 12 (2005) 399⫺437. ⫺ 5 id.: The Great Crusader of Diffusionism. Walter Anderson and the Geographic-historical Method. In: Studies in Folklore and Popular Religion. ed. Ü. Valk. Tartu 1996, 11⫺26; id.: The Antiquarian and Romantic Beginnings of Folklore ´ lason. Studies. In: Greppaminni. Festschr. V. O Reykjavı´k 2009, 53⫺62. ⫺ 6 id.: The Demise of Historicism in Nordic Folktale Research. In: Telling Reality. ed. id. Kop./Turku 1993, 235⫺253; id.: Who Took the Folk out of the Folk Narrative? In: Copen-
1600
hagen Folklore Notes (1998) H. 2⫺3, 1⫺8; EM 10, 1161⫺1164. ⫺ 7 id.: An Unsolved Problem in Old Norse-Icelandic Literary History. In: Mediaeval Scandinavia 1 (1968) 122⫺134; id.: The Beguiling of ´ r Dölum til Dala. ed. R. McTurk/A. Ïo´rr. In: U Wawn. Leeds 1989, 35⫺63; id.: Nordic-Celtic Links in Folk Literature. In: Denmark and Scotland. The Cultural and Environmental Resources of Small Nations. ed. G. Fellows-Jensen. Kop. 2001, 153⫺170; id.: Caoilte in Iceland. Gaelic Folklore in Egils saga Skallagrı´mssonar. In: Atlantic Currents. Festschr. S. ´ Catha´in. Dublin 2012, 353⫺370. ⫺ 8id.: Popular O and Learned Elements in the Icelandic Saga-Tradition. In: Proc. of the First Internat. Saga Conference, Univ. of Edinburgh 1971. L. 1973, 28⫺65; id.: The Dalhousie Ms. of the „Historia Norvegiae“. In: Opuscula 8 (1985) 54⫺95; id.: The Content and Meaning of Gjafa-Refs saga. In: Fornaldarsagaerne ⫺ myter og virkelighed. ed. A. Lassen u. a. Kop. 2008, 101⫺114; id.: On the Structure, Content, and Preservation of MöÎruvallabo´k. In: Gripla 21 (2010) 147⫺167. ⫺ 9 id.: Haralds saga MaddaÎarsonar. In: Speculum Norroenum. ed. U. Dronke u. a. Odense 1981, 33⫺55. ⫺ 10 id. (ed.): The Medieval Danish Liturgy of St Knud Lavard. Kop. 2003; id. (ed.): Stockholm Perg. 4:o nr. 7, bl. 57r⫺58v. In: Opuscula 12 (2005) 209⫺227; id. (ed.): The „Proprium officii de tempore“ in AM 241 b VI fol. ibid., 307⫺318. ⫺ 11 id.: Reconstruction from Transcripts. The Case of „Egils saga Skallagrı´mssonar“ in „MöÎruvallabo´k“, an Icelandic Codex of the Fourteenth Century. In: Care and Conservation of Mss. 7. ed. G. FellowsJensen/P. Springborg. Kop. 2003, 17⫺26; id.: Tekstkritiske bemærkninger til C-redaktionen af Egils saga. In: Opuscula 12 (2005) 228⫺262; id. (ed.): Egils saga Skallagrı´mssonar 3. C-redaktionen. Kop. 2006.
Kopenhagen
Miche`le Simonsen
Chevalier, Maxime, *Nıˆmes 29. 5. 1925, † Bordeaux 20. 8. 2007, frz. Lit.wissenschaftler und Erzählforscher mit Schwerpunkt Hispanistik1. C. studierte bis 1952 hauptsächlich span. Sprache und Lit. an den Univ.en Bordeaux und Madrid. Nachdem er eine Zeit als Lehrer gearbeitet hatte, war er 1954⫺58 als Assistent an der Univ. Straßburg, seit 1958 als Lehrbeauftragter an der Univ. Bordeaux tätig. Nach der Promotion mit einer Arbeit über den Einfluß J Ariosts in Spanien (L’Arioste en Espagne [1530⫺1650]. Recherches sur l’influence du „Roland Furieux“. Bordeaux 1966)2 wurde er in Bordeaux zum Professor ernannt. Seit 1967 war er Direktor des Inst. d’E´tudes Ibe´riques et Ibe´ro-americaines an der Univ.
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Chevalier, Maxime
Bordeaux III. Er war der erste Generalsekretär der 1962 von ihm mitbegründeten Soc. des Hispanistes Francœ ais und viele Jahre lang Herausgeber des Bulletin hispanique. 1978 wurde C. zum korrespondierenden Mitglied der Real Academia Espan˜ola de la Lengua gewählt; 1993 erhielt er den Ehrendoktor der Univ. Internacional Mene´ndez Pelayo, 1998 den Premio Nebrija. C. veröffentlichte etwa 20 Bücher, z. T. in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern, sowie etwa 150 Aufsätze. Seit jungen Jahren widmete er sich vor allem der Erforschung der span. Lit. des Siglo de Oro (16./17. Jh.); für diese Epoche und bes. für das Werk von J Cervantes gilt er als bedeutender Spezialist. In den 1970er Jahren begann er mit der Unters. der Rolle von populären, oft humoristischen Kurzerzählungen bei Cervantes und anderen Schriftstellern des Siglo de Oro (u. a. Quevedo, Tirso de Molina und Gracia´n)3 sowie auch bei Autoren des 19. Jh.s (u. a. Ferna´n Caballero4). Seine bes. Aufmerksamkeit galt dabei dem Witz und dem Apophthegma, deren Einfluß auf die Erzählliteratur wie auch auf die reiche dramatische Lit. des 16./17. Jh.s er untersuchte5. Hieraus entwickelten sich Überlegungen zum scharf pointierten Witz, der einen großen Teil der Lit. wie der kulturellen und gesellschaftlichen Usancen des 16./17. Jh.s bestimmte6. Darüber hinaus interessierte C. sich für die Beziehungen zwischen Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Lektüre und die Art, wie im Siglo de Oro gelesen und zugehört wurde (oft handelte es sich um lautes Vorlesen in der Öffentlichkeit)7, und über welche Kanäle die Volksüberlieferung die Elitekultur befruchtete8. Durch sein Interesse an Ritualen und Praktiken, welche die verbale Vermittlung der Erzählungen begleiteten, besitzen C.s Arbeiten eine starke soziol. Dimension. C. war Mitherausgeber wichtiger Erzählsammlungen des Siglo de Oro, so derjenigen von Melchor de Santa Cruz (1505⫺85)9, Juan J Timoneda10 und Juan de Arguijo (1567⫺ 1623)11. Zusammen mit dem Erzählforscher J. Camarena Laucirica gab C. die ersten vier Bände des span. Typenkatalogs, Cata´logo tipolo´gico del cuento folklo´rico espan˜ol (Madrid 1995/97/ Alcala´ de Henares 2003/03), heraus; das Unternehmen blieb durch den Tod beider Heraus-
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geber unvollendet. Im Rahmen der Katalogarbeiten beschäftigte sich C. auch ausführlich mit längeren Erzählungen (bes. Zaubermärchen, Novellenmärchen und satirischen Erzählungen)12. Als Forscher haben sich C. und Camarena hervorragend ergänzt: C. war Philologe und ausgezeichneter Kenner der narrativen Kurzformen vergangener Jh.e, Camarena vor allem Feldforscher und Fachmann für längere Erzählungen aus der im wesentlichen mündl. Überlieferung der Gegenwart. 1
Bibliogr. des travaux de M. C. In: Bulletin hispanique 92,1 (1990) I⫺X (Festschr. M. C.); Nachrufe u. a.: Be`gue, A.: M. C. (1925⫺2007). In: Archivo de filologı´a aragonesa 63⫺64 (2007/08) 299⫺313 (mit Bibliogr.); Bru, J.: M. C. (1925⫺2007). In: Fabula 49 (2008) 111⫺113; Cuartero, M. P.: M. C. (1925⫺ 2007). In: Revista de filologı´a espan˜ola 88,1 (2008) 219⫺221; Laspe´ras, J.-M.: M. C. (1925⫺2007). In: Critico´n 102 (2008) 5⫺16. ⫺ 2 cf. auch C., M.: Los temas ariostescos en el romancero y la poesı´a espan˜ola del Siglo de Oro. Madrid 1968. ⫺ 3 id.: Lectura y lectores en la Espan˜a de los siglos XVI y XVII. Madrid 1976. ⫺ 4 id.: Inventario de los cuentos folklo´ricos recogidos por Ferna´n Caballero. In: Revista de dialectologı´a y tradiciones populares 34 (1978) 49⫺65. ⫺ 5 id.: Cuentecillos dans le the´aˆtre de Lope. In: Me´langes de la Casa de Vela´zquez 10 (1974) 585⫺600; id.: Cuentecillos tradicionales en la Espan˜a del Siglo de Oro. Madrid 1975; id.: Cuentecillos en las comedias de Caldero´n. In: Hacia Caldero´n. Tercer coloquio anglogermano. B. 1976, 11⫺19; id.: Cuentecillos y chistes tradicionales en la obra de Quevedo. In: Nueva revista de filologı´a hispa´nica 25 (1976) 17⫺44; id.: Folklore y literatura. El cuento oral en el Siglo de Oro. Barcelona 1978; id.: Cuentos espan˜oles de los siglos XVI y XVII. Madrid 1982; id.: Tipos co´micos y folklore (siglos XVI⫺XVII). Madrid 1982; id.: Cuentos folklo´ricos en la Espan˜a del Siglo de Oro. Barcelona 1983. ⫺ 6 id.: z. B. Quevedo y su tiempo. La agudeza verbal. Barcelona 1992. ⫺ 7 id.: Sur le Public du roman de chevalerie. Bordeaux 1968; id. (wie not. 3). ⫺ 8 id. 1978 und 1982 (wie not. 5); id.: Cuento tradicional, cultura, literatura (siglos XVI⫺XVII). Salamanca 1999. ⫺ 9 Melchor de Santa Cruz: Floresta espan˜ola. ed. M. Pilar Cuartero/M. C. Barcelona 1997. ⫺ 10 Joan Timoneda: Buen aviso y portacuentos. El sobremesa y alivio de caminantes/Joan Aragone´s: Cuentos. ed. M. Pilar Cuartero/M. C. Madrid 1990. ⫺ 11 Juan de Arguijo: Cuentos. ed. B. Chenot/M. C. Sevilla 1979. ⫺ 12 Dı´az, J./C., M.: Cuentos castellanos de tradicio´n oral. Valladolid 1983.
Alcala´ de Henares
Jose´ Manuel Pedrosa
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Computerspiele
Computerspiele 1. Allgemeines ⫺ 2. Geschichte ⫺ 3. Genres ⫺ 4. Stoffe und Themen
1 . All ge me in es. C. sind mittels eines Computers repräsentierte Ereignisfolgen, deren Verlauf im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten von einem oder mehreren Spielern beeinflußt werden kann; sie folgen Regeln, die zumeist auch über Sieg und Niederlage entscheiden1. Die meisten C. sind Teil der Populärkultur und dienen der J Unterhaltung der Konsumenten; wenige stehen in der Tradition etablierter Kunst und orientieren sich an deren Kommunikationsregeln. Daneben existiert der Bereich der didaktischen Spiele sowie der durch Spielelemente anregender gestaltete Bereich didaktischer Software. C. zeichnen sich vor allem durch ihr interaktives Potential aus, das mit den technischen Entwicklungen von Benutzerschnittstellen korreliert. Zumeist sind sie das Produkt eines Teams unter der Leitung eines Spieldesigners, etwa Shigeru Miyamoto (geb. 1952; Donkey Kong [1981⫺2014], The Legend of Zelda [1986⫺2013]), Warren Spector (geb. 1955; System Shock [1994, 1999], Deus Ex [2000⫺2013]) oder Tim Schafer (geb. 1967; Monkey Island [1990⫺2010], Grim Fandango [1998]). Die Multimedialität der Spiele, zu der die interaktive Spielwelt mit ihrer Mechanik ebenso gehört wie die graphische Repräsentation dieser Welt, die Stimme und der Text der Akteure, die Geschichte, die Musik und vieles mehr, bedingt eine arbeitsteilige Produktionsweise2. Aufgrund der Fähigkeit des Computers, alle zuvor existierenden Medien zu integrieren, ist die Bandbreite der Möglichkeiten, die fiktionale Welt zu präsentieren, bes. groß; sie reicht vom Textadventure, das sich nur als Folge von Textpassagen entfaltet, über abstrakte Knobelspiele oder Geschicklichkeitsaufgaben wie etwa Tetris (1984) von A. Paschitnow (geb. 1956) bis hin zu photorealistisch intendierten Weltsimulationen. Spiele partizipieren häufig an medienübergreifenden fiktionalen Welten, die durch Filme, Bücher oder Comics erzeugt und weitergeführt werden, wie z. B. Star Wars, Star Trek, J Tolkiens The Lord of the Rings, Batman etc. Für das sehr erfolgreiche Star WarsUniversum verzeichnete die einschlägige Wikipedia-Seite im Jahr 2013 über 150 lizensierte
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Spiele3. C. sind somit ein wesentlicher Bestandteil der Unterhaltung im Medienverbund. Die WarCraft-Reihe etablierte sich durch eine Anzahl erfolgreicher Echtzeit-Strategiespiele, angefangen mit WarCraft: Orcs and Humans (1994). Der immense Erfolg dieser Spiele und bes. des Computerspiels World of Warcraft (2004), das zwischenzeitlich über zehn Millionen Abonnenten hatte, bildete die Grundlage für eine mediale Ausweitung in einer umfangreichen Romanreihe, Comics und Mangas4. Durch die hohen Entwicklungs- und Produktionskosten bei neuen Spielen gibt es ähnlich wie im Film eine Tendenz, das finanzielle Risiko durch Fortsetzungen zu minimieren. Zugleich hat sich ein stark expandierender Markt von sog. ,independent games‘ entwikkelt. Diese sind kostengünstiger produziert und experimentieren mit neuen Ideen oder stärker herausfordernden Spielelementen. Hinzu kommt eine sehr lebendige Fankultur, die nicht nur begleitende Texte und Videos hervorbringt, sondern Spiele durch selbstgestaltete Modifikationen erweitert und z. T. lange Zeit am Leben erhält5. 2 . G es ch ic ht e. C. wurden anfangs auf eigens dafür hergestellten und in Spielhallen aufgestellten Automaten gespielt, z. B. die sehr frühe Tennissimulation Pong (1972). Durch die Einführung von Heimkonsolen und die Verbreitung des Personalcomputers ab 1980 wurde das Computerspiel Teil des Zuhauses. Mit der Verbreitung von kleinen, tragbaren Spielkonsolen begann die Zeit des mobilen Spielens. Die Internetfähigkeit der meisten Rechner und die Verbreitung von Smartphones und Tabletcomputern führten ab ca 2007 zur Etablierung neuer Spiele, die über soziale Netzwerke wie Facebook leicht zugänglich sind und in kleinen Zeitportionen u. a. auch von Gelegenheitsspielern gespielt werden können6. 3 . G en re s. Im Bereich der C. dominieren Action-Spiele, Shooter, Role Playing Games (RPG), Adventures, Strategiespiele und Simulationen; außerdem finden sich zahlreiche Untergattungen, z. B. für die RPGs die Massive Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPG) wie World of Warcraft, in denen
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Computerspiele
Tausende von Spielfiguren eine virtuelle Welt bevölkern, oder im Bereich der Simulationen die Sportsimulationen, z. B. der Fußballsimulator Fifa (seit 1993), oder Flugsimulationen, z. B. Microsoft Flugsimulator (seit 1982). Die Gattung definiert sich zumeist über eine Mischung von Interaktions-, Handlungs- und Weltelementen. So sind Rollenspiele etwa weitgehend durch die Möglichkeit definiert, die Fähigkeiten der gespielten Figur durch das Steigern von Eigenschaften zu verbessern. Die gezielte Vermischung von Genre-Elementen ist ausgesprochen häufig zu finden. So kombiniert das als Klassiker geltende Deus Ex etwa Shooter-, Rollenspiel- und Actionspiel-Elemente7. 4 . S to ff e u nd Th em en. Das Computerspiel ist ein interaktives und audiovisuelles Medium, dem prinzipiell alle Stoffe und Themen offenstehen. Allerdings lassen sich bevorzugte Szenarien identifizieren. Die Genres Adventure und RPG waren in ihren Anfängen sehr stark von dem Fantasy-Rollenspiel Dungeons & Dragons (1974) beeinflußt, bei dem eine kleine Gruppe von Spielern unter Leitung eines Spielleiters auf der Grundlage eines komplexen Regelwerks und mit Hilfe von Würfeln und Plänen eine Fantasy-Geschichte ausagiert8. Dungeons & Dragons, das bis in die Gegenwart die Computerspielindustrie beeinflußt, ist selbst wiederum von der Fantasy-Literatur geprägt9. Viele dieser Subtraditionen differenzierten sich schnell aus und bildeten einen fiktionalen Kosmos mit einer eigenen Geschichte. Ähnliches gilt auch für J Science FictionWelten. Die ferne Zukunft mit Weltraumreisen und -schlachten ist seit Spacewar! (1962), einem der ersten C. überhaupt, ein beliebtes Szenario. Neben Medienverbund-Welten wie Star Wars, Star Trek, oder der Halo-Welt, die durch die gleichnamige Spielreihe etabliert wurde, finden sich Cyberpunk-Spiele wie Deus Ex, aber auch zahlreiche individuelle Kreationen, wie das auf drei Zeitebenen spielende Adventure Day of the Tentacle (1993). Die Medienverbund-Welten sind zumeist durch eine grundlegende Opposition von ,guten‘ und ,bösen‘ Kräften gekennzeichnet, während die kleineren Produktionen solche Eindeutigkeiten
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z. T. problematisieren oder nur als ironisches Zitat verwenden. Einige Motive populärer Überlieferung eignen sich offenbar bes. für C.: Zombie-Geschichten, die ihren populären Ursprung in George A. Romeros Film Night of the Living Dead (1968) haben, reduzieren die Komplexität der Handlungswelt erheblich, da bis auf einen sehr kleinen Kreis von Menschen alle zu Feinden werden, die ohne moralische Skrupel getötet werden dürfen. Dieser Stoff kann im Computerspiel als blutiger Ego-Shooter umgesetzt werden wie in Left 4 Dead (2008) oder als anspruchsvolles, emotional bewegendes Spiel wie in The Walking Dead (2012). Insgesamt ist im Horrorgenre der lang nachhaltende Einfluß von H. P. Lovecraft (1890⫺1937), dem Urheber des Cthulhu-Mythos, zu spüren. Eine weitere reiche Quelle für C. ist die Geschichte, sei es in der um hist. Realismus bemühten Simulation, etwa Die Gilde (seit 2002), Action-Spielen, z. B. Assassin’s Creed (seit 2007), Strategiespielen wie Civilization (seit 1991) oder Echtzeit-Strategiespielen (The Creative Assembly, seit 2000). Von den rund 1600 Spielen, die hist. Stoffe aufgreifen, ist rund ein Viertel im MA. angesiedelt10. Der 2. Weltkrieg ist ebenfalls in zahlreichen C.n zum Szenario geworden, sei es als ferne hist. Referenz mit phantastischen Elementen (Wolfenstein-Serie, seit 1992) oder im Versuch einer ⫺ soweit es die jeweiligen Genre-Regeln zulassen ⫺ möglichst realistischen Darstellung wie Red Orchestra (2006). Die hist. Repräsentation unterliegt zumeist dem Primat der Unterhaltung. Zwei der drei meistverbreiteten Spielkonsolen stammen aus Japan. Über die dominante Stellung jap. Spielefirmen auf dem Weltmarkt sind auch viele westl. Spieler mit der jap. Märchen- und Mythentradition wie auch mit Erzählweisen der Mangas und Animes vertraut geworden. Als beispielhaft hierfür kann die durch Spiele verschiedener Genres, Romane, Mangas und Spielfilme getragene Medienverbundwelt der Final Fantasy-Reihe (14 Spiele seit 1987) angesehen werden, die in einer komplexen Geschichte die Rettung einer Welt erzählt, die u. a. von Menschen, Elfen und Robotern bewohnt wird. Ähnlich komplex und freizügig in der Montage von Elementen aus ganz unterschiedlichen hist. und mythol. Tra-
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De Gubernatis, Angelo Graf
ditionen zu einer neuen, mythol. wirkenden Welt ist die Reihe Legend of Zelda (16 Spiele). Insgesamt sollte man in C.n die Geschichte und damit die moralische Rechtfertigung für die oft martialische Spielhandlung nicht überbewerten. In vielen Spielen bilden Figuren, Handlung und Spielwelt nur einen Rahmen, um den Spieler durch immer neue Herausforderungen etwa seiner Geschicklichkeit, seines strategischen Denkens oder seiner Kombinationsfähigkeit zu unterhalten. Das zeigt auch der große Erfolg von schematischen Figuren: So befreit z. B. der ital. sprechende Klempner Mario (Super Mario, seit 1981) in endlosen Wiederholungen die von ihm geliebte Prinzessin Peach. Allerdings zeigt sich die Flexibilität des Mediums Computerspiel auch darin, daß es interessante, widersprüchliche Charaktere hervorgebracht hat und daß die Möglichkeiten, komplexe Geschichten zu erzählen, in immer wieder neuen Anläufen weiterentwickelt werden, wie es z. B. die Gestaltung der Hauptfigur in Bioshock Infinite (2013) erkennen läßt. Neben der psychol. Wirkungsforschung war die Erforschung von C.n anfangs weitgehend durch die Adaption von Konzepten aus Lit.und Medienwissenschaft geprägt11, hat sich dann aber schnell zu eigenständigen Game Studies12 emanzipiert und sich im folgenden vor allem auf das Spezifische von C.n konzentriert13. 1
Aarseth, E. J.: Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore/L. 1997; Wolf, M. J. P.: The Video Game Theory Reader. L./N. Y. 2003; Juul, J.: Half-Real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. Cambr., Mass. 2005. ⫺ 2 Salen, K./Zimmerman, E.: Rules of Play. Game Design Fundamentals. Cambr., Mass. 2004. ⫺ 3 Wikipedia, s. v. Star Wars (im Internet). ⫺ 4 Stackpole, M.: World of Warcraft. Vol’jin ⫺ Schatten der Horde. Stg. 2013; Simonson, W.: World of WarCraft 1. Fremder in einem fremden Land. Stg. 2008. ⫺ 5 Crawford, G.: Video Gamers. L./N. Y. 2012. ⫺ 6 Kent, S. L.: The Ultimate History of Video Games. Roseville, Calif. 2001; Donovan, T.: Replay. The History of Video Games. Lewes 2010. ⫺ 7 Apperley, T. H.: Genre and Game Studies. Toward a Critical Approach to Video Game Genres. In: Simulation & Gaming 37,1 (2006) 6⫺23; Adams, E.: The Fundamentals of Game Design. Berk. 22010. ⫺ 8 cf. EM 14, 1652⫺1656, hier 1653. ⫺ 9 Harrigan, P./WardripFruin, N. (edd.): Second Person. Role-Playing and Story in Games and Playable Media. Cambr./L. 2007. ⫺ 10 Heinze, C.: MA.-Computer Spiele. Zur
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Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel. Bielefeld 2012. ⫺ 11 Murray, J. H.: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. Cambr., Mass. 1997. ⫺ 12 Frasca, G.: Ludology Meets Narratology. Similitude and Differences between (Video)Games and Narrative (2000) (im Internet). ⫺ 13 Bogost, I.: Unit Operations. An Approach to Videogame Criticism. Cambr., Mass. 2006; GamesCoop. Theorien des Computerspiels zur Einführung. Hbg 2012.
Würzburg
Fotis Jannidis
De Gubernatis, Angelo Graf, *Turin 7. 4. 1840, † Rom 26. 2. 1913, ital. Orientalist, Mythen- und Erzählforscher1. D. studierte 1857⫺61 in Turin Klassische Philologie, Geschichte und Italianistik. 1860 gründete er die Zs. La letteratura civile und begann, in verschiedenen ital., ab 1869 auch in ausländischen Ztgen und Zss. Artikel, Meldungen und Rez.en zu veröffentlichen. Darüber hinaus verfaßte er zahlreiche, vor allem hist. Dramen, die in mehreren ital. Städten aufgeführt wurden2. 1861 wurde D. in Turin mit einer (unveröff.) Arbeit zum mangelnden Recht des Papstes auf die Ausübung staatlicher Gewalt promoviert, die mit dem Preis des Königreichs Italien für die beste Diss. ausgezeichnet wurde3. In den Folgejahren lernte er Sanskrit, Phönizisch und Hebräisch. 1862 ging D. nach Berlin, um dort oriental. Sprachen, vor allem Vedisch und Sanskrit, zu studieren4. 1863⫺65 und 1867⫺90 versah er ⫺ unterbrochen durch eine Phase politischen Engagements an der Seite M. Bakunins5 ⫺ den Lehrstuhl für Sanskrit und Vergleichende Sprachwiss. am Istituto di studi superiori in Florenz6. 1890⫺1908 lehrte er auf einer Professur an der Univ. Rom Ital. Lit., ab 1891 auch Sanskrit. D. gründete und betreute verantwortlich zahlreiche Kultur- und Fachzeitschriften, so u. a. L’Italia letteraria (1861/62), die Rivista orientale (1867/ 68), die Rivista europea (1869⫺76), die Cordelia (1869⫺76)7 sowie die Rivista delle tradizioni popolari italiani (1893⫺95, Nachdr. Bologna 1968). D.’ breites Interesse für die ital. und allg. Lit.geschichte findet in biogr. und komparatistischen Darstellungen zu ital. Autoren8 und der bis heute konsultierten Storia universale
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Denecke, Ludwig
della letteratura 1⫺18 (Mailand 1882⫺85, 2 1895) Ausdruck9. Auf einer Indienreise (1885⫺86) sammelte D. Hss. und Kunstgegenstände, die den Grundstock der Slg des 1887 in Florenz gegründeten Museo Indiano (später Museo Antropologico) bildeten10. Seine ethnol. und volkskundlichen Arbeiten behandeln neben ide. Geburts-, Hochzeits- und Begräbnisbräuchen vor allem die ind. Mythologie sowie die interkulturellen Beziehungen zwischen Italien und Indien11. Für die Erzähl- und Mythenforschung von zentraler Bedeutung ist D.’ wohl wichtigstes Werk, Zoological Mythology (L. 1872). Es erschien zunächst in engl. Sprache, wurde dann jedoch rasch auch in andere Sprachen übersetzt und breit rezipiert12. D. stellte sich in den Kontext der J Mythol. Schule (cf. J Naturmythologie, J Sonnenmythologie). Bes. beeinflußt war er von den Auffassungen M. J Müllers13. Das Werk sollte, ausgehend von der vedischen Mythologie, über den Vergleich der populären europ. Traditionen die Prinzipien und Entwicklungslinien der Tiermythologie rekonstruieren14. Zeitgenössische Rez.en hoben bei aller Kritik an Details u. a. positiv hervor, daß die Methode der vergleichenden Mythologie hier auf eine große Zahl von Märchen angewandt werde15. Sie würdigten das Werk als Gesamtschau und umfassende Materialstudie, die Anstoß für Detailforschungen biete, die ihrerseits D.’ Thesen im einzelnen bestätigen dürften16. Auf Aufforderung des Pariser Verlegers C. Reinwald verfaßte D. daher das Folgewerk Mythologie des plantes ou les le´gendes du re`gne ve´ge´tal 1⫺2 (P. 1878/82). Aus heutiger Sicht sind, auch im Kontext der allg. Kritik an naturmythol. Darstellungen17, D.’ literarhist. und journalistische Tätigkeit und vor allem seine ethnol. Studien von bleibendem Interesse18.
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314. ⫺ 4 D. (wie not. 1) xv; id. 1900 (wie not. 2) 175⫺192. ⫺ 5 id. (wie not. 1) xxi⫺xxv; id. 1900 (wie not. 2) 219⫺240. ⫺ 6 cf. id.: Piccola enciclopedia indiana. Florenz 1867; id.: Mate´riaux pour servir a` l’histoire des langues orientales en Italie. P. 1876; id. 1900 (wie not. 2) 192⫺205, 259⫺269. ⫺ 7 id. (wie not. 1) pass.; id. 1900 (wie not. 2) 214⫺219, 315. ⫺ 8 z. B. id.: Giovanni Prati. Turin 1861 (Florenz 2 1883); id.: Il Manzoni ed il Fauriel. Rom 1880. ⫺ 9 cf. Croce, B.: A. D. In: id.: Letteratura della nuova Italia 5. Bari 1943, 388⫺393. ⫺ 10 Le Voyage du comte D. In: Revue internat. 3 (25.12.1885) 90⫺96; D., A.: Peregrinazioni indiane 1⫺3. Florenz 1886/ 86/87; id. 1900 (wie not. 2) 440⫺464. ⫺ 11 id.: Storia comparata degli usi nuziali indo-europei in Italia, e presso gli altri popoli. Mailand 1869 (Nachdr. Bologna 1990); id.: Storia comparata degli usi natalizi […]. Mailand 1878 (Nachdr. Bologna 1969); id.: Storia comparata degli usi funebri […]. Mailand 1878 (Nachdr. Bologna 1969); id.: La vita ed i miracoli del dio Indra nel Rigveda. Florenz 1866; id: Le fonti vediche dell’epopea indiana. Florenz 1867; id.: Storia dei viaggiatori italiani nelle Indie orientali […]. Livorno 1875. ⫺ 12 id.: Zoological Mythology or The Legends of Animals 1⫺2. L. 1872; id.: Die Thiere in der Idg. Mythologie. Übers. M. Hartmann. Lpz. 1874 (Nachdr. Walluf-Nendeln 1978); id.: Mythologie zoologique ou les le´gendes animales 1⫺2. Übers. P. Regnaud. P. 1874; cf. De Cara, C. A.: Errori mitologici del prof. A. D. Prato 1883; dagegen Avoli, A.: Saggio critico di C. A. De Cara. Rom 1884. ⫺ 13 D., A.: Max Müller e la mitologia comparata. Florenz 1875; id. 1900 (wie not. 2) 299⫺ 303. ⫺ 14 id. 1872 (wie not. 12) xii sq.; id. 1900 (wie not. 2) 298⫺309. ⫺ 15 z. B. Veselovskij, A. N.: Sravnitel’naja mifologija i ee metod (Die vergleichende Mythologie und ihre Methode). In: Vestnik Evropy 10 (1873) 637⫺680. ⫺ 16 cf. z. B. Rez. F. Liebrecht in The Academy 4,12 (14. 6. 1873) 221⫺225, hier 225. ⫺ 17 cf. EM 9, 1267 sq. ⫺ 18 cf. Taddei, M. (ed.): A. D. Europa e Oriente nell’Italia umbertina 1⫺4. Neapel 1995⫺2001; Aloe, S.: A. D. e il mondo slavo: gli esordi della slavistica italiana nei libri, nelle riviste et nell’epistolario di un pioniere: 1865⫺1913. Pisa 2000; Citro, E.: Percorsi indiani: Mantegazza, D., Lomonaco, Gozzano. Rom 2006.
Klagenfurt
Susanne Friede
1
Archivio biografico italiano 1. Mü. 1990, Mikrofiche 350, 263⫺330; ibid. 2. Mü. 1994, Mikrofiche 187, 341⫺353; Strappini, L.: D., A. In: Dizionario biografico degli Italiani 36. Rom 1988, 227⫺235; D., A.: Proemio. In: id. (ed.): Dizionario biografico degli scrittori contemporanei 1. Florenz 1879 (Rom 2 1895), vii⫺xxxii. ⫺ 2 z. B. id.: Drammi indiani. Florenz 1883; id.: Drammi romani. Rom 1899; cf. id. (wie not. 1) xii, xxvii sq., xxx; id.: Fibra. Pagine di ricordi. Rom 1900, 117⫺126, 284⫺289, 311⫺317; Strappini (wie not. 1) 228. ⫺ 3 D. (wie not. 1) xiv; id. 1900 (wie not. 2) 157⫺159; Strappini (wie not. 1)
Denecke, Ludwig, *Hameln 26. 2. 1905, † Hann. Münden 12. 9. 1996, dt. Germanist und Bibliothekar1. D. studierte Dt. Philologie, Geschichte und Sport in Halle (1923⫺25), Freiburg (1925/26), Greifswald (1926⫺29), Leipzig (1929/30) und Berlin (1930). 1929 wurde er in Greifswald mit einer altgermanistischen Arbeit promoviert2. 1930⫺33 gehörte er zu den ersten Mitarbeitern der neu einge-
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Denecke, Ludwig
richteten Arbeitsstelle für das DWb. der Brüder J Grimm an der Berliner Akad. der Wiss.en. 1933⫺35 absolvierte er an der Univ.sbibliothek und an der Preuß. Staatsbibliothek Berlin die Ausbildung für den höheren Dienst an wiss. Bibl.en und legte als (ungedr.) Abschlußarbeit Die Bibl. der Brüder Grimm. Kurzer Plan zu ihrer Wiedergewinnung vor. 1935⫺38 war D. außerplanmäßiger, 1938⫺40 planmäßiger Bibliothekar und 1940 Bibl.srat an der Hss.abteilung der Preuß. Staatsbibliothek und dort u. a. für das Verz. der Hss. im Dt. Reich tätig. 1940⫺45 diente er als Panzergrenadier und Stabsoffizier der SS und war nach Kriegsende bis 1948 in einem amerik. Gefangenenlager interniert. Danach erlernte D. in Meldorf (Holstein) den Beruf des Ofensetzers. 1949⫺58 war D. als Leiter des Schlagwortkatalogs und der Hss.abteilung an der Staats- und Univ.sbibliothek Göttingen und 1959⫺68 als Direktor der Murhardschen Bibl. der Stadt Kassel und Landesbibliothek sowie in Personalunion als Gründungsdirektor des Brüder Grimm-Museums tätig, das eine Abteilung der Kasseler Bibliothek war. Seine Erwerbungen prägen den Charakter der Slg bis heute. Während seiner Tätigkeit in Kassel begründete D. das Verz. Die Nachlässe in den Bibl.en der Bundesrepublik Deutschland 3. Er war seit 1986 Ehrenmitglied der Europ. Märchengesellschaft. Für seine Arbeiten zu den Brüdern Grimm erhielt er u. a. 1985 das Ehrendoktorat der Univ. Kassel und (gemeinsam mit H. J Rölleke) den Staatspreis des Landes Hessen. Biogr. und hinsichtlich seiner Arbeitsgebiete überschnitt sich D.s Laufbahn in den Stationen Berlin, Göttingen und Kassel mit dem Wirken der Grimms. Aufgrund seiner mediävistischen und lexikographischen Interessen legte D. bes. Augenmerk auf die entsprechenden Arbeitsgebiete der Brüder Grimm. Bis heute unverzichtbar ist sein Realienbuch Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm (Stg. 1971). D. bemühte sich kontinuierlich um die Erschließung des Grimmschen Briefwechsels und legte eine Bibliogr. zu den bis 1983 publizierten Dokumenten vor4. Die Buchreihe Brüder Grimm Gedenken, die er 1963 mitbegründete und von der er ab 1975 zehn Bände allein herausgab5, steht programmatisch für die von D. nach der Zeit des Nationalsozialismus wesent-
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lich initiierte und getragene neuere GrimmForschung, deren Hauptgegenstand die überlieferten Orig.dokumente J. und W. Grimms und ihres Umfelds waren und sind. Diese Forschungskonzeption mündete in die Kritische Ausg. in Einzelbänden der Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, an der er in seinen letzten Lebensjahren mitarbeitete6. Nach seiner Pensionierung vollendete er 1989 zusammen mit I. Teitge den Katalog der Grimm-Bibl.7 D. prägte das Feld der GrimmForschung auch dadurch, daß er jüngere Kolleginnen und Kollegen förderte, die sich später ihrerseits auf diesem Gebiet einen Ruf erwarben (etwa H. Rölleke, U. Wyss und L. Bluhm), und ausländische Forscher beriet, die zur Grimm-Rezeption in ihren Ländern arbeiteten8. D. gab eine Taschenbuchausgabe der Grimmschen Dt. Sagen9 heraus und war an der Edition der Volksliedersammlung der Brüder Grimm beteiligt10. In seinem wichtigen Aufsatz zu KHM 195, AaTh/ATU 815: J Schatz in der Totenhaut ⫹ AaTh/ATU 1130: J Grabhügel stellt er eine Mitschrift J. Grimms nach dem Diktat Dorothea Viehmanns (mit Wiedergabe der mündl. Ausdrucksweise) und eine überarbeitete Fassung W. Grimms einander gegenüber11. In einer seiner wenigen Publ.en zum Märchen charakterisierte D. dies 1993 als ursprünglich mündl. Volkserzählung und als „eine gern erzählte, eine freundliche, eine liebe Geschichte“12. W. Grimms Eingriffe in die überlieferten Texte verstand er dabei als einen Akt des fortführenden Erzählens13. 1
cf. Köhler-Zülch, I.: L. D. (1905⫺1996). In: Fabula 38 (1997) 125⫺128. ⫺ 2 D., L.: Ritterdichter und Heidengötter (1150⫺1220). Lpz. 1930. ⫺ 3 id.: Die Nachlässe in den Bibl.en der Bundesrepublik Deutschland. (Boppard 1969) 2. völlig neu bearb. Aufl. ed. T. Brandis. Boppard 1981. ⫺ 4 D., L.: Bibliogr. der Briefe von und an Jacob und Wilhelm Grimm. In: Aurora. Jb. der Eichendorff-Ges. 43 (1983) 169⫺227. ⫺ 5 Brüder Grimm Gedenken 1⫺ 10 (und Sonderband 1987). ed. L. D. Marburg 1963⫺93. ⫺ 6cf. Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. 1,1: Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. ed. H. Rölleke. Stg. 2001, 5⫺8 (Vorwort). ⫺ 7 D., L./Teitge, I.: Die Bibl. der Brüder Grimm. Annotiertes Verz. des festgestellten Bestandes. ed. F. Krause. Weimar/Stg. 1989. ⫺ 8 cf. D. (wie not. 5). ⫺ 9 Grimm, J. und W.: Dt. Sagen 1⫺2. ed. L. D. Mü. [1966/67]. ⫺ 10 Brüder Grimm: Volkslie-
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Diederichs, Eugen
der. Aus der Hss.slg der Univ.sbibl. Marburg 1⫺3. ed. C. Oberfeld u. a. Marburg 1985⫺89. ⫺ 11 D., L.: „Der Grabhügel“ (KHM 195) aus dem Munde der Viehmännin. In: Fabula 12 (1971) 218⫺ 228; cf. ferner id.: Der Schatz im verwunschenen Schloß. Eine Sage aus Zwehren (1817). ibid. 13 (1972) 150⫺152. ⫺ 12 id.: Warum heißt das Märchen „Märchen“? In: Märchenspiegel 4,3 (1993) 9; cf. id.: „Ich soll hier vom Bruder reden …“ Wilhelm Grimm, der andere der beiden Großen. Gedenkrede zum 200. Geburtstag Wilhelm Grimms, gehalten in Steinau, Kassel und Berlin. In: Zs. des Vereins für hess. Geschichte und Landeskunde 91 (1986) 165⫺ 174, hier 171 sq. ⫺ 13 id. 1993 (wie not. 12).
Berlin
Berthold Friemel
Diederichs, Eugen, *Rittergut Löbitz (bei Naumburg) 22. 6. 1867, † Jena 10. 9. 1930, dt. Verleger und Publizist. 1888⫺95 machte D. eine Lehre in der Landwirtschaft sowie im Buchhandel. 1896 gründete er während eines 14monatigen Italienaufenthalts den E. D. Verlag; als Standorte gab er Florenz und Leipzig an. 1904 übersiedelte er nach Jena, was er als bewußten Schritt aus der Großstadt in die ,Provinz‘ proklamierte1. D. war ein Förderer und Verleger der Lebensreformbewegungen2; darüber hinaus umfaßte sein Verlagsprogramm Belletristik, Philosophie, Religion, Kulturgeschichte und Vk. Gezielt nahm er Kontakt zu Erzählforschern auf: Bereits 1903 begann seine Zusammenarbeit mit F. von der J Leyen3; er verlegte W. J Wissers plattdt. Märchen und holte von J. J Bolte eine Expertise zur Publ. einer Märchenreihe ein. Darüber hinaus trat er an J. Meier und den Verband dt. Vereine für Vk. heran, um eine Kooperation auf dem Gebiet der Herausgabe von Sagen zu erreichen4. Der Kulturhistoriker G. Hübinger postulierte, D. habe seinen Verlag mit den „Etiketten der kulturkritischen Lesererwartungen: Neuromantik, Neumystik, Neuidealismus“5 versehen. Tatsächlich verstand D. sich als Kulturverleger6, der mit seinem Unternehmen eine Erneuerung der Kultur des Dt. Reiches anstrebte, wie er in seinen Verlagskatalogen betonte7. Sein Ziel war eine „Erneuerung des Lebens durch ästhetische Praxis“8; in diesem Sinne unterstützte er u. a. die junge wandernde Märchenerzählerin und spätere Jugendschriftstellerin Lisa Tetzner (1894⫺1963)9. D.’ verlegerisches Engagement auf dem Gebiet der volkstümlichen Überlieferung erklärt
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sich aus seiner Auffassung, die Gattungen der Volksdichtung seien Quellen, aus denen für eine gesellschaftliche Entwicklung in der Gegenwart geschöpft werden könne. Es gelang ihm, gleichgesinnte Editoren zu finden, mit denen er folgende Reihen begründete: R. J Benz gab bei D. u. d. T. Die dt. Volksbücher fünf Bände heraus10. In der Reihe Thule. Altnord. Dichtung und Prosa (24 Bände, 1911⫺30), die von F. Niedner betreut wurde, erschienen Sagas11. Anläßlich des 100jährigen Jubiläums der J Kinder- und Hausmärchen startete die weltweit umfangreichste Reihe wiss. kommentierter Märchen (J Märchenbücher), Die Märchen der Weltliteratur (174 Bände, 1912 sqq.)12. Herausgeber waren von der Leyen und P. J Zaunert, der die Edition angeregt hatte. Zaunert beendete jedoch 1927 seine Mitherausgebertätigkeit, um sich auf zwei Reihen zu konzentrieren, die er bei D. allein betreute: Dt. Sagenschatz (17 Bände, 1917⫺44) sowie Dt. Volkheit (77 Bände, 1925⫺31). Verfolgte D. mit den MdW eine universalistische Ausrichtung, so konzentrierte sich die von L. J Frobenius herausgegebene Reihe Atlantis. Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas (12 Bände, 1921⫺28) auf den afrik. Kontinent. Mit seinen Publ.en machte D. ein Textkorpus zugänglich, das für die hist. und vergleichende Erzählforschung von größter Bedeutung ist13; so basiert M. J Lüthis Standardwerk Das europ. Volksmärchen (1947, 112005) zum größten Teil auf den bis dahin erschienenen MdWBänden. D. hatte bereits vor dem 1. Weltkrieg die „Wiedergewinnung einer dezidiert nationalen, kulturellen Identität“14 angestrebt; im Verlauf der 1920er Jahre verstärkten sich die völkischen Tendenzen in der Verlagsproduktion15. Nach D.’ Tod übernahmen seine Söhne Niels und Peter das Unternehmen; 1933⫺45 erfolgte zwar „kein offensives Bekenntnis zum Nationalsozialismus“, jedoch eine „Anpassung an die Verhältnisse im ,Dritten Reich‘“16 mit einer Autorenliste, die als „dominant völkischnational bis nationalsozialistisch“17 bezeichnet werden kann18. 1
cf. Werner, M. G.: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Sie`cle Jena. Göttingen 2003; cf. umfassend Heidler, I.: Der Verleger E. D. und seine Welt (1896⫺1930). Wiesbaden 1998; Diederichs, U.: Der mit dem Löwen tanzt. E. D. zum
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Dobreva, Doroteja
125. Geburtstag. In: Aus dem Antiquariat (1992) H. 7, A 265⫺A 281. ⫺ 2 Viehöfer, E.: Der Verleger als Organisator. E. D. und die bürgerlichen Reformbewegungen der Jh.wende. Ffm. 1988. ⫺ 3 Uther, H.-J.: Märchen und Sagen im E. D. Verlag. In: Versammlungsort moderner Geister. Der E. D. Verlag ⫺ Aufbruch ins Jh. der Extreme. ed. G. Hübinger. Mü. 1996, 376⫺410. ⫺ 4 Niem, C.: E. D. und die Vk. (im Druck). ⫺ 5 Hübinger, G.: Der Verlag E. D. in Jena. Wiss.skritik, Lebensreform und völkische Bewegung. In: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996) 31⫺45, hier 36. ⫺ 6 Meyer, A.: 1896⫺1930: Der Verlagsgründer und seine Rolle als ,Kulturverleger‘. In: Hübinger (wie not. 3) 26⫺89; cf. Hübinger, G.: Kultur und Wiss. im E. D. Verlag. In: Romantik, Revolution & Reform. Der E. D. Verlag im Epochenkontext 1900⫺1949. ed. J. H. Ulbricht/M. G. Werner. Göttingen 1999, 19⫺35. ⫺ 7 cf. D., E.: Der Verleger als Organisator (1912). In: E. D. Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen. ed. U. Diederichs. Düsseldorf/Köln 1967, 36⫺41; id.: Vom Verlegerberuf. In: Das dt. Gesicht. Ein Weg zur Zukunft. Zum 30. Jahr des Verlages E. D. in Jena. ed. E. D. Jena 1926, 4⫺8. ⫺ 8 Werner, M. G.: Die Erneuerung des Lebens durch ästhetische Praxis. Lebensreform, Jugend und Festkultur im E. D. Verlag. In: Hübinger (wie not. 3) 222⫺235. ⫺ 9 cf. Tetzner, L.: Vom Märchenerzählen im Volke. Jena 1919; ead.: Die schönsten Märchen der Welt für 365 und 1 Tag 1⫺2. Jena 1926/27. ⫺ 10 Benz, R.: Die sieben weisen Meister. Jena 1911; id.: Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler. Jena 1911; id.: Tristan und Isalde. Jena 1912; id.: Till Eulenspiegel. Jena 1912; id.: Fortunatus Ampedo Andolosia. Jena 1912; id.: Das Buch der Geschichte des großen Alexanders. Jena 1924. ⫺ 11 Schier, K.: Die Lit.en des Nordens. In: Hübinger (wie not. 3) 411⫺449. ⫺ 12 cf. Diederichs, U.: Die Märchen der Weltlit. 1912 bis 1996. Teil 1 der Gesamtbibliogr.: 1912⫺1945. In: Marginalien 145⫺147 (1997) 51⫺93. ⫺ 13 Uther (wie not. 3); Diederichs, U.: Auf dem Weg zu Märchenruhm. Die Frühgeschichte der Reihe „Die Märchen der Weltlit.“. Ein Beitr. zum 100jährigen Jubiläum des E. D. Verlages. In: Buchhandelsgeschichte (1996) H. 2, B 49⫺B 68; cf. Niem (wie not. 4). ⫺ 14 Ulbricht, J. H.: „Meine Seele sehnt sich nach Sichtbarkeit dt. Wesens.“ Weltanschauung und Verlagsprogramm von E. D. im Spannungsfeld zwischen Neuromantik und ,Konservativer Revolution‘. In: Hübinger (wie not. 3) 335⫺ 374, hier 327. ⫺ 15 cf. ibid. ⫺ 16 Achthaler, F.: Der dt. Mensch. Der E. D. Verlag während des Nationalsozialismus. In: Ulbricht/Werner (wie not. 6) 224⫺ 247, hier 244. ⫺ 17 ibid., 245. ⫺ 18 cf. zur Verlagsgeschichte nach 1930 auch Diederichs, U.: Hinter den Nullpunkt geblickt. Die erste Verlegerzeit von Niels und Peter Diederichs. In: Ulbricht/Werner (wie not. 6) 292⫺346; id.: Verleger im Schatten. Der E. D. Verlag 1929 bis 1949. In: Buchhandelsgeschichte (1999) H. 3, B 90⫺B 115; ibid. H. 4, B 138⫺
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B 163; ibid. (2000) H.1, B 2⫺B 16; Triebel, F.: Der E. D. Verlag 1930⫺1945. Mü. 2004.
