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German Pages 277 Year 2018
George-Jahrbuch 12 (2018/2019)
George-Jahrbuch Band 12 (2018/2019)
Im Auftrag der Stefan-George-Gesellschaft
herausgegeben von Wolfgang Braungart und Ute Oelmann
De Gruyter
Redaktionelle Mitarbeit: Patricia Bollschweiler, Anna Lenz
Das George-Jahrbuch erscheint im Abstand von jeweils zwei Jahren. Es veröffentlicht Originalbeiträge in deutscher, in Ausnahmefällen auch in englischer und französischer Sprache. Ein Merkblatt zur Manuskriptgestaltung kann bei den Herausgebern angefordert werden. Die Beiträger werden gebeten, ihre Manuskripte inklusive Datenträger satzfertig an die Herausgeber einzusenden und Änderungen in den Korrekturfahnen nach Möglichkeit zu vermeiden, da der Verlag die durch die Autorkorrekturen verursachten Mehrkosten nur im beschränkten Maß trägt. Honorare können nicht gezahlt werden. Beiträger erhalten 20 Sonderdrucke ihres Beitrags und ein Exemplar des Jahrbuchs. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Für die hier veröffentlichten Aufsätze hat § 4 UrhRG Gültigkeit. Rezensionsexemplare werden an die Herausgeber erbeten.
ISBN 978-3-11-057943-7 ISBN (PDF) 978-3-11-058546-9 ISBN (EPUB) 978-3-11-058475-2 ISSN 1430–2519
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Ü Gedruckt auf säurefreiem Papier
Inhalt
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aufsätze Renate Stauf „Ich gehe immer und immer an den äussersten rändern“. Stefan Georges Briefkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . .
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Birgit Wägenbaur „Wie lang es dauert den Deutschen ein wenig geschmack beizubringen“. Stefan George und Karl Wolfskehl im Spiegel ihrer Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Joachim Jacob Freundschaft nebst Briefen und Bildern – Carl August Klein, ‚Die Sendung Stefan Georges‘, und Sabine Lepsius, ‚Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘ (1935) . . . . . .
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Helmuth Mojem / Gunilla Eschenbach Gefährliche Liebschaft. Friedrich Gundolf und Elisabeth Salomon in ihren Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Janus Gudian Kantorowicz im Kaleidoskop seiner Korrespondenz . . . . . . . .
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Dieter Burdorf Lyrische Korrespondenzen. Überlegungen zum Verhältnis von Brief und Gedicht in der Literatur der Moderne . . . . . . . . . .
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Alessandra D’Atena ‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘/‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘: Stefan Georges an Cyril Meir Scott gewidmeter englisch-deutscher Gedichtzyklus . . . . . . . . . . . 125
https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0201
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Inhalt
Rainer Bayreuther Theologie und Politik der Maximinreligion . . . . . . . . . . . . 149 Nicolas Detering Satansbraten. Stefan George in Rainer Werner Fassbinders einziger Komödie (1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Rezensionen Maik Bozza: Genealogie des Anfangs. Stefan Georges poetologischer Selbstentwurf um 1890 (Jürgen Brokoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 „Von Menschen und Mächten.“ Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933. Hg. von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann im Auftrag der Stefan George Stiftung (Waldemar Fromm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bruno Pieger / Bertram Schefold: „Kreis aus Kreisen“ Der George-Kreis im Kontext Deutscher und Europäischer Gemeinschaftsbildung (Kay Wolfinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Simon Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhetischen Rituals (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923) (Cornelia Ortlieb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Philipp Heitmann: Intertextualität als Weltanschauung und Ästhetik des Epigonalen. Das Instrumentalwerk Conrad Ansorges (Anna Lenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
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Inhalt
Jens Schnitker: Ästhetizismus und Geschichtsphilosophie. Zum Zusammenhang von Décadence und Décadence in der gegennaturalistischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Gabriele von Bassermann-Jordan) . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Eckard Conze / Wencke Meteling / Jörg Schuster/ Jochen Strobel (Hg.): Aristokratismus und Moderne. Adel als Politisches und Kulturelles Konzept. 1890–1945 (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Olivier Agard / Barbara Beßlich (Hg.): Kulturkritik zwischen Deutschland und Frankreich (1890–1933) (Boris Gibhardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Dieter Burdorf / Thorsten Valk (Hg.): Rudolf Borchardt und die Klassik (Gabriele von Bassermann-Jordan) . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Philipp Redl: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft (Holger Dainat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Christian Benne / Dieter Burdorf (Hg.): Rudolf Borchardt und Friedrich Nietzsche. Schreiben und Denken im Zeichen der Philologie (Friederike Reents) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Aus der Stefan-George-Gesellschaft Gabriele von Bassermann-Jordan Nachrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Wolfgang Braungart Nachruf auf Dr. Siegfried Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Stefan-George-Gesellschaft e.V. Bingen
. . . . . . . . . . . . . . 263
Anschriften der Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
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Inhalt
Inhalt
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Vorwort
Das Jahrbuch 12 dokumentiert die Beiträge zur Jahrestagung der Stefan-George-Gesellschaft, die im November 2015 in Bingen stattgefunden und sich mit der Briefkommunikation im George-Kreis befasst hat. In den letzten Jahrzehnten sind weitere Nachlässe in das George Archiv in Stuttgart und das Deutsche Literaturarchiv Marbach gelangt; nach und nach werden die Briefwechsel editorisch zugänglich gemacht. Es war deshalb an der Zeit, die Briefkommunikation selbst einmal zu thematisieren. Darüber hinaus bringen wir drei Beiträge zur poetischen Bedeutung der Begegnung Georges mit Cyril Meir Scott (D’Atena), noch einmal zur Maximin-Problematik (Bayreuther), gewissermaßen ein Nachtrag zu unserer Tagung ‚Stefan George und die Religion‘, die wir in einem eigenen Tagungsband dokumentiert haben (er wurde bereits in Jahrbuch 11 besprochen) und zur nur wenig bekannten GeorgeRezeption bei Rainer Werner Fassbinder (Detering). Der Rezensionsteil zeigt die Breite der George-Forschung; wir stellen, wie gewohnt, auch Publikationen vor, die für die Kontextualisierung Georges wichtig sind. Dies ist das letzte Jahrbuch unter unserer Herausgeberschaft. Vor gut 25 Jahren haben wir die Idee zu diesem Jahrbuch entwickelt und dann das Unternehmen gewagt. Ziel war es, wie wir damals im Vorwort zum ersten Band schrieben, „ein offenes, der sachlichen Diskussion verpflichtetes Organ der George-Forschung“ zu schaffen. Es ist nicht an uns zu entscheiden, ob uns das gelungen ist. Wünschen möchten wir uns in jedem Fall, dass diese Devise auch in Zukunft gilt. Unser schönster Band war vielleicht der Jubiläumsband 10, der zeigt, wie lebhaft die Lyrik der Gegenwart Georges Dichtung zur Kenntnis nimmt. Nun ist es aber Zeit, dass andere Herausgeber an unsere Stelle treten. Wir danken allen, die uns in den vielen Jahren gemeinsamer Arbeit unterstützt haben, den Beiträgern und den Bielefelder Mitarbeitern (bei diesem Jahrbuch wieder Patricia Bollschweiler und Anna Lenz). Unseren Nachfolgern wünschen wir Freude an ihrer Herausgeber-Arbeit. Dem Jahrbuch wünschen wir, dass es eine gute, lange Zukunft haben und viele neugierige und aufgeschlossene Leser finden möge. Wolfgang Braungart Ute Oelmann https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0202
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Inhalt
Stefan Georges Briefkommunikation
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Aufsätze Renate Stauf
„Ich gehe immer und immer an den äussersten rändern“. Stefan Georges Briefkommunikation I. Stefan George schätzte das Briefeschreiben nicht. Zur Abwehr der von ihm so benannten ‚Briefduselei‘ hatte er schnell ein Bonmot auf der Zunge.1 Über Briefe, „in denen Freunde ihre Gedanken äussern über ein gestern gelesenes Buch oder ihre Empfindung beim vorgestrigen Sonnenuntergang“, mokierte er sich. Das komme ihm vor wie „Quacksalber, die schwierige Operationen und Heilungen verheissen mit dem Vermerk: auch brieflich“.2 Briefe von Unbekannten pflegte der Meister nicht zu beantworten. Seine eigenen Briefe an Freunde und Bekannte gab er nicht selten bei seinen Jüngern in Auftrag. Am liebsten wollte George alle von ihm verschickten und empfangenen Briefe nach seinem Tode vernichtet wissen.3 Diese so nachdrücklich ausgestellte Brief-Aversion ist womöglich nicht ohne Einfluss auf die Forschung geblieben, die sich der Korrespondenzen des George-Kreises bisher eher zögernd angenommen hat. Abgesehen von Vorworten und Erläuterungen zu einzelnen Briefwechseln gibt es kaum wissenschaftliche Literatur über George als Briefschreiber. Auch eine Gesamtausgabe seiner Briefe existiert bisher nicht. Zu den Pionierleistungen auf dem Weg zu einer Erschließung des umfangreichen Korrespondenznetzes zählt der jüngst von Birgit Wägen1
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Karlhans Kluncker: Karl Wolfskehl als Briefschreiber. In: Paul Gerhard Klussmann / Jörg Ulrich Fechner / Karlhans Kluncker (Hg.): Karl Wolfskehl Kolloquium. Vorträge – Berichte – Dokumente, Amsterdam 1983, S. 177–186, hier S. 186. Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf 1963, S. 141. Zit. nach: Martina King: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke, Göttingen 2009 (= Palestra. Untersuchungen zur europäischen Literatur), S. 101. Vgl. ebd., S. 102.
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Renate Stauf
baur und Ute Oelmann edierte Briefwechsel zwischen Stefan George, Karl Wolfskehl und dessen Frau Hanna.4 Die Kritik lässt dieser Ausgabe viel Lob zuteil werden, hält aber an der Vorstellung fest, dass Georges Briefkunst blass bleibe, während die seiner Briefpartner glänze.5 Lorenz Jäger zeigt sich von „manche[n] besonderen Stil-Rosinen“ überrascht, die nicht ganz ins Stimmenkonzert des in dieser Korrespondenz angeschlagenen Tons passen.6 So zum Beispiel von einem humorvollen Schreiben, das damit droht, Wolfskehl künftig alle seine Briefe zurückzusenden. Vorbildlich in Schönschrift abgefasst und auf großformatigem Doppelblatt geschrieben, wird hier im Namen einer „Gesellschaft der Berliner Empfänger Wolfskehlscher Briefe“ und in Form eines von George mit unterzeichneten Beschlusses verkündet, man sehe sich zu dieser Androhung gezwungen: „in anbetracht des umstandes, dass es auf keinem gütlichen und friedlichen weg zu erreichen war, dass Karl Wolfskehl an seine freunde leserliche briefe schreibe, – des umstandes, dass durch die schlechte schrift die äusserste nervosität bei den neugierigen empfängern hervorgerufen wurde, und die kostbarsten stunden in unfruchtbarer abmühung vergeudet wurden, – des umstandes, dass grosse litterarische schätze aus ebendemselben grunde für immer brach liegen, – […].“7 Man verspricht, dem gemaßregelten Schreibsünder großformatiges Briefpapier „in hunderten von bogen zu schenken“, und erklärt förmlich, die Verwarnung richte sich nur gegen den „schreibenden“ nicht gegen den „persönlichen“ Wolfskehl.8
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Vgl. Birgit Wägenbaur / Ute Oelmann (Hg.): Von Menschen und Mächten. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933, München 2015. Mit Spannung erwartet wird ein ungehobener Schatz von ca. 200 Briefen Georges an Ernst Morwitz, die in der Public Library von New York liegen. Vgl. Eckhart Grünewald: Wie der Meister nach New York kam. FAZ. Bilder und Zeiten. 03. 06. 2013. In: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilderund-zeiten/stefangeorges-briefe-wie-der-meister-nach-new-york-kam12207020.html (eingesehen am 17. März 2016). Vgl. Jens Malte Fischer: Der spröde Weihenstefan. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 248. Mittwoch, 28. Oktober 2015, S. 13. Vgl. Lorenz Jäger: Das Mysterium im Sonderdruck. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 235. Samstag, 10. Oktober 2015, S. L6. Brief vom 18. November 1903. In: Wägenbaur / Oelmann, Von Menschen und Mächten (Anm. 4), S. 512. Ebd., S. 513.
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Briefe wie dieser bezeugen, dass nicht die gesamte Korrespondenz des George-Kreises von der „feierlichen, steifen und steilen Tonlage der Meister-Verehrung“ bestimmt wird.9 Deutlich wird hier auch, wie falsch es generell ist, einen Brief allein auf seine inhaltliche Mitteilungsfunktion zu reduzieren. Eine unleserliche Schrift kann als provokant empfunden werden, unabhängig vom Inhalt des Mitgeteilten. Dass Wolfskehl sich als Jünger des George-Kreises weigerte, an seiner Handschrift jemals etwas zu verbessern oder gar in seinen Briefen in der Kreis-Kommunikation die StG-Schrift zu verwenden, ist ein bezeichnender Akt von Distanznahme, den eine neue Sicht auf den Brief als Objektträger in den Blick zu bringen vermag. Das Ausmaß, die Vielfalt und die ästhetische Reichweite, die dem Brief aufgrund der für ihn geltenden Gattungslizenzen möglich sind, finden neuerdings in der Schreibforschung zunehmend Beachtung.10 Nicht allein durch die Zeichen der Handschrift auf dem Papier wird im Brief eine Schreibszene aufgerufen, die zu einem Überschuss des Mitgeteilten beiträgt.11 Als materialer Raum ist der gesamte Schreibraum in Form einer physisch gegenwärtigen Schreib- und Lesefläche präsent, deren Mitteilungsfunktion über die decodierbaren Schriftzüge weit hinausgeht. Beilagen 9 10
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Jäger, Das Mysterium (Anm. 6), S. L6. Andrea Hübener zeigt am Briefwechsel zwischen Lucie und Hermann von Pückler-Muskau beispielhaft die epistolare Dramaturgie auf, die durch eine neue Aufmerksamkeit auf die Handschriften des Briefwechsels und die damit verknüpften Kontexte plötzlich sichtbar wird. Vgl. dies.: „Mondschein“ – „Wolken“ – „Ende“. Zur Inszenierung von Briefereignissen und deren Materialität in der Korrespondenz zwischen Lucie und Hermann von Pückler-Muskau. In: Jana Kittelmann (Hg.): Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau, Dresden 2015, S. 61–79. Zur Schreibforschung vgl. die grundsätzlichen Arbeiten von Martin Stingelin / Davide Giuriato / Sandro Zanetti (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004; dies. (Hg.): „Schreiben heißt sich selber lesen“. Schreibszenen als Selbstlektüren, München 2008; Vilém Flusser: „Die Geste des Schreibens“. In: Ders.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf 1991, S. 39–49. Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772. Vgl. dazu auch: Jochen Strobel: Zur Ökonomie des Briefs und ihren materialen Spuren. In: Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft, Berlin, New York 2010, S. 63–77.
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Renate Stauf
und Beigaben, typographische Besonderheiten, Platzierungen von Anrede und Unterschrift, die Wahl des Papiers und der Tinte, graphische Gestaltungen, Briefköpfe, Siegel, die Gestaltung von Adresse und Absender etc. bieten vielfältige Möglichkeiten, die Botschaft des Briefs semantisch aufzuladen. Wie wichtig es für das Verständnis von Georges Briefen ist, diesem Schreibraum Beachtung zu schenken, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Es gibt in Georges oftmals kargen Mitteilungen einen hermeneutischen Überschuss, der sich einem Verständnis des Ästhetischen erschließt, das das intrikate Verhältnis von Schreiben und Leben berücksichtigt, ohne beide Bereiche strikt voneinander abzugrenzen oder in einer Synthese aufzulösen. Maßgeblich werden dabei Aspekte wie der Zwiespalt von Schreiben und Nicht-Schreiben, die Handschrift und ihre Zeichenhaftigkeit, das Authentische als Effekt und als Inszenierung. Es lohnt sich, Georges Briefschrift solcherart auf ihre eigene Leistung hin zu untersuchen, nicht allein seinen Briefgesprächen, sondern auch seinen Briefen selbst, als Übermittlungs- und Bedeutungsträger, Beachtung zukommen zu lassen. Briefe gelten gemeinhin als ein Medium, um mit einem abwesenden Gegenüber in zeitlicher und räumlicher Entfernung ein dem Grad der Verbundenheit entsprechendes Gespräch zu führen oder fortzusetzen. Seit die Brieftheorie Gellerts die Rhetorikregeln der älteren Brieflehren außer Kraft gesetzt hat – also etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – wird von der Briefsprache generell erwartet, dass sie sich an einem natürlichen, spontanen, alltäglichen Sprechen orientiert. Auf Gellerts Neubegründung der Briefsprache geht auch die Vorstellung zurück, dass Briefe auf besondere Weise Empfindungskräfte in uns zu wecken vermögen, und dass dem Schreiben von Briefen eine identitätssteigernde Kraft innewohnt. In keinem anderen Medium – ausgenommen vielleicht dem Tagebuch – scheint der Schreibende näher bei sich selbst zu sein. Die weit verbreitete Annahme, dass Briefe vom Persönlichsten ihres Verfassers zeugen, lässt sich auch daran beobachten, wie selbstverständlich sie in der Forschung als autobiographische Quellen par exellence gelten. Die trügerische Erwartungshaltung, dass man hier der Wahrheit über eine Person unmittelbarer als in anderen Textzeugnissen auf die Spur komme, ist noch immer groß. Während einem literarischen Text ohne weiteres zugebilligt wird, dass er als sprachliches Kunstwerk nur mittelbar von einem Autor-Ich zeugt, erfolgt der autobiographische Rückschluss auf die Anwesenheit eines authentischen Ich
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im Brief oft unhinterfragt. Das hat zur Folge, dass sich dort, wo Inszenierungsgesten des Ich nicht zu übersehen sind, leicht Misstrauen einstellt oder gar der Betrugsverdacht ausgesprochen wird. Im Fall Georges liegt die Vermutung nahe, dass seine Zurückweisung solcher Verknüpfungen des Briefs mit dem Aufrichtigen und dem Authentischen seinen eigenwilligen Briefstil mitbestimmt hat. Wer Georges Briefe unter der Voraussetzung zur Hand nimmt, hier einem persönlichen Ich unvermittelt zu begegnen und Einblicke in innerste Gedanken und Seelenregungen zu erhalten, kann nur enttäuscht werden. Unabhängig von der Wandlung von Briefstil und Handschrift fallen seine Briefe inhaltlich durch ihren geringen Umfang, ihre knappe Sachlichkeit und ihre Abwehr des allzu Privaten und allzu Persönlichen auf. Das gilt insbesondere für den Briefwechsel in der Kreis-Kommunikation. Keine üppige Metaphorik lädt hier zur Ausdeutung ein. Oftmals steht Geschäftliches im Zentrum, wird Lob oder Tadel ausgesprochen, werden Verhaltensanweisungen gegeben oder Termine vereinbart. Es finden sich kaum Anspielungen auf das eigene Befinden, keine Mitteilungen von Ideen und Überzeugungen, keine Abbildungen von Alltäglichkeit. Gesellschaftliches oder Politisches kommt nicht vor. Wie sich Urbanisierung und Industrialisierung, die Steigerung der Mobilität und die Beschleunigung auf das Individuum und die Gesellschaft der Zeit auswirken, lässt sich aus Georges Briefen nicht erschließen. Auch der beliebte Ansatz, den Brief der Jahrhundertwende als Spiegel von Krisensymptomen zu verstehen, greift hier nicht.12 Dass dies alles kein Zufall ist, liegt auf der Hand. Auch Georges Briefe entstehen nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Umso bemerkenswerter ist es, dass er – spätestens seit der Konstituierung seines Kreises – jede nur denkbare Anstrengung unternimmt, um ein solches Vakuum schreibend zu erzeugen. Inszenierungen spielen dabei eine he12
Dass dieser Ansatz auch in anderen Zusammenhängen nicht so tragfähig ist, wie bisher angenommen, hat Jörg Schusters erhellende Untersuchung zur ‚Kulturpoetik des Briefs‘ neuerdings nachdrücklich in den Blick gerückt. Demzufolge ist die Briefkultur um 1900 in Wirklichkeit weit davon entfernt, Ausdruck einer Subjekt- und Sprachkrise zu sein. Am Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal macht Schuster Inszenierungspotentiale kenntlich, die aus der spezifischen Medialität des Briefs resultieren. Vgl. Jörg Schuster: „Kunstleben“. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes, Paderborn 2014, S. 21.
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rausragende Rolle, wobei es einige Besonderheiten zu beachten gilt. Der Briefraum des George-Kreises ist hierarchisch strukturiert und hoch ritualisiert.13 Georges lakonisch knapper Briefstil bildet in diesem kollektiven Kommunikationsraum einen harten Kontrast zu der emotional aufgeladenen Unterwerfungsrhetorik seiner Anhänger. „D.M. hat Ihren brief erhalten · sagt Ihnen schönen dank dafür und wünscht Ihnen weiter gutes Ergehen. Weitere nachrichten erreichen d.M. in Darmstadt.“ – lautet beispielsweise eine Notiz aus dem Jahr 1918, die George seinem Jünger Friedrich Wolters zukommen lässt.14 Und diese Bestellung aus zweiter Hand ist Georges Antwort auf einen langen Feldpostbrief voller Ergebenheitsbezeugungen, dem drei unbeantwortet gebliebene Briefe vorausgingen. Als Wolters im September an George mit den Worten „herr und meister, ich hob euch diesen kelch · Ich bitte nehmt ihn an“, ein Gedicht schickt und abschließend versichert: „herr und meister, ich bin euch in tiefer Ehrerbietung ergeben“,15 fällt die Antwort des Umworbenen so frostig aus, dass es fast unmöglich erscheint, ihr keine kränkende Absicht zu unterstellen: Ihr neues widmungsgedicht mahnt mich dass ich Ihnen noch für Ihre minnelieder zu danken habe […]. Ich lobe Ihren versuch die zarte schmächtigkeit dieser sänge in die heutige sprache zu übertragen. Es ist da viel schönes zu retten. Aber bei den Unseren noch mehr als bei den Provencalen verliert sich das meiste in allgemeinheiten und herkömmlichen wendungen. Für uns ist diese ganze kunstübung etwas flau.16
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Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Wolfgang Braungart / Christian Oestersandfort / Franziska Walter / Jan Andres: Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner). In: Verf. / Annette Simonis / Jörg Paulus (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2008, S. 223–270. Berthold Vallentin an Friedrich Wolters. Postkarte Maulbronn 23. 06. 1918. In: Stefan George / Friedrich Wolters: Briefwechsel 1904–1930. Mit einer Einleitung hg. von Michael Philipp, Amsterdam 1998, S. 143. Ebd., S. 65f. Brief vom 19. September 1906. In: Ebd., S. 66f. Vgl. zur erstaunlichen Reserviertheit Georges gegenüber Wolters auch die Rezension von Kai Köhler: Herrschaft und Dienst. Der Briefwechsel zwischen Stefan George und Friedrich Wolters. In: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7592&ausgabe =200411 (eingesehen am 15. 03. 2016).
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Gundolfs briefliche Ergebenheitsbezeugungen klingen ähnlich: „Mein inniggeliebter Meister!“, „teurer grosser goldner Meister“, „[…] – so werde ich Sie immer lieben und nie verlieren können, denn ich kann nicht von mir trennen, was Sie mir gaben.“ Auch diesem Lieblingsjünger gegenüber schlägt George manchmal einen lieblosen, harte Zurechtweisungen nicht scheuenden Ton an – und dies schon in der Phase als die Freundschaft durch Gundolfs Liebe zu seiner späteren Frau noch keine Trübung erfahren hat: „[…] auch musst Du mich mit schülerhaften entschuldigungen verschonen die mich zu lautem lachen reizen und dich in meiner achtung nicht erhöhen“, lässt er ihn einmal wissen.17 Das wirkt auf den heutigen Leser befremdend. Die Anerkennung von Georges Herrschaft und die Befolgung seiner Regeln ist indes in der Konstellation von Gefolgschaft und Jüngertum ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal für die Zugehörigkeit zum Kreis. Gertrud Kantorowicz, eine der wenigen Frauen, mit denen George eng befreundet war, gebraucht in ihrem Werk ‚Vom Wesen der griechischen Kunst‘ die Wendung vom „eingefügten Ich“, die meines Erachtens die innere Konstitution des George-Kreises treffend umschreibt. Der Begriff bezieht sich idealtypisch auf eine antike Einheit von Ich und Welt, der die Leiblichkeit als Ausgangspunkt zugrunde liegt. Das Gesetz des Leibes bedinge eine Bewegung, die so gut Öffnung wie Grenze sei, daher münde die leiblich bedingte „Eigengesetzlichkeit des Menschen“ in seinem Dasein als eingefügtes Ich. An der griechischen Gruppenplastik zeigt Kantorowicz, dass diese Einfügung in die Gruppe niemals Einschränkung, sondern eher Entfaltung des Einzelnen bedeutet. Mit ihren Worten wird „die Einfügung des Ich zur Darbringung der Person, die sich selber empfängt, indem sie sich dem anderen zu eigen gibt.“
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Briefe Gundolfs vom 12. 04. 1900 und vom 17. 06. 1902, Brief Georges vom 02. oder 03. 07. 1900. In: Stefan George / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, München – Düsseldorf 1962, S. 51, 115 u. 57. Allerdings bilden Georges Briefe an Gundolf – ähnlich wie die an Max Kommerell – insofern eine Ausnahme, als George in ihnen hin und wieder einen vertraulichen Ton anschlägt, den er sonst kaum zulässt und sogar manchmal Kosenamen gebraucht. Vgl. Braungart / Oestersandfort et al.: Platonisierende Eroskonzeption (Anm. 13), S. 248–262, hier S. 258.
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Renate Stauf […] – es ist das Sein des Geweihten, das hier Bild wird. Denn Weihe ist jene Begnadung, die im Wesen eines Menschen selbst ruht, und die er dennoch niemals durch sich selbst, sondern erst von einem Größeren empfangen kann. […] Nur, daß Unterwerfung hier nicht Erniedrigung bedeutet, sondern Darbringung.18
Damit ist jene Abgrenzung vom modernen Subjekt und (Selbst-)Bewusstsein benannt, von der die Briefkommunikation im George-Kreis zutiefst bestimmt wird. Insbesondere an der Eroskonzeption in Briefen und Gedichten zeigt sich, dass die Korrespondenzen des Kreises sich gewissermaßen immer unter Aufsicht vollziehen: „Man spürt förmlich, wie George auf die zur Intimität drängenden Briefe der Jünger bewusst kontrolliert agiert. Er will den erotischen Antrieb nicht unterdrücken, aber pädagogisch und sozial modellieren.“19 Diese Absicht einer strengen, sozialen und geistigen, idealistisch gegen den Zeitgeist gerichteten Zucht durch den einzig berufenen Mund des Dichters kann man mit guten Gründen als etwas Neues in der Briefsprache des 19. Jahrhunderts geltend machen. Martina King hat zweifellos Recht, wenn sie Georges Briefstil als Teil der Eigenlogik einer selbst geschaffenen Aura begreift, die verfügt, dass alles Private in Sentenzen gegossen wird und Typisierung auf allen Ebenen stattfindet. Nicht folgen möchte ich indes ihrer These, dass dies unweigerlich mit dem „Verzicht auf Authentizität und Privatheit“ einhergehe.20 Um diesen Fehlschluss zu vermeiden, ist es wichtig, Georges Handschrift auch im Medium des Briefs in ihrer Bedeutsamkeit für das Mitgeteilte zu erfassen. Als Schreibstrategie hat diese Handschrift Teil an einer Rhetorik der Selbstinszenierung, die das Individuelle nicht auslöscht, sondern zwischen Authentizität und Performanz in der Schwebe hält. Als Schrift stellt sie allein über die visuelle Wahrnehmung des Schrift-Bildes die Zugehörigkeit zum Kreis der Erlesenen her oder eröffnet in der Abweichung davon Möglichkeiten
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Gertrad Kantorowicz: Vom Wesen der griechischen Kunst. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Michael Landmann, Heidelberg – Darmstadt 1961, S. 29 u. 31. Vgl. dazu auch: Jürgen Egyptien: Schwester, Huldin, Ritterin. Ida Coblenz, Gertrud Kantorowicz und Edith Landmann – Jüdische Frauen im Dienste Stefan Georges. In: Andrea M. Lauritsch (Hg.): Zions Töchter. Jüdische Frauen in Literatur, Kunst und Politik, Wien 2006, S. 149–185, hier S. 166. Braungart / Oestersandfort et al., Platonisierende Eroskonzeption (Anm. 13), S. 227. Vgl. King, Pilger und Prophet (Anm. 2), S. 107.
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einer Distanzierung und Verweigerung. Stefan Kurz weist in seiner erhellenden Untersuchung zu Georges Umgang mit der Schrift nach, dass die Handschrift Georges kein gleichbleibendes Phänomen ist. Nicht nur, dass er zur selben Zeit mehrere verschiedene Handschriften verwendet: immer wieder wechselt er seinen „Schreibstil und sein StilSchreiben“.21 Georges handgeschriebene ‚Stilschrift‘ liegt erstmals in der Reinschrift des ‚Jahrs der Seele‘ vor, zu Beginn des Jahres 1897,22 und findet seitdem auch in Briefen zunehmend Verwendung. Wie entscheidend sich der Wechsel von der lateinischen Kurrent zur unverbundenen Handschrift auf Georges Briefkommunikation auswirkt, zeigt sich im Vergleich. Noch durchgehend in lateinischer Kurrent geschrieben, verfolgen die frühen Briefe andere epistolare Strategien der Herrschaftssicherung und Herrschaftsausübung als die späteren. So etwa der berühmte Bekenntnis-Brief Georges an Hofmannsthal vom 10. Januar 1892; Schuster zufolge ein rhetorisches Meisterstück charismatischer Selbstinszenierung und verdeckter Machtausübung.23 Die esoterische Briefsprache Georges bewegt sich hier kreisförmig zwischen leidenschaftlichem Geständnis und beredtem Verschweigen und kontrastiert affektiv hoch aufgeladene Redeformen mit solchen der bewussten Affektdämpfung. So mündet das Geständnis tiefer geistiger Verbundenheit, kaum dass es mit den in der Handschrift deutlich abgesetzten Ausrufen „Und endlich! wie? ja? ein hoffen – ein ahnen – ein zucken – ein schwanken – o mein zwillingsbruder –“ seinen Höhepunkt erreicht hat, in eine conclusio, in der die Gewalt der Ekstase durch das Pathos der Distanz ersetzt wird:24 ich suche zu verbeissen und ich schmähe mich dass ich redete · denn wesshalb? etwa die gemeine beruhigung nachdem man klirrende rasselnde sachen als gläser fenster vasen zerschlagen hat und desshalb will ich dass Sie mir das blatt zurückgeben oder es sofort vernichten (mit jenen versen von damals) Schweigen Sie. Sie sind der einzige der von mir solche bekenntnisse vernahm. [vgl. Abb. 1]
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Stephan Kurz: Der Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George, Frankfurt a. M. – Basel 2007, S. 62. Für diesen Hinweis danke ich Maik Bozza vom George Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Vgl. Schuster, „Kunstleben“ (Anm. 12), S. 48–53. Vgl. ebd., S. 50.
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Abb. 1: Stefan George an Hugo von Hofmannsthal, 10. 01. 1892 Abb. 1: (StGA: George II, 1958)25
Die Handschrift dieses Briefs lässt ihren späteren Wandel zur StGSchrift noch kaum erahnen. Doch fällt die sorgfältige, an die Setzung von Strophen in einem Gedicht erinnernde Gestaltung der Absätze auf. Die inhaltlich thematisierte Beherrschung und Disziplin, die den erregten, leidenschaftlichen Offenbarungen auf der zweiten Seite des Briefs im selben Atemzug Grenzen setzt, wird durch die Form der Darstellung visuell unterstrichen. Hier präsentiert sich ein Schreibender, dem die Feder kein einziges Mal entglitten zu sein scheint, der nichts durchzustreichen brauchte. Das auf der ersten Seite in Zeile drei nachträglich geschickt eingefügte „wir“ verstärkt noch diesen Eindruck des ‚Verfassens in einem Zug‘, durch den Würde, Bedeutung und Exklusivität der epistolaren Beziehung bekräftigt werden. 25 25
Ich danke der Stefan George Stiftung und dem Stefan George Archiv (= StGA) für die Unterstützung bei meinen Recherchen und für die Publikationsgenehmigung der in diesem Beitrag abgedruckten Briefhandschriften.
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II. Im Briefwechsel mit Ida Coblenz lässt sich an dem eigenwilligen Umgang mit überkommenen Mustern der Briefkultur beobachten, wie bedeutungsvoll das Zusammenspiel von Handschrift und sprachlichem Register schon in der Frühphase von Georges Korrespondenzen ist. Es handelt sich bei Georges in lateinischer Kurrent geschriebenen Briefen an Ida zweifellos um Liebesbriefe, wenn sich auch an keiner Stelle eine direkt ausgesprochene Liebeserklärung findet, es lange Schreibpausen auf beiden Seiten gibt und die Schreibenden das naheliegende Du der Anrede über Jahre hinweg geradezu ängstlich zu meiden suchen. In diesem Fall ist es nicht George, sondern Coblenz, die immer wieder Signale der Distanz und Abgrenzung aussendet. Aus anderen Quellen wissen wir, dass dieser Eindruck, den ihre Briefe an George vermitteln, nicht trügt, dass sie tatsächlich eine unüberwindliche Abneigung gegenüber seiner körperlichen Nähe und Berührung hegte,26 während sie sich 26
In einem Brief an Sabine Lepsius bekennt Ida Coblenz im Juli 1935: „Unsere
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von seiner geistigen und dichterischen Präsenz zugleich unwiderstehlich angezogen fühlte. Georges literarische Anspielungen und Briefbeilagen in Form von Gedichten und Widmungen konnte sie freilich nicht missverstehen,27 ebenso wenig wie seine Anknüpfungen an vertraute Muster der Liebesbriefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts.28 Eines davon ist die Klage über ausbleibende Briefe und die Erleichterung, wenn das Lebenszeichen endlich eintrifft. sehr werte freundin: seit vierzehn liegt schon für Sie ein mahnbrief bereit: eine verschwisterte seele meide der andern gegenüber auch den schein einer entfremdung … […] – Jedenfalls aber führt man keine so schwere verhängung aus ohne die betroffenen zu verständigen welche zweifel vermutungen grübeleien wie und warum wachsen daraus!
ermahnt George die Freundin in einem seiner Briefe, um dann erleichtert zu bekennen: „das hat nun Ihr brief glücklich beendet.“29 „Seien Sie doch mit Ihren nachrichten nicht gar so karg · an meinem bruchstückigen briefstil dürfen Sie sich kein beispiel nehmen“, bittet er in einem anderen Brief (vgl. Abb. 2), der dieses „bruchstückige“ mit einer dem Brief als gesondertes Blatt angefügten, launigen Beschreibung des von Ida Dehmel verehrten Fritz Kögel auch optisch demonstriert. Im Vergleich zu dem oben abgebildeten Brief an Hofmannsthal entbehrt die Handschrift dieses Briefes jeglicher Strenge, vermittelt durch die durch-
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Zusammenkünfte waren für mich etwas durchaus besonderes, aber es graute mir schon stundenlang vorher vor seinem Händedruck. Es war etwas Greisenhaftes in seiner Leiblichkeit […]. Das hielt ihn mir fern, so nah mir seine Kunst war.“ Und im September 1936 teilt sie derselben mit: „Nicht einmal aus reinster Opferbereitschaft hätte ich seine Lippen ertragen können. […] Keinesfalls war da Prüderie ausschlaggebend […] George war mir gerade da [im Körperlichen] und nur da erschreckend fremd und – verzeihen Sie meine Offenheit – abstoßend.“ Zit. nach Jürgen Viering: „Nicht aus Eitelkeit – der Gesammterscheinung wegen“. Zur Beziehung zwischen Stefan George und Ida Coblenz. In: Euphorion 102, 2008, S. 203–239, hier S. 221. Zur noch wenig erforschten kommunikativen Bedeutung von Briefgedichten, Gedichten als Briefbeilagen und Erwähnungen von Gedichten in Briefen vgl. den innovativen Beitrag von Dieter Burdorf (Lyrische Korrespondenzen. Überlegungen zum Verhältnis von Brief und Gedicht in der Moderne) in diesem Jahrbuch, S. 21. Vgl. Verf. / Jörg Paulus (Hg.): SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin – Boston 2013. Stefan George / Ida Coblenz: Briefwechsel. Hg. von Georg Peter Landmann und Elisabeth Höpker-Herberg, Stuttgart 1983, S. 34.
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Abb. 2: Stefan George an Ida Coblenz, 02. 07. 1892 (StGA: George II, 573).
gestrichene, noch gut lesbare Zeile am Ende eher den Eindruck einer hastig hingeworfenen Nachricht, die in der dringlichen Bitte um einen intensiveren Briefverkehr mündet. Dass diese Bitte der eigentliche Anlass für Georges Brief ist, unterstreicht die Beilegung des gesonderten Briefblattes, auf dem der wohl als Konkurrent und Nebenbuhler um die Gunst von Ida Coblenz empfundene Fritz Kögel formal aus dem Briefgespräch hinausgewiesen und durch wenig schmeichelnde Beschreibungen seines äußeren Auftretens der Lächerlichkeit preisgegeben wird (vgl. Abb. 2).30 30
Ida Coblenz hatte Anfang Mai 1892 eine Korrespondenz mit Kögel über dessen im gleichen Jahr erschienene ‚Vox humana. Auch ein Beichtbuch‘ begonnen, das sie in den folgenden Jahren zu ihren Lieblingsbüchern zählte. Sie identifizierte sich mit ‚Miss Catherine Grant‘, der Titelfigur eines Kapitels in ‚Vox humana‘, mit der Kögel an ein damals berühmtes Gemälde von Hubert Herkomer mit psychologischen Betrachtungen anknüpfte, um den „Typus des modernen Überweibes zu kennzeichnen“. Später ließ sie sich als Miss Catherine verkleidet fotografieren und schickte Kögel im September 1893 einen Abzug der Fotografie. Auch in dem Konflikt mit ihrem Vater wegen einer von ihm nicht befürworteten Heiratsabsicht ließ sie sich von Kögel beraten. Aus vorliegendem Brief lässt sich schließen, dass sie George von Kögels Lust erzählt hat, sich mit unterschiedlicher Kleidung maskiert und unerkannt unter die Menge zu mischen. Vgl. die Anmerkungen der Herausgeber in: George / Coblenz, Briefwechsel
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So selbstbewusst Ida Coblenz sich als die „erste Georgianerin“ bezeichnet und ihre Freundschaft zu George rückblickend in ein für sie günstiges Licht rückt, so unmissverständlich setzt ihre Briefsprache dem Werben Georges immer wieder Grenzen. Die Rollenzuschreibung der Schülerin und die Erhebung zur Muse und Seelenverwandten nimmt sie auf kongeniale Weise entgegen, seine erotisch anspielungsreichen Liebesbekundungen finden bei ihr jedoch kein Echo. George hofiert sie in zahlreichen Gedichten, die elementarer Bestandteil ihres Brief- und Liebesgesprächs sind, auch wenn sie kein unmittelbares Erleben festhalten.31 Das Gefühl müsse, so belehrt George die Freundin einmal, in der Kunst erst absinken, abklingen, bis es als Bild, Klang, Rhythmus wieder aufsteige32 – ein ästhetisches Programm, das auch dem aus dem 1895 im Verlag der ‚Blätter für die Kunst‘ erschienenen, drei Zyklen umfassenden Band ‚Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten‘ zugrunde liegt. Dieser Band enthält zahlreiche Gedichte, die als Liebesbriefe an Ida Coblenz zu verstehen sind. Mehr noch: Das gesamte Werk steht im Zeichen einer unbewältigten Verstörung, der wiederholten Erfahrung von Abgeschiedenheit und Vereinsamung, der Aufnahme und Auflösung von menschlichen Beziehungen.33 Es bringt in literarischer Einkleidung und historischer Maskierung zum Ausdruck, was George im Brief so keinesfalls sagen will und kann.
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(Anm. 29), S. 85–87. Vgl. dazu auch: Elisabeth Höpker-Herberg: Ida Coblenz. Zeugnisse zu ihrem George-Erlebnis. In: Ute Oelmann / Ulrich Raulff (Hg.): Frauen um Stefan George, Göttingen 2010 (= Castrum Peregrini. Neue Folge. Bd. 3, S. 85–105, hier S. 89. Vgl. dazu auch Viering, Nicht aus Eitelkeit (Anm. 26), S. 225: „[…] vielmehr sind auch diese Gedichte Rollengedichte, das Ergebnis immer neu variierter Selbststilisierungen, denen die Stilisierungen des Gegenübers entsprechen. Wenn Ida Coblenz das Liebeswerben Georges tatsächlich gar nicht wahrgenommen hat, dann deshalb, weil sie sich an dieses Rollenspiel hielt, in diesem Rollenspiel selbst so gefangen war, dass sie die Wirklichkeit gar nicht an sich heranließ.“ Vgl. den Brief vom 26. Juni 1895. In: George / Coblenz, Briefwechsel (Anm. 29), S. 52. Vgl. Maurizio Pirro: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (SW III). In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 1, Berlin – Boston 2012, S. 122–136, hier S. 130.
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In den Coblenz handschriftlich gewidmeten Gedichten aus dem ‚Buch der hängenden Gärten‘, die als Platzhalter der fehlenden Liebesrede in den Briefen fungieren, wirbt das lyrische Ich nach dem Rollenmuster der hohen Minne um Zuneigung und Hingabe. Der beklemmende Wechsel zwischen „Angst und hoffen“, das „ungestüme[] sehnen“, die Abwesenheit von „rast und schlaf“, die sexuelle Begierde nach dem „leib“ der Geliebten, die „qual“ – hier kann dies alles ausgesprochen werden, wobei zu konstatieren bleibt, dass George sich in diesen Liebesgedichten meines Erachtens nicht auf der Höhe seines lyrischen Könnens bewegt. Georges ästhetische Programmatik und Gundolfs kongeniale und bestechende Deutung der Dichtung34 vermögen trotz Rollenrede und strenger Form nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sich in den sprachlichen Bildern eine Erregung mitteilt, die auch an dem unruhigen Schriftbild sichtbar wird (vgl. Abb. 3). Ida Coblenz hat die meisten der ab dem Winter 1892 niedergeschriebenen Gedichte als Erste kennengelernt, sie im persönlichen Umgang und in ihren Briefen kongenial kommentiert. 1893 entsteht das ihr handschriftlich gewidmete Gedicht ‚Zieh mit mir geliebtes Kind‘, das, neben den ihr gleichfalls gewidmeten Gedichten ‚Blume‘, ‚Rückkehr‘, ‚Entführung‘ später ins ‚Jahr der Seele‘ aufgenommen wird. Vermutlich hat Coblenz diese Gedichte auch handschriftlich besessen.35 George erwähnt im Spätsommer 1895 in einem Brief an die Freundin erstmals den Plan zu dem 1897 in den ‚Blättern für die Kunst‘ erscheinenden Band ‚Das Jahr der Seele‘. In ihm kündigt er der mittlerweile Verheirateten eine Lebenswende an, die er an einer neuen Werkausgabe in drei Bänden sichtbar zu machen gedenkt.36 Der dritte Band, aus dem, wie er 34
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Vgl. Friedrich Gundolf: George. Erstdruck Berlin 1920. Hier in der erweiterten Auflage von 1930. Vollständige Neuausgabe. Hrsg. von Karl-Maria Guth, Berlin 2013, S. 105–124. Diese Funktion der Gedichte als Liebesbriefe sollte man nicht unbeachtet lassen. Zumindest erscheint eine davon gänzlich absehende Deutung des ‚Jahrs der Seele‘, also eine rigorose Trennung von Leben und Werk, ebenso fragwürdig, wie es deren unreflektierte Synthese wäre. Insofern kann ich Ernst Osterkamps These, dass George in diesen Gedichten „auf vollendete Weise die Auslöschung von Weiblichkeit gelinge“ und „Ida Coblenz in ihnen vollständig getilgt“ sei, nicht zustimmen. Ders., Frauen im Werk Stefan Georges (Anm. 30), S. 13–37, hier S. 30. Das Werk wurde in dieser Gliederung erst 1898 veröffentlicht, mit der Jahreszahl 1899, das ,Jahr der Seele‘ privat im Verlag der Blätter Ende 1897.
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Abb. 3: Werkhandschrift „Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte…“ (H16) Abb. 3: (StGA: George I, 0305)
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schreibt, „bereits einige stücke Ihnen zugeeignet sind“,37 soll ihre Widmung tragen. Das dafür vorgesehene, handschriftlich verfasste Widmungsgedicht liegt dem Brief in sorgfältiger Schönschrift bei. Im Unterschied zu dem zitierten Gedicht aus den ‚Hängenden Gärten‘ weist Georges Handschrift hier ein unerregtes Gleichmaß der Zeilen auf (vgl. Abb. 4). Doch die von Coblenz freudig begrüßte Widmungsabsicht wird nicht erfüllt werden,38 da es noch vor der Publikation zum Zerwürfnis kommt und George die Beziehung im November 1896 unwiderruflich abbricht. Idas Umgang mit Richard Dehmel, dessen Dichtung George verachtet und dessen Anwesenheit im Haus der Freundin er möglicherweise als Affront empfindet, mag diesen Bruch mit herbeigeführt haben.39 Es fällt indes auf, dass das Briefgespräch schon weitaus früher, nämlich nach Coblenz’ erster Heirat Störungen erfährt. Das wechselseitige Rollenspiel im Dienst der Kunst wird zunehmend schwerer, die wechselseitige Wahrnehmung im Resonanzraum von Selbstauratisierung und Selbstbespiegelung gelingt nicht mehr. Mehrfach versucht Coblenz die Beziehung auf das wiederholt zwischen ihnen zur Sprache gebrachte BruderSchwester-Verhältnis festzuschreiben, bis diese epistolare Strategie in einem dramatischen Offenbarungsbrief endgültig scheitert. Alle Schranken niederreißend, begeht sie den Fehler, George auf eine Weise zum intimen Vertrauten des Unglücks ihrer Ehe machen zu wollen, die den Angesprochenen als Mitschuldigen ihrer Missheirat erscheinen lässt: Sie kannten mich doch, ich hatte Ihnen mich gezeigt, wie vielleicht, nein, gewiß keinem Andern. Warum nahmen Sie mich nicht bei der Hand und sagten: ‚Das kannst Du nicht tragen. Der Schlamm wird über Dir zusammen schlagen und über Deinen Lilien.‘ […] Ich ersticke, ersticke im Schlamm. Es giebt für dieses Grauen, für dieses Gräßliche keine Worte, keine Farben, keine Töne. Es ist dafür nur völlige Verzweiflung, Entsetzen bis zum Wahnsinn, Wahnsinn.40 37
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Brief von Anfang September 1895. In: George / Coblenz, Briefwechsel (Anm. 29), S. 59. Das Gedicht erscheint mit leichten Abwandlungen 1896 in den ‚Blättern für die Kunst‘ III 4. Über das bewegte Kunst- und Liebesleben von Ida Coblenz-Auerbach-Dehmel informiert anregend und detailliert die lesenswerte Biografie von Matthias Wegner: Aber die Liebe. Der Lebenstraum der Ida Dehmel, München 2000; vgl. dazu auch: Kai Kauffmann: Seelenfreundin und Dichtermuse. Ida Coblenz. In: Ders.: Stefan George. Eine Biografie, Göttingen 2014, S. 57–64. Brief vom 16. Juli 1895. In: George / Coblenz, Briefwechsel (Anm. 29), S. 54.
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Abb. 4: Werkhandschrift „Widmung“ (zu ‚Das Jahr der Seele‘, H10) Abb. 4: (StGA: George I, 0404)
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Die prekäre Bundesgenossenschaft, um die Coblenz in diesem Brief wirbt, weist George schroff zurück. ‚Sie hätten sollen …‘ kann man darauf etwas erwiedern das nicht hart sei? Ich fürchte hartes zu sagen darum warten Sie bis ein gedicht vielleicht eines mit redenden personen antwortet. Soll man überhaupt vom ‚grässlichen‘ – ja ich kenne es – reden? […] Ich bewundere Sie dass es Ihrer feder gelingt sich hierüber zu verbreiten. mir gelingt es nicht.41
Dass der Brief für George kein Ort für intime Mitteilungen ist, hätte sie wissen können, dass er ihr seine Antwort in Gedichtform in Aussicht stellt, wird sie nicht überrascht haben. Doch dazu kommt es nicht mehr. Der Riss ist nicht zu kitten. Eine unerwartete Begegnung mit Dehmel im Haus der Freundin wird George zum Anlass für den Bruch. Einen verzweifelten Appell der Freundin lässt er ins Leere laufen. Ida zitiert hier aus Georges Brief vom 18. Juli die Zeile „wo wir (gewiß!) Bruder und Schwester waren erwachsen in derselben Landschaft und eng verbunden“ und appelliert, auf das unglückliche Zusammentreffen mit Dehmel anspielend, an sein Gewissen: „Aber Sie nannten mich nicht Schwester. Sie waren fremd mit mir. Kalt, spottend sogar. Was hab’ ich Ihnen gethan?“42 Die Verzweiflung tritt dem Leser in den Streichungen und Neuansätzen der Handschrift am Ende des Briefes geradezu bildlich entgegen (vgl. Abb. 5).43 Dass George sich davon nicht beeindrucken lässt, entspricht einer Unversöhnlichkeit, die auch in anderen Freundschaften zutage tritt, sobald das Charisma seiner Überlegenheit und Herrschaft ins Wanken gerät. Im Falle Idas kontert er mit der Aufkündigung des Seelenbundes auf einer Visitenkarte, die er ihr, begleitet von Karl Wolfskehl, vier Tage nach der unglücklichen Begegnung mit Dehmel in ihrem Salon persön-
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Brief vom 18. Juli 1895. In: Ebd., S. 55. Brief vom November 1896. In: Ebd., S. 62f. Welch reflektierte Rolle das Bild der Handschrift als Träger von Botschaften in dieser Korrespondenz zu spielen vermag, geht auch aus einem Brief Idas an George vom 15. Juni 1895 hervor: „Gestern, zur Zeit, als Sie die Blätter für die Kunst zu mir schickten, lag ich hier und schrieb Ihnen einen langen Brief. Aber dann erschrak ich über die ganz undeutlichen Schriftzüge, über all den wehen Jammer den ich vor Ihnen aufrollte, über das rein persönliche meines Briefes. Darum zerriß ich ihn.“ In: George / Coblenz, Briefwechsel (Anm. 29), S. 50f.
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Abb. 5: Ida Coblenz (verh. Auerbach) an Stefan George. 15. 11. 1896 Abb.5: (StGA: George III, 2328).
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lich überreicht. Auch der Bruch wird also als Ritual zelebriert, die Zugehörigkeit zum Kreis der Jünger im Beisein eines Zeugen aberkannt.44 George spielt in den kargen Zeilen bedeutungsschwer auf die oben zitierte „Darbringung der Person“ an und erklärt sie, was seine Freundschaft zu Ida betrifft, unwiderruflich für gescheitert: nur – ich bitte – schmähen Sie die freundschaft nicht. unter uns entsteht sie dadurch dass eines sein grosses und edles ins andre hineinzutragen vermag – wächst und nimmt damit ab – schwindet dann ganz wenn dem einen etwas gross und edel scheint was dem andren roh und niedrig ist. Durch Ihre worte zwangen Sie diese meinen hervor. [vgl. Abb. 6]
Die Hervorhebung des ‚uns‘ und der halbe, abgebrochene Strich unter dem Wort ‚Freundschaft‘ sind für Ida Coblenz nicht misszuverstehen. Resigniert gibt sie dies in ihrem letzten Brief an George zu erkennen, der mit einem „Leben Sie wohl“ endet: Nun hat mir der Ton Ihrer Karte bestätigt, daß mein Gefühl nicht irr ging. Ich will weder Fragen noch Vorwürfe an Sie richten. Ich glaube allmählich, daß die Menschen Freunde brauchen für sich selbst. Sie wollen nicht selbst Freunde sein. Ich will ganz still werden.45
III. Es ist kein Brief, sondern ein literarischer Text, in dem sich George kurz nach dem Bruch in durchstilisierter Rollenrede eine Rückhaltlosigkeit erlaubt, die in seinen Briefen an sie undenkbar ist. Der Text mit dem Titel ‚Ein letzter Brief‘, den Ida Coblenz rückblickend bezeichnenderweise selbst auf sich bezieht (sie lernt ihn erst 1937 in Genf kennen), erscheint 1903 in dem Band ‚Tage und Taten‘. Hier klagt George in Form eines fiktiven Brief-Ichs: Du redetest einen ganzen sommer lang von den wolgeformten wolken von den rätselhaften geräuschen der wälder und den klängen der ländlichen flöte · aber für das eine wort bist du stumm geblieben. Was ist all deine schönheit all deine begeisterung wenn du dessen unkundig bist? nicht ein wort · minder als ein hauch · eine berührung! du hast gesehen dass ich tag und nacht darauf wartete. Ich konnte es nicht sagen · ich konnte es nur in träumen ahnen · auch hätte ich es
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Zur Bedeutung des Rituals bei George vgl. die grundlegende Studie von Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997. Brief vom November 1896. In: George / Coblenz, Briefwechsel (Anm. 29), S. 63.
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Abb. 6: Stefan George an Ida Coblenz. 15. 11. 1896 (StGA: George II, 0597)
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Renate Stauf nicht sagen dürfen · da du es hättest finden müssen. So träume und handle auf deine weise – uns ist nichts mehr gemeinsam: wenn du mir nahe kommst so muss ich dich hassen und wenn ferne bist du mir fremd.46
Ich stimme Jürgen Viering zu, der konstatiert, dass diese „Rollenrede in Form eines fiktiven Briefs […] der ‚Wahrheit‘ über Georges Beziehung zu Ida Coblenz viel näher kommen“ dürfte „als seine tatsächlichen Briefe, die diese Wahrheit eher verdecken. Dieser ‚letzte‘ Brief macht es zweifelsfrei: Die Erfahrung Georges mit seiner Beziehung zu Ida Coblenz war eine im hohen Maße traumatische.“47 Interessant erscheint mir, dass das kleine Prosastück (nachdem es lange liegen geblieben war) 1903 veröffentlicht und die an die Handschrift angelehnte Drucktype ‚StG-Schrift‘ 1904 zum ersten Mal eingesetzt wird. Der Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen kann in der Verfestigung einer Schreibstrategie gesehen werden, die das zufällig Individuelle ins bedeutsame Allgemeine zu transkribieren versucht und dabei als Briefhandschrift zugleich von einer Persönlichkeit Zeugnis ablegt,48 die ihr Eigenes nicht – wie vielfach angenommen – hinter der Schrift zu verbergen sucht, sondern auch und gerade das Inszenierte als ihr Eigenes begreift und begriffen wissen will.49 Ein Brief an die Malerin Sabine Lepsius möge dies abschließend veranschaulichen. George verwahrt sich darin erneut vor der Zumutung, sein Inneres nach Außen kehren zu sollen. Seinen Freunden von den „gefährlichen abgründen“ zu berichten, die alle seine „fahrten begleiten“, erscheint ihm ein ebenso sinnloses wie unergiebiges Unterfangen:
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Stefan George: Tage und Taten. In: Ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Bd. XVII, Stuttgart 1998, S. 23. Viering, Nicht aus Eitelkeit (Anm. 26), S. 211. Vgl. Gert Mattenklott: Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970. Wolfskehl hat diesen Selbstentwurf Georges einmal treffend charakterisiert: „Es gibt kein Privatleben des Meisters. Stefan George ist fast der einzige Mensch in der dokumentierten Geschichte, der ganz und gar nur sein Werk, seine Schöpfung ist. […] Das Verschweigen und Vernichten aller Privatspuren, die nicht ins Bild eingegangen – vor allem der Briefe – ist tiefe metaphysische Notwendigkeit, nicht etwa Prüderie, Gouvernantenhaftigkeit.“ Zitiert nach Viering, Nicht aus Eitelkeit […] (Anm. 26), S. 215f.
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Ich kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommnen äussern oberherrlichkeit. was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die freunde. Mich so zu sehen wie sie mich sehen ist ihr stärkster lebenstrost. So streit und duld und schweig ich für sie mit. Ich gehe immer und immer an den äussersten rändern – was ich hergebe ist das lezte mögliche…auch wo keiner es ahnt. [vgl. Abb. 7]
Der inhaltlichen Mitteilung entsprechend vermittelt der in der bestechend regelmäßigen StG-Schrift verfasste Brief den Eindruck äußerster Disziplin und Beherrschung. Selbst dort, wo von ‚leiden‘, ‚bluten‘, ‚dulden‘, von „trostlosigkeiten“ oder vom „schlimmsten“ die Rede ist, gestattet die Handschrift sich nicht die kleinste Abweichung, hinterlässt sie keine Spuren innerer Erregung oder Erschütterung.50 Als bildliche Beglaubigung eines Brief-Ichs, das sich in der benannten „vollkommnen äussern oberherrlichkeit“ präsentiert, sich „immer und immer an den äussersten rändern“ bewegt und gerade dabei „das lezte mögliche“ hergibt, übt diese Briefschrift eine visuelle Faszination aus, die als essentieller Teil der Botschaft gedacht ist und auch so begriffen werden will. Georges Briefe sind durchweg einem inszenierten Selbstbild verpflichtet. Diese Inszenierungslust verstärkt sich in den Briefen, die ab 1904 in der zur Drucktype stilisierten Handschrift verfasst werden. Die StG-Schrift steht im Spannungsfeld zwischen Autorintention und Leserrezeption. Sie zielt auf eine „sehende Lektüre“,51 und sie ist als Schrift-Bild in gleichem Maße Bedeutungsträger wie der Wortlaut der Briefe. Sie schafft und stiftet Gemeinsamkeiten, verlangt bestimmte Lesehaltungen und Lesetechniken,52 denen George in seiner Briefkom50
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Dass handschriftliche Entwürfe zu diesem Brief erhalten sind, die ein ganz anderes Schriftbild aufweisen, zeigt, wie wichtig für George das Bild seiner Handschrift als Bedeutungsträger seiner Briefbotschaften ist. Vgl. dazu den Beitrag von Joachim Jacob (Freundschaft nebst Briefen und Bildern. Sabine Lepsius, Stefan George. Geschichte einer Freundschaft [1935]), S. 41ff. Zum Verständnis des Begriffs vgl. Rainer Falk: Sehende Lektüre. Zur Sichtbarkeit des Textes am Beispiel von Goethes „Römischem Carneval“. In: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006, S. 1–13. Vgl. Martin Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000, S. 23: „Stefan George wollte eine neue ästhetische Wirklichkeit konstruieren. Seine zur Drucktype stilisierte Handschrift diente nicht nur als Zierschrift, sondern wurde auch Repräsentantin seines geistigen Wirkens.“
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Abb. 7: Stefan George an Sabine Lepsius. 09. 04. 1905 (StGA: George II, 3122)
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munikation nachdrücklich Geltung zu verschaffen sucht. Seine Briefhandschriften machen sich die visuelle Kraft des Bildes als rhetorisches, auf decorum und Wirkung bedachtes Mittel zu nutze.53 In ihrer Vernetzung mit dem dichterischen Werk konstituieren sie einen Zwischenraum ästhetischer Praxis, in der und mit der das Leben der Schreibenden im Ritual und als Übung spezifische Formen annimmt, die es in der Briefkommunikation des Kreises noch zu entdecken gilt.
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Aus der Sicht der neueren Männlichkeitsforschung (vgl. Toni Tholen: Männlichkeiten in der Literatur. Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Bedeutung, Bielefeld 2015) stellt sich diese Selbststilisierung und Adressierungstechnik der ‚Ent-Fernung‘ als eine Gewalt dar, die ihre Wirkung im Entzug entfaltet. Wie Toni Tholen in einem Gespräch über Georges Briefkommunikation kritisch anmerkte, versteht er Georges anwesende Abwesenheit als eine Form von Hypermaskulinität im Modus des Unsichtbaren, als ein männliches Leben im Monumentalen, hergestellt im Schreibverfahren persistenter Nichtung des Anderen.
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„Wie lang es dauert den Deutschen ein wenig geschmack beizubringen.“ Stefan George und Karl Wolfskehl im Spiegel ihrer Briefe1 Karl Wolfskehl war nicht nur einer der ältesten Freunde Stefan Georges. Er war vor allem der einzige Freund aus der Frühzeit, der mit George bis zu dessen Lebensende in Kontakt blieb. Der Briefwechsel zwischen beiden, mit über 850 Briefen einer der umfangreichsten Georges, setzt früh ein: Am 16. November 1892 richtete Karl Wolfskehl seinen ersten Brief an Stefan George. Wolfskehl stand damals am Ende seines Germanistikstudiums in Gießen und war 23 Jahre alt, ein Jahr jünger als George. Beide, Wolfskehl und George, hatten am Ludwig-GeorgsGymnasium in Darmstadt das Abitur gemacht, George allerdings ein Jahr nach Wolfskehl. Beide hatten im Wintersemester 1889/90 in Berlin studiert. Doch weder während der Schulzeit noch während des Studiums lernten sie einander kennen. Erst durch seinen Gießener Freund Georg Edward kam Wolfskehl in Berührung mit Georges Dichtung. Damals, im Herbst 1892, hatte George erst zwei schmale Gedichtsammlungen vorgelegt, die ‚Hymnen‘ (Ende 1890) und die ‚Pilgerfahrten‘ (Ende 1891), die er privat hatte drucken lassen und an Freunde und Bekannte verteilte, von denen er annahm, dass sie für die Neuartigkeit seiner Dichtung aufgeschlossen waren und zu denen auch Georg Edward gehörte. George war auf der Suche nach Gleichgesinnten. Geprägt durch seine Begegnung mit Mallarmé und dem französischen Symbolismus war er davon überzeugt, die deutsche Dichtung revolutionieren zu können. Zu diesem Zweck hatte er seine Zeitschrift ‚Blätter für die Kunst‘ gegründet, mit der er „noch unbekannte ähnlichgesinnte“ auf sich aufmerksam machen wollte.2
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Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte und leicht veränderte Fassung meiner Einleitung zu: Von Menschen und Mächten. Stefan George, Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933. Hg. v. Birgit Wägenbaur u. Ute Oelmann, München 2015. Alle Zitate nach dieser Ausgabe. Blätter für die Kunst I, 1892, S. 2.
https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0002
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Wolfskehl erhielt also von seinem Freund Georg Edward die beiden Gedichtbändchen Georges, die ‚Hymnen‘ und die ‚Pilgerfahrten‘, und das erste Zeitschriftenheft der ‚Blätter für die Kunst‘. Die Gedichte begeisterten ihn, ja, Edward berichtet, dass Wolfskehl nach deren Lektüre geradezu außer sich gewesen sei. Vom Aufruf in der Zeitschrift fühlte er sich angesprochen. Und so richtete er seinen ersten Brief an George, der den Auftakt für eine Freundschaft bildete, die für beide Weichen stellen sollte. Die Dichte der zwischen Wolfskehl und George gewechselten Briefe beschreibt eine Kurve, die in den Jahren zwischen 1894 und 1901 ihren deutlichen Höhepunkt erreicht, danach wieder abfällt und Anfang der 20er Jahre gegen Null geht. An dieser Kurve lässt sich deutlich die Zeit der intensivsten Zusammenarbeit ablesen. Es waren die Jahre, in denen George noch auf der Suche nach Weggefährten war, bevor er sich um 1900 mit den öffentlichen Ausgaben seiner Werke als Autor etablierte und eine wachsende Zahl von Anhängern um sich scharte. Für Wolfskehl waren es die Jahre, bevor er in München sein ureigenes Wirkungsfeld fand. Allerdings geht aus der reinen Quantität der Briefe nicht hervor, dass ihr persönlicher Kontakt in der Münchner Zeit noch zunahm. Ab 1899 verbrachte George jährlich einige Wochen am Jahresanfang bei Wolfskehls in München. Er war ein hochgeschätzter und vielgeliebter Gast der Familie, der ein vertrautes Verhältnis nicht nur zu Karl und seiner Frau Hanna, sondern auch zu den beiden 1899 und 1901 geborenen Töchtern pflegte. Noch Jahrzehnte später sprach die Tochter Judith von George als „mein[em] Onkel Meister der mich kannte von Geburt an ja!! der mich liebhatte“.3 Diese familiäre Vertrautheit prägte insbesondere die Jahre zwischen 1900 und 1910. George und Wolfskehl waren in ihrer Überzeugung verbunden, dass das Wichtigste im Leben die Kunst sei, und, dadurch mitbedingt, in ihrer zutiefst antibürgerlichen Haltung. George hatte zeitlebens keinen festen Wohnsitz. Wolfskehl wiederum war, wenngleich in München auf großbürgerlichem Fuße lebend, eine der zentralen Persönlichkeiten der Bohème der Stadt. Schon auf dem Münchner Meldeamt hatte er 1899 seinen Berufsstand als ‚Privatgelehrter‘ angegeben. Ein solcher war er im wahrsten Sinne des Wortes: Im Laufe der Jahre erlas er sich ein exorbitantes Wissen über die deutsche und andere Nationalliteraturen 3
Judith Köllhofer an Robert Boehringer v. 28. 7. 1969, StGA.
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und daran angrenzende Gebiete, wie Kunst- und Religionsgeschichte, Ethnologie oder Archäologie. Wolfskehl war, was Literatur, Kunst und Kultur betraf, ein Universalgelehrter. Die Voraussetzung dafür war neben einem ausgezeichneten Gedächtnis auch die Möglichkeit, über seine Zeit frei verfügen zu können. Wolfskehl verschaffte sich diesen Freiraum, indem er sich standhaft weigerte, einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen. Aus den Briefen an George geht hervor, wie stark er in den Jahren zwischen Studienabschluss und Eheschließung von seiner Familie unter Druck gesetzt wurde, sich endlich für einen Beruf zu entscheiden, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Doch er, so sehr er auch unter diesem Druck litt, nahm doch lieber die finanzielle Abhängigkeit in Kauf – er stammte aus einem vermögenden Elternhaus – und versuchte, sein Ideal eines Lebens für die Kunst zu verwirklichen. Tatsächlich hatte Wolfskehl, wie aus den Briefen hervorgeht, ein gutes Verhältnis zu seinem Vater und zur Stiefmutter, die ihm nie die Geldmittel entzogen. Nach seiner Heirat gewährten sie ihm schließlich einen festen Unterhalt – der ließ zwar keine großen Sprünge zu, erlaubte der jungen Familie aber einen angemessenen Lebensstil. Die äußere Unabhängigkeit ermöglichte Wolfskehl endlich, wovon er immer geträumt hatte: ein Leben für die Kunst zu führen. Er wurde zu dem, als der er in die Literatur- und Kulturgeschichte einging und in zahlreichen Erinnerungsbüchern der Epoche beschworen wird: der vielfache Multiplikator, der Mittelpunkt der Münchner Kunstszene, der „‚Schwabinger Zeus‘“4 und vor allem der Wegbereiter Stefan Georges und seiner neuen Kunst in München. Seit dem Herbst 1893, als George und Wolfskehl sich zweimal wöchentlich in Münchner Cafés zu intensiven Gesprächen trafen, konnte sich George sicher sein, dass Wolfskehl seine Kunstauffassung teilte. Einige Stichpunkte über sein Kunstwollen diktierte George unter der Überschrift „Kunst für die Kunst“ auch Hanna Wolfskehl: „Es handelte sich darum einmal in Einer Sache (hier der Kunst) zu verwirklichen: das Runde Vollkommene nach allen Seiten Richtige Aus und Durchgebildete Gleichgewichtige […]“. Unter Hannas Zeilen notierte George handschriftlich: „Dies zu erreichen in Kunst setzt ein Leben voraus“ (StGA). Aus dem künstlerischen Vollkommenheitsstreben begründet sich der kategoriale Vorrang des Kunstwerks gegenüber allen anderen 4
Rolf von Hoerschelmann: Leben ohne Alltag, Berlin 1947, S. 122 und S. 128.
