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German Pages 484 [483] Year 1979
HE G E L- STU DIEN In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von FRIEDHELM NICOLIN und OTTO PÖGGELER
Band 14
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der Originalausgabe von 1979, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1478-2 ISBN eBook: 978-3-7873-3067-6 ISSN 0073-1578
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INHALT
TEXTE UND DOKUMENTE Bochum Erste zeitgenössische Rezensionen der Phänomenologie des Geistes .
WOLFGANG BONSIEPEN,
.
9
Bochum Altenstein imd Gans. Eine frühe politische Option für Hegels Rechtsphilosophie 39
KURT RAINER MEIST,
Bochum Urmenschheit und Monarchie. Eine politische Christologie der Hegelschen Rechten 73
WALTER JAESCHKE,
ABHANDLUNGEN Hamburg Hegel als Leser Platos. Ein Beitrag zur Interpretation des Platonischen „Parmenides" 109
WOLFGANG KöNNE,
Bochum Hegels Verhältnis zur Archäologie
147
Toronto Hegel's philosophical languages
183
OTTO PöGGELER,
JOHN MC CUMBER,
Heidelberg / HANS GEORG FLICKINGER, Kassel Die Aufhebtmg des schönen Scheins. Schöne imd nicht mehr schöne Kunst im Anschluß an Hegel tmd Adorno 197
GüNTER FIGAL,
Marburg Dichotomie und Verkehrung. Zu Marx' Kritik des Hegelschen Staatsrechts 225
REINHARDT BRANDT,
BERICHT J. DE FOLTER, Rotterdam Van Ghert und der Hegelianismus in der Politik der Niederlande .
ROLF
.
243
DISKUSSION Zur gegenwärtigen Hegel-Rezeption in Spanien (MARIANO ALVARAZ-GOMEZ, Salamanca) 279 Heine und Hegel. Stationen der Forschung (JOCHEN ZINKE, Düsseldorf) .
.
295
Schelhngs Erneuerung der Metaphysik (KLAUS DüSING, Bochum) ....
312
LITERATURBERICHTE UND KRITIK J. M. Ripalda: The divided nation (CHRISTOPH JAMME, Bochum)
319
D. Janicaud: Hegel et le destin de la Grece (JEAN-LOUIS VIEILLARD-BARON (Tours) 325 W. Bonsiepen: Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels (H. S. HARRIS, Toronto) 331 D. V. Engelhardt: Hegel und die Chemie (M. J. PETRY, Rotterdam) ....
333
N. Rotenstreich: From Suhstance to Subject (KURT RAINER MEIST, Bochum) .
340
G. W. F. Hegel: Fenomenologia dello spirito (WOLFGANG BONSIEPEN, Bochum)
347
G. W. F. Hegel: Phenomenology of Spirit (WOLFGANG BONSIEPEN, Bochum) .
352
H. P. Kainz: The unbinding of Prometheus (WOLFGANG BONSIEPEN, Bochum)
354
C. F. V. Weizsäcker: Der Garten des Menschlichen (OTTO PöGGELER, Bochum)
356
J. Schmidt: Hegels Wissenschaft der Logik und ihre Kritik durch Adolf Trendelenburg (FRIEDRICH HOGEMANN, Bochum) 358 H. Röttges: Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels (WALTER JAESCHKE, Bochum) 363 W. Kaminski: Zur Dialektik von Substanz und Subjekt bei Hegel und Marx (GERHARD GöHLER, Berlin) 365 U. Dierse: Enzyklopädie (OTTO PöGGELER, Bochum)
368
Hegel. The essential writings (WOLFGANG BONSIEPEN, Bochum)
370
W. R. Beyer: Denken und Bedenken (G. M. TRIPP, Berlin)
372
H. Ottmann: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel (KLAUS ROTHE, Berlin)
380
E. Angehrn: Freiheit und System bei Hegel (DETLEF HöRSTER, Hannover) .
R. Bodei: Sistema ed epoca in Hegel
(SANDRO BARBERA,
Pisa)
384 386
K. Hartmann (Hrsg.): Die ontologische Option (GERHART SCHMIDT, Bonn) .
Die Welt des Menschen — Die Welt der Philosophie
388
(OTTO PöGGELER,
Bochum)
394
Der Idealismus und seine Gegenwart
(KARL ALBERT,
H.-D. Klein: Vernimft und Wirklichkeit
Neuss)
396
.
400
International Institute of Philosophy. Varna 1973 (MANFRED BAUM, Siegen)
404
(CHRISTOPH JAMME,
Bochum) .
B. Hillebrand: Theorie des Romans; F. Rhöse: Konflikt und Versöhnung (CHRISTOPH JAMME,
Bochum)
407
Kurzreferate und Selbstanzeigen über M. Noro, G. W. F. Hegel (übers, v. Chiereghin), W. Goossens, C. Butler, G. W. F. Hegel (übers, v. Jonkers), L. Hahn, G. W. F. Hegel (übers, v. Chiereghin/Poletti), G. W. F. Hegel (übers, v. Moni/Cesa), L. Armour, I. Vas, K. Löwith, E. Düsing
410
BIBLIOGRAPHIE Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1977. Mit Nachträgen aus früheren Berichtszeiträumen 423
WOLFGANG BONSIEPEN (BOCHUM)
ERSTE ZEITGENÖSSISCHE REZENSIONEN DER PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES
Die zwei bekanntesten und umfangreichsten zeitgenössischen Rezensionen der Phänomenologie sind die von K. I. WINDISCHMANN und K. F. BACHMANN. Diese sind jedoch nicht die ersten imd einzigen Rezensenten gewesen. ^ Im folgenden sollen andere, bisher nicht oder wenig beachtete Rezensionen vorgestellt, die von WINDISCHMANN und BACHMANN noch einmal charakterisiert sowie Hegels Stellungnahmen mitgeteilt werden. Schließlich ist auch auf das Urteil über die Phänomenologie im Kreise von Frexmden und Kritikern Hegels einzugehen.
I. Rezensionen der Phänomenologie (1) Die erste uns bekannte Rezension findet sich in der Münchener Oberdeutschen Allgemeinen Litteraturzeitung (Jg. 20. 6. August 1807. 121— 128). In dieser Literaturzeitung erschienen bereits äußerst kritische Stellungnahmen zu dem von Hegel und SCHELLING herausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie (1802—1803). ^ Die ablehnende Haltung gegenüber ScHELLiNGS Schriften wandelt sich erst, als dieser im Jahre 1807 als Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste nach München berufen wird. Nun gilt SCHELLING auf einmal als „vaterländischer Schriftsteller mit reichen Verdiensten" Der anonyme Rezensent der Phänomenologie hat * J. Hoffmeister kennt nur die beiden Rezensionen. Vgl. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg 1952. [= Phän.] XXXVIII—XLII. O. Fambadi druckt diese Rezensionen vollständig ab und verweist auf die übrigen hier behandelten Rezensionen, die in J. Salats Buch ausgenommen. Auf die letztere machte mich freundlicherweise Herr Meist (Hegel-Archiv Bochum) aufmerksam. — Vgl. O. Pambadi: Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik. Bd 5: Der romantische Rückfall in der Kritik der Zeit. Berlin 1963. 403—452. Fambach zitiert auch ausführlich Briefstellen, in denen auf die Rezension Bezug genommen wird. ® Vgl. K. O. Wagner: Die „Oberdeutsche allgemeine Litteratur-Zeitung". Salzburg 1908. 78—81; W. R. Beyer: Hegel in Österreich. In: Hegel-Jahrbuch 1961. Halbband 1. München 1961. 92. Vor Beyer machte Wagner auf die anonyme Rezension der Phänomenologie aufmerksam. ’ K. O. Wagner: Die „Oberdeutsche allgemeine Litteratur-Zeitung". 81.
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WOLFGANG BONSIEPEN
sich aber noch nicht das neue Urteil der Literaturzeitung über SCHELUNG zu eigen gemacht. Er polemisiert weiterhin gegen SCHELLING, dessen philosophischer Standpunkt von dem Hegels nicht eigens unterschieden wird. Der Versuch^ Philosophie als ein System der Wissenschaft zu begründen, stößt auf Ablehnung. Er erinnert an Hegels Aufsatz Glauben und Wissen im Kritischen Journal. Die Phänomenologie sei ein Ergebnis dieser in Art der französischen Revolutionswut verfahrenden Kritik an KANT, JACOBI und FICHTE. Hegel fehle die Originalität der Klassiker Es ist kein angenehmes Geschäft, den Geist aus einer solchen Körperlichkeit zu sondern, und hierdurch dem Hrn. Verf. sein Recht wiederfahren zu lassen, welches imbestreitbar darin besteht, dort aufzuhören, wo die Originalität der Klassiker anfängt, und also zur Gränze der letzteren hinzuführen. Ueber die Klassicität eines Schriftstellers entscheiden seine Darstellimgskunst und die Ursprünglichkeit seiner Vorstellungen, welche er darzustellen bemüht ist. Eine größere Peinlichkeit sowohl in Hinsicht des Vorstellens als Darstellens ist aber Rec. kaum irgend einmahl begegnet, als das vorliegende Werk ihn erfahren machte. / Noch ungeiüeßbarer wird dieses Werk durch eine gewisse nationelle Selbstgefälligkeit, welche keine Mühe scheut, sich selbst zu übersteigen, um nur höher, als der, mit welchem man zu thun hat, zu stehen zu kommen. Dieses verleitet zu einem gewissen Ueberbiethen seines Selbstes, und hemmt jede offene, freye Aeußerung, in der sich die Gemüther üben, stärken, sich gegenseitig höher emporbringen können. Es kömmt hierdurch ein eigenes Selbstbewußtseyn zu Tage, welches so sehr in sich selbst ist, daß es kaum in einer Vorrede sich äußern kaim, sobald aber die Hülle gebrochen ist, an kein Ende zu kommen weiß: ferner eine Verachtung alles Andern, das nicht dieses individuelle Ich ist, welches auf seinen uneigennützigen Ursprung hindeutet, und worin die bescheidene Bildtmg imsers Zeitalters sich auszeichnet. / Jedes individuelle Wissen entspringt aus der Wirklichkeit des Individuums, welche Wirklichkeit dieses Individuum sich vorstellt, entgegensetzt, und welche Vorstellimg es mitzutheilen, darzustellen, bemüht ist. Diese Mittheüung der Freude seines Fundes sey jedem Mensdien gegönnt, und keine Kritik trübe diese herzliche Aeußerung! Nimmt aber diese Mittheüimgsart einen rohen, despotischen Charakter an; stört sie jede andere gesellschaftliche Unterhaltung; mengt sie überall, unbescheiden, sich hinein, und will sie keine andere eben so offene individuelle Art des MittheUens außer sich gelten lassen, bemüht sie sich ferner unaufhörlich, zuerst und zuletzt, und immer so fort zu reden, um sich auszusprechen, und ihres individuellen Seyns endlich einmahl, in all' ihrer Geschwätzigkeit, los zu werden; — ja, dann züchtige die Kritik die eingebüdeten Vielredner, und bewahre die Persönlichkeit jeder literarischen Unterhaltung! / Rec. verkennt, wie gesagt, die Mühe nicht, welche der Hr. Verf. nicht gescheut hat, einen höheren Standpunkt, als alle übri*
Ein neuer Absatz im zitierten Text wird im folgenden durch / gekennzeichnet.
Zeitgenössische Rezensionen der Phänomenologie
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gen Schriftsteller, zu gewinnen; diese seine Darstellung gibt hiervon Zeugniß, und der Hr. Verf. theüt sein Abmühen seinem Leser redlich mit, für welche individuelle Zumuthung gar Mancher dieser letzteren ihm verbindlichst danken wird. Besteht aber des Schriftstellers Pflicht auch darin, seinen Standpimkt rein zu erkennen, und seine Leser zu sich, auf diesen seinen Standpunkt der Anschauung zu erheben, weßhalb er seinen Mund aufthut, und Andere zu sich ruft; — so sollte ja dennoch dieser Ruf in einer vernehmlichen Sprache an die Ohren der Hörer gebracht werden, und hierin die Mühe des Schriftstellers beynahe einzig bestehen! Rec. meint den klassischen Schriftsteller; nicht jenen, welcher sich selbst erst auf irgend einem höheren Standpunkt zu steigern hat, und also noch Schüler ist. Wäre jedoch der Inhalt der Rede so geistvoll, und in aller vorhandenen Natur und Offenbarung noch so fremd, daß jede Offenbarmachung desselben sehr schwer werden müßte; so dürfte keine Kritik Klage führen, sondern müßte mit Dank jeden geleisteten, wenn auch fruchtlosen Dienst anerkennen, welches aber ganz umgekehrt sich verhält, wenn die neue Offenbarung nur sehr Weniges offenbar macht. / Ein System der Wissenschaft zu liefern, scheint Rec. überhaupt, ein sehr mißliches Geschäft zu seyn; denn aus dem Gange seines bisherigen und der Beurtheilung fremden Wissens vermuthet er, daß noch mancherley nicht gewußt wird, welches also in ein System nicht geordnet werden kann, wodurch dieses letztere Lücken erhält; diese Vermuthung soll auch Shakespeare geäußert haben. Ueberdieß muß ein solcher wissenschaftlicher Meister seines Wissens so los und ledig geworden seyn, daß er während seiner Arbeit rein bewußtlos ist, indem er alles Wissen buchstäblich hmterlegen will. Rec. weiß selbst nicht, wie er dieses Nichtwissen benennen soll: es gleicht jener dummen Unschuld, welche in dieser schuldvollen Welt nicht weiß, daß sie unschuldig ist, welche daher noch nie Ursache hatte, über eine begegnende Schuld sich zu empören. Diese Bewußtlosigkeit mag sich freylich absolut erscheinen, da sie von allem Wissen so sehr rein sich entledigt hat, daß sie zuletzt nichts mehr wissen darf; welche Entleerung der Wissensorgane jene große Reitzbarkeit solcher Wissenschaftskünstler zur Folge haben muß, die wir zu bewundern Gelegenheit gehabt haben. Diese Meister weisen daher so gerne alle gewöhnlichen Vorreden von sich, in welchen letzteren der Schriftsteller über das, was er geleistet hat, redete, und also erklärte, daß er sehr wohl wisse, was er gethan habe. Diese Vorreden waren als das Auge zum Werke anzusehen, als der Standpunkt, den tms der Künstler anweiset, damit wir aus dem wahren Gesichtspunkte sein Werk betrachten. / Dieß verdient aber itzt, da nun einmahl die Kunst durch Hrn. Dr. SCHELUNG und Andere so hoch ist gesteigert worden, Einseitigkeit genannt zu werden. Werke großer Meister müßen ihr Absolutes überall an der Stirne tragen, auch im Rücken, da wir nun einmahl hinter die Wahrheit imd Schönheit zu stehen gekommen sind. Solche Werke sind vorzüglich die Systeme alles Wissens. Die Verfasser derselben begreifen das Wissen, sind aber im Wissen selbst nicht begriffen; sie sind das Hohle, und das Wissen ist das Volle, welche beyde, entgegengesetzt, sich paren, und aus welcher Begattimg
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WOLFGANG BONSIEPEN
ein lebendiger Begriff hervorgeht, der allein Leben hat, da nun einmahl Seele und Körper so begreiflich aneinander gerathen sind. Jene ist daher die ewige Leere, dieser die lastende Schwere, welche letztere von jener durchdrungen ist, und nun lebendig sich äußert. Hierdtirch wird es möglich, das Leben zu deduciren, und in Begriffen darzustellen, welche Begriffe nicht weiter begriffen werden dürfen, und zu ihrer Verständlichimg keines Lebens weiter nöthig haben. Dieses letztere kann man nun endlich einmahl entbehren, da wir es gedruckt zu lesen bekommen. / Wer würde wohl glauben können, und so versunken im möglichen Seyn des Menschen, so verstmken im Handeln selbst seyn, daß ihm der Nähme Wissenschaft auf ein Schaffen des menschlichen Geistes hindeuten könnte, welches Schaffen jene Eigenheit des Menschen, die wir wissen nermen, zur Folge hat? Wer würde so wenig seiner Zeit sich entäußert haben, imd noch so sehr an seiner erlernten Sprache kleben, welche unsere Freyheit beschränkt, und uns hindert, in's Reich des Absoluten emporzusteigen! Aus dem gebundenen Zustande seines Selbstes sich frey zu machen, und aus der Körperwelt einen Geist zu entwickeln; — dieses Thtm des Menschen kann kein freyes, ursprüngliches Wesen des Menschen seyn, das ihn emporgerichtet, und inniger gemacht hat! Ein solches Thun wäre entwickelnd, imd doch ein Hinzuthun, nicht aber spaltend, auch nicht die göttlichen Wissenschaften, systematisch, gestaltend. Niu' aus den Herzen der Meister letzter Art geht Alles rund imd voU hervor, wie ihre Werke beweisen. / „Hört! Hört! Lasset dem Fichteaner sein Recht wiederfahren! Verachtet den Sektirer; wir stehen allein ihm gegenüber!" — So ruft der Sektengeist, und so hat er gerufen! Jenes Spalten der Wissenschaft üben die Meister auch in Hinsicht der Personen, wie KANT, JACOBI und FICHTE von Hm. Dr. Hegel erfcihren haben. Er verfuhr mit ihnen so philosophisch, wie wir in den Tagen einer französischen Revolutionswuth erfahren haben. Was daraus hervorgieng, liegt im vorliegenden Werke begraben, worin der Hr. Verf. gesucht hat, äußerlicher, als die Natur, zu werden, wogegen Fichte inniger, als sie, zu werden strebte. Diesen charakteristischen Unterschied finde ich in beyden Systemen. / Wer in irgend einem Andern begriffen ist, worin er nicht gerne begriffen seyn möchte, zum Beyspiele in der Unbestimmtheit eines unendlichen Gewässers, strebt nach einem Haltpunkte, mittelst dessen er aus seinem Befangenseyn sich zu befreyen sucht. FICHTE mft seinem Leser zu: „Halt an dir selbst fest, und bedinge dein wirkliches Seyn: nur so ermannst du dich, und wirst ein eigenes Wesen." — Das fernere Fortschreiten in dieser Bedingung der Wirklichkeit, welche mit GöTHE'S Aeußerung im Wilhelm Meister übereinstimmt: „Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will. Nur die Fähigkeit dazu wird uns angebohren; sie will gelernt, und sorgfältig geübt seyn." — Dieses mögliche Seyn im wirklichen, oder die Seele im Körper nimmt FICHTE in Anspruch, und so redet er wahrhaft aus seiner Seele zur Seele des Lesers. Das Verständniß des Zeitalters wird sich in dieser Hinsicht gewiß noch öffnen. Schwerer wird es mit dieser imvollständigen Offenbarung des Hrn. Verf. halten, wie den
Zeitgenössische Rezensionen der Phänomenologie
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Lesern dieser Litteraturzeitung, folgende Stelle derselben, die Rec. zuerst aufstößt, beweisen kann. / [Es folgt ein Abdruck der letzten Abschnitte der Einleitung zum Kapitel „Selbstbewußtsein": „Dies andere Leben ... in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet." Phän. 138—140.] / Welcher Tag dieser Hegel’sche Buchstabentag sey, ob ein farbigter Schein des sinnlichen Dießseits, oder eine leere Nacht des übersinnlichen Jenseits, oder eine geistige Abenddämmerung der Gegenwart, wagt Rec. nicht zu entscheiden. Er hat obige Stelle buchstäblich nachgeschrieben, — welches schwere Stück Arbeit! und den hohen, bedächtigen Gedankenschritt des Hm. Verf. nirgends unterbrechen wollen. Sein gefälltes Urtheil ferner zu belegen, verweiset Rec. auf das Werk selbst, welches in keiner philosophischen Bibliothek mangeln darf, wenn diese den Gang des Geistes der Zeit beurkimden soll. Einen komischen Anblick gewähren alle diese neueren Corpora delicti in Reih und Glied, wenn sie zu ihren Nachbarn zu stehen kommen; Eine Gesellschaft, aus welcher jeder originelle Denker herzlich sich sehnt, und aus welcher deutschen Gründlichkeit besonders JACOBI um Rettung tmd Hülfe ruft, der ganz sonderbar in diesen phantastischen Sumpf sich verirrt hat. So geht es, wenn man seiner Haut sich wehren will, und zu spät Hand an's große Werk legt: der Acker überzieht sich, je fruchtbarer er ist, desto schneller mit Unkraut, und bis dahin sind die originellen Denker in Deutschland gerathen! Der sich als FiCHTEaner bekennende Rezensent geht von einem Verständnis des Klassischen aus, demzufolge Darstellungskunst, Ursprünglichkeit der Vorstellung und Originalität den klassischen Schriftsteller kennzeichnen. Gerade der Darstellung mißt aber Hegel in der Vorrede größte Bedeutung bei. Das Schwerste sei, die Darstellung einer Sache hervorzubringen (vgl. Phän. 11). Hegels Kritik an einem einseitig subjektiven Standpunkt des Philosophierens wendet der Rezensent gegen Hegel selbst, indem er ihm übersteigertes Selbstbewußtsein und Geschwätzigkeit vorwirft. Der Polemik gegen JACOBI wird bald darauf in derselben Zeitschrift vehement widersprochen. Der anonyme Verfasser dieser Erwiderung (13. August. 147—152: Dem Recensenten des Hegelschen Systems etc. im 93sten St. dieser Litt. Zeit.) verweist auf JACOBIS Antrittsrede als Präsident der Akademie der Wissenschaften in München, in der der Wert der Wissenschaften gewürdigt werde. Außerdem müsse man, erklärt der Verfasser, zwischen Geist und Buchstaben bei einem Autor unterscheiden. Er ist so konsequent, diese Unterscheidung bei der Beurteilimg der Schrift Hegels nicht zu vergessen: Noch dürfte man wünschen, der Rec. möchte auch an Hegels Werke so manches kräftige Wort, welches dieser nunmehr selbst da und dort über die idealistischen Spielereyen (z. B. mit dem „Ewigen, Göttlichen, Heiligen" etc.) aussprach.
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WOLFGANG BONSIEPEN
bemerkt oder angezeigt haben. Freylich, indem Hr. H. nun den „Begriff" eben so schlechthin entgegenstellt, erinnert er an die Wiederkehr des alten Wolffischen Formalismus {Intellektualismus), zumahl da er über „eine Philosophie, die erbaulich seyn wolle", eben so schlechthin spottet. Doch vielleicht kömmt noch Besseres. / Aber war denn die Idealistik je etwas Anderes, als dieser Formalism, nur mit einem überwiegenden Beyschlage der Phantasie? / H.'s Aeußerung wird desto bedeutender, wenn man sidi erinnert, daß und wie kürzlich wieder ein anderer Meister der Idealistik das Gefühl schlechthin (mit einem sophistischen Kunstgriffe, d. i., mit einem Seitenblicke auf die „Empfindeley") abgewiesen hat. Da findet sich denn kein Wink von dem innern Zusammenhänge der Idee, als Produkts der Vernunft, mit dem reinen Gefühle. Und jene „Erbaulichen" — solche gutmüthige Anhänger des idealistischen Systems — die ihren Sinn in jene religiösen Floskeln hineingelegt haben, mögen nun sehen, wie sie damit zurecht kommen. / Auszeichnenswerth, wie eine Merkwürdigkeit in diesem Gebiethe der Philosophie, scheint mir ins Besondere: 1) Daß so mancher Freund der neuen Schule auf diesen Ton des „Erbaulichen" kommen, und 2) daß Hr. Hegel sich dergestalt wider dieses Princip oder diese Ansicht erklären konnte. Allerdings trugen jene Freunde des „Heiligen" etc. auf die Wissenschaft über, was für das Leben gilt; oder: sie vermischten dieses mit jener. Allein, indem Hr. H. den „Begriff" (der, als solcher, bloß Produkt des Verstandes ist) hervorzieht, rühmend z. B. die „Selbstbewegung des Begriffes": erscheint er da nicht auf dem andern Extreme, wenn auch hervortretend im Schimmer des Intellektuellen? Er hat nur im Gegensätze mit jener Beschränktheit Recht. — Unterschieden von dem Leben, nicht losgerissen davon, darf und soll die Wissenschaft werden. Aber dann ist eben das Leben, nämlich das reine ([Fußnote:] Also nicht im gemeinen Sinne des Wortes! Und man vergesse nicht, daß dem „empirischen Leben" das reine stäts zum Grunde liegt: sonst wäre jenes nicht — Lebenl Die Idee behauptet ihren Primat, auch wenn sie herabsteigt in das Gebieth der Erscheinungen. — Nur auf das „empirische Leben" bezieht sich das „Erbauliche" als solches.), jene Basis, ohne die alle Spekulation leer und dann sophistisch ausfallen muß. Und wenn eben aus diesen Erscheinungen (Aeußerungen) erhellt, und der Gedanke sich neuerdings aufdringt, dasV erhältniß zwischen Leben und Wissenschaft sey noch immer nicht bestimmt oder hinlänglich erkannt: beweisen sie dann nicht zugleich, weim auch indirekter Weise, für die Ansicht der Philosophie, welche von dem Leben imd damit von der Idee, also von dem tiefem, lebendigen Gnmde ausgeht, ohne jedoch den Begriff, sofern er hinzukommen muß, und wo er dann immer gültig ist, auszuschließen? Wenn unter neuer Schule die ScHELLiNGsche verstanden wird, ist es in der Tat eine Merkwürdigkeit der zeitgenössischen Philosophie, daß diese Schule auf den Ton des Erbaulichen kommen konnte und Hegel, der doch als Mitarbeiter SCHELLINGS bekannt ist, sich dagegen erklären kann. Der Verfasser denkt u. a. sicherlich an die Schrift von C. A. ESCHENMAYER: Der
Zeitgenössische Rezensionen der Phänomenologie
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Eremit und der Fremdling. Gespräche über das Heilige und die Geschichte (Erlangen 1805), in der ständig die Rede vom Heiligen, Ewigen, Göttlichen ist, in der aber auch die Differenz zu SCHELLING deutlich wird. Hegels eigenständige Position gegenüber SCHELLING und den ScHELUNGianern begreift der Verfasser nicht, wenn er Hegel einen Rückfall in den alten WoLFFSchen Formalismus und Intellektualismus vorwirft. Der einseitige Ausgang von JACOBIS Verständnis des Gefühls, Lebens, der Idee verhindert zu sehen, daß auch Hegel in der Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Leben das eigentliche Problem der Philosophie sieht. In der Phänomenologie kommt dem Phänomen des Lebens bei der Analyse der verkehrten Welt im Verstandeskapitel und bei der Darstellung des Übergangs vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein eine Schlüsselstellung zu. Im Anschluß an den zitierten Text kritisiert der Verfasser die FICHTEsche Position des Rezensenten. Während Hegel die Wissenschaft vom Leben losreiße, vermische FICHTE beide Momente. Die wieder sehr polemische Antwort des Rezensenten (27. August. 197—200: Antwort des Recensenten des Hegel'sehen Systems etc.) auf diese Kritik der Kritik gibt über seine Person einen gewissen Aufschluß. Aus einer vorsichtig sich distanzierenden Äußerung zu J. SALAT ist zu entnehmen, daß Rez. nicht dem Kreis um SALAT imd K. WEILLER angehört. ® Unterschrieben ist die Antwort mit: J. K. Am Schluß erklärt er sich noch einmal gegen Hegel: Was schließlich mein Hr. Ankläger zur Ehrenrettung Hrn. Hegels sagt, kann nur dadurch beantwortet werden, daß noch kein Mensch, sey er auch noch so wahnsinnig gewesen, nicht irgend einmahl etwas Wahres gesagt habe, welches Rec. in Hinsicht Hm. Hegels auch besonders in der: Hegel'sehen Flora, welche die Redaktion in Händen hat, theüweise anerkannt hat. Bemerkenswerth ist, daß mein Ankläger beyde Antipoden JACOBI und Hegel zugleich vertheidigt, vielleicht gar aus dem Indifferenzpunkte? Oder sollte nun einmahl die Recension wieder recensirt werden? Habe ich in's Handwerk gepfuscht? Diese Bemerkungen machen die kritische Haltung des Rez. gegenüber SCHELLING deutlich. Der Verfasser der Entgegnung hingegen scheint die neue, positivere Einstellung der Literaturzeitung zu SCHELLINGS — und in einem gewissen Maß zu Hegels — spekulativem Standpunkt zu repräsentieren. In einer der folgenden Nummern findet sich die vom Rez. ange® Zur Person Salats imd Weillers vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1952—60. Bd 4. 289, 318. Salat und Weiller waren katholische Theologen, Gegner Hegels und Schellings und vertraten zusammen mit F. Berg in Bayern die Aufklärungsphilosophie.
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WOLFGANG BONSIEPEN
sprochene Hegel'sche Flora, nebst nöthigen Erläuterungen (17. September. 269—272). Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Zitaten aus der Vorrede der Phänomenologie. Die Zitate kommentiert Rez. mit wenigen Sätzen. Da er besonderen Wert auf die Darstellungskunst eines Schriftstellers legt, Hegel in der Vorrede aber auch auf die Notwendigkeit der Darstellung einer Sache hinweist, zitiert er die betreffende Stelle (vgl. Phän. 11) und bemerkt dazu: „Daher wird es so schwer, die Hegel'schen Werke zu beurtheilen, und so leicht, sie zu fassen, wenn man die Geduld hat, die schwerfällige Darstellung zu durchwandern." Ausführlicher wird auf Hegels Kritik am naturphilosophischen Formalismus der ScHELLiNcianer eingegangen: Hier schreibt der Meister über seine Kunst, daher er aufmerksam gehört werden muß. Eine vortrefflich gerathene Darstellimg des Schellingianismus, welche ausspricht, was so Viele nur theilweise geahnet haben, aber in seiner Totalität nicht sagen konnten. Der Hr. Verfasser, Mitherausgeber des SCHELLING'sehen kritischen Journals der Philosophie, beweiset hier seine innige Bekanntschaft mit jenem Systeme, das er im angeführten Joiunale so trefflich übte, und dessen theoretische Zweyseitigkeit er auch hier wieder zwischen FICHTE imd ScHELLiNG in Anwendung bringt. ... Interessant ist die Anspielung auf Hegels erste philosophische Veröffentlichung, die Differenz des Fichte'sehen und Schelling'shen Systems der Philosophie (Jena 1801). Rez. will andeuten, daß Hegel in dieser Schrift nicht nur zwischen FICHTE und SCHELLING unterschied, sondern bereits eine eigene Position zwischen beiden philosophischen Standpunkten einnahm. In der Phänomenologie bringe er diese Position, d. h. die theoretische Zweiseitigkeit des ScHELLiNGSchen Systems, zur Darstellimg. In sehr vereinfachter, aber nicht ganz unzutreffender Form wird hier der eigene philosophische Standpunkt Hegels charakterisiert. — Im Zusammenhang der Kritik am naturphilosophischen Formalismus spielt Hegel auf FICHTES Schrift Sonnenklarer Bericht an das größere Publicum, über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie (Berlin 1801) an (vgl. Phän. 43). Rez. mißversteht diese Stelle, indem er die Kritik an der leeren Identität des Absoluten nidit auf die ScHELLiNcianer, sondern auf „FICHTE'S Identitätslehre" bezieht. (2) In seinem Buch Vernunft und Verstand (Teil 2. Tübingen 1808. 372— 375; vgl. auch 377) geht J. SALAT auch auf die Phänomenologie ein. Während er Hegels Kritik an SCHELLINGS Naturphilosophie lobt, gibt er der an der frommen Sprache der idealistischen Philosophie nur bedingt recht:
Zeitgenössische Rezensionen der Phänomenologie
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Hr. C. VJ. F. Hegel, Dr. und (außerordentlicher) Prof, der Philosophie zu Jena &c., machte zu „Bamberg und Würzburg" den Isten Theil seines „Systems der Wissenschaft" bekannt: 765. S. u. XCI. S. Vorrede. In der langen Vorrede, welche die Stelle der Einleitung vertritt, ist mir vornehmlich auf gef allen: / 1) Hr. H. — bekannt vornehmlich als Mitherausgeber und Mitbearbeiter des „kritischen Journals der Philosophie" — erklärt sich nun kräftig wider die fromme Sprache, die uns zeither aus der idealistischen Schule entgegenscholl. Er spottet über eine Philosophie, die da „erbaulich seyn wolle"! (Gilt dieser Spott schlechthin! Liegt in jenen Formeln schlechthin keine Hinweisung auf das tiefere, lebendige Princip?) „Das Schöne", sagt er S. IX, „Heilige, Ewige, die Religion und die Liebe sind der Köder, der gefodert wird, um die Lust am Anbeißen zu erwecken; nicht der Begriff, sondern die Ekstase, rücht die kalt fortschreitende (!) Nothwendigkeit der Sache, sondern die gährende Begeisterung soll die Haltung und fortleitende Ausbreitung des Reichthums der Substanz (1) seyn". ... Besonders über die Spielerey der sogenannten Naturphilosophen wird S. LXI. bis LXII. ein treffendes Wort gesprochen. ... Und / 2) Die „Idee" wird S. LXIX. für die „bestimmte Allgemeinheit" oder für das, was man „Art (species)" nennt, erklärt: von ihr, und zumal von den „Ideen", dem Losungsworte der Idealistik, ist da nicht weiter die Rede. Hingegen der „Begriff" tritt nun wiederum vor. Er wird als das Organon der Wissenschaft aufgestellt! S. LXIV: „Die Wissenschaft darf sich nur durch das eigne Leben des Begriffs organisiren" &c.; S. LXXXVIII: „Das, wodurch die Wissenschaft existirt, ist die Selbstbewegung des Begriffs". U.s.w. So führet nunmehr der neue Dogmatismus auch buchstäblich zu dem alten zurück! ... — Erscheint nicht, bey einem kritischen Blick' auf diese, zum Theil' so widersprechenden, Produkte der Zeit, eine Ansicht, welche Idee tmd Begriff verbindet, gerad' in der Mitte? / Gleichwohl äußert sich schon in diesem Theile des Hegelschen Systems wohl kennbar, ja sprechend, der alte oder „wohlbekannte" Geist der Idealistik. Man lese z. B. nur das kurze Kapitel: „Die Tugend und der Weltlauf". S. 317. &c. Sichtlich waltet da die Idee der Providenz, aber einseitig, verzerrt: die Zukunft wird mit der Gegenwart vermischt; der Begriff, wie er für die letztere gilt, ist schlechthin aufgehoben, z. B. in Bezug auf ein erscheinendes (auffallendes) Mißverhältniß zwischen Verdienst und Schicksal. Oder man lese, was er S. 404. u. 405. über die „Collision der Pflichten", so wie von jener zwischen „Pflicht und Leidenschaft", sagt: beyde werden schlechthin aufgehoben; erstere als ein „komisches", letztere als ein „schlechtes Schauspiel"! Von dem schönen Tugendkampfe wird darm hier eben darum ganz abgesehen. Natürlich: es wird die Absolutheit, die Vollendung, auf die Menschheit übertragen. Also hier noch das alte idealistische Spiel! / Uebrigens zeigt Hr. H. allerdings in diesem Werke den denkenden Kopf und den Mann von mancherley Kenntnissen. Auch ist da seine Schreibart um ein ziemliches besser, als in jenem unvergeßlichen Journale, worin bekanntlich Mehr von ihm herrührte, als von Collega (Mitherausgeber) Schelling, obwohl natürlicher Weise nicht ohne dessen geistige Zustimmung. / Aber lustig (komisch) ist öfters seine Dar-
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stellungsweise, das Gesuchte oder Paradoxe darin, zumal an den Aufschriften, z. B.: „Die absolute Freyheit und der Schrecken; das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels; das geistige Thierreich und der Betrug oder die Sache selbst" u. a., besonders auch von der formellen Seite der Wissenschaft, z. B. „Gewißheit und Wahrheit der Vernunft". Die These, daß die Vorrangstellung des Begriffs zum alten Dogmatismus zurückführe, erinnert an die Antwort an den Rezensenten in der Oberdeutschen Allgemeinen Litteraturzeitung. Interessant ist der Hinweis, daß Hegel jetzt klarer als im Kritischen Journal der Philosophie schreibe und daß er an jenem „unvergeßlichen" Journal „bekanntlich" mehr als SCHELLiNG gearbeitet habe. Es ist nur zu verständlich, wenn SALAT von jenem unvergeßlichen Journal spricht, wurde doch in einem Notizenblatt in Bd 1, Stück 2 nicht nur über seine Arbeiten, sondern auch über seine Person der Stab gebrochen. ® In der 2. Auflage seiner Schrift Auch die Aufklärung hat ihre Gefahren! Ein Versuch zum Behufe der hohem Kultur (München 1804. 455 f) versucht SALAT, sich gegen diese scharfe Polemik zur Wehr zu setzen. Seine Besprechung der Phänomenologie wäre vermutlich noch anders ausgefallen, wenn die von I. NIETHAMMER angeregte Rezension einer Schrift SALATS durch Hegel in der Allgemeinen Literatur-Zeitung veröffentlicht worden wäre. Wie SALATS Buch lieber den Geist der Philosophie; mit kritischen Blicken auf einige der neuern und merkwürdigem Erscheinungen im Gebiete der philosophischen Literatur (München 1803. 37 Anm., 379, 447, 462, 467, 470, 494) zeigt, war er ein aufmerksamer Leser des Kritischen Journals. An einer Stelle (vgl. 34 ff Anm.) setzt er sich mit Hegels Verteidigung des Genies ® auseinander. Für SALAT hat das Genie nur bedingten Wert, ein großes Talent oder Genie ohne die Grundlage eines guten Willens gebe noch kein Vorrecht zur Philosophie. Es überrascht, daß SALAT in seiner Rezension der Phänomenologie nicht auf Hegels scharfe Kritik am Geniewesen eingeht, könnte er hier doch eine Wandlung Hegels, die sich seinem eigenen Standpunkt nähert, konstatieren. Ebenfalls erstaunt es, daß er Hegels Polemik gegen das Erbauliche in der Philosophie als Kritik an der frommen Sprache der idealistischen, d. h. ScHELLiNGSchen Schule deutet und nur sehr indirekt auf sich selbst bezieht; geht er doch in seinen Schriften öfters vom Glauben, von der Offenbarung und dem Heiligen als Gnmdlage der Philosophie aus. An einer Stelle der ® Vgl. G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. Hrsg, von H. Büchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968. 257 ff. I Vgl. ebd. 555 f. 8 Vgl. ebd. 236 f.
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Vorrede scheint Hegel sogar sehr deutlich gegen SALAT ZU polemisieren (vgl. Phän. 56), wenn er auf den Vorwurf der Sophistik, den der gemeine Menschenverstand gegen die spekulative Philosophie erhebt, eingeht. Hegel greift hier offenbar auf die alte Auseinandersetzimg mit SALAT im Kritischen Journal der Philosophie zurück. SALATS Vorwurf, im nachkantischen Idealismus seien glänzende Sophisten aufgestanden, war — vermutlich von Hegel selber — dort scharf zurückgewiesen worden. An der betreffenden Stelle der Vorrede der Phänomenologie richtet sich Hegel außerdem dagegen, daß von einigen Gefühl, Herz und Gewissen dem Begriff vorangestellt werden. Diese Kritik ließe sich ebenfalls als Kritik an dem philosophisch-erbaulichen Standpunkt SALATS verstehen. ® (3) Im Jahre 1809 veröffentlicht die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung (Jg. 6, Bd 1. 7.—10. Februar: 241—272) eine umfangreiche Rezension von K. I. WiNDiscHMANN die den Text hauptsächlich referiert oder in Auszügen wiedergibt. Er geht das Werk kapitelweise durch, im Anfang detaillierter als am Schluß, wo die Überlänge der Rezension zur Kürze zwingt. Es fehlt eine Besprechung der Ausführungen über gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft, sowie über die Wahrheit der Aufklärung. Auf die Darstellung des Gewissens wird nur mit einem Satz eingegangen. Beim Referieren des langen Kapitels über die Religion, dessen Inhalt der Rezensent offenbar gern ausführlicher besprochen hätte, hilft er sich durch die Erklärung: „Dieser wichtige Abschnitt von der Religion muß gelesen werden." Es folgt aber doch eine kurze Charakterisierung der Hauptmomente. An manchen Stellen fügt WINDISCHMANN seinem Referat eigene Bemerkungen — meistens in Klammern — hinzu. So sagt er von dem Ding der Wahrnehmung, dem Medium vieler Eigenschaften, daß es das „wunderbare, oft verwirrte Ding des ARISTOTELES und der Scholastiker" (245) sei. Die Darstellung des Verhältnisses zwischen Ding und Eigenschaften für das wahrnehmende Bewußtsein glaubt er mit einem bestimmten Abschnitt der Philosophiegeschichte in Entsprechung bringen zu können: * Vgl. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. 257—261, bes. 260; vgl. auch 606 Anm. zu 258, 21—261, 4. Vgl. ferner Salat; lieber den Geist der Philosophie. 99 ff, 234 ff. — Zum philosophisch-erbaulichen Standpunkt Salats vgl. ebd. 15, 126, 189, 198, 202, 211 f, 396 f. Zur Person Windischmanns vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 4. 322. Windischmann studierte Philosophie und Medizin, war Hofmedikus in Aschaffenburg, ab 1803
Prof, der Philosophie und Geschichte. Er stand zunächst Schellings Lehre nahe.
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Reiflich erwägend finden wir, daß diese Entwickelung des unmittelbaren Bewußtseyns nirgends bestimmter nachgewiesen werden kann, als in der Geschichte der hellenischen Philosophie bis auf den SOKRATES: was in den drey ersten Abschnitten dieses Werkes gesagt wird, kann als Schlüssel zu jener dienen, wie sie selbst dagegen zum Beyspiel. (247 f) Die revolutionäre Dynamik der Herr-Knecht-Dialektik im Selbstbewußtseinskapitel verkennt WINDISCHMANN, wenn er eine Anspielung Hegels auf eine Bibelstelle wortwörtlich nimmt. Durch die Emanzipation des arbeitenden Knechtes verliert der Herr seine Herrschaft. Der Rezensent deutet diese Dialektik aber religiös: Die Verachtung und die Furcht des Negativen bringen diese Zustände hervor, welche die nothwendigen Durchgangspuncte der wahren Befreyung sind: derm die Furcht des Herrn ist der Anfang aller Weisheit und das Erbeben des Inneren ein Aufruf unseres ganzen Wesens sich aus sich selbst eine unvergängliche Gestalt zu geben. Es ist zuletzt nach aller Mühseeligkeit ein freudiges Erkennen des Herrn, der es rein und werth genug gehalten, in ihm einzukehren ... (254) Der Skeptizismus wird mit Recht als eines der wichtigsten Momente der dialektischen Entwicklung der Phänomenologie erkannt, die Charakterisierung des unglücklichen Bewußtseins vorsichtig kritisch beurteilt. Hegel zeige auf mehreren Seiten „etwas verwirrt", wie die Preisgabe der unwandelbaren Gestalt des Absoluten durch dieses selbst von dem Bewußtsein nicht nur Dank, sondern auch Opfer fordere. Den schwierig zu interpretierenden Übergang vom Selbstbewußtsein zur Vernunft sieht WINDISCHMANN einseitig vom religiösen Standpunkt des unglücklichen Bewußtseins aus: In jenem Gegenstand aber, worin ihm [dem Bewußtsein] kein Thun und Seyn als dieses einzelnen Bewußtseyns, Seyn und Thun an sich ist, ist ihm die Vorstellung der Vernunft geworden, der Gewißheit des Bewußtseyns in seiner Einzelnheit absolut an sich oder alle Realität zu seyn (d. h. absolut in seinem innerlichsten Wesen zu seyn, nicht nach dessen Preis gegebener Wohlthat lüstern dennoch eitler Weise zu danken, sondern ohne Bedenken xmd ohne Berechnung in dem Unwandelbaren zu verharren und dem Unbegreiflichen sich hinzugeben). (256) Zur Darstellung des Standpunkts der beobachtenden Vernunft wird kritisch bemerkt: Windischmann nimmt hier eine Interpretation vorweg, wie sie von W. Purpus (Zur Dialektik des Bewußtseins nach Hegel. Berlin 1908) ausgeführt wurde.
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Der Vf. windet sich hier durch manche Krümmen, um die Nothwendigkeit der Integration der organischen und unorganischen Natur durch einander und deren Fassung in dem allgemeinen Individuum — der Erde — herbeyzuführen, welche schon lange vor Augen stand, und durch so viel Redseligkeit eben nicht dringender wird. So hat er dann, ebenfalls allzu mühselig, zuletzt erkannt, daß der Beobachtung an dem gestalteten Daseyn nur die Vernunft als Leben überhaupt werden kann, und die beobachtende Vernunft demnach in der organischen Natur nur zur Anschauung ihrer selbst als allgemeinen Lebens überhaupt kommt, und die Gestaltungen des innerlichen und besonderen Lebens der Dinge ihr vorerst nur erst als ein Spiel von Beziehungen vorschwebt, ohne daß sie noch den Emst imd die Nothwendigkeit begreift. (260) Den bereits im Vernunftkapitel angekündigten Übergang von der griechischen Sittlichkeit zur moralischen Weltanschauung (vgl. Phän. 260 f), d. h. der praktischen Philosophie KANTS und FICHTES, mißdeutet der Rezensent, wenn er ihn als Übergang zu dem „nach Innen gewandten Suchen und dem tiefen Drang des Mittelalters" interpretiert. Große Bedeutung wird der Hervorhebung des Moments der Individualität im Vernunftkapitel beigemessen. Die Individualität sei eigentlich das zu heiligende: „Ein wichtiges Wort [daß die Wirklichkeit die Individualität ist], was sich einst in der, wills Gott, bald weiter gedeihenden Ethik bey mehrerer Ausführung gar eigenthümlich und groß ausnehmen wird." Gegen die Darstellung des Verhältnisses zwischen göttlichem und menschlichen Gesetz, zwischen Mann und Frau bei den Griechen erhebt WINDISCHMANN den Vorwurf der Schwerfälligkeit. Zur Phänomenologie der Kunstreligion bemerkt er: Die Ansicht des Vfs. von der Entwickelung der Götterwelt dem Sichgleidifinden des künstlerischen Geistes mit diesem seinem Werk, dem Erheben über dasselbe, dem Wesen der Orakel, des Cultus, der Reinigungen, der Opfer; ihrer Heimkehr zu dem Opfernden und der Opferung des Wesens selbst im Geheimniß des Brods und Weins und der Entdeckung des Lichtwesens in den Mysterien höherer Weihe; endlich der Feyer des Menschen in geheiligtem Spiel und Bewegung u.s.w. ist tief gefaßt, wenn sie gleich noch tiefer, und wir möchten sagen, comparativ physiologisch in der Folge sich darstellen lassen mag. (271) Obwohl die Rezension Resultat einer eingehenden Lektüre ist, liegt ihr doch kein kritisches Verständnis des Werkes zugrunde. Die Kritik bezieht sich mehr oder weniger nur auf den Stil Hegels. Fehldeutungen des Rezensenten beruhen auf einem einseitig religiösen Blickwinkel. Dieser religiöse Ton kennzeichnet nach SCHELLING WINDISCHMANNS Rezensionen in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung überhaupt: „Wie es guten Freunden geziemt, erlaube ich mir über Ihre Recensionen in der Jen. L. Z.
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überhaupt eine Bemerkung. Sie haben mir hie und da zu fromm geklungen und war zu viel von Gottesfurcht die Rede. Das Versinken in Gott ist wohl herrlich als Fassung und Zustand des Empfangens, aber nicht als Ausbildung des Empfangenen." in demselben Brief (München, 30. Juli 1808) äußert ScHELLiNG auch hinsichtlich der Rezension der Phänomenologie die Befürchtung, daß WINDISCHMANN Hegel zu sehr von der gottesfürchtigen Seite nehme: „Ich bin sehr begierig, was Sie mit Hegel angefangen. Mich verlangt zu sehen, wie Sie den Weichselzopf entwirrt haben; hoffentlich haben Sie diesen nicht von der gottesfürchtigen Seite genommen, so unrecht es wäre, ihm andrentheils die Art hingehen zu lassen, womit er, was seiner individuellen Natur gemäß und vergönnt ist, zum allgemeinen Maß aufrichten will." Was ScHELLiNG hier genau meint, ist nicht ganz klar. Vermutlich würde aber SCHELLING dem Rezensenten der Oberdeutschen Allgemeinen Litteraturzeitung zustimmen, der Hegel nationale Selbstgefälligkeit, übersteigertes Selbstbewußtsein, Verachtung jeder anderen Philosophie vorwirft. (4) Im gleichen Jahr erscheint in der Allgemeinen Literatur-Zeitung (Halle und Leipzig 1809. Bd 1. 24./2S. April. 929—940) eine wieder sehr polemisch
gehaltene, anonyme Rezension. Sehr wahrscheinlich stammt sie von F. KöPFEN. Am 27. 11. 1807 schreibt F. H. JACOBI an J. F. FRIES: „Zum Lesen von Hegels dickem Werke komme ich schwerlich. NIETHAMMER hat mir mit Interesse davon gesprochen. Wahrscheinlich wird es KOPPEN für die Hallische Literaturzeitung rezensieren, da werde ich denn doch einigen Begriff vom Ganzen, von Zweck und Mitteln erhalten." Auch Stil tmd Inhalt sprechen für die Verfasserschaft KöPPENS: Es gehört zur Eigenthümlichkeit der deutschen Philosophie, bey allem Entstehen und Vergehen der neuern Systeme, bey allem Hader imd Kampf der verschiedensten Parteyen, nie müde zu werden in ihrer alten Liebe, sidi als systematische Geschlossenheit zu vollenden; und gleichsam auf der Pilgerschaft zum gelobten Lande begriffen, sich die unwandelbare Sehnsucht, darnach imgeachtet jegliches Wandels und Mißgeschicks nicht aus dem Herzen reißen zu lassen. Wir sind nun freylidi keineswegs gesonnen, die Stärke des Charakters, welche sidi in solchem Beharren verkündigt, herabzusetzen, und etwa den Glauben an ein gelobtes Land, falls es wirklich ein solches ist, zu verkümmern imd F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente. Hrsg, von H. Fuhrmans. Bd 3: 1803— 1809, Zusatzband. Bonn 1975. 530. “ Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg, von G. Nicolin. Hamburg 1970. 87. — Zur Person F. Köppens vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 4. 252. Koppen, ein Anhänger Jacobis, wurde 1807 Professor der Philosophie in Landshut.
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zu verkleinern; allein die Prüfung jener philosophischen Volksmeinung wäre um so nothwendiger, wenn bedeutende Stimmen sich dagegen erklärt haben, und es keine Führtmg eines durch Prophetenblick gewiß gewordnen Moses giebt, um uns nach weit mehr als vierzigjährigem Irren in der Wüste endlich an die Gränze des verheißnen Bodens zu bringen. Daß man sage, man sey ein solcher Moses, wie unter andern der Vf. vorliegender Schrift; entscheidet eben nicht viel und stillt nicht den Durst nach den lebendigen Brunnen Canaans. / Die Sache nämlich ist: Es soll der Philosophie, als der Lehre des ursprünglichsten und ersten Wissens, als der Lehre des Anfanges und des Endes aller unsrer Erkenntniß, ein solcher wissenschaftlicher Zusammenhang ertheilt werden, daß jeglicher Theil dieser Lehre mit dem gesammten Ganzen in nothwendigster Einheit stehe, daß er gegen allen Zweifel mit der vollkommensten Evidenz gesichert sey, daß keine individuelle Ueberzeugung für oder gegen gewisse Grundsätze den Ausschlag gebe, sondern die Objectivität, oder Allgemeingültigkeit des Wissens nadt den strengsten Foderungen der Demonstration vollendet werde. In diesem Sinne spricht der Vf. (S. VI.): „Die wahre Gestalt, in der die Wahrheit existirt, kann allein das wissenschaftliche System derselben seyn. Daran mit zu arbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, — dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können, und wirkliches Wissen zu seyn, — ist es, was ich mir vorgesetzt." — Hiebey wollen wir bemerken: Es ist eine durchaus falsche Ansicht, wenn man meynt, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher kommen könne; daß der eine Philosoph sie etwa bis zehn Schritt vor dem Ziele hinschiebe, der andre etwa noch fünf Schritt weiter, bis sie denn endlich, so Gott will, auf den rechten Punkt hingeschoben und vor aller Welt aufgerichtet werde. Sobald Wissenschaft gefunden ist, steht sie da als solche, in ihrer einzig möglichen Form; und bevor sie rdcht dasteht als Wissenschaft in ihrer Form, ist sie überall nicht gefunden. ARISTOTELES war Erfinder der Logik, und weil die Logik sich innerhalb ihrer Sphäre als Wissenschaft vollendet, hat sie, nach KANTS richtiger Bemerkung, seit dem ARISTOTELES keinen Schritt rückwärts thun dürfen, wenn man ihr nicht etwa die Wegschaffung einiger entbehrlichen Subtilitäten, oder deutlichere Bestimmung des Vorgetragnen, als Verbesserungen anrechnen will, welches aber mehr zur Eleganz, als zur Sicherheit der Wissenschaft gehört. Gleichergestalt hat auch die Mathematik seit ihrem Daseyn den sichern Gang und die feste Form der Wissenschaft gewonnen, und als Ramus eine neue Sekte in der Mathematik stiften wollte, vermochte er nichts, als die Ordnung einiger Sätze im Euklid zu tadeln. Soll also Philosophie eine solche systematische Wissenschaft seyn, wie die Logik und Mathematik, so nähert sie sich nicht dieser Wissenschaftlichkeit, sondern sie constituirt sich unmittelbar in derselben, und verträgt dann in ihrer constitutiven Form keine Veränderung mehr. (Vergl. d. Vorr. zu KANTS Kr. d. reinen Vernunft zweyte Aufl.) Es fehlen durchaus alle Mittelglieder zwischen den Gegensätzen: die Philosophie ist entweder System, oder Nicht-System; entweder Wissenschaft, oder Nichtwissenschaft. / Aus dem bisher Erinnerten folgt freylich
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nicht, daß eine Constitution der Philosophie als systematische Wissenschaft unmöglich sey; aber es folgt, sie sey unwirklich, so lange man noch über die Principien streitet und die Wissenschaftlichkeit verkehrt genung allmählig herbey zu führen meynt. Auch sind durch KANTS kritische Untersuchungen die Resultate bewährt worden: daß durch Logik keine philosophisch nothwendige Wissenschaft gewonnen werden könne, weil aller Verstandesgebrauch an die Erfahrimg gebunden sey, und die Metaphysik, als speculative Vernunfterkenntniß, sich doch gänzlich über Erfahrungserkenntniß erheben müsse; daß auch der Philosophie keine mathematische Construction eigenthümlich seyn könne, weil ihr die Anwendung ihrer Begriffe auf Anschauung fehle, und also die Vernunft ihr eigner Schüler seyn müsse. Mit diesen Resultaten und Entdeckungen soll sich vorläufig derjenige vertraut machen, der zur Aufbauung eines neuen Systems der Wissenschaft ans Werk schreitet; er soll sich diese Resultate in. allen ihren Beziehungen und Folgen entwickeln; und wir sind gewiß, daß eine Menge von luftigen Constructionen der Philosophie nicht das Tageslicht der Büchermesse erblickt hätten, wären ihre Vf. vorher aufmerksamer mit sich selbst zu Rathe gegangen. Giengen sie aber mit sich zu Rathe, so mußten sie vor dem systematischen Baue diese Resultate widerlegen. Beiden Foderungen leistet unser Vf. keine Genüge. Statt dessen fällt er folgende Urtheile über das mathematische Erkennen: [Phän. 36 ff wird auszugsweise zitiert.] — In diesen Aussagen läuft das etwa Richtige mit dem durchaus Schiefen wunderbar durch einander. So z. B. um nur die letzte Aeußerungen zu berühren, beachtet allerdings die Mathematik die Größe, wie das in allen Compendien steht; aber dieß kann kein unwesentlicher Unterschied genannt werden: denn aller Größenunterschied ist quantitativer Unterschied, und als solcher der Quantität wesentlich. Qualitativer Unterschied ist freylich ein andrer und zur Erkenntniß desselben paßt nicht das Maß der Quantität. Qualitativer Unterschied ist der Qualität wesentlich, wie quantitativer der Quantität. Grade aber das quantitative Verhältniß ist das begreifliche, vollständige Wissen; da hingegen qualitative Verhältnisse als solche, nie zur vollständigen Begreiflichkeit, also auch nicht zur Vollkommenheit des Wissens gelangen. / Nach demjenigen, was uns sonst schon von dem Vf. bekannt geworden ist, stand zu vermuthen, daß er ein System der Wissenschaft durch absolute Anschauung, gleich den neuern Identitätslehrern, construiren werde, da er selbst einst für die höchste Synthese der Speculation „die Vernichtung des Bewußtseyns selbst, und das Versenken des Reflectirens der absoluten Identität und des Wissens und der Vernunft in den eignen Abgrund" [Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. 23] foderte. Wider alles Vermuthen aber hat ihm jetzt die Wahrheit „an dem Begriffe allein das Element ihrer Existenz" und er äußert sich gegen seine eigene frühere Vorstellung. [Phän. 12—15 und Phän. 19 wird auszugsweise zitiert.] Wir könnten noch mehrere Stellen anführen, wenn diese nicht genügten, in welchem Hr. H. gegen sein altes philosophisches Ich zu Felde zieht imd ihm nach Verdienst die derbsten Wahrheiten sagt; nur freylich imterläßt er, aus Bescheidenheit, seine Lehrer [Leser?] zu erinnern, daß er selbst einst
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in jener Naivität der Leere an Erkenntniß sein eigenstes Wesen getrieben. So ist auch, nach des Vfs. Ansicht im gegenwärtigen Buche die wundersame Weisheit der neuern Naturphilosophie ein bloßer Formalismus. [Es folgt ein Zitat aus Phän. 41 f.] Hr. H. hat mit diesen Worten, wie andre vor ihm und gegen ihn selbst (gegen sein altes Ich nämlich) die Nichtigkeit der angeblichen Constructionen in der Naturphilosophie gut ins Licht gestellt. / Dagegen wird nun in vorliegender Schrift dem neuerdings sehr zurückgesetzten Verstände die größte Ehre angethan. Seine Kraft und Arbeit, die Thätigkeit des Scheidens, wird die wundersamste tmd größte, oder vielmehr die absolute Macht genannt. [Es folgt ein Zitat aus Phän. 29.] Der Verstand also, indem er weder Tod noch Teufel scheut, ist der Wahrheit und wissenschaftlichen Einsicht alleiniger Vater, da diese nur „in der Arbeit des Begriffes zu gewinnen sind." (S. LXXXVllI.) Die Bewegung der Momente des Geistes, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisirt, ist speculative Philosophie oder Logik. (S. XLII—XLIV.) Das Speculative ist nichts als logische Nothwendigkeit (S. LXX.) imd unser ganzes speculatives Wissen ist also ein logisches Wissen. — Wir sind über diese Aussage im höchsten Grade erstaunt. Jahrhunderte lang war logisch definirt und systematisirt worden, so daß sich der eigentliche Inhalt speculativer Philosophie in Logik auflösen ließ. Da trat KANT auf und behauptete, dieser Weg tauge nicht zur Vollendung, und erwies diese Behauptung durch scharfsinnige Kritik alles Erkennens. Seine Nachfolger hüteten sich demnächst sorgfältig, die Logik als eine Fundgrube der höchsten Wahrheit zu betrachten, und meynten am Ende sogar (wie unter andern Hr. H. selbst) die höchste Wahrheit bewähre sich am besten dadurch, daß sie logischer Unverstand sey. Nun tritt wieder Hr. H. auf, und macht die ganze speculative Philosophie zur Logik. Was kann durch solche willkürlich gemachte Aenderungen gewonnen werden? Soll nicht der Schriftsteller, welcher ein neues System der Wissenschaft vorträgt, die Bedingungen erfüllen, welche man nach dem Stande der Wissenschaft mit Recht an ihn machen darf? Soll er demjenigen gradehin widersprechen, was für wahre Entdecktmg in der Wissenschaft gilt, und sich selbst auch, ohne kenntlich zu machen, warum Entdeckung und Widerspruch seinen Behauptungen nicht schaden? / Die Qual, aus dem logischen Verhältniß der Begriffe das Wesen der speculativen Philosophie zu begründen und dem an sich bloß formellen Abstrahiren reelle Bedeutung zu verschaffen, geht durch das ganze an Seitenzahl so reiche Werk. Die Hauptrubriken sind; Bewußtseyn, Selhstbewußtseyn, Vernunft, der Geist, die Religion, das absolute Wissen. — Es hat uns nicht gewimdert, daß Hr. Hegel das Allgemeine zum Wahren macht: denn in der Logik wird allerdings das Besondre aus dem Allgemeinen als seinem Grunde entwickelt, und der Mißgriff der Philosophen ist nicht neu, das logische Abstractum des Allgemeinen für das Wahre der Dinge zu halten. So sagt unser Vf.: [Es folgen Zitate aus Phän. 80, 82 und 91.] Da dieses Auch nichts anderes ist, als die logische Copula eines gewissen Subjects und des mit ihm gleichgesetzten Prädicats, welche Gleichsetzung nur in der sinnlichen Anschauung ihre Bewährung zu finden vermag.
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so nimmt alle Dingheit (Realität) aus der Anschauung ihre Realität, nicht aus der bloßen Gleichsetzung des Verstandes. Diese Gleichsetzung ist ohne jene Anschauung, für sich imd isolirt genommen, durchaus Nichts. Hr. H. meynt aber an seinem Audi einen großen Fund gemacht zu haben. Er nennt die Welt, worin dergleichen absolut allgemeines (ein absolut Allgemeines ist ein Widerspruch) sein Wesen hat, die übersinnliche und wahre Welt, das An sich, worin die Wahrheit ihr Wesen hat, imd nun beschreibt er diese übersinnliche Welt als ein ruhiges Reich von Gesetzen, zwar jenseits der wahrgenommenen Welt, denn diese stellt das Gesetz nur durch beständige Veränderung dar, aber in ihr eben so gegenwärtig, und ihr unmittelbares stilles Abbild. (S. 78) Zugleich heißt diese übersinnliche Welt die verkehrte Welt, und herzhaft wird uns zugemuthet: „Es ist der reine Wechsel, oder die Entgegensetzung in sich selbst, der Widerspruch zu denken" (S. 92). Wir wünschen zu dem philosophischen Funde Glück, können aber nicht umhin, nach bisheriger Logik, ein solches Denken des Widerspruchs für eine Aufhebung des logischen Denkens überhaupt zu erklären. Eine Welt von Widersprüchen ist eben darum keine gedachte Welt, und überhaupt keine Welt. / Aus der Liebe zum Denken des Widerspruchs, der Entgegensetzung in sich selbst, erklären wir uns manche sonderbare Ueberschriften der Abschnitte des Buches, deren Wahl sonst vollkommen sinnlos scheinen müßte. So lautet z. B. ein Abschnitt S. 333. „Das geistige Thierreich und der Betrug, oder die Sache selbst." Andre Zusammenstellungen sind auf ähnliche Weise merkwürdig. Um unsem Lesern die Art und Kunst des Vfs. zur Anschauung zu bringen, so weit es innerhalb der Schranken dieser Blätter möglich ist, wählen wir noch die Darstellung des doppelten Bewußtseyns, des Herrn und des Knechtes, welche sich S. 121. fg findet. [Es folgt ein Zitat aus Phän. 145—148.] — u. s. w. / Es könnte seyn, daß mancher Leser bey Lesung der angezognen Worte sein Streben nach Weisheit und seine Lernbegierde zurückgedrängt fühlte, und wir würden ihm alsdann Glück wünschen, werm er in sich gienge, nicht mehr von ähnlicher Hand sein Heil erwartete, sondern zur Selbstständigkeit umkehrte. Sollte er aber rücht in sich gehen können, und von ähnlichen systematischen Geburten Befriedigimg des Kopfes und des Herzens hoffen, nach einem Aeußem trachtend, dürren logischen Wust und geschmacklose Darstellung als einen Schatz ergreifend; so mag er seinen Weg verfolgen, es wird ihm an Schatzgräbern von allerley Art nicht fehlen. Wie schon J. SALAT macht KöPFEN auf die paradoxen Formulierungen der Überschriften aufmerksam. Im Unterschied zu allen anderen Rezensionen stellt diese scharf die Wandlung des Hegelschen Denkens heraus. Der Rez. der Oberdeutschen Allgemeinen Litteraturzeitung erklärte, Hegel habe in der Phänomenologie — wie schon in seiner ersten philosophischen Veröffentlichung aus dem Jahre 1801 — die theoretische Zweiseitigkeit des ScHELLiNGSchen Systems zur Darstellung gebracht. Nun wird hingegen ein Gegensatz zwischen Hegels philosophischer Vergangenheit und seinem
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Standpunkt in der Phänomenologie entdeckt. KOPPEN glaubt erkennen zu können, daß Hegel gegen sein altes philosophisches Ich zu Felde zieht, wenn er den Verstand gegenüber der Anschauung aufwertet. KöPFEN kann eine Vertrautheit mit Hegels philosophischem Werdegang nicht abgesprochen werden, hatte er sich doch in seiner Schrift Schellings Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts (Hamburg 1803) bereits ausführlich mit Hegel auseinandergesetzt. Als Kenner der ersten Schriften erinnert er daran, daß Hegel in der Differenz des Fichte'sehen und Schelling'sehen Systems der Philosophie noch weit von einer Gleichsetzung von Philosophie und Logik entfernt war. KOPPEN dürfte auch als erster Kritiker der Phänomenologie darauf hingewiesen haben, daß die Aufforderung, den Widerspruch zu denken, einen klaren Verstoß gegen die Gesetze der formalen Logik enthält. (5) Ähnlich wie KöPFEN kritisiert ein Rezensent der Neuen Leipziger Literaturzeitung (115. Stück. 25. September 1809. 1825—1831) Hegel. Auch er
sieht einen Gegensatz zwischen den ersten Jenaer Schriften Hegels und der Phänomenologie. Der frühere Verächter der Logik mache nun die Logik zum Wesen der Philosophie. Hegel habe es versäumt, KANT ZU widerlegen, der die Differenz zwischen Logik und realem Wissen klar aufgezeigt habe. Wie KöPFEN wendet sich der Rezensent gegen die These, Aufgabe der Philosophie sei es, den Widerspruch zu denken: Es gab eine Zeit in Deutschland, in welcher gegen alle gesunde Logik, die Logik mit solcher Verachtung behandelt wurde, dass man ihre Klarheit vermied, und dunkel schrieb, um tiefsinnig zu erscheinen, ja sogar, dass man alles Unverständige als die höchste Einsicht priess imd den logischen Widerspruch zum Charakter der Wahrheit machte. Ob diese Zeit noch fortdaure, oder wenigstens ihre Wirkimgen noch gegenwärtig an manchen philosophischen Schriften zeige, mag imentschieden bleiben; so viel aber ist ims erinnerlich, dass der Vf. des gegenwärtigen Buches zu den überschwenglichen Verächtern der Logik gehörte, und sie samt allem Verstände in den sogenannten absoluten Abgrund der Vernunft begrub [vgl. Hegel; Gesammelte Werke. Bd 4. 23]. Daher seine verworrene widerliche Schreibart, in welcher stets eine gewisse Unbehülflichkeit und Geschmacklosigkeit hervorsticht, daher der Mangel an Evidenz der Sache, welche er vorträgt, deren Beschaffenheit und Bedeutung weit besser aus andern Schriften der neuern Schule zu erkennen ist, als aus den seinigen. In gegenwärtigem vor uns liegenden Werke — an Seitenzahl stark, und doch nur den ersten Theil eines Systems enthaltend — wird nun dagegen die Logik zum Wesen aller Philosophie gemacht, und der Verf. ist dadurch mit seiner früheren Ueberzeugung nicht identisch geblieben; desto identischer aber ist sein Vortrag, von welchem überhaupt wohl ein Schriftsteller am wenigsten scheiden kann, weil er
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aus der Individualität hervorgeht, die bey allem Wechsel der Meynung stets dieselbe bleiben muss. Wir sind nun freylich nicht einem jeden Wechsel der philosophischen Ueberzeugung abgeneigt, da es unstreitig geschehen kann, dass die bessere Einsicht erst mit den Jahren komme; indessen können wir demselben auch nicht sonderlich das Wort reden, da zu vermuthen steht, dass Jemand, der sich einmal einer unhaltbaren Meynung frisch hingab, auch zum zweytenmale nicht die gehörige Vorsicht gebrauche; gleichwie es physische Constitutionen gibt, welche bey einer herrschenden Epidemie leicht vom hitzigen Fieber ergriffen werden, und werm sie davon genesen sind, gleich wieder am kalten Fieber kränkeln. Was nun die Ueberzeugung betrifft, das logische Wissen sey das wahre philosophische Wissen, „die Wahrheit habe an dem Begriffe allein das Element ihrer Existenz" (S. VII.), so ist diese Annahme ein sehr alter Misgriff der Philosophie seit dem ARISTOTELES, und hat mit mehr oder minder Selbstbewusstseyn einer grossen Reihe systematischer Bestrebungen zum Grunde gelegen. Werm irgend Etwas der deutschen Philosophie zum Ruhme gereicht, so ist es die durch KANT evident gemachte Ohnmacht der Logik für alles reale Wissen; und welche Mängel man auch sonst an dem kritischen Bemühen des Königsberger Weltweisen entdecken möge, so bleibt doch dieses Resultat seiner Kritik ein wahrer Gewiim für die Wissenschaft. KANT muss zuvor widerlegt werden, ehe man gegen dieses sein Resultat ein System aufzustellen wagen kann. Der Verf. hat diese Widerlegung nicht geliefert, aber das System aufgestellt. Diese Sitte ist dem willkührlichen Behaupten, welches in der neuern deutschen Philosophie Platz genommen hat, gemäss. Der Verf. ist endlich darüber ins Reine gekommen, jenes prophetische Reden gehe aus dem Absoluten hervor, und jenes Eifern gegen die Reflexion tauge nichts — obgleich er diese Kunst selber getrieben — aber er stellt jetzt wieder die Reflexion zu hoch, wenn er sie als „positives Moment des Absoluten" erfassen will (5. XXIV). Die Sache nämlich ist: Es gibt kein andres Organon des begreiflichen Wissens, dessen was die Reflexion erkannt hat, als die Logik. Aber mit der logischen Einordnung ist die Realität des Wissens nicht ergründet, die logische Gliederung bezieht sich stets auf ein Relatives, Bedingtes, welches eben darum nicht der Grund seiner selbst seyn kann. Deswegen sprach man stets in der Philosophie von einem Absoluten, Unbedingten, als dem Grunde der Relativität xmd Bedingtheit, worüber das logische Denken uns keinen Aufschluss gibt. Hätte es diesen Aufschluss gegeben, so wäre die ganze Philosophie längst vollendet und geschlossen gewesen, gleichwie die Logik, welche ARISTOTELES aufstellte. Das Wesen des Hegelschen Buches besteht darin, dass er dem logischen Nachdenken und der Reflexion zu viel einräumt, zuweilen aber Reminiscenzen seiner frühem Gesinnung einmischt, dadurch also das Lesen seines Buchs sehr unerfreulich macht, der Wissenschaft aber keinen Gewinn bringt. Wir wollen dieses Urtheil durch einige Belege bestätigen. / S. XXIII heisst es: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwickelung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am
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Ende das ist, was es in Wahrheit ist, und hierin besteht eben seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder sich selbst Werden, zu seyn." Das Ganze ist das logisch Allgemeine, dieses entsteht durch Abstraction aus demjenigen, welches die Reflexion aufgefasst hat, es ist also Resultat des logischen auf Verhältnisse sich beziehenden Denkens. Aber das Absolute kann nie ein solches Resultat, kann nie ein Allgemeines seyn, sondern ist über alle Verhältnisse erhoben imd eben deswegen unbedingter Anfang. Es ist also der Grund und Boden der Wissenschaft nicht das „Wissen im Allgemeinen" (S. XXIX), denn dieses ist schon deshalb unmöglich, weil das Allgemeine immer ein Besondres voraussetzt, und man könnte noch mit mehrerem Rechte behaupten, der Grund imd Boden der Wissenschaft sey das Wissen im Besondren, weil sich erst aus diesem Besondren das Allgemeine entwickelt. Der Verstand, als das Vermögen der Begriffsbildung im Verhältniss des Allgemeinen tmd Besondem, ist deswegen durchaus keine „absolute Macht" (S. XXXVIII); sondern vielmehr eine durchaus endliche, gebunden in seinem Gebrauch an die sinnliche Anschauung. Auch sind die Begriffe keine „reinem Wesenheiten," und ihre „Bewegung" — ähnlich vielleicht den ursprünglichen Körperchen der Atomistiker — macht nicht die Natur der Wissenschaftlichkeit überhaupt aus (S. XLI). Vielmehr ist der Begriff stets das Unwesentliche, und muss sich auf ein Anderes (Idee oder sinnliche Anschauung) beziehen, wenn er reale Bedeutung haben soll. Es ist also auch nicht die „Logik = spekulativer Philosophie" (S. XLII—XLIV.). In dieser Beziehung sagt der Verf. selbst ganz richtig: „der Verstand giebt nur die Inhaltsanzeige, den Inhalt selbst liefert er nicht" (S. LXIV). Auch lesen wir 5. LIX: „Der Formalismus meynte die Natur und das Leben einer Gestalt begriffen und ausgesprochen zu haben, wenn er von ihr eine Bestimmung des Schema's als Prädikat aussagt — es sey die Subjektivität oder die Objektivität, oder auch die Elektricität, der Magnetismus U.S.W., was sich ins Unendliche vervielfältigen lässt, weil nach dieser Weise jede Bestimmung oder Gestalt bey der andern wieder als Form oder Moment des Schema's gebraucht werden und jede dankbar der andern denselben Dienst leisten kann, — ein Cirkel von Gegenseitigkeit, wodurch man nicht erfährt, was die Sache selbst, weder was die Eine noch die Andre ist." — In diesen Worten ist die Relativität aller logischen Einsicht gut ausgedrückt, und wenn die moderne Naturphilosophie sich mit leeren Worten bezahlt macht, so liegt dies unstreitig an ihrem inhaltlosen Combiniren gewisser allgemeiner Begriffe, womit sie fälschlich in das Wesen der Erscheinung einzudringen wähnt. An andern Orten redet aber der Verf. diesem leeren Combiniren selbst das Wort. Er sagt S. 105: Wesen des Lebens sey die Unendlichkeit als das Aufgehobenseyn aller Unterschiede, die reine achsendrehende Bewegung, die Ruhe ihrer selbst als absolut unruhigen Unendlichkeit, die Selbstständigkeit selbst, in welcher die Unterschiede der Bewegung aufgelöst sind; das einfache Wesen der Zeit, das in dieser Selbstgleichheit die gediegne Gestalt des Raums hat." — Schwerlich gibt es eine grössere Schwäche der modernen Naturphilosophie, als die Herleitung des zeitlichen Produkts (etwa des einzelnen Lebens) aus dem Abstraktum
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Zeit. Das Wesen des Lebens wäre nach angeführter Stelle das Wesen der Zeit, und dieses Wesen der Zeit wäre die Ursache des zeitlichen Daseyns. Die Logik nennt eine solche Angabe idem per idem, und es wird imstreitig durch solche Austauschung der Begriffe Zeit und Leben kein reales Wissen gewonnen. Noch deutlicher finden wir dieses leere Begriffsspiel S. 41, wo der Verf. die logische Allgemeinheit des Begriffs, in wiefern sie gleichsam das Medium ist, in welchem mehrere Attribute sich vereinigen, die zusammenfassende Dingheit nennt. Er erläutert dieses folgendergestalt; „das Salz ist weiss, auch scharf, auch kubisch gestaltet etc. Dieses Auch ist das reine Allgemeine selbst." Die blosse logische Copula gewisser Prädikate eines Dings wäre also das Wesen der Dinge und die wahre Basis der Wissenschaft!!! „Das Ding als das Wahre der Wahrnehmung ist die gleichgültige passive Allgemeinheit, das Auch der Eigenschaften. Materien." (5. 42)!!! / Neben diesem seltsamen logischen Spiele finden wir die alte Vorstellung des Verfs. von dem Heraustreten des einen Seyns aus sich selbst. Das Ding ist Eins, heisst es, in sich reflectirt, für sich; (jenes Audi nemlich, als das Wesen des Dings) aber es ist auch für ein Andres, und zwar ist ein Andres für sich, als es für ein andres ist." (S. 51) Ferner: „Aus dem sinnlichen Seyn wird der Gegenstand ein Allgemeines; aber dieses Allgemeine ist, da es aus dem sinnlichen herkommt, wesentlich durch dasselbe bedingt, und daher überhaupt nicht wahrhaft sich selbst gleiche, sondern mit einem Gegensätze afficirte Allgemeinheit. — Diese reinen Bestimmtheiten scheinen die Wesenheit selbst auszudrücken, aber sie sind nur ein für sich seyn, welches mit dem Seyn für ein Andres behaftet ist; indem aber beyde wesentlich in einer Einheit sind, so ist die unbedingte absolute Allgemeinheit vorhanden, und das Bewusstseyn tritt hier erst wahrhaft in das Reich des Verstandes ein." (S. 54) „Für sich zu seyn und zu andern sidi zu verhalten überhaupt macht den Inhalt des Gegenstandes aus, seine Natur und Wesen, deren Wahrheit ist, unbedingt allgemeines zu seyn, und das Resultat ist schlechthin allgemein." (S. 61) — In diesen Worten ist nichts exponirt, als der Begriff des Verhältnisses des Unbedingten zum Bedingten, allein es ist wohl zu merken, dass in diesem Verhältnisse, wenn es logisch in der Reflexion aufgefasst wird, das Unbedingte stets nur als Negation sich darstellt, durchaus nicht als Position; denn das Ponirte ist das Bedingte. Wenn es daher heisst: „In dem Irmem Wahren, als dem absolut allgemeinen, welches vom Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen gereinigt, und für den Verstand geworden ist, schliesst sich über der sinnlichen und erscheinenden Welt eine übersinnliche als die wahre Welt auf, über dem verschwindenden Disseits das bleibende Jenseits, ein An sich, worin die Wahrheit ihr Wesen hat;" (S. 73) so ist diese übersinnliche Welt für den Verstand bloss eine Verneinung der sinnlichen, eine blosse Unbestimmtheit, ein Nichts, welches der obigen Aeusserung zufolge als das Wesen der Wahrheit genommen werden soll. Nun kann nur bey einer Bestimmtheit von Gesetzen gesprochen werden, nicht aber bey der Unbestimmtheit, für welche es gar keine Gesetze gibt, und dennoch meynt der Verf. die übersinnliche Welt (nach dem Vorigen die Unbestimmtheit, die blosse Negation)
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sey ein ruhiges Reich von Gesetzen. (S. 78) Richtig genug sagt er bald darauf: „Der Verstand meynt, ein allgemeines Gesetz gefunden zu haben, welches die allgemeine Wirklichkeit als solche ausdrücke (z. B. Attraction); aber er hat in der That mur den Begriff des Gesetzes selbst gefunden; jedoch so, dass er zugleich dieses damit aussagt, alle Wirklichkeit ist an ihr selbst gesetzmässig." (S. 79) Warum gesteht er nicht, die Gesetzmässigkeit gelte nur für das bestimmte Sinnliche, nicht aber für das tmbestimmte Uebersinnliche? Jede Erkenntniss eines Gesetzes wird sich also auf sinnliche Data stützen, und der Verstand hat nur sein Wesen im Sinnlichen und führt uns nicht über die Sphäre desselben hinaus. Das erste Uebersinnliche ist also kein „ruhiges Reich der Gesetze," kein „unmittelbares Abbild der wahrgenommenen Welt" (S. 88) und eben so wenig kann es ausser dieser ersten übersinnlichen Welt noch eine zweyte geben, welche die Verkehrte dieser ersten seyn soll. (Ebendas.) Wir haben dann auch nicht nöthig, die Verkehrtheit derselben als „Entgegensetzung in sich selbst, als Widerspruch zu denken." (S. 92) Eine Philosophie, die uns dergleichen cmmuthet, nennen wir mit Recht eine verkehrte Philosophie. / Wir überlassen es dem Leser, das Verhältniss des Bewusstseyns als eines Herrn tmd eines Knechts selbst aufzusuchen (S. 122 fg.), woraus sich unter andern ergeben soll „die Wahrheit des selbstständigen Bewusstseyns sey das knechtische Bewusstseyn.” (S. 124) Wir müssen auch ferner jedem überlassen, sich mit dem unglücklichen Bewusstseyn bekannt zu machen, ob aus dieser Bekanntschaft ihm vielleicht ein Glück erwüchse. Sicherer Hesse sich noch eine gehörige Kenntniss der Chiromantie empfehlen, denn: „die Hand stellt das An sich der IncHvidualität in Ansehung ihres Schicksals dar, — sie ist der beseelte Werkmeister seines Glücks; man kann von ihr sagen, sie ist das, was der Mensch thut." (S. 249) Zugleich auch werden sie sich an der Aussage erbauen, „der Zweck der Tugend sey ein unwirkliches Wesen," und „das Bewusstseyn der Tugend beruhe auf einem Unterschiede des An sich und des Seyns, der keine Wahrheit hat," (S. 325) das Resultat bestehe darin, dass ,das Bewusstseyn die Vorstellung von einem an sich Guten, das noch keine Wirklichkeit hätte, als einen leeren Mantel fahren lasse;" (S. 328) dass ferner weder „Erhebung, noch Klage, noch Reue, Statt finde," weil dergleichen alles aus dem Gedanken herkommt, der sich einen andern Inhalt und ein andres An sich einbildet, als die ursprüngliche Natur des Individuums und ihre in der WirkHchkeit vorhandene Ausführung ist; (S. 341) und es steht zu erwarten, dass die Leser alsdann „nur Freude an sich erleben." (S. 341.) — Wir sind nicht ungeneigt, was von dem sittlichen Bewusstseyn gesagt wird, dass es „aus dem stygischen Wasser trinke," und dass die sittliche Handlung „dem Inhalte nach das Moment des Verbrechens an ihr habe," (5. 407. 409) auf uns selbst anzuwenden, imd einzugestehen, wie wir nach dem Tranke des stygischen Wassers der Philosophie des Verfs., imd nach der sittlichen Handlung der Anzeige seines Buchs, welche Handltmg dem Inhalte nach ein Verbrechen ist, uns sehnen nach lautem Quellen rmd lichten Räumen, dem Wüste einer leeren, düsteren und verworrenen Scholastik entfbehend. / Wohin wird
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die deutsche Philosophie durch solche Pfleger derselben gerathen, oder vielmehr, wohin ist sie schon gerathen? Die erschütternde Zeit wird auch die Armseligkeiten solcher Systeme erschüttern; der Geist muss triumphiren über den Buchstaben, Klarheit und Schönheit müssen siegen über Verwirrung und Ungestalt, xmd es begiimt alsdann eine neue Epoche für das Leben imd die Wissenschaft. Interessant ist der Hinweis, daß sich für Hegel das Unbedingte stets nur als Negation, nicht als Position darstelle. Die bloße Unbestimmtheit, das Nichts werde von Hegel als Wesen der Wahrheit genommen. Leider geht Rez. hier nicht zu einer Erörterung des methodischen Prinzips der bestimmten Negation über, deren Bedeutung in der Einleitung der Phänomenologie dargelegt wird. Dort grenzt Hegel seinen sich vollbringenden Skeptizismus von dem Skeptizismus ab, der mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit endet (vgl. Phän. 68). (6) In den seit dem Jahre 1808 erscheinenden Heideibergischen Jahrbüchern der Literatur (Jg. 1810, 1. Abt. 145—163, 193—209) findet sich eine längere Rezension der Phänomenologie von K. F. BACHMANN. Die Rezension besteht aus einer einleitenden Charakterisierung, einem längeren Auszug aus der Vorrede, sowie einem Referat der Einleitung und der einzelnen Kapitel. Der für das nächste Heft versprochene Beschluß der Rezension fehlt. BACHMANN war Hörer Hegels in Jena. Mit Recht kann er also von ihm als „unserm geliebten Lehrer" (147) sprechen. Am Schluß der Einleitung findet sich eine Polemik gegen WINDISCHMANNS Rezension. BACHMANN rechnet diesen offenbar zu den „SCHELLING nachtretenden Formalisten", deren „Armseligkeit" (148) in der Vorrede aufgedeckt werde. WINDISCHMANN habe deshalb seine guten Gründe gehabt, in seiner Rezension nicht auf die Vorrede einzugehen (vgl. 149). Im Unterschied zu den andern Rezensenten weist BACHMANN auf die wissenschaftliche Bedeutung der Vorrede hin. Leider geht er auf die methodischen Überlegungen der Einleitung nicht ein. Berühmt geworden ist sein Vergleich SCHELLINGS mit PLATO, Hegels mit ARISTOTELES: ,,.. . — kurz jene Eigenschaften, welche Hegel in einem seltnen Grade besitzt, und um derentwillen man, wenn Schellingen gewissermaßen den modernen PLATO, jenen mit größerem Rechte den Im Inhaltsverzeichnis wird Dr. Bachmann als Verfasser genannt. Zur Person Bachmanns vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 4. 186. Zunächst Schüler Hegels, wurde Bachmann später Gegner der Hegelschen Philosophie. Vgl. H. Kimmerle: Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801—1807), In: Hegel-Studien. 4 (1967), 61.