Mainz
Christina Niem
Dobreva, Doroteja, *Sofia 5. 2.1948, bulg. Erzählforscherin1. D. studierte 1967⫺72 Germanistik und Anglistik an der Univ. Sofia. 1974⫺2013 war sie als Forscherin am Inst. za folklor (Inst. für Folklore) der Bulg. Akad. der Wiss.en in Sofia tätig, 1987 wurde sie dort mit der Diss. Ba˘lgarskite folklorni anekdoti. Opit za funkcionalna charakteristika ([Bulg. Volksschwänke. Versuch einer funktionalen Charakteristik], unveröff.) promoviert und 1993 zur Dozentin ernannt. Am Inst. hatte sie zusätzliche Funktionen inne, u. a. war sie wiss. Sekretärin (1988⫺98) und Mitglied des wiss. Rats (seit 1994). 2008⫺12 war D. Mitglied des Leitungsrats der Bulg. Akad. der Wiss.en. Ihre Forschungsmaterialien befinden sich im Archiv des Inst.s. D.s Arbeiten zur Erzählforschung beruhen auf einer profunden Kenntnis der traditionellen bulg. Volksprosa im Kontext internat. Überlieferungen. Bei ihren Feldforschungen in verschiedenen bulg. Regionen (ca 1800 masch. Seiten) und Klassifizierungen spezialisierte sie sich auf Tiermärchen und vor allem auf Schwänke. Beide Gattungen verantwortete D. bei verschiedenen Editionen2 sowie bei der Erstellung des bulg. Typenkatalogs3, der bes. im Schwankbereich zahlreiche von AaTh nicht erfaßte Erzähltypen aufweist. Anhand der Gattung Schwank untersuchte D. u. a. regionale Variabilität4, Identitäten und Stereotypen vom ,Anderen‘5, den Bedeutungswandel von Erzählstoffen6, das in ihnen transportierte Frauenbild7, die Kristallisationsgestalten J Hodscha Nasreddin8, Schlauer J Peter9 und die Figur des Geistlichen10 sowie die Präsenz von Schwankstoffen in unterschiedlichsten Gattungsformen mündl. wie literar. Kommunikationssysteme11. Des weiteren widmete sich D. dem biogr. und alltäglichen Erzählen auf dem Dorf 12. In ihren mit schriftl. Quellenstudium kombinierten Oral History-Forschungen zur sozialistischen und nachsozialistischen Zeit untersuchte sie u. a. Strategien im Umgang mit den offiziellen sozialistischen Normen, die Nutzung sozia-
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Dobreva, Doroteja
ler Netzwerke sowie die erzählerische Bewältigung der Vergangenheit und Gegenwart in Bulgarien13. In Unters.en zur Presse als volkskundlicher Quelle und Medium populärer Kultur analysierte D. traditionelle Sagen und Legenden u. a. hinsichtlich ihrer politischen Funktion14 und dokumentierte betrügerische Briefe aus dem Ausland (um 1900) als bulg. hist. Vorläufer von E-Mails, die analog mit dem Betrug durch Vorauszahlung arbeiten15. Ihr bes. Interesse gilt dem Einfluß populärer Diskurse auf Bilder vom ,Eigenen‘ und ,Fremden‘ in der Beziehung Bulgariens zum (westl.) Europa und Konstruktionen des hist. kulturellen Gedächtnisses16. Bojadzˇieva, S.: Za D. D. ⫺ ne samo jubilejno (Für D. D. ⫺ nicht nur zum Jubiläum). In: Ba˘lgarski folklor (2008) H. 1, 141⫺148. ⫺ 2D., D./Parpulova, L.: Ba˘lgarska narodna poezija i proza. 6: Narodni prikazki (Bulg. Volkspoesie und -prosa. 6: Volksmärchen). Sofia 1982; Daskalova, L./D., D./Koceva, J./Miceva, E.: Narodna proza ot Blagoevgradski okra˘g (Volksprosa aus dem Kreis Blagoevgrad). Sofia 1985; D., D./Rajcˇeva, M. (edd.): Marko K. Cepenkov. Folklorno nasledstvo. 3: Prikazki za zˇivotni. Smesˇni i eroticˇni prikazki (Marko K. Cepenkov. Folkloristisches Erbe. 3: Tiermärchen. Komische und erotische Märchen). Sofia 2004. ⫺ 3 DaskalovaPerkovska, L./D., D./Koceva, J./Miceva, E.: Ba˘lgarski folklorni prikazki. Katalog (Bulg. Volksmärchen. Katalog). Sofia 1994 (eaed.: Typenverz. der bulg. Volksmärchen [FFC 257]. ed. K. Roth. Hels. 1995); cf. D., D.: Njakoi problemi na katalogiziraneto na ba˘lgarskite narodni prikazki po sistemata na AarneTompsa˘n (Einige Katalogisierungsprobleme bulg. Volksmärchen nach dem Aarne-Thompson-System). In: Ba˘lgarski folklor (1979) H. 2, 19⫺33. ⫺ 4 ead.: Regionalni razlicˇija va˘v folklornata kultura, otrazeni v anekdotite (Regionale Unterschiede in der Volkskultur, widergespiegelt in den Schwänken). In: Smecha˘t va˘v folklora. ed. P. Dinekov u. a. Sofia 1987, 103⫺109. ⫺ 5 ead.: Anekdotite i cˇuvstvoto za grupova identicˇnost (Die Schwänke und das Gefühl für Gruppenidentität). In: Sociologicˇeski problemi (1987) H. 3, 87⫺95; ead.: Ot Sofija po-golema nema … Aspekti na identicˇnostta v sˇopskija chumor (Etwas Größeres als Sofia gibt es nicht … Identitätsaspekte im Humor der Schopen). In: Ba˘lgarski folklor (1994) H. 4, 14⫺24; ead.: Gedr. Witze aus Gabrovo. Zur Genese des Bildes einer bulg. Industriestadt. In: Roth, K. (ed.): Die Volkskultur Südosteuropas in der Moderne. Mü. 1992, 119⫺134. ⫺ 6 ead.: Ot sueverna predstava ka˘m anekdoticˇen razkaz (Von einer abergläubischen Vorstellung zur Schwankerzählung). In: Edinstvo na ba˘lgarskata folklorna tradicija. ed. T. I. Zˇivkov/S. Janeva. Sofia 1989, 296⫺ 318. ⫺ 7 ead.: Pazi, Bozˇe, ot zˇenska belja! (Obraza˘t 1
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na zˇenata v ba˘lgarskata anekdoticˇna tradicija) (Hüte dich, Gott, vor weiblichem Unfug [Das Bild der Frau in der bulg. Schwanküberlieferung]). In: Literaturna misa˘l (1993) H. 3, 65⫺81. ⫺ 8 ead.: Mnogolikijat Nasreddin. Ka˘m problema za razprostranenieto na obraza mu na Balkanite (Der vielgestaltige Nasreddin. Zum Problem der Verbreitung seines Bildes auf dem Balkan). In: Nastradin Chodzˇa i ba˘lgarskijat folklor. ed. I. Jala˘mov. Sofia 1997, 52⫺66. ⫺ 9 ead.: Hita˘r Peta˘r (der Schlaue Peter) in der bulg. Volksüberlieferung. In: Artes populares 16⫺17 (1995) 245⫺251; cf. EM 10 (2002) 755⫺789. ⫺ 10 ead.: Obraza˘t na svesˇtenosluzˇitelja v narativnata kultura (Das Bild des Geistlichen in der narrativen Kultur). In: Folklor, tradicii, kultura. Festschr. S. Stojkova. Sofia 2002, 162⫺177; cf. EM 10, 1193⫺ 1198. ⫺ 11 D., D.: Chitrost chitrost prechitrja (List überlistet List). Sofia 1995. ⫺ 12 ead.: Zˇitejski razkazi i identicˇnost (Biogr. Erzählungen und Identität). In: Ba˘lgarski folklor (1995) H. 5, 57⫺69. ⫺ 13 Z. B. ead.: Ein eigenes Haus bauen. Über die Nutzung sozialer Netzwerke im sozialistischen Dorf. In: Roth, K. (ed.): Sozialismus: Realitäten und Illusionen ⫺ Ethnol. Aspekte der sozialistischen Alltagskultur. Wien 2005, 13⫺32; cf. ead.: „Den Wettbewerb gab es, aber sie haben belohnt, wen sie wollten.“ Ideologische Wettbewerbsrhetorik und „real-sozialistischer“ Arbeitsalltag in einem bulg. Dorf. In: Mukashibanashi kenkyu¯ no chihei/Horizonte der Erzählforschung. Festschr. T. Ozawa. Kawasaki 2002, 53⫺68; ead.: Erzählungen über das sozialistische Dorf. In: Fabula 42 (2001) 90⫺109. ⫺ 14 ead.: Studijata na Michail Arnaudov „Skazanie za va˘zobnovata na ba˘lgarskoto carstvo“. Ka˘m problema za izvorite na folkloristikata (Michail Arnaudovs Studie „Erzählung von der Erneuerung des bulg. Königreichs“. Zum Problem volkskundlicher Qu.n). In: Akademik Michail Arnaudov ⫺ ucˇenijat i tvoreca˘t. ed. A. Georgieva u. a. Sofia 2006, 88⫺110; ead.: Die Geistermesse in Stanimaka. Politische Implikationen eines internat. Erzählstoffes. In: Bayer. Jb. für Vk. (2005) 93⫺101. ⫺ 15 ead.: „Ispanskite maldzˇii“. Ka˘m istorijata na „nigerijskata izmama“ po materiali ot ba˘lgarskata presa v nacˇaloto na XX v. (Die „span. Schatzsucher“. Zur Geschichte des „nigerian. Betrugs“ nach Materialien der bulg. Presse vom Anfang des 20. Jh.s). In: Ba˘lgarski folklor (2007) H. 2, 56⫺60. ⫺ 16 ead.: Bulgarien auf der Pariser Weltausstellung 1900. Bilder von Eigenem und Fremden in den zeitgenössischen publizistischen Debatten über die Ausstellung. In: Petrov, P./Gehl, K./Roth, K. (edd.): Fremdes Europa? Selbstbilder und Europa-Vorstellungen in Bulgarien (1850⫺1945). B. 2007, 101⫺151; ead.: Hist. Gedächtnis und Identitätskonstruktionen im bulg. Europäisierungsdiskurs. Das Fallbeispiel „Batak“. In: Zs. für Balkanologie 46 (2010) 1⫺25.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
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Dobsˇinsky´, Pavol
Dobsˇinsky´, Pavol, *Slavosˇovce (Bezirk Rozˇnˇava) 16. 3. 1828, † Driecˇany (Bezirk Rimavska´ Sobota) 22. 10. 1885, slovak. evangel. Pfarrer, Folklorist, Lit.historiker und Schriftsteller und einer der Protagonisten der slovak. nationalen Bewegung im 19. Jh.1 D. erhielt seine Ausbildung 1840⫺48 am evangel. Lyzeum in Levocˇa, wo er zu den aktivsten Mitgliedern des Vereins Jednota mla´dezˇe slovenskej (Union der slovak. Jugend) gehörte. 1850⫺52 arbeitete er in Revu´ca als Sekretär des evangel. Pfarrers und ersten slovak. Märchenforschers S. Reuss (1783⫺1852; J Slovaken, Kap. 2). Ab 1852 war D. Kaplan in Brezno, 1855⫺58 Pfarrer in Rozˇnˇavske´ Bystre´, 1858⫺61 Professor für Slovakisch am evangel. Lyzeum in Banska´ Sˇtiavnica, von 1861 bis zu seinem Tod Pfarrer in Driecˇany2. In allen Gemeinden, in denen er wirkte, sammelte D. folkloristisches und ethnogr. Material, u. a. zu Bräuchen, Spielen und zum Volksglauben des 19. Jh.s3. 1848/49 entstand seine erste hs. Slg Slovenskje prostona´rodnˇje povest’i (Slovak. Volksmärchen). Nach der Veröff. der ersten von J. Francisci Rimavsky´ herausgegebenen slovak. Märchensammlung (1845)4 hatte sich D. zusammen mit L’. Reuss (1822⫺1905), dem Sohn von S. Reuss, und A. H. Sˇkulte´ty (1819⫺92) vergeblich um eine Fortsetzung dieses Werks bemüht; aufgrund der politischen Situation gelang es D. und Sˇkulte´ty erst 1858⫺61, eine Slg mit 64 Texten zu veröffentlichen5. Einen Teil davon betrachteten sie als im Altertum entstanden, nahmen aber auch einige realistische und satirische Märchen, die S. Reuss, der Märchen als ,Überreste der Vorzeit‘ betrachtete6, als neu und deshalb wertlos eingeschätzt hatte, in die Slg auf. Der Slg beigefügt sind Angaben zur Verbreitung der Märchen unter den Slovaken. Trotz des reichen Materials, das ihnen aus eigener Sammeltätigkeit und der Slg S. Reuss zur Verfügung stand, konnten D. und Sˇkulte´ty zunächst keine weiteren Bände veröffentlichen. Neue Publikations- und Forschungsmöglichkeiten boten sich D. erst ab 1863 mit der Gründung des slovak. kulturellen und wiss. Vereins Matica slovenska´ (Slovak. Mutter) in Turcˇiansky sv. Martin (1875 von der ung. Regierung aufgelöst). In seiner theoretischen Studie zum Volksmärchen vertrat D. die Auffassung, daß Märchen das Denken der Menschen
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aus vorchristl. Zeit widerspiegelten7, betrachtete sie im Unterschied zu S. Reuss jedoch als Fiktion und nicht als hist. Quelle8. Kurz vor seinem Tod publizierte er mit Prostona´rodnie slovenske´ povesti 1⫺8 ([Slovak. Volksmärchen]. Turcˇiansky sv. Martin 1880/80/80/81/81/82/82/ 83) die größte slovak. Slg aus der mündl. Überlieferung des 19. Jh.s. Sie enthält 90 bislang unveröff. Tier- und Zaubermärchen, Novellenmärchen, Sagen, Legenden, Schwänke und humoristische Erzählungen, die in der Slovakei seit den 1840er Jahren von verschiedenen Sammlern aufgezeichnet worden waren9. D. (wie auch Francisci Rimavsky´ oder S. Reuss vor ihm) betonte zwar, daß Volksmärchen wortgetreu aufzuzeichnen seien und daß die redaktionelle Bearbeitung auf ein Minimum beschränkt werden solle, seine Eingriffe in die Texte waren aber oft größer als angegeben. Um eine künstlerische Form bemüht ,verbesserte‘ er die Sprache, kombinierte mehrere Var.n einer Erzählung und nahm Eingriffe in die Struktur der Erzählungen vor10. D.s Slg wurde unzählige Male herausgegeben, genießt noch heute große Popularität und gilt als kanonische Slg slovak. Volksmärchen11. 1
Melichercˇ´ık, A.: P. D. Portre´t zˇivota a diela (P. D. Ein Porträt seines Lebens und Werks). Bratislava 1959; Gasˇparı´kova´, V.: D., P. In: Encyklope´dia l’udovej kultu´ry Slovenska 1. Bratislava 1995, 96. ⫺ 2 Melichercˇ´ık, A.: Prostona´rodne´ slovenske´ povesti Pavla Dobsˇinske´ho (P. D.s Slovak. Volksmärchen). In: D., P.: Prostona´rodne´ slovenske´ povesti (Slovak. Volksmärchen) 1. Bratislava 1958, 9⫺29, hier 20 sq. ⫺ 3 D., P.: Sbornı´k slovensky´ch na´rodny´ch piesnı´, povesti´, prı´slovı´, porekadiel, ha´dok, hier, obycˇajov a povier (Slg slovak. Volkslieder, Märchen, Sprichwörter, Lebensregeln, Rätsel, Spiele, Bräuche und Glaubensvorstellungen) 1⫺2. Turcˇiansky sv. Martin 1870/74; id.: Prostona´rodnie obycˇaje, povery a hry slovenske´ (Slovak. Volksbräuche, -glaubensvorstellungen und -spiele). Turcˇiansky sv. Martin 1880. ⫺ 4 Francisci Rimavsky´, J.: Slovenskie povesti. Levocˇa 1845. ⫺ 5 Slovenske´ povesti. Povesti prastary´ch ba´jecˇny´ch cˇasov (Slovak. Märchen. Märchen aus alten mythischen Zeiten) 1⫺2. ed. A. H. Sˇkulte´ty/P. D. Rozˇnˇava 1858; t. 3⫺6. ed. iid. Banska´ Sˇtiavnica 1859⫺61; Melichercˇ´ik (wie not. 2) 25 sq.; Kraus, C.: Pra´ca Pavla Dobsˇinske´ho a Augusta Horislava Sˇkulte´tyho na vydanı´ „Slovensky´ch povestı´“ (1858⫺1861) (Die Arbeiten von P. D. und August Horislav Sˇkulte´ty an der Edition der „Slovak. Märchen“ [1858⫺61]). In: Slovensky´ na´rodopis 6 (1958) 628⫺635. ⫺ 6Reuss, S.: Einverständigung. In: Codex revu´cky B. Revu´ca 1840 (zitiert nach Polı´vka 1
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Dokumentation
[1923] 8); Melichercˇ´ık (wie not. 2) 14⫺17; Dzuba´kova´, M.: Codex Revu´cky A, B, C. In: Slovensky´ na´rodopis 21 (1973) 393⫺ 412; ead.: Niekol’ko mysˇlienok o Codexe Revu´ckom B (Einige Gedanken zum Codex Revu´ca B). ibid. 23 (1975) 93⫺102. ⫺ 7 ´ vahy o slovensky´ch povestiach (ÜberleD., P.: U gungen zu slovak. Märchen). Turcˇiansky sv. Martin 1871. ⫺ 8 Buzˇekova´, T./Krekovicˇova´, E.: Dobsˇin´ vahy o slovensky´ch povestiach“ vo svetle ske´ho „U su´cˇasny´ch folkloristicky´ch a slavisticky´ch vy´skumoch (D.s „Überlegungen zu slovak. Märchen“ im Licht der gegenwärtigen folkloristischen und slavistischen Forschungen). In: Slovensky´ na´rodopis 56 (2008) 18⫺27, hier 19 sq. ⫺ 9 cf. Gasˇparı´kova´, V.: Rozpra´vky Pavla Dobsˇinske´ho v dobovom kontexte a ich zˇivy´ odkaz (Die Märchen von P. D. im zeitgenössischen Kontext und ihr lebendiges Vermächtnis). In: Slovensky´ na´rodopis 34 (1986) 381⫺389, hier 389. ⫺ 10 Melichercˇ´ık (wie not. 2) 29 sq. ⫺ 11 Gasˇparı´kova´ (wie not. 9) 382⫺385.
Bratislava
Gabriela Kilia´nova´
Dokumentation, Zusammenführung von Informationen und Objekten bzw. Dokumenten zum Ziel ihrer Verfügbarmachung. Der Begriff D. ist seit 1878 in Gebrauch und hat alle Gebiete des Wissens erfaßt1. D. besteht darin, gesammelte Wissensbestände und Gegenstände aufzufinden, zu ordnen und für die weitere Verwendung nutzbar zu machen2. Dies gilt auch für die Erzählforschung und ihr Untersuchungsfeld3. Im folgenden wird die D. mündl. Erzählungen exemplarisch anhand des dt. Sprachgebiets vorgestellt. Das wachsende Interesse an der Überlieferung von Volkserzählungen seit dem Beginn des 19. Jh.s führte zur Zusammenstellung von Belegen aus älteren schriftl. Quellen. D. wurde hist. unterschiedlich aufgefaßt und ist nicht immer eindeutig von J Bearbeitung zu trennen. Bei der D. stand zunächst die Ermittlung und Gestaltung der Erzählstoffe im Vordergrund. Entsprechende Slgen zeigen weithin kompilatorische Züge und präsentieren sich oft als Anthologien ausgewählter Texte4. Wiss. dokumentarische Ansätze finden sich lediglich in den Veröff.en, die Angaben zu Herkunft, Bearbeitung sowie inhaltlicher und räumlicher Zuordnung enthalten5. Gelegentlich wurden schriftl. Quellen mit von den Herausgebern notierten mündl. Fassungen dargeboten. In dieser Weise verfuhr etwa J. D. H. J Temme in seinen Westphäl. Sagen und Geschichten (El-
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berfeld 1831); demgegenüber beschränkte sich J. G. T. J Grässe mit seinen Sagenbänden Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen (Dresden 1855) und Sagenbuch des Preuß. Staates 1⫺2 (Glogau 1868/71) auf die kompilatorische Arbeit; K. J. J Simrock legte mit den Rheinsagen (Bonn 1837) poetische Umbildungen und Umschöpfungen vor. Gerade die Bemühungen, Volkserzählungen, bes. Sagen und Märchen, für die Bedürfnisse von Rezipienten umzuerzählen oder gar zu erfinden, schränkte dabei den wiss. Charakter der D. ein6. Den Anspruch, Märchen bewahren zu wollen7, vertraten die Brüder J Grimm mit ihren J Kinder- und Hausmärchen und lenkten damit den Schwerpunkt der D. von Erzählgut auf die mündl. Überlieferung. Mit der Wende vom 19. zum 20. Jh. wurden die Methoden der Erzählforschung zunehmend ausgefeilter. Man begann mit Erhebungen durch J Feldforschungen und machte damit die D. von Texten erforderlich8. Als ein wesentlicher und problematischer Aspekt dieses Vorgehens galt dabei die Technik der Texterfassung9. Die Gewinnung von verläßlichem Material verlangte möglichst präzise Aufzeichnung, Gehörtes war indessen kaum exakt in der geläufigen Schriftsprache oder einer Kurzschrift (Stenographie) mit- oder aus der Erinnerung nachzuschreiben10. Darauf reagierten die Sammler in unterschiedlicher Weise: Bereits im Vorwort zu den KHM berichten J. und W. Grimm, daß ihnen Dorothea Viehmann mitunter zweimal erzählte, einmal, wie sie es gewohnt war, und „dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Übung nachschreiben konnte“11, wodurch die wörtliche Aufnahme des Erzählten möglich wurde. R. J Wossidlo engagierte eine Anzahl von Mitarbeitern, denen er hinsichtlich der Art der Aufzeichnung keinerlei Vorschriften machte, er betonte vor allem, wie wichtig die Beherrschung von Dialekt und Mundart für das Sammeln sei12; W. J Wisser zeichnete plattdt. Geschichten wörtlich bis stichpunktartig in der Sprache der Erzähler auf 13; M. J Zender notierte sich während des Erzählvorgangs Stichworte, die er später zu vollständigen Texten ergänzte14; im gleichen Zeitraum bemühte sich H. Dittmaier darum, die Erzählungen seiner Informanten wortwörtlich in der Schrift festzuhalten15.
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Dokumentation
Einen wesentlichen Schritt zur Verbesserung der Textaufnahmen brachte der Einsatz von J Tonträgern mit sich (J Medien, audiovisuelle). In Deutschland hatte u. a. J. J Künzig seit den 1920er Jahren mit einem Edisonographen gearbeitet, in der Folge wurden Tonaufnahmen zunehmend wiss. Standard. Die nach mündl. Performanz gespeicherten Texte wurden dann in Schriftfassungen übertragen16. Auch hier lassen sich unterschiedliche Verfahren feststellen: A. J Senti etwa war bestrebt, seine Tonbandaufnahmen im J Dialekt zu transkribieren und so ein „festgehaltenes Bild des überlieferten Erzählgutes“ zu erstellen17. Demgegenüber bediente sich J. Guntern neben dem Tonband einer eigenen Stenographie18. Mit der Erweiterung des Wirkungsbereichs der Speichermedien durch deren Digitalisierung19 ist einerseits ihr Einsatz, andererseits auch ihre weitere Nutzung stark vereinfacht worden. Da Volkserzählungen im Erzähltwerden leben (J Performanz), sind Aussagen zum Gegenstand der Erhebung, zu den beteiligten Personen (J Erzählen, Erzähler; J Zuhörer), zu den Umständen von Ort, Zeit und Situation, zu Sprache und Methoden notwendig (J Kontext). Auf die Einbeziehung des Kontexts zielt die von dem Ethnographen C. Geertz entwickelte Methode der ,dichten Beschreibung‘, die möglichst viele auch über den eigentlichen Erzählprozeß hinausgehende Details einbezieht20. Der Veranschaulichung des Textualisierungsprozesses soll die Erstellung eines ,dichten Korpus‘ dienen, d. h. die mehrfache D. mündl. Texte aus dem gleichen Kontext21. Da bereits mit der D. von Wissensbeständen eine Entscheidung über spätere wiss. und/oder hist. Deutungsoptionen getroffen wird, erfordert D. ein hohes Maß an Sorgfalt und Problembewußtsein22. Sachangaben und Reg. bei Veröff.en helfen bei der J Rekonstruktion des Erzählgefüges23. Der Erzähltext wird zur Quelle, die Ansprüchen der Kritik genügt und auf J Authentizität und Verläßlichkeit zielt24. Der Anspruch der aktuellen D.sverfahren in der Erzählforschung geht über die Sicherung von Erzähldaten und deren bloße Darbietung hinaus. Sie beruht auf einem System von Prozessen und Operationen, das die Dokumente ordnet, bewertet und für die weitere Untersuchung bereitstellt25. Ihre Wirksamkeit ist an mehrere Voraussetzungen gebunden. Am An-
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fang stehen in der Regel die Beschreibung des Ziels der Erzähltexterhebung und die Bestimmung des einen D.swert besitzenden Erzählgegenstands. Angaben zum hist., räumlichen und inhaltlichen Erzählrahmen repräsentieren Erzählungen als Ausschnitt der Wirklichkeit, der einer individuellen Auswahl unterliegt. Um Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, sind Zeitbezug, räumliche und situative Zuordnung sowie inhaltliche und textuelle Aspekte zu definieren und zu überprüfen. Diese Bedingungen erfordern Wahrnehmung und Reflexion26. Bei der mündl. Texterhebung bedarf es für die sprachliche Überlieferung eines geeigneten (technischen) D.smittels. (Ton-)Aufnahmen werden transkribiert, um die Texte für die Analyse und Veröffentlichung zugänglich zu machen (J Philol. Methode)27, wobei Determinanten für die Texte (Kontext, nichttextuelle Aspekte) mitreflektiert werden28. Fotos und Filme sind eine geeignete Möglichkeit, um das situative Umfeld und die Gebärdensprache (J Gebärde) der Erzähler festzuhalten29. Das Ziel des D.sprozesses ist die Edition, die nach wiss. Verfahren erarbeitete Texte für spezifische Unters.en zur Verfügung stellt30. Die Forschungsergebnisse werden in Publ.en und in Folklorearchiven (auch speziellen Tonarchiven)31, die inzwischen teilweise ebenfalls in digitalisierter Form und im Internet zu finden sind32, zugänglich gemacht. Ein wichtiges dokumentatorisches Arbeitsfeld ist die Erstellung von Ordnungssystemen für das Erzählgut in J Motiv- und J Typenkatalogen. Sie unterstützen die Klassifizierung und Systematisierung der Materialien zum Nutzen der hist. vergleichenden Erzählforschung, helfen bei der Erschließung quellenmäßiger Abhängigkeiten sowie der Beziehungen zwischen mündl. und schriftl. Überlieferung und ermöglichen die Beantwortung von Fragen nach der J Rezeption33. 1
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Hennef
Helmut Fischer
´ kos, *Budapest 21. 12. 1938, Dömötör, A † ebenda 4. 8. 1999, ung. Erzählforscher und Folklorist1. D. studierte ab 1958 ung. Lit. und Sprache, Ethnologie und Musikwissenschaft an der Eötvös Lora´nd Univ. in Budapest. Nach der Lehramtsprüfung 1963 erwarb er 1964 zusätzlich ein Diplom für ukr. Sprache und Lit. 1964⫺68 arbeitete er als Grundschullehrer sowie 1969⫺74 als Referent für Heimatkunde im Ne´pmu˝vele´si Inte´zet (Inst. für Volksbildung) in Budapest. 1972 wurde D. mit der Diss. Affinita´svizsga´latok a Borso´fiu´-mese ukra´n e´s magyar va´ltozataiban (Die ukr. Var.n des Märchens vom Baum, der bis zum Himmel reicht) promoviert2. 1974⫺88 war er als wiss. Mitarbeiter am Magyar Munka´smozgalmi Mu´zeum (Museum der Arbeiterbewegung) in Budapest angestellt, 1988⫺98 leitete er die Angyalföldi Helytörte´neti Gyu˝jteme´ny (Angyalföld-Slg für Ortsgeschichte) in Budapest. D. verfügte über zahlreiche internat. Kontakte und war von Anfang an Autor der EM.
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´ kos Dömötör, A
Bereits während seines Studiums veröffentlichte D. eine erste Slg von Märchen, Sarkadi Ne´pmese´k ([Volksmärchen aus Sarkad]. Gyula 1962). Auch seine späteren Publ.en befaßten sich mit regionalen und hist. Aspekten ung. Volkserzählungen3. Sein Band Ho˝sök e´s ve´rtanu´k ([Helden und Märtyrer]. Bud. 1998) enthält Sagen und Erinnerungen zum ung. Freiheitskampf von 1848. In seiner Diss. zum Phänomen des himmelhohen J Baums untersuchte D. die gemeinsamen Elemente der Heldendarstellung in ung. Zaubermärchen und der ukr. Heldenepik4. Ein Schwerpunkt von D.s Arbeit war die Typisierung von Erzählungen sowie die Erarbeitung von Typenverzeichnissen. Über Jahrzehnte erstellte er die Klassifizierungen für die ´ j Magyar Märchenpublikationen der Reihe U ne´pkölte´si gyu˝jteme´ny (Slg neuer ung. Volksdichtungen); auch die wiss. Anmerkungen der ersten sieben Bände der von I. Krı´za herausgegebenen Ciganisztikai tanulma´nyok ([Zigeunerstudien]. Bud. 1984⫺90) wurden von ihm geliefert. Eine von D.s methodisch bedeutendsten Arbeiten ist der die Zaubermärchen umfassende 2. Band des Magyar ne´pmesekatalo´gus ([Katalog der ung. Volksmärchen]. Bud. 1988), für den D. Typenbeschreibungen lieferte, die sowohl den internat. Kontext als auch die schriftl. Vorgeschichte der einzelnen Textteile berücksichtigen. Sein Katalog A magyar protesta´ns exemplumok ([Katalog der ung. protestant. Exempel]. Bud. 1992), eine Pionierarbeit der ung. Folkloristik, folgt der Systematik von F. C. J Tubachs Exempelkatalog. Mit zahlreichen Einzelthemen aus dem Gebiet der protestant. Exempel hat D. sich in separaten Studien beschäftigt5, so u. a. mit der ung. populären J Luther-Tradition6, den J Gesta Romanorum7, der kulturgeschichtlichen Rolle des J. A. Comenius (1592⫺1670)8 und dem Einfluß von Andreas J Hondorff in Ungarn9. Ein bedeutender Teil von D.s Arbeit bezieht sich ferner auf die humoristische Volksüberlieferung10. In zahlreichen kleineren Aufsätzen befaßte er sich mit den internat. Zusammenhängen von Spottgedichten und Witzen, mit dem Ursprung von Märchen, mit der Entstehung von Parallelen oder mit sprachlichen Eigenheiten11. Als Materialbasis nutzte er dabei
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ebenso die frühneuzeitliche schriftl. Überlieferung wie zeitgenössische Quellen, etwa Volkserzählungen in Lehrbüchern oder Zeitungen12. 1 ´ . az ukra´n folklo´r magyar kutato´ja Danko´, I.: D. A ´ . D., ein ung. Erforscher der ukr. Folklore). In: (A Festschr. P. Lizanec. Uzˇgorod 2000, 197⫺206; Krı´za, ´ .ra emle´kezve (Erinnerung an A ´ . D.) In: EthI.: D. A ´ . D. (1938⫺ nographia 111 (2000) 213⫺219; ead.: A ´ j Lex. 1999). In: Fabula 41 (2000) 318⫺323; Re´vai U (Das neue Re´va-Lex.). ed. I. Tarsoly. Szeksza´rd ´ . D. (1938⫺1999) in memo2000, 719; Voigt, V.: A riam. In: Zs. für Balkanologie 37 (2001) 115⫺117. ⫺ 2 ´ .: Die ukr. Var.n des Märchens vom Baum, D., A der bis zum Himmel reicht. In: Studia Slavica 10 (1964) 181⫺197. ⫺ 3 id.: Fo´tonfo´t kira´ly (Der bettelarme König). Bud. 1985; id.: Az o´lomerdo˝ (Der Bleiwald). Bud. 1988. ⫺ 4 id.: Zur Herkunftsfrage des ukr. Dumahelden Fesko Handza Andyber. In: Studia Slavica (1986) 291⫺306. ⫺ 5 id.: A pe´lda´zatok terme´szetrajza a protesta´ns szentbesze´dekben (Der Charakter des Exempels in protestant. Predigten). In: Theolo´giai szemle 28 (1985) 15⫺21; id.: A pe´lda´zatok fejlo˝de´stendencia´i a protesta´ns igehirdete´sben (Die Entwicklung des Exempels in der protestant. Liturgie). ibid., 326⫺334; id.: Csodajelek a 16⫺17. sza´zadi evange´likus pre´dika´cio´kban (Mirakel in evangel. Predigten im 16.⫺17. Jh.) In: Diako´nia. Evange´likus szemle 8 (1986) 80⫺84; id.: Margitai La´ni Pe´ter pe´lda´zatainak eredete (Die Qu. des Exempels von Pe´ter Margitai La´ni). In: A Debreceni Kossuth Lajos Tudoma´nyegyetem Közleme´nyei 156 (1991) 9⫺18. ⫺ 6 id.: Hazai Luther-monda´k (Ung. Luther-Sagen). In: Fabinyi, T. (ed.): Tanulma´nyok a lutheri reforma´cio´ törte´nete´bo˝l. Bud. 1984, 324⫺ 340; id.: Luther-a´bra´zola´sok ne´met szükse´gpe´nzeken (Das Luther-Gesicht auf dt. Notgeld). In: Lelkipa´sztor (1995) 358⫺360. ⫺ 7 id.: Gesta Romanorum törte´netei mint exemplumok (Die Geschichten aus den Gesta Romanorum als Exempel). In: Studia litteraria 22 (1994) 117⫺125. ⫺ 8 id.: Comenius ke´t pe´lda´ja a farkasgyermekro˝l (Zwei Exempel von Comenius ´ j Pedago´giai szemle 45 über Wolfskinder). In: U (1995) 59⫺64; id.: Az Orbus pictus keletkeze´se (Die Entstehung des Orbis Pictus von Comenius). In: Magyar pedago´gia 96 (1996) 169⫺184; id.: Comenius szellemi környezete. A realista pedago´gia csı´ra´i e´s összefügge´sei (Comenius und seine geistige Umwelt. Anfänge und Kontexte der realistischen Pädagogik). ´ j Holnap (1998) 109⫺124; id.: Comenius und In: U die Katechismuslieder. In: Acta ethnographica Hungarica 45 (2000) 165⫺169. ⫺ 9 id.: Hondorff-hata´sok Keresszegi Herman Istva´n exemplumaiban (Hondorffs Einfluß in den Exempeln von Istva´n Keresszegi Herman). In: Acta historiae litterarum 25 (1988) 15⫺30. ⫺ 10 id.: A lo´ tre´fa´s e´letrajza (Komische Biogr. des Pferdes). In: Savaria (1971) 325⫺330. ⫺ 11 id.: Csa´volyi ne´phagyoma´nyok (Volksüberlieferungen aus Csa´voly). In: Ma´ndics, M. (ed.): Fejezetek Csa´voly közse´g kro´nika´ja´bo´l. Csa´voly 1969,
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Dvorˇa´k, Karel
161⫺184; id.: Russ. Redaktionen des Märchens vom Erbsensohn. In: Studia Slavica 22 (1976) 79⫺92; id.: Affinitätsunters.en zu den ukr. und ung. Var.n des Märchens vom Erbsensohn. In: Zs. für Balkanologie 29 (1993) 68⫺84; id.: Ho´fehe´rke-mese a ke´peslapokon (Schneewittchen auf Postkarten). In: Ke´peslap (1995) 1⫺10; id.: Das Märchen von den Obstmädchen bei den Kroaten und seine Motivzusammenhänge. In: Zs. für Balkanologie 34 (1998) 156⫺162; id.: A ne´pi elbesze´le´skultu´ra va´ltoza´sai a Hangonyvölgye´ben (Die Veränderungen in den Volkserzählungen des Hangony-Tals). In: A Herman Otto´ Mu´zeum E´vkönyve 38 (1999) 1199⫺1228. ⫺ 12 id.: Erzählungen in den Lesebüchern der ung. Volksschule 1800⫺1940. In: Acta Ethnographica Hungarica 46 (2001) 273⫺296.
Budapest
Ildiko´ Kriza
Dvorˇa´k, Karel, *Olmütz 28. 5. 1913, † Prag 9. 6. 1989, tschech. Folklorist und Lit.historiker. D. studierte 1932⫺38 Slavistik und Germanistik an der Karls-Univ. Prag. Dort wurde er 1949 mit einer Arbeit über die slav. Volkslieder des Dichters und Folkloristen Frantisˇek ˇ elakovsky´ (1799⫺1852) promoviert. Ladislav C Seit 1947 war D. Assistent, seit 1950 Fachassistent und seit 1954 Dozent für tschech. Lit. an der dortigen Pädagogischen Fakultät; seit 1958 arbeitete er an der Phil. Fakultät. Dort gründete er 1968 den Lehrstuhl für Ethnographie und Folkloristik, den er bis 1978 leitete1. Im Zentrum von D.s Arbeit standen die Beziehungen von Lit. und Vk. und methodische Ansätze beider Disziplinen. Ausgangspunkt hierfür war D.s Interesse an der tschech. Lit. der Nationalen Wiedergeburt des 19. Jh.s und an der Rolle, welche die Volksliteratur dabei spielte. Vor allem seine Arbeit an der Herausˇ elakovsky´s2 und seine Begabe der Schriften C schäftigung mit dem Lieder- und Märchensammler Karel Jaromı´r J Erben3 brachten D. zur Folkloristik. Zunehmend verlagerte sich D.s Forschungsinteresse auf Volkserzählungen, hauptsächlich auf Märchen und Sagen4. Lange Jahre galt es dem Märchen in alttschech. Texten und seiner Beziehung zur ma. epischen Tradition, vor allem zu Exempla. Ergebnis seiner Beschäftigung mit alttschech. Quellen seit den Anfängen der tschech. Lit. bis in vorhussit. Zeit (ca 1400) waren die populäre Anthologie Nejstarsˇ´ı cˇeske´ poha´dky ([Die ältesten tschech. Mär-
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chen]. Prag 1976)5, die 117 von D. übersetzte und stilistisch vereinheitlichte Märchentexte enthält, und D.s bedeutendstes Werk, sein Verz. alttschech. Exempla Soupis starocˇesky´ch exempel. Index exemplorum paleobohemicorum (Prag 1978; erschienen 1980)6, das sich am Index exemplorum (Hels. 1969) von F. C. J Tubach orientiert. D.s Katalog umfaßt etwa 600 Exempla, von denen die Hälfte bei Tubach aufgeführt ist; die andere Hälfte bilden Ergänzungen zu dessen Katalog. Im Gegensatz zu Tubach sind D.s Typenbeschreibungen ausführlicher, mitunter sind den Typen Var.n und Sprichwörter beigefügt. D. arbeitete ausschließlich mit gedruckt vorliegenden lat. und alttschech. Quellen. Die Begrenzung auf die vorhussit. Zeit liegt in der Ablehnung von Exempla durch die Hussiten sowie in der in nachhussit. Zeit veränderten Situation begründet. Eine 2., überarbeitete und erw. Ausg. des Katalogs sowie deren Übers. ins Deutsche konnte D. nicht mehr vollenden. Das bisher unveröff. Ms. enthält u. a. einen umfangreichen Anh. mit mehr als 200 neuen Exempeltypen. Hierfür hatte der Koautor des Anh.s, K. Boldan, die Hs. Historiae variae moralisatae (Ende 14. Jh.) vollständig exzerpiert, auf die D. in der 1. Ausg. nur auszugweise zurückgegriffen hatte. Einen im weitesten Sinne ethnogr. Standpunkt vertrat D. bei der Herausgabe der in lat. Sprache verfaßten autobiogr. Aufzeichnungen des dt. Mönchs Johannes Butzbach (1477⫺ 1516), in denen dieser seine Erlebnisse aus studentischen Wanderjahren am Ende des 15. Jh.s in Böhmen darstellt7. D. übersetzte den Text neu und kommentierte ihn aus folkloristischer, literarhist. sowie ethnogr. Perspektive. In seiner letzten Schaffensperiode legte D. zwei Editionen mit Volkserzählungen vor: eine Ausw. aus der Slg tschech. Märchen und Sagen des Vereins Slavia (1878)8 sowie eine Ausw. russ. Märchen aus der Slg A. N. J Afanas’evs9. 1
Soupis pracı´ K.a D.a (Verz. der Arbeiten von K. D.). In: Studia ethnographica 4 (1978) 13⫺19; Sochorova´, L. (ed.): K. D. (1913⫺1989). Stra´zˇnice ˇ elakovsky´, F. L.: Slovanske´ na´rodnı´ 2004. ⫺ 2 C pı´sneˇ (Slav. Volkslieder). ed. K. D. Prag 1946, id.: Ohlas pı´snı´ rusky´ch ⫺ Ohlas pı´snı´ cˇesky´ch (Widerhall russ. Lieder ⫺ Widerhall tschech. Lieder). ed. K. D. Prag 1948; id.: Mudroslovı´ na´rodu slovan-
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El-Shamy, Hasan
ske´ho v prˇ´ıslovı´ch (Weisheiten des slav. Volks in Sprichwörtern). ed. K. D. Prag 1949. ⫺ 3 D., K.: K. J. Erben. In: Deˇjiny cˇeske´ literatury 2. ed. J. Vlcˇek. Prag 1960, 542⫺566. ⫺ 4 id.: Kette und Ring als Strafe. Ein Beitr. zum vergleichenden Studium einer antifeudalen Sage. In: DJbfVk. 11 (1965) 332⫺ 339; id.: AaTh 500 in dt. Var.n aus der Tschechoslowakei. In: Fabula 9 (1967) 100⫺105; id.: Eine ma. Teufelsgeschichte und ihr Nachleben in der mündl. Überlieferung. In: HessBllfVk. 58 (1967) 96⫺103; id.: Zur Sage vom Schlangenbann. In: Fabula 18 ` ge. (1977) 256⫺258. ⫺ 5 cf. id.: Contes du Moyen A Prag/P. 1982; id.: Die ältesten Märchen Europas. Erlangen 1983. ⫺ 6 Rez. H.-J. Uther in Fabula 22 (1981) 327 sq. ⫺ 7 D., K.: Humanisticka´ etnograˇ ech. Johannes Butzbach a jeho Hodoporicon fie C (Humanistische Ethnographie Böhmens. Johannes Butzbach und sein Hodoporicon). Prag 1975. ⫺ 8 id.: Poha´dky a poveˇsti nasˇeho lidu (Märchen und Sagen unseres Volkes). Prag 1984. ⫺ 9 Afanasjev, A. N.: Ruske´ lidove´ poha´dky (Russ. Volksmärchen). ed. K. D. Prag 1984.
Prag
Jan Luffer
El-Shamy, Hasan, *Kairo 21. 6. 1938, ägypt.-amerik. Folklorist und Erzählforscher. E. studierte seit 1955 an der ¤Ain Sˇams-Univ. in Kairo, wo er zunächst arab.-islam. Studien, 1959/60 Psychologie und Pädagogik belegte. 1960 begann er das Studium der Folkloristik an der Indiana Univ. in Bloomington, wo er 1964 seine Magisterarbeit An Annotated Collection of Egyptian Folktales, Collected from an Egyptian Sailor in Brooklyn vorlegte; 1967 wurde er ebenda mit der Diss. Folkloric Behavior. A Theory for the Study of the Dynamics of Traditional Culture promoviert. 1968⫺72 war E. als Archivdirektor des volkskundlichen Zentrums im ägypt. Kulturministerium in Kairo tätig. Seit 1972 ist er am Folklore Institute sowie am Department of Near Eastern Languages and Cultures der Indiana Univ. in Bloomington beschäftigt, 1972/73 zunächst als Gastwissenschaftler, 1973⫺80 als Assistant Professor und 1980⫺85 als Associate Professor; seit 1985 hat er eine ordentliche Professur inne. 1980 wurde E. mit dem Chicago Folklore Prize ausgezeichnet. E. ist ein internat. führender Fachmann für die arab. narrative Überlieferung. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Motiv- und Typenanalyse von Volkserzählungen sowie ein kognitiv-psychol. Zugang zur Volkskultur. In
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seiner Diss. untersuchte er das Phänomen von Stabilität und Wandel traditioneller Kultur anhand der ägypt. Gemeinde in Brooklyn; die hierbei eingeführte Konzeption des ,kognitiven Behaviorismus‘ entwickelte er in verschiedenen Arbeiten weiter1. In einer Reihe von Aufsätzen beschäftigte er sich u. a. mit typol. und demographischen Aspekten der arab. Volkserzählung2, dem ,Bruder-Schwester-Syndrom‘ in der arab. Volkskultur3, den Erzählungen aus J Tausendundeine Nacht 4 und arab.-islam. populären Glaubensvorstellungen5. Der von E. im Rahmen der Reihe Folktales of the World herausgegebene Band Folktales of Egypt (Chic. 1980) enthält ebenso wie Tales Arab Women Tell and the Behavioral Patterns They Portray (Bloom. 1999) und die Neuausgabe von G. Maspe´ros Band Popular Stories of Ancient Egypt ([N. Y. u. a. 1915] Santa Barbara u. a. 2002) ausführliche Anmerkungen zu psychol., typol. und komparatistischen Aspekten. E.s Kataloge zu Motiven und Typen arab. Erzählungen (Folk Traditions of the Arab World 1⫺2. Bloom. 1995; Types of the Folktale in the Arab World. A Demographically Oriented Tale-Type Index. Bloom. 2004; A Motif Index of the Thousand and One Nights. Bloom. 2006), in denen er die bestehenden Systeme z. T. erheblich erweiterte, sind Standardwerke der hist. und vergleichenden Erzählforschung. Zusammen mit J. Garry gab er das Hb. Archetypes and Motifs in Folklore and Literature (Armonk 2005) heraus. In Religion among the Folk in Egypt (Westport 2008) bietet er eine Unters. und Anthologie ägypt. Glaubenssagen im Kontext des volkstümlichen Islam. Über seine eigenen Arbeiten hinaus hat E. dazu beigetragen, arab. Wissenschaftlern Begriffe und Konzepte aus der westl. ethnol. und folkloristischen Forschung zugänglich zu ma˚ . Hultkranz’ chen, so durch seine Übers. von A General Ethnological Concepts (Kop. 1960) ins Arabische6. 1
E., H.: The Supernatural Belief Practice System in the Contemporary Egyptian Folk Culture. Bloom. 1975; id.: Brother and Sister. Type 872*. A Cognitive Behavioristic Text Analysis of a Middle Eastern Oikotype. Bloom. 1979; cf. auch id.: Behaviorism and the Text. In: Folklore Today. Festschr. R. M. Dorson. Bloom. 1976, 145⫺160; id.: The Traditional Structure of Sentiments in Mahfouz’s „Trilogy“. A Behavioristic Text Analysis [1976]. In: Critical Per-
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Erfindung ⫺ Esoterik
spectives on Naguib Mahfouz. ed. T. Le Gassick. Wash. 1991, 51⫺70. ⫺ 2 id.: Towards a Demographically Oriented Type Index for Tales of the Arab World. In: Cahiers de litte´rature orale 23 (1988) 15⫺ 40; id.: An Index for Tales of the Arab World. In: Fabula 29 (1988) 150⫺163; cf. auch id.: Psychologically-based Criteria for Classification by Motif and Tale-type. In: J. of Folklore Research 34 (1997) 233⫺243. ⫺ 3 id.: The Brother-Sister Syndrome in Arab Family Life. Socio-Cultural Factors in Arab Psychiatry. In: Internat. J. of Sociology of the Family 11,2 (1980) 313⫺323; cf. auch id.: Siblings in „Alf layla wa-layla“ [2004]. In: The Arabian Nights in Transnational Perspective. ed. U. Marzolph. Detroit 2007, 83⫺101. ⫺ 4 id.: Oral Traditional Tales and the Thousand Nights and a Night. The Demographic Factor. In: The Telling of Stories. ed. M. Nøjgaard u. a. Odense 1990, 63⫺117; id.: The Oral Connection of the „Arabian Nights“. In: Marzolph/ van Leeuwen 1, 9⫺13; cf. auch id.: Mythological Constituents of „Alf laylah wa-laylah“. In: The Arabian Nights and Orientalism. ed. Y. Yamanaka/T. Nishio. L. u. a. 2006, 25⫺46. ⫺ 5 id.: Belief Characters as Anthropomorphic Psychosocial Realities. In: Annual Review of Sociology (Cairo) 3 (1982) 7⫺ 36. ⫺ 6 Hultkrantz, A.: Qa¯mu¯s musøtøalahø a¯t al-itnu¯lu¯gˇ¯ıya wa-’l-fu¯lklu¯r (Lex. ethnol. und folkloristischer ˇ auharı¯. Kairo ø . asˇ-Sˇa¯mı¯/M. al-G Termini). Übers. H 1972.
Bloomington
David E. Gay
Erfindung J Authentizität, J Bearbeitung, J Erzählen, Erzähler, J Fakelore, J Fälschung (Nachtrag), J Fiktionalität, J Folklorismus, J Kreativität, J Performanz, J Phantasie, Phantastik, J Rekonstruktion, J Tradition
Esoterik 1. Begrifflichkeit ⫺ 2. Institutionalisierung ⫺ 3. E. zwischen Mythos, Phantastik und Wiss.
1 . B eg ri ff li ch ke it. Semantisch verweist E. auf dezidiert geheime bzw. verborgene, daher auch meist nur in betont hermetischen Gemeinschaften tradierte religiöse Vorstellungen und Praktiken ⫺ im Gegensatz zu offen zugänglichen Formen einer Exoterik1. Klassische Vorbilder sind z. B. die antike J Gnosis und Mysterienreligionen oder initiatorische Gemeinschaften (Logen, Geheimgesellschaften)2. In der 2. Hälfte des 20. Jh.s hat sich der Begriff E. zunehmend als Bezeichnung für ver-
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schiedene alternativreligiöse Gruppen, Netzwerke und Diskurse des Westens eingebürgert3, die u. a. im Kontext von H. P. Blavatskys Secret Doctrine (L. 1888), der Theosophie und verwandten Strömungen im 19./20. Jh. entstanden sind, z. T. aber schon in ältere Schichten zurückreichen (z. B. J Freimaurer, Rosenkreuzer, Swedenborgianer; mediumistische Praktiken, Ägyptosophie, J Satanismus, J Kabbala-Faszination)4. Häufig ist hier ein betont traditionsübergreifender, inklusiver Gestus zu beobachten; dementsprechend finden einerseits u. a. neopagane, schamanistische (J Schamanismus) oder asiat. Religionselemente Eingang (,Kraftorte‘, Runenorakel; Trommeln und Trance; Yoga, Meditation, Mantras, J Wiedergeburt [J Seelenwanderung] bzw. insgesamt Asien- und Buddhismusfaszination)5, andererseits aber auch therapeutische Ideale (z. B. geistiges Heilen und Magnetismus, transpersonale Psychologie, Reinkarnationstherapie) und mit einem Medium verbundene Praktiken (Seancen, Spiritismus, Channeling, automatisches Schreiben), Lebensberatungs- und Wellness-Angebote (Meditations- und Ernährungslehren, Engelratgeber) oder alternative ,Technologien‘ wie AuraPhotographie, Biofeedback-Instrumente oder Computerhoroskope. Spezielle E.messen bieten Einblicke in die Weitläufigkeit und Hybridität zeitgenössischer E.diskurse. Im engl.sprachigen Raum wird dieses schwer einzugrenzende neoreligiöse Spektrum häufig noch mit dem ursprünglich auf die astrologische Wende zum sog. Wassermannzeitalter bezogenen New Age-Label angesprochen, das sich im dt.sprachigen Kontext nur kurzzeitig (vor allem in den 1980er Jahren) etablieren konnte. Mittlerweile hat sich, spätestens seit der Jahrtausendwende, bei vielen Akteurinnen und Akteuren der noch weiter reichende, unspezifische Begriff ,Spiritualität‘6 als weitaus beliebter herauskristallisiert, zumal sich mit der Bezeichnung E. zunehmend negative Assoziationen verknüpften (Vorwürfe wie Scharlatanerie, Körperfeindlichkeit, Irrationalität etc.). 2 . I ns ti tu ti on al is ie ru ng. Organisatorisch reicht das Spektrum der E. von einer bes. ausgeprägten Individualreligiosität7 über lose Lesezirkel (Buchpublikationen, Zss.) und UserGruppen (Websites, Blogs, Internetforen), Er-
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Esoterik
wachsenenbildungs-, Meditations- oder Lebenshilfedienstleister mit Klientenbeziehungen und Netzwerkstrukturen bis hin zu fester organisierten neoreligiösen Gruppen unter der Leitung charismatischer Führungspersönlichkeiten8. Bei letzteren kann eine stärkere Grenzziehung zur Umwelt stattfinden; die Gruppen positionieren sich dann als alternativreligiöse Enklaven9 wie etwa Fiat Lux, Scientology oder Universelles Leben10. Elemente und Praktiken der E. begegnen als ,populäre Religion‘ bzw. ,Spiritualität‘ zunehmend globalisiert auf unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen, u. a. in Film und Fernsehen11, Workshops, Therapien, Büchern sowie im Internet12. 3 . E . z wi sc he n Myt ho s, Ph an ta st ik u nd Wi ss. Viele E.diskurse der Gegenwart führen die ins 19. Jh. reichenden und bereits mit Spiritismus und Okkultismus verknüpften J Utopien einer holistischen Synthese von Wiss. und Religion (bzw. Technik und Spiritualität) weiter, sei es hinsichtlich der Erklärbarkeit/Erforschbarkeit oder der technischen bzw. therapeutischen Handhabbarkeit des Übernatürlichen13. Während der Spiritismus in Europa das 19. Jh. kaum überdauerte, avancierte er in seiner auf den frz. Spiritisten A. Kardec (1804⫺69) zurückgehenden Variante zu einem kreativen Ferment brasilian. Religiosität und mediumistischer Heilungspraktiken. Im akademischen Diskurs löste die kritische Parapsychologie14 den spiritistischokkultistischen ,Forschungs‘-Optimismus ab. Erst in jüngerer Zeit widmen sich kultur- und religionswiss. Forschungsprojekte zunehmend der hist. Aufarbeitung westl. E.15 Inhalte der E.diskurse variieren stark zwischen christl., asiat., paganen, ökosophischen bzw. naturmythischen, technizistisch-therapeutischen oder magisch-rituellen Elementen und ihren jeweiligen Mischungsverhältnissen. Deutlich ist eine meist integrative Vision mit Bereitschaft zum Geltenlassen unterschiedlicher Wege. Dennoch wird häufig eine gnostisierende Geist-Materie-Dialektik vertreten: d. h. eine Ablehnung des nur Materiellen, Körperlichen (inklusive der Sexualität) zugunsten eines geistig-seelischen Kerns, dessen ,Aufstieg‘ zu größerer ,Feinstofflichkeit‘ zu kultivieren ist. Damit verbindet sich eine große
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Akzeptanz von Reinkarnationsvorstellungen (auch sog. Nahtoderfahrungen werden häufig esoterisch gedeutet)16 und der Glaube an weitreichende mikro-makrokosmische Entsprechungen und Zusammenhänge (inklusive Astrologie). Esoterische Deutungen präsentieren J Christus u. a. als Indienreisenden und ,aufgestiegenen Meister‘, der esoterisches Wissen, Reinkarnation und Vegetarismus gelehrt habe17. Theosophische und anthroposophische Diskurse (J Anthroposophische Theorie) inkorporieren zudem Rassentheorien (J Rassismus), die z. B. in ariosophischen Formen der E. weiterwirk(t)en18. Neopagane Akteure nehmen häufig für sich in Anspruch, ,echtes‘ esoterisches Wissen aus dem vorchristl. Europa zu besitzen (z. B. Wicca19 bezüglich ,hist.‘ J Hexen). J Elfen, J Feen und Naturgeister waren bereits ein Element der 1962 gegründeten New Age-Kommune in Findhorn (Schottland). Es finden sich aber auch immer wieder postreligiöse Elemente, z. B. Narrationen über Astronautengötter des Altertums (Prä-Astronautik20; J UFO-Erzählungen). Diese Inhalte schlagen sich in alternativer J Ratgeberliteratur und in Sachbuchgenres nieder, aber auch in moderner phantastischer Lit. mit Bezügen zur E. Gegenüber früheren Tendenzen, das Übernatürliche rational zu erklären, präsentieren mittlerweile viele phantastische Romane das Esoterisch-Übernatürliche und Irrationale als real21. Diese Tendenz läßt sich u. a. bis zu H. P. Lovecrafts (1890⫺1937) Romanwerk zurückverfolgen. Die narrative Strategie von massiv esoterikhaltigen Romanen gründet in einer gleichsam missionarischen Überzeugungsabsicht, die Wahrheit des esoterischen Mythos romanhaft-unterhaltsam zu untermauern. Dies gilt etwa für James Redfields Werk The Celestine Prophecy (N. Y. 1993) oder Jeffrey A. Carvers J Science Fiction-Roman The Infinity Link (N. Y. 1984). Hier vollzieht sich die Ablösung vom aufklärerischen ,erklärten Übernatürlichen‘, denn solche literar.-filmischen ,Wiederverzauberungen‘ sedimentieren in narrativer Form eine Anderswelt und eine übernatürliche Dimension sowie ein reales esoterisch-numinoses Gegenüber: Elfen, Feen, Götter, außerirdische Meister oder ,glaubwürdig‘ real inszenierte Geistergeschichten (J Numinoses)22.