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lebensweltlichen Rücksichten, seien diese materieller oder anderer Art. An dieser klaren Wertigkeit orientierte sich George sein Leben lang und setzte eine solche Orientierung auch bei Wolfskehl voraus. Wolfskehls Auffassung von Kunst und Künstlertum war wesentlich von der Romantik geprägt. Georges Schaffen begriff er als konkrete Erfüllung romantischer Kunstsehnsucht (Brief 347). Seine von Novalis herkommende Vorstellung, dass „die Kunst als Priestertum gefasst […] ein Enteignen des Selbstes verlangt“ (Brief 84), weist schon 1895 auf die Kosmik voraus. Wenige Jahre später, beeinflusst von Bachofens Matriarchatstheorie und Nietzsches Philosophie des Rausches, interpretierte er dann die Romantik als „inbrünstige Blutflamme“ kosmisch um (Brief 347). Wolfskehl war und blieb ein Mystiker, ein Dionysiker, der nicht nur mit Rauscherfahrungen verschiedenster Art experimentierte, sondern sich auch theoretisch in Publikationen mit der „Metaphysik des Rausches“ auseinandersetzte. Wolfskehls Ästhetik und sein Selbstverständnis waren untrennbar miteinander verbunden. Während Wolfskehl sich also als eine Art Dionysos begriff, war George für ihn zeitlebens der poeta vates, der Dichter-Priester und Seher. Er stilisierte George zum Künstler par excellence, zu einem Wesen, das Göttliches und Menschliches, Ewiges und Zeitliches in sich vereinigt (Brief 236). Mit seinem stark (kunst)religiös überhöhten GeorgeBild prägte Wolfskehl maßgeblich die öffentliche Wahrnehmung des Dichters und wohl auch dessen eigenes Selbstverständnis. Georges Selbststilisierung und Wolfskehls Zuschreibungen können kaum voneinander getrennt werden und stehen in einem engen Wechselbezug zueinander. In fragloser Anerkennung seiner künstlerischen Meisterschaft bezeichnete Wolfskehl George schon Ende 1895 erstmals als „meinen Meister“ (Brief 90). Wenngleich der Begriff ‚Meister‘ damals schlicht ein Ausdruck der Anerkennung war, mit dem auch George von ihm geschätzte Künstler ansprach – etwa Melchior Lechter –, so verlieh Wolfskehl ihm doch durch die Verbindung mit dem Possessivpronomen eine spezifische Bedeutung. Lange vor Friedrich Wolters’ ‚Herrschaft und Dienst‘ von 1909 verstand er seine Beziehung zu George als ein Meister-Schüler-Verhältnis, in dem die Rollen klar verteilt waren. Gleichzeitig versuchte er damit aber auch, sich einen Freiraum zu erwirken. So rechtfertigte er etwa gegenüber George seinen Umgang mit unliebsamen Zeitgenossen, etwa mit den von George verabscheuten Richard Dehmel oder Detlev von Liliencron, damit, dass die Regeln, denen sich
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die ‚Olympier‘ – also George – unterwerfen müssten, nicht für die ‚dii minorum‘ – also ihn selbst – gelten würden. Diese listige Hintertür ließ George jedoch nicht gelten. Kategorisch forderte der: „Hier soll es keine verträglichkeit geben“ (Brief 103). In Sachen Kunst gab es für George keine Ausnahmen. Nur durch Abgrenzung konnte er seine eigene dichterische Bewegung konturieren. Während Wolfskehl die Unterscheidung zwischen Priester und Gemeinde auf die Kunstreligion übertrug – „Sie müssen im Tempel verweilen – lassen Sie uns doch draußen schwärmend Kunde bringen“ (Brief 104) –, setzte George voraus, dass Wolfskehl sich als ‚Gleichgesinnter‘ auch dem gleichen Verhaltenskodex zu unterwerfen habe. Was er später von allen seinen Anhängern erwartete – die Befolgung seiner Regeln als Distinktionsmerkmal für die Zugehörigkeit zum ‚Kreis‘ –, formulierte er in der Auseinandersetzung mit Wolfskehl zum ersten Mal. Im Kampf um die Durchsetzung ihres gemeinsamen Kunstideals behandelte George Wolfskehl als Ebenbürtigen – und als Freund. Allein die Anreden und Abschiedsformeln der Briefe, mit denen er Wolfskehl über viele Jahre lang als ‚mein lieber Freund‘ oder ‚lieber Karl‘ begrüßte und sich von ihm ‚in herzlicher Gesinnung‘ verabschiedete, veranschaulichen dies. Und doch: Die Briefe, die George und Wolfskehl miteinander wechselten, sind in allererster Linie Geschäftsbriefe in dem Sinne, dass sie um das gemeinsame Thema Kunst kreisen. Tatsächlich klammern sie Nur-Privates aus, so etwa Wolfskehls Frauenbeziehungen. Wobei George durchaus in Intimstes eingeweiht war. Aber eine offene Behandlung solch delikater Themen fand ausschließlich mündlich statt. Umgekehrt kommt auch Georges Privatleben in den Briefen nie zur Sprache. Mit ähnlicher Diskretion wird auch anderes behandelt. Im Briefwechsel werden Namen fast durchgehend abgekürzt, Sachverhalte oft nur angespielt und deren Erörterung auf die mündliche Mitteilung verschoben. George und Wolfskehl spannten sich damit wechselseitig auf die Folter. Drängte Wolfskehl einerseits: „Lieber lieber Meister daß Sie mir doch einmal unverhüllt redeten! Sie raunen stets von großen Seltsamkeiten und überraschenden Wendungen die sich tätigen und lassen mich schmachten“ (Brief 181), so verklausulierte er andererseits selbst: „Von Neuigkeiten wären Seltsamste zu erzählen doch nur in Ihrer Seele geheimste Gänge hinein – selbst der Feder wag ich nicht alles zu vertrauen“ (Brief 367). Das Spiel mit kryptischen Andeutungen und Mys-
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tifizierungen führte gelegentlich sogar zu Verständnisschwierigkeiten zwischen beiden. Als Wolfskehl einmal nicht erriet, welche Person George gemeint hatte, reagierte dieser unwirsch mit dem pauschalen Vorwurf: „Sie der mensch der tausend geschicke vergessen leicht ein tausendeinstes“ (Brief 212). Die Temperamentsunterschiede zwischen beiden waren eben doch erheblich. Sie führten auch in anderer Hinsicht des Öfteren zu Spannungen, wenn nämlich Wolfskehl geschäftliche Aufträge zur Unzufriedenheit Georges ausführte: die akribisch buchhalterische Distribution der ‚Blätter für die Kunst‘ oder genaues Korrekturlesen waren seine Sache nicht. Gerade auf dieser ganz konkreten Ebene spiegelt der Briefwechsel minutiös die Zusammenarbeit der Beiden wider. Diese begann damit, dass Wolfskehl seit dem Frühjahr 1894 eigene dichterische Beiträge für die ‚Blätter für die Kunst‘ lieferte, deren beständigster Mitarbeiter er in den nächsten 25 Jahren wurde. Häufiger konkreter Anlass für die Briefe sind daher Wolfskehls Beiträge für die ‚Blätter‘. Zugleich veranschaulicht der Briefwechsel, wie George mit Wolfskehls Unterstützung daran arbeitete, den eigenen Namen und die eigene dichterische Bewegung in der literarischen Öffentlichkeit zu lancieren. Wolfskehl trat durch verschiedene Aufsätze als Georges Sprachrohr auf. So mit seinen drei George-Aufsätzen in der ‚Allgemeinen Kunst-Chronik‘ 1894, im ‚Darmstädter Tagblatt‘ 1898 und im ‚Pan‘ 1899, mit denen er das Bild Georges in der literarischen Öffentlichkeit maßgeblich prägte. Auch bei Georges Verlagssuche spielte Wolfskehl eine Rolle, empfahl er ihm doch Max Spohrs Verlag ‚Kreisende Ringe‘ oder beriet ihn bei den Verlagsverhandlungen mit Georg Bondi. Schon sehr früh, gleich nach den ersten persönlichen Treffen in München im Herbst 1893, tritt Wolfskehl in den Briefen als derjenige hervor, als der er sich für George bewähren sollte: als Berichterstatter über aktuelle literarische Ereignisse. Über alles, was für George von Interesse sein könnte, hielt er ihn auf dem Laufenden: erste Regungen von Zeitschriftenneugründungen, Zeitschriften- und Zeitungsartikel von Nachahmern, Geistesverwandten oder Widersachern, Klatsch und Tratsch des literarischen Feldes – von allem wusste Wolfskehl auf seine unnachahmlich rhapsodische Weise zu berichten. So spiegeln seine Briefe die zeitgenössische Literatur- und Kunstszene plastisch wider, seien es die Anfänge der epochemachenden Zeitschrift ‚Insel‘ oder die Entstehung der Darmstädter Künstlerkolonie. Wolfskehls von ihm selbst so genannter ‚Menschenhunger‘ prädestinierte
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ihn, ein Netzwerker der ersten Stunde zu sein. Auf die wichtige Funktion, die er damit für George hatte, verweist Wolfskehl selbstbewusst in seinem Gedicht „Der Meister“, in dem er diesen, also George, sagen lässt: „Euch dank ich mein WISSEN: mir danket den WEG!“5 Umgekehrt apostrophierte auch George Wolfskehl als den „horcher de[n] wisser von überall / Ballwerfer mit sternen in taumel und tanz / Der fänger unfangbar“.6 Ihr gemeinsames Ziel in der Kunst lässt sich – in Georges Worten – auf die stark vereinfachte Formel bringen: „den Deutschen ein wenig geschmack beizubringen“ (Brief 131). Stilbildend sollte dabei Georges Dichtung wirken. Das ausführende Organ waren die ‚Blätter für die Kunst‘. Zusammen arbeiteten George und Wolfskehl seit Mitte der 1890er Jahre daran, den „kreis der Wissenden“ zu vergrößern (Brief 148). So gab George Wolfskehl 1896 Empfehlungen nach Berlin mit, die ihn bei seinen Freunden – Melchior Lechter, Ida Auerbach, Reinhold und Sabine Lepsius – einführten. Umgekehrt brachte auch Wolfskehl geeignete Freunde und Bekannte zu George. Die wichtigsten der von ihm vermittelten Kontakte waren zweifellos die mit Friedrich Gundolf und Norbert von Hellingrath. Vor der Kosmikerkrise ging Wolfskehl noch davon aus, dass sich in München ein eigener Kreis von GeorgeAnhängern konstituiert habe, zu dem er neben sich auch Ludwig Klages, Alfred Schuler, Max Dauthendey und Henry von Heiseler rechnete (Brief 343). Später begriff er sich als alleinigen Statthalter Georges in München (Brief 516). In den Jahren zwischen 1904 und 1910 trat zunehmend Hanna Wolfskehl als Korrespondenzpartnerin in den Vordergrund. In ihren Briefen berichtete sie einerseits stellvertretend für ihren Mann vom kulturellen Leben Münchens – mit Anna Maria Derleth oder Addy Furtwängler etwa war sie gut befreundet –, dann erzählte sie auch vom Treiben ihres Mannes, ob er z.B. fleißig sei und schreibe, oder auch von besonderen Vorfällen, so, als Wolfskehl sich im Januar 1906 versehentlich in den Oberschenkel schoss, weil er aus Angst vor Angriffen der ‚Kosmiker‘ immer einen geladenen Taschenrevolver mit sich führte. Indem sie 5
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Karl Wolfskehl, „Der Meister“, in: Ders.: Gesammelte Dichtungen, Berlin 1903, S. 131. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. IX, S. 48 (Strophe aus ‚Geheimes Deutschland‘).
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George über Wolfskehls Leben und Arbeiten auf dem Laufenden hielt, trug sie dazu bei, dass deren Freundschaft lebendig blieb und die beiden sich aufgrund des selteneren Briefkontakts nicht zu weit voneinander entfremdeten. Möglicherweise übernahm Hanna Wolfskehl diese vermittelnde Rolle ganz bewusst. Ihre Tochter Judith sprach viele Jahre später einmal von der „grossen und klugen Menschlichkeit“ ihrer Mutter, mit der diese „immer alle Wogen zu glätten“ gewusst habe.7 Daneben kreisen Hannas Briefe um den häuslichen Bereich, sie flicht Anekdoten aus dem täglichen Leben ein oder erzählt auch einmal einen Traum, wenn dieser ihr wichtig erscheint. Hanna ging es nicht zuletzt darum, George brieflich zu unterhalten, so etwa mit dem vorwitzigen Kommentar der knapp vierjährigen Tochter Renate über Melchior Lechters Bild ‚Die Weihe am mystischen Quell‘, auf dem ein stilisierter Stefan George in langem Gewand dargestellt ist.8 Hanna erzählt: „neulich als ich in der Bücherei geräumt und grade das Heft der hessischen Zeitschrift – mit dem grossen Lechterbild hielt – kam Nazzel [also Renate] daher und ich zeigt ihrs & denk ob sie wohl in der Gestalt des Künstlers die Ihre erkennt. Sie schaut schlau & lacht und ich sag: nun wer ist das & deut auf die knieende Figur. Nazzel öffnet den Mund und zögert – so als ob sie schon alles weiss und sagt schliesslich: Tante Meister! Ohm und Gewandung ist gut in eins gefügt – nicht? […] Möge Sie’s lächern“ (Brief 514). Solche Anekdoten spiegeln die Vertrautheit zwischen Hanna und George wider. In ihren Briefen bezeichnete sie sich regelmäßig als ‚Squaw‘, schlüpfte damit spielerisch in eine Rolle, die offenbar auf eine Begebenheit während eines München-Aufenthalts Georges zurückging. Hannas Briefe zeichnet ein ganz eigener Ton aus. Ihre Eigenart, alle ‚unds‘ durch ‚&‘-Zeichen und die meisten Kommata durch Bindestriche zu ersetzen, verleiht ihren Schreiben eine gewisse Atemlosigkeit: So entsteht der Eindruck von Unmittelbarkeit. Auch die Wortwahl – sie verwendet gerne dialektale Ausdrücke – und die teils etwas unorthodoxe Orthographie unterstützen diesen Eindruck: Hannas Briefe sind beste Beispiele für inszenierte Mündlichkeit und eine 7 8
Judith Köllhofer an Georg Peter Landmann v. 26. 1. 1980, StGA. Das Oktoberheft der in Darmstadt verlegten Zeitschrift ‚Deutsche Kunst und Dekoration‘ 13 (1903) brachte neben Georg Fuchs’ Beitrag ‚Melchior Lechters Pallenberg-Saal‘ (S. 22–27) als Beilage auch eine Abbildung von Lechters ‚Weihe am mystischen Quell. Nach der Heliogravüre des Gemäldes im Pallenberg-Saale des Kunstgewerbe-Museums zu Köln‘(S. 2f.).
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ebenso bewusst inszenierte Weiblichkeit. Dieser weiblichen Rolle entsprechend versorgte sie George denn auch mit Kinderbildern und mit Geburtstagskuchen bzw. den von ihm geliebten Feigen. Doch war sie auf diese Rolle nicht festgelegt: So schickte sie etwa George auch einmal anonym ein eigenes Gedicht, um seine Reaktion zu testen, oder klagte über ihre Einsamkeit zu Hause, wenn Karl mit tausend anderen Leuten redete, aber für sie keine Zeit mehr fand. Hannas Briefe veranschaulichen somit den Spagat, den sie als Frau an der Seite Karl Wolfskehls vollführte, zwischen Bürgertum und Bohème, zwischen Haushalt und Erziehung der Töchter einerseits und der Teilhabe am Künstlerleben ihres Mannes andererseits. Wie Karl fühlte sich auch Hanna zum engsten Kreis um George gehörig, sah hier über Jahre den Mittelpunkt ihres Lebens. So anders Hannas Briefe als die Karl Wolfskehls sind, so ähneln sie sich doch in einem: in ihrer Auffassung des Briefes als Gesprächsersatz. Zum Leidwesen von Wolfskehls Briefpartnern resultierte daraus auch die Flüchtigkeit seiner Schrift, deren Schwerlesbarkeit von allen, die jemals Briefe von ihm empfingen, beklagt wurde. George bat wiederholt, dass Wolfskehl in seinen Briefen doch so ordentlich schreiben möge wie in seinen Manuskripten für die ‚Blätter für die Kunst‘, die als Druckvorlagen verwendet wurden (Brief 437). Alle Ermahnungen zeigten jedoch kaum eine Wirkung, außer dass bei besonders wichtigen Anlässen Hanna das Schreiben übernahm. Dass Wolfskehl den Aufforderungen, deutlicher zu schreiben, nicht nachkam, muss George als Zumutung empfunden haben. Über Gundolf ließ er in späteren Jahren mitteilen, dass er „höchstens 10–15 Minuten auf eines Schreibens Lektüre verwenden könne“ (Brief 346). Es ist anzunehmen, dass ein langsameres – und damit deutlicheres – Schreiben Wolfskehls Mitteilungsdrang eingeengt hätte. Er verfasste seine Briefe, wie er sprach, und fand so zu dem ihm eigenen expressiven Briefstil. Karlhans Kluncker, der Herausgeber des Briefwechsels zwischen Wolfskehl und Friedrich Gundolf, rechnet Wolfskehl zu den „bedeutendsten Briefschreiber[n] der Epoche“.9 Ganz anders George, der von sich selbst sagte, dass der Brief gerade kein Medium für ihn sei, wörtlich: „das schreiben ist nicht meine art der mittei9
Karlhans Kluncker, Karl Wolfskehl als Briefschreiber, in: Karl Wolfskehl Kolloquium. Vorträge – Berichte – Dokumente. Hg. v. Paul Gerhard Klussmann in Verb. mit Jörg-Ulrich Fechner u. Karlhans Kluncker, Amsterdam 1983, S. 177.
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lung“ (Brief 281). Sowohl der oft geringe Umfang als auch der knappe Stil seiner Briefe lassen erkennen, dass George in ihnen vor allem ein Mittel sah, um sachliche Nachrichten zu übermitteln, Geschäftliches auszutauschen, Verhaltensanweisungen zu geben oder Termine zu vereinbaren. Darüber hinaus gab es für ihn keinen Anlass zum Schreiben. Er reagierte vielmehr konsterniert, wenn Wolfskehl die Seltenheit seiner Briefe beklagte, antwortete darauf: „Oder sollen wir uns von ‚ansichten‘ schreiben? wir die so lang im jahr getrennten mit unsren immer wechselnden welten!“ (Brief 389) Nur sehr gelegentlich erlaubte sich George eine dezente Anspielung auf sein eigenes Befinden (Brief 297, 515). Kluncker setzt Georges Briefe in einen klaren Gegensatz zu denen Wolfskehls: Wolfskehls Überschwenglichkeit im Brief steht die spröde Kargheit der Briefnachricht Georges gegenüber. […] Wo die Briefe Georges gerade die Abwesenheit einer natürlichen Gesprächssituation zum inneren Prinzip erheben, suggerieren Wolfskehls Briefe eben diese Situation und entwickeln daraus einen eigenen Prosastil des Briefes.10
Wolfskehls Briefe leben von literarischen Anspielungen, Neologismen, Romantizismen und biblischer Metaphorik. Sein Wortwitz ist unerschöpflich, wenn es um die Verballhornung von Gegnern aus der schreibenden Zunft geht: Otto Julius Bierbaum figuriert etwa als ‚Biergebaumel‘, Hermann Bahr wird zum ‚Bahrbar‘, Richard Dehmel zum Pankower Gemächte. Deftige Vergleiche scheut Wolfskehl nie. Nun ist Lästern ja einfacher als Loben. Wolfskehls außerordentliche Sprachgewalt zeigt sich daher besonders in der Variationsbreite seiner Verehrungsbekundungen: Ab 1897 erneuerte er in jährlichen Geburtstagsbriefen seinen Treueschwur gegenüber George. Hier oder wenn er das Erscheinen neuer Werke Georges feiert, gewinnen seine Briefe einen hochtonigen Duktus hymnischen Preisens, ohne dass ihr Superlativismus jemals redundant werden würde. Die Literarizität von Wolfskehls Briefen ist augenfällig. Sie zählen zum Kernbereich seines Werkes und lassen erahnen, wie sehr dieses ‚Gesprächsgenie‘ andere in seinen Bann gezogen haben muss. Die Korrespondenz spiegelt die sich wandelnde Beziehung zwischen George und Wolfskehl wider. In den ersten zehn Jahren, der Zeit ihrer engsten Zusammenarbeit, herrscht eine große Ausgewogenheit im Verhältnis zwischen den Freunden, auch wenn 10
Ebd., S. 186.
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George als ‚Meister‘ immer der Tonangebende ist. Eine Veränderung tritt spätestens ab 1910 ein. Wolfskehls Briefe werden kürzer, die Verehrungsbekundungen ausgeprägter. Die beiden Freunde begegnen sich nun nicht mehr auf Augenhöhe. In den 20er Jahren stoppt der Brieffluss fast gänzlich. In den letzten 10 bis 15 Jahren lebten George und Wolfskehl mehr oder weniger in unterschiedlichen Welten. Der Briefwechsel endet mit erschütternden Briefen Wolfskehls, als dieser 1933 George in Minusio um ein letztes Treffen anflehte – und nicht erhört wurde.
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Freundschaft nebst Briefen und Bildern – Carl August Klein, ‚Die Sendung Stefan Georges‘, und Sabine Lepsius, ‚Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘ (1935)1 „so sind sie wenigstens unangetastet, für sich.“2
I. Briefe edieren 1935 Am 5. November 1927 teilt die Berliner Malerin Sabine Lepsius Friedrich Wolters, der sich brieflich bei ihr nach Erinnerungen an Stefan George erkundigt hatte, mit: Ich freue mich natürlich sehr Ihnen mit Daten u. Tatsachen helfen zu können. – Sie dürfen mir aber nicht grollen, wenn ich Ihnen sonst nichts erzählen kann. Es wird Ihnen dadurch verständlich werden daß ich meine eigenen u. selbständigen Erinnerungen an Stefan George geschrieben, wenn auch noch nicht ganz vollendet habe. Sie werden nicht erscheinen. – wenigstens nicht so lange ich lebe […].3
Es sollte anders kommen. Im Mai / Juni 1935 und damit sieben Jahre vor ihrem Tod veröffentlicht Lepsius ihre Erinnerungen an Stefan George unter dem Titel ‚Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘ im Berliner Verlag ‚Die Runde‘. Es sind „eigene[] u. selbständige[] Erinnerungen“, die Lepsius eineinhalb Jahre nach dem Tod Stefan Georges publiziert. Sie bestehen auf einem eigenen Bild Georges und treten damit selbstbewusst neben Friedrich Wolters inzwischen erschienene Biographie ‚Stefan George und die Blätter für die Kunst‘.4 1
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Ich danke der Stefan George Stiftung für die Abdruckerlaubnis der im Folgenden zitierten Archivmaterialien und verwendeten Abbildungen. Edith Landmann an Robert Boehringer, Kiel, 4. 7. 1935, StG Archiv, E. Landmann II, 1136. Sabine Lepsius an Friedrich Wolters, Berlin, 5. 11. 1927. Zitiert nach: Ute Oelmann: Das Malerehepaar Lepsius und Stefan George. In: George-Jahrbuch 3 (2000/2001), S. 22–33, hier S. 23. Zum Hintergrund der Anfrage von Wolters siehe ebd. Vgl. Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930. Sabine Lepsius und ihrem Mann Rein-
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Angesichts der engen historischen Verbindung von Briefkommunikation und Freundschaftspflege ist es nicht unbedingt überraschend, dass Sabine Lepsius ihrem Erinnerungsbuch neben elf, von Reinhold Lepsius aufgenommenen, Porträtfotos Georges auch zwölf Briefe Stefan Georges beigab (darunter einen mit einer Gedichteinlage). Aus der Perspektive des George-Kreises jedoch war diese Veröffentlichung von Briefen wie auch der Fotografien äußerst ungewöhnlich, ja, eine Provokation. Nur wenige Wochen vor Erscheinen ihres Buches hatte Sabine Lepsius am 7. April 1935 telegrafisch bei dem auf Reisen befindlichen Robert Boehringer als „Verwalter des Nachlasses des Verewigten“ um die Erlaubnis nachgesucht, für ihr Buch „ein oder zwei ganze Briefe faksimilieren zu lassen“ (einige Tage später ist von ‚einigen‘ Briefen die Rede). Am 24. April wurden Lepsius von Boehringer schriftlich „Abdruck und Faksimile nach Ihrer Auswahl“ gestattet.5 Als dieser jedoch wenig später sah, dass seine etwas vage formulierte Abdruckgenehmigung offensichtlich sehr großzügig ausgelegt worden war, teilte er Lepsius mit, „daß ich über dieses Vorgehen betroffen bin, ja daß ich mich dadurch getäuscht fühle“.6 Lepsius antwortete umgehend: „Ich bin –
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hold Lepsius widmet Wolters auf S. 121ff. eine längere Darstellung, die eigens zu besprechen wäre. Nach Oelmann ist Lepsius’ Motiv für die Veröffentlichung der Wunsch, eben diese Darstellung Wolters’ zu korrigieren. Vgl. Oelmann, Malerehepaar Lepsius (Anm. 3), S. 24. Über die gleichwohl nicht unkomplizierte Drucklegung, Lepsius konnte nur eine deutlich gekürzte Fassung ihres Buches publizieren, die in Gestalt von Ernst Morwitz gleichsam unter direkter Aufsicht des George-Kreises zustande gekommen war, informiert Annette Dorgerloh: Das Künstlerehepaar Lepsius. Zur Berliner Porträtmalerei um 1900, Berlin 2003, hier S. 230–232. Annette Dorgerloh erwägt als Anregung für Lepsius auch das Erinnerungsbuch von Lou Andreas-Salomé an Rainer Maria Rilke (beide waren auch im Salon von Lepsius zu Gast), Lou Andreas-Salomé: Rainer Maria Rilke, mit acht Lichtdrucktafeln, Leipzig 1928, vgl. Annette Dorgerloh: „Sie war wenigstens amüsant“. Sabine Lepsius und Stefan George – eine Freundschaft sans phrase? In: Ute Oelmann / Ulrich Raulff (Hg.): Frauen um Stefan George, Göttingen 2010 (= Castrum Peregrini, N.F. 3), S. 105–116, hier S. 112. Im Hinblick auf den Umgang mit Briefen und Fotografien unterscheidet sich das Buch von Lepsius allerdings sehr deutlich von Andreas-Salomés konventioneller Präsentation. Zitiert nach der Abschrift der diesbezüglichen Korrespondenz in StG Archiv, B. Stauffenberg III, 1484a und 1490a. Robert Boehringer an Sabine Lepsius, Genf, 24. 6. 1935, StG Archiv, B. Stauffenberg III, 1490a.
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ich kann es nicht anders ausdrücken – beschämt durch Ihren Brief, und bitte nur das Eine, mir glauben zu wollen, dass ich Sie völlig unbewusst ‚getäuscht‘ habe.“7 Drei Monate später schlägt Boehringer eine Art ‚Wiedergutmachung‘ vor: „Da daran [an der Publikation der Briefe; J. J.] für diese erste Auflage ja nun nichts mehr zu ändern ist, möchte ich Ihnen nahelegen, Ihren guten Willen dadurch zu beweisen, dass Sie mir je zwei photographische Abzüge der reproduzierten Aufnahmen überlassen.“8 Das eigene Projekt einer umfangreichen „Ikonographie“ Stefan Georges lässt Boehringer dabei nun allerdings seinerseits unerwähnt.9 Eine der „reproduzierten Aufnahmen“ wird dann tatsächlich in den ‚Tafelband‘ eingehen, den Boehringer seiner später veröffentlichten George-Monographie ‚Mein Bild von Stefan George‘ (1951) an die Seite stellt.10 Die von Lepsius auf diesem Wege veröffentlichten Briefe waren, wie es scheint, die ersten überhaupt veröffentlichten Briefe Stefan Georges. An zwei weiteren Orten erscheinen im selben Jahr 1935 noch Briefe Georges in der Öffentlichkeit. Ida Dehmel (geb. Coblenz), die enge Freundin Georges aus der Binger Zeit, publiziert in zwei Artikeln ‚Der junge Stefan George‘ für das ‚Berliner Tageblatt‘ vom 1. und 2. Juli 1935 einen Brief Georges vollständig, aus zwei weiteren größere Abschnitte,11 und schließlich gibt auch der Mitarbeiter der frühen Jahre und Herausgeber der ‚Blätter für die Kunst‘, Carl August Klein, seinen Erinnerungen an George: ‚Die Sendung Stefan Georges‘, drei George-Briefe im 7
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Sabine Lepsius an Robert Boehringer, Freiburg / Br., 28. 6. 1935, StG Archiv, B. Stauffenberg III, 1491a. Robert Boehringer an Sabine Lepsius, Genf, 22. 9. 1935, StG Archiv, B. Stauffenberg III, 1497a. So wiederholt im Briefwechsel mit Berthold von Stauffenberg. Vgl. Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. 2 Bde., Düsseldorf – München 21967 (1951), Bd. 2, Tafel 58. Boehringers Darstellung, ebd., Bd. 1, S. 84, erweckt den Eindruck, als ob auch die George-Fotografien auf Tafel 57 in Lepsius’ Buch enthalten seien, dies ist nicht der Fall. Vgl. Ida Dehmel: Der junge Stefan George. Aus meinen Erinnerungen. In: Stefan George und Ida Coblenz, Briefwechsel. Hg. von Georg Peter Landmann und Elisabeth Höpker-Herberg, Stuttgart 1983, S. 77–84. Auch Dehmel muss sich daraufhin mit Robert Boehringer wegen Verletzung des Urheberrechts auseinandersetzen, siehe dazu Elisabeth Höpker-Herberg: Ida Coblenz. Zeugnisse zu ihrem George-Erlebnis. In: Oelmann / Raulff (Hg.), Frauen um George (Anm. 4), S. 85–102, hier S. 97f.
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Faksimiledruck und zwei Fotografien bei.12 Stellt Ida Dehmels Veröffentlichung einen eigenen, höchst brisanten Fall dar, der hier außer Betracht bleiben soll,13 ist auch die Art und Weise, in der Sabine Lepsius und Carl August Klein die von ihnen publizierten Briefe und Fotografien Stefan Georges präsentieren und kontextualisieren, sehr unterschiedlich und für die Briefkultur in und um George aufschlussreich. Dies sei im Folgenden genauer dargestellt und analysiert. II. Carl August Klein, ‚Die Sendung Stefan Georges‘ ‚Die Sendung Stefan Georges. Erinnerungen von Carl August Klein‘ ist ein schmales Bändchen von 78 Seiten, das, etwas zugespitzt formuliert, vor allem die Erinnerung an die eigene Bedeutung als „Mitstreiter“ und „Herold“ des jungen George bewahren soll, welcher Klein einst zum „ihm allzeit verbundenen Freunde“ auserwählt habe.14 Kleins Erinnerungsbuch erscheint – in hellblauem Pappeinband mit orangefarbener Majuskelschrift – ebenfalls in Berlin, in der 1926 von Viktor Otto Stomps und Hans (Jean) Gebser gegründeten ‚Rabenpresse‘, die sich als Verlag für Neuentdeckungen und Ungewöhnliches verstand.15 Mit einer Fotografie, gänzlich unterschieden von den sonstigen Gepflogenheiten bei Publikationen aus dem George-Kreis, war bereits der Schutzumschlag des Buches versehen (Abb. 1). Die, mit den Worten Robert Boehringers, „sonderbare Aufnahme aus dem Jahre 1892“, dem Gründungsjahr der ‚Blätter für die Kunst‘, zeigt „die beiden Freunde stehend in Mantel und Zylinder“.16 Die Fotografie erscheint im Buch noch einmal als ganzseitige Reproduktion neben dem Titelblatt und 12
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Carl August Klein: Die Sendung Stefan Georges. Erinnerungen von Carl August Klein, Berlin 1935. Siehe dazu den Aufsatz von Elisabeth Höpker-Herberg (Anm. 11). Klein, Sendung (Anm. 12), S. 17. Aufgrund seines bibliophilen Engagements in der Ausstattung vieler seiner Bücher wird ‚Die Rabenpresse‘ zum Vorläufer und Vorbild der späteren ‚Miniund Handpressen‘-Verlage. Siehe dazu Hendrik Liersch: Die fast vollständige Geschichte der Rabenpresse. Aus Anlaß der Ausstellung im Foyer der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin vom 26. September bis zum 30. November 2007, Berlin 2007 (= Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 44), Kleins Buch ist verzeichnet ebd. S. 55 (Nr. 78). Boehringer, Mein Bild (Anm. 10), Bd. 1, S. 37; die Fotografie ist in Bd. 2 auf Tafel 36 wiedergegeben.
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Abb. 1: Carl August Klein: Die Sendung Stefan Georges. Erinnerungen von Carl August Klein, Berlin 1935, Schutzumschlag
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unterstreicht damit ein weiteres Mal die Zusammengehörigkeit eines Paares, das 1935 schon lange Geschichte ist.17 Genau in der Buchmitte findet sich eine weitere, nun doppelseitige und als „Reproduktion eines Fotos aus dem Jahre 1892“ ausgegebene Aufnahme,18 die Carl August Klein, als einziger in die Kamera blickend, umrahmt von Melchior Lechter zur Rechten sowie Friedrich Gundolf und Stefan George zur Linken zeigt. Tatsächlich handelte es sich hierbei jedoch um eine Collagierung Kleins von zwei Fotografien aus dem Jahr 1902,19 die Klein künstlich ins innerste Zentrum des Kreises rückt und mit der Rückdatierung auf das Gründungsjahr der ‚Blätter für die Kunst‘ 1892 dessen historische Bedeutung als Gründungsherausgeber der ‚Blätter‘ festhalten soll. So wie den Fotografien damit eine genau bestimmbare Aufgabe innerhalb dieses Buchprojekts zugewiesen ist, nämlich die Nähe des Autors zu George und seine zentrale Bedeutung als ‚Herold‘ für die Verbreitung seines Werks zu belegen, erfüllen auch die Reproduktionen der zum Teil im Auszug präsentierten Briefdokumente eine Belegfunktion. Mit Seitenverweis in die Darstellung integriert, wo der Bezug nicht offenkundig ist, sollen sie die enge Freundschaft zwischen Klein und George beglaubigen. So endet der reproduzierte Ausschnitt des zeitlich frühesten Briefs Georges vom 30. 9. 1890 an Klein mit den Worten „Sie sind so freundschaftlich“;20 aus „eine[r] Karte, die vor mir liegt“, einem Postkartengruß Georges an Klein aus Venedig vom 15. 3. 1891, zitiert Klein im Text: „Ach könnten Sie doch mit mir durch den Canale grande fahren, und wenn ich // den Blick hinaus ins weite Meer verliere, / dem
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Vgl. ebd.; und Wolfgang Braungart: Klein, Carl August. In: Achim Aurnhammer / Ders. / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde., Berlin – Boston, Mass. 2012, Bd. 3, S. 1491–1494, hier S. 1493. Klein, Sendung (Anm. 12), nach S. 42. Siehe Boehringer, Mein Bild (Anm. 10), Bd. 2, Tafel 62, und den zugehörigen Kommentar im Anhang, der über das ‚zusammengestellte Bild‘ und die ‚irrige Datierung‘ bei Klein informiert. Beide Fotografien zeigen Klein am Rand, in einem Fall sogar angeschnitten. Klein, Sendung (Anm. 12), S. 27. Die explizite Absicht der Wiedergabe des Briefs ist, Friedrich Wolters’ Darstellung zu korrigieren, „der Meister habe schon im März 1890 die Absicht gehabt, eine Zeitschrift zu gründen“, ebd., S. 25. Vgl. Wolters, George (Anm. 4), S. 29.
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fürder keine Dogen sich vermählen ..“,21 und auch der dritte Rückgriff auf ein Briefdokument, eine Briefkarte Georges an Klein vom 17. 7. 1891,22 dient dazu, die besondere Nähe zu „Stefan“ zu demonstrieren: Über die inneren Erlebnisse eines großen Dichters aufgeklärt zu werden, darnach wird kein Verständiger trachten. Stefan schrieb mir einmal: „Sie redeten von meinem Leid, das Sie längst geahnt, aber was mehr als geahnt? So soll es sein, denn was hilft es, sein Leiden in matten Sätzen zu äußern und breit zu treten?“ Mit diesen schlichten Worten hatte er das Wesen eines jeden echten Dichters umrissen. Sein Leid ward ihm zum Liede.23
Die im Ausschnitt reproduzierte Briefkarte enthält jedoch ein Vielfaches mehr als die hier von Klein zitierten Sätze. Der konsequent beim ‚Sie‘ bleibende und mit „Stefan George“ unterzeichnende Dichter weist zunächst schneidend die offenbar vorausgegangene Bitte Kleins nach brieflicher Mitteilung zurück: „Jst dies dauernde schweigen Ihr dauernder tod? verdienen Sie eine auferweckung? Auf ihren trauerseligen brief hatte ich wohl damals eine antwort die mir später entfiel“24 Im Anschluss an die von Klein zitierten Sätze geht es kaum freundlicher zu: „Ihnen fehlt ein rein sinnliches treibmittel · wenn ich nur sicher wäre dass meine stimme es noch ein mal sein könnte“; der Brief schließt mit der Ankündigung, dass Klein als „langgeleitender freund“ 21
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Klein, Sendung (Anm. 12), S. 28. George zitiert mit leichter Abweichung zwei Zeilen aus August von Platens ‚Venedig‘-Zyklus (1825), Nr. XXXI (‚Wenn tiefe Schwermut meine Seele wieget‘): „Den Blick hinaus ins dunkle Meer verliere, / Dem fürder keine Dogen sich vermählen […].“ August von Platen: Werke in zwei Bänden. Hg. von Kurt Wölfel / Jürgen Link. Bd. I: Lyrik, München 1982, S. 377–384, hier S. 384. Vgl. Klein, Sendung (Anm. 12), S. 61. Ebd., S. 53f. Angesichts der Bedeutung der „Lesezeichen“ für George, die Klein selbst einmal in den ‚Blättern für die Kunst‘ in einem Essay ‚Das doch nicht Äußerliche‘ erörtert hatte und auch seinem Erinnerungsbuch als Anhang beigibt, siehe ebd., S. 75–78 (orig.: Blätter für die Kunst, 1. Folge, 5. Bd., August 1893), verdient es doch der Erwähnung, dass Klein in seinem Zitat aus dem Brief Georges Kommata abweichend vom reproduzierten Original, vgl. ebd., S. 61, einfügt. Klein, Sendung (Anm. 12), S. 61.
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keine weiteren Mitteilungen erwarten dürfe, „bis Sie mir Ihren zustand gänzlich auseinander legten“.25 Anders als es Kleins deutlich erkennbare Funktionalisierungsabsicht in der dichten Integration der Briefzeugnisse Georges in seine Darstellung zunächst zulassen will, lassen diese ein ‚Freundschaftsverhältnis‘ erkennen, das zumindest in den dargebotenen Briefen von größter Asymmetrie gekennzeichnet ist. Wenn auf der einen Seite vom ‚Herold‘ rückhaltlose Offenheit gefordert ist, kann auf der anderen eine Antwort auf einen „trauerseligen brief“ schon einmal vergessen werden. III. Sabine Lepsius, ‚Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘ Auch Sabine Lepsisus’ ‚Geschichte einer Freundschaft‘ erscheint 1935 an einem aus der Sicht des George-Kreises peripheren und bei Erscheinen des Buches von den Mitgliedern entsprechend kritisch kommentierten Ort: im jungen Berliner Verlag ‚Die Runde‘, den der im GeorgeKreis ungeliebte, gleichwohl glühende George-Anhänger Wolfgang Frommel 1930 gegründet hatte, „in einem verlage, den D.M. [der Meister, Stefan George; J. J.] stets ausdrücklich und entschieden abgelehnt hat“.26 Bevor drei Jahre später im Oktober 1938 bei Georg Bondi die gewissermaßen ‚offizielle‘ Edition der Briefe Stefan Georges mit dem von dem autorisierten Nachlassverwalter Robert Boehringer herausgegebenen Briefwechsel zwischen George und Hugo von Hofmannsthal beginnen wird – in Leineneinband mit Goldprägung, auf schwerem Papier und in ausgesuchtem Druck, begleitet von einem kritischen philologischen Apparat samt Personenregister –,27 sind es damit die Ränder des George-Kreises und randständige Orte, aus denen das nicht von ‚D.M.‘ selbst zur Veröffentlichung Bestimmte und nach landläufigem Verständnis Persönlichste, seine Briefe, an die Öffentlichkeit gelangen. Edith Landmann, bis zu Georges Tod eng mit ihm befreundet, schreibt an Robert Boehringer über die Veröffentlichung der Briefe Georges durch 25
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Ebd. Den Ehrentitel des ‚lange geleitenden Freundes‘ macht sich Klein schon zu Beginn seiner Darstellung zu eigen, siehe ebd., S. 12. Berthold von Stauffenberg an Robert Boehringer, Berlin, 14. 6. 1935, StG Archiv, B. Stauffenberg II, 1205. Der Band erscheint ohne Nennung des Herausgebers unter dem monumentalisierenden Titel ‚Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal‘. Er enthält keine Faksimiles von Briefen.
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Lepsius, nachdem sie sich über deren Erinnerungsbuch zunächst tief beeindruckt geäußert hat:28 „das allerdings scheint mir eine unverzeihliche indiscretion – wenn man doch weiss, wie entsetzlich ihm [Stefan George; J. J.] dieser gedanke war, so dass er sich aus angst das schreiben beinah ganz abgewöhnte.“29 Im November 1896 stellt sich der bis dahin noch weitgehend unbekannte Stefan George durch Vermittlung des befreundeten Lyrikers Richard Perls im Hause des Berliner Maler-Ehepaares Reinhold und Sabine Lepsius vor. „Noch am selben Abend schrieb Sabine Lepsius ein Gedicht auf Stefan George, in dem es heißt: ‚Herr bist du […] / Ich folge dir, ich eile dir voraus / Komme, in den Wolken stehet unser Haus […]‘.“30 Doch Lepsius errichtet in der Folgezeit George nicht nur ein ‚Wolkenhaus‘, sondern öffnet ihm ihren Berliner Salon, in dem zu dieser Zeit das ‚geistige Berlin‘ verkehrt: u.a. Georg und Gertrud Simmel, Wilhelm Dilthey, Max Dessoir, die Germanisten Richard M. Meyer und Erich Schmidt, dann auch Rainer Maria Rilke und Lou Andreas Salomé – von denen vor allem die Erstgenannten später maßgeblich an der Durchsetzung Stefan Georges als Autor beteiligt sein werden. In der Folgezeit entwickelt sich ein enges Verhältnis zwischen Sabine Lepsius, ihrem Mann Reinhold und Stefan George.31 Lesungen Georges 28
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„ich bin dieser tage ganz unter dem eindruck von dem buch von Sabine Lepsius. ich wage kaum zu sagen, wie sehr es mich bewegt hat · gewiss wär all das besser nach 100 jahren erschienen · aber dem ziemt es schlecht, über diese verfrühung zu zetern, der selbst davon profitiert · vor allem diese erleichterung : dass sie doch seiner freundschaft keine schande macht · denn diese person, wie sie sich hier mit bewundernswerter freimütigkeit und aufrichtigkeit darstellt, ist doch, trotz mancher weiblichkeiten, von grossem format, glühend, eine genialische und heroische natur, und ihre grenzen : ihre gehemmtheit, und dass sie im geistigen nicht mitgehen konnte noch wollte, gibt sie selbst zu · es ist so richtig benannt: die geschichte einer freundschaft – geschichte ihrer selbst und ihres hauses, in die, wie ein schattenriss, dies grosse bildnis hineinspielt. das rel. wenige, das von ihm sichtbar wird, ist doch wieder von so beseligender grossheit und distinktion, dass es nur echt sein kann, weder erhöht noch entstellt […].“ Edith Landmann an Robert Boehringer, Kiel, 17. 6. 1935, StG Archiv, E. Landmann II, 1135. Ebd. Annette Dorgerloh: Lepsius, Sabine (geb. Graef). In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann (Hg.), George (Anm. 17), S. 1532–1535, hier S. 1533. Siehe dazu die in Anm. 3 und 4 angegebene Literatur.
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finden im Hause Lepsius statt, von denen Sabine Lepsius in ihrem Erinnerungsbuch eine eindrucksvolle, häufig zitierte Schilderung gibt, um den „vielen Gerüchte[n] über deren ‚theatralische Aufmachung‘“ und bücherhaltenden „nackten Knaben“ entgegenzutreten.32 Der Dichter seinerseits widmet den Freunden Gedichte.33 Die Freundschaft zwischen Sabine Lepsius und Stefan George hält nicht ein Leben lang. Ihr Verlauf und die möglichen Gründe der gegenseitigen Entfremdung müssen hier nicht weiter verfolgt werden.34 Bemerkenswert ist jedoch, dass Lepsius in ihrem Erinnerungsbuch – ganz im Gegensatz zu dem die ‚ewige Freundschaft‘ zu George beschwörenden Carl August Klein – am Ende ihres Buches auch vom Vergehen dieser Freundschaft spricht und damit dessen Titel ‚Geschichte einer Freundschaft‘ bei allem bis in die letzten Zeilen spürbaren Respekt vor dem Porträtierten tatsächlich erfüllt. An den Briefen Georges, die Lepsius ihrem Erinnerungsbuch beigibt, kann man diese Geschichte jedoch nicht ablesen. Höchstens indirekt, insofern der letzte der veröffentlichten Briefe schon auf April 1905 datiert ist. Mindestens bis 1917 gab es jedoch einen persönlichen, wenn auch sporadischen Kontakt, und auch die erhaltene Korrespondenz reicht zeitlich deutlich über das publizierte Konvolut hinaus.35 Die von Sabine Lepsius veröffentlichten Briefe Georges bilden für sich gar keine Geschichte, sie illustrieren oder belegen aber auch nicht ergänzend die Mitteilungen des Freundschaftsbuches, dem sie beigegeben sind, wie im Falle Carl August Kleins. Es gibt vielmehr gar keine Verweise auf diese Briefe innerhalb der erzählten Freundschaftsgeschichte, sondern Stefan Georges Briefe an Sabine Lepsius bilden eine autonome Beigabe, 32
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Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935, S. 22f. Lepsius’ Buch verdiente eine eingehendere, bislang noch ausstehende Untersuchung. Vgl. Stefan George: Blaue Stunde. In: Ders.: Die Lieder von Traum und Tod (1899), SW = Ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982–2013, Bd. V, S. 62; ders.: An Sabine. In: Ders.: Der siebente Ring (1907), SW VI/VII, S. 168. Siehe dazu Oelmann, Malerehepaar Lepsius (Anm. 3), S. 27; Dorgerloh, Sie war wenigstens amüsant (Anm. 4), S. 114f. Der letzte im Stefan George Archiv verwahrte Brief von Sabine Lepsius an Stefan George ist auf den 8. 6. 1911 datiert, StG Archiv, George III, 8274, der letzte Brief Georges an Sabine Lepsius auf August 1911, StG Archiv, George II, 3133.
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„unangetastet, für sich“, wie Edith Landmann in einer zweiten, deutlich kritischeren Stellungnahme Robert Boehringer zu trösten versucht.36 So autonom erscheinen diese Briefe, dass sie noch nicht einmal im einleitenden ‚Vorwort‘ von Lepsius zu ihrem Erinnerungsbuch Erwähnung finden. Ein Brief Gundolfs an sie dagegen, „[e]iner der wertvollsten Briefe, die ich je empfing“,37 wie auch eigene Briefe an George, aus denen Lepsius in Auszügen zitiert, werden in die Erzählung eingebaut. Keine Regel ohne Ausnahme: Ein einziger Brief Georges an Lepsius ist, wie die anderen faksimiliert, in das Buch selbst eingebunden und in seinem Bezug zum Erzählten klar erkennbar (Abb. 2).38 Er betrifft eigene Gedichte von Sabine Lepsius, die sie „wagte“, George vorzulegen, wie sie schreibt: Ich wagte es nun auch, ihm einige meiner Gedichte zu zeigen. Er saß in seinem Zimmer am Schreibtisch, und ich legte zaghaft Verse vor ihn hin. Er las, legte das Blatt nieder, küßte mir lebhaft die Hand, dann wiederholte er laut das Gelesene. Es gefiel ihm, darum wagte ich, ihm noch mehr zu zeigen, auch die an ihn gerichteten Verse. Er wollte wissen, wann sie entstanden seien. „Als sie das erstemal bei uns gelesen hatten.“ „So lang ist das schon her?“ … Zu den Gedichten an meine Kinder bemerkte er, daß sie ihn an die Verse einer französischen Dichterin Marcelline Desbordes-Valmore erinnerten. Seiner Aufforderung folgend, überließ ich ihm den größten Teil meiner Gedichte, die er mir eine Zeitlang vorenthielt. Auf meinen Wunsch, sie zurückzuerhalten, bekam ich einen mich beglückenden Brief.39
Die Anerkennung als Dichterin durch George scheint demnach der Anlass dafür zu sein, das sonst konsequent durchgehaltene, autonome Präsentationsprinzip der Briefe aus Georges Hand einmal aufzugeben und den „mich beglückenden Brief“ in die Darstellung einzurücken. Der undatierte Brief Georges, ohne Anrede und Unterschrift eher eine Mitteilung, lautet:
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Vgl. Landmann an Boehringer (Anm. 2): „[Sabine Lepsius] zeigt sich doch in dem buch auch sonst von einer phänomenalen ja hier geradezu katastrophalen naivität. so liebenswert mir – rein menschlich – ihr wesen schien, so unfasslich ist mir, wie sie dies veröffentlichen konnte – wenn ein freund von ihr, ihr dies angetan hätte, man würde begreifen , dass sie ihn dafür ermordete · aber sich selbst dies anzutun …“ Vgl. Lepsius, Geschichte einer Freundschaft (Anm. 32), S. 30. Vgl. ebd., vor S. 51. Ebd., S. 49f.
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Abb. 2: Sabine Lepsisus, ‚Geschichte einer Freundschaft‘40 40
Sie bedachten zu wenig in unsrer vorigen unterhaltung – verehrte freundin – dass es zum schwierigsten gehört: zu den zarten flüsterungen und den vulkanischen ausbrüchen der seele die sich in langer freundschaft geoffenbart hat sogleich fertige urteilsworte zu finden wenn sie mit einer ganz andren art der eröffnung spät und plötzlich kommt – Wollen Sie eine anerkennung dass Sie überhaupt solche lang-verborgenen blumen gezeigt haben? … genügt es Ihnen zu wissen dass sie zum grössten teil verdienten unter die Blätter f.d. Kunst verflochten zu werden?…41
Aber auch in diesem Fall, wie schon bei den Versuchen Carl August Kleins, Georges Briefe in die eigene Darstellung einzufügen, ergibt sich eine deutliche Dissoziation, sobald man die autobiographische Erzählung und das ihr hier nun auch im Wortsinn gegenüberliegende dokumentari40 41
Ebd., S. 50f. Ebd., vor S. 51. Ob das in dieser Form erhaltene Schriftstück ursprünglich Teil eines Briefs größeren Umfangs war, ist nicht mehr zu ermitteln, siehe StG Archiv, George II, 3107.
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sche Zeugnis nebeneinander hält. Georges Brief an die „verehrte freundin“ nimmt zwar ebenfalls offenkundig auf die ihm vorgelegten Gedichte Bezug, aber er scheint mitnichten „[a]uf meinen Wunsch, sie zurückzuerhalten“ zu reagieren, wie Lepsius schreibt. George weist vielmehr das Ansinnen zurück, „sogleich fertige urteilsworte“ über die ihm anvertrauten Verse formulieren zu können, oder besser, ihrer Verfasserin hinreichende „anerkennung“ dafür auszusprechen: Georges Briefe bleiben demnach, bei Carl August Klein wie bei Sabine Lepsius, Fremdkörper in der ihnen zugedachten Umgebung. Die Versuche, sie den eigenen (Selbst-)Darstellungsbedürfnissen passend zu machen, die Klein durchgängig, Lepsius nur einmal, unternehmen, gehen nicht auf – nicht zuletzt deswegen, weil George, wie sich unten noch einmal genauer zeigen wird, mit einer gewissen Konsequenz die Konventionen ‚freundschaftlicher Korrespondenz‘ verletzt. Ein Fremdkörper bleibt schließlich auch das Anfang Oktober 1905 entstandene Gedicht Georges ‚An mein Kind‘, das den letzten der von Lepsius veröffentlichen Briefe Georges begleitet.42 Distanznehmend ist schon der Vorgang seiner Zusendung, insofern das Gedicht einem Brief beigefügt ist, den George innerhalb Berlins an Lepsius postalisch sendet. Auch dass George eine weitere, leicht abweichende, Abschrift bereits am 9. 10. 1905 an Friedrich Gundolf nach Darmstadt sendet, löst den exklusiven biographischen Zusammenhang mit Lepsius auf. Schließlich richtet sich das Gedicht nicht etwa an Lepsius, sondern ist, mit Thomas Karlauf, von der „Melancholie der Erotik“ gezeichnet, zu der die Wiederbegegnung Georges mit dem jungen Hugo Zernik in Berlin den Anlass gegeben hatte.43 Damit mag zusammenhängen, dass der kurze Brief, mit dem George das Gedicht an Lepsius sendet, gerade die „unsichtbarkeit“ der Adressatin während seiner Abfassung zur Bedingung der Entstehung des Gedichts erhebt: „Sabine Teuerste : wie gut dass meine wirrungen: innere und äussere abwesenheiten der lezten
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Der Brief datiert vom 12. 10. 1905, siehe StG Archiv, George II, 3127, und SW VI/VII, Kommentar, S. 223. Das Gedicht erscheint später ohne Titel und mit geringen Veränderungen in der Gruppe „Lieder I–III“ als Nr. II ‚Mein kind kam heim‘ in ‚Der siebente Ring‘, SW VI/VII, S. 143. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 123; vgl. auch SW VI/VII, Kommentar, S. 223.
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woche mit Ihrer eignen unsichtbarkeit zusammenfiel! Jch kann nichts weiter sagen · – die inlage tut es am besten · · · · · · · · · · · · […]“44 IV. ‚Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘ IV. als Medienkombination Edith Landmanns Bemerkung, dass Georges Briefe in Lepsius’ Erinnerungsbuch „wenigstens unangetastet, für sich“ seien, beschreibt auch die äußere Anlage des Buches präzise, das eigentlich eine Medienkombination darstellt, die durch die Unabhängigkeit ihrer Komponenten bestimmt ist. Als solche besteht es aus dem Textband der ‚Geschichte einer Freundschaft‘ und einer Mappe, in die lose, in einem sehr sorgfältig im Originalformat ausgeführten Faksimiledruck zwölf Briefe Georges aus den Jahren 1899 bis 1905 eingelegt sind. Acht der Briefe Georges sind an Sabine, drei an Sabine und Reinhold Lepsius gemeinsam und ein Brief ist an Sabines Bruder Botho Graef gerichtet. Briefe und Gedicht sind auf hochwertigerem Papier gedruckt, das sich von dem in einfacher Broschur gebundenen Textband deutlich abhebt. Die Mappe enthält außerdem elf „Bildnisse“: Undatierte, unbeschriftete Fotografien Georges, die Reinhold Lepsius vermutlich zwischen 1897 und 1922 zur Vorbereitung von Porträts Georges angefertigt hatte.45 Im Unterschied zu den aufwändigen Faksimiles der Schriftstücke sind die Fotografien auf schlichtere einzelne Papierblätter gedruckt (Abb. 3 und 4). Indem Briefe und Porträts einzeln und unkommentiert dargeboten werden, praktiziert Lepsius in konsequenter Form das Prinzip einer 44
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Stefan George an Sabine Lepsius [Berlin, 12. 10. 1905]. In: Lepsius, Geschichte einer Freundschaft (Anm. 32). Vgl. Michael Thimann: Bildende Kunst. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann (Hg.), George und sein Kreis (Anm. 17), Bd. 2, S. 551–584, hier S. 567. Datierung nach Vermerk im Nachlass, StG Archiv, Landmann II, 318–341, und Dorgerloh, Künstlerehepaar Lepsius (Anm. 4), S. 254f. In seiner Rezension des Buches von Sabine Lepsius beschreibt Klaus Mann die ihm beigegebene „Serie von Photographien“ als eine eigene Geschichte, „die uns das Gesicht Stefan Georges in seiner Entwicklung durch mehrere Jahrzehnte zeigt, […] wie auf diesem herrlich geformten, von der Natur und vom Geiste geadelten Antlitz der tyrannische Ausdruck mehr und mehr hervortritt; immer trotziger schiebt sich der Unterkiefer nach vorne, und unter der majestätischen Stirn bekommen die Augen den vor geistiger Herrschsucht starren, für menschliches Leid erblindeten Blick.“ Klaus Mann: Sabine Lepsius „Stefan George“. Geschichte einer Freundschaft. In: Pariser Tageblatt 3, Nr. 691, Sonntag, 3. 11. 1935, S. 4.
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Abb. 3 und Abb. 4: Reinhold Lepsius, Porträtaufnahmen von Stefan George, aus Sabine Lepsius, ‚Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘
Trennung der Materialien, Textsorten und Medien, aber auch das Prinzip einer Trennung von eigener Darstellung und authentischen Quellendokumenten. Dies lässt sich in gewisser Weise auch noch für die Gestaltung des Frontispiz in Lepsius’ Erinnerungsbuch sagen, das eine Reproduktion des Holzschnitt-Porträts Stefan Georges aus der Hand von Reinhold Lepsius (1904/05) wiederum unbeschriftet dem Titelblatt gegenüberstellt (Abb. 5). So bleibt auch Reinhold Lepsius’ HolzschnittArbeit „unangetastet, für sich“, um zugleich eine Freundschafts-Konstellation zwischen dem Dichter und den beiden Künstlern anzudeuten, von der im Folgenden dann viel die Rede sein wird.46 Die Kombination der Medien ermöglicht eine Variation und im vorliegenden Fall auch eine Hierarchisierung des Materials. Dass für die faksimilierten Briefe Georges wie auch für sein Gedicht eine besondere Papierqualität zum Einsatz kommt, zeichnet diese vor dem übrigen Ge46
Reinhold Lepsius ist bereits 1922 gestorben, ihm ist das Buch „geweiht“; Lepsius, Geschichte einer Freundschaft (Anm. 32), S. 7.
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Abb. 5: Sabine Lepsius, ‚Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘, Frontispiz und Titelseite
schriebenen aus; wie andererseits die schlichte Papierbeschaffenheit für die Reproduktionen der „Bildnisse“ – ob ökonomischen Zwängen seitens des Verlages oder gestalterischen Absichten geschuldet – diese unweigerlich herabsetzt. Für die bekanntlich äußerst materialsensiblen Mitglieder des George-Kreises stellten „diese ach wie schlechten bilder“47 dementsprechend eine besondere Zumutung dar. Fast noch stärker scheint jedoch die lose Darbietungsform der Briefe und Fotografien Georges in der beigefügten Mappe ins Gewicht zu fallen. Denn sie erlaubt (im Unterschied zu den eingebundenen Reproduktionen bei Carl August Klein oder der späteren, durchkomponierten Präsentation von Bildern in Robert Boehringers ‚Tafelband‘ in ‚Mein 47
Landmann an Boehringer, 17. 6. 1935 (Anm. 28). Zur schlechten Qualität der Fotografien äußert sich auch Robert Boehringer an Berthold von Stauffenberg und Frank Mehnert, Villars sur Ollon, 29. 7. 35. StG Archiv, B. Stauffenberg III, 1492.
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Bild von Stefan George‘) die freie Verfügbarkeit der Briefe und Porträts für jedermann. Angesichts des Kults, der um Handschriften, noch dazu Georges selbst, um Bildnisse des Dichters und anderer und schließlich auch um die Zueignung solcher im George-Kreis und darüber hinaus getrieben wurde (Sabine Lepsius beteiligte sich selbst daran)48, liegt eine eigene Ironie darin, dass mit Lepsius’ Publikation nun mit einem Mal, unkontrolliert, massenhaft (noch im Druckjahr 1935 liefert der Verlag einen Nachauflage des Buches mit dem Vermerk des ‚4. Tds.‘ aus) und, was die Bilder betraf, auch in objektiv schlechter Qualität, George unter das Volk zu geraten drohte. Wenig charmant konfrontiert Robert Boehringer Lepsius darum mit folgender Begebenheit: Mir war berichtet worden, eine Buchhandlung am Kurfürstendamm habe den Brief, welcher beginnt ‚Sabine Teuerste‘ auf die innere Seite des Schaufensters geklebt und daneben die Reproduktion der Aufnahme [Stefan Georges; J. J.] mit der Zigarette; könnte der Verlag in solchem Falle vorstellig werden? Denn dies kann doch weder Ihnen noch den Verlegern erwünscht sein.49
Über den Wahrheitsgehalt der Anekdote oder ihre mutwillige Zurichtung – einen der intimsten Briefe, ‚Sabine Teuerste‘,50 ausgerechnet neben dem Dichter mit Zigarette ausgehängt, bildet vielleicht etwas zu perfekt einen die verantwortliche Urheberin selbst beschämenden Kontrast – muss hier nicht spekuliert werden. Die Lektion auf der symbolischen Ebene, die hier erteilt werden soll, ist deutlich genug: Man entlässt nicht ungestraft Bekenntnis, Werk und Bild des verehrten Dichters schutzlos in die Öffentlichkeit. V. Zwei Briefe Der erste erhaltene Brief, den Stefan George an Sabine und Reinhold Lepsius richtete, datiert vom Juni 1897 (Abb. 7). George bedankt sich in ihm für die Zusendung einer Anzeige zur Geburt des ersten Sohns des 48
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Vgl. Sabine Lepsius an Stefan George, Berlin, 10. 1. 1910: „Theurster! Eigentlich giebt es keine größere Impertinenz als sein Bild zu verschenken – aber das sind eben die Verzweiflungsmittel zu denen man greift wenn man aufhört zu hoffen so zu werden daß man durch sein bloßes Sein oder Wirken seinen Freunden im Gedächtniß bleibt.“ StG Archiv, George III, 8272. Robert Boehringer an Sabine Lepsius, Genf, 22. 9. 1935, StG Archiv, B. Stauffenberg III, 1497a. Siehe oben, S. 53f.
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Ehepaares, der seinen Vornamen trägt. Lepsius hat ihn nicht in das faksimilierte Konvolut der Briefe ihres Erinnerungsbuches aufgenommen. Als Gründe hierfür lassen sich der anlassbezogen sehr formelle Charakter des Briefs vermuten oder womöglich auch ein Akt der Pietät. Denn der geliebte Sohn war im I. Weltkrieg an einer schweren Verletzung gestorben, sein Schicksal wie auch die Trauer der Hinterbliebenen bilden den Abschluss der ‚Geschichte einer Freundschaft‘.51 Da sich auch eine erste Fassung dieses Briefs im Nachlass erhalten hat (Abb. 6), erlaubt der Vergleich der Versionen einen Blick in die ‚Brief-Werkstatt‘ Georges. Die erste Fassung trägt mit Korrekturen, nachträglichen Einfügungen und Überschreibungen alle Spuren einer ‚Arbeit am Brief‘. Die zweite, abgesendete Fassung des Briefs nimmt die eingetragenen Überarbeitungen auf, weitere Korrekturen vor und ist zudem erkennbar um ein gefälligeres Schriftbild bemüht. juni 97 Lieber Meister / verehrte gnädige Frau: mit grosser freude empfing ich Jhre anzeige / einen beweis Jhres freundschaftlichen gedenkens und hege für den jungen – Sohn der Musen hoffen wir! auch alle wünsche der Huldinnen. Es ist mir lieb dass ich in einer familie wo ein kurzer aufenthalt mich schon so sehr entzückte / nun noch eines weiteren mitgliedes teilnehmend gedenken darf Nehmen Sie lieber Meister und verehrte gnädige frau bis zu einem wiedersehen den ausdruck meiner künstlerischen hochachtung sowol als meiner persönlichen anhänglichkeit entgegen Stefan George
Der inhaltlich nicht besonders tiefgründige und eher gestelzt daherkommende Brief lässt gleichwohl, im Vergleich der vorliegenden Fassungen, einen Experimentierenden erkennen. Damit ist weniger die altdeutsche Maskierung der ‚Grazien‘ als ‚Huldinnen‘ gemeint oder das noch in der ersten Fassung vorgenommene Ersetzen des „Verehrter Meister“ durch ein vertraulicheres „Lieber Meister“ als Anrede für Reinhold Lepsius (wogegen es bei der „verehrte[n] gnädige[n] Frau“ noch bleibt), sondern der erkennbare Versuch, auch in der pragmatisch gebundenen Prosa Sprachbewegung zu artikulieren. So setzt der Briefschreiber in die zweite Fassung seines Briefs nach der Anrede des „Meister[s]“ und hinter die Bestätigung des Erhalts der „anzeige“ als Satzzeichen die aus frühneuzeitlichem Schrifttum bekannte Virgel ein – 51
Vgl. Lepsius’ Darstellung in ‚Geschichte einer Freundschaft‘ (Anm. 32), S. 95–98.
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Abb. 6: Stefan George, Entwurf zum Gratulationsschreiben an Reinhold und Sabine Lepsius zur Geburt von Stefan Lepsius, Juni 1897.52 52
StG Archiv, George II 3082 E.
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Abb. 7: Stefan George, Gratulationsschreiben an Reinhold und Sabine Lepsius zur Geburt von Stefan Lepsius, Juni 1897.53 53
gleichsam als einzig schätzenswerte Hinterlassenschaft der ansonsten von George bekanntlich nicht geschätzten alten Frakturschrift –,54 um sie wie seinerzeit üblich als Segmentierungs- und rhythmisches Gliederungszeichen zu verwenden. Die Tilgung des Punktes hinter „teilnehmend gedenken darf“, der in der ersten Fassung des Briefs noch gesetzt ist, folgt dagegen dem in Georges Lyrik bereits etablierten Verfahren der Reduktion von konventionellen Satzzeichen zugunsten der ‚Lesezeichen‘ (die hier noch fehlen, in späteren Briefen – wie auch anhand der Faksimiles in Lepsius’ Beilage nachzuvollziehen – jedoch Verwendung finden). Im letzten Absatz des Briefs schließlich erscheinen in der zweiten Fassung vergrößerte Wortzwischenräume anstelle eines ursprüng53 54
StG Archiv, George II 3082. „Ebenso wird jedes ordnung und schönheit verlangende auge und jeder freund seiner sprache und seines volkes die abschaffung jener verderbten hässlichen schrift begrüssen, die man fälschlich als urdeutsche bezeichnet und die uns ständig in so aufdringlicher weise die abkunft unseres ganzen schrifttums vom barock vorwirft.“ Stefan George / Karl Wolfskehl: Deutsche Dichtung. Ankündigung (1900). Zitiert nach: Georg Peter Landmann (Hg.): Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, Köln – Berlin 1965, S. 59. Vgl. Wolters, George (Anm. 4), S. 138ff., bes. S. 141.
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lich noch gesetzten Kommas, um die Paranthese „bis zu einem wiedersehen“ herauszuheben. Es sind damit für sich genommen nur kleine und wenige Veränderungen, die einer gewissen ästhetischen Stilisierungsabsicht folgen.55 Für den Verfasser sind sie jedoch offenbar so bedeutsam, dass sie zu einer neuen Fassung des Briefs drängen. In der Korrespondenz Georges mit dem Ehepaar Lepsius bleibt es jedoch nicht bei dem Austausch von Förmlichkeiten. Unter den von Lepsius’ in ihre Auswahl aufgenommenen Briefen hat vor allem ein Brief mit Recht besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es ist der in zeitlicher Folge vorletzte unter den veröffentlichten Briefen, Stefan George sendete ihn im April 1905 aus Bingen an Sabine Lepsius. In seiner ausführlichen, im Exil für das ‚Pariser Tageblatt‘ im November 1935 verfassten Rezension von Lepsius’ Buch zitiert Klaus Mann eine lange Passage aus dem Brief,56 Edith Landmann zählt ihn gar zu „den ungeheuersten dokumenten der menschheit, nur neben dinge wie Beethovens testament zu stellen“,57 und auch Robert Boehringer nimmt später aus „jenem großartige[n] Brief“ ein umfangreiches Zitat in sein George-Buch auf.58 Bingen april 1905 Teuerste freundin: nach manchen unbestimmten wegen komm ich erst jezt wieder zu meinem sitz und geniesse dankend die innigkeit Jhres briefes dazwischen hör ich aber auch wieder den leisen vorwurf von mir persönlich so wenig zu erfahren .. Soll ich Jhnen noch einmal schriftlich und endgiltig bestätigen was Sie lange wissen? Warum soll ich meinen freunden von den gefährlichen abgründen berichten die alle meine fahrten begleiten? – und grad von den lezten besonders furchtbaren – indessen sie die freunde nichts können als in mitleidiger ferne hilflos dastehn… Giebt es für trostlosigkeiten überhaupt ein andres vorm schlimmsten rettendes als dass niemand sie weiss? _ Jch kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommnen äusseren oberherrlichkeit. was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die freunde. Mich so zu sehen wie sie mich sahen ist ihr stärkster lebenstrost. so streit und duld und schweig ich für sie mit. Jch gehe immer und immer an den äussersten rändern – was ich hergebe ist das lezte mög55
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Hierzu passt auch die nachträgliche Einflickung „Künstlerischen“ vor „hochachtung“ in der abschließenden Grußformel, die Adressant und Adressierte als Kunstschaffende zusammenführt. Mann, Sabine Lepsius (Anm. 45). Landmann an Boehringer, 17. 6. 1935 (Anm. 28) Boehringer, Mein Bild (Anm. 10), Bd. 1, S. 84.
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Joachim Jacob liche ··· auch wo keiner es ahnt. [Seitenwechsel] So fassen Sie auch recht auf dass für unser zusammentreffen in der Schweiz das ich sehr wünsche noch keine zusage habe. vor ende Juni kann ich nicht entscheiden · glauben Sie an meinen guten willen. Jch hoffe dass Sie für manches nichtgeben oder nichtschreiben noch tiefere gründe erkennen als jene damals im sandigen kiefernwäldchen – wär es auch der eine nur: der klaffende abstand zwischen unsrem säglichen wort und unsrem unsäglichen herzen Jhr freund Stefan59
Der im Faksimile auf einem großen, zweimal gefalteten Blatt reproduzierte Brief ist im Original ein doppelseitig beschriebenes Blatt halber Größe. Dieser Brief, „in dem George sein Verhalten zu den Freunden erklärt“,60 verletzt zugleich, wie die meisten der hier zitierten Briefe Georges, die Gepflogenheiten einer konventionellen Freundschaftskorrespondenz. Denn der „[t]euerste[n] freundin“61 gilt es zu erklären, dass der Dichter die „innigkeit Ihres briefes“ „geniesse[n]“, aber nicht erwidern kann. Dies ist keine Kleinigkeit, insofern die ausdrückliche Aufkündigung des ‚innigen‘ Wechselverhältnisses Freundschaft und Brieffreundschaft im Besonderen nach herkömmlichem Maßstab in Frage stellt. Die dafür nötige Erklärung soll der Hinweis auf die „gefährlichen abgründe[]“ geben, die den Dichter auf „alle[n]“ seinen „fahrten begleiten“62 – bis hin zu dem „lezten besonders furchtbaren“: dem hier unaussprechlichen Tod ‚Maximins‘. Vor diesen Abgründen versagt die Freundschaft ebenso wie Mitleid und Trost und alle Anteilnahme, die gerade dem Brief in seiner Geschichte immer wieder als seine besondere Möglichkeit und Aufgabe zugeschrieben worden ist. Die Provokation, die diese Zurückweisung aller Mitmenschlichkeit enthält, überlagert noch die folgende Selbststilisierung zum Heros, an dessen Stärke sich die Freunde ihrerseits aufrichten können. 59
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Lepisus, Geschichte einer Freundschaft (Anm. 32), Datum des Poststempels 9. 4. 1905, StG Archiv, George II, 3122. Boehringer, Mein Bild (Anm. 10), Bd. 1, S. 84. In einer auch hier erhaltenen ersten, bereits in Reinschrift ausgeführten, Fassung des Briefs noch die „Teure freundin“, StG Archiv, George II, 3122 E. Weitere Abweichungen betreffen vor allem semantische Feinheiten und zeigen wiederum, wie genau George am Wortlaut dieser Briefe arbeitete. In seiner Lyrik setzt George das Motiv des Abgrunds vielfältig ein, siehe etwa im zeitlichen Umkreis ‚Die steine die in meiner strasse staken‘, in: ‚Das Jahr der Seele‘ (1897); ‚Landschaft III‘,‚Wir blieben gern bei eurem reigen drunten‘, ‚Verschollen des traumes‘, in: ‚Der siebente Ring‘ (1907).
Freundschaft nebst Briefen und Bildern
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Was das einseitige Faksimile nicht wiedergibt, ist das nötige Umwenden des im Original doppelseitig beschriebenen Briefblattes. Mit ihm schlägt der Brief von der höchsten Emphase – „was ich hergebe ist das lezte mögliche ··· auch wo keiner es ahnt“ – in Pläne für einen gemeinsamen Ferienaufenthalt in der Schweiz um.63 Der Sprung von Einem zum Anderen ist für den Brief im Allgemeinen charakteristisch (und lässt sich besonders auch in den Briefen von Sabine Lepsius an Stefan George gut beobachten), aber nicht immer findet er sich auch physisch so genau in Szene gesetzt, wie George es an dieser Stelle praktiziert. Doch der Einschub währt nur kurz. Der Brief endet in einem neuerlichen Abgrund, in dem ‚schriftlich und endgültig‘ auch die Idee einer authentischen Briefrede, überhaupt eines gelingenden Gefühlsausdrucks in der Sprache, als Illusion untergeht: „der klaffende abstand zwischen unsrem säglichen wort und unsrem unsäglichen herzen“ behält das letzte Wort.
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Siehe dazu Lepsius, Geschichte einer Freundschaft (Anm. 32), S. 58ff.