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deutschen ARISTOTELES nennen kann, vorausgesetzt, daß man nicht auf die Menge der Schriften, sondern auf das Eigenthümliche des aristotelischen Geistes sieht." (146 f) Dieser Vergleich scheint Hegels eigenes Urteil über den Unterschied zwischen seiner und SCHELLINGS Philosophie in popularisierter Form widerzuspiegeln. BACHMANN nahm an Hegels Kolleg über Geschichte der Philosophie (WS 1805/06) teil. Nach K. ROSENKRANZ handelte Hegel in dieser Vorlesung auch über SCHELLING: „Oeffentlieh sprach er sich über SCHELLING aus, erkannte dessen großes Verdienst mit Wärme an, tadelte aber die nur quantitative Unterscheidung der Entgegensetzung des Absoluten in sich als der bloßen Gleichgültigkeit, worin Alles nur ein Ueberwiegen des einen oder anderen Factors, kein wahrhafter Unterschied sei; tadelte den Mangel an Dialektik, weldie bei PLATON, mit dem SCHELLING außerdem manches Aehnliche habe, überall dem Inhalt vergesellschaftet sei u. s. w." In dieser Vorlesung las er ebenfalls über ARISTOTELES, wie G. A. GABLER bezeugt: „Ref., einer seiner ältesten Schüler, kann selbst bezeugen, daß er die wichtigsten Aufschlüsse [über ARISTOTELES] schon vor 26 Jahren von ihm vernahm." Hegels intensive Beschäftigung mit ARISTOTELES und sein Vergleich SCHELLINGS mit PLATO mögen der Anlaß zu BACHMANNS Urteil über Hegel und SCHELLING gewesen sein. Für einen Hegelschüler gewagt muß die Anmerkung erscheinen, in der sich BACHMANN auf SCHLEIERMACHER bezieht. Im Kritischen Journal der Philosophie und wohl auch in der Phänomenologie kritisiert Hegel SCHLEIERMACHER scharf.
II. Hegels Stellungnahme Die Rezension in der Oberdeutschen Allgemeinen Litteraturzeitung und die Kritik dieser Rezension nimmt Hegel zur Kenntnis. In einem Brief an NIETHAMMER (29. August 1807) wird als Verfasser der Antwort an den Rezensenten SALAT genannt, der die Literaturzeitung im Lesekabinett in München gestohlen haben soll. Hegel begnügt sich mit der sarkastischen Bemerkimg, SALAT werde sich um der guten Sache willen noch hängen lassen. Für SALAT als Verfasser spricht auch die Tatsache, daß jene KriVgl. ebd. 62.
K. Rosenkranz; C. W. F. Hegels Leben. Berlin 1844. 201. I® Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. Hrsg, von der Societät für wissenschaftliche Kritik zu Berlin. Jg. 1832, Bd 1. 221 f. Vgl. G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. 385 f; Phän. 12 f, 460 f. Vgl. zu den angegebenen Briefstellen Briefe von und an Hegel. Bd 1.
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tik und SALATS Beurteilung der Phänomenologie in seinem Buch inhaltlich weitgehend übereinstimmen. Auch über die Stellungnahme zu den beiden ausführlichen Rezensionen von WiNDiscHMANN Und BACHMANN gibt Hegels Briefwechsel Auskunft. WiNDiscHMANN Schreibt Hegel am 27. April 1810 in einem Zustand tiefer Hypochondrie, den er durch erneutes Studium des Systems der Wissenschaft überwinden will. Die Phänomenologie sieht er als „Elementarbuch der Befreiung des Menschen" an, als „Schlüssel zu dem neuen Evangelium, von dem LESSING weissagte". Wir erfahren, daß der Teil seiner Rezension, der sich mit der Vorrede auseinandersetzte, von der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung nicht abgedruckt worden war. BACHMANNS Bemerkung, WiNDiscHMANN habe als Anhänger des ScHELLiNGschen Formalismus seine guten Gründe gehabt, in seiner Rezension nicht auf die Vorrede einzugehen, muß WINDISCHMANN Unter diesen Umständen in der Tat als höchst beleidigend empfinden. Diesen nicht veröffentlichten Teil schickt WINDISCHMANN Hegel, der ihn bald darauf mit freundlichem Dank, aber höflich zurückhaltend zurücksendet. — Aus dem Briefwechsel Hegels mit dem Holländer VAN GHERT, einem Jenaer Hörer Hegels, erfahren wir von dem Einfluß der Rezension BACHMANNS in Holland. VAN GHERT erklärt, die Rezension BACHMANNS habe in Holland viel Gutes gewirkt, sie hätte jedoch kürzer und dialektischer sein sollen. BACHMANN habe die Momente der Phänomenologie nicht in ihrer Notwendigkeit dargestellt, seine Rezension habe „mehr das Ansehen einer chaotischen und fragmentarischen Uebersicht, denn eines wirklich philosophischen Details". Dieser Kritik stimmt Hegel trotz anerkennender Worte für BACHMANNS philosophisches Bemühen zu; „Es scheint allerdings, wie Sie auch in Ihrem Briefe bemerken, der Inhalt habe ihn, wie auch einige andere Rezensenten, vorzüglich beschäftigt; das, worauf bei allem Philosophieren, und jetzt mehr als sonst, das Hauptgewicht zu legen, ist freilich die Methode des notwendigen Zusammenhangs, des Uebergehens einer Form in die andere." Sehr wahrscheinlich rechnet Hegel hier WINDISCHMANN ZU den anderen Rezensenten, so daß er jetzt auch kritisch gegen dessen Rezension Stellung nimmt. Die Briefstelle kann außerdem als indirekte Selbstkritik verstanden werden, da in der Phänomenologie die Methode des notwendigen Zusammenhangs zumindest stellenweise recht imdurdisichtig befolgt wird. Zu van Gherts Einfluß auf die Rezeption der Phänomenologie in Holland vgl. W. van Dooren: Eine frühe Hegel-Diskussion in Holland. In: Hegel-Studien. 11 (1976), 211—217. Zum Folgenden vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 1. 325 (van Ghert an Hegel, 21. September 1810), 330 (Hegel an van Ghert, 15. Oktober 1810).
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Zusammenfassend ist zu Hegels Stellungnahme zu den einzelnen Rezensionen zu sagen, daß der höfliche Brief an WINDISCHMANN Einwände unterdrückt. In dem Briefwechsel mit VAN GHERT kann Hegel eher Kritik anmelden, da er nicht direkt mit dem Autor der betreffenden Rezension korrespondiert. Diese Kritik berührt den entscheidenden Punkt. Keiner der Rezensenten hat die der Phänomenologie eigentümliche Methode des notwendigen Zusammenhangs der verschiedenen Gestalten des Bewußtseins rekonstruieren können.
III. Die Phänomenologie im Urteil von Freunden, Kritikern und Schülern Hegels Es scheint, als ob eine philosophisch relevante Aneignung der Idee der Phänomenologie erst von den späteren Hegelkritikem wie K. MARX und L. FEUERBACH geleistet wurde. Dies ist jedoch nur zum Teil der Fall. Freunde und Schüler Hegels diskutieren schon bald nach Erscheinen des Werkes dessen Bedeutung. Nach G. H. SCHUBERT war die Phänomenologie zu jener Zeit „eine der vielbewundertsten literarischen Erscheinungen" im Gebiete der Philosophie. Über mehr oder weniger undifferenziertes Lob oder pauschale Kritik kommen die ersten Stellungnahmen jedoch nicht hinaus. Die Jenaer Freunde äußern sich zu dem eben erschienenen Werk, ohne daß sie eine wirkliche Interpretation liefern. So schreibt TH. J. SEEBECK an Hegel (29. Juni 1807), ihm habe die Vorrede gut gefallen, sie sei „trefflich geschrieben". K. L. VON KNEBEL bewundert das Werk (an Hegel, 11. September 1807), hält Hegel sogar für einen der ersten Denker seiner Zeit. Seine Gleichnisse seien vortrefflich wie seine Gedanken. Er rügt aber den Mangel an Deutlichkeit. Hegel versucht, sich gegenüber diesem Vorwurf zu rechtfertigen, indem er auf die Schwierigkeit der Materie verweist (an KNEBEL, 21. November 1807). Deutlichkeit sei am schwersten zu erreichen, sie sei ein Merkmal der Vollendung. Im übrigen könne man aber nicht den Inhalt seines Werkes mit dem von Zeitungsnachrichten vergleichen, die schon die Deutlichkeit mit sich führten. Er beklagt das „sogenannte Schicksal", das ihn hindere, eine wissenschaftlich gediegene Arbeit “ Vgl. K. Marx: Die Frühsdiriften. Hrsg, von S. Landshut. Stuttgart 1971. 252 ff; L. Feuerbach: Sämtliche Werke. Neu hrsg. von W. Bolin u. F. Jodl. Bd 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1959. 184 ff. Vgl. Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. 99. — Zu den im folgenden angeführten Briefen vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 1—3.
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hervorzubringen. CAROLINE PAULUS, die Frau des Theologen H. E. G. PAULUS, berichtet (an Hegel, Januar 1808), ihr Mann studiere gerade unablässig das System der Wissenschaft. Er habe sich die Haare abschneiden lassen, und da er nichts ohne Grund tue, könne das plötzliche Haarabschneiden etwas mit dem Studium von Hegels System zu tun haben. Sehr kritisch soll — wie VAN GHERT übermittelt (an Hegel, 21. September 1810) — der Mediziner F. J. SCHELVER sich geäußert haben, der die Phänomenologie nicht nur nicht verstände, sondern auch ohne wissenschaftliche Ordnung fände. Bemerkenswert ist VAN GHERTS Anfrage, ob Hegel ihm die Literatur zur Phänomenologie angeben könne (12. April 1812). Leider wird diese, für jede Interpretation des Werkes so zentrale Frage von Hegel nicht beantwortet. Wie VAN GHERT weiter berichtet (an Hegel, 26. Oktober 1812), hätten keine philosophischen Werke je in Holland mehr Verbreitung gefunden als die Phänomenologie und der gerade erschienene erste Band der Logik, obgleich Klagen über Unverständlichkeit nicht verstummten. Ähnlich wie gegenüber KNEBEL verteidigt sich Hegel in seiner Antwort (18. Dezember 1812) gegen den Vorwurf der „Schwere der Darstellung", indem er auf die besondere Art des behandelten Gegenstandes aufmerksam macht. Die spekulative Philosophie könne nicht das „Gewand tmd den Stil LocKE'scher oder der gewöhnlichen französischen Philosophie" erhalten: „Uneingeweihten muß jene ihrem Inhalte nach ohnehin als die verkehrte Welt erscheinen, als im Widerspruche mit allen ihren angewöhnten Begriffen und was ihnen sonst nach dem sogenannten gesunden Menschenverstände als gültig erschien." Er sei aber der Meinung, daß die Hauptideen seiner Philosophie sich Eingang verschaffen würden. Später schreibt VAN GHERT (an Hegel, 12. Juni 1818), der Phänomenologie komme das Verdienst zu, zur Überwindung des Mystizismus in Holland beigetragen zu haben. Von ganz unerwarteter Seite findet die Phänomenologie schon kurz nach Erscheinen eine positive Aufnahme. JEAN PAUL zeigt sich von der „Klarheit, Schreibart, Freiheit und Kraft" überrascht (an F. H. JACOBI, 6. September 1807). Hegel habe sich vom „Vater-Polypen SCHELLING" losgelöst. Jahre später bittet JEAN PAUL den ihm benachbarten G. A. GABLER, ihm die Phänomenologie auf einige Tage zum Durchblättern zu leihen (3. März 1821). Bald darauf schreibt er seinem Sohn MAX (10. Mai 1821): „Hegels Phänomenologie hab' ich mir selber gekauft; an Scharfsinn ist er jetzo fast der Erste. Das Wahre such' ich bei den jetzigen Philosophen gar nicht." Ganz die entgegengesetzte Ansicht vertritt J. F. FRIES. Ihm ist das Werk ** Vgl. hierzu und zum Folgenden Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen.
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wegen seiner Sprache „fast ungenießbar" (an F. H. JACOBI, 20. Dezember 1807). Recht klar erfaßt er jedoch die Grundgedanken. Hegel entwickele eine allgemeine philosophische Geschichte des menschlichen Geistes, er führe ScHELLiNGs Naturphilosophie auf der Seite des Geistes aus. Indem Hegel nur Wahrheit im Fluß kenne, an die Spitze aller Weltansichten aber ein absolutes Wissen setze, widerspreche er sich selber. Kritisch äußert sich auch F. VON BAADER, dem E. FöRSTER im Englischen Garten in München bei der Lektüre der Phänomenologie begegnet. FöRSTER erklärt BAADER, er gebe der Phänomenologie vor Hegels anderen Schriften den Vorzug, was BAADER nicht billigt. BAADER zollt Hegel Achtung, weil er als erster „mit kühner Hand den Selbstverbrennungsprozeß der neuern Philosophie (ihr auto-da-fe) anfachte" (an F. SCHLEGEL, 6. Februar 1821). Er kann ihm aber nicht vergeben, daß er in der Phänomenologie die Gabe der Prophezeiung ironisierte. Von diesen Stellungnahmen sind die wenigen ausführlichen Interpretationsversuche zu unterscheiden, zu denen I. VON SINCLAIRS Auseinandersetzung mit der Idee des Werkes und die Weiterführung von Grundgedanken dev Phänomenologie duxdi Hegels Schüler zu rechnen sind. SINCLAIR, der gemeinsame Freund von Hegel, HöLDERLIN und SCHELLING, gelangt zu einer systematisch-kritischen Beurteilung. Er versteht die Phänomenologie als Darstellung des Zweifels in concreto, der aus allem zu entwickeln wäre (an Hegel, 5. Februar 1812). Den Ausführungen bis zum Abschnitt über das Selbstbewußtsein habe er folgen und sie anerkennen können, danach nicht mehr. Die Phänomenologie sei eine historische Darstellung, wie aus dem Leben die Wissenschaft entstehe. SINCLAIR wirft Hegel vor, zu sehr einem historischen Gesichtspunkt verfallen zu sein. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Logik sieht er sich veranlaßt, seine Auffassung der Aufgabe des Werkes zu korrigieren (an Hegel, 12. Oktober 1812). Er habe geglaubt, die Phänomenologie sei eine bloß historische Einleitung in die Philosophie, müsse aber nun erkennen, daß Hegel sich in der Logik auf sie als etwas Selbständiges, die Logik Begründendes beziehe. Hegel antwortet (Briefentwurf Anfang 1813), der Anfang der Philosophie müsse selbst schon Philosophie sein. — Unter Hegels Schülern ragt H. F. W. HINRICHS als bester Kenner der Phänomenologie heraus. Auf seine Inter2= Vgl. ebd. 220. Ausführlich geht auf Sinclairs Briefwechsel mit Hegel ein: H. Hegel: Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der idealistischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1971. 196 ff. — Vgl. zum Folgenden Briefe von und an Hegel. Bd 1—3.
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pretation wäre im einzelnen einzugehen. ^ Neben HINRICHS ist der Theologe K. DAUB ZU nennen, der die Phänomenologie eingehend studiert. Durch die neu erschienene Logik wird das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Logik thematisch. DAUB schreibt Hegel (30. September 1820), erst durch das Studimn der Logik sei ihm der Inhalt der Phänomenologie klar geworden. Er hält über die Phänomenologie Vorlesungen und will die Einleitung zu denselben drucken lassen (an Hegel, 19. September 1821). Eine Neufassung des Werkes von 1807 versucht G. A. GABLER, Schüler Hegels seit Jena, in seiner Kritik des Bewußtseyns (1827). In scholastischer Form wird die Abfolge der Gestalten des Bewußtseins bis zur Vernunft einschließlich wiederholt und mit Anmerkungen versehen. Hegel lobt GABLERS Schrift, in der „Gründlichkeit der spekulativen Einsicht mit der Bestimmtheit und Klarheit der Entwicklung und Darstellung" vereinigt sei (an GABLER, 4. März 1828). — Auch K. F. GöSCHEL interessiert sich für die Phänomenologie. Er fügt seiner Abhandlcmg über GOETHES Faust Stellen aus der Phänomenologie bei (an Hegel, 24. Februar 1831). Selbst zu Hegels Tod wird seines frühen Werks gedacht. PH. K. MARHEINEKE nimmt in seine Trauerrede ein Zitat aus der Vorrede der Phänomenologie auf. E. GANS prägt in seinem Nekrolog die später oft zitierten Sätze: „Unter dem Dormer der Schlacht von Jena vollendete Hegel seine Phänomenologie des Geistes und nahm mit ihr einen immerwährenden Abschied von der philosophischen Denkweise SCHELLINGS." Von K. L. MICHELET erfahren wir, daß Hegel die Schrift von 1807 seine Entdeckungsreisen zu nennen pflegte. Solche Erinnerimgen verleihen der Phänomenologie unversehens einen geheimnisvollen, abenteuerlichen Charakter. Generell läßt sich sagen, daß bei Hegel selbst und seinen Schülern das Werk von 1807 in den Hintergrund tritt, wenn auch nicht in Vergessenheit gerät. Das Interesse von Kritikern und Anhängern richtet sich mehr auf die Wissenschaft der Logik. Aber wie SINCLAIR mit Erstaunen feststellt, beruft sich Hegel in seiner Logik auf sein frühes Werk als auf etwas Selbständiges, die Logik Begründendes. Durch das Studium der Logik, wie DAUB erklärt, lernt man den Inhalt der Phänomenologie erst verstehen. Die Bedeutimg eines solchen „Umwegs" über die Logik vergessen Phänomenologie-lnteipieten unseres Jahrhunderts, wenn sie einen Gegensatz zwischen dem lebendigen Hegel der Phänomenologie und dem toten der Logik konstruieren. Hinridis' Rezeption der Phänomenologie soll in einem eigenen Beitrag erörtert werden. Vgl. hierzu und zum Folgenden Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen.
KURT RAINER MEIST (BOCHUM)
ALTENSTEIN
UND
GANS
Eine frühe politische Option für Hegels Rechtsphilosophie
I. Daß Hegels Philosophie in einem eminenten Sinne „Zeitphilosophie", genauer „preußische Philosophie" gewesen sei, dieses Urteil ist der Angelpunkt jener harten Kritik, die HAYM in seiner überaus einflußreichen Darstellung Hegels vortrug. 1 Wiewohl HAYM keineswegs als Urheber jenes Verdikts anzusehen ist, war sein Hegel-Buch doch eine der prominentesten Quellen für die seitdem geläufige und oft bis zur Gedankenlosigkeit pauschalisierte Rede vom ,preußischen Staatsphilosophen' Hegel. Sucht man nach einer Orientierung innerhalb der bis heute andauernden Kontroverse um Hegels politische Philosophie, dann wird man die von HAYM und anderen gehäuften Beweise schwerlich beiseiteschieben können, wie es umgekehrt unerläßlich ist, die Gegengründe der Verteidiger Hegels zu prüfen. Eine ebenso große Aufmerksamkeit dürfte aber auch die Tatsache verdienen, daß jene zum Topos geronnene Identifikation Hegels mit der preußischen Politik nach 1820, sofern sie ihrerseits eine politische Wertung impliziert, eine eigene Geschichte hat. Denn wie z. B. schon ein flüchtiger Blick auf die Position der um die Hallischen Jahrbücher gruppierten Junghegelianer xmd deren Streit mit LEO zeigen kann, war eine solche Identifikation aer Hegelschen Philosophie mit den für konstitutiv gehaltenen Prinzipien des damaligen preußischen Staatswesens nicht inuner und in jedem Fall ein Akt politischer Diskriminierung. Im Gegenteil konnte sie auch Ausdruck einer philosophisch-politischen Option sein, die angesichts der Gesamtsituation im Deutschen Bund die Hoffnungen auf eine freiheitliche Gestaltung der staatlichen Verhältnisse wenigstens zeitweilig von der Entwicklung in Preußen abhängig machte. ® Wie immer aber das Urteil über das Verhältnis der Philosophie Hegels zu Preußen schließlich ausfällt, so scheint es noch heute in hohem Maße davon abhängig zu sein, wie das eigentümliche Spiel der politischen Kräfte im Preußen der Restariration tmd des Vormärz eingeschätzt wird. Selbst wenn jedoch imter ^ Vgl. R. Haym: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857 (Nachdr. Darmstadt 1974). 357. * Vgl. dazu die materialreiche Studie von 1. Pepperle: Junghegelianische Ceschichtsphilosophie und Kunsttheorie. Berlin 1978. 38 ff.
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Hintansetzung der divergierenden und einander bekämpfenden politischen Richtungen, die sich in der Folge je verschieden auf Hegel beriefen, schlüssig erwiesen werden könnte, daß Hegel und seine Anhänger tatsächlich nichts anderes als eine grundsätzliche Konformität mit den faktischen politischen Verhältnissen erstrebten, bleibt umgekehrt noch immer die Frage offen, ob hier in einer historisch angemessenen Weise von einem preußischen Staat die Rede sein kann, der sich als solcher zu einem derartigen Bündnis mit der ihm angetragenen philosophischen Theorie jemals bereitgefunden und es wirklich vollzogen hat. Achtet man auf die komplizierte und keineswegs leicht zu überschauende Geschichte Preußens nach 1815, deren Phasen oft in verwirrender Weise ineinander übergingen, dann wird man eher dazu gedrängt, den Umgang mit abstrakten Pauschalbegriffen aufzugeben, um stattdessen die nachweisbaren Schnittpimkte von Philosophie und historischer Wirklichkeit zu ermitteln. Auch im Falle der politischen Philosophie Hegels und ihrer verwickelten Wirkungsgeschichte hat es nur wenig Sinn, wenn man mit naivem Vertrauen auf die Brauchbarkeit herkömmlicher Schemata dabei verharrt, den historischen Hintergrund möglichst zu vereinfachen und die Schlagworte vergangener politischer Auseinandersetzungen unbesehen für die Wirklichkeit zu nehmen. “ Versteht man also, was zweifellos mit den Intentionen des Urhebers übereinstimmt, das einleitend zitierte Urteil HAYMS als Ausdruck einer eigenen politischen Stellungnahme, die vor allem unter Eindruck des Scheiterns der nationalliberalen Bestrebungen in der Revolution von 1848 formuliert wurde, * so resümiert es zugleich nichts anderes als eine Polemik, die seit dem Erscheinen der Philosophie des Rechts (1821) gegen Hegel auftrat und dessen rechtsphilosophische Konzeption mit der offiziellen Politik Preußens während der Restauration in Übereinstimmung sah. ® Allerdings wäre es vordergründig, wollte man HAYMS Kritik allein auf die ephemere Konfrontation politischer Parteiungen zurückführen. ® HAYMS Angriff ging in letzter Instanz auf jene in der Philosophie des Rechts angegebene Bestimmung der Philosophie zurück, wonach diese die durch Vernunft zu vollziehende „Versöhnung mit der Wirklichkeit"'' zu
* Eine aufschlußreiche Revision der Wirkungsgeschichte von Hegels politischer Philosophie, insbesondere der eingebürgerten Einschätzung der sog. Hegelschen Rechten, unternimmt H. Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. München 1974. 27 ff. * Zur politischen Biographie Hayms vgl. H. Rosenberg: Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus. München und Berlin 1933. (Beiheft 31 der Historischen Zeitschrift.) ® Vgl. zur Geschichte dieser Kritik M. Riedels Einleitimg in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg. v. M. Riedel. Bd 1. 17 ff. ® Zur Auseinandersetzung mit Haym vgl. 7. Ritter; Hegel und die französische Revolution. In: Ritter; Metaphysik und Politik. Frankfurt/Main 1969. 183—192. ’’ G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1967 (Philosophische Bibliothek. Bd 124 a.) 16.
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leisten habe, die jedes „Belehren, wie die Welt sein soll" ® ausschließt. Zweifellos stellt dieser vielzitierte Leitgedanke in gedrängtester Form den systematischen Ausgangspunkt der politischen Philosophie Hegels dar, doch wäre es verfehlt, darin nichts anderes als die Äußerung eines persönlichen Opportunismus mit dem (theoretisch durchaus irrelevanten) Ziel, politisches Wohlverhalten zu demonstrieren, erblicken zu wollen. HAYM war sich vielmehr genauestens bewußt, daß jene von Hegel definierte Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit in dem systematischen Grimdgedanken der Hegelschen Metaphysik, dem wissenschaftlichen Erweis der Wesenseinheit von Denken und Sein, Vernunft und (geschichtlicher) Wirklichkeit gründete. Die Freisetzung der darin implizierten politischen Konsequenzen bzw. die Applikation des theoretischen Potentials auf die aktuelle Selbstverständigung der politisch Handelnden erfolgte aber keineswegs in direktem Anschluß an die spekulative Explikation der absoluten Idee, sondern wurde vermittelt durch eine in der Folge divergierende Auslegung der Geschichtsphilosophie Hegels. Wie im folgenden am Beispiel E. GANS', des brillantesten und politisch wirksamsten Schülers Hegels, im Umriß zu zeigen sein wird, bezeichnet gerade die konsequente Rezeption und Weiterentwicklung der Geschichtsphilosophie, genauer dessen, was innerhalb derselben ,Wirklichkeit' und ,geschichtliche Gegenwart' bedeutet, schon zu Lebzeiten Hegels den Anfang einer positiven politischen Aktualisierung des Hegelschen Idealismus. Und der Streit um Hegels Lehre von Staat und Geschichte wurde nach der Spaltung der Hegel-Schule in eine Rechte und Linke schließlich zum bestimmenden Moment der politisch-philosophischen Fraktionierungen. Der Streit um die politische Konformität der Hegelschen Philosophie war aber bekanntlich schon zu Lebzeiten Hegels entbrannt; und es waren nicht die liberalen Gegner des preußischen Restaurationssystems, welche dieser Kontroverse ihre eigentümliche Intensität verliehen. ® Von Anfang an sahen sich die Apologeten Hegels in der schwierigen Situation, die Angriffe aus dem Lager der Reaktion dadurch abzuweisen, daß sie selber eine Interpretation der offiziellen Politik Preußens unternahmen, welche die offenen Divergenzen zwischen Hegels Staatslehre und dem herrschenden System aus dem transitorischen Zustand des preußischen Staatswesens selbst ableitete. Die insbesondere von GANS ausgebildete These, die Wahrheit der Hegelschen Philosophie werde erst durch eine konsequente politische Realisierung der ,eigentlichen' Prinzipien Preußens erwiesen werden, vermied die offene Entzweiung mit dem faktischen Staatswesen und widersprach doch zugleich jenen, die die preußische Monarchie der Restauration vor einer solchen, von der politisch gewordenen Geschichtsphilosophie proklamierten Entwicklung bewahren wollten.
« Ebd. 17. • Vgl. die Kritik von Schubarfh/Carganico (1829) sowie die weiteren Streitschriften, die Hegels Konzeption im Widerspruch zur preußischen Monarchie sahen, in: M. Riedel (Hrsg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd 1. 209—319.
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Hegel selbst hat allerdings die Erwartungen auf eine prinzipielle Erklärung seiner eigenen politischen Stellungnahme in einer eigentümlichen Weise beantwortet. Der bekannte Kommentar zur vielfältig diskutierten Formel von der Vernünftigkeit des Wirklichen, den er in die Einleitung zur zweiten Auflage der Enzyklopädie (1827) eingerückt hatte, läßt durch den Hinweis auf den in der Logik entwickelten Begriff der Wirklichkeit jedenfalls unzweideutig erkennen, daß der Phüosoph Hegel nicht gewillt war, seinen Entwurf einer Rechts- und Geschichtsphilosophie auf eine persönliche politische Option zu reduzieren. Ebensowenig wird aber durch die betreffende Stelle ausgeschlossen, daß im Ausgang von der logisch-spekulativen Bestimmung dessen, was vernünftige Wirklichkeit heißen darf, ein politisches Bewußtsein sich konstituiert. Wie der anläßlich der Überreichung der Philosophie des Rechts entworfene Brief an HARDENBERG vielleicht am besten erkennen läßt, wollte Hegel sich als vom Staat bestallter Lehrer der Philosophie freilich nur für die durch Philosophie legitimierte Form eines solchen Bewußtseins zuständig wissen. Sein hier angedeutetes, in der Auslegung freilich problematisches, Angebot an das preußische Staatswesen, das soeben unter der Leitung des Reformpolitikers HARDENBERG in die Phase der Restauration eingetreten war, lautet dahin, eine Bildung politischen Bewußtseins zu fördern, das selbst in der Erkenntnis des Vernunftgemäßen der Gegenwart gründet und durch solche Erkenntnis die Politik nicht am faktischen Geschehen, sondern an dem fortschreitenden Wissen über das Wirklichwerden der Vernunft orientiert. Bei den im folgenden mitgeteilten Dokumenten zur Berufung E. GANS' zum Ordinarius an der Berliner Universität handelt es sich in der Hauptsache um ein Gutachten des Kultusministers ALTENSTEIN über die wissenschaftlichen Differenzen zwischen der historischen Rechtsschule und der rechtsphilosophischen Position GANs'/Hegels. Diese Aktenstücke haben nicht den Zweck, die verschlungene Geschichte der politischen Optionen Hegels aufzuklären, deren letzte unstreitig eine solche für Preußen gewesen ist. Dagegen könnten — in Umkehrung der geläufigen Fragestellung — aus den vorgelegten Materialien erste Anhaltspunkte zur Beantwortung des Problems gewonnen werden, wie weit und in welchem Sinne die preußische Staatsleitimg ihrerseits gesonnen war, eine entsprechende Option für die Hegelsche Philosophie zu vollziehen. Daß Hegel auf ein derartiges Einvernehmen bedacht tmd es ihm gelungen war, das von ALTENSTEIN geführte Kultusministerium auf seine Seite zu ziehen, ist bekannt imd bedarf keines Nachweises. Doch wäre es historisch naiv, wollte man das Ministerium ohne weiteres mit der preußischen Monarchie gleichsetzen. Ein flüchtiger Blick Vgl. G. W. F. Hegel; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. v. F. Nicolin und O. Pöggeler. Hamburg 1959 u. ö. (Philosophische Bibliothek. Bd 33.) 38 f. Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Bd 2. 241 f. Vgl. O. Pöggeler: Hegels Option für Österreich. Die Konzeption korporativer Repräsentation. In: Hegel-Studien. 12 (1977), 83—128.
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auf die prettßische Geschichte während des betreffenden Zeitraumes kann leicht davon überzeugen, daß Hegels Philosophie ihre Präponderanz einer relativ kleinen Gruppe der politisch Handelnden verdankte, von deren Einfluß sie selbst abhängig blieb. Gleichsam im Ausschnitt zeigen gerade die Vorgänge um die Einsetzung GANS' als Ordinarius der juristischen Fakultät die riskante Stellimg ALTENSTEINS, der nur unter äußerster Aufbietung seines taktischen Geschicks den Widerstand SAVIGNYS und des Kronprinzen zu umgehen vermochte. Andererseits mußte der Minister in diesem Falle wie auch sonst bei seinem unbeirrten Eintreten für Hegels Philosophie sich der breiten Opposition von seiten der bürgerlichen Intelligenz bewußt sein, auf deren kaum zu unterschätzende Gegenwirkung ROSENKRANZ 1844 hinwies: „Eine bis zur Unversöhnlichkeit sich steigernde Antipathie gegen ihn [sc. Hegel] setzte sich bei Allen fest, welche der KANTIschen, der jACOBi'schen, der DE WETTE-ScHLEiERMACHEK'schen und der nationalen Richtimg angehörten."
So verliert bei näherer Betrachtung der historischen Umstände die Rede vom ,preußischen Staatsphilosophen' viel von ihrer Eindeutigkeit, während andererseits die Frage in den Vordergrund tritt, wie die Motive derjenigen beschaffen waren, die in dieser Philosophie ihren eigenen politischen Weg vorgedacht und legitimiert finden mochten. Zehn Jahre nach Hegels Tod, nach der Spaltung der Hegelschen Schule und mitten im Streit über die politische Bedeutung Hegels bezweifelte der junge ENGELS rückblickend, daß die „Autorität", welche Hegel und seine Schule stützte, die eigentlichen (nämlich progressiven) Konsequenzen dieser Philosophie überhaupt erkannt habe. Seine aufschlußreiche, wiewohl knappe Situationsanalyse enthält zwei Hinweise, die im Blick auf die folgenden Aktenstücke von Bedeutung sind. Der eine betrifft die rätselhafte Position ALTENSTEINS, dem ENGELS zubilligt, daß er, „freilich noch aus einer liberaleren Zeit herstammend, einen höheren Standpimkt behauptete", so daß ENGELS sich die Frage vorlegt, ob „alles auf seine Rechnung kam". Der zweite Hinweis deutet auf den Umstand, daß Hegels Lehre ihre politische Wirkung weniger ihrem spekulativen Eigengewicht verdankte, als vielmehr der theoretischen Verarbeitung durch Schüler, die den Schnittpunkt der Doktrin mit dem politischen Geschehen allererst definierten: „STRAUSS auf theologischem, GANS und RüGE auf politischem Felde werden epochemachend bleiben. Erst jetzt zerteilen sich die matten Nebelflecke der Spekulation in die leuchtenden Ideensterne, die der Bewegung des Jahrhunderts vorleuchten sollen." Selbstverständlich können die Probleme der (politischen) Wirkungsgeschichte Hegels durch die hier mitgeteilten Dokumente nicht gelöst werden. Sie erhärten aber ENGELS' Verdacht, daß ALTENSTEIN (1) zumindest einige der impliziten Konsequenzen der Hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie sehr wohl gesehen K. Rosenkranz: G. W. F. Hegel's Leben. Berlin 1844. 336. F. Engels: Ernst Moritz Arndt. In: MEW. Ergänzungsband, Teil 2.124. “ Ebd.
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und sogar in seine eigene politische Konzeption aufgenommen hat und daß (2) die betreffenden Hegelschen Lehrstücke schon relativ früh durch GANS eine spezielle Auslegung erfahren hatten, die — wie der Widerstand der Kronprinzenpartei gegen ihn deutlich zeigt — im Konflikt mit dem restaurativen Selbstverständnis des Hofes stand und ihrerseits philosophisch-politische Elemente für eine progressive Auffassung des preußischen Staates enthielt.
II. Die nachstehend erstmals veröffentlichten Dokumente stammen aus dem bis vor kurzem unbekannten Privatnachlaß des preußischen Staatsministers Freiherr KARL VOM STEIN ZUM ALTENSTEIN (1770—1840). Dieser Nachlaß befindet sich heute zusammen mit der Hauptmasse des Familienarchivs im Besitz des Staatsarchivs zu Bamberg. Die im folgenden herangezogenen Aktenstücke bilden ein geschlossenes Faszikel, das ausschließlich Dokumente über die Bestallimg E. GANS' zum Ordinarius der juristischen Fakultät der Universität Berlin (1828/29) enthält. Da M. LENZ den gesamten Vorgang in seiner Geschichte der Universität ausführlich dargestellt hat, kann an dieser Stelle auf eine Wiederholung verzichtet werden; für Einzelheiten sei generell auf LENZ' Bericht verwiesen. Die einschlägigen Aktenstücke aber, die LENZ abdruckt, können durch den neuen Fund wesentlich ergänzt werden, zumal durch Schriftstücke, welche die politischen Hintergründe des Streites um GANS, insbesondere die Stellung des Ministers und sein Verhältnis zu der von GANS vertretenen philosophischen Position, allererst sichtbar werden lassen. Überall dort, wo in der folgenden Aufstellung ein Hinweis auf LENZ' Aktenpublikation fehlt, handelt es sich um Stücke, die sich in dem Nachlaßfaszikel befinden. Zunächst liegt die Kabinettsordre des Königs vom 15.11.1828 (Abschrift von Schreiberhand) vor, durch die ALTENSTEIN förmlich zur Ernennung GANS' ermächtigt wird (bei LENZ weder abgedruckt noch erwähnt). Nachdem SAVIGNY
Herrn Oberarchivrat Dr. K. H. Mistele bin idi für den ersten Hinweis auf die Existenz dieses Nachlasses sowie seinen sachkundigen Rat zu Dank verpflichtet. Dieser Dank gilt auch dem Direktor des Staatsarchivs Dr. Freiherr von AndrianWerburg für sein großzügiges Entgegenkommen bei der Bearbeitung der Bestände und die Erteilung der Veröffentlichungserlaubnis. Vorliegende Abhandlung ist, wie auch die Veröffentlichung von Walter Jaeschke in diesem Bande, Teil der wissenschaftlichen Erschließung des Nachlasses v. Altenstein, die inzwischen als Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs „Wissen und Gesellschaft im 19. Jahrhundert" an der RuhrUniversität Bochum unternommen wird. Vgl. M. Lenz: Ceschidife der Königlichen Friedridi-Wilhelms-Universität zu Berlin. Bd 2, 1. Hälfte. Halle 1910. 390 ff. “ Vgl. Lenz. Bd 4. 512 ff.
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seine Drohung, aus den Geschäften der Fakultät auszuscheiden, in seinem Schreiben an den Minister vom 29.12. 28 wahrgemacht hatte (ALTENSTEINS Antwort befindet sich als Abschrift ebenfalls im Nachlaß), sah sich der Kronprinz veranlaßt, energisch einzugreifen, um den Minister womöglich zur Änderung seines Vorhabens zu drängen. Dieser Brief vom 8.1. 29 ist für das Verständnis des ganzen Streites von besonderer Bedeuttmg, weil er in aller Deutlichkeit die politischen Motive des Kronprinzen erkennen läßt. Es geht um die Verunglimpfxmg der ,historischen Schule' durch GANS, genauer derjenigen politisch-rechtswissenschaftlichen Richtung die „so bezeichnend dasjenige Streben ehren sollte, was unserer Zeit und unserm Lande in Kirche, Staat und Jurisprudenz so vorzüglich not tut". Vor allem diese Stelle dürfte es gewesen sein, die ALTENSTEIN zur Abfassung seines Gutachtens veranlaßte tmd gegen die er seine ganze Argumentation richtete. — Warum aber ALTENSTEIN mit der Abfassung mehr als ein halbes Jahr zögerte, deutet das ebenfalls in Kopie vorhandene Begleitschreiben zum Gutachten vom 8. 7. 29 an: es waren nicht allein taktische Rücksichten, wie LENZ annimmt, sondern der 1829 erfolgte Tod des einzigen Sohnes ALTENSTEINS sowie eine Erkrankimg des Ministers. Zu dem Gutachten gehören außerdem zwei Exzerpte aus GANS' Schriften, die ALTENSTEIN offenbar für die Abfassung seines Gutachtens anfertigen ließ imd zwei Stellen betreffen, die der Kronprinz in seinem Beschwerdebrief moniert hatt: „Extract aus Dr. GANS System des Römischen Civilrechts. S. 164—167" (vier Seiten in Quartformat) sowie „Extract aus Dr. GANS Erbrecht. Band 2. S. 292—293" (drei Seiten in Quartformat). Das Gutachten ist in zweifacher Ausfertigung von verschiedenen Schreibhänden vorhanden; die Entstehungszeit kann aus den eigenhändigen Randbemerktmgen des Ministers ermittelt werden. Die erste umfaßt 7^/2 halbseitig beschriebene Seiten in Folio und wurde am 6. 7. 29 niedergeschrieben sowie zur abermaligen Abschrift unter Berücksichtigung der eigenhändigen Korrekturen des Ministers angewiesen, die diesmal im Umfang von 10^/2 Quartseiten ausgefertigt wurde. Auch diese Fassimg (vom 7. 7. 29) wurde noch einmal vom Minister selbst (im wesentlichen stihstisch) überarbeitet, um schließlich — nach einem Randvermerk ALTENSTEINS — am 8. 7. 29 zusammen mit dem Begleitbrief in endgültiger Fasstmg an den Kronprinzen abzugehen. Abgesehen von stilistischen Änderungen unterscheidet sich die zweite von der ersten Fassung nur durch den Wegfall eines Schlußpassus, der beim vorliegenden Abdruck in einer Fußnote zum Text mitgeteilt wird. Alle übrigen Änderungen sind im wesentlichen stilistischer Natur und haben glättenden Charakter, sie werden deshalb nicht im einzelnen verzeichnet. Vgl. « Ebd. « Ebd. “ Ebd.
Savignys Antwort vom 29.12. 28 auf Gans' Versöhnungsversuch, ebd. 513. 514 f. 516 f. 516 f. •• Lenz; Ceschidife der Universität. Bd 2, 1. Hälfte. 392.
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Schließlich befindet sich im Nachlaß eine Abschrift der Verfügung des Ministers an die Fakultät (7. 7. 29), imverzüglich die Aufnahme von GANS ZU vollziehen, sowie ein eigenhändiges Dankschreiben von GANS an den Minister vom 25.10. 29. Da im gegenwärtigen Zusammenhang die von ALTENSTEIN formulierte politischphilosophisdie Stellungnahme von Interesse ist, wird nur das Gutachten ohne die zugehörigen Schriftstücke, die mehr von universitätsgeschichtlicher Bedeutung sind, mitgeteilt — und zwar in der zweiten verbesserten Fassung, wobei ALTENSTEINS Änderungen stillschweigend in den Text eingearbeitet werden. Das Gutachten hat keine Überschrift und lautet folgendermaßen: Da zur Sprache gekommen ist, worin die Meinungen und Ansichten der historischen Schule und die des Professors GANS, namentlich in Beziehung auf Recht imd Rechtswissenschaft verschieden sind, so dürfte Nachstehendes dazu dienen das Verhältniß näher zu bezeichnen [.] Die historische Schule und der Professor GANS sind darin vollkommen einverstanden und können als gemeinschaftliche Sache machend angesehen werden, wenn es darauf ankommt die Bestrebungen in der Rechtswissenschaft zu beurtheüen, wie sie etwa gegen das Ende des vorigen imd gegen den Anfang dieses Jahrhunderts im Schwange waren. Beide erklären sich auf das Lebhafteste gegen die apriorische Behandlung des Rechts, welche absehend vom bestehenden imd Geltenden, willkührliche Traumgebilde verfolgte, und aus Unkenntniß des Positiven, ein Vorurtheil gegen das selbige erregte. Der Professor GANS theilt ferner die Meinung der historischen Schule, daß nur durch ein gründliches quellenmäßiges Studium Heil für die Rechtswissenschaft zu erwarten sei, vollkommen. Er erkennt die Verdienste welche sich die historische Schule um dieses Studium erworben hat, nicht allein an, sondern behauptet sogar selbst in den Schriften, worin er sich anscheinend am polemischsten gegen dieselbe erklärte, diese Anerkennung offen und bestimmt an den Tag gelegt zu haben. Wenn aber auch sonach die historische Schule und der Professor GANS einen gemeinschaftlichen Ausgangspunct haben, so hat der letztere geglaubt noch weiter gehen zu dürfen. Nach seiner Ueberzeugung läßt selbst die gründlichste und quellenmäßigste Ausmittelung dessen was bestanden und gegolten hat, noch immer den Wunsch zurück, auch mit dem Geiste der Vergangenheit vertraut zu sein. Solange dieser den Thatsachen inwohnende Geist nicht klar geworden ist, sind diese Thatsachen immer noch dem Verdachte ausgesetzt Misbräuche zu seyn, und selbst die bestimmte Nachweisung des äußern Causalnexus wehrt die Vorstellung nicht ab, daß hier bloße Zufälligkeiten vorgewaltet hätten.
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Damit das Geschichtliche daher, wie es ihm gebührt, zu Ehren kommen [kann], darf es nach der Ansicht des Professor GANS nicht bloß erzält und ausgemittelt, sondern es muß gegen die Vorurtheile die in der Regel die Vergangenheit er | regt, vertheidigt werden. Dadurch allein kann nach seiner Meinung der revolutionäre Geist, der Trieb des Umstürzens des Bestehenden, abgewandt tmd bekämpft werden, und es läßt sich behaupten daß er dadurch allein auf die gründliche Weise bekämpft worden sey, daß der Geist, der in den Thatsachen lebte, aus [dem] Innern derselben hervorgehoben, und damit eben die revolutionären Bestrebungen lücht blos als verderblich, sondern auch als oberflächlich und seicht aufgewiesen werden. Diese Bemühtmg in das Innere der Thatsachen einzudringen, kann man wohl auch Philosophie der Geschichte nennen. Das Vorurtheil, welches im Allgemeinen gegen die Philosophie herrscht, scheint dadurch vollkommen gerechtfertigt, daß man bei diesem Namen in der Regel an die zerstörende und atheistische Philosophie des vorjigen Jahrhunderts denkt, die auch wohl noch in das jetzige hinein Wurzeln geschlagen hat. Aber mit dieser hat die heutige Philosophie bloß den Namen gemein in dem Sinne, wie etwa die Geschichte der Gegenwart tmd die Geschichte der Revolution, beides Geschichte heißt. Die heutige Philosophie hat grade das Ihrige redlich, und wie nachgewiesen werden kann, nicht ohne Erfolg dazu beigetragen die trüben und unsinnigen Erscheinungen der nächsten Vergangenheit aus allen Kräften zu bekämpfen, indem sie die Vernünftigkeit des Wirklichen, Bestehenden tmd Geltenden in ein klares Licht gestellt hat. Bis hieher wäre aber noch gar nicht von einer Divergenz der historischen Schule mit der Ansicht des Professors GANS die Rede. So wenig der Professor GANS die Notwendigkeit | eines gründlichen Quellenstudiums in Abrede stellt, so wenig wird die historische Schule läugnen, daß es vornemlich darauf ankomme den Geist der historischen Thatsachen zu erkennen. Die Verschiedenheit beider Meinungen tritt aber umso bestimmter hervor, jemehr von der Anwendung dieser Grundsätze auf das rechtsgeschichtliche Studium und auf das geltende Recht die Rede ist. Zuvörderst glaubt der Professor GANS, daß der Begriff der Rechtsgeschichte bei ims erweitert werden, und die Rechtsgeschichte aller Völker umfassen müsse. Es ist nach seiner Meimmg nicht abzusehen, wanun der Rechtsgeschichte nicht derselbe Umfang wie bei allen anderen historischen Diciplinen zugestanden werden dürfe. | Die historische Schule scheint inzwischen, theils durch spätere Aeusserungen, theils durch Arbeiten in diesem Sinne, die Richtigkeit der vom Professor GANS
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aufgestellten Ansicht gleichfalls zugegeben zu haben wie z. E. in VON SAVIGNY Vorrede zur zweiten Ausgabe des Berufs in unserer Zeit für Gesetzgebiuig und KLENZE über Cognatum und Affinen in der Zeitschrift f[ür] ges[amte] Rechtsw[issenschaft] VI. .1 Die Divergenz beyder Ansichten ist aber noch größer in Beziehung auf das geltende Recht, so glaubt der Professor GANS, daß wenn das, was in der Vergangenheit gegolten hat, auf Achtung und Würdigung Anspruch machen dürfe, in gleichem Maaße dies von der Gegenwart gesagt werden müsse. Die Gegenwart gehört ihm nicht minder zur Geschichte wie | die Vergangenheit. Wenn die Geschichte der Vergangenheit auch als Erläutenmg für die heutige Zeit zu benützen ist, so hat doch die Gegenwart wesentlich Anspruch, in ihrer Selbstständigkeit betrachtet zu werden. So wenig angenommen werden kann, daß sich die Gegenwart durch sich selbst tmd ohne Beziehxmg auf die Vergangenheit hervorgebracht hat, so weiüg kann doch auch geläugnet werden, daß das Heutige von dem Gestrigen rmterschieden ist, wäre es auch nur durch den natürlichen Fortschritt, der in allen menschlichen Dingen liegt. Es wird also die Gegenwart nicht bloß in ihrem Werden durch die Vergangenheit, sondern auch in ihrem Unterschiede, von derselben darzustellen seyn. So wird zum Beispiel bei der Lehre von den Verträgen nicht bloß von den| formellen römischen Unterschieden zwischen contractus und pactum zu sprechen seyn, sondern es wird auch gezeigt werden müssen, warum solche Unterschiede jetzt nicht mehr bestehen und bestehen können. Die historische Schule hält mm bloß an einer dieser nothwendigen Betrachtimgsweisen fest, und erklärt die Gegenwart lediglich durch die Vergangenheit; der Professor GANS erklärt die Gegenwart durch die Vergangenheit tmd durch sie selbst, tmd glaubt, daß nur durch diese Vereinigung ein wahres Resultat entstehe, denn eben so wie der, welcher das Gewordene von seiner Wurzel ablösen will sich revolutionär gegen das bestehende erklärt, eben so würde man es in einem gewissen Sirme als auf den Umsturz des Bestehenden abgesehen betrachten köimen, wenn | man in dem Gewordenen und Entwickelten nicht es selbst sondern nur die Wurzel erblicken wollte. In diesem Sinne hat der Professor GANS in der Vorrede zu einer früheren Schrift die gegnerische Ansicht demagogisch genarmt, ein Ausdruck, den er übrigens jetzt als ungeziehmend anerkennt, wenn auch das, was er ursprünglidi damit meinte, sich durch Vorstehendes erklärt.
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Das, was von diesen verschiedenen Ansichten nun ins Practische hineingeht, beruht hauptsächlich auf Folgendem: Die historische Schule hält nicht das Gesetz, sondern die Gewohnheit für die Hauptquelle des Rechts. Dem Gesetz gesteht dieselbe nur eine ergänzende Wirksamkeit zu. Der Professor GANS glaubt, daß in allen ursprünglichen und anfänglichen Staaten dies allerdings der Fall sei, daß | aber sobald die Zustände ausgebildeter werden, das Gesetz nicht allein die Hauptquelle, sondern fast die alleinige Quelle des Rechts wird, und die Gewohnheit im Recht eben so sehr als in der Sitte tmd Sprache zurüktritt. Ein unbefangener Blick auf den heutigen Zustand aller Europäischen Länder bestätigt wohl diese Meinung, xmd die Gesetzgebtmg erscheint überall thätig, während die Gewohnheiten keinen weitern Zuwachs erhalten.
III. Die große Bedeutung, welche die kulturpolitische Tätigkeit ALTENSTEINS für die Geltung der Hegelschen Philosophie in Berlin gewonnen hat, kann an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt werden. Gerade die auffällig geringe Beachtung aber, die dieser Altersgenosse Hegels in der Literatur gefunden hat, macht es nötig, wenigstens kurz die wichtigsten biographischen Daten in Erinnerung zu bringen. Zweifellos war die imverändert positive Einstellung des ersten preußischen Kultusministers eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Fortbestand der Hegel-Schule nach dem Tode Hegels sowie die dominierende Position, die sie wenigstens bis zum Ende der dreißiger Jahre behauptete. Aber auch der Beginn jenes einzigartigen Aufstiegs, der Hegel erst mit der Übersiedlung nach Berlin gelang, stand schon im Zeichen der energischen Förderung ALTENSTEINS. Denn es war ALTENSTEIN, dessen engagierter Befürwortung beim König und HARDENBERG Hegel zu einem wesentlichen Teil seine Berufung zu verdanken hatte. Wie der Kondolenzbrief anläßlich des Todes der Schwester des An dieser Stelle folgt in der ersten Fassung noch der folgende Absatz: „Indem nun hier die hervorstechenden Verschiedenheiten in der Lehre der historischen Schule und in der des Professors Gans mitgetheilt worden sind, wird es wohl klar seyn, daß beide Meinungen auf keine Weise so auseinander liegen, daß sie nicht füglich friedlich coexistiren können. Es ist wie es scheint sogar einleuchtend daß die des Professor Gans mehr als Ergänzung denn als feindlidi in Beziehung auf die andere betrachtet werden muß. Da der Professor Gans die Verdienste der historischen Schule vollkommen anerkennt, so steht wenigstens von seiner Seite nicht das Geringste entgegen, eine solche Annäherung und Vereinigung zu wünschen, die nur dem Interesse der Wissenschaft förderlich seyn könnte." Zum Lebensgang vgl. ADB. Bd35 (unter Stein). 645—660. (Verf.: P. Goldschmidt). “ Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 2. Nr 326, 328, 331, 332, 333, 337, 339, 343 etc.
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Ministers zeigt, muß Hegel auch in eine engere persönliche Beziehung zu STEIN getreten sein.
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entstammte einem fränkischen Adelsgeschlecht und war 1770 in Ansbach geboren. Durch HARDENBERG wurde er 1799 nach Berlin gerufen, erhielt hier die Ernennung zum Vortragenden Ministerialrat und kam wenige Jahre darauf als Geheimer Oberfinanzrat in das General-Direktorium. Nach der Schlacht bei Jena (1806) folgte er dem König nach Königsberg; nach dem Rücktritt des Freiherrn VOM STEIN (1808) trat er als Finanzminister an die Spitze der Verwaltung, verlor aber diese Stellung schon im Jahre 1810. Wohl über seinen Protektor HARDENBERG wurde ALTENSTEIN schon während der ersten Berliner Amtstätigkeit in den Kreis der Reformpolitiker eingeführt, der sich um den Freiherm VOM STEIN gebildet hatte. Im Jahre 1815 leitete ALTENSTEIN zusammen mit W. V. HUMBOLDT die Reklamation der von den Franzosen aus Preußen weggeführten Kunstschätze. Die bedeutendste Epoche seines Lebens begann 1817 mit seiner Ernennung zum Chef des neugebildeten Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- tmd Medizinalangelegenheiten, wodurch er zugleich erster Kultusminister Preußens wurde, ein Amt, das er erst kurz vor seinem Tode (1840) im Jahre 1839 aufgab. ALTENSTEIN
Indem ALTENSTEIN das Kultusministerium übernahm, trat er in gewissem Sinne auch die Nachfolge HUMBOLDTS an. Diese Hypothek hat — wie LENZ' immerhin um Ausgewogenheit bemühte Charakterisierung seiner Person und Amtsführung zeigt — das Urteil der Historiker insgesamt eher negativ beeinflußt, vielleicht vor allem deswegen, weil es nicht gelang, die eigentlichen Intentionen und Motive des Politikers ALTENSTEIN von dem konkreten politischen Geschehen abzuheben. Blickt man auf die wissenschaftliche und literarische Bedeutung HUMBOLDTS, SO muß fraglos jeder Vergleich zwischen ihm und ALTENSTEIN zuungunsten des letzteren ausfaUen. Achtet man dagegen auf das politische Wirken beider, dann wird die Entscheidung schwer, ob man dem im Konzipieren von Programmen überlegenen, an der konkreten Durchführung jedoch scheiternden HUMBOLDT den Vorzug geben will oder eher doch jener zähen Beharrlichkeit des zum Taktieren genötigten, noch im Zurückgleiten wieder Vorteile gewinnenden ALTENSTEIN, der über zwanzig Jahre seinen Kurs einer vorsichtigen liberalen Reform auch nach dem Abtreten HUMBOLDTS, BEYMES, BOYENS imd vor allem HARDENBERGS durchzubringen wußte. Alle Zeugnisse sprechen dafür, daß ALTENSTEIN nichts weniger als den Typus des beschränkten Bürokraten oder opportunistischen Höflings repräsentierte, obwohl es seine Kunst des Ausgleichens und der Handhabung des administrativen Apparats war, die ihn in seiner StelIxmg xmentbehrlich, gerade darum aber auch dem konsequenten Liberalismus Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 3. Nr 637, 638. Vgl. Lenz: Gesdiidite der Universität. Bd2,1. Hälfte. 4 ff.
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verdächtig erscheinen ließen. Die entscheidenden philosophischen Eindrücke erhielt er von FICHTE, dessen Berliner Vorlesungen er in den Jahren 1804/05 besuchte; und zu FICHTES Philosophie hat er sich auch später noch bekannt. Welche Gründe ihn bewogen haben mögen, gerade Hegel, den philosophischen Gegner FICHTES, auf dessen Lehrstuhl zu berufen und der verläßlichste Mentor Hegels und seiner Schüler zu werden, läßt sich aus den heute zur Verfügung stehenden Zeugnissen kaum befriedigend aufklären, wiewohl diese Frage für eine Erhellung des stets positiven Verhältnisses zwischen dem Kultusministerium und der Hegelschen Philosophie nicht ohne Belang sein dürfte. Angesichts der heutigen Forschungslage ist es nicht möglich, den politischen Weg ALTENSTEINS zwischen 1817 und 1839 vollständig nachzuzeichnen. Dagegen dürfte es für das Verständnis der mitgeteilten Dokumente unerläßlich sein, wenigstens einige Gesichtspimkte hervorzuheben, die den Stellenwert des Streits um E. GANS innerhalb der politischen Entwicklung der Zeit sichtbar werden lassen. Seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts stand die Entwicklung des preußischen Staatswesens im Zeichen der Anwendung des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten (ALR) als der gültigen Regelung aller gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse: „Der Staat als Hüter imd Diener der bürgerlichen Gesellschaft — dies ist das theoretische Konzept der preußischen Verfassung von 1791/94." Während aber das ALR an den zu Ausgang des 18. Jahrhunderts Vorgefundenen sozialen Gegebenheiten orientiert war und deren Struktur keineswegs aufzuheben trachtete, plante die um den Freiherrn VON STEIN gruppierte Reformpartei den Entwurf einer freien Staatsbürgergesellschaft, die durch Überwindung der traditionellen ständischen Schranken einem revolutionären Umsturz, wie er in Frankreich stattgefimden hatte, mittels einer Reform zuvorkommen Zur politischen Biographie Altensteins vgl. vor allem C. Varrentrapp; Johannes Schulze und das höhere preussische Unterriditswesen in seiner Zeit. Leipzig 1889. 274 ff. In neuerer Zeit hat J. D'Hondt (Hegel in seiner Zeit. Berlin, 1818—1831. Berlin 1 40—44) eine ebenfalls günstige Beurteilung des politischen Wirkens sowie der Person Altensteins gegeben. — Die Vermutung von Lenz (Geschichte der Universität. Bd 2, 1. Hälfte. 5), Humboldt selbst habe Hardenberg auf Altenstein hingewiesen und dessen Ernennung befürwortet, besitzt wenig Wahrscheinlichkeit, wenn man den Briefwechsel Wilhelms und Carolines v. Humboldt vergleicht, in dem zunächst sehr reserviert und eher negativ über Altensteins Berufung geurteilt wird. Vgl. Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. v. A. v. Sydow. Bd 6. Briefe Nr 20, 29, 40. Die erste günstige Äußerung findet sich in Humboldts Brief an Caroline vom 10.11.1818: „... er [sc. Altenstein] ist ein redlicher Mann und mir an sich gut." (Ebd. 373) Vgl. Lenz: Geschichte der Universität. Bd2, 1. Hälfte. 4. Im Bamberger Nachlaß befinden sich Eintrittskarten sowie Notizzettel mit Hörerlisten der von Altenstein besuchten Vorlesungen Fichtes. R. Koselleck; Staat und Gesellschaft in Preußen, 1815—1848. In: Moderne deutsche Sozialgeschichte. Hrsg. v. H.-U. Wehler. Köln, Berlin 1966. (Neue Wissenschaftliche Bibliothek. 10.) 57. Zur Charakterisierung des ALR vgl. 55—60.
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sollte und die auf eine solche Umwälzung hinstrebenden gesellschaftlichen Kräfte zu intergrieren suchte. Es ist heute wohl unstreitig, daß die Durchsetzung des Reformwerks nur partiell gelang und in seinem ganzen Umfang schon zu Beginn der zwanziger Jahre gescheitert war. Dies vermochte zwar den sozialen Wandel, der längst in Gang gekommen war, keineswegs aufzuhalten. Das Preußen aber, welches Hegel bei seiner Übersiedlung nach Berlin vorfand, hatte jedenfalls weder den Prozeß der gesellschaftlichen Umstrukturierung bereits abgeschlossen, noch war es — im Sinne der reformerischen Konzeption — geglückt, eine irgend stabile Synthese zwischen staatlicher Verfassimg und den im Fluß befindlichen gesellschaftlichen Verhältnissen herbeizuführen. Vielmehr erstreckten sich die Bemühungen um diese Frage durch den ganzen Vormärz hindurch, ohne freilich jemals von Seiten des Staates verfassungsmäßig legitimiert zu werden, so daß die m der Revolution von 1848 endlich erzwungene partielle Sanktionierung nichts anderes als der verspätete Versuch war, die inzwischen eingetretene Entfremdimg von Staat und Gesellschaft noch einmal aufzuheben. Dadurch daß Lenkung und Kanalisierung der sozialen Umstrukturierung von Anfang an mit der Reorganisation der Verwaltung verknüpft wurden imd letztere die Priorität erhielt, fiel die tragende Rolle einer sozialen Schicht zu, für die im ALR noch eine untergeordnete Funktion vorgesehen war. Sie war weder mit der am Hof gruppierten altständischen Partei des Adels, noch mit dem aufstrebenden Bürgertum einfach deckungsgleich, sondern rekrutierte ihre bedeutendsten Vertreter aus beiden Lagern. Es war die preußische Beamtenschaft, welche in den zwanziger und dreißiger Jahren den administrativen Apparat zimehmend in eigene Regie übernahm und gegenüber König und Bürgertum als eine relativ homogene Körperschaft die politische Verantwortimg trug. Sie bildete, insbesondere in den Spitzen der Ministerien, „den aktiven Kern der Verfassung"; und in ihr war naturgemäß das Bedürfnis am stärksten ausgeprägt, ihre zwiespältige Rolle als Protagonist des Fortschritts und als Wahrer der staatlichen Präponderanz gegenüber der von ihr administrierten bürgerlichen Gesellschaft durch eine geeignete ideologische Legitimation abzusichern. Sucht man angesichts dieser hier nur grob charakterisierten historischen Situation nach einem konkreten Ansatz für ein Bündnis zwischen (Hegelscher) Philosophie und zeitgenössischer Politik, so wird man den Integrationspunkt zwischen beiden Kräften schwerlich anderswo als in der zweifellos problematischen und zu keiner Zeit völlig harmonischen Annähertmg an Hegels Doktrin von Seiten der administrativen Intelligenz auffinden können. Denn diese PhiVgl. Koselledc: Staat und Gesellschaft. 61. Zur gesamten politisch-sozialen Entwicklung in Preußen vgl. Koselledc: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Stuttgart 1967. (Industrielle Welt. Bd 7.) Vgl. Koselledc: Staat und Gesellschaft. 62 ff. ^ Koselledc: Staat und Gesellschaft. 64.
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losophie machte sich ausdrücklich anheischig, statt einer revolutionären Negation der gesellschaftlich-politischen Realität das Bestimmtsein derselben durch Vernunft zu lehren und legte die Administration des Wirklichwerdens der Vernunft innerhalb des Staates in die Hände der gebildeten Beamtenschaft. Trotz dieser faktischen Kongruenz von Theorie und politischer Wirklichkeit geht aber die pauschale Charakterisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie als einer preußischen Staatsphilosophie in mehrfacher Hinsicht an der Wirklichkeit vorbei, wie auch seit GANS' Vorwort zur Philosophie des Redits vollständig zurecht immer wieder auf die vielfältigen Differenzen zwischen der preußischen Monarchie und Hegels Staatskonzeption hingewiesen wurde. Achtet man nur auf die Entstehung von Hegels Staatslehre innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens, so zeigt sich, daß sie niemals durch getreue Deskription der Verhältnisse in Preußen zwischen 1815 und 1821 zustande gekommen ist. Ebensowenig handelte es sich (zumal in den zwanziger Jahren) um einen von den breiten Schichten der aufstrebenden bürgerlichen Intelligenz bereitwillig rezipierten Entwurf von Staat und Gesellschaft. Denn das Bürgertum hatte die entscheidenden politischen Impulse aus seiner Mitwirkung an den Befreiungskriegen bzw. den hier erweckten Hoffnungen auf eine progressive Liberalisierung des Staatswesens bezogen, während Hegel umgekehrt sein Mißtrauen und seine Abneigung gegenüber dem Nationalismus, der aus dem Sieg über NAPOLEON hervorging, nie verleugnet hat. Schließlich erfreute sich Hegels Staatsphilosophie — wie gerade der Streit um GANS nachdrücklich zeigt — keineswegs der uneingeschränkten Förderung und Wertschätzung des restaurativ eingestellten Hofes. Die ideologischen Wurzeln des Widerstandes, soweit dieser jedenfalls vom Kreis um den Kronprinzen, nachmaligen Königs FRIEDRICH WILHELM IV., ausging, sind in dem von der Romantik mitgeprägten Gedanken des Gottesgnadentums zu finden, der seine politische Konkretisierung in einer teils religiösen Verklärung des durch die Heilige Allianz vertretenen Legitimismus suchte. Gerade der romantische Volksgedanke war es, der einerseits in die Forderung einer nationalen Einigung Deutschlands als ideologisches Ferment Eingang geZur Rolle der Beamtensdiaft in Preußen sowie der überraschenden Kongruenz ihrer Funktion mit der von Hegel in der Philosophie des Rechts (§ 289 ff) theoretisch entwickelten Mittelstellung zwischen Staat und Gesellschaft vgl. Koselleck: Staat und Gesellschaft. 64 ff. Daß diese und weitere Übereinstimmungen (wie auch Differenzen) zwischen Hegels Staatslehre und Preußen sich keineswegs einer späten Orientierung an der preußischen Monarchie verdanken, ist aus der umfassenden und noch immer gültigen entwidclungsgeschichtlichen Darstellung von Rosenzweig zu ersehen. Vgl. F. Rosenzweig; Hegel und der Staat. Bd2. München und Berlin 1920. 165 ff. Wiederabdruck dieses Vorworts in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd 1. 242—248. Vgl. 245. Vgl. R. P. Horstmann: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie. In: Hegel-Studien. 9 (1974), 209—240. Vgl. O. Pöggeler; Hegels Option für Österreich (s. o. Anm. 12). 102 ff.
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funden hatte, andererseits aber in dem Preußen nach 1815 weder während der relativ kurzen Reformära, noch in der seit 1819 folgenden Restaurationszeit eine greifbare Voraussetzung aufweisen konnte. Die Administration stand vielmehr nach dem Wiener Kongreß vor der Aufgabe, einen Weg zur Integration des preußischen Staatswesens zu finden, das aus heterogenen und auseinanderstrebenden Teilen zusammengesetzt worden war. Unter den vielfältigen Zwängen dieser politischen Situation, deren Gnmdlage nichts weniger als ein „organisch gewachsenes" Staats wesen war, gewann jener in der Folgezeit mannigfach umstrittene tmd mißverstandene Topos Resonanz, wonach Preußens Kraft auf der Macht seines „Geistes", der Energie einer den Staat tragenden und formierenden „Intelligenz" beruhe. Die befremdlich und spekulativ anmutende, von GANS in den Beiträgen zur Revision der preußischen Gesetzgebung (1830—32) mit aller Schärfe formulierte Forderung, daß das „Nationelle" sich aus dem Geiste eine konkrete staatlich-gesellschafthche Existenz erst noch verschaffen müsse, hatte somit ihren Ursprung mitnichten in abstrakten Konsequenzen einer wirkZur Bedeutung dieser Formel vgl. Koselledc: Preußen zwischen Reform und Revolution. 398 ff, sowie die hier angeführten zeitgenössischen Belege. Als Zeugnis für das Fortleben dieses Topos vgl. F. Engels: Tagebuch eines Hospitanten. II [von Henning]. In: MEIV. Ergänzungsband, Teil 2. 252 ff. Engels' Bericht aus dem Jahre 1842 über eine Vorlesung v. Hennings zeigt, daß diese Auffassung Preußens offenbar ein festes Requisit der Hegelschule bildete. Bekanntlich hat Hegel diesen Topos aufgenommen, wie ein Randzusatz zur Heidelberger Niederschrift der Einleitung in die Geschichte der Philosophie belegt. Vgl. diese Notiz und ihre ausformulierte Fassung von Michelet in: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Theorie Werkausgabe) Bd 18. 12. Allerdings stimmt die Wiedergabe der Hegelschen Notiz (auch nach der dem Manuskript folgenden Fassung) in einer — entscheidenden — Stelle nicht mit dem Original überein. Im Manuskript fehlt nämlich das „jetzt", welches die Konjektur des Wortlauts bzw. deren zeitgenössische Applikation auf Hegels Berliner Zeit allererst plausibel erscheinen läßt. Nichts deutet im Manuskript zwingend darauf, daß Hegel diesen einen Randzusatz im Unterschied zu vielen anderen erst ln Berlin hinzugefügt habe, wie auch die bloße Erwähnung Preußens allein schwerlich davon überzeugen kann. Am allerwenigsten läßt sich aus dem originalen Wortlaut so etwas wie eine persönliche politische Option Hegels zweifelsfrei herauslesen. Offensichtlich geht die stillschweigende (und suggestive) Interpolation des „jetzt" sowie die gezielte Ausformulierung einer solchen Option auf Michelet zurück, der hier einmal mehr eine Gelegenheit erblickte, die Konformität der Hegelschen Philosophie mit dem preußischen Staatswesen herauszustellen. Wie ähnliche Formulierungen in Hegels Berliner Antrittsvorlesung zeigen (vgl. Berliner Schriften. 1818—1831. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 4 ff), handelt es sich — in Hegels Intention — eher um ein Postulat, dessen weltgeschichtliche ,Stunde' Hegel zwar konstatiert, jedoch keineswegs in Berlin als ein Faktum vorfindet. Auch in dieser Rede, die am deutlichsten für eine direkte politische Option Hegels zu sprechen scheint, sollten programmatische und deskriptive Redeweise genauestens untersdiieden werden. “ Zitiert bei Koselledc: Preußen zwischen Reform und Revolution. 399. Vgl. auch Gans' Einleitung zu: Beiträge zur Revision der preußischen Gesetzgebung. In: Eduard Gans: Philosophische Schriften. Hrsg, und eingel. v. H. Schröder. Glashütten/Taunus 1971. 322 f.
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lichkeitsfernen Theorie. „Es war von einem Geist die Rede, der allein die Einheit sicherte einem Staat, dem die konfessionelle, ethnische, sprachliche, rechtliche, ja sogar die geographische Einheit abging. Der tätige Träger dieses Geistes war nur die berufsmäßige Intelligenz, die Beamtenschaft. . Das Mißlingen des Versuchs, jene geistige Einheit auf dem Wege der Administration politisch zu realisieren, hat die Geschichte Preußens zwischen 1815 imd 1848 nachhaltig geprägt. Durch die Nichteinlösung des Verfassungsversprechens wurde die zu Beginn der Freiheitskriege proklamierte — dem König allerdings gegen seinen Willen abgenötigte — Identifikation des Monarchen mit „seinem Volk" zur bloßen Phrase. Der alsbald einsetzende Widerstand der am Hof konzentrierten altständischen Partei hat es in der Folgezeit jedenfalls verhindert, daß die liberalen Bestrebungen der Beamtenschaft von der Staatsspitze eine positive Förderung erfuhren. Umgekehrt hat die Administration es auch nicht verstanden, ihre ambivalente Stellung gegenüber dem Hof dadurch zu entlasten, daß sie sich der breiten Unterstützung des Bürgertums versicherte, dem sie vielmehr als Organ der Staatsmacht gegenübertrat. Gerade in dem Mciße, wie sich die preußische Beamtenschaft als eine relativ homogene Schicht der „Intelligenz" konstituierte tmd in Wahrnehmung ihrer administrativen Funktion zwischen Monarch und Untertanen schob, ohne sich unzweideutig mit den Interessen der einen oder der anderen Seite zu identifizieren, geriet sie in eine auf Dauer unhaltbare Mittelstellung, durch die das ursprüngliche Reformkonzept vom politischen Programm der Zuktmft zum machtlosen Postulat verkümmerte.
IV. Noch 1830 aber hatte GANS den Vorzug der neuesten Geschichte Preußens darin erblickt, daß dieses im Unterschied zu den übrigen europäischen Völkern der „Natürlichkeit" entbehre und hier „kein anderes Ancien Regime [vorhanden sei] als die Zeit, in der es [Preussen] noch nicht war". Genau dieser Tatbestand bzw. das Bewußtsein geschichtlicher Diskontinuität, das seinerseits in der Differenz von „Natürlichkeit" und „Geist" oder „Intelligenz" gründet, galt ihm entgegen jeder romantischen Suche nach den völkischen Wurzeln einer verlorenen geschichtlichen Identität umgekehrt als einzigartige Legitimation dafür, den preußischen Staat an die Spitze des (welt)geschichtlichen Fortschritts zu stellen, weil dieser Staat (in der Hegelschen Bedeutung des Wortes) „ein Begriff sei, der sich aber seine Realität selbst zu geben versteht" und daher Koselledt: Preußen zwisdien Reform und Revolution. 399. Zur Biographie vgl. H. G. Reissner: Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz. Tübingen 1965. Zu Gans' Bedeutung als furist und Philosoph vgl. Schröders Vorwort in: Gans: Philosophische Schriften. V—LXXXI. Gans: Philosophische Schriften. 322.
“ Ebd.
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auch Subjekt seiner eigenen (künftigen) Existenz sei. Denn genau in dem Maße wie dieser „Begriff" seiner eigenen Vorgeschichte gegenübertritt und sich nicht der Tradition verdankt, ist er gerade von deren „Realität" unterschieden und verweist auf eine Realisierung, die ihm allein angemessen ist. Mit dieser Auffassung vollzog GANS eine spezielle Konkretisierung der rechts- und geschichtsphilosophischen Theorie Hegels, genauer er tat jenen bei Hegel vermißten Schritt von der philosophischen Doktrin zu deren Anwendung in der zeitgenössischen politischen Praxis imd formulierte — wiewohl nicht ohne Eingriffe in Hegels Entwurf — den fehlenden Integrationspunkt von (Hegelscher) Philosophie imd Politik. Mit dieser Unterscheidung von „Begriff" und „Realität" erfährt das Prinzip des preußischen Staates zugleich eine spezielle Auslegung, die es GANS ermöglicht, die systematisch gesuchte Verbindung zu dem von Hegel vorgegebenen Konzept der Weltgeschichte herzustellen. Zufolge der von GANS in den Beiträgen kurz skizzierten Interpretation der deutschen Geschichte seit der Reformation ist Deutschland „im Suchen nach einem Staat begriffen bewesen, der es dem Prinzipe nach, das heißt evangelisch darstelle". Damit nimmt GANS der Sache nach einen Gedankengang Hegels auf, den dieser erst während der Berliner Zeit ausgebildet und in den Vortrag der Philosophie der Weltgeschichte eingebracht sowie anläßlich der dritten Auflage der Enzyklopädie im § 552 (vgl. schon in der Aufl. 1827 § 563) explizit formuliert hatte. Bei der hier erfolgten Auszeichnung des „protestantischen" Prinzips als eines unverzichtbaren Moments wahrer Staatlichkeit handelt es sich erst in zweiter Linie um ein konfessionelles Bekenntnis. Gemeint ist vielmehr die durch den Gang der Weltgeschichte notwendig vorgezeichnete Aufhebung der Differenz von religiösem tmd sittlichem Bewußtsein als derjenigen objektiven „Versöhnung" mit der Wirklichkeit, „welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet". Zwar wird die notwendige Form eines solchen Bewußtseins, das nach Hegel die systematisch unverzichtbare Voraussetzung für die Existenz des wahrhaften Begriffs des Staates bildet, bereits am Schluß der Philosophie des Rechts (§ 360) deduziert und in § 270 als „Grundlage" gekennzeichnet, „welche das Sittliche überhaupt imd näher die Natur des Staats als den göttlichen Willen enthält". Aber die genauere (auch geschichtliche) Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Staat in Beziehung auf die konkrete Subjektivität ist hier vorerst nur angedeutet. Erst die spätere Explikation des „Gewissens", dessen wahrer Begriff sich nach Hegel dem Protestantismus verdankt, führt zur Auffindung des eigentlichen Prinzips des modernen Staates, in dem Hegels rechts- und religionsphilosophischer Ansatz zusammengeschlossen werden. Die (geschichtliche) Realisierung jenes Prinzips setzt nun für Hegel wie für GANS zwar die Reformation « Ebd. 323.