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Esoterik
In der E. läßt sich noch eine weitere Dialektik zwischen J Phantastik und J Mythos beobachten: nicht nur die klassische Transformation esoterisch-religiöser Elemente ins Spielerisch-Märchenhafte oder die realistische Sedimentierung esoterischer Diskursformationen in romanhafter Form, sondern auch die aktive Remythologisierung literar.-phantastischer Narrationen, die dann als Initialgeschichten bzw. regelrechte Gründungsdokumente von esoterischen Akteuren und Gruppen rezipiert und massiv mit Bedeutung aufgeladen werden können ⫺ eine Transformation des Märchens zum Mythos. So konnten J. R. R. J Tolkiens Lord of the Rings 1⫺3 (L. 1954⫺55) oder Marion Zimmer Bradleys The Mists of Avalon (N. Y. 1983) im Kontext der E. zum Ausgangspunkt neopaganer Suchbewegungen werden23. Schon die fiktionalen Rosenkreuzer-Schr. des 17. Jh.s führten zur Bildung von Gruppen, die an deren Echtheit glaubten24, und die fiktive ndl. Oera LindaChronik (1872) wurde als authentisches paganes Dokument rezipiert25. Auch das Buch Mormon (1830) steht im Verdacht, letztlich auf einem Romanmanuskript zu gründen26. Robert A. Heinleins Science Fiction-Roman Stranger in a Strange Land (N. Y. 1991) bildete die narrative Basis für die Church of all Worlds, die erste neopagane New Age-Gemeinschaft in den USA. Analog formierten sich Jedi-Religionsgruppen27 um die dynamistische Vorstellung einer kosmischen Macht aus den Star Wars-Filmen (1977⫺2005)28; selbst auf Lovecrafts Idee eines fiktiven Necronomicon folgten schließlich reale Publ.en29. 1
cf. Stuckrad, K. von: Was ist E.? Kleine Geschichte des geheimen Wissens. Mü. 2004; Hammer, O.: Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age. Leiden 2001. ⫺ 2 cf. Frenschkowski, M.: Die Geheimbünde. Eine kulturgeschichtliche Analyse. Wiesbaden 2007; Hanegraaf, W./Broek, R. van den: Gnosis and Hermeticism from Antiquity to Modern Times. Albany 1998. ⫺ 3 Bochinger, C.: New Age und moderne Religion. Religionswiss. Analysen. Gütersloh 1994; Hanegraaf, W.: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought. Leiden 1996; id./Faivre, A.: Western Esotericism and the Science of Religion. Löwen 1998; Iwerson, J.: Lex. der E. Düsseldorf 2001; Faivre, A.: E. im Überblick. Fbg 2001; Hanegraaf, W. u. a. (edd.): Dict. of Gnosis and Western Esotericism 1⫺2. Leiden 2005. ⫺
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4 cf. z. B. Hornung, E.: Das esoterische Ägypten. Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland. Mü. 1999. ⫺ 5 Stuckrad, K. von: Schamanismus und E. Löwen 2003. ⫺ 6 cf. Knoblauch, H.: Populäre Religion. Auf dem Weg in die spirituelle Gesellschaft. Ffm. 2009. ⫺ 7 cf. Barth, C.: E. Die Suche nach dem Selbst. Sozialpsychol. Studien zu einer Form moderner Religiosität. Bielefeld 2012. ⫺ 8 cf. Stark, R./Bainbridge, W.: The Future of Religion. Secularization, Revival and Cult Formation. Berk. 1985. ⫺ 9 cf. Dawson, L.: Comprehending Cults. Ox. 1998, bes. 13⫺40. ⫺ 10 cf. Willms, G.: Die wunderbare Welt der Sekten. Von Paulus bis Scientology. Göttingen 2012. ⫺ 11 Shojaei Kawan, C.: Hexen, Engel, Heilige. Über das Wunderbare und das Dämonische im Unterhaltungsfilm. In: Erzählkulturen im Medienwandel. ed. C. Schmitt. Münster u. a. 2008, 139⫺156. ⫺ 12 cf. Knoblauch (wie not. 6); Wolf, H. M.: E. als neue ,Volksfrömmigkeit‘. In: Alltagskulturen 19 (2005) 73⫺89; Kaiser, U.: E. im Internet. Mü. 1997; Lüddeckens, D./Walthert, R. (edd.): Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Bielefeld 2010. ⫺ 13 cf. auch Sawicki, D.: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770⫺1900. Paderborn 2002; Höllinger, F.: Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur. Bielefeld 2012; NeugebauerWölk, M.: Aufklärung und E. Rezeption, Integration, Konfrontation. Tübingen 2008. ⫺ 14 EM 14, 1767⫺1770. ⫺ 15 cf. u. a. Faivre, A.: Theosophy, Imagination, Tradition. Studies in Western Esotericism. Albany 2000; Goodrick-Clarke, N.: The Western Esoteric Traditions. A Historical Introduction. N. Y. 2008; Hanegraaf, W.: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture. Cambr. 2012. ⫺ 16 cf. Kübler-Ross, E.: Der Liebe Flügel entfalten. Güllesheim 1996; Högl, S.: NahtodErfahrungen und Jenseitsreisen. Marburg 2000; Knoblauch, H.: Ber.e aus dem Jenseits. Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung. Fbg 1999. ⫺ 17 cf. Hammer, O. (ed.): Alternative Christs. N. Y. 2009; Heiligenthal, R.: Der verfälschte Jesus. Darmstadt 2009; Romarheim, A.: The Aquarian Christ. Hongkong 1992; Bergunder, M.: E. und Christentum. Lpz. 2005; Finger, J.: Jesus ⫺ Essener, Guru, Esoteriker? Mainz 1993. ⫺ 18 cf. Goodrick-Clarke, N.: Black Sun. Aryan Cults, Esoteric Nazism and the Politics of Identity. N. Y. 2002; Sinner, R.: Schwarze Sonne. Entfesselung und Mißbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter E. Fbg 1999; Hundseder, F.: Wotans Jünger. Neuheidnische Gruppen zwischen E. und Rechtsradikalismus. Mü. 1998; cf. als Qu. z. B. List, G. von: Die Religion der ArioGermanen in ihrer E. und Exoterik. Lpz. 1909. ⫺ 19 Starhawk: The Spiral Dance. A Rebirth of the Ancient Religion of the Great Goddess. San Francisco 1979; cf. Murray, M. A.: The Witch-Cult in Western Europe. Ox. 1921. ⫺ 20 Grünschloß, A.: ,Ancient
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Fälschung
Astronaut‘ Narrations. A Popular Discourse on Our Religious Past. In: Fabula 48 (2007) 205⫺228. ⫺ 21 Frenschkowski, M.: Religionswiss. Prolegomena zu einer Theorie der Phantastik. In: Freund, W./ Lachinger, J./Ruthner, C. (edd.): Der Demiurg ist ein Zwitter. Mü. 1999, 37⫺57. ⫺ 22 cf. z. B. Ghost. Nachricht von Sam. USA 1990 (Regie Jerry Zucker); Sixth Sense. USA 1999 (Regie M. Night Shyamalen); The Ghost and Mrs. Muir. USA 1947 (Regie Joseph L. Manciewicz). ⫺ 23 cf. die Akteursber.e bei Futterlieb, K.: Neopaganismus Online. Das World Wide Web als Kommunikationsplattform zur Konstruktion spiritueller Identität. Münster 2009. ⫺ 24 cf. Lamprecht, H.: Neue Rosenkreuzer. Göttingen 2004; Ruppert, H.-J.: Rosenkreuzer. Mü. 2004. ⫺ 25 Jensma, G.: De gemaskerde god. Franc¸ois Haverschmidt en het Oera Linda-boek. Zutphen 2004; id.: How to Deal with Holy Books in an Age of Emerging Science. The Oera Linda Book as a New Age Bible. In: Fabula 48 (2007) 229⫺249. ⫺ 26 cf. z. B. Mössmer, A.: Die Mormonen. Solothurn 1995. ⫺ 27 Porter, J. E.: „I Am a Jedi“. Star Wars Fandom, Religious Belief and the 2001 Census. In: Kapell, M. W./Lawrence, J. S. (edd.): Finding the Force of the Star Wars Franchise. N. Y. 2006. ⫺ 28 Star Wars 1⫺6. USA 1977⫺2005 (Regie George Lucas). ⫺ 29 cf. u. a. Das Necronomicon. Zeugnis des wahnsinnigen Arabers. B. 2013; Harms, D./Gonce, J. W.: The Necronomicon Files. The Truth behind the Legend. Boston 2003.
Göttingen
Andreas Grünschloß
Fälschung 1. Allgemeines ⫺ 2. F. und Verfälschung von Volksüberlieferungen ⫺ 3. F. als Erzählmotiv
1 . All ge me in es. F. bezeichnet die Herstellung eines Objekts, Bilds oder Texts mit dem Zweck der Täuschung oder des Betrugs. Meist wird dabei versucht, ein Werk in allen Materialien, Eigenschaften, Signaturen etc. so anzufertigen, daß das Produkt als Original erscheint. Existiert keine Vorlage, stellt die F. einen Schöpfungsakt dar bzw. beruht auf Fiktion. F.en gibt es von nahezu allem, was für wertvoll erachtet wird oder wovon man sich einen Vorteil verspricht1; bes. häufig gefälscht werden Dokumente (z. B. Urkunden2, Rechtstexte3, Chroniken4, Briefe5), Zahlungsmittel, literar. Texte, Kunstwerke sowie J Reliquien und Antiquitäten6. Das Thema F. betrifft neben Rechtsprechung (z. B. Meineid, Falschaussage), Wirtschaft (Produktfälschung), Politik (Wahlfälschung) und Medien (Falschmeldung,
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Fotomanipulation)7 auch die Wiss.en (Plagiat, gefälschte Forschungsergebnisse). Berühmte F.en sind etwa die den Kirchenstaat begründende Konstantinische Schenkung (um 800; J Konstantin d. Gr.)8, Hamburgs Stadturkunde von 1189 als angeblicher Freibrief Kaiser Friedrich Barbarossas9 oder die von K. Kujau gefälschten Hitler-Tagebücher (1983)10. Während aus dem MA. vor allem F.en bekannt sind, die Rechtsansprüche begründen sollen11, stehen seit dem 18. Jh. ⫺ neben Kunstfälschungen ⫺ literar. F.en im Vordergrund, eine von England ausgehende Mode12. Diese entfaltete in der Romantik und in den Nationsbildungsprozessen erhebliche Wirkung (J Patriotismus). 2 . F. u nd Ve rf äl sc hu ng vo n Vol ks ü be rl ie fe ru ng en. Der Begriff F. setzt in seiner meist sehr negativen Bewertung die Vorstellung von objektiver Wahrheit und damit den scharfen Gegensatz von echt und falsch voraus. In der Lit. und Volksüberlieferung ist die bewußt betrügerische F. jedoch abzusetzen von den zeitgeistbedingten Konstrukten philol. Diskurse, literar. Erfindungen oder ideologischer Deutungen. Diese Prozesse der interpretierenden Texturierung menschlicher Kommunikation sind ein kulturhist. Geschehen und keine F. ,ursprünglicher‘, naturhaft zu verstehender poetischer Wahrheiten. Bei Volkserzählungen ist somit die Grenze zwischen F. und J Adaptation, Schöpfung und J Bearbeitung fließend und angesichts des hist. Wandels der Vorstellungen von J Authentizität kaum zu bestimmen. In sehr vielen Fällen ist es daher angemessen, allenfalls von Verfälschung, also von einem (nicht zielgerichteten) Verändern vorhandener Texte zu sprechen. Dies betrifft etwa die Sibyllinischen Orakel (150 a. Chr. n.⫺6. Jh.; J Apokryphen, Kap. 2. 2.3.4; J Sibyllen), in denen heidnische Lit. jüd. und christl. überformt wurde. Doch bediente man sich bei der Instrumentalisierung von Erzählüberlieferung im Sinne der diskursiven Aneignung kulturell vermittelter Deutungsansprüche (J Ideologisierung) auch der bewußten Verfälschung und F.; ma. hagiographische Texte (J Hagiographie) entstanden teilweise nach dieser Maßgabe13. In diesem Kontext stehen auch die im Zuge ma. Judenverfolgung ge-
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Fälschung
streuten J Gerüchte über angebliche jüd. Verbrechen (J Jude, Judenlegende)14. Bes. virulent wird das Phänomen F. im 18./ 19. Jh. Ein früher und bekannter Beleg hierfür sind James Macphersons Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands of Scotland, die 1760 als angebliches Werk J Ossians15 erschienen mit dem Ziel, ein ,Celtic revival‘ zu befördern16. Obwohl die Fragments als F. bzw. Verfälschung von Überlieferungen erkannt wurden, fanden sie in Europa weite Rezeption17 und trugen ⫺ über Europa hinaus18 ⫺ zur Bildung nationaler Mythen bei19. Bes. im östl. Europa dienten sie als Vorbild für die ,Entdeckung‘ von alten Hss.20 und die Herausgabe von F.en, welche die Anciennität des eigenen Volkes und seiner Kultur belegen und dessen Streben nach Autonomie befördern sollten21. Diesem Ziel dienten z. B. die beiden 1817 in Böhmen ,entdeckten‘ Hss. Rukopis kra´love´dvorsky´ (Königinhofer Hs.) und Rukopis zelenohorsky´ (Grünberger Hs.), die angeblich aus dem 9./10. Jh. stammten (J Libussa)22, wohl aber von dem Sprachwissenschaftler V. Hanka (1791⫺1861) und dem Schriftsteller J. Linda (1792⫺1834) verfaßt worden waren. Aus noch früherer, nämlich vorhist./vorchristl. Zeit, sollte die von S. J Verkovicˇ publizierte Slg von Volksüberlieferungen Veda slovena 1⫺2 (1874/81) datieren. Sie erlangte für den südslav. Raum Bedeutung, wurde jedoch bereits 1903 von I. J Sˇisˇmanov23 und danach 1968 von M. J Arnaudov24 als F. bezeichnet. Die Debatte darüber, ob sie eine F. oder lediglich eine Bearb. authentischer Volksüberlieferung ist, dauert bis heute an25. Diskutiert wird auch die Authentizität des finn. J Kalevala26 und des estn. J Kalevipoeg, ebenso wie die weiterer Texte27. Daneben finden sich aber auch F.en, die mittels der Idealisierung fremder Kulturen eine kritische Haltung gegenüber den eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen herausfordern (J Priester Johannes). In der fiktionalen Lit. werden pseudo-ethnogr. Beschreibungen als Kunstgriff literar. Zivilisationskritik eingesetzt. 1721 erschienen Montesquieus Lettres persanes, ein im Zuge der einsetzenden Aufklärung breit rezipierter Roman, bestehend aus den Briefen zweier fiktiver Perser, die aus Europa in ihre Heimat schreiben. Oliver Goldsmith bediente sich in seiner satirischen Essay-Slg
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Citizen of the World (1762) der Figur eines in London lebenden Orientalen. In Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschlands (1912/13) thematisiert Hans Paasche den Deutschlandbesuch eines Afrikaners; Der Papalagi (1920) von Erich Scheurmann enthält die fiktiven Reden eines samoan. Häuptlings an sein Volk, in denen dieser von seinen Erlebnissen während einer Europareise berichtet28; in Herbert Rosendorfers Briefe in die chin. Vergangenheit (1983) wird ein chin. Mandarin aus dem 10. Jh. ins moderne China geschickt, landet jedoch versehentlich in Deutschland. F.en ethnogr. Texte entstanden zudem mit dem Ziel der Irreführung von Wissenschaftlern, so die Werke des US-amerik. Schriftstellers Carlos Castan˜eda (1925⫺98)29. Z. T. wird das Thema F. humoristisch behandelt (J Parodie), so u. a. bei der Anwendung einer angeblichen Märchenarchäologie zur Aufdeckung hist. Hintergründe von AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel durch den dt. Satiriker Hans Traxler30. Erwähnt seien noch die Cottingley fairies, 1917 von Kindern gefälschte Fotos von Feen, deren Geheimnis erst 1983 gelüftet wurde31. Für die Erzählforschung ist die Frage der Authentizität von Volksüberlieferungen und deren Bearbeitung durch Sammler und Herausgeber von zentraler Bedeutung. Zu berücksichtigen ist, daß sich die Maßstäbe seit dem 18. Jh. deutlich verändert haben: Was aus heutiger Sicht als F. oder Verfälschung von Überlieferung gilt, konnte und kann als durchaus geschätzter korrigierender Eingriff gelten, sei es aus sprachlichen, stilistischen, moralischen, erzieherischen, religiösen oder ideologischen Motiven. Wiewohl J. J Grimm in seinem Circular zur Sammlung von Volkspoesie (1815) die Sammler zu „treuer Niederschreibung des Erzählten ohne Zusetzung und Fälschung“ aufrief, haben die Brüder J Grimm die Texte ihrer J Kinder- und Hausmärchen nicht nur sprachlich-stilistisch, sondern auch inhaltlich verändert. Aus dem Bereich der oriental. narrativen Lit. wären die durch D. Chavis und M. Sabbagh gefälschten Mss. von J Tausendundeine Nacht32 oder die als Werk eines pers. Derwischs ausgegebenen Erzählungen aus J Tausendundein Tag zu nennen.
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Fälschung
3 . F. a ls Er zä hl mo ti v. Die F. ist ein in der Volksüberlieferung sehr verbreitetes Motiv. Meist steht es in Verbindung mit J Lüge, Betrug (J Betrüger), J Täuschung und J Verstellung. In Märchen finden sich falsche bzw. gefälschte Botschaften, Befehle und Unterschriften oftmals in J Briefen (AaTh/ATU 930: J Uriasbrief, AaTh/ATU 428: J Prinz als Wolf, AaTh/ATU 461: Drei J Haare vom Bart des Teufels, AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer [Kalkofen]; cf. J Bellerophon), während falsche J Eide (J Bocca della verita`; AaTh/ATU 1590: J Eid auf eigenem Grund und Boden), Testamente, J Verträge (cf. AaTh/ATU 1447: J Trinken nach dem Handel) und J Wunder (J Scharlatan; AaTh/ATU 1736: Die auferstandene J Wiese) eher im Kontext von Sagen oder im Schwankbereich begegnen. Im weiteren Kontext von F. stehen J Usurpatoren, unterschobene Ehefrauen (AaTh/ATU 403: Die schwarze und die weiße J Braut, AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen) oder angebliche J Tiergeburten. In Lügenmärchen sind F. und Täuschung konstitutive Merkmale (J Fakelore). Ein wichtiges Motiv ist die F. auch in Zeitungssagen und modernen J Sagen (Kap. 10). Internet und E-Mail haben bewußten F.en33 und kriminellen Lügengeschichten34 zu globaler Verbreitung und Bedeutung verholfen. 1
cf. etwa Fuld, W.: Das Lex. der F.en. F.en, Lügen und Verschwörungen aus Kunst, Historie, Wiss. und Lit. Ffm. 1999. ⫺ 2 Peitz, W. M.: Unters.en zu Urkundenfälschungen des MA.s. Fbg 1919; Märtl, C.: Die falschen Investiturprivilegien. Hannover 1986. ⫺ 3 F.en im MA. 1⫺6. Hannover 1988, hier t. 2. ⫺ 4 Godoy Alca´ntara, J.: Historia crı´tica de los falsos cronicones. Granada 1999. ⫺ 5 F.en im MA. (wie not. 3) t. 5. ⫺ 6 cf. Stupperich, R. (ed.): Zwischen Orig. und F. Zur Ambivalenz der Nachahmung in der Antikenrezeption. Stendal 2006. ⫺ 7 MüllerUllrich, B.: Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus. Mü. 1998. ⫺ 8 Fuhrmann, H.: Konstantinische Schenkung. In: Lex. des MA.s 5. Stg. u. a. 1999, 1385⫺1387. ⫺ 9 Reincke, H.: Forschungen und Skizzen zur Hamburg. Geschichte. Hbg 1951, 126⫺148. ⫺ 10 Seufert, M.: Der Skandal um die Hitler-Tagebücher. Ffm. 2008. ⫺ 11 Fuhrmann, H.: Die F.en im MA. In: Hist. Zs. 197 (1963) 529⫺601; Bosl, K.: Zu einer Soziologie der ma. F. In: (ed.): Frühformen der Gesellschaft im ma. Europa. Mü./Wien 1964, 413⫺424; cf. F.en im MA. (wie not. 3). ⫺ 12 Lynch, J.: Deception and Detection in 18th-Century Britain. Aldershot 2008; Russett, M.: Fictions and Fakes. Forging Romantic Authen-
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ticity, 1760⫺1845. Cambr. 2006; Ruthven, K. K.: Faking Literature. Cambr. 2001; Myers, R./Harris, M. (edd.): Fakes and Frauds. Varieties of Deception in Print & Ms. Winchester 1989; Balkun, M. M.: The American Counterfeit. Authenticity and Identity in American Literature and Culture. Tuscaloosa 2006. ⫺ 13 Schreiner, K.: Discrimen veri ac falsi. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des MA.s. In: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966) 1⫺53; Fuhrmann und Bosl (wie not. 11). ⫺ 14 Lotter, F.: Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen von 1298 („Rintfleisch“) und 1336⫺1338 („Armleder“). In: F.en im MA. (wie not. 3) t. 5, 533⫺583. ⫺ 15 Normand, T. (ed.): Ossian. Fragments of Ancient Poetry. Edinburgh 2003. ⫺ 16 Curley, T. M.: Samuel Johnson, the „Ossian“ Fraud, and the Celtic Revival in Great Britain and Ireland. Cambr. 2009; Haywood, I.: The Making of History. A Study of the Literary Forgeries of James Macpherson and Thomas Chatterton in Relation to 18th Century Ideas of History and Fiction. Rutherford 1986. ⫺ 17 Van Tieghem, P.: Ossian et l’Ossianisme dans la litte´rature europe´enne au XVIIIe sie`cle. Groningen 1920; Gaskill, H. (ed.): The Reception of Ossian in Europe. L. 2004; Schmidt, W. G.: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. 1: James Macphersons Ossian, zeitgenössische Diskurse und die Frühphase der dt. Rezeption. B. 2003. ⫺ 18 cf. z. B. Stary, G.: Mandschur. Miszellen. 1: Über die F. des Ursprungsmythos des mandschur. Kaiserhauses. In: Weiers, M./Stary, G. (edd.): Florilegia manjurica. Wiesbaden 1982, 76⫺79; Durrant, S.: Repetition in the Manchu Origin Myth as a Feature of Oral Narrative. In: Central Asiatic J. 22,1⫺2 (1978) 32⫺43. ⫺ 19 cf. Hobsbawm, E. (ed.): The Invention of Tradition. Cambr. 1992. ⫺ 20 Ivanova, N. I. (ed.): Istina, mistifikacija, la˘zˇa v slavjanskite ezici, literaturi i kulturi (Wahrheit, Mystifikation, Lüge in den slav. Sprachen, Lit.en und Kulturen). Sofia 2011; Toporkov, A. L. u. a. (edd.): Rukopisi, kotorych ne bylo. Poddelki v oblasti slavjanskogo fol’klora (Hss., die es nicht gab. F.en im Bereich der slav. Folklore). M. 2002. ⫺ 21 cf. Dundes, A.: Nationalistic Inferiority Complexes and the Fabrication of Fakelore. A Reconsideration of Ossian, the Kinder- und Hausmärchen, the Kalevala and Paul Bunyan. In: The 8th Congress for the ISFNR 1. ed. R. Kvideland/T. Selberg. Bergen 1984, 155⫺172; cf. Hose, S.: Mythos und F.: ,Volk‘ und ,Nation‘ im mitteleurop. Kultur- und Staatenraum des 18. und 19. Jh.s. In: Fabula 47 (2006) 120⫺ 122 (Tagungsber. mit Beispielen aus Tschechien, Rußland, Polen, der Slovakei, Kroatien, Bulgarien, Ungarn, Finnland, von den Sorben). ⫺ 22 Ivanov, M.: Tajemstvı´ rukopisu˚ Kra´love´dvorske´ho a Zelenohorske´ho (Das Geheimnis der Königinhofer und der Grünberger Hs.). Brno 2000; Dobia´sˇ, D.: Rukopis kra´love´dvorsky´/Rukopis zelenohorsky´ (Königinhofer Hs./Grünberger Hs.). Brno 2010. ⫺ 23 Sˇisˇmanov, I.: Glück und Ende einer berühmten literar. Mystifi-
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Fantasy
kation: Veda Slovena. In: Archiv für slav. Philologie 25 (1903) 580⫺611; cf. id: Frenskata nauka i „Veda Slovena“ s osoben ogled ka˘m kritikata na Louis Leger (Die frz. Wiss. und die „Veda Slovena“ mit bes. Berücksichtigung der Kritik von Louis Le´ger). In: Sbornik v cˇest i pamet na Louis Le´ger. ed. B. Conev u. a. Sofia 1924, 33⫺108. ⫺ 24 Arnaudov, M. P.: Verkovicˇ i „Veda Slovena“ (Verkovicˇ und die „Veda slovena“). Sofia 1968. ⫺ 25 Nedelcˇev, M. D.: Tri studii (Drei Studien). Sofia 1992; Dobrev, P. D.: Drevnostta progovarja. Nov pogled ka˘m „Veda Slovena“ i „Dzˇagfar-Tarichi“ (Das Altertum redet. Neuer Blick auf „Veda Slovena“ und „Dzˇagfar-Tarichi“). Sofia 2007; Hristozova, M.: „Veda Slovena“ zwischen Mythos und Geschichte. Zur Problematik von Identitätsdiskursen auf dem Balkan. Mü. 2012. ⫺ 26 Honko, L.: Die Authentizität des Kalevala. In: Duerr, H. P. (ed.): Authentizität und Betrug in der Ethnologie. Ffm. 1987, 357⫺392. ⫺ 27z. B. Jensma, G.: How to Deal with Holy Books in an Age of Emerging Science. The Oera Linda Book as a New Age Bible. In: Fabula 48 (2007) 229⫺249. ⫺ 28 Cain, H.: Tuiavi’is Papalagi. In: Duerr (wie not. 26) 252⫺ 270; cf. Ritz, H.: Die Sehnsucht nach der Südsee. Göttingen 1983. ⫺ 29 Sebald, H.: Die Märchenwelt des Carlos Castan˜eda. ibid., 280⫺289. ⫺ 30 Traxler, H.: Die Wahrheit über Hänsel und Gretel. (Ffm. 1963) Stg. 2007; Kühleborn, H. E.: Rotkäppchen und die Wölfe. Von Märchenfälschern und Landschaftszerstörern. Ffm. 1982. ⫺ 31 Magnusson, M.: Fakers, Forgers & Phoneys. Famous Scams and Scamps. Edinburgh 2006, 97⫺105; Smith, P.: The Cottingley Fairies. The End of a Legend. In: Narva´ez, P.: The Good People. New Fairylore Essays. Lexington, Ky 1997, 371⫺405. ⫺ 32 Marzolph/van Leeuwen 2, 520, 695 sq. ⫺ 33 cf. z. B. Howard, R. G.: Apocalypse in Your In-Box. End-Times Communication on the Internet. In: WF 56 (1997) 295⫺315. ⫺ 34 Roth, K.: „Sie mögen überrascht sein, diesen Brief von mir zu erhalten“. Phantastische E-Mail-Geschichten mit krimineller Absicht. In: Hengartner, T./Schmidt-Lauber, B. (edd.): Leben ⫺ Erzählen. Beitr.e zur Erzähl- und Biogr.forschung. B. 2004, 391⫺407; Schneider, I.: Strategien zur Erlangung von Glaubwürdigkeit und Plausibilität in gegenwärtigen Sagen und Gerüchten. In: Marzolph, U.: Strategien populären Erzählens. Münster 2010, 141⫺163, bes. 152⫺156.
München
Klaus Roth
Fantasy 1. Grundsätzliches ⫺ 2. Strukturmerkmale ⫺ 3. Ideologische Ausrichtung ⫺ 4. Ausdifferenzierung
1 . G ru nd sä tz li ch es. Im engl.sprachigen Raum umfaßt der Terminus F. in Abgrenzung zum Realismus die Gesamtheit der nicht-reali-
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stischen Gattungen unter Einschluß des Märchens und der Märchennovellistik1. Im dt.sprachigen Raum finden sich vereinzelt ähnlich weitgefaßte Definitionen, die das Übernatürliche als zentrales Merkmal der F. auffassen2. Ähnlich breit verstanden wird im Deutschen der Terminus Phantastik bzw. phantastische Lit. (J Phantasie, Phantastik), wobei Märchen, Sagen und Legenden nicht darunter subsumiert werden3. Anfang der 1970er Jahre stellte der schwed. Kinderliteraturforscher G. Klingberg der ,phantastischen Erzählung‘ die ,mythische Erzählung‘ als eigenständige Gattung gegenüber, die „in einer mythischen Welt, und nur in dieser Welt“ spielt, die „nicht unsere alltägliche“ ist4. Seit M. Nikolajevas einflußreicher Studie The Magic Code (1988) gilt F. ⫺ bes. im Bereich der dt. Kinderliteraturforschung5 ⫺ als Untergattung der Phantastik. Als eine Ausprägung phantastischer Lit. handle sie nicht von zwei Welten, sondern nur von einer ,geschlossenen sekundären Welt‘6. Das hier angesetzte Unterscheidungsmerkmal von anderen Ausprägungen der Phantastik trifft jedoch von Beginn an nur auf einen Teil der F. zu, so z. B. auf J. R. R. J Tolkiens The Lord of the Rings (1954⫺55). Doch spielen bereits die NarniaErzählungen (1950⫺56) von C. S. Lewis in zwei Welten, einer mythischen und einer modernen, wie auch zahlreiche spätere Werke nicht nur eine geschlossene mythische bzw. sekundäre Welt präsentieren. Angesichts der Schwierigkeiten, die phantastischen Genres gegeneinander abzugrenzen, scheint es sinnvoller zu sein, die F. in eine Reihe mit anderen Gattungen zu stellen, deren zentrales Merkmal in der zeitgemäßen Aufbereitung älterer literar. Stoffe besteht7. Die betr. Stoffe entstammen der antiken und (indo-)germ. J Mythologie, antiken und ma. Heldenepen. Diese Stoffe wurden früher schon teils stoffgetreu nacherzählt und nur sprachlich aktualisiert (z. B. die Epen- und Sagennacherzählungen von G. J Schwab), teils in neue, dem literar. Code der Zeit und dem jeweiligen Publikumsgeschmack entsprechende Formen übertragen und inhaltlich fortgeschrieben (so Ritter-, teils auch Räuberromane, die seit dem 18. Jh. zur beliebten Lektüre gehörten)8. Im Umkreis dieser literar. Phänomene wäre die F. des späten 20. und frü-
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Fantasy
hen 21. Jh.s anzusiedeln: Auch sie stellt eine freie und aktualisierende Wiederbelebung älterer Erzählstoffe dar. Was macht F. im Unterschied zu verwandten Genres aus? Moderne Märchenromane (z. B. Astrid J Lindgren, Ronja rövardotter, 1981) sind wie die althergebrachte Märchennovellistik als Adoleszenz-, Liebes- und Heiratsgeschichten anzusehen. Moderne Sagenromane (z. B. Otfried Preußler, Krabat, 1971; Mirjam Pressler, Golem stiller Bruder, 2007) handeln vom Einbruch des J Numinosen in eine lokal bzw. regional ausgewiesene Alltagswelt, wobei die Existenz der Jenseitsmächte nicht angezweifelt wird. Demgegenüber handeln F.-Romane wie ihre hist. Bezugstexte von Ausfahrt, Kämpfen und Bewährung des Helden und seiner Gefährten. Als moderne Heldendichtung läßt F. das heroische ZA. wieder aufleben. Dabei übernimmt sie die für ihre hist. Prätexte typische Wirklichkeitskonstruktion, die J Magie und J Zauberei, belebte Naturphänomene, Naturgeister und sonstige Jenseitsgestalten kennt. In der F. wie auch im modernen Märchen- oder Sagenroman erscheinen das Übernatürliche und Wunderbare als selbstverständlich9. Mit Blick auf solche Wirklichkeitskonstruktionen wird von phantastischen bzw. magisch-mythischen Welten gesprochen. 2 . S tr uk tu rm er km al e. Das vormoderne Heldenepos (J Epos) präsentiert Ereignisse und Geschichten, die einen kollektiven Erinnerungsschatz darstellen. Demgegenüber sind F.-Romane individuelle literar. Hervorbringungen ohne kollektive Verbindlichkeit. Trotz aller Modernität ist die F. wesentlich durch ihre vormodernen Inhalte geprägt. In ihrem Zentrum stehen heldenhafte Taten, die zwar Handlungen einzelner darstellen, aber grundsätzlich die Allgemeinheit, die Gemeinschaft, das politische und sittliche Fundament eines Volkes oder sonstigen Kollektivs betreffen. F. handelt vom Kampf der Heroen um die Gründung oder den Bestand einer Nation, von der Errichtung einer neuen Weltordnung und von der Niederwerfung der Mächte, die diese Ordnung bedrohen oder deren Errichtung zu verhindern suchen. Es geht um die Ausschaltung von Usurpatoren, unrechtmäßigen Herrschern und machtlüsternen despotischen We-
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sen. Dabei teilt F. mit dem Epos den grundsätzlich politischen, das Ganze einer Gemeinschaft betreffenden allg.sittlichen Gehalt. Die vormoderne Thematik ⫺ Heldentum, Weltrettung, Erlösungstat des Heroen etc. ⫺ wird in der F. jedoch aus der Sicht der und in Beziehung zur modernen Gegenwart gezeigt. Die Erzählerstimme bzw. Erzählrede bringt die Distanz zwischen der Erzählgegenwart und dem heroischen ZA. zum Ausdruck. F. ist darüber hinaus insofern ein hybrides Genre, als in ihr Figuren aus unterschiedlichen hist. Epochen auf derselben Handlungsebene angesiedelt sind. Dabei können Gestalt, Aussehen, Kleidung, Berufe und Namen dieser Figuren durchaus von mythischer bzw. phantastischer Art sein; modern sind dann lediglich Denkungsart und Verhaltensweisen (z. B. die der Hobbits in Tolkien, Lord of the Rings). Die modernen Figuren nehmen oft die Position des Protagonisten ein, während die archaischen Heldenfiguren sowohl Antagonisten als auch Helferfiguren darstellen. Dabei verharren die in der Regel wenig heldenhaften Figuren aus der modernen Welt oft in der Position von Augenzeugen von Kämpfen, ohne selbst einzugreifen. Sie können im Laufe der Handlung aber auch heldenhafte Eigenschaften entwickeln (z. B. Peter Pevensie in C. S. Lewis, The Lion, the Witch and the Wardrobe, 1950). Häufig wird die schrittweise Verwandlung eines modernen Individuums in eine heroische Figur durch äußere Umstände abverlangt. Oft findet die Hauptfigur nach gewonnener Schlacht wieder zu ihrer modernen unheroischen Verfassung zurück (z. B. Bastian Balthasar Bux in Michael Ende, Die unendliche Geschichte, 1979). Andererseits kann die Vermischung von Modernem und Archaischem auf die Ebene des jeweils entworfenen Weltzustandes übergreifen. In vielen Werken der F. ⫺ z. B. bei Lewis ⫺ wird die Welt, der die modernen Figuren entstammen, als solche auch vergegenwärtigt. F. erscheint hier als eine Zwei-WeltenLit., in welcher die quasi-ma. Welt mit der ,heutigen‘ verschränkt wird. Häufig wird der Protagonist zunächst in seiner originären Welt gezeigt, um ihn dann erst in die F.-Welt eintreten und in die dortigen Auseinandersetzungen eingreifen zu lassen (z. B. Lewis, The Chronicles of Narnia; Ende, Die unendliche Ge-
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schichte; Joanne K. Rowling, Harry PotterRomane, 1997⫺2007). Teilweise sind beide Welten dauerhaft parallel geschaltet; die Protagonisten wechseln dann permanent die Welten. Dies ist für einen Großteil der sog. Urban F. charakteristisch (z. B. Christoph Marzi, Lycidas, 2004; Lilith, 2005; Lumen, 2006). Im Gegensatz zur phantastischen Erzählung, die dem Infragestellen der für unumstößlich gehaltenen modernen naturwiss. Wirklichkeitsauffassung dient, fungieren in der F. die magischen und übernatürlichen Phänomene als Erkennungszeichen einer andersgearteten, vormodernen Welt. F. wiegt verschiedene hist. Weltzustände hinsichtlich ihrer geistig-religiösen und politisch-sozialen Beschaffenheit gegeneinander auf. 3 . I de ol og is ch e Aus ri ch tu ng. F. ist durch einen Hang zu wertenden und idealisierenden Darstellungen gekennzeichnet10. Vielfach werden bestimmte Weltzustände oder einzelne Geschichtsepochen entweder glorifiziert oder negativ gezeichnet. Mit Blick auf diese normative Dimension lassen sich zwei ideologisch konträre Ausprägungen von F. ausmachen. Bei Tolkien wie auch bei Lewis z. B. wird das vergangene, mythische ZA. als überlegen dargestellt und der modernen, gottfernen und unheroischen Gegenwart als unerreichbares Ideal entgegengehalten. Dem steht eine Ausprägung von F. gegenüber, in welcher die magisch-mythischen Weltzustände durchweg negativ konnotiert sind. Die geschilderten Kämpfe zielen hier auf eine Befreiung vom Mythos und dessen Angstpotential, auf eine Beseitigung archaischer Herrschaft und Unterdrückung ab. In Philip Pullmans His Dark Materials-Trilogie (1995⫺2000) oder Kai Meyers Merle-Trilogie (2001⫺02) z. B. erscheinen Aufklärung und moderner Individualismus als unschätzbare Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt. Insofern ließe sich von einer romantisch-konservativen und einer aufgeklärt-modernistischen F. sprechen. 4 . Aus di ff er en zi er un g. Gegenüber den Anfängen in den 1950er Jahren hat Ende des 20./Anfang des 21. Jh.s eine geradezu unübersehbare Ausdifferenzierung der F. stattgefunden. In Umlauf sind Kategorien wie Epische F. (High F.), Heroische F., Hist. F., Tier-F.,
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Urban F., Steam F., Humorvolle F., Dark F., Science F. etc. Die dargestellte Welt der Heldenkämpfe, des mythischen Denkens, der Jenseitsorientierung und der Götter- bzw. Gottesnähe in den Werken der Gründergeneration eines Tolkien und Lewis stand in beiden ideologischen Ausprägungen für eine bestimmte Stufe der Menschheitsentwicklung. Die Stoffwelt antiker oder ma. Epik wurde aus geschichtsphil. Interesse wieder aufgegriffen. Mittlerweile hat sich daneben eine Form der F. herausgebildet, die ausschließlich von der Gegenwart zu handeln scheint (z. B. Pullman, His Dark Materials; Meyer, Frostfeuer, 2005). Wenn F. allerdings reine Gegenwartsdichtung sein soll, können sämtliche von ihr aufgegriffenen Umstände und Verhältnisse aus vergangenen Weltzuständen nicht mehr wörtlich gemeint sein, sondern nur noch allegorischen bzw. symbolischen Charakter besitzen. Doch bleibt diese Einschätzung oft dem Leser überlassen, und selbst Tolkiens Lord of the Rings wurde als allegorische Darstellung des 1. Weltkriegs begriffen11. Als Gegenwartsdichtung bringt F. die politischen, militärischen, ökonomischen, zivilisatorischen, humanen und ökologischen Katastrophen des 20./21. Jh.s zur Darstellung. Ähnlich wie in der J Science Fiction stellen die von ihr aufgebotenen dunklen Mächte der Vergangenheit Allegorien für aktuelle Machtstrukturen und Unterdrückungsformen dar. Die grauen Herren aus Michael Endes Momo (1973) sind hierfür ein Beispiel. F. kann die dunklen Seiten der Gegenwart mittels einer mythisch-archaischen Bildlichkeit erfassen, weil diese Gegenwart selbst durch Rückfälle ins Archaische gekennzeichnet ist. In Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie (2003⫺07) büßt F. ihren politischen Charakter ein und nähert sich einer tragisch-heroischen Familiensaga an. So gesehen erweist sich der an die F. von Vertretern des literar. Realismus erhobene Vorwurf der Weltflucht nur bedingt als zutreffend. Wie kaum ein anderes Genre spiegelt F. die permanente Krisen- und Katastrophenstimmung der heutigen Zeit wider. Sie schlägt daraus insofern Kapital, als sie sie zu einer Form der Unterhaltung macht. Wie alle Heldendichtung verbreitet sie darüber hinaus Illusionen, indem sie nur zu oft einzelnen Auserwählten zutraut, die Welt zu retten. So läßt F.
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ihre Leser an der beunruhigenden Grundstimmung teilhaben, um ihnen dennoch einen Trost zu verschaffen. 1
Mendelssohn, F./James, E.: A Short History of F. L. 2009, 7; cf. auch Hume, K.: F. and Mimesis. Response to Reality in Western Literature. N. Y. 1984; Egoff, S. A.: Worlds within. Children’s F. from the Middle Ages to Today. Chic. 1988. ⫺ 2 Weinreich, F.: F. Einführung. Essen 2007, 10; cf. auch Pesch, H. W.: F. Theorie und Geschichte einer literar. Gattung. Köln 1982. ⫺ 3 cf. dagegen Todorov, T.: Introduction a` la litte´rature fantastique. P. 1970 (Phantastik enger gefaßt). ⫺ 4 Klingberg, G.: Die phantastische Kinder- und Jugenderzählung. In: Haas, G. (ed.): Kinder- und Jugendlit. Stg. 21976, 220⫺241, hier 227. ⫺ 5 Rank, B.: Phantastische Kinder- und Jugendlit. In: Lange, G. (ed.): Kinder- und Jugendlit. der Gegenwart. Baltmannsweiler 2010, 168⫺192, hier 172; cf. Mohr, J.: Zwischen Mittelerde und Tintenwelt. Zur Struktur fantastischer Welten in der F. Ffm. 2012. ⫺ 6 Nikolajeva, M.: The Magic Code. The Use of Magic Patterns in F. for Children. Stockholm 1988; cf. ead.: F. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairytales 1. ed. D. Haase. Westport, Conn./L. 2008, 329⫺334; ferner Tolkien, J. R. R.: On Fairy-Stories. In: id.: Tree and Leaf. L. 2001, 1⫺81. ⫺ 7 cf. Ewers, H.-H.: F. ⫺ Heldendichtung unserer Zeit. Versuch einer Gattungsdifferenzierung. In: Zs. für Fantastikforschung (2011) H. 1, 5⫺23; id.: Was ist von F. zu halten? Anmerkungen zu einer umstrittenen Gattung. In: SchWellengänge. Zur Poetik, Topik und Optik des Fantastischen in Kinder- und Jugendlit. und -medien. Ffm. 2012, 19⫺ 40. ⫺ 8 Cuddon, J. A.: The Penguin Dict. of Literary Terms and Literary Theory. L. 41998, 527; cf. Attebery, B.: The F. Tradition in American Literature. Bloom. 1980; Oziewicz, M.: One Earth, One People. The Mythopoetic F. Series of Ursula Le Guin, Lloyd Alexander, Madeleine L’Engle and Orson Scott Card. Jefferson u. a. 2008. ⫺ 9 Bonacker, M.: Eskapismus, Schmutz und Schund? F. als bes. umstrittene fantastische Lit. In: Knobloch, J./Stenzel, G. (edd.): Zauberland und Tintenwelt. Fantastik in der Kinderund Jugendlit. Weinheim 2006, 64⫺70, hier 66. ⫺ 10 Kulik, N.: Das Gute und das Böse in der phantastischen Kinder- und Jugendlit. Ffm. 2005. ⫺ 11 cf. Heberle, M.: The Shadow of War. Tolkien, Trauma, Childhood, F. In: Goodenough, E./Immel, A. (edd.): Under Fire. Childhood in the Shadow of War. Detroit 2008, 129⫺142; cf. ferner Bergh, A. van de: Mittelerde und das 21. Jh. Zivilisationskritik und alternative Gesellschaftsentwürfe in J. R. R. Tolkiens „The Lord of the Rings“. Trier 2005; Kehr, E.: Die wiederbezauberte Welt. Natur und Ökologie in Tolkiens „The Lord of the Rings“. Wetzlar 2003.
Frankfurt am Main
Hans-Heino Ewers
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Fantasy-Rollenspiele. Das Fantasy-Rollenspiel (F.; von engl. fantasy role-playing game) läßt sich als interaktives (Gesellschafts-)Spiel mit literar. Elementen charakterisieren, als Mischform aus Erzählung, konventionellem Gesellschaftsspiel und Improvisationstheater1. Das Konzept ermöglicht den Spielern, in der Rolle imaginärer Figuren mit spezifischen Eigenschaften im Rahmen einer fiktiven Spielwelt an einem interaktiven Abenteuer teilzunehmen, dessen Ausgang ungewiß ist und dessen Ablauf sie selbst mitbestimmen können2. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung einer Geschichte durch wechselweises Forterzählen der Handlung. Als zeitgenössische Form des phantastischen Erzählens (J Phantasie, Phantastik) knüpft das F. an die Tradition des mündl. Erzählens an. Gewöhnlich handelt es sich bei F.en um reglementierte Rollenspiele. Die Teilnehmer folgen eindeutigen Spielregeln, Spielplänen oder Drehbüchern und bedienen sich bestimmter unterstützender Spielmittel. Charakteristisch ist das Vorhandensein eines Spielleiters, der als Rahmenerzähler der Spielhandlung bei den meisten F.en eine elementare Funktion innehat. Das konventionelle F. wird zur Abgrenzung und Differenzierung gegenüber neueren Spielformen häufig als Pen-&-Paper-Rollenspiel bezeichnet. Der Ursprung des Begriffs liegt darin, daß sich F.e gerade in ihrer Entstehungszeit vor allem dadurch von Brett- und anderen Gesellschaftsspielen unterschieden, daß man für sie neben der Phantasie der Mitspieler lediglich Papier (Spielregeln, Spieldokumente) und Bleistift benötigte. F.e werden einerseits nach Genre, andererseits nach Spielweise, Darstellungsformen und den verwendeten Hilfsmitteln unterschieden. Die ersten F.e entstanden als Freizeitbeschäftigung in den USA. Sie sind vor den 1970er Jahren nicht belegbar, allerdings lassen sich verschiedene Vorläufer aufzeigen. Der Ursprung des F.s wird kontrovers diskutiert. Vielfach angeführt werden die in Europa und den USA populären Konfliktsimulationsspiele (Wargames) sowie J. R. R. J Tolkiens Romanzyklus Lord of the Rings 1⫺3 (1954⫺55), der das Genre der epischen Fantasy begründete, ebenso das Psychodrama des Psychiaters und Soziologen J. L. Moreno und das von V.
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Spolin und K. Johnstone entwickelte theatre game3. G. Gygax und D. Arneson veröffentlichten 1974 das F. Dungeons & Dragons4, nach wie vor das bekannteste Spielsystem weltweit. Die Spielhandlung ist in einem klassischen Fantasy-Setting angesiedelt, wobei mehrere detailliert ausgestaltete Hintergrundwelten zur Verfügung stehen, die von magischen Kreaturen, wie den namensgebenden Drachen, bevölkert werden. Den wählbaren Spielfiguren stehen Zauberkräfte und andere außergewöhnliche Fähigkeiten zur Verfügung. Das Spiel wurde zunächst als Weiterentwicklung der Wargames angesehen. Rasch wurden aber die spezifischen narrativen und dramatischen Elemente des Spielkonzepts und die sich dadurch bietenden neuen Möglichkeiten erkennbar. Anfangs ein Nischenprodukt, verbreitete sich die neue Spielform in den USA vor allem unter Schülern und Studenten, aber auch unter den Angehörigen der amerik. Streitkräfte. Innerhalb weniger Jahre erlangte sie auch internat. Bekanntheit. Mit dem kommerziellen Erfolg der Spielform wuchs auch die Vielfalt der aufgegriffenen Genres. Die Ausw. orientiert sich an beliebten Lit.- und Filmgenres. So finden sich F.e mit den Themen J Science Fiction, J Horror, Mystery, Western, Agenten und Superhelden. Beliebt ist auch die Kombination mehrerer oder die Einführung neuer Subgenres. Viele der kommerziell erfolgreichsten F.e sind amerik. Ursprungs, finden aber in Übers.en internat. Verbreitung. Dazu zählt neben dem stilund genrebildenden Dungeons & Dragons auch das im Bereich Dark-Future-Fantasy bzw. Science Fiction angesiedelte Shadowrun5. Das seit 1989 veröff. Spielsystem bietet Spielhandlungen in einer dystopischen Nah-Zukunft, bei denen Cyberpunk-Elemente eine große Rolle spielen. Zu den bedeutendsten Vertretern des Genres Dark Fantasy/Horror zählt das 1981 erschienene, den Cthulhu-Mythos thematisierende H. P. Lovecraft’s Cthulhu6. Die Spieler übernehmen die Rollen von Menschen des frühen 20. Jh.s, die, angelehnt an die Figuren in H. P. Lovecrafts Texten, mit übernatürlichen Phänomenen und Kreaturen konfrontiert werden. Zu dem Genre ist auch Vampire: The Masquerade7 (1991 sqq.) zu zählen, bei dem die Spieler in die Rollen von J Vampiren
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schlüpfen. Im Zentrum des Spiels stehen die Erzeugung einer düsteren Atmosphäre und die spielerische Auseinandersetzung mit dem moralischen Verfall der von Menschen zu Vampiren gewordenen Spielerfiguren. Zu den populärsten F.en aus Deutschland gehört das erstmals 1981 erschienene Midgard 8, ein Spielsystem, das thematisch an das Fantasy-Genre angelehnt ist und auf zahlreiche Anleihen aus europ. Mythen und Märchen zurückgreift. Ähnliches gilt auch für das weitverbreitete F. Das Schwarze Auge9. Die Besonderheit dieses seit 1984 verlegten F.s ist die ,lebendige‘ Hintergrundwelt Aventurien, deren hist. Entwicklung durch einen Autorenstab regelmäßig fortgeschrieben wird. Als Beispiel für typische Western-F.e können Deadlands10 und Western City11 gelten. Unter Spielsystemen, deren Handlung in einem Agenten-Setting angesiedelt ist, genießt Terror Network12 eine überregionale Verbreitung. F.e, die das Superheldengenre thematisieren, waren vor allem in den 1980er und 1990er Jahren populär. Sie sind stilistisch stark durch themenverwandte Vorbilder aus Comics und Filmen beeinflußt, häufig findet sich eine Vermischung von Fantasy- und Science-Fiction-Elementen, so etwa in Mutants & Masterminds13. Die unabhängig vom Genre vorhandene Präsenz phantastischer Elemente in nahezu allen Spielsystemen, die häufig märchentypische stereotype Darstellung von J Gut und Böse sowie die dominante Ansiedlung in einem klassischen Fantasy-Setting sind markant. Diese Charakteristika sind zugleich Ursache dafür, daß sich der Begriff F. als Über- und Sammelbegriff für die gesamte Spielform durchgesetzt hat. Strukturen, Themen, Motive und Figuren des höfischen Ritterromans (J Ritter) wie auch des Märchens lassen sich in vielen F.en nachweisen. In den kommerziell vertriebenen Drehbüchern, die vorgefertigte Rahmenhandlungen enthalten, zählen bes. Motive der Artusepik (J Artustradition) wie Ehre, Suche und Heldenreise (J Abenteuer) zum festen Themenrepertoire14. Alternative Formen des F.s finden sich seit den 1980er Jahren im populären Genre des Computerspiels. Bes. Online-Rollenspiele, sog. Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPG), deren bekanntester Vertreter World of Warcraft ist, erreichen eine
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weltweite Verbreitung und Millionen von Spielern15. Die digitalisierten Spiele haben von dem Spieltyp, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, sowohl grundlegende Abläufe als auch z. T. Regelsystematiken und Spielmechaniken übernommen. Zugleich haben zahlreiche F.e, die zunächst als konventionelles Spielsystem publiziert wurden, eine Adaption als Computerspiel erfahren. Eine weitere Variation des F.s ist das LiveRollenspiel (engl. Live Action Role Playing, LARP). Hauptsächlicher Unterschied zum narrativen Pen-&-Paper-Rollenspiel ist, daß die Spieler ihre Figur auch physisch darstellen. Es werden Stimme, Gestik und Mimik wie auch Kostüme, Accessoires und Polsterwaffen genutzt. Deutlicher noch als das Pen-&-PaperRollenspiel ähnelt das Live-Rollenspiel dem Improvisationstheater16. Die Erforschung der vergleichsweise jungen Gattung F. erfolgte zunächst vor allem durch Soziologie, Sozialpädagogik und Psychologie17. Erste Ansätze von Game Studies finden sich bes. in Skandinavien und den USA18. In jüngerer Zeit wurde vor allem der narrative Gehalt der Spielform auch unter Gesichtspunkten der Erzählforschung untersucht19. 1
Schmidt, D. N.: Zwischen Simulation und Narration. Theorie des F. s. Ffm. 2012, 29⫺33. ⫺ 2 Humbeck, N.: Ein Sänger nun wieder und kein Schreiber mehr. Rollenspiel als interaktive Kunstform. In: Janus, U. und L. (edd.): Abenteuer in anderen Welten. F. e. Geschichte, Bedeutung, Möglichkeiten. Gießen 2007, 183⫺196; cf. Balzer, M.: Live Action Role Playing. Die Entwicklung realer Kompetenzen in virtuellen Welten. Marburg 2008, 13. ⫺ 3 Fine, G. A.: Shared Fantasy. Role-Playing Games as Social Worlds. Chic. 1983, 206; Schick, L.: Heroic Worlds. A History and Guide to Role-Playing Games. N. Y. 1991, 17⫺21; Nagel, R.: Aktiv-rekreative Fantasy. In: Gaisbauer, R. G. (ed.): Traditionslinien der dt. Phantastik. Passau 1997, 147⫺153; id.: Die Geschichte der Rollenspiele. In: Janus (wie not. 2) 35⫺54. ⫺ 4 Gygax, G./Arneson, D.: Dungeons & Dragons. Fantasy Role Playing Game. Basic Rules. Cambr. 1974; Heinsoo, R./Collins, A./Wyatt, J.: Dungeons & Dragons. Spieler-Hb. 4. Ausg. Mannheim 2008; Wyatt, J.: Dungeons & Dragons. Spielleiter-Hb. 4. Ausg. Mannheim 2008. ⫺ 5 Hammelmann, T. (ed.): Shadowrun. Grundregelwerk. 5. Ausg. Friedberg 2013; Blumenstein, L./Hammelmann, T. (edd.): Rhein-Ruhr-Megaplex. Friedberg 2011. ⫺ 6 Heller, F. (ed.): Cthulhu. Spieler-Hb. 3. Ausg. Friedberg 2011; id. (ed.): Cthulhu. SpielleiterHb. 3. Ausg. Friedberg 2013; Engan, C. und J.:
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Berge des Wahnsinns. Aufbruch in die Arktis. Friedberg 2010. ⫺ 7 Achilli, J./Bates, A./Brucato, P.: Vampire: Die Maskerade. 3. Ausg. Mannheim 1999. ⫺ 8 Franke, J. (ed.): Midgard. Friedberg 2001; Richter, D.: Runenklingen. 1: Klingensucher. Stelzenberg 2007. ⫺ 9 Römer, T. (ed.): Das Schwarze Auge. Basisregelwerk. Waldems 2008; id. (ed.): Geographia Aventurica. Aventurische Geographie, Geschichte, Kultur & Technik. Waldems 2008. ⫺ 10 Hensley, S.: Deadlands. Das unheimliche Western-Rollenspiel. Friedberg 1997; Smith, L.: Deadlands: Das Buch der Toten. Erkrath 2012. ⫺ 11 Dünne, J.: Western City. Duisburg 2009. ⫺ 12 Miller, A. (ed.): Terror Network. Counter Terrorism Role Playing Game. Breinigsville 2009. ⫺ 13 Kenson, S.: Mutants & Masterminds. Hero’s Handbook. Seattle 2011. ⫺ 14 Schmidt (wie not. 1) 78, 94, 100, 126, 148, 236 sq. ⫺ 15 Aupers, S.: „Better than the real world“. On the Reality and Meaning of Online Computer Games. In: Fabula 48 (2007) 250⫺269. ⫺ 16 Smieskol, S.: Live-Rollenspiel als Theater von morgen? In: Dombrowski, K. (edd.): LARP. Über den Tellerrand. Braunschweig 2011, 34⫺63. ⫺ 17 Kathe, P.: Struktur und Funktion von F.en. Karben 1987; Kahl, R.: F.e als szenische Darstellung von Lebensentwürfen. Marburg 2007; Janus, U.: Die Faszination des Rollenspiels aus der Perspektive des Spielers. In: Janus (wie not. 2) 265⫺274; Knopf, T.: Rollenspiel und Religion. ibid., 297⫺320; Janus, L.: Potentiale des Rollenspiels. ibid., 321⫺324. ⫺ 18 Montola, M./Stenros, J. (edd.): Beyond Role and Play. Tools, Toys and Theory for Harnessing the Imagination. Hels. 2004; Waskul, D.: The RolePlaying Game and the Game of Role-Playing. The Ludic Self and Everyday Life. In: Williams, J. u. a. (edd.): Gaming as Culture. Essays on Reality, Identity and Experience in Fantasy Games. Jefferson 2006, 19⫺38; Schick (wie not. 3) 10⫺34, 419⫺ 421. ⫺ 19 Bruske-Guth, T. M.: Rollenspiel als Medienverbundangebot. Am Beispiel der Systeme „Das Schwarze Auge“ und „Advanced Dungeons and Dragons“. Norderstedt 2002, 41⫺49; Hammer, J.: Agency and Authority in Role-Playing ,Texts‘. In: Knobel, M./Lankshear, C. (edd.): A New Literacies Sampler. N. Y. 2007, 67⫺94; Schmidt (wie not. 1) 231⫺312.