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Joachim Jacob
Friedrich Gundolfs und Elisabeth Salomons intimer Briefwechsel
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Helmuth Mojem, Gunilla Eschenbach
Friedrich Gundolfs und Elisabeth Salomons intimer Briefwechsel als Gegenentwurf zur Briefkommunikation im George-Kreis. Der folgende Text war Teil einer Buchpräsentation des Briefwechsels zwischen Friedrich Gundolf und Elisabeth Salomon auf der Jahrestagung der Stefan-George-Gesellschaft in Bingen vom 7. bis 8. November 2015.1 Im Anschluss an eine biografische Einführung durch Helmuth Mojem unternahm Gunilla Eschenbach den Versuch einer typologischen Einordnung der Briefkommunikation im George-Kreis. Es schloss sich die Lesung einiger – hier nicht abgedruckter – Briefe an. Helmuth Mojem I. Gefährliche Liebschaft Eine lose Liebschaft, ein festeres Liebesverhältnis, schließlich die gesicherte Ehe, das dürfte im Leben wie in der Literatur der weitgehend übliche Lauf der Dinge sein, da scheint jegliche in meinem Titel anklingende Gefährdung gebannt, sie mag sich allenfalls von Ferne in den Handlungsmustern des Ehebruchromans abzeichnen, seien diese nun kompliziert fiktional oder eher real und banal. Wählt man allerdings Vokabeln wie Liebeszauber, Liebesgewalt oder Liebessklaverei – alles Wertungen von Friedrich Gundolf selbst –, um dieses erotische Verhältnis zu beschreiben, so ist schon zu ahnen, dass die Liebesbeziehung des Lieblingsjüngers von Stefan George zu jemand anderem und gar noch einer Frau – wohl doch einer Frau fremder Ordnung: „Mit den frauen fremder ordnung / Sollt ihr nicht den leib beflecken“ heißt es beim Meister –, dass also diese Liebesbeziehung den Verfechtern von Maß und Mitte, von Anstand und Haltung kategorial eher in eine Ballade von
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Friedrich Gundolf / Elisabeth Salomon: Briefwechsel (1914–1931), hg. von Helmuth Mojem und Gunilla Eschenbach, Berlin – Boston 2015. (Im Jahr 2017 auch als Taschenbuchausgabe erschienen.) Der mündliche Charakter des Beitrags wurde im Druck beibehalten.
https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0004
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Helmuth Mojem, Gunilla Eschenbach
der sexuellen Hörigkeit auszuarten scheint, in eine Gefährdung der Sitte in des Wortes emphatischster Bedeutung. Schwere Gewichte für eine Folge von Liebesbriefen, in denen es ja üblicherweise und durchaus auch hier wohl doch vielfach darum geht, das Gegenüber seiner Zuneigung zu versichern. Aber es sind ja nicht Hinz und Kunz, die hier schreiben, oder besser gesagt, Hans und Grete, es geht um den Heidelberger Großgermanisten Friedrich Gundolf und die ebenso schöne wie emanzipierte Jüdin Elisabeth Salomon, promovierte Nationalökonomin und weltläufige Journalistin, es geht um den George-Kreis und Gundolfs – je nach Sichtweise – Ablösung oder Verstoßung daraus, und es geht auch – als farbiger Hintergrund dieses emotionalen zwischenmenschlichen Dramas, das in Heidelberg, Berlin, Wien und Rom spielt – um den ersten Weltkrieg, den Spartakusaufstand, die Inflationszeit, die Wiener Psychoanalyse und den italienischen Faschismus. Viel innerer und äußerer Gehalt also, Leidenschaftliches wie Historisches, Überpersönliches wie Allzumenschliches, dargeboten in unverstellter, spontaner Niederschrift, auf zwei kluge, sensible Schreiber von ausgeprägter Individualität verteilt, kurz: eine zeit- und liebesgeschichtliche Quelle, die an Reiz und Aussagekraft ihresgleichen sucht. Die umfangreiche Korrespondenz (1382 Briefe), von der hier die Rede ist, verblieb nach Gundolfs Tod 1931 im Besitz seiner Witwe, die sie in ihrem englischen Exil aber nicht der Londoner Universität bestimmte, wie den Rest von Gundolfs Nachlass; offenbar stufte sie diese Briefe als persönlichen Besitz ein, den sie an ihre beiden im Briefwechsel übrigens öfter erwähnten Nichten vererbte. Aus deren Familie – längst in den USA lebend – erwarb das Deutsche Literaturarchiv die Korrespondenz im Jahr 2006. Nach einigen Vorbereitungen wurde eine Edition der Briefe in Angriff genommen, die nun vorliegt. Es handelt sich um eine Auswahlausgabe; von 1382 Briefen enthält sie 411 (171 von ihr, 240 von ihm; was die Gewichtung etwas stärker in Richtung Elisabeth Salomon verschiebt). 411 von 1382, das ist der Zahl nach weniger als ein Drittel, vom Umfang aber wohl mehr als die Hälfte des gesamten Textbestands. Zur Auswahl zwingt die schiere Menge der Briefe, dann aber doch auch eine gewisse Redundanz (v.a. von Gundolfs Seite); weggelassen sind auch zahlreiche, wenig ergiebige Kurznachrichten, Telegramme, Billets etc. Dennoch ist die Kontinuität der Korrespondenz gewährleistet, in deren Fortgang sich in der Tat der gesamte Verlauf der
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Gundolf-Salomonschen Beziehung spiegelt. Das ist für einen Liebesbriefwechsel erstaunlich, aber diese Liebenden waren über die längste Zeit ihres Liebesverhältnisses hinweg voneinander räumlich geschieden, was es erlaubt – literarhistorisch herzlos gesprochen – seine spezielle Entwicklung und seinen dramatischen Verlauf umso deutlicher zu verfolgen. Man lernte einander zu Pfingsten 1914 kennen: er, der aufstrebende Dozent, vom Geist Georges genialisch angeweht, sie, eine kecke Studentin, geprägt von einer bewegten Wickersdorfer Schulvergangenheit; man kam sich bei der legendären nächtlichen Sonnwend- und Geburtstagfeier Gundolfs am 20. Juni auf dem Heidelberger Königstuhl näher, bei der Elli Salomon, angetan mit schwarzem Teufelskleid und roter Satansfeder, offenbar auf Gundolfs Schultern ritt – akademische Lehrer mögen diese Situation im Lichte ihrer eigenen pädagogischen Erfahrungen würdigen –, dennoch dauerte es bis November 1915, ehe die beiden ein Liebespaar wurden. Die Briefe aus jener Phase, in denen sich ein allmähliches Näherkommen und miteinander Vertrautwerden ausspricht, gehören zu den reizvollsten dieser Korrespondenz überhaupt. Inzwischen hatte der Krieg begonnen, Elli Salomon wurde Rotkreuzschwester, Gundolf kam als Schipper an die französische Westfront, das militärische Moment überlagerte für einen Augenblick das erotische, bis Gundolf durch verschiedentliche Interventionen nach Berlin abkommandiert wurde und dort als erstes Agathe Mallachow wiedertraf. Mit ihr, alsbald Mutter eines Kindes von Gundolf, ist ein erstaunliches Motiv dieses Liebesbriefwechsels angeschlagen: die häufigen, beinahe möchte man sagen, andauernden Nebenverhältnisse dieser beiden Liebenden. Sich einander inniglich zugehörig fühlend, waren dennoch beide immer wieder in Liebschaften, Verliebtheiten, Beziehungen mit Dritten verwickelt, die keineswegs schamhaft verheimlicht, vielmehr oft Gegenstand der gemeinsamen Korrespondenz wurden. Im prekären Fall Agathe Mallachow kam Elli aber dann doch bald ihrerseits nach Berlin, um dort ihr Studium fortzusetzen, welches Zusammensein wiederum Gundolf in Verlegenheit brachte, wenn etwa Fine von Kahler, seine angebetete „Göttin“, zu Besuch kam, die von Elli wenig angetan war und von ihrer ständigen Gegenwart noch weniger. In jene Zeit fällt auch eine nähere Berührung Elli Salomons mit George. Einmal schreibt Gundolf an sie: „Ausserdem hat er [der Meister] sehr dein Lob gesungen, was ich mich bei deiner Kleingläubigkeit nicht scheue dir mitzutei-
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len: du habest dich sehr bewährt und seist eine Hauptsüsse. Na also … drucke es aber nicht auf deine Visitenkarte. E. S. stud rer pol. H. Sss.“ Elli pflegte Gundolf in Berlin noch während einer schweren Grippeerkrankung, die Rekonvaleszenz verbrachte er in Oberstdorf mit Fine von Kahler, während Elli in Berlin bei Kriegsende rauschende Silvesterfeste feierte; kurz darauf fiel noch der Spartakusaufstand vor, dessen unmittelbare Zeugin sie wurde. Dann ging das Paar gemeinsam nach Heidelberg, Gundolf, um seine Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen, Elli, um dort bei Alfred Weber zu promovieren. War es in Berlin Fine von Kahler, der Ellis Anwesenheit nicht passte, so war es in Heidelberg nun George höchstselbst. Offenbar war ihm die Bindung seines Gundel, den er ja eben noch vor der Ehe mit Agathe Mallachow „bewahrt“ hatte, zu eng geworden. Direkte und indirekte Mahnungen aus dem Kreis, sich von Elli zu lösen, die nunmehr richtiggehend zum Weibsteufel stilisiert wurde, nahmen zu, und es ist nachgerade beklemmend zu sehen, wie Gundolf in seinen Briefen bemüht war, Elli diese Feindseligkeit des Kreises zu verbergen, von der sie doch direkt und unmittelbar erfasst wurde. Der Druck zeigte denn auch Wirkung; Elli räumte in Heidelberg das Feld und ging nach Wien, wo sie eine gut dotierte Anstellung bei Fine von Kahlers Bruder, Felix Sobotka, bekam. Offenbar war Fine sogar bemüht, ihr dort passende Tennispartner zuzuführen, um die nach wie vor feste Bindung an Gundolf zu lockern. Das gelang – Tennis hin oder her – keineswegs. Die Liebenden verbrachten gemeinsame Sommerferien, Gundolf hielt sich über längere Zeit in Wien auf und obwohl er gerade um diese Zeit sein George-Buch schrieb, wurde die Be- und Entfremdung Georges immer größer. Elisabeth Salomon, die schon in Berlin ihr Talent unter Beweis gestellt hatte, in kürzester Zeit alle möglichen interessanten Leute kennenzulernen, bewegte sich auch in der Wiener Gesellschaft wie ein Fisch im Wasser. Über ihren Schwager Siegfried Bernfeld, bedeutender Pädagoge und Psychoanalytiker, fand sie Zugang zu allerlei freudianischen Zirkeln. Beim Versuch, Filmschauspielerin zu werden, bekam sie von dem späteren „Casablanca“-Regisseur Michael Curtiz attestiert, sie sei vielmehr bestimmt, eine Rolle im Leben bedeutender Männer zu spielen. Durch die Mitarbeit an der „Österreichischen Rundschau“ drang sie in die Sphäre der literarischen Publizistik vor, was schließlich zu einer germanistischen Edition führte: die Herausgabe von Karoline von Günderodes Werken. Wie der Briefwechsel aber erweist, übernahm Gundolf dabei die meiste Arbeit.
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Zwischendurch schickte sie dem Geliebten eine numerische Statistik ihrer einzelnen Körperteile, die in seinen Gedichten an sie vorkommen – „Herz“ rangiert dabei deutlich vor „Schoß“ – und schmiedete, vielleicht als Reaktion auf Gundolfs Liebesaffären mit dieser und jener, allerlei Heiratspläne mit anderen Anbetern. Gundolf, der sich zu einer bürgerlichen Ehe nicht verstehen wollte, wählte stattdessen eine andere Verbindung mit der Geliebten: er setzte sie als Widmungsempfängerin aufs Titelblatt seines Kleist-Buchs, was den Bruch mit George letztlich herbeiführte. Dann gibt es eine Änderung im Schauplatz. Wohl durch eine kurzzeitige Affäre bestimmt, beschloss Elli nach Rom zu übersiedeln, wo sie dann aus nächster Nähe den sich eben etablierenden faschistischen Staat beobachten konnte. Ohne rechte Anstellung – ein Vorstellungsgespräch scheiterte, weil sie offenbar sämtliche Mitarbeiter der Firma erotisch affiziert hatte –, von allerlei latin lovern als deutsche Lorelei umschwärmt, schlug Elli Salomon sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, genoss italienische Kultur und Landschaft, lernte bei einer Stippvisite in der Schweiz Rilke kennen, der ihr gleich zwei Gedichte widmete, registrierte aber auch mit dem wachen Blick der Journalistin die innenpolitischen Zustände Italiens, den Mord an dem Oppositionsführer Matteotti, die zunehmende Einschränkung der individuellen Freiheit, die um sich greifende Propaganda etc. Und Gundolf? Der schrieb, beinahe schon manisch getrieben, ein Werk ums andere, den George, den Kleist, den Caesar, den Shakespeare, nur unterbrochen von gelegentlichen Liebschaften, Vortragsreisen oder längeren Zusammentreffen mit Elisabeth Salomon. Anfang des Jahres 1926 erfolgte dann endlich Gundolfs Heiratsantrag. Elli, gerade in einer intensiven Liebesaffäre befangen, brauchte ein Dreivierteljahr, um sich zu lösen, bevor es Ende 1926 in Heidelberg dann doch zur Hochzeit kam. Dieser Schritt, den Gundolf George vorher angezeigt hatte, bedeutete seinen endgültigen Bruch, nun auch mit dem Kreis. Landmanns, Wolters, Morwitz, Vallentin, Thormaehlen distanzierten sich von ihm, lediglich Karl Wolfskehl, Walter Kempner und Clothilde Schlayer standen auch weiterhin zu ihrem Freund. Der Briefwechsel wird nun spärlicher, beschränkt sich auf Phasen der Abwesenheit eines der beiden Partner von Heidelberg, Gundolfs schwere Erkrankung im Jahr 1927 schiebt sich dazwischen, auch recht viele Alltäglichkeiten oder auch Familiäres in den Briefen selbst, wie die Adoption von Gundolfs Tochter mit Agathe Mallachow. Erstaunlich
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bleibt, dass die Gefühlsintensität, die aus den vergleichsweise wenigen Briefen spricht, unverändert hoch ist. Gundolfs Befürchtung, dass die Ehe die Liebe veralltäglichen und abtöten werde, scheint sich nicht bewahrheitet zu haben, vielmehr scheinen die Liebenden in der Gemeinschaft des Zusammenlebens ihr Glück gefunden zu haben. Ob dabei von George aus ein Schatten auf diesen Ehefrieden fiel, ist schwer zu entscheiden. Aus den vorhandenen Briefen lässt sich nichts dergleichen herauslesen. Es wird wohl bei Gundolfs Prophezeiung aus dem Jahr 1926 angesichts der bevorstehenden Heirat geblieben sein: „Die Rache des Meisters kann uns den Himmel verdüstern, aber nicht unsre Ehe zerschlagen“. Gunilla Eschenbach II. Briefkommunikation im George-Kreis. Versuch einer Typologie Man fragt sich nun vielleicht, was unsere Briefedition mit dem Thema des Jahrbuchs zu tun hat. Es ist keine „Briefkommunikation im GeorgeKreis“, sondern eine Kommunikation, die aus dem Kreis herausführt. Man kann nicht einmal behaupten, es handle sich um eine Kommunikation über den Kreis. Denn George und andere Kreisangehörige spielen in dieser Korrespondenz keine herausgehobene Rolle. Schriften des Kreises, auch Gundolfs eigene Arbeiten, werden nur beiläufig erwähnt. Darin besteht ein zentraler Unterschied zur Briefkommunikation Georges. George schreibt in erster Linie über die Arbeit, also über das Werk im weitesten Sinn (Personen seines Kreises inbegriffen). Seine Handlungsintention beim Briefeschreiben ist der Aufbau des ‚Staats‘. In Gundolfs Briefen an Elisabeth Salomon steht dagegen kaum Werkbezogenes. Seine Handlungsintention beim Briefeschreiben ist der Erhalt ihrer Liebesbeziehung. Er erscheint in seinen Briefen ausschließlich als Privatperson. Wenn es um seine Schriften geht, dann um Peripheres wie Zeitungsbesprechungen, die zu sammeln er seiner Liebsten aufträgt. Seiner Autoreneitelkeit gibt diese Beziehung Nahrung, von einem wissenschaftlich-fachlichen Austausch lebt sie nicht. Gundolf selbst hätte den Gedanken, diese Liebesbriefe zu veröffentlichen, wahrscheinlich verworfen. Als Dokument ihrer Liebe waren ihm seine Briefe und Gedichte dennoch wichtig. Gundolfs phasenweise wohl täglich bei ihr eintreffenden Gedichte – oft nur der Gedichttext, ohne Begleitbrief – klebte sie in Mappen und datierte sie nach ihrem Eingang. Gundolf
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wusste die Gedichte bei ihr gut archiviert und bat sie gelegentlich um Abschriften oder um Listen der Gedichtanfänge. Eine Auswahl davon nahm er in die „Meiner Frau“ gewidmete Sammlung ‚Gedichte‘ (1930) auf.2 Seine Briefgedichte wurden von der Witwe Gundolf als Teil des literarischen Nachlasses betrachtet, die Briefe selbst hingegen nicht. Dabei ist zu bemerken, dass Gundolf seine Liebesbriefe durchgängig kurrent schreibt, seine Gedichte aber gelegentlich in StG-Schrift. Die Schreibschrift gilt gemeinhin als unmittelbarer Ausdruck der individuellen Seelenbewegung, die StG-Schrift setzt eine gewisse Stillstellung und inneres Abstandnehmen voraus. StG-Schrift und Liebesbriefe hätten sich gegenseitig profaniert. Die in StG-Schrift verfassten Gedichte waren demgegenüber Briefsendungen mit Werkcharakter, die zwar intime Inhalte hatten, aber durchaus im Freundeskreis kursieren und teils veröffentlicht werden konnten. Die Tatsache, dass die verwitwete Elisabeth Gundolf das Briefkonvolut weder (wie die Briefe von Stefan George an Friedrich Gundolf) an Robert Boehringer zum Aufbau des George Archivs verkaufte noch (wie die Briefgedichte und die sonstigen Briefschaften Gundolfs) dem Londoner Gundolf Archiv vermachte, deutet darauf hin, dass ihr der Inhalt zu intim war. Sicher war ihr Antrieb nicht, wie bei den Erben Georges, die Auslöschung alles Persönlichen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sie eine Schachtel mit Gundolfs fotografischer Sammlung ‚seiner Damen‘ – die abgebildeten Personen sind Freundinnen und Studentinnen –,3 oder seine Gelegenheitsverse4 dem literarischen Nachlass ihres Mannes zufügte? Zur Veröffentlichung bestimmt waren sie nicht, gleichwohl sollten sie der Forschung zugänglich sein, um ein umfassendes Bild der Persönlichkeit zu geben. Gundolf sollte jenseits des publizierten Werks als Privatperson durchscheinen. Anders war es um die Nachlasspolitik des George-Kreises bestellt. Privatbriefe, namentlich intimen Inhalts, sollten nicht überliefert werden. Einen erhellenden Einblick gibt die folgende Passage aus dem Florentiner Tagebuch von Margot Ruben, der Freundin und Sekretärin Karl Wolfskehls, die eine seiner Gesprächsäußerungen wiedergibt: 2 3
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Vgl. Friedrich Gundolf: Gedichte, Berlin 1930. Gundolf Archiv London. Inventarisiert unter der Bezeichnung „Green file II, Various photos“. Gundolf Archiv London. Inventarisiert unter den Signaturen W8 und W9, „Nonsense verse to Elli.“
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Helmuth Mojem, Gunilla Eschenbach Es gibt kein Privatleben D. M.! Stefan George und Jesus von Nazareth sind die beiden einzigen Menschen innerhalb aller dokumentierten Geschichte die ganz und nur ihr Werk, ihre Schöpfung sind! Jedes Wissen um die organische Existenz mit all ihren Gesetzen und Zufällen (Schnupfen, Lieben) beleuchtet nicht ihr Bild sondern trübt, hemmt deren wirkende Macht über d. Seelen. Auch f. Goethe ist seine Privatexistenz ausserhalb dem ins Werk eingegangnen unwichtig – aber nicht schädlich, konturenverwischend aber nicht gefährdend. Denn seine magische Gewalt hat er über uns verloren. Er ist der reine Dichter der Schönheit der Deutschen, doch nicht ihr Anrufer, nicht der Gründer eines Reichs. St. G’s Privatbriefe sind nicht nur unwichtig sondern gefährlich: sie müssten die Wirkung des Werks trüben, die Magie der Wirkung, das metaphysische Strahlfeld, der Dämon des Geistes könnten nicht rein mehr wirken. Welch ungeheure Gefahr liegt darin für die die das wüssten und bösen Gebrauch davon machten! Mit den Privatbriefen könnte Schwarzmagie getrieben werden! Aber G.[ott] s.[ei] D.[ank] weiss das niemand. Und welche Bedeutsamkeit die magische Gegenaktion hätte bei dem der das kommende deutsche Schicksal ist … Das Verschweigen u. Vernichten aller Privatspuren die nicht ins Bild eingegangen (vor allem Briefe. nicht M.-Worte, nicht Portraits) ist tiefe, metaphysische Notwendigkeit, nicht etwa Prüderie, Gouvernantenhaftigkeit. Dies ist der Sinn jener ‚Exklusivität‘; Verdichtung der magischen Kraft D. M.5
Mit Privatbriefen Schwarzmagie treiben: Es ist kein Zufall, dass Wolfskehl nicht dem (unautorisierten) Bild oder der kolportierten Anekdote, sondern dem Brief eine derartige ruf-, werk- und wirkungschädigende Kraft zuerkennt. Anders als bei Porträts oder überlieferten ‚Meisterworten‘, in denen noch ein Medium zwischengeschaltet ist bzw. die Frage nach der Authentizität gestellt werden kann, ist ein Brief ein Ego-Dokument allerersten Ranges. Ein erotischer Brief – darauf verweisen wohl die Begriffe „Prüderie“ und „Gouvernantenhaftigkeit“ – legt offen, was eben nicht im ‚Reich des Geistes‘, sondern in den organischen Niederungen der Sexualität angesiedelt ist. Es bleibt unklar, weshalb Wolfskehl befürchtete, das Bekanntwerden von Details aus Georges Intimsphäre könne seiner Wirkung schaden. Glaubte er, Georges Homosexualität könne von der NS-Propaganda genutzt werden, um ihn und seinen „jüdischen Kreis“ als „undeutsch“ zu desavouieren? Oder hielt er diese 5
Margot Ruben: Tagebuchaufzeichnung undat. [Januar / Februar 1937], unpaginiert, in schwarzem Schreibheft mit dem Titel „Aufzeichnungen November 1934 – Dez. 1937“ (DLA). Teilveröffentlicht in: Margot Ruben: Karl Wolfskehl. Gespräche und Aufzeichnungen 1934–1938. In: Castrum Peregrini 41, 1960, S. 91–133, hier S. 123.
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menschlichen Zufälligkeiten – wie der Vergleich mit Jesus von Nazareth nahelegt – grundsätzlich für unwichtig? Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang der Vergleich mit Goethe. Goethe habe, argumentiert Wolfskehl, die „magische Gewalt […] über uns verloren“, der Zenit seiner Wirkung sei überschritten. Wolfskehl bemisst den – modern gesprochen – Datenschutz verstorbener Autoren nach denjenigen Kriterien, wie sie dem Imitatio-Modell des Kreises zugrunde liegen.6 Bei Goethe hält er das postmortale Persönlichkeitsrecht für erloschen, da die schutzwürdigen Werte seines Werkes von der Zeit überholt seien.7 George hingegen genieße postmortalen Persönlichkeitsschutz, da die Wirkung seines Werkes die mit dem Tod des Autors endende Rechtsfähigkeit noch überdauere. Es muss also Privatbriefe von George gegeben haben, deren Existenz „verschwiegen“ oder gar „vernichtet“ wurde. Analog zur terminologischen Unterscheidung des George-Kreises zwischen „privaten“ und „staatlichen Gedichten“ – beide Gedichttypen entstanden im Kreis, aber veröffentlicht wurden nur „Staatsgedichte“ – bietet sich die Unterscheidung zwischen „privater“ und „staatlicher“ Briefkommunikation an. Der „Privatbrief“ in diesem George-spezifischen Sinn ist nicht gleichzusetzen mit der in der Editionsphilologie etablierten Gattungsbezeichnung des Privatbriefs.8 Als Privatbrief gilt normalerweise jedes Schriftstück, das zwischen Personen und nicht zwischen Ämtern gewechselt wird. So betrachtet, wäre der Großteil von Georges Briefproduktion privat. In der hier zur Rede stehenden Differenzierung zwischen „privat“ und „staatlich“ besteht aber der Unterschied nicht in einer entweder persönlichen oder geschäftlichen Beziehung der Schreiber zueinander: Georges ‚Staat‘ ist gerade nicht, wie die Rede vom „Staat“ oder „Reich“ insinuieren könnte, durch ein institutionelles, sondern durch ein persönliches Verhältnis der Akteure zueinander geprägt (Contagio).
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Vgl. Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Berlin 2011. Vgl. ebd., S. 14, S. 79 und passim. Vgl. auch Karl Wolfskehl: Geheimnis der Überlieferung (1930). In: Ders.: Gedichte, Essays, Briefe. In Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach hg. von Cornelia Blasberg und Paul Hoffmann, Frankfurt a. M. 1999, S. 79–82. Vgl. Irmtraut Schmid: Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus „Brief“ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: Editio 2, 1988, S. 1–7.
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Alles, was dem Erhalt von Freundschaften, der Beziehungspflege dient, hat für George staatliche Relevanz. Um die Briefkommunikation im George-Kreis definitorisch genauer zu fassen, bietet sich ein vergleichender Blick auf die private und staatliche Lyrik im Kreis an. Gelegenheits- oder Liebeslyrik, die Personen oder Sachverhalte außerhalb des sozialen Kreislebens berührt und deren Thematik nicht auf den Kreis übertragbar ist – auch das ist nämlich möglich, dass George ein eigentlich „privates“ Gedicht als „Staatsgedicht“ rezipiert –,9 ist für George irrelevant. Im Analogieschluss kann daher als ein Privatbrief im Sinne Georges jedes briefliche Schriftstück definiert werden, das das Werk und die Wirkung Georges nicht fördert. In den Briefbeziehungen von Kreismitgliedern gehen beide Brieftypen je unterschiedliche Mischungsverhältnisse ein. Gundolfs Briefwechsel mit Wolfskehl berührt zum Beispiel in großen Teilen Themen, die nichts mit dem George-Kreis zu tun haben, und diese Korrespondenz wird auch nach dem Ausschluss Gundolfs aus dem George-Kreis bruchlos weitergeführt. Das Ideal des George-Kreises bleibt jedoch das staatliche Handeln, auch in persönlichen Freundschaften. Gundolf beschwert sich an einer Stelle gegenüber Elisabeth Salomon über einen Besuch bei dem Ehepaar Vallentin mit den Worten: „Vallentins treiben zuviel Nebendinge, Börsengespräche bei Tisch“.10 Dieser dezidiert George-ferne Gesprächsgegenstand wird von Gundolf als peripher abgetan und kritisiert. Auch bei privaten Treffen mit Freunden bleibt der künstlerisch-intellektuelle Austausch das Verbindende. Georges Staatsbriefe richten sich an Personen innerhalb des sozialen Kreislebens, es geht in ihnen entweder um das Werk im engeren Sinn – mit geschäftlichen Mitteilungen an Verleger oder Mitherausgeber, Hinweisen zur redaktionellen Arbeit an Texten etc. – oder um den Bau und Erhalt des Freundeskreises. Für Verlegerkorrespondenz oder sonstige Absprachen nutzt George gelegentlich Telegramme und Kartenbriefe, also die modernen Formen der Kommunikation. Auch Freundschaftsbriefe enthalten oft nur Terminabsprachen oder sonstige Mitteilungen, um ein persönliches Treffen vorzubereiten. Gelegentlich berichtet 9 10
Vgl. Eschenbach, Imitato im George-Kreis (Anm. 5), S. 211 (dort in Anm. 148). Friedrich Gundolf an Elisabeth Salomon, Brief vom 19. April 1923. Abgedruckt in unserer Briefedition Friedrich Gundolf – Elisabeth Salomon. Briefwechsel (1914–1931). Im Auftrag des Deutschen Literaturarchivs Marbach hg. von Gunilla Eschenbach und Helmuth Mojem, Berlin 2015, S. 425.
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George von gemeinsamen Freunden und deren Befinden. Es geht George also auch um die Pflege der Beziehungen untereinander. Manchmal finden sich in seinen Briefen Gedichteinlagen, z.B. das Gedicht ‚An mein kind‘ in einem undatierten Brief an Sabine Lepsius.11 Das sind Momente, in denen er den Briefpartnern Einblicke in sein Seelenleben gewährt. Statt intime Bekenntnisse dem Brief anzuvertrauen, verweist George auf das Gedicht. Das ist deutlich diskreter, weil die ästhetische Form erstens Emotionen einhegt und zweitens dem Adressaten mehrere Verständnisebenen anbietet. Aus diesem Grund favorisiert George gelegentlich die Übergabe von Gedichten an einen bestimmten Empfänger statt von Briefen. Zwar fehlen Formalia eines Briefes wie Anrede, Datum, Grußformel und postalische Angaben. Dennoch ersetzt hier das Gedicht den persönlichen Austausch über Intimes, den George nicht oder nur ungern dem Brief anvertraut. Eine Unterart des Staatsbriefes sind Briefe, die im Auftrag Georges verfasst werden und nach außen gerichtet sind, z.B. Antworten auf Briefe an die Redaktion der ‚Blätter für die Kunst‘ mit eingesandten eigenen Gedichten oder Gedichtbänden Georges mit der Bitte um ein Signierexemplar. Diese bloß sachlichen Mitteilungen lässt George von Dritten schreiben.12 Natürlich ist das auch Machtdemonstration. Nicht nur das Schreiben und Empfangen, auch das Nicht-Empfangen, NichtLesen und Nicht-Beantworten von Briefen gehört zu den Handlungsoptionen staatlicher Briefkommunikation im Kreis. Sie gehen nach außen, sind aber gleichwohl offizielle Verlautbarungen des ‚Staats‘ und mithin „staatliche“ Korrespondenz. Dass George seinen berühmten Absagebrief bezüglich der ihm angebotenen Ehrenposition in der nunmehr gleichgeschalteten Akademie der Künste selbst verfasste und nicht von Dritten schreiben ließ, zeigt, dass er sich in diesem Fall tatsächlich alle Türen offenhalten wollte. Es gibt staatliche Korrespondenzen, die George in der Überzeugung führt, dass sie archiviert und ggf. einmal veröffentlicht werden. Das ist bei obigem Schreiben ‚von Staat zu Staat‘, das in Auszügen an die da-
11
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Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935, Begleitmappe mit Faksimiles von elf Bildnissen, einem Gedicht und zwölf Briefen, hier Nr. 12 „Sabine Teuerste mit Gedicht ‚An mein kind‘ (undatiert)“. Vgl. z.B. Stefan George an Unbekannt, Brief vom 12. Juni 1931, im Auftrag geschrieben (DLA Marbach).
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malige Presse ging,13 und bei seinem Briefwechsel mit Hugo von Hofmannsthal der Fall. Den Mahnbrief vor Gundolfs geplanter Eheschließung mit Elisabeth Salomons Vorgängerin Agathe Mallachow hat George zweimal geschrieben: einmal im Affekt, im privaten Modus (dieser erste Brief wurde nicht in die Briefausgabe aufgenommen), ein zweites Mal im staatlichen Modus (dieser Brief wurde gedruckt). Agathe Mallachow weiß zu berichten, dass im ersten Schreiben die Drohung stand, Gundolf werde aus dem Kreis ausgestoßen, während der zweite – ihr erst 1962 aus der Briefedition bekannt gewordene – den Weg einer Eheschließung nicht per se ausschloss. Was dieser Vorgang deutlich macht, ist Folgendes: George denkt beim Schreiben an eine Öffentlichkeit; er schreibt unter Umständen „für die Nachwelt“ und macht dies durch äußere Zeichen wie Papierbeschaffenheit, Schreibstil und Duktus deutlich. Gundolfs geplante Heirat war – hier ein Bruch zu der sonstigen Betrachtungsweise Georges – keine Privatangelegenheit, sie hatte für George ‚staatliche‘ Relevanz. Das macht er in der Form seiner Briefkommunikation deutlich. Der letztere Brief ist als Einschreiben geschickt, auf Büttenpapier und mit dem Sigel der ,Blätter für die Kunst‘ versehen. Während George den ersten Brief aus der Eifersucht des Freundes heraus verfasst, ist dieser zweite Brief derjenige, den er aus der Perspektive des Staats heraus schreibt. Gundolf hat Agathe Mallachow nur den ersteren Brief gezeigt.14 Obwohl Frauen wie Agathe Mallachow oder Elisabeth Salomon mit den Werten des Kreises harmonierten, mit verschiedenen Kreisangehörigen in Kontakt standen und gebildet, schön, unabhängig und musisch waren, konnten sie es aufgrund ihres biologischen Geschlechts nicht zu positiver staatlicher Relevanz bringen. Was aber, wenn Frauen sich über ihr biologisches Geschlecht erheben, wenn sie keine Liebesbeziehungen zu Männern eingehen und auch nicht Mutter werden? In diesem Fall sind spätere Angehörige des George-Kreises in der Zeit nach Georges Tod weniger konsequent als ihr Meister. Der Briefwechsel zweier Frauen – Renata von Scheliha und Edith Landmann – kultiviert 13
14
Vgl. Kai Kauffmann: Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann / Kai Kauffmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin – Boston 2012, Bd. 1, S. 7–94, hier S. 87. Vgl. Agathe Mallachow an Clara Burger von Duhn, Brief vom 20. September 1962 (DLA Marbach).
Friedrich Gundolfs und Elisabeth Salomons intimer Briefwechsel
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den staatlichen Briefkommunikationstyp des Kreises in nuce. In diesen Briefen schreiben Frauen, die ihr biologisches Geschlecht vollständig aufgegeben zu haben scheinen. Das gilt vor allem für Renata von Scheliha. In ihren Briefen stehen das wissenschaftliche Arbeiten und der Aufbau und Erhalt eines George-affinen Freundeskreises im Vordergrund. Ihr Briefstil ist knapp, nüchtern, pointiert, auch anteilnehmend am Gegenüber, aber nur in der Rolle der verehrten älteren Gelehrten. Nicht die Ehefrau und Mutter Edith Landmann, sondern die Wissenschaftlerin und Freundin Stefan Georges wird von ihr bewundert. Wenn Edith Landmann in ihren Briefen gelegentlich aus ihrer Perspektive als Mutter oder Witwe spricht, reagiert ihre Briefpartnerin ungehalten. Umgekehrt bemerkt Scheliha an einer Stelle ironisch, aber doch stolz, dass sie von Ernst Morwitz nun endgültig als Mann anerkannt worden sei.15 Sie streift das von George vorgesehene Rollenmodell der Ehefrau und Mutter ab. Ihr Ideal ist Sappho, die Dichterin und Erzieherin junger Mädchen. Der Briefwechsel mit Edith Landmann setzt entsprechend mit dem gemeinsamen Buchprojekt einer Geschichte bedeutender Griechinnen ein. Erkennbar suchen beide Briefpartnerinnen nach Rollenvorbildern für eine Weiblichkeit, die mit den Werten Georges in Einklang steht. In ihrem Briefwechsel geht es fast ausschließlich um Buchprojekte. Wir lernen aus den Briefen, dass die jungen Frauen aus der Hausgemeinschaft Renata von Schelihas die ältere Edith Landmann besuchen, sie pflegen und unterstützen und umgekehrt menschlichen Rat suchen. Emphatische Gruß- und Schlussformeln geben den Briefen eine persönliche Färbung. Auch George verwendet in Briefen an seine geliebten Freunde emphatische Anreden und Kosenamen.16 Doch inhaltlich geht es bei ihm wie bei Scheliha um das eigene oder gemeinsame Werk: bei ihr um altphilologische Studien, Aufsätze, Buchpublikationen (bemerkenswerter Weise, da in diesem Punkt abweichend von der Briefkommunikation Georges, nicht um Gedichte). Private Befind15
16
Vgl. Renata von Scheliha an Edith Landmann, Brief undatiert [September / Oktober 1935] (DLA Marbach). Vgl. Wolfgang Braungart / Christian Oestersandfort / Franziska Walter / Jan Andres: Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner). In: Renate Stauf / Annette Simonis / Jörg Paulus (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2008, S. 223–270, hier S. 254.
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lichkeiten, Klatsch und Tratsch oder intime Bekenntnisse fehlen. In griechischen Passagen, um der Zensur zu entgehen, werden Mitteilungen über geflohene und erfolgreich exilierte Freunde des George-Kreises oder die gemeinsame oppositionelle Haltung zum NS-Regime ausgetauscht. Obwohl es sich bei den Briefverfassern um Frauen handelt, die wiederum einen Kreis junger Frauen um sich scharten und bei George aufgrund ihres biologischen Geschlechts keine herausgehobene Position hätten für sich beanspruchen können, ist dieser Briefwechsel derjenige, abgesehen von Georges eigenen Briefen, der seinem Ideal von staatlicher Briefkommunikation am nächsten kommt.17 ‚Staatliche‘ Briefkommunikation im Sinne Georges stellt alles Schreiben in den Dienst am ‚Staat‘. Dies ist an Georges eigenen Briefen, aber auch an Briefen nachgeborener George-Anhänger wie Renata von Scheliha ablesbar. Gundolf und Elisabeth Salomon haben kein solches Projekt, ihr Projekt ist die Liebesbeziehung. Persönliche Befindlichkeiten, die in ihren Briefen im Zentrum stehen, würden im Kreis nur stören. Konsequenterweise lehnt George einen empfindsamen Briefstil und das spontane Verhandeln von Gefühlslagen ab. Auch das Dichten ist für George Dienst am ‚Staat‘. Gedichte sind in die kommunikativen Prozesse des Kreislebens eingebunden. Dass Gundolf nun zum Kummer Georges ab einem gewissen Punkt fast nur noch „private“ Lyrik und keine „staatliche“ mehr verfasst, wird von George ebenso wie der wachsende Einfluss von Frauen auf dessen Gefühlsleben als Zeichen des drohenden Entgleitens Gundolfs aus seinem Kreis empfunden worden sein. Dass es mit Renata von Scheliha und Edith Landmann ausgerechnet Frauen sind, die am reinsten sein Ideal des staatlichen Briefstils wahren, ist eine überraschende Randnote in der Geschichte des apokryphen George-Kreises.
17
Eine Edition des Briefwechsels durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach ist in Vorbereitung.
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Janus Gudian
Kantorowicz im Kaleidoskop seiner Korrespondenz I. Die ‚Briefedition Ernst Kantorowicz (1895–1963)‘ Mit dem ehemaligen Frankfurter Historiker Ernst Hartwig Kantorowicz (geboren 1895 in Posen – gestorben 1963 in Princeton) steht nicht nur einer der bedeutendsten Mediävisten, sondern auch eine in der Rezeption durch Öffentlichkeit wie Wissenschaft spezifische Forscherpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts im Zentrum einer Briefedition, die an der Goethe-Universität Frankfurt und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach erarbeitet wird.1 Das Editionsprojekt hat die möglichst vollständige Erfassung, Sammlung und Verzeichnung der Briefe von, an und über Kantorowicz sowie die textphilologische Aufbereitung aller Briefe aus Kantorowicz’ Feder zum Ziel. Damit wird nicht nur ein wertvoller, weltweit verstreuter Quellenbestand für die internationale Mediävistik zusammengeführt und erschlossen. Angesichts Kantorowicz’ interdisziplinärer Forschungsinteressen, seiner weit verzweigten Netzwerke und insofern sein Werdegang als exemplarisch für die spannungsreichen Gelehrtenbiographien des 20. Jahrhunderts gelten kann, stellt die Briefedition auch für viele angrenzende Disziplinen ein Desiderat dar – z.B. für die deutsche wie amerikanische Zeit-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, die Geschichte der Geschichtsschreibung, die Exilforschung sowie die Kunst-, Literatur-, Musikgeschichte und Byzantinistik. Die der internationalen Kantorowicz-Forschung bis heute nur bruchstückhaft bekannte Korrespondenz (insbesondere aus dem Umfeld des George-Kreises) verspricht im Sinne eines Werkkommentars, aber auch auf biographischer Ebene, einen signifikanten Erkenntnisgewinn, insofern sie Forschungslücken schließt und die Basis für eine quellengestützte Zusam1
Geleitet wird das Projekt durch den Mediävisten Johannes Fried (der bis 2009 den ehemaligen Frankfurter Lehrstuhl Kantorowicz’ innehatte), den langjährigen Kantorowicz-Spezialisten Robert E. Lerner, den Germanisten Ernst Osterkamp sowie den Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff. Ebenfalls an der Edition beteiligt sind Eckhart Grünewald, der das Verhältnis von Kantorowicz und George untersuchte (vgl. Anm. 7), sowie (zeitweise) drei wissenschaftliche Mitarbeiter.
https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0005
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menschau von Biographie und Œuvre schafft. Die Edition entsteht in intensiver Auseinandersetzung mit den einschlägigen wissenschaftlichen Diskursen und wirkt ihrerseits auf diese zurück (so hat die Editionsarbeit etwa den Anstoß zu einer internationalen Tagung gegeben, welche die konfliktbelastete Zusammenarbeit jüdischer und völkischnationaler Wissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt in den Jahren vor und nach 1933 in den Blick nahm2). Die seit jeher interdisziplinär ausgerichtete Kantorowicz-Rezeption kreiste bislang vor allem um die Frage nach dem Fortwirken der geistesgeschichtlichen Traditionen der 1920er Jahre im Denken Kantorowicz’, insbesondere nach Kontinuität bzw. Transformation der Gedanken Georges. Dieser nahezu beherrschende Forschungsdiskurs schreibt der Biographie Kantorowicz’ einen hohen Stellenwert zu, erkennt dabei jedoch nicht nur unterschiedliche Schlüsselmomente, sondern divergiert auch in der Bewertung des spezifischen Zusammenhangs von Leben und Werk (Bewältigung – Spiegelung – Brechung). Der systematischen Erschließung der Kantorowicz-Korrespondenz kommt zur Präzisierung dieses Verhältnisses eine zentrale Bedeutung zu, insofern die umfangreichen Briefneufunde und das erstmals systematisch rekonstruierte Korrespondenten-Netzwerk Material- und Wissenslücken schließen, neue Einsichten in Kantorowicz’ von Ambivalenzen und Brüchen geprägte Biographie gewähren und die Vielschichtigkeit seines Œuvres deutlicher hervortreten lassen. Die edierten Briefe Kantorowicz’ sollen der deutschen und amerikanischen (Fach-)Öffentlichkeit in einer Hybrid-Edition zur Verfügung gestellt werden. Eine Auswahl von circa 400 kommentierten Briefen Kantorowicz’ wird in einer zweibändigen Printedition bei Klett-Cotta erscheinen.3 Diese Auswahledition wird durch eine Online-Edition er2
3
Moritz Epple / Johannes Fried / Raphael Gross / Janus Gudian (Hg.): „Politisierung der Wissenschaft“. Jüdische Wissenschaftler und ihre Gegner an der Universität Frankfurt am Main vor und nach 1933, Göttingen 2016 (= Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs 5). Die Auswahlkriterien für diese Printedition sind der wissenschaftliche Gedankenaustausch Kantorowicz’: sein beruflicher Werdegang sowie seine biographischen Verwerfungen, mithin die Zusammenschau von Kantorowicz’ Biographie und Œuvre sowie seine Personifizierung des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm), aber etwa auch die zeitpolitischen Reflexionen sowie Kantorowicz als Literat und Stilist.
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gänzt, die sämtliche Briefe Kantorowicz’ in einer recherchefähigen Datenbank und als Faksimiles zur Verfügung stellt (und die auch nach Projektende ergänzungs- und erweiterungsfähig bleibt). Aus der Bearbeitung eines Briefs von der Recherche und Akquise über Transkription und Kollation bis hin zur Auszeichnung und Kommentierung sollen hier zwei Punkte herausgegriffen und konkretisiert werden, um die Arbeit an einer Briefedition zu veranschaulichen. Zunächst die Recherche und Akquise: Kantorowicz verfügte testamentarisch, dass seine Korrespondenz nach seinem Tod vernichtet werden solle.4 In seinem Nachlass im Leo Baeck Institute in New York findet sich daher nur eine überschaubare Anzahl an (Original-)Briefen; die meisten noch erhaltenen Schreiben wurden auf anderem Weg überliefert. Als weitere Ausgangspunkte der Recherche dienten neben dem Stefan George Archiv in Stuttgart die Universitätsarchive von Kantorowicz’ Schaffensorten in Deutschland und den USA, also der GoetheUniversität Frankfurt am Main, der University of California, Berkeley, und des Institute for Advanced Study in Princeton. Um die große Anzahl in Privatbesitz befindlicher Briefe aufzuspüren,5 wurde Kantorowicz’ Korrespondentennetzwerk systematisch rekonstruiert. Zu diesem Zweck wurden sein im Nachlass erhaltenes Adressbuch, seine Sonderdrucksammlung und die Dankeshinweise in seinem wissenschaftlichen Werk (Widmungen, Vorworte, Fußnotenapparate) ausgewertet. Des Weiteren wurden die Verlage und Zeitschriften, in denen Kantorowicz publizierte, angeschrieben, sowie die Nachlässe seiner Übersetzer und Mitarbeiter überprüft. Parallel dazu wurde (und wird) sämtlichen Namenserwähnungen in den vorliegenden Briefen nachgegangen und die Nachlässe der betreffenden Personen auf einschlägige Korrespondenz hin gesichtet; auf diese Weise können kontinuierlich Neufunde verzeichnet werden. Es ist bemerkenswert, mit wie vielen Personen der Zeitgeschichte Kantorowicz in Kontakt stand, so unter anderem mit dem preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, der ZEIT-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, dem Diplomaten und NS-Gegner Albrecht Graf Bernstorff, dem renommierten Altphilologen und Oxford4
5
Vgl. § 12 des Testaments Ernst Kantorowicz’. In: Leo Baeck Institute, New York (im Folgenden LBI), Ernst Kantorowicz Collection, AR 7216/MF 561, Folder I/1/11, No. 277. Hier ist u.a. auf das Archiv ‚Dr. Eckhart Grünewald, Frankfurt am Main‘ sowie auf das ,lernen archive‘ hinzuweisen.
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Gelehrten Sir Maurice Bowra, dem Historiker Theodor E. Mommsen, dem Münchener Kirchenrechtler Stephan Kuttner, dem Kunsthistoriker und Princetoner Kollegen Erwin Panofsky, dem ehemaligen Wehrmachts- und späteren Nato-General Hans Speidel, dem US-Verfassungsrichter Felix Frankfurter sowie dem Atomphysiker Robert Oppenheimer. Die Edition gibt die mehrheitlich deutschen und englischen Briefe in der jeweiligen Originalsprache und in chronologischer Reihung wieder; da sie sich dezidiert an ein internationales Publikum richtet, werden lateinische Abkürzungen verwendet. Dabei soll die Kommentierung so knapp wie möglich gehalten werden (in der Regel im Verhältnis 2:1). Die hier vorgenommene Auswahl einiger Beispielbriefe bzw. Briefpassagen aus dem Fundus des Projekts geschieht mithin unter dem Gesichtspunkt, welche Forschungsfragen durch die Kenntnis der Briefe aufgeworfen bzw. beantwortet werden.6 II. Facetten eines Lebens Als Sohn eines jüdischen Spirituosenfabrikanten in der von nationalen Konflikten geprägten südpreußischen Provinz Posen geboren, im Ersten Weltkrieg mehrfach dekoriert und (so die bisherige Ansicht) im Freikorps gegen kommunistischen Spartakusbund und Münchener Räterepublik kämpfend: Noch bevor Ernst Kantorowicz im Wintersemester 1919/20 in Heidelberg sein Studium der Nationalökonomie aufnimmt, ist seine Biographie aufs engste mit dem Zeitgeschehen verknüpft.7 Von 6
7
Die Kommentierung selbst unterscheidet sich in Herausgeberkommentare (etwa wenn eine handschriftliche Ergänzung vorliegt), Stellenkommentare (erklärende bzw. auslegende Kommentare), Übersetzungen sowie Namens- und Werkkommentare. Bis heute sind vier Biographien über Kantorowicz erschienen: Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘, Wiesbaden 1982; Alain Boureau: Kantorowicz. Geschichten eines Historikers, aus dem Französischen von Annette Holoch, mit einem Nachwort von Roberto delle Donne, Stuttgart 1992; Verf.: Ernst Kantorowicz. Der „ganze Mensch“ und die Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 2014 (= Gründer, Gönner und Gelehrte. Biographienreihe der Goethe-Universität). Und nun die profunde und aktuelle von Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz: A Life, Princeton – Oxford 2017.
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Haus aus deutsch-national gesinnt, stößt der junge Student zum Kreis des charismatischen Dichters Stefan George, in dem seine ‚Jünger‘ den Künder eines neuen, des ‚Geheimen Deutschlands‘ sehen. Sein unter der Ägide Georges entstandenes Jugendwerk ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘ von 1927 versteht sich als Beitrag zur geistigen Erneuerung Deutschlands und sorgt unter Historikern unter dem Stichwort der ‚Mythenschau‘ – Kantorowicz habe den Kaiser mehr verklärt denn erforscht – für Furore.8 Kantorowicz (1930 ohne Habilitation zum Professor für Mittelalterliche Geschichte an die Universität Frankfurt berufen) muss 1938, trotz des großen Anklangs seiner Geschichtsschreibung gerade unter den führenden Politikern des NS-Regimes, vor ihrer antisemitischen Politik fliehen. Der großbürgerliche Habitus und die damit einhergehende Anspruchshaltung des jungen Kantorowicz’ lassen sich besonders gut in seinen neu entdeckten Kriegsbriefen an die Eltern greifen, in denen wiederholt die von ihm in den Schützengraben (und manchmal doch recht fordernd) erbetenen Delikatessen zur Sprache kommen: Zunächst Dir, liebstes Muttel, vielen Dank für die vielen Pakete. Ich erhielt: Rollschinken, Huhn, Rebhuhn, Fleischklopse, Bonbons, Kuchen, SchokoladenTorte & Makronen, Seiflappen [Waschlappen]. Es ist alles tadellos angekommen & hat – bis auf die Seiflappen – alles famos geschmeckt […] Aber mein Pelzchen könntet Ihr vielleicht an Krauss schicken & zwar je eher je besser.9
Ein in späteren Jahren aufgenommenes Foto zeigt einen mit Hut, weißen Handschuhen und pelzverbrämtem Mantel angetanen Kantorowicz an der Seite seiner langjährigen Geliebten Lucy Baronin von Wangenheim (vgl. Abb. 1).10 Briefneufunde wie Fotografien bestätigen die in der 8
9
10
Vgl. die zwischen dem (noch) unbekannten Kantorowicz und Albert Brackmann, Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive und Ordinarius für Geschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (seit 1949 HumboldtUniversität), in der renommierten Historischen Zeitschrift (HZ) ausgetragene Debatte über das Verständnis der Geschichtswissenschaft: Albert Brackmann: Kaiser Friedrich II. in „mythischer Schau“. In: HZ 140, 1929, S. 534–549; Ernst Kantorowicz: „Mythenschau“. Eine Erwiderung. In: HZ 141, 1930, S. 457–471; Albert Brackmann: Nachwort. In: HZ 141, 1930, S. 472–478. Ernst Kantorowicz an seine Eltern, Joseph und Clara Kantorowicz, Brief vom 12. 10. 1915. Ariane Phillips, Privatbesitz. Ernst Kantorowicz und Lucy Baronin von Wangenheim (genannt „Baby“). Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, NL Carlo Schmid, 6/FOTA149766 (siehe Abb. 1), ich danke Ekhart Grünewald für den Heinweis.
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Forschung zu findende Charakterisierung Kantorowicz’ als Mann von Welt, als „Dandy“.11 Dessen ungeachtet konnte er ganz offensichtlich sehr humorvoll darauf reagieren, wenn er anders als durch seine tatsächliche Erscheinung intendiert wahrgenommen wurde: So erzählt man sich in Berlin von mir, dass ich ganz abgerissen u. schäbig angezogen ginge […] Ich habe nun […] entsprechende Anweisungen gegeben: ich liesse mir zwar dauernd neue Anzüge machen u. hätte den Schrank voller Kleider, trüge aber nur einen alten zerfetzten Anzug – das sei eben meine Meschuggas.12
Aus dem Brief vom Oktober 1915 an die Eltern ist zudem Interessantes über die Assimilation der jüdischen Familie Kantorowicz zu erfahren: „Vielleicht schiebe ich ihn [den Fronturlaub] dann überhaupt bis Weihnachten auf. Das wäre doch noch feiner. Da könnten wir wieder alle zusammen richtig Weihnachten feiern.“ Zudem berichtet Kantorowicz an gleicher Stelle, er sei zum „Vice-Wachtmeister“ befördert worden und wolle bzw. müsse ja nun „eine Masse […] besorgen: Koffer (den vorschriftsmäßigen kleinen Offizierskoffer), Portépées, Offiziers-Säbel & das kleine Seitengewehr, evtl. einen gebrauchten Sattel, wenn ich Gelegenheit habe, einen solchen billig zu kriegen.“13 Zumindest den Sattel wird er wohl bekommen haben, zeigt ein Foto ihn doch uniformiert hoch zu Ross (vgl. Abb. 2).14 Angesichts des Umstands, dass zu Zeiten des deutschen Kaiserreichs Juden im Offiziersrang kaum denkbar waren,15 bot das Kriegsglück hier sicherlich nicht nur eine persönliche Karrierechance, sondern auch eine zur weiteren gesellschaftlichen Gleichstellung. Ein weiterer Brief an die Eltern, von Kantorowicz auf den Januar 1918 datiert, taucht die von ihm selbst immer wieder aufgeworfene Frei11
12
13 14 15
Vgl. etwa Gerhart B. Ladner: Erinnerungen, Wien 1994, S. 32. – Warum Kantorowicz den Brief vom 12. Oktober 1915 mit „Im Schützengraben“ überschreibt und nicht (wie Eckhart Grünewald mündlich anmerkte) mit ‚Feuerstellung‘, wie es dem Kanonier Kantorowicz eigentlich nahe liegen sollte, sei dahingestellt. Ernst Kantorowicz an Fine von Kahler, Brief vom 19. 10. 1920. Stefan George Archiv Stuttgart (im Folgenden StGA), Kahler III, 6528. Kantorowicz an seine Eltern (Anm. 9). StGAFoto 2388b. Vgl. etwa Anonymus: Die Frankfurter „Stiftungs-Universität“ und die Gleichberechtigung der deutschen Juden. In: Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens 9, 1911, S. 473–485, hier S. 474.
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korpsthematik in ein neues Licht. Relevant wird seine Zugehörigkeit zum Freikorps in seiner Argumentation für seine von ihm 1933 beantragte Beurlaubung gegenüber der Frankfurter Universität bzw. dem Berliner Ministerium werden, des Weiteren gegenüber den Regents (d.i. die Zentraldirektion) der University of California im Verlauf der Loyalty Oath-Affäre ab 1949: In beiden Fällen beruft er sich – quasi als Beleg für seine deutsch-nationale bzw. antikommunistische Gesinnung – auf seine aktive Freikorpszugehörigkeit. So habe er gegen die polnische Besetzung seiner Heimatstadt Posen, in Berlin gegen Spartakus und in München gegen die Räterepublik gekämpft.16 Von der Forschung wurde dies bislang nie angezweifelt, obwohl Kantorowicz’ Freikorpsepisoden hauptsächlich durch Selbstaussagen belegt sind (darüber hinaus existieren bloß einige wenige Passierscheine der Stadtkommandantur München, dass er sich der Volkswehr angeschlossen habe, sowie eine Aussage einer Schwester Kantorowicz’, die ihren Bruder – ebenfalls in München – nach dem Krieg in Uniform gesehen haben will).17 Dass Kantorowicz allerdings durchaus willens war, seinen CV gemäß den Erfordernissen zu gestalten, offenbart die Korrespondenz mit seinem in Oxford lehrenden engen Freund Bowra: [T]he only thing I need [für die Beantragung eines US-Visums samt Arbeitserlaubnis] is a certificate that I have taught at Oxford during December and January 1938/9. I wonder wether there is any difficulty for you to say how glad you 16
17
Vgl. Ernst Kantorowicz an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Berlin, Brief vom 20. 4. 1933. LBI (Anm. 4), Folder II/5/5, No. 479f.; vgl. auch ebd., No. 481f., 483f. (der Brief vom 20. 4. 1933 als Kopie auch in: Universitätsarchiv Frankfurt a. M., Abt. 14, Nr. 101, Bl. 28); sowie (für die Loyalty Oath-Affäre) Ernst Kantorowicz an Robert G. Sproul, Brief vom 4. 10. 1949. LBI (Anm. 4), Folder II/6/3, No. 747, 795 und 797. – Es sei angemerkt, dass seine Parteinahme in Posen ursprünglich aber zumindest auch einen weiteren Grund gehabt haben könnte, nämlich seine Heimat bzw. sein Familienvermögen zu schützen, sein Handeln also zumindest nicht primär oder ausschließlich national motiviert gewesen sein muss; vgl. dazu Grünewald, Kantorowicz und George (Anm. 7), S. 27–30. Zu den Selbstaussagen vgl. die angegebenen Briefe Kantorowicz’ (Anm. 16) sowie den von ihm verfassten CV, in dem es heißt, er sei im Zuge der Münchener Auseinandersetzungen verwundet worden: LBI (Anm. 4), Folder I/1/2, No. 66f., vgl. zudem Folder II/5/3, No. 126f., 132f. Die insgesamt drei Münchener Passierscheine in: ebd., Folder III/7/7, No. 1035ff. Die Aussage Beate Salz’, geb. Kantorowicz, bei Grünewald, Kantorowicz und George (Anm. 7), S. 28, Fußnote 111.
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Janus Gudian were to attest that I was teaching Dietrich and his friends BAFology and that I held a seminar with you, Riezi, Sparrow and other young Dons on the sexual life of Aquinas. I have only to show such a certificate, which might also mention the fact that I lectured in 1934 at New College, and I then can burn it immediately.18
Hier bittet Kantorowicz den hochangesehenen englischen Gelehrten, seine, Kantorowicz’, Erfolgsaussichten auf ein Visum für die USA zu erhöhen, das ihm das Arbeiten dort überhaupt erst ermöglichen würde. Doch wer will dies dem seit 1938 auf der Flucht befindlichen Kantorowicz verdenken? Dessen ungeachtet drängt sich bei der Lektüre folgender Passage die Frage nach der Ernsthaftigkeit seiner Freikorpszugehörigkeit auf: In dem Reichskanzlerpalais sah es wüst aus. Überall lagen Soldaten auf blauseidenen Rokoko-Möbeln herum, jedes Fleckchen wurde als Nachtlager benutzt, eine kleine Mahagoni-Vitrine halb zerschlagen in der Ecke. Ein Spiegel mit ein paar Kugellöchern. Ein trostloser Anblick! Zunächst mußten wir warten. Um mir die Zeit zu vertreiben (und auch weil ich es mußte!) benutzte ich das W.C., auf dem vor mir Bülow, Bethmann-Hollweg [sic!], vielleicht auch mal der Kaiser, von ihren Sorgen Erleichterung fanden. Ich war aber etwas enttäuscht. Kein Leder gepolsterter Sitz, auch keiner mit Spiegeleinlage, sondern ganz ‚paschet‘ wie bei uns zu Hause. Schließlich wurde uns gesagt, in der Reichskanzlei seien wir nicht nötig, wir sollten zum Reichstag. Dort erhielten wir Gewehr & Handgranaten & zogen als Posten Dorotheenstr. Ecke Neue Wilhelmstr. bei der Kriegsakademie auf. Nach über 4 Stunden, nachdem wir zugesehen hatten, wie unsere Leute das Postscheckamt gestürmt haben, in dem aber auch Regierungstruppen waren, was man aber vorher nicht wissen konnte & wobei es natürlich Verluste gab, während wir als Flankenschutz die Dorotheenstr. absperrten, wurden wir schließlich abgelöst, mußten aber nach einer halben Stunde wieder heraus & standen wieder ein paar Stunden. Die ganze Sache war aber bei uns derartig unmilitärisch, eine Kommandogewalt existierte nicht, es gab nur Vorgesetzte, keine Untergebenen, andererseits aber auch keinen, der wirklich ein Kommando hatte, daß wir beide zu dem Entschluß kamen, aus dem Verein auszutreten & uns in Dahlem bei einer regulären Truppe zu melden. Dies ist auch geschehen, eingesetzt wurden wir aber nicht, sondern lungerten nur in Dahlem & Schmargendorf beschäftigungslos herum. Schließlich wurde mir das aber zu dumm. Ich hinterließ meine Telefon-Nummer mit der Anweisung, mich wenn nötig anzurufen, im übrigen sei das nichts für mich, da ich mich eben nur 18
Ernst Kantorowicz an Maurice Bowra, Brief vom 27. 3. 1939. The Warden and Fellows of Wadham College. Wadham College Archive, Oxford, ohne Einzelsignatur. 1934 hatte Kantorowicz tatsächlich sowohl am New College als auch am St. John’s College unterrichtet, vgl. etwa die sich deckenden Aussagen seines CV (Anm. 17) und C. Maurice Bowra: Memories 1898–1939, London 1966, S. 286f.
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gemeldet hätte, um evtl. zu helfen. Nun ist die Sache ja auch ganz gut ohne mich zu Ende geführt worden. Also, da habt Ihr die Geschichte meiner zweiten militär. Periode!19
So wie sich ‚der brave Soldat Schwejk‘ Jaroslav Hasˇeks „nach dem Krieg um sechs im Kelch“ verabredet, so bittet der Zyniker Kantorowicz bei Krieg also um Anruf. Doch warum er sich auch als ‚Spartakussieger‘ stilisierte, ist – zumindest angesichts des momentanen Kenntnisstands – nur schwer nachzuvollziehen.20 Sollen hier die Eltern beruhigt werden, dass alles nicht so gefährlich sei, wie es vielleicht scheinen mag? Oder gewährt Kantorowicz hier einen Einblick, wie es – im Sinn Rankes – „eigentlich“ gewesen ist, dass es also mit seiner von ihm selbst vielzitierten Freikorpsaktivität (zumindest in Berlin) nicht weit her ist? In jedem Fall gilt es, Kantorowicz’ ‚gestalterische Energie‘ eben nicht nur hinsichtlich Form, Sprache und Stil, sondern gerade auch für den Inhalt seiner Briefe – insbesondere wenn es um das Bild der eigenen Person geht – in Rechnung zu stellen. Die Episode der Freikorpszugehörigkeit ist insofern von Bedeutung, da sie der Forschung als Beleg der ‚rechten‘, d.i. einer deutsch-nationalen Gesinnung Kantorowicz’ gilt. Von ihm selbst wird der Ausspruch kolportiert, dass rechts von ihm nur noch die Wand sei.21 Diese Aussage wird gemeinhin dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß zugeschrieben; das bedeutet aber nicht, dass Kantorowicz sich nicht ebenso, oder ähnlich, geäußert haben kann. Und 19
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Ernst Kantorowicz an seine Eltern, Joseph und Clara Kantorowicz, Brief vom 13. 1. 1918. Ariane Phillips, Privatbesitz. Lerner weist auf die falsche Datierung hin, der Brief stammt aufgrund der beschriebenen Begebenheiten aus dem Jahr 1919: Vgl. Lerner, Ernst Kantorowicz (Anm. 7), S. 36, Anm. 42, der zudem auf eine Parallelbeobachtung der von Kantorowicz geschilderten Ereignisse hinweist: „Merkwürdig war auch der Eindruck des grossen Kongresssaals im Reichskanzlerpalais; im halbverdunkelten Riesensaal ein Heerlager: Soldaten zum Teil im Dienst an Maschinengewehren, zum Teil sozusagen biwakierend auf Teppichen für die Nacht eingerichtet. Alle gleich lässig, und äusserlich verwahrlost; dazwischen die alten galonnierten oder befrackten Diener hin und her laufend“, so Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Siebter Band 1919–1923. Hg. von Angela Reinthal, Stuttgart 2007, S. 89. Ernst Kantorowicz an Percy Ernst Schramm, Brief o. D. Staatsarchiv Hamburg 622–1, Familienarchiv Schramm, L 230, Bd. 6, Unterakte Kantorowicz, Ernst. Diese Information wurde Robert E. Lerner mündlich zugetragen (freundliche Auskunft von dems. an den Verf. vom 13. 7. 2016); vgl. nun auch Lerner, Ernst Kantorowicz (Anm. 7), S. 77.
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würde es nicht gerade den Historiker in Kantorowicz freuen, wenn man den sich um seine Person rankenden Gerüchten Beachtung schenkt? Hat er doch selbst – methodisch höchst innovativ – in seiner FriedrichBiographie das Imaginäre als historische Quelle verwendet, um seinen Helden zu charakterisieren. Doch wie weit ‚rechts‘ war Kantorowicz wirklich, wie intensiv hing er den politisch ‚rechten‘ Ideen, Konzepten etc. seiner Zeit tatsächlich an? Und was konnte ‚rechts‘ in den 1920er Jahren alles bedeuten? In einem Brief an George aus dem Jahr 1933 klagt Kantorowicz über die politische Großwetterlage sowie über das in den Kreis eindringende NS-Gedankengut und zieht für sich eine rote Linie: „stets war ich mir dessen bewusst, dass ich ohne unwahr zu werden mein blut, wenn dieses angegriffen, nicht würde verleugnen oder durchspringen dürfen“.22 Wie ist diese Briefpassage zu verstehen? Eine erste Annäherung bietet George selbst, in dessen Werk der Blutbegriff mehrfache Verwendung findet: „Wollt uns bewahren […] vor der Blut-schmach!‹ Stämme / Die sie begehn sind wahllos auszurotten“ bzw. „Der welt erlösung kommt nur aus entflammtem blut“.23 „Das ‚Neue Reich‘ [Georges, so die Forschung,] ist von deutschem Fleisch und Blut“.24 Zwar seien „Blut und Rhythmus […] bei StG kulturkritisch verwendete Kategorien des gültigen, nicht abgeleiteten Lebens, die auf die Bedeutung Nietzsches für StG verweisen […]“, doch könne gerade die Metaphorik einer solchermaßen transportierten „nationale[n] Heilsbotschaft“ „auch völkische Assoziationen“ wecken.25 Hierbei wäre 22
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Ernst Kantorowicz an Stefan George, Brief vom Pfingstmontag [5. 6.] 1933. StGA, George III, 6639. Stefan George: Der Krieg und Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann. Beide Gedichte in: Ders.: Das neue Reich. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff., Bd. IX, S. 21–26 und S. 57–59, hier S. 23 und S. 58. Vgl. auch ders.: Die Graeber in Speier (SW VI/VII, S. 22f.). Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin – Boston 2016, Bd. 1, S. 78 (Hervorhebung durch den Verf.). So die Interpretationsweite der George’schen Verwendung von ‚Blut‘ in: George und sein Kreis (Anm. 24), Bd. 2, S. 537f. und Bd. 1, S. 78. Vgl. auch Georges Anrufung des „völkischen banners“: Stefan George: Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: Ders., Das Neue Reich (Anm. 23), S. 35–39, hier S. 39; hierzu Klaus Mann: Das Schweigen Stefan Georges. In: Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.): Ste-
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zunächst zu klären, was unter ‚völkisch‘ zu verstehen ist. Im politischen Vokabular, in den Narrativen und Rhetoriken des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stellt ‚Blut‘ einen konstitutiven Bestandteil nationalstaatlicher Exklusionsstrategien (prominentestes Beispiel: Antisemitismus) dar. Im Rekurs auf die Blutmetapher suchte die politische Rechte (Stichwort ‚Blut und Boden‘26) ein ‚rassisch‘ homogenes deutsches Volk zu bilden, wobei die ‚Rasse‘ als Garant einer vermeintlich wissenschaftlichen Fundierung der eigenen politischen Anschauung diente.27 Gleichwohl waren ‚Blut‘ und ‚Rasse‘ keine exklusiven Begriffe oder Kategorien des völkischen Diskurses oder ‚rechts‘ Denkender: Diese Begriffe lassen sich selbst im zionistischen Diskurs finden, was auf den ersten Blick erstaunlich ist.28 Dass nun wiederum Kantorowicz den Begriff des ‚Blutes‘ in einem dem völkischen, also exkludierenden Verständnis analogen Sinn gebraucht haben könnte, legen zunächst einmal zwei Momente nahe: Die Forschung erkennt im dem auf Überwindung des Individualismus (als einer Spielart des Atomismus) gerichteten politischen Willen ein „Muster des […] völkisch-konservativen Diskurses“29 – in das sich der die Moderne (samt ihrer „Verameisung“ bzw. „Amerikanisierung“ der Gesellschaft) vehement ablehnende Kantorowicz der 1920er und frühen 1930er Jahre zumindest auf den ersten Blick einfügt.30 Des Weiteren liegt eine der Ursachen des völkischen
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fan George und die Nachwelt. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Bd. 2, Stuttgart 1991, S. 7–12; vgl. zur um sich greifenden „völkische[n] Gesinnung“ im George-Kreis aber vor allem Johannes Fried: „George und seine Juden“. In: Trumah – Steine des Anstoßes 18, 2008, S. 132–160, hier S. 143ff. Vgl. zum Beispiel Max Wundt: Was heißt völkisch?, Langensalza 1924 (= Pädagogisches Magazin Heft 987 / Schriften zur politischen Bildung Heft 16), S. 8–14, S. 30ff. Vgl. Verf.: 100 Jahre Universität – die Stunde des Historikers. Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik. In: „Politisierung der Wissenschaft“ (Anm. 2), S. 11–68, hier S. 35f., S. 45f., S. 61. Vgl. etwa Moshe Zimmermann: Eine paradoxe Mutation. Die jüdisch-völkische Geschichtsauffassung. In: „Politisierung der Wissenschaft“ (Anm. 2), S. 469–483. Mitchell G. Ash: Ganzheit und Gestalt. Der Umgang jüdischer und nichtjüdischer Wissenschaftler in Frankfurt mit umkämpften kulturellen Codes vor und nach 1933. In: „Politisierung der Wissenschaft“ (Anm. 2), S. 361–394, hier S. 386f. Vgl. etwa Ernst Kantorowicz an Stefan George, Briefe vom 8. 7. 1928 und 29. 4.[o. J.]. StGA, George III, 6621 und 6622.
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Denkens darin, dass „Volk und Territorium – tatsächlich oder vorgeblich aus der Sicht des Betrachters – nicht deckungsgleich sind“.31 Diese Perspektive könnte Kantorowicz sich zu eigen gemacht haben, wurde doch seine Heimatstadt Posen nach dem verlorenen Krieg polnisch. Gewiss wird man Kantorowicz nicht allein von George her erklären können. Eine zweite Auslegungsmöglichkeit der fraglichen Briefpassage – dass er sein „Blut“ nicht verleugnen könne – ist Kantorowicz’ Judentum. Darauf verwies Eckhart Grünewald auf der George-Jahrestagung 2015 unter Hinweis auf ein Gedicht Georges im ‚Stern des Bundes‘, in dem es heißt, dass „Nur der wahn / Meint dass er die durchspringt: geburt und leib“.32 Auch Edith Landmann sprach im selben Jahr (1933) wie selbstverständlich vom „jüdischen Blut“.33 Dass Kantorowicz in der zitierten Briefpassage zumindest auch auf seine jüdische Herkunft verweist, scheint unstrittig. Doch stellt sich in diesem Fall die Frage, was unter ‚jüdisch‘ verstanden werden kann: Sollte man sich diesem oszillierenden Begriff über das jüdische Religionsrecht annähern oder die formale Gemeindezugehörigkeit, gar über das Kriterium ‚getauft‘ respektive ‚nicht getauft‘? Was ist wann wie entscheidend, Fremdoder Selbstwahrnehmung? Ist ‚jüdisch‘ als rein religiöse Kategorie und / oder im Sinn von Nationalität zu verstehen?34 Darüber hinaus will
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Zimmermann, Eine paradoxe Mutation (Anm. 28), S. 469. Stefan George: ,Ein wissen gleich für alle heisst betrug‘, SW VIII, S. 95. Vgl. zur „Selbstverständlichkeit“, mit der Edith Landmann in ihrer Schrift ‚An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten‘ vom „jüdischen Blut“ sprach, George und sein Kreis (Anm. 24), Bd. 2, S. 811, Anm. 229. Vgl. zum Problem der Begriffsbestimmung von ‚jüdisch‘ Stephan Wendehorst: Eine jüdische Geschichte der Universität Leipzig. Konzeption, Umsetzung und Perspektiven. In: Ders. (Hg.): Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006 (= Leipziger Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur IV), S. 11–37, hier S. 18ff.; sowie Thomas Henne: „Jüdische Juristen“ am Reichsgericht und ihre Verbindungen zur Leipziger Juristenfakultät 1870–1945. In: Ebd., S. 189–206, hier S. 189f.; jeweils mit weiteren Literaturangaben. – Die Zionisten verstanden die Juden mehr als Nation denn als Glaubensgemeinschaft. Allerdings wurden die Juden schon in der französischen Nationalversammlung (am 23. Dezember 1789) von Abbé Maury als Nation angegriffen: „Das Wort ‚Jude‘ bezeichnet nicht eine Sekte, sondern eine Nation“, vgl. hierzu Simon Dubnow: Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart, Bd. VIII: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes. Das Zeitalter der ersten Emanzipation (1789–1815), Berlin 1928,
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sich Kantorowicz seines „Blutes“ „stets“ bewusst gewesen sein – auch diese behauptete Kontinuität ist problematisch. Zum einen, da der sein Judentum niemals praktizierende Kantorowicz und dessen (Weihnachten feiernde) Familie seit Generationen um Assimilierung bemüht waren.35 Zum anderen wird Kantorowicz schon einen Monat später nach dem zitierten Brief an George schreiben, ‚es möge Deutschland so werden, wie es sich der Meister erträumt hat!‘ Und wenn das heutige geschehen nicht bloss die grimasse jenes wunschbildes ist, sondern tatsächlich der wahre weg zu dessen erfüllung, so möge das alles zum guten ausschlagen – und dann ist es gleichgültig, ob der einzelne auf diesem weg mitschreiten kann – vielmehr: darf – oder statt zu jubeln beiseite tritt. ‚Imperium transcendat hominem‘ erklärte Friedrich II. und ich wäre der letzte, der hier widerspräche. Verstellen einem die faten den zugang zum ‚reich‘ – und als ‚jude oder farbiger‘, wie die neue wortkoppel lautet, ist man von dem allein rassisch fundierten staat notwendig ausgeschlossen – so wird man den amor fati aufbringen müssen und ihm gemäss die entschlüsse fassen.36
Gerade die relativ kurz aufeinanderfolgenden Briefe an George lassen alles andere denn Entschlossenheit, das eigene „Blut“ nicht verleugnen zu wollen, erkennen – vielmehr sprechen sie von einer Unsicherheit, welche Reaktionsmöglichkeiten ihm als einem deutsch-national gesinnten, von seiner Heimat aber zunehmend Ausgestoßenem, zu Gebote stehen. Doch welche individuelle Funktion, welche deskriptive bzw. normative Bedeutung wohnt der Verwendungsweise von „Blut“ durch Kantorowicz’ inne?37 Hier sei kurz auf zwei seiner wissenschaftlichen Arbeiten hingewiesen. Erstens auf seine (erste) Frankfurter Antrittsvorlesung
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S. 75f., S. 94ff. Dubnow weist darauf hin, dass im 19. Jahrhundert die jüdische Nation nicht nur im Sinn eines Staats- oder Territorialvolks, sondern auch im Sinn einer „geistigen Nation“ aufgefasst werden konnte, ebd., S. 75, Anm. 1. Vgl. zu den Assimilierungsbemühungen innerhalb der Familie Kantorowicz: Grünewald, Kantorowicz und George (Anm. 7), S. 4ff.: Während einige Familienangehörige starke Assimilierungstendenzen erkennen lassen (indem sie ihre Kinder taufen und christlich erziehen ließen, oder ihren Namen änderten), gab es auf der anderen Seite durchaus auch Familienmitglieder, die sich in der jüdischen Gemeinde engagierten. Ernst Kantorowicz an Stefan George, Brief vom 10. 7. 1933. StGA, George III, 6640. Ich danke Werner Konitzer vom Fritz Bauer Institut für den freundlichen Hinweis zur Funktionsfrage.
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‚Was ist Adel?‘ von 1931.38 Hier konstatiert Kantorowicz die entscheidende Bedeutung dieser Frage auch für seine Gegenwart, deren Adelsverständnis „fast ganz“ vom „Geblüt“ absehe und stattdessen vom „Geistesadel des Einzelnen“ ausgehe. Kantorowicz jedoch behauptet, „ein andres Kriterium für den Adel des Menschen als sein Bild [handschriftliche Ergänzung: das fortzeugt] gibt es heut nicht“. Wenige Zeilen zuvor hat er ausgeführt, dass Adel nicht etwas rein Innerliches sei, das nur dem Einzelnen angehörte, sondern Adel ist ein Stand und muss als solcher in Erscheinung treten, ist Vorbild, ist Bild überhaupt . . ja, man kann die Möglichkeit Bild zu werden geradezu als die Probe auf echten Adel bezeichnen.