Theorie Werkausgabe. Bd 12. 525 ff. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Redits. §360. Ebd. §270.
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voraus, aber sie beginnt historisch erst im Preußen FRIEDRICHS II. Gestützt auf diesen — 1830 von Hegel auch durch die Publikation der Enzyklopädie autorisierten — Begriff des Staates als dem von der Vernunft geforderten Resultat der Weltgeschichte kann GANS, wiewohl er damit über die belegbare Meinung Hegels zweifellos hinausgeht, noch im gleichen Jahr erklären: „Das plötzliche Erscheinen Preußens in der Reihe der Staaten [in Deutschland] ist nichts anderes als die Erfüllung dieser Forderung." Um die Differenz zwischen GANS und Hegel zu erkennen, ist jedoch die Tatsache von entscheidender Bedeutung, daß GANS im gleichen Zuge dem von Hegel übernommenen Verständnis der Geschichte, wonach diese als ein auf sein immanentes Resultat, die Erscheinung der Vernunft, hinstrebender teleologischer Prozeß gedacht wird, eine neue und systematisch folgenreiche Wendung gibt. Zwar geht auch für GANS der wahre Begriff des Staates mit Notwendigkeit aus der Weltgeschichte hervor, die dergestalt allererst von ihrem Endzweck her begriffen wird imd von nun an Geschichte des wirklich existierenden Begriffs sein kann. Aber dieser Begriff des Staates wird, wie GANS an dem singulären Fall Preußens zugleich empirisch nachweisen will, der Geschichte nicht als ein bloßer Gedanke abgerungen oder aus ihrem allgemeinen Verlauf extrahiert, sondern ist schon durch Vernunft, genauer die „Intelligenz" als ein besonderes Staatswesen in der historischen Wirklichkeit gesetzt. GANS' Rede von der Machtlosigkeit des Ancien regime in Preußen will in diesem Sinne sagen, daß hier — anders als in Frankreich — keine revolutionäre Aufhebung der Wirklichkeit mehr nötig ist, um der Vernunft Realität zu verschaffen, da dies durch den aufgeklärten Absolutismus FRIEDRICHS II., des Urhebers des ALR, bereits aus dem „Gedanken" geleistet ist. Aus dem gleichen Umstand läßt sich dann die geschichtliche Legitimation der „Intelligenz" ableiten, die Realisierung jenes Begriffs als konkretes politisches Programm der Zukunft zu definieren. Damit wird zugleich Hegels Anweisung zur (theoretischen) Erkenntnis der substantiellen Vernünftigkeit der geschichtlichen Gegenwart aus der Sphäre des reinen Gedankens in den Ansatz politischer Praxis überführt. So ist es auch die kaum verhohlene Absicht, der philosophischen Theorie ihren impliziten Anspruch auf aktuelle politische Mitwirkung zu sichern und gleichzeitig die dazu von der Geschichte selbst ermächtigte „Intelligenz" aufzurufen, welche GANS mit Beziehung auf den preußischen Staat zu der Feststellung veranlaßt: „Der neuen Geschichte allein angehörig, ist die Intelligenz nicht erst sein saurer Erwerb, sondern sein Erbteil." Das Spezifische der von GANS entwickelten politischen Position tritt dann hervor, wenn man auf die Verknüpfung des geschichtlichen Selbstverständnisses, wie es der zuletzt zitierte Satz bekundet, mit der vorher skizzierten Geschichts" Vgl. dazu O. Pöggeler: Hegels Option für Österreich .105 f, sowie die hier angegebenen Nachweise zu den Veränderungen in Hegels spätesten Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. 5» Gans: Philosophische Schriften. 323. *1 Ebd. 322 f.
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konstruktion GANS' achtet. In dem Maße wie das Prinzip des preußischen Staates bzw. der Begriff des modernen Staates überhaupt seine Legitimität einerseits der weltgeschichtlichen Vernunft verdankt, andererseits aber vorläufig nur durch und für die „Intelligenz" vorhanden ist und so seine historische Existenz erst begonnen hat, bedarf er nach GANS eben aufgrund seiner geschichtsstiftenden Kraft einer vorgängigen Reflexion, die den historischen Prozeß seiner Realisierung, genauer die daraus resultierende politische Praxis der Kontrolle der Vernunft unterwirft. GANS' Programm einer „Revision der preußischen Gesetzgebung" versteht sich folgerichtig nicht als Sammlung positiver Rechtsentscheidungen auf dem Boden des ALR, um die faktische Rechtspraxis neu zu orientieren. Indem er die Entstehimg des ALR aus dem (philosophischen) Geist der Aufklärung ableitet, verleiht GANS seinem Unternehmen von vornherein eine geschichtsphilosophische Perspektive. Hiernach kann der von der Vernunft legitimierte Begriff des Staates nicht durch Extraktion aus dem Faktum des ALR gewonnen, sondern muß durch Kritik des positiven Rechts aufgewiesen werden, deren Prämissen für GANS in der Philosophie selbst liegen. Diese revidierende Kritik hat nun aber nichts weniger als den Charakter einer Revolution. Da sie ihren eigenen Voraussetzungen getreu die Vernunft bereits als historisch existierendes Prinzip der Staatlichkeit vorfindet, bedarf sie keines revolutionären Aktes, vermöge dessen die Vernunft die Geschichte überholt. Vielmehr richtet sich die Kritik des positiven Rechtszustandes in Wahrheit nur gegen den „abstrakt philosophischen Geist der Zeit, in welcher es [das ALR] entstand"; und dessen Mangel erblickt GANS mit einer Hegelschen Wendung in „dem unrichtigen Auffassen des Verhältnisses des Allgemeinen zum Besonderen". So spitzt sich die von GANS angemeldete Kritik von vornherein auf eine „Revision" des „Begriffs", nicht den Umsturz des preußischen Staates zu, weil nur auf diesem Wege die spezifische geschichtsstiftende und -formierende Kraft des „Begriffs" zur Geltung kommt, während der Gedanke einer Revolution, also der Aufhebung des „Begriffs", durch Verweis auf die historische Existenz des vernunftgemäßen Staatsprinzips, die schon eingetretene Verbindung von Vernunft und Wirklichkeit abgebrochen wird. Von dieser Position aus deutet GANS schließlich seine eigene politische Prognose an. „Preußen ist mit einem Worte das neue Deutschland", weil es — auf „Intelligenz" gegründet — das „Nationelle" nicht aus dem regional gebundenen und widersprüchlichen Herkommen schöpft, sondern aus dem von der Vernunft legitimierten, darum allgemein gültigen „Begriff des Staates". Entsprechend ist dessen rechtliche Grundverfassimg, das ALR, infolge seines traditionslosen Auftretens aus dem „Geiste" gegen jede Polemik zu verteidigen, die deren mangelnde Verwurzelung im konkreten Rechtsherkommen rügt. Nur aufgrund der wesentlichen Allgemein« “ “ “
Ebd. Ebd. 325. Ebd. Ebd. 323.
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heit seines „Begriffs" ist das ALR für GANS virtuell geeignet, die Partialität des rechtlichen und politischen Entwicklungsstandes Deutschlands aufzuheben, so daß die künftige Geschichte Deutschlands mit Notwendigkeit in die „Identität Preußens und Deutschlands" einmünden wird. Mit diesem in den Beiträgen (1830) formulierten politischen Programm, das eine spezifische Applikation der Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels impliziert und darin bereits wesentliche Züge der junghegelianischen Position vorwegnimmt, hat GANS der Philosophie Hegels — entgegen der zögernden Vorsicht ihres Urhebers — eine bestimmte Stelle innerhalb des politischen Kräftespiels zugewiesen. Einerseits trug dieses Programm der besonderen Lage und dem Selbstverständnis derjeiügen Teile der administrativen Intelligenz Rechnung, welche eine progressive Liberalisierung des preußischen Staatswesens in Fortsetzung des SjEiN-HARDENBERGschen Reformwerkes befürworteten. Zum andern bot es Ansatzpunkte, das unüberhörbare Bedürfnis zur Kritik an der Doktrin der Restauration in eine Theorie des politischen Fortschritts zur konstitutionellen Monarchie zu integrieren. Schließlich fand hier auch der seit den Freiheitskriegen laut gewordene Wunsch nach einer nationalen Einigung Deutschlands eine positive Aufnahme, die in überraschender Weise auf die Entwicklung nach 1848 vorausweist, insofern GANS die Führungsrolle bei einer dereirtigen Einigung Preußen zuwies.
V. Die theoretischen Voraussetzungen seiner Position waren jedoch von GANS schon zwei Jahre früher — auf dem Höhepunkt des Streits um seine Einführung in die juristische Fakultät — in einem Kolleg über „Naturrecht" des WS 1828/29 entwickelt worden. Dabei verdient zunächst der Umstand Beachtung, daß GANS seiner Vorlesung, die er seit dem WS 1827/28 regelmäßig abhielt, Hegels Philosophie des Rechts zugrundelegte. Selbst wenn sich nicht erweisen läßt, daß Hegel, der seinerseits mit den Vorlesungen über diesen Gegenstand ab WS 1824/25 aussetzte, jemals GANS damit beauftragt hat, so scheint GANS' Vorlesung doch von seinen Gegnern als eine von Hegel autorisierte verstanden Avorden zu sein. Wenn nämlich ALTENSTEIN in seinem Gutachten nachdrücklich auf den Unterschied zwischen der „heutigen Philosophie" (nämlich der Hegels) imd der „zerstörenden und atheistischen Philosophie des vorigen Jahrhunderts" (wohl derjenigen der französischen Aufklärung, die für die Französische Revolution haftbar gemacht wird) eingeht und ersterer eine antirevolutionäre Funk5« Ebd. Vgl. M. Riedel: Hegel und Gans. In: Natur und Geschichte. Karl Löwlth zum 70. Geburtstag. Stuttgart 1967. 257—273, hier 260 ff. Vgl. die Nadischrift dieser Vorlesung in: Gans: Philosophische Schriften. Hrsg. V. H. Schröder. 36—154. Vgl. Riedel: Hegel und Gans. 257 f. ‘0 Vgl. ebd.
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tion nachrühmt, so hat dies schwerlich nur das Ziel, die simplen Vorstellimgen des königlichen Adressaten zu korrigieren. Vielmehr erhellt aus diesem Passus, daß die Auseinandersetzungen nicht allein den Juristen GANS oder dessen Person betrafen, sondern zugleich ein Streit um Hegel selbst waren, wie auch dem Minister selbst wenig später vorgeworfen wurde, die dem preußischen Staate abträgliche Lehre Hegels autorisiert zu haben. Den Ausgangspunkt von GANS' Vorlesung bildete die — gegen die historische Rechtsschule gerichtete — Abgrenzung der in der Vernunft fundierten Rechtsidee gegen die positive Auffassung des Rechts und dessen Begründung im historischen Kausalnexus bzw. der Gewohnheit. Stattdessen soll die Idee des Rechts, deren konkrete Explikation der philosophische Begriff des Staates ist, als das Begründende der Staatengeschichte überhaupt erwiesen und so die Einheit der — dem ersten Anschein nach partiellen — Rechtsgeschichte mit der Weltgeschichte dargetan werden. Einerseits geht diese Überlegung wie ersichtlich auf den von Hegel getroffenen Übergang von der Entwicklung des Staates zur Weltgeschichte in der Philosophie des Rechts zurück. Andererseits erhält dieser Übergang bei GANS eine spezielle Auslegung, indem GANS das Gewicht seiner Argumentation darauf verlegt, daß die gesamte vergangene und gegenwärtige Geschichte durch die (philosophische) Erkenntnis der Rechtsidee gerade nicht gleichsam stillgestellt, sondern selbst als fortschreitende Verwirklichung jener Idee oder in die Zeit fallendes Wirklichwerden der Vernunft erkannt wird. Der „Gedanke des Rechts" als der „Begriff des Staates" weist nach GANS nicht auf eine empirische Geschichte zurück, aus der als einer außerhalb des Begriffs existierenden Wirklichkeit er abstrahiert würde. Er ist umgekehrt dasjenige, aus dem Geschichte entspringt; und auf sie als seine Wirklichkeit ist er notwendig angewiesen, gerade weil die Idee des Rechts nicht ein bloßer „Gedanke", sondern positives Recht, das sittliche Prinzip des wirklichen Staates ist. Das geschichtliche Existieren gehört essentiell zur Wahrheit des Begriffs, da dieser nicht nur mit sich übereinstimmen, sondern Begriff der Wirklichkeit sein soll. „So geht aus der philosophischen Entwicklung des Rechts die Geschichte selbst hervor, und was wir als philosophisch betrachtet haben, wird sich als unser Leben selbst zeigen." Die von GANS vollzogene Aufwertung der Geschichte innerhalb des Verhältnisses von ,Begriff des Rechts' und ,Weltgeschichte' drängt somit über die rein theoretische Explikation der Begriffe von Staat und Recht hinaus. Denn jetzt tritt die Geschichte selbst als die „Bewegung der Staaten" in den Vordergrund, in der kein Staat für sich „das Absolute, Souveräne, Selbständige" ist, vielmehr Vgl. Schubarih/Carganico: Zu Hegels Staatsbegriff. In: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg. v. Riedel. Bd 1. 212. Vgl. Gans: Philosophische Schriften. 42 ff. Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 340 ff. Gans; Philosophische Schriften. 43. “ Ebd. 44.
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jeder die Geschichte als seinen „Lehnsherren" anerkennen muß. In Konsequenz dieses Ansatzes ist die Weltgeschichte „als die höchste Macht der Wirklichkeit anzusehen. Alles, was lebt und Bedeutung hat, wird der Geschichte anheimfallen." Genau an diesem Pimkte tritt eine aufschlußreiche Differenz zwischen GANS' und Hegels Verständnis der Geschichte hervor. Hegel nämlich hält daran fest, daß die Weltgeschichte als „Weltgericht" nicht allein Ausdruck der „Macht" des Weltgeistes ist. Als Medium seiner Verwirklichung wird sie vielmehr ihrerseits in die Sphäre reiner Theorie wieder aufgehoben tmd als (unendliche) Realität des Wissens des Geistes von sich, seiner substantiellen Freiheit, bestimmt. Dagegen tritt in der Schlußpartie der GANSschen Vorlesung dieser Aspekt zurück, während die Geschichte als das unendliche (insofern der Unendlichkeit des Geistes adäquate) Wirklichwerden des „Gedankens", das Feld seiner praktischen Selbstverwirkhchimg, den Vorrang erhält tmd die theoretische Reflexion ihrerseits als Moment der Praxis erscheint. Diese Umdeuttmg des Hegelsdien Konzepts zeichnet sidi sogar in der Formulierung ab, insofern GANS den Ausdruck „Weltgeist" weitgehend durch den Terminus „Weltgeschichte" ersetzt. Der Sache nach wird damit aber auch jene — im Kern linkshegelianische — Auslegung vorgeprägt, die GANS 1833 in dem Vorwort seiner Ausgabe der Philosophie des Rechts Hegels Wort von der substantiellen Vernünftigkeit des Wirklichen gegeben hat. GANS zufolge will dieser Satz nichts anderes sagen, „als daß das wahrhaft Vernünftige, um seiner Natur gemäß zu sein, sich stets in die Welt einbildet und Gegenwart gewiimt und daß dasjenige, was in der Welt wahrhaft besteht, auch darin die Rechtfertigung einer ihm inwohnenden Vernünftigkeit trägt". Erst der Rückblick auf die einschlägigen Darlegungen der Vorlesung über „Naturrecht" aber läßt erkennen, daß die ,linkshegelianische' Pointe dieser Auslegung nicht einem vordergründigen apologetischen Interesse entspringt, sondern durch eine systematisch konzipierte Zusammenziehung des oben skizzierten Geschichtsverständrüsses mit Hegels kurz zuvor veröffentlichter Selbstverteidigung in § 6 der Enzyklopädie (1827), genauer dem in Hegels Logik entwickelten Begriff der „Wirklichkeit" zustandekommt. Für GANS wird die von Hegel vermittelte Einsicht entscheidend, „daß das Vernünftige die Kraft habe, sich zu realisieren", und darin ist zugleich die „Einheit des Philosophischen mit der Rechtsgeschichte" begründet. Der Begriff des Rechts stiftet nicht bloß den Anfang oder eine partielle Phase innerhalb der Geschichte. Insofern das Recht organisierendes Prinzip der konkreten Sittlichkeit überhaupt «» Ebd. 140. Ebd. “ Vgl. Philosophie des Rechts. § 342,343. Vgl. Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd 1. 244 f. Vgl. Gans: Philosophische Sdiriften. 44. « Ebd.
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ist, deren eigene Geschichte sich in der (weltgeschiditlichen) Entwicklung des Begriffs des Staates, als Geschichte der Staaten, konkretisiert, erscheint die Rechtsgeschichte nicht als untergeordneter Teil der Universalgeschichte, sondern fällt in letzter Konsequenz mit dieser zusammen. Die Vernunft muß daher die Geschichte in ihrem ganzen Umfang als ihre eigene Realität erkennen, die der Gedanke zwar im Begriff zu resümieren, von der er sich aber als reine Theorie nicht mehr zu lösen vermag. Die innere Form der Geschichte als Sukzession von Ereignissen in der Zeit ergibt sich dann nicht aufgrund der planen Relation durch den Kausalnexus. Das transitorische Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart bestimmt sich vielmehr aus der Stellung des „Gedankens des Rechts" zur „Wirklichkeit" (im Sinne Hegels), die GANS unter Rückgriff auf ARISTOTELES als ein zweifaches Existieren jcara Suvapiv und evEQY^''*^''' bestimmt. Die (notwendige) Geltung des Rechts in der Gegenwart, welche selbst erfüllte Realität des geschichtlichen Geschehens ist, verdankt sich nicht einfach der Vergangenheit oder einem historischen Herkommen, das jetzt aufgehoben ist, wie umgekehrt jede Vergangenheit einmal Realisierungsstufe (Gegenwart) des „Begriffs" war. Auch die geschichtliche Gegenwart begründet ihre Legitimität aus der einen Rechtsidee in Abhebimg gegen die Vergangenheit; sie ist als geschichtliche der „Begriff" xalK EVEQY^^“’'', der umgekehrt vMxa öuvapiv Maß der Wirklichkeit ist. Die Anwendung dieses aus Hegel geschöpften Gedankenganges auf die Rechtsund Staatswissenschaft bei GANS führte zu einem fundamentalen Gegensatz zur historischen Rehtsschule, die an der Berliner Fakultät unter der Fühnmg SAVIGNYS vorherrschte. Erst durch die programmatische Einheit von Rechts- und Universalgeschichte wird die Verteidigung des „Geschichtlichen", von dem ALTENSTEIN in seinem Gutachten spricht, überhaupt notwendig imd das Diskrimen der beiden konfligierenden Positionen definiert. Dabei ist die gegenüber der historischen Schule betonte Auszeichnung der Gegenwart von ausschlaggebender Bedeutung. Der „Gedanke des Rechts" findet danach seine aktuelle Konkretisierung nicht im faktischen Rechtsempfinden, das sich aus der „Gewohnheit" speist. Es ist vielmehr das Gesetz oder das „geltende Recht", welches als vermittelndes Allgemeines zwischen der Besonderheit des Staatsprinzips und den einzelnen Staatsbürgern allein Realität besitzt und seinerseits in der Autorität des Staates, genauer im Prinzip des Staates, wie es von der weltgeschichtlichen Entwicklung gerechtfertigt wird, begründet ist. Mit dieser in ALTENSTEINS Gutachten zentralen Wendung tritt überhaupt erst die politische Bedeutung der Kontroverse um GANS hervor, d. h. ALTENSTEINS Votum gewinnt hier den Charakter einer dezidiert politischen Option, die entschieden über eine Stellimgnahme des zuständigen Ministers zu einer Universitätsquerele hinausgeht. Denn jetzt steht die Legitimität des (preußischen) Staates, die der Minister Ebd. Vgl. oben 48.
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paradox genug gegen den ,legitimistisch' gesinnten Kronprinzen und künftigen Monarchen verficht, als solche zur Debatte. Indem ALTENSTEIN gegen die historische Schule darauf verweist, daß „Achtung und Würdigung" der „Gegenwart" sich nicht zureichend aus der Abhängigkeit von der „Gewohnheit" oder der Vergangenheit herleiten lassen, bringt er einen — wiewohl unausgesprochenen — Begriff der Legitimität ein, der von dem der Restauration radikal verschieden ist: „der Herr Professor GANS erklärt die Gegenwart durch die Vergangenheit rmd durch sie selbst, imd glaubt, daß nur durch diese Vereinigung ein wahres Resultat entstehe". Einerseits kann ALTENSTEIN durch diese Argumentation GANS gegen den Vorwurf revolutionärer Intentionen absichem. Andererseits gibt ihm der Rekurs auf GANS' geschichtsphilosophischen Ansatz die Möglichkeit, die autonome und progressive Realisierung des Prinzips des (preußischen) Staates durch das Gesetz in der Gegenwart nicht nur als notwendiges Resultat der Rechtsgeschichte zu erweisen. Der Zusammenhang von Staat und Recht wird vielmehr auch als das eigentliche Mittel angegeben, anstelle einer Revolution die „Versöhnung" des (staatsbürgerlichen) Bewußtseins mit der Wirklichkeit des Staates herbeizuführen. Für ALTENSTEIN, der sich in seinem Gutachten konsequent auf den Boden der GANSschen Rechtstheorie stellt, ist der Staat nicht primär Sachwalter der Tradition, sondern der die Sittlichkeit und Geschichte konstituierenden Vernunft. „Solange dieser den Thatsachen inwohnende Geist nicht klar geworden ist, sind diese Thatsachen immer noch dem Verdachte ausgesetzt Misbräuche zu seyn, und selbst die bestimmte Nachweisimg des äußern Causalnexus wehrt die Vorstellung nicht ab, daß hier bloße Zufälligkeiten vorgewaltet hätten." Dadurch daß ALTENSTEIN, wie seine weiteren Ausführungen zeigen, das Recht als essentielle Substanz des „Geschichtlichen" auffaßt imd den Staat aufgrund seiner aktuellen Ermächtigung zur Gesetzgebung als autonomes ,Subjekt' des Rechts schlechthin begreift, wendet er sich gegen eine Subordination des Rechtsbegriff unter die Geschichte. Denn in Konsequenz einer derartigen, der historischen Schule zugeschriebenen, Position müßte insbesondere der gegenwärtige Staat und seine gesetzliche Verfassimg gerade der notwendigen Legitimität entbehren und nur als Ergebnis einer in sich vernunftlosen Geschichte erscheinen. Tatsächlich bedient sich der Minister in den einschlägigen Partien seines Gutachtens einer Argumentation, die GANS gelegentlich im zweiten Band des Erbrechts angegeben und deren Wortlaut ALTENSTEIN sich offenkundig für die Abfassung des Gutachtens hatte exzerpieren lassen. Den Angelpunkt der Vgl. oben 48. Vgl. oben 46. Zu diesem Exzerpt vgl. oben 45. Das Exzerpt aus dem Erbrecht reicht von „Dies nun ist ..." bis „... welche das Gesetz ist". — Den Anstoß zur Beachtung dieser Stelle hatte der Kronprinz in seinem Beschwerdebrief an den Minister gegeben; er zitiert hier eine Reihe von Stellen aus Gans' Schriften, die gegen die historische Schule gerichtet sind
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Stelle bei GANS bildet die Definition des Gesetzes, die er scharf gegen die historische Schule abgrenzt. Soll von einer Verwirklichung des Rechts die Rede sein, so hält GANS prinzipiell fest, daß es „durch das Gesetz erst zu einem bestimmten wirklichen Rechte erhoben wird, daß es nicht der Zwang ist, der das Gesetz vom Recht rmterscheidet, sondern daß der Unterschied vielmehr darin liegt, daß im Gesetz das Recht die Substanz des Staates, und der wahrhaft concreten Sittlichkeit gewonnen hat". Indem also ALTENSTEIN das Gesetz bzw. die Gesetzgebung als „alleinige Quelle des Rechts" definiert, gibt er nicht nur einer bestimmten rechtstheoretischen Position seine Billigung. Die entscheidende und im Kern liberale Pointe liegt vielmehr darin, daß so eine unaufhebbare Verpflichtung der Staatsgewalt auf das Gesetz ausgesprochen und eine Begründung der staatlichen Gesetzgebung in einer überstaatlichen Rechtsidee postuliert wird, die sich ihrerseits in dem philosophischen Begriff des wahren Staates ausformt, wie umgekehrt die Auffassung des Rechts als eines bloßen Ferments der für sich genommen vemunftlosen Geschichte von „Gewohnheit", „Sitte" und ,organisch' gewadisenem „Brauch" verworfen wird. Nur auf diese Weise aber, so lautet ALTENSTEINS Argumentation gegenüber dem Kronprinzen, läßt sich der Staat politisch überhaupt gegen den Vorwurf der Willkür und despotischen Machtausübung verteidigen, d. h. die „Restauration" seiner „Legitimität" ist davon abhängig, daß das Gesetz nicht subsidiär als ein bloßer Zwang die unmittelbar vorhandene „Gewohnheit" bzw. das seiner Entstehung nach schon Vergangene gegenüber der Gegenwart ins Recht setzt und sanktioniert. Das Gesetz ist vielmehr seinerseits reflektiertes Moment des Bewußtseins eines Staates als der objektiven (geschichtlichen) Vernunft, die als genuine Rechtsquelle erkannt wird imd durch den Akt der Gesetzgebung die vernunftgemäße Autorität des Staates beurkundet. In dieser Betrachtung legt der Staat den Charakter einer reinen Zwangsanstalt ab, welcher den Rechtsgrund der Revolution bildet, da die Existenz eines solchen Staatswesens in letzter Instanz nur durch Gewalt begründet würde. Wird dagegen die geschichtliche Realität des Staates primär aus seiner gesetzgebenden Tätigkeit abgeleitet bzw. seine Wirklichkeit (im Sinne von GANS) als die Gegenwart des „Begriffs" des Rechts xad’ EVEQYEICXV bestimmt, so erscheint seine „Macht" über den einzelnen Bürger nicht mehr als faktische Ausübimg absoluter Gewalt. Zufolge der scharfen Trennimg von Gesetz imd Gewalt wird die als Folge von Staatsprinzipien entwickelte Weltgeschichte ihrem eigentlichen Wesen nach gerade nicht bloß als Geschichte des Zu- oder Abnehmens staatlicher Gewalt vorgestellt, wie auch die Gewalt als reines Faktum keine qualitative Entwicklung kennt. Vielmehr handelt es sich um eine Entwicklung der Idee des Rechts als solcher, die im Begriff des wahren Staates gipfelt. Hier tritt umgekehrt die Gewalt nur sub^ E. Gans: Das Erbrecht in loeltgeschichiUcher Entwicklung. Eine Abhandlung der Universalrechtsgesdüchte. Bd 2. Berlin 1825. 293. Vgl. oben 49.
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sidiär zum Gesetz hinzu, das als konkrete Formulierung objektiver Vernunft erscheint, so daß die Weltgeschichte schließlich als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" definiert werden kann, in dem die Macht des Staates, der konkreten Gestalt des sich wissenden (darum freien) Geistes, statt auf Gewalt ausschließlich auf dem Gesetz als dem entwickelten Moment der Vernunft beruht. Nach GANS und ALTENSTEIN liegt die geschichtliche Legitimität des Staates der Gegenwart einzig in seiner fortdauernden rechtsschöpferischen Funktion durch das Gesetz, vermöge welcher er sich „stets in die Welt einbildet" und Anerkennung seiner Existenz einzufordern berechtigt ist, da er jetzt — im Sinne jenes rechtsund geschichtsphilosophisch geläuterten Verständnisses staathcher Macht und Legitimität — als das wirkhche Medium vernünftiger Freiheit bestimmt werden kann. Damit stößt ALTENSTEINS politische Option für GANS bzw. die von Hegel entwickelte Rechtsphilosophie in das eigentliche Zentrum des Streits um die politische Stellung der historischen Schule vor. Denn erst an diesem Punkt wird die elementare rechtstheoretische Frage sichtbar, die in der Zeit nach 1815 — unter Beteiligung aller maßgeblichen Juristen — als das Grundproblem der politischen Gesamtsituation erörtert wurde. Den Vordergrund dieser Auseinandersetzungen bildete zweifellos die Forderung nach Einlösung des Verfasstmgsversprechens, auf welches das Bürgertum die Fürsten Deutschlands seit den Befreiimgskriegen verpflichtet wußte, wie auch der Artikel 13 der Bundesakte wenigstens die Einführung einer landständischen Verfassung in den Einzelstaaten vorsah. Aber diese Forderung war zugleich mit der seit dem Wiener Kongreß debattierten Frage verknüpft worden, ob nach dem Zusammenbruch der Rechtsform des alten deutschen Reiches und der Aufhebxmg des Code Napoleon im Zuge der Auflösung des Rheinbundes die Staaten des Deutschen Bundes zur Schaffung eines einheitlichen Gesetzeswerkes fähig und berufen seien. Während THIBAUT, Hegels zeitweiliger Kollege in Heidelberg, mit seiner Programmschrift lieber die Nofhwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland (1814) nachdrücklich für ein solches Unternehmen eingetreten war, hatte SAVIGNY noch im gleichen Jahre in seiner Gegenschrift Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft die Möglichkeit dieses Vorhabens prinzipiell abgestritten. Achtet man auf die weitreichenden pohtischen Konsequenzen des Streites zwischen THIBAUT und SAVIGNY, die auch Hegel nicht entgangen waren, so ist es schwerhch ein Zufall, wenn ALTENSTEIN in seinem Gutachten scheinbar beiläufig auf SAVIGNYS Schrift hinweist, deren zweite vermehrte Auflage über™ Beide Schriften sowie aufschlußreiche Dokumente zur Geschichte des Streites sind wieder abgedruckt in: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften mit einer Einführung von Hans Hattenhauer. München 1973. Für eine Darstellung der beiden Positionen vgl. die Einführung von Hattenhauer, 9—51.
Vgl. Philosophie des Rechts. § 211.
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dies 1828 soeben erschienen war. ALTENSTEINS offene Parteinahme für GANS' Auslegung des „Geschichtlichen" verteidigt mit Hilfe von Argumenten, die GANS ebenfalls im Erbrecht formuliert hatte, den geschichtlichen „Beruf" des modernen nachrevolutionären Staates zur autonomen Rechts- und Selbstschöpfung gegen SAVIGNYS Vorwurf der Willkür. Über GANS hinaus, der diese Sicht zunächst nur auf dem Felde der Rechtswissenschaft ins Spiel gebracht hatte, verschafft ALTENSTEIN dergestalt einem aus Hegels Konzeption abgeleiteten Geschichtsbegriff politische Geltung, welcher in unmißverständlichem Widerspruch zur Doktrin der Restauration der Gegenwart zumindest im Prinzip das Recht und die Freiheit zur Umkehrtmg der staatlichen Verhältnisse gegenüber der Vergangenheit zubüligt, freilich mit der einschränkenden Begründung, daß eine solche Umkehrung sich als notwendige Stufe innerhalb der universalen Rechtsgeschichte auszuweisen vermag und in letzter Instanz vom Staat selbst vollzogen wird. ALTENSTEINS Einwand gegen die historische Schule, wonach diese „die Gegenwart lediglich durch die Vergangenheit" erkläre, deutet das systematisch konstitutive Diskrimen zwischen dem Geschichtsverständnis SAVIGNYS imd dem von Hegel/GANS allerdings nur an. Es liegt darin, daß SAVIGNY aus der Geschichte jenes Moment der Freiheit eliminiert, das in der Perspektive von GANS bzw. Hegel gerade als genuines Selbstbewußtsein der Gegenwart erscheint und infolge der Form des sich wissenden Geistes zugleich Eigentum des seine Wirklichkeit je neu setzenden und darum selbständigen Willens des Geistes ist, für den die Vergangenheit keine konkurrierende Realität besitzt. Wie SAVIGNY dagegen schon 1815 programmatisch erklärt, „bringt lücht jedes Zeitalter für sich und willkürlich seine Welt hervor, sondern es thut Dieses in unauflöslicher Gemeinschaft mit der ganzen Vergangenheit". Aus dem für sich plausiblen Hinweis auf den historischen Kausalnexus entwickelt SAVIGNY eine deterministische Beschränkung des geschichtlichen Bewußtseins, das in letzter Konsequenz auf die Anerkennung des positiv Gegebenen verpflichtet wird, so daß der Vollzug dieser Anerkennung die freie Reflexion auf den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzehrt. So ist das „Verwerfen des Gegebenen der Strenge nach ganz unmöghch, es beherrscht uns unvermeidlich, und wir können uns nur darüber täuschen, nicht es ändern". SAVIGNYS Geschichtsbegriff, dessen organologische Metaphorik leicht zu Verwechslungen mit ähnlichen Redeweisen Hegels verführen kann, stellt zwar den Gedanken der Entwicklung ins Zentrum. Aber diese Entwicklung ist nicht die des „Geistes" oder des „Bewußtseins", sondern der Selbstproduktion der Natur in ihren Gattungen und An der oben zitierten, von Altenstein exzerpierten Stelle (vgl. Anm. 76). F. K. V. Savigny: lieber den Zweck der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft (1815). In: Savigny: Vermischte Schriften. Bdl (Neudruck der Ausgabe Berlin 1850. Aalen 1968). 110. Ebd. 111.
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Arten nachgebildet. Das Bewußtsein trifft hier stets auf ein vorgängiges Faktum als das „Notwendige" des „Geschichtlichen", während Freiheit allein der „höheren Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen" Vorbehalten ist. Anstelle der universalgeschichtlichen Konzeption von GANS tritt somit ztmächst eine Beschränkung auf die Nationalgeschichte, in deren (vergangenem) Urspnmg die natürliche Quelle des Rechts aufzusuchen ist. Auf dem Boden dieses Geschichtsbegriffs — dies leitet ALTENSTEINS Widerspruch — kann die politische Aufgabe der Gegenwart nur in der Restauration des Vergangenen bestehen, da anders die durch „Willkür" oder Mißverständnis verschüttete Rechtsquelle nicht auf gedeckt werden kann. Tatsächlich lautet das Programm der historischen Schule: „der Stoff des Rechts sei durch die gesammte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch Willkür, so daß er zufällig dieser oder ein anderer sein könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst imd ihrer Geschichte hervorgegangen." Die Ausbildung des politischen Bewußtseins gipfelt dann notwendig in der historischen Rechtswissenschaft, deren einziges Ziel es ist, „diesen mit innerer Nothwendigkeit gegebenen Stoff zu durchschauen, zu verjüngen und frisch zu halten". Die in ihrer Schärfe kaum zu überbietende (politische) Kritik ALTENSTEINS an der Position SAVIGNYS, den der Kronprinz in seinem Beschwerdebrief vom 8.1.1829 immerhin als seinen „Freund" ausgezeichnet hatte, zeugt nicht allein von der persönlichen Unerschrockenheit des Ministers. Sie vermittelt vor allem einen Einblick in die schroffen politischen Gegensätze, die gegen Ende der zwanziger Jahre innerhalb der preußischen Staatsleitung ausgetragen wurden. Unter Verweis auf eine Reihe von Zitaten aus GANS' Schriften hatte der Kronprinz in seinem Brief, auf den ALTENSTEINS Gutachten antwortet, die von GANS ausgesprochene Qualifizierung der historischen Schule als „Demagogismus" (eine Beschuldigung, die nach den Karlsbader Beschlüssen mit der Denunziation revolutionärer Gesinmmg gleichzusetzen war) empört zurückgewiesen und die endgültige Ernennung GANS' von einer öffentlichen Ehrenerklärung abhängig gemacht. Es entsprach dem taktischen Konzept des Ministers, der durch Kabinettsordre des Königs vom 15.11.1828 die Ernennung GANS' längst gesichert wußte, diese Forderung in den Vordergrund zu spielen, um so den Ebd. 110. Zur Charakterisierung des Gesdiiditsbegriffs von Savigny und seiner politischen Konsequenzen vgl. Schröder (in Gans: Philosophische Schriften), LXII f, sowie Hattenhauer (in: Thibaut und Savigny), 50 f. Eine umfassende Würdigung Savignys gibt Fr. Wieacker: Gründer und Bewahrer. Reditslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte. Göttingen 1959. 107—143. Savigny: lieber den Zweck der Zeitschrift (oben Anm. 82). 113. 87 Ebd. 88 Vgl. Lenz: Geschichte der Universität. Bd4. 516 f. 88 Laut Kabinettsordre des Königs (im Bamberger Nachlaß); sie nimmt Bezug auf den Antrag des Ministers vom 28.10. 28. Nach Lenz (Geschichte der Universität. Bd 2,1. Hälfte. 391) wurde die offizielle Bestallung am 11.12. 28 vollzogen.
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wissenschaftlich-politischen Gegensatz nach außen hin als eine persönliche Differenz zwischen GANS und SAVIGNY erscheinen zu lassen. In seinem Schreiben an GANS vom 30.6.1829 forderte er diesen daher förmlich zur Korrektur seiner einschlägigen Äußerungen auf. GANS beeilte sich, diesem Ansinnen sogleich nachzukommen. In seinem Schreiben vom 1. 7.1829, das zugleich als offene Erklärung deklariert ist, verweist er auf sein schon am 28.12.1828 an SAVIGNY gesandtes Entschuldigungsschreiben, bedauert frühere „Aeußerungen einer zu heftigen Polemik" imd versichert schließlich, daß er in seinen Vorlesungen niemals „persönliche Anfeindungen" vorgetragen habe. Angesichts der wirklichen politischen Hindergründe, die hinter diesen Streitigkeiten verborgen wurden, mutet es freilich wie reiner Hohn an, wenn ALTENSTEIN in seinem Begleitbrief zum Gutachten dem Kronprinzen meldet, er habe GANS „über sein Benehmen in seinem über einen wissenschaftlichen Gegenstand geführten Streit und die Unterscheidung der Gränzen des Anständigen und Zulässigen in der Polemik, zur Verantwortung gezogen". Denn in dem gleichzeitig überreichten Gutachten belehrt der Minister seinen königlichen Adressaten: „eben so wie der, welcher das Gewordene von seiner Wurzel ablösen will sich revolutionair gegen das Bestehende erklärt, eben so würde man es in einem gewissen Sinne als auf den Umsturz des Bestehenden abgesehen betrachten können, wenn man in dem Gewordenen und Entwickelten nicht es selbst sondern nur die Wurzel erblicken wollte." Im Ausgang von dieser doppelten Definition revolutionären Denkens und Handelns, die zugleich zwei Fehlformen geschichtlichen Bewußteins beschreibt und die zweite unmißverständlich im Ansatz der historischen Schule aufdeckt, hält ALTENSTEIN, wiewohl er den Ausdruck formell kritisiert, doch wieder den von GANS erhobenen Vorwurf des „Demagogismus" der Sache nach xmeingeschränkt aufrecht. Das bedeutet nicht weniger als eine politische Denunziation der historischen Schule an höchster Stelle, welcher auf diese Weise nicht nur eine harmlose Rückständigkeit, sondern eine direkte Gefährlichkeit für den Staat nachgesagt wird. Indem — nach ALTENSTEINS Darstellung — die historische Schule dazu anleitet, die Gegenwart auf die Vergangenheit zu überschreiten, verläßt sie den Boden des Rechts, auf dem der jetzige Staat ruht, und negiert seine essentielle Souveränität, die ohne eine rechtsschöpferische Qualität sich auf bloße Gewalt reduziert sähe und als despotische Willkür keine Freiheit zuließe. Damit müßte der Staat eben die aus der weltgeschichtlichen Entwicklung seines „Begriffs" resultierende Notwendigkeit seiner Existenz verlieren. Als vernunftlose Gewalt und rechtlose Willkür Vgl. Lenz: Geschichte der Universität. Bd4. 518 f. Das Schreiben befindet sidi ebenfalls im Bamberger Nachlaß; es wird von Lenz weder erwähnt, noch im Dokumentenband abgedruckt. Bei seiner Verfügung vom 7. 7. 29 an die juristische Fakultät zur Vollziehung der Aufnahme Gans' hat der Minister dieses Schreiben beigefügt. Altenstein an den Kronprinzen. 8. 7. 29. In einer Absdirift im Bamberger Nadilaß. Vgl. oben 48.
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fiele er gleichsam aus der teleologischen Geschichte des objektiven Geistes heraus imd würde zu einem Zufälligen, das die revolutionäre Gegengewalt aus sich selbst erzeugt. So tritt hinter dem Streit zweier wissenschaftlicher Richtungen, dessen Schlichtung oder wenigstens Beschwichtigung in die Zuständigkeit des Ministers fällt, der unversöhnte politische Gegensatz hervor, in dem ALTENSTEIN gegen den Kronprinzen und künftigen Monarchen unverhohlen Partei ergreift. Für das Niveau dieser politischen Kontroverse ist es bemerkenswert, daß der Minister den Streitpunkt von vornherein über die vordergründige Frage nach Konformität oder Nichtkonformität der von GANS (oder Hegel) konzipierten Staatslehre mit dem faktischen preußischen Staatswesen hinausverlegt. Den Kern seiner Argumentation bildet das politisch-philosophische Selbstverständiüs dieses Staates. Seine legitime Machtausübung wird in letzter Instanz davon abhängig gemacht, inwieweit sich der Staat fortwährend vermöge der Gesetzgebung als objektive Erscheinung der Vernunft ausweist, in der Einzelnes, Besonderes und Allgemeines durch gewaltfreie reine Einsicht in das Wesen seines „Begriffs" aufeinander bezogen, ,konstitutionell' gesichert sind. Erst eine solche vom Staat selbst produzierte Form seines Daseins, deren Vernünftigkeit dadurch ,gegeben' ist, daß diese Realität aus dem weltgeschichtlichen Rechtsstoff gebildet wird, verbürgt ihm nach ALTENSTEIN diejenige politische Wirklichkeit, deren Anerkennung jederzeit gefordert werden kann. Nicht die infolge der Vergangenheit vorhandene Realität des Staates, sondern die lebendige und gegenwärtige Realisienmg des Begriffs des Staates (im Sinne von GANS) ist es, der ALTENSTEINS politische Option gilt. Und diese politische Option beruft sich (mit unüberhörbarer Anspielung auf Hegels berühmtes Wort) auf die „heutige Philosophie", die als „Philosophie der Geschichte" der bloßen Tatsächlichkeit der Gegenwart allererst eine philosophischpolitische Dimension eröffnet, „indem sie die Vernünftigkeit des Wirklichen, Bestehenden und Geltenden in ein klares Licht gestellt hat". *■* Achtet man auf ALTENSTEINS Polemik gegen die historische Schule, dann kann die hier gemeinte Rechtfertigung des Bestehenden schwerlich als Plädoyer für einen staatlich erwünschten Quietismus mißverstanden werden. Indem das „Wirkliche", „Geltende" und „Bestehende" als Selbstproduktion des Begriffs des Staates aufgefaßt wird, während umgekehrt auch dem Begriff Wirklichkeit imd Geltung zukommen, geht die Realität diesem Begriff nicht als empirisches Faktum voraus, sondern erweist sich als dessen stets in Erweiterung befindliche (geschichtliche) Gegenwart. Die verborgene spekulative These der Identität von Sein und Begriff ermöglicht dergestalt eine politische Pointierung, derzufolge jeder Geltungsanspruch staatlicher Wirklichkeit auf den Begriff des Rechts zurückweist und ohne diesen bzw. außerhalb desselben als ein bloß Vorhandenes rechtlos und vergangen ist. Vgl. oben 47.
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Vollständig zurecht hat M. LENZ die Öffnung der juristischen Fakultät für GANS, Hegels „gewandtesten Fechter", als einen Höhepunkt der Hegelschen Hegemonie in Berlin gezeichnet. ALTENSTEINS Sieg über die Partei der Reaktion war aber nicht nur ein Erfolg der reformerischen Kräfte in Preußen. Sein Gutachten trägt im Unterschied zu den sonst bekannten einschlägigen Dokumenten, die zumeist aus Briefen oder sonstigen privaten Aufzeichnungen bestehen, offiziellen Charakter und ist deshalb in seiner Art ein bislang einzigartiges Zeugnis für das politische Bündnis zwischen einem maßgeblichen Vertreter der preußischen Staatsleitung und der Hegelschen Philosophie. Dieses Bündnis, dessen Perspektiven insbesondere von Seiten des Ministers hier greifbar werden, hat die politische Entwicklung in Preußen bis 1840 mitgeprägt und konkurrierende Strömungen wenigstens zeitweilig niedergehalten. Nach außen hin blieb es keineswegs verborgen. Trotz Zuredens des Ministers, der den offenen Eklat zu vermeiden wünschte, trat SAVIGNY nach dem Oktroy ALTENSTEINS gegen die juristische Fakultät demonstrativ von der weiteren Teilnahme an den Fakultätsgeschäften zurück und beschränkte sich fortan auf seine Vorlesungstätigkeit, wie er sich auch späteren Versöhnungsversuchen von Seiten GANS' verschloß. Auch wenn dadurch die Wirkung der historischen Schule keineswegs aufgehoben und so wenig Preußen in der Folge schlechterdings in die Bahnen einer ,Hegelschen Staatsphilosophie' gedrängt wurde, so bedeutete der Rückschlag, den die Partei der Restauration bei der hier besprochenen Episode hinnehmen mußte, nach außen eine politische Umakzentuierung. Es war ein weiterer Sieg der Ministerialbürokratie über die politische Romantik, die sich am Hofe um den Kronprinzen geschart und mit der Restauration verbündet hatte. Zugleich gewann die Hegelsche Philosophie, parallel zu dem Auftreten MARHEINEKES in der theologischen Fakultät, in der Person GANS' auch unmittelbaren Einfluß auf die Ausbildung desjenigen beträchtlichen Teils der preußischen Beamtenschaft, der aus dem juristischen Studium in den Staatsdienst trat und hier ein wichtiges Element der administrativen Intelligenz bildete. Obwohl ALTENSTEINS Kontrahent, der Kronprinz, sich beugen mußte, gab er sich doch mitnichten geschlagen. Die im Gutachten niedergelegte Argumentation des Ministers scheint ihn jedenfalls zu keiner Änderung seiner Beurteilung von GANS bewegt zu haben. Nach einer von A. RüGE und anderen kolportierten Episode war er es, der 1831 Hegel darauf hingewiesen hat, daß GANS in seinen Vorlesungen der Hegelschen Rechtsphilosophie eine „vollkommen liberale, ja republikanische Färbung" gebe. Mag auch die historische Authentizität dieses Vorgangs umstritten bleiben, so ist GANS trotz seiner glänzenden Erfolge als Universitätslehrer infolge seines imerschrockenen Eintretens für den politiLenz: Gesdiidite der Universität. Bd2,1. Hälfte. 393. Vgl. Gans' autobiographische Mitteilung in Ueber Eduard Gans. In: Hallisthe Jahrbücher. 79. 1840. Nr 113. 903. A. Rüge, zitiert bei M. Riedel: Hegel und Gans. 257.
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sehen Fortschritt der Reaktion jedenfalls bis zu seinem Tode (1839) verhaßt geblieben. Anders als Hegel nahm er die Julirevolution von 1830 nicht ohne Sympathie zur Kenntnis, wiewohl ihm das daraus hervorgegangene juste milieu nach eigenem Bekenntnis nur als die „sein sollende leere Mitte, der Indifferenzpunkt von beiden Seiten" galt. Daß seine politischen Aktivitäten mit Mißtrauen verfolgt tmd seine Vorlesimgen von der Polizei überwacht wurden, kann freilich nicht bei einem Manne verwundern, der gesagt hat: „Wenn die Regierung sich fürchtet, so ist das schon ein Fortschritt." Bei seinem Tode aber waren sich die fortschrittlichen Kräfte in Preußen bewußt, daß mit GANS — wie es in einem Nachruf in den Hallischen Jahrbüchern heißt — eine Persönlichkeit verloren war, die für den „wahrhaften Beruf des preussischen Staates gestritten" hatte. Sein Todesjahr sollte durch den wenig später erfolgten Rücktritt ALTENSTEINS auch das Ende jenes Bündnisses zwischen (Hegelscher) Philosophie und der Kulturpolitik Preußens bringen, das MARHEINEKE in seiner Grabrede noch einmal beschwor, wenn er darauf hinwies, daß „zu den hohen Verdiensten des Ministers von ALTENSTEIN auch dies gehöre, GANS, dessen Werth er früh durchschaut habe, an die berliner Universität zu berufen". Wie sehr GANS als integrierende Symbolfigur einer ganzen Ära preußischer Politik gesehen wurde, in der das Postulat des Fortschritts ein Moment des Selbstverständnisses dieses Staates bildete, belegt der Nachruf der Hallischen Jahrbücher, der GANS' Wirken für eine „Belebung des politischen Selbstbewußtseins und seiner Herausbildung zu angemessenen Institutionen" hervorhebt. „Daß er nun hier stets mit der Reaction zusammenstieß, und daß ihn diese ihrerseits für einen Revolutionär ausschrie, war natürlich, aber die Staatsmänner, welche ein besseres Einsehen in unsere Zustände hatten, als jene Bornirten, die von der Geschichte nie etwas Anderes lernen, als von ihr besiegt zu werden, ließen ihn schalten und walten und freuten sich selbst seiner Wirksamkeit, weil sie in ihr das Bild der Zukunft erblickten." In der Tat waren die Befürchtungen für diese Zukunft 1839 nicht grundlos. Mag man es noch als menschliche Unzulänglichkeit abtun, wenn einem Bericht A. VON HUMBOLDTS an VARNHAGEN zufolge üie Prinzen des Hauses Hohenzollern (mit Ausnahme des Königs und des Kronprinzen) über die Nachricht vom Tode GANS' frohlockten, so deuteten die alsbald folgenden Ereignisse auf eine radikale Kehrtwendung des politischen Kurses. ALTENSTEIN konnte nicht Ueber Eduard Gans. 903. Zur Charakterisierung der politischen Position Gans' vgl. Lübbe (Politische Philosophie in Deutschland. 51 ff), der Gans entgegen dieser autobiographischen Mitteilung ausgerechnet als einen Vertreter des juste milieu aus dem Geiste Hegels darstellt. Tagebücher von K. A. Varnhagen von Ense. Bd 1. Leipzig 1861. 97 1»» Hallische Jahrbücher. Jg. 1839. Nr 132. 1049—1053. Ebd. 1049. Ebd. 1051. 103 Ygj Reissner: Eduard Gans. 159.
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mehr verhindern, daß nach seinem Rücktritt einer der prominentesten Gegner der Hegelschen Staatsphilosophie, FR. J. STAHL, zum Nachfolger von GANS berufen wurde; und zu den ersten Maßnahmen des 1840 auf den Thron gelangten Kronprinzen gehörte bekanntlich SCHELLINGS Berufung nach Berlin, wie er auch 1842 seinen Freund SAVIGNY zum Justizminister ernannte. Damit war das problematische und riskante Bündnis zwischen (Hegelscher) Philosophie und Politik schon zu Beginn der vierziger Jahre gelöst; tmd die bis dahin nicht verwirklichten Postulate der Theorie wurden von nun an — wie die weitere Entwicklung in Politik und Philosophie zeigen sollte — zu Ansatzpunkten einer sich radikalisierenden Kritik des Staates, dessen Wirklichkeit endgültig hinter der einst geforderten imd erstrebten Verwirklichung des philosophischen Begriffs zurückblieb. Es scheint allerdings nur eine letzte Konsequenz jenes Bündnisses gewesen zu sein, wenn die Kritik sich schließlich auch gegen das Zusammengehen von Philosophie und Staat wandte und darin nichts anderes als einen verhängnisvollen Irrtum zu erkennen vermochte.
WALTER JAESCHKE (BOCHUM)
URMENSCHHEIT UND MONARCHIE Eine politische Christologie der Hegelschen Rechten * I. „Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte." ^ Wer den Zusammenhang der Rechts- und der Religionsphilosophie des Systems thematisiert, muß daran Anstoß nehmen, daß die rechtsphilosophische Konzeption des späten Hegel dieses zuvor so herb kritisierte Zusammenspiel von Staat und Kirche nicht bloß als faktisch anerkennt, sondern als vernünftig, dem Begriffe gemäß, legitimiert. Die Religion gehe zwar aus der Sittlichkeit hervor, sei aber „vielmehr das absolute Prius", „die Basis der Sittlichkeit und des Staates". ® Hegel nennt es jetzt den „ungeheuren Irrtum unseren Zeiten", Religion und Staat als von einander trennbar anzusehen. ® Wo er auf den Zusammenhang von Staat und Religion zu sprechen kommt, * sucht
* Das im Folgenden auszugsweise veröffentlichte Manuskript C. F. Göscheis fand sich in dem bislang verschollenen Privatnachlaß des Ministers v. Altenstein. Meinem Kollegen am Hegel-Archiv, Kurt Rainer Meist, danke ich für den Hinweis auf dieses Manuskript; dem Staatsarchiv Bamberg danke ich für die Erlaubnis zur Publikation. — Vorliegende Abhandlung ist, wie auch die Veröffentlichung von Kurt Rainer Meist in diesem Bande, Teil der wissenschaftlichen Erschließung des Nachlasses v. Altenstein, die inzwischen als Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs „Wissen und Gesellschaft im 19. Jahrhundert" an der ‘Ruhr-Universität Bochum unternommen wird. * Hegel: Briefe. Bd 1. 24. ® Hegel: Enzyklopädie (1830). § 552 Anmerkung. » Ebd. ^ Die zentralen Texte sind: Rechtsphilosophie. § 270 Anmerkung; Enzyklopädie. § 552 Anmerkung; Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Sämtliche Werke. Bd 11. 2. Aufl. Berlin 1840.) 240—251. Zur Sekundärliteratur vgl. die Zusammenstellung von R. Maurer: Hegels politischer Protestantismus. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Bonn 1975. (Hegel-Studien. Beiheft 11.) 384 Amn. 5. Nachzutragen ist H. Scheit: Geist und Gemeinde. Zum Verhältnis von Religion imd Politik bei Hegel. München, Salzburg 1973. — Immer noch aktuell sind die Ausführungen zu diesem Thema von F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. München, Berlin 1920.
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er deshalb nicht erst die Unwahrheit einer Staatstheorie nachzuweisen, die den Staat in abstrakter Entgegensetzung gegen die Religion konzipiert. Denn wenn der Staat, wie Hegel seinen Begriff entwickelt, die Verwirklichung der allgemeinen Sittlichkeit, deren Substanz aber die Religion ist, so können Religion und Staat in der Tat einander nicht bloß entgegengesetzt werden; die gleichwohl vorhandene Differenz beider kann erst auf der Grundlage ihrer vorausgesetzten Identität bestimmt werden. Wegen dieses Begriffs vom Staate erscheint die Rechtsphilosophie — ungeachtet ihrer gegenwärtig umstrittenen „fortschrittlichen" Momente, etwa ihres Constitutionalismus — gegenüber den frühliberalen Bestrebungen der 1820er Jahre zumindest in diesem einen Aspekt für die Restauration Partei zu ergreifen, wie sie etwa gleichzeitig, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, DE MAISTRE, DE BONALD, ADAM MüLLER, CARL LUDWIG HALLER und — etwas später — FRIEDRICH JULIUS STAHL anstrebten. Diese Zuordnung wird auch dadurch gestützt, daß der Begriff des Christentums, den Hegel in die behauptete Identität von Staat und Religion einbringt, nicht der im damaligen theologischen Rationalismus mitunter recht freizügigen Auslegung des Christlichen entsprach, sondern in bewußter Entgegensetzung gegen eine das Erbe der Aufklärung verwaltende Theologie sein Pathos darin hatte, die Wahrheit des Christentums mittels der Wahrheit des Dogma zu erweisen. Manchem seiner Zeitgenossen galt Hegel deshalb nicht bloß als preußischer Staatsphilosoph, sondern zugleich — und nicht unabhängig davon — als Ideologe einer konservativen Orthodoxie. Die späte, unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution von 1848 stehende Darstellung RUDOLF HAYMS mit ihrer These von der Koinzidenz der Religions- und Staatsphilosophie im Restaurationscharakter des Systems hat im Sinne dieses Verständnisses bis in die Gegenwart dogmatisierend gewirkt. Einen der neuralgischen Punkte, an denen das Zusammenspiel von Religion und Politik besonders handgreiflich zu werden droht, bildet die Deduktion des Monarchen in der Rechtsphilosophie. Bereits MARX hat deren theologischen Hintergrund kritisiert: „Es ist Hegel darum zu tun, den Monarchen als den wirklichen ,Gottmenschen', als die wirkliche Verkörperung der Idee darzustellen." ® Auch gegenwärtig werden verschiedentlich Parallelen zwischen Hegels Begriffen des Monarchen und des Gottmenschen gezogen. ® Hegel scheint jedoch Gründe gehabt zu haben, einen solchen Zusammenhang eher anzudeuten als auszufüh-
® K. Marx: MEIV. Bdl. 225. ® Vgl. H. Küng: Menschwerdung Gottes. Freiburg, Basel, Wien 1970. 373 ff; M. Theu-
nissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist , als theologisdi-politisdier Traktat. Berlin 1970. 443 ff.
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ren. Deshalb ist gegenwärtig weithin anerkannt, daß seine Intention nicht auf eine „politische Theologie" gerichtet sei. Die in Hegels Philosophie vermutete Konstellation von religiös-politischer Reaktion und gleichzeitiger Scheu vor den letzten, naheliegenden Konsequenzen scheint sich in der rechten Fraktion seiner Schule zu wiederholen. Bejahung der überlieferten Religion und des bestehenden Staates, politischer und religionsphilosophischer Rechtshegelianismus scheinen einer identischen Grundhaltung zu entspringen; ebenso auf der Linken Auflehnung gegen das Christentum und den preußischen Staat. Während man sich aber verschiedentlich verbxmden fühlte, Hegels Staatsphilosophie eine positive Seite abzugewinnen, so schien dies gegenüber der politischen Theorie der Rechtshegelianer nicht geboten und auch nicht geraten, da die in Hegels Rechtsphilosophie angelegten reaktionären Momente in deren Entwürfen eine traurige Wirklichkeit erlangt zu haben schienen. HERMANN LüBBE hat belegt, daß die philosophiehistorische Forschung den Rechtshegelianismus — soweit sie ihn überhaupt erwähnenswert fand — als solche fragwürdige Synthese von theologischer und politischer Reaktion gezeichnet hat, und er hat dieses Bild korrigiert. Gegenüber der politischen Diffamierung der rechtshegelianischen Rechtsphilosophie als eines Produktes der Reaktion weist er die erstaunliche Liberalität der politischen Konzeption der Hegelschen Rechten nach. Während er aber die Vermittlungsbereitschaft der Rechten in der Sphäre des Politischen als Ausdruck politischer Vernunft darstellt, beläßt er ihr auf religionsphilosophischem Felde das Odium zwar nicht der bedingungslosen Reaktion, aber doch eines „faulen Kompromisses". ® So ergibt sich ihm eine Symmetrie der Vorzüge und Mängel der Rechten und Linken: die Kompromißbereitschaft der Rechten sei vernünftig auf politischem, unakzeptabel auf religionsphilosophischem Gebiet; die Radikalität der Linken berechtigt gegenüber ’’ Vgl. H. Küng, 364 ff; H. Scheit, 246 f. M. Theunissen und R. Maurer sprechen zwar von „politischer Theologie", jedoch nicht in dem traditionellen, heute von erheblichen negativen Konnotationen begleiteten Sinne. — Hier wird der Begriff „politische Theologie" nicht im Sinne seiner Neuinterpretation durch J. B. Metz verstanden, sondern, gemäß seiner „historischen Schwerkraft" (H. Maier), im traditionellen Sinn, als Bezeichnung für den im Christentum seit der eusebianischen Reichstheologie bekannten und stets fragwürdigen Versuch, politische Strukturen durch Theologeme zu parallelisieren und dadurch zu stabilisieren. In dieser Prägung, mit geringfügigen Modifikationen, hat sich der Begriff bis in die Kontroverse zwischen Carl Schmitt {Politische Theologie, Vier Kapitel von der Lehre von der Souveränität. 2. Aufl. München, Leipzig 1934) und Erik Peterson (Der Monotheismus als politisches Problem. Leipzig 1935) durchgehalten. Zur gegenwärtigen Diskussion vgl. H. Peuckert (Hrsg.): Diskussion zur „politischen Theologie". Mainz, München 1969. ® H. Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. München 1974. 36. — Zur Beurteilung von Hinrichs und Erdmann vgl. aber bereits H. Rosenberg: Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 7 (1929). 571 ff, 578 ff.
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der logisch-religionsphilosophisch zu entscheidenden Wahrheitsfrage, aber zerstörerisch im politischen Sektor. Die Zuweisung des Prädikats der Vernünftigkeit an die Religionsphilosophie der Linken und die politische Theorie der Rechten läßt sich aber schwerlich zu dieser unproblematischen Eindeutigkeit bringen. Von theologischer Seite hat PETER CORNEHL gegen LüBBES „reinliche Scheidung" eingewandt, es sei gerade die „Verklammerung von Theologie und Gesellschaft", insbesondere die rechtshegelianische „Übernahme der Hegelschen Koppelung von Reformation und Revolution" sowie das Festhalten an der christlichen Begründung des modernen Freiheitsbegriffs gewesen, die als Motiv den politischen Konzeptionen der Rechten zugrundegelegen habe, und deren Mangel habe nicht in einem Überschuß, sondern einem „Defizit an theologisch-philosophischer Fundierung" gelegen. * CoRNEHLS Apologie der rechtshegelianischen Religionsphilosophie bestreitet aber nicht die Angemessenheit des von LüBBE entworfenen Bildes der politischen Theorie der Rechten. Doch dieses Bild verdankt sich einer kritikbedürftigen Abgrenzung der Fraktionen. LüBBE und CORNEHL haben die Schwierigkeiten benannt, die dem exakten Gebrauch des Terms „Hegelsche Rechte" im Wege stehen: die Einteilung in Linke und Rechte sei nicht so klar, wie sie sich gebe. CORNEHL hält eine „exakte Definition der Fraktionsmerkmale" nicht für möglich, aber auch nicht für nötig; er bezeichnet als „Rechtshegelianer" alle „Schüler, die Hegels Religionsphilosophie christlich interpretieren und die Kontinuität zur christlichen Tradition bewußt aufrechterhalten". ** Dieses weite Kriterium unterschlägt aber die entscheidende Differenz des religionsphilosophischen Streites, in dem ja die angemessene Bestimmung dessen, was christlich sei, zwischen den Fraktionen zur Diskussion stand. Die von STRAUSS getroffene Unterscheidung ist einer wohlbestimmten historischen Situation entsprungen; sie ist jedem gegenwärtigen Versuch einer anderen Gruppierung der Schüler weit überlegen, zumal sie in ihren wesentlichen Festlegungen niemals strittig war. Sie entstammt zwar einem religionsphilosophischen Diskussionszusammenhang; ihre Übertragbarkeit auf andere Bereiche ist aber dadurch gewährleistet, daß
® P. Cornehl: Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel imd in der Hegelschen Schule. Göttingen 1971. 207—213. H. Lübbe; Politische Philosophie in Deutschland. 32. P. Cornehl, 163 Anm. 1. Dies gilt, auch wenn K. 'Rosenkranz sich zunächst nur ungern zwischen Rechts und Links einklemmen lassen wollte; er war es zufrieden, nachdem Bayrhoffer ihn „von der Centralität des niederträchtigen Grau's" zur grünen Farbe erlöst hatte; vgl. K. Rosenkranz: Kritische Erläuterungen des Hegelschen Systems. Königsberg 1840. XXXVI. — Die von K. Th. Bayrhoffer entwickelte Einteilung hat einen anderen Charakter und war historisch bedeutungslos; vgl. dessen Die Idee und Geschichte der Philosophie. Marburg 1838. 489 ff.
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sie niemals der Klassifikation von Glaubensaussagen diente, sondern zur Einteilung der Stelltmgen des philosophischen Begriffs zur Geschichte. Im Lichte dieser zeitgenössischen Abgrenzung präsentiert die Abgrenzxmg, wie LüBBE und CORNEHL sie vornehmen, die politische Theorie des Zentrums eher als der Rechten. Problematisch ist CAROVES Einordmmg ins Spektrum der Schule, da er sich nur wenig mit der philosophischen Lösung der angesprochenen Probleme beschäftigt, sondern seine Intention auf die Stellung der katholischen Kirche in den politisch-kulturellen Auseinandersetzungen der Zeit richtet. ROSENKRANZ jedoch ist der unbestrittene Repräsentant des Zentrums, tmd GANS sowie MICHELET sind tmstreitig links vom Zentrum anzusiedeln. Für die Diskussion der 1830er Jahre sind es allein ERDMANN imd HINRICHS, die der gemäßigten Rechten angehören. Aufgrund dieses Befundes können zwei Folgerungen gezogen werden: Entweder die Bestreitung der Angemessenheit des religionsphüosophisch bedingten Einteilungsprinzips zur Klassifizierung rechtsphilosophischer Positionen; daraus folgte aber die Nichtanwendbarkeit dieses historisch festgelegten Schemas und nicht seine Uminterpretation. Oder das Eingeständnis, daß die politische Theorie der gemäßigten Rechten in so weitgehender Einheit nüt der des Zentrums und sogar der gemäßigten Linken stehe, daß gar nicht von einer spezifisch rechtshegelianischen Interpretation der Rechtsphilosophie zu reden sei, — falls es in der Rechten jenseits von HINRICHS und ERDMANN keine weiteren Ansätze zu einer spezifisch rechtshegelianischen politischen Theorie gegeben hätte. Doch fehlen in der „Biographie und Bibliographie" von LüBBES Anthologie drei Namen, die vorzugsweise für die Hegelsche Rechte stehen können: L. v. HENNING, G. A. GABLER und C. F. GöSCHEL. L. V. HENNING, ZU Beginn seiner Tätigkeit als Repetent für Hegels Vorlesungen (1819) im Zuge der Demagogenverfolgung verhaftet und zehn Wochen inhaftiert, war später Extraordinarius und seit 1835 Ordinarius an der Berliner Universität. Als nach Hegels Tod die Vorlesungen des Meisters unter die Schüler aufgeteilt wurden, fiel ihm die Aufgabe zu, neben anderen Themen über Preußisches Staatsrecht zu lesen. Von diesen Vorlesungen ist zur Zeit wenig bekannt; Sie haben v. HENNING jedoch den Ruf eines stark konservativ ausgerichteten Hegelianers eingetragen, und in seiner späteren Denkschrift Zur Verständigung über die Preußische Verfassungsfrage hat ‘ä D. F. Strauß: Streitschriften zur Vertheidigung meiner Schrift über das Leben Jesu. H. 3. Tübingen 1838. 95 ff. — Zur rabbulistischen Durchbildung der Metapher vgl. C. L. Michelet; Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. Teü 2. Berlin 1838. 659; und Michelet: Entwicklungsgeschichte der neuesten deutschen Philosophie. Berlin 1843. 313 ff. Vgl. die Einordnung durch C. L. Michelet: Entwicklungsgeschichte der neuesten deutschen Philosophie. 313 ff. Zu L. v. Henning vgl. L. Schmid-Delbrück (Hrsg.): Leopold von Henning (1791 bis 1866). Ein Lebensbericht, (masch.); und M. Lenz: Geschichte der Königlichen Priedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Halle 1910. Bd2,1. Hälfte. 56 ff. Ein Konzept dieser Vorlesungen ist im Privatnachlaß v. Altenstein erhalten.
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diesen Ruf bestätigt. — G. A. GABLER wird von LüBBE nur kurz erwähnt, da über ihn „nicht viel mehr zu sagen ist, als daß er, erst 1835, der Nachfolger Hegels wurde". Daß GABLER keine erzkonservative Staatstheorie ausgebildet hat, verdankt sich jedoch nicht seiner gemäßigten politischen Haltung, sondern dem glücklichen Umstand, daß er gar nicht in der Lage war, irgend eine Theorie zu entwickeln. Über seine reaktionären Überzeugungen unterrichten einige bisher imbekarmte Briefe GABLERS an v. HENNING, die im Zusammenhang der Verhandlimgen um seine Berufung nach Berlin stehen. V. HENNING
II. In der gegenwärtigen Diskussion der rechtsphilosophischen Bemühungen der Schule fast ausnahmslos vergessen ist jedoch die politische Philosophie des unbestrittenen Führers der Rechten: CARL FRIEDRICH GöSCHELS. Allein CORNEHL verweist am Rande auf GöSCHEL als denjenigen Vertreter der Schule, „der in das traditionelle Bild der Rechtshegelianer als Verteidiger der politischen Restauration genau hineinpaßte". GöSCHELS Zerstreute Blätter aus den Hand- und Hülfsakten eines Juristen belegen CORNEHL, daß ihr Verfasser ein „tief reaktionärer Geist" gewesen sei; doch seien GöSCHELS rechtsphilosophische Arbeiten „sachlich unerI. u. Henning: Zur Verständigung über die Preußische Verfassungsfrage. Auf Veranlassung der vom Herrn Dr. Jacoby in Königsberg darüber veröffentlichten Denkschrift. Berlin 1845. H. Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. 33. Insbesondere in der — eigens abtrennbaren — Nachschrift zum Brief vom 17. 2. 1832, in der Gabler sich mit einer Rede brüstet, die bei den Liberalen „viel Anstoß und Aerger erregte". — Die Briefe befinden sich in Privatbesitz. H. Lübbe (Politische Philosophie in Deutschland. 33) erwähnt lediglich Göschels Zuordnung zur Rechten und führt ihn auch in der „Biographie und Bibliographie" seiner Anthologie Die Hegelsdie Rechte (Stuttgart-Bad Canstatt 1962) nicht auf. — M. Riedel erwähnt in den Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie (Bd 1. Frankfurt am Main 1975) Göschel weder in der Einleitung noch in der Bibliographie, obgleich der erste Band von Göschels Zerstreuten Blättern mehr als fünfzig Seiten Paraphrase und Interpretation von Hegels Rechtsphilosophie im Blick auf das preußische Allgemeine Landrecht enthält. — Wegen dieser durchgängigen Vernachlässigung Göschels in der Diskussion um die Rechtsphilosophie seien einige Daten genarmt: C .F. Göschel, geb. 1784 in Langensalza, gest. 1862 in Naumburg; Studium der Rechtswissenschaft in Leipzig; 1818 Oberlandesgerichtsrat in Naumburg; seit 1834 im Justizministerium in Berlin tätig; 1845 Mitglied des Staatsrats und Konsistorialpräsident in Magdeburg; 1848 Rücktritt unter dem Druck der Bevölkerung. 1829 veröffentlicht Göschel seine Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnisse zur christlichen Glaubenserkenntniß imd tritt dadurch in Kontakt zu Hegel, der die Aphorismen rezensiert und sogar in der Enzyklopädie (§ 564) zitiert. Nicht zuletzt aufgrund der darin ausgedrückten Hochschätzung, aber auch durch seine im Jahr nach Hegels Tod erschienenen Schriften Hegel und seine Zeit (Berlin 1832) sowie Der Monismus des Gedankens (Naumburg 1832) rückt Göschel zum Wort-
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heblidi". Dies trifft zu für die gegenwärtigen Bemühungen um eine politische Philosophie, nicht aber im Blick auf GöSCHELS Stellung in den internen und externen Auseinandersetzungen der Schule Hegels. Für die politische Theorie der Rechten bilden GöSCHELS Zerstreute Blätter ein vomehmliches Zeugnis, — noch mehr aber sein Ansatz zu einer politischen Theologie, da dieser die politischen Implikationen religionsphilosophischer Entwürfe so handgreiflich darlegt wie keine zweite Schrift der Schule. Daß GöSCHELS politische Theologie bislang lücht als die herausragende Konzeption der Verbindimg von Religion und Politik innerhalb des Rechtshegelianismus erkannt worden ist, ist zweifellos dadurch bedingt, daß sie in seinen Beiträgen zur spekulativen Philosophie versteckt ist — einer der ungezählten Polemiken gegen DAVID FRIEDRICH STRAUSS' Leben Jesu, und zudem einer Schrift, deren Konzeption auch ihren Rezensenten keineswegs deutlich war. Sie erschien kurz nach JULIUS SCHALLERS gemäßigt rechtshegelianischer Kritik an STRAUSS und nimmt auf sie Bezug, fällt jedoch dem religionsphilosophischen Niveau nach weit hinter SCHALLER zurück. Mit dem wissenschaftlichen Kern des SxRAussschen Werks, dem Begriff der mythischen Interpretation, setzt GöSCHEL sich ebensowenig auseinander wie mit speziellen Fragen der historischen Theologie. Seine Schrift beabsichtigt weniger eine Widerlegung von STRAUSS als eine Abgrenzung der Philosophie Hegels gegen die naheliegenden destruktiven Konsequenzen des Leben Jesu, um den damals häufig gezogenen, vielerseits hochwillkommenen Schluß von den SxRAUSsschen Früchten auf den Hegelschen Stamm zu unterbinden und so die spekulative Philosophie den theoführer der Schule auf, ohne selbst Schüler gewesen zu sein. Im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit entstehen die Zerstreuten Blätter aus den Handund Hülfsacten eines Juristen (3 Bde. Erfurt, Schleusingen 1832—1842). Seine scharfe ■Rezension von F, Richter: Die neue Unsterblichkeitslehre (Breslau 1833) in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik (1834) eröffnet die Auseinandersetzung um Hegels Religionsphilosophie, die er mit seiner Schrift Von den Beweisen für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele im Lichte der spekulativen Philosophie (Berlin 1835) abzuschließen sucht. Seine Arbeiten Erstes und Letztes. Ein Claubensbekenntniß der speculativen Philosophie (in: Zeitschrift für spekulative Theologie. 1 [1836]) und Die siebenfältige Osterfrage (Berlin 1837) suchen der Vorstellung ein allzu freizügiges Heimatrecht im spekulativen Begriffe zu verschaffen; sie erregen den Unwillen anderer Schüler und leisten somit der späteren Fraktionierung Vorschub. Strauß sieht in ihm den vornehmlichen Vertreter der Rechten (Streitschriften. H. 3. 95 ff). In die Auseinandersetzung mit Strauß greift Göschel nochmals ein durch seine Beiträge zur spekulativen Philosophie von Gott und dem Menschen und von dem Gott-Menschen (Berlin 1838), deren Erstfassung im Folgenden auszugsweise mitgeteilt wird. Seine späteren Schriften sind ohne Bedeutung für die Auseinandersetzungen um Hegels Philosophie. — Zu Göschel vgl. J. Fock: Karl Friedrich Göschel (1781—1861), der Verteidiger der spekulativen Philosophie. Horst 1939 (für das hier verhandelte Thema aber unergiebig). P. Cornehl, 211. Vgl. C. H. Weiße in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik, Mai 1839, Sp. 735—765 und den Anonymus in den Hallischen Jahrbüchern 1840, Nr 197—205, Sp. 1569-1637.
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logischen, philosophischen und politischen Verdikten zu entziehen, die täglich über STRAUSS gefällt wurden. GöSCHEL versucht dies jedoch nicht mittels einer bloßen Distanzierung, sondern über eine geschickte Anknüpfung an STRAUSS' Ausführungen. Die Argumentationsstrategie der Beiträge, insbesondere des Teils, den eine jetzt aufgefundene Urfassung als Kern des späteren Buches erkennen läßt, bedarf zu ihrem besseren Verständnis der Erläuterung durch einen Bück auf die zeitgenössischen theologisch-politischen Kontroversen. Mit dem Ende der Reformära in Preußen war die Verbindung von Theologie und Politik erneut prekär geworden. Daß nach KOTZEBUES Ermordung der Berliner Theologe DE WETTE an die Mutter KARL LUDWIG SANDS geschrieben hatte, wurde von den politisch Verantwortlichen als eben so großer Skandal empfunden als die Mordtat selbst. Dieser Vorfall ließ darauf aufmerksam werden, daß den protestantischen Fakultäten potentielle Gesinnimgsgenossen der Revolution angehörten. Nach DE WETTES Entfernung von der Universität war es in Berlin insbesondere SCHLEIERMACHER, der vom Argwohn der Restaurationspartei verfolgt wurde. Doch bald nahmen die Fronten im Spannungsfeld von Theologie und Politik eine überraschende Wende. Wo man nicht generell einen Zusammenhang von Reformation und Revolution mutmaßte und deshalb politisch zum Katholizismus neigte, richtete sich das Augenmerk nicht mehr auf die private Option des einen oder anderen gegen die Restaurationspolitik opponierenden Theologieprofessors, sondern auf die politischen Implikate der unterschiedlichen protestantischen Schulrichtimgen. Und nicht mehr unmittelbar die politischen Instanzen, sondern die jeweiligen Vertreter konkurrierender theologischer Richtungen besorgten es, solche verderblichen Implikationen aufzudecken. Der Konflikt wurde zunädist im Hallischen Streit (1830) öffentlich ausgetragen, in dem HENGSTENBERGS Supranaturalismus und der Neupietismus A. L. WEGSCHEIDER und W. GESENIUS, die Repräsentanten des Hallischen Rationalismus, als — theologisch — unorthodox, folglich — politisch — unzuverlässig denimzierten. Es ist zum wesentlichen Teil der Besonnenheit des verantwortlichen Ministers v. ALTENSTEIN ZU danken, daß der Staat seine Funktion im Bück auf diese zunächst theologischen Streitereien nicht im Sinne der Ankläger definiert, und der Streit deshalb einen glimpflichen Ausgang genommen hat. Durch diesen Vorfall sah sich jedoch der theologische Rationalismus gegenüber Orthodoxie und Erweckungsbewegung einem permanenten Rechtfertigungszwang nicht wissenschaftlicher, sondern politischer Art ausgesetzt. Wenn der Supranaturalismus sich als alleinige Stütze der Monarchie empfahl, so war Vgl. M. Lenz, 172 ff. Vgl. A. V. Martin: Der preußische Altkonservativismus und der politische Katholizismus in ihren gegenseitigen Beziehungen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 7 (1929), 489—514, bes. 497 ff. Vgl. W. Schräder; Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Berlin 1894. Bd 2. 165 ff.
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dagegen nicht theologisch, sondern ausschließlich politisch zu argumentieren. Dem dienten KARL GOTTLIEB BRETSCHNEIDERS Abhandlungen Der Supernaturalismus und die Monarchie sowie — darauf aufbauend — Die Theologie und die Revolution. Insbesondere die letztgenannte Monographie zeigt das wache Bewußtsein des Rationalismus über die erforderliche Reflexion der politischen Implikationen theologischer Ansätze, argumentiert aber dennoch zumeist historisch. BRETSCHNEIDER weist die dem Rationalismus zugeschobene Verantwortung für negative Erscheinungen im Gesamtbild der Zeit zurück: der theologische Rationalismus bilde nicht die Quelle, sondern das Resultat der geistigen und gesellschaftlichen Umwälzungen seit der Reformation. Im Interesse einer Demonstration der politischen Zuverlässigkeit des Rationalismus geht BRETSCHNEIDER zum Gegenangriff auf die Orthodoxie über. Hierfür bedient er sich des Arguments, das während der preußischen Reformära von den Spitzen der Beamtenschaft stets zur Rechtfertigung der Reformen gebraucht wurde, gegenüber der zaudernden Haltung des Hofes: rechtzeitige Reformen beugten der Revolution vor; ebenso vermeide die rechtzeitige Erneuerung der Theologie einen sonst unausweichlichen Bruch mit der christlichen Tradition. Für Theologie und Kirche gelte wie für die Politik: „man muß vernünftig reformiren, damit nicht gewaltsam revoltirt werde". Wer dagegen aller Veränderung zu widerstreben rate, gefährde Monarchie und Kirche zugleich. BRETSCHNEIDER wendet sich jedoch nicht nur gegen den Supranaturalismus, sondern — nach zahlreichen vorher eingestreuten Bemerkungen — in einem eigens beigegebenen Anhang gegen die spekulative Theologie im Gefolge Hegels und insbesondere gegen die theologiepolitischen Konsequenzen der Hegelschen Religionsphilosophie selbst. Hegels Philosophie ist dem theologischen Rationalismus ein so gefährlicher Konkurrent, weil sie vergleichbare Schichten — gehobenes Bürgertum xmd Beamtenschaft — anspricht und weil sie dem Rationalismus das theologisch-politische Reformkonzept zu verderben droht. Ihr scheint die Verbindimg zu gelingen, die der Rationalismus für ausgeschlossen hält: die Restitution des christlichen Dogma, jedoch nicht in der Weise der „altkirchlichen Zeloten" wie HENGSTENBERG, sondern in einer mit dem fortgeschrittenen Bewußtsein der Gegenwart verträglichen Form. Der Vollzug dieser Vermittlung begründete die hervorragende Eignimg der Hegelschen Religionsphilosophie für die Religionspolitik des Ministeriums ALTENSTEIN, das in einer Zeit der erstarkenden K. G. Bretsdmeider: Der Supernaturalismus und die Monarchie. In: Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst. Leipzig. November 1834; und Bretschneider: Die Theologie und die Revolution. Leipzig 1835. — Ungeachtet seiner eigentümlichen Stellung als „Rationalist vom halben Wege" (E. Hirsch) wird Bretschneider hier als Vertreter des Rationalismus behandelt, da er in der thematischen Diskussion theologiepolitisch den Standpunkt des Rationalismus vertritt. K. C. Bretschneider: Die Theologie und die Revolution. 165 f. — Eine ausführliche Analyse der politischen Implikationen des theologischen Rationalismus gibt H. Rosenberg: Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus. In: Historische Zeitschrift. 141 (1930), 497—541.