Griesheim
David Nikolas Schmidt
Feministische Märchenforschung, einflußreiche kritische Bewegung, die in der 2. Hälfte des 20. Jh.s entstand und sich mit frauensowie allg. genderspezifischen Aspekten von Volkserzählungen bzw. Märchen befaßt. Die f. M. beschäftigt sich u. a. mit dem Bild von Frauen in Volkserzählungen und Märchen (J Frau, Kap. 3), bes. im Gegensatz zur Darstellung männlicher Figuren, sowie mit der Rolle
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Feministische Märchenforschung
von Frauen bei der Produktion, Verbreitung und Rezeption der Erzählüberlieferung (cf. J Frauenmärchen)1. Über ihre Kritik an der klassischen Volks- und Märchenüberlieferung als patriarchalisches Mittel der J Sozialisation hinaus, das stereotype Darstellungen der Geschlechterrollen perpetuiere und zur sozialen Kontrolle bzw. Unterdrückung der Frau diene (cf. J Patriarchat), hat die f. M. die Erzählforschung durch ein differenziertes und facettenreiches Verständnis von Gender und Sexualität bereichert. Bereits die frz. Philosophin Simone de Beauvoir hatte in ihrem Buch Le deuxie`me Sexe (1949) eine feministische Kritik der weiblichen Sozialisation durch Märchen und Kinderliteratur formuliert2. Eine explizit mit feministischen Themen beschäftigte Märchenforschung entstand allerdings erst in den 1970er Jahren zusammen mit der feministischen Kultur- und Lit.theorie bzw. -kritik3, als Schriftstellerinnen und Wissenschaftlerinnen bes. in den USA und Europa begannen, frauenspezifische Aspekte der Erzählüberlieferung zu erörtern und die Diskussion auf eine breite Grundlage zu stellen. Hinsichtlich der Bedeutung des Feminismus für die Märchenforschung vertraten die US-amerik. Schriftstellerinnen Allison Lurie und Marcia R. Lieberman in den frühen 1970er Jahren widerstreitende Ansichten4. Lurie zufolge stehen Märchen nicht im Widerspruch zu den Zielen der Frauenbewegung, da sowohl klassische Märchenausgaben wie die J Kinder- und Hausmärchen der Brüder J Grimm als auch weniger bekannte Sammlungen viele starke, kluge und aktive Frauen aufweisen5. Lieberman hingegen wandte ein, die klassischen Märchen seien, bes. durch Walt J Disneys Zeichentrickfilme, so dominant, daß ihre negativen Frauenstereotypen sich zwangsläufig auf die weibliche Sozialisation auswirken müßten6. In der Folge wurden Märchen einerseits zum zentralen Thema für die feministische Kritik an patriarchalischen Machtverhältnissen und der Unterdrückung der Frau; andererseits sahen sich feministische Lit.wissenschaftlerinnen und Erzählforscherinnen veranlaßt, klassische Texte zu überprüfen und nach alternativen Erzählungen zu suchen, in deren Mittelpunkt Frauen stehen. Feministinnen, die in den 1970er Jahren für einen populären Leserkreis schrieben, benutz-
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ten Märchen zur Entlarvung männerfreundlicher bzw. frauenfeindlicher patriarchalischer Mythen. A. Dworkin zufolge waren Märchen für die Herausbildung geschlechtsspezifischer soziokultureller Werte und Verhaltensweisen verantwortlich, indem sie weibliche Figuren als entweder böse oder schön und passiv sowie männliche als vorwiegend gut, heldenhaft und aktiv darstellten7. S. Brownmiller faßte AaTh/ ATU 333: J Rotkäppchen als Geschichte einer J Vergewaltigung auf und erklärte, daß einige der bekanntesten Märchen mit passiven Heldinnen ein Verhalten suggerierten, das Frauen zu Vergewaltigungsopfern werden lasse8. S. M. Gilbert und S. Gubar interpretierten KHM 53, AaTh/ATU 709: J Schneewittchen als von einer patriarchalischen Stimme kontrolliertes Märchen, die Frauen zu ästhetischen Objekten reduziere und damit entmachte9. Als kanonischer Märchensammlung wurde bes. den KHM der Brüder Grimm kritische Aufmerksamkeit seitens feministisch orientierter Wissenschaftler zuteil. Bes. R. B. Bottigheimer10, R. Steinchen11, M. Tatar12 und J. Zipes13 untersuchten, wie die Grimms ihre Märchen bearbeiteten, um ihre eigenen gesellschaftlichen Werte und die zeittypischen Vorstellungen musterhaften geschlechtsspezifischen Verhaltens zu vermitteln. Gleichzeitig bildete sich eine komplexere Betrachtungsweise heraus, in deren Rahmen feministische Wissenschaftlerinnen wie C. G. Heilbrun14 und K. E. Rowe15 für eine weibliche Inanspruchnahme und Reinterpretation des Märchens eintraten, mit dem Ziel, die eigenen Stimmen, Erfahrungen und Möglichkeiten zurückzuerlangen bzw. zum Ausdruck zu bringen. In ihrem zum Klassiker gewordenen Aufsatz Things Walt Disney never Told Us (1975) wies die nordamerik. Folkloristin K. Stone nicht nur wichtige ags.-nordamerik. Sammlungen von Märchen mit zahlreichen aktiven und kraftvollen Heldinnen aus, sondern berichtete auch über ihre Interviews mit Frauen, die kanonische Märchen für sich beanspruchten und durch phantasievolle Verwandlung traditionell passiver weiblicher Figuren in aktive Heldinnen ein befreiendes Potential in ihnen entdeckten16. Neue Anthologien und Märchenübersetzungen, in deren Mittelpunkt Frauen standen, boten Alternativen zu den bekannten Erzählungen aus den
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Feministische Märchenforschung
kanonischen Sammlungen Charles J Perraults, der Brüder Grimm und Hans Christian J Andersens sowie den Disney-Zeichentrickfilmen17. Die Erzählforschung ging genderspezifischen Aspekten nach, indem sie die im 19./ 20. Jh. entstandenen Erzählsammlungen und auf ihnen beruhende Forschungsergebnisse hinsichtlich der lange währenden Dominanz männlicher Sammler und Wissenschaftler hinterfragte, z. B. bei der Erstellung von Typenkatalogen, der jeweiligen Forschungsschwerpunkte oder der Interaktion zwischen Sammlern und Gewährspersonen in mehr oder minder patriarchalischen Gesellschaften18. Feministische Wissenschaftlerinnen bemühten sich auch um eine Neuaneignung des Märchens, das zur Domäne männlicher Sammler und Herausgeber geworden war, indem sie Erzählen als ursprünglich weiblichen Bereich betrachteten. Einige untersuchten Märchen nach Hinweisen auf prähist. matriarchalische Mythen19, andere gingen der subversiven verschlüsselten Sprache einer weiblichen Stimme in ihnen nach20. Aspekte des weiblichen Erzählens wurde sowohl ein Thema der volkskundlichen Erzählforschung21 als auch der Lit.wissenschaft22. Zu den wichtigsten Beiträgen der f.n M. gehört die Wiederentdeckung von Autorinnen literar. Märchen, die in der Lit.geschichte und in Überblicksdarstellungen zur hist. Entwicklung des Märchens bezeichnenderweise übergangen wurden. J. Barchilon etwa machte auf die frz. Erzählerinnen des späten 17. und des 18. Jh.s aufmerksam23 und rief damit einen feministisch orientierten und genderbezogenen Wiss.szweig ins Leben, der die Rolle der Frauen in der Geschichte des europ. Märchens dokumentiert24. Auch die wenig beachteten Märchen dt. Schriftstellerinnen des 18./19. Jh.s wurden wiederentdeckt25. Wenngleich die aus dem 17.⫺19. Jh. stammenden Erzählungen sehr unterschiedlich sind, zeigen sie, daß viele Schriftstellerinnen Märchen benutzten, um soziokulturelle Werte, genderspezifische Normen und die patriarchalische Märchentradition in ähnlicher Weise zu hinterfragen wie die f. M. des 20. Jh.s26. Eine Vielzahl zeitgenössischer Schriftsteller, Künstler und Filmemacher reagierte auf den Feminismus und die f. M. mit Werken, die
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Märchen adaptieren und nutzen, um konventionelle Erzählungen und ihre Gender- und Sexualitätskonstruktionen zu hinterfragen und Alternativen zu ihnen zu entwickeln. Darüber hinaus bereitete die f. M. den Boden für eine breitere Untersuchung von Gender und Sexualität27 und eröffnete den Weg für die Erkundung der Möglichkeiten der Queer-Theorie in der Erzählforschung28. 1
Jarvis, S. C.: Feminism. In: The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales 1. ed. D. Haase. Westport 2008, 336⫺338; Seifert, L. C.: Feminist Tales. ibid., 338⫺340; Birkalan-Gedik, H.: Women. ibid. 3, 1037⫺1041; Jarvis, S. C.: Feminism and Fairy Tales. In: The Oxford Companion to Fairy Tales. ed. J. Zipes. Ox. 2000, 155⫺159. ⫺ 2 Shojaei Kawan, C.: A Masochism Promising Supreme Conquests. Simone de Beauvoir’s Reflections on Fairy Tales and Children’s Literature. In: Marvels & Tales 16 (2002) 29⫺48. ⫺ 3 Haase, D.: Preface. In: Fairy Tales and Feminism. ed. id. Detroit 2004, vii⫺xiv, hier vii. ⫺ 4 id.: Feminist Fairy-Tale Scholarship. ibid., 1⫺36, hier 1 sq. ⫺ 5 Lurie, A.: Fairy Tale Liberation. In: New York Review of Books (17. Dez. 1970) 42⫺44; ead.: Witches and Fairies. Fitzgerald to Updike. ibid. (2. Dez. 1971) 6⫺11. ⫺ 6 Lieberman, M. R.: „Some Day My Prince Will Come“. Female Acculturation through the Fairy Tale [1972]. In: Don’t Bet on the Prince. ed. J. Zipes. N. Y. 1986, 185⫺200. ⫺ 7 Dworkin, A.: The Fairy Tales. In: ead.: Woman Hating. N. Y. 1979, 29⫺49. ⫺ 8 Brownmiller, S.: Against Our Will. Men, Women and Rape. N. Y. 1975, 309 sq.; cf. auch Daly, M.: Gyn/Ecology. The Metaethics of Radical Feminism. Boston 1978. ⫺ 9 Gilbert, S. M./Gubar, S.: The Madwoman in the Attic. The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination. New Haven 1979, 3⫺ 44. ⫺ 10 Bottigheimer, R. B.: Grimms’ Bold Boys and Bad Girls. The Moral and Social Vision of the Tales. New Haven/L. 1987. ⫺ 11 Steinchen, R.: Märchenerzählerin und Schneewittchen. Zwei Frauenbilder in einer dt. Märchenslg. In: Mythos Frau. Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat. ed. B. Schaeffer-Hegel/B. Wartmann. B. 1984, 280⫺308. ⫺ 12 Tatar, M.: The Hard Facts of the Grimms’ Fairy Tales. Princeton 1987. ⫺ 13 Zipes, J.: Fairy Tales and the Art of Subversion. N. Y. 1983. ⫺ 14 Heilbrun, C. G.: Reinventing Womanhood. N. Y. 1979. ⫺ 15 Rowe, K. E.: Feminism and Fairy Tales. In: Women’s Studies 6 (1979) 237⫺ 257. ⫺ 16 Stone, K.: Things Walt Disney Never Told Us. In: Women and Folklore. ed. C. R. Farrer. Austin 1975, 42⫺50. ⫺ 17 z. B. Womenfolk and Fairy Tales. ed. R. Minard. Boston 1975; Clever Gretchen and other Forgotten Folktales. ed. A. Lurie. N. Y. 1980; The Maid of the North. Feminist Folktales from around the World. ed. E. J. Phelps. N. Y. 1981; Europ. Frauenmärchen. ed. S. Früh. Ffm. 21996;
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Ferna´n Caballero
Schneewittchen hat viele Schwestern. Frauengestalten in europ. Märchen. ed. I. Köhler-Zülch/C. Shojaei Kawan. Gütersloh 21991; The Old Wives’ Fairy Tale Book. ed. A. Carter. N. Y. 1990; Fearless Girls, Wise Women and Beloved Sisters. Heroines in Folktales from around the World. ed. K. Ragan. N. Y./ L. 1998; Mirror, Mirror. Forty Folktales for Mothers and Daughters to Share. ed. J. Yolen/H. E. Y. Stemple. N. Y. 2000. ⫺ 18 Lundell, T.: Gender-Related Biases in the Type and Motif Indexes of Aarne and Thompson. In: Fairy Tales and Society. ed. R. B. Bottigheimer. Phil. 1986, 149⫺163; Järvinen, I.-R.: Nastja Rantsi, Narrator of Sacred Legends. In: Studia Fennica 33 (1989) 55⫺63; Köhler-Zülch, I.: Ostholsteins Erzählerinnen in der Slg Wisser: ihre Texte ⫺ seine Berichte. In: Fabula 32 (1991) 94⫺118; ead.: Who Are the Tellers? Statements by Collectors and Editors. ibid. 38 (1997) 199⫺209. ⫺ 19 GöttnerAbendroth, H.: Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythos, Märchen und Dichtung. Mü. 1980; Jungblut, G.: Märchen der Brüder Grimm, feministisch gelesen. In: Diskussion Deutsch 17 (1986) 497⫺510; Rüttner-Cova, S.: Frau Holle. Die gestürzte Göttin. Märchen, Mythen, Matriarchat. Basel 1986. ⫺ 20 Rowe, K. E.: To Spin a Yarn. The Female Voice in Folklore and Fairy Tale. In: Bottigheimer (wie not. 18) 53⫺74; Feminist Messages. Coding in Women’s Folk Culture. ed. J. N. Radner. Urbana 1993. ⫺ 21 Burkhart, D.: Aspekte des Weiblichen im bulg. Tier- und Zaubermärchen. In: Fabula 23 (1982) 207⫺220; Mills, M. A.: Rhetorics and Politics in Afghan Traditional Storytelling. Phil. 1991; Cardigos, I.: In and out of Enchantment. Blood Symbolism and Gender in Portuguese Fairytales (FFC 260). Hels. 1996; Apo, S./Nenola, A./Stark-Arola, L.: Gender and Folklore. Perspectives on Finnish and Karelian Culture. Hels. 1998; El-Shamy, H.: Tales Arab Women Tell and the Behavioral Patterns They Portray. Bloom. 1999. ⫺ 22 Rowe (wie not. 20); Warner, M.: From the Beast to the Blonde. On Fairy Tales and Their Tellers. N. Y. 1994. ⫺ 23 Barchilon, J.: Le Conte merveilleux francœ ais de 1690 a` 1790. P. 1975. ⫺ 24 z. B. Seifert, L. C.: Fairy Tales, Sexuality, and Gender in France, 1690⫺1715. Cambr. 1996; Hannon, P.: Fabulous Identities. Women’s Fairy Tales in Seventeenth-Century France. Amst. 1998; Harries, E. W.: Twice upon a Time. Women Writers and the History of the Fairy Tale. Princeton 2001; Duggan, A. E.: Salonnie`res, Furies, and Fairies. The Politics of Gender and Cultural Change in Absolutist France. Newark 2005. ⫺ 25 cf. Feen-Mährchen. Zur Unterhaltung für Freunde und Freundinnen der Feenwelt. ed. U. Marzolph, Hildesheim/Zürich/N. Y. 2000; Naubert, B.: Neue Volksmärchen der Deutschen 1⫺4. ed. M. Henn/P. Mayer/A. Runge. Göttingen 2001; The Queen’s Mirror. Fairy Tales by German Women, 1780⫺1900. ed. S. C. Jarvis/J. Blackwell. Lincoln/L. 2001; Blackwell, J.: German Fairy Tales. In: Haase (wie not. 3) 73⫺98; Jarvis, S. C.: Im Reich der Wünsche. Die schönsten Mär-
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chen dt. Dichterinnen. Mü. 2012. ⫺ 26 cf. ead.: Trivial Pursuit? Women Deconstructing the Grimmian Model in the Kaffeterkreis. In: The Reception of Grimms’ Fairy Tales. ed. D. Haase. Detroit 1993, 102⫺126. ⫺ 27 cf. Bacchilega, C.: Postmodern Fairy Tales. Phil. 1997. ⫺ 28 z. B. Transgressive Tales. Queering the Grimms. ed. K. Turner/P. Greenhill. Detroit 2012; Duggan, A. E.: Queer Enchantments. Gender, Sexuality, and Class in the Fairy-Tale Cinema of Jacques Demy. Detroit 2013.
Detroit
Donald Haase
Ferna´n Caballero (i.e. Cecilia Francisca Josefa Böhl de Faber Larrea), *Morges (Schweiz) 24., 25., 26. oder 27. 12. 1796, † Sevilla 7. 4. 1877, span. Schriftstellerin1, Tochter des Hamburger Kaufmanns und Literaten Johann Nikolaus Böhl von Faber und der aus Ca´diz stammenden Schriftstellerin Frasquita Larrea (i.e. Francisca Javiera Ruiz de Larrea y Ahera´n), die bask.-ir. Herkunft war2. In ihrem Elternhaus kam F. C. früh mit den Ideen J Herders, der Brüder J Grimm und der dt. J Romantik in Berührung3. Ab 1805 wurde sie in Deutschland erzogen; seit 1813 lebte sie, abgesehen von längeren Aufenthalten in Puerto Rico (1816/17) und Hamburg (1819/20), als privilegiertes Mitglied der span. Oberschicht, später verarmt, in verschiedenen Orten Andalusiens, zuletzt 1857⫺77 in Sevilla. F. C. gilt als Wegbereiterin des realistischen Romans in Spanien. Ihre ersten Werke verfaßte sie auf frz. oder dt. und ließ sie zur Publ. ins Spanische übersetzen4. Das Pseud. F. C., nach einem Dorf in der Provinz Ciudad Real, benutzte sie seit ihrem frühesten Roman, La gaviota (1849). Es folgten u. a. Elia, o La Espan˜a treinta an˜os ha (1849), La familia de Alvareda (1849), La´grimas (1850), Clemencia (1852) und Cosa cumplida … so´lo en la otra vida (1852)5. Die literar. Produktion F. C.s6 enthält eine (z. T. auch als Überfrachtung kritisierte7) Fülle von traditionellem Material (Erzählungen, Humoristisches, Sprichwörter, Kinderspiele, Romanzen, Singverse etc.)8, darunter vieles, was vorher in der span.sprachigen Überlieferung weder mündl. noch schriftl. nachgewiesen ist; auch Erfundenes scheint darunter zu sein, bes. im Bereich religiöser Beispielgeschichten9. F. C. zeichnete andalus. Volksüber-
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Ferna´n Caballero
lieferungen quellengetreu auf (manchmal mit Hilfe von Mitarbeitern) und war eine Verfechterin der Stenographie; als Künstlerin hielt sie es jedoch für legitim, ihre Vorlagen zu bearbeiten10. Ihre Romane bieten ein Bild des andalus. Alltagslebens; gleichzeitig verstand sie sich als Hüterin von Moral und Religion. Dem romantischen Rettungsgedanken verpflichtet, stellte F. C. drei Sammlungen von Volksüberlieferungen zusammen: Die Cuentos y poesı´as populares andaluzas (Sevilla 1859, 2 1877), die auch in Deutschland erfolgreich waren (5 span.sprachige Aufl.n im 19. Jh.: Lpz. 1861, 1866, 1874, 1881, 1887)11, sind eine Pionierleistung auf dem Gebiet der span. Erzählforschung. Sie bieten vier Abhdlgen zum span. Volkscharakter, von der Autorin bearbeitete Erzählungen (die meisten bereits 1850⫺ 55 im Semanario pintoresco espan˜ol veröffentlicht) und humoristische Kurzformen sowie Bauernregeln, Lieder und Singverse12. Spätestens seit 1862 arbeitete F. C. an den Cuentos, oraciones, adivinas y refranes populares e infantiles (Madrid 1877). Das Buch ist für Kinder bestimmt und enthält Zaubermärchen13, Kindermärchen, fromme Geschichten, Beispielerzählungen, Rätsel, Verse, Sprichwörter und populäre Maximen; es unterscheidet sich von der ersten Sammlung durch eine stärkere Bearb. der Erzählungen und eine ausgeprägtere moralisierende Haltung14. Erst posthum veröffentlicht wurde eine Sammlung volkstümlicher Spruchweisheiten, Refranero del campo y poesı´as populares (1912/14)15. Mit dem Ziel der moralischen Erziehung der Jugend arbeitete F. C. auch an der Zs. Educacio´n pintoresca; publicacio´n para nin˜os (1857⫺59) mit, der sie Erzählungen, Rätsel, Gebete etc. einsandte16. M. Chevalier stellte in F. C.s Œuvre 84 traditionelle Erzählungen fest, davon 65 nach AaTh klassifizierbare17. Außerhalb ihrer Anthologien hat F. C. in folgenden schriftstellerischen Werken populäre Stoffe verarbeitet: La gaviota (1849): AaTh/ATU 715: J Halbhähnchen; AaTh/ATU 1889 F: J Gefrorene Worte18. ⫺ Elia, o la Espan˜a treinta an˜os ha (1849): AaTh 1516 B* ⫹ 1516 C*/ATU 1516* (3): Marriage as Purgatory19. ⫺ Una en otra (1849): AaTh/ATU 1335: cf. J Spiegelbild im Wasser20. ⫺ La familia de Alvareda (1849): AaTh 2320/ATU 2013: „There Was Once a Woman; the Woman Had a Son“21. ⫺ La´grimas (1850): AaTh/ATU 780: J Singender Knochen; AaTh 208*: Duck Persuades Cock to Cut off his Crest and
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Spurs22. ⫺ Clemencia (1852): AaTh/ATU 750 H*: The Notary Enters Heaven23. ⫺ ¡Pobre Dolores! (1852): AaTh/ATU 1250 A: Hampers Piled Up to Measure Tower; AaTh/ATU 921 D: Im J Bett sterben24. ⫺ Cosa cumplida ... so´lo en la otra vida (1852): AaTh/ATU 235 C*: A Bird Has New Clothes Made25. ⫺ Simo´n Verde (1853): AaTh/ATU 6: cf. J Überreden zum Sprechen, Singen etc.; AaTh/ATU 921 A: J Focus: Teilung des Brotes oder Geldes; AaTh 828/ATU 173: J Lebenszeiten des Menschen26. ⫺ La estrella de vandalia (1855): AaTh/ATU 767: J Kruzifix gefüttert; AaTh/ATU 777: J Ewiger Jude; AaTh/ATU 1689*: Fool Appointed to Fictitious Office Boists of It27. ⫺ Ma´s vale honor que honores (1857): AaTh/ATU 758: Die ungleichen Kinder J Evas28. ⫺ Dicha y suerte (1858): AaTh 774 G: cf. J Petrusschwänke29. ⫺ Vulgaridad y nobleza (1860): AaTh/ATU 2019: Pif Paf Poltrie30. ⫺ Artı´culos religiosos y morales (1862): AaTh/ATU 756 D*: Who Is the More Devout?; AaTh/ATU 77731. ⫺ La corruptora y la buena maestra (1907): AaTh 840 A*: Adam is Given a Vision of the Future32. ⫺ La viuda del cesante (1909): AaTh/ATU 860: Nuts of „Ay ay ay!“33. 1
Heinermann, T.: Cecilia Böhl de Faber (F. C.) y Juan Eugenio Hartzenbusch. Una correspondencia ine´dita. Madrid 1944, 17⫺57; Obras de F. C. 1⫺5. ed. J. M. Castro Calvo. Madrid 1961, hier t. 1, vii⫺ clxxxvii; Herrero, J.: F. C. Un nuevo planteamiento. Madrid 1963; Ferna´ndez Poza, M.: Frasquita Larrea y „F. C.“. Mujer, revolucio´n y romanticismo en Espan˜a 1775⫺1870. El Puerto de Santa Marı´a 2001; Go´mez Yebra, A. A.: Introduccio´n. In: F. C.: Genio e ingenio del pueblo andaluz. ed. id. Madrid 1994, 7⫺60; Ferna´ndez Poza, M./Garcı´a Pazos, M. (edd.): Actas del encuentro „F. C., hoy“. Homenaje en el bicentenario del nacimiento de Cecilia Böhl de Faber, 1996. El Puerto de Santa Marı´a 1998; Ferna´ndez Poza, M.: Cecilia Böhl de Faber, „F. C.“ (1796⫺ 1877). Madrid 2003; cf. ferner die Webseiten der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes und des Grupo de Investigacio´n del Cuento Espan˜ol del Siglo XIX der Univ. Auto`noma de Barcelona. ⫺ 2 cf. Carnero, G.: Los orı´genes del Romanticismo reaccionario espan˜ol: El matrimonio Böhl de Faber. Valencia 1978. ⫺ 3 Amores, M.: F. C. y el cuento folclo´rico. El Puerto de Santa Marı´a 2001, 5. ⫺ 4 ibid., 48 sq. ⫺ 5 Zu F. C.s Weiblichkeitsverständnis im Zusammenhang ihrer literar. Tätigkeit cf. Kirkpatrick, S.: Las roma´nticas. Escritoras y subjetividad en Espan˜a (1835⫺1850). Madrid 1991, 227⫺258. ⫺ 6 Obras completas de F. C. 1⫺17. Madrid 1905⫺14; Castro Calvo (wie not. 1). ⫺ 7 cf. Montesinos, J.: F. C. Un ensayo de justificacio´n. Mexiko 1961, 66. ⫺ 8 cf. Doerig, J. A.: Contribucio´n al estudio del folklorismo en F. C. Madrid 1934. ⫺ 9 Amores (wie not. 3) 154. ⫺ 10 ibid., 37⫺66, 153⫺175; Villalba, S.: El cuento popular en dos escritores contempora´neos: Braulio Foz y F. C. In: Alazet 1 (1989) 205⫺ 224; Go´mez Yebra, A. A.: Actualidad de los elemen-
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Fischer, Helmut
tos folclo´ricos recopilados por F. C. In: Ferna´ndez ´ vila, Poza/Garcı´a Pazos (wie not. 1) 67⫺88; Sua´rez A L.: F. C., pionera en la recoleccio´n del romancero oral. ibid., 173⫺187; Cantos Casenave, M.: F. C.: Entre el folklore y la literatura de creacio´n. De la relacio´n al relato. El Puerto de Santa Marı´a 1999. ⫺ 11 cf. Amores (wie not. 3) 74; Rez. F. Wolf in Jb. für rom. und engl. Lit. 3 (1861) 209⫺237. ⫺ 12 Amores (wie not. 3) 75. ⫺ 13 cf. Jofre, M.: Cuentos de encantamiento de F. C. In: Merveilles & Contes 4 (1990) 243⫺253. ⫺ 14 Amores (wie not. 3) 112⫺114. ⫺ 15 F. C. (wie not. 6) hier t. 15⫺16 (1912/14); zur Edition des Werks cf. Fradejas, J.: Tradicio´n oral y literatura (V.). Cuentecillos de F. C. en Rafael Boira. In: Revista de folklore 304 (2006) 120⫺131. ⫺ 16 Amores (wie not. 3) 112 sq. ⫺ 17 Chevalier, M.: Inventario de los cuentos folklo´ricos recogidos por F. C. In: Revista de dialectologı´a y tradiciones populares 34 (1978) 49⫺65; cf. auch Camarena/Chevalier; Baquero, A. L.: El cuento popular en el siglo XIX (F. C., Luis Coloma, Narciso Campillo, Juan Valera). In: Anales de la Univ. de Murcia 43 (1984) 361⫺380; Amores, M.: Cuentos populares espan˜oles: La labor pionera de F. C. In: Cuadernos de literatura infantil y juvenil 58 (1994) 7⫺14; ead.: Cata´logo de cuentos folclo´ricos reelaborados por escritores del siglo XIX. Madrid 1997; zu Parallelen von F. C.s Erzählungen bei den Brüdern Grimm oder in anderen Überlieferungen cf. Go´mez Yebra (wie not. 1) 43⫺ 52. ⫺ 18Castro Calvo (wie not. 1) t. 1, 33⫺36, 102 sq. ⫺ 19ibid., t. 3, 38. ⫺ 20 ibid., 263. ⫺ 21 ibid., t. 1, 155. ⫺ 22 ibid., t. 2, 120 sq., 176. ⫺ 23 ibid., 97 sq. ⫺ 24 ibid., 390 sq., 394. ⫺ 25 ibid., t. 4, 10 sq. ⫺ 26 ibid., 87, 101, 115. ⫺ 27 ibid., t. 3, 112 sq., 114 sq., 116. ⫺ 28 ibid., t. 4, 163, 171. ⫺ 29 ibid., 144. ⫺ 30 ibid., t. 3, 398 sq. ⫺ 31 ibid., t. 5, 305, 347 sq. ⫺ 32 ibid., t. 4, 426. ⫺ 33 ibid., t. 5, 16.
Tarragona
Carme Oriol
Fischer, Helmut, *Geistingen (heute Hennef) 5. 9. 1934, dt. Lit.wissenschaftler und Erzählforscher. F. studierte 1957/58 Germanistik, Geschichte, Philosophie und Sprachwissenschaft an der Univ. Bonn und 1958⫺60 an der Pädagogischen Akad. Bonn. 1960⫺64 war er Lehrer in Stadt Blankenberg; 1962 begann er ein Zweitstudium mit den Fächern Germanistik, Vk. und Geschichte an der Univ. Bonn. 1964⫺67 war F. wiss. Assistent an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abt. Bonn; seine 1967 eingereichte Diss. befaßt sich mit dem sprachpsychol. Phänomen der ,Anverwandlung‘ der Landschaft anhand von Flurnamen des Siegkreises. 1968/69 arbeitete F. als wiss. Assistent am Seminar für Didaktik der
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dt. Sprache und Lit. der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abt. Bonn, ab 1969 als Dozent für Didaktik der dt. Sprache und Lit. an der Pädagogischen Hochschule Ruhr, Abt. Essen. Nach seiner Habilitation 1972 an der Gesamthochschule Essen (heute Univ. DuisburgEssen) war F. bis 1996 ebenda Professor für Germanistik/Lit.wissenschaft. F. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2002 den Europ. Märchenpreis der Märchen-Stiftung Walter Kahn und 2004 den Volkacher Taler der Dt. Akad. für Kinder- und Jugendliteratur1. Seit der 2. Hälfte der 1950er Jahre hat F. rund 450 Veröff.en vorgelegt: zur Verbreitung und Wirkungsgeschichte von Volksliteratur sowie zur Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Vermittlung durch die populären Medien, zur Geschichte und Vk. des Rhein-Sieg-Kreises, aber auch zur rhein. Vk. allg. und zur Dialektologie2. Bedeutsam sind F.s sowohl aus Feldforschungen hervorgegangenen empirischen als auch seine hist.-vergleichenden Dokumentationen und Beitr.e zu einer regionalen Kulturgeschichte des Landes zwischen Rhein und Ruhr3. Seine erste Buchveröffentlichung Erzählüberlieferung an der Sieg (Hennef 1975) vermittelte ⫺ wesentlich erweitert u. d. T. Volkserzählungen an Rhein und Sieg. Erzähler und Schreiber, Sammler und Herausgeber vom 11. bis zum 20. Jh. (Siegburg 2006) ⫺ anhand gedr. und ungedr. Qu.n einen Überblick über Inhalte, Formen und Tradierung. Ausführliche Kommentare erschließen den Funktions- und Mentalitätswandel in den Erzählungen. Seine Ausgabe Erzählgut der Gegenwart (Köln 1978) vereint mündl. Texte aus dem Siegraum (1414 mundartliche Texte) und beschreibt die insgesamt 134 Erzählerpersönlichkeiten sowie die Aufzeichnungspraxis und damit verbundene Schwierigkeiten. Andere Veröff.en dokumentieren u. a. Sagen des Westerwaldes (Montabaur 1983, 72004), Kinderreime im Ruhrgebiet (Köln 1991, 21994), Mündl. Kinderliteratur (Baltmannsweiler 2006) oder Volkserzählungen zwischen Rhein und Eifel (Siegburg 2007). Ein bes. Stellenwert in F.s Forschungen kommt dem Verhältnis von Mündlichkeit und J Schriftlichkeit zu4. Am Beispiel der Rheinsagen5 (cf. J Rheinromantik), der Sage vom J Rattenfänger (ATU 570*)6 oder anhand der Weissagungen des Bernhard Rem-
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Fischer, Helmut
bold (genannt Spielbähn, 1689⫺1783)7 zeigte er auf, wie sagenhafte Berichte immer wieder in wechselnde Kontexte eingebunden werden. Seit 1970 befaßte sich F. mit der Dokumentation von ,neuen Sagen‘, die mit dem Tonband aufgezeichnet waren; 1986 stellte er sie in einer kleinen Slg vor und faßte sie später mit neuen Materialien in Buchform zusammen8. Er dokumentierte die audiovisuelle Vermittlung von Märchen und Sagen9, erforschte anhand empirischer Texte die Sicht von Bergleuten auf ihren Arbeitsalltag10, analysierte kleinere Erzählformen wie Witze, Rätsel, Scherzfragen, Kinderreime und -lieder, Kettenbriefe11 sowie Formen der Rundfunkwerbung12, wies auf den Einfluß bildlicher Darstellungen auf die Tradierung von Legenden und Sagen hin13 und arbeitete über die Entstehung von Stereotypen und Vorurteilen aufgrund von Volkserzählungen14. Daß ihm als Teilergebnis seiner Feldforschungen ein Wb. der unteren Sieg (Köln 1985) zu verdanken ist, in dem der bisher nicht beschriebene Dialekt erstmals vorgestellt wird, beweist eindrücklich die Breite seiner wiss. Arbeit. 1
Mannheims, H.: F., H. In: Volkskundlerinnen und Volkskundler im Rheinland heute. Bonn 1995, 19⫺ 23; F., H.: Erzählforscher ist man nicht ⫺ man wird es. In: Märchenspiegel 13,2 (2002) 27⫺29; Röhrich, L.: Laudatio auf den Märchenpreisträger des Jahres 2002: H. F. ibid. 13,4 (2002) 3 sq.; Uther, H.-J.: H. F. zum Fünfundsiebzigsten. In: Volkacher Bote 91 (2009) 47 sq. ⫺ 2 cf. Lang, A.: Schriftenverz. H. F. Essen 1996. ⫺ 3 cf. F., H.: Erzählen ⫺ Schreiben ⫺ Deuten. Münster u. a. 2001; id.: Märchen im Ruhrgebiet. Ein Problemaufriss. In: Lox, H./Solms, W./ Heindrichs, H.-A. (edd.): Begegnung mit dem Wunder in Märchen, Sagen und Legenden. Krummwisch 2010, 268⫺283. ⫺ 4 z. B. id.: Das „papierne“ Dasein von Volkserzählungen. Über schreibende Erzähler. In: Boden, A. u. a. (edd.): Erzähler und Erzähltes. Bonn 2006, 45⫺77; id.: Schriftlichkeit in der Erzählforschung. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 15⫺26. ⫺ 5 id.: Volkslit. und Identitätsstiftung. Die „Rheinsagen“ und die Bewußtmachung der Rheinlandschaft. In: Rhein.-westfäl. Zs. für Vk. 49 (2004) 33⫺55. ⫺ 6 id.: Rattenfänger-Sage. In: Franz, K./Lange, G./Payrhuber, F.-J. (edd.): Kinder- und Jugendlit. Ein Lex. Meitingen 2002, 1⫺ 39. ⫺ 7 id.: „Spielbähn“ im Dritten Reich. Volksüberlieferung in der politischen Zensur. In: Volkskultur an Rhein und Maas 16,1⫺2 (1997) 22⫺33; id.: Der alltägliche Mythos. Geschichten um einen Volkspropheten. In: Petzoldt, L./Haid, O. (edd.):
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Beitr.e zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Volkserzählung. Ffm. u. a. 2005, 373⫺390. ⫺ 8 id.: Der Rattenhund. Das Beispiel einer neuen „Sage“. In: Rhein. Jb. für Vk. 26 (1985/86) 177⫺195; id.: Spinne in der Yuccapalme. Neue Sagen und was sie sagen … In: Essener Univ.sber.e 1 (1989) 23⫺29; id.: Der Rattenhund. Sagen der Gegenwart. Köln/Bonn 1991; cf. id.: The Rat-Dog. An Example of a ,New Legend‘. In: Bennett, G./Smith, P. (edd.): Contemporary Legend. N. Y./L. 1996, 187⫺297; id.: Narrative Reaktionen. Über das Erzählen nach auffälligen Ereignissen. In: Marzolph, U. (ed.): Strategien des populären Erzählens. Münster 2010, 37⫺49. ⫺ 9 cf. u. a. id.: Mediale Texttransformation. Das Märchen „Schneewittchen“. In: Textarbeit. ed. A. C. Baumgärtner. Bochum 1980, 67⫺80; id.: Kontinuität oder Transformation. Die mündl. Volksüberlieferung im ZA. der Massenkommunikation. In: SAVk. 87 (1991) 93⫺106; id.: Die Instrumentalisierung von Sagen in Ztgen und Zss. In: Lares 65 (1999) 31⫺ 48; id.: Grimms Märchen: neu erzählt, modern, entgrimmt und ver-simsalagrimmt. In: Franz, K./Kahn, W. (edd.): Märchen ⫺ Kinder ⫺ Medien. Baltmannsweiler 2000, 108⫺116. ⫺ 10 id.: Arbeitsleben. Ein Ruhrbergmann erzählt aus seinem Arbeitsalltag. In: Volkskultur an Rhein und Maas 8,1 (1989) 38⫺ 47; id.: Arbeitsbewußtsein. Die erzählerische Auseinandersetzung von Ruhrbergleuten mit ihrem Arbeitsalltag. In: Dauskardt, M./Gerndt, H. (edd.): Der industrialisierte Mensch. Hagen 1993, 351⫺ 358. ⫺ 11 id.: Kettenbriefgeschichten. In: Kulturen ⫺ Sprachen ⫺ Übergänge. Festschr. H. L. Cox. Köln/Weimar/Wien 2000, 49⫺59. ⫺ 12 id.: Magazingeschichten. Erzählen in berichtend-kommentierenden Rundfunksendungen. In: Homo narrans. Festschrift S. Neumann. Münster u. a. 1999, 285⫺300; id.: Sekundengeschichten. Erzählen in Rundfunkwerbesendungen. In: Schmitt, C. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster u. a. 2008, 75⫺83. ⫺ 13 id.: Das interpretierte Bildwerk. Die Leistung von Erzähltexten für die Deutung von Bildwerken. In: Bild und Text. ed. L. Petzoldt/I. Schneider/P. Streng. Bratislava 1993, 74⫺85; id.: Der Text als Bild. Narrative Bildlore am Beispiel der Legende. In: Rhein. Jb. für Vk. 32 (1997/98) 97⫺109. ⫺ 14 id.: „Heiden“ und „Zigeuner“ in rhein. Volkserzählungen. In: Rhein.westfäl. Zs. für Vk. 54 (2009) 43⫺61; cf. auch id.: Ethnische Stereotypen in der gegenwärtigen Volkserzählung. In: Fabula 31 (1990) 262⫺271; id.: Bergheimer, Ostfriesen, Türken, Neger. ibid. 37 (1996) 286⫺ 296; id.: Das Bild der Juden in der mündl. Volksüberlieferung. Der literar. Umgang mit einer kulturellen Minderheit in einer rhein. Kleinlandschaft. In: Hose, S. (ed.): Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur. Bautzen 2008, 30⫺41.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
1669
Formgeschichte ⫺ Gellius, Aulus
Formgeschichte, Zentralbegriff der dt.sprachigen Bibelexegese. Der Terminus wurde erstmals von dem evangel. Theologen M. Dibelius (1883⫺1947) in seiner Monogr. Die F. des Evangeliums (Tübingen 1919) verwendet. Dibelius berief sich bei der Einführung des Begriffs auf A. J Olriks J Epische Gesetze sowie auf Olriks Konzept von der Biologie der Sage (J Biologie des Erzählguts)1. F. ist eine Verbindung von Gattungsgeschichte und Gattungskritik (J Gattungsprobleme)2. Als Begründer dieser Forschungsrichtung gilt H. J Gunkel, der bereits um die Wende zum 20. Jh. formgeschichtliche Methoden unter dem Begriff der Gattungsforschung in die Bibelforschung eingeführt hatte3. Beeinflußt von zeitgenössischen Entwicklungen in der Germanistik, der Sprachwissenschaft und der Klassischen Philologie regte Gunkel die Erarbeitung einer Lit.geschichte des A. T.s an, in deren Zentrum die Beschäftigung mit Textgattungen stehen sollte4. Die Fragen nach der Funktion und dem soziol. Kontext einer Gattung führten Gunkel zum Angelpunkt der F. im Sinne von A. J Jolles: dem J Sitz im Leben. Letztlich geht die Beschäftigung mit der F. der Evangelien auf J Herder und die Entstehung einer modernen Bibelwissenschaft im 18. Jh. zurück. In diesem Kontext wurde der Begriff Form vorwiegend für die mündl. Überlieferung, der Begriff Gattung vorwiegend für die Großformen der literar. Fixierung verwendet; bisweilen wurden die Begriffe als Synonyme gebraucht5. Die Rekonstruktion einer Vorgeschichte der heutigen Evangelien bildete ein wichtiges Erkenntnisinteresse, in dessen Mittelpunkt Quellentradition und Urgenese standen. Die ältere Leben-Jesu-Forschung der klassischen Lit.kritik kam auf der Grundlage formgeschichtlicher Analysen zu dem Resultat, die chronikalische Berichterstattung dürfe nicht als hist. zuverlässig aufgefaßt werden. Auch in der alttestamentlichen Forschung werden Gattungsgeschichte und F. weitgehend als Synonyme verwendet6; dies gilt auch für den Begriff Formkritik, der jedoch stärker die analytischen Aspekte der Textarbeit betont. Dibelius unterschied die Grobstrukturen Predigt, Paradigma, Novelle, Legende, Analogie, Leidensgeschichte, Slg, Paränese und Mythus7; Gunkel hatte hingegen die Analyse der
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,kleinsten Einheiten‘ zum Prinzip erhoben und unterteilte die Redestoffe der Evangelien in Weisheitsworte, prophetische Worte, Gesetzesworte, Gemeinderegeln, Gleichnisse (mit Untergruppen), Streit- und Schulgespräche sowie biogr. Apophthegmata8. In bezug auf das A. T. wird terminologisch unterschieden zwischen Gattungsgeschichte und Überlieferungs- oder Traditionsgeschichte der bibl. Texte sowie ihrer vermuteten mündl. Konzeption oder performativen Vortragsweise auf der einen und den verschriftlichten Fassungen der kanonisierten Texte auf der anderen Seite. ,Formensprache‘ ist ein konstitutives Element der Gattungen mit bes. Semantik und Syntax. Daher gibt es gattungsspezifische Wortfelder und entsprechende Phraseologien. Inzwischen versucht die Redaktionsgeschichte, mit Hilfe der Formenkritik zu den intendierten theol. Aussagen vorzustoßen. Eine Hinwendung zu einer formgeschichtlichen Sichtweise läßt sich auch in der neueren Linguistik erkennen9. 1
Dibelius, M.: Die F. des Evangeliums. Tübingen 1971, 1. ⫺ 2 Berger, K.: F. des N. T.s. Heidelberg 1984, 9 sq. ⫺ 3 cf. Koch, K.: Was ist F.? NeukirchenVluyn 41981, 3. ⫺ 4 Gunkel, H.: Die Grundprobleme der israelit. Lit.geschichte. In: id.: Reden und Aufsätze. Göttingen 1913, 29⫺38. ⫺ 5 Köster, H./Müller, H.-P.: F./Formenkritik. In: TRE 11 (1983) 271⫺ 299, hier 287. ⫺ 6 cf. ibid., 274. ⫺ 7 Dibelius (wie not. 1) v. ⫺ 8 Gunkel (wie not. 4) 31⫺36. ⫺ 9 cf. Koch (wie not. 3) 286⫺291. 6
Würzburg
Wolfgang Brückner
Gellius, Aulus, *vermutlich Rom um 130, † wohl ebenda um 180, röm. Schriftsteller. Nach eigenen Angaben studierte G. Grammatik bei Apollinaris Sidonius und Rhetorik bei Antonius Iulianus, eventuell auch bei Marcus Cornelius Fronto. In Rom wurde er zum Richter in zivilrechtlichen Angelegenheiten (iudicia privata) ernannt. Vermutlich hielt er sich vor 165 in Athen auf und begann dort mit der Abfassung seines Werkes Noctes Atticae1. G. zählt mit J Claudius Aelianus, J Valerius Maximus und Macrobius2 zu den Vertretern der röm. Buntschriftstellerei. Die unvollständig erhaltenen Noctes Atticae bestehen aus 20 unsystematisch angelegten Büchern mit ins-
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Gellius, Aulus
gesamt etwa 400 Kapiteln unterschiedlicher Länge ⫺ von einem Satz (Buch 2,5) bis hin zu ausführlichen Darstellungen (6,3; 14,1). Eine von G. geplante Fortsetzung der Noctes Atticae ist offenbar nicht realisiert worden. Das Werk des G. bietet Informationen aus den unterschiedlichsten Fach- und Wissensgebieten miszellenartig dar: Es schildert die Geschichte Roms, vergleicht die griech. mit der röm. Kultur, berichtet aus dem Alltagsleben3, erörtert rechtliche und sprachliche, phil. und rhetorische Aspekte, erläutert einzelne Wörter und Begriffe, zählt Namen von Flüssen und Winden auf und behandelt wiss. und technische Themen. G. schöpfte sein Wissen aus über 275 Autoren (auch aus verlorengegangenen Werken, die er fragmentarisch als einziger überliefert), hat aber sicher auch Eigenes beigesteuert. Das Werk ist nicht als Enz. oder Lehrbuch zu betrachten; eher entspricht es einem ,Lesebuch als Erziehungshilfe‘4. Die Handlungsweisen hist. Personen stellte G. als vorbildhaft heraus und präsentierte sie in Exempla und Anekdoten mit dem Ziel, durch die Rückbesinnung auf die große Zeit des Aufstiegs Roms eine Orientierung für die Gegenwart und die Zukunft zu geben5. E rz äh lt yp en - u nd mo ti ve (Ausw.)6: 1,17 ⫽ J Sokrates und Xanthippe: Auf die Frage, wie er es mit seiner streitsüchtigen Frau aushalte, antwortet Sokrates, man müsse solche Fehler ertragen; halte man sie aus, verbessere man sich selbst dadurch (Dömötör, num. 257). ⫺ 1,19 ⫽ Tarquinius und die Sibyllinischen Bücher (Mot. J 166.1; Dömötör, num. 125; J Sibyllen). ⫺ 1,23 ⫽ Der Senat diskutiert über die Frage, ob eher ein Mann zwei Frauen oder eine Frau zwei Männer haben sollte (Tubach und Dvorˇa´k, num. 5269; Marzolph, Arabia ridens, num. 831). ⫺ 2,29 ⫽ AaTh/ATU 93: J Worte des Herrn sind ernstzunehmen. ⫺ 3,6 ⫽ Ätiologie: Warum die Palme Siegeszeichen ist. ⫺ 3,8 ⫽ Verräter bestraft, der sich erboten hatte, Pyrrhus durch seinen Sohn, den Mundschenk des Pyrrhus, vergiften zu lassen (Tubach und Dvorˇa´k, num. 3761). ⫺ 5,2 ⫽ J Alexander d. Gr. zähmt das Pferd Bucephalus (Tubach und Dvorˇa´k, num. 96; Dömötör, num. 228). ⫺ 5,9 ⫽ Stummer erlangt Sprache in Gefahrensituation wieder (Mot. F 954). ⫺ 5,14 ⫽ AaTh/ATU 156: J Androklus und der Löwe. ⫺ 5,16 ⫽ Der alternde Milo schädigt sich selbst bei einer Kraftprobe und kommt ums Leben (Mot. K 1111; AaTh/ATU 38: cf. J Einklemmen unholder Wesen). ⫺ 6,8 ⫽ Liebe eines Delphins zu schönem Knaben (cf. Mot. B 212.2). ⫺ 9,4 ⫽ Wundergeschichten aus fernen Ländern (cf. J Einäugig, Einäugigkeit; J Halbwesen; J Hundsköpfige; J Kannibalismus). ⫺ 10,17 ⫽ Demokrit
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zerstört sein Augenlicht, um unbeeinträchtigt seinen Gedanken und Überlegungen nachgehen zu können (Tubach, num. 1945). ⫺ 10,18 ⫽ Reliquien als Trinkgefäße: Artemisia trinkt die Asche ihres toten Ehemanns Mausolus (Dvorˇa´k, num. 4057*). ⫺ 11,9 ⫽ Demosthenes fordert und erhält Geld für sein Schweigen von Gesandten aus Milet. ⫺ 12,7 ⫽ AaTh/ATU 926 C: cf. J Salomonische Urteile. ⫺ 15,22 ⫽ Kriegslist des Feldherrn: Hirschkuh als vermeintliche Wahrsagerin spornt Soldaten zum Kampf an. ⫺ 16,19 ⫽ Arion wird von Delphin gerettet (Tubach, num. 1726; Dömötör, num. 80). ⫺ 18,13 ⫽ J Diogenes und der Sophist (cf. ATU 1871 Z: Other Anecdotes about Diogenes). ⫺ 19,12 ⫽ Über den rechten und unrechten Gebrauch der Zunge (cf. Tubach, num. 4909, 4912).