Geht es nach Kantorowicz, soll der Adel zur Anschauung gebracht werden, sich manifestieren, so dass er den Mitmenschen sinnlich, d.h. visuell, wahrnehmbar wird. Also ‚Adelsschau‘? Unweigerlich kommt einem Brackmanns Kritik der Kantorowicz’schen ‚Mythenschau‘ in den Sinn – und tatsächlich ähnelt sich die Art und Weise frappierend, wie sich Kantorowicz Friedrich II. und der Adelsthematik annähert. Über den Bildanspruch hinaus erteilt Kantorowicz dem „müden Liberalismus“, der dem Geist Adel zuspreche, ein Absage und beendet seine Antrittsvorlesung mit einem Diktum Nietzsches: „Geist allein adelt nämlich nicht; vielmehr bedarf es erst etwas, das den Geist adelt. Wessen bedarf es denn dazu? des Geblüts“. Doch wie soll man dies nun wiederum verstehen, inwieweit macht sich Kantorowicz dessen Inhalt zu eigen? Eine im ausgearbeiteten Typoskript liegende Notiz von Kantorowicz’ Hand kann Aufschluss geben: „Adel ist eine Rassenfrage aber nicht im demokrat. Sinne sondern höher gezüchtet Aristot. gibt die Waffen hierfür“. Gemäß Kantorowicz disponiere in der aristotelischen Lehre – so ist einige Seiten zuvor zu lesen – der Geblütsadel den Menschen zur Vollkommenheit, zur Perfektion. Demzufolge sei eine bestimmte Abstammung, ein edles „Geblüt“, conditio sine qua non für Adel.39 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es Kantorowicz zufolge 38
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Ernst Kantorowicz: Was ist Adel? In: LBI (Anm. 4), Folder I/2/9, No. 151–184, hier No. 184; dort auch die folgenden Zitate bzw. die dem Typoskript beigefügte handschriftliche Notiz. Vgl. zu dieser Antrittsvorlesung auch Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz’s Decision. In: „Politisierung der Wissenschaft“ (Anm. 2), S. 173–191, hier S. 173ff. Unmittelbar daran schließt sich die Frage nach dem Verhältnis zu der ‚geistigen Sohnschaft‘ an, vgl. etwa Ernst Kantorowicz: Das Geheime Deutschland. [Zweite Antritts]Vorlesung, gehalten bei Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am
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eben nicht einem jedem gegeben ist, adelig zu sein bzw. zu werden – womit er implizit ein hierarchisches Gesellschaftsmodell entwirft, in dem Herkunft, Geburt, ‚Blut‘, unübersteigbare Schranken zu bilden scheinen, die in ein „Drunter und Drüber“, in „Höher und Tiefer neuer menschlicher Ränge“ scheiden sollen.40 Zweitens verwendet Kantorowicz „Blut“ in seinem Buch ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘ als Kriterium, das einen bestimmten Stand, eine gesonderte ‚Klasse‘ – nämlich die der Könige bzw. der Stauferfamilie – begründe.41 Die Staufer werden mittels ihres „staufischen Bluts“, ihres „Reichsgeblüts“ von allen anderen Menschen abgesetzt, mythisch überhöht und sogar in die Sphäre des Göttlichen ge- bzw. entrückt (mit Friedrich II. habe eine „Wandlung“ zur „stirps caesarea“ stattgefunden). Als zweiten Schritt weist Kantorowicz ihnen eine besondere Funktion zu, nämlich das „römische Imperatoren-Diadem“ zu tragen. Drittens werden die Staufer mit dem Imperium Romanum schließlich „schon beinahe eins“: Allein sie können aufgrund der in ihr Blut gelegten „besonderen Begnadung“ diese Krone tragen. Es ist also die von Kantorowicz mit „Reichsgeblüt“, mit „Blut“ umschriebene staufische Abkunft, die in seinem Geschichtsverständnis Friedrich II. bzw. den Staufern ein qualitatives ‚Mehr‘ verleiht, die diese hervorhebt, sie steigert und aufwertet. Auch hier gebraucht Kantorowicz die Blutmetapher als grundsätzliches Unterscheidungskriterium – allerdings gerade nicht nur im Sinn von Abstammung, nicht allein im biologischen Sinn. Vielmehr lädt Kantorowicz an dieser Stelle den Begriff mit weiteren, geradezu ‚magischen‘ Bedeutungen auf (Herstellung und Sicherung von Exklusivität und Legitimität, Überhöhung, Bestimmung). Eine solchermaßen aufgeladene bzw. überhöhte Bedeutung von ‚Blut‘ ist jedoch (anders als die familiäre Abstammung) keine Kategorie, in der das Mittelalter dachte. Zwar fand durchaus eine Überhöhung einzelner Personen statt. Dies wurde aber christlich-religiös begründet: Das die Menschen
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14. November 1933, ed. von Eckhart Grünewald. In: Robert L. Benson / Johannes Fried (Hg.): Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung. Institute for Advanced Study, Princeton / Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a. M., Stuttgart 1997, S. 77–93, hier S. 89. Kantorowicz, Adel (Anm. 38), S. 29. Ernst Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, S. 523f.
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unterscheidende Kriterium war ihre jeweilige Nähe zu Gott.42 Die Taufe spendete eine für alle erreichbare, die bei einer Krönung stattfindende Salbung eine exklusive Nähe zu Christus: Mittels der von der Kirche vorgenommenen Salbung wurde das Heil Gottes herabgerufen und diese Person gerade dadurch zum Herrschen befähigt.43 Kantorowicz’ Geschichtsschreibung folgt dagegen dem Gedanken, in und mit dem Stauferkaiser Friedrich II. habe das gesamte staufische Blut eine „Wandlung“, eine „besondere Begnadung“ erfahren. Weder ist in dieser Konzeption die Erhöhung auf eine einzelne Person beschränkt noch durch die Kirche vermittelt; ebenso wenig spielt die christlich-religiöse Herrschaftsvorstellung des 13. Jahrhunderts, die Stellvertreterschaft Christi bzw. Gottes, eine entscheidende Rolle. Letztlich übernimmt (und ersetzt) in der Kantorowicz’schen Geschichtsschreibung damit das ‚Blut‘ die Funktion der Salbung.44 Die spezifische Verwendung von ‚Blut‘ durch Kantorowicz zeigt, dass diese Vokabel45 zumindest an den beiden hier aufgeführten Stellen seines Œuvres eben nicht allein als rhetorische Formel bzw. (rechts)politisches ‚Modewort‘ des 19. und 20. Jahrhunderts gebraucht wird, sondern politische Vorstellungen dieser beiden Jahrhunderte als entscheidende Bausteine für die Darstellung von mittelalterlichem Adel bzw. der Staufer herangezogen werden: Sowohl in der Adelsfrage als auch hinsichtlich des Kaisertums ist letztlich das ein Kriterium sui generis darstellende ‚Blut‘ maßgeblich und verleiht die fragliche Wertigkeit. Obwohl auch Kantorowicz’ Verwendung des Wortes „Blut“ einen (sogar stark) separierenden Zug aufweist, zielt der Begriff letztlich auf etwas anderes als im völkischen Denken: Während dieses einen homogenen ‚Volkskörper‘ formen will – metaphorisch gesprochen mittels ‚Blut‘ und ‚Rasse‘ als Hammer und Meißel die gewünschte (und schein42
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Im Frühmittelalter konnte auch noch die Mythologie dazu herangezogen werden, (ganze Familien) zu überhöhen, so zum Beispiel im Fall der Merowinger, vgl. etwa Marc Bloch: Die wundertätigen Könige, München 1998, S. 95ff. Vgl. zur Geschichte und Funktion der Weihe etwa Bloch, Die wundertätigen Könige (Anm. 42), S. 87ff. Diese Interpretation evoziert die Folgefrage, weshalb sich Friedrich II. Kantorowicz zufolge in Jerusalem selbst gekrönt haben soll (Kantorowicz, Friedrich der Zweite [Anm. 41], S. 183), also auf eben die christlich-religiöse Art der Legitimitätsstiftung von Herrschaft abgestellt hat. Vgl. zum Gebrauch des Rassebegriffs bei Kantorowicz etwa ebd., S. 124.
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bar einheitlich marmorweiß glänzende) Volksgestalt aus dem vorhandenen „Menschenstoff“ herausholen will46 –, möchte Kantorowicz ganz im Sinn des George-Kreises eine gesellschaftliche Elite kreieren, also gerade keine Einheitlichkeit schaffen.47 Während völkische Vorstellungen die Gesellschaft gleichsam ‚vertikal‘ spalten, setzt Kantorowicz mittels des ‚Blutes‘ eine Elite vom Rest der Gesellschaft ab, zieht mithin eine ‚horizontale‘ Trennlinie in die Gesellschaft ein und hierarchisiert diese damit stark. Kantorowicz ist mitnichten ein „Verfechter völkischer Ideologien“.48 Dennoch: Durch seinen an verschiedenen Stellen des noch in Deutschland entstandenen Œuvres nachweisbaren, politisierten Blutsbegriff scheidet Kantorowicz Menschen von Menschen. In allen drei der hier besprochenen Texte (der Passage aus dem Brief an George, der ersten Antrittsvorlesung sowie der Stauferbiographie) wohnt dem ‚Blut‘ eine Disposition inne, stellt es (auch) ein unhintergehbares Prädestinationsmoment dar. Dabei zeigt gerade die gemeinsame Schnittmenge der Interpretationsweite dieser Texte, dass Kantorowicz die politischen Prämissen seiner eigenen Zeit, die impliziten Paradigmen dieser Blutmetapher, die Legitimität und Realitäten des politischen ‚Blut‘-Gedankens, sowohl im Hinblick auf die Gesellschaft als auch für sich selbst anerkennt: Es scheint, als ob ‚Blut‘ für den jungen Kantorowicz eine Art „letzte Quelle“ menschlichen Seins gewesen ist.49 Das nun folgende ‚Aber‘ kann jedoch nicht deutlich genug herausgestellt werden und der damit einhergehende Clou kann auch nur einem Mediävisten einfallen: In der Geschichtsauffassung Kantorowicz’ kann ‚Blut‘ eben nicht nur differenzieren, sondern prinzipiell auch – zumindest einzelne Individuen bzw. auf der Ebene der Elite – integrieren. Denn das Begriffsverständnis Kantorowicz’ von ‚Blut‘ weist mehrere Bedeutungsdimensionen auf, deren wichtigste die in ‚Friedrich der Zweite‘ angesprochene mythische Überhöhung ist: Mit der Salbung 46
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Der Begriff „Menschenstoff“ findet sich bei Kantorowicz, Friedrich der Zweite (Anm. 41), S. 123. Dieses Interesse erklärt sich aus der Funktion seiner Biographie ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘ für ihn selbst, die wesentlich auf Selbstvergewisserung abzielte (und zwar sowohl des George-Kreises als auch individuell): Vgl. Gudian, Kantorowicz (Anm. 7), S. 59ff. So fälschlich in der Frankfurter Rundschau vom 22. 7. 2016, S. 28, zitiert. Zu diesem Begriff vgl. Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (Anm. 39), S. 77.
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wird jemand (der zu Salbende) einem anderen (Gott) verbunden, wird also eine Gemeinschaft (bei der Salbung die Stellvertreterschaft Christi bzw. Gottvaters) gestiftet und eben diese positive Eigenschaft, diese Fähigkeit, einen Bund einzugehen qua mystischer „Wandlung“, wird von Kantorowicz, wenn er in seiner Geschichtsschreibung die Funktion der kirchlichen Salbung auf das (staufische) „Blut“ transferiert, implizit auf die Kategorie des ‚Blutes‘ tradiert. Edith Landmann sprach ja von der den Georgeanern eigenen „Verwandlung“50 – und der mystische Ort eben dieser kann gemäß Kantorowicz nur das ‚Blut‘ sein. Wird demnach Kantorowicz, so wie das staufische ‚Blut‘ eine „Wandlung“ erfuhr und geweiht war, d.h. eine Art Transsubstantiation erfolgte, sein eigenes ‚Blut‘ und damit sich selbst als etwas ‚Geweihtes‘ verstanden haben? Wenn Kantorowicz also George schreibt, er könne sein Blut nicht verleugnen – meint er damit sein Judentum, auch sein Judentum, nur sein Judentum? Oder hatte er nicht vielmehr seine neue und von George gewonnene Identität, seinen eigenen geheimen deutschen Adel im Sinn – und beinhaltet die Briefpassage an George damit nicht auch eine verklausulierte Kritik an George? Werk- und Briefkommentierungen werden immer der subjektiven Perspektive des jeweiligen Glossatoren verhaftet bleiben. Gerade bei der komplexen Korrespondenz Kantorowicz’ scheint es daher angezeigt, das breite Möglichkeitsspektrum an Interpretationen zumindest aufzuzeigen, so dass sich der Leser ein eigenes Urteil bilden kann. In ihrem Anspielungsreichtum und ihrer Mehrdeutigkeit stellen die Briefe damit mehr als nur Schlaglichter auf Kantorowicz’ Leben und Werk dar: Abhängig von der individuellen Deutungsperspektive des Lesers setzen sie sich kaleidoskopartig zu unterschiedlichen Vorstellungen zusammen.
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So ist Edith Landmann zufolge „keiner […] unter uns, ob Jud ob Christ, an dem das Wunder der Verwandlung sich nicht vollzogen, der nicht zweimal geboren wäre“, zitiert nach Fried, George und seine Juden (Anm. 25), S. 137.
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Lyrische Korrespondenzen. Zum Verhältnis von Brief und Gedicht in der Literatur der Moderne – am Beispiel des Briefwechsels zwischen Stefan George und Hugo von Hofmannsthal I. Der Privatbrief hat in den westlichen Literaturen der Neuzeit eine Geschichte von etwa 250 Jahren: Er entwickelt sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts, im deutschen Sprachraum etwa mit Christian Fürchtegott Gellerts Abhandlungen ‚Gedanken von einem guten deutschen Briefe‘ (1742) und ‚Von dem guten Geschmacke in Briefen‘ (1751), die eine zuvor ungeahnte Konjunktur von Briefen zwischen Freunden und Liebenden begleiten;1 und er verliert seine Bedeutung um die Jahrtausendwende mit der zunehmenden Dominanz elektronischer Medien. Diese können mit mündlichen, schriftlichen und audiovisuellen Ausdrucksformen operieren; es fehlen ihnen jedoch zentrale Eigenschaften, durch welche sich Briefe auszeichnen:2 1
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Vgl. Ute Pott: Briefgespräche. Über den Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Göttingen 1998; Jon Helgason: Schriften des Herzens. Briefkultur des 18. Jahrhunderts im Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Göttingen 2012. Zur Theorie und Geschichte des Briefs noch immer grundlegend ist Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991. Vgl. ferner ders.: Brief. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Das Fischer Lexikon Literatur. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1996, S. 321–335; Peter Bürgel: Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 281–297; Wolfgang G. Müller: Der Brief. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen, Tübingen 1985, S. 67–87; ders.: Brief. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 59–75; ders.: Brief. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009, S. 75–83; Irmtraud Schmid: Was ist ein Brief? In: editio 2, 1988, S. 1–7; Jochen Golz: Brief. In: Klaus Weimar u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1, Berlin – New York 1997, S. 251–255; Elke-Maria Clauss: Brief. In: Dieter Burdorf / Christoph Fasbender / Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und De-
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1. die Abgeschlossenheit eines hand- oder maschinenschriftlichen Textes auf einem materiellen Datenträger, meist auf Papier; 2. die eigenhändige Unterschrift des Absenders; 3. der Transport des materiellen Textträgers durch Boten oder Distributionssysteme (Post); 4. die gegenüber der Textproduktion verzögerte Rezeption des Textes durch den Adressaten, meist in Abwesenheit des Absenders. Welche Auswirkungen die Marginalisierung des Kommunikationssystems Brief und seine Ablösung durch scheinbar unmittelbare und nahezu Simultaneität ermöglichende Verständigungssysteme wie E-Mail, SMS, Twitter, Blog und Skype insbesondere auf die private Kommunikation haben, wird erst allmählich absehbar.3 Dagegen macht es das Veralten der Briefkommunikation möglich, auf die Epoche der Briefkultur mit zunehmender Distanz als auf eine abgeschlossene zurückzublicken.4 Das ist sicherlich ein Grund dafür, dass in den letzten Jahren eine große Fülle von Brief-Editionen (sei es der Briefe einzelner Verfasser, sei es von Briefwechseln) aus dem Bereich der neueren Literaturen, aber auch aus den Alltagskulturen vergangener Jahrzehnte vorgelegt und projektiert wurden.5 Nach der extensiven Sammlungs- und Editionstätigkeit des 19. Jahrhunderts (etwa bei Karl
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finitionen, Stuttgart – Weimar 2007, S. 98f.; Jochen Strobel: Brief. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart – Weimar 2007, S. 166–174. Vgl. Joachim R. Höflich / Julian Gebhardt (Hg.): Vermittlungskulturen im Wandel: Brief – E-Mail – SMS, Frankfurt a. M. – Berlin – Bern u.a. 2003. Vgl. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751–1913, Berlin 1993; Edgar Pankow: Brieflichkeit. Revisionen eines Sprachbildes, München 2002; Jochen Strobel (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur, Heidelberg 2006; Anne Bohnenkamp / Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter GoetheMuseum, 11. September bis 16. November 2008, Frankfurt a. M. 2008; dies. (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung, Frankfurt a. M. 2010; Jörg Schuster / Jochen Strobel (Hg.): Briefkultur: Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard, Berlin – Boston 2013. Vgl. Anne Bohnenkamp / Elke Richter (Hg.): Brief-Editionen im digitalen Zeitalter, Berlin – Boston 2013; ferner Wolfgang Frühwald u.a. (Hg.): Probleme der Brief-Edition, Boppard 1977; Lothar Bluhm / Andreas Meier (Hg.): Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Brief-Edition, Würzburg 1993.
Lyrische Korrespondenzen
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August Varnhagen von Ense, der eine der größten Handschriftensammlungen Europas aufbaute, welche heute in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau aufbewahrt wird) sehen wir uns erneut mit einem Schub der Erschließung und Präsentation schriftlicher Zeugnisse der Vergangenheit konfrontiert, welcher tendenziell alles nur irgendwie Bedeutsame, das die Menschen vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte niedergeschrieben und ihren Zeitgenossen privat oder öffentlich übermittelt haben, uns Heutigen les- und durchsuchbar macht. Inwiefern verändern und erweitern diese Brief-Werke, die nun nicht nur in den Archiven, sondern auch auf dem Buchmarkt und in den Bibliotheken, zunehmend auch im Internet verfügbar sind, unser Verständnis von Literatur? Und in welchem Verhältnis steht der Brief, der nunmehr für uns in solcher Breite und Vielfalt nachlesbar ist, zu den literarischen Gattungen im engeren Sinne? Gibt es Korrespondenzen nicht nur zwischen Briefpartnern, sondern auch zwischen der Textsorte Brief und den Gattungen Erzählliteratur, Drama und Lyrik? Untersucht wurde das bereits mehrfach in Bezug auf den Roman, gibt es doch mit dem Briefroman, der parallel zur Entwicklung des Privatbriefs vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart seine Konjunkturen hatte, eine Hybridform, welche die intime Kommunikationssituation des Privatbriefs simuliert und für die Erzählung eines inneren Geschehens aus der Sicht eines Protagonisten oder mehrerer Akteure nutzbar macht – man denke an Goethes ‚Leiden des jungen Werthers‘ oder Hölderlins ‚Hyperion oder der Eremit in Griechenland‘.6 Völlig vernachlässigt wurde jedoch in der bisherigen Forschung, das Verhältnis von Brief und Gedicht systematisch und in einer hinreichenden historischen Breite zu untersuchen; von ‚poetischen Korrespondenzen‘ war bislang nur exemplarisch mit Bezug auf Ingeborg Bachmann und Paul Celan (und das vor der Veröffentlichung ihres Briefwechsels) die Rede.7 In den umfassenden Literaturgeschichten fehlt die Gattung Brief meist völlig; eine wichtige Ausnahme bildet Peter Sprengels 2004
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Vgl. als Überblick Gerhard Sauder: Briefroman. In: Weimar u.a., Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Anm. 2), Bd. 1, S. 255–257. Vgl. Bernhard Böschenstein / Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen, Frankfurt a. M. 1977. Eine ähnliche Begriffsverwendung findet sich auch in Wolfgang Emmerich: Erich Arendt – Paul Celan. Korrespondenzen und Differenzen. In: Celan-Jahrbuch 6, 1995, S. 181–206.
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erschienene ‚Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918‘.8 Generell wird der Brief als Teil der modernen Literatur in der Forschung sehr stiefmütterlich behandelt: Die bislang einzige umfassende Geschichte des deutschen Briefes – von Georg Steinhausen 1889 und 1891 in zwei Bänden publiziert – ist genau in jenen Jahren erschienen, in denen die deutschsprachige Literatur der Moderne erst begann.9 Grundlegenden Darstellungen zur Briefkultur des 18. und (in geringerem Maße) auch des 19. Jahrhunderts10 kann nichts Vergleichbares zum 20. Jahrhundert an die Seite gestellt werden. Immerhin haben wir aber seit 2014 als ersten Anfang die exemplarische Studie von Jörg Schuster zu den Briefwechseln Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes.11 Dass die Korrespondenzen zwischen Lyrik und Brief bislang so wenig beachtet wurden, ist umso unverständlicher, als sich zahlreiche mediale und gattungstheoretische Gemeinsamkeiten zwischen Gedicht und Brief aufdrängen: Es handelt sich in beiden Fällen um meist kurze Texte, für welche ein Adressatenbezug, häufig in Form einer Du-, seltener einer Sie-Anrede, sehr wichtig ist. Der Adressat oder die Adressatin werden, sofern es sich um schriftliche Texte handelt, zumeist als vom Textproduzenten entfernt vorgestellt; der Text soll die Distanz überbrücken, dokumentiert sie aber zugleich auch. Oftmals gehen die beiden Formen daher auch ineinander über. 8
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Vgl. den Abschnitt ‚Brief‘ in Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004, S. 693–702. Vgl. Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, 2 Bde., Berlin 1889/91. Nachdruck Dublin – Zürich 1968. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München – Wien 1987; Angelika Ebrecht / Regina Nörtemann / Herta Schwarz (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, Stuttgart 1990; Anita Runge / Lieselotte Steinbrügge (Hg.): Die Frau im Dialog. Studien zur Theorie und Geschichte des Briefes, Stuttgart 1991; Elke Clauss: Der Liebesbrief im 18. Jahrhundert, Stuttgart – Weimar 1993; Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart – Weimar 1995; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart – Weimar 1999; Robert H. Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar 2000; Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe, München 2015. Vgl. Jörg Schuster: „Kunstleben“. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes, Paderborn 2014.
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Vier Aspekte des Themas sind für die Untersuchung des Verhältnisses von Brief und Gedicht wichtig: 1. Gedichte als Briefe (ich spreche dann von epistolarer Lyrik), 2. Briefe als Gedichte (das nenne ich lyrische Epistolographie), 3. Gedichte als Teile von und Beilagen zu Briefen (das kann man als lyrische Zitate und Appendizes bezeichnen) und schließlich 4. Briefe als Erläuterungen zu Gedichten (hierfür bietet sich der Begriff epistolarer Kommentar an). Ich möchte diese vier Aspekte kurz veranschaulichen. I.1 Gedichte als Briefe. Hierbei geht es um den Aspekt der epistolaren Lyrik: Gedichte nehmen zuweilen weitere, über die genannten gemeinsamen Merkmale hinausgehende Eigenschaften von Briefen an: etwa die explizite Anredeformel, die Angabe von Ort und Zeit des Schreibens – das Gedicht „bleibt seiner Daten eingedenk“, so Paul Celan in seiner Büchner-Preis-Rede ‚Der Meridian‘ (1961)12 – oder die simulierte Unterschrift des Autors unter dem Text, so der Schluss von Leonard Cohens Songtext ‚Famous Blue Raincoat‘ (1971): „Sincerely, L. Cohen“.13 Eine wichtige Erscheinungsform epistolarer Lyrik ist auch der ganz oder teilweise versifizierte Brief, wie ihn etwa Hugo von Hofmannsthal zuweilen schreibt.14 Als Brief stellen sich Gedichte gelegentlich schon im Titel vor (etwa in Ingeborg Bachmanns ‚Brief in zwei Fassungen‘15). Zuweilen tritt das Gedicht völlig an die Stelle eines Briefs und es kann sich ein lyrischer 12
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Paul Celan: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-BüchnerPreises. Darmstadt, am 22. Oktober 1960. In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. von Beda Allemann / Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986, S. 187–202, hier S. 196 Leonard Cohen: Famous Blue Raincoat. In: Songs of Love and Hate, Columbia Records 1971. Vgl. Hugo von Hofmannsthal / Richard Beer-Hofmann: Briefwechsel. Hg. von Eugene Weber, Frankfurt a. M. 1972, S. 10–13 (Hofmannsthal an Beer-Hofmann, 22. Juli 1892): „Dieses ist zwar nicht mein Versmaß, / Lieber Richard, aber manchmal / Ist es gar nicht unvergnüglich / einen fremden Stil zu schreiben, / Wenn es regnet. […]“; ebd., S. 38f. (Hofmannsthal an Beer-Hofmann, 22. September 1894) – hier ist ein an Beer-Hofmann adressiertes Gedicht in den ansonsten in Prosa gehaltenen Brief eingelagert. Ingeborg Bachmann: Brief in zwei Fassungen [1956]. In: Dies.: Werke. Hg. von Christine Koschel / Inge von Weidenbaum / Clemens Münster. Bd. 1, München – Zürich 1978, S. 126f.
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Dialog entfalten; so besteht Celans Brief an Ingeborg Bachmann vom 13. 12. 1957 ausschließlich aus der Orts- und Zeitangabe sowie seinem Gedicht ‚Ein Tag und noch einer‘, ohne Anrede und Unterschrift.16 Ganz ähnlich sind zahlreiche Briefe Celans an Bachmann aus diesem Jahr verfasst, zuweilen noch mit emphatischen Lektüreanweisungen und Widmungen versehen: „Lies, Ingeborg, lies: / Für Dich, Ingeborg, für dich –“.17 Überhaupt ist die Widmung eines Gedichts der erste Schritt zu seiner epistolaren Funktionalisierung. Das gilt umso mehr für handschriftliche Widmungen, zumal von gedruckten Gedichten. Im Extrem betreiben das wiederum Celan und Bachmann, und zwar im Zuge ihres Treffens in München Anfang Dezember 1957: Celan versieht ein Konvolut von 21 Gedichten aus dem erst 1959 erscheinenden Band ‚Sprachgitter‘ mit der Widmung „Für Ingeborg“18 und überreicht Bachmann ein Exemplar der zweiten Auflage von ‚Mohn und Gedächtnis‘ (die erste Auflage ist von 1952), in dem er 23 Gedichte mit der Widmung „f. D.“ (für Dich) bzw. „u. f. D.“ (und für Dich) ausgezeichnet hat.19 Bachmann kontert weitaus weniger emphatisch mit ihrem ersten Gedichtband ‚Die gestundete Zeit‘ (1953), in den sie schlicht und ohne Adressatenanrede „München, Am Hof / Ingeborg“ schreibt.20 I.2 Briefe als Gedichte. Hier geht es um den Aspekt der lyrischen Epistolographie: Briefe (oder genauer Texte, die mehrere Merkmale von Briefen wie Anrede und Datierung aufweisen) werden durch eine Reihe ihrer textuellen Eigenschaften sowie durch Paratexte, also Zusätze am Rand des Textes, so präsentiert und arrangiert, als seien sie Gedichte; man spricht hier auch von ‚Briefgedichten‘ oder aber ‚Gedichtbriefen‘.21 Der lyrische Charak16
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Ingeborg Bachmann / Paul Celan: Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. und kommentiert von Bertrand Badiou / Hans Höller / Andrea Stoll / Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2008, S. 77f. Ebd., S. 58. Ebd., S. 73. Ebd. Ebd., S. 74. Elke-Maria Clauss: Briefgedicht. In: Burdorf / Fasbender / Moennighoff, Metzler Lexikon Literatur (Anm. 2), S. 99.
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ter kann in Texten selbst dann dominant werden, wenn sie formal in Prosa verfasst sind. Ingeborg Bachmanns erst postum erschienene ‚Briefe an Felician‘ aus den Jahren 1945/46 lesen sich wie lyrische Etüden.22 Friederike Mayröckers Band ‚Paloma‘ (2008) weist eine Reihe von Eigenschaften auf, durch welche sich auch die zuvor und danach erschienenen Gedichtbände der Autorin auszeichnen, etwa die Datierung und chronologische Anordnung der kurzen Texte; hinzu kommen hier die Anredeformel „lieber Freund“ und die Nummerierung der 99 Prosatexte, die ein hohes Maß an Affinität zur Lyrik aufweisen, wie schon der Anfang belegt: „die weiszen Lilien die du mir zur Tür gelegt hast, sind eine grosze Lust mein Schlafzimmer voll Glanz und Duft: das wird mich anfeuern zu schreiben – sonst geht es mir gut, ich schreibe fast nur noch Gedichte.“23 I.3 Gedichte als Teile von und Beilagen zu Briefen. Hier geht es um den Aspekt der lyrischen Zitate und Appendizes: Lyrikerinnen und Lyriker senden ihren Adressatinnen und Adressaten (manchmal selber Lyriker, manchmal nicht) Briefe, in welchen sie ihre eigenen Gedichte oder die anderer vollständig oder in Ausschnitten zitieren. In anderen Fällen werden Gedichte als Manuskripte oder Typoskripte den Briefen beigelegt, oft mit der Bitte an den Adressaten um ein Urteil oder eine Reaktion. So schreibt Gottfried Benn am 27. 4. 1955 an seine Geliebte Ursula Ziebarth: „Kurz: hier sind Gedichte, die leicht, billig, stimmungsmässig sind, in 10 Minuten bei Flint [einer seiner Stammkneipen] herausgepurzelt.“24 Und der Brief endet mit einer Nachschrift, die formal wie ein, allerdings sehr anspruchsloses, Gedicht daherkommt: „Kritzele, wenn Du Zeit hast, / zu jedem Ding Deine Meinung! / und sende es bitte zurück. Habe / keine Abschrift von den meisten.“25
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Ingeborg Bachmann: Briefe an Felician. Hg. von Irene Moser, München – Zürich 1991. Friederike Mayröcker: Paloma. Frankfurt a. M. 2008, S. 9. Gottfried Benn: Hernach. Briefe an Ursula Ziebarth. Mit Nachschriften zu diesen Briefen von Ursula Ziebarth und einem Kommentar von Jochen Meyer, Göttingen 2001, S. 320. Ebd., S. 321.
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I.4 Briefe als Erläuterungen zu Gedichten. Hier geht es um den Aspekt des epistolaren Kommentars: Die oftmals einem Brief beigegebenen oder in ihm zitierten, manchmal aber auch nur erwähnten – eigenen oder fremden – Gedichte werden vom Lyriker oder der Lyrikerin lakonisch und knapp oder auch eingehend, apologetisch oder selbstkritisch erläutert; antwortet der Adressat darauf, so entspinnt sich ein Dialog über Gedichte.26 Bei Benn finden sich auch hierfür zahlreiche Beispiele, nicht nur in seinen Briefen an Ziebarth, sondern auch in den Schreiben an seine Verleger und Lektoren oder an Friedrich Wilhelm Oelze.27 Generell ist die Auseinandersetzung mit Korrespondenzen zwischen Dichtern und Verlegern bzw. Herausgebern von Lyriksammlungen besonders vielversprechend, wird doch in ihnen ein möglicher Reflexionsraum über Themen wie Außenwirkung und Auswahlprozesse eröffnet; in Briefwechseln der Lyriker mit ihren Übersetzern werden die Möglichkeiten und Probleme des internationalen Transfers von Lyrik ausgelotet. Einen höheren Abstraktionsgrad haben die ‚Briefe zu Gedichten‘, welche der Lyriker Franz Josef Czernin und der Literaturwissenschaftler Hans-Jost Frey miteinander ausgetauscht und gesammelt publiziert haben.28
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Epistolare Kommentare können auch einen poetologisch exemplarischen Charakter aufweisen und – nach dem Muster von Schillers Briefen ‚Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ – zu einer Art epistolarer Poetik gesammelt werden wie im Fall von Rilkes ‚Briefen an einen jungen Dichter‘. Vgl. Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter [an Franz Xaver Kappus; postum 1929]. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Manfred Engel / Ulrich Fülleborn / Horst Nalewski / August Stahl. Bd. 4, Frankfurt a. M. – Leipzig 1996, S. 514–548. Vgl. Gottfried Benn / Hans Paeschke – Joachim Moras (Herausgeber des Merkur): Briefwechsel 1948–1956. Hg., komm. und mit einem Nachwort von Holger Hof, Stuttgart 2004; Gottfried Benn: Briefe an den Limes Verlag 1948–1956. Mit der vollständigen Korrespondenz auf CD-ROM. Hg. und kommentiert von Marguerite Valerie Schlüter / Holger Hof. Mit einem Nachwort von Marguerite Valerie Schlüter, Stuttgart 2004; Gottfried Benn / Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel. Hg. von Harald Steinhagen / Stephan Kraft / Holger Hof, 4 Bde., Stuttgart – Göttingen 2016. Franz Josef Czernin / Hans-Jost Frey: Briefe zu Gedichten, Basel – Weil am Rhein 2003.
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So weit meine kleine Typologie der möglichen Beziehungen und Verflechtungen zwischen Brief und Gedicht, die ich nun im zweiten Teil an einer exemplarischen Konstellation um 1900 veranschaulichen möchte. II. Die Briefkultur um 1900 könnte man – eine Formel von Jean Paul variierend – als ‚Brieflebensbeschreibungen‘29 charakterisieren: Diese Periode ist – trotz der Erfindung und zunehmenden Verbreitung neuer Informationsmedien wie Telefon und Telegramm – zunächst noch gekennzeichnet durch ein Fortwirken der bürgerlichen Bildungs- und Briefkultur des 19. Jahrhunderts: Autoren wie Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und Thomas Mann, auf andere Weise auch Franz Kafka und Else Lasker-Schüler schreiben täglich mehrere Briefe an eine Vielzahl von Adressaten und nutzen diese BriefProduktion zum Aufbau und zur Stabilisierung ihres jeweiligen, öffentlich wahrnehmbaren Autor-Bildes und ihrer gesellschaftlichen Stellung als freie Autoren; sie führen damit ein ‚unendliches Gespräch‘30 (so Richard Alewyn über Hofmannsthal, von dem etwa 11 000–12 000 Briefe überliefert sind31) und versuchen, „gerade angesichts der bevorstehen29
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Vgl. Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller, Abt. I. Bd. 6, Darmstadt 1987, S. 1037–1103. Richard Alewyn: Unendliches Gespräch. Die Briefe Hugo von Hofmannsthals [1954]. In: Ders.: Über Hugo von Hofmannsthal, Göttingen 41967, S. 17–47. Alewyns Essay ist ein noch immer höchst lesenswerter Beitrag zum Thema. Vgl. auch ders.: Jugendbriefe von Hofmannsthal [1935]. In: Ebd., S. 14–16; ferner Marcel Reich-Ranicki: Hofmannsthal in seinen Briefen [1974]. In: Ders.: Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern [1980], München 1992, S. 53–76; Günther Fetzer: Das Briefwerk Hugo von Hofmannsthals. Modelle für die Edition umfangreicher Korrespondenzen, Marbach a. N. 1980; Alexander Kosˇenina: „Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch“. Vom Briefschreiber zum Autor – am Beispiel Hofmannsthals. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart – Weimar 2002, S. 241–257; Schuster, „Kunstleben“ (Anm. 11), S. 33–209. Vgl. Hans-Albrecht Koch: Hugo von Hofmannsthal, Darmstadt 1989, S. 15. Phasenweise scheint es Hofmannsthal mit dem Schreiben von Briefen übertrieben zu haben. So antwortete Gerty von Hofmannsthal dem um die Gesundheit ihres Gatten besorgten Harry Graf Kessler am 9. Dezember 1908, „Hugo könne eben derzeit weder Briefe schreiben noch diktieren, er habe in den letzten Jahren viele Hunderte geschrieben und daher rufe ‚alles was mit dem Beantworten von Briefen zusammenhängt Überreizungszustände hervor‘.“ (Ulrich Weinzierl:
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den Ablösung des Briefs durch neue technische Alternativen dessen traditionelle literarische Funktion zu erneuern und zu perfektionieren.“32 Zugleich erheben diese Autoren den Anspruch, mit ihrer literarischen Produktion nicht bloß die Literatur des 19. Jahrhunderts fortzuschreiben, sondern im Angesicht der von ihnen diagnostizierten Krise von Gesellschaft, Technik und Bildung zu einer neuen Literatur beizutragen, die mit dem Bewusstsein der Krise umzugehen weiß. Als Vorläufer in den 1880er Jahren kann Friedrich Nietzsche mit seinen späten Briefen und den ‚Dionysos-Dithyramben‘ angesehen werden.33 Der Brief kann der Konstituierung und Stabilisierung des eigenen Kreises, der Werbung um Gleichgesinnte, aber auch der Abwehr von zu großer Nähe durch „Verlagerung vom Leben auf das Schreiben“ dienen.34 Sehen wir uns, um diese Überlegungen zu konkretisieren und zugleich zu überprüfen, den Briefwechsel an, den zwei der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker um 1900, Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, zwischen Dezember 1891 und März 1906 miteinander führten.35 Die Korrespondenz wurde von dem in Basel lebenden Robert
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Hofmannsthal. Skizzen zu seinem Bild [2005], Frankfurt a. M. 2007, S. 156.) Der von Weinzierl referierte und zitierte unveröffentlichte Brief findet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach unter der Dokumentennummer 36728. Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918 (Anm. 8), S. 694. Vgl. Heinrich Detering: Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen 2010. Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918 (Anm. 8), S. 697. Der Briefwechsel und das Verhältnis der beiden Dichter zueinander sind intensiv erforscht und häufig dargestellt worden. Vgl. Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891–1906 [1942]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 10.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 195–237; Alewyn, Unendliches Gespräch (Anm. 30), S. 28–34; Werner Volke: Hugo von Hofmannsthal mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1967, S. 28–36; Werner Kraft: Stefan George, München 1980, S. 141–153; Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 128–148; Jens Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen – Basel 1997; Rüdiger Nutt-Kofoth: Dichtungskonzeption als Differenz. Vom notwendigen Scheitern einer Zusammenarbeit zwischen George und Hofmannsthal. In: Bodo Plachta (Hg.): Literarische Zusammenarbeit, Tübingen 2001, S. 217–243; Hans-Albrecht Koch: Hugo von Hofmannsthal, München 2004, S. 50–53; Weinzierl, Hofmannsthal
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Boehringer sehr früh, nämlich 1938 (also neun Jahre nach dem Tod Hofmannsthals, fünf Jahre nach dem Georges), im Verlag Georg Bondi in Berlin herausgegeben36 – ausgerechnet 1938, also in dem Jahr, das der Historiker Dan Diner als „Katastrophe vor der Katastrophe“ bezeichnet hat,37 und ausgerechnet in Berlin! Eine zweite, „durch wesentliche Funde vermehrt[e]“ Ausgabe erschien 1953, nun bei Helmut Küpper vormals Georg Bondi in München und Düsseldorf.38 Lange Zeit galt diese Edition als eine der wenigen wichtigen Brief-Editionen Georges, denn – so Michael Winkler: „Das Briefeschreiben war nicht Georges Art der Mitteilung. Seine Korrespondenz beschränkte sich häufig auf rein sachliche Informationen und kurze Anordnungen.“39 Und Kai Kauffmann ergänzt: „Allgemein vermeidet George […] den Brief als große Form der persönlichen Aus- und Ansprache.“40
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(Anm. 31), S. 108–119; Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma [2007]. München 2008, S. 9–27; Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014, S. 52–56; Manfred Koch: Hofmannsthal, Hugo von (eigentl. Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal). In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch [2012]. Bd. 3, Berlin – Boston 22016, S. 1445–1455; Erik Schilling: Dialog der Dichter. Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2015, S. 25–43; Jörg Schuster: Imagination und Proklamation – letzte Briefe um 1900. Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und Marina Zwetajewa. In: Arnd Beise / Jochen Strobel in Zusammenarbeit mit Ute Pott (Hg.): Letzte Briefe. Neue Perspektiven auf das Ende von Kommunikation, St. Ingbert 2015, S. 165–179; Jürgen Egyptien: Letzte Worte des Meisters. Abschiede im George-Kreis. In: Ebd., S. 181–197, bes. S. 186–189; ders.: Stefan George. Dichter und Prophet, Darmstadt 2018, S. 80–89. – Eine kritische Ausgabe des Briefwechsels zwischen George und Hofmannsthal bereiten Maik Bozza und Elisabeth Höpker-Herberg im Stefan-George-Archiv, Württenbergische Landesbibliothek Stuttgart, vor. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hg. von Robert Boehringer, Berlin 1938. Dan Diner: Die Katastrophe vor der Katastrophe. Auswanderung ohne Einwanderung. In: Dirk Blasius / Dan Diner (Hg.): Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland, Frankfurt a. M. 1991, S. 138–160. Vgl. auch Raphael Gross: November 1933. Die Katastrophe vor der Katastrophe, München 2013. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, 2., ergänzte Ausg. Hg. von Robert Boehringer, München – Düsseldorf 1953, Klappentext. Michael Winkler: Stefan George, Stuttgart 1970, S. 5. Kai Kauffmann: Von Minne und Krieg. Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzung mit Stefan George. In: George-Jahrbuch 6, 2006/2007,
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Festzuhalten bleibt jedoch: Die Korrespondenz zwischen George und Hofmannsthal geht über das Geschäftsmäßige in vielen Briefen weit hinaus. Ein Indiz für die Bedeutung, die ihr beide Briefpartner beimaßen, sieht Robert Boehringer schon 1938 darin, „mit welcher Sorgfalt die beiden Dichter ihre Briefe aufbewahrt hatten“, trotz des „endgültigen Bruch[s]“ zwischen beiden im Frühjahr 1906.41 Die bis heute wohl einlässlichste Auseinandersetzung mit diesem Briefwechsel entsteht schon sehr früh, 1939/40 im New Yorker Exil. Verfasser ist der aus Frankfurt emigrierte jüdische Philosoph Theodor W. Adorno, einer der Hauptvertreter der Kritischen Theorie, die sich in diesen Jahren in den USA neu etablierte. Der Text wird zunächst in kleiner Auflage in der hektographierten Schrift ‚Walter Benjamin zum Gedächtnis‘ (1942) verbreitet – in Erinnerung an den Literaturkritiker und Philosophen, der sich 1940 auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung an der französisch-spanischen Grenze das Leben nahm. 1955 nimmt Adorno den Essay ‚George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel 1891–1906‘ in seinen Band ‚Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft‘ auf – es ist der längste Text in diesem seinen ersten Sammelband kulturkritischer Essays. Adornos Urteil über den Briefwechsel fällt zunächst negativ aus. So lautet schon der Beginn des Essays: Wer den Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal zur Hand nimmt, um daraus Erkenntnis dessen zu gewinnen, was mit der deutschen Lyrik in den fünfzehn Jahren sich zutrug, die der Band umschließt, der wird vorab enttäuscht. Während die beiden mit Strenge und Vorsicht bis zur Stummheit sich voreinander verschließen, fördert ihre persönliche Disziplin kaum je die sachliche Erörterung. Vielmehr scheint der Gedanke von der Starre mitbefallen.42
Adorno kommt dann doch auf den mehr als vierzig Seiten seines Aufsatzes zu erhellenden Erkenntnissen, auch zum Verhältnis von Lyrik und Brief, die er oft über Umwege – andere Texte der beiden Korres-
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S. 55–79, hier S. 65. Kauffmann entwirft ein vielversprechendes Forschungsprogramm: „Es wäre eine lohnende Studie, die gegensätzlichen Gestaltungen und Verwendungen der brieflichen Form bei George und Borchardt miteinander zu vergleichen, zumal, wenn man noch Hofmannsthal einbezöge.“ (Ebd., S. 66) Robert Boehringer: Zur Herausgabe des Briefwechsels … [datiert: Basel, den 12. Juli 1938]. In: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 230. Adorno, George und Hofmannsthal (Anm. 35), S. 195.
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pondenten und weiterer Autoren aus ihrem Umkreis (besonders auch Rudolf Borchardts), in den Briefen nicht explizit gemachte poetologische Positionen Hofmannsthals und Georges, sozialgeschichtliche Kontexte – gewinnt. So sieht er einen Grund-Dissens darin, dass George ein „Postulat der Haltung“ erhebe, dem sich Hofmannsthal als „Junge[r] Herr[] aus großem Hause“, der so etwas nicht nötig habe, immer wieder entziehe.43 Adorno arbeitet das „Schauspielertum“ Hofmannsthals, sein „Sich selbst Zuhören“, das „zur Anpreisung“ tendiere, heraus, und stellt dem den „rheinischen Tonfall“ Georges entgegen.44 Schließlich kommt er zu der niederschmetternden Diagnose: Die Freundschaft der beiden ist im Zerfall, ehe sie jemals sich verwirklichte. […] Im Briefwechsel wird Erkenntnis von den Voraussetzungen der Freundschaft beklommen ferngehalten: das Trauma des ersten Wiener Zusammentreffens wirkt fort und macht jeden Versuch der Explikation zum neuen Akt der Verwirrung […].45
Während Hofmannsthal immer wieder die „Technik“ der „Selbstanklage“ verwende und bis zur Unkenntlichkeit seines Stils „in Georges Sprache“ schlüpfe, um sich der Nähe zu dem älteren Dichter zu entziehen,46 variiere George die allemal fatale Absicht, das Frühere vergessen und vergeben sein zu lassen. Jeder freundlich intermittierende Brief sucht eine Schuld auszulöschen, während doch durch die hartnäckige Nachsicht das Schuldkonto unaufhaltsam anschwillt: es bedarf nur einer entgegenkommenden Geste des einen, um den anderen zur Bosheit oder zum Zurückweichen zu inspirieren.47
Dabei habe Hofmannsthal öffentlich „zwar wiederholt über George, nie aber dieser über jenen geschrieben, obwohl der Vorwurf mangelnder Solidarität stets vom Älteren ausgeht“.48 43 44 45 46 47 48
Ebd., S. 202. Ebd., S. 211. Ebd., S. 218. Ebd., S. 218. Ebd., S. 219. Ebd., S. 219f. Diese Behauptung Adornos trifft zu. Besonders zu erwähnen sind die Essays ‚Gedichte von Stefan George‘ und ‚Poesie und Leben‘ (beide 1896 in der Wiener Zeitung ‚Die Zeit‘ erschienen), ferner auch ‚Das Gespräch über Gedichte‘, das Hofmannsthal 1904 in der ‚Neuen Rundschau‘ publizierte und in dem die beiden Gesprächspartner Georges Gedichtband ‚Das Jahr der Seele‘ (1897) in den Mittelpunkt ihrer Diskurse über die Lyrik der Gegenwart stellen.
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Ähnlich düster wie Adorno sieht es die Hofmannsthal-Forschung, die freilich den jüngeren Dichter zum Opfer des dämonischen Älteren stilisiert. So konstatiert Richard Alewyn schon 1954 das „Maskenhafte dieser Briefe“: Wo sind die Anmut, der Freimut, der Übermut der übrigen Jugendbriefe geblieben, wo ihre Einfachheit und ihre Menschlichkeit? Hofmannsthal spricht hier wie einer, der in das Auge der Meduse blickt, mit einer Starre im Gesicht, von der man nicht zu sagen vermöchte, ist sie Ansteckung oder Abwehr. Nirgends ist Hofmannsthal sich ferner.49
Und Werner Volke sekundiert: Die Geschichte dieser wechselseitigen Anziehung und Abstoßung spiegelt sich im Briefwechsel Georges mit Hofmannsthal, den man nicht ohne Beklemmung lesen kann. Nirgends ist die Verkrampfung und die Verstörtheit Hofmannsthals so stark wie in diesen Briefen.50
Jens Rieckmann, der die homoerotischen Aspekte der Beziehung zwischen George und Hofmannsthals erstmals umfassend herausgearbeitet hat, betont demgegenüber das Leiden des älteren Dichters: „Die Wunde, die Hofmannsthals Zurückweisung seiner Werbung zurückließ, ist bei George nie verheilt.“51 Um eine ausgewogene Sichtweise, wie sie schon Adorno entwickelt hat, ist schließlich Manfred Koch im Handbuch ‚Stefan George und sein Kreis‘ bemüht: „Es handelte sich bei dieser missglückten Dichterfreundschaft um eine wechselseitige Traumatisierung, an der sich beide noch lange über das definitive Ende der Korrespondenz im Jahr 1906 hinaus abarbeiteten.“52 Nähert man sich vor dem Hintergrund dieser Bewertungen und mit dem im ersten Teil dieses Beitrags skizzierten Analyse-Instrumentarium der Korrespondenz zwischen George und Hofmannsthal, so fällt auf, in wie hohem, ja fast ausschließlichem Maße sie sich um Dichtung dreht, die freilich von beiden Briefpartnern nicht als absoluter Wert, sondern als kulturelles, oft aber auch als schnöde ökonomisches Kapital behandelt wird. Denn die Ebene des persönlichen Umgangs ist ja durch das 49 50 51 52
Alewyn, Unendliches Gespräch (Anm. 30), S. 31. Volke, Hugo von Hofmannsthal (Anm. 35), S. 31. Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George (Anm. 35), S. 46. Koch, Hofmannsthal, Hugo von (Anm. 35), S. 1448.
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„Trauma des ersten Wiener Zusammentreffens“, wie es Adorno nennt, unwiderruflich verstellt. Wir wissen nicht genau, was im Dezember 1891 und dann kurz darauf im Januar 1892 zwischen dem 23 Jahre alten Dichter und dem 17-jährigen Gymnasiasten passiert ist. Allzu Schlimmes wird es nicht gewesen sein, zumal sich die Begegnungen bis auf einen Besuch Hofmannsthals in Georges Unterkunft am Heiligen Abend zumeist im öffentlichen Raum, etwa im Wiener Café Griensteidl oder auf den Straßen der Stadt, abspielten. Aber die – nicht unbedingt sexuelle, aber in jedem Fall sehr persönliche – Bedrängung, die für Hofmannsthal von George ausging, muss groß gewesen sein. Denn was soll ein jugendlicher Dichter, der seit dem Vorjahr (also mit sechzehn, siebzehn Jahren) immerhin schon ein paar Gedichte in Wiener Zeitschriften wie ‚An der Schönen Blauen Donau‘ und eine Reihe kurzer Essays in der ‚Modernen Rundschau‘ untergebracht hatte, auch davon halten, dass ihm ein sechs Jahre älterer „Mensch von sehr merkwürdigem Aussehen, mit einem hochmütigen leidenschaftlichen Ausdruck im Gesicht“ zuflüstert, er gehöre zu „den wenigen in Europa“ (und sei gar „hier in Oesterreich der Einzige“), die eine „Vereinigung derer“ bildeten, „welche ahnten, was das Dichterische sei“?53 So berichtet es Hofmannsthal noch in seinem Todesjahr, am 20. Januar 1929, also mehr als 37 Jahre nach den Ereignissen, in einem Brief an den befreundeten Literaturwissenschaftler Walther Brecht, der gerade eine Vorlesung zum Frühwerk des Wiener Dichters vorbereitet. Hofmannsthal reagiert auf die Herausforderung zunächst mit Lyrik: In zwei Fassungen – auf Briefpapier mit dem geprägten eigenen Wappen, in deutscher Kurrentschrift, mit Majuskeln und sparsamer Interpunktion die eine, auf einer schmucklosen Briefkarte, in lateinischer Schrift und George’scher Kleinschreibung sowie interpunktionslos die 53
Hugo von Hofmannsthal / Walther Brecht: Briefwechsel. Mit Briefen Hugo von Hofmannsthals an Erika Brecht. Hg. von Christoph König / Davids Oels, Göttingen 2005, S. 171. Die Zwiespältigkeit seiner Reaktion auf Georges Annäherung beschreibt Hofmannsthal auch schon im Brief an Carl Jacob Burckhardt vom 28. Oktober 1922: „Das Leben wurde mir durch die Begegnung nicht weniger unheimlich, vielleicht sogar mehr – aber ich fühlte mich selbst in mir, wie etwas Kraft, Liebe und Hoffnung Gebendes.“ (Hugo von Hofmannsthal / Carl J. Burckhardt: Briefwechsel. Hg. von C. J. B. / Claudia Mertz-Rychner [1956], Frankfurt a. M. 1991, S. 101.)
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andere54 – überreicht er dem älteren Dichter wohl zwei Tage nach ihrer Begegnung mit der Widmung bzw. Adressierung „Herrn Stefan George“ das Gedicht ‚einem, der vorübergeht‘: du hast mich an dinge gemahnet die heimlich in mir sind du warst für die saiten der seele der nächtige flüsternde wind und wie das rätselhafte das rufen der athmenden nacht wenn draussen die wolken gleiten und man aus dem traum erwacht zu weicher blauer weite die enge nähe schwillt durch pappeln vor dem monde ein leises zittern quillt Wien, im december 1891.55
In der von mir vorgeschlagenen Terminologie kann man sagen: Der Briefwechsel beginnt als epistolare Lyrik, in welcher Gedichte an die Stelle von Briefen treten, wodurch die direkte Ansprache des lebens-
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Beide Fassungen werden im Stefan George Archiv Stuttgart aufbewahrt. Sie sind faksimiliert in Schuster, „Kunstleben“ (Anm. 11), Bildtafeln 1–3 (nach S. 44). Vgl. auch ebd., S. 43. Überliefert sind an verschiedenen Orten mehrere Entwürfe und weitere, zum Teil leicht voneinander differierende Autographen dieses Gedichts. Vgl. den Überblick über acht Überlieferungsträger in Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. II. Hg. von Andreas Thomasberger / Eugene Weber, Frankfurt a. M. 1988, S. 282; ferner Hans-Rudolf Bosch-Gwatter: „Einem, der vorübergeht“: ein Autograph von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahr 1891. In: Librarium. Zeitschrift der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft 34, 1991, H. 2–3, S. 177–180. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 7. In Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. 2 (Anm. 54), S. 60 werden dagegen die andere an George adressierte Fassung auf Briefpapier und die Fassung aus Hofmannsthals Tagebuch wiedergegeben, jedoch nicht diese Georges Schreibgewohnheiten am stärksten angenäherte Fassung. Zu diesem Gedicht vgl. auch Jerry Glenn: Hofmannsthal, George, and Nietzsche: „Herrn Stefan George / einem, der vorübergeht“. In: Modern Language Notes 97, 1982, S. 770–773. Glenn hebt gegenüber der im Briefwechsel von George selbst akzentuierten, negativ konnotierten biographischen Deutung die Referenz auf das positiv konnotierte Motiv des ‚Vorübergehens‘ in Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘ hervor.
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weltlichen Gegenübers vermieden und die in der außerdichterischen Kommunikation verpönte Du-Anrede ermöglicht wird.56 In Hofmannsthals Nachlass finden sich abweichende, teilweise sehr viel längere Entwurfsfassungen zu diesem Gedicht, die zum Teil wohl schon kurz vor der Begegnung mit George entstanden.57 Hofmannsthal ringt, wie Norbert Christian Wolf in seiner genauen Analyse dieses Entwurfsmaterials gezeigt hat, in immer wieder neuen, zum Teil von Todesmotiven durchzogenen Ansätzen mit dem Text.58 Wolf konstatiert beim Durchgang durch die Nachlass-Fassungen den „Eindruck einer kontinuierlichen Arbeit an fortschreitender Dissimulation und Distanzierung“.59 Unverkennbar steht Hofmannsthal mit diesem Gedicht in der Tradition der Darstellungen flüchtiger Begegnungen, aufblitzender und gleich wieder verschwindender Augenblicke in der Lyrik der Moderne, wie sie von Giacomo Leopardi, August von Platen und Charles Baudelaire beeindruckend gestaltet wurden.60 Das alle nachfolgenden Gestal56
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Eine damit durchaus kompatible Terminologie schlägt Rüdiger Nutt-Kofoth in seinem analytisch präzisen Aufsatz über das Scheitern der Zusammenarbeit zwischen George und Hofmannsthal vor. Das Gedicht ist für ihn ein Dokument der „Poetisierung des Privaten“, der „Transformation des Privaten in den poetischen Bereich“: „die Ersetzung der konkreten persönlichen Beziehung durch die Brechung des Privaten im Poetischen und die latente Erhaltung des Privaten durch entsprechende Konturierung des Poetischen“ (Nutt-Kofoth, Dichtungskonzeption als Differenz [Anm. 35], S. 221). Nutt-Kofoth konstatiert in der schriftlich dokumentierten Interaktion zwischen beiden Dichtern aber auch die komplementäre Tendenz einer „Privatisierung des Poetischen“ (ebd., S. 222), etwa in handschriftlichen Widmungen gedruckter Werke. Dabei verfolge Hofmannsthal allerdings „kontinuierlich die Linie der Ausgrenzung des Privaten“ (ebd., S. 224). Resümierend hält Nutt-Kofoth fest: „Die Zusammenarbeit bleibt eingebunden in den Kontext einer Produktionsweise, die den poetischen Text auch als Transformation der problematischen privaten Beziehung benutzte.“ (Ebd., S. 229). Vgl. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 236–238; das vollständige Material in Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. II (Anm. 54), S. 282–286. Vgl. Norbert Christian Wolf: Paare und Passant(inn)en. George, Hofmannsthal und Baudelaire. In: Uta Degner / Elisabetta Mengaldo (Hg.): Der Dichter und sein Schatten. Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik, Paderborn 2014, S. 57–87, hier S. 72–75. Wolf, Paare und Passant(inn)en (Anm. 58), S. 72. Vgl. außer dem Beitrag von Wolf auch Verf.: Poetik der Form. Eine Begriffsund Problemgeschichte, Stuttgart – Weimar 2001, S. 242–259, besonders S. 259.
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tungen beherrschende Muster dieser Figur ist Baudelaires Sonett ‚À une passante‘ von 1860, zu dem Walter Benjamin bemerkt hat: „Es ist ein Abschied für ewig, der im Gedicht mit dem Augenblick der Berückung zusammenfällt.“61 George ist im Akt des Dedizierens von Gedichten sogar noch etwas schneller als Hofmannsthal, aber er musste dazu auch nicht erst ein neues Gedicht schreiben, sondern hatte alles schon parat: Im selben Jahr, 1891, hatte er die erste Fassung seiner ‚Umdichtungen‘ von Baudelaires ‚Blumen des Bösen‘ fertig gestellt. Unter dem Datum des 20. Dezember 1891, also einen Tag nach der Begegnung, sendet er Hofmannsthal eine Besuchskarte, begleitet von einem Exemplar der 1890 erschienenen ‚Hymnen‘, seines ersten Gedichtbandes, in dem sich das Gedicht ‚Von einer Begegnung‘ findet, in dem die Baudelaire’sche Plötzlichkeitsdarstellung einer „viel ruhigere[n] Sprachmelodie“ weicht und sich insgesamt eine „Tendenz zur Entzeitlichung und Verewigung“ durchsetzt.62 Weniger ruhig ist dagegen der Epistolograph George bei der Übersendung des Bandes: Da mein hiersein nur noch von kurzer dauer so besinne ich mich schnell und sende Ihnen das einzige schlechte deckellose exemplar was mir zur hand ist. Auch ist es ein buch des vorjahres. das neue werden Sie sobald ich kann bekommen Auf wiedersehn montag im café63
Es handelt sich um einen lyrischen Appendix: Die briefliche Kurzbotschaft begleitet den übersandten Gedichtband. Es muss ein „schlechte[s] deckellose[s] exemplar“ sein, um die Eile und Dringlichkeit der Mitteilung und die Exklusivität der Übersendung der lyrischen Botschaft zu betonen. Mit dieser Eile, mit der Selbstdarstellung als einer, dessen „hiersein nur noch von kurzer dauer“ ist, bestätigt George seine lyrische Charakterisierung als einer, „der vorübergeht“, in dem Gedicht
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Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire [1939]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno / Gershom Scholem. Hg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2, Frankfurt a. M. 1974, S. 605–653, hier S. 623. Vgl. dazu Karl Heinz Bohrer: Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin, Frankfurt a. M. 1996, S. 161–181, hier S. 163. Wolf, Paare und Passant(inn)en (Anm. 58), S. 65. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 7.
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des bewunderten Jünglings, das er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte (er bekam es am nächsten Tag, „montag im café“). Sobald er das Gedicht des Jüngeren aber kennt, im Schreiben vom 22. Dezember 1891, muss er widersprechen, um seine Einrede zugleich selber zu widerlegen: Ihr schönes bekenntnis hat mich tief entzückt – nur wer bewundern kann vermag wunderbares zu schaffen. aber bleibe ich für Sie nichts mehr als ‚einer der vorübergeht‘? … Falls ich Sie heute abend im kafe nicht träfe könnten Sie dann andern ort und andre stunde ansetzen? […] Die sendung die ausblieb verhindert mich noch an der reise was mich verdriesslich macht weil ich an meinen plänen schieben muss und was mich tröstet weil ich Sie auf diese weise noch einmal sprechen kann. oder sollte dies für Sie nicht leichter werden wegen der nahen feiertage?64
Unterzeichnet ist der Brief mit „Ihre hand!“65 Erst in einem um den 9. oder 10. Januar 1892 geschriebenen Brief nimmt George die ihm zugedachte Rolle an: Er unterzeichnet nunmehr mit „Einer der vorübergeht“.66 Aber schon jetzt, so kurz vor dem Fest, wird es schwierig: Der Gymnasiast muss selbstverständlich Weihnachten zu Hause bei seinen Eltern verbringen, der vagabundierende Dichter, den Adorno als „Verfemten“ und „Verstoßenen“ charakterisiert,67 möchte gerade jetzt am liebsten wieder auf der Straße, fern von aller bürgerlichen Behaglichkeit, sein. Und doch kommt er wohl Hofmannsthals wegen nicht fort von Wien (denn wenig glaubwürdig ist seine Schutzbehauptung, gerade über die Weihnachtstage bis dahin ausgebliebene Post zu erwarten). Nachdem mehrere Begegnungsversuche scheitern, nicht zuletzt an unterschiedlichen Vorstellungen von angemessenen Besuchszeiten (10 Uhr morgens etwa ist für George „unmöglich“68), kommt es zu einem „Thee“-Besuch Hofmannsthals, am späten Nachmittag des 24. Dezember.69 Doch gleich 64 65 66 67 68 69
Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 13. Adorno, George und Hofmannsthal (Anm. 35), S. 207–209. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 9. Hofmannsthal notiert Anfang 1892 in sein Tagebuch: „der Besuch am Weihnachtsabend: Thee“ (Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XXXVIII. Hg. von Rudolf Hirsch / Ellen Ritter in Zusammenarbeit mit Konrad Heumann / Peter Michael Braunwarth, Frankfurt a. M. 2013, S. 148.
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darauf, am zweiten Weihnachtstag, meldet sich George erneut mit einer Karte, die nichts ist als ein Ausdruck von Qual: „Ihr buch das Sie zu schicken versprachen? ich erwartete es sogleich: daher eine mahnung. an meine abreise ist vorläufig nicht zu denken und wann kommen Sie?“70 Etwa gleichzeitig übersendet George Hofmannsthal das folgende beschwörende Gedicht ohne weitere Dedikation, also als pure epistolare Lyrik. Später wird es zum Eingangstext der Abteilung ‚Verstattet dies spiel: eure flüchtig geschnittenen schatten zum schmuck für meiner angedenken saal‘ im ‚Jahr der Seele‘ von 1897: Soll nun der mund der von des eises bruch Zum neuen reife längst erstarkt im wehe Sich klagend öffnen und nach welchem spruch Dem kinde – unterbrich mich nicht · ich flehe! Du reichst die hand · die segel wehn im porte Es geht in tollen winden auf ein riff Bedenke dich und sage sanfte worte Zum fremdling den dein weiter blick ergriff.71
„unterbrich mich nicht · ich flehe!“ – diese lyrische Botschaft konnte den primären Adressaten schon erheblich unter Druck setzen. Der Bedrängte entzog sich durch eine „fingierte Abreise“, wie er in seinem Tagebuch festhält.72 Immer noch am zweiten Weihnachtstag 1891 schreibt er dem Flehenden im Telegrammstil: meine Abreise hat sich verzögert ich will dafür meine Rückkehr beschleunigen inzwischen buch und wort; ich sehe Sie bald. Samstag früh, vor dem wegfahren.73
Verkehrte Rollen: Der Sesshafte gibt vor zu verreisen und lässt den habituell Reisenden in der von diesem ungeliebten Stadt Wien über den Jahreswechsel allein zurück. Das nun doch übersandte „buch“, die 1891 im Verlag der Modernen Rundschau erschienene ‚Dramatische Studie‘ 70 71 72
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Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 9. Ebd., S. 10. Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. XXXVIII (Anm. 69), S. 148. Im weiteren Verlauf der Aufzeichnung ersetzt Hofmannsthal die Angabe „Weihnacht“ durch „Stephanstag“ und zitiert nach einem Doppelpunkt Georges für ihn bedrohliches Diktum „… an meine abreise ist vorläufig nicht zu denken und wann kommen Sie?“ (Ebd.). Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 10.
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‚Gestern‘, hat Hofmannsthal mit der Widmung versehen: „herrn Stefan George in tiefer Bewunderung seiner Kunst“74 – mehr eben nicht. Leopold von Andrian fasst später in seinem Tagebuch Hofmannsthals zweigeteilte Haltung gegenüber George so zusammen: „Bewunderung für den Dichter u. Antipathie gegen den Menschen u. Homosexuellen. […] Aber, wie gesagt, großen Respect vor dem Dichter.“75 Noch deutlicher ist ein anderer Freund Hofmannsthals, Rudolf Borchardt. In einem Ende 1933 auf Italienisch verfassten, erst 2004 veröffentlichten Nachruf auf George sowie in seiner 1998 publizierten ‚Aufzeichnung Stefan George betreffend‘ aus dem Jahr 1938 schmückt Borchardt die Erzählung der Begegnung der beiden phantasievoll aus und macht George zum „phantastische[n] Fremdling“ und „Magier“, zum „gefährlich Rasenden“,76 ja zu einem der „Besessenen“, die „keine Jugend“ haben („Non hanno gioventù gli ossessionati.“).77 Anfang Januar 1892 notiert Hofmannsthal aus einigen Tagen Distanz zu den vorweihnachtlichen Begegnungen mit George in sein Tagebuch: „Inzwischen wachsende Angst; das Bedürfnis den Abwesenden zu schmähen“.78 Es folgt das Sonett ‚Der Prophet‘, das Hofmannsthal – verständlich genug – weder dem „Abwesenden“ George sendet noch später veröffentlicht (der Erstdruck erfolgt erst 1938 in der Erstausgabe des Briefwechsels):
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Ebd., S. 239. Leopold von Andrian: Über Hugo von Hofmannsthal. Auszüge aus seinen Tagebüchern. Hg. und kommentiert von Ursula Renner. In: Hofmannsthal-Blätter 35/36, 1987, S. 3–49, hier S. 35. Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend. Aus dem Nachlaß hg. und erläutert von Ernst Osterkamp, München 1998, S. 22f. Vgl. zu Borchardts Auseinandersetzung mit George: Kauffmann, Von Minne und Krieg (Anm. 40); Lars Korten: Stefan George. Aufgezeichnet von Rudolf Borchardt. In: Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Literaturskandale, Frankfurt a. M. u.a. 2009, S. 143–154; Friedhelm Kemp: Schwierige Freundschaft. Hofmannsthal und Borchardt. In: Akzente 56, 2009, 481–506, hier S. 487–490. Rudolf Borchardt: Stefan George (1868–1933). Aus dem Nachlaß hg. von Gerhard Schuster. In: Kai Kauffmann (Hg.): Das wilde Fleisch der Zeit. Rudolf Borchardts Kulturgeschichtsschreibung. Mit Rudolf Borchardts Nachlaßtext „Stefan George (1868–1933)“ in ital. Sprache und dt. Übersetzung, Stuttgart 2004, S. 196–245, hier S. 212 und 237. Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. XXXVIII (Anm. 69), S. 148.
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Dieter Burdorf In einer Halle hat er mich empfangen Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt Von süßen Düften widerlich durchwallt. Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen. Das Thor fällt zu, des Lebens Laut verhallt Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet, hilflos, ohne Halt. Er aber ist nicht wie er immer war, Sein Auge bannt und fremd ist Stirn u Haar. Von seinen Worten, den unscheinbar leisen Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann tödten, ohne zu berühren.79
Als Magier, Verführer, ja leibhaftiger Seelenmörder erscheint George hier. Zu Recht nennt der George-Biograph Thomas Karlauf den Text „eines der unheimlichsten Gedichte […], die ein Dichter auf einen anderen verfasst hat“.80 Das kann alles nicht gutgehen. Nach dem Abreisebrief herrscht um den Jahreswechsel herum eine Woche Totenstille zwischen den beiden Korrespondenten, die George am 4. Januar 1892 enerviert bricht: Ihr dauerndes schweigen (Ihr vergessen schon?) ist mir nicht verständlich. oder bekamen Sie meinen brief nicht? ich erlaubte mir in Ihre wohnung zu gehen um zu erfahren ob Sie fort oder in der stadt sind81
Es kommt dann noch zu ein paar weiteren Begegnungen in der ersten Januarhälfte, die aber im Eklat enden: Hofmannsthals Vater schreitet nach einem Zusammenbruch seines Sohns ein und untersagt George in einem Brief vom 14. Januar 1892 und bei einer persönlichen Begegnung am 16. Januar den Umgang mit dem Minderjährigen; kurz danach reist George aus Wien nach München ab.82
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80 81 82
Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. II (Anm. 54), S. 61. Der Titel ‚Der Prophet‘ mit dem Zusatz „(eine Episode)“ steht auch über der ganzen Gruppe von Aufzeichnungen zu der Begegnung mit George in Hofmannsthals Tagebuch; vgl. Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. XXXVIII (Anm. 69), S. 148. Karlauf, Stefan George (Anm. 35), S. 17. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 39), S. 10. Zur Rekonstruktion der hier nur angedeuteten weiteren Vorgänge vgl. Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George (Anm. 35), S. 35–47.
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Dennoch entwickelt sich – nach einer im Mai 1892 doch noch nachgeholten persönlichen Aussprache in Wien83 – schon im Sommer 1892 eine geschäftliche, zunächst durch Carl August Klein vermittelte Beziehung zwischen Hofmannsthal und George, in deren Zuge das dramatische Bruchstück ‚Der Tod des Tizian‘ und ein großer Teil der Gedichte Hofmannsthals in den ab dem Herbst 1892 von George und Klein herausgegebenen ‚Blättern für die Kunst‘ erscheinen.84 Im März 1906 zerstreiten sich die beiden Dichter endgültig im Zuge einer Meinungsverschiedenheit über den Vertrieb und die Urheberrechte von Hofmannsthals ‚Ausgewählten Gedichten‘. Was wollte ich am Beispiel dieser skizzenartigen Rekonstruktion der lyrischen Korrespondenz zwischen Stefan George und Hugo von Hofmannsthal in den ersten zwei Wochen ihrer Begegnung zeigen? Die Episteln, die ihren Empfänger erreichten, sind meist nur wenige Zeilen umfassende Billets auf kleinformatigen Besuchskarten (die also eine persönliche Begegnung vorbereiten sollen, häufig genug aber auch ersetzen). In zwei Fällen sind es dedizierte (‚einem, der vorübergeht‘) oder nicht dedizierte (‚Soll nun der mund …‘) Gedichte. Insgesamt handelt es sich nur um zehn Botschaften, die nicht mehr als vier Druckseiten in der Briefedition füllen. Hinzu kommen die Buchsendungen ‚Hymnen‘ (wieder ohne Widmung) in die eine und ‚Gestern‘ (mit distanzierender Widmung) in die andere Richtung. Die Geschichte, die sich um diese Briefkarten und Gedichtsendungen herum und mit ihnen entwickelt, ist vielfach erzählt worden, etwa in der Monographie von Jens Rieckmann oder den Hofmannsthal-Biographien von Werner Volke, Hans-Albrecht Koch und Ulrich Weinzierl und den George-Biographien von Thomas Karlauf und Kai Kauffmann. Dabei werden die übersandten und die nicht übersandten Gedichte häufig ebenfalls als biographische Dokumente gelesen, was auch nicht falsch ist, insbesondere angesichts der Einbindung dieser Gedichte in 83
84
Vgl. Georges Brief an Hofmannsthal vom 17. Juli 1892. In: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 28. Vgl. die Übersicht über Hofmannsthals zahlreiche, bis 1904 erscheinende Beiträge in den ‚Blättern‘ in: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 38), S. 232f. Zu der prekären Zusammenarbeit beider Dichter zwischen 1892 und 1906 vgl. Nutt-Kofoth, Dichtungskonzeption als Differenz (Anm. 35), S. 229–243.