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Reaktion einen Ausgleich, der verständlichen Ansprüche auf weitestgehende Bewahrung traditioneller Gehalte und der unabweisbaren Forderungen nach zeitgemäßer kritischer Erneuerung anstrebte. Wenn der Rationalismus sich dieser Konkurrenz entledigen wollte, so mußte er die Eignung der Hegelschen Philosophie zum Remedium der Zeitkrankheit bestreiten. Dies ließ sich nicht durch einen Nachweis der spekulativen Uminterpretation christlichen Traditionsguts bewirken, da ja auch der Rationalismus solche Neuinterpretation für geboten hielt, und wenn auch in anderer Form, so doch in nicht geringerem Umfang. Einer philosophischen Widerlegung Hegels standen erhebliche Schwierigkeiten entgegen, die in BRETSCHNEIDERS oberflächlich fichteanisierenden Wendimgen offenkundig werden. In philosophischer Hinsicht greift BRETSCHNEIDER deshalb zum probaten Mittel der pauschalen Verwerfung: zu einer beherrschenden Stellimg gebreche es der Hegelschen Philosophie am wichtigsten, nämlich an der Verständlichkeit. Sein eigentliches Argument aber bilden die praktisch-politischen Konsequenzen, die er — in Übereinstimmimg mit der konservativen Polemik eines SCHUBARTH oder STAHL — aus dem Ansatz der spekulativen Religionsphilosophie zieht. Hegels Leugnung der Persönlichkeit Gottes und ineins damit der selbständigen Persönlidikeit des Menschen zugunsten einer dialektischen Einswerdung mit Gott vernichte „die sittliche Selbstständigkeit und das Gefühl der sittlichen Würde"; Hegels Leugnung der Unsterblichkeit zerstöre einen weiteren Eckpfeiler der christlichen Moral. Die Intensität des Streits um Gottes Persönlichkeit und die Unsterblichkeit des Menschen erklärt sich zum guten Teil daraus, daß er zugleich ein Streit um die praktisch-politischen Konsequenzen der Hegelschen Lehre war. Der theologische Rationalismus war mit der Orthodoxie wie mit der konservativen Kritik der Rechtsphilosophie darin einig, daß von dieser Seite Gefahr für das Wohlergehen des staatlich-gesellschaftlichen Lebens drohe. In seiner politisch gefährdeten Stellimg suchte er deshalb nach Kräften den Verdacht zu widerlegen, daß er in diesem prekären Aspekt mit dem Hegelschen Rationalismus übereinstimme, und zu diesem Zweck scheute er auch nicht vor einer politischen Denunziation zurück, die derjenigen in nichts nachstand, die den Hallischen Streit ausgelöst hatte. Dieser politische Rechtfertigungszwang des Rationalismus verstärkte sich noch um ein vielfaches durch das Erscheinen von STRAUSS' Leben Jesu. Im Sinne von HENGSTENBERGS vollständiger Disjunktion eines kirchlich-supranaturalistischen Standpunkts und antichristlicher Umtriebe erschien das Leben Jesu als Ausgeburt eines durch Hegels Philosophie modifizierten Rationalismus, als das Bindeglied, das die sonst verdeckte Identität von Rationalismus und idealistischer Spekulation offenbar und so die Unausweichlichkeit eines intensiven Kampfes gegen beide Ahnherrn plausibel machte. Dem Rationalismus hingegen, der die Hegelschen “ K. G. Bretschneider: Die Theologie und die Revolution. 167 f. Ebd. 171—174. und Bretschneider: lieber das Verhältniß der Theologie und Philosophie unserer Zeit zur Sittlichkeit der Völker. In: Allgemeine Kirchen-Zeitung. 1836. 868 ff.
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Grundlagen und Konsequenzen von STRAUSS' mythischer Interpretation keineswegs teilte, war daran gelegen, die Verantwortxmg allein Hegels Spekulation zuzuschieben, um nicht unter den vorhersehbaren Repressionen seitens der restaurativen Orthodoxie leiden zu müssen. Mehrere heftige Angriffe der Allgemeinen Kirchen-Zeitung, des Organs des theologischen Rationalismus, brachten diese Furcht und Strategie deutlich zum Ausdruck. Auf dem konservativen Flügel der Hegel-Schule dagegen versuchten GöSCHEL, BRUNO BAUER, GABLER und ScHALLER zwar nicht, jegliche Vaterschaft der spekulativen Philosophie zu leugnen, — dies wäre allzu unglaubwürdig gewesen; sie differenzierten aber zwischen dem in Hegels Philosophie wurzelnden Fruchtbaren und dem Verwerflichen an STRAUSS' Position und schoben dem Rationalismus die Verantwortung für alle verderblichen Konsequenzen zu. Daß die Furcht des Rationalismus sowohl als der nachmaligen Hegelschen Rechten vor politischen Konsequenzen nicht unbegründet war, zeigte noch 1838 die zweite Hallische Denunziation der 1830er Jahre: LEOS Forderung nach staatlichem Einschreiten gegen die Auflösung von Staat und Christentum durch Hegels Schule.
III. In diese verwirrenden Auseinandersetzungen traten GöSCHELS Beiträge. Es war bisher unbekannt, daß sich ihre Entstehung nicht der privaten Initiative ihres Verfassers verdankt, sondern einer zwar impliziten, doch nichtsdestoweniger offiziellen Aufforderung: kein Geringerer als der preußische Kultusminister V. ALTENSTEIN gab für sie den Anstoß. Dies erklärt die in einer Schrift gegen STRAUSS' Leben Jesu sonst nicht verständliche Eigenart ihrer Argumentation. Bekarmtlich hat ALTENSTEIN aus Gründen, die der genannten politischen Eignung der Hegelschen Religionsphilosophie entspringen, seit Hegels Berufung nach Berlin ihn xmd seine Schule mehrfach protegiert, — sowohl in konfessionellen Streitigkeiten als auch gegenüber konkurrierenden theologischen Schulrichtungen. Aus zwei jetzt im Privatnachlaß ALTENSTEIN aufgefundenen Schreiben [Anonymus:] lieber Hegels Philosophie. In: Allgemeine Kirchen-Zeitung. 1836. Nr 19—21. Sp. 153—173; K. C. Bretschneiäer: Erklärung über die mythische Auffassung des historischen Christus in Herrn D. Strauß Leben Jesu. In: Allgemeine KirchenZeitung. 1837. Nr 104—106, Sp. 845—972; und Bretschneider: Heber das Verhältniß der Theologie und Philosophie unserer Zeit zur Sittlichkeit der Völker, bes. 873 f. Hier klagt Bretschneider den Hegelianismus an, daß die von ihm betriebene „philosophische Abgötterei" konsequenterweise dazu führen müsse, „das Leben des Menschen nicht nur nach der geistigen, sondern auch nach der materiellen Seite" zu vergöttern; als Beleg verweist er auf Schlegels Lucinde(!), das Junge Deutschland tmd die St. Simonisten. So im Streit um Hegel» Äußerungen zur Transsubstantiationslehre bzw. um eine Preisaufgabe der theologischen Fakultät; vgl. Hegel; Berliner Schriften. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1956. 572 ff bzw. M. Lenz, 348 ff.
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geht hervor, daß der Minister das Exemplar der Allgemeinen Kirchen-Zeitung, das BRETSCHNEIDERS Angriffe zur Entlastung des Rationalismus durch Belastung der Hegelschen Philosophie enthält, an GöSCHEL gesandt hat. Dies läßt sich nicht als bloße unverbindliche Information erklären. Die Allgemeine KirchenZeitung war hinreichend verbreitet, und GöSCHEL hätte unschwer in Kenntnis und Besitz eines Exemplars gelangen können. Die Übersendung eines solchen Artikels versteht sich als implizite Aufforderung zum Eingreifen in die Diskussion, zur prinzipiellen Klärung des Verhältnisses der Schule zu STRAUSS einerseits, zum Staate andererseits. Und auch dieser Schritt bliebe seinem vollen Gewicht nach unverstanden, wenn er als wohlmeinende Aufmunterung zur Gegendarstellung im rein philosophischen Interesse der Schule aufgefaßt würde: die Aufforderung zur Rephk steht vielmehr im Dienste der Selbstrechtfertigimg des Ministers. Schon früher waren ihm seiner Protektion der Hegelschen Philosophie wegen Vorwürfe gemacht worden, — im ersten Angriff SCHUBARTHS, der zwar ALTENSTEIN nicht nennt, aber doch, jedem verständlich, denjenigen kritisiert, der Hegel beauftragt habe, über Naturrecht zu lesen; vor allem aber war ALTENSTEIN der ständigen Kritik seitens des Kronprinzen ausgesetzt. Daß auch in den späten 1830er Jahren die konservative Kritik an Hegels Rechts- und Religionsphilosophie sich zugleich als Kritik an der Amtsführung des Ministers artikuliert, zeigt nur zwei Jahre später SCHUBARTHS neues Pamphlet: verantwortlich für die verderblichen Konsequenzen der Hegelschen Philosophie sei der Minister, der sie nicht nur nicht bekämpfe, sondern auch noch fördere. Daß ALTENSTEIN sich gerade an GöSCHEL — den er statt GABLER am liebsten als Nachfolger Hegels gesehen hätte — wendet, legt sich dadurch nahe, daß GöSCHEL 1837 noch als einer der führenden Köpfe der Schule gilt; daß er — wie der Hallische Rezensent später schreibt — als ein Mann des Volkes gilt, zur Besänftigung desselben
Göschel an v. Altenstein. 18.10.1837 und 1.11.1837. — Leider hat sich im Privatnachlaß V. Altenstein kein Konzept und auch keine Kopie des Schreibens erhalten, mit dem Altenstein den Artikel an Göschel gesandt hat. Vgl. K. E. Schubarth-K. A. Carganico: lieber Philosophie überhaupt, und Hegels Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften insbesondere. Ein Beitrag zur Beurtheilung der letztem. Berlin 1829. 173 f; dazu Hegels Rezension in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik. Dezember 1829. Sp. 959. — Zur Rechtfertigung Altensteins gegenüber dem Kronprinzen vgl. in diesem Band K. R. Meist: Altenstein und Gans. Implizite Anklagen gegen Altenstein erhebt auch der Anonymus in der Allgemeinen Kirchen-Zeitung. 1836. Sp. 172 f: „Wahrlich, ihr Staatsmänner, ihr irret, nach Vernunft und Geschichte, wenn ihr meint, Hegelianismus solle die Wissenschaft beherrschen, ja diese in jenen übergehen und Mysticismus solle Volksreligion werden — das ist, mindestens gesagt, politische Chimäre."
^ K. E. Schubarth: Über die Unvereinbarkeit der Hegelschen Staatslehre mit dem obersten Lebens- und Entwicklungsprinzip des Preußischen Staats. Breslau 1839. Vgl. den Neudruck in M. Riedel (Hrsg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd 1 257.
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besonders geeignet; schließlich, daß GöSCHEL als Geheimer Justizrat ohnehin Glied der Ministerialbiirokratie war. Auf ALTENSTEINS implizite Aufforderung hin beeilte sich GöSCHEL, eine Entgegnung auf BRETSCHNEIDER ZU formulieren, die bisher in dieser Form unbekannt war: lieber das Verhältnis der spekulativen Theologie zur Straußschen Christologie. Ein Votum zur weitern Ausführung. Eine für ALTENSTEIN angefertigte Reinschrift liegt im Privatnachlaß des Ministers. Die kleine Abhandlung umfaßt 33 Seiten Folio, unpaginiert, geheftet; jeweils die rechte Blattseite ist beschrieben. Die linken Blatthälften enthalten zum Teil Randbemerkungen, die die Entstehung dieser Schrift gut überblicken lassen. Dieses Votum bildet den Kern der ein Jahr später erschienenen Beiträge. Es wird hier nicht vollständig mitgeteilt, da es zum wesentlichen Teil in die Beiträge eingegangen ist. Während aber die Beiträge um Abstand von den aktuellen literarischen Fehden bemüht sind, bezieht sich das Votum ausdrücklich auf BRETSCHNEIDERS Angriffe in der Allgemeinen Kirchen-Zeitung der Jahre 1836 und 1837. Entfallen ist später der Schluß des Votums (S. XXIX—XXXIII), der mehrere für die damalige Auseinandersetzung bezeichnende Tendenzen offenlegt und zugleich versucht, den besorgten Blick des Adressaten von der Hegelschen Philosophie ab- und auf die wirkliche Gefahr hinzulenken. Der im Folgenden wiedergegebene Schluß des Votums schließt etwa an Beiträge Seite 183 unten an. Der äussern Geltung der leider noch so sehr verkannten spekulativen Philosophie sind übrigens nach meinem Erachten die BRETSCHNEioERSchen Angriffe weniger schädlich, als diejenigen, welche gegenwärtig in der FicHTESchen Zeitschrift ihr Organ und den Heerd ihrer Operationen finden. Bei jenen wird es mehr und mehr anerkannt, daß der Rationalismus aus gleichen Gründen und mit gleicher Bitterkeit sowohl gegen die Kirchen- und Schriftlehre, als gegen jede tiefere Auffassung sich auflehnt. Diese hingegen können zugleich mehr oder weniger als Inhaber und Vertheidiger der unmittelbaren christlichen Wahrheit gelten. Wer nicht
So der anonyme Rezensent in den Hallischen Jahrbüchern, Sp. 1570. 36 Das Votum ist eingegangen vor allem in die Beiträge Seite 1—8, 42—45, 52, 55, 57—73, 182—183. — In den Text eingefügte römische Zahlen bezeichnen die Seiten des Votums; arabische Zahlen die Paginierung der Beiträge, sofern der Text des Votums in die Beiträge eingegangen ist. — Randbemerkungen des Manuskripts sind durch hochgestellte R zu Beginn und Ende der betreffenden Passagen gekennzeichnet. 3’ Vgl. die beiden genannten Abhandlungen Bretschneiders: lieber das Verhältniß der Theologie und Philosophie unserer Zeit zur Sittlichkeit der Völker und Erklärung über die mythische Auffassung des historischen Jesus in Herrn D. Strauß Leben Jesu. Während die erstgenannte schwere Angriffe gegen Hegel enthält, berührt die letzte nur das Verhältnis Strauß' zur Schule.
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genau unterscheidet, hält deshalb ihren wissenschaftlich freilich sehr ohnmächtigen Krieg gegen die spekulative Vermittelung der unmittelbaren Wahrheit für eine Vertheidigung der [XXX] letztem. So sehen wir z. B. den Professor NITZSCH, einen wackern Theologen, aber eben so incompetenten Philosophen, gegen GABLER eifern, ob er gleich den Mann nicht versteht. Ihm sind nun einmal Glaube und Wissen, Offenbarung und Philosophie abstrakte Gegensätze, jenes das Göttliche, dieses das menschliche. Steht aber einmal dieser Gegensatz als ein feindlicher unbeweglich fest, so kann es nicht fehlen, daß die Philosophie, sobald sie Emst macht, als MenschenWerk exkommunicirt wird. So verfahren dieselben Theologen, die doch an die Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen durch die Menschwerdung Gottes in CHRISTO glauben. Auf diesen Glauben provociren sie immer imd doch bleiben sie wieder bei der abstrakten Scheidung stehen, als wäre CHRISTUS nicht in die Welt gekommen. RWenn sie dennoch bei dieser abstrakten Scheidung zwischen dem Göttlichen tmd Menschlichen stehen bleiben, und dem zu Folge, weil sie statt zu imterscheiden nur scheiden, die spekulative Philosophie als menschlich verdammen müssen, so sollten sie auch folgerecht ihre eigenen Bücher, welche doch audi Menschenwerk sind, und umsomehr, als sie darin mit rationalistischen Waffen fechten, nicht weniger verwerfen: sie sollten neben der Bibel kein anderes Buch, imd noch weniger in der Bibel die — Apokryphen dulden. Diese Folgerung scheint mir einleuchtend zu seyn: esR wäre auch leicht, sie hierauf aufmerksam zu machen, oder ihnen auszuführen, daß kein Glauben ohne Erkennen, kein Erkennen ohne Glauben ist, daß der Glaube ebensowohl als das Wissen die subjective Intussusception imd Digestion derselben göttlichen objektiven Offenbarung und Mittheilung ist; letzteres habe ich schon in dem letzten Abschnitt der Aphorismen bis in's Einzelne zu ent-[XXXI] wickeln versucht. Allein — die Sache will Weile haben: es dauert seine Zeit, bis eine neue Epoche der Geistbewegung durchdringt. Bis dahin behelfen sich die Gegner, wie Hegel sagte, mit dem „Ignoriren". Die spekulative Philosophie wird auch jetzt durch weitere, konkrete und positive Entwickelung mehr gewinnen, als durch negative Abwehr der sich im beständigen Einerlei wiederholenden gehässigen AnschuldiGemeint ist dessen Rezension von G. A. Gabler; De verae philosophiae erga religionem christianam pietate. Berlin 1836. In: Zeitschrift für Philosophie xmd spekulative Theologie. Hrsg, von I. H. Fichte. Bd 1, H. 1.139—158.
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gungen. Es gilt jetzt, diese durch die That, durch die fortgesetzte Arbeit des Gedankens niederzuschlagen. * RHier stellt sich zugleich die weitere Aufgabe der spekulativen Philosophie dahin heraus, daß sie nicht allein gegen den Rationalismus in seinen wechselnden Formen, sondern auch gegen die moderne Rechtgläubigkeit der Theologie der christlichen Wahrheit sich anzunehmen hat. Es ist besonders der volle Begriff der göttlichen Offenbarung, welcher sich in dem modernen SupraNaturalismus verkümmert hat. Hier gilt es also, die göttliche Offenbartmg in der Sphäre des Geistes als die Thatsache, welche sich nicht allein in dem Worte, sondern auch in den großen Thaten Gottes manifestirt, zu begreifen, und einerseits diese Thatsachen, res gestae, als Allen mitgetheüt und angeboten, andererseits das Zeugniß davon, welches der Geist Gottes unserem Geiste giebt, memoria rerum gestarum, drittens den geschriebenen Kodex dieser Offenbarungen, welcher sie nicht allein in sich hat, sondern auch ausser sich weiß, — — nicht zu konfundiren, sondern nach ihrem Unterschiede und Zusammenhänge zu erkennen. Auf diesem Wege würde die wahre Philosophie, indem sie gegen ihre rechtgläubigen Gegner belehrend sich erweiset, für die Sache, die sie eigentlich meinen, in die Schranken zu treten und den ernsten Kampf zu kämpfen haben, der freilich Mühe imd Arbeit in Anspruch nimmt. R Außerdem hat aber die wahre Philosophie auch durch so viele unberufene Schüler und Anhänger sich bösen Leumund zugezogen: solche leichtfertige Freunde sind der strengen Meisterin schädlicher, als die Feinde. In STRAUSS sehen wir nur den ehrlichsten und offenbarsten Repräsentanten der linken Seite, wie er diese Fraktion der Schule selbst nennt. Es liegt in der Natur der Sache, daß nicht jeder Schüler zur Verständigung gekommen ist: viele ruhen bequem und gedankenlos auf einem leidigen Formalismus. Halbheit schadet überall, aber hier doppelt. [XXXII] Wer diese Philosophie oberflächlich ansieht, bekommt das Gegentheü von ihr zu sehen, denn sie besteht wesentlich dariim, nicht die Oberfläche zu sein. Durch solche oberflächliche Studien sind * Zu Erörterungen dieser Art waren früher die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik bestimmt, welche später ihren Charakter verändert haben. Jetzt ist in der hiesigen Zeitschrift für spekulative Theologie ein anderes Organ eröffnet. Der Herausgeber ist ein junger, aber tüchtiger Theolog, der nicht auf den erworbenen Schätzen der Logik ausruht, sondern in den eröffneten Schachten still und ruhig bis in's Einzelne fortgräbt.
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viele Irrlehren und viele Halbwahrheiten auf Rechniuag der spekulativen Forschimg gekommen, statt daß sie eben zeigen, wohin man ohne die Mühe der Forschung, ohne die strenge Arbeit des Gedankens, ohne die Zucht der lebendigen Kategorieen verschlagen werden kann. Diese Verirrungen werden vergehen: aber sie sind für jetzt sehr schädlich, weil sie der wahren Philosophie grade bei den wohlgesinnten Zeitgenossen den Eingang erschweren. Dieß ist umso mehr zu beklagen, als nach meiner Ueberzeugung für unsere nach Vermittelung verlangende Zeit gerade in jener ernsten, strengen, schweren Philosophie das Heilmittel gegen die Leichtfertigkeit des rationalistischen Unglaubens gegeben ist. Darum schließe ich auch mit dem Wunsche, daß dieses große Werkzeug als eine Wohlthat für Mit- und Nachwelt mehr und mehr erkannt und gepflegt werde. Möchte doch diese Gottes-Gabe nicht von so Vielen undankbar verkannt werden! Möchten doch diejenigen, die sie im Interesse der christlichen Wahrheit verfolgen zu müssen glauben, in Zeiten zu der [XXXIII] Einsicht kommen, daß sie damit verfolgen, was sie begünstigen, daß sie fliehen, was sie suchen, nämlich — vermittelte Rückkehr zum Glauben! Dieser kurze Abschnitt bildet ein anschauliches Beispiel für das Taktieren des Repräsentanten der Hegelschen Rechten vor den Augen des verantwortlichen Ministers. Die Bedeutung der Kritik seitens des Rationalismus wird heruntergespielt, — offenbar deshalb, weü die Kreise, die die Stellung der spekulativen Philosophie zu gefährden vermocht hätten, dem Rationalismus ohnehin kein Gehör schenkten. Der Minister wird statt dessen in aller Form darauf hingewiesen, daß die eigentliche Gefahr für die Geltung der Hegelschen Philosophie von seiten des eben erst konstituierten Kreises um den jüngeren FICHTE, also des spekulativen Theismus, sowie der Vermittlungstheologie ausgehe. — Aufschlußreich für den Zerfallsprozeß der Schule ist GöSCHELS unverhüllte Absage an deren publizistisches Organ, die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. Die statt der Jahrbücher empfohlene, von BRUNO BAUER herausgegebene Zeitschrift für spekulative Theologie stellte jedoch im Jahr darauf ihr Erscheinen ein. Die schroffe Kritik des Votums an den Jahrbüchern läßt vermuten, daß es zum Konflikt zwischen GöSCHEL und dem Bemühen der Leitung der Jahrbücher, also V. HENNINGS, um eine ausgewogene Position gekommen ist; ähnliche Mißhelligkeiten hat es auf der anderen Seite zwischen FEUERBACH und v. HENNING gegeben. Ein Indiz hierfür bildet auch, daß GöSCHEL entgegen seiner früheren regen Mitarbeit an den Jahrbüchern nur noch einige kleinere, unbedeutende 39 Vgl. die Zeitschrift für Philosophie tmd spekulative Theologie. Hrsg, von I. H. Fichte. — Zu Fichtes Stellung im Streit um Hegels Religionsphilosophie vgl. vom Verf.: Die Religionsphilosophie Hegels. Darmstadt 1980. (Erträge der Forschung.)
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Rezensionen veröffentlicht hat, die ihn nicht mehr als Glied der Schule ausweisen; die Rezension seiner Beiträge ist an C. H. WEISSE vergeben worden, der GöSCHEL bereits 1832 außerordentlich scharf kritisiert hat. — Eindeutig ist schließlich GöSCHELS Versuch zur Erneuerung der moderierten Allianz mit dem Supranaturalismus, die sich bereits in HENGSTENBERGS Reaktion auf eine Rezension GöSCHELS angebahnt hatte. Bereits zu Beginn des Votums unterscheidet GöSCHEL die Position der Evangelischen Kirchen-Zeitung gegenüber Hegel wohlwollend von der Kritik der Allgemeinen Kirchen-Zeitung, mit dem unzutreffenden Argument, daß der Supranaturalismus lediglich die faulen Früchte vom Baume der Spekulation, nicht diesen selbst verwerfe. Die Kritik, die GöSCHEL gleichwohl an der neuen Orthodoxie anbringt, ist keineswegs von der spekulativen Philosophie inspiriert. Zwar verwirft er die supranaturalistische Beschränkung des Offenbarungsbegriffs auf die Bibel als Verkürzung, aber er erweitert diesen verkürzten Begriff nicht durch Hegels Gleichsetzung des Geoffenbarten und des der Vernunft Offenbaren, sondern lediglich durch Einschluß der res gestae imd memoria rerum gestarum. Die angeblich verteidigte spekulative Philosophie dagegen degradiert GöSCHEL zum „Werkzeug" im Kampf gegen den rationalistischen Unglauben, für „vermittelte Rückkehr zum Glauben". —
IV. Alles Gewicht des Votums aber liegt darin, daß sich mit seiner Hilfe der Kern der Beiträge herausschälen läßt, mit dem GöSCHEL dem Minister gegenüber die Unangemessenheit der SxRAUSsschen Position und zugleich die ausschließliche Eignung der spekulativen Philosophie zur Bewältigung der theologisch-politischen Streitfragen der Zeit begründet. Seine „Salopperie und dissolute Unordentlichkeit" sind dafür verantwortlich, daß dieses Argument in den BeiZweifellos ist Göschel gemeint, wenn C. H. Weiße: lieber das Verhältniß des Publicums zur Philosophie in dem Zeitpuncte von HegeVs Absdieiden (Leipzig 1832. 24) davon spricht, daß sich das Bedürfnis nach Entsprechimg der philosophischen und der biblischen Gotteslehre „nicht selten auf eine krankhafte Weise hervorgethan" habe. „Man kennt die sonderbaren Mittelgestalten von speculativem Pantheismus und phantastischem Pietismus". — Göschels Überhebung über die Schule prangert schon der Hallische Rezensent an; vgl. Sp. 1586 u. ö. [E. W. Hengstenberg;] Die Schrift und ihre Lehre von der Auferstehung und die Lehren der Schüler Hegels, In: Evangelische Kirchen-Zeitung. Februar 1834. Nr 10—13. Sp. 13 ff. Vgl. Göschels Beiträge. 2 (Fußnote). — Die Evangelische Kirchen-Zeitung hatte sich keineswegs gegen die Verketzerung der Philosophie Hegels geschlagen, sondern lediglich die simplifizierende, der Gefährlichkeit des spekulativen Feindes nicht angemessene Kritik seitens des Rationalismus verworfen; vgl. Lesefrüchte. Die Wissenschaftlichkeit des Rationalismus (anonym; Hengstenberg?). In: Evangelische Kirchen-Zeitung. 1837. H. 1. 270—272. So der Hallische Rezensent, Sp. 1625.
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trägen unter einem Wortschwall über Nominalismus und Realismus verborgen geblieben und deshalb auch niemals in die gegenwärtige Diskussion des Zusammenhangs von Religion und Politik in der Hegel-Schule eingeführt worden ist. Die Ausführungen des Votums sind zentriert auf den problematischen Zusammenhang von Gattung und Persönlichkeit, der aber — rmd hierin liegt das überraschend Neue gegenüber der schon einige Jahre andauernden Diskussion um Pantheismus imd Persönlichkeit — ins Politische gewendet ist, in eine politische Christologie. In seiner spekulativen Rekonstruktion der historisch vernichteten Wahrheit des Christentums bestreitet STRAUSS bekanntlich, daß die Idee die Fülle ihres Reichtiuns allein in Ein Individuum ausschütte, und er hält die Wahrheit des Gedankens der Gottmenschheit nur insofern aufrecht, als dieser nicht auf den historischen JESUS, sondern auf die menschliche Gattung bezogen wird. Die philosophische Kritik dieser Uminterpretation der Idee der Gottmenschheit weist nach, daß der Gatttmgsbegriff zur Übernahme der ihm von STRAUSS zugemuteten Fimktionen ungeeignet sei. GöSCHEL jedoch argumentiert nicht mit der Unangemessenheit des Gattungsbegriffs, sondern weitet dessen Beanspruchung sogar noch aus. Er wiederholt auch lücht nur die gängigen rechtshegelianischen Argumente dafür, daß Hegel Gott doch als Subjekt, somit als Person, und auch die gottmenschliche Einheit als in Christus verwirklicht denke, sondern er aktualisiert die politischen Implikationen des von STRAUSS gänzlich apolitisch konzipierten Modells: den Zusammenhang der Monarchie Christi und der Monarchie im Staate. Hierfür knüpft er zunächst an STRAUSS' Erläuterungen an, um dann zu einer Lösung zu kommen, die der SiRAussschen total entgegengesetzt ist: „Auch ich glaube nicht bloß an einen idealen CHRISTUS: auch mir ist CHRISTUS eine objektive Person; ich finde diese Person in der Gattung, in der Menschheit: die ganze Menschheit ist CHRISTUS. CHRISTUS ist daher mehr als jeder einzelne Mensch, und von jedem einzelnen Subject verschieden, denn er ist die ganze Menschheit. Eben darum ist der historische CHRISTUS [IX] nicht der wahre CHRISTUS, weil ein einzelner Mensch nicht die ganze Menschheit ist. Daß aber jene allgemeine Persönlichkeit CHRISTI weder von Rationalisten, noch von Supranaturalisten, noch von Philosophen eingesehen wird, [45] das kommt daher, daß D. F. Strauß: Das Leben Jesu. Bd2. Tübingen 1836. 732 ff. U. a. K. Rosenkranz: Kritik der Sdileiermadiersdien Glaubenslehre. Königsberg 1836. XVI ff; J. Sdialler: Der historische Christus und die Philosophie. Kritik der Grundidee des Werks das Leben Jesu von Dr. D. F. Strauss. Leipzig 1838. 57 ff. J. Frauenstädt (Die Menschwerdung Gottes nach ihrer Möglichkeit, Wirklichkeit und Nothwendigkeit. Mit Rücksicht auf Strauß, Schaller und Göschel. Berlin 1839. 22 ff) sucht Strauß' und Schallers Gattungsbegriff zu vermitteln; dies gelingt ihm aber nur, weil er den Gattungsbegriff abstrakt, nicht im Sinne Hegels als konkrete Allgemeinheit faßt.
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ihnen die Gattung nur Gattung ist: sie können sich nicht zu der Idee erheben, die Gattung selbst als Person, das Kollectivum als Einheit anzusehen." Hier ist nach meinem Erachten der Kardinal-Punkt, wo die spekulative Theologie fort zu arbeiten hat. Hegel ist abberufen worden, ehe er sich hierüber zur bestimmten Erkenntniß durchgearbeitet hatte: daher die schwankenden subjectiven Aeusserungen, welche Viele, Gegner imd Anhänger, mit seiner objektiven Philosophie verwechslen. Mit Hegel selbst hätte ich mich darüber vollständig zu verständigen gehofft. (. . .) Zxmächst ist an der SxiiAussschen Ansicht dieses als wahr anzuerkennen, daß wirklich der ganzen Menschheit CHRISTUS eingepflanzt ist zu ihrer Erlösung und Entwickelung. Die Welt ist objektiv erlöset: sie soll auch subjectiv und hierdurch wirklich erlöset werden [XI] mittelst der Annahme der Erlösung imd des Erlösers im Glauben tmd Wissen. [57] So ist es auch nicht minder anzuerkennen, daß eben deswegen die Menschheit ein Ganzes ist. Eine Bedeutung und Bestimmimg hat: darum wird ihr eine moralische Persönlichkeit zugeschrieben: darum wird auch die Gemeinde CHRISTI sein Leib genannt. In dieser Beziehung ist es daher auch gegründet, daß CHRISTUS, als die der Menschheit zu ihrer Erlösung eingepflanzte Seele, an der ganzen Menschheit ihren Leib hat, und daß erst aus Leib und Seele die Persönlichkeit ebensowohl für die Seele als für den Leib, oder für CHRISTUM sowohl als für die Menschheit hervorgeht. Wir werden ohnehin nicht läugnen wollen, daß die Menschheit, als der Leib, erst durch den Erlöser wieder zu ihrer Seele, zur Einheit imd Ganzheit, hiermit zur moralischen Persönlichkeit gelange. Folgt nun nicht daraus auch umgekehrt, was STRAUSS auszuführen gesucht hat, daß ebensowohl auch die erlösende Seele erst durch den Leib und dessen Erlösung zu ihrer Wahrheit und Fülle, zu ihrer moralischen Persönlichkeit gelange? Wer gegen diese Folgenmg sich erklärt, der müßte vor allen Dingen den Fehler in der Schlußfolge nachweisen, oder seinerseits im Interesse des Glaubens auf Denken, Urtheilen, Schließen und Begreiffen Verzicht leisten. Letzteres kann allerdings die spekulative Philosophie nicht thun. Darum ist auch das Re-[58]sultat [XII] der SxRAussschen Christologie der Hegelschen Schule ja auch der Hegelschen Lehre zugeschrieben worden. Läugnet sie es, so muß sie sich darüber negativ oder positiv rechtfertigen. Bis jetzt ist noch nicht genügend geschehen. Nach dem Gesagten hält sich STRAUSS daran, daß die Gattung auch eine Person sey. Dieß muß zugegeben werden. Es kommt nur auf
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die nähere Begriffsbestimmung dieser Persönlichkeit an. Da ihr das Individuum, näher das einzelne Subjekt zu ihrem vollen Ausdrucke fehlt, so gehört sie in die Kategorie der so genannten moralischen, idealen oder mystischen Persönlichkeit. Insofern sie nur moralisch ist und bleibt, insofern ist sie zunächst doch nur ein anderer Name, um die Gattung als Eins, als Ganzes zu fassen. Als Einheit, als Ganzheit ist aber die Gattung noch nicht Person. Zur Persönlichkeit gehört nach ihrem Begriffe nichts so sehr, als die Individualität, und zwar die Individualität des Subjekts. Den Individuen, Subjekten und Personen in dem MenschenGeschlechte muß also nothwendig eine Individualität, Subjektivität, imd Persönlichkeit zum Grunde liegen, und vorausgehen, so wie auch nur durch sie das Ganze selbst wieder zur Individualität und Persönlichkeit gelangt. [59] Dieser Fortgang des Begriffs ist es, welcher in der SrRAussschen Christologie fehlt, imd von der Hegelschen Philosophie nachzuweisen ist. STRAUSS übersieht, daß die Menschheit als Ganzes noch nicht Person ist, wozu nach dem Begriffe der Persönlichkeit die Indi-[XIII]vidualität und Subjektivität wesentlich ist. STRAUSS bringt es nur zu einer mystischen, intellektuellen Persönlichkeit, nicht zur wirklichen: er bringt es zmn Namen, aber nicht zum Begriffe. Dazu kann es auch nur die wahrhaft spekulative Philosophie bringen, wozu wir in der Hegelschen Philosophie, die eben darum allgemeine Philosophie ist, die Kategorieen finden, wenn wir uns ihrer Zucht unterwerfen. Wir finden, wie gesagt, die allgemeinen Kategorieen dazu, aber nicht die konkrete Ausführung. Die Aufgabe ist, aus dem Begriffe selbst und aus dessen Fortbewegung nachzuweisen, wie diese moralische Persönlichkeit der Menschheit nur dadurch zur wirklichen wird, daß sie in Einem Individuum ganz ist, imd wie mithin dieses einige Individuum als Person für sich der davon bedingten Persönlichkeit des Menschengeschlechts, als der Gattung, erst vorausgeht, und demnächst selbstständig mit ihr fortgeht. Hierzu kann ein Beispiel den Weg bahnen. [60] Nach STRAUSS hat die Idee CHRISTI in ihrer Fülle lediglich an dem ganzen Menschengeschlechte ihre Persönlichkeit, wie etwa die Idee des Rechts ihre Persönlichkeit am Staate hat. Deshalb schreiben wir mit Recht dem Staate, als einem Ganzen, um seine Einheit zu begreifen d. h. zu umfassen, moralische oder mystische Persönlichkeit zu. [XIV] Es ist aber eben so gewiß, daß diese mystische Idee der Persönlichkeit, als nur subjektiv oder moralisch, noch nicht der wirkliche Begriff ist, sondern nur als dessen Vorläufer gelten kann. Die
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moralische Persönlichkeit des Staats ist mithin nur der Anfang seines Begriffs: zur wirklichen Persönlichkeit kommt er erst in derjenigen Form, die wir Monarchie nennen: imd diese Monarchie ist eben deswegen die vollkommenste Ausbildung des Staats, weil in ihr die moralische Persönlichkeit nicht in sich sitzen bleibt, sondern in einem Individuum zur Wirklichkeit xmd hiermit zu ihrer Bestimmung kommt: Die moralische Persönlichkeit war noch die unbestimmte. Das Weitere ist aber, daß [61] die vollkommenste Monarchie wiederum erst diejenige ist, in welcher alle Individuen, als Glieder, von dem Haupte organisch und persönlich durchdrungen sind. Hiermit erweiset sich erst die Individualität des Hauptes als wirksame Persönlichkeit: hiermit bewirket erst die Persönlichkeit des Hauptes, die volle Persönlichkeit des Staats. Insofern, aber auch nur insofern, kann demnächst gesagt werden, daß erst das Haupt zu seiner vollen Geltung imd Persönlichkeit kommt, werm der Staat selbst durch das Haupt zur Persönlichkeit durchdrungen ist: aber das Haupt ist darum doch auch zuvor für sich Person, und [XV] die Bedingung einer wirklichen Persönlichkeit des Staats. So kommt auch die Menschheit nur dadurch zur wirklichen Persönlichkeit, daß ihr ein Haupt gegeben ist, welches selbst für sich ein Individuum ist: denn aller Persönlichkeit liegt wesentlich die Individualität, das unzertrennliche und untheilbare Fürsichseyn des Subjekts, die Untheilbarkeit der Seele und des Leibes zum Grunde. RWäre nun diese allen einzelnen Individuen und Personen zum Grimde liegende und vorausgehende Persönlichkeit nicht wirklich, nicht individuell, so würde auch weder den davon bedingten einzelnen Individuen, noch deren Gesamtheit wirkliche Indi-[62]vidualität, wirkliche Persönlichkeit zugestanden werden können. Ist der Urmensch nicht, so ist auch der Mensch nicht: ist jener nicht Individuum, so ist er auch nicht Person. R Wie mm die Persönlichkeit die höchste Form der Individualität, die durchdringliche Offenbarung imd Verklärung des Fürsichseyns ist, so ist die subjektive Individualität oder die Selbstständigkeit der Inhalt und die Bedingung der Persönlichkeit. Eben diese Individualität ist daher auch zu der Persönlichkeit des Menschengeschlechts wesentlich: sie muß sie in sich Zusammenhalten, um das Menschengeschlecht zur Einheit zusammen zu halten: jedes Kollektivum setzt eine individuelle Einheit und Ganzheit voraus, wodurch es zusammengefaßt wird. Wie diese Individualität der bindende Halt der Einzelnen ist, so ist es wieder die Persönlichkeit dieses Hauptes der Menschheit, welche die einzelnen Menschen durchdringt: und darum sind auch nur diejenigen Individuen
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lebendige Glieder der Menschheit, welche von diesem einzigen Individuum, als dem Monarchen der Menschheit, sich durchdringen lassen. Hiermit kommt der Gedanke, welcher [XVI] dem Glauben inwohnt imd seine Seele ist, nach dem ihm selbst inwohnenden Gesetze, auf seinem eigenen Wege, — d. h. auf dem Wege der Vermittelung, dem er folgen muß — desto gewisser imd lebendiger zu dem Glauben zurück, zu dem Glauben [63] an die wirkliche Persönlichkeit CHRISTI, welchem, wie jedem andern Menschen, die persönliche Individualität, und wie Keinem die Totalität zukommt. Eben darum kann aber der Gedanke diese Persönlichkeit des Individuums, welche der Persönlichkeit des Geschlechts vorausgeht, nur als Urpersönlichkeit, diese Menschheit CHRISTI, weil sie die ganze Menschheit ist, nur als Urmenschheit begreifen. Denn als die ganze Menschheit selbst in Einem ist der Mensch CHRISTUS Alles in Einem: er erfüllet die ganze Menschheit in ihm selbst, ehe sie außer ihm gesetzt ist imd von ihm erfüllet wird: er ist die Menschheit, wir haben sie, er ist sie ganz, wir haben Theü daran. Als der Stellvertreter des ganzen Menschengeschlechts nimmt er nicht die Stelle Anderer statt ihrer ein, [64] sondern er räumt erst die Stelle Anderen ein, deren Gesammtheit er war, ehe sie einzelne waren, und ist, imd bleibt. Als das Haupt der Gemeinde ist er nicht von der Gemeinde bedingt, sondern er bedingt sie, er erhält sie, imd erlöset sie auch, [XVII] durch die Gemeinschaft mit ihm, so wie sie durch ihn geschaffen sind. Der Mensch ist wesentlich bedingter, hiermit endlicher Geist: seine Voraussetzung und Bedingung ist mithin der UrMensch, der UrGeist, Gott-Mensch, oder die Einheit des absoluten und endlichen Geistes. Wiewohl dieser urpersönliche Ur-Anfang der Menschheit zuvor ist und von Ewigkeit ist, so findet ihn doch der Gedanke, indem er auf das Prius zurückgeht, erst hernach am Ende seiner Entwickelung wieder ganz. Wie aber CHRISTUS von der Menschheit, als der Gemeinde, welche ist und wird, nicht bedingt ist, sondern vielmehr sie bedingt und durchdringt, so ist doch sein Reich unter den Menschen von den Menschen insofern abhängig, als sie frei sind: seine Monarchie und Herrschaft wird mithin erst dann vollkommen sein, wenn alle Glieder des Reiches, welche berufen sind, sich von ihm durchdringen lassen. Diese Abhängigkeit CHRISTI ist in der Geschichte wirklich geworden: die Geschichte ist daher nicht bloß ein Gleichniß der Idee, sondern ihre Verwirklichung. Ausgedrückt ist diese Abhängigkeit in der Offenbarung als Erniedrigung. CHRISTUS hat sich zu den Menschen erniedrigt um sie zu ihm zu ziehen:
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er diente in den Tagen seines Fleisches und ließ sich nicht [65] dienen; der alle Dinge trägt mit seinem Worte^ ist von dem Menschengeschlechte ge-[XVIII]tragen und in ihm ausgetragen worden: der alles zuvor ist, der ist mit dem Menschen gering geworden: als Haupt der Gemeinde hat er sich selbst, obwohl für sich vollkommen, mit der Gemeinde imd mit jedem Einzelnen der Entwickelung unterworfen. Die Kirchen- und Menschen-Geschichte hat mithin nicht allein die Erziehung der Menschen, sondern eben deswegen auch das Wachsthum des Menschen CHRISTUS zum Gegenstände. Wollten wir jetzt auf das vom Staate entnommene Beispiel zurückkehren, so wird es sich damit nur insofern anders verhalten, als die Verhältnisse anders, nämlich unvollkommener sind. Der Monarch im Staate ist nicht Monarch der Menschheit, folglich auch nicht mehr als jeder andere Mensch; er ist auch nicht so unabhängig von dem Staate, als der Monarch der Menschheit, qua LfrMensch von der Menschheit ist. Dermoch behauptet er auch, soweit es das irdische Verhältniß zuläßt, eine Unabhängigkeit von dem Staate: er hört [66] darum nicht sofort auf, Monarch zu sein, werm er etwa in Folge einer Empörung zur Zeit nicht anerkannt ist, wiewohl seine Monarchie im Unterschiede von seiner persönlichen Dignität erst wieder zum Daseyn kommt, wenn er zugleich anerkannt ist, xmd erst vollkommen wird, wenn er zu durchdringlicher Gemeinschaft [XIX] mit allen Unterthanen gelangt. Ueberall ist mithin zwischen dem Monarchen, der es vermöge seines objektiven d. i. rechtlichen Verhältnisses für sich ist, und der Monarchie, die es durch Anerkenmmg des Monarchen erst subjektiv wird, wohl zu unterscheiden. Zur wissenschaftlichen Ueberwindung des Standpunkts, auf welchem sich zur Zeit STRAUSS befindet, kommt es mithin hauptsächlich auf drei Gedankenbestimmungen an. Das Erste ist, daß der Gedanke da, wo der historische CHRISTUS aus der Unmittelbarkeit, in welcher ihn der Glaube wirklich hat, in den Begriff der Gattung (Gemeinde) übergeht, imd darin unsichtbar verschwindet, sich in dem Stadium der Differenz weiß und in Folge dieses Bewußtseyns darauf rücht stehen bleiben darf. Diese Stufe des Gedankens ist nämlich wesentlich nur das Stadium der Differenz; denn CHRISTUS ist hier nur unsichtbar, und seine Sichtbarkeit ist nicht er selbst, sondern die Menschheit: er selbst ist mithin als [67] blos unsichtbar nicht wirklich. Die Idee ist, als das Unsichtbare, im Gegensätze zur Wirklichkeit, als dem sichtbaren Ausdrucke: keins entspricht mithin
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dem andern. Das Höchste innerhalb dieser Stufe ist, daß wenigstens der Menschheit, und hiermit der Idee CHRISTI eine, wenn auch blos moralische oder ideale Persönlichkeit zugeschrieben wird. Auf diesem Standpunkte ist die SxRAusssche Christologie [XX] stehen geblieben: wir erkennen darin selbst schon eine Fortbewegimg des Begriffs: die Gattung erhebt sich zur moralischen Persönlichkeit. Diese Fortbewegung ist aber noch innerhalb der Gränzen des Stadiums der Differenz beschlossen. Daß die Fortbewegung hier stehen bleibt und in sich selbst verkommt, dieß ist eben der Fehler. Es muß daher zur Einsicht kommen, daß die moralische Persönlichkeit CHRISTI erst wieder wirklich wird, wenn ihr die anfängliche Individualität und Subjektivität wieder hinzutritt, welche in der Periode der Differenz verloren gegangen zu sein schien, weil sie sich unsichtbar gemacht hatte. Der scheinbare Verlust des historischen CHRISTUS, welchen der Gedanke in der Periode der Differenz, in der vierzigjährigen Wüste der Zwiespältigkeit [68] und des Zweifels erfährt, erzeugt nach den verschiedenen Stellimgen des Subjekts zu der Sache und nach der unterschiedenen Gliederimg, in welcher sich diese breite Fläche in sich selbst fortbewegt, die verschiedenartigsten Eindrücke. Etliche bleiben gleichgültig, weil das Bedürfniß noch nicht erwacht ist; Etliche klagen: „Er ist von uns genommen, denn er ist gestorben und selbst der Leichnam ist ims entwendet: wir aber hofften: Er sollte Israel erlösen"; Etliche kommen und verkünden die unverbürgte Sage: Er lebe; Andere finden sich mit seiner imsichtbaren Wirksamkeit in der Gemeinde ab, sie lassen [XXI] sich an seiner Idee genügen, und legen der Gemeinde, der ganzen Menschheit, die Persönlichkeit —, die sie an Ihm, als Individuum vermissen, — wenigstens moralisch bei. Dieses ist recht eigentlich die Zeit, wo es will Abend werden imd der Tag hat sich geneigt. Die Meisten rufen aber noch immer: Bleibe bei uns! jedes in seiner Weise. Ganz will sich Ihn Keiner nehmen lassen: ganz wird er aber Keinem eher wieder geschenkt, bis endlich der Gottmensch im weiteren Verlauf des Gedankens nach seiner absoluten Persönlichkeit auch als Individuum sich von neuem offenbart. In der Zwischenzeit hält sich der Gedanke an die Gattung, deren Seele Er bleibt, an die Unsichtbarkeit dieser Seele, welche wenigstens an der Gemeinde ihren sichtbaren Leib hat. So kommt nach und nach wenigstens die Menschheit, als Gattung, näher als Gemeinde, zu einer Persönlichkeit durch Ihn und — — auf Seine Kosten; aber diese Persönlichkeit ist nur noch die gedachte, die moralische, die eben deswegen die mystische genannt wird. Zu ihrer [69]
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vollen Einheit und Wahrheit kommt auch die Menschheit nicht eher, bis sie in ihrem Haupte die absolute Individualität und Persönlichkeit, in ihrer Seele den an und für sich seyenden GottMenschen erkennt. Dieses ist der Weg durch die Wüste des Zweifels: vor ihr war Aegyptenland, nach ihr folgt das gelobte Land. So erkennt der Gedanke CHRISTUM [XXII] erst unmittelbar als historische Person, dann als die ideale, und zuletzt als beides zumal in voller Integrität. Mit seiner wirklichen Persönlichkeit erhält auch erst die Menschheit wieder ihr wirkliches Haupt, wie es der Staat erst in der Form der Monarchie mit dem Monarchen erhält. V. Diese Passagen des Votums enthalten GöSCHELS Argument in kompakter Form, ohne die spätere Aufblähung des Gedankengangs in den Beiträgen. Sein „Beweisgang" — eine bloße Analogie — ist von verblüffender Einfachheit. Ein erster Abschnitt beweist, daß CHRISTUS wirklich Person sei; der Gattung „Mensch" müsse eine „mystische" oder „moralische Persönlichkeit" zugesprochen werden, wie auch dem Staat. Am Begriff des Staates zeige sich aber, daß bei diesem Begriff der bloß moralischen Persönlichkeit nicht stehenzubleiben, sondern zur wirklichen Person fortzuschreiten sei: zum Monarchen. Ebenso müsse auch vom Begriff der bloß moralischen Persönlichkeit der Menschheit fortgeschritten werden zur wirklichen Person: zu CHRISTUS. Ein zweiter Beweisgang zeigt, welche Zusatzannahmen hierfür erforderlich sind, und welche zusätzlichen Probleme der Religionsphilosophie sich durch dieses Mythologem lösen lassen. Beweis der Personhaftigkeit CHRISTI mittels einer Analogie zum Politischen wäre abenteuerlich zu nennen und auch nur so zu behandeln, wenn er sich nicht auf Ausführungen der Rechtsphilosophie Hegels tmd auf die zu Beginn des oben mitgeteilten Abschnitts stehenden SiRAUssschen Erläuterungen berufen köimte. GöSCHEL knüpft an STRAUSS' Behaupttmg an, daß die Gattung selbst als Person zu begreifen sei. Wenn man diese Prämisse zugibt, so erscheint GöSCHELS Beweis nicht ohne Konsequenz. Wenn CHRISTUS „allgemeine Persönlichkeit", und die Gattung rücht nur Gattung, sondern „selbst als Person" zu fassen ist, so ist GöSCHELS Forderung billig, daß diese allgemeine Persönlichkeit der Gattung nur wiederum als Person wirklich sei. Doch diese Prämisse ist selbst unhaltbar; sie gehört in die Reihe der Halbheiten und Widersprüchlichkeiten, in die STRAUSS' spätere Erläuterungen und Neufassungen des Leben Jesu geraten. Diese Modifikation von STRAUSS' ursprünglicher Ersetzung des Einen Gottmenschen durch die Idee der Menschheit ist offenbar imter dem Druck der GöSCHELS
Vgl. C. F. Cöschel: Beiträge. 44 f.
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theologisch motivierten Insistenz auf „Persönlichkeit" erfolgt; sie läßt sich jedoch durch Berufung weder auf KANTS Bezeichnung der Menschheit als des vernünftigen Weltwesens überhaupt noch auf Hegels Begriff des Verhältnisses von Gattung und Exemplar rechtfertigen. Die Gattung „Mensch" erlangt Wirklichkeit nicht durch einen Urmenschen, nicht dadurch, daß ihr eine Ur-Person zugrundeliegt, sondern durch Erzeugen und Aufheben einzelner Menschen, durch Geburt und Tod. Es scheint zunächst unverständlich, daß GöSCHEL STRAUSS' neue Interpretation der Gattung als Person nicht einfach durch Rückgriff auf Hegels Logik und Naturphilosophie als unsinnig verworfen hat. Seine Intention schließt jedoch eine so taktierende Kritik aus, da sie nur den Übergang vom Gattungsbegriff zum Personbegriff zerstörte, den Gattungsbegriff aber als Interpretament der Christologie in Kraft ließe und somit all denen Recht gäbe, die Hegels Philosophie des Verrats an der Persönlichkeit Gottes beschuldigen. Für GöSCHELS Absicht bieten sich zwei Verfahren an: entweder die Verwendbarkeit des Gattimgsbegriffs generell zu bestreiten, wie SCHALLER dies etwas später getan hat; oder STRAUSS' Interpretation der Gattung als Person durch Einführung neuer Argumente so zu stabilisieren, daß allererst mittels des Gattungsbegriffs eine logische Begründung der Wirklichkeit des Gottmenschen — anstelle der durch STRAUSS in Frage gestellten historischen — erreicht wird. GöSCHEL wählt den zweiten Weg, da dieser — wenn er überhaupt gangbar wäre — dem ersten insofern überlegen wäre, als nur er es erlaubte, die Einmaligkeit des Gottmenschen festzuhalten, — wenn auch nicht mehr als historische. Zu diesem Zweck konzipiert GöSCHEL seine politische Christologie: einen Fundierungszusammenhang des rechts- und des religionsphilosophischen Begriffs der Persönlichkeit, des Monarchen der Menschheit und des Monarchen im Staate. GöSCHEL entwickelt hierfür kein völlig neues Modell; er greift zurück auf seine staatstheoretischen Ausführungen in den Zerstreuten Blättern. Dort hatte Die in den Beiträgen hier erfolgende Rückführung der Straußschen Christologie auf Kants Kritik der reinen Vernunft steht im Dienste des von Strauß teils schon beobachteten, teils vorausgeahnten Ballspiels: sie soll Strauß' Kritik auf dem Umweg über Kant dem Rationalismus zuwerfen. — Die als Zitat aus Kants Religionsschrift ausgezeichnete Passage der Beiträge orientiert sich nicht am Original (vgl. Akademie-Ausgabe. Bd 6.60), sondern an Strauß' Paraphrase (Leben Jesu. Bd 2. 722). — Es ist eine bisher nicht hinreichend erhellte Eigentümlichkeit, daß sowohl Strauß als Feuerbach die Einführung des Gattungsbegriffs durch Rekurs auf Kant motivieren. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 12.189—191, insbesondere 190: „Die Gattung ist nun zwar die Vollendung der Idee des Lebens, aber zunächst ist sie noch innerhalb der Sphäre der Urunittelbarkeit; diese Allgemeinheit ist daher in einzelner Gestalt wirklich; der Begriff, dessen Realität die Form unmittelbarer Objectivität hat. Das Individuum ist daher an sich zwar Gattung, aber es ist die Gattung lücht für sich". Vgl. ferner Enzyklopädie (1830). §§ 220—222, §§ 367—376. — Den Beiträgen (54 Fußnote) ist zu entnehmen, daß Göscheis gänzlich unhegelsches Modell einer Einpflanzung des Urmenschen in die Gattung an J. H. Pabst: Adam und Christus. Zur Theorie der Ehe (Wien 1835) orientiert ist.
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er den. Staat als moralische Person interpretiert und sich mittels einer Analogie zur „physischen Person" der traditionellen Haupt-Leib-Symbolik bedient. Doch dient diese Interpretation zur Unterstreichung des Geist-Charakters des Staates, der sich etwa darin manifestiert, daß im Staate nicht wie im natürlichen Organismus jedes Glied unverrückt an seiner Stelle zu verharren habe (II, 118 f), oder darin, daß der Staat wie die Persönlichkeit „zu der successiven, selbstthätigen und selbstbewußten Entwicklung seines gegebenen Inhalts bestimmt" sei (II, 112); sie dient hier zunächst noch nicht dem Nachweis, daß diese juristische Persönlichkeit. des Staates in Einer Person Wirklichkeit erlangen müsse. Diese Pointe findet sich erst zwei Jahre später im Votum, im Kontext des traditionellen Theologems des corpus mysticum CHRISTI. GöSCHELS politische Theologie verdankt sich insofern keineswegs einer bloßen Übertragung rechtsphilosophischer Erörterungen auf einen religionsphilosophisdien Zusammenhang. Die moralische Persönlichkeit des Staates wird erstmals im Zusammenhang der politischen Christologie restriktiv so ausgelegt, als erfordere ihr Begriff die Eine wirkliche Person des Monarchen. Dies relativiert auch die eigentümliche Umkehrung des traditionellen Fxmdierungszusammenhangs der politischen Theologie: GöSCHEL begründet die Persönlichkeit des Gottmenschen mittels einer Analogie zu der des Monarchen. Für ihn bildet die Realität des monarchisch verfaßten Staates das verläßliche Fundament, auf dem sich der Bau der Christologie erheben kann, — eine Konsequenz des langjährigen religionsphilosophischen Streits um die Persönlichkeit Gottes und die SxRAUsssche Christologie. Die zum Fundierungszusammenhang erhobene Analogie bleibt aber gegen den jeweils gewählten Richtungssinn gleichgültig. Wie man in der religionsphilosophischen Auseinandersetzung die Persönlichkeit des Gottmenschen gestützt auf den wirklichen Monarchen begründen konnte, so wenig später — gegenüber republikanischen Bestrebungen — die monarchische Verfassung durch Berufung auf das monarchische Haupt der Menschheit. Es liegt Ln der Konsequenz der Leerheit dieses Zusammenhangs, daß man zu Beginn der 1840er Jahre in entgegengesetzter Absicht argumentieren konnte: weil wir — politisch — Republikaner sind, so müssen wir — theologisch — Pantheisten oder Atheisten sein. Da GöSCHEL seine Fassung des Verhältnisses von Menschheit und Gottmensch nicht auf Hegels Begriff der Gattung stützen kann, so liegt eine Voraussetzung der Stimmigkeit seiner politisch-theologischen Analogie in der erstmals in diesem Kontext gezogenen Folgerung von der Persönlichkeit des Staates auf die wirklidie Person des Monarchen. Hier jedoch glaubt GöSCHEL sich auf dem sicheren Boden des Systems: „Die Subjektivität aber ist in ihrer Wahrheit nur als Subjekt, die Persönlichkeit nur als Person."*^ MARX hat gezeigt, daß aus dem Beginn von Rechtsphilosophie § 279 lediglich zu folgern sei, daß die Souveränität des Staates als viele Personen, Subjekte existieren müsse, imd GöSCHEL hätte dem in den Zerstreuten Blättern (1835) zumindest insoweit zustimmen Hegel: Rechtsphilosophie. § 279.
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können, daß die Person, in der die moralische Persönlichkeit des Staates Wirklichkeit gewinnt, nicht notwendig Ein Monarch zu sein brauche, sondern eben die Instanz sei, die der Träger der Subjektivität des Staates sei, — d. h. der die Entscheidungsgewalt und auch die Gesetzgebungskompetenz zukomme. Fraglich ist aber der Grund für Hegels Restriktion vieler möglicher Personen auf den Einen Monarchen. Wenn man sie theologisch motiviert sieht, so ist GöSCHELS politische Theologie als Ausarbeitimg eines bei Hegel nur angelegten Zusammenhangs zu rechtfertigen. Bereits MARX hat, wie erwähnt, die Restriktion der Wirklichkeit der Subjektivität auf Ein Individuum in Hegels Absicht begründet gesehen, „den Monarchen als den wirklichen ,Gottmenschen', als die wirkliche Verkörperung der Idee darzustellen". Doch die fraglos vorhandenen Anklänge des Begriffs des Monarchen an den des Gottmenschen — Selbstbestimmung, Anfängen aus sich usw. — gründen darin, daß Hegel den Begriff des Monarchen aus dem der Persönlichkeit entwickelt. In der vermittelten Weise, daß das Prinzip der Subjektivität für Hegel das welthistorische Prinzip des Christentums bildet, ist die Ableitimg des Monarchen fraglos vom christlichen Prinzip bestimmt, — nicht aber durch eine unmittelbare Parallelisierung oder gar Begründung des Monarchen durch den Gottmenschen. Obgleich GöSCHELS politisch-theologische Analogie durch den Text von Rechtsphilosophie § 279 nicht gestützt wird, so ist MARX doch ein Zeuge dafür, daß GöSCHELS Interpretation sich — zumindest seit STRAUSS — aufdrängte. Zu den Sätzen Hegels, mit denen GöSCHEL in den Beiträgen (60, Fußnote) seine politische Theologie legitimiert, bemerkt MARX: „Also weil die Subjektivität nur als Subjekt und das Subjekt nur als Eins, ist die Persönlichkeit des Staats nur als eine Person wirklich. Ein schöner Schluß. Hegel könnte ebensogut schließen: weil der einzelne Mensch ein Eins ist, ist die Menschengattung nur ein einziger Mensch." Eben diesen Schluß zieht GöSCHEL: die Gattimg ist wirkliche Person, — als Urmensch. Während GöSCHEL in diesem ersten Gang zunächst nur behauptet, daß es der Gattung notwendig sei, in einer Person Wirklichkeit zu erlangen, so sucht er ferner die näheren Bedingungen zu umreißen, rmter denen eine solche Wirklichkeit der Gattung gedacht werden müsse. Auch hierbei stützt er sich wiederum auf die Analogie zum Politischen. Wenn die Persönlichkeit des Staates Wirklichkeit hat in der Person des Monarchen, und analog hierzu über die bloße Persönlichkeit der Menschheit hinausgegangen werden soll, so wird diese Analogie ja durch die Annahme einer Sukzession von Monarchen der Menschheit keineswegs gesprengt. In diesem Falle läge die Wirklichkeit der Menschheit in aufeinanderfolgenden „welthistorischen Individuen". Dann aber wäre die Analogie für GöSCHEL ohne jeglichen Beweiswert, da auch STRAUSS mit Hegels K. Marx: MEW. Bd 1.225. K. Marx: MEW. Bd 1. 228. — R. Maurer, 404 f Anm. 48, verteidigt Hegels Schluß von der Persönlichkeit auf die Person gegen Theunissen als „Vernunftargument".
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Gedanken der welthistorischen Individuen sympathisiert. Andererseits darf die vom Begriff gesicherte Einzelheit auch nicht die des historischen Gottmenschen sein, — denn dieser ist gestorben, und aus der Notwendigkeit seines Todes leiteten ja die Linke und das Zentrum die Auferstehung des Gottmenschen in den Geist bzw. in die Gemeinde ab. Die zur spekulativen Widerlegung von SxRAUss erforderliche Konzeption sieht GöSCHEL erst im Gedanken einer „Urmenschheit" CHRISTI gegeben, die alle Menschheit umfasse; ihr ebensowohl vorhergehe als nachfolge. Eine Rückübersetzung dieses zunächst mit Hilfe der politischen Analogie gewonnenen, jedoch ohne jegliche Stütze seitens der Hegelschen Philosophie weiterentwickelten Modells ins Politische führte zu absurden Konsequenzen. Gleichwohl verzichtet GöSCHEL nicht darauf, sowohl politische als christologische Aussagen daraus abzuleiten. Die Analogie mit CHRISTUS entfaltet sogleich politisch stabilisierende Konsequenzen, die GöSCHELS frühere Abgrenzung gegenüber der legitimistischen Theorie des Monarchen einebnen: wie der Monarch der Menschheit auch dann Monarch bleibe, wenn er nicht von allen anerkannt werde, so werde der Monarch des Staates durch eine etwaige Empörung keineswegs in seiner monarchischen Würde verletzt. Von seinen Untertanen sei der Reichsfürst „so tmabhängig als der Schöpfer von der Schöpfung", — und der Urmensch von der Menschheit. Andererseits erklärt die Analogie, weshalb die Monarchie der Menschheit noch nicht vollendet ist. Obgleich der Monarch eines Staates schon für sich Person sei, müsse doch sein Staat erst von dieser Persönlichkeit durchdrungen werden, um zur Vollendung zu gelangen. Ebenso sei der Urmensch für sich vollendet; es bedürfe aber noch dieser organischen, persönlichen Durchdringung der Menschheit, um sie zur Vollendung zu führen, — und dies sei es, was manchem Kritiker den Gott der Hegelschen Religionsphdosophie als in statu nascendi befangen erscheinen lasse. Aber dieser gegenwärtige Zustand des Unvollendetseins der Monarchie der Menschheit müsse — Ln striktem Gegensatz zu STRAUSS, und nicht minder zu Hegel — gegenüber Urzeit und Endzeit als bloß vorübergehende Phase der „Differenz" verstanden werden. Selbst deren endzeitliche Aufhebung erläutert GöSCHEL noch mittels der politischen Analogie: „Mit seiner wirklichen Persönlichkeit erhält auch erst die Menschheit wieder ihr wirkliches Haupt, wie es der Staat erst in der Form der Monarchie erhält." Die Vollendung also hat die Monarchie, das irdische Analogon, der endzeitlichen Königsherrschaft des Urmenschen voraus, und darauf beruht ihre Dignität. “ P. Cornehl, 212, hat aufgrund einiger Passagen der Zerstreuten Blätter bemerkt, daß Göscheis „Einführung der Eschatologie verbunden ist mit einer Restriktion des Freiheitsimpulses". Göscheis politische Christologie bestätigt diesen Befund der aus der Einführimg futurischer Eschatologie entspringen Konsequenzen, auch wenn man die Differenzen zwischen seiner Konzeption und dem Zentrum nicht aus einer Differenz von futurischer und präsentischer Eschatologie erklärt und die Wirklichkeit des Absoluten nicht als Präsenz eines Eschaton versteht.
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VI. politische Christologie markiert den Übergang von der im wesentlichen religionsphilosophischen Diskussion der beginnenden 1830er Jahre zu den rechtsphilosophischen und politischen Auseinandersetzungen um 1840. Sie vollzieht diesen Schritt aber nicht in der äußerlichen Weise BRETSCHNEIDERS, der Hegels Philosophie wegen ihrer angeblich für die öffentliche Moral bedrohlichen Konsequenzen bekämpft, und auch nicht in der denunziatorischen Weise LEOS, der dem linken Flügel der Schule bewußte Unterwanderung der staatlichen Ordnung vorwirft und das Einschreiten des Staates fordert. Sondern sie sucht Hegels Philosophie dem Ministerium dadurch zu empfehlen, daß sie eine inhaltliche Identität der religions- und der rechtsphilosophischen Argumentation im Begriff der Persönlichkeit aufweist, die allein der spekulativen Philosophie denkbar sein soll. ALTENSTEINS Reaktion auf GöSCHELS Votum ist leider nicht mehr zu rekonstruieren. Seine außerordentlich schwer zu entziffernden Notizen zum Votum verdeutlichen nur den Gang des Arguments, geben aber keinen Aufschluß über Zustimmung oder Kritik. In der Schule aber haben GöSCHELS Beiträge ein nur geringes und durchweg kein positives Echo gefunden. Der Hallische Rezensent, den man dem Zentrum zurechnen darf, beurteilt GöSCHELS frühe Schriften freundlich, wie auch ROSENKRANZ; den Beiträgen steht er jedoch sehr reserviert gegenüber, und auf die in ihnen allerdings auch rein quantitativ verschwindende politische Theologie geht er nicht eigens ein. JULIUS FRAUENSTäDT dagegen — damals noch zum weiteren Kreis der Schule gehörig — wirft GöSCHEL vor, daß sein orthodoxes Gerede die Perlen der Philosophie beschmutze. Aber auch bei einem der Rechten angehörenden Schüler wie dem rheinhessischen Pfarrer KASIMIR CONRADI stößt GöSCHELS Spekulation über Urmenschheit und Monarchie auf Ablehnung. CONRADI unterscheidet zwei mögliche Reaktionen der Schule auf STRAUSS' Leben Jesu: deren eine — offenbar repräsentiert durch GöSCHELS Beiträge, auch wenn diese nicht namentlich genannt werden — „geht in ihrem Bestreben, die logischen Kategorien mit den kirchlichen Lehrbestimmungen in Einklang zu bringen, bis zu der ungeheuren Consequenz fort, dem logischen Begriff der Persönlichkeit die Macht beizulegen, seine Realität aus sich selbst zu erzeugen, indem sie dem Dogma von der Präexistenz CHRISTI die Lehre von einer Urmenschheit und einem Urmenschen, einer Urpersönlichkeit und einem Urselbst substituirt." Im Anschluß hieran fragt CONRADI sich, wem eigentlich mit einer solchen Lehre gedient sei: der Kirche nämlich ebensoGöSCHELS
Vgl. K. Rosenkranz; Kritische Erläuterungen des Hegel'schen Systems. 348 ff.
7. Frauenstädt, 51. “ K. Conradi: Christus in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Drei Abhandlungen, als Beiträge zur richtigen Fassimg des Begriffs der Persönlichkeit. Mainz 1839. VIII.
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wenig wie der Philosophie. Es kennzeichnet sowohl CONRADIS Schrift wie einige ähnliche Publikationen dieser Jahre, daß sie nicht die Antwort finden, daß eine solche fragwürdige Lehre eben zur wechselseitigen Stützung eines restaurativen Staates und eines orthodoxen Christentums entworfen sei. Sie wirken deshalb wie ein bedeutungsloser Nachhall des religionsphilosophischen Streits der frühen 1830er Jahre, über den jedoch die Diskussion längst hinweggeschritten ist. Dennoch ist es nicht erst GöSCHEL, der den engen Fundierungszusammenhang religions- und rechtsphilosophischer Theoreme formuliert. Er hat in dieser Hinsicht einen Vorgänger in FRIEDRICH JULIUS STAHL. Bereits 1830 begnügt STAHL in seiner eng an den späten SCHELLING angelehnten Rechtsphilosophie sich nicht damit, das Fehlen des Moments der Persönlichkeit in Hegels Gottesbegriff lediglich in eine Kritik des Hegelschen Pantheismus einmünden zu lassen, wie dies die meisten Zeitgenossen getan haben. Er stößt in dieser Perspektive zu einer prinzipiellen Kritik der bisherigen rechtsphilosophischen Konzeptionen vor, insbesondere der Hegels: die Probleme der Rechtsphilosophie seien ohne Voraussetzung der Persönlichkeit Gottes gar nicht auflösbar. Dieser prinzipiellen Kritik gegenüber erscheinen die anderen Einwände gegen Hegels Rechtsphilosophie — gegen seine Lehre von der Constitution einerseits, seine Deduktion der Erbmonarchie und des Majorats andererseits — als nebensächlich. STAHLS Begründimg für dieses Erfordernis eines persönlichen Gottes ist allerdings ebenso einfach wie unhaltbar. Aller Wechsel setze Einheit voraus, alle Beschränktheit Totalität. Allem Wechsel und Beschränktheit voraus liege die Einheit des Selbstbewußtseins, die Einheit der Persönlichkeit: „Persönlichkeit ist der Zauber der Einheit, den kein Wechsel zerstört." Die Übertragung dieses Modells nötige zum Begriff des persönlichen Gottes: ist das Universum „ein Mannichfaltiges und Veränderliches, so muß das Wechselnde in ihm gleichfalls einem Subjekte zukommen, das von ihm unabhängig besteht. Ist nur der Selbstbewußte ein solches Subjekt, so kann die Einheit auch in ihm (sc. dem Universum) nur der persönliche Gott seyn." Dieser persönliche Gott ist für STAHL nicht bloß der Grund, an dem aller Wechsel offenbar wird, sondern als Prinzip der Einheit zugleich Prinzip eines systematischen Geordnetseins: „Wir streben nur darum alles systematisch zu machen, weil Gott persönlich ist." Deshalb gründe auch die Einheit des Staates letztlich in der Einheit des persönlichen Gottes: „Der Staat soll auch eine Einheit seyn, er soll äußerlich darstellen, was Gott innerlich ist, die Einheit der Persönlichkeit." Die Verfassung aber, in der diese göttliche Ein-
“ F. 7. Stahl: Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht. Bd 1. Heidelberg 1830. 362. Ebd. 323 bzw. 324. Vgl. 327: die bestehende Mannigfaltigkeit der Schöpfung sei denkbar allein „durdi ein von allen Beschaffenheiten freyes Subjekt, d. h. durch einen persönlichen Gott". — Vgl. vom Verf.: Staat aus christlichem Prinzip und christlicher Staat. Zur Ambivalenz der Berufung auf das Christentum in der Rechtsphilosophie Hegels und der Restauration. In: Der Staat. 1979. H. 3.
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heit des Staates allein verwirklicht sein kann, ist ihm die Monarchie. Der wahrhafte Staat muß also christlich sein, da nur das Christentum den persönlichen Gott kennt, und er muß monarchisch verfaßt sein. Die gleichsam schuloffizielle Antwort auf STAHLS Rechtsphilosophie aus dem christlichen Prinzip hat bekanntlich FEUERBACH erteilt. Die zweite Antwort jedoch — noch vor MICHELETS Rezension der letzten Abteilung von STAHLS Rechtsphilosophie — bildet GöSCHELS Votum. Denn bis hin zu STRAUSS wird die Persönlichkeit Gottes in der engeren Schule nicht explizit bestritten; erst STRAUSS' Uminterpretation der Christologie beseitigt ineins mit der Person CHRISTI auch die Persönlichkeit Gottes. In der Perspektive der restaurativen Staatsphilosophie zerstört somit STRAUSS' Leben Jesu die Grundlagen der christlichen Monarchie. GöSCHELS Bedeutung liegt darin, daß er diese eminent politischen Konsequenzen des Leben Jesu erkannt hat. Sein Votum sucht deshalb die von STAHL festgelegten Kriterien implizit zu erfüllen und so zu beweisen, daß die spekulative Philosophie Hegels eine verläßliche Grundlage für Staat und Kirche bilde. Er bedient sich hierin der gleichen Taktik wie im Streit mit dem jüngeren FICHTE um die Persönlichkeit Gottes: auf Forderungen des Gegners an Hegels Philosophie antwortet er mit der überraschenden Feststellung, daß die spekulative Theologie Hegelscher Prägung eben diese Forderung bereits erfülle, und zwar weit besser erfülle als andere Konzeptionen. Sein Versuch, die Kritik an STRAUSS SO ZU formulieren, daß einerseits die erwünschten spekulativen Elemente von STRAUSS' Position aufgenommen, andererseits die Kriterien der restaurativen Staatsphilosophie dennoch berücksichtigt werden, führt GöSCHEL ZU seiner abstrusen politischen Theologie, — zum Versuch, die Persönlichkeit CHRISTI zuerst mittels der politischen Analogie zu beweisen und sodann die Desiderate der Rechtsphilosophie von der so begründeten Christologie aus einzulösen. Wenige Monate nach Erscheinen der Beiträge hat K. E. SCHUBARTH nochmals die politischen Implikationen der spekulativen Religionsphilosophie gegen Hegels System aktualisiert. Wie STAHL und GöSCHEL, SO verbindet sich auch ihm „der F. 7. Stahl; Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht. Bd 2, Abt. 1. Heidelberg 1833. 5. — Zu Stahls Formulierung des monarchischen Prinzips vgl. E. Kaufmann: Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips. Leipzig 1906. 53 ff; und H. O. Meisner: Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes. Breslau 1913. 298 ff. “ In der Rezension von Stahls Rechtsphilosophie, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. Juli 1835. Nr 1 ff. Sp. 1—20; vgl. L. Feuerbach: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. E. Thies. Frankfurt am Main 1975. Bd 2. 25 ff. Selbst Göschels Beweisführung erinnert gelegentlich an die Stahls. Vgl. Votum, XXIII; Beiträge. 70: „Und weil demnach das Menschengeschlecht objektiv nicht bloß eine Pluralität, sondern eine Einheit und Totalität schon ist, und diese eine Ureinheit und Urtotalität, diese Urtotalität eine Urpersönlichkeit ist, die Urpersönlichkeit ein Individuum voraussetzt, so erweiset sich auch dieses Individuum als der Urmensch, durch welchen das Menschengeschlecht von Anfang an objektiv die Menschheit ist, die es werden soll."
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Begriff der reinen Monarchie ... mit dem höchsten Begriffe, den der Protestantismus erweckt und geschaffen, nämlich mit dem der Persönlichkeit". Wer an der Persönlichkeit Gottes festhalte, müsse dies auch an der Persönlichkeit im Staate, und das heißt, am absoluten Monarchen. Die Umkehrung legt sich nahe: wer, wie Hegel, Gottes Persönlichkeit verleugne, lasse notwendig die Monarchie fahren. SCHUBARTH stützt sich ebenfalls auf ein zusätzliches, oben schon bei BRETSCHNEIDER erwähntes Argument zur Stabilisierung des politisch-theologischen Fundienmgszusammenhangs: Hegel kenne nicht nur keinen wahrhaft persönlichen Gott, sondern lasse von der Persönlichkeit zuletzt gar nichts übrig, „so daß die Persönlichkeit durch Aufhebung der individuellen Unsterblichkeit am Ende aufhört". Auch hierin sieht er den Mangel der religionsphilosophischen Grundlegung der politischen Theorie, der sich „im Staatlichen durch die Beschränktmg der fürstlichen Persönlichkeit und ihrer Wirksamkeit" auswirke. GöSCHELS politische Theologie bildet zweifellos die exponierteste rechtshegelianische Konzeption einer politischen Philosophie. Es wäre deshalb zwar unrichtig, sie als die spezifisch rechtshegelianische Form der Staatstheorie auszugeben. Sie zerstört jedoch das einheitliche Bild einer gemäßigt-monarchischen oder gar liberalen Staatsphilosophie der Rechten. Es muß gegenwärtig dahingestellt bleiben, ob auch v. HENNINGS Vorlesungen über Preussisches Staatsrecht derart restaurative Konsequenzen ziehen. Das im Nachlaß ALTENSTEIN enthaltene Konzept seiner Vorlesungen sowie sein späteres Votum zur preußischen Verfassimgsfrage lassen dies vermuten. Die von der Forschung bisher nicht berücksichtigten Konzeptionen GöSCHELS geben zugleich Aufschluß über den Prozeß der Zersplitterung der Schule in Fraktionen und über die Verschiebung des Gewichts von der religionsphilosophischen Thematik auf die Rechtsphilosophie. Nicht ohne Recht hat CORNEHL aufgrund des ersten Bandes der Zerstreuten Blätter (1832) GöSCHEL zum „Verteidiger der politischen Restauration" erklärt. Bemerkenswert an GöSCHELS K. E, Schubarth; Über die Unvereinbarkeit der Hegelsdien Staatslehre. In: M. Riedel (Hrsg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd 1. 249 f. Ebd. 253; vgl. F. J. Stahl, Bd 1, 304 und K. G. Bretschneider: Die Theologie und die Revolution. 172 f. K. E. Schubarth; Über die Unvereinbarkeit der Hegelsdien Staatslehre. 253 f. — Deutlicher noch als die anderen Kritiker Schubarths hat I. Ogienski den Zusammenhang der religions- und rechtsphilosophischen Diskussion über den Persönlichkeitsbegriff aufgedeckt und Schubarth wegen dessen inkorrekter Anknüpfung am religionsphilosophischen Begriff vorgeworfen, daß er von der religionsphilosophischen Debatte ausgehe, ohne ihre Hauptschriften zu kennen. Vgl. I. Ogienski; Hegel, Schubarth und die Idee der Persönlichkeit in ihrem Verhältniß zur preußischen Monarchie. Trzemeßno 1840. 44 f (Fußnote), 64 (Fußnote). Aus der Insistenz auf dem Persönlichkeitsbegriff müßte nach Ogienski nicht ein legitimistisches Verständnis des Monarchen folgen, sondern die Einsicht in den notwendigen Zusammenhang von Constitution und bürgerlicher Freiheit sowie von Persönlichkeit des Monarchen und der Regierten. 6^ P. Cornehl, 211.