Die Rezeption von G. setzte früh ein. So übernahmen Macrobius und Nonius Marcellus einzelne Texte, ohne G. jedoch als Autorität zu nennen; bei Lactantius und Ammianus Marcellinus finden sich sprachliche Wendungen und inhaltliche Auszüge, die G. zugeschrieben werden7. Augustinus, der G. über dessen Ausführungen zur stoischen Affektenlehre (19,1) wahrnahm, bezeichnete G. als „vir elegantissimi eloquii“ (De civitate dei 9,4)8. Bes. vom MA. bis zum Barock war G. ein geschätzter Autor bei Verfassern kathol. und protestant. Exempelsammlungen, Vertretern der Chronik- und Kuriositätenliteratur bis hin zu Kompilatoren von Fabel-, Schwank- und Unterhaltungsbüchlein. Diese werteten die von den klassischen griech. und röm. Autoren gesammelten Memorabilia aus und brachten sie in andere Kontexte ein, nicht selten in Exempla über J Tugenden und Laster: z. B. Johannes von Salisbury9, J Konrad von Halberstadt, J Erasmus von Rotterdam, Angelo J Poliziano10, Jakob Wimpfeling11, Johannes J Pauli, Sebastian J Brant, Joachim J Camerarius, Erasmus J Alberus12, Johannes J Gastius, Andreas J Hondorff 13, Jean J Bodin, Valerius J Herberger14, Pedro J Mexı´a, Matthäus Hammer15, Georg Philipp J Harsdörffer, Johannes J Praetorius, Johannes J Mollerus16, Dominicus J Wenz, Hilarius Salustius17, Peter Lauremberg18 und W. L. Steinbrenner19. Innerhalb der von späteren Autoren adaptierten Stücke hatten die Fabeln vom erfahrenen Vogel und seinen Jungen (2,29) sowie von Arion und dem Delphin (16,19) die größte Nachwirkung. Dabei wird die Arion-Fabel
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Genealogische Erzählungen
entweder nach der ältesten Quelle zitiert (Herodot 1,23⫺24) oder nach G., der J Herodot als Autor angab. 1
A. Gellii Noctium Atticarum libri 1⫺20. ed. C. Hosius. Lpz. 1903 (Nachdr.e Stg. 1959, 1967, 1981); zusammenfassend cf. Berthold, H.: Die ,Att. Nächte‘ des A. G. oder Lit. und Bildung zur Zeit Marc Aurels. In: A. G. Att. Nächte. ed. id. Lpz. 1987, 203⫺ 220; Lindemann, J.-O.: A. G. Noctes Atticae, Buch 9. Kommentar. B. 2006. ⫺ 2 Tuerk, E.: Macrobe et les Nuits Attiques. In: Latomus 24 (1965) 381⫺ 406. ⫺ 3 Johnson, A.: Readers and Reading Culture in the High Roman Empire. N. Y./Ox. 2010, 98⫺ 136; Heusch, C.: Die Macht der memoria. Die „Noctes Atticae“ des A. G. im Licht der Erinnerungskultur des 2. Jh.s. n. Chr. B./N. Y. 2011. ⫺ 4 Berthold (wie not. 1) 212. ⫺ 5 Baldwin, B.: Studies in A. G. Lawrence, Kans. 1975; Beall, S. M.: Civilis eruditio. Style and Content in the „Attic Nights“ of A. G. Diss. Berk. 1988; Holford-Strevens, L.: A. G. An Antonine Scholar and His Achievement. L. 1988 (22003); Astarita, M. L.: La cultura nelle „Noctes Atticae“. Catania 1993; Holford-Strevens, L./Vardi, A. (edd.): The Worlds of A. G. Ox. 2004; Pausch, D.: Biogr. und Bildungskultur. Personendarstellungen bei Plinius d. J., G. und Sueton. (Diss. Gießen 2003) B./N. Y. 2004; Keulen, W.: G. the Satirist. Roman Cultural Authority in „Attic Nights“. Leiden u. a. 2009. ⫺ 6 Numerierung nach der Ausg. Hosius (wie not. 1). ⫺ 7 Lindemann (wie not. 1) 47⫺49. ⫺ 8 Binder, V.: Vir elegantissimi eloquii et multae undecumque scientiae. Das Selbstverständnis des A. G. zwischen Fachwissen und Allg.bildung. Stg. 2003. ⫺ 9 Martin, J.: Uses of Tradition. G., Petronius and John of Salisbury. In: Viator 10 (1979) 57⫺76; Moos, P. von: Geschichte als Topik. Hildesheim/ Zürich/N. Y. 1988, bes. 356, 416, cf. auch Reg. s. v. G. ⫺ 10 cf. Poliziano, A.: Letters. ed. S. Butler. Cambr., Mass. 2005, bes. 203, 251, 315, 343, 359. ⫺ 11 Brüggemann, T./Brunken, O. (edd.): Hb. zur Kinder- und Jugendlit. Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570. Stg. 1987, 392, 589 sq., 601. ⫺ 12 Elschenbroich, A. (ed.): Die dt. und lat. Fabel in der Frühen Neuzeit 1⫺2. Tübingen 1990, bes. t. 2, 246, 37, 46, 77. ⫺ 13 Rehermann, 183; Brückner, 654. ⫺ 14 ibid., 654. ⫺ 15 cf. Uther, H.-J.: Merkwürdige Lit. CDROM B. 2005, s. v. G. ⫺ 16 Brückner, 614. ⫺ 17 Uther (wie not. 15). ⫺ 18 ibid. ⫺ 19 Brunken, O./ Hurrelmann, B./Pech, K.-U. (edd.): Hb. zur Kinderund Jugendlit. Von 1800 bis 1850. Stg./Weimar 1998, 1879.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Genealogische Erzählungen. Die Genealogie (G.; griech. genealogia: Ableitung eines Dings von seinem Ursprung) ist die Lehre von der
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Abstammung der Geschlechter sowie den damit verbundenen biologischen, rechtlichen, geschichtlichen, demographischen und soziol. Beziehungen1. Als akademische Disziplin führte J. C. Gatterer die G. gegen Ende des 18. Jh.s als hist. Hilfswissenschaft zur Erforschung der Familiengeschichte des höheren und niederen Adels ein2. G.n dienen primär dem Nachweis der Abstammung; subjektiv handelt es sich dabei allerdings häufig um den Versuch einer Bekräftigung bestehender Positionen bzw. Interpretationen, insofern als die Abstammung einzelner Personen oder ganzer Geschlechter oft auf Götter, mythische Könige oder sagenhafte Helden zurückgeführt wird. So wird im A. T. die Abstammung J Abrahams von J Adam detailliert hergeleitet3; im N. T. wird die Herkunft Jesu J Christi bis auf das Haus J David zurückgeführt4. In zahlreichen Kulturen werden die menschlichen Herrscher als Abkömmlinge von Göttern angesehen bzw. dargestellt5. Im europ. MA. war der Mythos verbreitet, daß bestimmte Herrscherhäuser oder ganze Völkerschaften von den trojan. Helden abstammten (J Troja-Roman)6. Ma. Herrschergestalten wurden mit Wesen übernatürlicher Herkunft in Verbindung gebracht, um sie von gewöhnlichen Sterblichen abzugrenzen; die G. trägt hier den Charakter einer kulturellen Ordnungsform mit der Kompetenz, zeitliche und räumliche Relationen herzustellen7 und somit Kontinuität zu erzeugen. Dem Versgedicht J Floire et Blancheflor zufolge war etwa die Mutter J Karls d. Gr. eine Fee; der ital. Ritterroman J Reali di Francia führt die frz. Herrscherhäuser auf Karl d. Gr. und dessen Neffen Orlando (J Roland) zurück. In serb. und bulg. G.n wird das Herrschergeschlecht der Nemanjiden mit J Konstantin d. Gr. in Verbindung gebracht8. Die verschiedentlich zitierte angebliche Herkunft von J Melusine verlieh Adelsfamilien ein höheres Prestige9. Europ. Adelsgeschlechter authentifizieren die Herkunft ihrer Namen oder Wappen mit g.n E.: So erklärt etwa die österr. Adelsfamilie Crivelli das Sieb in ihrem Wappen damit, daß eine ursprünglich der Göttin Vesta geweihte Jungfrau zu Rom ihre Keuschheit dadurch bewiesen habe, daß es ihr gelungen sei, mit einem Sieb Wasser aus dem Tiber zu schöpfen
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Genealogische Erzählungen
(AaTh/ATU 1180: cf. J Danaiden)10; eine Schlange im Wappen derer von Lynar in der Niederlausitz wird damit in Zusammenhang gebracht, daß ein Urahn einem J Schlangenkönig die Krone geraubt habe11. Manche g.n E. knüpfen an konkrete Gegenstände im Familienbesitz an. Das bekannteste Zeugnis hierfür ist die Sage vom Oldenburger J Horn, das Graf Otto bei einem Jagdabenteuer von einer Fee erbeutet und in Familienbesitz überführt haben soll12. Wenngleich etwa in patriarchalisch organisierten Dörfern in Serbien noch im 20. Jh. die Rezitation von genealogischen Linien vorgefunden wurde13, kommt vor allem in außereurop. Gesellschaften den vielfach mündl. überlieferten g.n E. eine hohe und oft bis heute andauernde Bedeutsamkeit zu. Gegenüber europ. Texten zeichnen sich diese Geschichten oft dadurch aus, daß sie über eine lückenlose Kette von Angaben verfügen. Westafrik. Griots sind die Hüter der hist. und damit auch der genealogischen Überlieferungen ihrer Gemeinschaften14. Die Ureinwohner des Inselstaates Hawaii führen die Ahnenreihe der Stammesältesten in umfangreichen epischen Gesängen bis auf Götter zurück; die Gesänge enthalten narrative Elemente wie z. B. die J Schöpfungsgeschichte, die Vertreibung aus dem J Paradies und die J Sintflut (J Weltzeitmythen)15. Manche Clans der Indianer Südamerikas leiten ihre mythischen Ursprünge von bestimmten Tieren ab (cf. auch J Totemismus)16. Die Mambai in Ost-Timor kennen mythische Gründungsväter ihrer Häuser; bei förmlichen Anlässen bzw. Ritualen wird ⫺ beginnend mit dem Gründer ⫺ die Linie der männlichen Hauseigner rezitiert, zusammen mit g.n E., die mit dem Haus verbunden sind17. Bei den neuseeländ. Maori18 beginnen die oft in Sprechgesang bei unterschiedlichen Gelegenheiten rezitierten Familienstammbäume kosmographisch beim Vater J Himmel und der Mutter J Erde und umschreiben in narrativer Form die Entwicklung des Universums durch die Trennung von Himmel und Erde bis zum Eintreffen der Maori in Neuseeland19. Stammesälteste können in ihren g.n E. bis zu 20 Generationen zurückgehen20. G. (ta¯tai) und ihre Narration (wa¯nanga) werden von Maori als zwei Teile gesehen, die in der Performanz zusammengeführt werden müssen: Kann
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das nicht überzeugend getan werden, wird die Authentizität der g.n E. angezweifelt21. In g.n E. der austral. Aborigines mit ihren starken verwandtschaftlichen Verflechtungen über weite Räume hinweg hat der Ahn eines Clans jeweils einen Ursprungsort in einer bestimmten Region, von der aus er verschiedene Wanderwege einschlug; durch seine Handlungen enstandene Besonderheiten des Terrains können z. T. noch heute wahrgenommen werden (cf. allg. Mot. A 901)22. Aufgrund der genealogischen Kenntnisse der Aborigines entwickelte der engl. Ethnologe W. H. R. Rivers die sog. genealogische Methode23, die nach seiner Ansicht bes. bei der Erkundung überschaubarer ethnischer Einheiten dienlich ist24. Sie kann u. a. Aufschlüsse vermitteln über Familie, Verwandtschaft, Deszendenz, Namengebung, Sprache, Migration und Demographie und galt lange Zeit als eine der wichtigsten Grundlagen ethnol. Feldforschung25. Zur Aufzeichnung von Explorationsergebnissen wird die G. der ,fortlaufenden Erzählung‘ (narrative genealogy) empfohlen26. In westl. Industriegesellschaften haben genealogisch-familiengeschichtliche Forschungen spätestens seit A. Haleys überaus erfolgreichem Buch Roots. The Saga of an American Family (N. Y. 1976) starken Widerhall gefunden, bes. bei Angehörigen von entwurzelten oder emigrierten Familien27. Die Erstellung von Ahnenregistern, Abstammungstafeln etc. ist zu einem weiten Betätigungsfeld von Laien geworden28. Als moderne Erscheinungsform der Erzeugung von Bedeutung kann man sich überzeugende fiktive G.n professionell erstellen lassen29. 1
Ersch, J. S./Gruber, J. G. (edd.): Allg. Enz. der Wiss.en und Künste 57. Lpz. 1853, 336⫺378. ⫺ 2 Gatterer, J. C.: Abriß der G. Göttingen 1788. ⫺ 3 Stade, B.: Wo entstanden die genealogischen Sagen über den Ursprung der Hebräer? In: Zs. für alttestamentliche Wiss. 1 (1881) 347⫺350. ⫺ 4 Bell, J. B./Abrams, R. I.: The Roots of Jesus. A Genealogical Investigation. Garden City, N. Y. 1983; Broszio, G.: Genealogia Christi. Die Stammbäume Jesu in der Auslegung der christl. Schriftsteller der ersten fünf Jh.e. Trier 1994. ⫺ 5 Johnson, A. R.: Sacral Kingship in Ancient Israel. Cardiff 1955; Fagg, W.: Divine Kingship in Africa. L. 1978; cf. auch EM 7, 481 (Japan). ⫺ 6 Lüthgen, E.: Die Qu.n und der hist. Werth der fränk. Trojasage. Bonn 1875; Brückle, W.: Noblesse oblige. Trojasage und legitime Herrschaft in der frz.
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Gerndt, Helge
Staatstheorie des späten MA.s. In: Heck, K./Jahn, B. (edd.): G. als Denkform in MA. und Früher Neuzeit. Tübingen 2000, 39⫺65. ⫺ 7 Heck, K./Jahn, B.: G. in MA. und Früher Neuzeit. Leistungen und Aporien einer Denkform. ibid., 1⫺9, hier 1; cf. Graus, F.: Die Herrschersagen des MA.s als Geschichtsqu. In: Archiv für Kulturgeschichte 51 (1969) 65⫺93. ⫺ 8 EM 8, 198. ⫺ 9 Haid, O.: Blutsverwandtschaft mit übernatürlichen Wesen. ,Mahrtenehe‘ und die Frage nach Prestige in genealogischen Sagen. In: Lares 65 (1999) 51⫺80, hier 74; Kellner, B.: Aspekte der G. in ma. und neuzeitlichen Versionen der Melusinensage. In: Heck/Jahn (wie not. 6) 13⫺38. ⫺ 10 Grässe, J. G. T.: Geschlechts-, Namen- und Wappensagen des Adels dt. Nation. Dresden 1876, 31. ⫺ 11 ibid., 99 sq. ⫺ 12 Christiansen, Migratory Legends, num. 6045; cf. Ball, K.: Legend as Metanarration. In: Fabula 53 (2012) 1⫺19. ⫺ 13 Kerewsky Halpern, B.: Genealogy as Oral Genre in a Serbian Village. In: Oral Traditional Literature. Festschr. A. B. Lord. Columbus 1981, 301⫺321. ⫺ 14 Haie, T.: Griots and Griottes. Bloom. 1998; Leymarie, I.: Les Griots Wolof du Se´ne´gal. P. 1999; Jansen, J.: The Griot’s Craft. An Essay on Oral Tradition and Diplomacy. Münster/Hbg/L. 2000; Bornand, S.: Le Discours du griot ge´ne´alogiste chez les Zarma du Niger. P. 2005. ⫺ 15 Beckwith, M.: Hawaiian Mythology. Honolulu 1970. ⫺ 16 Le´vi-Strauss, C.: Das wilde Denken. Ffm. 1968, 265. ⫺ 17 Traube, E. G.: Cosmology and Social Life. Ritual Exchange among the Mambai of East Timor. Chic./L. 1986, 70. ⫺ 18 Biggs, B. G.: Maori Myth and Traditions. In: McLintock, A. H. (ed.): Enc. of New Zealand 2. Wellington 1966, 447⫺ 454. ⫺ 19 Johansen, J. P.: The Maori and His Religion. Kop. 1954, 239; Robertson, J. B. W.: Genealogies as a Basis for Maori Chronology. In: The J. of the Polynesian Soc. 65 (1956) 45⫺54. ⫺ 20 Best, E.: The Maori 1. Wellington 1924, 344. ⫺ 21 Sissons, J./Wi Hongi, W./Hohepa, P.: Nga¯ Pu¯riri o Taiamai. A Political History of Nga¯ Puhi in the Inland Bay of Islands. L. 2001, 59. ⫺ 22 Le´vi-Strauss (wie not. 16) 264. ⫺ 23 Rivers, W. H. R.: A Genealogical Method of Collecting Social and Vital Statistics. In: J. of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 30,3 (1900) 74⫺82. ⫺ 24 id.: The Genealogical Method of Anthropological Inquiry. In: The Sociological Review 3,1 (1910) 1⫺ 12, hier 10. ⫺ 25 Herskovits, M. J.: Man and His Works. The Science of Cultural Anthropology. N. Y. 1951, 89 sq.; Fischer, H.: Lehrbuch der genealogischen Methode. B. 1996, 5. ⫺ 26 ibid., 67. ⫺ 27 Gerber, D. A.: Haley’s Roots and Our Own. An Inquiry into the Nature of a Popular Phenomenon. In: J. of Ethnic Studies 5,3 (1977) 87⫺111. ⫺ 28 Sagnes, S.: De Terre et de sang. La passion ge´ne´alogique. In: Terrain 25 (1995) 125⫺146; Timm, E.: G. ohne Generationen. Verwandtschaft in der populären Forschung. In: Mohrmann, R.-E. (ed.): Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft. Münster 2011, 147⫺179. ⫺ 29 Bizzochi, R.: Genealogie incre-
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dibili. Scritti di storia nell’Europa moderna. Bologna 2 2009.
Wellington
Brigitte Bönisch-Brednich
Gerndt, Helge, *Dresden 16. 9. 1939, dt. Volkskundler. G. studierte 1960⫺66 Vk., dt. und nord. Philologie, Theaterwissenschaft und Geographie in Kiel und Wien. 1966 wurde er bei L. J Kretzenbacher in Kiel mit der Diss. Fliegender Holländer und Klabautermann (Göttingen 1971; ATU 777*: J Fliegender Holländer, J Klabautermann) promoviert. 1973 habilitierte er sich in München über einen Kärntner Brauch1. 1979/80 hatte er die Professur für Vk. an der Univ. Regensburg inne, 1980⫺2004 den Lehrstuhl für dt. und vergleichende Vk. an der Univ. München. G. war 1987⫺91 Erster Vorsitzender der Dt. Ges. für Vk.; seit 1994 ist er einer der Herausgeber der EM. Ihm wurden mehrere Festschr.en gewidmet2. G.s Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Erzählforschung, der kulturwiss. Theorie und Methodik, der Wiss.sgeschichte sowie der Alltags-, Brauch- und Bildkulturforschung3. Dabei hat G. in der Bildkulturforschung die Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft systematisch ausgelotet, das Verhältnis von Natur und Kultur modellhaft beschrieben, ideologiekritisch zur Aufarbeitung der volkskundlichen Forschung der Zeit des Nationalsozialismus beigetragen, die kulturwiss. Wissensproduktion vor dem Hintergrund der allg. Wiss.sgeschichte reflektiert und zur Vernetzung transdisziplinärer Diskurse angeregt. Von grundlegender Bedeutung sind seine Beiträge zu theoretischen und methodischen Fragen einer empirisch-hermeneutischen Analyse alltagskultureller Aspekte, in denen Kultur als ein zentrales Forschungsfeld der Vk. in globalen Zusammenhängen verstanden wird. Als Erzählforscher hat er sich in hist. und gegenwartbezogener Perspektive mit Aspekten der Stoff- und Motivüberlieferung, den Funktionen des Erzählens, der Wechselwirkung von Bild und Erzählung sowie mit grundlegenden methodischen, strukturellen und theoretischen Fragen befaßt. Bereits in seiner Diss. zur Erzählüberlieferung von Seeleuten über Geisterschiffe hat G. exemplarisch Aspekte der Stoff- und Motivge-
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Gerndt, Helge
schichte und der Erzählfunktion untersucht4. Dabei beschäftigte er sich mit dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie mit der Kontinuitätsfrage5 ⫺ Fragestellungen, denen er auch in seiner Überblicksdarstellung zur Volkserzählforschung in Bayern, seinen Überlegungen zur heutigen Sagenforschung und seiner Unters. zur Genese hist. Sagen nachging6. Mit modernen Sagen und Erzählungen befaßte sich G. bes. im Hinblick auf Fragen komplexer kultureller Vermittlungsprozesse7. So stellte er am Beispiel des Atomunglücks von Tschernobyl modellhafte Überlegungen zu Denk-, Beschreibungs-, Erklärungs-, Darstellungs- und Betrachtungsaspekten an8. Abgesehen von der Frage nach dem Umgang mit modernen Ängsten geht es darum, was es für die Erzählform Sage mit ihrer nach herkömmlicher Vorstellung konkreten Orts- und Zeitgebundenheit bedeutet, wenn sich in einer zunehmend globalisierten Welt Mobilität und Einsatz moderner Kommunikationsmittel erhöhen. Darüber hinaus arbeitete G. zur Visualisierung des Narrativen und damit zum Verhältnis von Bild und Erzählung9, wobei zunehmend der Aspekt des Erzählens durch Bilder, vor allem am Beispiel von Karikaturen10, in den Blickpunkt rückte. In einem umfassenderen Sinn mündeten G.s Studien in theoretische Überlegungen zu einer volkskundlichen Bildwissenschaft11. Charakteristisch für G.s Arbeit ist das Interesse an grundlegenden Fragen kultureller Tradierungsprozesse und ein systematisches Bemühen, zu einer modellhaften Analyse und Standortbestimmung der modernen kulturwiss. Erzählkulturforschung beizutragen12. Dabei ist G. stets an den Erzählkontexten und den narrativ vermittelten kulturellen Wertigkeiten interessiert und versteht das Erzählen insbesondere als Indikator komplexer kultureller Prozesse13. 1
G., H.: Vierbergelauf. Gegenwart und Geschichte eines Kärtner Brauchs. Klagenfurt/Bonn 1973. ⫺ 2 Erzählen über Orte und Zeiten. Festschr. H. G./K. Roth. Münster u. a. 1999; H. G. und Klaus Roth zum 65. Geburtstag. Festschr. H. G./K. R. Mü. 2005. ⫺ 3 G. H.: Volkskunde und Nationalsozialimus. Mü. 1986; id. (ed.): Fach und Begriff „Vk.“ in der Diskussion. Darmstadt 1988; id.: Studienskript
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Vk. Eine Handreichung für Studierende. Münster u. a. 31997. ⫺ 4 cf. id.: Über den Qu.nwert älterer Märchen- und Sagenslgen. In: ÖZfVk. 73 (1970) 122⫺131; id.: Zur Interethnik im Spiegel von Sagen. Beispiel „Klabautermann“. In: Jb. für Vk. und Kulturgeschichte N. F. 17 (1989) 21⫺27. ⫺ 5 id.: Sagen und Sagenforschung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Fabula 29 (1988) 1⫺ 20; id.: Das Nachleben Heinrichs des Löwen in der Sage. In: Mohrmann, W.-D. (ed.): Heinrich der Löwe. Göttingen 1980, 440⫺465; id.: Zur Frühgeschichte der Sagenforschung. In: Dona Ethnologica Monacensia. Festschr. L. Kretzenbacher. Mü. 1983, 251⫺266; id.: Erzählen und Wirklichkeit. In: id.: Kulturwiss. im ZA. der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen. Münster u. a. 2002, 29⫺46. ⫺ 6 id.: Volkserzählforschung. In: Harvolk, E. (ed.): Wege der Vk. in Bayern. Mü./Würzburg 1987, 403⫺ 420; id.: Volkssagen. Über den Wandel ihrer zeichenhaften Bedeutung vom 18. Jh. bis heute. In: Jeggle, U. u. a. (edd.): Volkskultur in der Moderne. Reinbek 1986, 397⫺409; id.: Gedanken zur heutigen Sagenforschung. In: Bayer. Jb. für Vk. (1991) 137⫺145; id.: Die sog. Auerberg-Sagen. In: Münchener Beitr.e zur Vor- und Frühgeschichte 45 (1994) 231⫺245. ⫺ 7 id.: Vermischtes. Die Ztg.snachricht als Sage. In: Medien popularer Kultur. Festschr. R. W. Brednich. Ffm./N. Y. 1995, 48⫺59; id.: Milzbrand-Geschichten. Thesen zur Sagenforschung in der globalisierten Welt. In: ÖZfVk. 85 (2002) 279⫺295. ⫺ 8 id.: Kulturvermittlung. Modellüberlegungen zur Analyse eines Problemkomplexes am Beispiel des Atomunglücks von Tschernobyl. In: ZfVk. 86 (1990) 1⫺13; id.: Tschernobyl als kulturelle Tatsache. In: Harmening, D./Wimmer, E. (edd.): Volkskultur ⫺ Geschichte ⫺ Region. Würzburg 1990, 155⫺176. ⫺ 9 id.: Können Bilder erzählen? Bemerkungen zur „Visualisierung des Narrativen“. In: Leben ⫺ Erzählen. Festschr. A. Lehmann. B./Hbg 2004, 99⫺117; id.: Mit Bildern erzählen. Skizze für ein enzyklopädisches Stichwort. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 309⫺325. ⫺ 10 cf. z. B. id.: Möglichkeitsspiele. Bemerkungen zur Karikatur als Wissensform. In: Volkskundliche Tableaus. Festschr. M. Scharfe. Münster u. a. 2001, 237⫺252; id.: Homo quo vadis. Das Menschenbild der Biotechnik in der Karikatur. In: Naumann, P. (ed.): Sturz in den Himmel. Kulturwiss. Betrachtungen zur Karikatur der Moderne. Marburg 2002, 27⫺40; id.: Über visuelle Kompetenz. Eine Thesenskizze am Beispiel der politischen Karikatur. In: ZfVk. 101 (2005) 189⫺203; id: Die letzte Reise ⫺ ein Satyrspiel? Tod und Sterben in der modernen Karikatur. In: Seifert, M./Helm, W. (edd.): Recht und Religion im Alltagsleben. Passau 2005, 375⫺389; id.: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben …“. Waldwahrnehmung und Waldbewußtsein im Spiegel der Karikatur. In: Kulturwiss. Symposium. Wald ⫺ Museum ⫺ Mensch ⫺ Wildnis. ed. C. Binder/D. Decker. St. Oswald 2011, 17⫺25. ⫺
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Gesemann, Gerhard
11 cf. z. B. id.: Mit Bildern leben. Die Visualisierung der Wissensgesellschaft in volkskundlich-kulturwiss. Perspektive. In: SAVk. 100 (2004) 173⫺203; id.: Bildüberlieferung und Bildpraxis. Vorüberlegungen zu einer volkskundlichen Bildwiss. In: id./Haibl, M. (edd.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwiss. Münster u. a. 2005, 13⫺34; id.: Überlegungen zu einer Theorie visueller Kultur. In: Alzheimer, H. u. a. (edd.): Bilder ⫺ Sachen ⫺ Mentalitäten. Arbeitsfelder hist. Kulturwiss. Regensburg 2010, 429⫺438; id.: Vom Ding zum Bild oder: Was bedeutet die Verbildlichung unseres Lebens? In: Bayer. Jb. für Vk. (2011) 13⫺26. ⫺ 12 cf. id.: Kultur als Forschungsfeld. Über volkskundliches Denken und Arbeiten. Mü. 21986; id. 1997 (wie not. 3); id. 2002 (wie not. 5). ⫺ 13 cf. id.: Walter Scherf und die Kunst des Erzählens. In: id./Wardetzky, K. (edd.): Die Kunst des Erzählens. Potsdam 2002, 11⫺22; id.: Wiss. entsteht im Gespräch. 13 volkskundliche Porträts. Münster u. a. 2013.
Regensburg
Daniel Drascek
Gesemann, Gerhard, *Lichtenberg (heute Salzgitter-Lichtenberg) 16. 12. 1888, † Bad Tölz 31. 3. 1948, dt. Slavist und Volkskundler. G. studierte 1909⫺13 Germanistik, Vk., Slavistik und Vergleichende Sprachwissenschaften an den Univ.en München, Berlin und Kiel; 1913 wurde er in Kiel mit der Diss. Regenzauber in Deutschland (Braunschweig 1913) promoviert. Ab Anfang 1914 war G. als Deutschlehrer an einem serb. Knabengymnasium in Belgrad angestellt; 1915⫺16 begleitete er die serb. Armee als Zivilinternierter und Krankenpfleger auf ihrem Rückzug durch Albanien1. 1920 habilitierte er sich in München mit einer Arbeit über die sog. Erlanger Hs., eine kurz zuvor entdeckte Slg serbokroat. Volkslieder aus der Zeit um 17302. Ab 1922 war G. Professor für Slavistik an der Dt. Univ. in Prag; dort gründete er 1929 mit F. Spina die Slav. Rundschau sowie 1930 die Dt. Ges. für Slavistische Forschung. 1940 ging er als Gründungspräsident des Dt. Wiss. Inst.s nach Belgrad, kehrte jedoch 1941 nach dem dt. Überfall auf Belgrad wieder auf seinen Prager Lehrstuhl zurück. Aufgrund gesundheitlicher Probleme und politischer Anfeindungen ließ G. sich 1944 vorzeitig pensionieren. 1945 mußte er aus Prag fliehen; seine einzigartige Spezialbibliothek sowie zahlreiche, z. T. publikationsreife Mss. gingen verloren. Zuletzt lebte G. in Oberbayern und war vor allem schriftstellerisch tätig3.
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G. erwarb sich große wiss. Anerkennung als Lit.wissenschaftler, Feldforscher4 und Übersetzer5 südslav. Volksliteratur. Sein bes. Interesse galt dem epischen Volkslied6; darüber hinaus arbeitete er auf dem Gebiet der Kultursoziologie und der Sagenforschung7. Zu seinem zentralen wiss. Anliegen entwickelte sich der über die literar. Balkanforschung hinausgreifende Versuch einer hist.-ethnischen Charakterforschung auf der Grundlage der Volksdichtung8. In seinem hierfür exemplarischen Hauptwerk Heroische Lebensform. Zur Lit. und Wesenskunde der balkan. Patriarchalität (B. 1943) rekonstruierte er die Gentilgesellschaft des frühen Europa anhand von Archetypen und Elementarsituationen (Agon, Renegatentum, Blutrache etc.) aus dem Erzählgut Altislands, Schottlands, Montenegros, Korsikas sowie der peleponnes. Halbinsel Mani9. G.s Leistung auf dem Gebiet der Erforschung und Vermittlung slav. Kulturguts ist hoch einzuschätzen: M. Murko (1861⫺1952) stützte sich bei seinen Forschungen zum mündl. tradierten Heldenlied auf G.s Erkenntnisse10; und auch für M. J Parry, dessen Bekanntschaft G. 1926 machte, sowie für A. B. J Lord waren seine Ansätze und Methoden richtungweisend11. Wenngleich G.s Plan einer Dokumentation des slav. Heldenliedes mit den Mitteln der modernen Tontechnik nur bruchstückhaft verwirklicht wurde, kann seine Arbeit als Vorläufer der neueren, mediengestützten und kontextorientierten Erzählforschung gewertet werden. 1
cf. G., G.: Die Flucht. Aus einem serb. Tagebuch 1915 und 1916. Mü. 1935; Gesemann, W.: Lebensabriß G. G. In: G., G.: Germanoslavica. Geschichten aus dem Hinterhalt. Fünf balkan. und eine Prager Novelle aus dem Nachlaß. ed. id. Ffm./Bern/Cirencester 1979, 110⫺115, hier 110. ⫺ 2 G., G. (ed.): Erlangenski rukopis starih srpskohrvatskih narodnih pesama (Die Erlanger Hs. alter serbokroat. Volkslieder). Sremski Kalovici 1925. ⫺ 3 Gesemann (wie not. 1) 112⫺114. ⫺ 4 cf. Epische und lyrische Lieder des Guslaren Tansije Vuc´ic´ [20 Schallplatten der Lautabteilung der Preuß. Staatsbibl. in Berlin. LA 1005⫺1024] B. 1928; G., G.: Ein bulg. Epensänger im Tonfilm. In: Slav. Rundschau 5 (1933) 143⫺155; id.: Volksliedaufnahme in Südslavien durch die Dt. Akademie. In: Stimmen aus dem Südosten 1 (1937/ 38) 1⫺6. ⫺ 5 cf. u. a. id.: Helden, Hirten und Hajduken. Montenegrin. Volksgeschichten. Mü. 1935; id.: Zweiundsiebzig Lieder des bulg. Volkes. B. 1944. ⫺ 6 id.: Die Asanaginica im Kreise ihrer Var.n. In: Ar-
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Görög(-Karady), Veronika
chiv für slav. Philologie 38 (1923) 1⫺44; id.: Das serbokroat. Heldenlied. In: Der Schönhof 9 (1924) 7⫺ 12; id.: Studien zur südslav. Volksepik. In: id./Spina, F. (edd.): Veröff.en der Slav. Arbeitsgemeinschaft an der Dt. Univ. in Prag. Reichenberg 1926; id.: Volkslieder von der Insel Curzola. In: Archiv für slav. Philologie 42 (1929) 8⫺31; id.: Das epische Volkslied als jugoslav. Volksbibel. In: Slav. Rundschau 3 (1931) 295⫺297; id.: Der Klagegesang der edlen Frauen des Asan-Aga. ibid. 4 (1932) 97⫺114; id.: 1933 (wie not. 4); id.: Auf einen toten Sänger. Gedächtnisrede auf Filip Visˇnjic´ an die Prager dt. Slavisten. ibid. 6 (1934) 149⫺173. ⫺ 7 id.: Soziol. und psychol. Zusammenhänge in der Sagenforschung. In: Zs. für Völkerpsychologie und Soziologie 4 (1928) 19⫺43, hier 20 sq.; cf. auch Gesemann, W.: Einl. zu Leben und Werk G. G.s. In: id./Schaller, H. (edd.): G. G. Gesammelte Abhdlgen. Neuried 1981, 6 sq. ⫺ 8 G., G.: Volkscharaktertypologie der Serbokroaten. In: Jb. der Charakterologie 5 (1928) 172⫺233; id.: Der montenegrin. Mensch. Zur Lit.geschichte und Charakterologie der balkan. Patriarchalität. Prag 1934. ⫺ 9 cf. Konstantinovic´, Z.: Zur Diachronie und Synchronie der Germano-Jugoslavica. In: Anzeiger für slav. Philologie 9 (1977) 171⫺185. ⫺ 10 cf. Murko, M.: Das Original von Goethes „Klagegesang von der edlen Frauen des Asan Aga“ (Asanaginica) in der Lit. und im Volksmunde durch 150 Jahre. Brünn/Prag/Lpz./Wien 1937, 3, 36 sq. ⫺ 11 cf. Foley, J. M.: The Theory of Oral Composition. Bloom./Indianapolis 1988, 14 sq.
Göttingen
Ulrike-Christine Sander
Görög(-Karady), Veronika, *Budapest 15. 2. 1935, ung.-frz. Ethnologin und Erzählforscherin. 1956 nahm sie an der Eötvös Lo´ra´ndUniv. in Budapest ein Studium der frz. und ung. Lit. auf, floh nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands im Dez. 1956 nach Österreich und hielt sich bis Aug. 1958 in Wien auf. 1958⫺2002 lebte sie in Paris. Sie studierte 1959⫺63 Lit.wissenschaft an der Sorbonne (Lizentiat 1963); 1967⫺74 nahm sie an der E´cole Pratique des Hautes E´tudes am Forschungsseminar der Afrikanistin D. Paulme teil und wurde 1974 mit der Diss. Noirs et Blancs. Leur image dans la litte´rature orale africaine (P. 1976) promoviert; ferner studierte sie 1972⫺75 am Inst. National des Langues et Civilisations Orientales die vor allem in Mali und Ost-Senegal gesprochene Bambara-Sprache. Sie war 1968⫺2001 am Centre National de la Recherche Scientifique tätig und lehrte 1978⫺2001 Erzählforschung am Inst. National des Langues et Civilisations Orientales.
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1976 war sie an der Gründung der Cahiers de litte´rature orale beteiligt, als deren Mitherausgeberin sie bis 2002 fungierte. 2002 kehrte sie nach Budapest zurück. G.-K.s spezielle Forschungsgebiete sind die Erzählüberlieferung Schwarzafrikas sowie der Roma und die über diese Volksgruppe erzählten Geschichten (J Sinti, Roma; J Zigeuner). Sowohl in Mali als auch bei ung. Roma hat sie ausgedehnte Feldforschungen durchgeführt, hinzu kamen kürzere Aufenthalte in Kamerun und Senegal. Die gesellschaftliche Problematik und der soziokulturelle Kontext als Schlüssel zum Verständnis mündl. Überlieferungen nehmen in ihren Arbeiten eine zentrale Rolle ein. So ergab die von G.-K. in ihrer Diss. unternommene Analyse indigener Texte aus verschiedenen afrik. Regionen, daß sich die Afrikaner den Weißen gegenüber nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch gesellschaftlich und kulturell als unterlegen empfinden1; zu einem gegenteiligen Ergebnis kam sie später für Vili-Texte aus der Republik Kongo2. Immer wieder hat G.-K. sich mit solchen Fragen der sozialen Ungleichheit3 und mit ethnischen J Stereotypen beschäftigt, wie sie in Ursprungserzählungen, etwa AaTh/ATU 758: Die ungleichen Kinder J Evas 4 , zum Ausdruck kommen. Ihre Aufsätze und von ihr herausgegebene Themenbände zur schwarzafrik. Erzählüberlieferung setzen sich vielfach mit der narrativen Repräsentation traditioneller Familienstrukturen5 und Erzählungen über rebellische Kinder6 auseinander; auch von ihr edierte Anthologien sind vor allem solchen Themen gewidmet7. Zur Erschließung der afrikanistischen Erzählforschung trug sie durch umfangreiche bibliogr. Studien bei8. In Arbeiten zur europ. Überlieferung untersuchte G.-K. zum einen anhand von Ätiologien und Sprichwörtern, wie die seit jeher marginalisierten und diffamierten Volksgruppen der Roma9 und Juden10 negativ stereotypisiert werden. Zum anderen hat sie der Erzählkunst ung. Roma, vor allem den Märchen des Ja´nos Berki (geb. 1942), mehrere Textausgaben gewidmet11. Auf der Grundlage ihrer Arbeit zur afrik. und zur ung. Erzählforschung legte G.-K. auch Beitr.e zu Einzelmotiven (z. B. zu Prophezeiung und Traum12, zur Welt belebter und unbelebter Dinge13) vor und steuerte grund-
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Gregory, Lady Isabella Augusta
sätzliche Überlegungen zum internat. Fachdiskurs bei14. Viele ihrer Aufsätze sind sowohl auf Französisch als auch in engl. und ung. Sprache erschienen. 1
cf. auch G.-K., V.: L’Origine de l’ine´galite´ des races. E´tude de trente-sept contes africains. In: Cahiers d’e´tudes africaines 30 (1968) 290⫺309; ead.: Ste´re´otypes ethniques et domination coloniale. L’image du Blanc dans la litte´rature orale africaine. ibid. 60 (1975) 635⫺647. ⫺ 2 ead.: Vili Genesis Stories. In: Research in African Literatures 15,2 (1984) 238⫺ 261. ⫺ 3 ead.: Pre´fe´rence parentale et ine´galite´ raciale. E´tude d’un the`me ide´ologique dans la litte´rature orale africaine. In: Acta Ethnographica 26 (1970) 37⫺58. ⫺ 4 ead.: Retelling Genesis. The Children of Eve and the Origin of Inequality. In: ead. (ed.): Genres, Forms, Meanings. Essays in African Oral Literature. P./Ox. 1982, 31⫺44. ⫺ 5 ead.: La Loi du pe`re. Autorite´ paternelle et mariage. In: ead. (ed.): Le Mariage dans les contes africains. P. 1994, 41⫺60; ead.: L’Univers familial dans les contes ` africains. P. 1997; ead.: Conte et identite´ sociale. A propos de trois re´cits bambara. In: Cahiers de litte´rature orale 14 (1983) 151⫺172; ead.: Conte et ma` propos de quelques re´cits bambara-malinke´. riage. A In: Research in African Literatures 16,3 (1985) 349⫺ 369; ead.: Figure paternelle et identite´ enfantine dans les contes bambara-malinke´. In: ead./Baumgardt, U. (edd.): L’Enfant dans les contes africains. P. 1988, 47⫺80; ead.: Liens de sang, liens d’alliance. La relation fre`re-sœur dans quelques contes bambara-malinke´. In: Graines de parole. Festschr. G. CalameGriaule. P. 1989, 203⫺224; ead.: Conte et vision du monde. E´tude des se´quences de de´nouement. In: Sprachen und Sprachzeugnisse in Afrika. Festschr. W. J. G. Möhlig. Köln 1994, 153⫺164. ⫺ 6 ead.: Les Enfants terribles mande´. In: ead./Platiel, S./ReyHulman, D./Seydou, C. (edd.): Histoires d’Enfants terribles (Afrique Noire). P. 1980, 11⫺72; ead.: Tales and Ideology: the Revolt of Sons in Bambara-Malinke Tales. In: Furniss, G./Gunner, L. (edd.): Power, Marginality and African Oral Literature. Cambr. 1995, 83⫺91; ead.: La Fille difficile bambaramalinke´ (Mali et Se´ne´gal oriental). In: ead./Seydou, C. (edd.): La Fille difficile. Un conte-type africain. P. 2001, 81⫺108. ⫺ 7 G.-K., V./Diarra, A.: Contes bambara du Mali/Malis bamanan nsürinu 1⫺2. P. 1979; G.-K., V./Meyer, G.: L’Enfant ruse´ et autres contes bambara. Mali, Se´ne´gal oriental. P. 1984; iid.: Contes bambara. Mali et Se´ne´gal oriental. P. 1985; iid.: Images fe´minines dans les contes africains (aire culturelle manding). P. 1988. ⫺ 8 G., V. (unter Mitarbeit von M. Chiche): Litte´rature orale d’Afrique noire. Bibliogr. analytique. P. 1981; G.-K., V. (unter Mitarbeit von C. Bouillet/T. Tamarı): Bibliogr. annote´e. Litte´rature orale d’Afrique noire. P. 1992. ⫺ 9 G.-K., V.: Le Folklore du me´pris. Le Tsigane dans la pense´e populaire europe´enne. In: Cahiers de litte´rature orale 30 (1991) 115⫺155; ead.: The Image of
1686
Gypsies in Hungarian Oral Literature. In: N. Y. Folklore 11 (1985) 149⫺159; ead.: Proble`mes d’identite´ et re´cits de cre´ation hongrois sur l’origine des Tziganes. In: Kalevala et traditions orales du monde. ed. M.-M. J. Fernandez-Vest. P. 1987, 399⫺409. ⫺ 10 ead.: Ste´re´otypes ethniques et litte´rature orale. L’image du Juif a` travers deux contes merveilleux hongrois. In: Cahiers de litte´rature orale 44 (1998) 173⫺190. ⫺ 11 ´ . KoG., V. (in Zusammenarbeit mit G. Grabo´cz/A va´cs/J. Vekerdy): Berki Ja´nos mese´l ciga´ny e´s magyar nyelven/Tales of Ja´nos Berki Told in Gypsy and Hungarian. Bud. 1985; G., V.: Miklo´s fils-de-jument. Contes d’un Tzigane hongrois. Ja´nos Berki raconte … Bud./P. 1991; ead.: Szalonnafa. Varsa´nyi ciga´ny ne´pme´sek (Der Speckbaum. Zigeunermärchen aus Varsa´nyi). Bud. 1992; Szuhay, P./Benedek, K./G.-K., V.: A ha´rom muzsikus ciga´ny. Babos Istva´n mese´i (Die drei Zigeunermusikanten. Die Märchen des Istva´n Babos). Bud. 2003; G.-K., V.: Hungarian Gypsy Storytelling. Tales of Lajos Erdo˝s. Herne 2008; G., V.: A ha´rom u´t. Varsa´nyi ciga´ny mese´k Berki Ja´nosto´l (Die drei Wege. Zigeunermärchen aus Varsa´nyi von Ja´nos Berki). Bud. 2012; cf. auch G., V.: The Gypsy Folklore. In: Ciga´ny ne´prajzi tanulma´nyok/ Studies in Roma (Gypsy) Ethnography 2. ed. Z. Bo´di. Bud. 1994, 135⫺147; G.-K., V.: Le Statut du folklore et de la culture populaire tsiganes en Hongrie. In: E´tudes tsiganes (1994) H. 2, 63⫺82. ⫺ 12 ead.: Pre´destination et reˆve dans les contes. Exemples hongrois. In: Cahiers de litte´rature orale 39/40 (1996) 139⫺155. ⫺ 13 ead.: L’Arbre justicier. In: Calame-Griaule, G. (ed.): Le The`me de l’arbre dans les contes africains 2. P. 1970, 23⫺62; ead.: L’Arbre comme instrument de justice dans les contes africains. In: Ethnographica et Folkloristica Carpathica 12/13 (2002) 281⫺291; Calame-Griaule, G./G.K., V.: La Calebasse et le fouet. Le the`me des ,objets magiques‘ en Afrique occidentale. In: Cahiers d’e´tudes africaines 45 (1972) 12⫺75. ⫺ 14 G., V.: Conte, ethnologie, ethnohistoire. In: Cahiers de litte´rature orale 9 (1981) 13⫺43; Calame-Griaule, G./G.-K., V. (edd.): Le Conte. Pourquoi? Comment? Folktales. Why and how? P. 1984; ead. (ed., unter Mitarbeit von M. Chiche): D’un Conte … a` l’autre. La variabilite´ dans la litte´rature orale. P. 1990; ead./Seydou, C.: Conte, mon beau conte, de tous tes sens dis-nous quel est le vrai. In: Litte´rature 45 (1982) 24⫺34; G.K., V.: Parole sociale et parole de l’imaginaire. In: Martin, J.-B.: Le Conte. Tradition orale et identite´ culturelle. Lyon 1988, 119⫺146.
Göttingen
Christine Shojaei Kawan
Gregory, Lady Isabella Augusta (geb. Persse), *Roxborough House bei Loughrea, County Galway, 15. 3. 1852, † Coole Park, Kiltartan, County Galway, 22. 5. 1932, ir.
1687
Gregory, Lady Isabella Augusta
Schriftstellerin und Folkloristin. Sie stammte aus einer wohlhabenden anglo-ir. Familie, erhielt aber nur sporadisch Hausunterricht. Nach ihrer Heirat (1880) mit Sir W. H. Gregory (1816⫺92) machte Lady G. durch ihren Mann in London, wo sie einen Teil des Jahres verbrachte, die Bekanntschaft einiger der bekanntesten Schriftsteller und Künstler ihrer Zeit. Zusammen mit William Butler J Yeats und Edward Martin (1859⫺1923) gründete sie in Dublin das Irish Literary Theatre Soc. (1899), der 1902 die Irish National Theatre Soc. und 1904 die Abbey Theatre Soc. folgten. Nach dem Tod ihres Ehemanns machte sie den Landsitz Coole Park zu einem Mittelpunkt der ir. literar. Renaissance. Auf Feldforschungen, vor allem in den Counties Galway und Clare, manchmal begleitet von Yeats, sammelte Lady G. Volksüberlieferungen, die sie in mehreren Bänden publizierte. Auch ihre dramatischen Werke und anderen Schriften sind hiervon beeinflußt1; in der Komödie The Workhouse Ward (1908) spielt sie z. B. auf den verbreiteten Volksglauben an die Banshee als übernatürlicher Todesbotin an2. G. legte mehrere Publ.en zu ir. Volkserzählungen vor, von denen die folgenden für die volkskundliche Erzählforschung von bes. Interesse sind. Poets and Dreamers. Studies and Translations from the Irish (Dublin/L. 1903; Gerrards Cross 51974) bietet Lieder und Erzählungen des Volksdichters Anthony Raftery (Antoine ´ Raifteirı´, 1779⫺1835) aus dem County O Mayo3 sowie mündl. Dichtungen aus Westirland, auf Volksüberlieferung basierende Theaterstücke von Douglas J Hyde, ferner Sagen und Märchen sowie Überlieferungen, die im Zusammenhang mit Pflanzen stehen. The Kiltartan History Book (Dublin 1909, erw. Neuausgabe 1926; Gerrards Cross 1971)4 enthält die mündl. überlieferte Geschichte Irlands, hauptsächlich für Kiltartan und andere Teile des County Galway. Über Aspekte der mythischen Geschichte Irlands hinaus bezieht sich das Buch auf wichtige Ereignisse und Persönlichkeiten der ir. politischen Geschichte von der Invasion der Wikinger (795) bis zum anglo-ir. Krieg (1919⫺21) sowie auf hist. Ereignisse in Europa und die brit. Kolonialkriege.
1688
The Kiltartan Wonder Book (Dublin 1910; Gerrards Cross 1971) ist ein konventionelleres Buch mit Märchen und Sagen; Lady G. gab zu, daß sie nie allzugroßes Interesse an den darin enthaltenen ,langen weitschweifigen Geschichten‘ gehabt hatte und daß sie einen Übersetzer brauchte, wenn man ihr eine Geschichte in ir. Sprache erzählte5. A Book of Saints and Wonders (Dublin 1906; L. 21907; Gerrards Cross 31971) beruht hauptsächlich auf Übers.en aus gedr. Quellen sowie auf mündl. Überlieferung. Das Buch enthält u. a. Geschichten zu den Heiligen Brighid, Colmcille und J Patrick, zu den Reisen von Maeldune und Brendan (J Brandans Seefahrt). Lady G.s substantiellste und einflußreichste Slg von Volksüberlieferungen ist Visions and Beliefs in the West of Ireland 1⫺2 (L./N. Y. 1920; Gerrards Cross 21970)6. Sie enthält hauptsächlich Glaubensvorstellungen und Erlebnisberichte aus dem Grenzbereich zwischen natürlicher und übernatürlicher Welt. E rz äh lt yp en (Ausw.): Poets and Dreamers (51974) 59 sq.: ⫽ AaTh/ATU 300: cf. J Drache, Drachenkampf, Drachentöter. ⫺ 99⫺101 ⫽ AaTh/ ATU 470: J Freunde in Leben und Tod. ⫺ 101⫺103 ⫽ cf. AaTh/ATU 425 sqq.: J Amor und Psyche. ⫺ 103⫺105 ⫽ AaTh/ATU 511: J Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein. ⫺ 110⫺112 ⫽ AaTh/ATU 1641: J Doktor Allwissend. ⫺ 112⫺115 ⫽ AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht. ⫺ 122⫺126 ⫽ AaTh/ATU 301: Die drei geraubten J Prinzessinnen. ⫺ 128 sq. ⫽ AaTh/ATU 922: J Kaiser und Abt. ⫺ 129 sq. ⫽ AaTh/ATU 901: J Zähmung der Widerspenstigen. ⫺ 131 sq. ⫽ cf. AaTh/ATU 955: J Räuberbräutigam. The Kiltartan History Book (1971): 77⫺79 ⫽ cf. AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter ⫹ AaTh/ ATU 1539: J List und Leichtgläubigkeit. The Kiltartan Wonder Book (1971): 153⫺155 ⫽ AaTh/ATU 329: J Versteckwette ⫹ AaTh/ATU 531: J Ferdinand der treue und F. der ungetreue. ⫺ 156⫺ 161 ⫽ AaTh/ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau. ⫺ 162⫺165 ⫽ AaTh/ATU 302: J Herz des Unholds im Ei ⫹ AaTh/ATU 303: Die zwei J Brüder. ⫺ 166⫺173 ⫽ AaTh/ATU 303. ⫺ 174 sq. ⫽ AaTh/ATU 670: cf. J Tiersprachenkundiger Mensch. ⫺ 176⫺179 ⫽ AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella. ⫺ 180⫺183 ⫽ AaTh/ATU 551: J Wasser des Lebens. ⫺ 184 sq. ⫽ cf. AaTh/ATU 875 ⫹ AaTh/ ATU 922 ⫹ cf. AaTh/ATU 1539. ⫺ 189 sq. ⫽ AaTh/ ATU 955. ⫺ 192 ⫽ AaTh/ATU 1386: cf. J Kluge Else ⫹ AaTh/ATU 1541: Für den langen J Winter ⫹ AaTh/ATU 1653: J Räuber unter dem Baum. ⫺ 193 sq. ⫽ AaTh 726*/ATU 726: Die drei J Alten. ⫺ 197 ⫽ AaTh/ATU 1416: Die neue J Eva.
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Grimm, Ludwig Emil
A Book of Saints and Wonders (31971): 17 sq. ⫽ cf. AaTh 2040/ATU 927 C*: cf. J Gründungssage. Visions and Beliefs in the West of Ireland 2 (21970): ´ Su´illeabha´in/Christiansen 2412 C: The 290 sq. ⫽ O Cat Asks for Boots. ⫺ 291 ⫽ AaTh/ATU 113 A: J Pan ist tot.
Durch ihre gewissenhafte Feldforschung, ihre Publ.en und dramatischen Werke trug Lady G. entscheidend zur dauerhaften Anerkennung des Stellenwerts der ir. Volksüberlieferung bei. 1
cf. Mikhail, E. H.: Lady G.: An Annotated Bibliogr. of Criticism. Troy, N. Y. 1982; Pethica, J. L.: G. [ne´e Persse] (I.) A., Lady (1852⫺1932). In: Oxford Dict. of National Biogr. 23. Ox. 2004, 656⫺660; Maume, P.: G., (I.) A. (1852⫺1932). In: Dict. of Irish Biogr. 4. Dublin/Cambr. 2009, 252⫺256. ⫺ 2 Lady G.: Selected Writings. ed. L. MacDiarmid/M. Waters. L. 1995, xix⫺xxxiv, cf. auch 301⫺421, 534⫺546; Lysaght, P.: The Banshee. Dublin/Lanham, Md 2 1996. ⫺ 3 cf. Hyde, D. (ed.): Abhra´in ata´ Leagtha ar an Reachtu´ire, or Songs Ascribed to Raftery. Dublin 1903. ⫺ 4 Lady G.: The Kiltartan Books Comprising the Kiltartan Poetry, History and Wonder Books. Gerrards Cross 1971. ⫺ 5 Lady G.: Poets and Dreamers. Gerrards Cross 51974, 98 sq. ⫺ 6 cf. Lysaght, P.: Perspectives on Narrative Communication and Gender. Lady A. G.’s „Visions and Beliefs in the West of Ireland“ (1920). In: Fabula 39 (1998) 256⫺276.