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die Briefkommunikation oder – wie im Fall von ‚Der Prophet‘ – in den Kontext des Tagebuchs. Andererseits sind auch die zitierten Gedichte je für sich häufig interpretiert worden. Was dagegen bislang meist vernachlässigt wurde85 und was ich hier exemplarisch zu leisten oder wenigstens anzudeuten versucht habe, ist die Lektüre der Briefe als eigenständige Texte, und zwar in der Materialität ihres Schriftträgers und nicht bloß als biographische Dokumente, sowie die Untersuchung des Ineinanderwirkens von brieflicher und poetischer Kommunikation zwischen den beiden Dichtern. Diese lyrisch-epistolare Interaktion ist nach der einen Seite hin offen für die biographischen Ereignisse, deren Spuren wir meist nur noch in Gestalt dieser Briefe, Gedichte und anderer Texte wie Tagebuchaufzeichnungen, späterer Briefe an Dritte, Erinnerungen Dritter an Erzählungen der Betroffenen und Ähnlichem haben. Nach der anderen Seite hin ist diese Interaktion offen für die Gedichte, die in sie eingelagert sind und wichtige kommunikative Funktionen in dem Briefdialog übernehmen, manchmal aber auch separiert werden im Tagebuch, das zu Lebzeiten ganz verschlossen bleibt. Aus diesem brieflichen Dialog und diesem diaristischen Monolog werden die Gedichte schließlich nachträglich von den Dichtern selbst (so vielfach von Stefan George) herausgelöst und in die öffentliche Kommunikation einer Zeitschrift oder eines Gedichtbandes transferiert, bei George häufig unter Erhaltung oder sogar erst Hinzufügung der meist monogrammatischen Widmungen. Bei Hofmannsthal dagegen bleibt ein Großteil der übersandten und gewidmeten Gedichte zu seinen Lebzeiten unter Verschluss. Erst die postumen Herausgeber lösen sie aus den Brief- und Tagebuchkonvoluten heraus und geben ihnen damit den Status eigenständiger poetischer Gebilde. Alle diese Zusammenhänge sind – so scheint mir – in der Auseinandersetzung nicht nur mit den Werken Georges und Hofmannsthals und 85
Eine Ausnahme bildet die Studie von Nutt-Kofoth, Dichtungskonzeption als Differenz (Anm. 35), in der die unterschiedlichen Publikations- und Selbstpräsentationsstrategien der beiden Dichter rekonstruiert werden, allerdings ohne besondere Aufmerksamkeit für die einzelnen poetischen Produkte. Umgekehrt unterzieht Schuster in „Kunstleben“ (Anm. 11) einzelne Gedichte und Briefe einer rhetorisch geschulten Mikro-Analyse, ohne den übergreifenden Lebenszusammenhang und die Interaktion zwischen den Autoren hinreichend deutlich zu rekonstruieren.
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der Beziehung der beiden Dichter zueinander, sondern in der Beschäftigung mit einem großen Teil der Briefe schreibenden Lyrikerinnen und Lyriker der Moderne, von denen ich einige eingangs genannt habe, bislang allzu sehr vernachlässigt worden. Ich möchte dafür plädieren, daran etwas zu ändern.
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‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘
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‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘ / ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘. Stefan Georges an Cyril Meir Scott gewidmeter englisch-deutscher Gedichtzyklus1 Der an Cyril Meir Scott gewidmete dreiteilige lyrische Zyklus ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘, der im November des Jahres 1899 im Buch ‚Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel‘ zum ersten Mal veröffentlicht wurde,2 ist die Übersetzung einer eigenen, von George in englischer Sprache verfassten Trilogie. Mit dieser Trilogie, deren Titel ‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘ die ‚Hymns to Autumn and Evening‘ des Dichter-
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Die Idee, mich mit diesem englisch-deutschen Gedichtzyklus Georges zu befassen, verdanke ich Ute Oelmann und Achim Aurnhammer, mit dem ich, zusammen mit Mario Zanucchi, die Gedichte besprechen durfte. Wolfgang Braungart und Maik Bozza, die meinen Aufsatz vor der Publikation gelesen haben, bin ich für ihre wertvollen Kommentare und Verbesserungsvorschläge sehr dankbar. Ich danke auch Desmond Scott, dem Sohn von Cyril Meir Scott, für die Informationen über Cyril Scotts Leben und Werk, Werner Keil für die Auskünfte über die Cyril Scott-Forschung und Kiah McCarthy aus dem Grainger Museum (University of Melbourne) für die Handschriften aus der Korrespondenz zwischen Cyril Scott und Percy Grainger. Ohne die Hilfe, die mir Frau Oelmann und Herr Bozza während meiner Forschungsaufenthalte im Stefan George Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart geleistet haben, als ich die dort aufbewahrten Handschriften untersucht habe, hätte dieser Beitrag nicht zustande kommen können. Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod: mit einem Vorspiel, Berlin 1899. Nach Ute Oelmann erschien das Buch am 30. November (Ute Oelmann: Anhang. In: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. 5, S. 88–128, hier S. 88, 101–102. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer, Seitenzahl zitiert). Vgl. auch Nina Herres: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel (SW V). In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 1–3, Berlin – Boston 2012. Bd. 1, S. 156–175, hier S. 157.
https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0007
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Komponisten Cyril M. Scott3 evoziert, setzte George einen mit Scott geführten Dialog über Dichtung und Poetik fort. Wie Scott in seiner ersten Autobiographie berichtet, erweckte George in ihm fast leidenschaftliches Interesse für die Dichtung, und zwar nicht nur, indem er ihm seine eigenen Werke näherbrachte, die Scott zum Teil übersetzte und vertonte,4 sondern auch, indem er ihn in die Lyrik von Ernest Dowson einführte.5 Nach der hier vertretenen These sind sowohl Georges ‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘ / ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘ als auch Scotts ‚Hymns to Autumn and Evening‘ aus der Auseinandersetzung mit den 1896 erschienen ‚Verses‘ von Ernest Dowson hervorgegangen, einer Sammlung, mit der sich George und Scott damals intensiv beschäftigten: Zwischen Mitte September 1897 und Oktober 1899 übersetzte George aus der Sammlung die Sonette ‚To One in Bedlam‘ und ‚Seraphita‘;6 um 1900 vertonte Scott die Gedichte ‚April Love‘ und Autumnal’,7 und in einem Brief an George vom 10. März 1900 zitierte er Verse aus ‚Autumnal‘.8 3
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Cyril Scott: Hymns to Autumn and Evening. In: Ders.: The Voice of the Ancient, London 1910, S. 83–89. Stefan George: Selections from His Works. Translated into English by Cyril Scott, London 1910; Cyril Scott: Sänge eines fahrenden Spielmanns, op. 1. Voice and piano. Text by Stefan George, August 1899 komponiert (Laurie J. Sampsel: Cyril Scott. A Bio-Bibliography, Westport 2000, S. 76; Werner Keil / Philipp Heitmann / Andreas Fukerider: Versunkenes 20. Jahrhundert. Musik und Musikwissenschaft jenseits des Mainstreams, Hildesheim 2016, S. 21). Cyril Scott: My Years of Indiscretion, London 1924, S. 31–32. Als Vorlage diente die Ausgabe: Ernest Dowson: Verses, London 1896. Am 13. September 1897 bat George Albert Verwey, ihm „eins der Bücher D[owsons] zu leihen“, weil er „den Deutschen etwas davon“ zeigen wollte (Ute Oelmann, Anhang. In: SW XV, S. 113–157, hier S. 138–139; Ute Oelmann: Anklänge. Stefan George und Ernest Dowson. In: Konrad Feilchenfeldt u. a. [Hg.]: Goethezeit – Zeit für Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung in der Moderne. Festschrift für Christoph Perels zum 65. Geburtstag, Tübingen 2003, S. 312–321, hier S. 316). Im Oktober 1899 erschienen seine Übertragungen ‚An einen Bedlam‘ und ‚Seraphita‘ (Blätter für die Kunst IV 4, 1899, S. 127–128). Ernest Dowson: Verses, London 1896, S. 27, 35 (zitiert aus: Ernest Dowson: Verses 1896 with Decorations 1899, Oxford – New York 1994); Cyril Scott: April Love, op. 1, no. 1. Voice and piano. Text by Ernest Dowson, in Oxton 1900 komponiert und später veröffentlicht als: April Love, op. 3, no. 1. Voice and piano. Text by Ernest Dowson, London 1903; Cyril Scott: Autumnal, op. 11. Voice and
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Im Folgenden soll einerseits die Textgenese von Georges englischdeutscher Trilogie rekonstruiert und anhand der Varianten zwischen den englischen und deutschen Überarbeitungsstufen gedeutet werden; andererseits soll bei der Interpretation der Texte Georges auf die Analogien und Unterschiede zwischen dem Gedichtzyklus Georges und den ‚Hymns‘ von Scott, sowie zwischen diesen zwei Werken und den Gedichten ‚Autumnal‘ und ‚April Love‘ von Ernest Dowson eingegangen werden. Auf formaler Ebene lässt sich beobachten, dass sich der kleine deutsche Zyklus ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘ mit seinen drei Gedichten aus jeweils vier vierversigen Strophen geschmeidig in die strenge Gesamtarchitektur des Buches ‚Der Teppich des Lebens‘ einfügt. Dieser setzt sich aus drei Zyklen mit je 24 Gedichten aus jeweils vier Vierzeilern zusammen, so dass jedes Gedicht mit dem auf der gegenüberliegenden Seite ein Paar bildet. Der Binnenyklus ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘, seinerseits Teil des dritten Zyklus, der ‚Lieder von Traum und Tod‘, umfasst drei titellose Lieder, die mit römischen Zahlen (I–III) nummeriert sind: Das erste („Sie die in träumen lebten“) und das zweite Gedicht („Ihr kündigtet dem Gott von einst die liebe“) bilden das zweite Paar der ‚Lieder von Traum und Tod‘, während das dritte („Ich stand im sommer wartend“) zusammen mit dem an Ernest Dowson gewidmeten Gedicht ‚Juli-Schwermut‘ das folgende Textpaar formt. Allen drei Liedern liegt als Versmaß – von wenigen Tonbeugungen abgesehen – ein jambischer Fünfheber zugrunde, das Metrum, das im ‚Teppich des Lebens‘ vorherrscht. Im Unterschied zur großen Mehrzahl der übrigen Gedichte des Bandes sind die drei Gedichte des Binnenzyklus ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘ reimlos.9 Diese formale Abweichung ist wohl darauf zurückzuführen, dass George die Texte selbst übersetzte.
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piano. Text by Ernest Dowson, um 1900 komponiert, und ders.: Autumnal, op. 32. Voice and piano. Text by Ernest Dowson, London 1904 (Sampsel, Cyril Scott (Anm. 4), S. 25–26, 28). Stefan George Archiv, Brief von Cyril Scott an Stefan George, 10. 03. 1900, George III, 11608:„summer’s loss seems little dear on days like these“. Zu den reimlosen Gedichten im Buch siehe Herres, Der Teppich (Anm. 2), S. 159.
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Von der englischen Version des Zyklus sind im Stefan George Archiv zwei Fassungen aufbewahrt: – eH1,10 die erste Fassung, in der sowohl die Widmung als auch der Titel des Zyklus und die Nummerierung der Gedichte fehlen; – eH2, die zweite Fassung, ebenfalls ohne Widmung, aber mit dem Titel „A YOUTH SANG TO ME ON EVENING AND AUTUMN“;11 auf der Innenseite des Doppelblattes sind die drei Gedichttexte römisch mit den Zahlen I, II, und III nummeriert und erscheinen nicht – wie in der ersten Fassung, separat auf je einer Seite – sondern unmittelbar aufeinanderfolgend, so dass das zweite Gedicht den unteren Teil der ersten und den oberen Teil der zweiten Hälfte des Doppelblattes (S. 2–3) einnimmt. In beiden Manuskripten korrigierte George eigenhändig den dritten Text, so dass dieser in mindestens fünf Überarbeitungsstufen vorliegt: mindestens drei – hier eH1a, eH1b, eH1c – in der ersten Handschrift und mindestens zwei – hier eH2a und eH2b – in der zweiten. Mit dem Buchstaben „a“ wird die erste Abfassung des Gedichts in der entsprechenden Handschrift benannt. Alle später von Hand eingeführten Varianten, die als Substitutionen oder als Alternativen zu erkennen sind, kennzeichnen die weiteren Überarbeitungsstufen auf derselben Handschrift.12 Die Änderungen, durch die sich die Stufen eH1b und eH2b von eH1a bzw. eH2a unterscheiden, wurden auf den Dokumenten mit einer Tinte eingetragen, deren Farbe der der ersten Niederschrift (eH1a bzw. eH2a) gleicht. Die Stufe eH1c weist eine an der Stufe eH1a mit blauem Buntstift vorgenommene lexikalische Substitution auf. Von den ersten zwei englischen Gedichten sind je zwei Fassungen überliefert: die eine in der ersten (eH1), die andere in der zweiten Handschrift (eH2). 10
11
12
Mit der Sigle „eH1“ wird die erste englische Handschrift benannt: „e“ steht für ‚englisch‘, „H“ für ‚Handschrift‘; mit der Ziffer (hier „1“) wird die Reihenfolge der Handschriften angegeben. Die Handschrift ist im Stefan George Archiv aufbewahrt (Stefan George Archiv, George I, 1815). Stefan George Archiv, George I, 1822. Im Anhang des Schlussbandes der „Sämtlichen Werke“ von Stefan George werden die Fassungen eH1 und eH2 entsprechend mit den Siglen „H7“ und „H6“ identifiziert (Ute Oelmann: Anhang. In: SW XVIII, S. 112–148, hier S. 125). Eventuelle Sofortänderungen wurden als Varianten neuer Stufen betrachtet. Eventuelle Ergänzungen im Spatium wurden nicht berücksichtigt.
‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘
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Überarbeitungsstufen der englischen Gedichte I, II, III I eH1, eH2 II eH1, eH2 III eH1a, eH1b, eH1c, eH2a, eH2b
Von der deutschen Version der Trilogie sind zu Lebzeiten des Autors vier Fassungen entstanden, die hier mit folgenden Siglen benannt werden: – dH,13 die Fassung in dem von Stefan George handgeschriebenen Buch ‚Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel‘;14 – dA1,15 die erste gedruckte Fassung im Buch ‚Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel‘, die in der von Melchior Lechter kunstvoll ausgestaltenen Privatausgabe im Verlag der Blätter für die Kunst erschien;16 – dA2, in der zweiten Ausgabe des Buches, die 1901 im Georg Bondi Verlag veröffentlicht wurde;17 – dGAV, die Fassung im fünften Band der ‚Gesamt-Ausgabe der Werke‘, die 1932 im Georg Bondi Verlag publiziert wurde.18 Diese erschien in der vom Autor selbst erarbeiteten ‚Stefan George-Schrift‘ mit eigenen Satzzeichen und eigenen Groß-und Kleinschreibungsregeln. Die ‚Stefan George-Schrift‘ und die abweichende Schreibung
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18
In der Sigle „dH“ steht „d“ für ‚deutsch‘ und „H“ für ‚Handschrift‘. Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. Faksimile der Handschrift, Stuttgart 2003, S. 23–24. Mit der Sigle „dA1“ wird die erste deutsche Ausgabe benannt: „d“ steht für ‚deutsch‘, „A“ für ‚Ausgabe‘; mit der Ziffer wird die Reihenfolge der Ausgaben angegeben. Stefan George: Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang I-III. In: Ders., Der Teppich (Anm. 2), [ohne S.]. Stefan George: Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang I-III. In: Ders.: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel, Berlin 1901, S. 72–74. Stefan George: Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang I-III. In: Ders.: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. In: Ders.: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1927ff. Bd. 5, S. 70–72. Im Folgenden mit der Sigle GA, Bandnummer, Seitenzahl zitiert. Im Angang der ‚Sämtlichen Werke‘ werden die Fassungen dH, dA1, dA2 und GAV entsprechend „H17“, „A1“, „A2“ und „GAV“ benannt (Oelmann, Anhang [Anm. 2], SW V, S. 100–102).
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eines einzigen Wortes19 bilden allerdings die einzigen Varianten, worin sich diese Fassung von der vorherigen (dA2) unterscheidet. Die Gedichte des englischen Zyklus sind drei Sonette. Die Wahl der Sonettform hängt wohl damit zusammen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit die Sonettzyklen Dante Gabriel Rossettis und William Shakespeares George als Vorbilder für die strenge zyklische Struktur des ‚Teppichs‘ gedient haben.20 Auch war George in der Übersetzung von Sonetten in englischer Sprache geübt. Vor seinen im Oktober 1899 publizierten Übertragungen der zwei Sonette aus Dowsons ‚Verses‘21 erschienen 1894 in den ‚Blättern für die Kunst‘ seine Übertragungen von sieben Sonetten aus dem Band ‚The House of Life‘ von Rossetti: die Sonette II (‚Der Liebe Erlösung‘), XIV–XXVII (‚Weidenwald‘), XXXIII (‚Die Spitze des Hügels‘), XXXIV (‚Öder Frühling‘).22 Für seine Übertragungen wählte George die Sonettform – mit zwei Quartetten und zwei Terzetten –, wie sie Petrarca geprägt hatte. Damit weicht er in seiner deutschen Fassung vom Original ab. In der ersten Fassung seiner englischen Sonette folgt auf zwei Vierzeiler ein Sextett, entsprechend der typographischen Darstellung Dante Gabriel Rossettis und Dowsons in ‚Seraphita‘. In der zweiten Fassung teilte George das Sextett in zwei Dreizeiler. Fast exakt spiegelverkehrte Reimschemata verknüpfen die ersten zwei Sonette des Binnenzyklus zu einem Gedichtpaar, das durch eine dialogische, kontrastive Spannung charakterisiert ist: Auf die Paarreime der zwei ersten Vierzeiler des ersten Textes (aabb*/ccdd) entgegnet der
19
20
21 22
In der ‚Gesamt-Ausgabe‘ ist im dritten Gedicht das Wort „träne“ (V. 12) ohne ‚h‘ geschrieben. Zum Einfluss der Sonette von Rossetti auf die Struktur des ‚Teppichs‘ vgl. Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW V, S. 91. Von den Shakespeare-Sonetten bekam George von Cyril Meir Scott eine Ausgabe von 1898 geschenkt, die im Stefan George Archiv vorliegt (vgl. Ute Oelmann, Shakespeare Sonnette. Umdichtung [SW XII]. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann [Hg.], Stefan George und sein Kreis [Anm. 2], Bd. 1, S. 238–254, hier S. 239). Siehe Anm. 6. Blätter für die Kunst 4, 1894, S. 123–127. Insgesamt hat George vierzehn Sonette Rossettis übersetzt und im ersten Teil seiner Anthologie ‚Zeitgenössische Dichter‘ veröffentlicht: Dreizehn Sonette stammen aus dem Band ‚The House of Life‘ und eins aus den ‚Sonnets for Pictures‘ (SW XV, S. 11–24).
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zweite mit den Kreuzreimen (abab/cdcd) der eigenen Vierzeiler, während die von Paarreimen gekennzeichneten letzten vier Verse des zweiten (ffgg) als Erwiderung auf die Kreuzreime der gleichen Zeilen des ersten Sonetts (fgfg) gelten können. 23 I, eH123 Those who have lived in dreams see when awake The spectre of the glories they forsake For earth and grief, and weeping silently They fill their hours with fading memory
a a b b*
II, eH1 You boldly ceased to love the God of yore, Now he appears with dark revengful brow: „You who called servitude my precious lore And left my house too proud to make the bow;
a b a b
Of the blue region, where with gentle pace The gold winged children wander to embrace The trembling weary souls, free from their jail, Who turn the first amazed looks, shy and frail,
c c d d
Are you not bent by a more shameful yoke, Do you not feel your wrung arms’ force decay More than by this sonorous chain you broke? Must you not cry for pity, watch and pray?“
c d c d
In the bright land of Wonder … So beguile The dark truth fellow-prisoners! of a smile A shadow still remains, though your two lives Again lie fettered in the poisonous air; – A glance that your cold desert’s hope revives, And pale and sudden beams that kiss thy hair.
e e g f g f
– Yea! as I neared the Saviour’s bloody feet I now exalt a new God whom I greet With quivering lips, and equal extasies Consume me and less sober sympathies When last light of the holy evening wanes In my cathedral’s gold and purple panes.
e e f f g g
Von dieser Spiegelsymmetrie, welche die ersten beiden Texte durch ein umgekehrtes Reimschema aufeinander bezieht, bleibt das dritte Sonett – mit seinen umarmenden Reimen (eH1: abba cddc eefggf) – ausgespart. In der ersten englischen Fassung unterstreicht auch die graphische Darstellung der ersten zwei Gedichte, die wie in der deutschen Version auf gegenüberliegenden Seiten erscheinen, ihre enge Beziehung. Beim Wechsel von der englischen zur deutschen Sprache änderte der Autor den Gedichttyp und die Strophenformen, um die Texte in die Gesamtstruktur des Buches einzubauen. Auch wurde der Endreim aufgegeben, während George das Versmaß insofern beibehielt, als der metrische Rahmen der englischen Version auch schon ein fünfhebiger Jambus ist. Hinzu kommt, dass die Vierzeiler der deutschen formal den Vierzeilern der englischen Fassungen entsprechen, die von gleichartigen Endreimen zusammengehaltenen werden. Für das erste Gedicht nahm George die Strophenform der zweiten Strophe im dritten Sonett als Modell: einen Vierzeiler aus jambischen Fünfhebern, in dem ein „unbetont endendes Reimpaar von je einem betont endenden Vers um23
In dieser Tabelle werden die Texte des ersten und des zweiten Sonetts aus der ersten englischen Handschrift (siehe Anm. 10) transkribiert.
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schlossen wird“.24 Mit den Assonanzen am Ende der mittleren deutschen Strophenverse (xAAx xBBx xCCx xDDx) erinnert das deutsche Lied an die zentralen ‚umarmenden‘ Reime des dritten englischen Sonetts. Die assonierenden Versenden der deutschen Gedichte II und III lassen sich allerdings auf kein bestimmtes Reimschema zurückführen, so dass sich diese zwei Texte stärker von der englischen Version lösen. Gegenüber der ersten ist die zweite englische Fassung mit ihren lexikalischen Varianten der deutschen Version deutlich ähnlicher.25 Im Folgenden werden diejenigen Varianten angeführt, die George sicher nicht aus metrischen Gründen eingeführt hat. Im ersten Gedicht entspricht dem Nomen „pracht“ in der deutschen Version (dH bis GAV, V. 2) nicht der Plural „glories“ der ersten englischen Fassung, sondern der Singular „glory“ der zweiten fremdsprachlichen Fassung. Im zweiten Sonett fällt auf, dass das Lexem „prayer-evening“ (V. 13) in der zweiten englischen Fassung, mit dem George die Wendung „holy evening“ (eH1) ersetzte, mit dem Kompositum „beterabends“ (dH, dA1, V. 15) / „beter-abends“ (dA2, GAV, V. 15) übereinstimmt. Schließlich tauchen erst im dritten Gedicht der zweiten englischen Fassung (eH2a bis eH2b) die Wendungen „the scarlet banner“ (V. 2), „blooms and leaves“ (V. 7), „Half-withered wonders“ (V. 8) und „This hand […] lifts / […] to you“ (V. 9–10) auf, die man auch in der deutschen Version (dH bis dGAV) – in den Wendungen „das scharlach-banner“ (V. 2), „laub und blumen“ (V. 7). „Halbwelke wunder“ (V. 8), „die hand […] hebt / […] empor dir“ (V. 9–10) – wiederfindet. Die neuen englischen Ausdrücke haben folgende Wendungen der ersten Fassung (eH1) ersetzt: „the scarlet mantle“, „leaves“, „Halffrozen flowers“ (eH1a) / „Halfwithered flowers“ (eH1b) und „This hand […] lifts / […] before thine eyes“. Das englische Wort „tale“ (V. 13), das dem deutschen Substantiv „mär“ (V. 15) entspricht, kommt 24
25
Zu dieser Strophenform in der Sonettdichtung, im Kirchenlied und im Werk von Stefan George siehe Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, Tübingen – Basel 21993, S. 315–316. Im zweiten Lied hat George als Modell einen fünfhebigen Vierzeiler genommen, in dem zwei unbetonte Verse zwei betonten Zeilen vorrausgehen, während im dritten das vorgegebene Muster aus einem fünfhebigen Vierzeiler aus unbetont endenden Versen besteht. Vgl. ebd., S. 328–329, 333–337. Zu den Varianten der englischen und deutschen Fassungen siehe Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW V, S. 121–122, und Oelmann, Anhang (Anm. 11), SW XVIII, S. 147–148.
‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘
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nur in der Stufe eH1c vor, und zwar als Ersetzung der in allen anderen Überarbeitungsstufen verwendeten Variante „word“. Aufgrund dieses Befunds ist nicht auszuschließen, dass diese lexikalische Substitution, die eH1c kennzeichnet, nicht nur nach dem Verfassen von eH1b, sondern auch nach der Erarbeitung der Stufen auf der zweiten Handschrift (eH2a bis e H2b) durchgeführt wurde. Sicher ist – was das dritte Gedicht betrifft –, dass die Stufe eH1a vor eH2a entstand. Ob George die deutsche Version erst nach Abschluss der englischen in Angriff nahm, oder ob er parallel an den zwei Zyklen arbeitete, so dass die ersten deutschen Fassungen die zweite Fassung in der Fremdsprache beeinflussten, ist unklar. Jedoch stellen zwei Varianten im zweiten Gedicht ein Indiz für die zweite Hypothese dar. George führte erst in den Fassungen dA2 und eH2 ein Fragezeichen am Ende der fünften Zeile und die Schreibung mit Bindestrich „prayer-evening“ / „beter-abends“ ein: 26272829
II, eH126 5 Are you not bent by a more shameful yoke, […] 13 When last light of the holy evening wanes
II, dH bis dA128 5 Neigt ihr euch jetzt nicht schmählicherem dienste […] 15 Wenn schweres licht des beterabends sinkt
II, eH227 5 Are you not bent by a more shameful yoke? […] 13 When last light of the prayer-evening wanes
II, dA2 bis dGAV29 5 Neigt ihr euch jetzt nicht schmählicherem dienste? […] 15 Wenn schweres licht des beter-abends sinkt
Es ist gut möglich, dass George das deutsche Kompositum ins Englische mit „prayer-evening“ übersetzte und dass die zweite englische Fassung frühestens nach der ersten deutschen Fassung zustande kam. Im Laufe der Arbeit an dem deutschsprachigen Zyklus distanzierte sich der Autor von dem englischen, indem er beispielsweise im dritten Gedicht die Wendung „kurzen Frist“ (dH, V. 6), die der auf Englisch durchgehend 26 27 28
29
Zu der hier zitierten ersten englischen Handschriften (eH1) siehe Anm. 10. Zitiert wird aus der zweiten englischen Handschrift (Anm. 11). Die hier abgedruckten Verse stimmen in den zwei ersten deutschen Fassungen überein. Die erste Fassung, dH (Anm. 13) wird zitiert aus: George, Der Teppich (Anm. 14), S. 23; die zweiten Fassung, dA1 (Anm. 15), ist veröffentlicht in: George, Der Teppich (Anm. 2). Die zitierten Zeilen sind in der dritten (dA2) und der vierten deutschen Fassung (dGAV) identisch. Zitiert wird aus der zweiten deutschen Ausgabe (George, Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang II [Anm. 17], S. 73) und aus der Gesamt-Ausgabe (GA V, S. 71).
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gebrauchten „short while“ (V. 6) ähnelt, gegen die mehrdeutigen Worte „kargen Frist“ (dA1 bis dGAV) einlöste. Das genaue Entstehungsdatum des Cyril Meir Scott gewidmeten Zyklus ‚A Youth Sang to me on Evening and Autumn‘ / ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘ kann aufgrund der vorliegenden Daten nicht genau festgelegt werden: Stefan George hatte den damals siebzehnjährigen Konservatoriums-Studenten Scott 1896 in Frankfurt kennengelernt.30 Ein Brief, den Cyril M. Scott am 8. Januar 1899 an Stefan George schrieb, legt nahe, dass Scott zu jenem Zeitpunkt die Gedichte erwartete, die George ihm gewidmet hatte.31 Anfang November hatte Scott den englischen Zyklus Georges empfangen. Den Beweis dafür bildet ein Brief vom 6. November 1899, den Scott an George richtete und in dem er zwei Verse aus dem zweiten Gedicht der ersten englischen Fassung zitiert: „When last light of the holy evening wanes / In my cathedral’s gold + purple panes“. Die Worte aus demselben Brief „the poems […] are splendid my very greatest thanks I shall cherish them until my end – and you“ mögen als Danksagung für den ihm gewidmeten Zyklus gelesen werden.32 Die englische Trilogie ist daher wohl zwischen 1896 und dem 6. November 1899 entstanden. Zur selben Zeit entstand die deutsche Eigenübersetzung Georges (zwischen 1896 und der Veröffentlichung des ‚Teppichs‘, im November 1899). Aus den eben rekonstruierten Entstehungsdaten des Zyklus ‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘ / ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘ und aus der Tatsache, dass Scotts ‚Hymns to Autumn and Evening‘ 1910 in der Sammlung ‚The Voice of the Ancient‘33 erschienen sind, lässt sich folgern, dass Scott beim Verfassen seiner ‚Hymns‘ von Georges Texten inspiriert worden ist, während George mit seinem Binnenzyklus nicht direkt auf Scotts ‚Hymns‘ geantwortet hat. Es sei aber auch 30
31
32
33
Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Textband, Düsseldorf – München 1967, S. 69–70; Werner Keil: Scott, Cyril (Meir). In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann (Hg.), Stefan George und sein Kreis (Anm. 2), Bd. 3, S. 1839–1643, hier S. 1640–1643; Keil / Heitmann / Fukerider, Versunkenes (Anm. 4), S. 20–21. Im Brief liest man: „I have just bought all your works and look forward to the new one + my dedication“ (Stefan George Archiv, Brief von Cyril Scott an Stefan George, Frankfurt, 08. 01. 1899, George III, 11585). Stefan George Archiv, Brief von Cyril Scott an Stefan George, Oxton, 06. 11. 1899, George III, 11599. Vgl. Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW V, S. 119. Vgl. Anm. 3.
‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘
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an die von der Forschung aufgestellte Hypothese erinnert, die ‚Hymns‘ seien vor Georges deutscher Trilogie entstanden: Nach Ute Oelmann könnte sich die Überschrift ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘ auf die ‚Hymns to Autumn and Evening‘ beziehen, da nicht auszuschließen sei, George habe sie schon 1898 kennengelernt.34 Im Rahmen dieser Untersuchung ist die Bestimmung des Entstehungsdatums der ‚Hymns‘ jedoch nicht zentral. Vielmehr soll hier die Aufmerksamkeit auf Kontaktpunkte und Unterschiede zwischen Georges ‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘ / ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘ und Scotts ‚Hymns‘ gelenkt werden, beides Werke, die aus Georges und Scotts gemeinsamer und individueller Auseinandersetzung mit der Dichtung und der Poetik von Ernest Dowson hervorgegangen sind. Die hier untersuchten Gedichte von George und Scott, sowie Dowsons ‚Autumnal‘ und ‚April Love‘ sind sich motivlich sehr ähnlich. Sie behandeln alle den Herbst und den Abend als Zeitspannen des Übergangs zum Winter, zur Nacht und zum Tod. In allen drei Gedichten des George-Zyklus geht es um Übergänge. Während der dritte Text sein Hauptaugenmerk auf den Übergang vom 34
Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW V, S. 119. Tatsächlich kann man aufgrund der Aussagen in Scotts Werk und Briefwechseln und angesichts der Literatur über Scotts Leben und Werk nicht ausschließen, dass die ‚Hymns‘ um 1898/1899 entstanden sind, und dass Scott sie George an einem ihrer privaten Treffen zwischen 1898 und 1899 ‚vorgesungen‘ habe (zu Scotts poetischer Produktion um 1899 siehe: Grainger Museum, University of Melbourne, Brief von Cyril Scott an Percy Grainger, Liverpool [ohne Datum], ehemals 02.0071; Cyril, My Years [Anm. 5], S. 54; Sarah Collins: The Aesthetic Life of Cyril Scott, Woodbridge 2013, S. 63, 76, 84–85; zu Georges und Scotts privaten Treffen in Bingen, in Frankfurt und in Cronberg bei Taunus siehe: Keil, Scott [Anm. 30], S. 1640; Cyril Scott: Die Tragödie Stefan Georges. Ein Erinnerungsbild und ein Gang durch sein Werk, übers. v. Ilse Schneider, Eltville am Rhein 1952, S. 16; Oelmann, Anhang [Anm. 2], SW V, S. 119; von ihrem Treffen in Bingen zwischen dem 3. und dem 5. September 1898 zeugen folgende Dokumente aus der Korrespondenz zwischen George und Scott, die im Stefan George Archiv vorliegen: George III, 11578; George II, 5760; George III, 11579; George II, 5761). Jedoch konnte man bisher keinen handfesten Beweis für die Entstehung der ‚Hymns‘ um 1898/1899 finden. Die einzige Handschrift von Scotts Hand einer seiner ‚Hymns‘, die im Stefan George Archiv aufbewahrt ist, wurde nicht vor 1905 angefertigt (Oelmann, Anhang [Anm. 2], SW V, S. 119). Es handelt sich um die Abschrift der vierten Hymne mit der Überschrift ‚From the Hymns to Autumn and Evening IV‘ (Stefan George Archiv, George III,640).
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Herbst zum Winter als Lebenseinschnitt legt, stellen die ersten beiden Fassungen ganz allgemein einen Wechsel von einer leidvollen Situation in eine noch leidvollere in den Mittelpunkt. Im zweiten Text haben die Protagonisten dem „God of yore“ / „Gott von einst“, dessen „lore“ / „gesetz“ sie „servitude“ / „joch“ nannten, „die liebe“ gekündigt und sich einem „new God“ / „neuen Gott“ unterworfen. Unter dessen Herrschaft werden sie – im deutschen Text – von „mitgefühlen“ „verzehrender“, aber „weniger verzichtend“ erhöht, während – im Englischen – das Ich von „less sober sympathies“ verzehrt wird.35 363738 II, eH2, die letzte englische Fassung36 You boldly ceased to love the God of yore. Now he appears with dark revengful brow „You who called servitude my precious lore And left my house too proud to make the bow
II, dGAV, die letzte deutsche Fassung37 Ihr kündigtet dem Gott von einst die liebe – Nun zeigt er sich mit rachevoller braue: Ihr nanntet joch mein kostbares gesetz Ihr lasst mein haus zu beugungen zu stolz.
Are you not bent by a more shameful yoke? Do you not feel your wrung arms force decay More than by that sonorous chain you broke? Do you not cry for pity, weep38 and pray?“
Neigt ihr euch jetzt nicht schmählicherem dienste? Ermattet er nicht die gewundnen arme Mehr als die klanges-kette die ihr bracht? Ruft ihr nach gnade nicht und wacht und weint?
Yea, as I neared the Saviours bloody feet, I now exalt a new God whom I greet With quivering lips – and equal ecstasies
Ja wie wir einst voll demut und verlangen Uns zu des Heilands blutigen füssen bückten So knien wir huldigend dem neuen Gott Und zittern und verzückung wie zuvor
Consume me, but less sober sympathies, When last light of the prayer-evening wanes In my cathedrals gold and purple panes.
Erhöhen uns doch andere mitgefühle Verzehrender und weniger verzichtend Wenn schweres licht des beter-abends sinkt In gold und purpurscheiben unsres doms.
Der alte Gott und der „Saviour“ / „Heiland“ mit „blutigen füßen“ könnten für die Bibelreligion oder für die christliche Religion, von der sich Cyril Meir Scott abgewendet hatte,39 stehen. Mit dem neuen Gott 35
36 37 38 39
Zur ersten Person Singual in der englischen und der ersten Person Plural in der deutschen Version siehe Ernst Morwitz: Kommentar zum Werk Stefan Georges, München – Düsseldorf 1960, S. 201. George I 1822 (Anm. 11). GA V, S. 71. In der ersten englischen Fassung (Anm. 10) steht „watch“ und nicht „weep“. Nach Collins wurde Scotts intellektuelle Entwicklung (und seine Auseinandersetzung mit Stefan Georges Poetik) von dem Verlangen angeregt, das Christentum, zu dem sich seine Mutter bekannte, mit einem alternativen Wertesystem zu ersetzen (Collins, The Aesthetic Life [Anm. 34], S. XXVII). Siehe auch Des-
‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘
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könnte hingegen die Kunstreligion gemeint sein. Der „weniger verzichtende“ und „less sober“ Charakter der „mitgefühle“ stellt kontrastiv den sinnlichen Verzicht der christlichen Religion dar,40 während ihr „verzehrender“ Charakter das Grundgefühl und die Grundstimmung des Zyklus zum Ausdruck bringt. Die letzten zwei Verse, die Scott aus der ersten englischen Fassung in dem Brief an George vom 6. November 1899 zitiert, werden vom zweiten Gedicht in den ‚Hymns to Autumn and Evening‘ hervorgerufen, in dem der Abend – bei goldnem und purpurnem Licht – als verherrlichter und angebetener Herrscher und Heilige auftritt. 1Sanctitude 9And
10With 11It
of eventide! […]
as thy gold and crimson crescent bathes the west all the saintly glamour of thy mighteous sway,
seems as if awakened at thy magic hest
12The
grand and deathless triumphs of an ancient day.
13Deep 14Far
sunk within my Self, thy soul hath found a garden
shaded from all sun, or sound, or view,
[…] 17Thy
cypress for my heart a sweetly sorrowed altar,
18Thy
gorgeousness a gold an shining aureole,
19Thy
music trembling through the airs, my priceless psalter,
20Thy
holiness a heaven for my soul.41
In Georges Lied kommen außer den Farben „gold and crimson“42 nur die intimeren Töne der letzten zwei Strophen der Hymne vor. Hat die
40
41 42
mond Scott: Cyril Scott: Author, Poet and Philosopher. In: The official Cyril Scott website, http://www.cyrilscott.net/writings/#/cyrilscott-author-poetphilosopher/ (abgerufen am 21. 09. 2017). Mario Zanucchi, der ebenfalls den „neuen Gott“ als die „neue Kunstreligion“ versteht, unterstreicht Georges „Absage an die christliche Sinnenfeindlichkeit“ und interpretiert die im deutschen Text dargestellten Gefühle als „sinnfreudiger“ (Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne [1890–1923], Berlin – Boston 2016, S. 231–232). Scott, The Voice (Anm. 3), S. 86. Die Farbkombination ‚Gold und Purpur‘ kommt mehrmals in Georges Werk vor (vgl. Claus Victor Bocks: Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges, Amsterdam 1964, S. 452, zitiert in Ian J. Gulliford: „Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang“, übers. v. Andrea Korte. In: Castrum Peregrini CCL, 2001, S. 48–59, hier 58).
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Wendung „holy evening“, die nur in der ersten englischen Fassung (V. 13) auftritt, dieselbe Wurzel von Scotts „holiness“ (V. 20) und hebt sie wie in der Hymne die Sakralität des Abends hervor, gibt stattdessen Georges Kompositum „prayer-evening“ / „beter-abend“ eine innerliche Hingabe wieder, die im Licht der untergehenden Sonne zu einer leisen, intimen, gedämpften und heiligen Atmosphäre beiträgt. In der deutschen Fassung verleiht das Attribut von „licht“, „schweres“ (V. 15), der Situation eine bedrückende Stimmung. Auf poetologischer Ebene können die „schweren“ Licht-„scheiben unseres doms“ (V. 15–16) als kunstvolle Gegenstände interpretiert werden, die durch die Verskunst geschaffen werden und Symbole einer ‚heiligen‘ Dichtung – im Sinne einer esoterischen Kunstreligion – sind.43 Nach dieser Auffassung wird in der Rezeption der ‚heiligen‘ lyrischen Texte durch eine ästhetische Praxis, die im Stefan George Kreis als religöse Praxis verstanden wurde, Heiliges erfahrbar.44 Der ‚Teppich‘ wurde von George selbst als ‚heiliges‘ Buch verstanden.45 Im ersten Lied des George-Zyklus zeigt sich der Übergang von einem Leben „in dreams“ / „in träumen“, das als „jail“ / „kerker“ empfunden wird, in eine „truth“ / „wahrheit“, die als Gefangenschaft wahrgenommen wird. Die neue Situation wird ironisch als „bright land of wonder“ / „erstaunend helles wunderland“ bezeichnet.46 Das „helle wunderland“ könnte als die vollkommen durchschaubare Welt des Rationalismus interpretiert werden, die der Traumwelt gegenübersteht. So folgt der Gefangenschaft im onirischen Leben, wo in der „blue region“ / am „blauen ufer“ „gold winged children“ / „Goldflügel-kinder“ „with gentle pace“ / „mit sanftem tritt“ wandelten, eine zweite noch schlimmere: in einer rational erfassbaren Realität ohne Geheimnisse, ein 43
44
45
46
Zum Symbolverständins Georges als „Versinnlichung einer greifbaren Gestalt“ und „plastische Gestaltung“ siehe Zanucchi, Transfer (Anm. 40), S. 233. Wolfgang Braungart: Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann (Hg.), Stefan George und sein Kreis (Anm. 2), Bd. 2, S. 495–550, hier S. 502–504, 517–518. Im Gedicht ‚Der Teppich‘, das den zweiten Zyklus des homonymen Buches eröffnet (SW V, S. 36), kommt zum Ausdruck, dass eine derartige Dichtung sich nur wenigen Eingweihten erschließt. Erhellend ist die Interpretation desselben Textes in Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 282–286. Bertold Vallentin: Gespräche mit Stefan George. 1902–1931, Amsterdam 1967, S. 51, dort Anm. 74. Für diesen Hinweis auf die Interpretation danke ich Achim Aurnhammer.
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„cold desert“ / eine „enge wüste“ für die menschliche Seele, charakterisiert von „earth and grief“ / „gram und erde“, in der das „leben“ zwischen „gittern“ „schmachten muss in grabesluft“ bzw. die Leben „in the poisonous air“ in Fesseln liegen.47 4849 I, eH248 They who have lived in dreams see, when awake, The spectre of the glory they forsake For earth and grief, and weeping silently They fill their hours with fading memory
I, dGAV49 Sie die in träumen lebten sehen wach Den abglanz jener pracht die sie verliessen Um gram und erde · und sie weinen stille Die stunden füllend mit erinnerung
Of the blue region, where with gentle pace The gold-winged children wander, to embrace The trembling weary souls, free from their jail, Who turn the first amazed looks, shy and frail
Ans blaue ufer wo mit sanftem tritt Goldflügel-kinder wandeln und die müden Vom kerker eben freien seelen grüssen Die noch verwirrt die blöden blicke drehn
In the bright land of Wonder … So beguile The dark truth, fellow-prisoners! Of a smile A shadow still remains, though your two lives
In dem erstaunend hellen wunderland .. So helft euch aus der wahrheit – mitgefangene! Es bleibt für euch noch eines lächelns schatten Wenn euer beider leben auch gebannt
Again lie fettered in the poisonous air. A glance! and your cold desert’s hope revives … And pale and sudden beams have kissed Thy hair.
Jezt wieder schmachten muss in grabesluft. Ein flüchtiger blick in euren gittern zündend Belebt die hoffnung eurer engen wüste .. Und bleich und plötzlich küsst ein strahl dein haar.
Die Kritik an dem Rationalismus, die im Gedicht zum Ausdruck kommt, wurde – so Sarah Collins – auch von Cyril Meir Scott geteilt. Scott setzte dem rationalistischen Materialismus und der modernen Wissenschaft eine besondere Verehrung für die antike Weisheit entgegen.50 Die Sammlung ‚The Voice of the Ancient‘ verkörpert Scotts verehrende Wertschätzung der Antike, die beispielsweise in der Repräsentation des Abends in der oben zitierten zweiten Hymne deutlich wird.
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48 49 50
Zu dieser Rekonstruktion der „Wortfelder des vorherigen und des aktuellen Lebens“ dank der Parallelismen zwischen den ersten beiden Gedichten des Zyklus siehe Verf.: Stefan Georges ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang I‘: die Poetizität der verwendeten Sprache. In: Jianhua Zhu / Jin Zhao / Michael Szurawitzki (Hg.): Germanistik zwischen Tradition und Innovation. Akten des XIII. Internationalen Germanistenkongresses Shanghai 2015. Bd. 3, Frankfurt a. M. 2016, S. 219–223, hier S. 221. Zu der hier abgedruckten Fassung siehe Anm. 11. SW V, S. 64 und GAV, S. 70. Collins, The Aesthetic Life (Anm. 34), S. 67, XIV.
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Während seiner Arbeit an der Trilogie führte George lexikalische Wiederholungen ein, welche die analoge Situation in den Gedichten I und II unterstreichen. Von den Personen, die sich der neuen Lage bewusst sind, heißt es, dass sie „wach“ „sehen“ (I, V. 1) bzw. „wachen“ (II, V. 8) und „weinen“ (I, V. 3; II, V. 8). In der ersten englischen Fassung werden die Handlungen „see, when awake“ (V. 1) und „weeping“ (V. 3) im ersten Sonett nicht mit Deutlichkeit durch die Wendung „watch and pray“ im zweiten Sonett (V. 8) in Erinnerung gerufen. Dieser Effekt wird aber teilweise durch die Worte „weep and pray“ (V. 8) in der zweiten Fassung erreicht. Mit dem alliterierenden Polysyndeton „und wacht und weint“ wird die Analogie zwischen der Situation im ersten und der im zweiten Gedicht klar hervorgehoben. Augenfällig ist die Korrespondenz zwischen dem ersten Lied Georges und Scotts vierter Hymne: So wie die Protagonisten hier ihre „stunden“ / „their hours“ mit „fading memory / of the blue region“ / „mit erinnerung / Ans blaue ufer“ „füllen“, so lebt das lyrische Ich des ScottGedichts all seine Stunden, um die Stimme des Abends erneut zu hören: 21And
all my hours I live to hear again
22This
speechless, shapeless Voice wich thrills me with eternal things,
23Whose
glory gilds mine every act, whose absence is my pain51
In der dritten Hymne Scotts zeigt sich, wie „die Stimme des Abends“ den Dichter inspiriert und ihm gewährt, in der Natur ein Traumland zu entdecken, poetisch zu gestalten und in der von ihm so geschaffenen Traumwelt zu leben und Friede für seine Seele zu finden.52 Während Scotts ‚Hymns‘ II und III in einer fortwährenden abendlichen paradiesischen Traumwelt und Seelenlandschaft verortet sind, in der Dowsons „dreamful Autumn“53 anklingt, sind die Handlungen in den Gedichten von George und Dowson, welche die Vergänglichkeit thematisieren, nur noch in einer begrenzten Zeitspanne möglich.
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Scott, The Voice (Anm. 3), S. 88. Ebd., S. 87. Darüber hinaus werden sowohl in Georges Text als auch in Scotts Hymnen „verblassende“ Erinnerungen dargestellt. Von den „faded visions“, die in der fünften Hymne im Zusammenhang mit dem vergangenen Sommer vorkommen und mit den „faded ecstasies“ in der zweiten Hymne in Beziehung stehen, liest man, dass sie „slowly rise and sink“. Um sie mit Georges Worten zu benennen, sind es „fading memories“ (I, V. 4). Dowson, Verses (Anm. 7), S. 35.
‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘
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Was den George-Zyklus angehet, werden in den letzten Versen des zweiten Liedes Aktionen dargestellt, die sich abends vor der Dunkelheit ereignen, wenn „last light […] wanes“ / „schweres licht […] sinkt“. Das Adjektiv „last“ evoziert den unumgänglichen Zeitpunkt, an dem der Abend der Nacht weichen wird. Im dritten Gedicht „eilt“ das Ich in der „short while granted by the showers“ / „kurzen“ bzw. in der „kargen frist“,54 welche die „dancing reapers“ / „ernter“ vom „grave“ / „grabe“ trennt, um im Herbst – in der deutschen Version – „von dem was [vom Sommer] blieb“ zu „pflücken“ und „laub und blumen“ zu binden bzw. – in der englischen – „some / a few leaves“ zu pflücken („take“) bzw. „blooms and leaves“ zu pflücken oder zu „sammeln“ („gather“). 5556
III, eH2b55 I stood in summer, waiting – and aghast I turn and see the scarlet banner wave Which shows the dancing reapers their near grave, Sweet fruit is unplucked, wasted by the blast.
III, dGAV56 Ich stand im sommer wartend · mit erbleichen Seh ich nun schon das scharlach-banner wehen Es winkt dem tanz der ernter mit dem grabe Mit ungepflückter frucht zerzaust vom sturme.
Now quit the careless sheperds’ blind belief! Now go the short while, granted by the showers, To gather blooms and leaves from drooping bowers, Half-withered wonders in my hand of grief!
Nun schwindet mir der sorgenlose glaube Nun eil ich in der kargen frist und pflücke Von dem was blieb und binde laub und blumen Halbwelke wunder meiner grames-hand.
– This hand with dedicating reverence lifts Ashamed to you these poor though tear-lit gifts, They are no proof of splendour dreamed, no choice
Die hand mit widmender verehrung hebt Beschämt empor dir die verstreuten gaben – So wenig von erträumter pracht ein zeichen Wenn auch von macher seltnen träne leuchtend ..
Of jewels, conquederd for You from the Fate … Even as no word of flaming love and hate May be avowed by this low, faltering voice.
So wenig eine wahl von edelsteinen Die ich dir vom geschick erobern wollte Als je die mär von flammen-hass und -liebe Kund wird durch diese brechend leise stimme.
Im ersten Gedicht bleibt den „mitgefangenen“ „noch“ eine „hoffnung“ – die „of a smile / a shadow“ / „eines lächelns schatten“, die Hoffnung, noch den „abglanz“ des früheren Lächelns zu erhaschen, bevor dieser für immer verlischt. 54
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Das Adjektiv „karg“ vermittelt nicht nur die Kürze, sondern auch die Dürftigkeit der restlichen Erntezeit. Hier wird die zweite Überarbeitungsstufe auf der zweiten englischen Handschrift, eH2 (Anm. 11), transkribiert, und zwar nach Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW V, S. 121. SW V, S. 66, und GAV, S. 72.
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Ähnlich wie in Georges Texten konzentriert sich die poetische Wirklichkeit in Dowsons ‚Autumnal‘ auf die „little while“, die den Liebenden das Erleben ihres Traumes ermöglicht, bevor „Winter and night“ ihrer Liebe ein Ende setzen. Autumnal. […] Pale amber sunlight falls across The reddening October trees, That hardly sway before a breeze As soft as summer: summer’s loss Seems little, dear! on days like these! Let misty autumn be our part! The twilight of the year is sweet: Where shadow and the darkness meet Our love, a twilight of the heart Eludes a little time’s deceit. Are we not better and at home In dreamful Autumn, we who deem No harvest joy is worth a dream? A little while and night shall come, A little while, then, let us dream. Beyond the pearled horizons lie Winter and night: awaiting these We garner this poor hour of ease, Until love turn from us and die Beneath the drear November trees.57
Eine ähnliche kurze Zeitspanne trennt in dem Gedicht ‚April Love‘ die Liebenden im „Love’s land“ „in the shine of the sun“ von der Nacht, in der „Liebe nicht ist“: April Love. […] We have walked in Love’s land a little way, We have learnt his lesson a little while, And shall we not part at the end of day, With a sigh, a smile? A little while in the shine of the sun, We were twined together, joined lips, forgot How the shadows fall when day is done, And when Love is not. […]58
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Dowson, Verses (Anm. 7), S. 35. Ebd., S. 27.
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In den Texten Georges geht das in ‚Autumnal‘ besungene süße Verweilen in der mit Freude (trotz des bevorstehenden Todes) erlebten, traumhaften ‚little while‘ in eine dramatischere „short while“ / „kurze“ bzw. „karge frist“ (III, V. 6) über, die Teil einer von „grief“ / „gram“ (I, V. 3; III, V. 8) durchgedrungen dekadenten Endzeit- und Todesstimmung ist. Diese ist die Grundstimmung in den ‚Liedern von Traum und Tod‘, die im Buch die Perspektive des zu Ende gehenden Lebens einnehmen.59 Gegenüber dem Wort „while“ (‚Weile‘), welches das Andauern des begrenzten Zeitraumes hervorhebt, wird mit dem Substantiv „frist“ der Akzent auf das zwangsläufige Ende der Zeitspanne gesetzt. In diesem Endzeitbewusstsein wurzelt die poetische Schöpfung in der Trilogie Georges. Aufschlussreich sind die letzten Verse (V. 10–16) des ersten Lieds. Die lexikalischen Äquivalenzen zwischen dem „flüchtigen“, „zündenden“ „blick“ und dem „strahl“, der – wie es in der letzten Zeile lautet – „bleich“ und „plötzlich“ „dein haar“ synästhetisch küsst, können im Sinne einer Übereinstimmung der zwei Dinge gedeutet werden: der Blick entspricht dem Strahl, der das Du küsst. In der englischen Version kommt die Entsprechung zwischen dem „glance“ im Singular und den „pale and sudden beams“ im Plural schwächer zum Vorschein. Wenn man das Du, das vom lyrischen Ich im letzten Vers angesprochen wird, als den Geliebten / die Geliebte des Ichs interpretiert, dann kann man die „mitgefangene“ / „fellow-prisoners“ als eine Selbstdarstellung von sich und einer Darstellung des / der Geliebten seitens des Ichs lesen.60 Der „die hoffnung“ / „hope“ belebende „blick“ / „glance“ wird also aus der Perspektive des Ichs, aus der eines der zwei „mitgefangenen“ beschrieben und ist ihre einzig mögliche Erquickung in ihrer scheinbar ausweglosen Situation. In Georges Text leuchtet das Bild der angesprochenen Person für einen Augenblick auf. Der Ausdruck „dein haar“ evoziert für einen Moment die Gestalt des / der Geliebten, die durch mehrere stilistische Mit59
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Vgl. Herres, Der Teppich (Anm. 2), S. 173. Durch die Substitution der englischen Wendung „in the poisonous air“ (I, V. 12) mit der deutschen „in grabesluft“ gelingt es dem Autor, die Stimmung des Zyklus dank der Wiederholung des Symbols des Todes und des Leidens „grab“ (I, V. 13; III, V. 3) durchgängiger zu vermitteln. Mit der Tonbeugung, die durch die Substitution des Wortes „mitgefangne“ (dH bis dA1) durch das längere „mitgefangene“ eingeführt wurde, wird die Aufmerksamkeit auf ein Schlüsselwort des Textes gelenkt.
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tel ins Licht gesetzt wird. Die ganze rhetorische Struktur des Textes – mit dem längeren ersten Teil in dritter Person Plural und dem mittleren kürzeren Teil in direkter Rede in der zweiten Person Plural – spitzt sich auf den letzten Vers zu, in dem das Ich ein Du apostrophiert. Das „haar“ dieser Person wird nicht nur durch die hinausgezögerte Endstellung des Nomens „haar“ hervorgehoben. In der deutschen Version verleiht die vokalische Wiederholungsstruktur [2i 2:] in „ein strahl“ und in „dein haar“ den Eindruck, dass der Lichtstrahl bzw. der liebende Blick genau auf das „haar“ trifft. In diesem Sinne präsentiert das Gedicht eine Poetik, die auf momentane ästhetisch erfahrbahre Bilder zielt. Das Aufscheinen des / der Geliebten für einen Augenblick ist das Neue, das durch die Kunst geschaffen wird und seinen Ursprung im Endzeitbewusstsein hat. Mehr noch: Das letzte Bild des Textes kann als Epiphanie gedeutet werden, die durch das Gedicht ausgelöst wird. Demnach ist es die Aufgabe der Dichtung, die als Kunstreligion aufgefasst wird, Göttliches, Heiliges augenblicklich erfahrbar zu machen. Während in ‚Autumnal‘ der Betrug („little time’s deceit“) dargestellt wird, mit dem die abendliche, traumhafte Weile den realen Einbruch der Finsternis und des Endes aus dem Wahrnehmungshorizont nur momentan verschwinden lässt, setzt George das durch das Gedicht geschaffene Künstliche und das daraus hervorgehende Heilige der Vergänglichkeit erfolgreich entgegen.61 In gleicher Weise fallen im dritten Lied die gesammelten „blooms and leaves“ / „laub und blumen“ nicht der Verwesung anheim, sondern werden zu ‚heiligen‘ „half-withered wonders“ / „halbwelken wundern“ in der „grames-hand“ / „hand of grief“ des lyrischen Ichs; dieselbe „hand“, die „with dedicating reverence“ / „mit widmender verehrung“ dem Du „scattered“ / „poor“ „gifts“ / „die verstreuten gaben“ emporhebt. Mit dieser Geste stellt sich der Dichter selbst dar, und die halbwelken Gaben enthüllen sich als Symbol für die von George vertretene Dichtung, die sich gegen die von Dowson wendet.62 Die „halfwithered flowers“ (eH1b), die mit den „half-withered wonders“ ersetzt wurden, bilden zwar einen direkten Bezug zu den „schö61
62
Georges Wendung „beguile / The dark truth“ (I, V. 9–10) nimmt den in ‚Autumnal‘ dargestellten Betrug wieder auf. Man beachte auch, dass in Georges Wendungen „gather blooms and leaves“ und „poor gifts“ die Zeilen Dowsons „awaiting these [Winter and night] / we garner this poor hour of ease“ widerklingen.
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nen blumen“ des Sommers, derer das Ich im Gedicht „Juli-Schwermut“ „müde“ ist; jedoch können sie weder die Wirkung von Georges neuer Dichtkunst, in der sich ‚Heiliges‘ offenbart, noch die des im ersten Gedicht dargestellten „bright land of wonder“ evozieren. Sowohl die Metapher der „halfwithered flowers“ als auch die der „half-withered wonders“ rufen den „kranz“ aus „noch nicht ganz“ verwelkten „rosen“ im Gedicht ‚Komm in den totgesagten park‘63 aus ‚Das Jahr der Seele‘ (1897) ins Gedächtnis. Das Flechten des Kranzes, das in diesem berühmten poetischen Text das Dichten als Vorgang repräsentiert, durch den eine ästhetische Kunstwelt – der „Park der Poesie“ – geschaffen wird,64 wird im deutschen, später erschienen Binnenzyklus mit der Wendung „binde laub und blumen“ gezielt evoziert. Aus Georges dreiteiligem Zyklus kann man folgende Dichtungsauffassung entnehmen: Das Gedicht ist das vom Dichter geschaffene ewige, künstliche sprachliche „gebilde“,65 in dem Heiliges (augenblicklich) erfahrbar wird und das der vom Dichter geschaffenen künstlich-ästhetischen Ordnung angehört. Diese setzt sich nicht nur von der ‚NichtKunst‘ ab,66 sondern sie behauptet sich gegen die natürliche Ordnung und gegen die Vergänglichkeit. Dies kommt in dem Dowson gewidmeten Gedicht ‚Juli-Schwermut‘ in folgendem Vers zum Ausdruck: „Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit“. Die von George konstruierte dekadente Endzeitstimmung bildet in seiner Trilogie den poetischen Rahmen, in dem die poetische Schöpfung aus dem Kampf gegen 63 64
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SW IV, S. 12. Wolfgang Braungart: „irgendwann, der blumen müd, hast du den sommer zugemacht“. ‚juli-schwermut‘ von Nadja Küchenmeister als Antwort auf Stefan Georges ‚Juli-Schwermut‘. In: George-Jahrbuch 10, 2014/2015, S. 91–106, hier S. 98. Maurizio Pirro beobachtet, dass das Gedicht ‚Komm in den totgesagten Park und schau‘ „die Gesamtheit der Handlungen“, durch die die ästhetische Konstruktion vollbracht wird, „nachahmt und zustande bringt“ (Maurizio Pirro: Komm in den totgesagten Park und schau. In: Maurizio Pirro / Marco Rispoli (Hg.): Dall’iniziazione alla parola. Nove poesie di Stefan George, Pisa 2014, S. 75–93, hier S. 86. Zur Entsprechung zwischen dem geflochtenen „kranz“ und der Dichtung im Werk und in der Korrespondenz von Stefan George siehe Margherita Versari: Strategien der Liebesrede in der Dichtung Stefan Georges, übers. v. Asta von Unger, Würzburg 2006, S. 48. Zur Definition des Kunstwerks und des Gedichts als „gebilde“ siehe Blätter für die Kunst 1/2, 1897, S. 3, und das Gedicht ‚Der Teppich‘ (Anm. 44). Vgl. Braungart, Poetik, Rhetorik, Hermeneutik (Anm. 44), S. 500.
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die Vergänglichkeit hervorgeht und die Lyrik Stefan Georges der dekadenten Dichtung Dowsons entgegengestellt wird. Interessanterweise wird die so mit dem dreiteiligen Binnenzyklus kontrastiv errungene Positionierung und Definition der eigenen Poetik im nachfolgenden Gedicht problematisiert: In ‚Juli-Schwermut‘, in dem die Forschung u.a. die Absage an die dekadente Lyrik gelesen hat,67 werden die Grenzen und Gefahren der von George geschaffenen Kunstwelt der Poesie aufgezeigt, welche im Vers „Mir ward der stolzen gärten sesam fremd“ als lebensfern, selbstbezogen und entfremdend dargestellt wird. ‚A Youth Sang to Me on Evening and Autumn‘ / ‚Ein Knabe der mir von Herbst und Abend sang‘ und ‚Juli Schwermut‘ geben sich als Resultat von Georges kontinuierlicher, kritischer und kreativer Auseinandersetzung mit der eigenen und der Lyrik anderer Autoren zu erkennen. Sie sind Etappen eines Schreibprozesses, im Laufe dessen die eigene Positionierung und Poetik mehrmals reflektiert und neu bestimmt wird. Zugleich bilden sie innerhalb der ‚Lieder von Traum und Tod‘ vier Gedichtpaare, die von Georges bewusster Konstruktion des eigenen Gesamtwerkes zeugen.68 67
68
Nach Wolfgang Braungart bringen die letzten Verse „wie bin ich / Der blumen müd · der schönen Blumen müd“ als „ästhetizistische Inszenierung dekadenter Jahrhundertwende-Müdigkeit“ die Ablehnung Georges der auch von Dowson vertretenen dekadenten Kunst zum Ausdruck (Braungart, „irgendwann, der blumen müd, hast du den sommer zugemacht“ (Anm. 64), S. 98. Mario Zanucchi hat die Zeile „Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit“ als Absage an Dowsons Vergänglichkeitsmeditation, wie sie im Gedicht ‚Hefe‘ zum Ausdruck kommt, gedeutet (Zanucchi, Transfer [Anm. 40], S. 176, siehe dort Anm. 448). Wie Maik Bozza gezeigt hat, äußerte George bereits 1889 eine antidekadente Poetik im Gedicht ‚Sonnenaufgang‘ aus der Sammlung ‚Zeichnungen in Grau‘, das aus der Auseinandersetzung mit Baudelairs poetologischen Metapher der auf- und untergehenden Sonne im Sonett ‚Le Coucher du Soleil Romantique‘ aus den ‚Fleurs du Mal‘ entstand (Maik Bozza: Genealogie des Anfangs. Stefan George poetologischer Selbstentwurf um 1890, Göttingen 2016, S. 77–83). Zur Definition von Georges Werks als „Versuch fortwährender Positionsbestimmung“, zur Konstitution literarischen Beziehungssinns in den ‚Liedern von Traum und Tod‘ und zur Interpretation der zitierten Zeile aus ‚Juli-Schwermut‘ siehe Braungart, „irgendwann, der blumen müd, hast du den sommer zugemacht“ (Anm. 64). Georges fortwährende Reflexion über die eigene Poetik kann auch mit Maik Bozzas Verständnis der Metapher des „Dichter[s] als Pilger“ erklärt werden: Im Schlussgedicht von Georges ‚Hymnen‘, ‚Die Gärten schliessen‘, stelle der „Pilger“ den Dichter dar, für den das Schreiben und die
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Was den kleinen, dreiteiligen Zyklus angeht, sind darin der Herbst und der Abend, von denen der „Knabe“ sang, die Zeiträume, die nur leise, gedämpfte Töne zulassen, welche die anhaltende und schmerzliche Spannung zwischen dem Noch- und Nicht-mehr-Möglichen verwirklichen. So ist im ersten Text von stillem Weinen (V. 3) die Rede, während das dritte Gedicht von der „brechend leise[n] stimme“ / „low, faltering voice“ des sich selbstdarstellenden Dichters skandiert wird. Im ersten Gedicht stehen der aktuelle „abglanz“, der „schatten“ eines „lächelns“ und der bleiche „strahl“ in Kontrast zur strahlenden „pracht“. In der deutschen Version konstituieren alle Lexeme eine suggestive Lichtmetapher, die – zusammen mit der Wendung „in dem erstaunend hellen wunderland“ – den ganzen Text durchläuft. In der englischen Version fällt das Wort „spectre“ (V. 2) aus dem Wortfeld des Lichtes. Die „pracht“ (I, V. 2; III, V. 11) / „glory“ (I, V. 2) bzw. „splendour“ (III, V. 11) evoziert in den Gedichten I und III zusammen mit den „edelsteinen“ (III, V. 13) bzw. „jewels“ (III, V. 12) und der „mär von flammenhass und -liebe“ (III, V. 15) bzw. dem „word [oder ‚tale‘] of flaming love and hate“ (III, V. 13) einen entgegengesetzten, vom Dichter abgelehnten poetischen Ton, der die vorherrschende Stimmung durchbrechen würde. Noch einmal vermehrt der Autor in der deutschsprachigen Version die Wortwiederholungen in den Gedichten: Durch das doppelte Vorkommen des Wortes „pracht“ sind die Gedichte I und III des Zyklus stärker miteinander verbunden. Die „low faltering voice“ / „brechend leise stimme“ in dem dritten Gedicht ähnelt nicht nur den „weeping whispers words“ und dem „broken song“, mit denen das lyrische Ich in der fünften Hymne Scotts den geliebten Herbst, den „Autumn Love“,69 herbeiruft, sondern auch dem Abschiedsgruß, den das Ich in derselben Hymne „softly“ „falter[s]“. Der so beschriebene leise und zögernde Ton kontrastiert aber mit den vielen Ausrufen im Text und mit der Bitte, die Melancholie des Herbstes einer neuen herbstlichen Freude weichen zu lassen.70 Insgesamt ist Scotts hymnischer Ton weit von den leisen Tönen in Georges Trilogie entfernt. In Scotts prachtvoller Repräsentation des Herbstes und des
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Kunst ein Verlauf sind, „never ending story der Selbstüberschreitung, des Selbstentwurfs in die Zukunft“, „andauernde selbstreflexive und -begründende Expression“ (Bozza, Genealogie des Anfangs (Anm. 67), S. 267–269). Die Wendung „Autumn Love“ verweist auf Dowsons ‚April Love‘. Scott, The Voice (Anm. 3), S. 89.
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Abends in den ersten zwei ‚Hymns‘ werden die Edelsteine, „sapphire“ und „cinnabar“ (I, V. 5–6) und die Herrlichkeit (I, V. 5–8; II, V. 10–12) gepriesen, gegen die sich Georges Gedichte wenden. Ebenso sind die „tears“ in Scotts fünfter Hymne stark von den „seltnen Tränen“ im dritten Gedicht von Georges Zyklus zu unterscheiden, durch die deutlich wird, dass die seltene, erlesene Kostbarkeit der poetischen Sprache Georges direktes Vehikel für sein poetologisches Vorhaben ist,71 das sich nur wenigen Eingeweihten oder – wie es im Gedicht ‚Der Teppich‘ heißt – „den seltnen“ offenbart.72 Im Laufe eines Schreibprozesses, der in der englischen Sprache begann und der die zeitgenössische fremdsprachige Lyrik produktiv einbezog, hat Stefan George sein deutschsprachiges Werk mit einer Trilogie bereichert, in der seine Poetik Kontur gewinnt und Ausdruck findet. Damit erhellt Georges englisch-deutsche Dichtung seine Praxis, durch die Umdichtung fremder Werke und durch Rückübersetzungen seiner eigenen Dichtungen in anderen Sprachen73 sein lyrisches Gesamtwerk in der Muttersprache weiterzubilden und seine Dichtungsauffassung zu profilieren, indem er fremde Sprachen erprobt.
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Georges Programm einer poetologischen Poesie wurde verkündet in: Blätter für die Kunst 1, 1892, S. 1. SW V, S. 36. Einen Überblick über Georges Eigenübersetzungen ins Deutsche und eine Untersuchung des Gedichts „Rosa galba“ / „Gelbe Rose“ gibt die Verfasserin: „Galbo fulgor“ / „gelber glanz“: l’autotraduzione in Stefan George. In: Studi Germanici 10, 2016, S. 111–136.
Theologie und Politik der Maximinreligion
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Rainer Bayreuther
Theologie und Politik der Maximinreligion
I. Gott und Theologie in der Religion Georges Wenn wir die Theo-Logie, das Reden von Gott bei Stefan George und seinem Kreis skizzieren, dann muss davon ausgegangen werden, dass tatsächlich Gott gemeint ist. Der Georgekreis hat einen Begriff von Gott als einer eigenständigen Individuen-Entität, nicht nur als einem Bündel numinoser Eigenschaften, die an anderen Individuen auftreten. Dass ein Gott im Georgekreis anthropomorph ist, ändert daran nichts, auch nicht, dass ein Gottesindividuum, weil es konkret und damit raum-zeitlich lokalisiert ist, gewissen innerweltlichen und sogar humanen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Wo im Kreis „Gott“ gesagt wird, wird ein Individuum als Gott aufgefasst, nicht nur als Mensch mit einigen göttlichen Eigenschaften. Bekanntermaßen findet sich in Georges Maximin-Gedichten eine provokante Umkehrung der christlichen Vorstellung vom Menschen als Geschöpf Gottes zum Gott als Geschöpf des Dichters. Wie ich im Folgenden argumentiere, werden damit bestimmte Eigenschaften eines Gottes ausgesagt. Was dem intendierten Individuum damit aber keinesfalls abgesprochen wird, ist die Auffassung, dass es ein Gott ist. Dass die Existenz des Gottes von einigen menschlichen Handlungen abhängig ist, heißt noch nicht, den Dingen der Handlung würde von den Handelnden Göttlichkeit nur zugeschrieben. Schon gar nicht schließt es ein, die Handelnden sprächen sich selbst Göttlichkeit zu. Auch George und sein Kreis behaupten dies nicht, noch suggerieren sie es unterschwellig. Die Rede von Gott ist keine Selbststilisierung Georges zum Dichtergott. Sie ist keine Attitüde und keine hinterlistige Deifizierung von Georges Poetologie. Sicher, der Gott des Georgekreises manifestiert sich nicht ohne und außerhalb des Menschlichen. Das Reich des Maximingottes ist von dieser Welt und von einer sehr irdischen und sehr menschlichen Gemeinschaft. Der Gott, von dem im Georgekreis die Rede ist, hat viele Eigenschaften, die auch auf Menschen zutreffen, unterscheidet sich aber in einigen wesentlichen Eigenschaften von Menschenindividuen – genauso wie das für den Gottesbegriff nicht nur der monotheistischen, sondern auch vieler polyhttps://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0008
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Rainer Bayreuther
theistischer Religionen wie etwa die der griechischen Antike gilt. Es wäre ein logischer Fehlschluss, wegen der existenziellen Abhängigkeit des Gottes von menschlichen Handlungen die Kausalität umzukehren: als habe der Dichter und die Dichtergemeinschaft den Gott, der seine Epiphanie in ihnen und ihrem Tun findet, ursächlich erfunden und erschaffen; als sei der Gott ihr Wunschdenken und Phantasiegebilde.1 Gewiss haben ihn der Dichter und der Dichterkreis gefunden und geformt – denn ohne dieses Finden und Formen bliebe der Gott unerkannt, ungesagt und unwirksam. Aber auch ein unerkannter, ungesagter und unwirksamer Gott ist eben ein Gott. In welch exponierter Rolle der Dichter beim Finden und Formen des Gottes auch ist, immer bleiben der Dichter und sein Dichten dem Erscheinen des Gottes nachgeordnet. Von einer Selbstvergottung des Dichters wie von einer Vermenschlichung des Göttlichen, wie es selbst in der georgenahen literaturwissenschaftlichen Forschung erstaunlich oft zu lesen ist und natürlich häufiger noch bei seinen Verächtern, ist der Georgekreis kategorial unterschieden. Kurz, in diesem Aufsatz wird die These vertreten, die Religiosität des Georgekreises ist eine echte Religiosität, und der Georgekreis glaubt an einen echten Gott. Dass auch echte Götter im Sinn der oben skizzierten Ontologie nicht anders als in Glaubensaussagen zu haben sind, versteht sich von selbst. Gegeben den Fall, dass ein Gott erkannt und benannt wird – was, wie gesagt, die Individualität und Existenz des Gottes nicht tangiert –, sind Aussagen über den Gott, ob in dogmatischer oder poetischer Sprache, immer Glaubensaussagen: Sie sind Einstellungssätze im Einstellungsmodus des Glaubens, aus denen die Existenz oder die Eigenschaften des benannten Gottes nicht extrapoliert werden können. Die Materialgrundlage für den Zusammenhang von Dichter, Politik und Gott im Georgekreis ist: die physische Erscheinung des Gottes; die Existenz des Dichters und seine Dichtung; die Existenz der Gemeinschaft und ihre Fortentwicklung zu einem politischen Gebilde. 1
Siehe etwa die Auffassung, Maximin sei „der in die Wirklichkeit übertragene Traum Georges“, und George habe in Maximin „sich selbst offenbart“, bei Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 273. Ähnlich Martin Mosebach: Stefan Georges Religion. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion, Berlin 2015, S. 241–253, bes. 252f. – Für ihre engagierte Unterstützung danke ich Anna Lenz und Patricia Bollschweiler, beide Universität Bielefeld.