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damaliger Konzeption ist jedoch nicht, daß sie den Geist der Reaktion atmet, sondern daß seine durchaus konservative Position noch bewußt gegen die eigentliche Staatsphilosophie der Restauration, gegen den Legitimismus entworfen ist. Seine Interpretation des Zusammenhangs zwischen Allgemeinem Landrecht und Hegels Rechtsphilosophie steht zunächst in weitgehender Übereinstimmung mit der „fortschrittlichen" Auslegung der Rechtsphilosophie durch EDUARD GANS. Noch 1835 zieht GöSCHEL aus der traditionellen Analogisierung des Staates mit dem physischen Leib nicht einmal Hegels Konsequenz, daß der wahrhafte Staat ein monarchisches Haupt tragen müsse, sondern allein die, daß überhaupt eine Entscheidungsinstanz vorhanden sein müsse, — sei es auch nur ein nach Majorität entscheidendes Gremium. Die aus der Staat-Leib-Analogie gewonnene Interpretation des Staates als moralischer Persönlichkeit steht zunächst noch in striktem Gegensatz zur legitimistischen Theorie des Monarchen, die hierdurch das Gottesgnadentum des Herrschers verletzt sieht. GöSCHELS Folgerungen aus dem Begriff der moralischen Persönlichkeit sind durchweg seiner späteren politischen Christologie entgegengesetzt. Im Begriffe der moralischen Persönlichkeit ist die Subjektivität des Staates gefaßt, die sich in der Weiterbüdimg der politischen Inhalte manifestiert, somit auch in dem von SAVIGNY bestrittenen Berufe zur Gesetzgebung. Erst die religionsphilosophische Kontroverse um die Persönlichkeit CHRISTI treibt GöSCHEL zur Revision seines Standpunkts, auf die Seite der legitimistischen Staatstheorie, die das Prinzip der Persönlichkeit allein in der geheiligten Person des Monarchen erfüllt sieht und diesen Monarchen nicht mehr als denjenigen versteht, der als Haupt eines Leibes den allgemeinen Willen artikuliert, sondern den Monarchen in seiner ihm eigentümlichen Würde als so unabhängig vom Staate sieht wie den Urmenschen von der Menschheit. Die Geltimg der Hegelsdien Rechtsphilosophie ist nicht durch die spätere Kritik der Linkshegelianer untergraben worden, sondern durch die restaurative Staatstheorie, — längst bevor es eine radikale Linke gab. Die seit SCHUBARTHS und STAHLS Polemik (1829 bzw. 1830) erkennbare konservative Kritik konnte sich gegen Hegels Rechtsphilosophie jedoch nicht durchsetzen, so lange die spekulative Religionsphilosophie, wenn auch nicht unbestritten, als Formulierung des christlichen Prinzips gelten konnte. Werm sie das Christentum zu befestigen vermochte, so konnten ihre politischen Konsequenzen so revolutionär nicht sein. Hegels Rechtsphilosophie ließ sich von konservativer Seite erst wirksam bekämpfen, als sich die Ansicht verfestigte, daß seine Religionsphilosophie nicht
“ Vgl. Zerstreute Blätter. Bd 1. 549 ff. — Zur Interpretation der Rechtsphilosophie durch Gans vgl. M. Riedel: Hegel und Gans. In: Natur und GesMchte. Festschrift für Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Stuttgart 1967. 257—273; sowie in diesem Band
K. R. Meist: Altenstein und Gans. Zerstreute Blätter. Bd 2. 112 ff.
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mit der Landesreligion übereinstimme. Dieser Zeitpunkt war mit STRAUSS' Leben Jesu erreicht. Eine Religionsphilosophie, die Christus durch die Menschheit ersetzte, konnte politisch allenfalls dem Republikanismus das Wort reden. Die konservativen Verteidiger der Hegelschen Philosophie, wie GöSCHEL, waren durch die Angriffe auf die Religionsphilosophie zu einer immer orthodoxeren Auslegung genötigt, die sie schließlich selbst im Lager der Restauration wiederfinden läßt. Seine eigentliche Karriere machte GöSCHEL denn auch nicht während der Ära ALTENSTEIN, sondern imter dessen Nachfolger EICHHORN, dessen Legitimismus er zuvor bekämpft hatte. GöSCHELS politische Christologie leistete ungewollt Hegels Gegnern Vorschub, insofern sie die Kriterien einer zureichenden religionsphilosophischen Fundierung rechtsphilosophischer Aussagen in einer so reaktionären Weise formulierte, daß sie zwar Hegels Gegner — SCHUBARTH und STAHL — erfüllten, Hegels Philosophie wie auch dem Großteil der Schüler jedoch nicht einlösbar waren. Eine Konsequenz der politischen Theologie war die implizite Anerkennung der legitimistischen Auslegung des Verhältnisses von Thron und Altar sowie insbesondere des Persönlichkeitsbegriffs. Indessen konnte GöSCHELS Interpretation Hegels Philosophie im Kreise der Restauration ebensowenig empfehlen, wie zuvor seine Ableitung der Persönlichkeit Gottes und Unsterblichkeit des Menschen gegenüber dem spekulativen Theismus. Hegels Gegnern war es hinreichend deutlich, daß die spekulative Philosophie die ihr von der politischen und theologischen Orthodoxie gestellten Kriterien nicht zu erfüllen vermochte. GöSCHELS Argumente bekräftigten indessen implizit die Legitimität der restaurativen Forderimgen nach christlicher Fundierung des Staates, insonderheit des monarchischen Prinzips, und sind darin mitverantwortlich für die wenig später gezogenen reaktionären Konsequenzen. Als mit dem Ende der Ära ALTENSTEIN (1839) das Bündnis der staatlichen Kulturpolitik und der Hegelschen Philosophie zerfiel und statt dessen die restaurative Staatstheorie den Charakter des Privaten verlor und zur Selbstdarstellung des Staates avancierte, wandten sich notgedrungen alle diejenigen von dem so verstandenen preußischen Staat ab, die sich von der philosophisch-politischen Vernimft des mm offiziellen Prinzips eines christlichen Staates nicht zu überzeugen vermochten, sondern in ihm die gänzliche Preisgabe aller auf Vernunft begründeten Staatstheorie erblickten.
Vgl. das Wort Schopenhauers, das “R. Maurer seinen Ausführungen über Hegels politischen Protestantismus vorangestellt hat (383 f). 68 Feuerbachs Gereiztheit gegenüber der restaurativen Forderung nach einer „christlichen Philosophie" wie nach einem „christlichen Staat" bezeugt dies ebenso deutlich wie Gans' ironische Sdilußwendxmg gegen Schubarths Formulierung des Lebensprinzips des preußischen Staates: „glückliches Österreich".
WOLFGANG KÜNNE (HAMBURG)
HEGEL ALS LESER PLATOS Ein Beitrag zur Interpretation des Platonischen „Parmenides"
Hegel hat den Parmenides — genauer: den zweiten Teil dieses Dialogs — als „das größte Kunstwerk der alten Dialektik" (Phän. 57) gepriesen. ^ Während der Parmenides in der Epoche des Rationalismus eigentlich nur noch von Philosophiehistorikem registriert worden war, ^ hat Hegel ihn dem philosophischen Bewußtsein seiner Zeit erschlossen. Dem Bewußtsein der Nachfahren droht er ihn eher zu verschließen. TRENDELENBURG schreibt in seinen Logischen Untersuchungen (1840), welche die im Bereich der Universitätsphilosophie des neunzehnten Jahrhxmderts wohl wirksamste Hegel-Kritik auf dem Boden eines erneuerten ARiSTOTELismus formxilieren: „Wenn sich die formale Logik unter den Schutz des ARISTOTELES stellt, so hat die dialektische Methode in PLATOS Parmenides ihr Urbild gesucht" (99 f). Er meint damit primär Hegel und bestimmt dann auch „Ähnlichkeit" und „wesentlichen Unterschied" auf eine Weise, die den Einfluß Hegels verrät. Aber auch PROKLOS ist angesprochen, — jener „letzte matte Atemzug" der griechischen Philosophie, der in Hegel eine verhängnisvolle Wiederbelebimg erfahren habe (89). ® Wenn der Hegelianer KARL ROSENKRANZ auf den „Zusammenhang des begriffseifrigen Schwaben mit dem schönredenden Griechen" aufmerksam macht, so klingt das schon apologetisch (Ros. 105). Vielleicht sind auch in der Kritik an Hegels (eingestandenermaßen vom Parmenides mit-inspirierter) Konzeption einer spekulativen Logik unterschwelhge Motive dafür zu suchen, daß beispielsweise FRIEDRICH 1 Hegels Schriften werden mit folgenden Abkürzungen zitiert: Phän. = (Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1952; Ll/Lz = Wissenschaft der Logik. Bdl und 2. Hrsg, von G. Lasson. Leipzig 1934; Enz. = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften; die Angabe von Band und Seitenzahlen verweist auf die Ausgabe der „Freunde des Verewigten", Berlin 1832 ff; Ros. = K. Rosenkranz: C. W. F. Hegels Leben. Berlin 1844. * Nur Leibniz scheint hier eine Ausnahme zu machen: vgl. Philosophische Schriften. Hrsg. v. Gerhardt. Bd 4.176. ä Vgl. auch Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. 1844. §29: Hegel, ein „deutscher Proclus".
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WOIFGANG KÜNNE
diesen Dialog athetieren wollte; jedenfalls hat UEBERWEG der Hegel-Kritik TRENDELENBURGS begeisterten Beifall gespendet. ^ Die Folgen der Kritik, die MOORE und RUSSELL am englischen Hegelianismus geübt haben, sind zu spüren, wenn CORNFORD in seinem bedeutenden Parmenides-Kommentar zu Hegels Interpretation nur noch beiläufig bemerkt: „Unfortunately he declared that half of his own logic was to be found in the Parmenides.” ® Es gilt hier bereits als ausgemacht, daß die Ähnlichkeit trügerisch sein muß, wenn PLATOS Dialog ernsthafte Aufmerksamkeit verdienen soll. Nur wer die Hegelsche Logik für ein zumindest diskussionswürdiges, also auch im Falle des Scheiterns noch lehrreiches LFntemehmen hält, wird in Hegels Anknüpfung an PLATO eine für das Verständnis beider Seiten erhellende Konstellation sehen. ® In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie stellt Hegel den Parmenides, den Timaios und die Politeia als die exemplarischen Dialoge vor. Sie machen in seinen Augen „zusammen den ganzen Körper der PLATONischen Philosophie aus", so daß ihre Differenz der systematischen Interpretation eine triadische Ghederung gibt: 1. „Dialektik, welche sich in reinen Begriffen bewegt", 2. „Naturphilosophie" und 3. „Philosophie des Geistes" (Bd 14. 222). Damit ist schon angezeigt, welches der Ort der Prämissen der Hegelschen Parmenides-Deutung ist: die Wissenschaft der Logik. Welcher Art sind die Begriffe, mit denen und an denen der von Hegel gepriesene zweite Teil des Parmenides arbeitet? Inwiefern sind sie „rein"? Die fraglichen Begriffe werden im ersten Teil des Dialogs schon eingeführt. Es sind Bestimmungen von der Art, wie sie ZENO in jener Schrift verwendet hat, die SOKRATES im ersten Stadium des Dialogs kritisiert: Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Einheit und Vielheit, Ruhe und Bewegimg (129 DS—El; vgl. 130 B5, Phaedr. 261 B). PARMENIDES fügt schließlich noch einige Bestimmungen hinzu: Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein (136 B6). Die Reinheit dieser Begriffe besteht — so könnte man sagen — in ihrer Themenindifferenz: Ihre Anwendbarkeit ist unabhängig davon, welcher Bereich imserer Erfahrung thematisch ist. „Die Logik", schreibt Hegel in der Enzyklopädie, „ist der allbelebende UEBERWEG
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F. Ueberweg: System der Logik und Geschichte der logischen Lehren. Bonn
1868. 204, 218. ® F. M. Cornford: Plato and Parmenides. London 1939. VI. ® H. G. Cadamer: Hegel und die antike Dialektik. In: Hegel-Studien. 1 (1961); R. Wiehl: Platos Ontologie in Hegels Logik des Seins. In: Hegel-Studien. 3 (1965).
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Geist aller Wissenschaften^ die Denkbestimmungen sind die reinen Geister; sie sind das Innerste, aber zugleich sind sie es, die wir immer im Munde führen, und die deshalb etwas durchaus Bekanntes zu sein scheinen. Aber solch Bekanntes ist gewöhnlich das Unbekannteste. So ist z. B. das Sein reine Denkbestimmung; es fällt uns jedoch nie ein, das Ist zum Gegenstand unserer Betrachtung zu machen. Man meint gewöhnlich, das Absolute müsse weit jenseits liegen; aber es ist gerade das ganz Gegenwärtige, was wir als Denkende wenn auch ohne ausdrückliches Bewußtsein darum, immer mit uns führen und gebrauchen" {Enz. §24, Zus. 2; vgl. L 1.11). Mindestens darin also ist diese Logik dem PiATONischen Parmenides verwandt, daß hier wie dort themenindifferente Bestimmungen nicht nur gebraucht, sondern zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden. PLATO macht im zweiten Teil des Parmenides die logischen Beziehimgen sichtbar, die zwischen den Bestinunungen bestehen, deren Anwendbarkeit auf „das Eine" er zur Debatte stellt. Man kann die im Verlauf der ersten Durchführung der affirmativen Hypothesis erarbeitete „Kategorientafel" etwa folgendermaßen abbilden: (1.)
(2.)
(137C5—139B3) Die Anwendbarkeit von „ist ein Ganzes" imd „hat Teile" ist Bedingtmg der Anwendbarkeit von a. „hat eine Gestalt" b. „ist in etwas" c. „bewegt sich" und „ruht" (139B4—141E7) Die Anwendbarkeit von „ist dasselbe" und „ist verschieden" ist Bedingung der Anwendbarkeit von a. „ist ähnlich" und „ist unähnlich" b. „ist (größen)gleich" und „ist ungleich" c. „ist gleichaltrig" und „ist älter/jünger"
Theoreme: I II III IV V VI VII VIII
(Dieser Raster ist freilich immer noch zu grob; denn er berücksichtigt nicht, daß in (1.) b. durch a. bedingt ist und c. durch b.; daß in (2.) c. durch b. und a. bedingt ist (140E2—3); daß Bedingungsverhältnisse zwischen (1.) und (2.) in Rechnimg zu stellen sind.) Die in den Theoremen I—VIII verwendeten und explizierten Bestimmungen sind im Unterschied zu themenspezifischen Begriffen nicht dihairetisch darstellbar: Ähnlichkeit und Unähnlichkeit usw. „sind noch nicht Verschiedene, die als Besondere gegeneinander bestimmt wären"
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(L 2. 247). Der zweite Teil des Parmenides ist deshalb nicht Hegels ,,Lehre vom Begriff" zuzuordnen (in der auch das Verfahren der Dihairesis erörtert wird; L 2. 458 ff), sondern der „Lehre vom Sein und vom Wesen", also Hegels Theorie der Kategorien xmd Reflexionsbestimmungen, die „in jeden Satz von ganz sinnlichem Inhalte schon eingemischt sind" (Enz. § 3 Anm.). Angesichts dieser partiellen „stofflichen" Konvergenz stellt sich natürlich die Frage nach der methodischen Organisation dieses „Stoffes" bei PLATO und Hegel. Die dabei zum Vorschein kommende Divergenz ist Hegel rücht entgangen, und so ist dem eingangs zitierten Lob des zweiten Teils des Parmenides gleich ein Tadel an die Seite zu stellen: „Die Dialektik des Plato ist jedoch nicht nach jeder Rücksicht als vollendet anzuerkennen" (Bd 14. 246). Was lobt und was tadelt Hegel an der PLATOnischen Dialektik? Mit welchen Gründen lobt tmd tadelt er? Sind diese Gründe plausibel? Diesen Fragen werde ich in diesem Aufsatz nachgehen. I. DIE WIDERLEGUNGSKUNST ZWISCHEN PHILOSOPHIE UND SOPHISTIK
„Strecke dich", sagt PARMENIDES ZU SOKRATES, „und übe dich noch mehr in dem, was so unnütz scheint imd von den Leuten Geschwätz (adoleschia) genannt wird, solange du noch jung bist! Andernfalls wird dir die Wahrheit entgehen" (135 D3—7). Im Überprüfen der Konsequenzen einer Hypothesis soll SOKRATES sich üben: Was folgt, wenn man anniixunt, daß das-und-das (nicht) der Fall ist (136 A5,142 C3) ? Der PLATOnische Parmenides ist sich der Unerläßlichkeit und der schlechten Reputation dieses Argumentationsstils bewußt. In PLATOS Dialogen finden sich viele Reflexe des offenkimdig sehr verbreiteten Vorwurfs der „adoleschia", — der „Zimgendrescherei", wie Hegel übersetzt (Bd 14. 241). Als Vorwurf gegen die Philosophen überhaupt ist er in den Reden des ISOKRATES literarisch greifbar, ® als Vorwurf gegen SOKRATES in der Komödie: bei EUPOLIS, vor allem bei ARISTOPHANES. ® Der PLATOnische SOKRATES kennt seinen populärsten Kritiker (Phaedr. 70 BC; Apol. 19 C). In ironischer Offenheit bekennt er sich im Theaetet (195 BC) schuldig, bevor er wieder einmal zur kritischen Prüfung einer These übergeht: Ich bin tatsächlich ein geschwätziger Mann; denn „wie soll man es anders nennen, wenn ein Mann aus lauter Schwerfälligkeit alle seine ’ Resp. 488 E, 489 C; Polii, 299; Phaedr. 269 E; vgl. auch Soph. 225 D. ® Gegen die Sophisten. 8; Antidosis. 262. • Eupolis, Fragment 352; Aristophanes: Wolken 1480.
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Logoi immer wieder herumdreht, sich nicht überzeugen läßt und gar nicht fortzubringen ist von jedem Logos?" Der virtuose Gebrauch der Widerlegungskunst (elenktike techne) sowohl durch die Sophisten als auch durch SOKRATES hat die Jugend Athens fasziniert imd die Philosophie in der breiteren Öffentlichkeit diskreditiert. Deshalb ist die Unterscheidung der echten von der scheinbaren Widerlegung die Kardinalfrage der PLATonischen Dialektik, an der sich auch die Bestimmimg ihres Verhältnisses zu Hegels Konzeption der Dialektik orientieren muß. Es kommt darauf an, heißt es an einer zentralen Stelle der Politeia, pr) mTci öö^av, äXkä xaV ovatav .. . eXiyxsiv (534 C2—3).
1. Die Selbstkritik der Widerlegungskunst in der Politeia Ich möchte nun zunächst die Relevanz dieser Unterscheidung dadurch verdeutlichen, daß ich eine die Interpreten schon seit langem irritierende Passage in der Politeia (VII, 537 E—539 D) diskutiere. Im Zusammenhang einer Theorie der philosophischen Erziehung verwandelt sich dort die Frage, wie ein richtiger Gebrauch der Widerlegungskunst möglich sei, in ein allem Anschein nach pädagogisch-entwicklungspsychologisches Problem: Wie kann gegen ihren Mißbrauch rechtzeitig Vorbeuge getroffen werden? beschreibt, wie ein junger Mann die Erfahrung macht, daß die „Grimdsätze vom Gerechten tmd Schönen, unter denen wir von Kindheit an erzogen worden sind" (538 C7—8), kritischer Reflexion nicht standhalten und wie diese desillusionierende Erfahrung den ursprünglichen Respekt in Aggressionen Umschlägen läßt. Das rauschhafte Erfolgserlebnis des Widerlegenkönnens (vgl. Phil. 15 D ff) macht den selbstkritischen Gebrauch dieses Vermögens tendenziell unmöglich. SOKRATES vergleicht die so entstehende Situation mit der eines adoptierten Kindes in einem Patrizierhaus: Es respektiert seine Eltern, solange es die Wahrheit über seine Herkunft nicht kennt; sobald es die Wahrheit erfahren hat, verlieren sie in seinen Augen jede Autorität, und es wird um so anfälliger für die Überredungskünste der „Schmeichler". SOKRATES
Die Doppelbödigkeit dieser Parabel scheint mir entscheidend nicht nur für das Verständnis des unmittelbar Folgenden, sondern für eine Gesamtdeutung der Politeia. Was geschehen ist, wenn das Adoptivkind die Wahrheit über seinen Ursprung erfahren hat, kann man nicht mehr mit Sinn rückgängig machen wollen. Die unmittelbare Geltung der „Sitten und Gewohnheiten unserer Väter" (vgl. Ep. VII, 325 D), in denen wir aufgewachsen sind und mit denen wir uns identifiziert haben, ist ge-
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brochen, sobald die Frage nach ihrer Legitimation wach wird. Die Notwendigkeit, sie rechtfertigen zu müssen, offenbart, daß sie in Wahrheit nicht selbstverständlich und immun gegen Fragen sind. Auch wenn sie der Prüfimg standhielten, wäre die „Ehrfurcht vor den Pflegeeltern" doch ein Produkt der Reflexion — imd nicht das, was Hegel „unbefangene Sittlichkeit" nennt: „Wenn die Einsicht positiv dasselbe als Gesetz erkermt, was als Gesetz gilt, ... so ist dies Geltende doch durch die negative Weise hindurchgegangen und hat nicht mehr die Form dieses absoluten Ansichseins" (Bd 14. 79). Hegel deutet die Politeia als den (weltgeschichtlich zum Scheitern verurteilten) Versuch, die vor-sokratische und vor-sophistische Sittlichkeit wiederherzustellen. Die überlieferten Grundsätze vom Gerechten und Schönen, schreibt er in der Phänomenologie des Geistes (311), „gelten der Antigone des SOPHOKLES als der Götter ungeschriebenes und untrügliches Recht: ,nicht etwa jetzt und gestern, sondern immerdar / lebt es, und keiner weiß, von warmen es erschien'. Sie sind . . . Wenn sie sich meiner Einsicht legitimieren sollen, so habe ich schon ihr unwankendes Ansichsein bewegt imd betrachte sie als etwas, das vielleicht wahr, vielleicht auch nicht wahr für mich sei" (vgl. Bd 14. 45, 72 f). Dieses neue Prinzip, das Hegel das der Moralität nennt, „ist in die griechische Welt auch gekommen, aber als Prinzip des Verderbens der griechischen Staaten, des griechischen Lebens. Es w'ar das Verderben, weil der griechische Geist, Staatsverfassung, Gesetze (darauf) nicht berechnet waren und darauf nicht berechnet sein konnten, daß innerhalb ihrer dies Prinzip auftreten würde. Beides ist nicht homogen; und so mußten griechische Sitte und Gewohnheit untergehen. PLATO hat nun den Geist, das Wahrhafte seiner Welt erkannt und aufgefaßt und hat es ausgeführt nach der näheren Bestim.mung, daß er dies neue Prinzip verbaimen, unmöglich machen wollte in seiner Republik" (Bd 14. 278). — In Wirklichkeit aber kritisiert PLATO nicht nur den Mißbrauch der gesetzprüfenden Vernunft, sondern auch die Fraglosigkeit des unbefangenen Ethos. Im mythischen Finale der Politeia (619 C) läßt er denjenigen die ärgste Tyrannis wählen, „der in einer wohlgeordneten Polis sein erstes Leben verbracht hat und durch Sitte ohne Philosophie an der Tugend teilgehabt hat". So ist PLATO weit entfernt davon, dem Prinzip der Moralität einen „nur substantiellen Staat" (Bd 8. § 185 Anm.) entgegenstellen zu wollen. Vgl. auch Phaed. 82 BC, und Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. BA 22: „Es ist eine herrliche Sache um die Umschuld, nur ist es auch wiederum sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt wird."
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Doch kehren wir zum engeren Kontext der Parabel vom Adoptivkind zurück. Nach der psychologischen Diagnose läßt PLATO seinen SOKRATES einen therapeutischen Vorschlag machen: Man sollte niemanden vor dem dreißigsten Lebensjahr mit der verführerischen Macht der Widerlegungskunst in Berühnmg bringen. Erst darm nämlich sei der Zögling in einem Stadium seiner Entwicklung, das den Gebrauch des Elenchus im Interesse der Wahrheitsfindung am ehesten gewährleisten dürfte. Die Gewaltsamkeit der PcATONischen Pädagogik hat die Interpreten schon lange vor POPPERS Aufbegehren gegen den „Zauber PLATOS" dazu verführt, in PLATO sozusagen den Judas des SOKRATES zu sehen. Der liberale Historiker GEORGE GROTE, der am Anfang der angelsächsischen PLATO-Porschung steht, entnahm unserer Passage eine Information über den Bruch PLATOS mit seinen in den Frühdialogen manifesten pädagogischen Überzeugungen. In der Tat werden Jünglinge wie Kleinias, Lysis, Menexenos, Polos, Charmides und Alkibiades dem SoKRATischen Elenchus noch so ausgesetzt, als ob ihnen dies zweifellos guttun würde. GROTE hat seinen Rezensenten J. ST. MILL überzeugt, der — an ein Gleichnis GROTES anknüpfend — schreibt: Als PLATO auf hörte, Führer der Opposition zu sein und sich auf der Regienmgsbank niederließ, „da kam er zu der Einsicht, daß die sokratische Methode ein zweischneidiges Schwert sei.. Als PLATO noch mehr an Jahren und an Dogmatismus zunahm, scheint er die Schätzung der Dialektik und die Freude an ihr verloren zu haben". Neuerdings hat sich GILBERT RYLE dieser entwicklungsgeschichtlichen Deutung angeschlossen und sie durch abenteuerliche Konjekturen über den Grund eines derartigen Überzeugungswandels ergänzt. Wollen wir dieser Interpretation nicht folgen, so müssen wir PLATO ein Bewußtsein der inneren Paradoxie seiner Pädagogik unterstellen. Es gibt gute Gründe für eine solche Annahme. Hätte PLATO den Gebrauch der Widerlegungskunst allen Ernstes für „Jugendliche unter 30" verbieten wollen, so hätte er sich konsequenterweise die Komposition von Dialogen versagen müssen, in denen SOKRATES oder ein Eleat im Gespräch “ Xenophon: Memorabilien. I, 2, §§ 29—38 (bes. § 35, vgl. IV, 4, § 3) dürfte ein Reflex dieser Stelle sein. Charikles und Kritias erlassen eine Lex Socrates, die Sokrates jegliche Diskussion mit jungen Männern untersagt. (Von einem solchen Gesetzeserlaß weiß die von Xenophon unabhängige Überlieferung nichts.) *2 G. Grote; Plato and the Other Companions of Socrates. Bd3. London 1865. 236 ff. 13 J, St. Mill: Gesammelte Werke. Bd 12. Leipzig 1880. 77. 11 G. Ryle: Plato's Progress. Cambridge 1966. 155.
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mit jungen Männern Hypothesen ins Kreuzverhör nehmen. Der alte PARMENIDES ermahnt seinen jugendlichen Gesprächspartner aber geradezu: Übe dich in der Kunst der Hypothesenprüfung, „solange du noch jung bist", — just in dem Alter also, für das in der Politeia augenscheinlich ein Veto ausgesprochen wird. PLATO läßt ausgerechnet SOKRATES einen Staat konstruieren, in dem diesem das Wort verboten würde: Er dürfte dort nicht mehr an junge Männer die Frage richten, was das Schöne, das Gerechte, das Gute denn eigentlich sei (538 D). Die Einsicht, daß das, was gewöhnlich so genannt wird, ebenso auch den Namen des Gegenteils verdient (538 E, vgl. 479 AB), sucht der PiATonische SOKRATES auch in der Politeia herbeizuführen. Im ersten Buch vertritt der greise KEPHALOS den Grundsatz, es sei gerecht, das zurückzuerstatten, was man einem anderen schuldet. Dagegen wendet SOKRATES ein, daß es von den Umständen abhängt, ob es gerecht ist oder ungerecht, so zu handeln. Er bedient sich dabei eines kasuistischen Arguments der sophistischen Aufklärung: Dem Wahnsinnigen, der sein Schwert wiederhaben will, darf man es nicht zurückgeben (331 C). Hegel charakterisiert das Resultat eines derartigen SoKRATischen Elenchus so: „Werm durch besondere Fälle, Instanzen die Allgemeinheit beschränkt wird, so verschwindet mit der Allgemeinheit auch die Festigkeit des Grundsatzes; dieser erscheint als besonderer, der gilt und nicht gilt. Es konunt auf die Umstände an" (Bd 14. 84 f). Indem SOKRATES SO argumentiert, unterscheidet er sich auf den ersten Blick durchaus nicht von den Sophisten. PLATO will mm aber diesen Unterschied sichtbar machen, und genau aus dieser Absicht heraus wird man imsere Stelle verstehen müssen. „Siehst du denn nicht, SOKRATES, wie viele wir sind und alles Jünglinge? Und fürchtest du nicht, daß wir über dich herfallen, wenn du uns schmähst?" fragt PROTARCHOS im
15 Gegen Grote hat schon E. Zeller das Alter der „dramatis personae" in den Spätdialogen hervorgehoben: Philosophie der Griechen. Bd 2. T. 1. 1889. 912. 1® Vgl. Dissoi Logoi. Diels-Kranz 90, 3, und Xenophon: Cyropaedia. I, 6, 31. Plato hat in der Gestalt des Kephalos der Lebensform ein Denkmal gesetzt, die Hegel als „unbefangene Sittlichkeit" bezeichnet. Ihr spricht Hegel die Fähigkeit zur unbewußten Selbstkorrektur zu: „An sich ist eine Inkonsequenz darin. Beschränktes als Absolutes gelten zu lassen; aber sie wird von dem sittlichen Menschen bewußtlos verbessert, und diese Verbesserung liegt.. in dem Ganzen des Zusammenlebens" (Bdl4. 80). „Wir können eben dies., den Geist nennen, der ihm zur rechten Zeit das Eine und zur rechten Zeit das Entgegengesetzte einfallen läßt" (ebd. 90; vgl. auch 92 f). Kephalos stimmt dem Einwand des Sokrates zu — und verabschiedet sich lächelnd, um auf dem Hof seines Hauses den Göttern ein Opfer darzubringen (331 D).
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Philebos, um sich sogleich den richtigen Reim auf den protreptischen Sinn solcher Publikumsbeschimpfung zu machen: SOKRATES will vor dem sophistischen Mißbrauch der Widerlegimgskunst warnen (16 A4 ff). Der Sophist ist bereit, die Philosophie zu preisen, sofern sie im Intervall zwischen Kindheit und Ernst des Lebens „um der Paideia willen" betrieben wird. Der Erwachsene aber, meint KALLIKLES, werde lächerlich, wenn er „versteckt in einem Winkel mit drei, vier Knaben flüsternd" sein Leben verbringe, statt in der politischen Praxis seinen Mann zu stehen (Corg. 484 C ff). Dieser sophistisch-rhetorischen Philosophie-Kritik und der sie leitenden Bildungsidee, die ausgerechnet das Schwerste — „das, was die Logoi betrifft" — nur als intellektuelles Vergnügen der Athener jeimesse doree akzeptieren will (498 AB), setzt PLATO in der Politeia ihre Umkehrimg entgegen; SOKRATES weist ausdrücklich auf den provokatorischen Sinn seines Vorschlags hin (497 E). Indem er die bestehende Erziehungspraxis auf den Kopf stellt, nötigt er zur Reflexion auf ihre Schwächen. Die Karriere des ALKIBIADES — Hegel nennt ihn gelegentlich ein „Genie des Leichtsinns" — gehört zum politisch realen Hintergrund der PLATonischen Überlegungen (Bd 14.120; vgl. 94,171). Im gemeinsamen Gebrauch der Widerlegungskunst verbirgt sich die Differenz zwischen SOKRATES und den Sophisten, die einander so ähnlich und so tmähnlich sind wie Hund und Wolf {Soph. 231 A). Zu Recht sagt Hegel, „daß diese dialektische Beschäftigrmg, die Anderen in Verlegenheit zu setzen, eine allgemeine Beschäftigung der griechischen Philosophen war . ., die sich so schikanierten und freuten" (Bd 14.133). Wer dem Verteidiger einer Hypothese durch eine Sequenz von Fragen ein Zugeständnis zu entlocken vermag, das mit seiner Position unverträglich ist, hat die Disputation gewonnen, und der Applaus der Zuhörer ist ihm sicher. Aber hat er den Verteidiger der Hypothese wirklich (kaP ousian) widerlegt? Selbst SOKRATES muß sich gelegentlich vorwerfen lassen: „Du gehst nur darauf aus, mich zu widerlegen, und kümmerst dich wenig um das, wovon die Rede ist" {Charm. 166 C). Oder: „Du bist eben boshaft und faßt die Rede so auf, wie du sie am übelsten zurichten karmst" {Resp. 338 D). Eiiunal kommt er einem solchen Vorwurf dadurch zuvor, daß er versichert, er lasse sich mindestens so gerne selber widerlegen, wie er andere widerlege (Corg. 458 A). Im Gespräch mit dem alten PARMENIDES hat PLATO ihm Gelegenheit gegeben, dies unter Beweis zu stellen. Im Siebenten Brief hat PLATO die Erfahrung mit denen beschrieben, welche die „Ringergriffe" der Widerlegungskrmst gelernt haben: Alles
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Gesagte ist „leicht widerlegbar" (euelenkton); „die Zuhörer verkennen dabei, daß in solchen Fällen manchmal nicht die Seele des Schreibers oder Redners widerlegt wird" (343 C3—El). Deshalb muß sich der Philosoph dadurch vom Sophisten zu rmterscheiden suchen, daß er „in wohlmeinenden Widerlegungsversuchen (en eumenesin elenchois) prüft und sich ohne Rechthaberei in Fragen und Antworten übt" (344 B5 f). Daß der PtAXonische Parmenides, unter dem Aspekt der Methode betrachtet, als Dokument einer Selbstkritik der Widerlegungskunst zu verstehen ist, hoffe ich nun durch eine Analyse der Abschnitte des Dialogs, mit denen Hegel sich in seinen Schriften auseinandergesetzt hat, plausibel machen zu können. 2. Echter und scheinbarer Widerspruch: Sokrates' Zeno-Kritik Welche Rolle spielt der Elenchus auf der ersten Dialogebene, in dem Gespräch zwischen ZENO und SOKRATES? „Die Hauptsache", sagt Hegel über den Parmenides, „ist die Dialektik, die dem PARMENIDES tmd ZENO in den Mimd gelegt wird" (Bd 14. 240). Anscheinend interessiert ihn an diesem Dialog außer dem zweiten Teil nur die Charakterisierung der ZENONischen Dialektik im Gespräch zwischen SOKRATES und dem „Eleatischen Palamedes". „In dieser Dialektik sehen wir den einfachen Gedanken nicht nur sich für sich festsetzen (sc. wie bei PARMENIDES), sondern erstarkt den Krieg in Feindes Land spielen." „In PLATOS Parmenides (127—8) ist diese Dialektik sehr gut beschrieben" (Bd 13. 326 f). Aber wird sie dort auch gutgeheißen? ZENOS Argumentation wird von SOKRATES rekapituliert als ein indirekter Beweis für den Satz des PARMENIDES: „Das Ganze ist eines" (128 A8 f). Im Gespräch über den Sinn seiner Argumentation gesteht ZENO das Motiv der „philonikia" ein (128 D7, E2): Er habe seine Argumente gegen diejenigen gerichtet, die sich über den „Monismus" lustig machen. (ANTISTHENES war kaum der erste und bestimmt nicht der einzige, der den Common sense gegen die Theorie der Eleaten mobilisierte.) Er habe den Spöttern nachweisen wollen, daß aus ihren Voraussetzimgen
Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1965. 367—373; und Cadamer: Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief. Heidelberg 1964. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Befolgung dieses Grundsatzes findet sich im Theaetetus, wo Sokrates dem Sophisten Protagoras „der Billigkeit wegen beisteht" gegen eine „Mißhandlung" seiner These (164 C —168 C).
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„noch Lächerlicheres" folge (128 DS). Unter ausdrücklicher Zustimmung des ZENO gibt SOKRATES „die erste Hypothese des ersten Logos" folgendermaßen wieder (127 El—8): Wenn es viele Dinge gibt, dann sind sie ähnlich und tmähnlich. Nun kann aber solches, das ähnlich ist, nicht imähnlich sein, u. u. Also kann es nicht viele Dinge geben. Zunächst einmal vermißt man natürlich eine Begründung für die erste Prämisse. In Anlehnung an den Parmenides-Kommentar des PROKLOS könnte man sie etwa so rekonstruieren; (1) Wenn es viele Dinge gibt, so hat jedes von ihnen mit allen dies gemein, daß es ein Ding ist. (2) Was eine Bestimmung mit anderen gemeinsam hat, ist diesem ähnlich. (3) Also sind die Dinge einander ähnlich. (4) Wenn es viele Dinge gibt, so muß jedes sich von allen anderen irgendwie unterscheiden. (5) Was von anderem verschieden ist, ist diesem unähnlich. (6) Also sind die Dinge einander unähnlich. Nimmt man nun (3) und (6) zusammen, so erhält man: (7) Die Dinge sind einander ähnlich und unähnlich. unterstellt, daß (7) ein Satz der Form „p & —p" ist, daß seine Argumentation also den Charakter einer Reductio ad absurdum hat. — SOKRATES fragt: Wieso ist (7) eigentlich ein Widerspruch? Er hält ZENO entgegen: (A) Der Satz „Das Ähnliche (selbst) ist unähnlich, und das Unähnliche (selbst) ist ähnlich" ist zwar widersprüchlich, aber (B) ein Satz der Form „Etwas Wahrnehmbares (129 D4, 130 Al) ist ähnlich und unähnlich", ist nicht widersprüchlich. ZENO
fragt überhaupt nicht danach, wie ZENO ZU (7) kommt. Es geht ihm nur um die Differenz der in (A) und (B) erwähnten Sätze. PYTHODOROS, ein Freund und Schüler des ZENO (126 B9 f; Alcib. I, 119 A), ist erstaunt darüber, daß die beiden Eleaten sich nicht über SOKRATES' energische Einrede ärgern: „Vielmehr hätten sie ihm sehr aufmerkSOKRATES
19 Proclus: In Farmen. 727, 30—34.
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sam zugehört und einander öfters lächelnd angeblickt" (130 A3—7). Im Blick auf das Bevorstehende wird man in diesem lächelnden Einverständnis einen Hinweis darauf sehen dürfen, daß (A) zumindest problematisch ist: Sind nicht auch die Ideen einander ähnlich und unähnlich? Im Hinblick auf das Vorangegangene aber deutet es die Zustimmung zu (B) an. Die Wahrheit von (B) wird nämlich im folgenden nicht in Frage gestellt (vgl. auch Phil. 14 CD). Im übrigen kann man an dem oben vorgeschlagenen Argument für (7) leicht sehen, wie der angebliche Widerspruch mit PLAXonischen Mitteln aufzulösen ist: durch die Unterscheidimg der Hinsichten, in denen die vielen Dinge einerseits Übereinkommen, andererseits differieren. PLATOS umständliche Formulierung des Prinzips vom verbotenen Widerspruch in der Politeia (436 ff) dient der Unterscheidimg des echten vom scheinbaren Widerspruch und damit auch der Unterscheidung der echten von der scheinbaren Widerlegung. Wenn wir z. B. sagen: „Der Mann da bewegt sich und ruht", so fordern wir die Frage heraus: „Wie meinst du das?". Wenn wir erklären können, was wir meinen, also etwa: „Er schüttelt den Kopf, rührt sich aber nicht von der Stelle", so haben wir uns nicht widersprochen. Selbst bei einer Aussage des Typs „Das-und-das ist der Fall, und es nicht der Fall" muß es sich nicht um einen Widerspruch handeln. Die Vagheit der von uns verwendeten Prädikate (d. h. die Unbestimmtheit ihrer Anwendungsbedingungen) veranlaßt uns gelegentlich, einen derartigen Satz zu verwenden. Wir können dann den Schein der Widersprüchlichkeit durch eine präzisierende Interpretation beseitigen: „Er ist gesund, und er ist nicht gesund. Nun, arbeitsfähig ist er zwar wieder, aber er fühlt sich immer noch schwach." Hegel hat nun das Argument für (7) der Sache nach in der Reflexionslogik (L 2. 38—40) wiederholt: Zwei Dinge sind „gleich und ungleich zugleich". Warum? Im Plural „zwei Dinge" liegt schon unmittelbar die (freilich noch ganz unbestimmte) Verschiedenheit. Aber „zwei Dinge sind nicht bloß zwei, sondern sie sind durch eine Bestimmung verschieden". Sie sind also ungleich. Gleich aber sind sie „schon darin, daß sie Dinge sind, — denn jedes ist ein Ding so gut als das andere". — Stimmt Hegel (B) zu? „Das Zugleich der beiden Prädikate wird zwar durch das Insofern auseinander gehalten. . (Diese) gewöhnliche Zärtlichkeit für die Dinge aber, die nur dafür sorgt, daß diese sich nicht Vgl. R. E. Allen: Zeno's Paradox and the Theory of Forms. In: lourn. Hist. Phil. 2 (1964), 143—55.
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widersprechen, vergißt hier wie sonst, daß damit der Widerspruch nicht aufgelöst, sondern nur anderswohin, in die subjektive oder äußere Reflexion überhaupt geschoben wird, und daß diese in der Tat die beiden Momente . . als aufgehoben .. in Einer Einheit enthält" (L 2. 40). Hegel ist also bereit, (7) als einen Widerspruch zu bezeichnen. Es ist nun zwar sicher richtig, daß unsere Reflexion, wenn sie unterscheidet, inwiefern zwei Dinge sich ähneln und inwiefern sie unähnlich sind, die Begriffe der Ähnlichkeit und der Unähnlichkeit — wie Hegel sagt — „in einer Tätigkeit beide enthält". Aber wieso wird dadurch ein Widerspruch in unsere Reflexion „geschoben"? Wir werden später Anlaß haben, Hegels idiosynkratischen Gebrauch des Terminus „Widerspruch" etwas genauer zu betrachten (11,3). Für PLATO jedenfalls ist die Frage, ob Hinsichten imterschieden werden können oder nicht, deshalb ein Wesensmerkmal des „elenchos alethinos", weil von ihrer Beantwortung abhängt, ob das Verfahren der Reductio ad absurdum anwendbar ist oder nicht. ZENO — der noch jung war, als er seine Argumente zu Papier brachte (128 E2) — hat es unterlassen, diese Frage zu stellen, und deshalb hat er in PLATOS Augen die Kritik des SOKRATES verdient ißoph. 259 CD). 21 3. Ist der Parmenides ein „Dokument des Skeptizismus"? Hegel hat eine Dialektik, der es allein um das Widerlegen von Hypothesen geht, als Skeptizismus bezeichnet. Schon früh scheint er die PLATOnische Dialektik mit dem antiken Skeptizismus zusammengesehen zu haben. So schreibt ROSENKRANZ über die Frankfurter Zeit: „Besonders muß er PLATON und SEXTUS EMPIRICUS viel studiert haben" (Ros. 51). 22 In seinem Journal-Aufsatz über das Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie (Jena 1802) nennt Hegel den Parmenides das vollkommenste „Dokument und System des echten Skeptizismus" {Krit. 207). Vor diesem Hintergrund ist Hegels Bemerkung in der Einleitung zur Wissenschaft der Logik zu verstehen: „Die PLATonische Dialektik hat selbst im Parmenides und anderswo ohnehin noch direkter, teils nur die Absicht, beschränkte Behauptungen durch sich selbst aufzulösen und zu wider21 Zu Hegels Mißverständnis dieser Stelle vgl. Gadamer: Hegel und die antike Dialektik. 189. 22 Bei Sextus Empiricus: Pyrrhon. Hyp. I, § 221 (und bei Diogenes Laertius. III, § 51) konnte Hegel lesen, daß schon in der Antike die Frage diskutiert wurde, ob Plato Skeptiker, Dogmatiker oder vielleicht beides sei.
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legen, teils aber überhaupt das Nichts zum Resultat" (L 1. 37; vgl. Bd 14. 222—30). Insofern der PLAxonische Elenchus beschränkte Behauptungen als gegeben aufnimmt, „sich auf die gewöhnlichen Vorstellungen der Bildung überhaupt einläßt" (Bd 14. 185), ist sein Ausgangspunkt kontingent. Deshalb kann Hegel sagen, „daß die PLAxonische Philosophie nicht für sich sich als ein eigentümliches Feld ankündigt, wo man eine eigene Wissenschaft in eigener Sphäre beginnt" (ebd.). Auf solche Weise ad hoc vorgenommene Widerlegungen lassen sich nicht in einem Zusammenhang darstellen, der einen begründeten Anspruch auf Vollständigkeit erheben könnte. Hegel denkt bei dieser Kritik primär an die „mehr eigentlich sokratischen, moralischen Dialoge" (Bd 14. 222). Doch selbst im Parmenides nimmt PLAXO Okkasionalität und Unvollständigkeit bewußt in Kauf. So beansprucht der erste Teil ausdrücklich nicht, alle Aporien der Ideenhypothese zu entwickeln (133 B4, 135 Al). Dies ist in Hegels Augen der Mangel des Skeptizismus, sich nicht zur Wissenschaft organisieren zu können. In der Wissenschaft der Logik sollen der Anfang und das Ende der Theorie der Gedankenbestimmungen den im PiAxonischen Dialog fehlenden Maßstab dafür abgeben, ob der Gegenstand erschöpft ist oder nicht (Bd 14. 186). Hegels Logik läßt den Leser zwar darüber im Unklaren, ob die endlich vielen dort explizierten Terme alle (reinen) Gedankenbestimmungen darstellen sollen. Aber wenn der Anfang der einzig mögliche Anfang und das Ende das einzig mögliche Ende der wissenschaftlichen Rekonstruktion des Zusammenhanges der Gedankenbestimmungen sind, dann müssen auch die dort eventuell nicht thematisierten Gedankenbestimmungen zwischen diesen beiden Punkten einen bestimmten Stellenwert haben. Zumindest in diesem Sinne beansprucht Hegels Logik Vollständigkeit. Im Gegensatz dazu sind PLAXOS Dialoge nach beiden Seiten hin offen. „Morgen aber, THEAIXEXOS, wollen wir uns wieder hier treffen" {Theaet. 201 D; vgl. Lach. 200—1). Ein solcher Dialogschluß zeigt nicht nur die Möglichkeit der Beantwortrmg einer offengebliebenen Frage an, sondern auch die Möglichkeit einer Revision des Ausgangspunktes. In beiden Richtungen wird so für weitere Besinnung ein Wahrheitsspielraum offengehalten. Die Wendung „wir wollen noch einmal von Anfang an erwägen. . ." ist ein Leitmotiv der PrAxonischen Dialoge, das im Dialoginneren kritische Zäsuren kenntlich macht und am Dialogende den Leser ausdrücklich zur kritischen Überprüfung des Anfangs auffordert. „Den
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Anfang jeder Sache muß man sehr sorgfältig bedenken und prüfen, ob der Ausgangspunkt richtig oder falsch gewählt wurde" (Craf. 436 D; vgl. Phaed. 107 B). Nach der Funktion dieses Leitmotivs im zweiten Teil des Parmenides werden wir noch zu fragen haben. Dort heißt es nämlich immer wieder: „Wir wollen die Hypothesis noch einmal von Anfang an durchgehen" (142 Bl f; 159 B2 ff; 163 B7 f; 165 E3). Für Hegel stellt sich dieses Charakteristikum des PiATonischen Dialogs als ein systematischer Mangel dar, der nur im Dialoginneren durch die „Plastizität" der Unterredenden — mehr oder weniger — kompensiert wird: „Das Gefühl am Ende des Dialogs ist, daß die Sache auch anders hätte werden können. Bei den PcATonischen Dialogen ist scheinbar auch diese Willkür vorhanden; dann ist sie entfernt, weil die Entwicklung nur Entwicklimg der Sache ist, und dem dazwischen Redenden wenig überlassen ist" (Bd 14. 185). Insofern eine Widerlegung nur das Nichts zum Resultat hat, ist der weitere Fortgang des Denkens der Zufälligkeit überantwortet: „Der Skeptizismus, der mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit endigt, kann von dieser nicht weiter fortgehen, sondern muß es erwarten, ob und was ihm etwa Neues sich darbiete, um es in denselben leeren Abgrund zu werfen" {Phän. 68; vgl. Bd 14. 540). Sind PLATOS aporetische Dialoge wirklich in diesem Sinne Dokumente des Skeptizismus? Stehen in den Tugenddialogen die verschiedenen Antworten auf die SoKRATische „ti estin"-Frage als unverbundene Einfälle nebeneinander? Sind sie nicht vielmehr derart aufeinander bezogen, daß die neue Antwort jeweils den nachgewiesenen Mangel der zuvor gegebenen zu beheben sucht? Sind nicht auch die Aporien, die PARMENIDES im Gespräch mit dem jungen SOKRATES entwickelt, in dieser Weise aufeinander bezogen? Schließlich äußert sich der alte PARMENIDES doch unüberhörbar selbstkritisch zu seinen eigenen „elenchoi", wenn er zu SOKRATES sagt: Gibt einer die Ideenhypothese wegen der vorangegangenen oder anderer Einwände auf, so wird er „nicht mehr wissen, wohin er sein Denken wenden soll", und er wird „auf diese Weise die Möglichkeit, sich im Reden zu verständigen, gänzlich zerstören. Das war es, so scheint Im Gegenzug zu Hegel haben die Plato-Interpretationen des Neukantianismus und der Hermeneutik die offene Systematik des Dialogs zu rechtfertigen versucht, tmd zwar im Blick auf ganz verschiedene Modelle: Natorps Paradigma ist die potentielle Unendlichkeit wissenschaftlicher Forschung, Gadamers Paradigma ist die Unabschließbarkeit eines jeden Versuchs, Überliefertes zu verstehen. Zu den daraus resultierenden Einseitigkeiten vgl. R. Wiehl: Einleitung, ln: Plato: Der Sophist. Hamburg 1967. VlI-XllI.
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mir, was du vor allem im Auge hattest" (135 B5—C3). Gibt PARMENIDES damit nicht selber zu verstehen, daß die Seele des SOKRATES — um die Wendung des Siebenten Briefes zu gebrauchen — nicht widerlegt ist? Daß diese Frage zu bejahen ist, wäre nur durch eine detaillierte Interpretation des (von Hegel nicht diskutierten) Gesprächs zwischen SOKRATES und PARMENIDES ZU beweisen. Darauf muß ich hier verzichten. Was nun die dialektische Übung angeht, der sich PARMENIDES anschließend mit dem jungen ARISTOTELES unterzieht und die er kommentarlos mit einer Liste von Widersprüchen beendet, so ist Hegels oben zitierte Bemerktmg in der Einleitung zur Wissenschaft der Logik eigentümlich xmbestimmt: Die PiATonische Dialektik habe hier nicht so direkt wie anderswo einen rein destruktiven Charakter. Wie ist diese seltsame Äußerung zu verstehen? Ist die ihr zugrundeliegende Interpretation des zweiten Teils des Parmenides überzeugend? II. HEGELS DEUTUNG DES ZWEITEN TEILS DES „PARMENIDES"
1. Platos plastische Jünglinge und die Immanenz des logischen Fortgangs „Wenn es erlaubt wäre, eine Sehnsucht zu haben, — so nach solchem Lande, solchem Zustande" (Bd 13.188). In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Wissenschaft der Logik gestattet sich Hegel eine melancholische Erinnerung: „Solche plastische Jünglinge und Männer, so ruhig mit der Selbstverleugnung eigener Reflexionen und Einfälle, womit das Selbstdenken sich zu erweisen ungeduldig ist, nur der Sache folgende Zuhörer, wie sie PLATO dichtet, würden in einem modernen Dialoge nicht aufgestellt werden können; noch weniger dürfte auf solche Leser gezählt werden" (L 1. 20; vgl. Bd 14. 65, 185). In seinen Spätdialogen macht PLATO selber auf die Eigenschaft der Mitunterredner des SOKRATES, des Fremden aus Elea und des PARMENIDES aufmerksam, die Hegel meint, wenn er von ihrer Plastizität spricht: Sie werden charakterisiert als junge Männer, „die frei von Empfindlichkeit sind und sich lenksam am Gespräch beteiligen" {Soph. 217 D), die nicht mit ihrem Einfallsreichtum glänzen wollen [Parm. 137 B) imd sanftmütig sind {Theaet. 144 AB). Freilich gibt PLATO gerade durch dieses Lob zu verstehen, daß eine derartige Gesprächskonstellation auch in „solchem Lande, solchem Zustande" keineswegs der Normalfall ist. Außerdem bringt PLATO in vielen Dialogen den „Geist der Rechthaberei, das Sichgeltendmachen, das Abbrechen, wenn man merkt, man komme in Verlegenheit, das Abspringen durch Scherz oder durch Verwerfen" (Bd 14. 65) beileibe nicht zum Verschwin-
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den: Bis hin zum Wutausbruch (THRASYMACHOS im ersten Buch der Politeia) macht der Sophist dort sich geltend. Wenn Hegel PLATOS plastische Jünglinge beschwört, kann er also nicht die Dialoge insgesamt im Auge haben. Eigentlich sind auch gar nicht PiATonische Dialoge als Dialoge das, was er lobt, sondern ein Strukturmerkmal einiger weniger Dialoge, das die Dialogform selber (wie Hegel meint) akzidentell werden läßt. Zwar bewundert Hegel die Schönheit des PLAXonischen Dialogs und die in ihm herrschende attische Urbanität, aber er betont: „Man muß nicht dafür halten, daß es die beste Form der philosophischen Darstellung sei. Sie ist Eigentümlichkeit PLATOS und als Kunstwerk allerdings wert zu achten" (Bdl4.183). Wirklich konsequentem dialektischem Fortgang sei sie darum auch nur äußerlich. Auf den letzten Seiten seiner Rezension von SOLGERS nachgelassenen Schriften (1828) hat Hegel die „plastische Form" der „gediegeneren" Dialoge PLATOS — er nennt den Timaios und den Parmenides von der „Konversationsmanier” der neueren philosophischen Dialoge abgehoben, in denen jeder Gesprächspartner das Recht habe, „seine besonderen Ansichten, Überzeugungen mit Gründen zu behaupten, die entgegengesetzten Ansichten zu widerlegen oder aus deren Gründen für sich Vorteile zu suchen". „Wir haben in modernen Sprachen Meisterwerke des dialogischen Vortrags (man braucht nur auf GALIANIS Dialoge, auf DIDEROTS Rameaus Neffe zu verweisen); aber hier ist. . die Sache.. kein spekulativer Irrhalt, sondern eine solche, welche ganz wohl ihrer Natur nach Gegenstand der Konversation sein kann. In jener plastischen Form PLATONS behält einer der Unterredenden den Faden des Fortgangs in der Hand, so daß aller Inhalt in die Fragen, und in das Antworten nur das formelle Zustimmen fällt" (Bd 16. 502 f). Ist es nicht tatsächlich so, „daß, wenn man den gediegeneren Dialogen PLATONS die Form des Fragens benähme und die Sätze in direkter Elokution aneinanderreihte, man . .. ARiSTOTELische Schriften zu lesen glauben würde" (ebd.)? Viele neuere Interpreten bejahen diese Frage mit Hegel. Insbesondere scheint der zweite Teil des Parmenides ein klarer Beleg für die von Hegel behauptete Depotenzierimg der Dialogform zu sein. Zwar gliedert PLATO, wie —
Ich verbessere hier den Text; „Diderot, Cousin und Rameau" steht da, und man fragt sich zunächst verdutzt, was für philosophische Dialoge der Komponist wohl geschrieben haben mag. Vgl. auch Bd 14. 185: „Die meisten Fragen sind darauf eingerichtet, daß der Andere antwortet durch Ja oder Nein". Entsprechend charakterisiert Aristoteles in der Topik (VIII, 2, 158alSf) die dialektische Frage: „Eine ,protasis dialektike' ist durch Ja oder Nein zu beantworten." ^ Vgl. etwa J. Stenzei: Kleine Schriften zur griechischen Philosophie. Darmstadt 1957. 45 ff; Cornford, 109; R. Robinson: Plato's Earlier Dialectic. Oxford 1953. 84.
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gezeigt hat, die Argumentation des PARMENIDES durch die Reaktionen des jtmgen ARISTOTELES. SO wird beispielsweise die Formulierimg des zu beweisenden Theorems jeweils dadurch gekennzeichnet, daß ARISTOTELES fragt: xi 5T); Jtc5g 6r) o. ä. Aber diese Funktion macht ihn nicht zum realen Gesprächspartner. Im Monolog könnte derselbe Zweck durch andere Mittel erreicht werden. Man wird sich indessen fragen müssen, warum PARMENIDES nicht den jungen SOKRATES auffordert, ihm bei seiner Hypothesenprüfung zu sekundieren. Wie er sagt, sucht er jemanden, dessen Antworten ihm jeweils einen Augenblick des Ausruhens gewähren (137 B8). Für die Wahl eines Gesprächspartners ist das doch wohl ein einigermaßen ironisches Kriterium: Ein eigener Beitrag zur Förderung der Argumentation wird von ihm gar nicht erwartet. Jedenfalls ist es ein Kriterium, dem SOKRATES nicht genügt. — Überhaupt ist das Porträt des jungen ARISTOTELES eigentümlich schillernd. PARMENIDES sagt, er habe einmal einem Gespräch zwischen SOKRATES und ihm mit Interesse zugehört (135 D2). PYTHODOROS erwähnt, daß dieser ARISTOTELES später einer der dreißig Tyrarmen geworden sei (127 D2). Man erinnert sich daran, daß SOKRATES der Regierung der Dreißig den Gehorsam verweigerte, als diese ihm befahl, LEON VON SALAMIS ZU verhaften (Apol. 32 C; vgl. Ep. VII, 324 D ff). So ist die Vermutung naheliegend, daß PLATO kritische Distanz zur Fügsamkeit dieses jungen Mannes schaffen will, die schon ein antikes Parmenides-Sdiolion kritisiert hat. SOKRATES hat im Gespräch mit ZENO schon bewiesen, daß er von solcher Fügsamkeit weit entfernt ist. Daß ARISTOTELES ein Argument nicht kritisiert, bedeutet nicht, daß SOKRATES es nicht tun würde, und also auch nicht, daß der Leser es niemals zu tun braucht. Die Plastizität dieses Jünglings ist vielleicht kein so unzweideutiges Vorbild, wie Hegel meint. PLATO läßt PARMENIDES den zweiten Teil des Dialogs ausdrücklich als „gymnasia", als eine Übung ankündigen (135 C8 u. ö.). Evoziert wird das Bild eines Athleten, der in der Palaistra trainiert: Noch kämpft er nicht im Stadion von Olympia um den Sieg, aber er bereitet sich darauf vor, im „Ernstfall" so gut wie möglich abschneiden zu können. „Strecke dich!", ermahnt PARMENIDES den jungen SOKRATES (135 D3 f), und er schickt sich schließlich an, mit dem jimgen ARISTOTELES „ein mühsames Spiel BRUMBAUGH
R. S. Brumbaugh; Plato on the One. New Haven 1961. 14, 32, 52 u. ö. im Kommentar. Brumbaugh, 256; P. Friedländer: Platon. Berlin 1964. Bd 3. 182 f scheint mir das Entscheidende gesehen zu haben.
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ZU spielen" (137 B2). Nun stellt freilich jeder PLAxonische Dialog eine Übung dar, — nach innen für die Gesprädispartner, nach außen für den Leser. Also müssen wir fragen: Was wird im Parmenides eingeübt? Wie im Sophistes und im Politikos ist es eine Methode, die in der Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand für weiteren Gebrauch eingeübt werden soll. Die im zweiten Teil des Parmenides zur Diskussion gestellte Gattung gehört allerdings zu einer Familie von Gattungen, deren Beziehungen zueinander nicht dihairetisch darstellbar sind. Die Methode im Umgang mit den Mitgliedern dieser Familie kann deshalb nicht die Dihairesis sein. Mithin ist das hier vorgeführte Verfahren eine — und nicht die — Methode des philosophischen Erkennens. Unter diesem Gesichtspunlct scheint sich Hegels Wissenschaft der Logik durch den in ihr proklamierten Monismus der „absoluten Methode" vom PLATonischen Methodenpluralismus abheben zu lassen. Doch wird diese handliche Unterscheidung sogleich wieder hinfällig, — beruft sich Hegel doch auf niemand anderen als PLATO, wenn er die „absolute Methode" als Form des irmeren Fortgangs der Logik an ihrem Ende zu bestimmen sucht. Er schreibt nämlich im Schlußkapitel der Logik: „Dies ist es, was PLATO von dem Erkennen forderte, die Dinge an und für sich selbst zu betrachten, teils in ihrer Allgemeinheit, teils aber nicht von ihnen abzuirren und nach Umständen, Exempeln und Vergleichungen zu greifen, sondern sie allein vor sich zu haben und, was in ihnen immanent ist, zum Bewußtsein zu brmgen" (L 2. 491). Wir können ims diese Bemerkmig zunächst einmal dadurch plausibel machen, daß wir uns die Kritik vergegenwärtigen, die der PLAxonische SOKRATES an (nach seinem Dafürhalten) unzureichenden Antworten auf Der Streit um das Gewicht der Charakterisierung des zweiten Teils als Übung reicht bis in die Antike zurück. Proklos, der es selber — wie Hegel — gering veranschlagt, weiß davon zu berichten: In Farmen. 633 ff. Schleiermacher hat den Übungscharakter wieder ernst genommen und den Parmenides (in seiner Einleitung zu diesem Dialog) als Gegenstück zum Protagoras bezeichnet, da auch er „mit dem Geständnis eines Widerspruchs" endet. (Schon im Mittleren Platonismus waren diese beiden Dialoge unter dem Methodentitel des Elenktischen zusammengestellt worden, so von Albinus. Vgl. C. F. Hermann: Platonis Dialogi. Leipzig 1892. Bd 6. 148, 158.) Im Geiste Hegels erhoben Einspruch gegen Schleiermachers Deutung: £. Zeller; Platonische Studien. Tübingen 1839. 160; und Kuno Fischer in seiner Heidelberger Dissertation De Parmenide Platonico. Stuttgart 1851. 1 f, 16 f. In der angelsächsischen Plato-Forschung hat (im Anschluß an Grote) vor allem Richard Robinson den „gymnastischen" Charakter des zweiten Teils zum Ausgangspunkt seiner Interpretation gemacht: Plato's Earlier Dialectic. Kap. 13, § 7. Freilich bestimmt er den Text dann nur als eine von keiner Methode regulierte Kollektion von Argumenten, an denen der Leser sich im Auffinden von Trugschlüssen üben soll. 28
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die „ti esti"-Frage zu üben pflegt. Da wird ihm etwa auf die Frage, was Tapferkeit eigentlich sei, geantwortet: Tapfer ist, wer, in Reih und Glied bleibend, die Feinde ab wehrt. Antworten dieses Typs pflegt SOKRATES zu verwerfen, weil sie (a) nur nach einem Exempel greifen, dem sich ohne weiteres andere an die Seite stellen ließen, weil (b) auch ein gegenteiliges Verhalten als Beispiel angeführt werden könnte, und weil (c) das Beispiel nicht einmal eindeutig ist, sondern genausogut ein Laster exemplifizieren könnte. Dem hält SOKRATES die Forderung entgegen, die zur Diskussion stehende Tugend (tim es mit Hegels Worten auszudrücken) „an imd für sich selbst zu betrachten". Daß PLATO eine richtige Forderrmg an das Erkennen stellte, bedeutet in Hegels Augen nicht, daß er dieser Fordenmg selber stets genügte. So kann Hegel auch sagen, daß dem PcATonischen Dialog „eine systematische Exposition" oft nicht gelingt, weil er „in der Ausführung an Beispiele und Weisen des gemeinen Bewußtseins erinnert" (Bd 14. 185). Die von Hegel beobachtete methodische Ambivalenz der Beispiel-Verwendung im PLATonischen Dialog ist für eine Auseinandersetzung mit der PLATO-Kritik WITTGENSTEINS von großer Bedeutung. Diese Kritik ist nämlich, unter dem hier zur Debatte stehenden Aspekt betrachtet, eine Umkehnmg der Hegelschen PiATO-Kritik: Der PLATonische Dialog berücksichtigt in der Durchführung seines Themas „Beispiele und Weisen des gemeinen Bewußtseins" oftmals nicht genug. Ich kann hier nur im Vorübergehen auf diesen Kontrast aufmerksam machen. In den Schriften, in denen WITTGENSTEIN zum ersten Mal die semantische Struktur hervorhebt, die er durch die Metapher „Familienähnlichkeit" bezeichnet, dient ihm jedesmal ein PLATO-Text als Folie: der Anfang des Theaitetos: „Die Vorstellung, daß man, um sich über den Sinn eines generellen Terms klar zu werden, das gemeinsame Element in all seinen Anwendungsfällen finden muß, hat hemmend auf philosophische Untersuchungen gewirkt. Sie hat nämlich nicht nur keine Resultate gezeitigt; sie hat den Philosophen konkrete Fälle als irrelevant abtun lassen, die ihm doch allein hätten helfen können, den Gebrauch des Vgl. zum folgenden: Ladies. 190 Eff; ferner: Euthyph. 6 D f; Charm. 159 B ff ; Resp. 331 C. Um diese Kritik an der Frage des Ladies zu konkretisieren: (a) auch im Seesturm, in der Krankheit etc. kann man tapfer sein; (b) im Rückzugsgefecht kann man sich ebenfalls als tapfer bewähren (Plato hat Ladies selber zuvor wiederholt darauf hinweisen lassen, daß er Sokrates bei der Flucht von Delion als tapferen Mann kennengelernt habe); (c) in der Phalanx zu bleiben, kann ebensogut Ausdruck gedankenloser Tollkühnheit sein. V. Goldschmidt: Les dialogues de Platon. Paris 1963. 37 ff hat die kritischen Argumente prägnant charakterisiert; (a) et alia; (b) et oppositum; (c) et idem non.
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generellen Terms zu verstehen. Wenn SOKRATES fragt; „Was ist Wissen?", so sieht er nicht einmal eine vorläufige Antwort darin, daß man Fälle von Wissen aufzählt." „Während unsere Antwort in einer solchen Aufzählung tmd der Angabe einiger Analogien besteht. (Wir machen es uns in der Philosophie in gewissem Sinne immer leichter und leichter.)" Eine genauere Betrachtung von THEAETETS Antwort auf die Frage des SOKRATES lehrt, daß diese Antwort in PLATOS Augen schwerlich irrelevant für die Verständigung über den Sinn von „Wissen" gewesen sein kann. THEAETET sagt: „Mir scheinen sowohl alle Dinge, die man bei THEODOR lernen karm — die Geometrie und was du sonst noch gerade aufgezählt hast (sc. Astronomie, Harmonielehre, Arithmetik) —, als auch die Schusterei und die Fertigkeiten der übrigen Handwerker, alle zusammen imd jedes einzelne von ihnen, nichts anderes als Wissen zu sein" (146 CD). Der Unterschied, der sich an den von THEAETET aufgezählten konkreten Fällen von Wissen ablesen läßt, wird im Politikos mit Hilfe der Bestimmungen „episteme gnostike" und „episteme praktike" explizit gemacht (258 DE). Man darf die Behandlung der Antwort des THEAETET durch die Dialogfigur SOKRATES (in einem aporetisch verlaufenden Gespräch) also nicht mnstandslos mit ihrer Bewertung durch PLATO gleichsetzen. „Morgen aber, THEAITETOS, wollen wir ims wieder hier treffen": ein solcher Dialogschluß kann als Andeutung der Möglichkeit einer Revision der zu Beginn des Gespräches gemachten Voraussetzungen gelesen werden (vgl. oben S. 112). Lehrreich ist in diesem Zusammenhang auch der (ebenfalls aporetische) Dialog Menon. Was „Spiel" in WITTGENSTEINS Augen ist, das ist für MENO „Tugend". Er zählt die Tugenden des Mannes, der Frau und des Kindes, des Herrn imd des Sklaven auf (71 E ff) und bezweifelt, daß es etwas gibt, was ihnen allen gemeinsam (imd eigentümlich) ist: „Mir scheint dies (sc. das Sein der ,arete') eben nicht jenen andern Fällen gleich zu sein" (73 A), in denen man die sokratische Frage „Was ist A?" in der Tat beantworten kann durch die Spezifikation von hinreichenden und notwendigen Bedingungen, die jeder Gegenstand gleichermaßen erfüllen muß, der zu Recht als A angesprochen werden soll (75 A). Im Gegensatz zum PLATonischen SOKRATES stimmt ARISTOTELES MENO ZU. Daß PLATO MENO SO antworten läßt, zeigt zumindest, daß er nicht einfach voraussetzt, jeder Begriff sei nach dem Modell von „Quadrat = gleichseitiges Rechteck" (vgl. 3“ Wittgenstein: The Blue and Brown Books. Oxford 1958. 19 f; vgl. 26 f. 31 Wittgenstein: Philosophische Grammatik. Frankfurt 1969. 120 f; vgl. 75 f. 32 Politik. I. 13. 1260 a22ff; vgl. III. 4.
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Theaei. 147 C ff; Meno 75 E ff) explizierbar. Das ändert natürlich nichts daran, daß er derartige Begriffsbestimmungen als Vorbilder für die Beantwortung der „ti estin"-Frage verwendet. Und genau auf dieses methodische Vorgehen wäre WITTGENSTEINS Kritik zu beziehen. Im zweiten Teil des Parmenides versagt sich PLATO jeglichen Rekurs auf „Exempel und Vergleichungen". Somit scheint er in diesem Text noch am ehesten Hegels Desiderat des „immanenten Gangs der Entwicklung" (L 1.19) erfüllt zu haben. Aber wir werden sehen: Daß „in den reinen Begriffen allein fortgegangen und sich bewegt wird" (Bd 14. 223), ist keine hinreichende Bedingimg dafür, daß ein Gedankengang den Hegelschen Titel der Immanenz verdient. Trotz seiner plastischen Form, derentwegen Hegel den zweiten Teil des Parmenides als größtes Kxmstwerk der alten Dialektik preist, ist er nicht in jeder Hinsicht als vollkommen anzuerkennen. Warum nicht? 2. Die ersten beiden Hypothesendurchführungen Die Antwort auf diese Frage gibt Hegel in der Anmerkung 3 zum Anfangskapitel der Wissenschaft der Logik: „Die Dialektik, nach welcher PLATO das Eine im Parmenides behandelt, ist gleichfalls mehr für eine Dialektik der äußeren Reflexion zu achten . . Nachdem er von dem Einen die mancherlei Bestimmungen von Ganzen und Teilen, in sich selbst, in einem Anderen Sein usf., von Figur, Zeit usf. entfernt, so ist das Resultat, daß dem Einen das Sein nicht zukomme; denn anders komme einem Etwas das Sein nicht zu als nach einer jener Weisen (p. 141, e; Vol. III. ed. Steph.). Hierauf behandelt PLATO den Satz: das Eine ist; und es ist bei ihm nachzusehen, wie von diesem Satze aus der Übergang zu dem Nichtsein des Einen bewerkstelligt wird; es geschieht durch die Vergleichung der beiden Bestimmungen des vorausgesetzten Satzes: das Eine ist; er enthält das Eine und das Sein, und ,das Eine ist' enthält mehr, als wenn man nur sagt: das Eine. Darin daß sie verschieden sind, wird das Moment der Negation, das der Satz enthält, aufgezeigt. Es erhellt, daß dieser Weg eine Voraussetzimg hat, und eine äußere Reflexion ist." (L 1. 87) Im folgenden werde ich die erste Durchführung der affirmativen Hypothesis tmd den Anfang der zweiten Durchführung im Blick auf Hegels Darstellung und Kritik dieser Argumentation analysieren. Die Formulierung der affirmativen Hypothesis „ei hen estin" ist strukturell mehrdeutig, wenn sie isoliert betrachtet wird. Der Ausdruck „hen" könnte (1) grammatisdies Subjekt sein, so daß die Hypothesis
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über das Eine sagen würde, daß es ist. Er könnte auch (2) Prädikat sein; dann wäre „estin" Kopula, und es würde gesagt: „wenn (es) eines ist", — ohne daß der Satz selber eine Auskunft darüber enthielte, wovon hier angenommen wird, es sei eines. Erst aus dem Kontext des Satzes ginge dann hervor, daß die Hypothesis eine Annahme über das Eine ist (137 C4; vgl. 137 B3). Daß die dialektische Übung sowohl an (1) „Das Eine ist" als auch an (2) „Das Eine ist eines" vorgenommen werden könnte, gibt PARMENIDES implizit zu verstehen, wenn er bei der Charakterisierung der einzuübenden Methode sagt; „Wovon auch immer man annimmt, es sei oder es sei nicht — oder welche andere Bestimmung ihm auch zukommen möge —, man muß prüfen, was sich daraus ergibt. ." (136 B7 f). Der Verlauf der dialektischen Übung erzwingt nun aber eine Entscheidung für Lesart (1). Eine Plypothesis und ihre Negation sollen auf ihre Konsequenzen hin untersucht werden (135 E8— 136 A2). Wäre die affirmative Hypothesis der Satz (2), so müßte als negative Hypothesis von 160 D3 an erörtert werden: „Das Eine ist nicht eines". Aber nicht diese Annahme wird dort zur Diskussion gestellt, sondern: „Das Eine ist nicht". Also lautet die affirmative Hypothesis: (H) Das Eine ist. Bei der Prüfung dieses Hypothesis wird freilich immer wieder explizit von der „selbstprädikativen" Annahme (SP) Das Eine ist eines Gebrauch gemacht (137 C9 — D2, D3,138 B4 — 5, C2,140 Al — 2, Dl). Es kommt bei der Durchführung der Hypothesis (H) schließlich (141 E9 — 10) zur Ableitung der Konsequenz (K) Das Eine ist auf keine Weise. Aus (K) wird daim sogleich (141 ElO/ll) gefolgert: (L) Das Eine ist nicht eines. Man sieht sogleich, daß (K) und (L) nichts anderes als die Negationen von (H) und (SP) sind. Wenn (K) die Negation von (SP) impliziert, so können wir nach dem Prinzip der Kontraposition schließen, daß (SP) die Negation von (K) impliziert: Wenn das Eme eines ist, so ist es (141 Eli). Diese Implikationen sind ein Beleg dafür, daß das absolut gebrauchte „einai", das PLATO mit „ousias metechein" paraphrasiert, nicht den Sinn des Existenzoperators 53 Vgl. G. Ryle: Plato's Parmenides. In: Allen (Hrsg.): Studies in Plato's Metaphysics. London 1965. 113 f.
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oder des ttmgangssprachlichen ^,es gibt" hat. Wenn etwas — heißt es in der sechsten Hypothesendurchführung — an einer Gattung wie Größe, Ähnlichkeit, Verschiedenheit teilhat, dann ist es (163 E7—164 B4). Aber daraus, daß Kentauren verschieden von Einhörnern sind, folgt nicht, daß es Kentauren gibt (daß sie existieren). Der Schritt von einer Behauptung der Form (1) X ist P zu einer Behauphmg der Form (2) X ist wird von PLATO also anscheinend analog zum Übergang von
(3) X bewegt sich mit der Geschwindigkeit v zu (4) X bewegt sich verstanden. So wie eine Aussage der Form (3) darm imd nur dann wahr ist, wenn eine Aussage der Form (4) wahr ist, so ist auch eine Aussage der Form (1) dann tmd nur dann wahr, wenn eine der Form (2) wahr ist. Die erste Durchführung zeigt, daß die Prämissenmenge, die die Ableitung von (K) und somit auch von (L) möglich macht, nicht mit (H) kompatibel ist. Wodurch hat die vorangegangene Argumentation die Negation der Hypothesis heraufbeschworen? Diese Frage legt PARMENiDES selber nahe, indem er die Ableitung von (K) und (L) mit den Worten kommentiert; „wenn man einer solchen Argumentation trauen darf" (141 E23 f). Worauf — so köimen wir tmsere Frage auch formulieren — bezieht sich die Wendung „eine solche Argumentation"? 141 E7 —8 fragt PARMENIDES: „Kann etwas anders am Sein teilhaben als auf eine dieser Weisen (kata touton ti)?", und ARISTOTELES antwortet: „Nein, das ist nicht möglich." Aus dieser Voraussetzung wird dann (K) abgeleitet. — Welches sind die Modi der Partizipation am Sein? Fast alle Ausleger sind der Ansicht, daß PARMENIDES hier auf das unmittelbar zuvor formulierte Resultat des VIII. Theorems Bezug nimmt (141 D7—E7), demzufolge „Das Eine" in keiner der folgenden Satzfunktionen für „x" eingesetzt werden darf; (1) X wird künftig P sein (werden), (2)
X ist (wird) jetzt P,
(3)
X
war (wurde) früher P.
^ Vgl. G. E. L. Owen: Notes on Ryle's Plato. In: Wood, Pitdier (Hrsg.): Ryle. London 1971. 352. Freilich verwischt Owen diesen Punkt dadurch wieder, daß er statt „ist" sagt „is or exists".
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Etwas, von dem man erst (1), dann (2) imd schließlich (3) sagen kann, „wird älter". Demnach imterstellt PARMENIDES 141 E7 — 8, daß alles, was am Sein teilhat, älter wird. Nun bestreitet aber der PLAxonische Timaios (27A2 —6) genau diese Voraussetzung: Sie erweist sich nämlich angesichts dessen, was sich immer auf ein und dieselbe Weise verhält, als falsch. Es liegt also nahe, die Äußerung der Skepsis gegenüber einer „solchen Argumentation" (zumindest auch) auf diese Voraussetzung zu beziehen. Hegel versteht die Rede von den Weisen der Partizipation anders: „Nachdem er von dem Einen die mancherlei Bestimmungen von Ganzen und Teilen. . . usf. entfernt, so ist das Resultat, daß dem Einen das Sein nicht zukomme; denn anders komme einem Etwas das Sein nicht zu als nach einer jener Weisen (p. 141, e)." Hegel bezieht die Wendung „kata touton ti" (141 E8) auf alle durchlaufenen Kategorien. (K) ist dann eine Konsequenz der einleuchtenden Annahme, daß etwas, das weder ein Ganzes ist. . noch mit sich identisch ist. . noch in der Zeit ist (Theoreme I bis VIII), gar nicht am Sein teilhat. Man müßte sich demgemäß im BuRNETSchen Text hinter der emphatischen Zustimmung des ARISTOTELES zu dem Nachweis, daß das Eine an keinem der Modi der Zeit teilhat (141 E7: „Alethestata"), einen Absatz denken. — Mit dieser Deutung folgt Hegel (zumindest der Sache nach) dem Parmenides-K.ommentar des PROKLOS, in dem es heißt: „Er sagt, daß alles, was am Sein teilhat, auf eine dieser Weisen teilhat, womit er nicht das unmittelbar zuvor Gesagte meint, sondern alles das zusammengenommen, was in der ersten Hypothesis aufgezählt worden ist." Akzeptiert man diese Auslegung, so muß man den von PARMENIDES angedeuteten Vorbehalt gegenüber einer „solchen Argumentation" auf die Hypothesendurchführung als ganze beziehen. Bei Hegel ist nun freilich von einem Vorbehalt (gleichgültig welcher Reichweite) überhaupt nicht die Rede. Genausowenig wie PROKLOS, dessen theologische Interpretation der ersten Durchführung er nachdrückVgl. 7. IV. Forrester: The Structure of the First Hypothesis. In: Joum. Hist. Phil. 10 (1972), 6, der sie nur auf diese Prämisse bezogen wissen will. ln Farmen. 1240, 7—10. Der sechste Band der Proklos-Ausgabe Cousins, der diese Stelle enthält, erschien 1827. Die zweite Ausgabe der „Logik des Seins", in der Hegels Anmerkung zum Parmenides steht, erschien 1831. Mir scheint dies die von Beierwaltes vermißte Äußerung Hegels zu sein, „die spezifische Kenntnis des proklischen Parmenides-Kommentars verrät" {W. Beierwaltes: Hegel und Proklos. In: Hermeneutik und Dialektik. Hrsg, von Bubner, Cramer, Wiehl. Tübingen 1970. Bd2. 246).