Dublin
Patricia Lysaght
Grimm, Ludwig Emil, *Hanau 14. 3. 1790, † Kassel 4. 4. 1863, dt. Maler und Illustrator, jüngerer Bruder von Jacob und Wilhelm J Grimm. G. studierte 1805⫺09 an der Kasseler Kunsthochschule, gefördert von Achim von J Arnim, Clemens J Brentano und seinen Brüdern Jacob und Wilhelm. 1809⫺17 setzte er sein Studium an der Münchner Kunstakademie fort. 1816 hielt er sich für zwei Monate in Italien auf, 1817 kehrte er nach Kassel zurück, wo er als freischaffender Künstler wirkte, ehe er 1832 Professor an der dortigen Akad. der Bildenden Künste wurde. G.s erste Illustrationen, und zwar zum 3. Band und zum Kinderlieder-Anh. der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn1 sowie drei Porträts zu Arnims Ztg für Einsiedler2, entstanden 1808 im Umgang mit den romantischen Dichtern. 1811 il-
1690
lustrierte er ⫺ im Stile Albrecht Dürers ⫺ das Titelblatt von Wilhelm Grimms Erstveröffentlichung Altdän. Heldenlieder (Heidelberg 1811). Grimms Dt. Sagen sind ihm zu seinem Geburtstag am 14. 3. 1816 gewidmet: „Unserm Bruder Ludwig Emil Grimm aus herzlicher Liebe zugeeignet“3; die 4. Aufl. der J Kinderund Hausmärchen entstand 1840 nach der Göttinger Amtsenthebung von Jacob und Wilhelm in G.s Kasseler Wohnung. Berühmt wurde und blieb sein Porträt der wichtigsten KHMBeiträgerin Dorothea Viehmann (1755⫺1815), das (mit Ausnahme der unbebilderten Teilauflage von 1843) seit 1819 jeweils im Frontispiz des 2. KHM-Bandes erschien und die Vorstellung vom ,Märchenmütterchen‘ nachhaltig prägte4. Aufschlußreiche Vorstudien wurden jüngst entdeckt5. Zum 1. KHM-Band schuf er das Titelblatt nach Motiven von KHM 11, AaTh/ATU 450: J Brüderchen und Schwesterchen in romantisch-religiösem Stil. In G.s autobiogr. Schr. finden sich frühe und wichtige Bemerkungen nicht nur zur Familie Grimm, sondern auch zu den KHM-Beiträgern, von denen er einige porträtierte6. Darüber hinaus fertigte er zahlreiche Bilder aus allen Lebensabschnitten seiner Brüder Jacob und Wilhelm an (darunter das bekannte Doppelporträt von 1843, das in unzähligen KHM-Nachdr.en wiedergegeben ist), ein wenig idealisierende Selbstporträts (1808, 1811, 1813) sowie Porträts Bettina von J Arnims (1809, 1838), aber auch J Heines (1827) und Brentanos (1837; mit Motiven aus dessen Märchen Gockel, Hinkel und Gackeleia [1838] im Hintergrund)7. Im steten Kontakt zu seinem Bruder Wilhelm8 entstanden seit 1824 sieben Kupfer zur Kleinen Ausg. der KHM von 18259, die die ersten, stilbildenden und bes. hinsichtlich der Szenenauswahl rezeptionssteuernden, obwohl recht anspruchslosen Illustrationen der KHM in Deutschland sind, und zwar zu KHM 3, AaTh/ATU 710: J Marienkind; KHM 15, AaTh/ATU 327 A: J Hänsel und Gretel; KHM 21, AaTh/ATU 510 A: cf. J Cinderella; KHM 26, AaTh/ATU 333: J Rotkäppchen; KHM 50, AaTh/ATU 410: J Schlafende Schönheit, KHM 53, AaTh/ATU 709: J Schneewittchen und KHM 89, AaTh/ATU 533: Der sprechende J Pferdekopf. Sie behielten ihren Platz bis zur 9. Aufl. von 185310, wurden
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Haushälterin: Die geheimnisvolle H.
allerdings in der Ausg. letzter Hand (101858) durch sieben Bilder Ludwig Pietschs ersetzt, der anstelle von Dornröschen (KHM 50, AaTh/ATU 410) das erst 1833 eingeführte Märchen Schneeweißchen und Rosenrot (KHM 161, AaTh/ATU 426: J Mädchen und Bär) illustrierte. Mit seiner weitverbreiteten Zeichnung Frau Ewig, Kinderfrau im Hause Grimm, erzählt Märchen. Weihnachten 182911 ist G. einer der Erfinder der landläufigen Vorstellung vom J Weihnachtsmärchen: In biedermeierlicher Stube sitzt die alte Frau am offenen Kamin im Ohrensessel und liest den gerade bescherten Kindern unterm Weihnachtsbaum (Grimms) Märchen vor. 1
cf. Rölleke, H.: Die Titelkupfer zu Des Knaben Wunderhorn. In: Jb. des Freien Dt. Hochstifts (1971) 123⫺131; Brentano, C. von: Sämtliche Werke und Briefe 9,3. ed. H. Rölleke. Stg. u. a. 1978, 3. ⫺ 2 cf. Arnim, A. von/Brentano, C. von: Ztg für Einsiedler. Heidelberg 1808 (Faust [9.4.], Hl. Elisabeth [31.5.], Bärenhäuter [25.6.]). ⫺ 3 Grimm, J. und W.: Dt. Sagen. ed. H. Rölleke. Ffm. 1994, 10, 728. ⫺ 4 cf. z. B. Taylor, E.: Gammer Grethel or German Fairy Tales and Popular Stories. L. 1839. ⫺ 5 cf. Leuschner, V.: „Und aus großen Augen blickt sie hell und scharf“. In: Dorothea Viehmann. ed. H. Ehrhardt. Kassel 2012, 76⫺107; Ehrhardt, H.: Ein neu entdecktes Bildnis Dorothea Viehmanns. ibid., 142⫺ 147. ⫺ 6 G., L. E.: Erinnerungen aus meinem Leben. ed. W. Praesent. Kassel/Basel 1950; cf. Koszinowski, I./Leuschner, V. (edd.): L. E. G. 1790⫺1863. Maler, Zeichner, Radierer. Austellungskatalog Kassel 1985; bes. Koolman, E.: L. E. G. Aspekte seiner Biogr. nach den Briefen und Lebenserinnerungen. ibid., 15⫺43 (mit Abb.en); cf. auch Rölleke, H./Schindehütte, A.: Es war einmal … Ffm. 2011, 17⫺91. ⫺ 7 cf. allg. Koszinowski, I./Leuschner, V.: L. E. G. Zeichnungen und Gemälde. Werkverzeichnis 1⫺ 2. Marburg 1990; Freund, G.: L. E. G. Maler und Radierer des 19. Jh.s. Steinau 1990. ⫺ 8 cf. Seitz, G.: Die Brüder Grimm. Mü. 1984, 74 sq. ⫺ 9 cf. Dielmann, K.: Märchenillustrationen von L. E. G. In: Hanauer Geschichtsbll. 18 (1962) 281⫺306; Rölleke, H.: Eine Federskizze L. E. G.s als Nebenquelle zu W. Grimms Märchendichtung „Schneeweißchen und Rosenroth“ (KHM 161). In: Wirkendes Wort 64 (2014) 1⫺5. ⫺ 10 cf. Brüder Grimm: Märchen. Kleine Ausg. ed. H. Rölleke. Ffm./Lpz. 1985 u. ö. ⫺ 11 Seitz (wie not. 8) 53.
Neuss
Heinz Rölleke
1692
Haushälterin: Die geheimnisvolle H. (Mot. N 831.1), weltweit verbreitetes Motiv, das u. a. in J Tierbrauterzählungen eine Rolle spielt. Bes. viele Beispiele sind aus den östl. Teilen Asiens bekannt. Eine typische Ausprägung bietet das chin. Märchen vom Schneckenmädchen, dessen ältester Nachweis aus dem 5. Kap. der dem Dichter Tao Qian (365⫺427) zugeschriebenen Slg Soushen houji (Spätere Aufzeichnungen von der Suche nach Geistern/Übernatürlichem) stammt1: Ein früh verwaister, noch unverheirateter junger Mann findet eine riesige Schneckenmuschel, legt sie zu Hause in einen Krug und füttert sie. Von nun an findet er jeden Abend bei der Heimkehr vom Feld Speise und Trank zubereitet vor. Er legt sich auf die Lauer und sieht, wie eine junge Frau dem Krug entsteigt, um Feuer zu entfachen. Nach ihrer Herkunft befragt, bezeichnet sie sich als Göttin vom Himmelsfluß (d. h. der Milchstraße); im Auftrag des Himmelsgotts solle sie als Lohn für seine Tugend zehn Jahre für ihn sorgen (eine Ehe eingeschlossen). Da er aber nun ihre wahre Gestalt erblickt habe, müsse sie ihn sogleich verlassen. Dennoch könne es ihm fernerhin gut gehen, wenn er das von ihr zurückgelassene Schneckenhaus immer mit Reis und Getreide fülle. In einem Gewittersturm verläßt sie ihn. Der Mann bringt es zu bescheidenem Glück und wird Kreisbeamter2.
Spätere Ausprägungen des Märchens verlaufen meist nach dem Muster der Erzählungen von der gestörten J Mahrtenehe3; eine Parallele bieten Erzählungen aus dem chin. Raum, in denen die g. H. einem Bild entsteigt4. Mit dem chin. Schneckenmädchen-Typus verwandt sind ferner die teils positiv, teils negativ endenden korean. Märchen von der eingangs als g. H. agierenden Schnecken-, Karpfen- oder Schildkrötenfrau5, in denen Mot. N 831.1 als Einl. zu AaTh/ATU 465: J Mann wird wegen seiner schönen Frau verfolgt dient; ähnliche Var.n von AaTh/ATU 465 kommen im Vorderen Orient und in Griechenland vor6. Etwas außerhalb dieser Traditionslinie steht eine weitere frühe Fassung des Motivs, die in den buddhist. J Ja¯takas erscheint: Eine junge Na¯ga-Frau (Schlangendämonin) sucht einen neuen Ehemann zu gewinnen, indem sie ihm als g. H. ein wohlparfümiertes Blumenbett bereitet7 ⫺ ein Motiv, das später wieder in J Straparolas (1,4) novellistischer Fassung des
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Haushälterin: Die geheimnisvolle H.
Allerleirauh-Märchens (AaTh/ATU 510 B: cf. J Cinderella)8 ⫺ erscheint. Während in Erzählungen aus dem ostasiat. Raum die g. H. in ihrer primären Gestalt vorwiegend ein Schalentier, Fisch oder Frosch (als Kreatur des Yin) ist9, scheinen bei indigenen südamerik. Völkern Vögel (Tauben, Störche, Papageien) typisch zu sein10, bei asiat. Jägerkulturen vor allem jagdbare Wildtiere; bei den Mandschu spielt der Zobel eine Rolle11. Das Motiv der g.n H. kann auch das weitverbreitete J Schwanjungfrau-Märchen einleiten und ist in dieser Form über Asien hinaus bis hin nach Nordosteuropa (Litauen) belegt12. Erzählungen, in denen die künftige Ehefrau ein Baumgeist ist oder aus einer Pflanze oder Frucht kommt und für ihren zukünftigen Ehemann kocht, finden sich von den Philippinen bis nach Melanesien13, in Indonesien14 ebenso wie im chin. Raum15. Wie in den Schwanjungfrau-Erzählungen werden g. H.nen manchmal zu Urmüttern eines Geschlechts oder eines Helden im Epos16; einem Ursprungsmythos aus dem melanes. Neubritannien zufolge stammt sogar die gesamte Menschheit von einer g.n H. ab, die einem Zuckerrohr entsprossen ist und einen Fischer heiratet17. Während sich die g. H. der asiat. Märchen um einen einsamen armen (verwaisten oder vaterlosen) jungen Mann kümmert, thematisiert eine Erzählung der nordamerik. Plains Cree die Rivalität von Brüdern um die g. H. und ein lebhaftes Liebesinteresse18; in einer Inuit-Erzählung dagegen stört sich der Jäger am schlechten Geruch seiner Fuchsfrau19. Die weite Verbreitung von Mot. N 831.1 spricht für ein hohes Alter. Für Erzählungen der archaischen Jägerkulturen Asiens sowie Nord- und Südamerikas20 ist ein totemistischer Hintergrund in Zusammenhang mit der Entwicklung der Ehe zu vermuten (J Totemismus): Die verwandtschaftliche Verbindung eines Klans mit einem Naturwesen kann hier begründet werden; das geheime Wirken der Tierfrau im Haus des Mannes ist als Heiratsantrag zu verstehen. Ferner kann auch die Tochter eines J Herrn der Tiere zunächst als g. H. auftreten, womit eine das Jagdglück begründende Liebesbeziehung zu einem Jäger oder Fischer ihren Anfang nimmt (J Wildgeister). Die g. H. muß wie die Frau, die nach exogamen
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Heiratsregeln aus einem weiter entfernten Klan (d. h. einer ,anderen Welt‘) stammt, zunächst unsichtbar bleiben; der Wechsel zwischen tierischer bzw. pflanzlicher und menschlicher Gestalt vollzieht sich durch Ablegen der J Tierhaut oder Pflanzenschale so, als ob darunter bereits ein menschliches Wesen vorhanden wäre (cf. Mot. D 721: Disenchantment by removing skin [or covering] sowie das Mythologem von der Zeit, als die Tiere noch Menschen waren21). Die dauernde Verwandlung kann jedoch scheitern, wobei der Grund nicht immer klar ist. Schließlich kann dem Motiv von der g.n H. auch eine J Wiedergeburt vorausgehen. Wohl in Zusammenhang mit den ost- und nordasiat. Motivausprägungen zu sehen ist der (östl.) Subtyp A von AaTh/ATU 408: Die drei J Orangen, in dem die Episode der g.n H. häufig das glückliche Ende einleitet: Von dem durch verschiedene Metamorphosen (vor allem Fisch, Vogel, Baum) hindurch unerbittlich verfolgten Orangenmädchen ist zuletzt nur noch ein Stück Holz oder ein Span übrig; das Mädchen entsteigt ihm im Haus alter Leute, um die Hausarbeit zu erledigen, wird entdeckt und adoptiert. Dieser Textgruppe motivlich z. T. sehr nahe stehen ind., pers. und georg. Var.n von AaTh/ATU 780: J Singender Knochen, deren ermordete Heldin aus dem aus der Grabpflanze gefertigten Musikinstrument hervorkommt und das Haus putzt22. Hier und da begegnet das Motiv der g.n H. ferner in weiteren Tier- und Pflanzenbrautmärchen, so in einer armen. Var. von AaTh/ ATU 402: J Maus als Braut23 und einer in Borneo aufgezeichneten Fassung von AaTh/ ATU 400: J Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau24; in KHM 56, AaTh/ATU 313: cf. J Magische Flucht führt das J Blumenmädchen (cf. AaTh/ATU 407) einem Schäfer den Haushalt, bevor es mit seinem Liebsten wiedervereint wird. Afrik. Var.n des Motivs der g.n H., die überwiegend aus dem Süden des Kontinents überliefert zu sein scheinen, stehen u. a. in Zusammenhang mit dem Schema der gestörten Mahrtenehe25 und der wahren und der falschen Braut26 sowie mit Vorstellungen von übernatürlich aus Pflanzen oder Eiern geborenen Kindern27 oder der Wiederbelebung getö-
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Haushälterin: Die geheimnisvolle H.
teter Frauen aus deren Herzen, die man in Kalebassen gelegt hat28. In der europ. Märchenüberlieferung ist das Motiv der g.n H. oft stark rationalisiert und kommt ohne Metamorphosen aus. Bekannt ist vor allem die Episode von der Ankunft J Schneewittchens im Haus der Räuber, Riesen oder Zwerge (AaTh/ATU 709, Episode 1.4): Das schöne Mädchen kocht, ißt, räumt auf und versteckt sich; die heimkehrenden Bewohner merken, daß jemand da war, und versuchen, die g. H. zu finden, was oft erst nach einiger Zeit gelingt29. Ähnlich ist in AaTh/ ATU 451: J Mädchen sucht seine Brüder manchmal die Begegnung der einander unbekannten Geschwister gestaltet30. Auch J Basile (4,6) hat das Motiv der g.n H. in eher realistischer Form aufgegriffen. In den klassischen ostasiat. Erzählungen bringt die g. H. Glück und Wohlstand ins Leben des Helden, der bis dahin oft ein Stiefkind des Lebens ist. Als Wesen von göttlicher bzw. übernatürlicher Herkunft hält sie sein Schicksal in ihren Händen; jedoch entspricht die Rolle der sorgenden Haushälterin vollständig den an eine Ehefrau gerichteten männlichen Erwartungen. Gesellschaftskritisch und in einem umfassenderen Sinn wurde das Motiv der g.n H. in Schneewittchen als sinnbildlich für die Situation der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft verstanden: Sie soll die Arbeit im Hause tun, gleichzeitig jedoch unsichtbar und unhörbar bleiben31. Ein männliches Pendant zur g.n H. bieten J Hausgeister (Kap. 3), J Kobolde oder J Zwerge (Kap. 4), die sich als die sprichwörtlichen Heinzelmännchen nächtlich in den Stuben tummeln und unsichtbar Hausarbeiten oder Handwerkerdienste erledigen, als übernatürliche Wesen jedoch potentiell gefährlich sind und nicht gesehen oder gestört werden dürfen32. 1
Die Erzählung findet sich nicht im „Sou shen ji“ des Gan Bao, das in der chin. wie westl. Lit. öfter als Erstbeleg genannt wird. ⫺ 2 Tao, Qian: Soushen houji. ed. Wang, Shaoying. Peking 1981, 30 sq.; z. T. abweichend bei Bauer, W./Franke, H. (Übers.): Die goldene Truhe. Chin. Novellen aus zwei Jahrtausenden. Mü. 1959, 61⫺63. ⫺ 3 Eberhard, Typen, num. 35; Ting 400 C; positives Ende dagegen in Giskin,
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H.: Chinese Folktales. Lincolnwood, Ill. 1997, 63 sq.; The Golden Conch. Shanghai Animation Film Studio 1963. ⫺ 4 Eberhard, Typen, num. 36; Meng, Zhidong: Zhongguo Dawo’erzu minjian gushi xuanji (Ausw.slg von Volkserzählungen der Daghuren Chinas). Hailar 2007, 371. ⫺ 5 Choi, num. 206; Zo˘ng In-So˘b: Folk Tales from Korea. L. 1952, num. 13; Kobayashi, F.: Is the Animal Woman a Meek or an Ambitious Figure in Japanese Folktales? In: Fabula 51 (2010) 235⫺250, hier 239; unverhülltes Eheangebot der Froschfrau dagegen in jap. Märchen, cf. ibid., pass. ⫺ 6 Muhawi, I./Kanaana, S.: Speak, Bird, Speak again. Palestinian Arab Folktales. Berk./L. A./L. 1989, num. 37 (Tochter des Königs der Djinn); Ku´nos, I.: Türk. Volksmärchen aus Stambul. Leiden 1905, 82⫺87 (Fisch); Dawkins, R. M.: Modern Greek Folktales. Ox. 1953, num. 18 b (Schildkröte); id.: Forty-five Stories from the Dodekanese. Cambr. 1950, num. 5 (Schildkröte); cf. ferner Angelopoulou/Brouskou 465 A. ⫺ 7 Cowell, E. B.: The Ja¯taka or Stories of the Buddha’s Former Births 5. L. 1957, num. 543. ⫺ 8 cf. EM 14, 1495⫺ 1501, hier 1497. ⫺ 9 Graham, D. C.: Songs and Stories of the Ch’uan Miao. Wash. 1954, 226⫺228 (Fisch); Kunike, H.: Märchen aus Sibirien. MdW 1940, num. 20 (jukagir.; Fisch); Meng (wie not. 4) 248⫺252 (Frosch), 253⫺256 (Muschel). ⫺ 10 Wilbert, J./Simoneau, K.: Folk Literature of the Bororo Indians. L. A. 1983, num. 55⫺57; iid.: Folk Literature of the Geˆ Indians 1⫺2. L. A. 1978/84, hier t. 1, num. 6; t. 2, num. 149. ⫺ 11 Bäcker, J.: Märchen aus der Mandschurei. MdW 1988, num. 7. ⫺ 12 Meng (wie not. 4) 206⫺210; EM 12, 312. ⫺ 13 Dixon, R. B.: The Mythology of All Races. 9: Oceanic. Boston 1916, 221⫺224. ⫺ 14 de Vries, num. 60 (Melone), cf. num. 78 (Waldgeister), num. 182 (in Kiste verstecktes Mädchen). ⫺ 15 Bäcker (wie not. 11) num. 11; Graham (wie not. 9) 245. ⫺ 16 z. B. Wilbert/Simoneau 1983 (wie not. 10) num. 55; Bäcker, J.: Epic Traditions of China’s Orochens and Russia’s Ewenki-Orochons. In: The Hero and the Bard. Continuity and Transformation in the Oral Literature of the Mongols and Their Neighbours. ed. K. Sagaster. Opladen 2014, 8⫺35. ⫺ 17 Dixon (wie not. 13) 110. ⫺ 18 Thompson, S.: Tales of the North American Indians. Bloom./L. (1929) 1966, 135⫺145, num. 54. ⫺ 19 ibid., 161 sq., num. 61. ⫺ 20 Kunike (wie not. 9); Jochelson, W.: Religion and Myths of the Koryak. Leiden/N. Y. 1905, num. 104; Bäcker (wie not. 11) num. 7; Thompson (wie not. 18) 334 sq., num. 206, 207; ibid., 342, num. 233; Wilbert/Simoneau (wie not. 10). ⫺ 21 cf. EM 12, 311; Schmidt, S.: Als die Tiere noch Menschen waren. Köln 1995, num. 12, 39, p. 149⫺ 151. ⫺ 22 Thompson/Roberts 780, 780 A; Amanolahi, S./Thackston, W.: Tales from Luristan. Cambr., Mass. 1986, 167⫺171; Levin, I.: Märchen aus dem Kaukasus. MdW 1978, num. 14 (georg.). ⫺ 23 Cosquin, E.: Les Contes indiens et l’Occident. P. 1922, 289 sq. (Frosch). ⫺ 24 Dixon (wie not. 13) 218⫺220 (Biene). ⫺ 25 Jacottet, E.: The Treasury of Ba-suto
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Heissig, Walther
Lore 1. Morija/L. 1908, num. 16; Talbot, P. A.: In the Shadow of the Bush. N. Y./L. 1912, 134 sq. (Ekoi, Westafrika). ⫺ 26 Schmidt, Catalogue, num. 972 B; Callaway, C.: Nursery Tales, Traditions, and Histories of the Zulus 1. Natal/L. 1868, 105⫺130 (AaTh/ATU 408). ⫺ 27 Talbot (wie not. 25); ibid., 136⫺138; Schmidt, Catalogue, num. 991 A (1, 2β, 6⫺8). ⫺ 28 Schmidt, S.: Children Born from Eggs. Köln 2007, num. 26; Schmidt, Catalogue, num. 863 (6, 9); ibid., num. 901 A (1). ⫺ 29 cf. Böklen, E.: Sneewittchenstudien 1. Lpz. 1910, 89⫺93; Jones, S. S.: The New Comparative Method: Structural and Symbolic Analysis of the Allomotifs of „Snow White“ (FFC 247). Hels. 1990, 50 sq., 108⫺112; Kropej, M.: „Snow White“ in West and South Slavic Tradition. In: Fabula 49 (2008) 218⫺243, hier 221, 223 sq., 229, 234; Schmidt, S.: „Snow White“ in Africa. ibid., 268⫺287, hier 270, 274. ⫺ 30 cf. Boggs 327 *D (⫽ Subtyp 2 von AaTh/ATU 451). ⫺ 31 Gilbert, S. M./Gubar, S.: The Madwoman in the Attic. New Haven/L. 1979, 24, 40; Jones (wie not. 29) 51 sq.; cf. Witthöft, H.: Die Verbürgerlichung Sneewittchens. In: Fabula 47 (2006) 90⫺ 102. ⫺ 32 Eberhard, W.: Folktales of China. Chic./ L./Toronto 1965, num. 42; Rumpf, M.: Wie war zu Cölln es doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem. In: Fabula 17 (1976) 45⫺74; Uther, H.-J.: Hb. zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. B./Boston 22013, 95.
Göttingen Gummersbach
Christine Shojaei Kawan Jörg Bäcker
Heissig, Walther, *Wien 5. 12. 1913, † Rheinböllen (Hunsrück) 5. 9. 2005, österr. Mongolist und Erzählforscher1. H. studierte 1936⫺41 Mongolistik, Sinologie, Ethnologie sowie Urund Frühgeschichte in Berlin und Wien; er wurde 1941 in Wien mit einer Diss. über den Kulturwandel im Hsingan-Gebiet promoviert2. 1943⫺46 unterrichtete er mongol. Sprache, Lit. und Geschichte an der Fu-jen-Univ. in Peking. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs zeitweilig in amerik. Kriegsgefangenschaft, habilitierte H. sich 1951 in Göttingen für mongol. Lit. und Geschichte3. Im Anschluß war er in verschiedenen Forschungsprojekten tätig und katalogisierte u. a. die mongol. Bestände der Kgl. Bibl. in Kopenhagen. Seit 1958 war H. an der Univ. Bonn tätig, zunächst als Diätendozent, dann als wiss. Rat und seit 1964 bis zu seiner Emeritierung 1978 als ordentlicher Professor für Sprach- und Kulturwissenschaft Zentralasiens; das von ihm mitbegründete Bonner Seminar erlangte unter seiner Leitung
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internat. Bedeutung. 1957 gründete H. die Permanent Internat. Altaistic Conference (PIAC); seit 1954 betreute er als Mitherausgeber die von ihm begründete Reihe Göttinger Asiat. Forschungen (seit 1958 Asiat. Forschungen) sowie seit 1967 die Zs. Zentralasiat. Studien. H. wurden zwei Festschr.en gewidmet4. Er erhielt zahlreiche internat. Auszeichnungen, u. a. vom mongol. Staat den höchsten Orden ,Goldener Polarstern‘. Einen frühen Schwerpunkt von H.s wiss. Arbeit bildeten die Erfassung, Katalogisierung und Veröffentlichung mongol. Hss. Auf dieser Grundlage verfaßte er die zu einem Standardwerk gewordene Geschichte der mongol. Lit. 1⫺2 (Wiesbaden 1972). Die im Zuge einer jap. Expedition in die innere Mongolei aufgefundenen mongol. Mss. und Druckfragmente legte er in einer akribisch recherchierten Edition vor5. H.s volkskundliches Interesse konzentrierte sich auf religiöse Traditionen und erzählende Volksdichtung, bes. die Heldenepen der J Mongolen6. Die Anbindung eines Sonderforschungsbereichs mit Schwerpunkt Zentralasien an das Bonner Seminar ermöglichte ihm ab 1978 die Umsetzung eines großflächig angelegten Projekts zur Erforschung der mongol. Epen7. An die in mongol. Sprache veröff. Märchen und Heldenepen von B. Rincˇen8 anknüpfend erschien unter seiner Mitherausgeberschaft die Reihe Mongol. Epen 1⫺13 (Wiesbaden 1975⫺93), die insgesamt 86 Texte in mongol. Sprache nebst dt. Übers. erstmalig zugänglich machte. H. veröffentlichte umfangreiche Monogr.n zu mongol. Epen und Märchen sowie einzelnen Erzählstoffen und Motiven9, so u. a. zum mongol.-tibet. Epos J Geser Khan und der Figur des J Mangus, die er als wesentliches Charakteristikum mongol. Heldenepen herausstellte10. Überlegungen zur performativen Erzählpraxis fanden bes. in zwei von H. veranstalteten Tagungen ihren Ausdruck11. H. führte zahlreiche Feldforschungen in Zentralasien durch12, u. a. bei den bis dahin kaum erforschten Moghol in Afghanistan, deren Erzählgut er anhand von hs. Material und mit Tonbandaufnahmen dokumentierte13. Am Beispiel der volksreligiösen Praktiken der Mongolen hat H. die Bedeutung des J Schamanismus (Kap. 3) für die internat. Erzählforschung in
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Hmong
den Blick gerückt. Anhand rezenter mongol. Heldendichtung wies er u. a. nach, daß das J Wahrsagen mit Hilfe magischer Objekte eine verbreitete zeitgenössische Praxis darstellte14. H.s umfangreiches Lebenswerk reicht von der Entdeckung über die philol. Erschließung bis hin zur Interpretation mongol. Lit.formen, wobei er stets auch die benachbarten zentralasiat. Erzähltraditionen berücksichtigte. Eines seiner Verdienste ist die Aufwertung und internat. Etablierung der Mongolistik, die lange Zeit lediglich als Hilfswissenschaft der Sinologie bzw. der Buddhismusforschung gesehen worden war. Ein bes. Anliegen war es H. zudem, die Ergebnisse seiner Forschungen einem breiten Interessentenkreis zu vermitteln15. 1
Taube, E.: W. H. (1913⫺2005). In: Fabula 47 (2006) 127⫺130; Franke, H.: W. H. In: Jb. der Bayer. Akad. der Wiss.en (2005) 350⫺352; Walravens, H. (ed.): W. H. (1913⫺2005). Leben und Werk. Wiesbaden 2013. ⫺ 2 H., W.: Der mongol. Kulturwandel in den Hsingan-Provinzen Mandschukuos. Wien 1941. ⫺ 3 id.: Die mongol. Geschichtsschreibung im 18. und 19. Jh. Köln 1952. ⫺ 4 Serta Tibeto-Mongolica. Festschr. W. H. Wiesbaden 1973; Documenta Barbarorum. Festschr. W. H. Wiesbaden 1983. ⫺ 5 H., W.: Die mongol. Hss.-Reste aus Olon süme, Innere Mongolei (16.⫺17. Jh.). Wiesbaden 1976. ⫺ 6 Chiodo, E.: The W. H. Collection of Mongolian Oral Literature. Paderborn u. a. 2011. ⫺ 7 H., W. (ed.): Die mongol. Epen. Bezüge, Sinndeutung und Überlieferung. Wiesbaden 1979; id. (ed.): Fragen der mongol. Heldendichtung 1⫺5. Wiesbaden 1981/82/85/87/ 92. ⫺ 8 Rincˇen, B.: Folklore mongol 1⫺5. Wiesbaden 1960/63/64/65/72. ⫺ 9 H., W.: Geser-Studien. Unters.en zu den Erzählstoffen in den ,neuen‘ Kap.n des mongol. Geser-Zyklus. Opladen 1983; id.: Erzählstoffe rezenter mongol. Heldendichtung 1⫺2. Wiesbaden 1988; id.: Motive und Analysen mongol. Märchen. Wiesbaden 2003. ⫺ 10 id. 1983 (wie not. 9) 229⫺245, hier 230. ⫺ 11 id. (ed.): Formen und Funktion mündl. Tradition. Opladen 1995; id./Schott, R. (edd.): Die heutige Bedeutung oraler Traditionen. Ihre Archivierung, Publ. und Index-Erschließung. Opladen/Wiesbaden 1998. ⫺ 12 id.: Individuelles und traditionelles Erzählen. Der ˇ ogrub aus Ordus (1912⫺89). Wiesbaden Erzähler C 2000. ⫺ 13 id./Weiers, M. (edd.): Schriftl. Qu.n in Mog˙oli 1⫺3. Opladen 1974/75/77. ⫺ 14 H. 1988 (wie not. 9) t. 2, Reg. s. v. Wahrsagen. ⫺ 15 z. B. id.: Ein Volk sucht seine Geschichte. Düsseldorf u. a. 1964; id.: Die Religionen der Mongolei. In: id./Tucci, G.: Die Religionen Tibets und der Mongolei. Stg. u. a. 1970, 293⫺448.
Göttingen
Christina Fellenberg
1700
Hmong, in den Bergregionen Südchinas, den nördl. Teilen von J Vietnam, Laos und J Thailand sowie in Teilen J Birmas lebende Ethnie. Die H. sind traditionell Wanderfeldbauern; ihre Gesellschaft ist patrilinear geprägt. Sie sprechen eine Tonsprache, die zu einer mit den Miao-Sprachen verwandten Sprachfamilie gehört. In China bilden die H. etwa ein Drittel der knapp 10 Millionen Menschen umfassenden ethnischen Minderheit der Miao. Seit 1975 wurden aus Laos nach Thailand geflüchtete H. in den USA angesiedelt, wo sie inzwischen fast 300 000 Personen zählen1. Bevor Missionare in den 1950er Jahren ein lat. Alphabet für die H.-Sprache erfanden2, war die Überlieferung der H. rein mündl. Natur. Frühe Arbeiten zur mündl. Überlieferung der H. erschienen weitgehend in Form allg. Ethnographien3. D. C. Graham publizierte eine umfassende Slg von Texten der H. Chinas, die in den 20er und 30er Jahren des 20. Jh.s gesammelt worden waren, in engl. Übers.4 J. Mottin gab rituelle Gesänge und Lieder der H. in zweisprachigen (H./frz.) Fassungen heraus5. Y. Bertrais (1921⫺2007) initiierte eine ausschließlich H.sprachige 23bändige Slg von Erzählungen6. In den USA erschienen Slgen mit Übers.en mündl. überlieferter Texte aus der Erinnerung von Flüchtlingen7. Heute sind traditionelle Erzählungen der H. auf DVD verfügbar8. Zentrale Aspekte der traditionellen Überlieferung der H. kommen in ihren Ritualen und Festgesängen zum Ausdruck. Z. B. behandelt ein Lied, das bei Todesfällen von einem Spezialisten für Rituale vorgetragen wird, den Ursprung der Welt und das Niederschießen der neun Sonnen, die Sintflut, den Ursprung des Todes und der Krankheit sowie der Fruchtbarkeit und der Saaten; es begleitet die J Seele des Toten auf einer verschlungenen Reise über die Berge des Jenseits durch eine Reihe von Prüfungen, bevor sie schließlich das Dorf der Ahnen erreicht, aus dem sie wiedergeboren wird9. Ein langes, gleichfalls der moralischen Belehrung dienendes Klagelied wird am Tag vor der Beisetzung gesungen10. Beim Begräbnis werden in periodischen Abständen Rohrpfeifen gespielt; die Noten entsprechen den Worten der lyrischen Verse, die ungesungen bleiben11.
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Hmong
Bei Hochzeiten, die wie die Begräbnisfeierlichkeiten mehrere Tage dauern, tragen zwei Paare einen Wechselgesang vor, wobei das eine die Familie der Braut, das andere die des Bräutigams vertritt. Die Lieder behandeln den Abschied der Braut aus ihrem Elternhaus12, die Forderung des Hochzeitsschirms13 oder das Aufstellen des Hochzeitstischs14, und jedes Lied enthält eine Erzählung über den Ursprung des Brauchs. Bei solchen Anlässen werden auch Rätsel vorgetragen, die von der einen Seite gestellt und von der anderen auf eine bestimmte Weise beantwortet werden müssen15. Einen Schatz an mündl. überlieferten Texten, vor allem Gesängen, findet sich im Kontext des J Schamanismus16. Eher fröhlich bzw. scherzhaft sind (oft improvisierte) Werbungslieder, die Liebespaare einander zu Neujahr oder anderen Gelegenheiten zusingen17. Gesangswettbewerbe gibt es in vielen Bereichen, und Lieder bilden heute in allen Regionen, in denen die H. leben, populäre Formen der Rundfunkunterhaltung18. Es gibt u. a. Schimpflieder, Trennungslieder, Kriegslieder und Trinklieder19. Die H. besitzen ein reiches Repertoire an Volkserzählungen, die Kindern oder Gruppen von Erwachsenen zur Unterhaltung und Belehrung erzählt werden. Dieses Genre, das hais dab neeb (Sprechen von Geistern und Menschen) genannt wird, behandelt zahlreiche Aspekte der Geschichte und der traditionellen Kultur der H. Die Erzählungen werden gewöhnlich mit großem Enthusiasmus und unter Einsatz von Gebärden vorgetragen. Zum traditionellen Repertoire gehört etwa die Geschichte vom Inzest des Paars, das die große Flut überlebte und von dem die exogamen Klans abstammen20, die vom Donnergott21 oder die vom Verlust der Schrift der H. bei ihrer Flucht aus China22. Zahlreiche Erzählungen handeln davon, wie der H.-Kaiser vom Kaiser von China um seine Stellung betrogen wurde23. Häufig ist der Held ein Waisenkind, das Armut und Elend bezwingt, um schließlich mit Hilfe der Geomantie zu herrschen24. Verschiedene Geschichten handeln von bekannten H.-Helden und dem Ursprung bestimmter Bräuche25 oder allg. von Tieren, Geistern und Trickstern26. So berichtet eine Erzählung davon, wie der erste Schamane aus Zorn über die Widerspenstigkeit der Men-
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schen auf dem Rückweg in den Himmel seine Instrumente von der Himmelsleiter auf die Erde warf; dort hoben Sterbliche sie auf, konnten sie aber nie mehr so wirkungsvoll einsetzen wie er27. Geschichten, die z. T. mit dem Waisenknaben verbunden sind, erzählen von Wasserdrachen und dem Drachenkönig28. Es gibt einen Zyklus von Geschichten über Wertiger29 sowie mit der Sintflut verbundene Erzählungen, in denen die Kröte eine Rolle spielt30. 1
Lee, G. Y./Tapp, N.: Culture and Customs of the H. Santa Barbara 2010, 1. ⫺ 2 Smalley, W./Chia Vang/Gnia Yang: Mother of Writing. The Origin and Development of a H. Messianic Script. Chic./L. 1990, 151⫺154. ⫺ 3 Bernatzik, H. A.: Akha und Meau. Probleme der angewandten Völkerkunde in Hinterindien. Innsbruck 1947; Lemoine, J.: Un Village H. Vert du Haut Laos. P. 1972; Geddes, W. R.: Migrants of the Mountains. The Cultural Ecology of the Blue Miao (H. Njua) of Thailand. Ox. 1976; Tapp, N.: Sovereignty and Rebellion. The White H. of Northern Thailand. Ox./Singapore 1989. ⫺ 4 Graham, D. C.: Songs and Stories of the Ch’uan Miao. Wash. 1954. ⫺ 5 Mottin, J.: Feˆtes du nouvel an chez les H. Blanc du Thaı¨lande. Bangkok 1979; id.: 55 Chants d’amour H. Blanc. Bangkok 1980; id.: Contes et le´gendes H. Blanc. Bangkok 1980. ⫺ 6 Bertrais, Y.: Dab Neeg Hmoob (Volkerzählungen der H.) 1⫺ 3. Javouhey 1985; id.: Kab Ke Pam Tuag. Cov Zaj (Begräbnisriten. Gesänge und Rezitationen). Javouhey 1986; id.: Dab Neeg Kwv Txhiaj Keeb Kwm Nyob Moos Laj (Geschichten, Lieder und Ursprungserzählungen der H. von Mongla). Javouhey 1992. ⫺ 7 Numrich, C. H.: Living Tapestries. Folk Tales of the H. Lima, Ohio 1985; Vang, L./Lewis, J.: Grandmother’s Path, Grandfather’s Way. Rancho Cordova 1990; Livo, N./Cha, D.: Folk Stories of the H. of Vietnam, Laos and Thailand. Englewood, Colo. 1991; Johnson, C.: Myths, Legends and Folk Stories of the H. from Laos. St. Paul, Minn. 1992; cf. auch Fadiman, A.: The Spirit Catches You and You Fall down. A H. Child, Her American Doctors, and the Collision of Two Cultures. N. Y. 1998. ⫺ 8 Prasit, L.: The Role of Media Technology in Reproducing H. Ethnic Identity. In: Living in a Globalized World. Ethnic Minorities in the Greater Mekong Subregion. ed. D. McCaskill/L. Prasit/ H. Shaoying. Bangkok 2008, 85⫺113. ⫺ 9 Lemoine, J.: L’Initiation du mort chez les H. Le Chemin. In: L’Homme 12,1 (1972) 105⫺134; id.: Kr’ua Ke (Showing the Way). A H. Initiation of the Dead. Übers. K. White. Bangkok 1983; Symonds, P.: Calling in the Soul. Gender and the Cycle of Life in a H. Village. Seattle 2004, 110⫺163, 193⫺ 270. ⫺ 10 Chindarsi, N.: The Religion of the H. Njua. Bangkok 1976, 148⫺157; Lee/Tapp (wie not. 1) 56⫺58. ⫺
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Hübschmannova´, Milena
11 Falk, C.: H. Instructions to the Dead. What the Mouth Organ Qeej Says. In: Asian Folklore Studies 63 (2004) 1⫺29, 167⫺220. ⫺ 12 Bertrais, Y.: Traditional Marriage among the White H. of Thailand and Laos 3. Chiangmai 1978, 184⫺186. ⫺ 13 ibid., 68⫺74. ⫺ 14 ibid., 221⫺234; Tapp, N.: The H. of China. Context, Agency, and the Imaginary. Leiden 2001, 312⫺316. ⫺ 15 Bertrais (wie not. 12) 20⫺28. ⫺ 16 More´chand, G.: Principaux Traits du chamanisme Meo Blanc en Indochine. In: Bulletin de l’E´cole francœ aise d’Extreˆme-Orient 47,2 (1955) 509⫺546; id.: Le Chamanisme des H. ibid. 54,2 (1968) 53⫺294; Mottin, J.: Allons faire le Tour du ciel et de la terre. Le chamanisme des H. vu dans les textes. Bangkok 1982; Lemoine, J.: Entre la Maladie et la mort. Le chamane H. sur les chemins de l’au-dela`. Bangkok/ P. 1987. ⫺ 17 z. B. Mottin, Chants (wie not. 5) 18⫺ 48. ⫺ 18 Lee/Tapp (wie not. 1) 87⫺90. ⫺ 19 Mottin, Chants (wie not. 5) 2⫺4. ⫺ 20 Lemoine, J.: L’Initiation du mort chez les H. Les The`mes. In: L’Homme 12,2 (1972) 85⫺125. ⫺ 21 ibid.; Geddes (wie not. 3) 23 sq. ⫺ 22 Tapp (wie not. 3) 122⫺126. ⫺ 23 z. B. ibid., 131⫺135. ⫺ 24 z. B. Johnson (wie not. 7) 317⫺342, 353⫺394; Tapp (wie not. 14) 439⫺454; Graham (wie not. 4) 233⫺259. ⫺ 25 ibid., 21⫺26; Mottin, Contes (wie not. 5) 113⫺ 195. ⫺ 26 Bertrais 1985 (wie not. 6); Graham (wie not. 4) 183⫺206. ⫺ 27 Mottin, Chants (wie not. 5) 51⫺72. ⫺ 28 Johnson (wie not. 7) 183⫺198; Tapp (wie not. 14) 377⫺398. ⫺ 29 Graham (wie not. 4) 185⫺201. ⫺ 30 cf. ibid., 181⫺183, 209 sq.
Schanghai
Nicholas Tapp
Hübschmannova´, Milena, *Prag 10. 6. 1933, † Kameeldrift (Südafrika) 8. 9. 2005, tschech. Indologin und Erforscherin der Roma-Kultur (J Sinti, Roma)1. H. studierte 1951⫺56 Indologie (Urdu, Hindi, Bengali; Abschluß Diplom) an der Karls-Univ. in Prag (1959 erster Forschungsaufenthalt in Indien). Seit 1953 lernte sie durch Kontakte mit Roma deren Sprache und setzte sich bereits zu sozialistischen Zeiten für die Kultur und Identität der Minderheit ein. 1956⫺67 arbeitete H. für den tschech. Rundfunk, 1968⫺74 an der Tschechoslovak. Akad. der Wiss.en und 1974/75 an der Pädagogischen Fakultät der Karls-Univ. 1975⫺82 war sie aufgrund ihres Engagements gegen die staatliche Politik der Zwangsassimilation der Roma ohne feste Beschäftigung; u. a. unterrichtete sie seit 1976 Romanes und Hindi an der Prager Sprachschule. 1991 begründete H. am Indologischen Seminar der Karls-Univ. das Fach Romistik (seit 2012 ein selbständiges Fach am Inst. für Süd- und Zen-
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tralasien) und lehrte dort bis zu ihrem Tod. 1995 wurde sie mit der Diss. Romisticke´ studie 1 promoviert; 2000 habilitierte sie sich mit dem Band Romisticke´ studie 2. Seit 1994 gab sie die Fachzeitschrift Romano Dzˇaniben (Roma-Wiss.) heraus. 2002 wurde ihr der Verdienstorden 3. Grades, 2003 der Verdienstorden 1. Grades verliehen. H.s Nachlaß befindet sich im Seminar für Romistik der Karls-Univ., im Museum für Roma-Kultur in Brünn und im Phonogrammarchiv der Österr. Akad. der Wiss.en2. H.s Roma-Forschungen umfassen den Bereich der Kulturwissenschaft in seiner gesamten Komplexität. H. war als Feldforscherin im dörflichen (Ostslovakei und Nordböhmen) wie städtischen (Prag) Milieu tätig, war wiss. internat. vernetzt, beherrschte zahlreiche weltweit gesprochene Romanes-Dialekte und publizierte auch auf Romanes. Außer der Sprache3, Geschichte4, sozialen Lage5 und schriftl. Dichtkunst der Roma6 galt ihr bes. Interesse der Überlieferung der Minderheit, auch unter Berücksichtigung von Einflüssen durch die Massenmedien der Mehrheitskultur7. Für die Erzählforschung wichtig sind ihre sich durch Authentizität auszeichnenden Aufzeichnungen, von denen sie Märchen8, Sprichwörter9 und Rätsel10 publizierte, sowie ihre aufgrund von Vertrautheit mit Sprache und Leben der Roma bes. informativen Aussagen zu Erzählern, Erzählsituationen und Erzählweise (J Biologie des Erzählguts)11. Wichtige Dokumente stellen die von ihr herausgegebenen Lebensgeschichten einiger Roma-Persönlichkeiten dar12. 1
Bakker, P./Matras, Y. (edd.): Bibliogr. of Modern Romani Linguistics. Amst. 2003, 144⫺149, num. 1085⫺1132; Wagner, P.: Zˇivotopis a bibliografie doc. Mileny Hübschmannove´, CSc. (Biogr. und Bibliogr. der Dozentin M. H., CSc.). In: Na´dvornı´kova´, L./ Stekla´, R. (edd.): M. H. ve vzpomı´nka´ch. Prag 2006, 77 sq. (Biogr.); Krcˇ´ık, J.: Bibliografie doc. Mileny Hübschmannove´, CSc. (Bibliogr. der Dozentin M. H., CSc.). ibid., 79⫺85. ⫺ 2 Freundliche Mittlg von J. Ort, Prag. ⫺ 3 z. B. H., M./Sˇebkova´, H./Zˇigova´, A.: Romsko-cˇesky´ a cˇesko-romsky´ kapesnı´ slovnı´k (Taschenwb. Romanes ⫺ Tschech. und Tschech. ⫺ Romanes). Prag 1991 (21998); H., M./ Bubenı´k, V.: Causatives in Slovak and Hungarian Romani. In: The Typology and Dialectology of Romani. ed. Y. Matras/P. Bakker/H. Kyuchukov. Amst. u. a. 1997, 133⫺145. ⫺ 4 H., M.: Po zˇ´ıdoch ciga´ni. Sveˇdectvı´ Romu˚ ze Slovenska (Nach den Juden die Zigeuner. Zeugnisse von Roma aus der Slovakei). 1: 1939⫺1944. Prag 2005; ead.: Roma in the So-Called
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Hundertundeine Nacht
Slovak State (1939⫺1945). In: Kenrick, D. (ed.): The Gypsies during the Second World War. 3: The Final Chapter. P. u. a. 2006, 3⫺44. ⫺ 5 ead.: Economic Stratification and Interaction. Roma, an Ethnic Jati in East Slovakia [1984/85]. In: Gypsies, an Interdisciplinary Reader. ed. D. Tong. N. Y./L. 1998, 233⫺ 267; ead.: Devinettes des Rom slovaques. In: E´tudes tsiganes 26 (1981) 13⫺19; ead./Sˇebkova´, H./Zˇigova´, A.: Postavenı´ snachy v tradicˇnı´ romske´ komuniteˇ (Die Stellung der Schwiegertochter in der traditioˇ esky´ lid 71 (1984) nellen Roma-Gesellschaft). In: C 81⫺85. ⫺ 6 H., M.: Roms (Gypsies) in Czechoslovakia and Their Literature. In: Studies in Indo-Asian Art and Culture 5. ed. L. Chandra/P. Ratnam. Neu Delhi 1977, 37⫺76; ead.: Birth of Romani Literature in Czechoslovakia. Social and Political Background. In: Cahiers de litte´rature orale 30 (1991) 91⫺97. ⫺ 7 ead.: Oral Folklore of Slovak Roms. In: Lacio drom, Suppl. zu 21,6 (1985) 61⫺70; ead.: Cika´nske´ pı´sneˇ (Zigeunerlieder). Prag 1960; ead./Jurkova´, Z.: Romane gil’a: zpeˇvnı´k romsky´ch pı´snı´ (Roma-Lieder: Roma-Liederbuch). Prag 1999. ⫺ 8 H., M.: Romske´ poha´dky (Märchen der Roma). Prag 1973 (21999); Ausw. in ead.: Janitschek im Räuberschloß. Märchen slowak. Rom. ed. E. und R. Gilsenbach. B. 1983; Mode, H./ead.: Zigeunermärchen aus aller Welt 1⫺4. Lpz. 1983/84/84/85; Uhlik, R.: Von den ˇ oxanend’i. Hexen. Märchen der Gurbet-Roma/E C Gurbetond’e paramicˇa. ed. M. F. Heinschink/M. H. u. a. Klagenfurt 2006. ⫺ 9 M., H.: Przysłowia cygan´skie ⫺ Romane phenibena (Zigeunersprichwörter ⫺ Roma-Sprichwörter). ed. A. Bartosz. Tarno´w 1981. ⫺ 10 ead.: Romske´ ha´danky (Roma-Rätsel). Prag 2003. ⫺ 11 ead.: Märchenerzähler und Alltagsleben bei den slowak. Rom. In: Mode/ead. (wie not. 8) t. 1, 49⫺ 66; ead.: Jak jsme sbı´rali romska´ prˇ´ıslovı´. Sar amen kidahas romane godzˇaver lava (Wie wir RomaSprichwörter sammelten). In: Nezna´mi Ro´movia: Zo zˇivota a kultu´ry Ciga´nov-Ro´mov na Slovensku. ed. A. B. Mann. Bratislava 1992, 155⫺164. ⫺ 12 Lackova´, E.: Narodila jsem se pod sˇt’astnou hveˇzdou (Ich bin unter einem glücklichen Stern geboren). ed. M. H. Prag 1997 (frz. P. 2000; engl. Hatfield 2000); Dzurko, R.: Ich bin wieder Mensch geworden: Bilder und Geschichten eines Rom-Künstlers. ed. H. M. Lpz./Weimar 1990.
Göttingen
Ines Köhler-Zülch
Hundertundeine Nacht (arab. MiÅat laila walaila), maghrebin.-arab. Geschichtensammlung, deren J Rahmenerzählung (ebenso wie einige der eingefügten Geschichten) enge Parallelen zu J Tausendundeine Nacht aufweist: Der König von Indien hält sich für den schönsten Menschen auf der Welt. Ein weitgereister Kaufmann meint allerdings, einen noch schöneren jungen Mann
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˚ ora¯sa¯n zu kennen, und erhält im weit entfernten H den Auftrag, diesen herbeizuschaffen. Als der Kaufmann den Jüngling nach längerer Zeit endlich überredet hat, mit ihm zu kommen, kehrt dieser wegen eines vergessenen Gegenstandes kurz nach Hause zurück und überrascht seine junge Frau beim Ehebruch. Durch den tiefen Schmerz über diese Treulosigkeit schwindet seine Schönheit, und als er dem König gegenübersteht, ist dieser überrascht. Kurz darauf beobachtet der Jüngling die Königin bei einer sexuellen Orgie, und das Bewußtsein, daß er in seinem Schmerz nicht alleine ist, gibt ihm seine Schönheit zurück. Nachdem der König über die Hintergründe des Geschehens aufgeklärt ist und seine Frau getötet hat, reist der junge Mann nach Hause zurück. Der König heiratet nun jede Nacht eine neue Frau, die er am Morgen töten läßt. Dies geht so lange, bis er die Wesirstocher Dı¯na¯rza¯d ehelicht. Nach durchlebter Liebesnacht bittet diese ihre Schwester Sˇahraza¯d (J Scheherazade), dem Herrscher Geschichten zu erzählen, wodurch diese beider Leben rettet. Diese Situation dauert 101 Nächte, bis der Herrscher zur Besinnung kommt.
Ursprung und Geschichte von 101 Nacht sind weitgehend unbekannt. Die bislang einzig bekannte ältere Erwähnung des Werks findet sich in dem bibliogr. Lex. des osman. Gelehrten H ø a¯gˇgˇ¯ı H ˚ alı¯fa (gest. 1657); in dem kurzen Eintrag wird die Abfassung des Buchs einem ansonsten unbekannten Philosophen Fahra¯s (Fahra¯yis, Fahda¯s oder ähnlich) zugeschrieben, der in den Mss. als Erzähler des gesamten Buchs angeführt wird. Alle Mss. von 101 Nacht stammen aufgrund des verwendeten Schrifttyps eindeutig aus Nordafrika bzw. dem ehemals muslim. Spanien (vor 1492). Während das älteste erhaltene Mss. möglicherweise im 13. Jh. geschrieben ist1, sind die meisten der insgesamt weniger als zehn erhaltenen Mss. des Werks im 18./19. Jh. angefertigt; das älteste datierte Ms. trägt die Jahreszahl 1190 (1776)2. Bes. in der jüngeren frz.sprachigen Forschung ist mehrfach auf die Bedeutung des Werks hingewiesen worden3. Bislang liegen eine ältere frz.4 sowie eine neuere jap.5 und eine dt.6 Übers. vor. Das Element des Schönheitswettbewerbs in der Rahmenerzählung der Slg (J Schön und häßlich) ⫺ das mit der narzißtischen Betrachtung des Königs im J Spiegel an AaTh/ATU 709: J Schneewittchen erinnert ⫺ besitzt eine bedeutend ältere Parallele im chin. J Tripitøaka7; 101 Nacht spiegelt somit möglicherweise eine ältere Stufe der Überlieferung als die Slg
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Hybridität
1001 Nacht8, in deren Rahmenerzählung zwei Brüder agieren, von denen der eine wegen der Untreue seiner Frau in Melancholie verfällt. Mit dem Element des Schönheitswettbewerbs ist die Rahmenerzählung von 101 Nacht in Europa als separate Geschichte bereits in Ludovico J Ariostos Orlando furioso (verfaßt 1516⫺32; canto 28) belegt; Var.n aus der osteurop. und vorderoriental. mündl. Überlieferung des 19./20. Jh.s (ung.9, weißruss.10, syr.11) legen eine weitere Verbreitung der Rahmenerzählung nahe. Das in den Mss. von 101 Nacht enthaltene Repertoire ist nur begrenzt standardisiert und umfaßt ca 15⫺20 Geschichten. Wenngleich viele der auftretenden Motive in unterschiedlichen Erzählungen der internat. Überlieferung vertreten sind, lassen sich kaum internat. verbreitete Erzähltypen klassifizieren. Das Repertoire überschneidet sich in manchen Mss. z. T. mit dem von 1001 Nacht ⫺ so etwa bei den Geschichten von der J Messingstadt12, vom Ebenholzpferd (AaTh/ATU 575: J Flügel des Königssohnes) oder einer Var. der (nur in einem einzigen Ms. enthaltenen) Geschichte vom ,erwachten Schläfer‘ (AaTh/ATU 1531: J Bauer wird König für einen Tag)13. Die als eine der Geschichten auch in 101 Nacht enthaltene Erzählsammlung J Sieben weise Meister14 ist hier z. T. mit anderen Erzählungen als die Version in 1001 Nacht15 gefüllt, bringt aber gleichfalls so populäre Geschichten wie AaTh/ATU 2036: A Drop of Honey Causes Chain of Accidents, AaTh/ATU 1515: Die weinende J Hündin, AaTh/ATU 178 A: J Hundes Unschuld und AaTh/ATU 750 A: cf. Die drei J Wünsche16.