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Der Gott erschien George in Gestalt eines jungen Mannes namens Maximilian Kronberger, geboren 1888 in Berlin. George sah den Dreizehnjährigen erstmals 1901 auf offener Straße in München. Nachdem er ihn monatelang stumm beobachtet hatte, sprach er ihn 1902 an. Wiederum ein Jahr verging, ehe Kronberger in den Kreis eingeführt wurde. Dort war er ein Jahr lang bei einigen Treffen, Lesungen und Festen zugegen. Zwei Wochen vor dem Tod Kronbergers aufgrund einer Hirnhautentzündung im Jahr 1904 fand das letzte Treffen mit George in Wien statt. Kronberger hat in seinem kurzen Leben über zweihundert Gedichte hinterlassen, teils im Kreis, teils unabhängig vom Kreis entstanden. Obwohl das Schrifttum des Georgekreises einige Gedichte Kronbergers enthält – mit geringfügigen redaktionellen Eingriffen seitens Georges2 –, sind nicht die Gedichte Kronbergers das schriftliche Zeugnis der Göttlichkeit Maximins, sondern primär die Gedichte Georges, sekundär die der Kreismitglieder. Notieren wir diesen fundamentalen Unterschied zur christlichen Offenbarung und zu anderen religiösen Poetologien: Was der Gott in seiner humanen Inkarnation sagt oder schreibt, sind keine Herrenworte. Was die Augen- und Ohrenzeugen, die der Erscheinung seiner Göttlichkeit teilhaftig werden, von ihm berichten, ist kein Evangelium. Was sie über ihn schreiben, erheischt keine Legitimierung durch Verbalinspiration. Was sie über ihn schreiben und dichten, ist nicht weniger und nicht mehr als ihre Erfahrung seiner Göttlichkeit. Die Offenbarung des Gottes besteht darin und nur darin, leibhaftig präsent gewesen zu sein und bei denen, die in seiner Präsenz mitpräsent waren, eine Veränderung bewirkt zu haben. Das ist alles. Das Dichten vom Göttlichen kann sich somit auf nichts anderes beziehen als auf die Auswirkung der Präsenz. Alle Versuche, die dichterischen Zeugnisse der georgeschen Religion auf die Präsenz Maximins selbst zu beziehen, führen in die Irre. Deshalb insistiert George immer wieder darauf, dass das Bild des Gottes, das er in den Gedichten entwirft, sein, Georges, Bild ist. Aber das schließt, wie gesagt, weder ein, dass die Göttlichkeit dieses geglaubten Gottes durch eine Handlung Georges zustande gekommen ist, noch dass im Georgekreis eine solche Auffassung herrschte.
2
So in Stefan George (Hg.): Maximin. Ein Gedenkbuch, Berlin 1906.
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II. Heilsgeschichtliche Struktur der Maximinreligion Die dichterischen Zeugnisse der Erscheinung Maximins setzen chronologisch ein mit dem von George herausgegebenen ‚Maximin. Ein Gedenkbuch‘, 1906, rund ein Jahr nach dem Tod Kronbergers, konzipiert und in durchnummerierter Kleinstauflage (1906) an Auserwählte verteilt. Es versammelt eine Vorrede von George, eine Auswahl an Gedichten Kronbergers sowie Gedichte von Kreismitgliedern. George spricht dort erstens klar aus, dass Kronbergers Gedichte angesichts des Alters des Autors ungewöhnlich seien, die Bedeutsamkeit Maximins aber an anderer Stelle offenbar werde: Denn so sehr die zartheit und seherische pracht seiner hinterlassenen verse jedes uns gültige maass übersteigt: er selbst lieh ihnen keine besondre bedeutung und das tiefste seines wirkens wird erst sichtbar aus dem was unsren geistern durch die kommunion mit seinem geiste hervorzubringen vielleicht vergönnt ist.3
Zweitens spricht er die Göttlichkeit Maximins aus: „Das ganze getriebe unsrer gedanken und handlungen erfuhr eine verschiebung seitdem dieser wahrhaft Göttliche in unsre kreise getreten war.“4 Morwitz bezeugt, dass die Göttlichkeit Maximins ein Kerygma des Georgekreises war, vielleicht hie und da schon vor dem Tod Kronbergers flüchtig gedacht oder gesagt, klar ausgesprochen aber erst postum.5 Damit setzt bei George die Gedichtproduktion zu Maximin ein. Die streng komponierte und als gültige Offenbarung autorisierte Auswahl dessen ist der Maximin-Zyklus im Gedichtband ‚Der Siebente Ring‘ (1907). Er steht in der Mitte der sieben Zyklen des Bands. Das Ich der mit ‚Gebete‘ überschriebenen drei Gedichte ist das Ich Maximins.6 Man braucht darin keine authentischen Worte Kronbergers zu suchen, auch wenn im ‚Siebenten Ring‘ da und dort Zitate aus Gedichten Kronbergers zu finden sind. Was an historisch-kritischer Philologie bei den biblischen Evange3
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Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff., Bd. XVII, S. 64. Im folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. Ebd. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf – München 21969, S. 269. Morwitz, Kommentar (Anm. 5), S. 282f.
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lien durch die Stilistik der Quellen geboten ist, entbehrt hier allen Sinns. Die zitierte Erläuterung Georges besagt, dass sich dem Kreis die Göttlichkeit Maximins nicht aus Kronbergers Texten ergeben hat, sondern aus der Gemeinschaft mit ihm. Aus dem Ich der übrigen Gedichte spricht George, und zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten: zu Lebzeiten Maximins, hier wiederum in den Phasen der Unklarheit seiner Erscheinung, schließlich seiner vollen und entzückenden Klarkeit; weiters kurz nach dem Tod Maximins, der das Ich in eine Phase der emotionalen Trauer versetzt, die wohl nicht beseitigt (da Maximin nicht wiederkehren und auch nicht auferstehen wird), aber zunehmend überlagert wird von der wachsenden Einsicht in die Göttlichkeit Maximins. In den Texten bekundet sich letzteres als ein geistiges Fortdauern und Fortwirken der Präsenz Maximins. Nun dringt dein name durch die weiten Zu läutern unser herz und hirn .. Am dunklen grund der ewigkeiten Entsteigt durch mich nun dein gestirn.7
Hier entsteht die Sternenmetaphorik: der entschwundene Gott als der von fern leuchtende Stern, die Gemeinschaft als der Bund, der durch den Fixstern seine Struktur erhält. Fortan firmiert Maximin im Kreis als „Stern des Bundes“. Am Schluss des Zyklus wird eine inhärente Entwicklungslogik dieser Heilsgeschichte zu Ende geführt: Der Schein des Sterns wird blasser, die gefühlte Präsenz des Gottes im Kreis schwächer. Das Reden und Dichten im Kreis ist nach wie vor von seiner Göttlichkeit durchdrungen, aber der unmittelbare Glanz der Göttlichkeit, der das Dichten beflügelt, lässt nach. An seine Stelle muss etwas anderes treten, um die Gottbezogenheit der Dichtung aufrechterhalten zu können. Hier erreicht die Religiosität des Kreises eine Phase, die in anderen Konzepten religiöser Dichtung unsinnig und widersprüchlich wäre, eine poetische Ethik. Dichten im Sinne Georges wird nun in einer doppelten Hinsicht gedacht. In der Hinsicht der Gemeinschaft bindet man sich wechselseitig durch die poetische Ethik daran, den Bund des Sterns nicht zu verlassen. In der göttlichen Hinsicht bedeutet die fortgesetzte Orientierung am entschwindenden Fixstern, sich vom irdischen Dasein zu entfernen. Von der irdischen Wahrnehmungsperspektive aus, zumal von einer außerhalb des Bundes, hat das zur Folge, dass die Dich7
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tung nur noch glimmt statt zu leuchten, dass sie nur noch dröhnt, statt die Gemeinschaftlichkeit der gottgestifteten Gemeinschaft klar aussagen zu können. ENTRÜCKUNG Ich fühle luft von anderem planeten. Mir blassen durch das dunkel die gesichter Die freundlich eben noch sich zu mir drehten. Und bäum und wege die ich liebte fahlen Dass ich sie kaum mehr kenne und Du lichter Geliebter schatten – rufer meiner qualen – Bist nun erloschen ganz in tiefern gluten Um nach dem taumel streitenden getobes Mit einem frommen schauer anzumuten. […] Ich fühle wie ich über lezter wolke In einem meer kristallnen glanzes schwimme – Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.8
Innerhalb des Bundes hat die Gemeinschaftlichkeit der Gemeinschaft – ich nenne dies im Folgenden auch Verfassung – eine klare und, wie wir sehen werden, problemlos aussagbare Struktur angenommen. Sie ist in sich geschichtlich. Ihre geschichtliche Struktur ist die reziproke Heilsgeschichte des Gottes: In dem Maß, in dem die Präsenz des Gottes selbst schwächer wird, konkretisiert und klärt sich die Verfassung der Gemeinschaft. Der Grund für diese – aus der Binnenperspektive der Gemeinschaft eindeutige und vorgezeichnete – dreiteilige Geschichtsstruktur ist das Grundtheorem des Georgekreises: 1. Der Gott, sofern er erkannt wird, wird von einer (Dichter-) Person erkannt; diese Person hat (qua Dichten) ein Wissen des Gottes erlangt. 2. Sie gibt es (durch Dichten) anderen einzelnen Personen weiter; die einzelnen anderen Personen erfassen ihr Wissen über poetische und ethische Nachahmung. Es bildet sich ein Kreis.9 3. Die anderen Personen verbreiten (durch Dichten, durch wechselseitiges Nachahmen, durch Prosa) das Wissen des Gottes an einen größeren Kreis von Menschen. Der Kreis 8 9
Ebd., S. 111. Zur Nachahmung vgl. Gunilla Eschenbach: Imitatio im Georgekreis, Berlin 2011.
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bildet konzentrische Umkreise. Jene sind allerdings zunehmend entfernt von der ursprünglich wissenden Person; sie vermengen und verdünnen das Wissen immer mehr mit Gott-losem Weltwissen. Das Wissen härtet sich zu Gebräuchen und Gesetzen. Irgendwann ist das Wissen des Gottes verloren; es löst sich auf in (mit Tönnies gesprochen) Gesellschaft und Kultur.10 Gottesferne kehrt ein – bis ein neuer Gott erscheint und vielleicht, vielleicht auch nicht, ein neuer Dichter, der ihn erkennt (2.1) und eine neue Gemeinschaft gründet (2.2), welche wiederum neue Kultur und neuen Staat stiftet (2.3). Und so weiter. Das ist die dreiteilige Struktur von Geschichte, wie sie im Georgekreis gedacht wird. Ihr Grundtheorem ist, dass das Erfassen und das Weitergeben der göttlichen Präsenz durch eine Person geschieht. Das Grundtheorem ist keineswegs unabdingbar. Es gibt einige gute Gründe zu bezweifeln, es liege in der Logik des Systems, dass die Möglichkeit eines generischen Anfangs einer politischen Entwicklung – sei sie wie bei Nietzsche, George und Heidegger als Erscheinung eines Gottes verstanden, sei sie wie in bestimmten Flügeln der Jugendbewegung und später bei den französischen Linksheideggerianern theologiefrei gedacht – durch eine dichterische Person, durch eine dichterische Person und durch eine dichterische Person ergriffen wird. Schon der Tatbestand, dass alle verwandten Konzeptionen die Parameter mit anderen Werten sättigen, muss jedes politiktheoretische Weiterdenken der Maximinreligion dazu veranlassen, die Konzeption in allen ihren Details und in der Kohärenz ihrer Details auf den Prüfstand zu stellen. Weil ich hier eine solche Systematik nicht entwickeln kann, gebe ich lediglich ein historisches Beispiel: Die Jugendbewegung fasst die Instanz, die das Momentum einer neuen Gemeinschaftlichkeit erkennt, überhaupt nicht personal, sondern als Vorgang. Entscheidend dafür, das Momentum nicht verstreichen zu lassen, sind nicht bestimmte Personen und schon gar nicht eine herausgehobene Person, etwa ein Führer. Entscheidend ist ein musischer Vorgang, der bei den Beteiligten, welchen und wie vielen auch immer, eine neue Sicht auf die Gemeinschaftlichkeit der Gruppe und die Gemeinschaftlichkeit der darüber hinaus bestehenden Gegebenheiten erzeugt. Weder ist also in der Jugendbewegung das Momentum (George: ein Gott erscheint) dezidiert religiös gefasst noch die Gemeinschaftlichkeit (George: ein Dichter dichtet, ein Kreis entsteht) 10
Vgl. Friedrich Gundolf: George, Berlin 31930, S. 3.
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personal verstanden. Die Gemeinschaft wächst (George: der Kreis weitet seinen Radius unter allmählichem Verblassen der göttlichen Präsenz aus) durch Verbreiterung der musischen Grundlage. Kehren wir zurück zum ‚Stern des Bundes‘. George zeichnet die dreiphasige Heilsgeschichte des Herbeidichtens des Gottes, dessen Erscheinen und des ursprünglichen Erkennens durch einen Dichter (2.1), dann der Gründung einer kleinen Gemeinschaft durch dichterische und persönliche Nachahmung (2.2) und schließlich der Verbreiterung der Gemeinschaft durch Verfassungsgebung und Kulturalisierung bei allmählichem Erlöschen der göttlichen Präsenz (2.3) in der Dramaturgie des ‚Stern des Bundes‘ nach: Die drei Bücher des Gedichtbands präsentieren die drei Phasen. Die neun Gedichte des ‚Eingang‘-Abschnitts machen Aussagen zur spezifischen Präsenz des Gottes und beschreiben damit in allgemeinerer Weise die ersten beiden Phasen.11 Sehen wir das der Reihe nach an. II.1 Erste Phase der Heilsgeschichte Der Dichter, schreibt Gundolf, „ruft“, „erfleht“, „fordert“, „wirkt“ Gott.12 In der Maximinreligion muss dem Gott die Stätte bereitet werden. Weniger dafür, dass er überhaupt kommt: Die zweitausend Jahre, in denen nicht ein einziger neuer Gott erschienen sei, wie Nietzsche konstatierte13 und George triumphierend aufgreift („Jezt naht nach tausenden von jahren / Ein einziger freier augenblick: / Da brechen endlich alle ketten / Und aus der weitgeborstnen erde / Steigt jung und schön ein neuer halbgott auf“14), sind keine Zeitspanne der sich verwei11
12 13 14
Vgl. Stefan Breuer: Zur Religion Stefan Georges. In: Wolfgang Braungart / Ute Oelmann / Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 225–239. Die vielen treffenden Beobachtungen Breuers bleiben zwangsläufig dabei stehen, die Theologeme der Maximinreligion als Sammelsurium von Versatzstücken aus der Religionsgeschichte zu präsentieren, da sie nicht in eine heilsgeschichtliche Folge gebracht werden. Dass kaum ein Element der Maximinreligion absolut gilt, wird erst angesichts einer deutlichen Unterscheidung in heilsgeschichtliche Phasen nachvollziehbar. Alle Zitate bei Friedrich Gundolf: George, Berlin 31930, S. 199f. Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist (1888), Abschn. 19. Maximilian Kronberger: Erfüllung. In: George, Maximin (Anm. 2), unpag. Zudem als Mottogedicht in ‚Das Neue Reich‘: SW IX, S. 36.
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gernden Götter. Wie Nietzsche dürfte George der Ansicht gewesen sein, dass seither unbestimmbar viele Götter unerkannt über die Erde gingen. Die Last des tatsächlichen Erscheinens eines Gottes liegt, anders als im Christentum, nicht beim Gott, sondern beim Dichter. „Ruft“, „erfleht“ und „fordert“ ein Dichter ihn nicht, erscheint er auch nicht. In diesem und nur in diesem Sinn fügt Gundolf hinzu, dass der Dichter den Gott „wirkt“. Weil der Dichter ihn herbeidichtet, kommt er. Andere Auslegungen des Wirkens, der georgesche Dichter habe den Maximingott erschaffen, erfunden, projiziert o.ä., mögen auf psychologischer Ebene argumentieren, in der Theologie der Maximinreligion sind sie falsch. Nicht jeder Dichter ist, wie Gundolf schreibt, imstande, „Seher eines leibhaftigen Gottes“ zu sein.15 Man wird diesen Seher mit demjenigen Dichtertypus identifizieren können, der im Kreis „urgeist“ genannt wird und einen Dichter bezeichnet, der Andere mit seinem poetischen Rhythmus zu affizieren und eine „gemeinde“ zu stiften vermag,16 von ihnen aber unabhängig ist. Was mit dieser Konzeption vom Dichter abhängig gemacht wird und auf sein schöpferisches Tun ursächlich zurückgeht, sind Religion und Gemeinschaftsbildung. Mehr noch, da sich die Erscheinung des Gottes rasch wieder verflüchtigt, bleiben der Urgeist und seine wenigen und seltenen Nachdichter als die einzigen übrig, die die Religion am Leben erhalten können. In der Maximinreligion gibt es keinen Heiligen Geist. Den personalen Kern des „Wirkens“ des Gottes schildert George als Paradox. „Ergeben steh ich vor des rätsels macht / Wie er mein kind ich meines kindes kind .. […] Mehr deutet nicht! ihr habt nur mich durch ihn!“ (SW VIII, S. 14.) Oder auch so, dass Maximin in George verschwindet und von ihm ununterscheidbar wird: „Ich bin der Eine und bin Beide / Ich bin der zeuger bin der schooss / Ich bin der degen und die scheide / Ich bin das opfer bin der stoss“ (SW VIII, S. 27.) Dieses Ich ist George und nicht der Gott. Insofern der Dichter den Gott „zeugt“, realisiert er sein Erscheinen, nicht sein Sein. Was aber gewissermaßen objektiv festgestellt und politisch verfassungsrelevant wird, ist einzig das göttliche Erscheinen im Medium des dichterischen Handelns, nicht 15 16
Gundolf, George (Anm. 12), S. 200. Blätter für die Kunst V, S. 1, zit. nach Eschenbach, Imitatio im George-Kreis (Anm. 9), S. 42. Das Zitat im Zusammenhang bei Anm. 22.
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der Gott selbst. Verweigerung, Verbergen, Entzug wird Heidegger in deutlicher Anlehnung an George das später nennen.17 Das Erscheinen des Gottes ist vom Dichten abhängig, das Dichten aber von der Anwesenheit des Gottes. So lange der Gott nämlich nicht gekommen ist, herrscht für den Dichter Leidenszeit: Er kann nicht, noch nicht gültig sagen, was er als dunkle Ahnung des Gottes in sich trägt. Er kann also nicht ingeniös dichten. Die georgesche Poetologie hat hier ihr religiöses Moment: Sie hängt kausal an der göttlichen Epiphanie. Tritt die Epiphanie nicht ein, bleibt der Dichter im dichterischen Unvermögen stecken. Dieses Unvermögen ahnt der Dichter schon vor der Epiphanie und behilft sich mit Inspirationsfiguren, etwa dem Engel im ‚Teppich des Lebens‘. Voll bewusst wird es ihm erst, als die göttliche Situation eingetreten ist. In einem Gebet an Maximin erinnert sich der Dichter an die Zeit der ersten Begegnungen mit ihm – und seiner bisherigen Dichtung, die der nunmehrigen Präsenz des Gottes nicht mehr genügt. „Kam mir erinnerung jener frühlingsstrassen / Lichtfülle in erwartung deines blickes / Und jener abende voll purpurdunkel / Wo hohes leben festlich uns umschlungen / Bis es im nachtgewölb verklang mit flehen: / So schien mir dass aus meinem besten blute / Das bild nur abglanz sei der kraft und würde / Dass ich von unsrem schauer deiner nähe / Beter und Schöner! nicht genug gedeutet · / Mein lied dem wahren gang mehr nicht entspreche […]“ (SW IX, S. 38). Diese Konstellation verleiht der religiösen Dichtung, sofern sie tatsächlich das Erscheinen eines Gottes dichten konnte und nicht nur suchend ihm vorausdichtete, den wuchtigen Anspruch, Heilige Schrift zu sein: das einzige schriftlich fixierte, daher kanonische Zeugnis der Erscheinung des Gottes. Das georgesche Dichten bleibt nicht in den Grenzen der natürlichen Offenbarung, wie in anderen religiösen Poetologien der Fall; es geht entschlossen auf die Seite der ausdrücklichen Offenbarung. Es wirkt selbst die Ausdrücklichkeit der Offenbarung. Der Kern der Ausdrücklichkeit ist der Leib des Gottes. Maximin gewinnt „leib“ erst aus dem „zuruf“ des Dichters: „Bis du aus unsrem mark / Aus aller schöne der wir uns entsonnen / Die ständig in uns blizt / Und aus des sehnens zuruf leib gewonnen / Und lächelnd vor uns trittst.“ (SW 17
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a. M. 1989 (= Martin Heidegger Gesamtausgabe Bd. 65), Abschn. 253ff. Die postum veröffentlichte Abhandlung entstand ca. 1936–38.
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VI / VII, S. 103.) Das Wort ward Fleisch, dieser Satz gilt auch in der Maximinreligion; aber das Wort ist hier nicht der universale göttliche Logos, sondern das partikulare menschliche Dichterwort. Gehen wir einen Schritt weiter darin, die innere Systematik der Maximinreligion zu rekonstruieren, immer im Hinblick darauf, welcher Zusammenhang zwischen Religion, Kunst und Politik hier genau vorliegt. Pittoreske Details interessieren nur am Rande, genau gesagt darin, ob sie zur Systematik wesentlich gehören oder nicht. Im Gedicht ‚Einverleibung‘ aus dem ‚Maximin‘-Zyklus im ‚Siebenten Ring‘ taucht solch ein Detail auf. Es benennt, warum der Gott im Zuspiel des Dichters „leib“ gewinnt: Es hat eine körperliche Vereinigung des Gottes mit dem Dichter stattgefunden. Ob das nichts als erotischer Wunschtraum war, ob es tatsächlich bis zum Geschlechtsakt kam, ob die Fakten irgendwo dazwischen liegen – all das ist biographisch, nicht aber systematisch relevant. Jedenfalls resultiert für George aus der körperlichen Vereinigung die paradoxe Verwandtschaft, die er in der 1. Strophe mit „Ich geschöpf nun eignen sohnes“ aussagt. Wie es zu dem Resultat kam, schildern die 5. und 6. Strophe: Mein verlangen hingekauert Labest du mit deinem seime. Ich empfange von dem keime Von dem hauch der mich umdauert: Dass aus schein und dunklem schaume Dass aus freudenruf und zähre Unzertrennbar sich gebäre Bild aus dir und mir im traume.18
Bei den Gedichtzeilen drängt sich die Frage auf, ob das Sexuelle in dieser Phase der Maximinreligion theologisch zwingend ist. Muss der dichterische Zuruf, durch den der Gott Fleisch wird, in einem Geschlechtsakt bestehen? Dafür ist kein Grund zu erkennen. Der für die Kohärenz der dreiphasigen Heilsgeschichte entscheidende Punkt ist, dass der Gott erscheint, natürlich auch leiblich. Dazu muss ihn jemand erkennen und gegenüber anderen benennen. Aber dass hier numerisch einzelne Personen sich geschlechtlich begegnen müssen, gehört nicht zu den besonderen Bedingungen. Man kann den Vorgang des Erkennens und Benennens einer göttlichen Erscheinung auch anders realisieren. 18
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Die Maximinreligion des Georgekreises kristallisiert sich im Punkt der absoluten Notwendigkeit, dass das göttliche Erscheinen dichterisch erkannt und benannt wird, zu einer Kunstreligiosität, wie man sie sich deutlicher nicht vorstellen kann. Kunst und nur Kunst verschafft Zugang zum Göttlichen.19 Aber die Religion strukturiert hier ein entscheidendes Element in den gängigen Kunstreligiositäten des 19. Jahrhunderts neu:20 In ihr wird erklärt, dass das Göttliche ohne Dichtkunst unvollständig, ja inexistent (im ursprünglichen Begriff von Existenz als exsistere) bleibt – wie gesagt ohne von von der Kunst in irgendeiner Weise erschaffen zu werden. Religiöse Erfahrung geht hier der Kunst ontologisch voraus. Die Gedichte sind Ort, aber nicht Ursache des Gottes. Wenn George mit „durch mich“ in dem Gedicht ‚Das Sechste‘ aus dem ‚Maximin‘-Zyklus sich selber meint, mit „dein Name“ den Gott Maximin („Nun dringt dein name durch die weiten / Zu läutern unser herz und hirn .. / Am dunklen grund der ewigkeiten / Entsteigt durch mich nun dein gestirn.“, SW VI / VII, S. 105), dann heißt das: Diese Religion ist ohne Dichtkunst nicht nur nicht zu haben, ihr Gott wäre ohne sie schon erloschen. II.2 Zweite Phase der Heilsgeschichte Nun wird das spezifische Weltverhältnis des Gottes und derer thematisch, die ihn dichtend erscheinen lassen. Auch hier denkt die Maximinreligion vom Gott her. Zwar kommt der Gott nur durch den Dichter zur Welt. Aber der Gott zwingt den Dichter in sein spezifisches Weltverhältnis, nicht umgekehrt. Es ist zweifach gekennzeichnet: Zum einen ist die irdische Anwesenheit des Gottes, gemessen an der Erdenzeit, inkommensurabel kurz. Anders als beim christlichen Jesus von Nazareth währt sie nicht einmal ein halbes Menschenleben lang: Maximilian Kronberger erreichte nicht das Erwachsenenalter. Sie währt auch nicht einige Jahre und Taten lang: Kronberger hat keine Reden gehalten, keine Wunder vollbracht, keine innerweltliche Geschichte mit Jüngern und 19
20
Von dem Punkt aus ist die Deutung der Religiosität im George-Kreis entwickelt bei Hansjürgen Linke: Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges, 2 Bde., München – Düsseldorf 1960. Und fällt damit durch die Raster der gängigen Bestimmungen, etwa bei Heinrich Detering: Was ist Kunstreligion? In: Albert Meier (Hg.): Kunstreligion. Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin 2011, S. 11–27.
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Feinden durchlebt (wie zum Beispiel Jesus in der Passionsgeschichte). Heidegger wird, ganz im Sinne Georges, sagen, sie dauert einen Augenblick. „Dieser Augenblick ist die Zeit des Seins.“21 Dieser an die vulgärzeitliche Nulldauer angenäherte eine Augenblick erlaubt dem Gott nicht, sich in Worten und Taten zu manifestieren. Zum anderen ist die irdische Anwesenheit des Gottes nicht verankert in Gegebenheiten wie Blut, Boden, Sprache, Volk, Kultur usw. Zwar ist sie irgendwo und irgendwann lokalisiert. Aber ebenso wie bei der Dauer geht dieses Irgendwo asymptotisch gegen Nirgendwo. Die Gegebenheiten werden in der Präsenz des Gottes getilgt. Das hat Konsequenzen für den Dichter. Er steht im Bann der unlokalisierten und dauerlosen Präsenz des Gottes, so dass es sich für ihn als unmöglich herausstellen wird, jene Präsenz in den Koordinaten seiner eigenen bisherigen Gegebenheiten zu dichten. Die zitierten Verse „So schien mir dass aus meinem besten blute / Das bild nur abglanz sei der kraft und würde […] Mein lied dem wahren gang nicht mehr entspreche“ (SW IX, S. 38) verweisen darauf, dass die Gegebenheit des eigenen Bluts das Bild des Gottes, der doch des Dichters Kind ist, nicht annähernd erklärt. Folglich entsprechen die kulturellen Bindungen des bisherigen Dichtens der neuen Situation nicht mehr. Der ‚Stern des Bundes‘ ist voll von Gedichtzeilen, die die Kategorien Volk, Stamm, Stand, Blut usw. für die Jüngerschaft zurückweisen angesichts der Präsenz Maximins und ihrer dichterischen Realisierung. George nennt dies das „reich des Geistes“. Es lässt im Hintergrund verblassen: Reich, Hof, Hain, Wiege, Heimat, Sippe, Stand, Namen, Eltern: Dies ist reich des Geistes: abglanz Meines reiches · hof und hain. Neugestaltet umgeboren Wird hier jeder: ort der wiege Heimat bleibt ein märchenklang. Durch die sendung durch den segen Tauscht ihr sippe stand und namen Väter mütter sind nicht mehr .. Aus der sohnschaft · der erlosten · Kür ich meine herrn der welt.22
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Heidegger, Beiträge (Anm. 17), S. 508. SW VIII, S. 83.
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George präzisiert in den aufeinander bezogenen Gedichten ‚Nun bleibt ein weg nur‘ und ‚Ihr Äusserste‘ (SW VIII, S. 40f.), welcherart die gegebenen Kollektive sind, die zugunsten der Gemeinschaft der Maximinreligion verlassen werden. Aus ihnen erklärt sich zudem, wie sie jeweils verlassen werden. George fasst sie als zwei gegenpolige Typen von Kollektiven auf, die angesichts der Politizität der neuen Religion je auf ihre Weise zum Untergang verdammt sind: im ersteren Gedicht Adel und Pöbel, im zweiten Deutsche und Juden. Der Adel hat ein starkes Bewusstsein von seinem Kollektiv als Kollektiv. Weil er sich zugleich bewusst ist, dass sein Stand dem kommenden Gott im Weg ist, geht er sehenden Auges seinem Untergang entgegen. Der Pöbel, mit wenig Bewusstsein für seinen Stand, vegetiert noch eine Weile lang dahin und kommt ohne Einsicht in die Verschiebungen der Kollektive zu Tode. Deutsche und Juden werden als Exempel je unterschiedlich suchender und strebender Völker vorgestellt. Beide erlangen nie Erfüllung ihres Suchens und Strebens, weil wahre Religion (im Sinn des kommenden Gottes) und echter Staat (im Sinn der vom gekommenen Gott gestifteten Gemeinschaft) prinzipiell nie aus den Gegebenheiten selbst erwachsen kann. Sie fallen im Vorgang des Politischen nicht einfach weg, aber sie werden transformiert und überwunden. Wenn Morwitz hingegen im Jahr 1934 über Maximin sagt: „Dieser uralte und ewig junge Gott kann nur aus den unerschöpften Kräften der noch immer frühlingsfrischen deutschen Erde wieder erstehen. Als Zwillingsbruder des heimatlichen Weingottes findet er seine echten Kinder unter den Bewohnern der Heimat, wie auch der edelste Wein und die edelste Frucht nur hier gedeihen, obschon im Süden die Trauben üppiger schwellen“23 – dann ist die hier implizierte Behauptung, Heimat und Deutschtum seien die Ursachen für die Erscheinung des Gottes, geradewegs das Gegenteil der Maximinreligion. Die angestammte Religiosität der gegebenen Kollektive wird dadurch abgewertet zu dem, was sich im 19. Jahrhundert als Kulturchristentum etabliert hatte. Dem tritt die wahre Religiosität des gekommenen Gottes entgegen. Deren Theologie lässt sich umstandslos als Offenbarungstheologie bezeichnen – und das einige Jahre vor Karl Barths Römerbriefkommentar, der protestantischer Offenbarungstheologie die Bahn brach.24 23 24
Ernst Morwitz: Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 145. Vgl. Karl Barth: Der Römerbrief, München 1919.
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Bei George freilich ist die Offenbarungstheologie ohne alle christlichen Reminiszenzen und ganz von der antik-hölderlinschen-nietzscheschen Vorstellung des kommenden Gottes her gedacht. Weil Georges kommender Gott, anders als der christliche, vollkommen irdisch und menschlich ist, entsteht auch keine Zwei-Reiche-Dialektik. Während Luther und Barth gezwungen sind, in einer Dialektik des jenseitigen Gottes mit seinem jenseitigen Reich und des diesseitigen Menschen mit seinem irdischen Reich zu argumentieren und deren Auflösung in zukünftige Phasen der Heilsgeschichte zu verlegen, tritt sie in der Maximinreligion als genau die heilsgeschichtliche Phase auf, die mit dem gekommenen Gott überwunden ist. Damit hängt zusammen, dass der Tod Maximilian Kronbergers keinerlei Sühnefunktion hat, in der Maximinreligion sogar vollkommen bedeutungslos ist und lediglich den Zeitpunkt markiert, an dem der Dichter beginnt, sein Erscheinen in Dichterworte zu fassen. Die Phase des gekommenen Gottes ist zugleich Beginn einer religiösen wie einer politischen Gemeinschaft. Die beiden Dinge, im Luthertum wohlunterschieden, fallen bei George zusammen. Der georgesche Dichter steht dem Staat nicht als Prophet, Rufer und Mahner gegenüber. Er ist der Staat, und er dichtet den Staat, ebenso wie sein Dichten die Offenbarung des Gottes ist und dessen Theologie dichtet. Die entscheidende Frage in dieser zweiten Phase der Heilsgeschichte ist: Warum kann der Gott nur dichterisch ausgesagt werden? Warum, anders gesagt, bildet die Maximinreligion keine Dogmatik aus, die in Prosa und in schulgerechten Lehrsätzen formuliert werden könnte? Alle kreisinternen Deuter Georges insistieren auf diesem Punkt, oft darauf hinweisend, dass schon in der griechischen Antike die Verfassung der Polis nicht anders denn als Dichtung gesagt werden konnte.25 Das Paradox in dieser politischen Situation besteht für den Georgekreis darin, dass die Situation eigentlich unsagbar ist, sich jedenfalls der unproblematischen Sagbarkeit des Politischen im verfassten Staat entzieht, und dennoch des Ausdrucks bedarf. „Der Eine Sinn der durch die Welt waltet ist von jedem einzelnen Punkt aus anders sichtbar, bedarf für jeden Raum und jede Zeit anderer Zeichen. Daraus daß man die fertigen Zeichen (Lehren, Bräuche, Einrichtungen, Formen) dieses Einen Sinns von dem einzigen Punkt wo sie nur wahr sind auf andere übertrug, statt sich um das neue nur hier gültige Zeichen zu mühen, sind die meisten 25
Vgl. Morwitz, Dichtung (Anm. 23), S. 128.
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Irrnisse entstanden.“26 Von diesen Irrnissen aus, über die harsch geurteilt wird als totale Enkulturation aller Lebensbereiche, in der alles in alles übersetzbar und durch alles reformulierbar ist, lässt sich im Umkehrschluss die sprachliche Verfasstheit des Einen Sinns rekonstruieren. In der Situation des gekommenen Gottes kann nicht auf Geschichte und Tradition zurückgegriffen werden. Die Erscheinung des Gottes erfolgt nicht in der Kultur; die (etwa vom späten Dilthey beschriebene) Textur, die alle kulturellen Gegenstände verbindet und den einen durch den anderen auslegt, zerreißt. Wo die Kultur für jeden Sachverhalt ohne Schwierigkeiten assertorische Sätze findet, indem sie die Eigenschaften des je Neuen von den Eigenschaften des je Bekannten her aussagt, ist der Aussagende der Erscheinung des Gottes auf den einen und einzigen Punkt des Erscheinens reduziert. Er kann den einen und einzigen Punkt des Erscheinens des Gottes nicht in die gegebene kulturelle Textur integrieren. Aus einer Analyse des göttlichen Moments zieht George damit zwei Konsequenzen. Erstens: nicht sprechen, sondern dichten. Zweitens: nicht mehrere kommunizieren, sondern einer dichtet. Das Dichten eines Menschen ist der Ausweg aus der absoluten sprachlichen und kulturellen Inkommensurabilität des göttlichen Moments.27 Betrachten wir die Gedichte. „Fragbar ward Alles da das Eine floh: / Der geist entwand sich blindlings aus der siele / Entlaufne seele ward zum törigen spiele – / Sagbar ward Alles: drusch auf leeres stroh“ (SW VIII, S. 47). Die Zahlenverhältnisse in diesem letzten Gedicht aus dem Ersten Buch des Stern des Bundes sind numerisch genau zu nehmen. George bringt die elementaren Größen der Zahlentheorie ins Spiel, das Eine, das geflohene Eine, und Alles. Der gekommene Gott ist einer, er erscheint an einem raumzeitlichen Punkt, er stiftet den „Einen Sinn“. Von dem einen Punkt ist unter keinen irdischen Umständen, mit keiner Kulturtechnik, mit keiner sprachlichen Geschicklichkeit zu einem zweiten zu kommen. Dem steht die ebenso zahlhaft zu verstehende Unendlichkeit des „Alles“ gegenüber. Von jedem Punkt des Wissens aus lässt sich ein benachbarter erreichen. In dieser Welt gibt es nichts, das nicht sagbar wäre; nicht indem ein Mensch, eine Zeit, eine Kultur alles 26 27
Gundolf, George (Anm. 12), S. 3. Der Punkt berührt Grundfragen der Ontologie: Vgl. Claus-Artur Scheier: Dunkle Harfen. Schopenhauers Spur im Werk Stefan Georges. In: GeorgeJahrbuch 8, 2010/11, S. 19–36.
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zugleich wüsste, sondern indem alles gewusst werden kann, oder anders gesagt, indem stets ein Wissenspunkt zu finden ist, von dem aus das je Fragliche beantwortet werden kann. Dieses unendliche Wissenkönnen ist das Dreschen leeren Strohs. Das numerische Verhältnis des Dichtens (das Eine) zum Sprechen (Alles) und zum Schweigen (das geflohene Eine) waltet im Verhältnis des dichterischen „funkens“ (das Eine) zum göttlichen „heiligen feuer“ (0) und des dichterischen „dröhnens“ (das Eine) zur göttlichen „heiligen stimme“ (das geflohene Eine) in den Schlusszeilen des ‚Maximin‘-Zyklus. Das Gedicht ‚ENTRÜCKUNG‘ (‚Ich fühle luft vom anderen planeten‘) endet mit „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer / Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme“ (SW VI / VII, S. 111). Die Stimme des Gottes ist auf Erden einzig als Dröhnen vernehmbar, und sie ist einzig als das Dröhnen eines Ich, des Dichters also, vernehmbar. Der Funke ist zweifellos die glücklichere Metapher (die aber nicht christlich als der Gottesfunke in der menschlichen Kreatur verstanden werden sollte, der in der natürlichen Theologie topisch ist): Er ist das absolut einmalig lokalisierte Aufleuchten der göttlichen Erscheinung. Deren Feuer brennt nur und deren Stimme tönt nur auf „anderem planeten“. Das Gedicht benennt also zwei Weltverhältnisse: erstens das der einmaligen irdischen Erscheinung des Gottes im Verhältnis zur unerreichbaren Jenseitigkeit des Göttlichen, zweitens das zwar irdische, aber für die unendliche Reichweite der sprachlichen Kommunikation unverständliche und unerreichbare Funkeln und Dröhnen der Dichterstimme. Zum Verständnis der zweiten Phase der Heilsgeschichte der Maximinreligion fehlt nun noch, wie die punktuelle, numerisch eine Erscheinung des Gottes und die nichtkommunikative, numerisch ebenso singuläre Dichtung des Dichters von weiteren Menschen überhaupt aufgenommen werden kann. Die Insularität der göttlichen Erscheinung und ihrer Dichtung macht eine Aufnahme eigentlich unmöglich; wenn doch eine erfolgt, dann muss sie entgegen des kulturell und kommunikativ Faktischen erfolgen. Der Dichter übersetzt sein kulturell unverständliches Funkeln und Dröhnen nicht. Er fertigt, um es mit einer zentralen Aussage Georges aus den ‚Blättern für die Kunst‘ zu sagen, keine Lehre an: „NEUER BILDUNGSGRAD (KULTUR) entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrhythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer grösseren volksschicht angenommen wird · der urgeist wirkt nicht durch seine lehre sondern durch seinen
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rhythmus: die lehre machen die jünger.“28 Mit der Weitergabe des Lebensrhythmus wird demnach eine nichtkommunikative Form des Übertritts über die Insellage der Eins zur Gruppe der Gemeinde installiert. Wie das genau vor sich geht und welche Konsequenzen das für die anzahlmäßig immer noch Wenigen der Gemeinde hat, lässt sich im Zweiten Buch des ‚Stern des Bundes‘ studieren. Etwa wenn der Urgeistdichter dem Gemeindemitglied, das voller Selbstzweifel über die Befähigung zur Mitgliedschaft ist, Folgendes entgegnet: Denk nicht dass dort nichts ist wo du nichts siehst. Als ich am andren abend bei dir sass Merkt ich wie durch dein erstes durch: das zweite Das gottesantlitz langsam dir erwächst.29
In der Selbstwahrnehmung des Mitglieds geschieht also: nichts. Es vollzieht sich keine kognitive und keine emotionale Veränderung. Es erwächst keine Einsicht in den Gott oder in sich selbst. Was geschieht, ist lediglich das nahe und unmittelbare Angeschautwerden vom Urgeist. In und durch diese Anschauung vollzieht sich die Affizierung an den göttlichen „Lebensrhythmus“. Dem Gemeindemitglied selbst bleibt sie hier noch verborgen. In den benachbarten Gedichten wird das körperliche Nahesein bis hin zum erotischen Körperkontakt in immer neuen Variationen der gegenläufigen Selbsteinschätzung der Jünger entgegengesetzt. (Im ersten der zitierten Gedichte spricht George, im zweiten ein Jünger.) Auf der brust an deines herzens stelle Lass den mund mich legen dass er drinne Alter fieber zuckend schwären sauge Wie der heilungstein das gift der wunde. Meine hand in deiner gibt den strom Deinen gliedern dass sie frei sich regen .. Klag nun nicht dass dein genesend hirn Schwarze dünste von verwesten träumen Immer wieder füllten – denn sie lodern Flüchtig auf im brande dieser liebe!30 Wenn meine lippen sich an deine drängen Ich ganz in deinem innren oden lebe 28 29 30
Blätter für die Kunst V (1900/01), S. 1. SW VIII, S. 51. Ebd., S. 52.
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Und dann von deinem leib der mich umfängt Dem ich erglühe die umschlingung löse Und mit gesenktem haupte von dir trete: So ists weil ich mein eigen fleisch errate – In schreckensfernen die der sinn nie misst Mit dir entspross dem gleichen königstamm.31
Der Jünger wird vom Lebensrhythmus des Urgeists affiziert, wenn er an der einen Stelle ist, an der der Urgeist ist, der wiederum den einen Punkt verkörpert, an dem sich das Erscheinen des Gottes lokalisiert. Gundolf nennt das „Contagion“.32 Ob der Kontakt körperlich erfolgt, ob er räumlich oder in Lichtmetaphern33 sich darstellt, ist zweitrangig. Vorrangig ist das numerisch exakt zu nehmende Einssein.34 Von da aus bestimmt sich, was im Kontakt aus dem Bannkreis der einen Stelle ausgeschlossen wird: das volle Leben,35 Reichtum,36 eigene Genüsse und Pläne,37 bisherige familiäre und freundschaftliche Bindungen.38
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Ebd., S. 56. In einem Brief an Carl Heinrich Becker vom 7. 4. 1931; siehe Claus Victor Bock / Lothar Helbing (Hg.): Gundolf-Briefe. Neue Folge, Amsterdam 1965, S. 264. „Und was du begannst vollendet / Soll kein werk des tags mich drücken / Wärmen soll mich nur und klären / Licht das mir durch Ihn erschienen.“ (SW VIII, S. 54.) „Er ist Helle .. wenn er leuchtet / Hülle nicht dein haupt im wege / Klarsten scheins wo wir der dinge / Lachen in kristallner höh!“ (SW VIII, S. 55.) Vgl. den Versuch bei Lothar van Laak: Maximin als religiöses Medium, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion, Berlin 2015, S. 42–51, die Verbreitung der Einsicht in die Göttlichkeit Maximins als einen medialen Vorgang zu fassen. Dem steht die charakteristische Punktualität und das numerische Einssein der Verbreitung in den ersten beiden Phasen entgegen. Maximin ist nicht der Bote des Gottes, er ist der Gott. George kündet vom Gott, aber gerade nicht, indem er zwischen dem Gott und seinen Jüngern vermittelt. Die mediale Pointe der „Contagion“ besteht darin, ohne Trägermedium auszukommen. Erst in der dritten heilsgeschichtlichen Phase zieht in die Maximinreligion eine Medialität ein (siehe Abschnitt 2.3). „Du kamst zu mir aus einem vollen leben“ (SW VIII, S. 58). „Wer seines reichtums unwert ihn nicht nüzt / Muss weinen“ (ebd., S. 60). „Such nicht nach freuden oder zielen“ (ebd., S. 62); „Kein frühres fehlt mir: meiner sommer freuden / Und stolzer traum und weicher lippe kuss …“ (ebd., S. 65). „Getilgt sei jeder wunsch jed band zerriss / In solchem dienst der liebe“ (ebd., S. 63).
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Ist das nicht doch schon eine Dogmatik, zumindest deren ethischer Teil, ähnlich der christlichen Ethik in den neutestamentlichen Apostelbriefen? Nein, denn die Abwendung vom bürgerlichen enkulturierten Leben hin zu einem Kontakt mit dem Urgeist bleibt eine Negation, ein Umkehrschluss, ein Sich-Ergeben in die Passivität. Das sind die Modi, in denen die gegebenen Kollektive samt ihrer Kultur, ihrer Ethnie und ihrer Religiosität überwunden werden. Auch das Dichten lässt sich aus Jüngerperspektive nur als Negation fassen. Die kontaktile Teilhabe am Dichten des Urgeists lässt sie aus der sprachlichen Notlosigkeit der gegebenen Kollektive herausfallen. Aufgefangen wird der Sturz in die Sprachlosigkeit nicht durch eine andere Sprache, sondern durch den nichtkommunikativen Kontakt mit dem Urgeist. Die ganze Konstellation der augenblicklichen Erscheinung, der Singularität des urgeistigen Dichtens, der „Contagion“, durch die sich der Kreis von einer Person auf mehrere erweitert, lässt keinen anderen Schluss zu, als dass die Ästhetik dieser Situation eine nichtsprachliche ist. Das Dichten muss im scharfen Gegensatz zur Sagbarkeit von Allem, wie es in der zitierten Gedichtzeile heißt, aufgefasst werden. So kommt George (und im Anschluss an ihn Heidegger) zu einer Poetologie des Dichtens als Sprache in einem eigentlich nichtsprachlichen Bezirk. Die Paradoxie ist beabsichtigt; ob sie philosophisch überzeugend ist, ist eine andere Frage. Ebenso fragwürdig wie der Sprachbegriff im ,Zweiten Buch‘ ist der Volksbegriff. Dass Georges vehementes Zurückweisen des völkischen Denkens sich widersprüchlich paart mit der völkischen Auslegung bei Morwitz, ist Indiz dafür, dass der Punkt der Gegebenheiten und ihrer Transformation in der Staat-Religion-Stiftung nicht zu Ende gedacht ist. In welcher Weise sind die Gegebenheiten von Blut, Boden, Stand usw. in der Verfassung der Maximinreligion noch vorhanden? Laut George als Restbestände des alten Lebens, die in einem manichäischen Kampf niedergerungen werden müssen. Aber es kämpft nicht jedes Mitglied der kleinen Gemeinschaft gegen seinen alten Adam. Durch das Gemeinschaftsprinzip des singulär lokalisierten Kontakts mit dem Urgeist wird der Urgeist in den Kampf involviert. Mehr noch, er konzentriert sich in ihm. „Ich muss dein schirm sein wo du dich gefährdest / Den streich entgegennnehmen der dir galt. / Ich bin für jeden deiner mängel bürge / Mir fallen alle deine lasten zu / Die als zu schwer du abwarfst – alle tränen / Die du sollst weinen und die du nicht weinst.“ (SW VIII, S. 66.) Diese Personalisierung der Transformation der Gegebenheiten
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auf den einen Ort des Kontakts mit der Urgeistperson und auf den einen Zeitpunkt eines Entscheidungskampfes könnte eine Erklärung dafür sein, wie Morwitz dem Urgeist ein Fundament unterzuschieben, auf dem er die Last schultern könne, auch wenn das dem „Contagion“Prinzip letztlich widersprach. Und das war das nostalgische Schwelgen von der heimatlichen Herkunft Georges von deutschem, von rheinischem, von Weinbauernboden. Sie verunklart, dass der Ereignispunkt des Erscheinens des Gottes eben ein gegebener Punkt ist. Der Punkt ist nicht im Nichts. Wie genuin und ursprünglich auch immer sich entwickelt, was von diesem Punkt entspringt, es wird die Gegebenheiten des Punkts in sich tragen. Spätere Ereignisphilosophien, von Heidegger bis Badiou, berücksichtigen diesen Umstand. Mit ihrem Denkinstrumentarium hätte die schlechte Deutsch- oder Rheinweintümelei wie auch die Sackgasse vermieden werden können, dass die Transformation der Gegebenheiten in einem permanenten Kampf gegen die Gegebenheiten stecken bleibt, ohne den Weg der Verfassungsgebung der Gemeinschaft jemals wirklich zu beschreiten. II.3 Dritte Phase der Heilsgeschichte Über alle drei heilsgeschichtlichen Phasen der Maximinreligion, namentlich aber über die letzte, geben diese viel zitierten Zeilen aus dem Dritten Buch des ‚Stern des Bundes‘ Auskunft: Ein wissen gleich für alle heisst betrug. Drei sind des wissens grade. Eines steigt Aus dumpfer menge ahndung: keim und brut In alle wache rege eures stamms. Das zweite bringt der zeiten buch und schule. Das dritte führt nur durch der weihe tor. Drei sind der wisser stufen. Nur der wahn Meint dass er die durchspringt: geburt und leib. Die andre gleichen zwangs ist schaun und fassen. Die lezte kennt nur wen der gott beschlief.39
Die drei Grade und Stufen des Wissens vom Kommen des Maximingottes stehen hier in umgekehrter Reihenfolge: Die erste Stufe ist in der dritten Phase der Heilsgeschichte anzutreffen, die zweite in der zweiten, die dritte in der ersten. Es wird für den Großteil derer, die mit der Ma39
Ebd., S. 95.
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ximinreligion in Berührung kommen, nicht zutreffen, es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass die drei Grade und Stufen des Wissens durchlaufen werden. Aber es gibt für alle drei Stufen eine Zugangsbeschränkung, und zwar immer dieselbe: „Contagion“. Wer durch ausgezeichnete geistig-körperliche Anlage geeignet ist, muss geschaut und gefasst werden, sei es durch Buch und Schule, womit er in der dritten Phase der Heilsgeschichte ankommt, sei es durch den Urgeist selbst, was ihn in die zweite bringt (und ihn seinerseits befähigt, andere Menschen durch „schaun und fassen“ in die zweite zu bringen), sei es durch den Gott höchstselbst, womit er zum Urgeist wird. Die dritte Phase ist nicht mehr im eigentlichen Sinn religiös. Ihr liegen die Bücher und Lehren des Georgekreises vor. Sie hat, wie Wolters an der George-Rezeption ab 1914 ausführt, nun viel Verständnis für die Dichtung Georges entwickelt, ja sogar für Georges Religiosität,40 ohne an ihrer Kraft und Gottesnähe noch teilzuhaben. Ohne „Contagion“ führt aus diesem verflachten und vermassten Wissensgrad kein Weg in die höheren Grade, sie führt nur zu verlogener Sympathie, Besserwisserei und falschen Deutungen. Mit harten Anweisungen an seine Jünger stellt George klar, dass die Verlaufsrichtung der Heilsgeschichte nicht umkehrbar ist: Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort. Tödlich kann lehre sein dem der nicht fasset. Bild ton und reigen halten sie behütet Mund nur an mund geht sie als weisung weiter Von deren fülle keins heut reden darf .. Beim ersten schwur erfuhrt ihr wo man schweige Ja deutlichsten verheisser wort für wort Der welt die ihr geschaut und schauen werdet Den hehren Ahnen soll noch scheu nicht nennen.41
Erst in der dritten Phase der Heilsgeschichte schält sich diese Crux der Maximinreligion heraus. In den ersten beiden Phasen war „Contagion“ der einzige Ort, von der Erscheinung des Gottes Kenntnis zu erlangen. Wem es ermöglicht wurde, am Ort der „Contagion“ zu sein, hatte Kenntnis vom Gott und durfte sie haben. Nun aber, in der dritten Phase, klaffen Zugangsmöglichkeit und persönliche Teilhabe auseinander. Es 40
41
Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 493–514. Zur Religiosität von Georges Dichtung ebd., S. 503ff. SW VIII, S. 100.
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liegt ein Weg zwischen den beiden Orten, der medial zurückgelegt werden muss. George akzeptiert die Medialität, die Buch und Schule von sich aus entfalten, nicht. Er sieht, dass seine Jünger zum urgeistigen Dichten nicht in der Lage sind, sondern lediglich dazu, ihr Wissen vom gekommenen Gott in Prosaliteratur aller Art zu gießen, vom Memoirengenre über literarische Führer durch Georges Gedichtbände bis zum wissenschaftlichen Wälzer über historische Themen, an denen heilsgeschichtliche Spurenelemente des kommenden Gottes an vergangenen Zeiten aufgezeigt werden. Wenn er sie darin gewähren lässt, dann mit der Auflage, entgegen der inhärenten Medialität solcher Literatur Geheimniskrämerei zu betreiben und alles dafür zu tun, auch das massenmediale Buchwissen mit der Aura der persönlichen Weitergabe von Mund zu Mund zu bewehren. Diese Crux arbeite ich heraus und werde sie als das entscheidende Moment des Politischen bei George identifizieren. Nirgends mehr im Dritten Buch des ‚Stern des Bundes‘ tritt der Gott selber in Erscheinung. Gleichsinnig zum oben zitierten Vers vom beschlafenden Gott heißt es an einer einzigen weiteren Stelle „Ein weiser ist nur wer vom gott aus weiss“ (SW VIII, S. 105), daneben das Gebet ‚Als nach der seligen erweckung frist‘ (SW VIII, S. 104), in dem George seinen singulären Urgeiststatus abermals bekundet. Für die Jünger des engeren und weiteren Kreises der Maximinreligion gibt es keinen direkten Kontakt mehr zum Gott. Das „fromme Herz“ eines Kreismitglieds (SW VIII, S. 102) wurde nicht mehr durch die Erscheinung des Gottes selbst fromm. „Wer schauen durfte bis hinab zum grund“ (SW VIII, S. 103), der hatte – George erblickt. „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant! / Wie er auch wandert und kreist: / Wo noch ihr schein ihn erreicht / Irrt er zu weit nie vom ziel. / Nur wenn sein blick sie verlor / Eigener schimmer ihn trügt: / Fehlt ihm der mitte gesetz / Treibt er zerstiebend ins all.“ (SW VIII, S. 84) – welches Zentrum umschreitet er da? George, nicht den Gott. Im ‚Stern des Bundes‘ tritt „der Künder nicht mehr als Empfänger der Gesichte sondern als Träger der Sendung“ in Erscheinung, wie Gundolf sagt.42 Wie gesagt, die Maximinreligion kennt keinen Heiligen Geist. Der Schlusschor des ‚Stern des Bundes‘, der den Gott in jeder Zeile nennt, tut dies bezeichnenderweise im Genitiv: 42
Gundolf, George (Anm. 12), S. 246.
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Rainer Bayreuther Gottes Gottes Gottes Gottes Gottes Gottes Gottes Gottes Gottes Gottes Gottes Gottes
pfad ist uns geweitet land ist uns bestimmt krieg ist uns entzündet kranz ist uns erkannt. ruh in unsren herzen kraft in unsrer brust zorn auf unsren stirnen brunst auf unsrem mund. band hat uns umschlossen blitz hat uns durchglüht heil ist uns ergossen glück ist uns erblüht.43
Ich habe eingangs argumentiert, dass der Gott des Georgekreises ein ontologisches Individuum ist wie in anderen Religionen mit personalen Gottesbegriffen auch. Das bedarf nun einer heilsgeschichtlichen Relativierung: Das Gottesindividuum ist in der dritten Phase vollends entschwunden und verblasst. Den Gott gibt es noch, aber er existiert nicht mehr. Was bleibt, ist das Prädikat der Göttlichkeit, das an anderen Individuen vorkommt, am klarsten beim Urgeist, abgeschwächt bei den Jüngern. Es ist aus dem semantischen Zusammenhang nicht entscheidbar, wer konkret das sprechende Ich in Gedichtzeilen wie „Dies ist reich des Geistes: abglanz / Meines reiches · hof und hain“ (SW VIII, S. 83) oder das angesprochene Ich in „Das neue wort von dir verkündet / Das neue volk von dir erweckt“ (SW VIII, S. 91) ist. Aber die Ontologie des Schlusschors lässt keinen Zweifel: Es ist George, nicht der Gott. Es gibt in der Maximinreligion kein allgemeines Priestertum aller Gläubigen. Es gibt nicht einmal das ordinierte Priestertum wie im Katholizismus. Es gibt immer genau einen Priester und einen Gläubigen: George und den Jünger, dem er jeweils die ursprüngliche Dichtung des Gottes von Mund zu Mund weitergibt. Es gibt, und das ist die Pointe der dritten heilsgeschichtlichen Phase, diesen Priester und seinen jeweiligen Jünger gewissermaßen in Replikaten. Der Jünger, wenn er sich außerhalb der „Contagion“ mit George, aber noch in der Satellitenbahn ums Zentralgestirn bewegt, darf und muss den Modus der „Contagion“ nach draußen mitnehmen. Durch dieses Nadelöhr muss jede Weitergabe der Maximinreligion schlüpfen. Das bringt den Jünger in die formale Rolle
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SW VIII, S. 114.
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des Priesters. Der ist er nur dann gewachsen, wenn er selbst von der „Contagion“ des Urgeists durchherrscht ist. Nun kommt die Reduplikation der Priester-Jünger-Konstellation ins Spiel. Jede Weitergabe der Gotteserscheinung von einem Jünger zu einem Enkeljünger soll von Mund zu Mund erfolgen. Jede einzelne Weitergabe soll also die ursprüngliche Ereignishaftigkeit, in der der gekommene Gott von einem Urgeist erfasst wurde, erneut implementieren. Anders gesagt, das ursprüngliche Ereignis, mit dem ein zeit-räumlicher Punkt fixiert wurde, wiederholt sich an weiteren zeit-räumlichen Punkten, und was vom ersten Ereignis aufbewahrt wird, ist zumindest der Anschein musischer Qualitäten, von denen die Mund-zu-MundWeitergabe ein nach außen wahrnehmbares Zeichen ist. Es ist schwierig zu fixieren, worin der geheimnisvolle Inhalt der Ereignishaftigkeit im Georgekreis genau besteht, aber insgesamt dürfte er als Respekthaltung gegenüber dem Leben an sich zu charakterisieren sein, eine Haltung, die sich immer in persönlichen Zweierbeziehungen konkretisiert. Gleichwohl bleibt er ausdrücklich Geheimnis, wie George im späteren Gedicht mit dem bezeichnenden Titel ‚Geheimes Deutschland‘ in Erinnerung an die Maximinerscheinung dichtet: „Da in den äussersten nöten / Sannen die Untern voll sorge · / Holten die Himmlischen gnädig / Ihr lezt geheimnis … sie wandten / Stoffes gesetze und schufen / Neuen raum in den raum …“ (SW IX, S. 46). An dieser Stelle der Heilsgeschichte geht die Maximinreligion ins Politische über. Um den Übergang zu explizieren, verwende ich im Folgenden einige politische Grundbegriffe, die einer knappen Erläuterung bedürfen: das Politische (und sein musischer Modus); der Staat (und sein amusischer Modus); die Verfassung. Die Sphäre des Politischen ist dadurch charakterisiert, dass eine Gemeinschaft entsteht, die durch die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen konstituiert ist. Darin ist eine Abgrenzung zu nichtpolitischen Kollektiven eingeschlossen, die nur durch eine kleine Auswahl an Beziehungsmerkmalen zwischen den Menschen definiert sind, zum Beispiel Ethnie, Wohnort oder Muttersprache. Natürlich kann auch mit solchen Eigenschaften Staat gemacht werden, aber das führt stets in ein Staatsgebilde, aus dem das Politische, dass alle diese „Gegebenheiten“, wie ich sie oben nannte, permanent zur politischen Disposition stehen, verschwunden ist. Wenn George seine Jünger auffordert, Familie, Hof und Hain zu verlassen, dann zielt das auf Herstellung einer politischen Situation. Es
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wird hier erforderlich, die Verfahren, durch die aus den angestammten Gegebenheiten Inhalte wie kollektive Identitäten oder gemeinsame Handlungsziele ermittelt werden, auf die politische Situation jenseits der Gegebenheiten umzustellen. Jede politische Sphäre steht vor dieser Herausforderung, und der Modus, nach dem sie ihre Inhalte ermittelt, heißt üblicherweise Verfassung. Idealerweise verkrustet in den Verfassungsprozeduren eine politische Gemeinschaft nicht zu einem postpolitischen Gebilde, was aber nur gelingt, wenn sie ihre politischen Repräsentanten wirksam austauschen und eine permanente Möglichkeit zur Verfassungsänderung offenhalten kann. Der Konflikt zwischen – tendenziell postpolitischer – Verfassungstreue und – radikal politischer – Verfassungsgebung ist ein unauflösbarer Grundwiderspruch, den jedes politische Gebilde aushalten muss. Dass Künstlergruppen seit jeher, so auch der Georgekreis, bei der Beschreibung ihrer Binnendynamik zu politischen Begrifflichkeiten greifen, dürfte mit eben dieser Konstellation zusammenhängen. So wie mit jedem verfassungsgebenden Vorgang die sprachliche Sagbarkeit von sozialen Beziehungen hergestellt wird, die bis dato im Vagen waren und nur schwer in assertorischen Sätzen formuliert werden konnten, so ist umgekehrt jedes Zur-DispositionStellen eines Verfassungselements ein Moment der Entsprachlichung und ein Zurücksetzen der Verhältnisse auf einen Punkt, an dem um eine neue Sprache gerungen werden muss. Dazu fühlen sich vornehmlich die Künstler berufen. Die Repräsentationselite hingegen verstummt hier typischerweise, da ihre Kommunikation die problemlose Sagbarkeit von Allem auf dem Grund einer gegebenen Verfassung voraussetzt. Die vorsprachliche Kommunikation einer politischen Situation nenne ich musisch.44 In diesem Sinne kann man sagen, dass in der dritten heilsgeschichtlichen Phase eine Verfassung installiert wird und dasjenige entsteht, was der Kreis selbst „Staat“ nannte. Es wird nämlich ein Verfahren implementiert, um zu Inhalten jenseits der angestammten Gegebenheiten zu kommen. Diese Inhalte bilden sich an den jeweiligen Ereignispunkten je genuin aus, gerahmt und gestaltet von der spezifisch georgeschen 44
Es ist hier nicht der Ort, die historischen und systematischen Assoziationen des politischen Begriffs des Musischen auszuführen. Ich verweise lediglich auf die Jugendbewegung, in der der Begriff des Musischen recht genau in der hier verwendeten Weise firmiert.
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Haltung, die sich im Verfahren der exklusiven persönlichen Mund-zuMund-Weitergabe oder kurz: der „Contagion“ kristallisiert. Das Verfahren trägt, wie wir gesehen haben, dem musischen Charakter der Situation Rechnung. Dass sich auch in einem solchen Verfahren früher oder später eine Funktionselite ausbildet, ist der verfassungstheoretische Normalfall. Dem beschriebenen Grundwiderspruch jeder Verfassungsprozedur entkommt daher auch der Georgestaat nicht: Aus der Aversion gegen Klatsch und Gerede in der modernen Massenöffentlichkeit heraus vernichtet der georgesche Schwur auf die Geheimniswahrung durch „Contagion“ die musische Qualität des ursprünglichen politischen Ereignisses. Die musische Aura eines politischen Ereignisses bewirkt gerade, dass die Beschränkung des Zugangs zum politischen Ereignispunkt durch Gegebenheiten welcher Art auch immer, seien es natürliche Dispositionen, seien es gesellschaftliche Routinen, irrelevant wird. Wenn man das Wort freimütig genug verwendet: der musische Charakter des Politischen eröffnet Demokratie. Derartige Demokratie wird durch den georgeschen Geheimnissschwur geradezu gewaltsam unterbunden. Wer Geheimnisträger ist und zur Funktionselite zählt, hat die Macht zum Politischen und ergo zur Verfassungsgebung. Das aber ist ein direkter Widerspruch. Der Raum des Politischen ist ein genuin machtfreier Raum, und die Ohnmacht der einzelnen Person zugunsten der Macht, die das politische Ereignis als solches entfaltet, wird just ermöglicht durch das Musische der Situation. Was die Geheimniskrämerei im Georgekreis hingegen erzeugt, ist eine Vielzahl kleiner Machtzentren von Mächtigen und Abhängigen, die sich mit je kontingenten Inhalten füllen und untereinander allein durch die schnöde Tatsache verbunden sind, dass sich in ihnen Macht konzentriert. Auf diese Weise entsteht aus dem Georgekreis ein Elitenetzwerk, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg genau entlang der theoretischen Konstellation in der dritten heilsgeschichtlichen Phase entwickelte.45 III. Politik und Staat in der Religion Georges Mit jeder Verfassung entsteht Sagbarkeit des Seienden. So auch hier: Indem in der dritten heilsgeschichtlichen Phase die „Contagion“ als Verfassungsmodus installiert wird, wird die unumschränkte Sagbarkeit 45
Sie wird beschrieben bei Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009.
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von Allem ermöglicht und monopolisiert. Der einzigen Person, der man völlige Sprachlosigkeit attestieren muss, ist die menschliche Verkörperung des Gottes selber, im Fall des Georgekreises der historische Maximilian Kronberger. Er präsentiert den Gott nur. Er predigt nicht, er spricht keine Herrenworte. Das aus dem Zuruf des Dichters gewordene Fleisch ward nicht Wort, noch nicht. Es ward Wort erst beim Urgeist. Die Schwierigkeit, das Erscheinen des Gottes zu sagen, besteht nur einmal für den Urgeist, wenn er und nur er den Gott gegenwärtigt. Indem aber er sich zum personalen Monopol erhebt, den Gott gültig ausgesagt zu haben, ist die Schwierigkeit auch schon entfallen. Seine Jünger müssen sie nicht mehr mittragen. Die Hürde, die sie zu überwinden haben, nämlich in „Contagion“ mit dem Urgeist zu kommen, ist kein Sagbarkeitsproblem, nur eine Frage menschlicher Sympathie. Was der Urgeist von ihnen verlangt, wenn die Hürde überwunden ist, ist Nachahmung. Daran sind gewiss Viele gescheitert – siehe die Unzahl von selbstinitiativ eingesandten Gedichten im Georgestil von Möchtegernjüngern,46 von denen George die meisten unbeantwortet ließ und in den wenigen Antworten meistens Absagen erteilte. Sie sind gescheitert, nicht weil sie das Erscheinen des Gottes nicht angemessen sprachlich erfasst hätten, sondern weil ihnen die Nachahmung nicht gelungen war. Wir sehen hier also, wie das personale Prinzip der Teilhabe am göttlichen Ereignis das Konstruktionsprinzip für die Sagbarkeit von Allem darstellt. Das Konstruktionsprinzip ist zugleich ein Prinzip permanenter Verfassungsgebung. Wer „Contagion“ mit dem Urgeist hatte und die Nachahmung beherrscht, hat hiermit die Kompetenz erlangt, die Gemeinschaftlichkeit der Gemeinschaft gültig zu formulieren. Diese Sagbarkeit unterscheidet sich markant von völkischem Denken, überhaupt von allen Konzepten von Rasse, Volk usw. Sie hat überhaupt keinen Inhalt als konstruktive Grundlage. Ihr Inhalt besteht einzig darin, durch „Contagion“ in erster, zweiter, dritter, soundsovielter Generation am Urgeist teilzuhaben. Von diesem Inhalt her wird die Aussage von allem vorfindlichen Seienden propositional konstruiert. Das Sprechen der Jünger der n-ten Generation hat keine andere Botschaft als die, die schon George im ‚Stern des Bundes‘ hatte: Es kommt darauf an, dazuzugehören. Dass sich der Georgekreis nach dem Tod des Meisters in eine Repräsentationselite verwandelte, die vom politischen Prin46
Heute aufbewahrt im George-Archiv Stuttgart.
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zip des Machtwechsels nicht viel wissen wollte, liegt in der Natur dieser Sache. Die Verbreitung der Lehre des Urgeists bleibt durch das personale „Contagion“-Prinzip immer auf Wenige beschränkt. Der Bund des Sterns, wie weit man ihn auch fasst, wird nie Volk. Er bleibt Salz der Erde. Der Georgestaat gelangt ziemlich rasch im Verlauf seiner Genese, nämlich schon in der zweiten Phase seiner Heilsgeschichte, an einen postpolitischen Punkt. Das kleine Ereignisfenster, in dem einzig das Politische sich hätte einstellen können, ist die intime Situation zwischen dem erscheinenden Gott und dem erkennenden Urgeist. Hier werden in einem sowohl ergebnisoffenen wie auch wesentlich ästhetisch geprägten Vorgang die Verfassungsinhalte er- und gefunden. Darin ist er musisch. Über ihn erfährt man im Schrifttum des Kreises nichts. Wie der Urgeist den Gott erkennt, welche Form der Intentionalität im wechselseitigen Erfassen von Gott und Urgeist sich einstellt, welche Art von Urkommune, von Gemeinschaft also im wechselseitigen Erfassen von Gott und Urgeist vorliegt, wie der Urgeist schließlich zu seinen assertorischen Sätzen kommt, in denen die Erscheinung des Gottes ausgesagt wird – darüber wird im Georgekreis geschwiegen. Ob der Kreis der Auffassung war, dass sich darüber nichts sagen lässt, oder ob mindestens George selbst, vielleicht auch ein enger Zirkel um George glaubte, etwas darüber sagen zu können, aber nichts darüber sagte, bleibt im Dunkeln. Wir haben indessen keinerlei Veranlassung, darüber zu spekulieren. Wir können aus der Struktur der ersten heilsgeschichtlichen Phase nämlich auch so den sicheren Schluss ziehen, dass die Zweierbeziehung von Gott und Urgeist auf keinen Fall musisch ist. Die generische Phase einer Gemeinschaftsbildung kann, wenn sie tatsächlich musisch wäre, nicht auf bestimmte Personen eingeschränkt sein, schon gar nicht auf zwei. Ein intrinsisches Merkmal des Politischen, das wesentlich den Unterschied zu den vorpolitischen Gegebenheiten markiert, ist die Entgrenzung. Die Zweierbeziehung von Gott und Urgeist aber weist das genau gegenteilige Merkmal auf, Exklusivität: sowohl numerisch (genau zwei Personen sind beteiligt) wie lokal (die Situation ist an genau einem Punkt lokalisiert, und zwar an einem angebbaren, dem des Urgeists). Schon die erste heilsgeschichtliche Phase der Maximinreligion täuscht Politizität nur vor, insofern zwar für den Urgeist unverfügbar ist, wann und wo der Gott erscheint, das Ereignis des Erscheinens dann aber sogleich abgeschirmt und dadurch erst eindeutig lokalisierbar
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wird durch die Aura von Geheimnis und Exklusivität. Der Vorgang bringt den kurzen Moment der musischen Entgrenzung, der im Erscheinen des Gottes währt, sofort wieder zum Erlöschen. Im Erdichten der Urgeistworte mag die Seele kurz in einem musikalischen Zustand gewesen sein, die erdichteten Worte aber tragen keine Spuren mehr davon. Das ist überzeugend als der philosophiegeschichtliche Punkt der Psychologismuskritik um 1900 aufgefasst worden, an dem auch der Georgekreis teilhat.47 Dass George gegen die Kunstform, die das musisch Entgrenzende der politischen Situation am reinsten ausprägt und es insbesondere für alle zugänglich macht, Aversionen hatte, ist konsequent. Ohne Umschweife warnt er die Jünger vor dem „ladenden“ Charakter der Musik und vor dem Weg-„saugen“ der „seele“ von der Person:48 Durch die gärten lispeln zitternd Grau und gold des späten tags. Irr-gestalt wischt sich versonnen Sommerfäden aus der stirne Wehmut flötet .. dort in häusern Bunte klänge laden schmeichelnd Saugen süss die seele … Eilet! Alles dies ist herbstgesang. Stimme die in euch erklungen Heischt nicht gift noch welken glanz.49
Ein amusisches Politisches ist aber eben kein Politisches mehr. Die „stimme die in euch erklungen“, die des Urgeists, spricht von Anfang an hartes Gesetzeswort. Nicht ein musisches Momentum noch umflort ihren ersten Klang. Sobald George die Stimme erhebt, ist der Gott entschwunden. Im kreisinternen Jargon hieß der Georgekreis kurz „der Staat“. Insofern das Politische der Gemeinschaft vom Postpolitischen des Staats scharf zu unterscheiden ist, trifft das Wort den Nagel auf den Kopf.