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lieh gegen ihre rationalistischen Verächter — TIEDEMANN U. a. — verteidigt (Bd 14. 244; 15. 76; vgl. Krit. 207 f), kann Hegel jenen selbstkritischen Rückblick des PARMENIDES motivieren. Die neuplatonische Auslegung der ersten Hypothesendurchführung gilt Hegel deshalb als ^,tiefsiimig"/ weil sie den Schein zerstört, als sei deren Resultat „nur negativ" (Bd 15. 75). PROKLOS versteht diese Durchführung als Entwurf einer Negativen Theologie: Ihr Thema ist seiner Meinung nach das „Erste", der „Erste Gott". Deshalb deutet er (K) als eine Negation, die der entsprechenden Affirmation „überlegen" ist; denn: „das Erste ist jenseits des Seins". Die Frage, warum PARMENIDES und der junge ARISTOTELES einem so überwältigenden Resultat mit so deutlichem Mißtrauen begegnen, kann im Rahmen der neuplatonischen Interpretation nicht plausibel beantwortet werden. Auch werm man die Rede von den Partizipationsweisen in 141 E7 — 8 im Sinne der heute üblichen Deutung allein auf das Zeit-Theorem bezieht, sollte man nicht nur die Annahme für suspekt halten, daß alles älter wird, was am Sein teilhat. Wie leitet PARMENIDES Z. B. das VI. Theorem ab, demzufolge die Begriffe der Ähnlichkeit und der Unähnlichkeit auf das Eine nicht anwendbar sind? Er verwendet dabei folgende Prämisse (140 Al — 2): (P) Wenn dem Einen nicht nur zukommt, eines zu sein, so kommt ihm zu, mehr als eines zu sein. Die Apodosis von (P) erklärt PARMENIDES sogleich für „immöglich". Warum? Das Eine (selbst) — so hatte SOKRATES im Gespräch mit ZENO angenommen — ist (im Unterschied etwa zu einem Menschen) nicht vieles. Daß diese Annahme berechtigt ist, hat PARMENIDES bei der ersten Hypothesendurchführung von Anfang an vorausgesetzt: Wenn das Eine ist (H), dann ist es nicht vieles (137 C4 — 5). Wir können (SP) also erweitern zu (SP’*’) Das Eine ist eines imd nicht vieles. Die Apodosis von (P) hält PARMENIDES also deshalb für unmöglich, weil sie (SP“^) widerspricht. Aber warum glaubt er, daß dieser mit (SP*) In Parmen. 1037, 5—12. Vgl. O. Zimmermann: Platons Parmenides und der Kommentar des Proklos. Bottrop 1936. 17 ff, und W.Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt 1965. 339 ff. ä® In Parmen. 1240, 21. Er glaubt, sich dabei auf Resp. 509 B berufen zu können. Vgl. neuerdings Forrester, 4 f. Gegen Forrester, 7: Alles andere sei „to be accepted as straightforward doctrine".
Hegel als Leser Platos
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unverträgliche Satz aus der Protasis von (P) folgt? Verständlich wird dies nur, falls er unterstellt: (IN) Wenn dem Einen nicht nur zukommt, eines zu sein, dann ist es ein aus Teilen bestehendes Ganzes. PARMENIDES hat nämlich aus (SP*) und (O) Wenn etwas ein aus Teilen bestehendes Ganzes ist, dann kommt ihm zu, mehr als eines zu sein das I. Theorem abgeleitet (137 C4 — D3): Das Eine hat keine Teile, und es ist kein Ganzes (so auch 159 C5, Resp. 526 A3—4, Soph. 245 A8—9). Aus (IN) und (O) folgt nun aber (P). Indem PARMENIDES (IN) voraussetzt, verwendet er ein durchaus dubioses „ ,Ingredienz'-Modell der Prädikation", dem wir zu Beginn der zweiten Hypothesendurchführung wiederbegegnen werden. „Willst du also", fragt PARMENIDES, „daß wir noch einmal von vom auf unsere Hypothesis zurückgehen imd zusehen, ob sie sich uns bei erneuter Betrachtung etwas anders darstellen wird?" (142 Bl—2). Er befolgt also die Maximen des Siebenten Briefes für den Gebrauch der Widerlegungsktmst: Er versucht, der „widerlegten" Hypothesis zu Hilfe zu kommen. In Hegels Darstellung (wie in vielen anderen Interpretationen) erscheint dieser Schritt zur zweiten Durchführung derselben Hypothesis wie ein Übergang zu einem anderen Thema: „Hierauf behandelt PLATO den Satz: Das Eine ist." Um Hegels Kommentar zu PLATOS Behandlimg diese Satzes beurteilen zu können, müssen wir das Proömium der zweiten Durchführung (142 B3 — C7) und deren I. Theorem (142 C7 — 143 A3) analysieren. Diese Durchführung beginnt mit einer Reflexion auf das mit der Hypothesis Gesagte, auf die Binnenstruktur von (H): Die Aussagen (H) und (H') Das Eine hat Teil am Sein haben denselben Sinn (B5 — 6, C5 — 7). Die Formulienmg (H') macht deutlich, daß die Hypothesis nicht mit (X) hen hen verwechselt werden darf (C2 —3). Wie ist (X) zu verstehen? Vielleicht soll es sich gar nicht um eine Aussage handeln, sondern um eine Kette von „onomata", die in Ermangelimg eines „rhema" überhaupt keinen Logos ergibt, — so wie der Sophistes das an der Substantiv-Liste „Löwe Hirsch Pferd" demonstriert (262 A—C). PARMENIDES würde demnach Owen, 369.
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darauf hinweisen, daß es etwas anderes ist, ob man über das Eine sagt, daß es ist, oder ob man das Eine bloß zweimal nennt. Da man aber im Griechischen die Kopula auch weglassen kaim, könnte mit (X) auch gemeint sein: Das Eine ist eines. Demnach würde PARMENIDES hervorheben, daß (H) und (SP) nicht denselben Sinn haben. Versteht man (X) als (SP) — imd diese übliche Deutung liegt doch wohl näher als die erste —, darm ist diese Stelle ein weiterer Beleg dafür, daß die strukturell mehrdeutige Formulierung der Hypothesis oben zu Recht im Sinne von (H) ausgelegt worden ist. Wenn die dort verworfene Deutung nämlich richtig wäre, so würde PARMENIDES jetzt mit (SP) — wie CoRNFORD und andere meinen — an das erinnern, „was imsere Annahme in Hyp. I war" (136). Er würde mit „nyn de. die Untersuchung einer anderen Hypothesis ankündigen xmd seine gerade erst formulierte Absicht, die (!) Hypothesis einer neuerlichen Prüfung zu imterziehen, schon wieder aufgegeben haben. Da (H) imd (SP) nicht denselben Sinn haben, ist, so argumentiert PARMENIDES, das Sein des seienden Einen nicht identisch mit der Einheit des seienden Einen. Und er schließt daraus: Also sind das Sein des seienden Einen und seine Einheit verschiedene Teile des seienden Einen, und es ist ein Ganzes. Nim gilt von jedem Teil des seienden Einen — so argumentiert PARMENIDES weiter —, daß er einer ist und daß er ist; also läßt sich auf ihn dieselbe Überlegung anwenden wie auf das seiende Eine: er besteht aus Teilen, usw. ad Infinitum. Die Frage, aus wievielen Teilen das seiende Eine besteht, läßt sich demnach nicht beantworten. Wenn man einer solchen Argumentation trauen darf, so ist (SP*) falsch. Das seiende Eine ist vielmehr eines und vieles (145 A2). Hegel bezieht sich auf diese Argumentation, wenn er den Leser auffordert, „nachzusehen, wie von diesem Satze aus [sc. von (H) aus] der Übergang zu dem Nichtsein des Einen bewerkstelligt wird". Der Fortgang seiner Anmerkung macht nämlich deutlich, daß er nicht den Übergang zur negativen Hypothesis („wenn das Eine nicht ist") meint. Außerdem bezieht er sich an einer späteren Stelle der Wissenschaft der Logik auf unseren Passus mit folgenden Worten zurück: „Es ist oben der Dialektik PLATOS im Parmenides über die Ableitung des Vielen aus dem Hegel referiert unseren Passus mit den Worten: „,das Eine ist' enthält mehr, als wenn man nur sagt: das Eine". Entweder hat er nicht genau gelesen, oder er hat einen Text vor sich gehabt, dem die Handschrift T zugrundeliegt: ,ei hen,...' (vgl. Burnets Apparat und Brumbaugh, 245, MSS Nr 9). Da dieselbe Handschrift in C 2 den Text „hen hen" hat, muß man sich natürlich an die von Burnet abgedruckte Lesart halten.
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Eins, nämlich aus dem Satz: Eines ist, — erwähnt und erinnert worden" (L 1.163). Und in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie rekapituliert er dieselbe Argumentation mit den Worten: „Das Eine ist; es folgt hieraus, daß das Eine nicht gleichbedeutend ist mit dem Ist, so daß also das Eine und das Ist unterschieden sind. Es ist also in dem Satze: Das Eine ist, der Unterschied; so ist das Viele darin, und so sage ich mit dem Einen schon das Viele" (Bd 14. 246). Diese Parallelen zeigen, daß mit der unscharfen Rede vom Übergang zu dem Nichtsein des Einen an imserer Stelle gemeint ist: der Übergang zum Vielessein des Einen. Jedesmal wenn Hegel auf den Anfang der zweiten Durchführung zu sprechen kommt, wiederholt er die Kritik: „Es erhellt, daß dieser Weg eine Voraussetzung hat und eine äußere Reflexion ist." Dieser Kritik ist der Sache nach zuzustimmen. PARMENIDES setzt voraus, was er schon bei der ersten Durchführung angenommen hat: (IN) Wenn dem Einen nicht nur zukommt, eines zu sein, dann ist es ein aus Teilen bestehendes Ganzes. Es gibt nun zweifellos Prädikate, mit denen man einem Gegenstand implizit den Besitz bestimmter Teile zuschreibt. Das gilt z. B. von dem Prädikat in (1) Dieses Wasser ist salzig. Aber trifft es auch auf eine Aussage wie (2) Dieser Kreis ist rot zu? Gewiß nimmt man mit der Kennzeichnung (la) das Salz in diesem Salzwasser auf einen Bestandteil des Salzwassers Bezug. Aber verwendet man auch (2a) die Röte dieses roten Kreises auf diese Weise? WITTGENSTEIN hat diese Fragen zu Recht verneint: „Zu sagen, ein roter Kreis bestehe aus Röte imd Kreisförmigkeit oder sei ein Komplex aus diesen Bestandteilen, ist ein Mißbrauch dieser Wörter und irreführend." Indem PARMENIDES (IN) voraussetzt, interpretiert er Wendimgen wie das Sein (bzw. die Einheit) des seienden Einen fälschlicherweise nach dem Modell von (la). Darin manifestiert sich eine „primitive, allzu einfache Vorstellimg von der Struktur der Sprache", — die Annahme, „daß wir immer dann, wenn wir eine prädikative Behauptxmg aufstellen, aussagen, daß das Subjekt gewisse Ingredienre process was unnecessary for philosophical expression; it culminated in a set of names whose only function is to have their meanings transformed by thought. Marx thus arrives at what amount to two different sets of representational nan»»s, those wih represenational meaning and those with the meaning of thought; and the process which produces each is incomprehensible from the point of view of the other. The labors of the intelligence in "Representation" appear from the side of mechanical memory as unnecessary; while from the side of those labours, the mechanical memory appears to be merely ad hoc. Not having separated the two types of expression fully enough, Marx does not see their complementarity and cannot show their reunification.
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von einigen Dingen sagt, daß sie zwei Namen haben, den einen in der Sprache der Götter, den andern in der Sprache der übertägigen Menschen, so gibt es für jenen Gehalt zwei Sprachen, die eine des Gefühls, der Vorstellung, und des verständigen, in endlichen Kategorien und einseitigen Abstraktionen nistenden Denkens, die andere des konkreten Begriffs." (Enz. 12). Taking up the HoMERic allusion in his review of GOESCHEL, Hegel maintains that the human side of language is no more to remain outside the System than is religion, but is to receive its final validity within it: "Wie HOMER von einigen Gestirnen angibt, welchen Namen sie bei den unsterblichen Göttern, welchen anderen bei den sterblichen Menschen führen, so ist die Sprache der Vorstellung eine andere als die des Begriffs, und der Mensch erkennt die Sache nicht bloß zunächst an dem Namen der Vorstellung, sondern in diesem Namen ist er erst als lebendig bei ihr zu Haus, und die Wissenschaft hat nicht bloß in jene abstrakten Räume, xmd zwar abstraktere, als die sind, worin jene unsterblichen Götter — lücht der Wahrheit, sondern der Phantasie — wohnen, ihre Figurationen einzuschreiben, sondern deren Menschwerdung, und zwar einer jeden rmmittelbar für sich selbst, die Existenz, die sie im wirklichen Geist erhalten — und diese ist die Vorstellung — nachzuweisen und zu verzeichnen." The "incarnation" of language is what we have described in terms of Hegel's logical category of teleology. It is possible because the „language of the gods", or of the Concept, is itself a memory of the language of men and retains its homonymity with it. When this homonymity is, via the appropriate dialectic of "chemical processes", worked into the identity of content between the two languages, we have an expression which consists, like names in mechanical memory, of fleeting posits of Spirit and is adequate to the fluency and universality of thought (the latter in the sense that anyone who can think systematically can understand it, since its meaning comes entirely from thought), but whose sigrüficances have been demonstrated to be the same as those of the pre-philosophical world. The account of philosophical language at Hegel: Berliner Schriften. Hrsg, von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/Main 1970. 378. For philosophical language as a mediation of pre-philosophical and purely Conceptual language, cf. as well the discussions of "Verstehen" at Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Hrsg, von J. Hoffmeister und F. Nicolin. Hamburg 1959. 49 ff, and of "Bedeutung" at Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg, von G. Lassen. Bd 1. 1925. 30 f.
Hegel's philosophical languages
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whicK we have arrived is not merely congruent with Hegers texts: it provides a classical Hegelian solution to the dilemma we sketched earlier. Moreover, on Hegel's terms it is a valid solution: given that the content of the pre-philosophical world is identical with that of philosophical thought (a claim coextensive, of course, with Hegelianism and beyond our scope here), the rest follows quite clearly. A concrete example enables us to see how the universal truths of philosophy can find expression through particular pre-philosophical languages. The first moment of the System was expressed by Hegel as "Sein" but any other name in mechanical memory homonymous with the pre-philosophical terms of which that moment gives the final truth would have done as well. German may contain no other such words — but they do exist: "being", "L'etre", "esse", and "To ov" are examples. Insofar as different pre-philosophical languages express different sets of representations (as French has no equivalent for "mind", and English none for "Geist"), different "chemical processes" will be required to bring out the identity between System and world. For some languages — e. g. those which, like Hottentot, have no metaphysical tradition — these processes will be very difficult indeed, amoimting to a revamping of the language. Nonetheless, because Hottentots are rational, it is in principle possible for a Hottentot to rmderstand the System without totally abandoning his Hottentotness. The Our belief that Hegel saw and solved this problem is einforced by the similarities of the solution here offered and that worked out independently (of Hegel) by Joseph Derbolav {Hegel und die Spradie. 56—86). Derbolav, attempting to think together the beginnings of the Phenomenology and the Logic, is able to uncover the linguistic significance of the latter: that Being, the immediate and indeterminate universal, must be considered as analogous o the immediacy and indeterminacy of the objects of opining ("meinen") — and must hence be viewed in terms of the immediate and utterly individual meanings of the "proper names" of sensuous consciousness. Being thus manifests itself, says Derbolav, in the "mere word" which has meaning only in the activity of opining and for itself is abut an empty word-husk (op. cit. 84). Derbolav thus recognises that language as presented in Encyclopedia §g 459—462 is overly formal and abstract; but, not seeing the importance of the mechanical memory, turns to the Phenomenology to find it. His approadi, thus "independent" of Hegel, does not yield an adequate account of Hegelian philosophical language because the language of opining in the Phenomenology's opening pages is supposed to refer to what is other than it: to sense-givens. Philosophical language in Order to express thought which is free and not determined from without, cannot be conditioned by what is external to it in this way — as names in mechanical memory, precisely, are not.
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System cannot be translated from one language to another, but it can be written in eacK.
A number of consequences follow from this view of Hegelian philosophical language. (1) . The relation of philosophical is not, for Hegel, binary; it contains the four terms of thought, names in mechanical memory, pre-philosophical language, and final philosophical language. (2) . Philosophical language for He only be imderstood in the context of its use. (3) . This use requires a pluralit the identity of content between system and world is clear and who can therefore express each moment of thought in the homonym of the appropriate name in pre-philosophical language, and one who needs such an external adumbration of this identity, presumably because it is not clear to him. Without the former, the complicated dynamics of philosophical language are impossible. Without the latter, they are unnecessary; and Hegel's view of philosophical language is incomprehensible apart from the communicative context in which such language occurs. (4) . The question of the relation was neither begged nor ignored by Hegel, but was a central concern of his thought — one with which he wrestled each time he named one of his categories. We can even say that his attempts to do justice to prephilosophical meanings in such naming constitute an attempt — the major modern attempt — at a systematic analysis of language (one which, to be sure, is partially and rigorously revisionary). (5) . There is a major difference b menology of Spirit and that of the properly systematic works. In the Phenomenology, consciousness has not yet attained the point to which it is striving, absolute knowledge; and this means that (in contrast to the systematic works) the telos of the dialectic of the Phenomenology is not explicitly present at the begirming. It follows that names in mechanical memory cannot be used for the expression of the "ladder to the System"; everything in the Phenomenology must rather be phrased in the various levels of pre-philosophical language, from that of sense-certainty to that of religious representation. This may have
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bearing on the ambiguous Status of the Phenomenology's relation to the System, and in particular on the systematic reasons for the great length of the Phenomenology of Spirit, in comparison with the „Phenomenology" of the Encyclopedia. (6). In the mechanical memory, representational meaning constitutes the Connections of terms and is destroyed: what remains, then, is just the rcmdom successions of words (e. g. lists of names) held together by the "empty band" of the intelligence. This means that grammatical form, a product of the understanding (§ 459 Anm.) is likewise absent from names in mechanical memory — and from the first objectification of philosophical thought as well. That objectification is then free to receive, not merely its meaning from thought, but the forms of connection of its various names: those Connections would be, in the system's final expression, purely logical (i. e. syllogistic) and not grammatical. The complex dialectic of grammatical form and philosophical content found in Hegel's discussions of the "speculative sentence" wordd have a place only in the "chemical process" of dialectical working-up of representational content. While crucial to the Phenomenology (where pre-philosophical language must be used), the "speculative sentence" is supplementary in the System.
Cf. Otto Pöggeler: Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes: In: HegelStudien. 1 (1961), 255—294. We can hardly discuss this complicated topic here; but we might note that since in the Encyclopedia "Phenomenology" Reason has gained "the simple identity of the subjectivity of the Concept and its objectivity and universality" (§ 438), it needs (and has) names in mechanical memory to express itself. Reason in the Phenomenology of Spirit, however, has a language which is more like that of sense-certainty (cf. preceding note): "Sein erstes Aussprechen ist nur dieses abstrakte, leere Wort, daß alls sein ist. ... für die Erfüllung des leeren Meins bedarf seine Vernunft eines fremden Anstoßes, in welchem erst die Mannigfaltigkeit des Empfindens oder Vorstellens liege" (Hegel; Phänomenologie des Geistes. Hrsg. V. J. Hoffmeister. Hamburg 1952. 180 f). In the Phenomenology, the experience of each Stage must be expressed in the language proper to that stage if the development is not to get ahead of itself and become "for us" rather than "for Consciousness". The deficient language available to Reason in the Phenomenology may well contribute to the length of its journey to the absolute knowledge, and language, presupposed by the "Phenomenology" of the Encyclopedia. In saying that the only connection of terms in the mechanical memory is the abstract ego as "empty band", Hegel presumably is completing, for the purpose of his System, the historical development towards simplification of grammar he refers to at § 459 Aiun. and in "Die Vernunft in der Geschichte" (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. 166). Cf. Marx, op. cit.; Jere Paul Surber: Hegel's Speculative Sentence. In: HegelStudien. 10 (1975), 211 229.
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(7). The realisation of the Concept in language proceeds in three stages; each of these corresponds to one phase of the threefold mediation of philosophy referred to in the Encyclopedia (§§ 87 Zus.; 575—577). The first mediation — that by nature — is on our view accomplished by the intemalised sensations of names in the „space" and time of the mechanical memory. The second mediation, in which Spirit raises nature "zu ihrem Wesen", is accomplished for us in the "chemical processes" which bring out the true significances of pre-philosophical terms. In the third mediation, logical thought reveals itself as "die absolute Substanz des Geistes wie der Natur, das Allgmeine, Alldurchdringende;" this is accomplished in philosophical language when the means, or expressed Concept, reveals itself to include and animate the end and the material.
Following Fackenheim, we will concentrate our discussion on the first of these passages: Fackenheim, 84 f. Our view of the three-fold mediation of philosophy thus corresponds in general to that of Theodore Geraets, for whom eadi syllogism expresses a reading of the system. In the first syllogism, says Geraets, the reader "forgets himself" in the objective development of thought; on our view, in this syllogism the name in mechanical memory, which expresses thought purely in itself without regard to any externality (including a reader) is the middle. The second syllogism is for us the "chemical process" in which thought encounters history and the thinker attempts, as Geraets puts it, to "comprendre — en assimilant le resultat du travail philosophique des generations precedentes — son propre temps." The third syllogism is then the unification of the other two; Th. Geraets: Les trois lectures philosophiques de l'Encyclopedie ou la realisation du concept de la Philosophie diez Hegel. In: Hegel-Studien. 10 (1975), 231—254, esp. 245—250.
GÜNTER FIGAL (HEIDELBERG) / HANS GEORG FLICKINGER (KASSEL)
DIE AUFHEBUNG DES SCHÖNEN SCHEINS Schöne und nicht mehr schöne Kunst im Anschluß an Hegel und Adorno
Die Aufforderung, über „die nicht mehr schönen Künste" nachzudenken, ^ ist in zweifacher Hinsicht durch Erfahrungen veranlaßt, die wir mit neuerer Kunst machen: dem Eingeständnis des Versagens überlieferter ästhetischer Begrifflichkeit gegenüber den faszinierendsten Werken der Moderne imd dem Verdacht, daß auch eine reformulierte Theorie der Ästhetik unangemessene Schranken für das Verständnis dieser Kunst erzwingt, solange sie sich nicht aus dem Bann affirmativer Rationalität des begrifflichen Verstehens befreit. H. R. JAUSS begründet die Titelwahl im Vorwort zu dem angegebenen Aufsatzband dementsprechend: „Angesichts der modernen Literatur und der Kunst der jüngsten Entwicklung, die das ,Ästhetische' als dieses selbst zum ,Grenzphänomen' macht, gewinnt die Frage an Gewicht, ob die einer Ästhetik immanenten Kategorien für sich allein noch hinreichen, um Erscheinung, Intention und Perzeption dieser Werke zu erklären." Die gegenwärtige Lage läßt befürchten, daß unsere eingewöhnten ästhetischen Begriffe gegenüber dem Variantenreichtum der Moderne ordnenden Zwang ausüben xmd es uns immöglich machen, das der traditionellen Theorie und ihren Maßstäben nicht mehr Zugängliche in neuerer Kunst verstehen zu lernen. Wollen wir diesem Verdacht nachgehen, so muß er zunächst in der Konfrontation mit der Leistungsfähigkeit derjenigen Ästhetik ausgewiesen werden, die die Geltung der traditionellen ästhetischen Kategorien systematisch entwickelt hat, nämlich an der Ästhetik Hegels als einer Theorie der schönen Kunst, deren Darstellung das begriffliche Instrumentarium unseres Redens über Kunstwerke bereitstellt. Seine Diagnose über die romantische Kirnst reflektiert die Erfahrung, derzufolge der dem klassischen Kunstbegriff eigene Begriff des Schönen — als vollendeter Einheit von Idee und Realität im Medium der Sinnlichkeit — immanente Grenzen erkennen läßt und deshalb seine unmittelbare Gültigkeit für ^ Vgl. den Titel: Die Nicht Mehr Schönen Künste. Hrsg, von H. R. lauss. München 1968. (Poetik und Hermeneutik. Bd 3.) — Zum folgenden ebd. 11.
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die Kunstwerke der Moderne verliert. Wenn wir uns in den folgenden Überlegungen auf Hegels Theorie der schönen Kunst einlassen, dann interessiert uns, ob mit Hilfe der systematischen Prämissen seiner Ästhetik Perspektiven für die Interpretation der Kunst der Moderne als nicht mehr schöner Kunst freigelegt werden können. Im Zusammenhang der Frage, wie nach Hegel eine philosophische Theorie der modernen Kirnst möglich sei, beansprucht ADORNOS Ästhetische Theorie ^ grundsätzliches Interesse, weil sie an die Bestimmungen Hegels anknüpft, ohne eine bruchlose Kontinuität seiner Theorie zu behaupten. „Fortschreitende dialektische Ästhetik wird zur Kritik auch an der Hegelschen" {Ä. T. 119) — zu klären, was damit gemeint ist, heißt zu fragen, wie ADORNO — indem er die Kontinuität Hegels einschränkt oder dementiert — diese Kritik im Sinne einer Kontinuität philosophischer Ästhetik vorträgt, wie er sich also den Bestimmungen gegenüber verhält, die Hegels Begriff der Kunst konstituieren und damit auch die These vom Ende der Kunst begründen. Die Frage an ADORNO ist durch unsere These motiviert, daß Hegel in seiner Theorie der schönen Kunst, wenn er deren Ende diagnostiziert, gleichzeitig auch den Ansatz einer Theorie der nicht mehr schönen Künste bereitstellt. Schöne und nicht mehr schöne Kunst sind deshalb zunächst nur Grenzbegriffe, die die Hilflosigkeit angesichts der vermeintlichen Desorientiertheit gegenwärtiger Kunst umreißen. An dem nicht mehr selbstverständlichen Begriff des Schönen läßt sich diese Hilflosigkeit zur Sprache bringen, weil er nur einer Kunst verfügbar war, in der Einheit, Identität und Harmonie als gültige Kategorien Anerkennung fanden. In Hegels Ästhetik ist die Bestimmung der schönen Kunst als schöner Schein auf zweifache Weise in die Wissenschaft der Kunst, die Hegels Ziel ist, eingebunden. Die Kunst ist schöner Schein, weil sie die Idee in der Bestimmungsform des sinnlichen Scheinens ist, womit sie den gleichen Gegenstand hat, wie die Wissenschaft in ihrer vollendeten Form der Philosophie. Sie verliert darin aber nicht ihren Scheincharakter; Philosophie ihrerseits kann ihn nur aufdecken, wenn sie das sirmliche Scheinen der Idee als ihre eigene Vorgeschichte begreift. Die Kunst wird zur Vorgeschichte des Begriffs, weil sie die strukturgenetisch verstandene Vorgeschichte der Philosophie ist. Für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst, die an der Wesentlichkeit der Kunst und damit an ihrem Wahrheitscharakter festhält, muß 2 Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M, 1970. Im weiteren Verlauf zitiert im Text: Ä. T..
Die Aufhebung des schönen Scheins
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demgegenüber die Aufhebung des schönen Scheins mit dem Ende der Gültigkeit des Darstellungsprinzips in der Kunst zusammenfallen. Die schöne Kunst ist dann nicht nur Vorgeschichte des Begriffs, sondern auch Vorgeschichte der nicht mehr schönen Kunst. Sie macht die adäquat realisierte Idee zu ihrer Vorgeschichte. Diese Bestimmung löst die Theorie der modernen Kirnst aus Hegels engem Systemkontext, ohne den VVahrheitsbezug zu der eigentümlichen Verfaßtheit moderner Rationalität aufgeben zu müssen. Mit dieser Überlegung knüpft ADORNOS Ästhetische Theorie an Hegels Kunsttheorie an. Daß die moderne Kunst im Zusammenhang eines Begriffs moderner Rationalität zu erörtern sei, darf nicht heißen, die Kunst sei Darstellung der Rationalität, sondern nur bedeuten, daß sie sich aus dem gleichen Prinzip heraus konstituiert, das auch für die moderne Vernunft charakteristisch ist. Die Frage, wie die Aufhebung des schönen Scheins in der modernen Kunst nicht nur im Sinne seiner Negation, sondern auch in dem seiner Erhaltung zu bestimmen ist, stellt sich dann umso dringlicher. Damit sind die Minimalbedingungen für eine Theorie der modernen Kunst und also auch die Kriterien für die Diskussion der Ästhetischen Theorie im vorliegenden Rahmen genannt: sie muß a) von der Ungültigkeit des Darstellungsprinzips ausgehen und b) ein Konzept der Vernünftigkeit moderner Kunst entwikkeln, das der herrschenden Rationalität nicht folgt, aber auf sie Bezug nimmt. „Die Beziehung auf die traditionellen Kategorien ist unumgänglich, weil allein die Reflexion dieser Kategorien es erlaubt, die künstlerische Erfahrung der Theorie zuzubringen." {Ä. T. 393) Diese Forderung ADORNOS nach Reflexion der traditionellen ästhetischen Kategorien beinhaltet Momente ihrer Kritik gerade im Versuch ihrer Umdeutung zum Zwecke der Identifikation unserer Erfahrungen mit der Moderne. Schon D. HENRICH® hat die Notwendigkeit hervorgehoben, die Kunst der Moderne mit Hilfe der traditionellen Ästhetik zu deuten, weil er nur im Rückzug auf deren „eingewöhnte Konnotationen" die Chance sieht, die nun ins Spiel gekommenen Prämissen neuerer Kunst namhaft machen zu können. In der Auseinandersetzung mit Hegels Kunsttheorie will er deren Elemente von Modernität festhalten, sie aber deshalb auch aus ihrem Kontext neu interpretieren. Seine Überlegungen zum Utopieverzicht künftiger Kunst, zu ihrer elementaren Reflektiertheit in der Freisetzung von ® D. Henrich: Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. In: Immanente Ästhetik — Ästhetische Reflexion. Hrsg, von W. Iser. München 1966. (Poetik und Hermeneutik. Bd 2.)
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der Tradition sowie seine Wendung der Hegelschen Vergangenheitsthese der Kunst in der Rede vom Partialitätscharakter ihres Gehalts kommen über negative Bestimmungen der Moderne jedoch nicht hinaus^ denn sie bleiben noch ganz dem Darstellungsverhältnis von Kxmst tmd Wahrheit verpflichtet. Daß nur so die Kontinuität der nicht mehr schönen Kunst mit dem schönen Schein Hegels zu wahren sei, bestreitet die Ästhetische Theorie ADORNOS. Scheitert aber auch ADORNOS Überlegung an diesem Punkte, so bliebe nur übrig, Hegel selbst wieder zu Wort kommen zu lassen und zu diskutieren, ob mit seiner Verabschiedung des traditionellen Kunstbegriffs in einem die Moderne aus dem Bannkreis der Rationalität begrifflichen Verstehens herausgelöst und der Kunst ein reflektiert spielerisches Verhalten gegenüber vermeintlich gesicherter Wahrheit hinzuzugewinnen ist. I. Sich auf Hegels Kunsttheorie einzulassen fordert, der Einschränkung ihres Gegenstandes zu folgen; „Ihr Gegenstand ist das weite Reich des Schönen, und näher ist die Kunst und zwar die schöne Kirnst ihr Gebiet." * Die Tragweite dieser Einschränkung für die systematische Darstellung Hegels wird erst verständlich, wenn wir ihre Voraussetzungen berücksichtigen. Sie bringen nämlich im Gegenzug gegen Hegels inhaltliche Festlegungen jene in der Gegenwart bewußt gewordenen Perspektiven in den Blick, die von Hegels Kunstbegriff konsequent ausgeschlossen sind und werden erst jenseits der Grenzbestimmungen „schöner" Kunst für die Werke der Moderne verfügbar. Uns geht es also um die Frage, ob Hegels methodische Insistenz auf dem Begriff der schönen Kunst die Bedingungen der nicht mehr schönen Kunst der Moderne sichtbar machen kann, indem er das nicht von diesem Kunstbegriff zu Begreifende explizit ausgegrenzt hat und für ein reflektiertes Verhältnis gegenwärtiger Kunst zur Tradition zur Disposition stellt. Hegels Feststellung, daß „uns die Kunst nicht mehr als die höchste Weise (gilt), in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft" (Ästh. 134), scheint das unausweichlich negative Urteil über jede zukünftige Kunst zu beinhalten. Die Interpreten der Hegelschen Ästhetik stimmen in dieser Auffassung überein, auch wenn sie unterschiedliche Gründe für deren Rechtfertigung geltend machen. Durchweg wird behauptet, gegenwär* C. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Hrsg. D. H. G. Hotho. Bd 1. Berlin 1935. 3. Im weiteren Verlauf zitiert im Text: Ästh.
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tige Kunst falle nach Hegels Diktum hinter diejenigen Weisen der Wahrheitserkenntnis notwendig zurück, die uns mit der Religion der Subjektivität und der Philosophie mittlerweile zur Verfügung stehen; Kunst erreiche nicht die Rationalität des Begriffs kraft ihrer Bindung an Sinnlichkeit. Insofern verweise sie nur auf die Vorgeschichte des entwickelten Begriffs, was ihr zwar erlaube, an der Sphäre des absoluten Geistes teilzuhaben, aber eben nur als historisches wie systematisches Durchgangsstadium auf dem Weg zur Autonomie des Geistes. Diese Interpretation verweist auf die Hermetik des Hegelschen Systems, ohne deren kritische Implikationen zu überprüfen oder wahrzunehmen. Die vielfältigen Versuche, sich dem — auf den ersten Blick vernichtenden — Urteil Hegels zu entziehen, sehen sich vor der Notwendigkeit, die Grundlagen für sein Verständnis in der systematischen Darstellung preiszugeben. Wenn einerseits das Eingeständnis gefordert ist, daß die philosophische Theorie über neuere Kirnst der gegenwärtigen Krise aus in ihr gelegenen Gründen noch nicht Herr werden konnte, ® und andererseits vorgetragen wird, Hegels Gründe für seine Vergangenheitsthese seien aus seiner historischen Perspektivverkürzung zu erklären und daraus müsse über die spezifische Situation gegenwärtiger Kunst und Kunsttheorie gelernt werden, ® so ist beiden Interpretationen eine Voraussetzung gemeinsam: daß nämlich gegenwärtige Kunst ihren Platz, den die schöne Kunst im Systemkontext Hegels einnahm, nur um den Preis des Rückfalls in traditionelle Kunst wiederfinden könne. Sie sei nämlich nicht mehr mit den fortgeschrittensten Erkenntnisweisen gegenwärtiger Wirklichkeit kompatibel tmd müsse ihre systematische Stellung im Prozeß der Wahr heits Vermittlung neu bestimmen. In dieser Folgerung kommen gleichermaßen so imterschiedliche Positionen überein wie A. GEHLENS Analyse der zunehmenden Reflexionslastigkeit neuerer Kunst, D. HENRICHS Überlegungen zu einer Kunsttheorie der Moderne oder die marxistische Ästhetik, sofern diese Kirnst sich „als wissenschaftsanaloge künstlerische Erkenntnis der Wirklichkeit und Komplementärfunktion instrumenteller Vernunft" ^ gegen die Herrschaft der bürgerlichen Verkehrsformen richtet und ihr jenen Status verschaf® W. Oelmüller: Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. In: Philosophisches Jahrbuch. 73 (1965), 78 ff. ® D. Henrich a.a.O. (oben Anm. 3). 20. I W. Köpsel: Die Rezeption der Hegelschen Ästhetik im 20. Jahrhundert. Bonn 1975. 134.
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fen will, den Hegel ihr aus guten Gründen verweigert. Uns scheint damit der logisch-systematische Aspekt der Hegelschen Ästhetik allzu leichtfertig preisgegeben zu sein. Wird die beschränkte Gültigkeit ihres Begriffs der schönen Kunst — der Einheit von Idee und Realität im Medium sinnlicher Darstellimg — außer acht gelassen, dann bliebe der Umgang mit dem Material imd die Gestaltung in Werken neuerer Kunst gleichgültig gegenüber der historischen Erfahrung mit schöner Kunst, wie Hegel sie systematisch als sinnliche Darstellung von Wahrheit bestimmt hat. Hegels Ästhetik wäre denunziert, nicht einmal mehr zur Vorgeschichte der nicht mehr schönen Kirnst rechnen zu können. Prüft man die Gründe der gegenwärtig vorherrschenden Verabschiedung von Hegels Ästhetik, dann scheint in aller Kritik an Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst das Unbehagen über den möglichen Verlust der Kunst als Medium der Bildung des Bewußtseins und kritischer Stellungnahme gegenüber der Wirklichkeit durch. Die zugleich ausgesprochene Anerkennimg von Hegels systematischer Darstellungsleistung insbesondere im Blick auf die Verarbeitung des historischen Materials tritt hierzu in einen eigentümlichen Gegensatz. Dieses Unbehagen läßt sich nur daraus erklären, daß Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst einen provokativen Unterton in der Rede von der Selbstaufhebung der Kunst zur Geltung bringt. Daß dies nicht hinreichend berücksichtigt wurde — so unsere These — hat bisher verhindert, Hegels Theorie der schönen Kunst ihrem eigenen methodischen Grundgedanken auszusetzen, sie also, mit Rücksicht auf ihre eigenen Prämissen, mit der Erfahnmg von nicht mehr schöner Kunst zu konfrontieren und von daher die Diagnose vom Vergangenheitscharakter der Kunst aufzuklären. Der systematische Argumentationszusammenhang, in dem sie auftritt und aus dem sie sich herleitet, gerät aus dem Blickfeld oder wird von vornherein unterschlagen. Dies könnte auch für ADORNOS Verdikt über Hegels vermeintliche Identitätsphilosophie gelten: „Hegels Anstrengung, Schönes im Objekt aufzusuchen, wurde zunichte, weil sie metaästhetisch Identität von Subjekt und Objekt im Ganzen zu Unrecht postuliert." {Ä. T. 523) Läßt man sich demgegenüber nicht vorschnell aus der begrifflichen Darstellung Hegels herausdrängen, dann kommt die These vom Vergangenheitscharakter schlüssig in den Kontext einer systematischen Explikation zu stehen, die die Vergangenheitsthese als Kritik an dem Geltungsanspruch des ihr zugrundeliegenden Begriffs der schönen Kunst ableitet. Die Konfrontation unserer Erfahrung gegenwärtiger Kunst mit
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Hegels Philosophie der schönen Kunst sollte deshalb ebenso ausweisen können, daß die Hegelsche These über die Lage der schönen Kunst zu relativieren ist, wie sie zur Neuformulierung der Stellung gegenwärtiger Kunst zu einem systematisch entfalteten Wahrheitsbegriff zwingt. Das Recht dieses Unternehmens leuchtet aufgrund einer weiteren Überlegung ein. Die Auseinandersetzung über die gegenwärtige Kunst hat unter dem Signum von deren wachsender Reflektiertheit die Vorstellung bestärkt, daß gegenwärtige Kunst ohne Rückbindmig an ihre philosophischen Gehalte imd an philosophische Reflexion nicht hinreichend interpretierbar, ja als Kirnst der Moderne nicht auszuzeichnen sei. Die Kunstwerke selbst machten die Rationalität philosophischer Einsicht unmittelbar zum Thema. Darauf beruft sich D. HENRICH, wenn er feststellt: „Zwar wird die Voraussetzung kaum bestritten, daß philosophische Theorie und Kunst sich in einer Weise voranbewegen, die es erlaubt, ihre jeweilige Situation wechselseitig zu interpretieren und aufeinander abzubilden. Dennoch werden kaum Versuche gemacht zu prüfen, in welchem Umfang und in welchen Grenzen diese Voraussetzung fruchtbar werden kann." ® Er konkretisiert diese Frage ebenso am Subjektivitätsproblem wie W. ISERS Reduktionsformen der Subjektivität ® dieses Thema in die Interpretation ausgewählter literarischer Werke der Moderne auf nimmt. Verdächtig werden diese Versuche an dem Punkt, an dem die Herrschaft des philosophischen Begriffs sich in der jeweiligen Interpretation durchsetzt imd die Gestaltungen der Kunstwerke unter sich zwingt — auch gerade dort, wo die Freisetzung des künstlerischen Materials und seiner Gestaltung von vorgegebenem Wissen in der interpretatorischen Bilanz zum Gewinn rechnen dürfen, weil sie auf begriffliche Systhesis zugunsten begriffsloser verzichten müssen. Der Übermacht der begrifflichen Bestimmung werden darüberhinaus die Leistungen philologisch-interpretatorischer Verfahren ebenso geopfert wie die reflektiert-spielerische Auseinandersetzung der Kunstwerke mit der herrschenden Rationalität. Von der Hegelschen Vergangenheitsthese müßte aufgrund ihrer systematischen Begründung dem® *
D. Henrich a.a.O. 11. W. her: Redukiionsformen der Subjektivität. In: Die Nicht mehr Schönen Kün-
ste. 435—491. I“ Th. W. Adorno: Parataxis. In: Adorno: Noten zur Literatur. Bd3. Frankfurt/M 1975. 184. Vgl. zu diesem Begriff insbesondere die frühe Einleitung in: Th. PV. Adorno: Ästhetische Theorie. 491 ff.
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gegenüber auch Aufklärung darüber möglich werden, inwieweit die Reflektiertheit neuerer Ktmst als Leistung des „nicht mehr gelingenden Begriffs" gelten darf. Wir wollen die Konfrontation von Hegels Vergangenheitsthese der schönen Kirnst mit unserer Erfahrung von nicht mehr schöner Kunst anhand zweier bislang nicht in diesem Fragezusammenhang erörterter Theoreme der Hegelschen Kunsttheorie festmachen: an ihrem Anspruch, Wissenschaft zu sein und an der Analyse des schönen Scheins. Der Wissenschaftsanspruch kann den logisch-methodologischen Zwang sichtbar machen, der von dem Begriff der schönen Kunst und dessen Bestimmungen als Maßstab der Hegelschen Ästhetik ausgeht; die Struktur des schönen Scheins sollte daraus dann jene gegenläufige Kunsterfahrung mit der nicht mehr schönen Kunst bestimmen helfen, die aus dem Begriff des Kunstschönen ausgeschlossen wird. An beiden Gesichtspunkten knüpft auch ADORNOS Ästhetische Theorie an. Dabei kommt es weniger darauf an, Hegels eigene Absichten zum Leitfaden der Interpretation zu machen, als darauf, seine theoretischen Einsichten für das Verständnis der Bedingungen einer Ästhetik der Moderne aufzuklären imd ADORNOS Ästhetische Theorie daran zu messen. II. Hegels These vom Vergangenheitscharakter der schönen Kunst untersteht seinem Anspruch, Wissenschaft, und zwar Wissenschaft von der schönen Kunst, zu betreiben. Die methodisch gesicherte Erkenntnisleistung schöner Kunst wird also zum Maßstab der kategorialen Darstellung der Ästhetik gemacht. Dies fordert, die Stellung der Kunst zur Wahrheit oder — was für Hegel dasselbe ist — zur Herrschaft der Vernunft des Begriffs zu präzisieren. Klingt Hegels Rede von dem Inhalt seiner Vorlesungen als Wissenschaft der schönen Kunst — gleich zu Beginn der Einleitung — zunächst nur wie eine bloße Versicherung für seine Zuhörer, so wird der Wissenschaftlichkeitsanspruch spätestens dort zum auszuweisenden Argument, wo die Grenze der Wahrheitsvermittlung in Werken der schönen Kirnst geltend gemacht ist: „Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt." {Ästh. 14) Dies soll damit begründet werden, daß „eben ihrer Form wegen die Kunst auch auf einen bestimmten Inhalt beschränkt [ist]. Nur ein gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden... Dagegen gibt es eine tiefere Fassung der Wahrheit, in welcher sie nicht mehr dem
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Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von diesem Material aufgenommen xmd ausgedrückt zu werden." (Ästh. 96) Hegel handelt also von jenem Kunstbegriff, dem das Adäquanzverhältnis von Inhalt und Formbestimmtheit zugrunde liegt. Kunst, die diesem Begriff kompatibel sein soll, muß das Spannungsverhältnis zwischen Gehalt und ihren Formprinzipien als Konkretionsprozeß des Inhalts in der sinnlichen Darstellung lösen. Das wiedenxm bedeutet für die Gestaltung, über den Inhalt der Darstellung selbst nicht frei verfügen zu können, vielmehr ist die Gestaltung unter den Geltungsanspruch des jeweiligen Inhalts zu subsumieren. Der Inhalt erzwingt die ihm gemäße Form. Die methodische Forderung an die Darstellung des Begriffs der schönen Kunst gilt dessen interner Verfaßtheit, so daß Hegel die Gestaltungsgrenzen, die von vorgegebener Wahrheit gesetzt sind, zmn Kriterium für seinen Begriff der schönen Kunst erhebt. Nur dort ist Kunst ausgezeichnete Weise der Erkenntnis von Wahrheit, wo sie als schöne Kunst Wahrheit selbst setzt, wo Wahrheit in den Formprinzipien der Kunst xmmittelbar aufgehoben ist; in der klassischen Kxmst der Griechen. Hegels weitere, historische wie systematische Überlegtmgen zur Ästhetik sind nur mit Rücksicht auf dieses Prinzip interpretierbar und von Mißverständnissen freizuhalten. Die Bestimmung der Ästhetik als Wissenschaft, als Philosophie der schönen Krmst, bindet die Krmst an den Begriff, an Wahrheit, und zwar so, daß der Begriff selbst den Gegenstand der Ästhetik auf das Schöne eingrenzt: „Die in sich konkrete Idee dagegen trägt das Princip ihrer Erscheinungsweise in sich selbst, und ist dadurch ihr eigenes freies Gestalten." (Ästh. 98) Was schöne Kunst sei, ist wissenschaftlich nur im Blick darauf triftig zu begründen, in welches Verhältrüs Kunst zur Wahrheit tritt und dieser angemessene Gestaltungen hervorbringt. Demgemäß sind auch die historischen Epochen der Kunstentwicklung an diesem Kriterium zu rekonstruieren. Wie die Kunst als Vorgeschichte des Begriffs systematisch entfaltet ist, wird sie auch zur wirklichen Vorgeschichte gegenüber Religion und dem Wissen der Philosophie. Die Geltung und der Geltungsverlust des Ideals des Schönen in der Geschichte der Kunst wird nur auf der Grundlage der Rekonstruktion der Vermmft, des Begriffs also, durchschaubar. Dessen systematische Darstellung impliziert zugleich seine historische Diagnosekraft. Allein mit Hilfe dieser Überlegung ist die Ästhetik Hegels vollständig auf ihren Wissenschaftlichkeitsanspruch zu verpflichten. Wollen wir dieser Besonderheit der Hegelschen Ästhetik Rechmmg tragen, dann muß die Interpretation auch der Vergangenheitsthese der
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Kirnst unter die Prämisse des Begriffs der schönen Kunst zu stehen kommen. Noch mehr, sie muß sich als Resultat aus der Strukturbestimmung des vorausgesetzten Begriffs begründen lassen, wenn die objektive Geltung des Begriffs der schönen Kunst in der Moderne suspendiert ist imd nicht mehr schöne Kunst ihn absorbiert. Eine Überlegung, die an das logisch-systematische Verfahren der Ästhetik anknüpft, dient uns als weiterer Anhaltspunkt für das Verständnis von Hegels Vergangenheitsthese. Im Begriff des Ideals begegnen wir einer Beziehung, die Hegel affirmativ für den Begriff der schönen Kunst geltend macht: „Das Wahre, das als solches ist, existiert. Indem es nun in diesem seinem äußerlichen Daseyn unmittelbar für das Bewußtsein ist, und der Begriff unmittelbar in Einheit bleibt mit seiner äußerlichen Erscheinung, ist die Idee nicht nur wahr, sondern schön." (Ästh. 144) Die Bestimmung des Ideals als Maßstab der Schönheit behauptet affirmative Einheit nur als unmittelbar bestehende, in ihr ist die logische Kategorie der Einheit also noch unterbestimmt, weil abstrakt. Darstellungslogisch impliziert der Begriff der Einheit aber ein VermittlungsVerhältnis, das seinem affirmativen Verständnis widerstreitet. Bei aller Insistenz Hegels, dem Schönen Einheit, Versöhnung oder konkrete Totalität von Gehalt und Form zuzuschreiben, darf nicht die entscheidende Einschränkung im nur affirmativen Gebrauch dieser Kategorien übersehen werden. Wollte man diesen unkritischen Kategoriengebrauch im Rahmen einer Wissenschaft der Kunst hinnehmen, dann machte sich eine merkwürdige Differenz zu ihrer systematischen Stellung in der Wissenschaft der Logik bemerkbar. Sollte entgegen der systematisch entwickelten inhaltlichen Bestimmung dieser Kategorien in der Logik als fragwürdig gewordene, weil in ihrem unmittelbaren Bestand gefährdete Grenzbegriffe die Wissenschaft von der schönen Kunst sie in nur affirmativer, also undialektischer und unwissenschaftlicher Absicht verwenden dürfen? Lehrt ims die Logik der Reflexionsbestimmungen nicht, daß das unmittelbare Festhalten an den Bestimmungen von Einheit, Selbständigkeit und Gegensatz die wahren Abhängigkeitsverhältnisse nur verdeckt, die hinter den von uns verwendeten Begriffen aufzuklären wären? Wie sollte dann die These vom Gegenstand der Ästhetik als vom Begriff geleiteter Wissenschaft von der schönen Kunst hiermit zusammenstimmen körmen? Die Vergangenheitsthese Hegels ist dergestalt aus der logischen Bestimmung des Begriffs der schönen Kunst zu begründen, daß mit der systeM. Theunissen: Thesen zur Theorie des dialektischen Widerspruchs, In: HegelJahrbuch 1974. Köln 1975.
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matischen Grenze der Geltung dieses Begriffs auch dessen historische Eingrenzung auf einen bestimmten Entwicklungsstand der Kxmst mitgesetzt ist. Solange Wahrheit in der Form unmittelbarer sinnlicher Gestalt darstellbar war — imd das galt für die unmittelbare Identitätserfahrung der Individuen mit ihrer sozialen Welt in der griechischen Polis — solange konnte die Kunst angemessenes, ja ausgezeichnetes Medium ihrer Erkenntiüs sein. Sie gestaltete in ihren Werken Wahrheit und brachte sie zum Bewußtsein. Diese objektive Identitätsbeziehung entfiel spätestens in dem Augenblick, wo die Wahrheit des Verhältnisses von Bewußtsein und Wirklichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft erst im Durchgang durch marmigfache Erfahrungen von Nichtidentität, Gegensatz und Widerspruch sichtbar wurde. Daß die Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft mu: aus dieser Struktur heraus verständlich ist, hat Hegel selbst überzeugend in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts gezeigt. Das an der Darstellung von Wahrheit und deren objektiver Geltung orientierte Prinzip der schönen Kirnst in der unmittelbaren Darstellung von Wissen muß hier versagen, weil es sich auch dort nicht aus den Grenzen des Begriffs befreien kann, wo Unmittelbarkeit als bloßer Schein destruiert wird. Wir insistieren deshalb auf der Einschränkung von Hegels These vom Vergangenheitscharakter auf diejenige Kunst, die die angemessene Darstellung von Wahrheit zu ihrem Prinzip machte; „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes" (hervorgehoben V. Verf.; Ästh. 16) Nur unter Beachtung dieser eingeschränkten Gültigkeit der Vergangenheitsthese bezüglich jener Kunst, deren Wahrheitsbezug „das reflektierte Wissen von der vollkommenen und vollendeten Vereinigung setzt und sich nur noch innerhalb seiner bewegt", will Hegel seinen Hinweis verstanden wissen, daß „die Wissenschaft der Kunst darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfniß, als zu den Zeiten [ist], in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte." {Ästh. 16) Dahinter steht die Überzeugung, daß Kunst dort hinter den Bewußtseinsstand ihrer Zeit zurückgefallen ist, wo sie sich noch an dem Standard unreflektierter Präsentation von Wahrheit orientierte. Hegels Festhalten am Wissenschaftlichkeitsanspruch seiner Ästhetik gibt uns demnach zwei Hinweise für das Verständnis seiner Vergangenheitsthese der Kirnst. Zum einen verpflichtet er jede Interpretation der Vergangenheitsthese auf die Prämisse, unter der diese These steht: D. Henrich (Anm. 3). 16.
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ihre Geltung für die Darstellungsästhetik als einer Kunst des Nachvollzugs von verfügbarem Wissen, deren Maßstab Schönheit, Idealität ist. Und zum anderen fordert die wissenschaftliche Betrachtung der Kunst dazu auf, die spezifische Stellung der jeweiligen Kunst zur Wahrheit einzugrenzen, indem der Kunst mit der Bestimmung ihres jeweiligen Begriffs der Ort im Bildungsprozeß des Bewußtseins neu zugeordnet werden muß. Erzwingt letzteres von der Interpretation neuerer Kunst die systematische Klärung ihres Begriffs, so stellt jene erstgenannte Verpflichtung die begriffliche Rationalität als Maßstab der Interpretation gegenwärtiger Kunst in Frage. ADORNO hat sich als erster Kritiker darauf eingelassen: „Die Aporie der Krmst, zwischen der Regression auf buchstäblich Magie, oder der Zession des mimetischen Impulses an dinghafte Rationalität, schreibt ihr das Bewegimgsgesetz vor; nicht ist sie wegzuräumen." (Ä. T. 87) Aus der Unmöglichkeit, die Erfahrung mit Werken der Moderne rmter den Prämissen des Begriffs der schönen Kirnst zu verstehen, folgt zuallererst das Eingeständnis ihrer Freisetzung von den Gestaltungsprinzipien schöner Kunst und von der Angemessenheitsformel gegenüber ihren Inhalten in unmittelbarer Versöhnung. Soll die Erkenntnisleistung der nicht mehr schönen Kunst weder historisch noch systematisch hinter die Präsentation von Wahrheit, also nicht in die Vorgeschichte des Begriffs zurückfallen, so muß sie zu ihren eigenen Darstellungsmitteln und -Inhalten ein reflektiertes Verhältnis ausbilden. Das kommt in ihren Gestaltungen gerade dort zum Ausdruck, wo sie sich gegen begriffliche Rationalität stellen. Schöne und nicht mehr schöne Kunst sind darstellungsmethodisch kraft der Einsicht aufeinander bezogen, derzufolge uns Hegels Kunstbegriff nötigt, die von diesem Begriff nicht mehr thematisierbare Erfahrung mit moderner Krmst jenseits von dessen Grenzen, aber in Bezug auf ihn zu verstehen. III. Die Eingrenzung von Hegels Vergangenheitsthese der Kunst auf seinen der Wahrheitsdarstellung verpflichteten Kunstbegriff ruft zwar die Bedeutimg seiner systematischen Prämissen in Erinnerxmg, die kritische Differenz der Wahrheitsbeziehung zwischen Werken der schönen Kunst als Prozeß der Gestaltung von Wissen und solchen der nicht mehr schönen Moderne — in der Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete — ist damit noch nicht inhaltlich bestimmt. Ebensowenig ist schon abzusehen, auf welche, gegen die Rationalität begrifflichen Verstehens opponierenden Erfahnmgen die Kunstwerke der Moderne hindeuten. Die
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Beweislast für unsere Behauptung einer kritischen Pointe der Hegelschen Ästhetik liegt bei der immanenten Interpretation ihres Geltungsanspruchs. Nur wenn gezeigt werden kann, daß sie mit der Fixierung der Grenze der Wahrheitsvermittlung in der künstlerischen Gestaltung die der neueren Kunst spezifische Erkenntnisweise nicht gleichgültig ausblendet, sondern die Prinzipien ihrer Bestimmtheit weist, ist ein wirksamer Schutz vor dem bloß ausbeutenden Verhalten gegenüber seiner Theorie möglich. Um Hegels kritische Grenzmarkierung der Leistungsfähigkeit schöner künstlerischer Wahrheitsdarstellung zu respektieren, sind wir auf diejenigen Kategorien verwiesen, die die Gestaltungsmöglichkeiten der Kunst an das Erkenntnisproblem, an die Wahrheitsfrage binden. Hierfür hilft die Kategorie des schönen Scheins weiter, weil mit ihr das, was nur scheint, nämlich Wahrheit, mitgesetzt ist. Wo in schöner Kunst zwangsläufig — aus systematischen Gründen — die künstlerische Gestaltimg an Grenzen stößt, sucht auch ADORNOS Ästhetische Theorie zu Recht dem Wahrheitsproblem in der rücht mehr schönen Krmst der Moderne einen neuen Ort. Da die Kategorie des Scheins nicht nur in der Kunsttheorie, sondern ebensosehr im Erkenntnisprozeß des Begriffs — der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik — eine zentrale Bedeutung hat, grenzen wir die dem schönen Schein eigene Stellung gegenüber dem Schein der Phänomenologie und der Logik kurz ein. Der Prozeß der objektiven Erfahrung des Bewußtseins ist Thema der Darstellung in der Phänomenologie des Geistes. Hegel zeigt hier, wie das erkermende Bewußtsein auf jeder Stufe vermeintlich gesicherten Wissens auf sich selbst und auf den Prozeß seiner eigenen Erfahrung zurückgeworfen ist, weü die Rede über die jeweiligen Erfahrtmgsgehalte bei näherem Hinsehen den objektiven Beziehungen des erkennenden Bewußtseins gegenüber unangemessen ist. Das Bewußtsein lernt, sich über seine eigenen Erfahrungsprozesse zu verständigen. Dies ist nur möglich, indem es beständig mit der Erfahrung des Verlustes von ermitteltem Sinn konfrontiert wird. Aus diesem Grund muß es sich immer von neuem mit seinem eigenen Lernprozeß auseinandersetzen. Dieser Prozeß ist, rmd das interessiert ims hier, durch den täuschenden Schein des unvermittelten Bezugs zui gegenständlichen Wirklichkeit motiviert. Der phänomenologische Schein ist in einem spezifischen Sirm notwendiger Schein: nur durch ihn hindurch lernt das Bewußtsein seine eigene Erfahrungsstruktur kennen, denn nur durch ihn wird das unmit-
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telbare Wissen als in Wahrheit auf vermittelte Weise zustandegekommenes Wissen, als Leistung der Erfahrung des Bewußtseins selbst sichtbar. Der phänomenologische Schein impliziert Täuschung, weil er eine Erfahrtmgsstruktur kenntlich macht, die nach hinreichenden Gründen dort zu fragen lernt, wo das noch unwissende Bewußtsein nur unmittelbare Erfahrungen nennen kann. Daraus resultiert die Einsicht in den Prozeß der notwendigen Selbstentfremdung des unmittelbaren Wissens und in seinen immer wieder provozierten Selbstverlust. Dem phänomenologischen Schein fällt nämlich die Aufgabe zu, das „natürliche Bewußtsein durch [die] Verkehrungen und deren Widersprüchlichkeit nicht nur zum Widerspruch herauszufordem, sondern zugleich dem Verkehrten, Ungewohnten und Unerkannten den Schein des Bekannten und den Schein der Identität mit dem natürlichen Bewußtsein zu geben." Der Erfahrung des täuschenden Scheins, dem es aufsitzt, verdankt das Bewußtsein die Einsicht in die xmwahre Gestalt seines unmittelbaren Wissens. Es wird erst durch diesen Erfahrungsprozeß auf den Standpunkt des wirklichen Wissens verwiesen. Als Resultat der Rekonstruktion des Erfahnmgsprozesses des Bewußtseins hat der Standpunkt des wahren Wissens den phänomenologischen Schein hinter sich gelassen, er hat ihn zum Verschwinden gebracht. Der phänomenologische Schein erweist sich also wesentlich als Begriff von Unwahrheit, weil er selbst nicht der Struktur der WahrheitsVermittlung angehört, sondern sie nur in Gang setzt. Von seinem Verhältnis zum schönen Schein gilt dann, daß — da er notwendig zerstört wird, um die Selbsterfahnmg des Bewußtseins freizusetzen — er nicht an dem schönen Schein der Kunst teilhaben kann; denn dieser gehört der Sphäre des absoluten Geistes an. Umgekehrt folgt daraus, daß die Erfahrung des schönen Scheins der Kunst nicht hinter den schon erreichten Stand zurückgeworfen werden darf, der am Ende der Phänomenologie des Geistes als Resultat vorliegt. Ist die Erkenntnisleistung der nicht mehr schönen Krmst von der darstellungsästhetischen Orientierung, vom Bann des Wahrheitsbegriffs als vorgegebener Rationalität freigestellt, dann ist das Verhältnis von Darstellung und Gestalümg nicht verfügbarer Wahrheit dennoch nicht als Rückfall in die unmittelbar verkehrte Welt des phänomenologischen Scheins imd dessen vorwissenschaftlichen Standpunkt zu begreifen, sondern im Bewußtsein notwendig werdender R. Wiehl: Über den Sinn der sinnlichen Gewißheit. In: Hegel-Tage Royaumont 1964, Hrsg. v. H.-G. Gadamer. Bonn 1966, (Hegel-Studien. Beiheft 3.) HO.
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alternativer Prämissen, die sich auf die Wissenschaft der schönen Kunst als ihre eigene Vorgeschichte beziehen. Im Gegensatz zum phänomenologischen Scheinbegriff läßt sich die am Übergang von der Seins- zur Wesenslogik thematisierte Bestimmung des Scheins nicht als bloßes Durchgangsstadium des Wissenprozesses interpretieren. Mit der vollständigen Explikation der logischen Strulctur des Begriffs verliert der wesentliche Schein seinen Ort in der Philosophie der Logik des Begriffs nicht. Vielmehr veranlaßt er dazu, die Unangemessenheit der Kategorien des abstrakten Denkens zu begründen und dessen wirkliche Vermittlungsformen zu rekonstruieren. Dabei bleibt der Schein der Logik Nahtstelle zwischen der Unbeholfenheit seinslogischer Kategorienbildung und ihrer strukturellen Aufklärung in der Reflexionslogik. Er hat selbst Teil an der Struktur des Begriffs, also an der Vernunft. Rekonstruktion von Denkstrukturen will hier besagen: Reformulierung von abstrakten logischen Bestimmungen in konkreten Kategorien, in wirklichen Denkbestimmungen. Schon hieraus ist zu entnehmen, daß es im wesenslogischen Schein mn die Beziehung der Denkbestimmungen zueinander geht und als Schein begriffen wird, was seinslogisch nur via negationis behauptet werden konnte. Die Strukturbedingungen der Herrschaft der Vernunft stehen in Frage. Sie sind zu gewährleisten, wenn Vernunft autonom sein soll; was wiederum heißt, daß alle Bestimmungen, also auch die des wesenslogischen Scheins, als Bestimmungen des Denkens selbst erwiesen werden. Vom wesenslogischen Schein ist zu zeigen, „daß die Bestimmungen, die ihn vom Wesen unterscheiden, Bestimmungen des Wesens selbst sind, und ferner, daß diese Bestimmtheit des Wesens, welche der Schein ist, im Wesen selbst aufgehoben ist. (Hervorgehoben v. Verf.) Hegel zeigt, daß die Begründung der Herrschaft der Vernunft nur gelingt, wenn der Begriff des Scheins als Moment des Selbstverhältnisses des Begriffs Bestand hat. Die Verortung des logischen Scheins hängt von seiner Subsumtion rmter die wirkliche Geltung des Begriffs ab. Dort, wo — wie in der Darstellimg der Kunst als Darstellung von Wahrheit — die unmöglich gewordene Präsentation wirklichen Wissens zugleich die Grenze der Erkeimtnisleistung von Kunst markiert, bleibt der Begriff des Scheins an die nur unmittelbare Herrschaft der 15 D. Henrich: Anfang und Methode der Logik. In: Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt/M. 1971. 80. 1« G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg. L. v. Henning. T. 1, Abt. 2. Berlin 1834. 12.
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Vernunft gebunden. Darin gründete ja die Auszeichnung der Klassik durch Hegel. Gegenüber dem Schein der Logik bleibt der ästhetische Schein zurück, weil er mit dem Wissen um die Komplexität der Vermittlung des wirklichen Begriffs nicht Schritt halten kann. Verhindert die Stellung des schönen Scheins gegenüber dem Schein der Phänomenologie, daß die Erfahrung der Kunst der Moderne, systematisch auf diese Grenze bezogen, die Einsicht in die Struktur begrifflichen Wissens preisgibt, so grenzt das Verhältnis des wesenslogischen zxun schönen Schein die Erkenntnisleisümg schöner Kunst gegenüber begrifflicher Rationalität andererseits ein. Aus der Strukturanalyse begrifflichen Wissens mehr als die nur relative Gültigkeit der Vergangenheitsthese von Kunst zu gewinnen, hängt dann davon ab, wie sich die nicht mehr schöne Ktmst der Moderne noch auf die Struktur des schönen Scheins beziehen läßt und ob sie ein reflektiertes Verhältnis zum begrifflichen Wissen gewinnt. Das hat wohl ADORNO im Blick, wenn er auf dem Scheincharakter der Moderne beharrt: „Aber kein Kimstwerk hat den Gehalt anders als durch den Schein, in dessen eigener Gestalt." {Ä. T. 164) In Hegels Nachweis der systematisch erzwungenen Lösung gegenwärtiger Kunst aus der Vorgeschichte des Begriffs läge die objektive Stärke seiner Ästhetik. Hier allein fände die Rede von den „Grenzphänomenen" des Ästhetischen eine über die bloße Negation schöner Kunst hinausgehende und für die Moderne bedeutsame Begründimg. In Hegels Einleitung ziur Ästhetik ist an einer Textstelle der schöne Schein der Ktmst strukturell ausgezeichnet. Er habe „den Vorzug, daß er selbst durch sich hindurchdeutet, und auf ein Geistiges, welches durch ihn soll zur Vorstellung kommen, aus sich hinweist." {Ästh. 13) An keiner anderen Stelle der Ästhetik ist in ähnlich präziser Weise versucht, das Verhältnis des ästhetischen Scheins zur Wahrheit zu charakterisieren. Hegel hat hier mit der Stellung des schönen Scheins zur Wahrheit in den Kimstwerken die Erkenntnisleistung der schönen Kunst fixiert. Sie folgt nicht nur der darstellungsästhetischen Prämisse von Hegels Kunstbegriff, sondern erlaubt, über ihre Gestaltungsmöglichkeiten zu urteilen, auf die die Kunst als Wahrheitsdarstellung festgelegt ist. Zunächst fällt an Hegels Redewendung auf, daß der schöne Schein „selbst durch sich hindurchdeutet" auf Wahrheit. Offenbar ist der Begriff des schönen Scheins nicht primär negativ verstanden, sondern er soll eine konstitutive Rolle in der WahrheitsVermittlung durch Kunst übernehmen können. Die Wendung macht deutlich, wie a) dem schönen Schein eine Leishmg zugewiesen wird, deren Zustandekommen von ihm allein abhängt. Die Beziehxmg auf etwas ist aufgrund der Selbst-
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deutung des Scheins möglich, weil die Beziehung auf Wahrheit nur aus der Beziehimg des Scheins auf sich selbst sichtbar wird. Der schöne Schein ist autonomer Schein, insofern Wahrheitsbezüge kraft seiner Selbstbeziehung Zustandekommen. Die Selbstbeziehrmgsstruktur ist zugleich Bedingung seiner, des schönen Scheins, Zugehörigkeit zur Sphäre der Vernunft: „Sagten wir nun, die Schönheit sei Idee, so ist Schönheit und Wahrheit einerseits dasselbe. Das Schöne nämlich muß wahr an sich selbst sein (hervorgehoben v. Verf.; Ästh. 144). Gleichwohl bleibt er Schein, ist selbst nicht die Wahrheit. Dieses Spannungsfeld zwischen Selbstbezüglichkeit und konstitutiver Unmittelbarkeit des Scheins als Sinnlichkeit gilt es zunächst festzuhalten. In Hegels These ist also b) bestimmt, worauf der schöne Schein hindeutet. Er deutet „auf ein Geistiges, welches durch ihn soll zur Vorstellung kommen", kann dies aber nur im Medixun des Nicht-Gelingens begrifflichen Wissens. Weil ihm weder Gestaltrmgsfreiheit seines Gegenstandes zukommt, noch auf die urunittelbare sinnliche Ausdrucksform der Ktmst verzichtet werden kann, ist er auf sich selbst verwiesen. So läßt „der schöne Gegenstand in seiner Existenz seinen eigenen Begriff als realisiert erscheinen, und zeigt an ihm selbst die subjektive Einheit und Lebendigkeit." {Ästh. 148) Es bleibt nur die Vorstellung des Begriffs, denn dort, wo die Idee begriffen wäre, wäre dies die Leistrmg der Philosophie, nicht mehr Leistung des schönen Scheins selbst. Der durch sich hindurchdeutende Schein der Krmst ist wegen dieses seines nur gemeinten — weil dem Scheinen verhafteten — Begriffs c) Grund seines Hinausgehens über sich, indem er objektive Wahrheit intendiert, ohne sich doch von seinem Scheincharakter als Bedingung des Wahrheitsbezuges befreien zu können. Gemäß dieser Struktur enthält sein „Aus-sich-Hinausweisen" auf Geistiges d) das Eingeständnis seiner Grenzen als Medium von Wahrheitsvermittlung, weil die intendierte Darstellung objektiver Wahrheit nur gelingt, wenn sie dem Bann des Scheinhaften entkommt — ohne ihm doch als Bedingung der Darstellung im Medium der Sinnlichkeit entkommen zu können. Der schöne Schein der Kunst kann nach alledem weder unmittelbare Täuschung über wahre Sachverhalte sein, noch ist er Erscheinung von wirklicher Wahrheit. Gegenüber dem phänomenologischen Schein behauptet er, Täuschung zugleich mit Aufhebung von Täuschung und darin Wahrheit in den Blick zu rücken. Hinter dem wesenslogischen Schein bleibt er zurück, weil nur Erscheinung von einer Beziehung auf Wahrheit den Status möglicher Erkenntnis in schöner Kirnst auszeichnet. Die Struktur des schönen Scheins folgt darin konsequent seiner syste-
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matiscKen Stellung zwischen Phänomenologie und Logik. Wenn Hegels Lokalisierung des schönen Scheins die Einsicht in die Freisetzung nicht mehr schöner Kxmst von der darstellungsästhetisch orientierten Tradition gewähren soll, darm kann Freisetzxmg auf dem Hintergrund der eben vorgetragenen Überlegungen nicht Beliebigkeit ihrer Inhalte und Gestaltungsmöglichkeiten heißen. Ist nämlich aus dem darstellungsästhetischen Kunstbegriff über die Grenzen seiner Erkenntnisleistung zu lernen, dann gilt dieser Lernprozeß gerade für diejenige Kirnst, die nach der Erfahrung mit der Tradition Anspruch auf Modernität stellt. Darin folgen wir Hegels eigenem methodischen Anspruch, historisch wie systematisch vorausliegende Stufen als Erfahrungsgehalte der jeweils gegenwärtigen Entwicklungsstufe von Kunst in dieser aufzuheben und zu reflektieren. Sowohl die Rekonstruktion der Logik des Begriffs wie etwa die Rechtsphilosophie zeigen, wie die logische Rekonstruktion der Wirklichkeit zugleich deren historischer Genese korrespondiert. Es gilt also, der Interpretation der nicht mehr schönen Kunst das Bewußtsein ihrer Genese aus den Bestimmungen der schönen Kunst zu erhalten und sie auf dem Hintergrund ihrer eigenen Vorgeschichte zu verstehen. Hegels Strukturthese zum schönen Schein machte über die Grenzmarken der Erkenntnisleistung darstellungsästhetischer Werke — auf dem Hintergrund der Vergangenheitsthese — hinaus Momente geltend, die uns für die Erfahrung mit der Moderne weiterhelfen: die Selbstbeziehung des ästhetischen Scheins, sein Standort in der Vorgeschichte des Begriffs, seine Wahrheitsbeziehimg in der Vorstellung eines gemeinten, aber nicht wirklichen Begriffs imd das Eingeständnis, prinzipiell nicht begriffliche Wahrheit ersetzen zu können, stellen Bedingungen dar, die in nicht mehr schöner Kirnst der Moderne als zu reflektierender Bestand der schönen Kunst aufgehoben werden; Aufhebung gilt hier also im Sinne ihrer Bewahrung ebenso wie dem ihrer Negation. Gewannen wir der Hegelschen Argumentation zur Vergangenheitsthese der Kunst immanente Gründe ab, die Erfahrung mit nicht mehr schöner Kunst von der spezifischen Bindung an Wahrheitsdarstellung zu befreien, so bleiben uns die Strukturmomente des schönen Scheins für die Bestimmung des möglichen Wahrheitsbezuges gegenwärtiger Kunst systematisch erhalten. Die Autonomie des schönen Scheins stellte zwar die schöne Kunst auf die Stufe des absoluten Geistes, Hegel verwehrt ihr aber aus guten Gründen die Vermittlungsfunktion wirklichen Wissens. Kann gegenwärtige Kunst sich angesichts der radikal geänderten geschichtlichen Erfahrung nicht mehr, wie die klassiche, auf die objektive Geltung ihrer gestalteten Wahrheit berufen, so hat sie andererseits
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den Vorzug, sich auf den schon gelungenen Begriff, d. h. auf das Wissen der immanenten Vernunft von begriffener Wirklichkeit berufen zu können. Weil die Philosophie nach Hegels Diktum die schöne Kunst hinter sich gelassen hat, muß nicht mehr schöne Kunst mit der Philosophie rechnen, wenn sie nicht ihrerseits hinter deren erreichten Stand zurückfallen will. Als Kunst bleibt sie jedoch nach wie vor dem Scheinhaften verpflichtet und gestaltet ihren Gehalt notwendig im Sinnlichen, im Unmittelbaren. Die Gleichgültigkeit dieser beiden Bestimmungen nicht mehr schöner Kunst fordern von ihr, gegen die unmittelbare Darstellung von Wahrheit in den schönen Kunstwerken das Medium sinrüicher Gestaltung in reflektierter Weise einzusetzen. Mit dem Begriff der reflektierten Unmittelbarkeit ästhetischer Wahrheitsgestaltung in der Moderne läßt sich dieser Sachverhalt vorläufig auszeichnen. Der ästhetische Schein bleibt davon nicht unberührt. Er bezieht sich auf die Rede von der Reflektiertheit moderner Kunst ebensosehr wie ADORNOS These von neuerer Kunst als Schein des Scheinlosen sich bemüht, dieser Forderung Rechnung zu tragen: die theoretische Bewußtheit neuerer Kunst geht Hand in Hand mit ihrem Spannungsverhältnis zur begrifflichen Rationalität, die den Schein gerade glaubt aufgehoben zu haben. Gegenwärtiger Kunst ist, im Anschluß an Hegels systematische Überlegungen, der Widerspruch zwischen Reflexion und Unmittelbarkeit immanent. Die Versuche seiner Aufhebtmg sind zu ihrem aktuellen Problem geworden, imd den gewichtigsten beinhaltet ADORNOS Ästhetische Theorie.
IV. Die Aufhebung des schönen Scheins, so haben wir gesehen, impliziert eine kritische Stellimg der nicht mehr schönen Kunst gegenüber begrifflicher Rationalität, gerade weil sie ihren Grund in der Reflektiertheit der modernen Kunstwerke hat: der aufgehobene Schein bezieht sich nicht mehr auf die Defizienz des sinnlichen Mediums wie in der darstellxmgsorientierten traditionellen Kunst, sondern auf die Formen begrifflich vermittelter Wahrheit selbst. Diese ist, und das ist das beherrschende Motiv ADORNOS, der Scheinhaftigkeit verdächtig; indem er die begriffliche Rationalität in dieser Weise zum Zentrum der Ästhetik macht, nimmt er die Gedankenbestimmungen Hegels wieder auf und wird zugleich dem Sachverhalt gerecht, daß die moderne Kunst nicht mehr als die Vorgeschichte, als die bloße Vorstellung der begrifflich entfalteten Wahrheit gelten kann. Aber statt von der Aufhebrmg des
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Scheins spricht ADORNO von dessen Krise und meint damit, daß die Kunstwerke allein dadurch, daß sie Gebilde sind, auf einen Sinnzusammenhang verweisen, dessen Bestand sie endgültig in der Moderne nicht mehr garantieren können. Das ist gleichbedeutend mit einer Bedrohung für die integrale Struktur der Kunstwerke selbst: „Die immanente Nichtigkeit ihrer Elementarbestimmrmgen zieht integrale Kunst hinab ins Amorphe; die Gravitation dorthin wächst, je höher sie organisiert sind" {Ä. T. 154). Die Rede von der Krise des Scheins impliziert also die Annahme eines notwendigen Verweisungscharakters auch für die modernen Kunstwerke. ADORNOS philosophische Anstrengung in der Ästhetischen Theorie geht darauf, gegen die durch immanente Rationalisierung verursachte Bedrohung des schönen Scheins dessen Rettung zu betreiben, ohne auf den Stand „affirmative(r) Abbildlichkeit" (Ä. T. 386) zurückzufallen. Daß er in der Rede von Krise und Rettxmg des Scheins statt von seiner Aufhebung, deren Momente Negation und Bewahnmg sind, die moderne Kunst auf das Grundmuster der traditionellen reduziert und nicht die moderne aus dem Begriff der traditionellen verständlich macht, ist die These, die im folgenden belegt werden soll. Dabei geht es im vorliegenden Zusammenhang weniger um eine Kritik an ADORNOS Konzeption philosophischer Ästhetik; Sinn der folgenden Erörterungen ist vielmehr, die Konturen einer an Hegels Vergangenheitsthese anschließenden Theorie deutlicher hervortreten zu lassen. Dies muß sowohl in Distanzierung von ADORNO als auch im Anschluß an ihn geschehen. Für ADORNO ist der Begriff des Amorphen, nicht mehr rational strukturiert Erscheinenden zur Charakterisierung moderner Kunstwerke grundsätzlich wichtig. Er nimmt mit ihm eine Bestimmung auf, die häufig mit dem vermeintlichen Siimdefizit der modernen Kunst, mit ihrer „Weltlosigkeit" verbunden worden ist. Gegen diese Verbindung ist ADORNOS These zu verstehen, das Gelingen der nicht mehr schönen Kimstwerke sei „selber Zerfall" {Ä. T. 84). Aus dem Zerfall rational konstruierter ästhetischer Strukturen, für den die Konstruktion notwendige Bedingung ist, soll den Werken ihr Sirm, ihre Wahrheit gerade erst zukommen. Um das denken zu können, muß ADORNO seinen Begriff des Amorphen über die Bedeutung des bloß Opaken hinaus qualifizieren, tmd er tut dies, indem er ihn der Vorstellung der Natur zuordnet: „Durch Vollendung, die Entfernung von ungeformter Natur, kehrt das naturale Moment, das noch nicht Geformte, nicht Artikulierte wieder. Dem Blick Zur ausführlichen Darstellung der Ästhetischen Theorie und ihrer Kritik G. Figal: Th. W. Adorno. Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur. Bonn 1977.