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Übers. A. Sumi. Tokio 2011. ⫺ 6 101 Nacht. Übers. C. Ott. Zürich 2012. ⫺ 7 Chavannes 1, num. 107. ⫺ 8 Cosquin, E.: Le Prologue cadre des Mille et une Nuits, les le´gendes perses et le livre d’Esther. In: Revue biblique 6 (1909) 7⫺49; Bremond, C.: Pre´histoire de Sche´he´razade. In: Les Mille et une Nuits. ed. J.-L. Joly/A. Kilito. Rabat 2005, 19⫺42; Chraı¨bi (wie not. 3). ⫺ 9 Solymossy, A.: A sze´pember mese´je (Die Geschichte vom schönen Mann). In: Ethnographia 27 (1916) 257⫺275; De´gh, L.: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. B. 1962, 298 sq., num. 66; Kova´cs, A.: Ung. Volksmärchen. MdW 1982, num. 18. ⫺ 10 Barag, L. G.: Beloruss. Volksmärchen. B. 1968, num. 62. ⫺ 11 Grotzfeld, H. und S.: Die Erzählungen aus ,Tausendundeiner Nacht‘. Darmstadt 1984, 139⫺143. ⫺ 12 Pinault, D.: Story-Telling Techniques in the Arabian Nights. Leiden 1992, 152⫺157, 226 sq.; Hajjar, O.: Die Messingstadt. Wiesbaden 2012. ⫺ 13Basset, R.: Notes sur les Mille et une nuit. 9: Le Dormeur e´veille´. In: RTP 16 (1901) 74⫺88; Marzolph, U.: The Story of Abu ’l-Hasan the Wag in the Tübingen Ms. of the Romance of ¤Omar ibn al-Nu¤ma¯n and Related Texts. In: J. of Arabic Literature (im Druck). ⫺ 14 Nishimura, M.: „Hyakuichiya monogatari“ shoshu no „Shindoba¯do monogatari“ (Die Version des „Sindba¯d-na¯me“ in den Geschichten aus „101 Nacht“). In: Bulletin of the Sakushin Gakuin Univ. 14 (2004) 21⫺52; Lacarra, M. J.: Entre el „Libro de los engan˜os“ y los „Siete visires“. Las mil y una caras del „Sendebar“ a´rabe. In: „Les Mille et une nuits“ et le re´cit oriental. ed. A. Chraı¨bi/C. Ramı´rez. P. 2009, 51⫺70, bes. 54 sq., 64⫺67. ⫺ 15 Marzolph/ van Leeuwen 1, 160 sq., num. 181. ⫺ 16 Clouston, W. A.: The Book of Sindiba¯d. Glasgow 1884; 101 Nacht, num. 1⫺12 ⫽ Chauvin 8, 35⫺45, num. 2⫺ 13; 13 ⫽ Chauvin 8, 66, num. 30; 14 ⫽ Chauvin 8, 66 sq., num. 31; 15 ⫽ Chauvin 8, 57, num. 23; 16⫺ 17 ⫽ Chauvin 8, 67 sq., num. 32⫺33; 18 ⫽ Marzolph, Arabia ridens 2, num. 468; 19 ⫽ Chauvin 8, 51, num. 19; 20 ⫽ Chauvin 8, 69, num. 34.
Göttingen
Ulrich Marzolph
1
Marzolph, U./Chraı¨bi, A.:The „Hundred and One Nights“. A Recently Discovered Old Ms. In: ZDMG 162,2 (2012) 299⫺316. ⫺ 2 MiÅat laila wa-laila. ed. M. Tøarsˇu¯na. Tunis 1984 (gekürzte Neuausg. Köln 2005); al-Ba¯hı¯ al-Bu¯nı¯: MiÅat laila wa-laila … wahø ika¯ya¯t uh˚ ra¯ (101 Nacht … u. a. Geschichten). ed. Sˇ. A. Sˇuraibitø. Algier 2005 (Ms. datiert 1257/1841); cf. allg. MacDonald, D. B.: The Earlier History of the Arabian Nights. In: J. of the Royal Asiatic Soc. (1924) 353⫺397. ⫺ 3Chraı¨bi, A.: Des Hommes dans le harem. In: Le Re´pertoire narratif arabe me´die´val. ed. F. Bauden/A. Chraı¨bi/A. Ghersetti. Genf 2008, 37⫺46; id.: Les Mille et une Nuits. P. 2008, bes. 90⫺92. ⫺ 4 Gaudefroy-Demombynes, M.: Les Cent et une Nuits. P. 1911 (Neuausg. P. 1982). ⫺ 5 Hyakuichiya monogatari (101 Nacht).
Hybridität bezeichnet in der Biologie die Vermischung zweier genetisch verwandter Organismen. Die Kulturwissenschaften beziehen ihr Verständnis von H. aus der Feststellung der Linguistik, daß die Vermischung von Sprachen durch deren hist. Entwicklung begründet ist; vor diesem Hintergrund werden durch Kulturkontakt bzw. Interkulturalität entstandene Mischformen als ubiquitäres Phänomen betrachtet. H. gehört zu einem Feld von Begrifflichkeiten, bei denen es um die Konsequenzen soziokultureller Veränderungen geht. Fast alle die-
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Hybridität
ser Begriffe beinhalten eine abwertende bzw. negative Einschätzung der Ergebnisse des Wandels: Bastardisierung, Mestizisierung, Kontamination, Pasticcio, Bricolage, Me´lange, Fusion, Synkretismus; einzig der von der USamerik. Forschung eingeführte Begriff der Kreolisierung ist wertneutral und wird daher in der neueren Forschung bevorzugt1. Für die hist. und vergleichende Erzählforschung mit ihrem bes. Augenmerk auf schöpferischen Prozessen (J Kreativität, J Variabilität) stellt H. ein grundlegendes Phänomen der Überlieferung dar2. Dabei kann die auch hier als Vermischung aufgefaßte H. unterschiedlicher Art sein: In einer Erzählung treffen unterschiedliche Sprachen und J Dialekte aufeinander; innerhalb eines J Repertoires existieren Sprachcodes verschiedener Herkunft und unterschiedliche J Vermittlungsformen (mündl., schriftl.) nebeneinander; Figuren, Episoden, Themen und Motive unterschiedlicher Provenienz werden miteinander verbunden; Gattungen, J Stile oder Umstände der J Performanz verschmelzen. Für das traditionelle Erzählgut gilt dabei, was allg. für Texte jeglicher Art Gültigkeit besitzt: Jeder Text steht an der Schnittstelle mehrerer Texte, die er gleichzeitig neu wahrnimmt, akzentuiert, kondensiert, verlagert und vertieft3. Das Konzept der H. unterstellt eine Vorstellung von ursprünglicher Reinheit, die in der Erzählforschung mit Mündlichkeit gleichgesetzt wird (cf. J Schriftlichkeit). Programma´ Su´illeabha´ins Anweisung tisch ist etwa S. J O an die ir. Sammler, sie sollten nur Geschichten aufschreiben, welche die Erzähler nicht direkt aus einer schriftl. Quelle kannten; alle gesammelten Erzählungen sollten, soweit es für den Sammler feststellbar sei, aus ,echter‘ Volksüberlieferung stammen4. Aus heutiger Perspektive wird zusätzlich davon ausgegangen, daß bereits die Aufzeichnung einer mündl. Performanz ebenso wie ihre Übers. in eine andere Sprache hybride Formen darstellen. Auch das im Rahmen der J geogr.-hist. Methode entwickelte Konzept der Erzähltypen (J Typus) geht von einer ursprünglichen Originalität und Eindeutigkeit, hier der Erzähltypen, aus. Hybridisierung wird demnach erkennbar, wenn Erzähler Teile von Geschichten mit Teilen anderer Erzählungen vermischen (J Kontamination). So schrieb S. J Thompson
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Mitte des 20. Jh.s, die J SchwanjungfrauErzählung sei Bestandteil von drei bekannten Märchen, bes. von AaTh 313: cf. J Magische Flucht5. Inzwischen ist der Revision des internat. Typenkatalogs (ATU) zu entnehmen, daß der Erzähltyp AaTh/ATU 313 sich mit Episoden von mehr als 30 verschiedenen Erzähltypen verbindet6. Beispiele für dieses Phänomen sind so häufig und so verbreitet, daß sie das Konzept des Erzähltyps in Frage stellen können. Die Hybridisierung einer narrativen Gattung kann sich sogar in ein und derselben Erzählung manifestieren7: Der Held einer Geschichte aus Madagaskar spricht im Mutterleib (J Kind spricht [weint] im Mutterleib) und gibt u. a. Instruktionen für einen von ihm selbst geleiteten Kaiserschnitt. Bis zur Geburt des Helden ist die Erzählung ein tantara, eine wahre Geschichte, die geglaubt werden soll. Aber kaum ist das Kind geboren, wird es zum J Trickster, und der zweite Teil ist eher ein tafasiry, eine fiktionale Erzählung, die der Zerstreuung dient: Der Knabe raubt die Frau seines Bruders, kommt durch Betrug an eine Erbschaft, tötet seinen reichen Adoptivvater und eignet sich dessen Besitz an. Die gattungsbezogene Hybridisierung dieser Erzählung resultiert aus der Vermischung von zwei madegass. ethnischen Gruppen, den Merina und den Antankarana, die unterschiedliche Überlieferungen besitzen. Gattungshybridisierung tritt auch auf, wenn Rätsel Teil der Erzählung sind. Im Mittelpunkt der zum Komplex J Todesart wählen gehörenden Erzählung vom J Halslöserätsel (AaTh/ATU 927) steht ein dem Richter aufgegebenes unlösbares Rätsel, durch das ein zum Tode Verurteilter die Freiheit gewinnt. Der erzählerische Rahmen geht hier einen Dialog mit der kleineren Gattung des Rätsels ein: So wie Rätselsteller und Rätsellöser einander Rede und Antwort stehen, wird durch das Ratespiel die Frage nach dem Fortgang der Handlung beantwortet8. Ähnliches gilt auch für AaTh/ ATU 921: J König und kluger Knabe oder AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter. Letztlich läßt sich H. bei einem Großteil der narrativen Genres beobachten, wie es terminologisch etwa in den Bezeichnungen für die Mischgattungen Schwankmärchen, Legenden-
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Interkulturalität
schwank, Sagenballade oder Märchencomic zum Ausdruck kommt. Auch das Repertoire einzelner Erzähler kann unter dem Aspekt von Hybridisierung gesehen werden. Der Texaner Ed Bell gab seine überschäumend irrealen Lügengeschichten als eigene Erlebnisse aus9. Einige von Zsuzsanna Palko´s ung. Zaubermärchen enthalten selbsterfundene Episoden, die nicht der Überlieferung entstammen10. Nelzir Ventre, ein kreol. Erzähler aus Mauritius, bezeichnete seine Erzählungen mit dem Namen einer musikalischen Gattung (se´ga), da er in jede Geschichte an den entscheidenden Stellen Lieder einflocht11. Afrik. Erzähler sind dafür bekannt, daß sie Imitationen von Vogel- und anderen Tierstimmen in ihre Performanz einbinden12. Diese Erzähler erkennen keinen Bruch zwischen den Genres, wobei unklar ist, in welchem Ausmaß sie sich des von ihnen praktizierten Vermischungsprozesses bewußt sind. Allg. ist der Begriff H. eher ein analytisches Instrument. Hybridisierung findet sich schon in Erzählungen der Antike13, und im europ. MA. und in der Renaissance wurden Erzählungen und Erzählgattungen in ähnlicher Weise gemischt14 wie in der Überlieferung der von B. J Malinowski untersuchten Südseeinsulaner. Wird der Begriff H. wertneutral durch Kreolisierung ersetzt, so liegt der Schwerpunkt auf der Neuaushandlung von Kultur an kulturellen Kontaktstellen. Kreolisierung kann sowohl das Wechselspiel zwischen kulturellen Zentren und ihrer Peripherie als auch die Wahl und Umgestaltung von Produkten einer dominanten Kultur durch untergeordnete Gruppen bedeuten15. Es handelt sich weniger um ein Produkt als um einen Prozeß, bei dem ständig etwas Neues geschaffen wird. 1
Haring, L.: Cultural Creolization. In: Acta Ethnographica 49 (2004) 1⫺38. ⫺ 2 id.: Hybridity, Hybridization. In: The Greenwood Enc. of Folktales & Fairy Tales 2. ed. D. Haase. Westport/L. 2008, 463⫺ 467. ⫺ 3 Sollers, P.: The´orie d’ensemble. P. 1968, 75; cf. allg. Genette, G.: Palimpsestes. La litte´rature au second degre´. P. 1982; Klein, J./Fix, U. (edd.): Textbeziehungen. Linguistische und lit.wiss. Beitr. zur Intertextualität. Tübingen 1997; Hallet, W.: Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwiss. Lit.wiss. In: Gymnich, M./Neumann, B./Nünning, A. (edd.): Kulturelles Wissen und Intertextualtät. ´ Su´illeabha´in, S.: A HandTrier 2006, 53⫺70. ⫺ 4 O
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book of Irish Folklore. Hatboro 1963, 555. ⫺ 5 Thompson, S.: The Folktale. N. Y. 1946, 88. ⫺ 6 ATU 1, 196. ⫺ 7 Haring, num. 1. 7.01. ⫺ 8 Dorst, J. D.: Neck-Riddle as a Dialogue of Genres. In: JAFL 96 (1983) 413⫺433; cf. allg. Bakhtin, M.: Speech Genres and Other Late Essays. ed. C. Emerson/M. Holquist. Austin 1986, 60⫺102; Bauman, R.: Contextualization, Tradition, and the Dialogue of Genres. Icelandic Legends of the Kraftaska´ld. In: Rethinking Context. Language as an Interactive Phenomenon. ed. A. Duranti/C. Goodwin. Cambr. 1992, 125⫺145. ⫺ 9 Bauman, R.: A World of Others’ Words. Cross-Cultural Perspectives on Intertextuality. Ox. 2004, 98. ⫺ 10 De´gh, L.: Hungarian Folktales. Jackson, Miss. 1995, 223. ⫺ 11 Haring, L.: Stars and Keys. Folktales and Creolization in the Indian Ocean. Bloom. 2007, 80⫺90. ⫺ 12 Finnegan, R.: Limba Stories and Storytelling. Ox. 1947, 79; Scheub, H.: The Poem in the Story. Madison, Wisc. 2002, 108 sq., 208⫺213; Okpewho, I.: African Oral Literature. Bloom. 2009, 131⫺135. ⫺ 13 Hansen, W. F.: Ariadne’s Thread. Ithaca, N. Y. 2002, 1⫺31; Bleumer, H./Emmelius, C. (edd.): Lyrische Narrationen ⫺ narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der ma. Lit. B./N. Y. 2011. ⫺ 14 cf. Seznec, J.: The Survival of the Pagan Gods. N. Y. 1953. ⫺ 15 Hannerz, U.: The World in Creolization. In: Africa 57 (1987) 546⫺559; Baron, R./Cara, A. C. (edd.): Creolization as Cultural Creativity. Jackson, Miss. 2011.
Saugerties, N. Y.
Lee Haring
Interkulturalität 1. Allgemeines ⫺ 2. I. von Erzählungen ⫺ 3. Erzählen über das Fremde ⫺ 4. Kulturkontakterzählungen ⫺ 5. Erzählen im Kulturkontakt
1 . All ge me in es. I., verstanden als J Kommunikation, Beziehung und Austausch zwischen Gesellschaften, Gruppen und Individuen unterschiedlicher Kultur sowie das damit verbundene Verstehen von und der Umgang mit kultureller Fremdheit1, ist ein grundlegender Aspekt des Erzählens und von Erzählungen. Die Annahme genereller I. von Erzählungen bildet die Grundlage der meisten Theorien und Schulen der Erzählforschung: Die J Ind. Theorie und die J Wandertheorie, die J Philol. Methode und vor allem die J Geogr.-hist. Methode basieren auf der Annahme ständigen interkulturellen Austauschs. Herausragende Bedeutung hat I. in ethnisch gemischten Regionen (J Interethnische Beziehungen) und Grenzregionen, im Kontext von Migration, in modernen multikulturellen Gesellschaften2 so-
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Interkulturalität
wie in der heute durch das Internet ermöglichten globalen Kommunikation. Die für die Vermittlung von Erzählstoffen grundlegende Tatsache der I. galt in der Erzählforschung des 19./20. Jh.s als so selbstverständlich, daß sie kaum thematisiert oder in die Theoriebildung einbezogen wurde. Erst mit dem Einsetzen der Globalisierung haben die interkulturellen Aspekte von Erzählen und Erzählungen sowie deren Relevanz für das Fremdverstehen und den Umgang mit Alterität nennenswerte Beachtung gefunden3. 2 . I . v on Er zä hl un ge n. Mit den von ihnen vermittelten Weltbildern (J Weltanschauung, Weltbild)4, J Werten und J Normen, Einstellungen und Vorstellungen sind Erzählungen Ausdruck der Gesellschaft, in der sie tradiert werden5. Jede Überquerung ethnischer, religiöser oder sprachlicher Grenzen (Wandertheorie, J Wandermotiv, J Diffusion) macht daher nicht nur die sprachliche, sondern auch die kulturelle J Adaptation (bzw. J Akkulturation) an die Werte und Normen der aufnehmenden Gesellschaft erforderlich. Es ist dies ein oftmals komplexer Prozeß der J Bearbeitung und interkulturellen J Vermittlung, der meist von mehrsprachigen bzw. bikulturellen Erzählern oder Sängern geleistet wird. Die kulturelle J Übersetzung kann dabei im Grad der Adaptation durchaus variieren, sie kann die Fremdheit der Vorlage völlig eliminieren oder sie deutlich erkennbar werden lassen6, entweder zur Überhöhung (J Exotik, Exotismus) oder zur Parodierung des Fremden. 3 . E rz äh le n ü be r d as Fr em de. Kulturelle Fremdheit ist stets ein wichtiges Erzählthema gewesen7, allerdings mit Unterschieden zwischen den Gattungen. Während sie in Märchen und Legenden kaum erwähnt wird, hat sie in den traditionellen Gattungen Sprichwort, Sage und Schwank einen erkennbaren Stellenwert; zu großer Bedeutung gelangt sie im ethnischen Witz8 und in der modernen Sage9. Die Wahrnehmung und Darstellung des Fremden ist in hohem Maße bestimmt von ethnischen J Stereotypen, die z. T. auf hist. Erfahrung basieren und in denen negative Bilder überwiegen (J Kreuzzüge; J Jude, Judenlegenden; J Neger; J Zigeuner, Zigeunerin).
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Die kollektiven Fremdbilder geben der Haltung gegenüber dem Fremden und dem Eigenen Ausdruck und definieren damit die Grenze zwischen in-group und out-group10. Sind sie Teil der mündl. oder schriftl. Überlieferung geworden, können sie J Vorurteile über Gruppen für lange Zeiträume stabilisieren11. Die Verbreitung von Witzen und Sagen über ethnische und religiöse Gruppen hat durch zahllose Websites in vielen Sprachen stark zugenommen. 4 . Kul tu rk on ta kt er zä hl un ge n. In Kulturkontakterzählungen findet eine narrative Auseinandersetzung mit Fremdheitsbegegnungen, also mit (realen oder fiktionalen) Erlebnissen in einer fremden Umwelt statt. Die narrative Verarbeitung und Bewältigung des Fremden ist eine der häufigsten und auch effektivsten Strategien des Menschen, das Unvertraute in die eigene Sphäre zu integrieren. Das mündl. oder schriftl. Erzählen über Erlebnisse in der Fremde oder mit fremden Menschen in der eigenen Lebenswelt hat erhebliche Bedeutung. Die Kulturgeschichte betont, daß das Fremde schon immer zu den menschlichen Grunderfahrungen gehört hat, und verweist auf das „sich rapide erweiternde Repertoire von Beschreibungs-, Darstellungs- und Spielformen, in welchen die interkulturelle ,Begegnung‘ dramatisch konfiguriert und ausagiert wird“12. Da in der interkulturellen Begegnung verschiedene Normalitäten aufeinanderstoßen, ist der implizite oder explizite Vergleich der eigenen ,normalen‘ Lebenswelt13 mit der als fremd oder befremdlich empfundenen anderen Lebenswelt ein typisches Merkmal solcher Erzählungen. Angesichts der Ambivalenz der Fremdheit zwischen Faszination und Bedrohlichkeit handeln solche Narrative fast immer von überraschenden, kritischen, konflikthaften, faszinierenden oder unerklärlichen Erfahrungen und Erlebnissen. War die Begegnung mit dem Fremden bis in die frühe Neuzeit auf bestimmte Berufsgruppen wie Händler, Seeleute, Pilger, Reisende, Soldaten, Kolonisten, Saisonarbeiter oder Fahrende beschränkt, so hat sie mit den großen Migrationswellen des 19. Jh.s, dem rapiden Wachstum des weltweiten Handels, der Flüchtlingsströme und des Massentourismus im 20. Jh. im Ausland wie auch daheim exponen-
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Interkulturalität
tiell zugenommen. Durch ihre ,Veralltäglichung‘ hat sie weithin ihre Exotik verloren14; die millionenfachen Begegnungen mit dem Fremden, etwa am Arbeitsplatz, im Urlaub15, in der Arbeitsmigration oder im Studium16, haben das alltägliche Erzählen wie auch dessen Inhalte verändert. Kulturkontakterzählungen treten in zahlreichen Genres und Formen auf. Neben den seit Jh.en wichtigen Reiseerzählungen und -tagebüchern (J Reise, J Reiseberichte) und Abenteuergeschichten gibt es Erzählungen über Begegnungen zwischen Mitgliedern ethnischer Gruppen (einschließlich Minderheiten, Migranten, Flüchtlinge17), Erzählungen von glücklichen oder unglücklichen Erlebnissen in fremden Ländern, z. B. von Touristen18, Auswanderern19, Geschäftsleuten, Ingenieuren, Diplomaten, Soldaten20, Austauschstudenten und -dozenten, Au-pair-Mädchen und Hotelpersonal. Im Internet kursieren heute unzählige Geschichten, in denen Erlebnisse und Erfahrungen mit dem Alltagsleben in fremden Ländern dargestellt werden, darunter Schilderungen von unerwartetem Verhalten, fremdartiger Nahrung, ,eigenartigen‘ Sitten und Gesten. Aus Erlebniserzählungen sind z. T. moderne Sagen hervorgegangen, in denen die Begegnung mit der exotisch-gefährlichen Fremde thematisiert wird21. Kulturkontakterzählungen werden auch mit pädagogischer Intention, für die Vorbereitung auf einen Auslandseinsatz oder auf die Arbeit in Institutionen verwendet22. 5 . E rz äh le n i m Kul tu rk on ta kt. Interaktionen mit Menschen aus anderen Kulturen können wegen der Unsicherheit der Beteiligten oft streßbeladen sein. „Werden Menschen aus verschiedenen, einander fremden Kulturen miteinander konfrontiert, so werden sie zunächst in einen Zustand des Irritiertseins versetzt. Sie sind sich fremd. Das Fremdartige, das Unbekannte des Andren ruft Angst hervor“23. Eine mögliche Strategie ist es in solchen Situationen, auf vertraute Ausdrucksformen zurückzugreifen: Das Erzählen von Anekdoten, Witzen oder Erlebnissen kann helfen, die Kommunikation zu erleichtern, Sympathie zu erzeugen und peinliche Situationen zu meistern. 1
cf. Straub, J.: Hb. interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stg. 2007; Hahn, A.: Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Sprondel, W. F.
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(ed.): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Ffm. 1994; Roth, K. und J.: Interkulturelle Kommunikation. In: Brednich, R. W. (ed.): Grundriß der Vk. B. 32001, 391⫺422. ⫺ 2 cf. Meder, T.: „There was a Turk, a Moroccan, and a Dutchman“. Narrative Repertoires in the MultiEthnic Neighbourhood of Lombok in the Dutch City of Utrecht. In: Wienker-Piepho, S./Roth, K. (edd.): Erzählen zwischen den Kulturen. Münster 2004, 237⫺258. ⫺ 3 ibid.; Roth, K.: Erzählen und Interkulturelle Kommunikation. In: id. (ed.): Mit der Differenz leben. Münster 1996, 63⫺78; id.: Erzählen zwischen den Kulturen. Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen Erzählforschung und Interkultureller Kommunikation. In: SAVk. 97 (2001) 145⫺156; id.: Erzählen vom „Anderen“. Zum Umgang mit kultureller Differenz im alltäglichen Erzählen. In: Wienker-Piepho/Roth (wie not. 2) 33⫺46. ⫺ 4 cf. Dundes, A.: Folk Ideas as Units of Worldview. In: Paredes, A./Bauman, R. (edd.): Toward New Perspectives in Folklore. Austin 1972, 93⫺103. ⫺ 5 cf. Roth 1996 (wie not. 3) 66 sq. ⫺ 6 Venuti, L.: Translation as Cultural Politics. Regimes of Domestication in English. In: Textual Practice 7,2 (1993) 208⫺223, hier 210; Roth, K.: Crossing Boundaries. The Translation and Cultural Adaptation of Folk Narratives. In: Fabula 39 (1998) 243⫺255, hier 249⫺ 252. ⫺ 7 cf. Holbek, B.: Stories about Strangers. In: Internat. Folklore Review 10 (1995) 5⫺9; Roth 2004 (wie not. 3) 33⫺35. ⫺ 8 Röhrich, L.: Der Witz. Stg. 1977, 217⫺291; Dundes, A.: Slurs Internat. Folk Comparisons of Ethnicity and National Characters. In: SFQ 39 (1975) 1⫺38; Davies, C.: Ethnic Humor around the World. Bloom. 1990. ⫺ 9 Brednich, R. W.: Die Spinne in der Yucca-Palme. Mü. 1990; id.: Die Maus im Jumbo-Jet. Mü. 1991; Klintberg, B. af: Legends and Rumours about Spiders and Snakes. In: Fabula 26 (1985) 274⫺287; id.: Die Ratte in der Pizza u. a. moderne Sagen und Großstadtmythen. Kiel 1990; Brunvand, J. H.: Enc. of Urban Legends 1⫺2. Santa Barbara 22012. ⫺ 10 cf. GörögKarady, V.: Le Folklore de me´pris. Le Tsigane dans la pense´e populaire europe´enne. In: Cahiers de litte´rature orale 30 (1991) 115⫺155; ead.: Ste´re´otypes ethniques et litte´rature orale. L’image du Juif a` travers deux contes merveilleux hongrois. In: ibid 44 (1998) 173⫺190; Skjelbred, A. H.: The Turks in Norway. Narratives and Function of Stereotypes in a Historical Setting. In: Fabula 31 (1990) 64⫺ 69. ⫺ 11 cf. Fischer, H.: Der böse Blick auf Andere. Ethnozentrische Wirkungen des Erzählens. In: WienkerPiepho/Roth (wie not. 2) 259⫺273. ⫺ 12 Honold, A./ Scherpe, K. (edd.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Ffm. 2000, 8. ⫺ 13 Bohannan, P./Elst, D. van der: Asking and Listening. Ethnography as Personal Adaptation. Prospect Hights 1998, 52; Roth 2004 (wie not. 3) 33 sq. ⫺ 14 cf. Roth, K.: I. und Alltag. In: Schmidt, J./Keßler, S./Simon, M. (edd.): I. und Alltag. Münster 2012, 13⫺30. ⫺ 15 cf. Wittich, T.: „Die Polizei
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Internet
blieb tatenlos“. Die narrative Bewältigung von Kriminalitätserfahrungen im Ausland. In: Wienker-Piepho/Roth (wie not. 2) 307⫺323. ⫺ 16 Roth 2004 (wie not. 3) 37⫺41. ⫺ 17 Lehmann, A.: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945⫺1990. Mü. 1991. ⫺ 18 cf. Greverus, I.-M.: Tourismus und Interkulturelle Kommunikation. In: Zs. für Kulturaustausch 28 (1978) 96⫺107; Gyr, U.: Touristenkultur und Reisealltag. In: ZfVk. 84 (1988) 206⫺223; Kramer, D. (ed.): Reise und Alltag. Ffm. 1992. ⫺ 19 cf. Mesenhöller, P.: Der Auswandererbrief. In: Hess. Bll. für Volksund Kulturforschung 17 (1985) 111⫺124; EM 14, 485⫺490, 1750⫺1754. ⫺ 20 Lehmann, A.: „Organisieren“. Über Erzählen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. In: Der Deutschunterricht 6 (1987) 51⫺ 63. ⫺ 21 Knierim, V.: Auto, Fremde, Tod. Automobile und Reisen in zeitgenössischen dt.sprachigen Sensationserzählungen. In: Fabula 26 (1985) 230⫺244; cf. Brednich 1990 (wie not. 9) num. 26⫺41; af Klintberg 1990 (wie not. 9) num. 13, 30, 60, 90. ⫺ 22 Brislin, R. W./Cushner, K. u. a.: Intercultural Interactions. L. 1986; Reisch, B.: Kulturstandards lernen und vermitteln. In: Thomas, A. (ed.): Kulturstandards in der internat. Begegnung. Saarbrücken 1991, 71⫺101; Müller, B.-D.: Sekundärerfahrung und Fremdverstehen. In: Bolten, J. (ed.): Cross Culture. Interkulturelles Handeln in der Wirtschaft. Sternenfels 1995. ⫺ 23 Loycke, A. (ed.): Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. Ffm. 1992, 104.
München
Klaus Roth
Internet 1. Wort, Begriff und kulturtheoretische Bedeutung ⫺ 2. Theoretische und methodische Herausforderungen ⫺ 3. Erzählpraxen, -formen und -formate ⫺ 4. Textarchive, Datenbanken und Linklisten
1 . Wor t, Be gr iff u nd ku lt ur th eo re ti s ch e B ed eu tu ng. Als globaler Verbund von Rechnernetzwerken und einzelnen Computern ermöglicht das I. (von engl. Internetwork) den weltweiten Austausch von Daten. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde es nicht nur zum führenden J Kommunikations-, Informations- und J Unterhaltungsmedium, sondern auch zum unverzichtbaren Bestandteil des gesamten politischen und sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Seine rasante Verbreitung brachte einen Modernisierungsschub mit sich, der in seiner Bedeutung mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar ist1.
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Vorläufer des I.s war das Arpanet. Es wurde in den 1960er Jahren im Auftrag der Defense Advanced Research Projects Agency vom Massachusetts Inst. of Technology in Boston entwickelt und verband anfangs lediglich die Forschungseinrichtungen von vier amerik. Univ.en. Ende der 1970er Jahre begann ⫺ immer noch auf universitäre Nutzung beschränkt ⫺ die Internationalisierung des I. s. Entscheidende Voraussetzung für seine Kommerzialisierung war das am Conseil Europe´en pour la Recherche Nucle´aire entwickelte World Wide Web (WWW), ein Netzwerk von Webseiten, die auf Servern gespeichert über Browser such- bzw. auffindbar sind. Die freie Verfügbarkeit des WWW (ab 1991) sowie die Integration anderer Anwendungen wie E-Mail und Diskussionsforen bildeten die Basis für den weltweiten Erfolg des I.s. Ab dem Jahr 2000 erreichte das I. in Hinblick auf Interaktivität und Konnektivität, aber auch Nutzung, Wahrnehmung und Demokratisierung eine neue Stufe, die zunächst mit dem Schlagwort Web 2.0 und später mit dem Begriff soziale Medien (Facebook, Twitter etc.) bezeichnet wurde. Kennzeichen der neuen Ära ist, daß die Anwender die Inhalte des I.s nicht mehr nur passiv konsumieren, sondern als ,Prosumenten‘ selbst produzieren. Dabei werden sie von interaktiven Anwendungen und sozialer Software (z. B. Blogs, Foren, Wikis) unterstützt. Zugleich hat das I. immer mehr Aufgaben von Telefon, Fax, Radio und Fernsehen übernommen, denn infolge technischer Neuerungen (Notebooks, Tabletcomputer, Smartphones) sowie der Weiterentwicklung von Hard- und Software für drahtlose Netzwerke können I.dienste unabhängig vom Aufenthaltsort der Anwender genutzt werden. Eine Trennung von realen und virtuellen Räumen, über die in der ersten Phase der I.nutzung viel theoretisiert wurde, macht inzwischen immer weniger Sinn. Vielmehr wird mittlerweile von einer neuen Form sozialen Raums ausgegangen, in dem Online- und Offline-Welten wechselseitig aufeinander einwirken. 2 . The or et is ch e u nd me th od is ch e H er au sf or de ru ng en. Die technischen Möglichkeiten ließen das I. rasch zu einem Medium vielfältigen Erzählens werden. Erzählungen konnten nun innerhalb kürzester Zeit größte
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Internet
Distanzen überwinden und zudem auch ein potentiell unbegrenzt großes Publikum erreichen. Angesichts dieser Situation stellte sich die Frage, ob das I. lediglich neue Kanäle der Verbreitung bietet und neue Werkzeuge zu deren Analyse bereitstellt oder ob die Kulturtechnik Erzählen nicht auf einer viel grundsätzlicheren Ebene von den neuen Technologien betroffen ist. Bereits in den frühesten Arbeiten zu dieser Problematik wurde die zweite Ansicht vertreten: Informationstechnologien und die von diesen verursachten neuen sozialen Beziehungen würden aktuell entstehende Erzählungen strukturell und ideologisch durchdringen2. Es gehe nicht darum, Parallelen für verschiedene Formen der Volksüberlieferung zwischen Online- und Offline-Kommunikation zu finden; der Forschungsgegenstand liege im Werkzeug selbst, also im I. und seinen Möglichkeiten3. Dieses beeinflusse den Alltag in einem so hohen Maße, daß bisherige Kriterien der Analyse von Erzählungen, etwa Fragen des J Kontexts und der J Performanz, völlig neu gedacht werden müßten4. Performanz, Aufzeichnung, Katalogisierung und Analyse seien lediglich als Versionen derselben ,teletronic gesture‘ zu sehen5. Trotz vielversprechender Anfänge widmete sich die Erzählforschung in den folgenden Jahren dem neuen Forschungsfeld nur zögerlich6. Bestrebungen zu übergeordneter Zusammenschau und internat. Zusammenarbeit wurden erst zu Beginn des 21. Jh.s sichtbar. 2005 wurde auf der Konferenz der Internat. Soc. for Folk Narrative Research in Tartu ein Committee for Folktales and the I. ins Leben gerufen, das unter der Leitung von T. Meder bisher vorrangig an Fragen der Archivierung und der Vernetzung, dem Aufbau einer internat. Online-Datenbank7 sowie der Verwendung gemeinsamer Suchmaschinen und Software arbeitet. R. W. J Brednichs Vorschlag, einen gemeinsamen Server zu etablieren8, wurde nicht aufgegriffen. Ein 2009 erschienener Sammelband bemüht sich ⫺ allerdings nur mit Blick auf die US-amerik. Folkloristik ⫺ um eine theoretische Rahmung der Folklore im I.9 Auf der Suche nach übergreifenden Merkmalen des Online-Erzählens wurden erneut Fragen diskutiert, die schon in den Anfängen des I.s gestellt worden waren. Dies betrifft zum einen ⫺ mit Blick auf Sprache, Form und
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Inhalt ⫺ die Beschaffenheit computervermittelter Kommunikation. Je nach Textsorte wird sie einmal näher zur Mündlichkeit, ein anderes Mal zur J Schriftlichkeit10, einmal näher zur direkten, ein anderes Mal zur indirekten oder auch zur Massenkommunikation gerückt11 oder als screen-to-screen-Kommunikation charakterisiert12. 3 . E rz äh lp ra xe n, -f or me n u nd -f or m at e. Aufgrund seiner Spezifik hat das Erzählen im I. eigene kommunikative Formen und Regeln sowie auch eigenständige Formate entwickelt13. Mehrfach wurde das Augenmerk auf Fragen des Kontexts, der Performanz und der Inszenierung der Erzähler zwischen der Anonymität und der Intimität des I.s gelenkt. So befaßt sich ein 2012 erschienener Sammelband mit der Thematik der Selbstrepräsentation und Identitätskonstruktion von I.nutzern in unterschiedlichen Anwendungen14. Insgesamt gesehen legen die technischen Möglichkeiten des I.s nahe, daß die Forschung sich primär auf die Praxis des Erzählens selbst fokussiert und weniger auf deren Produkte, die Erzählungen. Bezogen auf die Praxen des Erzählens zeichnen sich bei aller Unterschiedlichkeit einige gemeinsame, den technischen Bedingungen des I.s geschuldete Tendenzen ab. Die hohe Konnektivität des Mediums hat eine erhöhte Interaktivität zur Folge und ermöglicht so eine außerordentliche Lebendigkeit des Erzählens. Damit verbunden sind allerdings die oft nur kurze Lebensdauer bzw. die Vergänglichkeit der jeweiligen Erzählungen15. Bevorzugte Kommunikationsmedien sind E-Mails, teilweise eingebunden in Social Media-Plattformen, sowie Kurznachrichten, die über meist kostenlose Anwendungssoftware für Smartphones und Tabletcomputer gesendet werden. Gegenüber der Face-to-FaceKommunikation ist das Erzählen im I. häufig durch eine unmittelbarere und offenere Erzählweise gekennzeichnet16. Festzustellen ist des weiteren eine Neigung zu multimedialen Formen des Erzählens, also eine Erweiterung der Kommunikation um visuelle und auditive Elemente17. Die Bandbreite der im I. anzutreffenden Erzählstoffe umfaßt alle erdenklichen Lebensbereiche. Ebenso vielfältig sind die Formen bzw. Genres, die von den klassischen Gattungen
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über autobiogr. Erzählungen bis zu neuen, eng an die Technologie geknüpften Erzählformen und auch -praxen reichen. Erhebliche Unterschiede bestehen ⫺ unabhängig von den Genres ⫺ in den Gebrauchszusammenhängen, Kontexten und im Grad der Interaktivität. So kann eine Erzählung als elektronischer Text in einem Online-Archiv oder in neuer Funktion auf verschiedenartigsten Webseiten begegnen (z. B. AaTh/ATU 769: J Tränenkrüglein zur Unterstützung von Trauerarbeit)18. Anstelle einer Einteilung nach traditionellen und neuen Gattungen schlägt K. J Roth eine Gliederung des Erzählguts im I. nach dem Grad der Interaktivität in drei Gruppen vor19, freilich mit fließenden Übergängen: (1) Gänzlich ohne oder mit sehr geringer Interaktivität ausgestattet sind digitalisierte Slgen von Volkserzählungen, elektronische Textarchive und Linklisten, aber auch populäre J Lesestoffe und J Ratgeberliteratur. (2) Bevorzugtes Medium des interaktiven Erzählens ist die E-Mail. Vorrangige Räume sind das Usenet (bereits vor dem WWW existierender I.dienst, der ausschließlich die Möglichkeit textbasierten Austauschs bietet), des weiteren Diskussionsforen, teilweise auch interaktive Datenbanken, wie sie etwa in großer Zahl über Witze20 sowie über zeitgenössische Sagen und Gerüchte existieren. Ein breites Spektrum lebendigen Erzählens in Form autobiogr. Erzählungen bzw. persönlicher Erlebnisberichte fand sich bereits in der Frühphase des I.s in den Newsgroups und Mailinglisten des Usenets wieder. Sie boten Möglichkeiten des Austauschs über unterschiedlichste Erfahrungen des Alltags, z. B. über schwierige Lebensphasen21. Diese wichtige Funktion des Usenets ⫺ mitunter Selbsthilfegruppen vergleichbar ⫺ wurde zunehmend von neueren Diensten wie Foren oder Blogs übernommen. Foren und andere Webseiten werden auch als Medium der Erinnerungskultur genutzt, z. B. des Austauschs über traumatische Erfahrungen in totalitären Regimen22. Gerade hier zeigt sich die mitunter schonungslos offene Erzählweise bes. deutlich. Sie dürfte auf die Möglichkeiten des I.s zur Verschleierung der Identität zurückzuführen sein sowie auf den Umstand, daß die Teilnehmer an Newsgroups und Foren sich in der Regel nicht persönlich kennen.
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Ein weites Feld, das bes. durch die Möglichkeiten der elektronischen Post und des Anhängens von Dateien befördert wird, bilden kriminelle E-Mails des Typs Nigeria Connection23, ferner meist reich bebilderte Kettenbriefe und ein großes Spektrum an Bürofolklore (cf. J Xeroxlore) mit humorvollen, erotischen und sexuellen Inhalten24. Darüber hinaus wird das I. als Medium des erzählerischen Austauschs über Verschwörungstheorien genutzt, etwa über die Hintergründe terroristischer Aktivitäten25 oder der Immobilien- und Finanzkrise ab 2007. Ein weiterer umfangreicher und von der Erzählforschung erst ansatzweise erfaßter Bereich ist die Fan Fiction26: Als Genre des Weiter- oder Umerzählens von Lit. oder Film- und Fernsehserien kann sie als Weiterentwicklung des J alltäglichen Erzählens über Filme verstanden werden; sie funktioniert mittlerweile primär über das Medium I. Als eine Form populären, seriellen Erzählens ist Fan Fiction von der stärker mit literar. Ansprüchen verknüpften Hyper Fiction zu unterscheiden. (3) Durch die technischen Entwicklungen des Web 2.0 wurden I.dienste mit einem hohen Maß an Interaktivität möglich. Hier sind vor allem Chatrooms, Webchats, Blogs27 und Partnervermittlungsseiten zu nennen28. Sie erlauben eine nahezu synchrone Kommunikation und werden vielfältig als Medien alltäglichen, häufig lebensgeschichtlichen, meist sehr offenen Erzählens genutzt. Auf mehrfache Weise für die Erzählforschung interessant ist das weite Feld der Online-Rollenspiele, deren virtuelle Welten häufig traditionellen Mythologien, Sagenkreisen oder Fantasy-Universen entlehnt sind29. Als letzter Bereich sind die Social Media-Plattformen Twitter und Facebook anzuführen. Sofern man die dort geposteten Einträge als ,fragmented quotes‘ und ,ultrashort personal narratives‘30 betrachtet, stellen auch sie ein Forschungsfeld für die Erzählforschung im I. dar. 4 . Tex ta rc hi ve , D at en ba nk en un d L in kl is te n. Das I. stellt der Erzählforschung mittlerweile einen beeindruckenden Datenfundus zur Verfügung. Angesichts seiner Fülle kann dieser hier nur exemplarisch skizziert werden31. Ungeachtet der wachsenden Bedeutung neuer Formate und Medien des Erzäh-
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lens (Social Media-Plattformen) sind in den existierenden Datenbanken traditionelle Formen des Erzählens überrepräsentiert. In der Qualität bestehen erhebliche Unterschiede. Neben kommerziellen elektronischen Textarchiven stehen von Wissenschaftlern aufgebaute Datenbanken und Linklisten sowie Webseiten von ambitionierten Amateuren. Unsicher sind allerdings Lebensdauer und Verfügbarkeit der Webseiten. Geringe Vernetzung und damit auch Interaktivität haben Online-Bibl.en, die Volltextausgaben von Lit., darunter auch Slgen von Volkserzählungen, kostenlos zur Verfügung stellen. Die Voraussetzung dafür ist, daß die jeweiligen Urheberrechte erloschen sind. Das hat allerdings den Nachteil, daß nur ältere Bestände digitalisiert werden können. Ein frühes und erzählforscherisch interessantes Beispiel ist das Project Gutenberg, die wohl umfassendste virtuelle Bibl. überwiegend in engl. Sprache. Erzählforscher finden dort z. B. eine Ausg. des Pentamerone von J Basile oder mehrere ill. Ausg.n von J Tausendundeine Nacht. Noch ergiebiger ist das 1994 in Anlehnung an das amerik. Vorbild begonnene Projekt Gutenberg-DE, das größte Online-Lit.archiv in dt. Sprache. Es enthält z. B. äsopische Fabeln, die J Kinder- und Hausmärchen und die Dt. Sagen der Brüder J Grimm sowie die Volksmärchen der Deutschen von J Musäus. Online-Bibliotheken wie Google Books oder das Internet Archive stellen ebenfalls erzählforscherisch relevantes Material bereit. Als Beispiele für Webseiten, die von Wissenschaftlern aufgebaut und betreut werden und sich in erster Linie an ein Fachpublikum wenden, können Datenbanken genannt werden, die dem Werk einzelner Autoren oder regionalen Erzähllandschaften gewidmet sind32. Für die erste dieser Subkategorien sei das vom Department of Italian Studies der Brown Univ. entwickelte Decameron Web33 genannt, eine Online-Edition in engl. und ital. Sprache mit vielfältigen Hintergrundinformationen, reichem Bild- und Kartenmaterial, einem Syllabus, einem am Mot. orientierten Motivverzeichnis, alles verlinkt mit entsprechenden Textstellen des Decamerone. Als Beispiel für die zweite Subkategorie der regionalen virtuellen Slgen sei die Nederlandse Volksverhalenbank angeführt34. Im Januar 2014 wies diese Datenbank
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über 40000 Texte aller Genres vom Märchen bis zu zeitgenössischen Sagen und persönlichen Erlebnisberichten aus schriftl., mündl. und I.quellen (auch etwa Twitter) auf. Die Datenbank bietet umfangreiche Suchmöglichkeiten, liefert Angaben zum Kontext sowie AaTh/ATU-Nummern. Die umfangreichste wiss. Datenbank für traditionelle Volkserzählungen ist die von D. L. Ashliman seit 1996 aufgebaute Webseite Folklore and Mythology. Alphabetisch geordnet bietet sie überwiegend Var.n einzelner Erzähltypen, sofern möglich nach AaTh/ATU klassifiziert. Dazu kommen Einträge zu ausgewählten Sammlern und ihren Werken, z. B. die Texte der KHM sowie Sagenausgaben in engl. Übers. und dt. Orig.fassung (durch Link auf entsprechende Webseiten) mit AaTh/ATU-Nummern, bei den KHM teilweise auch Textvergleiche zwischen den verschiedenen Ausg.n. Eine dritte Gruppe von Einträgen betrifft einzelne Erzählstoffe wie z. B. antisemitische Erzählungen sowie den J Faust-Stoff. Wertvolle Hilfsmittel für die Erzählforschung können ferner Webseiten sein, die ausschließlich Linksammlungen enthalten, wie z. B. die ebenfalls von Ashliman erstellte Webseite Folklinks. Eine große Gruppe meist von Privatpersonen erstellter Webseiten bietet Materialien zu einzelnen Genres aktuellen alltäglichen Erzählens, vor allem zu den Bereichen Witz, zeitgenössische Sagen und Gerüchte. Am bekanntesten dürften hier die Urban Legends Reference Pages sein. Webseiten wie diese enthalten Angaben zu gedr. Slgen, beziehen ihr Material aber längst vorwiegend aus dem I. selbst. 1
Abbate, J.: Inventing the I. Cambr., Mass. 1999; Naughton, J.: A Brief History of the Future. The Origins of the I. Phoenix/L. 2000. ⫺ 2 Dorst, J.: Tags and Burners, Cycles and Networks. Folklore in the Teletronic Age. In: J. of Folklore Research 27 (1990) 179⫺190, hier 181. ⫺ 3 Kirshenblatt-Gimblett, B.: From the Paperwork Empire to the Paperless Office. Testing the Limits of the „Science of Tradition“. In: Folklore Interpreted. Festschr. A. Dundes. N. Y./L. 1995, 69⫺92. ⫺ 4 Schneider, I.: Erzählen im I. Aspekte kommunikativer Kultur im ZA. des Computers. In: Fabula 37 (1996) 8⫺27, hier 27; Dorst (wie not. 2) 184. ⫺ 5 ibid. ⫺ 6 z. B. De´gh, L.: Collecting Legends Today. Welcome to the Bewildering Maze of the I. In: Europ. Ethnologie und Folklore im internat. Kontext. Festschr. L. Petzoldt. Ffm.
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Klintberg, Bengt af
1999, 55⫺66; Meder, T.: „Veel geluk, meneer Gorsky!“ Volksverhalen op de electronische snelweg. In: Oost-Vlaamse Zanten 74,1 (1999) 47⫺58; Wiebe, K.: This is not a Hoax. Urban Legends of the I. Baltimore 2003; Rieken, B.: Oikotypen und Regionalismen von „Contemporary Legends“ im I.? In: Wienker-Piepho, S./Roth, K. (edd.): Erzählen zwischen den Kulturen. Münster 2004, 83⫺95; Krawczyk-Wasilewska, V.: Europ. Folklore in the Age of Globalization. In: Fabula 47 (2006) 248⫺254. ⫺ 7 Meder, T.: From a Dutch Database Towards an Internat. Folktale Database. ibid. 51 (2010) 6⫺22. ⫺ 8 Brednich, R. W.: Proposal for a Folklore Server System. In: ISFNR Newsletter 2 (2007) 6 sq. ⫺ 9 Blank, T. J. (ed.): Folklore and the I. Vernacular Expression in a Digital World. Logan 2009. ⫺ 10 cf. Kirshenblatt-Gimblett (wie not. 3) 73; Roth, K.: Erzählen im I. In: Erzählkultur. Festschr. H.-J. Uther. B./N. Y. 2009, 100⫺118; Foley, J. M.: Oral Tradition and the Internet. Urbana, Ill. 2012. ⫺ 11 Brednich (wie not. 8) 7⫺12; Roth (wie not. 10) 105; Fialkova, L./Yelenevskaya, M. N.: Ghosts in the Cyberworld. An Analysis of Folklore Sites on the I. In: Fabula 42 (2001) 64⫺89; Schönhagen, P.: Soziale Kommunikation im I. Zur Theorie und Systematik computervermittelter Kommunikation vor dem Hintergrund der Kommunikationsgeschichte. Bern 2004, 11. ⫺ 12 Schneider, I.: Erzählen und Erzählforschung im I. Tendenzen und Perspektiven. In: Schmitt, C. (ed.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster u. a. 2008, 225⫺242, hier 242. ⫺ 13 Roth (wie not. 10) 116. ⫺ 14 Meder, T./Krawczyk-Wasilewska, V./Ross, A. (edd.): Shaping Virtual Lives. Online Identities. Representations and Conducts. Ło´dz 2012. ⫺ 15 Fialkova/Yelenevskaya (wie not. 11) 75; Kropej, M.: Folk Narrative in the Era of Electronic Media. A Case Study in Slovenia. In: Fabula 48 (2007) 1⫺15, hier 13; Schneider (wie not. 12) 230. ⫺ 16 Blank (wie not. 9) 9. ⫺ 17 Schneider (wie not. 12). ⫺ 18 Maennersdoerfer, M. C.: Das Exempel der obsessiven Trauer im I. In: Jb. für Europ. Ethnologie 3 (2009) 203⫺217. ⫺ 19 Roth (wie not. 10) 109⫺114. ⫺ 20 cf. etwa Brednich, R. W.: www.worldwidewitz.com. Humor im Cyberspace. Fbg u. a. 2005. ⫺ 21 Schneider (wie not. 4 und 12). ⫺ 22 Roth (wie not. 10) 112⫺123. ⫺ 23 id.: „Sie mögen überrascht sein, diesen Brief von mir zu erhalten“. Phantastische E-Mail-Geschichten mit krimineller Absicht. In: Leben ⫺ Erzählen. Festschr. A. Lehmann. B./Hbg 2005, 391⫺407. ⫺ 24 Schneider (wie not. 12). ⫺ 25 z. B. Hathaway, R. V.: „Life in the TV“. The Visual Nature of 9/11 Lore and Its Impact on Vernacular Response. In: J. of Folklore Research 42 (2005) 33⫺56; cf. auch das von Hathaway aufgebaute 9/11 E-LoreArchive (im I.); Schneider, I.: 9/11 ⫺ fünf Jahre danach. Über Voraussetzungen und Folgen des Erzählens von Gerüchten und gegenwärtigen Sagen. In: kuckuck. Notizen zur Alltagskultur 2 (2006) 41⫺46; Domokos, M.: Folklore and Mobile Communication. SMS and Folklore Text Research. In: Fabula
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48 (2007) 50⫺59. ⫺ 26 Frizzoni, B.: Weiter- und Umerzählungen. Neuere Formen von Fan Fiction zu TV-Serien. In: Marzolph, U. (ed.): Strategien populären Erzählens. B. 2010, 51⫺63. ⫺ 27 Bruns, A. u. a. (edd.): The Uses of Blogs. N. Y. 2006; Schmidt, J.: Weblogs. Eine kommunikationssoziol. Studie. Konstanz 2006. ⫺ 28 Krawczyk-Wasilewska, V.: Matchmaking through Avatars. Social Aspects of Online Dating. In: Meder u. a. (wie not. 14) 89⫺100; Herlyn, G.: Partnersuche im I. Mediale Mythenbildung und Aneignungserfahrungen einer alltäglichen Kommunikationstechnik (im I. ). ⫺ 29 Trippe, R.: Virtuelle Gemeinschaften in Online-Rollenspielen. Eine empirische Unters. der sozialen Strukturen in MMORPGs. Münster 2009; Meder, T.: ,You Have to Make up Your Own Story Here‘. Identities in Cyberspace from Twitter to Second Life. In: id. u. a. (wie not. 14) 9⫺34; id.: I. In: Haase, D. (ed.): The Greenwood Enc. of Folktales and Fairy Tales. Westport/L. 2008, 489⫺495, hier 494. ⫺ 30 id. 2012 (wie not. 29) 19. ⫺ 31 id. 2008 und 2012 (wie not. 29). ⫺ 32 id. 2008 (wie not. 29). ⫺ 33 Schneider (wie not. 12) 228. ⫺ 34 Meder (wie not. 7); cf. auch Effelterre, K. van: www. volksverhalenbank.be. The Disclosure of a Rich Collection of Flemish Folk Legends on the I. In: Fabula 46 (2005) 314⫺323.