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Vgl. Scheier, Dunkle Harfen (Anm. 27). SW VIII, S. 87. Ebd.
‚Satansbraten‘. Rainer Werner Fassbinders Komödie über Stefan George
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Nicolas Detering
‚Satansbraten‘. Rainer Werner Fassbinders Komödie über Stefan George (1976) I. Nullpunkt der Öffentlichkeit? Zur George-Rezeption I. in den Siebzigerjahren Kaum ein Wort hat die Stefan George-Rezeption um 1970 so geprägt wie Urs Jaeggis Verdikt, Georges Wirkung sei hundert Jahre nach seiner Geburt am „Nullpunkt der Öffentlichkeit“ angelangt. Jaeggi bekennt, ihm sei George aufgrund seiner undemokratischen Ferne zur Gesellschaft „heute verdächtig“ und „der heutigen Generation fremd“; womöglich stecke „hinter George eine Rentnerideologie“, womöglich sei „sein Ästhetizismus ein Kleinbürgerästhetizismus“.1 Wenngleich Jaeggi seine Position bald selbst relativierte und zur bloßen „Provokation“ abschwächte,2 scheint sie sich in den folgenden Jahren doch durchgesetzt zu haben, sie wird jedenfalls seit den Siebzigerjahren oft zitiert.3 „Wer will schon ein Stefan George sein und mit glutäugigen Jüngern umherlaufen?“, hatte Günter Grass bereits 1966 gefragt und damit Georges auratischer Dichtungsauffassung jegliche Bedeutung für die Gegenwartsliteratur abgesprochen.4 1
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Urs Jaeggi: Am Nullpunkt der Öffentlichkeit [1968]. In: Eckhard Heftrich / Paul Gerhard Klussmann / Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Stefan George Kolloquium, Köln 1971, S. 100–106. Ebd., S. 117. Manfred Durzak: Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George, Stuttgart u.a. 1974, S. 7, befindet, Georges Wirkung sei „– wer wollte es bezweifeln – ‚am Nullpunkt der Öffentlichkeit‘ angelangt“, denn seine Lyrik trage „zum aktuellen Gespräch zwischen Literatur und Öffentlichkeit nichts mehr bei“. – Maximilian Nutz: Werte und Wertungen im George-Kreis. Zur Soziologie literarischer Kritik, Bonn 1976, S. 17, sieht den Grund für den Rückgang öffentlichen Interesses darin, „daß dem gegenwärtigen Bewußtsein das hinter dieser Dichtung stehende heroische Menschenbild so fremd ist wie die Meister-Jünger-Beziehungen des ‚Kreises‘“. Günter Grass: Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter der Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe. In: Ders.: Über das Selbst-
https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0009
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Doch nicht nur die kunstreligiöse Selbstinszenierung, auch seine politische Indienstnahme durch die deutsche Rechte wurde George nach 1968 zum Verhängnis. Während eine jüngere Generation von Schriftstellern sein Werk schlicht ignorierte, sah die Studentenbewegung in George „all das, wogegen sie sich wandte“.5 Die Vertreter der aufstrebenden Literatursoziologie historisierten sein Werk und seine Wirkung, indem sie das im Kreis gestaltete Gefälle von Herrschaft und Dienst mehr oder weniger entschieden als präfaschistische Konstellation deuteten.6 Dagegen übte der in zahlreichen Fotografien, Zeichnungen und Skulpturen zelebrierte Personenkult um Stefan George auf die bildende Kunst der Sechziger- und Siebzigerjahre durchaus noch ästhetischen Reiz aus. Hermann Nitsch etwa orientierte sich in seinen Performances des ‚Orgien Mysterien Theaters‘ (Anfang der Sechzigerjahre) ausdrücklich an Georges Sakralisierung des Künstlers.7 Angesichts der komplexen Gemengelage aus literarischer Distanznahme, ideologiekritischer ‚Entlarvung‘ und bildkünstlerischer Faszination erstaunt es, dass bisher ein bedeutendes Wirkungszeugnis aus den Siebzigerjahren übersehen wurde, nämlich Rainer Werner Fassbinders Filmkomödie ‚Satansbraten‘ (1976). ‚Satansbraten‘ erzählt die Geschichte des revolutionären Dichters Walter Kranz, der nach einer längeren Schaffenskrise versehentlich Georges Baudelaire-Nachdichtung plagiiert. Nachdem ihm sein Fehler bewusstgeworden ist, beschließt er, sich nach und nach in George zu verwandeln. Dafür engagiert er ein paar junge Schauspieler, die seinen Kreis geben sollen. Die Transformation scheitert jedoch an dem Versuch, einen Münchner Strichjungen zum neuen Maximin zu erklären, und Kranz reüssiert stattdessen mit einem
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verständliche. Reden, Aufsätze, Offene Briefe, Kommentare, Neuwied und Berlin 1969, S. 105–112, hier S. 107. Zitiert nach Achim Aurnhammer: George und die Dichter. Die poetische Rezeption von der Klassischen Moderne bis zur Gegenwart. In: Ders. / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde. Bd. 2, Berlin – Boston 2012, S. 829–896, hier S. 883. Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010, S. 13. Vgl. Jürgen Egyptien: George-Rezeption seit 1945. In: Aurnhammer u.a. (Hg.), Stefan George und sein Kreis (Anm. 4), S. 1016–1044, hier insb. S. 1027–1030 mit zahlreichen Beispielen aus der Forschungsgeschichte. Vgl. Sebastian Schütze: Bildkünstlerische Rezeption. In: Aurnhammer u.a. (Hg.), Stefan George und sein Kreis (Anm. 4), S. 919–938, hier S. 929–931.
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neofaschistischen Roman. Bei Fassbinders grotesker Komödie handelt es sich nicht nur um das Unikum einer filmischen George-Rezeption, sondern um ein auch international viel besprochenes Dokument der anhaltenden Wirkung gerade nach 1968. Obwohl der Film recht bekannt ist und 2012 sogar von den Münchner Kammerspielen für die Bühne adaptiert wurde, wird er weder im dreibändigen Handbuch ‚Stefan George und sein Kreis‘ noch in den älteren rezeptionsgeschichtlichen Arbeiten oder in den neueren Gesamtdarstellungen erwähnt.8 Während sich Fassbinders Film inhaltlich weitgehend im Trend der Rezeptionsgeschichte zwischen 1968 und 1980 befindet, wäre die These einer ‚Nullphase‘ der Öffentlichkeit in den Siebzigerjahren doch zu differenzieren. Ich möchte ‚Satansbraten‘ daher erstmals eingehend analysieren und insbesondere auf die Funktion seiner George-Referenzen eingehen. Dazu stelle ich Fassbinders Komödie, die bislang auch in der filmhistorischen Forschung kaum behandelt wurde,9 zuerst ausführlich vor 8
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Fassbinder hat keinen Eintrag im Register des George-Handbuchs, siehe Aurnhammer u.a. (Hg.), Stefan George und sein Kreis (Anm. 4), Bd. 3, Register. – Günter Heintz: Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986; Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978. – Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007, nennt Fassbinder ebenso wenig wie Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, und Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014. Vgl. Françoise Dahringer: Prenez garde à la sainte putain et Le rôti de Satan, des films charnières. In: Denitza Bantcheva (Hg.): Fassbinder l’explosif, Condésur-Noireau 2006, S. 38–50, hier S. 44–48, widmet sich zwar ‚Satansbraten‘, nennt George aber nur in der knappen Inhaltswiedergabe und betont stattdessen den Einfluss von Antonin Artauds Théâtre de la Cruauté. Allenfalls erwähnt wird „Stefan Georg“ [!] auch in der knappen ‚Satansbraten‘-Kurzvorstellung von Jean-Pierre Rehm: Théâtre cuit. In: Cahiers du Cinéma 4, 2005, S. 34f. Sang-Joon Bae: Rainer Werner Fassbinder und seine filmästhetische Stilisierung, Remscheid 2005, S. 213–215, deutet ‚Satansbraten‘ als „selbstreflexive Stilisierung“ (S. 215) und arbeitet autobiographische Bezüge zu Fassbinders Erfahrungen mit ‚Martha‘ und während der Arbeit an ‚Der Müll, die Stadt und der Tod‘ heraus. Caryl Flinn: The New German Cinema. Music, History, and the Matter of Style, Berkeley – Los Angeles – London 2004, S. 52–54, nennt ‚Satansbraten‘ „one of Fassbinder’s campiest works“ (S. 53), knüpft dieses Urteil aber nicht an eine Analyse der strukturprägenden George-Bezüge. Im Sonderheft ‚Rainer Werner Fassbinder‘ der Zeitschrift Text + Kritik 103, 2015, hg. von Michael Töteberg, wird ‚Satansbraten‘ nicht genannt.
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(I.), um dann drei ‚Erklärungen‘ für Fassbinders Beschäftigung mit George zu erproben (II. 1.–3.). Schließlich lege ich anhand der deutschen, französischen und US-amerikanischen Filmkritiken dar, wie Stefan George Mitte der Siebzigerjahre im In- und Ausland eine kleine feuilletonistische Renaissance erfuhr (III.). II. ‚Satansbraten‘: Entstehung, Figuren, Handlung Fassbinders 26. Spielfilm ‚Satansbraten‘ entstand in 29 Drehtagen im November 1975 sowie im Januar und Februar 1976; zur Verfügung stand ein kleines Budget von nur 500 000 Mark.10 Fassbinder veränderte die Handlung während der Pause im Dezember 1975 stark, „denn so sehr gefiel ihm die Geschichte des Dichters Kranz doch nicht“, wie sich sein Hauptdarsteller Kurt Raab erinnert, „zu langatmig erschien ihm alles, noch hatte er keinen Zugang zu der bösartigen Komödie gefunden“.11 Auf einer mehrwöchigen Mexiko-Reise, die er gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Armin Meier und Kurt Raab im Dezember unternahm, schrieb Fassbinder größere Teile der Dialoge um.12 Zudem kam es zwischen den beiden Entstehungsphasen zu personellen Veränderungen: Für Peggy Parnass, die Kranz’ Ehefrau spielen sollte, kam Helen Vita; Kameramann Jürgen Jürges wurde durch Michael Ballhaus ersetzt. Ballhaus’ Kameraführung ist bewusst reduziert, auffällige Schwenks oder Schärfenverlagerungen fehlen, da „[d]as, was in ‚Satansbraten‘ vor der Kamera geschieht […], schon so ‚strange‘, so verrückt und bewegt“ sei, so Fassbinder, „daß wir das mit der Kamera nicht nochmal mitmachen durften. Das sind ganz einfache Bildkompositionen geworden“.13 Umso schneller sind die Schnitte, die mit dem raschen Schlagabtausch der Dialoge Schritt halten. Wie die meisten Spielfilme der BRD wurde auch ‚Satansbraten‘ aus technischen Gründen nachsynchronisiert, auf-
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Harry Baer: Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Das atemlose Leben des Rainer Werner Fassbinder. Unter Mitarbeit von Maurus Pacher, Köln 1982, S. 273. Siehe zu weiteren technischen Details der Entstehung Hans Günther Pflaum / Rainer Werner Fassbinder: Das bißchen Realität, das ich brauche. Wie Filme entstehen, München 1976. Kurt Raab / Karsten Peters: Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder, München 1982, S. 282. Vgl. ebd., S. 283f. Pflaum / Fassbinder, Das bißchen Realität (Anm. 10), S. 76.
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grund des hohen Tempos keine ganz leichte Aufgabe.14 Die einfache Filmmusik mit Anleihen bei Mozart und dem romantischen Kunstlied hat Per Raben komponiert. Die Besetzung erfolgte ganz weitgehend aus dem Ensemble früherer Fassbinder-Filme und entsprach damit der Praxis des Regisseurs, auf einen langfristig bestehenden Kreis von ‚Lieblingsschauspielern‘ zurückzugreifen. ‚Satansbraten‘ dauert 112 Spielminuten. Die erzählte Zeit umfasst einige Wochen. Raab spielt den Münchner „Poet der Revolution“ Walter Kranz (Kurt Raab),15 der sich seit geraumer Zeit in einer Schaffenskrise befindet. Gemeinsam mit seiner todkranken Frau Luise (Helen Vita) und seinem debilen Bruder Ernst (Volker Spengler) lebt er in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Seine Freundin Lisa (Ingrid Caven) schläft zwar zuweilen mit ihm – ihr gleichgültiger Gatte (Marquard Bohm) erlaubt es –, aber ihre Ehe gibt sie für Kranz nicht auf. Von seinem Verleger kann der mittellose Dichter keinen Vorschuss mehr erwirken, und so prostituiert er sich. Kranz soll die masochistische Adelige Irmgard von Witzleben gegen Geldschecks sexuell erniedrigen und erschießt sie schließlich beim ekstatischen ‚Liebesspiel‘. In der Nebenhandlung des Films versucht ein Polizeikommissar (Ulli Lommel), diesen Mord aufzuklären, bevor sich am Ende unverhofft herausstellt, dass die Pistole nur mit Kunstblut geladen war und Irmgard von Witzleben noch lebt. Bereits die ersten Szenen mit ihrer Mischung aus Geschrei, Gewalt und Sex zeichnen ein zynisches Gesellschaftsbild, in der ihre oberflächliche Zivilisiertheit die Geldgier der Akteure, ihr Machtstreben und den triebhaften Wunsch nach Unterdrückung und Unterwerfung kaum kaschiert. Die bürgerliche Ordnung droht jederzeit in wilden „Faschismus“ umzuschlagen – ein Lieblingswort Kranz’ und ein Leitmotiv des Films, das schon in der Titeleinblendung anklingt (‚Satansbraten‘ ist mit Siegruneninitial gestaltet, 00:21). In dem Titel des Romans, den Kranz am Ende des Films seinem Verleger übergibt, findet das Thema eine Schlusspointe: ‚Der Faschismus wird siegen oder Keine Feier für 14 15
Zum Schnitt siehe ebd., S. 134f.; zur Nachsynchronisation ebd., S. 115f. Satansbraten. Ein Film von Rainer Werner Fassbinder. Spielfilm. BRD 1976, Leipzig: Kinowelt Home Entertainment 2007. Das Zitat fällt in Minute 29:14. ‚Satansbraten‘ fehlt in der Textausgabe ausgewählter Fassbinder-Filme, d.i. Michael Töteberg (Hg.): Fassbinders Filme. 5 Bde., Frankfurt a. M. 1990–1991. Im Folgenden zitiere ich daher alle Dialoge nach meiner Transkription und zitiere im Haupttext die Spielminute.
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den toten Hund des Führers‘. Doch von der Schreibkrise bis zum finalen „Epos aus den Niederungen und Kloaken des Menschseins“ (1:37:34), wie sein Verleger Kranz’ neuen Roman charakterisiert, ist noch ein langer Weg, und diesen durchläuft Kranz über weite Strecken als produktive Auseinandersetzung mit Stefan George. Der Name ‚George‘ fällt erstmals in der 33. Spielminute und bleibt bis in die 75. Minute bestimmend, als Kranz sich mit den Worten „Stefan George ist tot! […] Aber ich bin erwacht!“ (1:13:23) von dem Vorbild lossagt. Bezeichnend ist schon, wie Georges Werk eingeführt wird: Kranz’ neues Projekt, ein Interviewbuch mit einer Prostituierten (Y Sa Lo), scheitert, weil Kranz keine Fragen einfallen und sich sein Bruder Ernst an der Interviewpartnerin vergeht. Als der cholerische Autor sich rächt und Ernst mit dem Gürtel auf das blanke Gesäß schlägt, empfindet dieser zu Kranz’ Erstaunen sexuelle Lust – da kommt die entscheidende Inspiration! Er stürmt aus dem Zimmer und schreibt wie im Rausch: „Oft kommt es dass das schiffsvolk zum vergnügen | Die albatros – die grossen vögel – fängt“ – versehentlich hat er Stefan Georges bekannte ‚Nachdichtung‘ von Baudelaires ‚L’Albatros‘ niedergeschrieben. Erste Zweifel an der wiedergewonnenen Schaffenskraft weckt bereits die nächste Szene, als Kranz ‚sein‘ neuestes Gedicht im Café verliest, um die geliebte Lisa zu beeindrucken. Nachdem er ‚Albatros‘ auf einem Stuhl stehend vor den staunenden Gästen rezitiert hat, fällt auch Lisas Reaktion verhalten aus: „Es ist ja ganz hübsch. […] Aber eigentlich doch etwas reaktionär, nicht wahr?“ (30:26). Außerdem „kommt’s [ihr] bekannt vor“ (30:33) – Kranz ist empört, noch nie habe er gestohlen. Er werde „auf das unwürdigste“ verkannt! Zuhause jedoch bestätigen sich die Ahnungen: [Kranz wirft sich erschöpft auf sein Bett. Im Hintergrund nähert sich Luise mit Ernst. Luise verliest Georges ‚Albatros‘.] Luise: „Oft kommt es dass das schiffsvolk zum vergnügen | Die albatros – die grossen vögel – fängt | Die sorglos folgen wenn auf seinen zügen | Das schiff sich durch die schlimmen klippen zwängt“. Kranz: Das … das ist mein Gedicht! Luise [reicht ihm das Buch]: Hier. [Kranz greift nach dem Buch und betrachtet den Einband.] Kranz: Stefan – George? Luise: So ist es. Stefan George. Kranz [lesend]: Aber das ist, aber das ist unmöglich, das ist … […] Ich habe nicht gestohlen. Oder ich – du musst mir glauben, Luise, wirklich! Luise: Aber ich glaub dir ja … sowas gibt’s! Sowas gibt’s immer wieder. Wirklich. [Sie weint.]
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Kranz: Stefan George! Warum ausgerechnet Stefan George? [Er schlägt sich das Buch an den Kopf. […] Luise verlässt den Raum, Ernst bleibt zurück. Kranz liest Georges Baudelaire-Übertragung ‚Einklänge‘:] „Parfüme gibt es frisch wie kinderwangen | Süss wie hoboen grün wie eine alm – | Und andre die verderbt und siegreich prangen | Mit einem hauch von unbegrenzten dingen · | Wie ambra moschus und geweihter qualm | Die die verzückung unsrer seelen singen“. Ernst: [klatscht begeistert] Kranz: Hat dir das wirklich gefallen? Ernst [zeigt auf das Buch]: Schöne Fliegen! Schön! Kranz [wendet sich ab]: Jaaa, das ist auch von mir. – Oder? Ernst: [nickt] (31:42–33:21)
Während einige Minuten später mit „Wo sind die perlen süsse zähren“ und „Rückgekehrt vom land des rausches“ aus dem zweiten Buch des ‚Stern des Bundes‘ (1914) auch zwei genuine George-Gedichte zitiert werden, tritt George in den ersten Szenen vor allem als BaudelaireÜbersetzer in Erscheinung. Mit Kranz’ Einsicht, sich in seiner Originalität zwar getäuscht zu haben, mit dem neuen Stil aber Zustimmung finden zu können, beginnt seine sukzessive Identifikation mit Stefan George. Wieder ist es der debile Bruder Ernst, der dazu den Anstoß gibt. Als Ernst ihm eines Abends aus dem ‚Stern des Bundes‘ vorliest („Verhülltes sprossen keusche blühe | Ein kühles licht ein herber hauch“), stößt er beim Umblättern auf die Bildtafeln mit zwei Fotografien des mittelalten George, die er Kranz umgehend zeigt (siehe Abb. 1).16 Kranz entreißt ihm das Buch, schlägt Ernst damit auf den Kopf, stößt den Bruder zu Boden und rennt zum Bad, um sich dort vor dem Spiegel, die George-Fotografien in der Hand, und angespornt von Selbsthass, zu schminken – er wird nun zu Stefan George (35:00–35:58). Die Frisur wird entsprechend angepasst, ein Schneider wird beauftragt, ihm einen Anzug „im Stil der Jahrhundertwende“ (47:21 und 49:56) anzufertigen. Weihevoll spricht er von nun an in trivialen Sentenzen („Der Tod ist das schönste am Leben!“ [48:48], „Im Wahnsinn liegt das wahre Genie!“ [48:57]) und behandelt seine Umgebung herrischer als je zuvor.
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Das aufgeschlagene Buch entspricht den Seiten 82f. in Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, Düsseldorf – München 21968.
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Abb. 1: Ernst entdeckt Georges Konterfei
Zum neuen Objekt der Herrschsucht wählt Kranz seine neurotische Verehrerin Andrée (Margit Carstensen), die ihm bereits seit längerem bewundernde Briefe schreibt und nun endlich von Kranz nach München zitiert wird. In einem Café teilt er ihr mit, ein neues Vorbild gefunden zu haben: Kranz: Mögen Sie Stefan George? Andrée: Stefan … George …? Aber? Kranz [beugt sich über sie]: Ob Sie ihn mööööögen?! Andrée: Ohja! Ich glaube schon. Seine Gedichte sind … sehr sehr schön, nicht? Kranz: Ja. Er ist der größte deutsche Dichter. Andrée: Finden Sie? Vielleicht. Vielleicht haben Sie recht. Gewiss. Aber … aber hat er nicht … ich meine … hat dieser Stefan George nicht viel Theater um sich gemacht? Kranz: Nein! Nein! Das war kein Theaterrrrrrrr … Andrée: Entschuldigen Sie bitte … ich … Kranz: Ach das macht ja auch nichts, woher sollten Sie das auch wissen. Aber das, was Sie Theater nennen, das ist in Wirklichkeit etwas sehr Ernstes, sehr Wahres gewesen. Stefan George wollte, dass seine Gedichte in einem gewissen Rahmen vorgetragen werden. Und nicht aus dem ihnen adäquaten Raum
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herausgerissen werden. Die Sprache Georges ist das kristallklarste Deutsch, das je geschrieben wurde. Vergleichbar allenfalls der Sprache Nietzsches, also reine, wahre Kunst. Und diese Kunst braucht einen gewissen Rahmen. Die kann man nicht in der Straßenbahn erspüren, oder auf dem Klo. Andrée: Auf dem Klo. [Sie ergreift ihr Glas und schlabbert den Cognac.] Kranz: Ja, da braucht es eben die innere Bereitschaft des Menschen. [Kranz erhebt sich und streift sein Cape ab.] Der Mensch muss sich darauf einstellen können, er muss bereit sein. Er muss für diese Sprache glühen. Glühen! [Andrée hebt das Cape auf und streift es Kranz über.] Und das können wahrhaft die wenigsten! Sich öffnen für etwas Großes. Und deshalb hat George sich in einem bestimmten Kreis aufgehalten, und diesem Kreis seine Gedichte vorgetragen. Die Reinheit sollte nicht verletzt werden! [Er droht umzustürzen, wird von Andrée gefangen.] Andrée: Wie Sie schwärmen! Wie schön Sie sind, wenn Sie schwärmen! Kranz: Finden Sie … ich bin ihm ähnlich? Andrée: Sie haben die Kraft, zu sein wie Sie wollen! Kranz: Ja … [Die Kamera zoomt von der Halbtotalen in die Großaufnahme.] … ich habe die Kraft, Stefan George zu sein. (40:50–42:57)
Kranz rechtfertigt seine Konversion vom Poète engagé zum Ästhetizisten mit Georges sprachlichem Vermögen sowie mit einer kunstreligiösen Aura, deren Schutz das „Theater“ einer Verehrergemeinde erfordert habe. Seine Begeisterung für die „reine, wahre Kunst“ kontrastiert komisch mit der kleinbürgerlichen Umgebung des Cafés, in dem er seine Gedanken vorträgt, sowie vor allem mit seinem Gegenüber, der verhärmten und unterwürfigen Andrée, die just in dem Moment wie ein Hund ihren Cognac schlabbert, als Kranz sich in höchster Ekstase befindet. In der Folge setzt der Dichter seine „Sklavin“ (1:17:22) Andrée einer Reihe von erniedrigenden ‚Strafen‘ aus – er sperrt sie in den Keller, wo sein Bruder Ernst sie vergewaltigt; er zwingt sie, in einem Sommerkleid durch die kalte Winternacht zu spazieren; sie bekommt Fieber und droht zu sterben; er setzt sich auf sie, wenn ein Stuhl fehlt, und befiehlt ihr, unter den Teppich zu kriechen, wenn er ihrer nicht mehr bedarf (1:16:51). Kranz nutzt Andrées gesamte Ersparnisse, um seine Verkleidung als Stefan George zu perfektionieren. Zu diesem Zweck engagiert er fünf junge Schauspieler, die sich als Jünger in seiner Wohnung versammeln, damit er ihnen bei Kerzenschein aus dem ‚Jahr der Seele‘ die Gedichte ‚Komm in den totgesagten park und schau‘ sowie ‚Es winkte der abendhauch‘ vortragen kann (1:02:11–1:03:45; siehe Abb. 2).
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Abb. 2: Walter Kranz liest aus dem ,Jahr der Seele‘
Die ‚Jünger‘ sind wenig begeistert („Es ist schon komisch. Obwohl … diese Sprache ist von größter Schönheit, wenigstens stellenweise – nicht?“ – „Doch doch, schön ist es schon.“, 1:03:56), erfreuen sich aber an den Häppchen, die ihnen Luise bereitet hat. Als diese ihren Mann darauf hinweist, er könne authentisch gar nicht George sein – „Dieser George, der war doch schwul, hm? Homosexuell, verstehst du? Homo-se-xu-ell! Der hat’s erfunden, Walter!“ (1:08:42) –, unternimmt Kranz einen letzten Transformationsversuch. Auf einer Bahnhofstoilette engagiert er einen Stricher (Armin Meier), dessen offensive Sexualität ihn allerdings verschreckt, sodass es zum Beischlaf nicht kommt. Stattdessen ‚sublimiert‘ Kranz die Homosexualität des jungen Mannes und präsentiert ihn seinem Jüngerkreis als „Gott der Schönheit“, als neuen Maximin(Abb. 3):
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Abb. 3: ,Maximin‘ versagt bei der Rezitation
Kranz: Freunde! Großes ist uns widerfahren. Der Gott der Schönheit selbst ist mir begegnet, mir, Stefan George! [Er lüftet das Laken neben sich, dahinter der halbnackte, in eine Toga eingewickelte Strichjunge in Denker-Pose. Die Schauspieler kichern.] Der Stricher [rezitiert aus dem ‚Stern des Bundes‘]: Neben weissem birkenstamme | Blank und aller hüllen ledig | Stehst du fest auf blumigem grunde | Denn du bist ein gott der nähe. Kranz [beugt sich zu ihm herab]: Du Göttlicher! Gott du! Maximin! Künde uns von deiner Sphäre! Berichte uns aus deiner Welt! Der Stricher [blickt auf die Schauspieler, stotternd, mit starkem bayerischem Akzent]: Ja … also … da … Kranz [flüstert ihm zu]: Da ist die Poesie … Der Stricher: Da ist die Poesie … die ist da … Kranz: … zu reinem Aroma geworden … Der Stricher: … ist da reines Aroma geworden, die Poesie, und … Ein Schauspieler [flüstert zu einem anderen]: Den kenn ich doch vom Bahnhof! Kranz: Und das Leid und die Verzweiflung … Der Stricher: und das Leid und die Verzweiflung sind … sind woas? Kranz [schreit]: … zu Kunst geronnen! Schauspieler: [lachen laut] Kranz [schreit]: Das, das ist eine Andacht! Das ist eine – eine … Ein Schauspieler: [schaltet das Licht an] Kranz [mit Blick auf den Strichjungen]: Hau ab! Hau ab, du Dilettant, du, du Mörder! [Zu den Schauspielern] Er hat ihn ermordet! Stefan George ist tot.
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Ermordet von einem käuflichen Wesen! Aber ich bin erwacht. Ich spüre die Kraft in mir, die mein ist. Ich werd jetzt auch wieder schreiben. Ihr kommt doch auch, um meine Dichtung anzuhören? Bitte kommt, bitte. Ein Schauspieler: Wenn Sie weiter zahlen, Herr Kranz, hör ich mir auch Ihre eigenen Ergüsse an. (1:12:12–1:14:07)
Nach dieser Szene spielt Stefan George keine große Rolle mehr. Kranz wird durch die mangelhafte Performance des Strichjungen, der beim besten Willen nicht mehr als Messiasgestalt Maximin umzudeuten ist, desillusioniert und sagt sich von dem Vorbild George los. Das allerdings bedeutet noch keine Absage an die Herrenmensch-Ideologie, die vielmehr durch den ‚Tod‘ Georges eine rechte Blüte erfährt. In einem furiosen Finale beginnt Kranz die Arbeit an einem neuen Roman (1:18:00), der den Titel ‚Der Faschismus wird siegen oder Keine Feier für den toten Hund des Führers‘ tragen soll. Luise stirbt im Krankenhaus an ihrer Krebserkrankung, was Kranz nur scheinbar bestürzt, in Wahrheit aber nicht weiter kümmert. Als sich herausstellt, dass Irmgard von Witzleben gar nicht tot ist, sondern plötzlich bei Kranz vor der Tür steht, löst sich jede Handlungsstringenz in Anarchie auf. Ernst erschießt Kranz, aber wieder war die Pistole nur mit Platzpatronen gefüllt. Lisa betritt den Raum: Ihr Mann Rolf hat sie für Andrée verlassen; deshalb zieht sie bei Kranz ein. Alle tanzen und lachen hysterisch, derweil Ernst seine toten Fliegen zählt, denen er die Namen seiner Familienmitglieder verliehen hat (1:43:06). Fassbinders ‚Satansbraten‘ zeigt eine dekadente Gesellschaft von Masochisten und Sadisten, willig Unterdrückten und lustvoll Unterdrückenden, deren Interaktionen sich auf Erniedrigung, Erpressung und Prostitution beschränken. Mit dem tobsüchtigen, geldgierigen und gefühlskalten Walter Kranz stellt Fassbinder einen satanischen Antihelden vor, dessen Gewalt gegenüber seiner Familie und seiner ‚Verehrerin‘ Andrée in kleinbürgerlichen Minderwertigkeitsgefühlen wurzelt. Nachdem er sich von den linken Idealen seiner Erfolgszeit gelöst hat, sieht Kranz in Stefan George den historischen Fluchtpunkt einer poetischen und habituellen Selbsterfindung. Dabei erscheint Georges Ästhetizismus als leere Farce, seine Selbstinszenierung hingegen als reaktionäre Herrschaftsideologie, die jederzeit in Faschismus umzuschlagen droht.
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II. „Warum ausgerechnet Stefan George?“ Drei Erklärungsversuche II.1. Gruppenbildung und pädagogische Macht. II.1. ‚Satansbraten‘ im Werkzusammenhang Fassbinder hat autobiographische Interpretationen von ‚Satansbraten‘ zwar abgelehnt, sie zugleich aber durch entsprechende Interview-Aussagen begünstigt. Er verarbeite in dem Film „eher sehr private Sachen“, gibt er beispielsweise zu Protokoll, und ‚Satansbraten‘ schildere „eine Ecke von mir, ins Groteske übersteigert“.17 Tatsächlich fügt sich ‚Satansbraten‘ nahtlos in einen Problemkomplex ein, der in fast allen Fassbinder-Filmen aus den Siebzigerjahren gestaltet wird und der, glaubt man dem Regisseur, auch auf persönlichen Erfahrungen seit den Antitheater-Tagen und in der Zusammenarbeit mit einem festen ‚Clan‘ von Schauspielern und Produktionsmitarbeitern fußt. Hatte sich Fassbinder bereits in ‚Katzelmacher‘ (1968) mit Gruppendynamiken und ihren subtilen Machtstrukturen befasst, tritt spätestens seit ‚Warnung vor einer heiligen Nutte‘ (1971) das Motiv autoritärer Führung hinzu, die Figur einer charismatischen Persönlichkeit, um die sich eine Gruppe konzentrisch formiert. Ein eingespieltes Filmteam, so dort die Handlung, wartet in der Empfangshalle eines spanischen Hotels auf ihren Regisseur Jeff, flirtet und streitet miteinander, lästert, tanzt und trinkt. Schnell wird klar, wie stark Jeff den Austausch der Begehrlichkeiten und Aggressionen steuert, denn als er anruft, zeigt die Kamera die angespannte Erwartung in den Gesichtern der Schauspieler und Produktionsmitarbeiter in Großaufnahme. Endlich trifft Jeff per Hubschrauber ein. Augenblicklich beherrscht er die Crew durch sein Wechselspiel aus zärtlicher Zuwendung und brüsker Zurückweisung, durch Geschrei, körperliche Gewalt, ungerechtfertigte Kündigungen und wüste Drohungen, dann wieder charmante Komplimente und spontane Heiratsanträge. Während der Filmarbeiten schikaniert er vor allem seinen Geliebten Ricky und seinen Herstellungsleiter Sascha (gespielt von Fassbinder), indem er sich von jenem demonstrativ abwendet und mit 17
Peter W. Jansen: „Ich bin in dem Maße ehrlich, in dem mich die Gesellschaft ehrlich sein lässt“. Rainer Werner Fassbinders Versuch eines Blickes auf Deutschland, seine Arbeit und sich selbst [1978]. In: Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Berlin – Frankfurt a. M. 2004, S. 415–445, hier S. 437; Michael Töteberg: Rainer Werner Fassbinder, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 104.
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Saschas Freundin Babs schläft. „Wir sind doch alle abhängig von dir“, wirft eine Schauspielerin Jeff in einer Szene vor, „[w]eil man nicht mehr kapiert, was passiert. Und Angst hat, ich schwörs dir“.18 In vielen Pressegesprächen hat Fassbinder ‚Warnung vor einer heiligen Nutte‘ als autobiographische Auseinandersetzung mit seiner eigenen „diktatorischen“ Rolle inmitten von jahrelangen Weggefährten, Freunden und Kollegen gedeutet, insbesondere dem Team von ‚Whity‘ (1971).19 Das Scheitern dieses „Traum[s] unserer Gruppe“,20 eines Ensembles, das symbiotisch zusammenlebe und -arbeite, travestiert Fassbinder auch in den George-Analogien von ‚Satansbraten‘.21 Walter Kranz’ Wunsch, Stefan George zu werden, lässt sich als kläglicher Versuch verstehen, eine funktionierende Gruppe von Bewunderern um sich zu scharen. Verwirklichen aber lässt sich das nur im Schein gekaufter Hingabe, und so zerbricht der neue George-Kreis, sobald Kranz seine Jünger nicht mehr bezahlen kann. Fassbinder ironisiert damit das 18
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Warnung vor einer heiligen Nutte. Ein Film von Rainer Werner Fassbinder. BRD 1971. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2011. Der Text des Drehbuchs ist nachzulesen in Michael Töteberg (Hg.): Fassbinders Filme. Bd. 2: Warum läuft Herr R. Amok u.a., Frankfurt a. M. 1990, S. 189–241. Das Zitat ebd., S. 227. – Zur „Choreographie der Beziehungsmuster“ in ‚Warnung vor einer heiligen Nutte‘ siehe ausführlich Hermann Kappelhoff: Das Leben der Gemeinschaft. ‚Warnung vor einer heiligen Nutte‘. In: Ders.: Realismus. Das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin 2008, S. 132–151. Vgl. Christian Braad Thomsen: „Wenn der Druck zu groß wird, werde ich zum Diktator“. Rainer Werner Fassbinder über ‚Warnung vor einer heiligen Nutte‘ (1971). In: Robert Fischer (Hg.): Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Berlin – Frankfurt a. M. 2004, S. 229–233, hier S. 229f. Ebd., S. 230. Er habe, so Fassbinder, „beim ‚Satansbraten‘ versucht, das, wovon ich sonst immer sehr ernsthaft und auch mit so einer Traurigkeit sage, dass es schade ist, dass es halt nicht funktioniert, nämlich die Gruppe – da habe ich versucht, halt so eine Komödie darüber zu machen. Also, ich habe von einem erzählt, der sich eben seine Gruppe zusammenkauft. Ich habe immer gesagt, die anderen haben aus mir den Führer gemacht, wo die anderen sagen, ich hätte mir mein Volk gesucht. So habe ich halt versucht, über mich von außen, von einer negativen Haltung her, die Komödie zu machen, die Komödie über mich, wenn ich so wäre, wie ich vielleicht bin, aber nicht glaube, dass ich’s bin.“ Wolfgang Limmer / Fritz Rumler: „Alles Vernünftige interessiert mich nicht“. Rainer Werner Fassbinder über sein künstlerisches Selbstverständnis und die Wurzeln seiner Kreativität [1980]. In: Fischer (Hg.), Fassbinder über Fassbinder (Anm. 19), S. 493–556, hier S. 542.
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Thema von ‚Warnung vor einer heiligen Nutte‘, denn an die Stelle von Jeff, dem autoritären, aber charismatischen Regisseur setzt er den lächerlichen George-Imitator Kranz, dessen Anhängerschaft weitgehend aus Schauspielern und Prostituierten besteht. Doch vermag es Kranz mit dem namenlosen einzigen Schauspieler, der tatsächlich von Kranz’ und Georges Lyrik begeistert ist, und der unscheinbaren Jungfrau Andrée immerhin auch zwei ‚echte‘ Getreue zu rekrutieren, für die er Leitstern und Lehrer ist. In Fassbinders ironischer Identifikation mit George ist folglich noch ein anderes Leitmotiv dieser Jahre angelegt, nämlich das Verhältnis von Machtausübung und pädagogischem Eros. In seinem Melodram ‚Martha‘ (1974) hatte Fassbinder die Liebe der schüchternen Titelheldin, wie Andrée gespielt von Margit Carstensen, zu dem sadistischen Helmut (Karlheinz Böhm) geschildert, in dem sie nach dem Tod ihres von ihr verehrten Vaters eine Autoritätsfigur sieht. Nachdem Helmut sie geheiratet hat, beginnt er, sie zuerst zu ‚erziehen‘, dann sozial zu isolieren und körperlich wie physisch zu quälen. In ‚Faustrecht der Freiheit‘ (1975), an dem Fassbinder zur gleichen Zeit wie an ‚Satansbraten‘ arbeitete, transponiert er das Pygmalionmotiv der ‚pädagogischen Ehe‘ in ein Münchner Homosexuellenmilieu: Der arbeitslose Schausteller Franz Biberkopf (Fassbinder) gewinnt unverhofft im Lotto und lernt auf einer Bahnhofstoilette den reichen Antiquitätenhändler Max (Karlheinz Böhm) kennen. Dieser umgibt sich mit einem Dandy-Kreis wohlhabender Schwuler, unter denen Franz besonderes Gefallen an dem Unternehmersohn Eugen findet. Willfährig lässt sich der verliebte Franz von Eugen bilden – „Du musst lernen, lernen und nochmals lernen … Kultur musst du lernen“ –,22 wird von ihm in französischer Küche, klassischer Musik und den Finessen großbürgerlicher Wohnungseinrichtung unterwiesen. Eugen, im Umgang unwirsch und herrschsüchtig, nutzt den Lottogewinner Franz jedoch finanziell aus, lässt sich von ihm den Familienbetrieb sanieren und eine teure Wohnung kaufen, bevor er ihn fallenlässt und damit in den Selbstmord treibt. Der thematische Konnex von Erziehung, Demütigung und Unterwerfung klingt in der sadomasochistischen Beziehung von Walter Kranz und Andrée nach. Ähnlich wie Andrée sich von Kranz belehren, ernied22
Faustrecht der Freiheit. Ein Film von Rainer Werner Fassbinder. BRD 1975. Leipzig: Kinowelt Home Entertainment. Das Zitat fällt in Spielminute 1:07:00.
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rigen und finanziell ausnutzen lässt, lässt sich auch Martha willentlich von ihrem tyrannischen Ehemann beherrschen und Franz sich von dem arroganten Unternehmersohn Eugen ausbeuten. Inspiriert ist die Figur der Andrée durch den Roman ‚Les Jeunes Filles‘ (1936) des konservativen Ästhetizisten Henry de Montherlant.23 In Briefen und Tagebuchausschnitten entwirft Montherlant das Porträt des misogynen Schriftstellers Pierre Costals, der mit den Gefühlen seiner Bewunderinnen auf demütigende Weise spielt. Ersuchen sie ihn um Rat oder erflehen die Erwiderung ihrer Liebe, lässt er ihre Briefe entweder wochenlang unbeantwortet oder weist sie kühl zurecht. Je gleichgültiger er sich ihnen gegenüber verhält, desto wahnhafter steigert sich ihre Verehrung für ihn in ihren Briefen. Am ärgsten treibt Costals es mit dem unattraktiven Landei Andrée Hacquebaut, die er sogar nach Paris einlädt, dann aber erneut verstößt. Fassbinder entlehnt dem Roman einzelne Details,24 vor allem aber die Figurenkonstellation aus dem herzlosen Libertin, der sich eine jungfräuliche Verehrerin einlädt, um sie umso hoffnungsloser in den Wahnsinn zu treiben. Indem er Costals in seinem Film zu Kranz verwandelt und ihm einen ‚Kreis‘ von gemieteten Anhängern zur Seite stellt, in den Andrée sich einfügt, verknüpft Fassbinder den homosexuellen Aristokraten Montherlant mit George, das Motiv der Pygmalionbeziehung mit der charis23
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Vgl. Wolfram Schütte / Rainer Werner Fassbinder: Wenn ich nicht arbeite – ich weiß gar nicht, wie das so richtig ist. Ein Gespräch über Fassbinders Frankfurter Erfahrungen und den deutschen Film [1976]. In: Michael Töteberg (Hg.): Die Anarchie der Phantasie. Gespräche und Interviews, Frankfurt a. M. 1986, S. 67–82, hier S. 74: „Auf jeden Fall gibt es da noch eine Frau, die ich Henry de Montherlants Roman ‚Erbarmen mit den Frauen‘ entnommen habe; die schreibt ihm [scil. Kranz] immer, und eines Tages läßt er sie zu sich kommen; und sie wird sein einziger Jünger. Aber eigentlich ist er in seinem Bewußtsein gar kein ‚Herr‘, sondern ein ‚Knecht‘.“ – Fassbinder sah in Montherlants Roman eine biographische Parallele, denn „die Beziehung, die da beschrieben wird, ist genau so eine, wie ich sie auch zu einer Frau hatte – bis hinein in die merkwürdigsten Einzelheiten“. Auf diese Weise sei ‚Satansbraten‘ durchaus „autobiografisch“ zu nennen. Pflaum / Fassbinder, Das bißchen Realität (Anm. 10), S. 14. So lädt Costals Andrée in Paris zum Essen ein und muss bemerken, dass ihre nackten Unterarme ganz schmutzig sind – „Längere Zeit hindurch starrte er ihre Arme an, ohne daß er noch ein Wort hätte hervorbringen können“ (Henry de Montherlant: Die jungen Mädchen. Aus dem Franz. von Ernst Sander, München 1962, S. 65). Ähnlich bemerkt auch Kranz beim ersten Treffen mit Andrée, dass diese ihre „Arme nicht gewaschen“ hat (‚Satansbraten‘, 40:00).
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matischen Gruppenbildung. In der Tat drängen sich die Ähnlichkeiten zwischen Fassbinders Œuvre, Montherlants Roman und dem GeorgeKreis auf: das platonisch-sokratische Ideal des pädagogischen Eros, mit dem George die Gefolgschaft junger Männer an sich band; die Ideologie von ‚Herrschaft und Dienst‘ (Friedrich Wolters), mit der sich Binnenhierarchien rechtfertigen ließen; die Abhängigkeit der Jünger von der Zuneigung des Meisters, von der die Kreismemoiren allenthalben zeugen; schließlich Georges Homosexualität – „Der hat’s erfunden, Walter!“ (1:08:42) –, all dies machte George schlechthin zum Archetyp des charismatischen ‚Pädagogen‘ und seinen Kreis zur naheliegenden Folie für eine gruppensoziologische Selbstreflexion, die ‚Satansbraten‘ fest im autobiographischen Werkzusammenhang der Siebzigerjahre verankert. II.2 „Das gibt’s ja schon“: Autorschaft, Epigonalität und Originalitätsrettung durch Identitätsplagiat Im Mittelpunkt von ‚Satansbraten‘ steht die Idee eines unabsichtlichen Plagiats. Sie berührt das Problem der originären Schaffenskraft des Künstlers. Fassbinder hat in Interviews betont, er habe in ‚Satansbraten‘ eine Angst verarbeitet, die ihn seit längerem umtreibe, nämlich „wie denn das wäre, wenn ich etwas machen würde, von dem nach der Fertigstellung gesagt werden würde ‚das gibt’s ja schon‘, und zwar ganz exakt“.25 Tatsächlich hatte Fassbinder bei der Arbeit an ‚Martha‘ eine „ganz konkrete Erfahrung gemacht mit einer Geschichte, die ich erfunden habe und von der sich herausgestellt hat, dass es die schon gab.“26 25
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Pflaum / Fassbinder, Das bißchen Realität (Anm. 10), S. 12f. Fassbinder weiter: „‚Dann war da noch eine andere Geschichte, die ist mir in Bochum eingefallen. So ein Romanautor, der sich ins Ruhrgebiet zurückzieht, dort mit einer Wirtin lebt und einen Roman schreibt. Und den ganzen Film über sollte man verfolgen können, wie der wirklich hart daran arbeitet, zehn bis vierzehn Stunden am Tag. Als das fertig ist, stellt er fest, daß es genau das schon einmal gegeben hat. Diese Idee hat dann auch wieder jahrelang geruht, war verdrängt oder verschollen in meinem Unterbewußtsein. […]‘ Fassbinder erzählt auch von den literarischen Ambitionen seines Vaters, der gern ein Dichter gewesen wäre. ‚Und ich stelle mir vor, wie glücklich der gewesen wäre, wenn ihm so ein Gedicht gelungen wäre – bis er plötzlich feststellen muß, daß es sein Gedicht schon einmal gegeben hat. Das waren viele Wege, bis diese Geschichte so geworden ist, wie sie jetzt ist‘“ (ebd.). Limmer / Rumler, „Alles Vernünftige interessiert mich nicht“ (Anm. 21), S. 540f.
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Erst kurz vor Drehbeginn wurde Fassbinder nämlich von einem Mitarbeiter darauf hingewiesen, dass die Geschichte bis auf die Details mit Cornell Woolrichs Kurzerzählung ‚For the Rest of her Life‘ (erschienen 1968 im ‚Ellery Queen’s Mystery Magazine‘) übereinstimmte. Zwar kaufte der WDR die Rechte an ‚For the Rest of her Life‘ und die Produktion konnte ohne Verzögerung beginnen, doch scheint Fassbinder dieser Fall eines ‚unbewussten‘ Plagiats beunruhigt zu haben.27 Für Fassbinder birgt das Motiv des geistigen Diebstahls aber nicht nur kreative, rechtliche oder ethische Probleme, sondern wird zum Symptom einer epigonalen Epoche, in der die meisten Geschichten bereits erzählt, die größten Kunstwerke bereits geschaffen worden seien. Ihn habe zu dieser Zeit, so Fassbinder in einem Interview, das Gefühl umgetrieben, er „brauche eigentlich nichts zu machen, weil es alles – wenn auch anders, aber vielleicht auch besser – schon gibt […]. Ich finde, nach ‚La Traviata‘ von Verdi bräuchte man eigentlich kein Kunstwerk mehr zu machen – vollendeter geht’s nicht. Das ist das Maximum der Möglichkeiten abendländischer Kultur“.28 Frustriert durch die Erfahrung mit ‚Martha‘, postuliert Fassbinder eine weiterreichende Krise der Urheberschaft. Fassbinders Epigonalitätsbewusstsein entspricht dem Befund postmoderner Theoretiker, die ‚abendländische Kultur‘ habe ihre avantgardistischen Möglichkeiten erschöpft und müsse künftig auf Zitat, Mimikry und Ironie setzen. Die Gegenwart erscheint so als Spätphase, in der genialische Originalität kaum noch möglich oder wünschenswert, stattdessen literarische Selbstreferentialität geboten ist. Eine ähnliche Zeitdiagnose findet sich beispielsweise bei John Barth, der in ‚The Literature of Exhaustion‘ (1967) „the used-upness of certain forms or exhaustion of certain possibitilies“ feststellt.29 Die französische 27
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Fassbinder erklärte sich das unbewusste Plagiat damit, seine Mutter habe viel übersetzt, „da muß das irgendwie rumgelegen haben“, er müsse es „als Kind gelesen haben […] und vergessen beziehungsweise unbewußt behalten haben“ (zitiert nach Hans Günther Pflaum: Rainer Werner Fassbinder. Bilder und Dokumente, München 1992, S. 45f.). Allerdings war Fassbinder bei Veröffentlichung von Woolrichs Erzählung 1968 kein Kind mehr, sondern bereits 23 Jahre alt. – Zum Kauf der Rechte durch den WDR vgl. auch Herbert Spaich: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk, Weinheim 1992, S. 197. Limmer / Rumler, „Alles Vernünftige interessiert mich nicht“ (Anm. 21), S. 541. John Barth: The Literature of Exhaustion [1967]. In: Ders.: The Friday Book. Essays and Other Non-Fiction, London 1984, S. 62–74, hier S. 64. – Man hat Fassbinders Werk bisher nicht systematisch im Zusammenhang mit postmoder-
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und amerikanische Literaturkritik wandte sich gegen emphatische Autorkonzepte der Moderne, indem sie proklamierte, Innovation sei ohnehin überbewertet, vielmehr sei die intertextuelle Faktur von Literatur zu betonen. „Imagination does not invent the SOMETHING-NEW we too often attribute to it“, verkündet etwa Raymond Federman 1976, „but rather […] it merely imitates, copies, repeats, proliferates – plagiarizes in other words – what has always been there“.30 Vor diesem Hintergrund ist auch Fassbinders ‚Satansbraten‘ zu verstehen. Dabei kommt ausgerechnet Stefan George eine zentrale Rolle für die Auseinandersetzung um Ursprünglichkeit und Plagiat, Epigonalität und Parodie zu. Festzuhalten ist zunächst, dass es sich bei dem von Kranz kopierten Gedicht selbst um eine ‚Nachdichtung‘ eines der bekanntesten Baudelaire-Gedichte handelt. Durch die Wahl von ‚Albatros‘ verdoppelt Fassbinder das Epigonalitätsmotiv, indem er George implizit vorwirft, selbst bereits Baudelaire kopiert zu haben. „Das Gedicht ist eigentlich von Baudelaire, und George hat schon nachgedichtet und eben geglaubt, es sei von ihm“, kommentiert Fassbinder diesen Aspekt
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ner Theoriebildung untersucht, obwohl sich dies lohnen würde. Thomas Elsaesser: American Graffiti. Neue Deutsche Filmemacher zwischen Avantgarde und Postmoderne. In: Jürgen Felix (Hg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader, Bamberg 2002, S. 38–65, behandelt Fassbinder nur sporadisch, etwa seine Adaptation des Gangsterfilms (ebd., S. 48). Neben anderen „Außenseiter[n] des deutschen Films“ habe auch Fassbinder sich von der Postmoderne „das genommen“, „was [er] für [seine] Filme gebrauchen konnte […]“. Marsha Kinder: Ideologische Parodie im Neuen Deutschen Kino […]. In: Felix (Hg.), Die Postmoderne im Kino (Anm. 29), S. 102–144, beschränkt sich auf ‚Die Sehnsucht der Veronika Voss‘ (1982), den Kinder als „parodistische Umschreibung“ von ‚Sunset Boulevard‘ (1950) und damit als Fassbinders ironische Version des Film noir-Genrekinos deutet (ebd., S. 117–126). Tobias Wilhelm: Vorläufer der Postmoderne? Niklashauser Fart. In: Kerstin Stutterheim (Hg.): Come and play with us. Dramaturgie und Ästhetik im postmodernen Kino, Marburg 2014, S. 214–225, untersucht ‚Niklashauser Fart‘ (1970) als „Vorreiter des postmodernen Kinos des Rainer Werner Fassbinder“, bestreitet aber, dass Fassbinders Filme vor ‚Die Dritte Generation‘ (1979) zum postmodernen Kino gezählt werden könnten (ebd., S. 224); ‚Satansbraten‘ findet folglich keine Erwähnung. Raymond Federman: Imagination as Plagiarism [an unfinished paper]. In: New Literary History 7, 1976, S. 563–578, hier S. 565. Zur Poetik des Plagiats vgl. neuerdings Mirjam Horn: Postmodern Plagiarisms. Cultural Agenda and Aesthetic Strategies of Appropriation in US-American Literature (1970–2010), Berlin – Boston 2015, zu Federmann bes. S. 55–75.
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in einem Interview.31 Der Vorwurf der Epigonalität war immer wieder gegen George und vor allem die Beiträger der ‚Blätter für die Kunst‘ erhoben worden. Auch wenn er den Epigonenbegriff ablehnte, orientierte sich George ja tatsächlich stark an der Lyrik des französischen Symbolismus und forderte auch von jüngeren Dichtern eine produktive Nachahmung seiner Dichtung, die in der neueren Forschung als ImitatioPoetik beschrieben wird.32 Daher monierte bereits Rudolf Pannwitz 1906, George bleibe „nach all dem Aufwande an Originalitätspflichtbewußtsein doch ein Vermittler romanischer Formen und romanischer ‚Formstrenge‘“. Ein wahrer Dichter müsse sich von dieser „Nachahmung, diese[r] Gesetzgeberei“ lösen.33 Rudolf Borchardt rügte die „talentlosen Nachahmer“, die seine ‚Blätter für die Kunst‘ mit ihren „Produktionen“ füllten.34 Auch in der Literaturwissenschaft der Sechzigerund Siebzigerjahre (Claude David, Manfred Durzak, Gert Mattenklott) wurde diskutiert, wie epigonal die Lyrik der George-Schule gewesen sei.35 Für Fassbinder belegt Georges Ausrichtung an Baudelaire und dem französischen Symbolismus die These, jeder Künstler fühle bisweilen, „dass alles, was er macht, schon einmal gemacht worden ist“.36 Walter Kranz aber findet eine Lösung für den drohenden Originalitätsverlust – er beschließt, selbst zu Stefan George zu werden. Es ist das paradoxe Unterfangen, die identitätsbegründende Schöpfungskraft durch die radikale Anpassung der Autoridentität retten zu wollen: Wenn Kranz sich allmählich in George verwandelt, sich schminkt, kleidet und verhält wie dieser, sich einen Kreis schafft und sogar homose31
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Limmer / Rumler, „Alles Vernünftige interessiert mich nicht“ (Anm. 21), S. 541. – Für Fassbinders Behauptung, George selbst habe zeitweilig geglaubt, ‚Albatros‘ stamme von ihm selbst, gibt es keinen Anhaltspunkt. Vgl. Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis, Berlin – New York 2011 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 69), bes. S. 29–92; Eschenbach grenzt freilich den Imitatio-Begriff streng von ‚Epigonalität‘ ab, der „im Kreis negativ konnotiert“ sei und verwendet wurde, „um das eigene Imitieren davon abzugrenzen“ (ebd., S. 16). Rudolf Pannwitz: Kultur, Kraft, Kunst. Charon-Briefe an Berthold Otto, Leipzig 1906, S. 123. Zitiert nach Eschenbach, Imitatio (Anm. 32), S. 291. Rudolf Borchardt: Rede über Hofmannsthal. Öffentlich gehalten am 8. September 1902 zu Göttingen, Leipzig 1905, S. 18; das Zitat auch bei Eschenbach, Imitatio (Anm. 32), S. 307. Vgl. Eschenbach, Imitatio (Anm. 32), S. 15f. Limmer / Rumler, „Alles Vernünftige interessiert mich nicht“ (Anm. 21), S. 541.
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xuell zu werden versucht, dann sind seine (sprich: Georges) Gedichte nicht mehr plagiiert, sondern ‚gehören‘ in gewisser Weise wieder ihm, sind seine originären Erzeugnisse. Dem versehentlichen Werkplagiat, so die Idee, muss das willentliche Identitätsplagiat folgen, wobei dieses jenes zum Erlöschen bringt. Die Autor-Mimikry zwecks Werkwiederholung erinnert an Jorge Luis Borges’ bekannte Erzählung ‚Pierre Menard, der Autor des Quijote‘ (1939), in der ein symbolistischer Dichter eifrig versucht, „Miguel de Cervantes [zu] sein“, d.h. „[g]ründlich Spanisch lernen, den katholischen Glauben wiedererlangen, gegen die Mauren oder gegen die Türken kämpfen, die Geschichte Europas im Zeitraum zwischen 1602 und 1918 vergessen“, um am Ende Cervantes’ ‚Don Quijote‘ „Wort für Wort und Zeile für Zeile“ erneut zu verfassen.37 Auch Kranz wünscht sich „die Kraft, Stefan George zu sein“ (42:53), das Vorbild also nicht nur nachzuahmen, sondern sich wirklich in ihn zu verwandeln, damit sich die Zuschreibung von Georges Baudelaire-Übertragungen und anderen Gedichten (Kranz über Georges ‚Einklänge‘: „Jaaa, das ist auch von mir. – Oder?“ [33:21]) nachträglich bewahrheiten kann. Wie bei Borges beruht sein Einfall auf der Inversion des dichterischen Schaffensprozesses: Nicht der Autor erzeugt seine Dichtung, sondern die Dichtung besteht bereits und erfordert eine Adaptation des Autors. Hatte George einst ‚Komm in den totgesagten park und schau‘ und ‚Es winkte der abendhauch‘ geschaffen, so erschaffen diese Gedichte in gewisser Weise einen neuen George, der sie sich als sein eigenes Werk aneignet. Für diese Konfiguration eignete sich George aus mehreren Gründen. Zunächst kann Georges Selbstinszenierung als Poeta vates als Paradigma auratisierter Autorschaft gelten und ist daher leichtes Ziel für Pa37
Jorge Luis Borges: Pierre Menard, Autor des Quijote. In: Ders.: Gesammelte Werke. Nach der Übers. von Karl August Horst bearbeitet von Gisbert Haefs. Bd. 3/I: Erzählungen 1939–1944, München – Wien 1981, S. 112–124, hier S. 117. Die „Methode“ der „totalen Identifikation“ (S. 116) lehnt Menard bald schon als „zu leicht“ ab und beschließt stattdessen, „fernerhin Pierre Menard zu bleiben und durch die Erlebnisse Pierre Menards zum Quijote zu gelangen“. Schließlich gelingt es ihm, Teile des Quijote wortwörtlich erneut zu schreiben. Menards’ ‚Quijote‘ sei jedoch viel „subtiler“ (S. 120) als Cervantes’ (exakt gleichlautender) Text und überhaupt „eine Offenbarung“ (S. 121), wie der Erzähler in der Folge ausführlich darlegt.
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rodien. Zudem beziehen sich bei George Entstehungsumfeld und Gestalt seiner Lyrik eng aufeinander; Autor und Werk bilden bei ihm eine Einheit, konstituierte sich doch der Kreis über die Lesung und Auslegung seiner Dichtung und andererseits die Dichtung über ihre Funktion im Kreis. Schließlich forciert Georges selbstherrliches Präfigurationskonzept, demzufolge er der Wiedergänger wahlweise Dantes, Caesars, Friedrichs II. oder Hölderlins sei, das Modell pontifikaler Traditionsstiftung, das Fassbinder mit Kranz’ trivialem Versuch, George zu werden, ironisiert. George erscheint in ‚Satansbraten‘ nicht zum ersten Mal als Folie für Fragen von Epigonalität und transformierter Autoridentität. Bereits zwei Jahrzehnte zuvor hatte Wolfgang Hildesheimer in seiner Kurzerzählung ‚Bildnis eines Dichters‘ (1951) in ähnlichem Sinne auf George angespielt. Hildesheimer, der sich intensiv mit Georges Lyrik befasste,38 erzählt von dem strengen Literaturkritiker Alphons Schwerdt, der beschließt, nachdem er mit seinen Rezensionen „einige ausgewählte Dichter der Jahrhundertwende“ hat verstummen lassen, unter dem Namen ‚Sylvan Hardemuth‘ selbst Gedichte zu schreiben, nur um diese vernichtend zu besprechen.39 Allerdings beginnt das Publikum bald, ‚Hardemuths‘ Lyrik höher zu schätzen als die brillanten Verrisse, mit denen Schwerdt sie bedenkt. Absichtlich verfasst dieser immer schlechtere Verse, wählt einen Stil, „den man selbst vom damaligen Standpunkt aus nur als krasses Epigonentum ansprechen kann“, gibt gar eine „Sammlung neobarocker Sonette“ heraus – alles vergebens, „Hardemuth war der Liebling des Publikums geworden“,40 gewinnt gar den Nobelpreis, während der rezensierende Schwerdt als missgünstiger Zoilus angesehen wird. Nun kam es aber so, daß Hardemuth – denn so dürfen wir ihn von jetzt an nennen – sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr in seine titanische Rolle einfühlte und seine frühere Existenz zu vergessen, oder wenigstens zu verdrängen, begann. Nicht nur ermöglichte ihm die im Lauf der Zeit erworbene Fertigkeit, 38
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Vgl. Aurnhammer, Poetische Rezeption (Anm. 4), S. 884f., mit verschiedenen Beispielen, allerdings ohne Hinweis auf die Erzählung ‚Bildnis eines Dichters‘. Wolfgang Hildesheimer: Bildnis eines Dichters. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Christiaan Lucas Hart Nibbrig / Volker Jehle. Bd. 1: Erzählende Prosa, Frankfurt a. M. 1991, S. 37–39, hier S. 37. Die Erzählung erschien zuerst in ‚Die neue Zeitung‘ (5. 3. 1951), dann in ‚Lieblose Legenden‘ (zuerst 1952). Ebd., S. 38.
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in seiner Lyrik von einer Stilepoche zur anderen zu springen – wahrhaft ein Rhapsode des Eklektizismus! –, sondern er paßte nun auch das tägliche Leben seinem Dichtertum an. Die zahlreichen Besucher empfing er in einem hohen Lehnsessel sitzend, eine Toga um die Schultern und ein Plaid über den Knien, in einer Pose also, die er den traditionellen Darstellungen von Dichterfürsten entnommen hatte, die sich bekanntlich, um ihre Unsterblichkeit zu wahren, gegen Zugluft schützen müssen. Auch umgab er sich mit Jüngern und Jüngerinnen, die zu seinen Füßen auf Kissen – er nannte sie Jüngerkissen – saßen und ihn mit „Meister“ anredeten. Ein Portrait, wenige Jahre vor seinem Tode gemalt, zeigt ihn auf seinem Sessel, einen Federkiel in der linken, eine Pergamentrolle in der rechten Hand […].41
Mit der Schilderung der ‚Jünger‘, die zu Füßen Hardemuths sitzen und den Dichter als ‚Meister‘ apostrophieren, spielt Hildesheimer deutlich auf George und seinen Kreis an. Das Plaid, das sich Hardemuth über die Knie legt, alludiert zwar eine bekannte Mallarmé-Photographie, in der das wollene Tuch über dessen Schultern gefaltet ist.42 Aber das Detail von Hardemuths Kostümierung mit der „Toga um die Schultern“ verdankt sich Georges Schwabinger Antikenfeste, deren fotografische Dokumentation seit Robert Boehringers ‚Mein Bild von Stefan George‘ (zuerst 1951) der Öffentlichkeit zugänglich war.43 George verkleidete sich mal als Caesar, mal als Dante, und gibt auch in dieser Hinsicht das Vorbild ab für Hardemuths eklektizistisches Self-fashioning. Hildesheimers George-Allusion liegt eine ähnliche Gedankenfigur wie ‚Satansbraten‘ zugrunde: Alphons Schwerdt produziert epigonale Gedichte und schreibt sie der pseudonymen Autorfigur Hardemuth zu. Nachdem diese sich als erfolgreicher erweisen als seine Kritiken, vergisst er die ursprüngliche Konstruktion und modifiziert seine Autorschaft durch Kostümierung und ein kreisähnliches Arrangement. So überwindet er seine Schaffenskrise, die ihn anfänglich verbittert,44 indem er sein Leben in Einklang mit seiner Dichtung zu bringen vermag. Ähnlich wie Kranz sich in Stefan George verwandelt, um sich dessen Lyrik anzueignen, erfindet auch Schwerdt eine an George orientierte Autoridentität, die der Epigonalität seiner Gedichte entspricht.
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Ebd., S. 39. Boehringer, Mein Bild (Anm. 16), S. 22. Vgl. ebd., S. 87–92. Vgl. Hildesheimer, Bildnis eines Dichters (Anm. 39), S. 38.
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Durch die Arbeit an ‚Martha‘ gewann für Fassbinder das Problem der „exhaustion“, der scheinbaren Erschöpfung aller kreativen Möglichkeiten, an Dringlichkeit. ‚Satansbraten‘ ist Fassbinders Antwort auf seine Originalitätskrise. John Barth hat über Borges’ ‚Pierre Menard‘ bemerkt, es handele sich um „a remarkable and original work of literature, the implicit theme of which is the difficulty, perhaps the unnecessity, of writing original works of literature“45 – das ließe sich auch über ‚Satansbraten‘ behaupten: In Kranz’ George-Appropriation ridikülisiert der Film den Kult um Autorschaft und unterstellt, dass diese selbst auf Epigonalität und Identitätsaneignung beruht. Gerade in dieser Volte aber ist ‚Satansbraten‘ originell. II.3 „Es ist ja ganz hübsch. Aber eigentlich doch etwas reaktionär, nicht wahr?“ Ästhetizismus, Herrenmenschideologie, Faschismus – und George Walter Kranz’ Identifikation mit Stefan George vollzieht nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische Kehrtwende. Auch wenn der Film sein schriftstellerisches Werk vor der Schaffenskrise im Film nicht ausführlicher rekapituliert, wird Kranz doch als „Poet der Revolution“ bewundert (29:14).46 Der vermeintliche Mord an der Adeligen Irmgard von Witzleben kann zu Beginn noch als „so eine Art revolutionärer Akt, nicht wahr?“ durchgehen (Kranz darauf: „Oh ja doch ja, jaja – die Revolution!“, 22:36). Und der Verleger ist am Ende begeistert von dem neuen Roman ‚Der Faschismus wird siegen‘, weil dies kein „verkrampfter linker Kitsch mehr“ sei, „wie Sie ihn sich früher aus den Fingern gesogen haben. Das hat Größe“ (1:37:21). So rechnet ‚Satansbraten‘ auch mit dem Scheitern linker Revolutionsphantasien ab. Schon in ‚Mutter Küsters Fahrt zum Himmel‘ (1975) hatte Fassbinder gegen die Revolutionäre der Studentenbewegung geätzt: Nachdem Fabrikarbeiter Küster aus Wut über Massenentlassungen seinen Vorgesetzten erschossen hat, vertraut sich seine schüchterne Witwe dem kommunistischen 45 46
Barth, The Literature of Exhaustion (Anm. 29), S. 69. Ursprünglich war geplant, Kranz’ linke Vergangenheit stärker zu betonen. Fassbinder beschreibt in einem Interview über seinen nächsten Film, Kranz habe „angefangen, sich politisch zu engagieren, aber halt als ein Poet, und er hat Oden auf Cuba geschrieben“. Schütte / Fassbinder, Wenn ich nicht arbeite (Anm. 23), S. 74.
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Ehepaar Tillmann sowie einem jungen Anarchisten an. Diese instrumentalisieren sie aber nur zu Propagandazwecken und tragen schließlich mit ihrem gewalttätigen Revolutionspathos dazu bei, dass Mutter Küster bei einer Redaktionsbesetzung erschossen wird. Mit der Gestalt des Linksintellektuellen Kranz wirft Fassbinder den 1968ern Einfallslosigkeit und Relevanzverlust vor; er mokiert sich über ihren Rückzug in die familiäre Kleinbürgerlichkeit, wo sie diktatorisch im Häuslichen herrschten.47 Er pointiert die Abkehr von ihren emanzipatorischen Idealen durch die satirische Wendung, dass ausgerechnet der ‚Poet der Revolution‘ sich nicht nur als autoritärer Kleinbürger entpuppt, sondern sich im Laufe des Films vollends zum Reaktionär wandelt, ja gar Stefan George zu werden versucht. Schon dieser Witz ist aufschlussreich für das George-Bild der Siebzigerjahre: Weiter entfernt vom linken Zeitgeist ging’s eben nicht, verbildlicht der Wandel von Kranz zu George doch den Vorwurf, ’68 schlage in sein glattes Gegenteil um. Dass spießbürgerlicher Familienterror, ästhetischer Meisterkult und politischer Neo-Faschismus einander letztlich bedingen, weil sie auf gemeinsamen sozialen Sadomasochismen beruhen, auf spätkapitalistischen Unterwerfungs- und Unterdrückungsmechanismen, diese Einsicht teilte Fassbinder mit der zeitgenössischen Kunst und Literatursoziologie. Auch dort versuchte man, Georges Ästhetizismus als Vorstufe des Faschismus zu entlarven, seinen persönlichen Führungsanspruch als Diktatur in statu nascendi. Anselm Kiefer beispielsweise integriert Mitte der Siebzigerjahre mehrere George-Porträts in seine Historienbilder, die sich anhand der Herrmannschlacht mit deutscher Identität und 47
In einem Interview mit der ‚Frankfurter Rundschau‘ ließ Fassbinder 1976 verlauten, ‚Satansbraten‘ sei „ein Versuch, der mit vielen Dingen zu tun hat, mit denen ich zu tun habe, ganz privat; der etwas mit meiner Haltung zu tun hat, wenn ich Zeitung lese, welche Haltung ich entwickle zu manchen Sachen, oder wenn ich mit Leuten rede, die immer noch so reden, als wär noch 1968, und was dann bei mir passiert, was da für Aggressionen bei mir entstehen, so dass ich manchmal sagen möchte: ‚Diese Arschlöcher, das kann einfach nur Scheiße sein, wenn diese Trottel immer noch daran hängen oder so daran hängen, wie die das tun, so hirnlos und ohne etwas gelernt zu haben.‘ Na, was da also für Aggressionen bei mir entstehen und wie ich das doch wieder überwinde, weil ich mir sage, das ist aber doch der richtige Weg. Aus diesem Gefühls- und Gedankenkuddelmuddel versuche ich, eine klare Geschichte zu erzählen“ (Schütte / Fassbinder, Wenn ich nicht arbeite [Anm. 23], S. 75).
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den kulturellen Voraussetzungen des Nationalsozialismus befassen. Neben Geisteshelden wie Hölderlin, Kleist und Nietzsche, aber auch neben Bismarck und Horst Wessel erscheint George hier in einer ‚Ahnengalerie‘ des radikalen Nationalismus.48 Etwa zur gleichen Zeit blickt Gert Mattenklott mit „kritische[r] Distanz dem Dichter wie seinem Werk gegenüber“ auf die „reaktionäre Verstocktheit [von Georges] Selbstdarstellung“,49 auf das „gewaltsam Autoritäre“, das seine Gedichte „fast unverhüllt propagieren“,50 auf den „faschistoide[n] Charakter des Rufes nach Zucht und Ordnung um ihrer selbst willen“.51 In seiner im ‚Satansbraten‘-Jahr 1976 veröffentlichten Dissertation ‚Stefan George. Zivilisationskritik und Eskapismus‘ nimmt Werner Strodthoff Mattenklotts Ideologiekritik auf, pointiert sie aber noch, indem er gut dialektisch argumentiert, die „antibürgerliche, artistische Revolte“ Georges gehe „aus dem Bürgerlichen selbst“ hervor und werde durch ein „autoritäre[s] Führungsprinzip[ ]“ und eine „gefährlich irrational[e]“ Sprache flankiert, die ihn „zumindest verbal (wenn nicht sogar gesinnungsmäßig) in die Nähe des heraufziehenden ‚Dritten Reiches‘“ rücke.52 Strodthoff führt diese Nähe nicht nur auf den Einfluss von Nietzsches Zivilisationskritik zurück – darauf wird zurückzukommen sein –, sondern in bemerkenswerter Deutungskoinzidenz mit Fassbinders Film auch auf „Georges ‚Masochismus‘“ und die „sadistischen Tendenzen“ in seiner Lyrik.53 Georges Selbststilisierung als Märtyrer und Gequälter sei eng verbunden mit aggressiver „Despotie“, mit Hass auf die Massengesellschaft und einem immer wieder hervorbrechenden Straf- und Geißelungswunsch, der sich zwar in Rollenlyrik maskiere, letztlich aber 48 49
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Vgl. Schütze, Bildkünstlerische Rezeption (Anm. 7), S. 931–934. Gert Mattenklott: Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970, S. 176 und S. 178. Ebd., S. 178. Ebd., S. 216f. – Weitgehend übereinstimmend argumentiert auch Martin A. Siemoneit: Politische Interpretationen von Stefan Georges Dichtung. Eine Untersuchung verschiedener Interpretationen der politischen Aspekte von Stefan Georges Dichtung im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1933, Frankfurt a. M. – Bern – Las Vegas 1978. Werner Strodthoff: Stefan George. Zivilisationskritik und Eskapismus, Bonn 1976 (= Studien zur Literatur der Moderne 1), S. 11 und S. 289. Den Hinweis auf Strodthoffs Studie verdanke ich Egyptien, George-Rezeption seit 1945 (Anm. 6), S. 1029. Strodthoff, Stefan George (Anm. 52), S. 156–173, hier S. 156.