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auf die Kunstwerke aus nächster Nähe verwandeln die objektiviertesten Gebilde sich in Gewimmek Texte in ihre Wörter. Wähnt man die Details der Kunstwerke unmittelbar in Händen zu halten, so zerrinnen sie ins Unbestimmte imd Ununterschiedene: so sehr sind sie vermittelt. Das ist die Manifestation des ästhetischen Scheins im Gefüge der Kimstwerke" (Ä. T. 155). Auf der Krise des Scheins entsteht neuer Schein; die Werke werden zu Darstellungen der für sich nicht artikulationsfähigen Natur, wo alle Merkmale einer signifikanten Verweisung im Siime eines sinnlichen Scheinens der Idee in ihnen zerstört werden. Der Verweisxmgscharakter, der ihnen dadurch zukommt, könnte als letzte Konsequenz der Einsicht aufgefaßt werden, daß die Kunst den Bestand des von ihr Darzustellenden in der Moderne nicht mehr garantieren kann; bedeutungsgleich mit den Begriffen des Amorphen, Naturalen, nicht Artikulierten verwendet ADORNO den des Nichtseienden: „Im Aufgang eines Nichtseienden, als ob es wäre, hat die Frage nach der Wahrheit der Kunst ihren Anstoß" (Ä. T. 128). Weil aber durch ihn die Möglichkeit der Kxmstwerke, wahr zu sein, überhaupt erst begründet wird, hat der Begriff des Nichtseienden im Zusammenhang der Ästhetischen Theorie einen ontologischen Status. ADORNO gebraucht ihn in der Bedeutung „eines noch nicht Seienden, das intentionale Vermenschlichung durch seinen Ausdruck von sich weist". Auf die Natur bezogen bedeutet dies, „daß Natur, wie sie in ihrem Schönen zart, sterblich sich regt, noch gar nicht ist" {Ä. T. 115). Die Verwiesenheit der Kunst auf die Erscheinung der Natur im Naturschönen, die zwar antizipatorisch ist, weil in ihr die Kunst auf ein noch nicht Seiendes bezogen wird, andererseits aber den Wahrheitscharakter der Ktmst begründet, versteht ADORNO als Nachahmung: „Kunst ahmt nicht Natur nach, auch nicht einzelnes Naturschönes, doch das Naturschöne an sich" {Ä. T. 113). Bereits am Verhältnis des Amorphen der Kunstwerke zu ihrer integralen Strukturiertheit läßt sich ablesen, daß ADORNO den Gedanken ästhetischer Immanenz als für diese Nachahmung konstituierend ansieht. Deshalb ist es wichtig zu sehen, wie im Begriff der Nachahmung des Naturschönen durch die Kunstwerke zugleich dem Gedanken ästhetischer Immanenz widersprochen wird, durch den allein eine Krise des schönen Scheins plausibel zu machen wäre. Von dieser aber ist die Nachahmung des Naturschönen an sich wiedenun abhängig, weil sie durch die Vermeidung affirmativer Abbildlichkeit Zustandekommen soll. Damit ist auch der Punkt bezeichnet, an dem ADORNO den Hegelschen Kontext verläßt. Der Begriff der ästhetischen Immanenz ist systematisch überzeugend nur zu entwickeln, wenn er jede äußere Bedingtheit der Kunstwerke im
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Sinne eines Begründungsverhältnisses ausschließt. Demgegenüber bedeutet für ADORNO der Gedanke des Naturschönen „die Besiimung auf das, was jenseits der ästhetischen Immanenz seine Stätte hat und gleichwohl in diese als ihre Bedingung fällt" {Ä. T. 98); damit ist die Kunst wieder nur in der — modifizierten — Relation von Darstellendem und Dargestellten begreiflich. Diese Relation ist es auch, die ADORNO dazu nötigt, philosophische Ästhetik als Begründung zu konstruieren. Allerdings ist für ihn das Darstellungsprinzip der modernen Kunst nicht im Rahmen einer Vorgeschichte des Begriffs begründbar. Während für Hegel nur die Kunstwerke als Darstellende einer Begründung bedurften, muß sich diese für die Ästhetische Theorie auch auf das Darzustellende beziehen, auf das noch nicht Seiende also, wie es in der Erscheinung des Naturschönen erfahrbar ist. Für ADORNO besteht die Möglichkeit einer solchen Begründung in Teleologie: „KANT xmterstellt die Kunstwerke der Idee eines an sich und in sich Zweckvollen, anstatt ihre Einheit einzig der subjektiven Synthesis durch den Erkermenden zu überantworten. Künstlerische Erfahnmg, als die eines dergestalt Zweckmäßigen, hebt von der bloßen kategorialen Formung eines Chaotischen durchs Subjekt sich ab. Hegels Methode, der Beschaffenheit der ästhetischen Objekte sich zu überlassen und von ihren subjektiven Wirkungen als einem Zufälligen abzusehen, macht auf die KANxische These die Probe: objektive Teleologie wird zum Kanon ästhetischer Erfahrung" {Ä. T. 166). Die Frage der Teleologie nach einem in sich Zweckvollen zielt sowohl auf die Kunstwerke wie auch auf die Natur in ihrer Erscheinung. Für die Kunst karm sie jedoch nur gültig sein, weil diese Nachahmung des Naturschönen ist. ADORNOS Hinweis auf das Verfahren der Hegelschen Ästhetik, sich der Beschaffenheit der ästhetischen Objekte zu überlassen, konzediert Hegel eine Einsicht in die Eigenwertigkeit der Kunstwerke, die er ihm an anderen Stellen der Ästhetischen Theorie abspricht. Die Vermutung liegt nahe, daß ADORNO hier so verfährt, um die Möglichkeit des Gedankens ästhetischer Immanenz im Rahmen einer Ästhetik, die teleologische Theorie ist, plausibel zu machen. Allein überläßt sich die Hegelsche Ästhetik der Beschaffenheit der ästhetischen Objekte nur, weil für sie deren Beschaffenheit die Idee in der Bestimmungsform des sinnlichen Scheinens ist und also die Kunstwerke nur Wahrheitscharakter haben, weil sie auf die adäquate Realisation der Idee im Begriff bezogen sind. Daraus erklärt sich überhaupt erst die Konzeption des schönen Scheins. Mehr noch als Hegel ist ADORNO auf das Theoriemodell der Teleologie angewiesen, weil sich ihm das von den Kxmstwerken Darzustellende nicht
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in einer Selbstexplikation der Vernunft, sondern erst in der teleologischen Konstruktion der in sich zweckvollen Natur erschließt. In seinem Rekurs auf die Teleologie wird eine an Hegel anschließende Theorie der nicht mehr schönen Kirnst ADORNO allein schon deshalb nicht folgen können, weil die Begründung der Kunst in ihrer Stellung zum Begriff bei Hegel bereits eine „Entschärfung" teleologischen Denkens darstellt. Die Konstruktion eines in sich Zweckvollen anläßlich der Vorstellung vom Naturschönen vermag gerade nicht, worauf es einer Aktualisierung der Hegelschen Ästhetik ankommen muß: nämlich die kritische Stellung der neueren Kunst zur begrifflichen Rationalität rational zu begründen. Nichts zwingt allerdings dazu, ADORNOS Bestimmungen immanenter Strukturen der Kunstwerke auf eine Nachahmung des Naturschönen hin imd damit im Zusammenhang einer modifizierten Relation von Darstellendem und Dargestelltem zu lesen. Kaum jemand anders hat genauer als er die Momente bezeichnet, in denen die nicht mehr schönen Kunstwerke ihre rationale Konstruktion unmittelbar werden lassen. In ihrer Unmittelbarkeit negieren die Kimstwerke die Kontinuität ihrer rationalen Entwicklung; darauf zielt der AooRNOsche Satz, Kunst erfahren hieße soviel wie „ihres immanenten Prozesses im Augenblick seines Stillstandes innezuwerden" (Ä. T. 131). Im Stillstand ihres immanenten Prozesses sind die Werke gleichsam intensive, ihr Fortschreiten integrierende Anfänge, die Aktualisierung und Auslegung freisetzen. Verbindlich können sie sein, weil die nicht mehr schönen Kunstwerke Erfahrungen sind, die die Vernunft mit sich selbst macht. Zu diesen aber bedarf es keiner „Rettung des Scheins", denn ihr Sinn ist die Scheinhaftigkeit der vermittelnden Rationalität: diese erfährt in der Kunst die Ungesichertheit ihrer kontinuierlichen Geltung auf rationale Weise.
V. Die Ästhetische Theorie gelangt in ihrer Konzeption des Scheincharakters der Kunstwerke als eines Vor-Scheins des noch nicht Seienden nicht über den Rahmen des Darstellungsprinzips und also auch nicht über den Gedanken des schönen Scheins hinaus. Mit ihr ist also der Versuch einer Antwort auf die Frage, wie denn eine Aufhebung des schönen Scheins denkbar sei, die einer Eliminierung des Darstellungsprinzips gleichkommt, noch nicht hinreichend exponiert. Dieser Versuch kann allerdings an ADORNO anknüpfen, wo er den Scheincharakter der Kunst-
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werke nicht mehr auf ihr sinnliches Moment bezogen sieht: ,/Herkömmlicherweise wird der Scheincharakter der Kunstwerke auf ihr sinnliches Moment bezogen, zumal in der Hegelschen Formulierung vom sinnlichen Scheinen der Idee. Diese Ansicht von Schein steht im Bann der traditionellen, PLAxoNiscH-ARisxoTELischen vom Schein der Sinnenwelt hier, dem Wesen, oder dem reinen Geist, als dem wahrhaften Sein dort. Der Schein der Kunstwerke entspringt jedoch ihrem geistigen Wesen. Dem Geist selber, als einem von seinem Anderen Getrennten, ihm gegenüber sich Verselbständigenden und in solchem Fürsichsein Ungreifbaren eignet ein Scheinhaftes; aller Geist vom Leibhaften, hat in sich den Aspekt, ein Nichtseiendes, Abstraktes zum Seienden zu erheben, das ist das Wahrheitsmoment des Nominalismus. Kirnst macht auf die Scheinhaftigkeit des Geistes als eines Wesens sui generis die Probe, indem sie den Anspruch des Geistes, Seiendes zu sein, beim Wort nimmt und als Seiendes vor Augen stellt." {Ä. T. 165). Der Begriff eines nicht abstrakten Geistes wäre für ADORNO diesen Sätzen zufolge nur im teleologisch konstruierten Begriff einer in sich zweckvollen Natur gegeben, weil nur diese ihre Einheit und Sinnhaftigkeit nicht einer äußeren subjektiven Instanz verdankte. Mit dem Begriff des Leibhaften kann nur die noch nicht in universaler Geltung seiende Natur gemeint sein: das heißt aber, daß er „Geist" in demselben PLAXONisch-ARisxoxELischen Muster denkt, das er kritisiert. Die Scheinhaftigkeit der „immanenten Vermittlung" (Ä. T. 34), als welche ADORNO Geist auffaßt, beruht in dieser Konsequenz wieder auf dem Gedanken des Darstellungsprinzips, denn die Kunstwerke sind scheinhaft, weil sie nicht sind, was sie darstellen, weil die Selbständigkeit des Geistes nur ein Bild an sich seiender Natur ist. Andererseits jedoch impliziert die ADORNOsche Bestimmung eine Integration und damit eine wirkliche Aufhebung des Scheins in den Begriff des Geistes, unter der Voraussetzung, daß die Scheinhaftigkeit des Geistes nicht auf einem begründet wird. Nämlich nicht, weil sich der Geist in irgendeiner Weise verselbständigt, hat er Scheincharakter, sondern weil der Gedanke immanenter Vermittlvmg Scheinhaftigkeit insoweit einschließt, als der Bestand des Vermittelten imd der Vermittlung selbst nie als ungefährdet gesichert gelten kann. Die eigentümliche Leistxmg der Vernunft ist, wie D. HENRICH es formulierte, „eine Aktivität, die man nicht verstehen kann, ohne Gründe ihrer Ermöglichung zu denken, die ihr selbst unverfügbar sind." Die moderne Philosophie „ersetzt die unendliche Selbstmacht Gottes nicht dadurch, daß sie dieselbe Macht nunmehr dem erkennenden Subjekt zuerkennt, sondern dadurch, daß sie von einer Form von Tä-
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tigkeit ihren Ausgang nimmt, die sich nach dem Schema der Frage nach Schöpfung, Formierung oder Veränderung von Dingen gar nicht fassen läßt: Sie ist ihrer selbst nicht mächtig und doch in sich von einer Art, die es ausschließt, daß sie von anderem erhalten wird." Wenn aber die immanente Vermittlung, wie die Vernunft sie vollzieht, nicht garantiert werden kann, weil die Vernunft ihrer Leistungsfähigkeit nicht mächtig ist, so wird auch die Konstruktion einer Einheit obsolet, die als substantiell gegenüber der abstrakten Einheit des Geistes behauptet wird, welche sich nur in der kategorialen Formung von Chaotischem Substantialität soll sichern können. Wegen dieser Auffassung ist für ADORNO der Gedanke xmdenkbar, daß die abstrakte Einheit des Geistes, wie sie etwa in KANTS Theorie der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption Ausdruck gefunden hat, immer auch den Gedanken einer Erhaltung von „Welt" und das heißt den Sinn des Mannigfaltigen impliziert. Andererseits hat die AooRNOSche Kritik der synthetisierenden Vermmft ihr Recht, weil die Möglichkeit zu formaler und das heißt kontinuierlicher Konsistenzbildung nur eine Weise der Vernunft ist, sich zu erhalten, xmd das Verfahren der formalen Konsistenzbildimg in sich die Tendenz hat, das es konstituierende Prinzip der Verallgemeinerung und Subsumtion auf den Aspekt seiner Geltung zu übertragen. Das behauptet die in dieser Form nicht schlüssige Identifikation begrifflich bestimmender Rationalität mit Wahrheit und begründet die polemische Stellung der Kunst dieser Rationalität gegenüber. Der Erweis der Unwahrheit formaler Konsistenzbildimg ist als deren Grenzbestimmung zu fassen, ohne daß sie dabei als Rationalität einer Kritik unterzogen wird. Kritikpunkt ist nur, daß die asymmetrische Relation begrifflicher Bestimmimg nicht den gesamten Tätigkeitsbereich der Vernunft bezeichnen kann. Deshalb hat sich auch für die nicht mehr schöne Kirnst die Beziehung auf Wahrheit kompliziert. Wenn die moderne Kunst dem Anspruch auf Wahrheit gerecht werden will, muß sie einerseits im Sinne der genannten Verfaßtheit moderner Vernunft rational sein und andererseits sich in ein Verhältnis zur entwickelten Form begrifflich bestimmender Rationalität setzen, das sich nicht in Verweigerung erschöpft. Letzteres bedeutet, daß gegenwärtige Kunst dem Begriff der objektiven 18 D. Henrich: Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung. In: Subjektivität und Selbsterhaltung. Hrsg. v. H. Ebeling. Frankfnrt/M 1976.137. 1* M. Sommer: Ist Selbsterhaltung ein rationales Prinzip? In: Subjektivität und Selbsterhaltung. —.
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Vernunft folgt; indem sie dies tut, gehört sie in einem spezifischen Sirm zur „Nachgeschichte" des Begriffs: sie gewinnt damit die Chance, sich mit der Geschichte, mit dem wirklich gewordenen Begriff und seiner objektiven Rationalität auseinanderzusetzen und seine Geltung zu prüfen. Nur wenn sie diese Chance wahrnimmt, ist sie auch systematisch auf dem gegenwärtigen Stand. Moderne Kunst verdient ihr Prädikat nur in der Einlösung dieser Bedingung. Gegenwärtiger Kirnst ist deshalb die Wahrheit begrifflich bestimmender Vernunft in dem Sirme verfügbar geworden, als deren objektiver Geltungsanspruch zu ihrer Kritik steht. Der ästhetische Schein der nicht mehr schönen Kunst, der die Vorstellung von Wahrheit auch dort durchzusetzen vermag, wo er sich auf wirkliches Wissen reflektierend bezieht, löst sich aus dem Bannkreis vorgezeichneter Rationalität in zweifacher Hinsicht. Zum einen konfrontiert er in der Vorstellung der in ihm gemeinten Vernunft diese mit der wirklich geltenden. Er ermöglicht unbegriffliche Kritik an der Rationalität der wirklich gewordenen Vernunft als der herrschenden Rationalität. Darüber hinaus kann er in diesem Verfahren die Grenzen wirklich gewordener Vernunft, also auch deren Unwahrheit zur Geltung bringen. Diese Momente im phänomenalen Bestand moderner Kunstwerke aufgesucht und detailiert beschrieben zu haben, ist eine der wichtigsten Leistungen ADORNOS in der Ästhetischen Theorie. Allerdings werden seine Analysen dadurch problematisch, daß er die ästhetische Kritik begrifflich bestimmender Rationalität im Begriff der Transzendenz zu verstehen sucht. Deshalb kann er die spezifische Vernunft der Kunstwerke auch nur als den abstrakten „Punkt der reinen Subjektivität" {Ä. T. 52) auffassen imd als Beispiele lediglich die aporetischen Positionen des Expressionismus und des Dada anführen (vgl. ebd.). Wenn jedoch die Leistung der Kunst nicht nach dem Darstellungsprinzip, sondern als Leistung der Vernunft verstanden werden soll, so ist es sinnvoll, in ihr eine Möglichkeit zu sehen. Versuche rationaler Selbstkonstituierung zu unternehmen, wo in der Negation von Kontinuität die Grenzen begrifflicher Konsistenzbildung offenbar werden. Erst dann läßt sich von den Kunstwerken behaupten, sie seien „Rationalität, welche diese kritisiert, ohne sich ihr zu entziehen." {Ä. T. 87) Dementsprechend bindet die Rede von der Vernünftigkeit moderner Kirnst diese nicht an einen vorgegebenen philosophischen Problembereich, sondern ist eine Bestimmung ihrer Gestaltungsmöglichkeiten. Diese stehen nun im Zentrum künstlerischen Verfahrens. Anders als die darstellungsästhetische Bindung schöner Kunst an vorgegebene Inhalte
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muß die Vorstellung von Wahrheit in den Kunstwerken der Moderne auf das Angemessenheitsverhältnis zwischen Inhalt und Gestaltung verzichten. Sie muß es, weil sie mangels inhaltlicher Leitung durch Wahrheit allein auf die Möglichkeiten verwiesen ist, die ihr im Umgang mit dem Material und im gestalterischen Verfahren zur Verfügung stehen. Das Verständnis der modernen Kunst aus der Erfahrung der Beschaffenheit gegenwärtiger Vernunft beinhaltet, daß die Kunst die Grenzen des Schönen sprengte, weil ihr für den Vollzug von Wahrheit allein der radikal reflektierte Gebrauch des Materials im konstruktiven Verfahren und in der Gestaltung zugänglich ist. Nur wenn der Vollzug von Wahrheit nicht als Beschreibung eines Naturalen aufgefaßt wird, kann ADORNOS Begriff des Amorphen in diesem Zusammenhang weiterhelfen; der Mangel an Signifikanz, auf den er hinführt, ist nämlich — wo er die Freisetzung des Materials impliziert — mehr als die Verweigerung formaler Konsistenz, weil er in seiner Polemik gegen begriffliche Rationalität alternative Formen der Konstituierung selbsterhaltender Vernunft ermöglicht. Diese körmen einerseits an der künstlerischen Verfahrensweise, andererseits als Auslegung und spielerische Aktualisierung begreiflich gemacht werden. Der Begriff des spielerischen Verhaltens im radikalen Verdacht gegenüber herrschender Rationalität verweist dabei auf den Begriff des Spiels. Wie wir ihn hier verstehen, hat er eine Klärung in der Hermeneutik H.-G. GADAMERS erfahren, wo diese ihn als immanenten Zusammenhang, der gleichwohl in vorgegebenen Kontexten stattfindet und deshalb an sie gebunden ist, bestimmt. Als „Leitfaden der ontologischen Explikation" kann Spiel allerdings nicht dienen, wenn sein Begriff als Konsequenz der Unangemessenheit darstellungsästhetischer Konzeptionen seinen Sinn behalten soll. Gerade der Verzicht auf eine in ontologischer Bestimmung fixierbare Wahrheit zeichnet ihn aus. Nur wenn die Kunstwerke auf nichts mehr verweisen und deshalb auch der Begründung durch ästhetische Theorie enthoben sind, können sie auf die Scheinhaftigkeit des Geistes die Probe machen. Die Bedeutung der Ästhetischen Theorie für eine philosophische Theorie der modernen Kunst ist vor allem in deren Hinweis auf den gegenüber Hegels Theorie der schönen Kunst veränderten Zusammenhang von Geist und Schein, von Vermmft und Unmittelbarkeit zu suchen. Der Explikation dieses Zusammenhangs sind viele ihrer eindringlichsten Bestimmimgen gewidmet. Sie gründen dabei eher in der Aktualität der Hierzu H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode. 2. Aufl. Tübingen 1965. 97—122.
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Hegelschen Ästhetik, als daß sie deren Leistungen beiseite schieben oder gar bestreiten könnten: in Hegels Insistenz auf methodischer Sicherung der Rede über Ästhetik als Wissenschaft, die allererst die kritische Grenzbestimmung traditioneller Ktmst tmd damit die systematische Erhellxmg der gegenwärtigen Kunst und ihrer Möglichkeiten geltend machen kann; und in der historischen wie systematischen Rückführung der Vermittlungsleistung von Wahrheit in der Moderne auf die Erfahrxmg der Aufhebung des schönen Scheins traditioneller Kunst. Beides zusammen erlaubt einzusehen, daß die moderne Kunst angesichts der herrschenden Rationalität nicht auf den Wahrheitsanspruch verzichten muß, sondern sich mit ihren eigenen Mitteln gegen deren dogmatische Ansprüche wenden kann. In ihr ist die eigentümliche Weise demonstriert, in der moderne Vernunft sich erfährt. Nicht mehr schöne Kunst gewinnt uns darin Erfahrxmgsmöglichkeiten gegen den Zwang herrschender Rationalität, also auch ihrer Unvermmft.
REINHARD BRANDT (MARBURG)
DICHOTOMIE UND VERKEHRUNG Zu Marx' Kritik des Hegelschen Staatsrechts
Das titellose Manuskript, geschrieben März-August 1843 als Teil einer Kritik der Hegelschen Grundlinien der Philosophie des Rechts, setzt mit der Besprechtmg des § 261 ein und endet beim § 313. Während der letzte erhaltene Bogen nur mit einigen Worten beschrieben ist, wir also mit dem Manuskriptende zugleich den Schluß des von MARX ausgearbeiteten Teils der Schrift vor rms haben, läßt sich der Paginierimg entnehmen, daß der erste Bogen — als einziger — verloren ist; er muß gut dreieinhalb Seiten MEW ^-Text umfaßt haben; auf seinen Inhalt lassen sich, wenn ich richtig sehe, durch keine Textverweise Rückschlüsse ziehen. ^ Die MARXsche Kritik bezieht sich entsprechend dem Inhalt der §§ 261— 313 auf zwei Themenbereiche: erstens das Verhältnis von Familie tmd bürgerlicher Gesellschaft ziun Staat, zweitens die Innere Verfassung, die sich wiederum aufgliedert in die fürstliche Gewalt, die Regierungsgewalt und die gesetzgebende Gewalt. Verschiedene Vorverweise zeigen, daß MARX die Schrift fortführen wollte; es war beabsichtigt eine Behandlung von Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft, und die Formulierungen zeigen, daß MARX bereits dezidierte Vorstellimgen über diesen Teil besaß (vgl. u. a. 284, 286). Ntm begleitet die Kritik der §§ 261—313 den Hegelschen Text nach der Art kritischer Kommentare, wie sie in der Spätantike zu den Werken klassischer Autoren oder etwa von LEIBNIZ ZU LOCKES Essay concerning human understanding geschrieben wurden. Mit der beabsichtigten Behandlung der bürgerlichen Gesellschaft nach dem Staatsrecht jedoch verläßt MARX 1 Karl Marx — Friedrich Engels: Werke. Berlin 1956 ff. Der erste Band wird im folgenden nur mit Seitenangabe zitiert; 1,1 bezeichnet den Ergänzungsband Schriften bis 1844. Erster Teil. 2 Der abrupte Einsatz von Bogen 2 beim § 261 macht es wahrscheinlich, daß Marx in dem verlorenen Manuskriptteil den § 260 oder §§ 257—60 behandelte; auf die zweite Möglichkeit verweist Siegfried Landshut in: Karl Marx: Die Frühschriften. Stuttgart 1953. XXII.
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das synodeuein to philosopho, indem er seine Vorlage auf den Kopf stellt. Während Hegel auf steigt von den Teilsphären zu dem Ganzen, als dessen Momente sich diese Sphären erweisen, beginnt MARX beim Ganzen (sc. dem Ganzen nach Hegel) und steigt dann hinab zu einer Teilsphäre (nach MARX: dem eigentlichen Ganzen). JOHN LOCKE schlägt in seinem Essay, so köimte man sagen, ein ähnliches Verfahren ein. Er kritisiert im ersten Buch die aprioristische Gegenposition tmd beginnt dabei mit der Destruktion der Vorstellung, es gebe angeborene principles; darauf folgt die Kritik der angeborenen ideas, die die Elementarteile der principles bilden und in LOCKES eigener Vorstellxmg am Anfang stehen. Man kann also mutatis mutandis sagen, von der MARXschen Kritik sei nur der Teil über die principles ausgeführt worden, nicht aber der über die ideas, die Elemente der principles. Bei beiden Autoren ist die Verkehrung der Reihenfolge bedingt durch die Kritik des Empiristen am Idealismus; bei dem nach ihrer Meinung jeweils richtigen Einsetzen mit den Elementen würde die Kritik überflüssig werden und der richtigen Darstellung weichen; die Möglichkeit der Kritik also hängt an der aufgezeigten Verkehrimg. Man wird jedoch schon hier vermuten, daß die MARXsche Verkehnmg ihre Plausibilität und Begründimg nicht nur aus einem Gedanken bezieht, der auf JOHN LOCKE gleichermaßen zutrifft, sondern daß sie begriffen werden muß im Kontext der spezifischen Verkehrung, die die Junghegelianer bekanntlich mit der Hegelschen Philosophie aufgrund bestimmter in ihr gelegener Prämissen vollziehen zu können glaubten. ® Außer der Verkehrung nun läßt sich folgendes festhalten: MARX gibt keine Vorverweise auf eine Kritik etwa der Hegelschen Darstellung der Familie oder des abstrakten Rechts, sondern weist — außer auf Detailfragen des weiteren Staatsrechts — nur auf die zu erwartende Behandlung der bürgerlichen Gesellschaft. Das heißt: die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie war mit aller Wahrscheinlichkeit als ein zweiteiliges Werk geplant; es sollte Staat xmd Gesellschaft behandeln. Mit der Verkehrung imd Dualität sind — dies ist eine der Thesen der folgenden Interpretation — die beiden Merkmale gegeben, die die MARXä Bacon, Locke, Hume destruieren falsche Ideen und Theorien und setzen an den freigewordenen Ort eigene Vorstellungen bzw. Verfahrensregeln; die falschen Vorstellungen lassen sich als bloß akademische oder audi natürliche Illusionen erklären. Nach dem Vorbild der Kantischen und (ganz anders gearteten) Hegelschen Dialektik ist bei den Junghegelianern die kritisierte Lehre nicht nur falsch und erklärbar, sondern sie steht in einem logisch bestimmten Verhältnis zur wahren Theorie bzw. Theorie der Wahrheit.
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sehe Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie überhaupt bestimmen, und zwar in der angegebenen Reihenfolge: es wird zunächst kritisiert, daß Hegel die Welt auf den Kopf stellt, daß er Subjekt und Prädikat vertauscht, daß er das Akzidens zur Substanz macht; die Gegenvorstellrmg ergibt sich hier logisch als die Korrektur der Verkehrung durch eine Seitenvertauschimg des Verkehrten. Der nächste Einwand zielt auf den Dualismus: nicht die Verkehrung, sondern die Trenntmg von Subjekt und Prädikat, von Sein und Bedeutung, von bourgeois und citoyen (um einige ner von MARX verwendeten Begriffsschablonen zu neimen) wird hier zum Gegenstand der Kritik. Die Gegenvorstellimg ist die der Einheit, des Beisichseins des gesellschaftlichen Menschen in einer menschlichen Gesellschaft; der Mensch soll nicht mehr repräsentiert werden durch ein anderes, das ihn imd das er vorstellt, sondern „durch das, was er ist und tut" (325). Die folgenden Ausführungen bestehen aus drei Teilen. Teil I behandelt zunächst MARX' Kritik der Verkehnmg, sodann die der Diremtion tmd der Versuche Hegels, zwischen dem Getrennten zu vermitteln; in Teil II soll eingegangen werden auf MARX' eigene Vorstellrmgen von einer Gesellschaft, in der die Treimung des Menschen von sich selbst aufgehoben ist. Am Schluß — Teil III — soll kurz die Kritik von MARX an seinem eigenen kritischen Verfahren dargestellt werden — in der Vorrede der ökonomisch-philosophischen Manuskripte kehrt MARX sich selbst um. Die aus der Phänomenologie stammende Struktur von Dichotomie und Verkehrung bliebt jedoch auch in dieser Phase eine Grundfigur tmd bestimmt z. B. die Analyse von Arbeit und Kapital. I. Um die MARXsche Kritik am Hegelschen Staatsrecht zu verstehen, ist es zunächst nötig, sich gewisse Strukturmerkmale der Hegelschen Konzeption zu vergegenwärtigen. Stadt und Land bzw. bürgerliche Gesellschaft und Familie, so schreibt Hegel in der Anmerkung zum § 256, „machen die beiden noch ideellen Momente überhaupt aus, aus denen der Staat als ihr wahrhafter Grund hervorgeht". * * Vgl. § 258: „... die Bestimmung der Individuen ist es, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkt und Resultat".
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Der Aufbau und damit der Grtmdgedanke des Hegelschen Staatsrechts enthält eine Paradoxie: Der Grund geht aus dem Begründeten hervor; das Begründete erzeugt den Grund seines Daseins. So heißt es zu Beginn der Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft: „Die Idee in dieser Entzweiung erteilt den Momenten eigentümliches Dasein, — der Besonderheit das Recht, sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen, und der Allgemeinheit das Recht, sich als Grund und notwendige Form der Besonderheit, so wie als die Macht über sie und ihren letzten Zweck zu erweisen." (§ 184) Dazu die allgemeine Vorstellung aus der Wissenschaft der Logik: „Man muß zugeben, daß es eine wesentliche Betrachtung ist, — die sich irmerhalb der Logik selbst näher ergeben wird, — daß das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt imd in der Tat hervorgebracht wird." (I. 55) Das Ganze ist das Wahre, in dem und durch das die Teile — hier Familie imd bürgerliche Gesellschaft — erst als seine Momente in ihrer Existenz und Form ermöglicht werden. Mit diesen ideellen Momenten fängt jedoch die Bewegung an, aus der ihr Gnmd und Telos hervorgeht. Der Staat also als das antizipierte Ganze seiner vorausliegenden Momente ist Grund seiner selbst, causa sui in creatio tmd conservatio; im § 269 schreibt Hegel, die unterschiedenen Seiten des Staatsorganismus seien „die verschiedenen Gewalten und deren Geschäfte und Wirksamkeiten, wodurch das Allgemeine sich fortwährend, tmd zwar indem sie durch die Natur des Begriffs bestimmt sind, auf notwendige Weise hervorbringt, und indem es ebenso seiner Produktion vorausgesetzt ist, sich erhält." Es sei hier daran erinnert (im Vorgriff auf einen später noch einzubeziehenden Gedanken), daß die teleologische Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie nach KANxischen Prinzipien nicht möglich ist, weü mit ihr theoretische und praktische Vernunft zusammenfallen — eben dies versucht KANT in seiner eigenen Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten zu verhindern. Bei Hegel kann die praktische Vernunft nicht in Form eines kategorischen Imperativs des Rechts der bestehenden Wirklichkeit gegenübertreten, sondern sie muß sich in gleicher Weise wie die theoretische als wirklich begreifen, sie muß das Vernünftige in der Rechtsrealität auf zeigen. Entsprechend lautet der eine der beiden Titel des Hegelschen Werks „Naturrecht und Staatswissenschaft": die Hegelsche Rechtslehre ist die Entfaltung des Rechts als eine Wissenschaft des wirklichen Staats, Norm und Faktum, Begriff und Gegenstand erweisen sich im Ganzen des Staats als identisch. Mit der
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Strtiktur der Hegelschen Rechtsphilosophie im ganzen ist also schon entschieden, daß die Analyse des Wirklichen das Wirkliche legitimiert — „in dieser Verwechselung liegt die ganze Unkritik der Hegelschen Rechtsphilosophie", schreibt MARX im Zusammenhang einer bestimmten Detailkritik (238). Die Voraussetzung der Hegelschen Unkritik liegt in der Zusammennahme von theoretischer und praktischer Vernunft (von KANT aus formuliert). Durch sie gerät die Rechtsphilosophie zu einer Begriffs-Beschreibung, zu einem Tatsachenroman, der immer so erdichtet wird, daß er mit einem dem Philosophen passenden Teil der Wirklichkeit übereinstimmt. Der Doppeltitel des Hegelschen Werks entspricht dem von GOETHES Dichtung und Wahrheit. Doch wir greifen der MARXschen Kritik vor. MARX geht auf die teleologische Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie als solche nicht ein, sondern er fixiert einmal den Dualismus von Prädikat imd Subjekt, von Wirklichkeit imd Idee; zweitens interpretiert er Hegel so, daß alle Wirksamkeit in der Idee liegt — die Bewegung der Momente ist für MARX eine Schattenbewegung ohne eigene Kräfte. Die Hegelsche Doppelstrategie der genesis eis ousian als ein Hervorgehen der Vermmft aus den Momenten, die sie selbst hervorbringt, ist aufgelöst, bevor MARX mit seiner Detailkritik einsetzt. Dies wird besonders deutlich an folgender Formulierung: „Die Idee wird versubjektiviert imd das wirkliche (sc. nach MARX wirkliche) Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat wird als ihre imaginäre Tätigkeit gefaßt. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des Staats; sie sind die eigentlich Tätigen; aber in der Spekulation wird es umgekehrt. Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte, bürgerliche Gesellschaft, Familie, Umstände, Willkür etc. zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee." (206) Hegel dagegen hatte gemäß einem der Zusätze (die MARX durchweg als authentische Äußerungen selbst benutzt) gesagt: „Die subjektive Freiheit, die berücksichtigt werden muß, fordert aber freie Wahl der Individuen" (ad § 262). Hegel meint also die freie Wirksamkeit des Individuums mit einer dessen Intentionen entzogenen Gesetzmäßigkeit des Ganzen vereinbaren zu können: Der Knoten der Teleologie, der diese Einheit knüpfen soll, ist von MARX stillschweigend gelöst worden, bevor er zeigt, daß die Dinge bei Hegel zerrissen xmd verkehrt sind. Die These von MAIüC lautet also: Das einzige agens ist bei Hegel die Idee; die — als solche evidente — Wirklichkeit hat keine eigene Kau-
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salität. Tatsächlich jedoch ist es umgekehrt: das Ideelle ist ein Produkt der wirklichen Sphären, der Staat wird von Familie imd bürgerlicher Gesellschaft hervorgebracht. Im folgenden soll versucht werden, die MARXsche Argumentation in zwei bzw. drei Ebenen näher zu entfalten; zunächst in der Ebene der bloßen Verkehrung von Subjekt und Prädikat, die, bleibt man bei der topologischen Betrachtung, harmlos ist wie jede logische Konversion gemäß den logischen Regeln; sodann wird übergegangen zur Betrachtung der dynamischen Relation von Subjekte und Prädikat. MARX behauptet, daß aus dem Hegelschen Subjekt (der Idee also) das Prädikat nicht abgeleitet werden kann: der Hegelsche Versuch ist unmöglich; drittens: eine Herleitimg des Hegelschen Subjekts aus dem Prädikat wird tatsächlich von Hegel (natürlich) nicht geleistet, eben dies aber ist die wirkliche Kausalbeziehtmg: das wirkliche Prädikat, das in der Hegelschen Verkehrung die Fxmktion des Subjekts hatte und diese unmöglich erfüllen konnte, läßt sich ableiten aus dem wirklichen Subjekt, weil es aus dieser tatsächlich hervorgebracht wird. Die konkreten Menschen machen den Staat — jede Umkehnmg ist pure Mystifikation, die nur im Kopf des Philosophen ihren Ort hat. Zunächst zu der Trivialität, daß die Verkehrung von Subjekt xmd Prädikat als solche kein Fehler zu sein braucht; definiens und definiendum können ihre Stelle rechts oder links der Kopula vertauschen; welcher Ort der richtige ist, läßt sich rein topologisch sowenig entscheiden wie die Frage, ob die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde kreist, wenn man sich nur auf die beiden Punkte unter rein phoronomischem Aspekt bezieht. Wie kommt es zu der verkehrten Stellung von Prädikat tmd Subjekt bei Hegel? Man kann sich die Entstehung folgendermaßen vereinfacht klar machen: Die Hegelsche Logik teilt ein Merkmal mit der PrAxoNischen Spätpilosophie, in der mit Hilfe der Dihairese Definitionen gesucht wurden, etwa die Definition des Sophisten. Setzt man nun bei einem allgemeinen Begriff ein und folgt deduktiv seinen Diremtionen, so steht natürlich am Anfang des Urteils, das bis ziun Sophisten gedrungen ist, zunächst das definiens: „Ein ... ist der Sophist." Die Suche nach Definitionen auf dihairetisch-deduktivem Weg wäre so harmlos wie die zufällige Stellimg von definiens und definiendum links oder rechts von der Kopula, wenn die Logik bei Hegel nicht zugleich Metaphysik wäre, wenn die dialektische Dihairese nicht zugleich die Realgenese des Gegenstandes nachvollzöge. Wenn dies der Fall ist
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— und eben dies ist Hegels Behauptung —, dann ist mit der Logik zugleich eine dynamische Relation eingebracht; das Subjekt ist zugleich Substanz und das Prädikat wird zu einem von der Substanz abhängigen Attribut. Daß nun — zweitens — das Hegelsche Subjekt Erzeugimgs- oder Bestimmungsgrund seines Prädikats sein kann, ist nach MARX unmöglich; von der allgemeinen Idee führt kein Weg zu den konkreten Bestimmungen der Wirklichkeit: „Es ist aber keine Brücke geschlagen, wodurch man aus der allgemeinen Idee des Organismus zu der bestimmten Idee des Staatsorganismus oder der politischen Verfassung käme", heißt es in einem bestimmten Zusammenhang der Kritik, „imd es wird in Ewigkeit keine solche Brücke geschlagen werden können" (212—213). ® ® Zur Vorstellung der Überbrückung einer Kluft gibt es eine chain of ideas, die von der Aristotelischen Chorismos-Kritik und dem mega chasma des Testaments bis zu Marcuses One Dimensional Man reicht („The critical theory of society possesses no concepts which could bridge the gap between the present and its future ...", Schlußabsatz). Vgl. Henry More: An Explanation of the Grand Mystery of Godliness. 1660. I 4,9; John Locke: An Essay concerning human understanding. 1690 III. 6,12 u. ö.; Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft A 317, Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Kapitel II, Absatz 9; Friedrich Schlegel: Versuch über den Begriff des Republikanismus. 1796 (in; Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. München 1966. Bd 7.16); Johann Gottlieb Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. 1797. Abschnitt 6 u. ö.; Wilhelm von Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. 1821 (in: Werke. Ed A. Leitzmann. Berlin 1905. Bd 4.47); Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts 1821. §270 Anmerkung, Absatz 1; Karl Marx: op. cit. 200, 386. Georg Lukäcs' Theorie des Romans (1916) ist auf dem Grundriß von vorgängiger Einheit (in Griechenland), „ungeheurer Kluft" und neuer Einheit (Dostojewski) gebaut, vgl. bes. I, 1 und 2; die Suggestivkraft war für Lukacs so groß, daß er Adorno im „Grand Hotel Abgrund" einlogierte. — Das Material für eine begriffsgeschichtliche Biographie der idea of the great chasm, gap, der „ungeheuren Kluft" — als Gegenstück zu Arthur O. Lovejoys optimistischem great chain of being (1936) — ließe sich leicht erstellen; die Vernunft und Unvernunft, mit der die überkommene IdeenVariable erfüllt wird, läßt sich jedoch nur ermitteln, wenn die Intention der einzelnen Autoren oder Theorien primärer Gegenstand der Untersuchung ist und nicht die Idee oder der Begriff hypostasiert und zum Subjekt einer eigenständigen Geschichte wird (in einer gleichsam begriffsrealistischen Verkehrung). — Einiges Material zur Vorstellung der Dichotomie findet sich in Joachim Ritters Artikel: „Entzweiung" im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd 2. Darmstadt 1972. 565—572. In Ritters Artikel fehlt ein Hinweis darauf, daß die „Entzweiung" ihre für das Verständnis der neuzeitlichen Begriffs-Mythologeme oder -Strukturen unentbehrlichen Wurzeln in der antiken hen-dyas-Spekulation hat; Ritter hat des weiteren die gegenüber der vorhergehenden Literatur neue Komponente der Verkehrung in der nachkantischen Philosophie (s. u.) nicht bemerkt. Zum Ursprung der trinitarischen Struktur von Einheit-Dichotomie-Einheit vgl. Werner Beierwaltes: Platonismus und Idealismus. Frankfurt 1972. 73 u. ö. Zum literarischen Topos der verkehrten Welt Literatur bei Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 3. Aufl. Bern 1961. 104—108. — Die philosophische Quelle der Verkehrungsfigur ist für Feuer-
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Dagegen Hegel: /,Die immanente Entwicklung einer Wissenschaft, die Ableitung ihres ganzen Inhalts aus dem einfachen Begriff (— sonst verdient eine Wissenschaft wenigstens nicht den Namen einer philosophischen Wissenschaft—) . .(§ 279 Anmerkung). Hier also die Behauptimg der Notwendigkeit, dort der Unmöglichkeit des Hegelschen procedere. Die MARXsche Kritik ist Hegel nicht fremd. Er selbst hat gegen die KANxische Ethik geltend gemacht, aus dem Formalismus des kategorischen Imperativs (der letztlich nichts anderes sei als das logische Prinzip des Widerspruchs) ließen sich keine inhaltlichen Bestimmungen ableiten: unter den kategorischen Imperativ lasse sich das Eigentum so gut wie das Nichteigentum subsumieren. ® Hegel selbst glaubt die Kluft zwischen Denken und Sein, zwischen dem Allgemeinen und den bach und Marx zunächst sicher Hegels Phänomenologie des Geistes (Kapitel „Kraft und Verstand"); dazu Hans-Georg Gadamer: Die verkehrte Welt. In: Hegel-Tage Royaumont 1964. Bonn 1966. (Hegel-Studien. Beiheft 3.) 135—154; jetzt auch in: Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. H. F. Fulda und D. Henrich. Frankfurt 1973. 106—130. Wie Ritter geht auch Gadamer nicht auf die Vekehrung ein, die dieser Figur in der nachkantischen Philosophie zugrunde liegt und ihr die eigentümliche Dynamik verleiht: die kopernikanische Wende Kants. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. 1797: Die propagierte „Revolution der Denkart" soll dadurch geschehen, daß die Ansicht eines konsequenten Idealismus an die Stelle des Dogmatismus oder Materialismus tritt, der dem Idealismus antithetisch gegenübersteht (Einbeziehung der Dialektik der Kritik der reinen Vernunftl); der Dogmatismus versucht, das Denken aus dem Sein zu erklären, vermag jedoch die Kluft zwischen beidem nicht zu überwinden. Nimmt man jedoch den Standpunkt des Idealismus ein, indem man eine „gänzliche Umkehrung" vollzieht, so ist eine lückenlose Entwicklung des Seins aus dem Denken (der eigentlichen Folge aus dem wirklichen Grund, des eigentlichen Prädikats aus dem wirklichen Subjekt) möglich. “Vgl. u. a. Wissenschaftliche Behandlungsarten des Naturrechts. In: Gesammelte Werke. Hamburg 1968. Bd 4. 435 ff. Daß ein ethischer Formalismus, der auf das bloße Widerspruchsprinzip hinausläuft, keine Bestimmungen liefern kann, war Allgemeingut spätestens seit der Kritik der moral-sense-Philosophen an Thomas Hobbes und Samuel Clarke. Unter andern hatte auch Kant davon gehört; es ist schon deswegen unwahrscheinlich, daß der Hegelsche Vorwurf den Sachverhalt trifft. — Zu dem Marxschen Argument, Hegel verbleibe mit allen Bestimmungen immer in der Logik und leiste keine Erkenntnis der Sache, vgl. Kants Kritik an der LeibnizWolffschen Philosophie, die „mit aller ... ihrer Bearbeitung unwissentlich immer nur im Felde der Logik blieb" {Akademie-Ausgabe. Bd 20.277; vgl. Kritik der reinen Vernunft. B 61 u. ö.) Der bloße Begriff hat ein Entscheidungsdefizit nach Kant; so läßt sich aus dem bloßen Begriff der menschlichen Hand nicht der für die Hände selbst wesentliche Unterschied von rechts und links ersehen, es bedarf dazu einer zweiten eigenständigen Komponente, nämlich des Raumes bzw. der räumlichen Anschauung {Akademie-Ausgabe. Bd2. 381—383; Bd 4. 285—286. In der Rechtsphilosophie gelangt Kant erst 1797 dazu, dem „bloßen Rechtsbegriff" eine zweite eigenständige Komponente an die Seite zu stellen und damit eine kritische Rechtslehre zu ent-
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konkreten Bestimmungen dadurch überwunden zu haben, daß er die Logik zugleich als Metaphysik entwickelt und die Vernunft a limine nur die Vernunft der Wirklichkeit ist: die Philosophie ist nichts anderes als die Wissenschaft der vernünftigen Wirklichkeit. Also kann es die inkriminierte Kluft nicht geben und es bedarf der Brücke nicht, deren Fehlen MARX kritisiert. MARX geht auf die grundsätzliche Struktur der Hegelschen Philosophie nach der Phänomenologie, gemäß der in der Logik zugleich die Metaphysik entwickelt wird, sowenig ein wie auf die in dieser Theorie der Reallogik begründete Teleologie der Rechtsphilosophie-, er versucht nachzuweisen, daß Hegel den allgemeinen Begriff tatsächlich in seiner Allgemeinheit beläßt xmd die besonderen Inhalte ohne einen zureichenden begrifflichen Grund imterschiebt. Eben damit ist, so kann MARX argumentieren, zugleich gezeigt, daß der Anspruch der Logik, den Gegenstand selbst zu entwickeln, notwendig falsch ist — auch die Hegelsche Logik bleibt eine bloß formale. Wir sahen: die Verkehrung von Subjekt und Prädikat ist als rein logische Operation möglich, sie ist nach MARX notwendig falsch, wenn mit dem Verhältnis eine dynamische Beziehung angezeigt ist; wirklich findet diese Beziehung in umgekehrter Form statt: dies sollte das letzte der drei zu behandelnden Argumente sein. Das Hegelsche Subjekt ist tatsächlich das Prädikat, und dieses das wirkliche Subjekt. „So wird hier die Souveränität, das Wesen des Staates, zuerst als ein selbständiges Wesen betrachtet, vergegenständlicht. wickeln (vgl. § 2 der Metaphysik der Sitten; in der Kritik der praktischen Vernunft, der Hegel das Depositum entnimmt — § 4, Lehrsatz III, Anmerkung — ist natürlich an eine Begründung des Eigentums gar nicht gedacht). Den Vorwurf, die Logik der Sache zu verfehlen und immer nur die Sache der Logik zu betreiben, erhebt Francis Bacon gegen Aristoteles, „qui philosophiam naturalem dialectica sua corrupit, cum mundum ex categoriis effecerit..." {Novum Organum I, LXIII); Aristoteles ist wie die ihm folgende Scholastik auf Grund des notwendigen Bestimmungsdefizits der Begriffe zu willkürlichen (pro arbitrio suo), also rein subjektiven Annahmen über die Natur und damit zur Bildung von Idolen gezwungen. Durch die Autorität Bacons konnte die genannte Fehler-Struktur zum Topos der folgenden Tradition werden. — Bei Marx wird das Defizit der Logik zum Mangel der Theorie überhaupt, eine vorgeblich autonome Philosophie kann die Welt immer nur (und notwendig!) verschieden interpretieren, erst die neue Komponente der Praxis bringt eine Möglichkeit der Entscheidung; diese Position erreicht Marx jedoch erst nach 1843. Die Hegelsdie Rechtsphilosophie ist also wegen des notwendigen Entscheidungsdefizits vordisponiert, an die Stelle mangelnder Gründe externe Kausalitäten treten zu lassen und zur Widerspiegelung der Wirklichkeit zu werden; vgl. 238, 242, 243, 287, 300.
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Dann, versteht sich, muß dies Objektive wieder Subjekt werden. Das Subjekt erscheint aber dann als eine Selbstverkörperung der Souveränität, während die Souveränität nichts anderes ist als der vergegenständlichte Geist der Staatssubjekte." (225) Es lassen sich mehr Passagen zitieren, die den Anschein erwecken, als komme bei der bloßen Verkehnmg von Subjekt und Prädikat die Wahrheit fertig aus dem Hegelschen Text. „Wir dürfen nur immer das Prädikat zum Subjekt, und so das Subjekt zum Objekt und Prinzip machen — also die spekulative Philosophie nur umkehren, so haben wir die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit." ® Stellen wie folgende warnen jedoch vor einem Mißverständnis: „Hegel geht vom Staat aus imd macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassimg." (231) Dieses Schaffen soll ein bewußtes sein: wenn der Mensch einsieht, daß die Religion sein eigenes Machwerk ist, so wird er zum Atheisten; das Subjekt nimmt das Prädikat, ist einmal die Verkehnmg bewußt geworden, in sich zurück, hebt es als getrennte Realität auf und verlegt den Himmel auf die Erde. Wir sind hiermit von der Kritik der Verkehnmg zu der Kritik an der Diremtion gelangt. Das Verhältnis von Schisma und Verkehrung wird von FEUERBACH in folgender Weise charakterisiert: „Das Sein wird nur da vom Denken abgeleitet, wo die wahre Einheit von Denken und Sein zerrissen ist, wo man erst dem Sein seine Seele, sein Wesen durch die Abstraktion genommen und dann hintendrein wieder in dem vom Sein abgezogenen Wesen den Sinn und Grund dieses für sich selbst leeren Seins findet; gleichwie nur da die Welt aus Gott abgeleitet wird und werden muß, wo man das Wesen der Welt von der Welt willkürlich absondert." ® Die Trennimg von Denken und Sein also führt zur Verkehrung im Verhältnis der Begründtmg; das abgeleitete Denken wird hypostasiert und fälschlich zum Gnmd seines Grundes gemacht. ® Zit. nach: Ludwig Feuerbach: Philosophische Kritiken und Grundsätze. Leipzig 1969. 192. • Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie. 1842. These 54. Hier klingt die für die gesamte Hegel-Kritik wichtige Kritik Kants an den traditionellen Gottesbeweisen durdi.
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Der Leser der Phänomenologie erkennt unschwer in dieser Figur Hegel selbst wieder und befindet sich hierin in Übereinstimmung mit der Auffasstmg von MARX. In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten wendet sich der Autor erstmals der von den Hegel-Kritikern bis dahin unkritisch übernommenen Grundlage ihrer Kritik zu, nämlich der Hegelschen Dialektik, ausgeführt in der Phänomenologie tmd der Wissenschaft der Logik. Die ganze Gedankenbewegung der Phänomenologie endet mit dem absoluten Wissen. „Wovon diese Gegenstände (sc. Reichtum, Staatsmacht etc.) entfremdet sind und wem sie mit der Anmaßung der Wirklichkeit gegenübertreten, das ist eben das abstrakte Denken" (1,1. 572). Der erste Schritt ist die Entfremdung, die Dichotomie, der zweite die Verkehrung: das Abgeleitete maßt sich an, die ursprüngliche Wirklichkeit zu sein. FEUERBACH und MARX stellen die Phänomenologie nach ihrem eigenen Rezept auf den Kopf, indem sie sie im ganzen noch einmal als entfremdet begreifen. Mit dem so gewonnenen Schema wendet sich MARX, wie sich zeigte, gegen Hegels Rechtsphilosophie-, „der unkritische Positivismus und der ebenso unkritische Idealismus der späteren Hegelschen Werke" (1,1. 573) wird gewonnen, indem der frühe gegen den späten Hegel ausgespielt wird. Stand zunächst die Verkehrung im Vordergnmd der MARXschen Kritik, so ist es zunehmend die Dichotomie als solche; MARX versucht zu zeigen, daß eine Vermittlxmg der Extreme immöglich ist, wenn die Einheit zerstört ist. Alle von Hegel deduzierten (vorgeblich deduzierten, tatsächlich der Wirklichkeit abgeguckten und nur begrifflich beschriebenen) Staatsinstitutionen vermögen es nicht, zwischen den einmal gesetzten Extremen von Gesellschaft und Staat, von Sein und Wesen noch zu vermitteln — vom Volk zum Thron und vom Thron zum Volk führt keine Brücke. So bleibt die gesetzgebende Gewalt, die nach Hegel zwischen Fürst und Volk vermitteln soll, ein widersprüchliches mixtum compositum der beiden Extreme, „der empirischen Einzelheit imd der empirischen Allgemeinheit, des Subjekts imd des Prädikats" (288). MARX gibt sich dem Vergnügen hin, mit passenden Begriffsschablonen und suggestiven Gleichungen („Wie der Fürst durch die Regierungsgewalt als ihren Christus mit der bürgerlichen Gesellschaft durch die Stände als ihre Priester mit den Fürsten", 291) das Scheitern der Hegelschen Vermittlungsversuche im einzelnen vor Augen zu führen. Der dirimierten und verkehrten Welt von Hegel setzt schaft menschgewordener Menschen entgegen.
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II. Das erste Stichwort, das MARX für jene Einheit liefert, deren Diremtion zur Verkehrung führt, ist der Begriff des Menschen. Er begegnet zum ersten Mal in der Erörterung des § 274; MARX spricht von der Forderung einer Verfassung, „die in sich selbst die Bestimmung und das Prinzip wirklichen Menschen, was erst möglich ist, sobald der Mensch zum Prinzip der Verfassung geworden ist" (218). In der Hegelschen Rechtsphilosophie gibt es keine Menschen; es gibt Personen, es gibt Mann und Frau, Bürger und einen Fürsten, aber das Naturwesen Mensch tritt in dem theatrum mundi juridici nicht auf. Für MARX wird der urunaskierte Mensch zum einzig Handelnden. Damit verläßt er zwar das genus der Rechtsphilosophie, jedoch nicht, wie sich zeigen wird, die Hegelsche Philosophie. Die Menschengemeinschaft, die MARX als die wahre der dirimierten und verkehrten Rechtswelt Hegels entgegenstellt, wird an zwei Stellen näher charakterisiert. „In der Demokratie erlangt keines der Momente eine andere Bedeutung, als ihm zukommt. Jedes ist wirklich nur Moment des ganzen Demos. In der Monarchie bestimmt ein Teil den Charakter des Ganzen. Die ganze Verfassung muß sich nach dem festen Punkt modifizieren. Die Demokratie ist die Verfassungsgattung. Die Monarchie ist eine Art, und zwar eine schlechte Art. Die Demokratie ist Inhalt und Form. Die Monarchie soll nur Form sein, aber sie verfälscht den Inhalt", heißt es in dem ersten der einschlägigen Absätze (230—231). Existenz und Essenz, Allgemeines und Besonderes fallen zusammen; jedes konkrete Moment ist identisch mit seinem Begriff, der ihm nicht mehr als etwas anderes entgegentreten kann. Das konkrete Individuum ist nichts als wirkliches Gattungswesen; jedes Moment im organischen Totum des Volks ist in seiner konkreten Funktion zugleich allgemein — und sonst nichts. Was das heißt, erläutert der zweite Passus. In der Demokratie „verschwindet die Bedeutung der gesetzgebenden Gewalt als einer repräsentativen Gewalt gänzlich. Die gesetzgebende Gewalt ist hier Repräsentation in dem Sinne, wie jede Funktion repräsentativ ist, wie z. B. der Schuster, insofern er ein soziales Bedürfnis verrichtet, mein Repräsentant ist, wie jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d. h. eine Bestimmung meines eigenen Wesens repräsentiert, wie jeder Mensch der Repräsentant des anderen ist. Er ist hier Repräsentant nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut.” (325)
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radikalisiert die Hegelsche Rechtsphilosophie und zieht aus ihr Konsequenzen, die sich gegen die Rechtsphilosophie überhaupt wenden. Hegel stellt das Postulat einer Verfassung auf, die die Wahrheit aller andern Verfassungen sein sollte, der sie als ihrer konkreten Vernünftigkeit als Momente erscheinen (§ 273). Aber nicht die Hegelsche Monarchie, sondern nur die Demokratie vermag dieses Postulat zu erfüllen, eine Demokratie, die alle Verfassxmgen wahrhaft transzendiert und das Recht überhaupt hinter sich läßt. Es wurde oben darauf hingewiesen, daß Hegel die Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft bei KANT rückgängig macht und sich der Teleologie Ln der Rechtsphilosophie bedient — eben dadurch macht er sie zur Staatswissenschaft, zur Biologie des lebendigen Organismus des Staats. MARX führt diesen Ansatz auf die Tatsachen zurück, deren theoretischen Roman der Philosoph Hegel immer noch schreiben wollte; er zieht die Konsequenz aus dem Organismusbegriff imd stellt das Naturwesen Mensch als Prinzip der Gesellschaft hin, die sich in MARX
Josef Derbolav versucht in seinem Aufsatz Die kritische Hegelrezeption des jungen Marx und das Problem der Emanzipation des Menschen. In: Studium Generale. 15 (1962), 271—288, einen prinzipiellen Unterschied zwischen der Feuerbachschen Hegelkritik und der Kritik von Marx am Hegelschen Staatsrecht herauszuarbeiten. Marx, so meint Derbolav, enthypostasiert zwar das Allgemeine der Hegelschen Theorie, reduziert es jedoch nicht auf einen anthropologischen Funktionszusammenhang, sondern behält es in modifizierter Form bei (u. a. 277). Marx strebt eine Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht an (282 u. ö.). Erst nach 1843 beginnt Marx zu zweifeln, „ob denn die ,Aufhebung' der Gesellschaft im Staat, wie sie die Wahlrechtsreform auf dem Boden der Demokratie ermöglicht, die schlimmen Auswirkungen der gesellschaftlichen Willkürfreiheit ... wirklich aus der Welt zu schaffen vermag" (286); erst nach 1843 geht Marx zur Position von Feuerbach über und nimmt den Staat in die Gesellschaft zurück. Derbolav wird zu dieser Interpretation durch ein genau lokalisierbares Mißverständnis geführt; er meint, die Ausführungen über den politischen Staat (vgl. die Zitatenreihe 282) bezögen sich auf das eigene Konzept von Marx, selbst durch die Formulierung „Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten!!) politischen Staats die Forderung seiner Auflösung als ebenso der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft" (sc. als des Gegenstücks in dieser Diremtion; 327, zitiert 282) läßt sich Derbolav nicht von einer Interpretation abhalten, gemäß der Marx an der Dichotomie von Staat und Gesellschaft festhält. „Marx tut freilich alles, um seine politische mit Feuerbachs religiöser Hegelkritik in Parallele zu setzen" (280) — Marx tut damit alles, um seine Position klarzustellen und nicht, wie Derbolav annimmt, zu verfälschen. Wenn unsere Annahme, daß Marx bereits MärzAugust 1843 die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel konkret mit eingeplant hatte, zutrifft, so kann schon aus diesem philologisch gesicherten Grund die Interpretation Derbolavs nicht korrekt sein. Der Gedanke einer Idealverfassung, die die möglichen Verfassungsarten in sich enthält, ist Allgemeingut seit den antiken Theorien einer Mischverfassung. Vgl. u. a. Friedrich Schlegel: „Die vollkommene Republik müßte nicht bloß demokratisch, sondern zugleich auch aristokratisch und monarchisch sein." (Athenäum-Fragment. 214)
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gleicher Weise selbst organisiert wie andere organische Gebilde der Natur. Man sieht: wie der Staat überflüssig wird, so auch der DichterPhilosoph; er verschwindet nicht wie der chinesische Maler in seinem Bild, sondern die jetzt bilder- und bedeutungslose Wirklichkeit verschlingt ihre Widerspiegelung, die sie verdoppelte und verkehrte. Recht und Rechtsphilosophie werden vom saturnischen, wahrhaft positiven Zeitalter aufgehoben. MARX zieht in seiner eigenen Demokratie-Vorstellimg nicht nur Konsequenzen aus der Hegelschen Rechtsphilosophie, sondern entlehnt seine Idee der Phänomenologie. In ihr findet sich die Vorlage für die zweite der oben zitierten Stellen. „Das rein einzelne Tun und Treiben des Individuums bezieht sich auf die Bedürfnisse, welche es als Naturwesen, d. h. als seiende Einzelheit hat... Die Arbeit des Individuums für seine Bedürfnisse ist ebensosehr eine Befriedigung der Bedürfnisse der andern als seiner eignen, und die Befriedigung der seinigen erreicht es nur durch die Arbeit der andern . .. die Gesetze sprechen das aus, was jeder einzelne ist und tut" {Phän. 257—258, wie bei MARX ist und tut kursiv). Hegel fährt darm fort: „In einem freien Volk ist darum in Wahrheit die Vemimft verwirklicht; sie ist gegenwärtiger lebendiger Geist, worin das Individuxim seine Bestimmung, d. h. sein allgemeines und einzelnes Wesen, rücht nur ausgesprochen und als Dingheit vorhanden findet, sondern selbst dieses Wesen ist und seine Bestimmung auch erreicht hat." Aber das Selbstbewußtsein hat dieses sein Glück noch nicht erreicht, mit andern Worten: „Die Vermmft muß aus diesem Glück heraustreten." Hier also der gravierende Unterschied: bei MARX erreicht die Menschengemeinschaft ihre gesuchte Einheit, bei Hegel wird die Vernunft der glücklichen Vereinigung noch einmal entgegengestellt. Um das pro und contra dieses Spiels zu verstehen, ist es günstig, den Rahmen der Erörterung zu erweitern und den Text einzubeziehen, dessen Palimpsest die Phänomenologie streckenweise ist, nämlich die Republik PLATONS. In ihr treffen sich die Menschen zu einer ersten arbeitsteiligen Symbiose: der Bauer, der Maurer, der Weber imd auch der Schuster von MARX. Jeder tut sein Werk — suum quisque —, er produziert für seine und zugleich für die Bedürfnisse der andern (Buch II. 11). Aber diese Ur-Polis erweist sich als hyon polis, und zur vernünftigen Menschengesellschaft bedarf es noch eines langen Weges, der hinauf bis zu den Phüosophenkönigen führt. MARX nimmt gegen PLATON imd Hegel Stellxmg, wo diese über den Notstaat, die anankaiotate polis, hinausgehen. Mit der Vorstelltmg jedoch, jeder sei in seinem sozialen Dasein bestimmt durch sein Gatümgswesen
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und seine Gattungstätigkeit, durch das, was er ist imd tut, steht MARX im Konsens mit PLATON gegen die neuzeitliche Naturrechtstradition. Das suum quisque ist die Grimdlage der gesamten politischen Konzeption PLATONS und ermöglicht es, daß dort, wo wirklich eine menschenwürdige Tätigkeit ausgeübt wird, kommunistisch gelebt wird. Das neuzeitliche Naturrecht von HOBBES bis hin zu Hegels Rechtsphilosophie baut auf dem Gegenprinzip auf: suum cuique. Die Individuen treffen sich nicht in arbeitsteiliger Symbiose, sondern als vor einander Sicherheit suchende Besitzer ihres Leibes tmd einer äußeren Habe. Sie sind ausgestattet mit einem natürlichen Rechtsanspruch auf dieses ihr meum, als solche sind sie apriori Personen, nicht einfach das Naturwesen Mensch. Die Differenz von natürlichem Menschen und intelligibler Rechtsperson ist die Basis der Repräsentationsidee, die in der neuzeitlichen Theorie die Trermung von Volk und Herrscher ermöglichte — im Gegensatz wieder zu PLATON, der eine Repräsentation oder Rechtsdelegation in Form einer Autorisienmg oder eines Mandats nicht keimt und den Herrschaftsanspruch auf der sophrosyne von Herrschern und Beherrschten gründet. Person und Mensch, so kritisiert MARX die neuzeitliche Rechtstradition, bedeuten in ihr zweierlei, jeder Bürger lebt wie im Alp- oder Sommernachtstraum und kann ausrufen: „Ich bin Löwe, und ich bin nicht Löwe, sondern Schnock." PLATON verbot die mimische Darstellung eines andern, tmd ähnlich will MARX, daß jeder das Seine tut, er selbst bleibt und sagen kann: ich bin, der ich bin. Im Gegensatz zu PLATON und Hegel stellt MARX in den zitierten Passagen die Vernunft oder den nous der für die Bedürfnisse sorgenden arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mehr gegenüber, sondern will sie im Volk selbst behausen. Dabei werden zwei Versionen entwickelt. Einmal wird die politische Vernunft imd Tätigkeit gleichrangig neben die andern Tätigkeiten tmd Einsichten gestellt. „Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen; man könnte sagen, daß dies in gewisser Beziehung auch von der konstitutionellen Monarchie gelte, allein der spezifische Unterschied der Demokratie ist, daß hier die Verfassung überhaupt nur ein Daseinsmoment des Volkes, daß nicht die politische Verfassung für sich den Staat bildet." (231) Ein Daseinsmoment unter vielen — der Mensch ist Gattungswesen als zoon politikon, als zoon georgikon, skytikon imd so weiter. (Drücken wir die MARXsche Position mit spiNozistischen Vorstellimgen an die sich FEUERBACH und damit auch MARX selbst anlehnt — aus, so heißt dies: die
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eine Menschengattung hat als Substanz gleichrangige Attribute; geistige und körperliche Arbeit, res extensa und res cogitans, sind einander nebengeordnet.) Die eine der beiden Versionen des MARXschen Immanentismus lautet also: suum quisque, der Schuster bleibt bei seinen Leisten, der Kritiker kritisiert xmd der Gesetzgeber gibt Gesetze, jeder „repräsentiert" jeden andern als Gattungswesen und durch seine Tätigkeit, durch das, was er ist und tut. Im Zusammenhang der Bürokratie-Kritik schreibt MARX jedoch folgendes: „In einem vernünftigen Staat gehört eher ein Examen dazu, Schuster zu werden, als exekutiver Staatsbeamter; denn die Schusterei ist eine Fertigkeit, ohne die man ein guter Staatsbürger, ein sozialer Mensch sein kann; aber das nötige „Staatswissen" ist eine Bedingung, ohne die man im Staat außer dem Staat lebt, von sich selbst, von der Luft abgeschnitten ist." (253) Die bewußte Gestaltimg der Lebensverhältnisse wird der blinden Naturnotwendigkeit bei Hegel entgegengestellt — im Staat muß bewußte Vernunft herrschen (vgl. 221—22; 223—24; 258—59). Nun wird man nicht sagen wollen, daß alle, die Schuhe tragen, Einsicht haben müssen in die Prinzipien der Schuhproduktion; sie sind Teil des ökonomischen Ganzen, ohne an allem teilnehmen zu können in Form bewußter Mitgestaltung. Im Politischen jedoch erhebt MARX eben diese Forderung und hebt es damit aus dem arbeitsteiligen Nebeneinander heraus — entgegen der ersten Version und entgegen der Kritik, die er an dieser Sonderstellung bei den Griechen (sc. ARISTOTELES) übt (vgl. 234, 276, 357). Diesen beiden Versionen läßt sich ein drittes schon angesprochenes Konzept an die Seite oder gegenüber stellen, gemäß dem die Frage, wie denn mm die Vermmft der Bedürfnis-Gesellschaft immanent sein soll, als illegitim zurückzuweisen ist — wie die wahre Menschengesellschaft ihre Lebensverhältnisse gestaltet, darüber kann im voraus nicht spekuliert werden; die Form der Vernunftrealisierung ist Sache der Gattungswesen selbst. „Der Fortschritt selbst", schreibt MARX, „ist dann die Verfassimg" (259; vgl. 218: „. . . die Forderung einer Verfassung, die in sich selbst die Bestimmung und das Prinzip hat, mit dem Bewußtsein fortzuschreiten, fortzuschreiten mit dem wirklichen Menschen .. ."). Die Geschichte also wird den Menschen lehren, was ist, nicht die Philosophie. Wir sahen schon: hiermit wird Hegel getroffen, aber weder PLATON noch KANT; und zwar deswegen nicht, weil sie beide die praktische Vernunft (bzw. das Pendant in der PLATONischen Konzeption) unabhängig von den Modalitäten der historischen Realisierung entwickeln.
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Diesen. Anspruch widerlegt MARX nicht, sondern hält ihn durch die geschichtsphilosophische Spekulation, daß alle vorhergehende Philosophie in Hegel aufgehoben ist (vgl. u. a. 1,1. 574—75), für beseitigt.
III. Die Philosophie stellt sich in den Dienst der alles bewegenden Macht, die zugleich apriori vernünftig ist, nämlich der Geschichte. Es ist, heißt es in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, „Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven" (379). Die von Hegel übernommene Apotheose der Geschichte läßt die Philosophie, die derart auf ihre Autonomie verzichtete, in einer gegen Hegel gewandten Konsequenz zur ancilla historiae werden; die Philosophie steht im Dienst der Geschichte, die, wie BAUER schreibt und MARX mit Beifall zitiert, nicht mit sich spotten läßt (372). Die erste Dienstleistung, die geschichtlich ansteht, ist die Entlarvung der profanen Selbstentfremdung; sodann stellt sich die Philosophie in den Dienst der aufkommenden Geschichtsmacht, nämlich des Proletariats, allerdings als dessen Kopf. „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie." (391) In der Folge des Prozesses der Philosophieentmachtung durch ihre Verwirklichung kehrt MARX das Verhältnis von Wirklichkeit und Spekulation in der kritischen Auseinandersetzimg um; er wendet sich nicht mehr wie noch in der Vorrede zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zunächst gegen die spekulative Spitze, sondern will diese erst nach dem Durchgang durch die einzelnen Materien angehen; die Kritik selbst also soll einem empiristischen Aufbauprinzip folgen (1,1. 467). Damit lassen sich die Verkehnmgen in der spekulativen Bearbeitung des Materials als bedingt durch die Dichotomie und Verkehrung der Wirklichkeit selbst und ihrer wissenschaftlichen Erfassung aufweisen.
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REINHARD BRANDT
Die Gedankenfigur der Phänomenologie aber wird auch jetzt nicht in Frage gestellt; mit ihr analysiert MARX im zentralen Kapitel der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte das Verhältnis von Arbeit und Kapital. „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht, gegenüber" (1,1. 511). Mit dieser Doppelbewegung: Trennung und Verkehrung der ursprünglichen Grund-Folge-Relation kritisiert MARX die Nationalökonomie und deren reales Substrat in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten und den Schriften, die ihr folgen.
BERICHT
VAN GHERT UND DER HEGELIANISMUS IN DER POLITIK DER NIEDERLANDE^
1. Van Chert, der Herold des Hegelianismus in den Niederlanden
wurde am 17. März 1782 in Baarle Nassau als Sohn des Notars PIETER CORNELIS VAN GHERT geboren. PIETER GABRIEL wurde im katholischen Glauben erzogen, zu dem sein Vater, selbst Sohn des reformierten Kirchners JOHAN VAN GHERT in Baarle Nassau, 1776 übergetreten war. ^ In Hinsicht auf die religiöse Überzeugung von VAN GHERT hat Hegel, wie sich aus seiner Korrespondenz ergibt, lange Zeit in der Annahme gelebt, daß er evangehsch sei. ® 1804 zog VAN GHERT nach Deutschland imd ließ sich am 22. November an der Universität von Jena immatrikulieren^, die ihm als der „erste Sitz der Philosophie in Deutschland" bekannt geworden war. ® Da er die deutsche Sprache nicht beherrschte, hörte der fleißige Student die in der lateinischen Sprache gehaltenen Vorlesungen über Logik und Metaphysik von Professor ULRICH. Aber das gewährte ihm inhaltlich keine Befriedigung. Auf Anraten seines Freundes HERMANN SUTHMEYER hörte er dann die Vorlesungen von Hegel. Es läßt sich aus den Zuhörerlisten der Vorlesungen Hegels entnehmen, daß VAN GHERT sich zum ersten Mal für das „Collegium Privatum von Prof. Hegel über die Logik im Sommer-halben-Jahre 1805" eingeschrieben hat. Für dieses Semester waren angekündigt: eine Vorlesung über „Die ganze Wissenschaft der Philosophie" und eine Vorlesung über „Naturrecht". Vermutlich hat Hegel in diesem Semester PIETER GABRIEL VAN GHERT
^ Der Verfasser ist Herrn Prof. Dr. M. J. Petry sehr erkenntlich für seine vielen Anregungen und Hilfe beim Zustandekommen dieses Artikels, Herrn Prof. Dr. H. Kimmerle für seine kritischen Bemerkungen und Hilfe bei der Übersetzung, Herrn J. Bremer für seine persönlichen Auskünfte über Forschungsquellen und seine eigene van GhertArbeit. ® A. E. M. Ribberink: Van Ghert, achtergronden van een falen [Van Ghert, Hintergründe eines Scheiterns]. In: Archief voor de geschiedenis van de katholieke kerk in Nederland. 10 (1968), 330. * Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Bd 2. Hamburg 1953. 165, 247, 364. Es fällt auf, daß die Briefe van Gherts an Hegel von Hoffmeister fast immer unvollständig wiedergegeben sind. ^ H. Kimmerle: Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit {1801—1807). In: Hegel-Studien. 4 (1967), 90. ® P. G. van Ghert: Redevoering over het leven en de Wijsbegeerte van den hoogleeraar G. W. F. Hegel te Berlijn [Rede über das Leben und die Philosophie des Professors G. W. F. Hegel in Berlin]. In: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg, von G. Nicolin. Hamburg 1970. 507.
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BERICHT
statt der Vorlesung über die ganze Wissenschaft der Philosophie tatsächlich nur über deren ersten Teil, die Logik, gelesen. Wegen seiner mangelhaften Kenntnis der deutschen Sprache begriff VAN GHERT nur wenig von dem, was er hörte, aber das wenige war schon genügend, um ihn im fleißigen Hören der Hegelschen Vorlesimgen zu bestärken. Und so sehen wir, daß VAN GHERT sich auch in die Zuhörerlisten der Vorlesungen im Wintersemester 1805/06 über „Geschichte der Philosophie" sowie im Sommersemester 1806 über „Logik und Metaphysik oder speculative Philosophie" und über „Philosophie der Natur und des Geistes" einschreibt. ® VAN GHERT zog schon bald die Aufmerksamkeit Hegels auf sich, weil er so emsig seine Vorlesungen hörte und ein ungemeines Interesse für die Philosophie bekundete. VAN GHERT wurde schon nach dem ersten halbjährigen Kolleg ins Haus seines Lehrmeisters eingeladen und erhielt damals in einigen Gesprächen die erforderliche Vervollständigung seines noch lückenhaften Begreifens des Kollegstoffes. Eirüge Wochen vor der Schlacht bei Jena im Oktober 1806 kehrte er nach Hause zurück. Hegels auf lateinisch geschriebener Abschiedsgruß im Stammbuch von VAN GHERT vom 2. September 1806 ist erhalten geblieben und lautet: „Quid in unaquaque re falsi sit, cognoscere, arduum, sed quid in ea re veri, maximum; ex eo, quod praesens est, ad asylum mentis confugere, saepe non vilis, sed in eo aiümum continere, fortis, et mentem illi conciliare, philosophi ingenii est." ® Zurückgekehrt in die Niederlande blieb VAN GHERT in Kontakt mit seinem großen Lehrer. Sie standen im Briefwechsel, und Hegel beehrte ihn zweimal — 1822 und 1827 — mit einem persöiüichen Besuch in Brüssel. ® Dauernd zeigte sich VAN GHERT an den Veröffentlichungen, die Hegel herausgab, interessiert. Hegel ließ VAN GHERT, dem er verdankte, daß seine Werke „in Holland Aufmerksamkeit erregten" {Briefe. Bd 1. 425), unter anderem ein Exemplar seiner Logik, Enzyklopädie imd Rechtsphilosophie (Briefe. Bd 1. 420, 425; Bd 2.139, 190, 245) zukommen. Umgekehrt sandte VAN GHERT verschiedene seiner Werke an Hegel, dem er seine ganze philosophische Bildung verdankte (Briefe. Bd 1. 316). Unter anderem seine zwei Bücher über den tierischen Magnetismus, worüber er gern mit Hegel Gedanken austauschte (Briefe. Bd 1. 317, 318, 324, 329, 330, 351, 399, 421, 425; Bd 2. 10, 39, 40, 191). In seinem Briefe vom 22. Juni 1810 bat er Hegel, das Nötige auszuführen über den „Begriff, den Sie uns in der Naturphilosophie vom tierischen Magnetismus gegeben [haben]" (Briefe. Bd 1. 317). ’’
Kimmerle: Dokumente. 62, 76, 63. ’’ Van Ghert: Gedächtnisrede. 507 f. ® Briefe von und an Hegel. Bd 4, Teil 1: Dokumente und Materialien zur Biographie. Hrsg, von F. Nicolin. Hamburg 1977. 167. [Übersetzung;] „Was in irgendeiner Sache falsch ist, zu erkennen, ist schwer, aber was davon wahr ist, (zu erkermen), ist das Höchste; aus dem, was in der Gegenwart besteht, zur Zufluchtsstätte des Geistes flüchten, ist oft nicht billig, aber darin den Sinn zusammenzuhalten, ist Stärke, und den Geist mit ihm zu versöhnen, ist die Sinnesart des Philosophen." “ Van Ghert: Gedächtnisrede. 508; Briefe. Bd 2. 350, 354 und Bd 3. 198. ®
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Hegel zeigte viel Interesse für die Problematik des animalischen Magnetismus und schrieb zurück: „Diese dunkle Region des organischen Verhältnisses scheint mir auch darum große Aufmerksamkeit zu verdienen, weil die gemeinen physiologischen Ansichten darin verschwinden; gerade seine Einfachheit halte ich für das Merkwürdigste, denn das Einfache pflegt immer für etwas Dunkles ausgegeben zu werden. Auch der Fall, in welchem Sie den Magnetismus angewendet, war eine Stockung in den höheren Systemen des Lebensprozesses" {Briefe. Bd 3. 29). ln seiner Enzyklopädie, besonders im Zusatz zu § 406, geht Hegel ausführlich auf das Phänomen des animalischen Magnetismus ein. VAN GHERT wird darin ehrenvoll erwähnt als ein „zuverlässiger und zugleich gedankenreicher, in der neuesten Philosophie gebildeter Mann". VAN GHERT ist davon überzeugt, daß der tierische Magnetismus nur zu erfassen ist „als ein Phänomen, das von der Philosophie begründet wird und ohne sie nicht begriffen werden kann". Mit Philosophie meint VAN GHERT hier die Philosophie von KANT, FICHTE, SCHELLING und STEFFENS, aber zumal die von Hegel. Auf dem Gebiet des tierischen Magnetismus vermittelte Hegel VAN GHERT den systematisch-phüosophischen Zusammenhang, in dem das Problem behandelt werden muß. Umgekehrt verschaffte VAN GHERT Hegel ein Stück empirische Kasuistik. Hegel war stolz auf seine Freundschaft mit VAN GHERT. In seinen Vorlestmgen im Jahre 1825 sagte er: „Ein Freund von mir, einer meiner ehemaligen Zuhörer, jetzt ein angesehener Staatsmann im Königreich der Niederlande, hat mehreres darüber bemerkt, was man auch in Kiesers Journal findet." Außer seinen eigenen Schriften ließ VAN GHERT Hegel als Andenken ein Exemplar der prachtvollen Amsterdamer Ausgabe der Werke von JAKOB BöHME zukommen {Briefe. Bd 1. 317, 324, 330, 350, 381). Die Zusendung dieses Werkes schloß sicher gut an Hegels Interesse für JAKOB BöHME an, das er schon in der Jenaer Zeit entwickelt hatte. Auf dem Gebiet der Philosophie wurde die Beziehung zwischen VAN GHERT imd Hegel durch eine Lehrer-Schüler-Beziehung gekennzeichnet, wobei jedoch die gegenseitige Zuneigxmg, zumal von Seiten VAN GHERTS, groß war. „Ich bin zwar überzeugt", so schrieb VAN GHERT 1816 in einem Briefe an seinen Lehrer, „daß meine wenigen Kenntnisse nicht zureichend sind, um Ihnen einiges Interesse für mich einzuflößen, aber meine Liebe für Sie, welche ohne Grenzen ist, kann diesen Mangel ersetzen, und die werden Sie, wie ich hoffe, doch einigermaßen schätzen" {Briefe. Bd 2. 69). Auf dem praktischen Gebiet aber war es immer VAN GHERT — zumal nachdem er sich eine einflußreiche Stelle in der niederländischen Staatsverwaltung erworben hatte — der auf allerlei Weise Hegel zu helfen versuchte. Zweimal, 1809 und 1817, bot er Hegel seine Vermittlimg an, da er, wie er sagte, „sehr viel Einfluß beim Minister" hatte, um Hegel eine Stelle als Professor an einer niederländischen Universität zu 1” P. C. van Ghert: Dagboek eener magnetischen Behandeling. Amsterdam 1814. XLVII. Deutsche Übersetzung: Tagebuch einer magnetischen Behandlung. In: Archiv für den tierischen Magnetismus. 2 (1818), Heft 1, 55—158 und Heft 2, 3—51; zum folgenden vgl. Dagboek. XLVI, XLVII. M. J. Petry: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Dordrecht 1977. Bd 2. 302.