Innsbruck
Ingo Schneider
Klintberg, Bengt af, *Stockholm 25. 12. 1938, schwed. Volkskundler und Schriftsteller. Nach dem Studium der Allg. und Schwed. Lit.geschichte (1959⫺61), der Ethnographie (1960) und der Nord. Vk. (1960⫺62) an der Univ. Stockholm arbeitete af K. im Archiv des Nordiska Museet: 1962⫺64 als Assistent von C.-H. J Tillhagen, 1973/74 als dessen Nachfolger. 1967⫺87 lehrte er Vk. an der Univ. Stockholm, seitdem ist er freischaffender Forscher und Schriftsteller. 1993 wurde er Mitglied der Kungl. Gustav Adolfs Akademien för svensk folkkultur in Uppsala. Im Jahr 2000 wurde ihm der Ehrendoktortitel der Univ. Stockholm verliehen, 2006 der Titel eines Professors. Af K. hat eine große Anzahl wiss.1 wie auch populärwiss.2 Arbeiten zu folkloristischen Themen, aber auch zu Kunst und Lit. vorgelegt3 sowie Gedichtsammlungen und Kinderbücher publiziert4. In seinen Radioprogrammen Folkloristisk brevla˚da (1984⫺89) und Folkminnen (1990⫺2004) diskutierte af K. im Dialog mit den Hörern eine große Zahl volkskundlicher Themen5. Die daraus hervorgegan-
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Kohl-Larsen, Ludwig
gene umfangreiche Hörerbriefsammlung mit Angaben zu moderner Überlieferung und Bräuchen befindet sich im Archiv des Nordiska Museet in Stockholm. Af K.s kommentierte Textausgaben Svenska trollformler (Stockholm 1965) und Svenska folksägner (Stockholm 1972) bieten Einführungen zu Zaubersprüchen und Sagen. Bes. das letztgenannte Werk hat ⫺ abgesehen davon, daß es auch im universitären Unterricht eingesetzt wurde ⫺ in der schwed. Öffentlichkeit wesentlich zur Steigerung des Interesses an Volkssagen beigetragen. Auch af K.s Slg moderner Sagen Ra˚ttan i pizzan. Folksägner i va˚r tid (Stockholm 1986 u. ö.) war ausgesprochen erfolgreich; sie wurde ins Dänische, Norwegische und Deutsche übersetzt6 und trug der Gattung in Schweden die Bezeichnung ,klintbergare‘ ein. Es folgten Den stulna njuren. Sägner och rykten i va˚r tid (Stockholm 1994), Glitterspray och 99 andra klintbergare (Stockholm 2005) sowie Aufsätze zu modernen Sagen7. Auf der Grundlage von Slgen der vier größten schwed. Folklore-Archive ⫺ in Göteborg, Lund, Stockholm und Uppsala ⫺ und einer großen Menge an gedr. Materialien hat af K. den schwed. Sagenkatalog, The Types of the Swedish Folk Legend (FFC 300) (Hels. 2010), ausgearbeitet. Der Katalog, der sowohl mythol. als auch (kultur-)hist. Sagen behandelt, verzeichnet 1800 Sagentypen aus der schwed. und finnlandschwed. vorindustriellen bäuerlichen Gesellschaft. Neben der Beschreibung der jeweiligen Sage enthält er Informationen u. a. zu Verbreitung, veröff. Aufzeichnungen und offenen Forschungsfragen. Darüber hinaus hat af K. ältere Slgen herausgegeben: Mit Norrländsk folktradition (Uppsala 2004) legte er eine kommentierte Ausw. der Aufzeichnungen der schwed. Volkskundlerin E. Odstedt (1892⫺1967) vor. 2011 gab er die von dem schwed. Sammler G. Ericsson (1820⫺94) aufgezeichneten Sagor fra˚n Södermanland (Uppsala) heraus. Mit dieser Veröff. von rund 300 Märchen, einer der wichtigsten schwed. Märchensammlungen, brachte af K. die 1937 von S. J Liljeblad und J. Sahlgren begründete Reihe Svenska sagor och sägner 1⫺ 12 (1937⫺61) nach einer Pause von 40 Jahren zum Abschluß.
1728
In kleineren Studien hat sich af K. mit Themen populärer Erzählüberlieferung befaßt, so mit AaTh/ATU 755: J Sünde und Gnade 8. Af K.s kleinere Arbeiten mit folkloristischer Ausrichtung sind in Harens klagan och andra uppsatser om folklig diktning (Stockholm 1978; 2. erw. Ausg. 1982) und Kuttrasju. Folkloristiska och kulturhistoriska essäer (Stockholm 1998) zusammengefaßt. 1
z. B. K., B. af: Negervitsar. In: Tradisjon 13 (1983) 23⫺45; id.: „Black Madame, Come out!“ On Schoolchildren and Spirits. In: Arv 44 (1988) 155⫺167; id.: Die doppelte Prophezeiung. In: Dona Folcloristica. Festschr. L. Röhrich. Ffm. 1991, 113⫺125; id.: Die Langtüttin. In: Europ. Ethnologie und Folklore im internat. Kontext. Festschr. L. Petzoldt. Ffm. 1997, 453⫺463. ⫺ 2 z. B. id.: En tjottablängare mellan lysmaskarna. Na˚got om ekenssnacket i litteratur och folklore. Stockholm 1991. ⫺ 3 z. B. id.: Svensk Fluxus/Swedish Fluxus. Stockholm 2006. ⫺ 4 cf. Tryckta skrifter av B. af K. 1956⫺2007. Uppsala 2008. ⫺ 5 id.: Folkloristisk brevla˚da. Stockholm 1991; id.: Folkminnen. Stockholm 2007. ⫺ 6 id.: Rot˚ rten i pizzaen. 100 af hverdagens vandrehistorier. A hus 1988; id.: Den stja˚lne svigermor og andre moderne vandrehistorier. Oslo 1987; id.: Die Ratte in der Pizza u. a. moderne Sagen und Großstadtmythen. Kiel 1990 (Neudr. u. d. T. Der Elefant auf dem VW u. a. moderne Sagen und Großstadtmythen. Mü. 1992). ⫺ 7 id.: Modern Migratory Legends in Oral Tradition and Daily Papers. In: Arv 37 (1981) 153⫺160; id.: Why Are there so many Modern Legends about Revenge? In: Smith, P. (ed.): Perspectives on Contemporary Legend 1. Sheffield 1984, 141⫺ 146; id.: Legends and Rumours about Spiders and Snakes. In: Fabula 26 (1985) 274⫺287; id.: Legends Today. In: Kvideland, R./Sehmsdorf, H. K. (edd.): Nordic Folklore. Recent Studies. Bloom. 1989, 70⫺ 89; id.: Do the Legends of Today and Yesterday Belong to the Same Genre? In: Röhrich, L./WienkerPiepho, S. (edd.): Storytelling in Contemporary Societies. Tübingen 1990, 113⫺123. ⫺ 8 id.: Die Frau, die keine Kinder wollte. Moralvorstellungen in einem nord. Volksmärchen (AaTh 755). In: Fabula 27 (1986) 237⫺264; id.: The Parson’s Wife. An Analysis of a Tale Recorded by Evald Tang Kristensen. In: Chesnutt, M. (ed.): Telling Reality. Gedenkschrift B. Holbek. Kop./Turku 1993, 75⫺87.
Göteborg
Fredrik Skott
Kohl-Larsen, Ludwig (Geburtsname Kohl, Heirat mit Margit Larsen 1913), *Landau 5. 4. 1884, † Thumen bei Lindau am Bodensee 12. 11. 1969, dt. Arzt, Forschungsreisender, Paläontologe, Anthropologe und Erzählfor-
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Konfuzianismus
scher1. K.-L. studierte 1904⫺08 Jura und Medizin in München, Freiburg und Innsbruck. 1909 erhielt er in Karlsruhe die Approbation und war danach als Arzt tätig. 1914 wurde er in Freiburg in Medizin promoviert2. Ab 1911 nahm K.-L. an zahlreichen Forschungsreisen in die Antarktis3, durch Norw.-Lappland4, nach Mesopotamien, in die Südsee5, in die Arktis6 und nach Ostafrika7 teil, über die er Reiseberichte veröffentlichte. 1915/16 studierte er Geologie, Geographie, Zoologie, Paläontologie und Anthropologie in Heidelberg; danach war er als Militärarzt im Irak und im Iran stationiert, 1919⫺26 arbeitete er als Arzt in Norwegen, danach am Bodensee. In Ostafrika führte er seit 1932 völkerkundliche und sprachwiss. Forschungen durch, so 1934⫺36 und 1937⫺39 Expeditionen, bei denen er u. a. Knochen von Vormenschen fand8. 1939 wurde er zum Honorarprofessor an der Univ. Freiburg und aufgrund der Überlassung seiner umfangreichen ethnogr. Slgen 1941 zum außerordentlichen Professor an der Univ. Tübingen ernannt. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs und seiner Entnazifizierung (1948; Mitglied der NSDAP seit 1930) war K.-L. 1949⫺ 53 an der Univ. Tübingen am Inst. für Ur- und Frühgeschichte und am Lehrstuhl für Völkerkunde mit bes. Berücksichtigung der Kulturgeschichte Afrikas beschäftigt9. K.-L.s politische und kulturpolitische Ansichten dürften angesichts seines frühen Bekenntnisses zur nationalsozialistischen Ideologie (J Nationalsozialismus) bestenfalls als fragwürdig eingeschätzt werden. Seine umfangreiche Slg afrik. und lapp. Erzählguts, die er seit den 1950er Jahren im Erich Röth Verlag in Eisenach bzw. Kassel veröffentlichte, besitzt allerdings als weitgehend unkommentierte Materialzusammenstellung nach wie vor Bedeutung für die internat. Erzählforschung. Bes. in Ostafrika zeichnete er Erzählungen unterschiedlichster Genres auf, so Mythen, Legenden, Sagen, Märchen, Riesen-, Diebs- und Tiergeschichten, Schwänke sowie Stammesund Ursprungssagen ostafrik. Bauern- und Nomadenstämme10. Seine in den 1920er Jahren und während des 2. Weltkriegs aufgenommenen lapp. Erzählungen enthalten u. a. Märchen über Trolle, Hexen und Schamanen11. Die von K.-L. aufgezeichnete Lebensgeschichte des Rentierhirten und Erzählers Siri Matti wurde posthum veröffentlicht12.
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1
K.-L., L.: Der Mann, der Lucy’s Ahnen fand. Lebenserinnerungen und Materialien. ed. E. Renner. Landau 1991. ⫺ 2 K., L.: Zur Frage der puerperalen Morbidität und Mortalität. Diss. Fbg 1914. ⫺ 3 id.: Zur grossen Eismauer des Südpols. Eine Fahrt mit norw. Walfischfängern. Stg. 1926; K.-L., L.: An den Toren der Antarktis. Stg. 1930. ⫺ 4 K., L.: Nordlicht und Mitternachtsonne. Erlebnisse und Wanderungen in Lappland. Stg. 1926. ⫺ 5 id.: Leben, Liebe, Träume in einem Südseeparadies. Stg. 1927 (Neuaufl. als K.-L., L.: Unter roten Hibiskusblüten. Kassel/Eisenach 1957). ⫺ 6 K.-L., L.: Die Arktisfahrt des „Graf Zeppelin“. B. 1931. ⫺ 7 id./Kohl-Larsen, M.: Felsmalereien in Innerafrika. Ein Bildwerk geschichtlicher und vorgeschichtlicher Kunst. Stg. 1938; K.-L., L.: Auf den Spuren des Vormenschen. Forschungen, Fahrten und Erlebnisse in Dt.-Ostafrika 1⫺2. Stg. 1943. ⫺ 8 ibid.; id. (wie not. 1) 172⫺ 203. ⫺ 9 Univ.ssarchiv Tübingen, Signatur Uat 126a/ 264; freundliche Mittlg M. Wischnath, Tübingen. ⫺ 10 K.-L., L.: Das Elefantenspiel. Eisenach/Kassel 1956; id.: Simbo Janira. Kleiner großer schwarzer Mann. Eisenach/Kassel 1956; id.: Das Zauberhorn. Kassel/Eisenach 1956; id.: Der Hase mit den Schuhen. Kassel/Eisenach 1958; id.: Das Kürbisungeheuer und die Ama’irmi. Kassel 1963; id.: Schwarzer Eulenspiegel. Kassel 1964; id.: Der Perlenbaum. Kassel 1966; id.: Die Frau in der Kürbisflasche. Kassel 1967; id.: Fünf Mädchen auf seinem Rücken. Kassel 1969; id.: Der Hasenschelm. Kassel 1976; id.: Die Leute im Baum. Kassel 1978. ⫺ 11 id.: Reiter auf dem Elch. Kassel 1971; id.: Die steinerne Herde. Kassel 1975; id.: Das Haus der Trolle. Kassel 1982. ⫺ 12 Das Leben des Rentierlappen Siri Matti. Von ihm selbst erzählt. Aufgezeichnet von L. K.-L. ed. E. Renner. Ffm./N. Y. 1994.
Göttingen
Johanna Ella
Konfuzianismus. Der Terminus K. umfaßt ⫺ in Abgrenzung zu in China als homogen rezipierten Lehren wie dem Christentum1 ⫺ eine Vielzahl ethisch-moralischer Gebote und deren institutionelle Repräsentationen2. Gründergestalt des K. ist der im Westen mit dem latinisierten Namen Konfuzius genannte Kong Qiu (ca 551⫺479 v. u. Z.), der unter dem Ehrennamen Kong Fuzi (Väterchen Kong) bekannt war. Kong war ein niederer Edelmann aus dem Staat Lu. Er verfolgte zunächst eine politische Karriere und brachte es bis zum Justizminister. Als er sich jedoch gegen die Politik des Fürsten wandte, mußte er fliehen und stellte sich als politischer Berater in den Dienst von Fürstenhöfen der Lehnsstaaten. Später kehrte er nach Lu zurück, wo er eine Schule
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Konfuzianismus
für junge Adlige eröffnete. Aus den von seinen Schülern gesammelten Aussprüchen entstanden die konfuzianischen Lehrgespräche (Lun Yu). Kong versteht sich darin nicht als Erschaffer einer Lehre, sondern als Überlieferer, der an eine wesentlich ältere Tradition anknüpft; hierauf deutet u. a. der Vergleich, den er zwischen sich und dem ,alten Pong‘ anstellt3. Der K. hat die chin. Kultur über zwei Jahrtausende wesentlich geprägt ⫺ u. a. gab es ab 140 v. u. Z. einen Staatskult, in dessen Zentrum die von Konfuzius formulierten Lehren standen4. Im 20. Jh. erlebte der K. einen neuerlichen Aufschwung5. Während in Taiwan die traditionelle Bildung aufgrund der wertkonservativen Ausrichtung seit der Eigenstaatlichkeit einen hohen Stellenwert einnimmt, wird der K. seit kurzem auch in der Volksrepublik China von Seiten des Staats als ideologische Grundlage propagiert6. Allg. läßt sich der K. funktional verstehen als staatstragende Haltung, die Werte wie Loyalität, Vertrauenswürdigkeit, korrektes Verhalten bzw. Rechtschaffenheit, Mitmenschlichkeit, kindlichen Gehorsam und durch Gelehrsamkeit erreichte Weisheit hochhält. Staat und Gesamtgesellschaft, als deren Keimzelle die patriarchal geprägte Familie gilt, werden darin als höchstes Gut propagiert, bewahrt und geschützt durch rituelle Praxis. Der Sohn folgt dem Vater ebenso wie der Beamte dem Fürsten, die Frau ist dem Vater und später dem Ehemann untergeordnet, der jüngere Bruder dem älteren. Diese als moralische Richtlinien verstandenen Grundsätze werden durch Beispiele aus der Vergangenheit illustriert, die sich zahlreich in den vom K. als ,Leitfaden‘ kanonisierten Schriften finden. Der konfuzian. Schriftenkanon entstand während der Han-Dynastie (206 v. u. Z.⫺220 n. u. Z.) als eine Folge der Rekompilierung dieser Schriften nach der 213 v. u. Z. erfolgten Bücherverbrennung. Er umfaßt hist. Werke, Schriften zu den Riten, eine Gedichtanthologie und das im Westen bekannte mantische Werk Yi Jing (Buch der Wandlungen)7. Erzählungen aus vorgeschichtlichen Zeiten wird dabei derselbe Wahrheitsgehalt zugestanden wie hist. Begebenheiten. In der späten Kaiserzeit des 2. nachchristl. Jahrtausends unterlag die chin. Lit. einer konfu-
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zian. Ideologisierung8, in deren Rahmen gefordert wurde, daß Lit. nicht nur schön, sondern auch moralisch gehaltvoll zu sein habe. Daher ist ein großer Teil der literar. Schriften dieser Epoche in bes. Maß von den konfuzian. Grundsätzen geprägt. Als exemplarisch für das überaus diverse und umfangreiche konfuzian. Erzählgut kann ein ⫺ oftmals mündl. überliefertes ⫺ Erzählgenre gelten, das sich mit moralischen Beispielgeschichten an Heranwachsende und wenig Gebildete wendet, wobei vorbildhaft bes. tugendhaftes kindliches Verhalten vermittelt werden soll. Zentral hierfür ist die im 13./ 14. Jh. entstandene Slg Ershisi xiao (24 Beispiele [von Kindespietät]) des Guo Jujing9. Das darin enthaltene didaktische Erzählgut, das die Moral und das Verhalten der Bevölkerung prägen sollte, war im traditionellen China Allgemeingut. Die Geschichten sind sehr knapp und bestehen z. T. nur aus wenigen Sätzen. Stets geht es um „eine Person, die in Übereinstimmung mit den konfuzian. Prinzipien die Eltern-Kind-Beziehung in vorbildhafter Weise pflegt. Die verschiedenen Dynastien dienen bei diesen 24 Geschichten dabei als hist. Rahmenwerk.“10 Die Zahl 24 suggeriert eine zyklische Vollständigkeit, teilt doch der chin. Bauernkalender das Jahr in 24 Phasen zu je zwei Wochen ein. Alle Geschichten handeln von außerordentlicher Selbstaufopferung der Kinder bzw. von außergewöhnlichen Taten, mit denen diese Epigonen der Kindespietät beeindrucken, wobei gelegentlich die Tugend über Gebühr und gesunden Menschenverstand hinaus im Mittelpunkt steht: Der spätere Konfuzius-Schüler Zi-Lu nimmt eine weite Reise und große Strapazen auf sich, damit seine Eltern nach langer Zeit der Entbehrung wieder einmal Reis essen können11. Wu Meng ermöglicht seinen armen Eltern einen erholsamen Schlaf: Da sie sich kein Moskitonetz leisten können, bietet er sich nackt den Stechmücken an12. Manche Erzählungen thematisieren innerfamiliäre Konflikte: Wang Xiang wird von seiner Stiefmutter geschlagen, die ihr leibliches Kind vorzieht und ihm noch nicht einmal anständige Kleidung zugesteht. Dennoch legt er sich im Winter ohne Kleider aufs Eis und ,schmilzt‘ ein Loch hinein, um für die Stiefmutter aus dem zugefrorenen See einen Karpfen fischen zu können13. Andere Geschichten behandeln Opfer oder pietätvolle Taten: Yu Qianlou vernachlässigt seine Kindes-
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Lehmann, Christian
pflicht, indem er fern der Heimat einen Beamtenposten annimmt. Als sein Vater erkrankt, eilt er nach Hause. Dort teilt ihm der Arzt mit, daß die Wirksamkeit der verabreichten Medizin nur eingeschätzt werden könne, wenn man die Exkremente des Vaters auf ihren Geschmack hin prüfe. Dies tut der Sohn14. Das Mädchen Yang Xiang überwindet seine natürliche Furcht und verteidigt den Vater gegen einen Tiger. Es springt auf die Raubkatze und würgt sie, bis sie vom Vater abläßt; danach trägt es den verletzten Vater nach Hause15. Wang Pou tröstet seine schreckhafte Mutter nicht nur zeitlebens bei jedem Gewitter und läuft dafür auch aus großer Entfernung und ohne Rücksicht auf schlechtes Wetter nach Hause. Nach dem Tod der Mutter behält er diese Sorge für ihr Grab bei. Da er sich noch nicht einmal beim Einmarsch feindlicher Truppen vom Grab der Mutter entfernt, wird er getötet. In der Erinnerung dient er als vorbildliche Verkörperung von Kindespietät16. Als die Großmutter in einem Dreigenerationenhaushalt in der Übergangszeit zwischen zwei Dynastien Hunger leidet, sieht ihr Sohn nur den Ausweg, seinen einzigen Sohn zu töten, um so mehr Nahrung zur Verfügung zu haben. Sein Argument lautet, daß er und seine Frau immer wieder Kinder bekommen könnten, eine Mutter gäbe es im Leben hingegen nur einmal (cf. auch AaTh/ATU 985: J Bruder eher als Gatten oder Sohn gerettet). Als die Eltern vor der Tat das Grab für ihren Sohn ausheben, stoßen sie auf einen Sack voller Goldstücke, so daß ihre Probleme gelöst sind17. 1
Jensen, L.: Manufacturing Confucianism. Durham/ L. 1997, 137⫺144. ⫺ 2 Eder, M.: K. In: LThK 6 2 ( 1961) 435⫺438. ⫺ 3 Kungfutse: Gespräche (Lun Yü). Übers. R. Wilhelm. Jena 1914, 61 (7,1). ⫺ 4 cf. Nylan, M./Wilson, T.: Lives of Confucius. Civilization’s Greatest Sage Through the Ages. N. Y. u. a. 2010, 68⫺72. ⫺ 5 Jensen (wie not. 1) 188⫺193. ⫺ 6 Guo, Yingjie: Cultural Nationalism in Contemporary China. The Search for National Identity under Reform. L. 2004, 72⫺88. ⫺ 7 cf. Nylan, M.: The Five „Confucian“ Classics. New Haven 2001, 23⫺ 51. ⫺ 8 Bol, P.: This Culture of Ours. Intellectual Transitions in T’ang and Sung China. Stanford 1992, 176⫺184. ⫺ 9 [Guo Jujing:] Ren Bonian Ershisi xiao tu (Die 24 Geschichten zur Kindespietät mit Illustrationen von Ren Bonian). Tianjin 2009; Plank, I./Hong-Chen, C.: Die 24 chin. Geschichten kindlicher Pietät. Bochum 1997 (nach Zhongrong Qu: Jiaozheng jinwen xiaojing Ershisi xiao kao [Textkritisch geprüfte und korrigierte Ausg. der 24 Geschichten zur Kindespietät]. Taipeh 1981). ⫺ 10 ibid., i. ⫺ 11 Guo Jujing (wie not. 8) 10; Plank/Hong-Chen (wie not. 8) 27. ⫺ 12 Guo Jujing (wie not. 8) 28; Plank/ Hong-Chen (wie not. 8) 57. ⫺ 13 Guo Jujing (wie not. 8) 24; Plank/Hong-Chen (wie not. 8) 63. ⫺ 14 Guo Jujing (wie not. 8) 50; Plank/Hong-Chen (wie not. 8) 81. ⫺ 15 Guo Jujing (wie not. 8) 26; Plank/ Hong-Chen (wie not. 8) 71. ⫺ 16 Guo Jujing (wie
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not. 8) 44; Plank/Hong-Chen (wie not. 8) 103. ⫺ 17 Guo Jujing (wie not. 8) 22; Plank/Hong-Chen (wie not. 8) 67.
Zürich
Marc Winter
Lehmann, Christian, *Königswalde (bei Annaberg) 11. 11. 1611, † Scheibenberg 11. 12. 1688, dt. evangel. Pfarrer, Historiograph des Erzgebirges und des 30jährigen Krieges. Ab 1622 besuchte L. die Fürstenschule in Meißen; 1625 ging er auf Geheiß seines Vaters, eines Pfarrers, nach Halle, wo er sich als Kurrendesänger den Lebensunterhalt verdienen mußte und Hungersnöte und Pestjahre überstand. 1627/28 zog er nach Guben, 1631 nach Stettin. Dort fand er Aufnahme im Paedagogium regium illustre, beendete das Studium aber vermutlich nicht. 1632 war er beim Pfarrer von Löcknitz als Hauslehrer tätig; 1633 wurde er zur Unterstützung seines Vaters als Hilfsgeistlicher nach Elterlein berufen; ab 1638 war er Pfarrer im nahen Scheibenberg. Dort erlebte L. die Auswirkungen des 30jährigen Krieges am eigenen Leibe (mehrfache Flucht vor den Schweden, Gefangenschaft, Mißhandlungen). Unter Einsatz seines Lebens bewahrte er Scheibenberg 1647 vor der völligen Zerstörung. 1688 starb er nach mehr als 50jähriger Tätigkeit im Pfarrdienst; sein Grabstein befindet sich heute in der Scheibenberger Kirche1. Auf seinen zahlreichen Reisen durch das Erzgebirge notierte L. Bemerkenswertes und Merkwürdiges, sammelte Erzählungen unterschiedlicher Berufsgruppen und hinterließ auf diese Weise für die Kulturgeschichte und Erzählforschung gleichermaßen wichtige Aufzeichnungen über die Region und ihre Bewohner. Die Mss. sind nur unvollständig vorhanden, teilweise wurden sie posthum ediert2. Nicht immer eindeutig zu klären ist, ob und welche Einfügungen später von Familienmitgliedern erfolgt sind, zumal L.s Schriften als „das Werk einer Schriftstellerfamilie“3 anzusehen sind. L.s bedeutendstes Werk, Hist. Schauplatz derer natürlichen Merckwürdigkeiten in dem Meißn. Ober-Ertzgebirge (Lpz. 1699), ist eine über 1000 Seiten starke, mit zahlreichen Abb.en versehene Slg. Die von I.-M. J Greverus eingehend analysierte Slg mit „Geschichten
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Maida¯nı¯, Abu¯ ’l-Fadø l Ahø mad ibn Muhø ammad al-
der ,kleinen Leute‘“4 ermöglicht eine Diskussion über tradiertes Erzählgut und den Prozeß der Entmythisierung und Rationalisierung sowie eine Betrachtungsweise unter funktionalistischen Aspekten, die Differenzierungen innerhalb des Volksglaubens und einer volkstümlichen Weltsicht erlaubt. In Anlehnung an Greverus lassen sich für L.s Slg folgende Themenkomplexe ausweisen5: Prodigien und Signa; Tote und Totgeglaubte; Begegnungen mit Geistwesen und dämonischen Tieren; Schätze, Schatzorte und Schatzhebung; Praktiken magischer Art; Menschen mit außergewöhnlichem Aussehen und Verhalten; Katastrophen, natürliche und unnatürliche Todesfälle, Unglücksfälle; Errettung aus Notsituationen, Wunderheilungen.
Die Prinzipien bei der Wiedergabe dieser von L. so bezeichneten Begebenheiten, Memorabilia, Geschichten, Historien, Berichte, Casus, Exempel, Allfantzereien, Fabeleien, Märlein und Wunder (Mirakel) unterscheiden sich nicht von denen seiner Zeitgenossen. Im Bemühen um J Authentizität versah L. seine Schilderungen oft mit zeitlichen Angaben, nannte Gewährspersonen und lokalisierte das Geschehen. Selbst weitverbreitete Stoffe erfuhren so eine Verortung im Erzgebirge, z. B. die sog. Frauenjagdsage (Mot. E 591.5.1)6 bei Grumbach und Steinbach7 oder die seit dem MA. bekannte schwankhafte Geschichte AaTh/ATU 1157: cf. J Bärenführer bei Buchholz8. L. führte über 300 Qu.n an, die er mit Beobachtungen aus eigenem Erleben verband. Einerseits beschrieb er die häufig als Memorate anzusehenden Geschehnisse vor dem Hintergrund seines christl. Weltbildes, verschloß sich aber auch naturwiss. Erkenntnissen nicht und begründete z. B. die Entstehung von Erdbeben, Kometen oder Irrlichtern rational. Andererseits war er nicht frei von tradierten abergläubischen Vorstellungen. L.s Hist. Schauplatz hatte eine große Nachwirkung und diente bes. Herausgebern von Sagensammlungen ⫺ u. a. den Brüdern J Grimm (Grimm DS 36), W. Ziehnert, J. G. T. J Grässe, J. A. E. Köhler, A. Meiche und F. Sieber ⫺ als Qu.9 für Überlieferungen des Erzgebirges. Diese verzichteten allerdings auf die Wiedergabe der subjektiven Meinungsäußerungen L.s sowie auf den erzählerischen Kontext und trugen daher zu einer Remythisierung
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der Geschichten bei. Innerhalb der Regionalkultur des Erzgebirges kommt L.s Werk auch in heutiger Zeit eine wichtige Rolle zu10. 1
Häntzsch, V.: L., C. In: ADB 51 (1906) 616⫺618; Roth, F.: L., C. In: HDA 5 (1932⫺33) 1013⫺1019; cf. bes. id.: Der Aberglaube im Erzgebirge nach den Schr. C. L.s. (Diss. Marburg 1930) Schwarzenberg 1932; Lehmann, E. von: Geschichte der Familie von L. [Schwarzenberg 1939]; Rüger, C. A.: C. L. d. Ä., 1611⫺1688. Ein Pfarrer im Toben des Dreißigjährigen Krieges. Stg. 1977. ⫺ 2 C. L.s Sen. […] Hist. Schauplatz derer natürlichen Merckwürdigkeiten in dem Meißn. Ober-Ertzgebirge […]. Lpz. 1699 (Nachdr.e: Ausführliche Beschreibung des Meißn. OberErtzgebürges. Lpz. 1747 [Stg. 1988]; Erzgebirgsannalen des 17. Jh.s. Von Unwettern/Tieren in Wald und Haus/Kuriositäten/Pestilenzen und Spukereien. Nachwort H. Obst. B. 1986 u. ö.); Nachricht von Wahlen: wer sie gewesen, wo sie Gold-Erz aufgesucht, und gefunden […] von C. G. L. [i.e. Christian Gottlieb Lehmann]. Ffm./Lpz. 1764; L., C.: Chronicon Scheibenbergense. Beschreibung der Kurfürstlich Sächs., freien und im Meißn. Obererzgebirge gelegenen, löblichen Bergstadt Scheibenberg. Bis zum Jahr 1679 aufgezeichnet. ed. L. Mahnke. Scheibenberg 1992; id.: Die Kriegschronik. Sachsen mit Erzgebirge. ed. H. Heidler. Annaberg 1911 (Nachdr. Scheibenberg 1998 [22009]). ⫺ 3 HDA 5, 1015. ⫺ 4 Greverus, I.-M.: Die Chronikerzählung. Ein Beitr. zur Erzählforschung am Beispiel von Chr. L.s „Hist. Schauplatz“ (1699). In: Volksüberlieferung. Festschr. K. Ranke. Göttingen 1968, 37⫺80, hier 42. ⫺ 5 ibid., 54⫺64. ⫺ 6 Röhrich, L.: Die Frauenjagdsage […]. In: Laographia 22 (1965) 408⫺423; Greverus (wie not. 4) 43 sq. ⫺ 7 L. 1699 (wie not. 2) 78 sq., 187; Greverus (wie not. 4) 44⫺46. ⫺ 8 L. 1699 (wie not. 2) 668. ⫺ 9 cf. Aufstellungen bei Greverus (wie not. 4) 40⫺46. ⫺ 10 z. B. Strienitz, R.: C. L., dem Chronisten des Erzgebirges zum 300. Todestag. In: Erzgebirg. Heimatbll. 10,6 (1988) 160⫺164; Mahnke, L.: C. L. (1611⫺1688): der bedeutendste Chronist des Erzgebirges. In: Sächs. Heimatbll. 38 (1992) 363⫺ 371; Blechschmidt, M.: Der Pfarrer vom Scheibenberg: C. L. In: Hundert sächs. Köpfe. Chemnitz 2002, 118 sq.; C. L. Erzgebirgschronist des 17. Jh.s (1611⫺1688). In: Kleine Chronik großer Meister 3. ed. H. Oeser. Aue 2003, 88⫺90; Schmidt-Brücken, S.: C. L. und verschiedene Pestpfarrer im Erzgebirge. In: Erzgebirg. Heimatbll. 31 (2009) 15⫺17.
Göttingen
Hans-Jörg Uther
Maida¯nı¯, Abu¯ ’l-Fadø l Ahø mad ibn Muhø ammad al-, *Nı¯sˇa¯pur, † ebenda 1124, arab. Philologe1. Über M.s Leben ist wenig mehr als die Namen einiger seiner Lehrer sowie das Datum seines Todes bekannt.
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Maida¯nı¯, Abu¯ ’l-Fadø l Ahø mad ibn Muhø ammad al-
Die von M. verfaßten ca 15 Bücher sind vor allem Kommentare zur altarab. Dichtung sowie lexikographische und grammatikalische Abhdlgen. Sein wichtigstes Werk ist Magˇma¤ al-amta¯l (Sprichwörtersammlung), die bis heute umfassendste Slg arab. Sprichwörter und Redensarten2. Dieses Werk kompilierte M. aus ca 50 früheren Abhdlgen, darunter „die zehn wichtigsten Quellenwerke für die klassischen amtßa¯l überhaupt“3. In den 28 alphabetisch nach dem ersten Buchstaben der jeweiligen Sprichwörter angeordneten Kap.n führt er, z. T. unter Nennung seiner Quellen, insgesamt mehr als 6000 Einheiten an, häufig mit dazugehörigen Erzählungen. Die klassischen arab. Parömiographen sind z. T. ausgesprochene Geschichtenerzähler, ihre Werke mithin für die hist. und vergleichende Erzählforschung eine ergiebige Quelle4. So findet sich etwa das Gleichnis vom Aufziehen eines jungen Raubtieres (Mot. J 1908) bei Abu¯ ¤Ubaid (gest. 838)5, die Geschichte vom zweimaligen J Geschlechtswechsel (des H ˚ ura¯fa) und die J Siebenschläfer-Erzählung bei alø abbı¯ (gest. nach Mufadø dø al ibn Salama adø -D 903)6, eine Var. der Geschichte von der J Bürgschaft im Kommentar von al-Bakrı¯ (gest. ˇ uhø a¯, dem 1094) zu Abu¯ ¤Ubaid7 oder eine G arab. Äquivalent des J Hodscha Nasreddin, zugeschriebene Var. von AaTh/ATU 1420 A: cf. J Pfand des Liebhabers bei Radø ¯ıyaddı¯n al¤Ira¯qı¯ (gest. 1166)8. Auch die Slg des M. enthält zahlreiche überregional bzw. internat. verbreitete Erzählungen. E rz äh lt yp en un d - mo ti ve (Ausw.)9: num. 22 ⫽ AaTh 1341 B*/ATU 1341 A (3): The Fool and the Robbers10. ⫺ 32 ⫽ AaTh/ATU 655, 655 A: Die scharfsinnigen J Brüder11. ⫺ 81 ⫽ Löwe kann drei Stiere nicht bezwingen, solange sie zusammenhalten; er entzweit sie und kann jeden einzeln besiegen (Mot. J 1022)12. ⫺ 490 ⫽ AaTh/ATU 110: J Katze mit der Schelle13. ⫺ 1169 ⫽ Dummkopf verspricht dem Finder seines entlaufenen Esels zwei Esel als Belohnung: Wegen Freude des Wiederfindens! (Mot. J 2085.1)14. ⫺ 1169 ⫽ AaTh/ATU 1284: Irrige J Identität15. ⫺ 1184 ⫽ Beduine dehnt Gastrecht auf Heuschreckenschwarm aus16. ⫺ 1191 ⫽ AaTh/ATU 1278*: cf. Die merkwürdige J Markierung (hier Wolke)17 ⫹ AaTh/ATU 1600: Der begrabene J Schafskopf 18. ⫺ 1568 ⫽ AaTh/ATU 1525 D: cf. J Meisterdieb19. ⫺ 1635 ⫽ Unbedachter fragt sich, wohin bei einem Menschenopfer das Blut flösse. Um es herauszufinden, läßt der Tyrann ihn selbst opfern (Mot. K 1673)20. ⫺ 1754 ⫽ AaTh/ATU 1543 E*: cf. J Baumzeuge21. ⫺ 2029 ⫽ Trickster bringt Verkäu-
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ferin dazu, in jeder Hand einen Schlauch Butter zu halten. Als sie sich nicht mehr wehren kann, vergewaltigt er sie22. ⫺ 2113 ⫽ AaTh/ATU 910 K: J Gang zum Eisenhammer (Kalkofen)23. ⫺ 2333 ⫽ Gieriger ist neugierig, ob seine eigene Notlüge vielleicht doch wahr ist (Mot. X 902)24. ⫺ 2371 ⫽ AaTh/ATU 111 A: J Wolf und Lamm25. ⫺ 2642 ⫽ AaTh/ATU 59: J Fuchs und saure Trauben26. ⫺ 2742 ⫽ Eidechse als Richter zwischen Hyäne und Wolf gibt nur unverbindliche Antworten27. ⫺ 3046 ⫽ AaTh/ATU 159 B, 285 D: J Feindschaft zwischen Tieren und Mensch28. ⫺ 3694 ⫽ cf. AaTh/ATU 11029. ⫺ 3790 ⫽ AaTh/ATU 1553: J Ochse für fünf Pfennig30. ⫺ 4340 ⫽ AaTh/ATU 875: Die kluge J Bauerntochter31.
M.s Werk ist bis in die Gegenwart die populärste arab. Sprichwortsammlung geblieben; die zahlreichen Hss., verschiedene spätere Ausw.ausgaben, Übers.en ins Türkische sowie versifizierte Fassungen belegen ebenso wie die diversen modernen Ausg.n seine anhaltende Beliebtheit32. Als einzige in eine europ. Sprache (lat.) übers. arab. Sprichwortsammlung33 hat das Werk zudem die europ. Wahrnehmung dieser Gattung der arab. Lit. maßgeblich geprägt. Sellheim, R.: al-Mayda¯nı¯. In: EI2 6 (1991) 913 sq. ⫺ M. Abu¯ ’l-F. A. ibn M. al-: Magˇma¤ al-amtßa¯l 1⫺4. ed. M. ¤A. Ibra¯hı¯m. Kairo 1977/78/79/79. ⫺ 3 Sellheim, R.: Die klass. arab. Sprichwörterslgen, insbes. die des Abu¯ ¤Ubaid. Den Haag 1954, 147⫺151, hier 148. ⫺ 4 ibid., 30⫺44; id.: Matßhß al. 1: In Arabic. In: EI2 6 (1991) 815⫺825, hier 820. ⫺ 5 ibid., 819; Marzolph, Arabia ridens 2, num. 96; Nöldeke, T.: Das Gleichnis vom Aufziehen eines jungen Raubtieres. In: ¤Agˇab-Na¯me. Festschr. E. G. Browne. Cambr. 1922, 371⫺382; Sellheim, R.: Eine fünfte Miszelle zur arab. Sprichwörterkunde. In: Oriens 32 (1990) 463⫺475, hier 464. ⫺ 6 Drory, R.: Three Attempts to Legitimize Fiction in Classical Arabic Literature. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 18 (1994) 146⫺164, bes. 147⫺157; Sellheim (wie not. 4) 820. ⫺ 7 id. (wie not. 3) 41⫺43. ⫺ 8 Marzolph, U.: Nasreddin Hodscha. Mü. 1996, num. 54; cf. Sellheim, R.: Eine unbeachtet gebliebene Sprichwörterslg. […]. In: Oriens 31 (1988) 82⫺94, hier 87. ⫺ 9 Nach der Ausg. M. (wie not. 2). ⫺ 10 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 417. ⫺ 11 ibid., num. 416. ⫺ 12 ibid., num. 1126; Dicke/ Grubmüller, num. 450. ⫺ 13 Brockelmann, C.: Fabel und Tiermärchen in der älteren arab. Lit. In: Islamica 2 (1926) 96⫺128, hier 110 sq. ⫺ 14 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 23. ⫺ 15 ibid., num. 1023. ⫺ 16 ibid., num. 356; Basset 2, 404, num. 127. ⫺ 17 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 981. ⫺ 18 ibid., num. 1128. ⫺ 19 ibid., num. 368. ⫺ 20 ibid., num. 150. ⫺ 1 2
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Manga
ibid., num. 447; Chauvin 9, 24, zu num. 13. ⫺ Marzolph, Arabia ridens 2, num. 725. ⫺ 23 ibid., num. 437. ⫺ 24 ibid., num. 462; Jason *1251; Raudsep, 256; van der Kooi 1251*; Basset 1, 455, num. 154. ⫺ 25 Brockelmann (wie not. 13) 105; Karimi, G.: Le Conte animalier dans la litte´rature arabe avant la traduction de „Kalila wa Dimna“. In: Bulletin d’e´tudes orientales 28 (1975) 51⫺56, hier 53. ⫺ 26 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 1119. ⫺ 27 ibid. 2, num. 366; Marzolph *2029; Basset 2, 494, num. 191; Karimi (wie not. 25) 53. ⫺ 28 Marzolph, Arabia ridens 2, num. 418; Karimi (wie not. 25) 52. ⫺ 29 Bockelmann (wie not. 13) 111. ⫺ 30 ibid., num. 1065. ⫺ 31 ibid., num. 1197. ⫺ 32 Sellheim (wie not. 1); id. (wie not. 4) 823. ⫺ 33 Freytag, G.: Arabum proverbia 1⫺3. Bonn 1838⫺43. 21 22
Göttingen
Ulrich Marzolph
Manga 1. Definition und Spezifik ⫺ 2. Etymologie und hist. Wandel
1 . D ef in it io n u nd Sp ez if ik. Im heutigen J Japan versteht man unter M. vor allem serielle Bilderzählungen (sog. story manga), die zuerst kapitelweise in speziellen Anthologien erscheinen, bevor sie einzeln in Buchform (tanko¯ahbon) aufgelegt werden. Das jap. Bedeutungsspektrum umfaßt zudem Karikaturen und kurze, vornehmlich aus vier vertikal angeordneten Panels bestehende Comic strips. M. dient auch als Oberbegriff für J Comics allg. und bezeichnet neuerdings zudem nichtjap. Produktionen im M.-Stil1. Vom American comic und der belg./frz. bande dessine´e, den beiden anderen global dominanten Comic-Formen, unterscheidet sich M. durch sein weitgehend monochromes Erscheinungsbild, das der jap. Leserichtung von rechts oben nach links unten folgende PanelLayout sowie eine hochgradig kodifizierte Bildsprache von außergewöhnlichem Umfang. Dazu zählen Piktogramme, Geschwindigkeitsund Energielinien, Rasterungen, hs. Onomatopoetika sowie Sprechblasenformen, die typographische Differenzierungen zwischen Monolog, Dialog, Tonlage etc. signalisieren2. M. ist weniger durch zeichnerische Originalität als durch erzählerisches Handwerk charakterisiert: Der Stil dient dem Fluß der Geschichte, der Einfühlung und Immersion. Bes. leistungs-
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stark ist der M., wenn es um die Darstellung von Gefühlslagen und sinnlichen Sensationen geht, wobei erzählerisch den bildlichen Elementen oft eine größere Rolle als dem Schrifttext zukommt. Protagonisten sind typischerweise keine mythischen Helden, sondern halbwüchsige Identifikationsfiguren, die sich erst noch entwickeln, womit auch längere M.-Serien normalerweise auf einen Abschluß statt auf ein offenes Ende hin angelegt sind. M. existiert grundsätzlich in genrespezifischer Form. Anders als in Amerika und Europa richten sich die manga-internen Genres jedoch weniger nach Themen wie dies J Science Fiction, J Horrorgeschichten und hist. Erzählungen tun, als nach Alter und Geschlecht der Zielgruppe: sho¯nen für Jungen (z. B. Akira Toriyama, DragonBall, 1984⫺95); sho¯jo für Mädchen (z. B. Clamp, Ka¯do kyaputa¯ Sakura [Card Captor Sakura], 1996⫺ 2000); seinen ursprünglich für männliche Jugendliche, nun auch generell für ein erwachsenes Publikum (z. B. Naoki Urasawa, Nijusseiki sho¯nen [20th Century Boys], 1999⫺2006); josei für Frauen (z. B. Ai Yazawa, Paradise Kiss, 1999⫺2003)3. Während die männlichen Genres eher von Kämpfen in der äußeren Welt und von Jungenfreundschaften erzählen, haben die weiblichen sich stets mehr für Liebe, innere Konflikte und Mode interessiert. Die thematischen Genres der europ. Tradition werden von beiden Seiten aufgegriffen; so sind weibliche Science FictionGeschichten keine Ausnahme (z. B. Moto Hagio, 11-nin iru [They Were Eleven], 1975), und diese Genres werden gern gemischt (cf. die cartoonesken Einlagen im hist. Mädchen-M. Riyoko Ikeda, Berusaiyu no bara [Rosen von Versailles], 1972⫺73, sowie die Verbindung von Erotik, Humor und Alltag in Aki Katsu, Futari etchi [Manga Love Story], seit 1997). Beispielhaft ist auch das Monatsmagazin M. Gurimu do¯wa (Grimms Märchen als M.; seit 2000), welches im Stil des Mädchen-M. ,gruselige‘ (zankoku na) Märchenadaptionen veröffentlicht: Die Brüder J Grimm stehen dabei für die gesamte europ. Tradition; darüber hinaus werden darunter asiat. Stoffe gefaßt. Auch stilistisch heben sich die geschlechtsspezifischen Genres voneinander ab. So überwiegt einerseits ein filmnahes Panel-Layout,
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welches Blickpunkte im Einzelbild sowie deren Montage betont4; andererseits treten atmosphärische Seitengestaltungen ins Zentrum, die den Leserfokus zwischen Gesamtansicht und Detail (zoom-out/zoom-in) wechseln lassen5. Unterschiede wie diese gehen auf die zielgruppenspezifischen Publ.sorte und die entsprechende Geschlechtertrennung der Zeichner/innen zurück: Mädchen-M. z. B. werden prinzipiell von Frauen entworfen. Versuche, M. an sich zu definieren, gehen tendenziell auf Kosten bestimmter M.-Genres: die Akzentuierung der ,filmischen‘ Methode auf Kosten der weiblichen, die Unterstreichung eines bestimmten ,Character designs‘, wie Kulleraugen und Kindchenschema, auf Kosten der männlichen und erwachseneren Genres, die mehr zu Realismus neigen. Auch die Darstellung von Sex und Gewalt variiert je nach Genre-Kontext und Leserschaft. Exemplarisch dafür sind die dem Mädchen-M. verwandten Subgenres, die homosexuell akzentuierte Geschichten für heterosexuelle Leserinnen bieten: zum einen Boys’ Love, in Deutschland auch als yaoi oder sho¯ahnen’ai (Knabenliebe) bezeichnet (z. B. Shungiku Nakamura, Junjo Romantica, seit 2002), zum anderen yuri (Lilien) bzw. Girls’ Love (z. B. Satoru Nagasawa, Maria-sama ga miteru [Rosen unter Marias Obhut], 2003⫺08). Eingedenk der Binnendifferenzierung berücksichtigt die jap. Forschung stets Publ.sort, Genre und Rezeption6, sowohl hinsichtlich der Adressaten als auch der fankulturellen Praxis des Gegen-den-Strich-Lesens7. Außerdem wehren sich Forscher und Fans gegen eine Einordnung des M. als ein Comic-Genre neben anderen. Sie verstehen ihn vielmehr als Medium8. Tatsächlich verdankt sich die globale Attraktivität von M. zum Großteil der visuellen Sprache, die er zur Verfügung stellt, sowie den Möglichkeiten der Teilhabe, die die Einzelwerke über ihren Darstellungsgehalt hinaus bieten9. 2 . E ty mo lo gi e u nd hi st . Wan de l. Im modernen Japanisch wird M. entweder mittels dreier Silbenschriftzeichen (ma-n-ga) oder zweier ursprünglich chin. Ideogramme (man: impulsiv, exzessiv, unwahrscheinlich, ungebührlich; ga: Zeichnung und implizit deren traditionelle Verwandtschaft mit der Schrift)
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dargestellt10. Begünstigt durch die gemeinsame ostasiat. Schrifttradition sowie die moderne jap. Kolonialpolitik, hat sich der Terminus auch in China (manhua) und Korea (manhwa) verbreitet. Im frühen 19. Jh. bezeichnete M. keine Form der Bilderzählung, sondern Bilderkataloge. Wegweisend dafür waren die Hokusai M. (1814⫺78, 15 Hefte) von Hokusai Katsushika, die auf fast 4000 Holzschnitt-Seiten Vorlagen zum Nachzeichnen versammelten11. Durch deren gegenständliche wie stilistische Vielfalt, von menschlichen Arbeitsabläufen über Flora, Fauna und Landschaften bis hin zu legendären Figuren; von chin. anmutender Linienführung bis hin zur europ. Zentralperspektive, nahm das Wort M. eine quantitative Bedeutung an, die es erst im Laufe der Modernisierung Japans verlieren sollte. Anfang des 20. Jh.s wurde M. zum Namen für das prägnante satirische Einzelbild und den Comic strip in Ztgen12. In den 1920er Jahren erschienen erste Kinder-Comics, als 4-Panel-Strip in Ztgen oder episodisch strukturierte Langserien in Jungenmagazinen. Seither wird der Begriff M. auch für Bilderzählungen verwendet. Als entscheidender Wendepunkt gilt vielen das 200seitige Comic-Buch Shintakarajima ([Die neue Schatzinsel], 1947) von Osamu Tezuka und Shichima Sakai, welches unter Anleihen bei Robinson Crusoe (J Robinsonade) und Tarzan (J Tarzan) auf ebenso spannende wie visuell rasante Weise die moderne Schatzsuche des Jungen Pete schildert13. Der Bezug auf nichtjap., aber jap. Kindern bekannte Lesestoffe, die zudem aus anderen Medien wie Lit. und Film stammen, wurde zu einem anhaltenden Inspirationsquell. Ende der 1950er Jahre, als sich die unterhaltende M.-Erzählung etabliert und eigene Magazine erhalten hatte, traten Zeichner an, die mit Geschichten für junge Erwachsene über kindgerechte Inhalte und humorvolle Darstellungsweisen hinausgehen wollten. Dafür schufen sie einen neuen Namen: gekiga (Bilderdramen). Diese Comics handelten von gnadenlosen Kämpfen in düsteren, realistisch gestalteten Welten ⫺ dem vormodernen Japan (z. B. Sampei Shirato, Kamui-den [Kamui], 1964⫺71) oder der zeitgenössischen politischen Landschaft des Kalten Krieges (z. B. Takao Saito¯, Golgo 13, seit 1968) ⫺ aber auch von den Sinnkrisen jap. Angestellter mittleren
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Alters, die dem Wirtschaftswunder nicht zu folgen vermochten, wie in den um 1970 entstandenen Kurzgeschichten von Yoshihiro Tatsumi, der in seiner Autobiographie Gekiga hyo¯ryu¯ ([Gegen den Strom], 2008) den hist. Wandel in Comic-Form vergegenwärtigt. Mit der Verlagerung seines Erscheinungsorts von Leihbüchereien in zentrale M.-Magazine ging der gekiga allmählich im Genre des JugendM. auf. Parallel dazu entfaltete sich seit den 1970er Jahren der Mädchen-M. und brachte narrative wie stilistische Innovationen hinsichtlich der Erkundung von Innerlichkeit in die M.-Kultur ein. Seit Mitte der 1990er Jahre nehmen Grenzüberschreitungen zwischen den Genres zu. Das Interesse jüngerer Leser gilt immer weniger realistischen Darstellungen als niedlichen Figuren und deren medialem Potential14. Wichtiger als dramatische Entwicklungen, menschenähnliche Charaktere und ästhetische Innovationen im Einzelwerk sind nun intertextuelle und transmediale Bewegungen. Die Entwicklung der M.-Industrie sowie der Fankultur, aber auch das Aufkommen von Internet und Videospielen haben das Streben der Leser nach Eigen- und Interaktivität befördert. Neuere M.-Bestseller zeigen narrativ deutliche Züge von Gamification (z. B. Masashi Kishimoto, Naruto, seit 1999). Die Teilhabe, welche heutige M. befördern, reicht bis hin zum Cosplay, der karnevalesken Verkleidung als M.Figur, und zur Schaffung von sowohl originaler als auch derivativer Fan Fiction und Fan Art sowie dem Austausch darüber15. Umfragen, Leserbriefe, die direkte Ansprache, die Zeichner und Redaktion am Seitenrand an die Leser/innen richten, und die rhetorische Anlage der Narrationen selbst haben schon seit den 1950er Jahren einen aktiven Austausch ermöglicht. Zur Gemeinschaftsbildung, bes. der Kultur der do¯ahjinshi (Amateurpublikationen jenseits der offiziellen Verlage), haben nicht zuletzt die Anleitungsbücher zum M.-Zeichnen beigetragen. In Deutschland erschienen die ersten M.Übers.en außerhalb der Comic-Welt: im Rahmen der Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre der Jungen-M. Hadashi no Gen ([Barfuß durch Hiroshima], 1973⫺85) von Keiji Nakazawa, der semiautobiogr. von den Folgen der Atombombe erzählt, und als eingängige Erklä-
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rung des Aufschwungs Japans zur internat. Wirtschaftsmacht der Sach-M. Nihon keizai nyu¯mon ([Japan GmbH], 1986⫺87) von Sho¯taro¯ Ishinomori, ein seltenes Beispiel für das jap. Genre des informativen oder Bildungs-Comics (gakushu¯ manga), in welchem kaum namhafte Zeichner tätig sind. Bevor mit Dragon Ball und Bisho¯jo senshi Sailor Moon ([Pretty Guardian Sailor Moon], 1992⫺97) von Naoko Takeuchi der eigentliche M.-Boom einsetzte, wurden jap. Werke von Comic-Fans u. a. als Science Fiction rezipiert (z. B. Katsuhiro ¯ tomo, AKIRA, 1982⫺90). Heute zirkuliert O der M. vornehmlich als phantastische Unterhaltung für Jugendliche, die sich durch eine bes. Eignung zur Medienkonvergenz, welche sich in Adaptionen in Anime, Videospielen etc. artikuliert, auszeichnet. Als Besonderheit der dt. M.-Szene gilt die Vorrangstellung von Frauen. Symptomatisch dafür sind u. a. die nur auf Deutsch publizierten Grimms M. 1⫺2 (2007⫺09) von Kei Ishiyama sowie der Grimms M. Sonderband (2011) mit Kurzgeschichten von repräsentativen M.-Zeichnerinnen aus Deutschland. 1
Schodt, F. L.: M.! M.! The World of Japanese Comics. Tokio 1983; Köhn, S.: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Wiesbaden 2005. ⫺ 2 Natsume, F.: M. wa