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besorgen {Briefe. Bd 1. 291; Bd 2. 158). Hegel ging nicht darauf ein, denn er hielt „es an sich für wesentlich zur wahrhaften Aneignung einer Wissenschaft, daß man dieselbe in seiner Muttersprache besitzt" {Briefe. Bd 1. 299). Auch bot er Hegel seine Dienste an beim Suchen eines Verlags, der ein genügendes Schriftstellerhonorar bezahlt (ebd. 291). Ferner erklärte er sich bereit, Hegels unehelichem Sohn, LUDWIG FISCHER, der in holländischen Diensten in Batavia war, seine Hilfe zu leisten {Briefe. Bd 3. 234). Seine größte Dienstleistung aber ist seine leidenschaftliche Verteidigung und Verbreitung der Hegelschen Philosophie in den Niederlanden. Mit Recht können wir VAN GHERT den Herold der Hegelschen Philosophie in den Niederlanden nennen. Er fing damit bereits an, als er an der Universität Leiden seine Doktorarbeit verteidigte. Als VAN GHERT aus Jena zurückgekehrt war, ließ er sich an der juristischen Fakultät in Leiden immatrikulieren. Am 26. Januar 1808 hat er dort in den Rechtswissenschaften und in der Rechtsphilosophie promoviert mit seiner Dissertatio Philosophico-Juridica inauguralis: de jure naturae. Es handelt sich um eine rechtsphilosophische Schrift, die nicht nur im Geiste der Hegelschen Rechtsphilosophie geschrieben ist, sondern offensichtlich oft wörtlich ins Lateinische übersetzte Stellen enthält aus Hegels Darstellung der diesbezüglichen Abschnitte seines Systems der Philosophie um 1805. Dies wird im Text nicht deutlich gemacht oder nachgewiesen. Im Vorwort der Arbeit wird nur ein Wort des Dankes an die Universität in Jena, und besonders an den Professor und Freimd Hegel gerichtet, dem er alles verdankt. In Leiden, wo man nach VAN GHERT „nicht einmal eine oberflächliche Vorstellung der Rechtsphilosophie" hatte, mußte er seine Dissertation verteidigen „wider die Denkungsart der leidschen Professoren". Als zweiten wichtigen Beitrag dieses Herolds der Hegelschen Philosophie können wir seine Antikritik auf eine anonyme Rezension von Hegels Phänomenologie des Geistes nennen. Diese Rezension, die nach brieflichen Äußerungen VAN GHERTS an Hegel von J. KINKER verfaßt worden ist {Briefe. Bd 1. 350; Bd 2. 10), erschien 1810. Im Jahre 1811 schrieb VAN GHERT, empört über diese schlechte Rezension, die nur absolutes Unverständnis bekundet, eine Widerlegung in der Zeitschrift De Recensent, oolc der Recensenten in der Rubrik „Antikritiek" unter dem Titel: Aanmerkingen op de in den Schouwburg van ln- en Uitlandsche Letter- en Huishoundkunde geplaatste Recensie van het System der Wissenschaft Ich verdanke diese Auskunft Herrn J. Bremer. P. C. van Ghert: Dissertatio Philosophico-Juridica inauguralis: de jure naturae. Leiden 1808. VIII. Zum folgenden: Necrologie: Mr. Petrus Gabriel van Ghert. Von J. J. F. Wap. In: Astrea, Maandschrift voor schoone kunst, wetenschap en letteren. 2 (1852), 2. Sie erschien unter der Rubrik „Beurteilungen" in: Schouwburg van In- en Uitlandsche Letter- en Huishoudkunde [Theater der in- und ausländischen Literatur und Ökonomie]. 9 (1810), 502—508.
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van G. VJ. F. Hegel. Er zeigt das falsche Verständnis des anonymen Rezensenten auf und gibt selbst eine Darstellung und Beurteilxmg der Hegelschen Philosophie, wobei er Hegel lobt als „den tiefsinnigen Lehrer der Philosophie". Möglicherweise hat VAN GHERT später auch noch eine Rezension von Hegels Rechtsphilosophie veröffentlicht (Briefe. Bd 2. 246). An dritter Stelle muß die praktische Politik VAN GHERTS erwähnt werden, in der er als einflußreicher Staatsbeamter versucht hat, die Hegelsche Philosophie in der Praxis zur Geltung zu bringen. Im 3. Abschnitt werden wir darauf näher eingehen. Als vierten Punkt kann man alle übrigen Schriften nennen, die VAN GHERT veröffentlicht hat. Dazu gehören sowohl wissenschaftliche Bücher und Aufsätze zumal über Staatsrechtslehre, aber ebenfalls über Kunst, Philosophie imd Religion als auch politische Pamphlete und Aufsätze über praktisches Staatsrecht und Unterricht. Zwei Schriften, die beabsichtigen, eine wissenschaftliche Erörterung über eine ausstehende Verfassimgsrevision und über das Armutsproblem zu geben, aber zugleich einem politischen Zweck dienen, werden wir genauer in den Abschnitten 4 und 5 darstellen. Alle seine Schriften sind vom Hegelschen Geist geprägt und geben oft sogar eine buchstäbliche Darstellung von Hegels Philosophie. Weiter verdient seine Tätigkeit hinsichtlich der Gründung von Zeitschriften besonders erwähnt zu werden. Alle drei Zeitschriften, die er begründet oder mitbegründet hat, sollten daran mitwirken, dem Geist der deutschen Kultur im weiten Sinne, aber zumal dem Hegelschen philosophischen Denken in den Niederlanden Eingang zu verschaffen. Erstens ist zu nennen die Tijdschrift voor wijsbegeerte, die offiziell von dem Arzt und Hegelianer Dr. W. F. P. KIEHL herausgegeben wurde aber nach einem Brief VAN GHERTS an Hegel tatsächlich unter seiner Leitung erschien (Briefe. Bd 3. 233). Die Zeitschrift hat nur zwei Jahre bestanden, von 1828/1829 bis 1829/1830. Jeder Jahrgang ist aufgeteilt in eine Abteüimg mit Rezensionen von zumeist ausländischen Schriften und eine Abteilung mit Aufsätzen. Zumal diese Aufsätze bilden eine reiche Quelle, die anzeigt, welches Niveau das hegelianische Denken in den Niederlanden um diese Zeit erreicht hat. Es gibt imter anderem Aufsätze über das Wesen des Staates, das Wesen der Freiheit und das innere Staatsrecht, aber auch über das Trauerspiel und die Unverständlichkeit der Philosophie. Als zweite Zeitschrift, an deren Gründimg VAN GHERT einen wesentlichen Anteil gehabt hat, muß die Zeitschrift Katholiken, tijdschrift voor heschaafde In: De ‘Recensent. 6 (1811), Heft 1, 1—15. — Die Übersetzung des Titels lautet: „Anmerkungen zu der im Theater ... veröffentlichten Rezension des Systems der Wissenschaft von G. W. F. Hegel". Siehe die kurze Besprechung der beiden Rezensionen: W. van Dooren; Eine frühe Hegel-Diskussion in Holland. In: Hegel-Studien. 11 (1976), 211—217. Tijdschrift voor wijsbegeerte, onder medewerking van in- en uitlandsche geleerden [Zeitschrift für Philosophie, unter Mitarbeit von in- und ausländischen Gelehrten]. Hrsg, von Dr. W. F. P. Kiehl. 's-Gravenhage 1828—29 und 1829—30.
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BERICHT
Roomsch-Katholieken erwähnt werden. Es handelt sich hier um ein heimliches Regienmgsorgan, das mit Staatsgeld finanziert wurde und das zum Ziel hatte, ein Gegengewicht gegen allerlei aufwiegelnde und gegen die niederländische Regierungspolitik gerichtete katholische Zeitschriften zu schaffen. Auch diese Zeitschrift, die nicht explizit, doch wohl implizit den hegelianischen Geist erkennen läßt, erschien nur von 1827 bis 1830. An dritter Stelle kann man die Zeitschrift Athenaeum, tijdschrift voor wetenschap en kunst nennen, deren Mitbegründer VAN GHERT war, zusammen mit den ebenfalls hegelianisch gesinnten W. F. P. KIEHL, J. J. VAN HEES VAN BERKEL und J. BAKKER KORFF. Die Absicht dieser Zeitschrift war „mitzuarbeiten an der Hebung der allgemeinen Zivilisation". Und nach dem Vorwort ist der Gegenstand „nicht nur das Zeitliche, sondern auch das Geistliche". Denn „wie das Zeitliche und dessen Förderung unsere Aufmerksamkeit erweckt, ebenso beansprucht das ihm gegenüberstehende Ewige unser Interesse". Der Name dieser Zeitschrift ist wahrscheinlich übernommen von der gleichnamigen deutschen Zeitschrift, die in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts unter J..eitung von F. und A. W. SCHLEGEL erschien. Die Zeitschrift enthält eine ungeheure Vielfalt von Aufsätzen und Rezensionen über die verschiedenartigsten Themen wie Erziehung, Kunst, Statistik, Literatur, Religion, Philosonhie, Medizin, Geschichte, Staatswirtschaftswissenschaft, Unterricht, Physik, Sittlichkeit, Mathematik, Chemie, Staatsrecht und Industrie. Auf den ersten Blick scheint diese Zeitschrift einen enzvklonädischen Charakter zu haben, aber sie zeigt keineswegs den systematischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Themen, der gerade für Hegels Enzyklopädie so kennzeichnend ist. Auch diese Zeitschrift, die ganz besonders den Geist der deutschen Kultur widerspiegelt und eine Reihe von Aufsätzen enthält, die von der Hegelschen Philosophie beeinflußt sind, erschien nur in zwei Jahren, von 1836 bis 1837. Zum Schluß muß erwähnt werden, daß VAN GHERT sich auch in persönlichen Kontakten immer zum Wegbereiter der Hegelschen Philosophie und der deutschen Kultur gemacht hat. So hat er seinen Sohn PIETER CORNELIS JOHANNES VAN GHERT zum Schreiben einer Doktorarbeit über die Todesstrafe angeregt, die ganz im Katholiken, tijdschrift voor beschaafde Roomsch-Katholieken [Zeitschrift für gebildete Römisch-Katholische] erschien anfänglich unter dem Titel: Katholikon. Een maandschrift ter verdediging van de waarheden der Roomsch Katholieke godsdienst, voor den beschaafden stand uitgegeven door J. F. Budts, R. C. Pastor te Brussel [Eine Monatsschrift zur Verteidigung der Wahrheiten der römisch-katholischen Religion, für den gebildeten Stand herausgegeben von J. F. Budts, römisch-katholischer Pfarrer in Brüssel]. Siehe über diese Zeitschrift: L. 7. Rogier: Het tijdschrift „Katholikon" 1827—1830. In: Med. Kon. Ak. Wet. afd. Lett. Nieuwe reeks. Amsterdam. 20 (1957), 1—49. Athenaeum, tijdschrift voor wetenschap en kunst [Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst]. Den Haag. 1 (1836), Heft 1, 2.
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Hegelschen Geiste verfaßt worden ist. Er hat auch versucht, für seinen Sohn eine finanzielle Unterstützung vom niederländischen Staat zu bekommen, um ihn in Berlin studieren lassen zu können. Seine Motivaüon dafür ist, daß von den Werken FICHTES, JACOBIS, SCHELLINGS, und zmnal Hegels „an unseren Universitäten durchaus kein Gebrauch gemacht wird, und daß die studierende Jugend nicht vor der Pest eines alles ansteckenden, die Grundsäulen des Staates und der Religion untergrabenden Liberalismus geschützt werden kann, wogegen aber die Lehre Hegels das stärkste Schutzmittel ist, weil er die konkrete Freiheit an Stelle der Willkür setzt und anzeigt, daß diese, nämlich die Freiheit, nur in den Einrichtungen der Religion und eines wohlgeordneten Staates, objektiviert wird oder zur Realität gebracht wird". Auch durch seine Mitgliedschaft in vielen Gesellschaften und in seinen Vorträgen hat er immer versucht das Interesse für die deutsche Kultur und die Hegelsche Philosophie anzuregen. So war er der „Secretaer der Batavischen Nation" der „Herzoglichen Mineralogischen Societaet", von der auch Hegel Mitglied war. Abschließend kann man sagen, daß sowohl VAN GHERT wie Hegel ein enzyklopädisches Interesse hatten und beide von der Philosophie erwarteten, daß sie einen sehr wichtigen Beitrag zur Lösung der Probleme ihrer Zeit leisten könne. Ein großer Unterschied ist aber, daß VAN GHERT im Gegensatz zu Hegel seine Tätigkeit stark praktisch ausnchtete, imd weiter, daß bei VAN GHERT der systematische Zusammenhang zwischen den verschiedenen Themen seiner Philosophie nicht explizit wird.
2. Zur politischen Situation in den Niederlanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts In den Abschnitten 3 bis 5 werden wir auf die Bedeutung der politischen Theorien Hegels für die Politik der Niederlande in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eingehen. In diesem Abschnitt geben wir eine Skizze der Hintergründe, vor dem der von VAN GHERT entwickelte Hegelianismus auf dem Gebiet der Politik betrachtet werden muß. Wenn wir die Situation Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überblicken, dann zeigt sich, daß dieses Büd von drei Erscheinungen beherrscht P. C. 7. ’oan Ghert; Specimen philosophico-juridicum inaugurale de Necessitate poenae capitalis. Den Haag 1836. Die Arbeit ist zugeeignet an „Viro gravissimo, nobilissimo Petro Gabriel! van Ghert, Patri Carissimo". Eine Rezension dieser Arbeit von J. J. Bakker Korff findet sich in Athenaeum. 1 (1836), Heft 2, 167—186. Reichsarchiv Den Haag, Kollektion A. G. A. van Rappard. no 53. Brief vom 4. 8. 1835. Die Urkunde befindet sich im Stadtarchiv Den Haag. Kollektion Bibliothek Eol2, no 80.
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wird. An erster Stelle ist die Politik der Restauration zu erwähnen, die in Reaktion auf die napoleonische Zeit auf dem Wiener Kongresse konzipiert wurde. Zweitens sind da die politischen Revolutionen, wie die Juli-Revolution von 1830 imd die Februar-Revolution von 1848 in Paris, die ein Zeitalter politischer und konstitutioneller Veränderungen ankündigten. An dritter Stelle ist das Armutsproblem zu nennen, die „Verelendung" des Proletariats als die Kehrseite der industriellen Revolution. Diese drei Momente bestimmen gewissermaßen auch das Bild der Niederlande in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Niederlande werden mit den Folgen der Restaurationspolitik konfrontiert, haben 1848 mit einer durchgreifenden Verfassungsrevision zu schaffen und kennen ferner auch das Armutsproblem. Die Niederlande haben selbst keine Restaurationspolitik gekannt, sind aber stark mit den Folgen dieser von den Großmächten geführten Politik konfrontiert worden. Die Niederlande haben von 1795 bis 1813 die französische Vorherrschaft ertragen müssen. Eine bleibende Folge hiervon ist es gewesen, daß die Sonderrolle der Provinzen in der Republik der Vereinigten Niederlande überwunden imd eine stärkere Staatseinheit begründet wurde. Einheit in der Rechtspflege und auch eine allgemeine Gesetzgebung, unter anderem hinsichtlich der Steuern und des Unterrichts, kamen in dieser Zeit zustande. Für unsere Erörterung ist es wichtig festzuhalten, daß schon 1806 das Gesetz für den Elementarunterricht zustandekam, in dem unter anderem verordnet wurde, daß die Lehrer eine Prüfung ablegen mußten und daß der Staat Aufsicht über den Unterricht haben sollte. Ferner wurde in der Franzosenzeit die Trermung von Kirche xmd Staat eingeführt und auch die privilegierte Position der Reformierten Kirche als Staatskirche abgeschafft. Schließlich wurde verordnet, daß die verschiedenen Konfessionen dem Staat gegenüber frei und gleichberechtigt sein sollen. 1813 wurde die Unabhängigkeit wiederhergestellt imd 1814 wurde Prinz WILHELM FRIEDRICH als souveränem Fürst gehuldigt. Auch kam 1814 eine Grundverfassung zustande, in der die konstitutionelle Monarchie verankert war, die die Verwaltimgsmacht fast ganz in die Hände des souveränen Fürsten legte. Gleich 1815, nach dem Wiener Kongreß, wurden die Niederlande mit den Folgen der Restaurationspolitik konfrontiert, als die Großmächte beschlossen hatten, daß die Niederlande und Belgien zusammengefügt werden müssen, um auf diese Weise dem französischen Imperialismus einen starken Damm entgegenzusetzen. 1815 gab es wiederum eine neue Verfassung, für die Niederlande und Belgien zusammen. Die Weise, auf die diese Verfassung zustandekam, nämlich durch eine Art von Zählung der Stimmen zugunsten der holländischen Provinzen, die von den Belgiern spöttisch „l'arithmetique hollandaise" genannt wurde, legte schon den Samen der Zwietracht zwischen den beiden Ländern. Auch diese Weise der Verteilung der Staatsschulden und der Anordnimg der Sitze des niederländisch-belgischen Parlaments, enthielt eher einen Keim der Zwietracht, als daß sie einen Schritt auf dem Wege der „Amalgierung" der Niederlande und Belgiens bildete. Dermoch hatte der König nur die Absicht, alle Einwohner unter gleichen
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staatlichen Institutionen zu vereinigen. Diese Absicht leitete auch die Unterrichtspolitik. Der Unterricht lag in den südlichen Provinzen ganz in den Händen der römisch-katholischen Geistlichkeit. König WILHELM I. wollte diesen Unterricht unter Staatsaufsicht stellen, um das Niveau des Unterrichts tmd der Lehrer zu erhöhen, ohne übrigens den Katholizismus und den katholischen Religionsunterricht angreifen zu wollen. Die Unterrichtspolitik des Königs, wie gut sie auch im Prinzip gemeint sein mochte, stieß bei der katholischen Geistlichkeit, die darin eine Bedrohung ihres Einflusses auf das Volk sah, auf massiven Widerstand. Aber nicht nur die römisch-katholische Geistlichkeit, auch die liberale an Frankreich orientierte Bourgeoisie brachte der König gegen sich in Harnisch durch seine Bestrebungen, die holländische Sprache zur Landessprache zu machen. In dieser Zeit arbeitete VAN GHERT im Anfang als Kommissar und seit 1823, nach der Reorganisation des Staatsapparats, als Ministerialrat am „Ministerium für die Sachen des römisch-katholischen Kultus". Dieses Ministerium hatte die Aufgabe, den kirchlichen Absolutheitsanspruch des römisch-katholischen Klerus, der ein Hemmnis auf dem Wege zur inneren Vereinigung der Niederlande und Belgiens war, zurückzudrängen zugunsten der Staatsmacht. VAN GHERT beschäftigte sich namentlich mit der Unterrichtspolitik. Er war tmter anderem die treibende Kraft bei der Gründung des „Collegium Philosophicum", das eine unter Staatsaufsicht stehende Bildungsanstalt für die höhere Geistlichkeit sein sollte. Im Jahr 1830 erreichte der Widerstand gegen die recht autoritäre Regierungspolitik WILHELMS einen Höhepunkt. Die Herrschaft dieses Fürsten, der wohl als „aufgeklärter Despot" charakterisiert wird, wurde von den Belgiern als eine Fortdauer der Fremdherrschaft von Spanien, Österreich und Frankreich, unter der man gelebt hatte, empfunden. Die belgischen Liberalen und Katholiken schlossen sich zusammen in einem „Gesamtbündnis" wider den König. Zugeständnisse, die er dem katholischen Süden machte, nützten König WILHELM I. nichts mehr. Im September 1830 brach in Brüssel der belgische Aufstand aus, und am 4. Oktober 1830 wurde die Unabhängigkeit Belgiens proklamiert, die von den Großmächten 1831 anerkannt, aber von den Niederlanden erst beim Londoner Vertrag vom 19. April 1839 akzeptiert wurde. Im Jahr 1840, in dem König WILHELM I. enttäuscht die Krone niederlegte, wurde die Verfassung an die faktische Situation der Abtrennung von Belgien angepaßt. Nur einige politische Reformen von geringer Bedeutung wurden durchgeführt. Die strafrechtliche Verantwortimg der Minister wurde eingeführt, doch nicht die politische ministerielle Verantwortung, auf die die Belgier so sehr gedrängt hatten. Im Jahr 1848, unter dem Königtum WILHELMS IL, wurde in den Niederlanden das zweite Moment, das die europäische Lage beherrschte, manifest, indem, auch unter dem Druck der in Paris ausgebrochenen Februar-Revolution, eingreifende konstitutionelle Reformen durchgeführt wurden. An Stelle der durch Ernennung besetzten Ersten Kammer und der indirekt gewählten Zweiten Kammer kamen die indirekt gewählte Erste Kammer und die direkt gewählte Zweite Kammer. Auch gab es dann direkte Wahl der Provinzial-
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Vertretungen und der Gemeindeverwaltungen. Die Einteilung des Volkes in drei Stände: Adelsstand, bürgerlichen Stand und bäuerlichen Stand, wie auch die Adelsprivilegien wurden abgeschafft. Die Grundrechte wurden ausgedehnt auf das Vereinigungs- und Versammlungsrecht, Unterrichtsfreiheit und die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses. Weiter bekam die Zweite Kammer das Amendementsrecht in Sachen der Gesetzgebung und wurde in ihrem Budgetrecht gestärkt, weil ihr der Haushaltsplan der Regierung jetzt jährlich zur Genehmigung vorgelegt werden mußte. Auch wurde 1848 die politische Verantwortung der Minister eingeführt, wodurch die Verantwortung für das Vorgehen der Regierung nicht länger allein vom König, sondern auch von den Ministem getragen wurde. Kennzeichnend für die geänderte Haltung des Staates in bezug auf die kirchlichen Angelegenheiten war die Abstellung des Placetrechts, das immer der Ausdrack des weltlichen "ius in sacra" gewesen war. Alle diese tief eingreifenden verfassungsrechtlichen Reformen wurden möglicherweise eingeführt, weil die Zeit dazu reif war, aber bestimmt auch unter dem Dmck der internationalen Unmhe der Febmar-Revolution, die sich 1848 ausbreitete und deren revolutionärer Geist über Europa spürbar war. In seiner Schrift über die Verfassungsrevision von 1848, die im IV. Abschnitt erörtert wird, versuchte VAN GHERT der öffentlichen Meinung „in diesen Zeiten der Geistesbetäubung die Stimme der Wahrheit hören zu lassen, wie Hegel sie verkündigt hat". Das dritte Moment, das die europäische Entwicklung beherrschte, zeigte sich, als 1848 von MARX und ENGELS Das Kommunistische Manifest veröffentlicht wurde, in dem sie „die Proletarier aller Länder" aufriefen, sich zu vereinigen. Das Proletariat wurde zum Bewußtsein seiner Situation gebracht, die durch Armut und Unterdrückung gekennzeichnet war. Der Industrialisierungsprozeß, der im 19. Jahrhundert in Gang kam und von dem der Liberalismus den Reichtum und die Wohlfahrt der Nationen erwartete, brachte als Kehrseite das Problem der Verarmung eines Teiles der Bevölkemng mit sich. Die meisten Autoren, auch Hegel, gaben eine Darstellung des Armutsproblems im Zusammenhang einer in sich intakten „Sittlichkeit". Für Hegel war der Staat der Gipfel der Sphäre der Sittlichkeit. Er hat das „abstrakte Recht" imd das darin verankerte Privateigentum, die Moralität, ebenso wie die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, die in die verschiedenen Stände gegliedert ist, zur Voraussetzung und steht selbst — xmter anderem — systematisch in Beziehimg zur Religion. Hegel gab in diesem Rahmen eine systematische Darstellung des Armutsproblems, dabei sah er nicht die Tragweite des Problems und konnte demgemäß keine Lösung auf zeigen. MARX gab eine Antwort auf das Armutsproblem im Rahmen seiner revolutionären Theorie und Praxis. Aufhebung des bürgerlichen Staates, Abschaffung des PrivatP. G. van Ghert: De zaak der Grondwetsherziening geioetst aan de wetenschap van het moderne staatsrecht [Die Sache der Verfassungsrevision geprüft an der Wissenschaft des modernen Staatsrechts]. Den Haag 1848. 7.
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eigentums und Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft sind für ihn die Voraussetzimgen der Aufhebung der „Verelendung" des Proletariats. Auch in den Niederlanden beschäftigten sich viele Leute mit diesem Problem. In dem Augenblick, als eine Armengesetzgebung bevorstand, wandte VAN GHERT im Jahre 1851 in einem kleinen Büchlein seine Hegelianische Konzeption auf dieses Problem an, worüber wir im 5. Abschnitt näher handeln werden.
3. Die Realisierung des Hegelschen Geistes in der praktischen Politik In diesem Abschnitt möchten wir auf die praktische politische Tätigkeit VAN näher eingehen, vor allem auf die Periode von 1816 bis 1829, in der er als einflußreicher Staatsbeamter im Ministerium für die Sachen des römischkatholischen Kultus tätig war. In dieser Zeit — nach der Vereinigung der Niederlande und Belgiens — erhob sich die Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen der Kirche und dem Staat hinsichtlich des Unterrichts. In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, auf welche Weise VAN GHERT in dieser Frage den Hegelschen Standpunkt vertreten hat. Nach seiner Promotion im Januar 1808 in Leiden war VAN GHERT kurze Zeit als Rechtsanwalt in Breda tätig und wurde danach am 30. Juli 1808 zum Beamten beim Zweiten Büro des Kultusministeriums imter der Verwaltung des Ministers MOLLERUS ernannt. Daher ging er am 20. Juni 1809 über auf die Intendance generale de Tlnterieur unter Baron D'ALPHONSE. Aber er verlor seine Stelle nach der Einverleibung der Niederlande in das Frankreich BONAPARTES. Dies empfand er indessen als nicht so schlimm, denn zu dieser Zeit schien man noch berechtigt zu sein, die Hoffnung zu hegen, „durch das Studium der Philosophie bcdd employiert zu werden" {Briefe. Bd 1. 350). Zwei Aufsätze über die Philosophie verhelfen VAN GHERT, wie er in einem Briefe an Hegel schrieb, zu seiner neuen Stelle als Amtsschreiber imd stellvertretender Richter am Polizeigericht in Amsterdam. Dies geschah auf Vorschlag des Baron BEYTS, „der sehr viel Sinn für Philosophie hat" (ebd. 351, 400). Es handelte sich hier um die schon früher erwähnte Antikritik einer Rezension der Phänomenologie des Geistes und eine Abhandlung über den Gang der Philosophie, insofern diese den meisten Einfluß auf die Kultur gehabt hat, vorgetragen für den Felix Meritis Verein. Anfänglich hoffte VAN GHERT auf eine Laufbahn als Richter {Briefe. Bd 2. 40.), aber dies änderte sich, als er im Januar 1816 — nach der Vereinigung der Niederlande und Belgiens — zum besonderen Kommissar und 1823 — nach der Reorganisation des StaatsGHERTS
2'* Ribberink: Van Ghert, achtergronden van een falen. 333. Siehe auch: Wap: Necrologie. 2. “ Vdap: Necrologie. 2. 26 YJap: Necrologie. 2. Der holländische Titel lautet: Verhandeling over de gang der wijsbegeerte, voor zoo verre deze den meesten invloed op de beschaving heeft gehad und erschien in: De Recensent, ook der Recensenten. 6 (1811), Heft 2.
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apparats — zum Ministerialrat am Ministerium für die Sachen des römischkatholischen Kultus ernannt worden war, insbesondere für die nördlichen Provinzen. Im September wurde VAN GHERT auch noch Mitglied xmd Sekretär der Ständigen Kommission des Staatsrates für die Sachen des römisch-katholischen Kultus. Diese Kommission war ein Beratungsorgan der Regierung, in dem VAN GHERT eine treibende Kraft war. Seit 1816 beschäftigte VAN GHERT sich mit dem Unterricht in den Niederlanden imd bekam eine wichtige Rolle in dem Kampf um den bestimmenden Einfluß zwischen Staat tmd Kirche, da doch in Belgien im Gegensatz zu den Niederlanden der Unterricht größtenteils in den Händen der römisch-katholischen Geistlichkeit war. Mit ganzem Herzen hat VAN GHERT sich auf seine Arbeit gestürzt, und er hat sich glücklich gefühlt, „das Wohl des Staates xmd der allgemeinen Bildung fördern zu können". Wie er uns selbst mitteilt, hatte er fast völlig freie Hand, um in der Sache der Beziehungen zwischen der römisch-katholischen Kirche imd dem Staat auf dem Gebiet des Unterrichts nach eigener Einsicht zu verfahren. „Der König hat mir sein ganzes Zutrauen geschenkt, das ist alles, was ich brauche", schrieb er an Hegel {Briefe. Bd 3. 117). VAN GHERT war die „imsichtbare Exzellenz" und, ohne auf ihn zu achten, wird es kaum möglich sein, die Politik der niederländischen Regierung in bezug auf die Problematik des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat zu verstehen. In dieser Sache hat VAN GHERT versucht, das Denken Hegels über das Verhältnis des Staats zur Religion in die Praxis zu übertragen, was ihm aber schließlich nicht gelang. Anfänglich bekam er „ein großes Stipendium, aber wenig Ehre" {Briefe. Bd 3. 234). Später aber, als der König unter dem Druck der Umstände zu einer Politik von Konzessionen gegenüber dem katholischen Süden übergegangen war und den römisch-katholischen Belgier F. S. Freiherr DE PELICHY DE LICHTERVELDE am 1. Dezember 1829 an die Spitze des römisch-katholischen Kultusministeriums stellte, mußte VAN GHERT es entgelten imd an seiner Stelle wurde sein alter Gegenspieler CHARLES VAN DER HORST ernannt. VAN GHERT war sehr enttäuscht über diese Verkennung seiner wohlgemeinten Bemühungen. Im Jahre 1831 bekam er noch eine gewisse Anerkennung, als ihm der Ritterorden des Niederländischen Löwen zuerkannt wurde. Sein Fehler war wohl, daß er, ohne sich die heikle und gespannte Lage des Moments zu vergegenRibberink: Van Ghert, achtergronden.
336, 337;
Wap: Necrologie.
2;
Briefe.
Bd 2.
69.
A. F. Manning: De Permanente Commissie uit de Raad van State voor de zaken van de R. K. Eredienst [Die Ständige Kommission des Staatsrates für die Sachen des römisch-katholischen Kultus]. In: Archief voor de geschiedenis van de katholieke kerk in Nederland. 1 (1959), 113.
Rogier: Het tijdschrift „Katholikon". 309. Ch. Terlinden: Guillaume ler et l'eglise catholique en Belgique (1814—1830). Bruxelles 1918. Bd 2. 289 ff; Reichsarchiv Den Haag. Kollektion C. F. van Maanen. Politische Korrespondenz. Sept.—Dez. 1829, Neuerwerbung 1900. no XXIII-85. Brief 113: 17. Dezember 1829.
VJap: Necrologie.
6.
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wärtigen und ohne die besonderen Bedingungen der Situation zu berücksichtigen, versucht hat, die Problematik des Verhältnisses zwischen Staat imd Kirche mit Hilfe der Hegelschen Philosophie zu lösen. Es ist nicht richtig zu sagen, daß VAN GHERT die Lehre eines Staatsabsolutismus vertreten hat. Er hat nur versucht, in der politischen Praxis ein Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu realisieren, für das die theoretische Grundlage in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts zu finden ist. In diesem System haben der Staat wie auch die Rehgion je ihre eigene Sphäre. Dabei güt, daß der Staat, der zur Sphäre des objektiven Geistes gehört, die Voraussetzung ist für die Religion, während umgekehrt die Religion, die zur Sphäre des absoluten Geistes gehört, die Aufhebung des objektiven Geistes ist. Staat imd Religion sind deutlich voneinander zu unterscheiden, doch unterhalten sie gleichzeitig ein gegenseitiges Verhältnis zueinander. „Wesenthch aber", so steht im Zusatz zu § 270 der Rechtsphilosophie, „bleibt der Staat von der Religion dadurch unterschieden, daß, was er fordert, die Gestalt einer rechtlichen Pflicht hat und daß es gleichgültig ist, in welcher Gemütsweise [sie] geleistet wird. Das Feld der Religion dagegen ist die Innerlichkeit, und so wie der Staat, wenn er auf religiöse Weise forderte, das Recht der Innerlichkeit gefährden würde, so artet die Kirche, die wie ein Staat handelt und Strafen auferlegt, in eine tyrannische Religion aus." „Der Staat", so sagt Hegel, „ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist" (§ 270). In der Religion jedoch gibt es für jeden einzelnen Verhältnis zum Absoluten in der Form des Gefühls, der Vorstellung und des Begriffs. Diese Form ist aber nicht angemessen in bezug auf den Staat und würde den Staatsorganismus dem Schwanken, der Unsicherheit und Zerrüttung preisgeben. Wenn also die Religiosität die Grenze der inneren Gesinnung überschreitet, entsteht die Möglichkeit eines religiösen Fanatismus, der eine zerstörende Wirkung hat auf die Staatsordnung. Die Gefahren eines religiösen Fanatismus hielt VAN GHERT auch für gegeben in Belgien imter der Herrschaft des Königs WILHELM L, wo die katholische Geistlichkeit sich auf dem Gebiete des Unterrichts die Macht zugeeignet hatte, die dem Staate zukam. VAN GHERT sah es als seine Aufgabe an, das aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis zwischen Staat imd Kirche in bezug auf den Unterricht wiederherzustellen. Ebenso wie Hegel war VAN GHERT der Meinung, daß Kirche imd Staat zu zwei verschiedenen Sphären gehören. Und für ihn war es empirisch feststellbar, daß dort, wo die geistliche Macht sich die Unterrichtsaufgabe angeeignet hatte, der Unterricht in eine ungünstige Lage geriet und auf die Dauer sogar das vernünftige Ganze des Staates gefährdet werden würde. In der Handschrift, in der er seine Erinnerungen an den Zeitabschnitt von 1814 bis 1830 niedergeschrieben hat, macht er folgenden Unterschied zwischen der geistlichen Macht und der Staatsmacht: „Die reine geistliche Macht ist L. 7. Rogier: Piet Van Ghert en Hegel: In: Studien: Tijdschrift voor godsdienst, wetenschap en letteren. 26 (1934), 121.
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nicht von dieser Welt; sie muß sich einzig imd allein beschränken auf die unwillkürliche Verwaltung über die Kirche und das Gewissen, auf die wahrhaftig ewigen Beziehungen des Menschen, um ihn zu seiner Glückseligkeit heranzubilden; während die Staatsmacht mit der Aufrechterhaltung der Ruhe belastet ist, mit der Wahrung des Landesinteresses und alles dessen, was sowohl das sittliche wie zeitliche Glück und Wohl der Einwohner fördern kann. Wenn die geistliche Macht, welcher Natur sie sein möge, diesen Prinzipien zuwider handelt, ist die Regierung verpflichtet, das Übel aufzuhalten und die Übertreter zu strafen. Und da es besser ist, ihm vorzubeugen, als dort, wo es sicher schon besteht, zu vertilgen, muß der Staat, will er sich lücht zugrunde richten, besonders wachen, daß keine fremde Macht, gleichgültig ob sie zeitlich oder geistlich genannt wird, die Gesetze imd Verordnungen des Staates, die Rechte der Krone und der Bischöfe, der Kirchen, der Geistlichen oder anderer Einwohner angreift". „Der Unterricht ist das Lebensprinzip des Staates xmd zugleich die Nahrung des menschlichen Geistes", und deswegen fällt die Sorge für den öffentlichen Unterricht dem Fürsten zu. „Wenn man von diesem Prinzip abweichen möchte oder dasselbe der geistlichen Macht überlassen, würde man die Grundsäule des Staates vmtergraben". VAN GHERT ist der Meinung, daß das Kind sowohl zur Familie wie auch zur Gemeinschaft von Staat und Kirche gehört und daß jeder dieser drei „Kreise" sein besonderes Recht hat; „Die Familie erzieht das Kind zum Menschen, der Staat zum Bürger, die Kirche zum Reich Gottes". An anderer Stelle sagt er: „Da nun des Menschen Geist seinen Ursprung imd Wesen nur seiner durch Unterricht und Erziehung erhaltenen Bildung verdankt, und der Mensch von seinem Geiste zu allen seinen Tätigkeiten und Flandlungen angespornt wird, wird man von selbst einsehen, daß auf der Regierung keine heiligere Pflicht ruhen kann, als den Unterricht und die Erziehung zu verwalten und in dem Sinne zu führen, daß sie beide derart ihrer Bestimmung entsprechen, daß die Erhaltimg des Staates und der damit verknüpften Ruhe und Ordnung, die Zucht und die Sittlichkeit, die Freiheit des Gewissens jedes einzelnen behauptet werden." Der Unterricht ist mithin eine Staatsangelegenheit, und es ist falsch, diese Aufgabe durch die römisch-katholische Geistlichkeit erfüllen zu lassen. Die Unterrichtspolitik VAN GHERTS war darauf gerichtet, den Unterricht aus der Macht der römisch-katholischen Geistlichkeit zu bringen. Zu dieser Strategie paßt das „Zerstören der kleinen Seminare", die „auf eine gesetzwidrige und willkürliche Weise von der geistlichen Macht aufgerichtet worden waren" und weiter die Gründung des Collegium Philosophicum in Leuven, um eine gute ^ (P. G. van Ghert): Een allerbelangrijkst handsdirift van Mr. Petrus Gabriel van Ghert, Referendaris bij den Raad van State voor de zaken van de R, K. Eeredienst, in betrekking tot diens werkkring bij laatstbedoeld Departement en in verband met de kerkelijk-staatkundige verioikkelingen, ontstaan tussen koning Willem I en het Aartsbisdom van Mechelen vooral terzake van het Collegium Philosophicum. [Übersetzung des Titels in der unten, Abschnitt 7, angefügten Bibliographie.) Gemeindearchiv Den Haag, Kollektion Bibliothek. Inventarnummer Tb. 60. 2 a, b. — Zum folgenden vgl. ebd. 93 b, 93 a, 93 c, 94 a, 125 a.
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Priesterbildimg zu schaffen. Auch paßt zu dieser Konzeption, wie sich an einem sehr geheimen Dokument zeigt, die Einschränkung der Zahl der Klöster. Über die Sache der Zerstörung der kleinen Seminare, „die Schlupfwinkel der Dummheit und Unverträglichkeit", imd die Gründung des Collegium Philosophicum ist von VAN GHERT eine anonyme Broschüre geschrieben worden, in der er die von ihm geführte Politik öffentlich verteidigt hat (Briefe. Bd 3. 117, 389). In dieser Broschüre imterscheidet er zwischen „der kirchlichen Macht" und „dem Recht des Souveräns". Er stellt die These auf, daß die kirchliche Macht zum Unterricht der kirchlichen Lehre berechtigt ist, wie auch weiterhin die Seminare zu verwalten tmd deren Professoren zu emeimen, daß es jedoch das Recht des Souveräns ist, den welthchen Unterricht im ganzen Umfang zu verwalten. Aus dieser Konzeption der zwei unterschiedenen Sphären von Staat und Kirche folgt, wie VAN GHERT sagt, daß der Staat berechtigt ist, von dem Lehrkörper zu verlangen, durch eine Prüfung den Befähigungsnachweis zu liefern, wie dies schon seit der Einführung des Unterrichtsgesetzes von 1806 in den Niederlanden übhch war. Und weiter äußert er die Meinung, daß „der innere Mangel der kleinen Seminare in bezug auf den Unterricht dem Souverän das unbestreitbarste Recht zur Aufhebung dieser Einrichtungen gegeben hat". Seine Meinung über das Verhältnis von Kirche und Staat hat VAN GHERT auch ausgeführt in seiner Verfasstmgsrevisionsschrift von 1848, über die wir im folgenden Abschnitt sprechen werden. Zusammenfassend können wir sagen, daß VAN GHERT zur Zeit seiner Amtstätigkeit am Ministerium für die Sachen des römisch-katholischen Kultus konsequent darauf hinarbeitete, ein Verhältnis zwischen Staat imd Kirche zu realisieren, für das die theoretische Grundlage im System der philosophischen Wissenschaften Hegels zu finden ist und das seine nähere Ausarbeitung in § 270 von Hegels Rechtsphilosophie bekommen hat. Weim wir die Resultate der Politik betrachten, die nach den genannten Prinzipien geführt worden sind, dann zeigt sich, daß die konsequente Pohtik VAN GHERTS zum Mißerfolg geführt hat. Es ist die Frage, ob der philosophisch-systematische Unterschied zwischen Staat und Religion, der nach Hegel aus der inneren Struktur der Vermmft folgt, unmittelbar verwendbar ist, um als Leitfaden für die praktische Pohtik zu dienen. Wir müssen schließen, daß „das, was ist", so wie es von der Philosophie erkannt wird, nicht ohne weiteres in der pohtischen Praxis realisierbar ist. Offenbar müssen wir auch die Folgerung ziehen, daß der genannte philosophische Unterschied im Blick auf die Praxis nicht eindeutig bestimmt ist, daß es vielmehr unterschiedhche konkrete Interpretationsmöghchkeiten gibt in bezug auf die Lehrberechtigung der Kirche und des Staates. Weiter müssen wir bemerken, daß die RealisieReichsarchiv Den Haag. Kollektion C. F. van Maanen. Politische Korrespondenz 1820—1824. Neuerwerbung 1900. no. XXIII-81. Brief 179: 20. August 1824. (P. G. van Ghert:) Nog iets over de vernietiging der kleine seminarien en de oprigting van het Collegium Philosophicum [Noch etwas über die Vernichtung der kleinen Seminare und die Gründung des Collegium Philosophicum]. Brussel 1825. 10, 15, 17. — Zum folgenden siehe ebd. 3. 4. 15.
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rung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen der kirchlichen und weltlichen Macht nicht nur eine Sache der allgemeinen philosophischen Prinzipien ist, sondern auch der besonderen praktischen Interessen, bei denen pohtische Behutsamkeit und Geschick von größter Bedeutung sind. VAN GHERT ließ es an der nötigen Behutsamkeit imd dem nötigen Geschick fehlen bei seiner Übertragung der Hegelschen Prinzipien in die Praxis. Sowohl in Worten wie in Taten war er oft weitgehend imtaktisch und undiplomatisch. So spricht er zum Beispiel in der genannten Broschüre zur öffenthchen Verteidigung seiner Politik in bezug auf die Seminare und das Collegium Philosophicum von der „Sittenlosigkeit und Irreligiosität" der Katholiken, von „der Aufhebung der kleinen Seminare" und von der „Erhebung des Priesterstandes aus der Verworfenheit, in die er hier und da gekommen" war. Mit „einem bloßen Gesetz, bei dem die Geistlichen bei Strafe von Gefängnis und Geldbuße gezwungen werden", glaubte er die Schwierigkeiten lösen zu können. Dieses Vorgehen zeugt von wenig politischem Gespür imd mußte wohl dazu führen, daß VAN GHERT die Menschen gegen sich aufbrachte, die er nach seinem besten Wissen vor Unheil zu behüten versuchte. Er hat stets gemeint, dem Landesinteresse gedient zu haben. Es ist derm auch verständlich, daß er sich sehr verkannt fühlte, als er im Dezember 1829 vernahm, daß er unter dem Druck der Umstände das Feld räumen mußte. Am 17. Dezember schrieb er dem Justizminister, daß er sich auf die Aufrichtigkeit des Königs verlasse und erwarte, daß dieser ihn belohnen würde für seine „Treue und Aufrechterhaltung der Prinzipien", nämlich „der zeitlichen Macht allen Überheblichkeiten der geisthchen Macht zuwider". in einem späteren Brief vom 13. Oktober 1830 schrieb er, daß er andauernd verkannt und verstoßen worden sei für die Aufrechterhaltung der guten Prinzipien, daß die einzige Beschwerde, die es gegen ihn gibt, nur bei den Gegnern des Königs und Vaterlandes zu finden ist, daß er sosehr entmutigt worden sei, daß das Leben ihm zur Last wurde. Die Konzession, die der König den Belgiern gewährt hatte, indem er den Katholiken DE PELICHY an die Spitze des Ministeriums stellte, war unbegreiflich für ihn. Nach seiner Entlassung aus dem Ministerium für die Sachen des römisch-katholischen Kultus war VAN GHERT nur noch bei der Ständigen Komirüssion des Staatsrats tätig. Doch diese Kommission, die am 10. August 1842 aufgehoben wurde, war nach dem belgischen Aufstand nur noch eine wächserne Nase. Als seine pohtische Rolle endgültig beendet war, versuchte er noch einigen Einfluß auf die öffentHche Meinung auszuüben durch die Publikation von Schriften, von denen wir nur die zwei wichtigsten im 4. und 5. Abschnitt darstellen werden. Reichsarchiv Den Haag. Kollektion C. F. van Maanen. Politische Korrespondenz 1825—1826. Neuerwerbung 1900. no. XXIII-82. Brief 85: 6. Jimi 1826. Reichsarchiv Den Haag. Kollektion C. F. van Maanen. Politische Korrespondenz Dez. 1829. Neuerewerbung 1900. no. XXIII-85. Brief 113: 17. Dezember 1829. Zum folgenden ebd.; Politische Korrespondenz 1830. Neuerwerbung 1900. no. XXIII-89. Brief 23.
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4. Die Hegelsche Philosophie und die Niederländische Verfassungsrevision von 1848 In diesem Abschnitt betrachten wir die politische Schrift VAN GHERTS, mit der er versucht hat, die öffentliche Meinung hinsichtlich der bevorstehenden Verfassungsrevision von 1848 in Hegelsche Richtung zu beeinflussen. In dieser Schrift sind die Begriffe „Staat" imd „Freiheit", die beide näher entwickelt werden, zentral. Diese Schrift enthält keine neuen Ideen VAN GHERTS, sondern gibt nur eine ziemlich gewissenhafte Darstellung einiger Lehrstücke aus dem Hegelschen Staatsrecht. Obwohl der anonyme Rezensent dieser Verfassungsrevisionsschrift der Meinung war, daß VAN GHERT mit dieser Schrift endlich ein Bedürfnis befriedigt hatte, weil er „aus imabweislichen Gründen zeigte, nicht wie er es gern haben würde, doch wie es sein müßte, damit, was dieser oder jener oder alle auch klagen mochten. Recht und Vernunft befriedigt waren", können wir doch sagen, daß diese Schrift wenig Einfluß gehabt hat. Tatsächlich handelt es sich hier um ein Schulbeispiel eines ineffektiven Hegelianismus, der höchstens im akademischen Milieu einigen Beifall zu bekommen wußte. Als im Jahre 1848 in den Niederlanden zahlreiche durchgreifende Verfassvmgsänderungsvorschläge bevorstanden, sprang VAN GHERT in die Bresche, um als feuriger Anwalt des Hegelschen Staatsrechts „auf eine wissenschaftliche Weise, das ist, nach vernünftigen, staatsrechtlichen Prinzipien, die aus dem Wesen des Staats selbst hervorgehen und in ihm immanent sind" (9) die Verfassungsrevision zu betrachten und zu prüfen. VAN GHERT, vielleicht durch Erfahrung weise geworden, war sich offenbar klar, daß sein Beitrag sich einigermaßen der Strömung seiner Zeit widersetzte, denn er sagt: „Es ist Mut dazu nötig, um sich auf einen solchen Kampfplatz zu wagen, und wir hoffen, daß man mindestens den Mut daran schätzen wird. Das Interesse der Sache ist es nur, worum es ims geht; das Interesse der Wahrheit, dem die ewige Vemimft zugrimde liegt. Unsere einzige Absicht ist mithin, in diesen Zeiten der Geistesverwirnmg, die Stimme der Wahrheit hören zu lassen, wie Hegel sie verkündigt hat". (17) Der Titel dieser Schrift bekundet, worum es sich handelt: „Die Sache der Verfassungsrevision geprüft an der Wissenschaft des modernen Staatsrechts". Es wird für jedermann, der VAN GHERT einigermaßen kennt, klar sein, daß mit der „Wissenschaft des modernen Staatsrechts" nur die Staatsrechtsphilosophie Hegels gemeint sein kann. Er wül öffentlich bekannt machen, „wie ein Mann von europäischem Namen, der tiefste Denker dieses aufgeklärten Jahrhcmderts, nämlich Professor Hegel, über jene Pimkte der Staatsverfassimg gedacht und geurteilt hat, die bei P. G. van Ghert: De zaak der Grondwetsherziening, getoetst aan de wetenschap van het moderne staatregt [Die Sache der Verfassungsrevision, geprüft an der Wissenschaft des modernen Staatsrechts]. Den Haag 1848. — Die im Text folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf diese Schrift. Rezension des vorgenannten Buches in: De Recensent, ook der Recensenten. Jg. 1849, H. 1. 56.
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tms zur Sprache gekommen sind" (2). Das Titelblatt trägt ein Motto von AUGUSTINUS, das sich sicher auch auf das Bemühen VAN GHERTS selbst anwenden läßt: „Pereant errores vivant homines". Dabei ist es wichtig zu bemerken, daß VAN GHERT bei aller Unwissenheit auf dem Gebiet des Staatsrechts nicht nur Hegel als „befugten Richter" in Anspruch nahm, sondern zugleich Hegel rehabilitieren wollte als „einen echten Liberalen, anstatt eines sogenannten absoluten oder servilen Mannes, so wie die Anarchisten in Deutschland versucht haben, ihn, aus Unmut, erscheinen zu lassen, weil er, bei jeder Gelegenheit, wo es sich ergab, ihre weitgehende Unwissenheit im Staatsrecht aufzeigte und sich dadurch ihren Heiß auf dieselbe Weise zuzog wie den der neumodischen Theologen, deren Aufklärung nach seiner Darstellung in nichts anderem gelegen war, als in der Vernachlässigimg der wichtigsten Lehrstücke des Christentums" (2 f). Um die vorgefaßte Meinung gegen Hegel auszuräumen, übernahm VAN GHERT ein langes Zitat aus der Vorrede zu Hegels Philosophie des Rechts von GANS, in dem dieser auf das Vorzügliche von Hegels Rechtsphilosophie hinweist (3 f). In seiner Einleitung wendet VAN GHERT sich gegen die Oberflächlichkeit der Schriftsteller, die, indem sie vom Grundgesetz oder besser der Staatsverfassimg handeln, den Staat als etwas Gegebenes, bei allen genügend Bekanntes voraussetzen, ohne zuvor zu untersuchen, was das Staatsleben ist" (8). Sie gehen an der wichtigen zentralen Idee vorüber, die auch in Hegels Staatsrechtsauffassung den tragenden Gedanken bildet {Rechtsphil. § 269), daß der Staat ein organisches Ganzes ist. Weder geben sie eine wissenschaftliche Entwicklung der Begriffe, noch zeigen sie das innere Band auf, das das Ganze mit allen seinen Gliedern verbindet (8). Sie nehmen sich „die Fabel vom Magen imd den übrigen Gliedmaßen des Körpers" nicht zu Herzen (9; vgl. Rechtsphil. § 276 Zusatz). Aus der Staatskonzeption, die nicht in der Idee des Organismus wurzelt, kommt man nach der Meinung VAN GHERTS ZU der falschen Vorstellung, daß der Monarch ein Despot ist, der zur Qual des Volks geboren worden ist, imd die Konstitution eine Fessel und ein Band ist, mit denen der Machtmißbrauch des Monarchen eingeschränkt werden muß (13 f). Die organische Staatsidee lehrt dagegen, daß es „ein organisches Band gibt zwischen Monarch imd Volk" und daß die Konstitution nichts anderes ist als „die Anordnung der unterschiedenen Staatsgewalten, so wie diese sich in ihren besonderen Kreisen entwickeln und ausbreiten, ohne darum als feindliche Mächte gegeneinander aufzutreten, sondern im Gegenteil sich zu kennzeichnen als Organe, die ein lebendiges Ganzes, einen Organismus bilden, wo alles in gegenseitigem Verband und Zusammenhang, zu Aufrechterhaltung des Staatslebens wirkt und den Bürger nicht nur in seiner Person und seinen Gütern schützt, sondern ihn in den Genuß seiner vernünftigen Freiheit, das höchste und herrlichste Pfand, das der Mensch besitzt, stellt" (14). In seiner Einleitung erwähnt VAN GHERT auch den bekannten Hegelschen Unterschied zwischen den Begriffen „subjektiv" und „objektiv". Es handelt sich hier nicht um auf sich selbst bezogene Bestimmungen, so wie positiv und negativ, sondern diese „Ausdrücke subjektiv und objektiv entnehmen ihre wahre Bedeu-
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tung nur aus dem Zusammenhang, den ihre Stellung in bezug auf die Ganzheit bekommt" (15 f). Nach der Einleitung von 18 Seiten folgen zwei Abschnitte mit theoretischem und spekulativem Charakter; ein langer Abschnitt über die Freiheit und ein kürzerer über den Staat, die beide die Hauptthemen des Büchleins bilden. Wenn dann nacheinander die fürsthche, die gesetzgebende und die Regierungsgewalt, die Religionsfreiheit, das Placetrecht, die Unterrichtsfreiheit, die Pressefreiheit und die öffentliche Meinung, die Armenverwaltung, die Polizei, die Korporation und die Vereinigungs- und Versammltmgsfreiheit dargestellt werden, fängt die eigentliche Prüfung am Hegelschen Staatsrecht an. Im Abschnitt über die Freiheit macht VAN GHERT den Unterschied zwischen „beschränkter Freiheit" und „wahrhafter Freiheit". Die Idee der beschränkten Freiheit finden wir bei den Anhängern der Lehre, daß der Mensch von Natur frei sei und ihm von Staatswegen Beschränkungen auferlegt werden. Diese beschränkte Freiheit wird von VAN GHERT betrachtet als „ein Unding und nichts als Willkür, die es nun mit dem Endlichen, dem Besonderen der Bedürfnisse zu tun hat". Die wahrhafte Freiheit findet dagegen ihre Befriedigung nur „in der Vernunft, im Recht, in der Sittlichkeit, im Staat" (20). Die Freiheit bildet die Substanz, das allgemeine Wesen des Geistes des Menschen", „Beschränkung der natürlichen Neigungen und tierischen Triebe ist die einzige Voraussetzung, aus der die Befreiung hervorgeht, während die Gesellschaft und der Staat die einzigen Verhältnisse sind, in denen die Freiheit wahrhaft anwesend, wirklich ist" (21). Danach gibt VAN GHERT eine kurze Skizze des Fortschritts der Freiheit in der Weltgeschichte von den Orientalen, zu den Griechen, den Römern und den germanischen Völkern (21 f; vgl. Rechtsphil. §§ 354—358). Die Freiheit hat eine subjektive imd eine objektive Seite. Die nur subjektive ist abstrakt xmd führt ins Verderben. Es geht um die Vereinigung des subjektiven mit dem objektiven, allgemeinen sittlichen Willen. „Das Wahre ist die Übereinstimmung des allgemeinen, objektiven mit dem subjektiven, einzelnen Willen, und das Allgemeine im Staat liegt in den Gesetzen, als den allgemeinen vernünftigen Bestimmungen der Sittlichkeit. Der Staat ist die göttliche Idee, so wie sie auf Erden vorhanden ist" (24 f). Was die Staatsform anbetrifft, so gibt VAN GHERT der Monarchie den Vorzug. Diejenigen, die die Republik als die wahrhafte Regierungsform ansehen, gehen seiner Meinung nach von einem abstrakten Begriff der Freiheit aus. „Die Hauptsache ist ... daß die Freiheit so wie sie vom Begriff bestimmt wird, nicht den subjektiven Willen, die Willkür, sondern die Einheit des subjektiven oder einzelnen, mit dem objektiven oder allgemeinen Wülen zum Prinzip habe und das System der Freiheit, ihre imterschiedenen Seiten, frei entwickle, was nur in einem konstitutionellen monarchischen Staat möglich ist" (30). Der Abschnitt über den Staat besteht fast nur aus einer Aneinanderreihung von Zitaten, jeweils aus § 182 und § 75 der Rechtsphilosophie, ein kurzes Zitat aus den Vorlesungen über die Ästhetik, und dann aus § 273 und § 274 der Rechtsphilosophie. Auch folgt er Hegel genau, wenn dieser in § 273 der Rechtsphilosophie die gesetzgebende Gewalt als erstes Moment und die fürstliche Gewalt
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als letztes entwickelt, während bei der systematischen Ausarbeitung der drei Gewalten in den §§ 275 bis 320 die fürstliche Gewalt als erste imd die gesetzgebende Gewalt als letzte dargestellt wird. Weiter fäUt es auf, daß VAN GHERT oft Erklärungen zu Wörtern oder Wendungen im Text der Zitate gibt. Dem Wort „Vermittlimg" zum Beispiel fügt er als Erklärtmg hinzu: „oder wechselseitige Einordnung des einen gegen das andere" (32; vgl. Rechtsphil. § 182 Zusatz). Den Wörtern „nur wirklich ist" fügt er hinzu: „nur ein wahrhaftes Dasein hat" (35; vgl. Rechtsphil. § 274). Bei seiner Darstellung der fürstlichen Gewalt gibt er erst eine ausführliche theoretische Betrachtung anhand von langen Zitaten aus den §§ 275 bis 286 der Rechtsphilosophie. (35—49). „Nach dieser Erörterung der verschiedenen, notwendig aus dem Begriff der Sache und aus der Natur des konstitutionellen Monarchen hervorgehenden Bestimmungen" geht er über „zu ihrer Anwendimg auf dasjenige, was in dieser Hinsicht durch das Grundgesetz festgestellt und dann bei ihrer Revision vorgetragen worden ist, und aus der Vergleichung des einen mit dem anderen wird das Problem einfach gelöst werden können, ob imd inwiefern die vorgeschlagene Änderung, hinsichthch der fürstlichen Gewalt, in einem konstitutionellen Staat .. . den Forderungen der Wissenschaft entspricht und mit ihnen übereinstimmt" (49). An erster Stelle kritisiert VAN GHERT sowohl den alten wie auch den neu vorgeschlagenen Verfassungsartikel hinsichtlich der Thronfolge, weil der Vorschlag zur Änderung der Thronfolge nicht ausschließlich dem König zuerkannt wird. VAN GHERT ist der Meinung, daß keine besonderen Umstände dieses Recht des Königs ändern können, „weil die Thronfolge aus der Natur des konstitutionellen Monarchen hervorgeht" (50). Auch kritisiert er die Anordnung der Vormundschaft, weil unter gegebenen Staatsprinzipien die Anordnung der Vormundschaft tmd die Ernennung der Vormünder eines minderjährigen Königs keinen Gegenstand gewöhnlicher Gesetzgebimg bilden, sondern dem König und der Beratschlagung der Generalstaaten überlassen werden müssen (53). Was die sehr wichtigen Artikel hinsichtlich der Macht des Königs anbetrifft, namentlich „der König ist unverletzhch, die Minister sind verantwortlich" und „die Exekutivgewalt steht dem König zu" ist VAN GHERT der Meinimg, daß diese Bestimmungen aus der Natur des konstitutionellen Monarchen hervortreten (63). Offenbar ist er einverstanden mit dem Prinzip der ministeriellen Verantwortlichkeit, wodurch tatsächlich die Macht des Königs eingeschränkt wird. Das Institut des Staatsrats, der durch die Verfassungsrevision von 1848 zum Beratungskollegium der Regierung, und demnach nicht mehr des Königs gemacht worden war, sollte nach der Meinung VAN GHERTS am besten abgeschafft werden, da es doch nicht genügend fähige Menschen dafür gebe und weiter eine
Grondwet 1848 (Verfassung 1848). Art. 53, 54.
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Einsparung öffentlicher Gelder erzielt werden könne (64). Dieses war übrigens eine Ansicht, die von vielen Zeitgenossen VAN GHERTS geteilt wurde. Alles zusammengenommen, können wir feststeUen, daß VAN GHERT von der Hegelschen Philosophie aus hinsichtlich der Macht des Fürsten, die von ihm am ausführlichsten dargestellt wird, nicht zu sehr aufsehenerregenden Ergebnissen gekommen ist. Nach dieser Prüfung der fürstlichen Macht müßte sich VAN GHERT, der Art folgend, „nach welcher der Staatsbegriff, seiner Natur nach, sich selber entfaltet und sich imterscheidet" in den drei Gewalten, mit der Darstellung der Regierungsgewalt, dem Moment der Besonderheit beschäftigen, wozu auch die richterliche Gewalt und die Polizei gehören (65). Um den Leitfaden der Verfassung jedoch nicht zu verlieren, geht er zunächst über zur Darstellung der gesetzgebenden Gewalt in den Organen der Legislative. In diesem Abschrdtt betrachtet er namentlich die Repräsentation des Volks im Parlament. Außer der Rechtsphilosophie zitiert er in diesem Falle häufig aus Hegels Aufsatz in den Heideibergischen Jahrbüchern der Literatur: {Beurtheilung der) Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816. VAN GHERT eröffnet seine Betrachtung über die gesetzgebende Gewalt mit einem Zitat aus der Rechtsphilosophie: „Die gesetzgebende Gewalt betrifft nicht nur die Gesetze als solche, insofern sie weiterer Fortbestimmung oder Entwicklung bedürfen, sondern auch die, ihrem Inhalt nach allgemeinen, inneren Angelegenheiten. Diese Gewalt ist selbst ein Teil der Regierung .. (66; vgl. Rechtsphil. § 298). Wenn wir dieses Zitat neben den Text Hegels legen, haben wir ein gutes Beispiel für die Weise, in der VAN GHERT häufig diese Texte verwendet und wiedergibt. Die Interpretation wird verdeutlicht, das Wort „und" wird ersetzt durch „nicht nur, sondern auch", dem Wort „Fortbesthnmung" fügt er erläuternd „oder Entwicklung" hinzu, während er das Hegelsche Wort „Verfassung" im Holländischen mit dem Wort „Regierung" wiedergibt. Die gesetzgebende Gewalt ist keine selbständige Gewalt, sondern sie ist die Gewalt, die zusammen mit dem König imd der Regierung die allgemeinen Rechte und Pflichten der Bürger bestimmt. Sie ist „ein Bestandteil des Staatsorgardsmus und zugleich selbst ein Ganzes" (67). Die Legislative erfüllt eine vermittelnde Rolle zwischen dem Volk, das in besondere Stände imd Individuen aufgeteilt ist, und der Regierung, die das allgemeine Interesse wahrt. Daß die Legislative aus zwei Kammern besteht, ist „in der Natur der Sache" gegründet (69). Die Aufgabe der Ersten Kammer ist es, entsprechend wie bei der fürstlichen Gewalt die Regierungsgewalt der Mitte ausmacht zwischen dem König imd der Legislative, bei der Legislative die Mitte zwischen der Zweiten Kammer und dem König zu bilden (69). Diese Funktion wird vom ersten Stand der Gesellschaft erfüllt, näm7. C. Voorduin: Gesdiiedenis en beginselen der Grondwet voor het Koninkrijk der Nederlanden [Geschichte und Prinzipien der Verfassung für das Königreich der Niederlande]. Utrecht 1848. 182—189. Dies geschieht häufiger; dazu 36, vgl. Rechtsphil. § 275; 37, vgl. § 277, Zusatz; 38, vgl. § 279; 45, vgl. § 281; 46, vgl. § 281 Zusatz; 49, vgl. § 286.
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lieh von der Schicht des erblichen Grundadels, wodurch die nötige Festigkeit hinsichtlich der Erfüllung seiner Fimktion gewährleistet wird (70; Rechtsphil. §§ 305, 306). Die Zweite Kammer tritt als „Organ" des zweiten und dritten Standes der bürgerlichen Gesellschaft auf, jeweils des Standes, der einen bürgerlichen Beruf oder Gewerbe ausübt, und des Standes, der sich dem allgemeinen Interesse widmet (69, 71). Die Abgeordneten des zweiten und dritten Standes treten nicht als Individuen auf, sondern als Vertreter ihres Standes oder ihrer Klasse. Demgemäß ist es nicht „der Natur der Sache" entsprechend, die Vertretung in der Zweiten Kammer mit einer bestimmten Zahl pro Provinz noch auch mit einer festgesetzten Zahl der Bevölkerung zu verbinden. Es geht doch darum, die Glieder der Zweiten Kammer als „die Organe der wesentlichen Interessen der Nation" zu betrachten und einzusehen, daß sie „kraft ihres Standes und ihren Beschäftigimgen an der Überlegung und Entscheidung der allgemeinen Angelegenheiten teilnehmen" (77). „Wo so die Natur der Sache befragt und ihr gefolgt wird, wird gewiß eine Zweite Kammer angemessen zusammengestellt worden sein. Jeder Stand, jeder bedeutende Teil davon, jeder wichtige Zweig des Daseins des Volkes, Handel, Schiffahrt, Landbau, Fabriken, Wissenschaften und Künste; nicht nur die zeitlichen, sondern auch die geistlichen Interessen, alle ohne Ausnahme, werden ihre Abgeordneten in der Zweiten Kammer haben; Abgeordnete deren jeder das Fach, dessen Organ er ist, gründlich kennt, selbst dazu gehört und so sein eigenes Wissen und nicht geliehenes Wissen mitbringt" (79). Von diesem Gesichtspimkt aus läßt sich auch verstehen, warum VAN GHERT, wie Hegel in seiner Landsfände-Schrift, Kritik übt an der Tatsache, daß die Mehrheit der Glieder zum Rechtsanwaltsstand und zur richterlichen Gewalt gehört (80). Auch folgt VAN GHERT Hegel in seiner Kritik an den gelehrten, oft pedantischen, vorgelesenen Auseinandersetzungen der Volksvertreter, die sich gerade dadurch vom Volk absondem (87 f). Die direkte Wahl der Zweiten Kammer, die bei der Verfassungsrevision vorgeschlagen worden war, billigt er, weil sie „der Forderung der Sache" entspricht (82). Dennoch ist die Weise der Wahl nicht der Natur der Sache gemäß, da diese nicht entsprechend den Ständen oder der in Klassen verteilten Bevölkerung geschieht, sondern selbst in die Hände der Parteien gekommen ist, „was um so gefährlicher und verderblicher ist, wenn religiöse Parteienzugehörigkeit dabei ins Spiel kommt, zumal in einem Land, wo es so viele verschiedene Kirchengemeinschaften gibt" (83). Kurzum, vom modernen System der politischen Parteien wollte VAN GHERT überhaupt nichts wissen. Nur die Rückkehr zum alten Ständestaat wird von ihm als die optimale Gewähr für die richtige Repräsentation betrachtet. Denn nur auf diese Weise kann der Staat als organisches Ganzes funktionieren. Bei seiner Darstellung der exekutiven Gewalt spricht er fast nur über die Provinzverwaltungen und die Gemeinden. Er warnt davor, daß im FaU einer zu großen Selbständigkeit dieser dezentralisierten Verwaltimgsorgane Staaten im Staat entstehen und die notwendige Einheit der Staatsmacht, in der die besonderen Interessen mit dem allgemeinen Interesse verbimden sind, aufgelöst wird
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(90 ff; vgl. Rechfsphil. § 290 Zusatz). Der Staat ist dann kein organisches Ganzes mehr, sondern nur ein Aggregat. Nach seiner Darstellung der drei Staatsgewalten unterwirft er die Freiheitsrechte „der Prüfung der Wissenschaft, diesem Prüfstein der Wahrheit" (96). Er behandelt jetzt nacheinander die Religionsfreiheit, bei der er auch das Placetrecht zur Diskussion stellt, die Unterrichtsfreiheit tmd die Pressefreiheit. Beim Verfassungsartikel von 1848, der immer noch gilt, „Jedermann bekennt seine religiösen Meinungen mit vollkommener Freiheit" meint VAN GHERT davor warnen zu müssen, daß der Begriff „religiöse Meinungen" extensive Interpretationen zuläßt. Es gibt dann die Gefahr, daß „unter dem Deckmantel der Religion eine alles umstürzende Lehre gepredigt werden könnte" (97). Weiter bemerkt er, daß die Verfassung unzulängliche Garantien gegen eine ungleichmäßige Verteilung der Ämter auf die verschiedenen Religionen enthält (98). Aus dieser letzten Bemerkimg können wir schließen, daß VAN GHERT tatsächlich keineswegs die Hintansetzimg oder Unterdrückung des katholischen Volksteils beabsichtigte, sondern daß vielmehr das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ihm als Leitfaden seines Handelns tmd Denkens diente. Dieses zeigt sich auch daran, daß VAN GHERT — auch dies aufgrund der Prinzipien der Staatswissenschaft — verteidigt, daß die verschiedenen religiösen Gesinnungen gleiche finanzielle Ansprüche auf die Staatskasse haben sollen (98 ff). Abschließend geht er in diesem Paragraphen über die Religionsfreiheit auf das Verhältnis zwischen kirchlichen Gemeinden und dem Staat ein, wobei er sich besonders an das anschließt, was Hegel darüber in § 270 der Rechtsphilosophie gesagt hat: „Die Bestimmung dieses Verhältnisses ist sehr einfach. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Staat eine Pflicht erfüllt, indem er jener Gemeinde für ihren religiösen Zweck Unterstützung und Schutz gewährt. Insofern aber die kirchliche Gemeinde Eigentum besitzt und alle ihre Handlungen des Kultus ausübt, tritt sie aus den Inneren in das Weltliche, in das Gebiet des Staats herüber, und stellt sich dadurch unmittelbar unter seine Gesetze" (104; vgl. Rechtsphil. § 270). Die Lehre der Kirche gehört zum „unverletzlichen Recht der subjektiven Freiheit des Selbstbewußtseins, zur Sphäre der Innerlichkeit, die als solche rächt das Gebiet des Staats bildet" (104). Sobald aber die Lehre geäußert wird und einen Inhalt hat, der „mit den sittlichen Einrichtungen und Staatsgesetzen auf das Innigste zusammenhängt oder sie unmittelbar betrifft", ist ein Konflikt zwischen Staat und Kirche möglich (105). Zum Schluß sagt VAN GHERT, es sei „lobenswert und preiswürdig, alle mögliche Freiheit der Religion den größten Spielraum zu lassen, wenn man nur darauf achtet, daß man bei ihrem Mißbrauch die nötigen Waffen behält, um ihre Ausschreitungen im Zaum zu halten" (105). Alles zusammengenommen eine liberale Auffassxmg. Der wichtige Unterschied, den man nach der Meintmg VAN GHERTS immer im Auge behalten muß, ist der zwischen dem Inneren und Äußeren der Religion (106). Hinsichtlich der Aufhebxmg des Placetrechts — das Einsichtrecht der Regienmg in Grondwet 1848. Art. 164 (jetzt: Art. 181).
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Verordnungen des Päpstlichen Stuhls, die an die Einwohner der verschiedenen Staaten gerichtet sind — hat er keine Bedenken. Er ist der Meinung, daß über dieses Placetrecht mehr Lärm gemacht worden ist, als die Sache verdient, weil dieses Recht nur in bestimmten Fällen in Anwendung gebracht worden ist. Die Bekämpfung des Placetrechts mit einer Berufung auf die Pressefreiheit ist nicht angemessen, da es einen Unterschied gibt zwischen der Mitteilung, „als bloße Nachricht und der Bekanntmachung päpstlicher Bullen als Gesetze durch die kirchliche Autorität, was die Gläubigen durch geistliche Mittel zwingen kann, diesen Vorschriften zu gehorchen" (108). Mit Bezug auf die Unterrichtsfreiheit äußert VAN GHERT scharfe Kritik, die ihren Gnmd in der Hegelschen Staatsrechtsphilosophie hat. Er ist der Meinimg, daß der allgemeine Unterricht mit Ausschluß des Religionsunterrichts vom Staat besorgt werden muß, der Religionsunterricht den Eltern und den Religionslehrern überlassen bleibt (113). In diesem Zusammenhang weist VAN GHERT nochmals darauf hin, daß die Regierung nicht eine fremde den Bürgern gegenüberstehende Macht, sondern deren Wille ist, der den Gnmd der Gesinnung der Bürger ausmacht. Er behauptet weiter, imter Verweis auf die Rechtsphilosophie, ohne aber die exakte Bezugsstelle anzugeben, daß die Eltern zwar das Recht haben, ihre Kinder zu erziehen, daß jedoch „das Recht des Staates noch höher ist, noch heiliger, noch unverletzlicher, weil die Bürger Glieder des Staates sind und ihre besondere Meinung, ihr besonderes Interesse nicht seinem allgemeinen sittlichen Interesse widerstreiten und es imtergraben darf" (114; vgl. Rechtsphil. § 239). In diesem Punkt des Unterrichts vertritt er also noch dieselbe Ansicht, von der er während seiner Amtszeit beim Ministerium des römisch-katholischen Kultus ausgegangen ist. Sein Urteil über die Pressefreiheit hält er zurück, weil darüber noch ein Gesetz verabschiedet werden soll (114). Hinsichtlich der öffentlichen Meinung folgt er Hegels Position, daß die öffentliche Meinung sowohl geachtet als auch verachtet werden muß, da sie sowohl das Wahre als auch das Unwahre in sich schließt (116; vgl. Rechtsphil. § 318). Beim Verfassungsartikel über die Armenpflege geht er davon aus, daß die Wohlfahrt der Individuen sowohl von der Polizei wie von der Korporation gewährt werden muß. Namentlich die Einführung der Stände ist nach der Meimmg VAN GHERTS das angemessenste Mittel, um das Wohl der Individuen zu fördern imd die Armut abzuwenden, weil dadurch am besten der organische Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft imd der sittlichen Einheit des Staates gewährt wird. Auf diese Problematik werden wir im 5. Abschnitt weiter eingehen. Der letzte Verfassungsartikel, den VAN GHERT erörtert, ist das Vereinigungs- und Versammlungsrecht. Er nennt die Einführung dieses Rechts eine „scheinbare Neuerung", da dieses schon im 18. Artikel der Staatsverfassimg der Batavischen Republik von 1798 niedergelegt worden war (138). Diese Verfasstmg aber gab das Recht nur in beschränktem Maße. Tatsächlich müssen wir dann auch schließen, daß er gegen eine völlige Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ist. Auch
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weist er in diesem Zusammenhang auf die kürzlich geschehenen Unruhen in Paris hin, mit denen er gewiß die Februar-Revolution meint. Zum Schluß macht VAN GHERT eine Anzahl praktischer Vorschläge, um die Staatskosten zu senken. Er schlägt unter anderem vor, die Zahl der Provinzen, Ministerien und Oberlandesgerichte zu reduzieren, wie auch die drei mangelhaften Universitäten zu einer guten umzuformen. Im allgemeinen können wir sagen, daß die Anwendung der Hegelschen Philosophie auf die Verfassungsrevision im Revolutionsjahr 1848 nicht zu überraschenden Resultaten geführt hat. Der wichtigste Punkt ist, daß in der Nachfolge Hegels der organische Staatszusammenhang nachdrücklich betont wird und der Ständestaat als die angemessenste Lösung empfohlen wird. An den meisten Stellen bewährt VAN GHERT sich als ein hberaler Denker, an anderen Stellen ist er konservativ xmd hinsichtlich des Ständestaats zeigt er sogar eine restaurative Gesinnung. Obwohl er der Meinung ist, daß der Staat die höchste sitthche Instanz ist, kann man sicher nicht sagen, daß er die Lehre der absoluten Staatsmacht vertritt. Als Einheitsprinzip muß man die Idee des Organismus ansehen, bei dem die unterschiedenen Glieder auf einer höheren Stufe ein Ganzes bilden. Weiter sehen wir, daß auch in der Schrift über die Verfassungsrevision die Grenze zwischen Staat und Kirche prinzipiell gezogen wird. Insgesamt muß man bemerken, daß es sich hier fast ausschließlich um eine epigonenhafte Wiedergabe der Hegelschen Staatsrechtslehre handelt, bei der die systematische Darstellungsweise der Hegelschen Philosophie rdcht immer vorhanden ist, obwohl er oft über „die Natur der Sache" spricht. Ferner hat VAN GHERT die Hegelsche Philosophie aufgrund der veränderten Verhältnisse nicht weiterentwickelt. Sein Verdienst ist es, versucht zu haben, die Hegelsche Philosophie zur praktischen Anwendung zu bringen. Aber es fehlte neben dem angemessenen Verständnis die produktive Weiterentwicklung der Hegelschen Konzeption. Und diese Schrift, die vielleicht den Ersatz für seine verlorene politische Macht bildete, hat kaum praktische Wirkung gehabt.
5. Van Ghert über den Pauperismus: eine rückschrittliche Lösung in der Sphäre der Sittlichkeit Zur Zeit der Pauperismus-Sämit VAN GHERTS werden in den Niederlanden, doch auch in vielen anderen Ländern Europas, zahlreiche Schriften über das Armutsproblem veröffentlicht. ** Die Schrift VAN GHERTS trägt den Titel Pauperisme und den langen Untertitel „Zou er geen algemeen-werkend behoedmiddel, tegen ** Siehe zum Beispiel: A. Clement: Redierches sur les causes de l'indigence. Paris 1846; K. F. Schmell: Vorschläge zur Verbesserung der Arbeiterverhältnisse. Berlin 1849; A. f. von Holzschuber: Die materielle Noth der untern Volksklassen. Augsburg 1850; F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Leipzig 1845.
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de volksverarming en de daaruit voortvloeijende toeneming van het onzedelijk gemeen, te vinden zijn? Eene vraag gerigt aan de meesters of bazen der werklieden en aan allen, die een waarachtig belang in beider lot en welvaart stellen". Auf dem Titelblatt steht außerdem noch das folgende Zitat aus Hegels Rechtsphilosophie: „Die wichtige Frage wie der Armuth abzuhelfen sey, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende" (vgl. § 244 Zusatz). Bei der Besprechung dieser PflMpen'smMS-Schrift kann man vier allgemeine Bemerkungen machen. Erstens handelt es sich hier um die Anwendung der Hegelschen Philosophie auf das tatsächhche und praktische Armutsproblem. Zweitens erweist VAN GHERT sich hier als ein Apologet „der wahren Freiheit und eines echten Liberalismus" im Gegensatz zum falschen Liberalismus, der alles den Neigungen der Menschen überläßt. Er verteidigt „die Freiheit aller, die die Substanz, das allgemeine Wesen des menschlichen Geistes ausmacht", „den Liberalismus, der das „suum cuique, jedem das seine" zum Grunde hat, sei es, daß es die Religion, den Staat, die bürgerhche Gesellschaft, oder das Individuum betrifft" (26). An dritter Stelle muß man bemerken, daß VAN GHERT fast nie eine systematische Begriffsentwicklung vollzieht, wie Hegel diese stets erkennen läßt. Die triadische Struktur ist kaum vorhanden oder wird kaum betont, über Dialektik wird gar nicht gesprochen. Er erwähnt zwar den Hegelschen Gedanken: „Der Begriff der Wahrheit ist die Übereinstimmung mit der Realität, mit der Wirklichkeit. Er unterscheidet sich in ein Allgemeines (Genus), Besonderes (Species) und Einzelnes (Individuum), und zwar so, daß das Besondere und Einzelne von dem Allgemeinen durchdrungen und mit ihm vereinigt ist" (26). Aber fast niemals weist er auf entsprechende Weise die systematischen Zusammenhänge auf. Es ist klar, daß VAN GHERT versucht hat, Hegel populär zu machen, indem er die methodischen Probleme und die oft schwierige Hegelsche Terminologie beiseite ließ. Zum Schluß muß man immer den internationalen politischen Kontext, in dem es zu dieser Zeit viele Umwälzungen gibt, berücksichtigen. VAN GHERT äußert sich bestürzt über die „monströsen Theorien", „wie es die des Kommunismus und Socialismus sind; die der Lehre: daß Eigentum Diebstahl ist; daß die Ehe abgeschafft; das Christentum, als verschlissenes Kleid, abgeschüttelt; alle Güter gemein erklärt und das Familienband gelöst werden müßte" (2). Er ist „von Schrecken und Angst benommen", als er erkennen muß, daß diese Theorien, statt „für unschädliche Hirngespinste" gehalten zu werden, viele Gefolgschaft finden, und dann bedenkt, was die Folgen sind, wenn die Theorien mit bewaffneter Hand in Praxis umgesetzt werden. VAN GHERT will versuchen, Einsicht ins Pauperismusproblem zu vermitteln, indem er das Problem zunächst nach den Prinzipien der Hegelschen Staatsrechtsphilosophie im Zusammenhang mit dem Wesen des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft wissenschafthch betrachtet. Bescheiden bemerkt er, daß „es ihm an gediegener Erkenntnis und gründlicher Übersetzung in imserer am Schluß angefügten Bibliographie, vgl. Nr. 7 der Abs. „Bücher". — Auf die Schrift wird im folgenden Text durch Seitenzahlen verwiesen.