‚Satansbraten‘. Rainer Werner Fassbinders Komödie über Stefan George
205
in dem „herrischen Wesen […]“ des Autors wurzle:54 „Georges Sprache enthüllt allzumal die starke Egozentrik des Sprechenden, dem die Angesprochenen untertan und zugleich ausgeliefert sind“.55 Ganz im Einklang mit diesen Stimmen beruht auch ‚Satansbraten‘ auf der Vorstellung, Georges Kreisstiftung im Zeichen des ‚schönen Lebens‘ trage selbst totalitäre Züge. Wie Kiefer und Strodthoff sieht auch Fassbinder eine ideologische Affinität Georges zu Friedrich Nietzsche. Sie klingt bereits in der Café-Szene zwischen Kranz und Andrée an, wird dort aber noch ästhetisch begründet – Georges „kristallklar[es] Deutsch“ sei allenfalls „der Sprache Nietzsches“ vergleichbar (41:56). Das Nietzsche-Zitat „Die Welt vermenschlichen, d.h. immer mehr uns in ihr als Herren fühlen“ wird in der Folge mehrfach von Kranz und seinem Bruder Ernst verlesen (11:57, 1:14:07 u.a.) und als Maxime einer Weltanschauung präsentiert, der zufolge die ‚Starken‘ das Recht haben, die ‚Schwachen‘ zu unterdrücken.56 „Ich bin bedeutender als du. Ich bin ein Dichter“, rechtfertigt Kranz seinen Versuch, die geliebte Lisa im Schloss Nymphenburg zu vergewaltigen; Andrée dagegen akzeptiert Kranz’ Herrschaft mit den Worten „Es ist mein höchstes Gut, von einem Starken benutzt zu werden!“ (1:16:19). Kritisiert Lisa den Missbrauch Andrées – „Ich kann mir nicht helfen, das ist doch Faschismus!“ (1:17:26) –, erwidert Kranz herzlos „Aber ja, meine Liebe! Der Faschismus wird siegen!“ (1:17:33). Erst nachdem Andrée erkannt hat, dass Kranz nicht aus adeligen, sondern kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt, löst sie sich von ihrem Meister, nicht aber von dessen nietzscheanischer Ideologie der Stärke. Als Kranz bei dem Versuch, von einer Prostituierten Geld zu erpressen, von drei Zuhältern verprügelt wird und blutend am Boden liegt, bespuckt die empörte Andrée den „Schwachen“ noch (1:34:47). Fassbinders Engführung von Nietzsches Aristokratismus mit Georges elitärem Selbstverständnis beerbt eine Assoziation, die auf George und seinen Kreis selbst zurückgeht. Nietzsches unbestreitbarer Einfluss klingt unter anderem in Georges ‚Zeitgedicht‘ auf den Philosophen an, 54 55 56
Ebd., S. 165 und 166. Ebd., S. 169. Es entstammt Nietzsches ‚Nachgelassenen Fragmenten‘, d.i. Friedrich Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. VII.2: Nachgelassene Fragmente. Frühjahr–Herbst 1884, Berlin – New York 1974, S. 88.
206
Nicolas Detering
in dem Nietzsche zum neuen Christus stilisiert wird („Dann aber stehst du strahlend vor den zeiten | Wie andre führer mit der blutigen krone“), während „[b]löd treibt die menge drunten · scheucht sie nicht!“57 Für manche ‚Jünger‘ zählte Nietzsche daher zu den Vorläufern Georges. Insbesondere Ernst Bertrams ‚Nietzsche‘ (1918) – erschienen bei Georg Bondi mit dem Signet der ‚Blätter für die Kunst‘ – sowie Ernst Gundolfs und Kurt Hildebrandts ‚Nietzsche als Richter unserer Zeit‘ (1923) stifteten dem Kreis ein ‚mythologisches‘, dabei aber widersprüchliches Nietzschebild, welches das ‚Prophetentum‘ Nietzsches betonte (so Bertram) oder eher an die lebensphilosophische Kultur- und Zeitkritik anschloss (so Hildebrandt).58 George selbst jedoch lehnte Nietzsche zu diesem Zeitpunkt bereits ab, warf ihm den Treuebruch an Wagner und eine generelle „Liebesunfähigkeit“ vor, die ihm den Zugang zum platonischen Erziehungsgedanken verstellt habe.59 Die in ‚Satansbraten‘ anklingende Suggestion, Georges Herrschaftsanspruch sei mit dem nietzscheanischen Willen zur Macht wesensgleich, resultiert somit zwar aus einer in der Kreispublizistik durchaus angelegten Konstellation, verkürzt aber die kreisinternen Deutungskonkurrenzen um Nietzsche und politisiert den antimodernen Prophetismus von Philosoph und Dichter zur Verwandtschaft zweier Proto-Faschismen. *
57
58
59
Stefan George: Nietzsche. In: Ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Bd. VI/VII: Der Siebente Ring, Stuttgart 1986, S. 12f. Das Verhältnis Georges und des George-Kreises zu Nietzsche ist gut erforscht; ich stütze mich v.a. auf die Studie von Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis, Frankfurt a. M. u.a. 1989; Weber unterscheidet fünf Phasen des Nietzsche-Bildes im George-Kreis, nämlich Nietzsche als Mitkämpfer, Nietzsche als Erlöser, Nietzsche als Prophet, Nietzsche als Vorläufer und Nietzsche als Gescheiterter. George selbst habe Nietzsche in den späten Jahren zunehmend abgelehnt, sein Kreis hingegen den Dichter Nietzsche gegenüber dem Philosophen aufgewertet. Vgl. Peter Trawny: George dichtet Nietzsche. Überlegungen zur Nietzsche-Rezeption Stefan Georges und seines Kreises. In: George-Jahrbuch 3, 2000/2001, S. 34–68, hier S. 65. Siehe auch Weber, Die Bedeutung Nietzsches (Anm. 58), S. 88–104.
‚Satansbraten‘. Rainer Werner Fassbinders Komödie über Stefan George
207
„Warum ausgerechnet Stefan George?“ (32:40), verzweifelt Walter Kranz zu Beginn des Films. Meine drei Antworten auf die Frage, weshalb sich Fassbinder dazu entschied, eine anarchische Komödie ‚ausgerechnet‘ über Stefan George zu drehen, lassen sich knapp resümieren: erstens, weil sich in Georges Selbstdarstellung als Meister eines Kreises von Jüngern ein autobiographisches Lieblingsthema Fassbinders spiegelt, nämlich das Verhältnis von charismatischer Gruppenbildung und pädagogischer Manipulation, das er in der historischen Folie zugleich ironisieren konnte; zweitens, weil Fassbinder anhand von Georges auratischer Autorinszenierung eine postmoderne Originalitätsskepsis und Plagiatsästhetik verhandelt, die ihn seit seinen Erfahrungen mit ‚Martha‘ umtrieb; drittens, weil sich für ihn am Fall George die gemeinsame Wurzel von kleinbürgerlichem Autoritarismus und dekadentem Meisterkult samt ihrem Umschlagen in die faschistische Diktatur darstellen ließ. III. „A dead, homosexual poet“: Zur filmkritischen Rezeption von ‚Satansbraten‘ und Stefan George Nachdem der Kinostart von ‚Satansbraten‘ verschoben wurde, weil der Verleih zuerst ‚Schatten der Engel‘ in die Kinos brachte, fand die Premiere des Films auf der Mannheimer Filmwoche im Oktober 1976 statt. Dann zeigten ihn ausgewählte Kinos in rund zehn deutschen Großstädten, bevor er in Frankreich und in einigen amerikanischen Programmkinos lief.60 Nach der Uraufführung herrschte im Auditorium „eisiges Schweigen“, und „[b]ei der abendlichen Pressekonferenz sah sich Fassbinder einer zornigen Phalanx des Publikums gegenüber“.61 Angeblich kam es nachts „in einer überfüllten Bierhalle“ noch zu einer „heftige[n], tumultartige[n] Diskussion“, „die rasch in eine Fassbinder-Beschimpfung ausartete“,62 weil man dem Regisseur nun selbst Sympathien für den Faschismus vorwarf – ein Vorwurf, der seit dem Skandal um Fassbinders ‚Der Müll, die Stadt und der Tod‘ (1975) ohnehin im Raum stand.63 60 61 62 63
Vgl. Pflaum / Fassbinder: Das bißchen Realität (Anm. 10), S. 158. Spaich, Fassbinder (Anm. 27), S. 194. Klaus Eder: [Rez. von Satansbraten]. In: Medium 6/12, 1976, S. 30f., hier S. 30. Vgl. dazu Wanja Hargens: Der Müll, die Stadt und der Tod. Rainer Werner Fassbinder und ein Stück deutscher Zeitgeschichte, Berlin 2010.
208
Nicolas Detering
Angesichts des Aufsehens, das ‚Satansbraten‘ erregte, kann die Vielzahl der Besprechungen im In- und Ausland nicht überraschen (siehe Tabelle).64 Die Kritiker waren geteilter Meinung. Moniert wurde zwar vielerorts die Obszönität des Films, doch bestehe in der „perfide[n] Attraktivität des Vorgeführten“ (5, ähnlich auch 13), so die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘, auch ein begrüßenswertes Provokationspotential. Es sei Fassbinders bislang radikalster Film, schreibt ‚Die Zeit‘, und er changiere zwischen dem Slapstick der Marx Brothers und Artauds Theater der Grausamkeit: „Man muß das nicht unbedingt gut finden“ (6), spannend sei es allemal. Nr.
Datum
Zeitung/ Zeitschrift
Verfasser
Titel
1
26. 8. 1976
Frankfurter Rundschau
Wolfram Schütte
„Satansbraten“: Fassbinders neuer Film
2
September / Oktober 1976
Film Comment
Richard Roud
[Bericht aus Berlin]
3
Oktober 1976
epd Kirchen und Film
Peter W. Jansen
Kinonotizen
4
4. 10. 1976
Der Spiegel
Wolfgang Limmer
„Wem schrei ich um Hilfe?“
5
9. 10. 1976
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kraft Wetzel
Ein Höllenspektakel in Mannheim
6
15. 10. 1976
Die Zeit
Hans-Christoph Blumenberg
Schreie und Flüstern
7
24. 11. 1976
Variety
Ronald Holloway
Satansbraten (Satan’s Brew)
8
26. 11. 1976
Süddeutsche Zeitung
Peter Buchka
Adieu, du holde Kunst
9
Dezember 1976
Medium
Klaus Eder
Satansbraten
64
Meine tabellarische Auflistung kombiniert und erweitert erheblich die Listen der ‚Satansbraten‘-Besprechungen bei Töteberg, Fassbinder (Anm. 17), S. 105; Rainer Werner Fassbinder. Mit Beiträgen von Peter Iden u.a. München 41983, S. 324; und Wolfgang Limmer: Rainer Werner Fassbinder, Filmemacher, Hamburg 1981, S. 200f. – Im Folgenden weise ich Zitate aus den Rezensionen mittels der Nummer im Haupttext (ohne Angabe von Seitenzahlen) nach.
‚Satansbraten‘. Rainer Werner Fassbinders Komödie über Stefan George
209
Nr.
Datum
Zeitung/ Zeitschrift
Verfasser
Titel
10
4. 12. 1976
Frankfurter Rundschau
Wolfram Schütte
11
11. 12. 1976
Der Tagesspiegel
Karena Niehoff
Kein Walzer nach links
12
17. 12. 1976
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Wilfried Wiegand
Filme wie Tagebuchblätter
13
11. 2. 1977
Stuttgarter Zeitung
Hans-Dieter Seidel
Ein Überfall wüster Einfälle
14
5. 3. 1977
Kölner StadtAnzeiger
Rolf Thissen
Des Dichters rüdes Dasein
15
15. 3. 1977
Filmbeobachter
Thomas Engel
Satansbraten
16
23. 3. 1977
Weltwoche
Wolfram Knorr
Schriller Irrealitäten-Zoo
17
4. 5. 1977
ZoomFilmberater
Bernhard Giger
Satansbraten
18
5. 7. 1977
film-dienst
Helmut M. Artus
Satansbraten
19
10. 8. 1977
The New York Times
Janet Maslin
Satan’s Brew is cold and bitter
20
11. 8. 1977
Soho Weekly News
Rob Baker
No ceremony for the Fuhrer’s dead dog
21
15. 8. 1977
The New Yorker
Penelope Gilliatt
Japanese Friends, a German Agent Provocateur
22
29. 8. 1977
The Village Voice
Andrew Sarris
A Summer Spate of Sugar and Spite
23
5. 9. 1977
New York
John Simon
German Measliness
24
Mai 1978
Cinématographe
Gilles Gourdon
Le Rôti de Satan
25
Mai 1978
Écran
Raphaël Bassan
Le Rôti de Satan
26
Mai 1978
Cinéma
Joël Magny
Le Rôti de Satan
210
Nicolas Detering
Nr.
Datum
Zeitung/ Zeitschrift
Verfasser
Titel
27
Mai 1978
La Revue du Cinéma
Daniel Sauvaget
Le Rôti de Satan
28
Juni 1978
Téléciné
Jacques Grant
Rôti de Satan
29
Juni 1978
Jeune Cinéma
Andrée Tournès
Le Rôti de Satan
30
Oktober 1978
La Revue du Cinéma
Gilles Dagneau
Le Rôti de Satan
31
Februar 1979
San Francisco Chronicle
Judy Stone
Film explores the ugly roots of Fascism
32
Februar 1980
Monthly Film Bulletin
Gilbert Adair
Satan’s Brew
33
September / Oktober 1981
Film Comment
George Morris
34
1981
New Community Cinema
Vic Skolnick
Rainer Werner Fassbinder’s Satan’s Brew
Tabelle: Besprechungen von ‚Satansbraten‘ in Deutschland, USA und Frankreich, 1976–1981
Die Filmkritiken vermitteln zugleich einen Eindruck davon, wie es mit Bekanntheit und Ansehen Stefan Georges in den Siebzigerjahren bestellt war. Lediglich in zwei Kritiken fällt der Name gar nicht (22, 29). Manchen Rezensenten ist George allerdings nur einen Nebensatz wert, ja bisweilen erwähnen (oder bemerken) die Verfasser nicht einmal, dass mit dem „angemieteten Publikum“ (5), dem Kranz ‚seine‘ Gedichte vorliest, und dem „morbiden Geniekult“ (18), den Kranz einfordert, der George-Kreis karikiert wird. Andere hingegen radikalisieren die Bezüge noch – „Kranz’ / Georges Frau“ sterbe am Ende und „Kranz / George“ werde „von Zuhältern verprügelt“ (3), verdreht ‚Der Spiegel‘ die Handlung –, oder mutmaßen wie die ‚FAZ‘, Fassbinder habe es mit den „albernen Anspielungen“ auf George „irgendeine[m] Schwabinger Literatenzirkel“ (12) zeigen wollen. Bei aller Skepsis hinsichtlich des ästhetischen Gehalts des Films stört sich das deutsche Feuilleton an Fassbinders einseitigem George-Bild keineswegs. Dass Kranz mit der „bewußten Imitation des herrischen,
‚Satansbraten‘. Rainer Werner Fassbinders Komödie über Stefan George
211
schönheitstrunkenen, reaktionären George“ den Weg zu einer „neue[n] faschistischen Literatur“ (10) einschlägt, versteht sich für die ‚Frankfurter Rundschau‘ von selbst; der gleiche Rezensent hatte einige Monate zuvor bereits über den „erpumpten Pomp Georgescher Dichterfeiern“ (1) gespottet, dem Kranz nacheifere. Es ist die Beiläufigkeit dieser Paraphrasen, in der sich die öffentliche Wahrnehmung Georges dieser Zeit spiegelt: Fassbinder persifliert die Schaffenskrise seines egomanen Protagonisten, indem er ihn als neuen George imaginiert – und dass das Kranz völlig der Lächerlichkeit preisgibt, dass die ästhetizistische Gesellschaftsferne des „schönheitstrunkenen […] George“ schlechterdings absurd anmutet, das müssen die Rezensenten gar nicht erläutern; die Leserschaft wusste ohnehin Bescheid. In den USA und in Frankreich verhielt es sich freilich anders, denn so belesen man sich das Fassbinder-Publikum in New York oder Paris auch wünschen mochte, eine knappe Erinnerung, wer dieser Stefan George noch gleich war, konnte doch nicht schaden. Voilà – „a German poet favored by the Nazis“ (18); „the great, late 19th century poet, Stefan Georg [!], the homosexual Nietzchean [!] disciple who had intuitions of future catastrophe and rebirth“ (31); „Stefan George (1868–1933), [who …] was liked by the Nazis for his mysticism“ (7); „the great Symbolist poet“ (32); „Stefan George, […] that great but admittedly eccentric man“ (23); „un poète du siècle dernier, Stefan George, dont il [scil. Walter Kranz] voudra adopter aussi bien le style que le mode de vie (il tentera en particulier de devenir homosexuel comme lui)“ (25); „le poète le plus en vue, le plus idolâtré à l’époque de Weimar et de la prise du pouvoir par Hitler“ (27). Während ‚La Revue Cinema‘ dem Leser differenziert erklärt, George müsse zwar als „apôtre post-nietschéen de valeurs compatissantes envers l’ordre nouveau“ gelten, habe sich politischen Ämtern aber verweigert (27), nennt die New Yorker Wochenzeitung ‚The Village Voice‘ nicht einmal seinen Namen, sondern erklärt mit erkennbarer Verwunderung, Kranz nehme im Film „the persona of a dead, homosexual poet“ an: „In the guise of the dead poet, he bribes effete young men to assemble at his salon for his poetry readings“ (22). Konnte das deutsche Feuilleton die Kenntnis Georges beim Leser voraussetzen, mussten die amerikanischen Rezensenten den grotesken Witz einer Wandlung vom Revolutionspoeten zur George-Reinkarnation erst mühsam erläutern. Neben neutralen Erklärungen dominiert deshalb zum einen der Hinweis auf Georges Beliebtheit im National-
212
Nicolas Detering
sozialismus, zum anderen auf seine Homosexualität, die in den französischen und US-amerikanischen Besprechungen viel stärker betont wird als in Deutschland. Der ‚New Yorker‘ schreibt, wenn Kranz sich zur Verwandlung entscheide, „[t]his means collecting homosexual listeners to pay homage at readings that he gives from George’s work“ (21). George zu werden ist hier gleichbedeutend mit der Rekrutierung homosexueller Anhänger. Richard Roud erkennt deshalb sogar eine PlotSchwäche des Films: Kranz wisse zu Beginn des Films nicht, dass George „gay“ war, ihm werde dies erst von seiner Frau mitgeteilt – ganz unplausibel sei das, denn „any German, and all the more so any German writer, would know from the start that George was homosexual“ (2). Die amerikanischen Besprechungen tragen damit einer biographistischen Rezeptionsverengung Rechnung, in deren Zuge das poetische Werk zunehmend marginalisiert und die platonisch-pädagogische Kreisbildung zum Homosexuellenklub vereindeutigt worden war. „Stefan George a été un poéte important en Allemagne; peut-être l’est-il encore?“ (27), fragt sich ein Filmkritiker erstaunt – tatsächlich ist der Name ‚Stefan George‘ in den deutschen und ausländischen Feuilletons wohl selten öfter gefallen als in den Jahren 1976 und 1977, und erst Thomas Karlaufs monumentale Biographie (2007) hat George und seinem Kreis kurzfristig wieder ähnliche öffentliche Aufmerksamkeit verschafft wie Rainer Werner Fassinders ‚Satansbraten‘. Dürfte Fassbinders Groteske jedoch eher zur Abwertung Georges im späten 20. Jahrhunderts beigetragen haben, läutete Karlaufs Überraschungserfolg seine „plötzliche Wiederkehr“ ein.65 Kurz darauf erwachte auch ein neues Interesse an Fassbinders George-Farce, denn die Münchner Kammerspiele entschieden sich 2012, 30 Jahre nach dem Tod des Regisseurs, eine weitgehend originalgetreue Theateradaptation ausgerechnet von ‚Satansbraten‘ zu wagen. George imitiert Baudelaire, Kranz imitiert George, Fassbinder karikiert sich in Kranz, der Münchner Regisseur Stefan Pucher imitiert mit seiner Inszenierung Fassbinder66 – bleibt lediglich abzuwarten, wer diese ‚endlose Schleife‘ in Zukunft fortbindet.
65 66
Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 12. Vgl. Christine Dössel: Genie und Kopie. Fassbinders „Satansbraten“ an den Kammerspielen. In: Süddeutsche Zeitung, 16. 3. 2012.
Rezensionen
213
Rezensionen Jürgen Brokoff
Maik Bozza: Genealogie des Anfangs. Stefan Georges poetologischer Selbstentwurf um 1890. Göttingen: Wallstein 2016, 294 S.
In seiner berühmten Abhandlung über ‚Die Aufgabe des Übersetzers‘, die den eigenen Baudelaire-Übersetzungen programmatisch vorangestellt ist, kommt Walter Benjamin an zwei Stellen auf die Leistung Stefan Georges als Übersetzer zu sprechen. Zum einen zählt er George neben Hölderlin zu jenen Schriftstellern, deren Schaffen nicht allein mit dem Begriff des Dichters zu erfassen sei, sondern einen gleichrangigen Begriff des Übersetzers erfordere – einen Begriff, den Benjamin mit seiner Abhandlung vorzulegen beansprucht. Dass die Übersetzung dabei kunstphilosophisch auf die Ebene von Dichtung und Kritik erhoben und ihr der Charakter einer lebendigen und dynamischen „Form“1 zuerkannt wird, macht die überragende Bedeutung der Abhandlung für die Theorie der Übersetzung im 20. Jahrhundert aus. Zum anderen stellt Benjamin George in eine Reihe mit Luther, Voß und Hölderlin, die in ihrer Arbeit als Übersetzer „morsche Schranken der eignen Sprache“ gebrochen und „die Grenzen des Deutschen erweitert“2 hätten. Ausgangspunkt von Benjamins Denken der Übersetzung ist nicht die dienende Hilfsfunktion wortgetreuer Übersetzungen, sondern die innovative Sprachgewalt der Übersetzung auch im Hinblick auf das eigene sprachliche Kontinuum. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Bedeutung der These ermessen, die im Mittelpunkt der hier zu besprechenden Studie von Maik Bozza über den Beginn von Stefan Georges Künstlertum in den Jahren um 1890 steht. Denn der Verfasser macht auf der Basis eines beeindruckenden Wissens über den archivalischen Bestand an Manuskripten, 1
2
Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band IV/1, Frankfurt a. M. 1972, S. 9–21, hier S. 9. Ebd., S. 19.
https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0010
214
Jürgen Brokoff
Handschriften und Privatdrucken deutlich, dass am Anfang der so wirkungsreich verlaufenden künstlerischen Karriere Georges nicht nur der 1890 in hundert Abzügen gedruckte Gedichtband ‚Hymnen‘ steht, sondern auch die „zeitgleich“ (S. 30) entstandenen Übertragungen ausgewählter Gedichte aus Baudelaires Buch ‚Les Fleurs du Mal‘. Auf ebenso plausible wie differenzierte Weise zeigt Bozza, dass die „Ursprungsidee“ (29) von Georges Künstlertum aus der Übersetzungsarbeit an den Gedichten Baudelaires heraus entsteht und dass Georges Umdichtungen berechtigterweise einen Anspruch auf „Werkcharakter“ (36) erheben können. Sie sind, ganz im Sinne von Benjamins Abhandlung, die in der Studie leider nicht zitiert wird, als Dichtungen eigenen Rechts zu verstehen und als solche der deutschsprachigen Literaturgeschichte zugehörig. Zum angeführten Werkcharakter gehört dabei auch, dass die poetologische Dimension der Gedichte Baudelaires keineswegs mit der von Georges Umdichtungen zur Deckung kommt, im Gegenteil. Am Beispiel von Baudelaires Gedicht ‚Bénédiction‘ und dem entsprechenden Gedicht ‚Segen‘ von George führt die Studie vor Augen, wie das ironische, heterogene und vielgestaltige Sprachspiel des französischen Schriftstellers mit der Dichtungs- und Dichtertopik bei George in genau entgegengesetzter Richtung dem „Aufbau einer homogenen Poetologie“ (49) dient. Der doppelte Anfang von Georges Werk, das von Dichtung und Übersetzung gleichermaßen bestimmt wird und insofern „gleichursprünglich“ in beiden Bereichen gründet, bildet den ersten Teil der Studie. Im anschließenden Teil geht es zunächst um eine „mikrologische Lektüre“ (74) jener Gedichte, die noch vor dem Gedichtband ‚Hymnen‘ entstanden sind und die George später, im Jahr 1901, unter dem Titel ‚Die Fibel. Auswahl erster Verse‘ im Bondi-Verlag veröffentlicht hat. Interessant ist hier vor allem der Nachweis des an sich schon länger bekannten Umstands, dass George das öffentliche Bild seiner selbst durch genaueste Planung der zu veröffentlichenden Texte bedacht hat und dabei auch vor Manipulationen nicht Halt gemacht hat. Bozza führt als Beispiel das später entstandene, vermutlich eigens für die Drucklegung der ‚Fibel‘ verfasste dritte ‚Legenden‘-Gedicht ‚Der Schüler‘ an, das die in den beiden anderen, vor 1890 entstandenen ‚Legenden‘-Gedichten (‚Erkenntnis‘ und ‚Frühlingswende‘) verhandelte „Bedrohung durch weibliches Begehren und die sich darin spiegelnde Angst vor Sexualität“ (129) durch die Einnahme einer neutralisierenden Position geglättet
Rezensionen
215
und im Sinne einer ausgleichenden dichterischen Souveränitätsgeste gleichsam kassiert wurde. Die Frage nach der Homosexualität und die Spannung zwischen den Geschlechtern ist auch für den Hauptteil der Studie relevant, der sich ausführlich mit Georges Gedichtband ‚Hymnen‘ befasst. Die detaillierte Lektüre der Gedichte des ‚Hymnen‘-Bands erfolgt nach der am Beginn der Studie genannten Leitthese eines „poetische[n] Selbstentwurf[s] im Zwiespalt“ (12). Bozza macht im „Ringen mit […] dem grundlos selbstbewußten Ich“ (9), das er als Quelle für Georges Modernität und dessen Kampf gegen die Moderne zugleich ansieht, einen dreistufigen Prozess von Selbstausdruck, Selbstbegründung und „homosexuell konnotiertem Blickbund“ (13) aus, der sich im ‚Hymnen‘-Band auf formalästhetischer Ebene, aber auch in inhaltlich-konzeptueller Hinsicht in „drei mehr oder minder abgeschlossenen Binnenzyklen“ (147) zeige. Auf eine sehr ausführliche Weise werden nacheinander die Gedichte des Bandes bzw. der drei Binnenzyklen abgehandelt, was stellenweise den Charakter eines fortlaufenden, editionsphilologisch fundierten Werkkommentars annimmt. Auch die relevante Forschungsliteratur zum ‚Hymnen‘-Band (u.a. von Kauffmann, Simon, Jacob, Braungart, Apel und Brokoff) wird detailliert und differenziert in die Analyse mit einbezogen. Das mikrologische Vorgehen hat mitunter den Nachteil, dass die leitenden Thesen angesichts der Fülle der Details ein wenig in den Hintergrund treten. Auch tendiert der kritische Vorbehalt gegen die „Matritze“ (141) eines zu einseitig auf formästhetische Fragen konzentrierten Forschungsstrangs, dessen Beginn in den George-Abhandlungen Georg Simmels ausgemacht wird, selbst zu einer gewissen Einseitigkeit. Denn schon bei Simmel geht es nicht so sehr um eine Ausblendung stofflich-inhaltlicher Aspekte und subjektiver Erfahrungsgehalte, sondern um die in Georges Werk auf singuläre Weise zu beobachtende, konsequente Transformation solcher Erfahrungsgehalte in die ästhetisch verobjektivierende (nicht: objektive) Struktur des Kunstwerks. Gleichwohl fördern die detaillierten Lektüren der Gedichte, die stets auf die frühesten Textfassungen zurückgreifen, neue erhellende Aspekte an den einzelnen Gedichten zutage. Der besondere Wert der Studie, die 2015 an der Universität Basel als Dissertation angenommen wurde, liegt darin, die „Gleichursprünglichkeit“ von Georges literarischem „Anfang“ im Bereich der Dichtung und Übersetzung auf eine neue und editionsphilologisch abgesicherte Weise
216
Jürgen Brokoff
freigelegt zu haben. Ob man angesichts dieses doppelten Ursprungs und auch angesichts der vielfältigen werk-, medien-, bild- und publikationspolitischen Strategien und Maßnahmen Georges nicht eher von dessen literarischen Anfängen und von dessen Selbstentwürfen im Plural sprechen sollte, wäre zu erwägen. Eine solche Untersuchung der Anfänge und Selbstentwürfe, die auch den „Werkauftritt“ (13) Georges im Hinblick auf die ihm innewohnende Theatralität und Performativität zu analysieren hätte, kann sich fortan auch auf die Studie von Bozza stützen.
Rezensionen
217
Waldemar Fromm
„Von Menschen und Mächten.“ Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933. Hg. von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann im Auftrag der Stefan George Stiftung. München: C. H. Beck 2015, 879 S.
Die mustergültig von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann edierte und kommentierte Ausgabe des Briefwechsels zwischen Stefan George und Karl Wolfskehl erlaubt es, den bisher nur in kleineren Auszügen, wie etwa in Karlaufs George-Biografie, mitgeteilten oder ausgewerteten Briefwechsel insgesamt in den Blick zu nehmen. Die Herausgeberinnen betonen zu Recht, dass er kein neues Bild von George enthalte, der seinen sachlichen und lakonischen, von persönlichen Angelegenheiten weitestgehend befreiten Briefstil auch mit Wolfskehl pflegte. Der Band bietet vielmehr die Möglichkeit, die Dimension der Freundschaft zu ermessen, Wolfskehl und seine Frau Hanna zu entdecken und ihren Beitrag zur Entstehung des Georgebildes besser zu verstehen. Trotz der gegensätzlichen Persönlichkeiten bestand die Freundschaft über vier Jahrzehnte.1 Wolfskehl lernte George 1893 kennen, nachdem Georg Geilfus, ein späterer Studienfreund, der als Georg Edward selbst literarisch tätig war, ihm 1892 die ‚Hymnen‘ und ‚Pilgerfahrten‘, damals noch als Privatdruck kursierend, zur Lektüre überlassen hatte. Wolfskehl hatte zu dieser Zeit gerade sein Studium der Germanistik und Geschichte in Gießen mit einer Dissertation über Germanische Werbungssagen bei Otto Behaghel abgeschlossen. Er übersiedelte nach München und konnte dort aufgrund des vermögenden Elternhauses das Leben eines Privatgelehrten führen und nach ersten brieflichen Kontakten George persönlich treffen. Zwischen George und Wolfskehl herrscht im Verständnis der Briefform von Beginn an Einvernehmen. Nicht eben selten wird ein persön1
Vgl. Friedrich Voit: Wolfskehl, Karl. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin – Boston 22016. Band 3, S. 1765–1771, hier S. 1768.
https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0011
218
Waldemar Fromm
liches Gespräch erbeten, weil man Mitteilungen nicht einem Brief anvertrauen mochte. Auch der impulsivere Briefschreiber Wolfskehl beteuert wiederholt, seine Briefe enthielten nichts „von dem Gewichtigeren“, das dem mündlichen Gespräch vorbehalten sei (S. 390). So ist der Briefwechsel vor allem aufschlussreich hinsichtlich der Form der Selbstpräsentation und der Rollen und Funktionen, die beide in der Beziehung eingenommen haben. Ein wichtiges Beispiel für das Selbst- und Fremdverständnis Wolfskehls ist die Verehrung, die er von Beginn an gegenüber George und seiner Lyrik hegt. Der vorliegende Briefwechsel ermöglicht es nun, die aus öffentlichen Verlautbarungen bekannte Position mit der Innensicht aus den Briefen zu vergleichen. Die für die Öffentlichkeit bestimmte Sicht findet man z.B. in Wolfskehls Beitrag ‚Priester vom Geiste‘ aus dem 5. Band der 1. Folge der ‚Blätter für die Kunst‘. Dort stellt Wolfskehl den Mythos der Genese des Dichters dar. Am Anfang steht ein von einer noch unerkannten Aufgabe erfüllter Mensch, der alle Mittel der Selbstgestaltung in sich trägt: Wo aber rauchte der brand, in den versinkend du dich gebären konntest? Lange hat man dich gelehrt, du seist tempel zugleich und beter: kein ziel sei so hoch, kein weg so weit – du seiest das ende alles wanderns gleichwie sein anbeginn · du selbst seist das band nach dem deine stirne bange. […] Ein neues priestertum ist entstanden ein neues reich den gläubigen zu künden. […] Der pfad zum leben ist gefunden der heilige weg auf dem jeder schritt ist gleichwie triumphgesang.2
Das Bild ist näher an romantischen Denkfiguren, als es George lieb sein konnte: Ein Ich trifft im Prozess der Entgrenzung auf den eigenen Anfang, den es durch die Entfernung von sich mit Leben erfüllt. Der „Spätromantiker“ Wolfskehl spielt hier mit dem Flammenmotiv, ähnlich wie es auch Novalis in den ‚Lehrlingen zu Sais‘ einsetzt.3 Die Innensicht der Verehrung des Meisters stellt sich im Briefwechsel dramatischer dar. Wolfskehl schreibt in einem Brief zum Geburtstag am 11. Juli 1902:
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Karl Wolfskehl: Gesammelte Dichtungen, Berlin 1903, S. 6–8. Vgl. das Nachwort von Cornelia Blasberg in: „Jüdisch, römisch, deutsch zugleich …“. Karl Wolfskehl. Briefwechsel aus Italien 1933–1938, Hamburg 1993, S. 421–442, hier S. 442. Bei Blasberg ist das Wort „Spätromantiker“ bereits in Anführungszeichen gesetzt.
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Ich weiß wirklich nicht was ohne Sie die [heutige] deutsche Welt bedeuten könnte: Sie haben zugleich das Thor geöffnet den Weg gezeigt und sind selbst bis zum Ziel gekommen. Sie haben den neuen Seelen – die seit 100 Jahren bald begeistert bald ängstig im üblen Gehäuse frösteln den neuen Leib gegeben Sie haben uns gelehrt uns im Anderen zu lieben […]. (S. 480)
Es sind nicht nur kulturelle oder literarische Fragen, die Wolfskehl wichtig sind, sondern auch die ethischen und psychologischen Implikationen. Der „heilige weg“ entsteht in der Verschmelzung mit dem anderen. Es wäre interessant, genauer zu überprüfen, ob Wolfskehl in kritischer Zeit George mit der Leibmetaphorik eine Alternative zur gleichgeschlechtlichen Verbindung anbieten wollte. Die vorliegenden Briefe reichen für diese Schlussfolgerung leider nicht aus. Gleichwohl entwirft sich der Gratulant von seinem Gegenüber aus. Das Du erschafft eine neue Ganzheit. Der Leib ist die Einheit, in dem auch der Körper sich weiß, Materielles und Seelisches verbinden sich. Es ist dies zugleich der Höhepunkt der Freundschaft beider. So nah werden sie einander nie wieder kommen. Den zehn Jahren des Aufbaus der Freundschaft, die 1893 begann, werden 20 Jahre der Entfernung folgen. George ist ein anerkannter Autor, sein Kreis größer, die zu pflegenden Kontakte umfangreicher, so bleibt für Wolfskehl nur eine eng bemessene Zeit, jedenfalls zunehmend weniger, als er sich wünscht. Die Beschreibung des Wegs dahin darf man dennoch auch als Selbststilisierung auffassen, denn die Zuschreibungen Wolfskehls und das Selbstverständnis Georges spiegeln sich auch ineinander, wie die Herausgeberinnen betonen. Fünf Jahre später kommt es aus dem gleichen Anlass am 11. Juli 1907 zum Treueschwur, mit dem Wolfskehl versucht, die schon spürbar gewordene Entfernung zwischen beiden zu überbrücken (S. 600). Von seiner Seite aus betrachtet handelt es sich um eine nachvollziehbare Entscheidung, denn er lebt von dem Mythos, den er in der Freundschaft gestiftet hat, wohingegen George das Kompliment und die Freundschaft annimmt, sich aber distinktionssicher nicht von der anderen Seite aus konzipieren mag. Auf den Tag genau fünf Jahre später erneuert Wolfskehl den Schwur nun schon rituell: „jede meiner Thaten hat Sie zum Sinn“ (S. 707). Noch in Georges Todesjahr schreibt er zum Geburtstag, „wie immer leb ich weil ich um die Flamme weiß“ (S. 834). Bereits in den ersten Briefen hat der damals 23-jährige Wolfskehl seine Verehrung ins Zentrum der Mitteilungen gerückt. Im ersten Schreiben bittet er um die Erlaubnis, die ersten beiden Gedichtbände
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abschreiben zu dürfen – ein rhetorisch geschickter Schachzug, mit dem er George zugleich die Wahlverwandtschaft beider Seelen nahe legen kann. Wolfskehls Formulierung von 1902, George hätte die Menschen gelehrt, sich „im Anderen zu lieben“, hat schon Gültigkeit, bevor der Betroffene etwas davon weiß. Es ist hier die Schrift, die ihre Wirkung vor dem Menschen entfaltet und für epiphane Erlebnisse sorgt.4 Die ‚Hymnen‘ und ‚Pilgerfahrten‘ müssen eine ungeheure Wirkung auf Wolfskehl ausgeübt und ihm eine Nähe suggeriert haben, die im Leben nicht zu halten war. George nimmt sich dieser Freundschaft an, lässt Wolfskehl in den engsten Mitarbeiterkreis eintreten und findet in ihm einen intelligenten und belesenen Verbündeten für sein Projekt, die Literatur zu erneuern. Als Gleichberechtigter, das erkennt man bereits in den ersten Briefen, wird Wolfskehl in der Freundschaft nicht bestehen. Er bietet zuerst Carl August Klein die Mitarbeit an den ‚Blättern für die Kunst‘ an, wird zunehmend in die Abläufe eingebunden, steigt zum „Mitbruder“ auf und wirbt in der Öffentlichkeit für Georges Lyrik. Der anfangs unsichere und zu depressiven Verstimmungen neigende Wolfskehl wächst im Schatten des Erfolges Georges und der ‚Blätter‘. Er baut einen eigenen Freundeskreis auf und wird zu einem festen Bezugspunkt im literarischen Leben Münchens. Nun kann er Bekanntschaften nach Innen vermitteln. Wolfskehl unterhält einen „Grenzverkehr“ zu dem von George verachteten Richard Dehmel und rechtfertigt dies damit, dass die „dii minorum“ das dürften (S. 117). Die Formulierung ist deshalb so aufschlussreich, weil innerhalb von drei Jahren der Distribuent und Marketingmitarbeiter eben doch auch in den Götterhimmel aufgestiegen ist. Wolfskehl bannt damit die Angst davor, „bürgerlich“ zu werden, wie es sich sein Vater zunächst gewünscht hat (z.B. S. 143). Weil es ein Akt der Befreiung ist, versteht er seine Rolle mitunter anders als George. Auf die Schelte Georges über den Kontakt mit Dehmel reagiert Wolfskehl mit einer Verteidigung seines Selbstverständnisses: George möge „im Tempel verweilen“ und seine Jünger von „draußen schwärmend Kunde bringen“ lassen (S. 121). Wenn George nun als „Meister“ (S. 123) oder als „Priester-König“ (S. 134) angesprochen wird, so enthält die Anrede immer auch Freiheitsgrade für den Jünger Wolfskehl. 4
Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 32007, S. 168.
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Für ihn bleibt das Verhältnis aber nicht zuletzt deshalb zentral, weil George ihm den Sinn des Lebens stiftet, George wirkt wie ein Antidepressivum (vgl. S. 147), er wird letztinstanzlicher Lebensratgeber. Neben der erschütternd zu nennenden Zuneigung Wolfskehls geben die Briefe vor allem Auskunft über die Prinzipien der Kreisbildung, des Ein- und Ausschlusses und der täglichen Kärrnerarbeit bei der Durchsetzung von Georges Lyrik aus den ersten zehn Jahren der Freundschaft. Bis 1919 besuchte George die Familie Wolfskehl regelmäßig in München. In den Zeiten der Abwesenheit informiert Wolfskehl über Kollegen, er sondiert das literarische Feld nach Verbündeten oder Gegnern und beobachtet Konkurrenzprojekte auf dem Zeitschriftenmarkt, wie die von ihm heftig angefeindete ‚Insel‘, und berichtet ausführlich Neuigkeiten über andere Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, den er – George zum Trost – zum „Zwischenständler“ und Modepoeten degradiert. Wolfskehl leistet auch einen erheblichen Beitrag zur Erstellung einer Ahnenreihe durch seine Mitherausgabe der Auswahlbände der ‚Deutschen Dichtung‘ (vgl. z.B. S. 381). Wenn er im Brief vom 9. Juni 1899 an seinen Meister schreibt: „Der Weg Georges ist nun gebahnt! Und sein Schritt unaufhaltsam“, dann versteht er dies auch als seinen Erfolg (S. 277). Aber George bleibt ihm der Fixstern. Nicht zufällig zum Geburtstag verfasst, stellt er dessen Lyrik als die eines „Umschaffers“ dar: Sie wollen nichts wie Ihren Klangträumen die Heiligung verleihen die aus der Stimmung, dem ‚Naturlaute‘ das Kunstwerk verklärt […]. Dass Sie […] uns selber lieben, wie der Schaffende das werdende Bild […] so gewiss muss der Trieb zum Göttlichen von jedem erklommnen Ziele weitertreiben. (S. 236)
Das Freundschaftsverhältnis ist auch hier eines von gestalten und gestaltet werden: Wolfskehl projiziert sich in der Freundschaft als ein Produkt Georges. George wiederum bleibt im Briefwechsel zurückhaltender. Mehr als die Briefe sagen die öffentlichen Verlautbarungen in den Gedichten, auf die in der Forschung schon häufiger hingewiesen worden ist: „Dein leben ehrend muss ich es vermeiden“, schrieb George im ‚Jahr der Seele‘ 1897, und im Gedicht zu dem von Wolfskehl 1910 geprägten Begriff „Geheimes Deutschland“ portraitiert er seinen Stichwortgeber als „Apostelgestalt“: „Der horcher der wisser von überall / Ballwerfer mit sternen im taumel und tanz / Der fänger unfangbar […]“. George zeigt Wolfskehl sowohl die Nähe als auch die Distanz deutlich an.
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Für George ergibt sich die Distanzierung fast zwangsläufig. Nach dem sogenannten Kosmikerstreit 1904 erlischt die Runde um Alfred Schuler, Ludwig Klages und Wolfskehl. Zwar bekennt sich George während des Streits darum, ob es eine jüdische Blutleuchte gebe, wie es Wolfskehl in Opposition zu den antisemitisch gesinnten Klages und Schuler angenommen hat, zu Wolfskehl. Kein Jahr später stirbt Maximilian Kronberger und mit ihm verliert das Münchner Umfeld von Wolfskehl erheblich an Attraktivität. Mit der Verehrung Maximins als Gott richtet George seine Literatur neu aus, und die Verehrungskonzepte beider lassen sich nicht recht ineinander überführen. Nach 1919 erreicht die Freundschaft schließlich ihren Tiefpunkt. Wolfskehl verliert sein Vermögen und ist gehalten, den Unterhalt für sich und seine Familie zu verdienen. Er ist von 1922 bis 1925 als Hauslehrer bei der Baronin Münchhausen in Florenz tätig und wird ein beachteter Publizist und Übersetzer, aber George hat für solche Einlassungen in das Tagesgeschehen keinen Sinn. Im Briefwechsel kann man nachlesen, wie unerbittlich George in seiner Ablehnung der pragmatischen Entscheidung Wolfskehls bleibt. Auch der wiederholt flehentlich vorgebrachte Hinweis, es gehe ganz prosaisch um die Existenz, überzeugt George nicht: „Glauben Sie nicht“, schreibt dieser am 12. Oktober 1929, „dass ich kein rechtes verständnis hätte für ihre besondere lage. Doch hab ich alles gesagt: ich kann nicht wiederholen! Nur dies noch: wenn auch Ihr geblüt sich sträubt · Ihr verstand wird einsehen: es giebt grenzen …“ (S. 817). Auf die 1932 vorgebrachte Sorge um seine Situation als Jude in Deutschland, reagiert George mit dem Hinweis, Wolfskehl würde die Lage wohl „zu düster sehen“ (S. 831). An Dramaturgie kaum noch zu überbieten bleibt schließlich der letzte Abschnitt der Freundschaft, als sich beide 1933 in der Schweiz befinden. George, von einer Krankheit gezeichnet, gestattet Wolfskehl, der vor den Nazis geflohen ist, keinen Besuch bei ihm und nennt dies floskelhaft ein „verhängnis für das wir beide nichts können“ (S. 838). Eine Entdeckung im Band ist Hanna Wolfskehl. Sie gibt im Briefwechsel eine eigenständige Stimme ab, weil sie sich nicht an den eisernen Ehrenkodex hält, Wichtiges nur mündlich zu besprechen. Von ihr erfährt man mehr, beiläufig etwa, dass die kosmische Runde in München um Klages und Schuler gerne Opium für ihre Räusche verwendet hat und dass es nach dem großen Kosmikerstreit ohne Opium nun länger brauche, um zu einem Rausch zu kommen, dies dafür aber schöner
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und dauernder sei (S. 453). Nach 1903 übernimmt sie bis 1912 weitgehend den Briefwechsel mit George, so wie auf der anderen Seite Friedrich Gundolf oder ein anderer Jünger zunehmend häufiger die Anliegen des Meisters ausrichten. Wenn dann Hanna von den Kindern erzählt und deren Vorfreude auf den Besuch des „Onkel Meister“, gewinnt man daraus ein lebensnäheres Bild von dem Wichtigen, das dem mündlichen Gespräch vorenthalten geblieben ist, das aber immer die Grundlage für alle Stilisierungen war. Man kann den Herausgeberinnen zu dieser editorischen Leistung nur gratulieren. Jetzt erst ist es möglich, die Geschichte dieser Freundschaft Schritt für Schritt mitzuverfolgen.
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Kay Wolfinger
Kay Wolfinger
Bruno Pieger und Bertram Schefold (Hg.): „Kreis aus Kreisen“. Der George-Kreis im Kontext deutscher und europäischer Gemeinschaftsbildung. Hildesheim – Zürich – New York: Georg Olms Verlag 2016, 664 S. m. 23 Abb.
Im Großen und Ganzen tragen die von Bruno Pieger und Bertram Schefold herausgegebenen Aufsätze zu einer weiteren Konkretisierung des Kreises um Stefan George und zu einer vertieften Deutung seiner Verfasstheit wie auch seiner Kontexte bei. Zwar werden die Beiträge der Literatursoziologie zur George-Forschung namentlich von Carola Groppe, Rainer Kolk und Stefan Breuer nicht berücksichtigt, obwohl dies sehr fruchtbar gewesen wäre; trotzdem bietet der vorliegende Sammelband viele umfassende Einsichten in die Materie der Bildung solcher kreisartigen Gruppierungen. War der Stefan-George-Kreis anfänglich eine lose Verbindung von Bewunderern der Lyrik Georges, die meist selbst Dichter waren, verwandelte er sich im Laufe der Zeit, wie es in der Vorrede des Bandes heißt, „in ein – wie man es heute nennt – verzweigtes Netzwerk von Menschen in den verschiedensten Berufen und Lebenslagen.“ (S. 9) Ohne hier beispielsweise an die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours anzuschließen, wird diese Vorstellung des Netzwerks als produktives Konstrukt betrachtet, das in eigenständigen Konstellationen von wichtigen Namen und Personen selbstbewusst agierte. Weiter heißt es in dem Band: „Sie einte die Bewunderung für das Werk des Meisters, sie gewannen daraus eine in großen Zügen gemeinsame Sicht auf die deutsche Dichtung, die europäische Kultur und die Geschichte; sie hofften, sich über den Utilitarismus der modernen Wirtschaft und Gesellschaft zu erheben und in Georges Sinn aus antiker und deutscher Überlieferung heraus eine über Deutschland hinausgreifende geistige Erneuerung zu bewirken.“ (S. 9) Entsprechend wird deutlich gemacht, dass der Impetus der Gruppe nicht nur auf einen Erwerb universeller Bildung abzielte, sondern dass ihre Intention auf die künstlehttps://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0012
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rische Gestaltung und Umbildung der sie umgebenden Gesellschaft gerichtet war. Die Vehemenz und der hohe Anspruch, mit denen Stefan Georges Forderung sich an seinen Kreis richtete, ist nicht ohne Faszination zu sehen: Man solle sich mit großer Strenge gegen sich selbst auf eine maximale Ausbildung der eigenen Leistung und Fähigkeit konzentrieren. Diese Perspektive klingt auch in vielen der gesammelten Beiträge unterschwellig an. Nach den Worten der Herausgeber handelt es sich um eine Forderung, „die hundert Jahre später in einer viel reicheren Gesellschaft noch wichtiger geworden ist, da Stipendium, Sozialhilfe, Beschäftigungsverhältnisse aller Art bei nicht zu schwerer Arbeit ein Leben in haltloser Oberflächlichkeit ohne wesentliche Ziele viel leichter gemacht haben.“ (S. 14) Absicht des Bandes ‚Kreis aus Kreisen‘ ist es, dieses bereits angedeutete Phänomen der Kreisbildung zu erschließen in ihren verdeckten Motivationen, in ihren historischen Vorbildern und Vorläufern, und es auch in spezifischen Einzelstudien zu beobachten und erklärbar zu machen. Die vorliegenden Aufsätze beruhen auf Vorträgen, die anlässlich zweier Tagungen vom September 2010 (‚Kreis aus Kreisen‘. Zu den Freundesrunden im Zeichen Stefan Georges) und vom März 2012 (‚Kreis aus Kreisen. Deutschland und Europa‘) im Eisenhower-Saal des Poelzig-Gebäudes auf dem Westend Campus der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main gehalten wurden. Der Sammelband gliedert sich in die vier Abteilungen „Hesperische Entwürfe“, „Europäische Traditionsbildung“, „Stefan Georges ‚Kreis aus Kreisen‘“, und „Politische Konkretisierungen zwischen Vergangenheit und Zukunft“. Unter dem Gliederungspunkt „Hesperische Entwürfe“ beispielsweise versammeln sich Analysen, die sich für Gruppenstrukturen der Antike und für Vorstellungen bei Hölderlin und Nietzsche interessieren. Diese drei Vorträge verdeutlichen, wie Konstanten aus der abendländischen Philosophie ins Werk Georges Eingang fanden. Aber man findet darüber hinaus im ganzen Band Darstellungen der Platonischen Akademie, des Mallarmé-Kreises und Analysen der Gruppenbildungen um W.B. Yeats, G. d’Annunzio und das legendäre Castrum Peregrini. Es handelt sich so um einen insgesamt gelungenen Forschungsband, der dank des großen Idealismus aller Beteiligten zustande kam und der der fortdauernden Diskussion um die Verfasstheit des George-Kreises entscheidende Facetten hinzuzufügen vermag.
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Wolfgang Braungart
Wolfgang Braungart
Simon Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhetischen Rituals. Würzburg: Ergon, 2015 (= Klassische Moderne, Bd. 28), 418 S. Dieser Band, eine Freiburger Dissertation (bei Achim Aurnhammer), ist außerordentlich hilfreich, das „Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen“ (Gottfried Benn) George besser zu verstehen. Kreisbildung, das weiß man längst, beginnt bei George schon lange vor der Jahrhundertwende; Kreisbildung gehört zu Georges „Werkpolitik“ (Steffen Martus). Und sie vollzieht sich auch im poetischen Werk selbst, z.B. durch ‚Überschriften und Widmungen‘ (so der Titel des zweiten Teils des ‚Jahrs der Seele‘). Simon Reiser aber geht nun das gesamte Werk und auch die Kreisdichtung durch; er identifiziert dabei ein ganzes Korpus von poetischen Texten, die dem Totengedächtnis dienen. Das Totengedächtnis interpretiert er insofern völlig zurecht als ‚ästhetisches Ritual‘, und damit kann er an einer großen Textgruppe deutlich machen, wie sehr George in Leben und Werk dem ästhetisch-sozialen Handlungstyp des Rituals verpflichtet bleibt. Die Einleitung gibt einen guten Überblick über den Forschungsstand zum Totengedächtnis und zum George-Kreis; außerdem stellt sie knapp „Geschichte und Paradigmen des poetischen Totengedächtnisses“ vor. Diese Geschichte des Totengedächtnisses beginnt Reiser mit der Antike und führt sie bis in die Postmoderne. „Die poetische Erinnerung an die Toten als Ritual“ ist, so Reiser, „eine ahistorische, anthropologische und sprachlich diskursive Handlung“ (S. 69), die auch in Zeiten der Postmoderne nicht obsolet geworden ist. Denn der Tod kann zwar nicht ‚bewältigt‘ werden, wohl aber gestaltet. Im kulturellen, rituell-ästhetischen Totengedächtnis artikulieren sich Schmerz und Trauer auf eine kultivierte, das Subjekt in seinem Schmerz übersteigende und verallgemeinernde Weise. Darum kann es das Subjekt und soziale Gemeinschaften entlasten. Sie müssen in einer Situation, in der es ihnen die Sprache zu verschlagen droht, nicht selbst alles neu erfinden. Das gilt generell für Totengedächtnisse und Todesrituale (sehr empfehlenswert, um dies zu Studieren: ein Besuch im Kasseler Museum für Sepulchralkultur!). https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0013
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Nach dieser Einleitung widmen sich die folgenden Kapitel Richard Perls, dann, natürlich besonders ausführlich, Maximilian Kronberger, den Toten des Kreises im und unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg (Heinrich Friedemann, Norbert von Hellingrath, Wolfgang Heyer, Bernhard von Uxkull-Gyllenband, Adalbert Cohrs, Walter Wenghöfer, Balduin von Waldhausen und Johann Anton). Das letzte Kapitel wird dem Totengedächtnis für Stefan George selbst und für Claus von Stauffenberg gewidmet. Die größte Leistung, forschungsgeschichtlich gesehen, des an Material und vielen Beobachtungen überaus reichen Bandes ist, dass es ihm zu zeigen gelingt, wie das Totengedächtnis, das poetische Totengedächtnis wirklich als poetisches Ritual des Kreises verstanden werden kann. Viele Mitglieder des Kreises beteiligen sich daran; es ist wirklich eine ästhetisch-soziale Praxis. Sie versteht man in ihrer grundlegenden Bedeutung für den Kreis (bzw. die Kreise um George) nach der Lektüre dieses Buches viel besser.
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Cornelia Ortlieb
Cornelia Ortlieb
Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin – Boston: de Gruyter 2016 (= spectrum Literaturwissenschaft 52), 822 S. m. 37 Abb.
Die große Studie zur Geschichte der modernen Lyrik in vergleichender Perspektive bietet neben einer konzeptionellen Synthese auch eine Fülle von erhellenden und inspirierenden Einzelanalysen literarischer Texte des europäischen Symbolismus. Den historischen Rezeptionslinien folgend liegt deren Schwerpunkt im Bereich der französischen Dichtung, die Zanucchi zu Recht als historische, ästhetische und poetologische Voraussetzung der frühen Lyrik Georges, Hofmannsthals und Rilkes begreift. Das epochale Ereignis der skandalträchtigen Veröffentlichung der ‚Fleurs du mal‘ Charles Baudelaires von 1857, ein initialer Akt der europäischen Moderne, ist auch für Zanucchi ein entscheidendes Datum für die Geschichte des Symbolismus, mit einer Präzisierung des provokanten Titels als programmatische Verbindung einer klassischen rhetorischen Figur – der metonymisch für die Gedichte einstehenden „Blumen“ – mit dem unübersetzbar mehrdeutigen „Kranken“, „Schlechten“ oder „Übel“ (S. 18). Auf den ersten Blick denkbar weit entfernt steht am Ende des Spektrums symbolistischer Lyrik hier (erstmals) die „dadaistische Konzeption des Klanggedichts“ (S. 684), in der gemäß dieser resümierenden Formulierung gleichsam ein letztes Mal eine symbolistische Ästhetik kalkuliert umgesetzt ist. Wie bereits in den ersten Sätzen des Buchs erläutert wird, bildet Dada jedoch noch nicht das Ende des gewählten Ausschnitts. Vielmehr ist mit Rilkes Zyklus der ‚Sonette an Orpheus‘ von 1923 eine zweite Zäsur wiederum an die Veröffentlichung eines Gedichtbands gebunden. Die im zweiten Teil angezeigte, vermeintlich etwas zu kurze Spanne für diesen Abschnitt der literarischen Moderne erweist sich somit gleichfalls als kalkulierte Reformulierung ihrer symbolistischen Phase – und mit Mario Zanucchi wird man am Ende seiner luziden Einzellektüren und konzeptuellen Zusammenfashttps://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0014
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sungen davon überzeugt sein, dass es sinnvoll und richtig ist, diese Phase mit dem vieldeutigen Begriff Symbolismus zu belegen. Komplementär zu seiner literarhistorischen Rekonstruktion des Symbolismus als europäische Bewegung, poetologisches Programm und poetisches Verfahren führt Zanucchi als Kategorien, die eine kaum überschaubare Fülle einzelner Analysen und Interpretationen organisieren, die beiden titelgebenden Leitbegriffe in einem gewissermaßen noch außerhalb stehenden ersten Kapitel ein. Es trägt den klassischen Titel „Einleitung“ auch deshalb zu Recht, weil es neben einer Einführung des eigenen Begriffsinstrumentariums auch einen sorgfältigen und einlässlichen Überblick zur neueren wie zur kanonischen Forschungsliteratur gibt. Mit dem implikationsreichen Begriff der „Aneignung“ fasst Zanucchi hier den Zugriff deutschsprachiger Autoren auf die zeitgenössische französische Lyrik, den die einzelnen Kapitel „rekonstruieren“ sollen, indem bei jedem Beispiel gleichermaßen der „Transfer“ (S. 4), beziehungsweise der „lyrische Transfer“ (S. 9) und die je spezifischen „Modifikationen“ untersucht werden, wobei letztere „vor allem durch drei Faktoren – die autorenspezifische Motivation des Rückgriffs auf die ausländischen Vorbilder, die ebenfalls individuelle Selektion des rezipierten Corpus sowie den gleichfalls autorenspezifischen Rezeptionhabitus mitbedingt sind“ (S. 4). Gilt mithin der erste Blick eher den Objekten, hier den Elementen literarischer Texte, vor allem der Versgedichte Georges, Hofmannsthals und Rilkes, so ist der mit ihm verbundene zweite auf die historischen Subjekte dieser Bewegungen und Umgestaltungen gerichtet. Damit ist bereits deutlich, was Zanucchi entschieden betont und nie aus den Augen verlieren wird: Die Studie ist der „Erforschung eines äußerst facettenreichen Rezeptionsphänomens“ gewidmet. Entsprechend ist auch das „Autorencorpus“, das neben den bereits genannten ‚großen Dreien‘ auch „Trakl, Wenghöfer, Andrian, Dauthendey, von Schaukal, Stadler u.a. umfasst“ so begründet, nämlich „rezeptionsästhetisch“, das heißt wiederum in der Art der „Aneignung der symbolistischen Modelle“ (S. 3). Mit dieser klaren Vorgabe und Einschränkung ist eine entsprechend komplexe Gliederung des umfangreichen Bandes verbunden: In jeweils kurzen, teils auch sehr kurzen Kapiteln, Unterkapiteln und Unter-Unterkapiteln werden die je einzelnen Rezeptionsvorgänge an teilweise minimalen Textausschnitten nachgewiesen. Etwas ausführlichere Kapitel entwickeln historische und systematische Begriffe in steter Auseinandersetzung mit der mehr oder weniger etablierten Terminologie der
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Symbolismus-Forschung. Dass immer wieder die Nennung von Autornamen dieses Muster zu durchbrechen scheint, bestätigt sich beim Aufblättern der vielen solchermaßen gekennzeichneten kurzen Kapitel nicht; sie geben vielmehr entweder ein prägnantes Beispiel für die Entdeckung solcher Rezeptionsphänomene an bislang übersehenen Orten oder zitieren mit dem Autor zugleich ein solches (zeitgenössisches) Konzept für den „Transfer“ oder die „Modifikationen“ französischer Poetik in deutscher Sprache. In der Gesamtschau ergibt sich so ein dichtes Netzwerk von poetischen Vokabeln, ästhetischen Begriffen und historischen Daten, das im reichen Anmerkungsteil seinerseits noch vervielfältigt wird. Diese oft den Haupttext bedrängenden ausführlichen Nachweise und kleinen Exkurse bieten auch eine stupende Organisation von Informationen, die Lesenden zum weiteren Gebrauch großzügig überlassen werden, häufig Lesefunde, die auf engstem Raum komprimiert sind und ihrerseits zu neuen Untersuchungen anregen. Ein fast beliebig ausgewähltes Beispiel kann diese Art der großzügigen Überlassung illustrieren: Eine Fußnote zum Kapitel über Stefan Georges ‚Hymnen‘ als einer „klassizistischen Transformation des Symbolismus“ (S. 274) kombiniert Georges ‚Merkspruch‘ zur „Ueberwindung des klassizismus“ von 1904 mit einem Zitat Gundolfs von 1911 über einen falschen Klassizismus, „der einen barbarischen Leib in griechische Gewänder hüllt“, und lädt mit einem vorsichtigen Kommentar zum Nachlesen und Weiterdenken ein (S. 274f., FN 302). Oder eine Fußnote zum mißverständlichen Begriff des Dinggedichts erläutert dessen problematische Implikationen mit vier weiterführenden Verweisen und dem Hinweis auf „Rilkes eigene Prägung ‚Kunst-Ding‘“ (S. 410f., FN 113). Entsprechend wäre es zugleich vermessen und verfehlt, aus diesen verschiedenen Modi der historischen Rekonstruktion, interpretatorischen Durchdringung und reflektierender Kontextualisierung den Ertrag einzelner Forschungsergebnisse herausschneiden zu wollen, auch wenn sich schon dem blätternden Lesen solche auf jeder Seite augenfällig präsentieren. Für die George-Forschung wäre entsprechend gleichermaßen für den panoramatischen Blick auf die gesamte Untersuchung zu plädieren wie zu einer solchen interessegeleiteten Lektüre einzuladen, für die im Folgenden einige Anregungen gegeben werden sollen. So verweist Zanucchi selbst in seinem eher knappen Schlusskapitel in einem bemerkenswerten Satz mit einer figura etymologica um den Stamm „erst“ auf die erhellenden Überlegungen des bereits zitier-
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ten Klassizismus-Kapitel hin: „So wurde systematisch gezeigt, dass Stefan George in seiner Erstlingssammlung Hymnen – deren zyklische Binnenstruktur auf der Basis des Erstdrucks erstmals ermittelt wurde – eine Synthese zwischen Symbolismus und Klassizismus artikulierte, die er selbst als eine ‚révolution inverse‘ gegenüber dem französischen Symbolismus bezeichnete.“ (S. 681). Wie so oft steht der entscheidende Impuls für die weitere Forschung hier wie beiläufig in Parenthese: Der philologische Blick, der die Gegebenheiten der (typo-)graphischen Realisierung zum Ausgangspunkt für eine zuallererst texkritische Betrachtung nimmt, verspricht neue Erkenntnisse, die Verständigung über deren begriffliche Einordnung ist – nicht nur in diesem Satz – nachgeordnet. Entsprechend ist es nicht positivistische Häufung, sondern, einmal mehr, philologische Großzügigkeit, wenn Zanucchi im Kapitel über Georges „[s]ymbolistische Kunstsprache“ für die programmatische Abweichung von der Alltagssprache eine Kaskade von dreiundzwanzig Beispielwörtern mit Einzelnachweisen bis hin zur Versnummer bietet (S. 305, S. 305, FN 458–479). Doch selbstredend setzen die Überlegungen zu George nicht mit dessen eigenen ‚symbolistischen‘ Gedichten ein, sondern, eröffnet durch ein georgeanisch betiteltes „Dichterporträt“ auf einer Seite, mit dem epochalen Ereignis des französischen Symbolismus in der Lyrik des Jahrhundertendes / Fin de siècles, auch: der Décadence / Dekadenz, als Teil und prominentes Beispiel der „literaturkritischen und übersetzerischen Rezeption“ (S. 89). Das Kapitel mit diesem Doppeltitel bietet eine historische Rekonstruktion der „drei Phasen“ dieser speziellen Form der Aneignung, deren bedeutendste die der 1890er Jahre sei – nicht nur wegen Georges bahnbrechender Übersetzung und anderer bedeutender Erstübersetzungen, sondern vor allem wegen einer Reihe teils berühmter, teils aber auch nahezu unbekannter Essays, die hier umsichtig vorgestellt, analysiert und kommentiert werden. In überbordenden Fußnoten, die das Verhältnis zwischen Haupttext und Kommentar teilweise umkehren, listet Mario Zanucchi zudem minutiös die zeitgenössischen Übersetzungen symbolistischer französischer Lyrik auf, eine Fundgrube für weitere Recherchen und vergleichende Untersuchungen – wie andernorts, lässt sich die Studie hier auch als Nachschlagewerk nutzen. Entsprechend wird Georges Sonderstellung in der nun deutlich größeren Gruppe deutschsprachiger Literaten, Literaturkritiker und Übersetzer nicht relativiert, sondern präziser konturiert: Er ist, wie Zanucchi betont,
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„sicherlich der bedeutendste und produktivste deutsche BaudelaireÜbersetzer“ (S. 113). Die Eigenart dieser „Umdichtungen“ liegt demnach – im Einklang mit der entsprechenden Forschung – in einer Radikalisierung der „Vergeistigung“ – Georges Wort für das mehrdeutige französische „idéal“ – „bis hin zu einer Tabuisierung des Sinnlichen“, die gerade im Programmgedicht ‚Correspondances‘ „bis zur Aufhebung der Sinneswahrnehmung“ getrieben sei (S. 148f.). Dagegen ließe sich allerdings einwenden, dass George mit dem Titel ‚Einklänge‘ bereits dem Titelwort eine so bei Baudelaire nicht vorgebildete sinnlich-leibliche Präsenz verleiht, wie seine kongeniale Erfindung fremdartiger Namen für die äußerst heterogene Reihung der Düfte gleichfalls als Apostrophe neuartiger Sinneserfahrungen gelesen werden kann. Indem Zanucchi die rhetorischen Techniken der „umgedichteten“ Versgedichte und ihre stilistischen Eigenarten als symbolistische identifiziert und analysiert, kann er zu dem begründeten Fazit gelangen, Georges Arbeiten stünden „im Zeichen einer Synthese von Parnasse und Symbolismus“ (S. 156). Besonders verdienstvoll ist es aber, dass Zanucchi Georges Mallarmé-Übersetzungen einer ebenso gründlichen wie inspirierenden ReLektüre unterzieht und dabei wiederum eine Fülle von Details und Nuancen erstmals vergleichend in den Blick nimmt. Selbstredend bezieht diese Diskussion auch, wie schon das einleitende Kapitel zur Geschichte des europäischen Symbolismus, neben dem Französischen die anderen Sprach- und Kulturräume ein, etwa mit dem Hinweis, nach Baudelaire sei der polnische Dichter Waclaw Rolicz-Lieder „der von George meistübersetzte Symbolist“ (S. 182). Das große Panorama der Untersuchung ist entsprechend ebenso beeindruckend wie die im besten Sinn kleinteilige philologische Arbeit an unzähligen Textstellen, Gedichten und literaturkritischen Texten, die auch andere Medien und Künste wie Malerei, Graphik und Buchgestaltung immer wieder in die Argumentation einbezieht. Die Materialfülle des Bandes erlaubt es somit auch, andere Sichtweisen auf die Geschichte des Symbolismus / der klassischen Moderne zu erproben, die der hier vorgestellten ideen-, begriffs- und geistesgeschichtlichen Ordnung ‚von oben‘ eine den Objekten selbst neu abzulesende Kategorisierung entgegenstellen könnte, in der die Zuordnung zu Sprach- und Kulturräumen und die Identifikation von Autor-Werk-Einheiten aufgehoben ist zugunsten eines neuen Nachdenkens über das, was Zanucchi mit Recht „die europäische Dimension“ dieser Literatur nennt (S. 685).
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Anna Lenz
Philipp Heitmann: Intertextualität als Weltanschauung und Ästhetik des Epigonalen. Das Instrumentalwerk Conrad Ansorges. Hildesheim – Zürich – New York: Olms 2015, 766 S.
Fragt man heute die Konzertbesucher und -besucherinnen, die am Freitagabend auf die Ränge des städtischen Theaters strömen, wird wohl kaum einer sich Conrad Ansorges erinnern. Und doch: um 1900 gehörte Ansorge zu den ganz Großen seines Metiers. Umso überraschender also, dass es bisher keine einschlägige Monographie zu dem unterschätzten schlesischen Komponisten und Pianisten gibt,1 und umso erfreulicher, dass Philipp Heitmann mit seiner Dissertation hier Pionierarbeit leistet. Conrad Ansorge wird am 15. Oktober 1862 geboren. Der junge Ansorge ist ein talentierter Pianist, der u.a. bei Franz Liszt in Weimar studieren darf. Als Pianist, Musikpädagoge und v.a. als Liedkomponist ist Ansorge in Berlin um 1900 anerkannt und schart selbst einen „Kreis von Kunst- und Musikliebhabern“ um sich.2 In Berlin entwickelt sich die Freundschaft mit Melchior Lechter. Er ist es auch, der Stefan George auf die Vertonungen des Freundes aufmerksam macht; der reagiert zunächst jedoch mit Skepsis. Dennoch begegnen sich Stefan George und Ansorge zwischen 1899 und 1906/07 (letzter Konzertbesuch Georges jedoch 1912) mehrfach in Berlin wie auch in Bingen. Conrad Ansorge gehört zwar nicht zum engeren George-Kreis (abgesehen von kontinuierlichen Freundschaften zu Lechter und Wolfskehl sind die Kontakte eher rar), parallelen sind aber unverkennbar. Diese betreffen einerseits das grundsätzliche ästhetische Verständnis, gewisse Nähen zu esoterischen und kunstreligiösen Konzepten und bergen andererseits auch die Gefahr der Epigonalität. Freilich, bei Conrad Ansorge bleibt es vor1
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Hilfreich ist jedoch der Artikel von Werner Keil im George-Handbuch: Werner Keil: Art. Ansorge, Conrad Eduard Reinhold. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.). Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin – Boston 2012, Bd. 3, 1261–1263. Ebd., S. 1261.
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nehmlich bei der Ideologie, denn er ist letztlich an keinen kontinuierlich bestehenden Kreis gebunden. Philipp Heitmanns Arbeit beschäftigt sich vorrangig aber nicht mit dem Liedkorpus Ansorges, sondern mit seinem Instrumentalwerk, das den größten Umfang der Arbeit ausmacht. In detaillierten Analysen versucht Heitmann, das Instrumentalwerk Ansorges zu erfassen (etwa 400 S.). Dabei entwickelt er ein Konzept musikalischer Intertextualität. Die Intertextualitätstheorie, die in der Literatur- und Kunstwissenschaft durchaus etabliert ist, ist in der Musikwissenschaft noch nicht einschlägig in die Forschung eingegangen. Für Ansorges Werk, das immer wieder aus dem Werk anderer Komponisten, aber auch aus dem eigenen Œuvre zitiert, ist die Intertextualitätsforschung hilfreich, auch um sich seine ‚Werkpolitik‘ (Steffen Martus) zu erschließen: Indem Ansorges sämtliche notentextliche Fremdbezugnahmen exklusiv auf das gewissermaßen mystisch geeinte Dreigespann Beethoven-Brahms-Liszt (mystische Dreizahl) zurückgreifen, bilden sie auf intertextueller Beziehungsebene einen hermetisch abgeriegelten Kosmos aus, der hier durch das Bezugsfeld der Musik begrenzt ist. (S. 29)
Heitmanns Analysen zeichnen sich durch eine minutiöse Detailkenntnis aus. Anhand einer Vielzahl von Notenbeispielen kann Heitmann zeigen, wie intensiv Ansorge aus der Musikgeschichte zitiert; und es entsteht der Eindruck eines epigonalen Künstlers, der sich zugleich fest in der deutschen Kompositionsgeschichte verankert sehen will. Im Anschluss an diese Detailanalysen zeigt Heitmann wie sehr Ansorges Werk auf seine Zeitgeschichte bezogen ist. Auch hier wird der literaturhistorische Bezug der Arbeit besonders deutlich. Ausgehend von Goethes ‚Urworte-Orphisch‘-Gedichten, die Ansorge selbst vertont hatte, entwickelt Heitmann die These eines orphischen Werkverständnisses Ansorges, die er in Zusammenhang mit der Ideengeschichte seiner Zeit bringt. Heitmanns Blick auf den (kunst- und literatur-)historischen Kontext, in dem Ansorges Kompositionen entstehen, ist eindrucksvoll intensiv. Überzeugend kann er Konzepte des Orphischen von Goethe her und des Eros von Nietzsche her entwickeln. Er bewegt sich dabei souverän auf für einen Musikwissenschaftler eigentlich fachfremden Forschungsgebieten der Literatur- und Kulturwissenschaften. Eine Künstler-Monographie von über 700 Seiten birgt natürlich die Gefahr, dass sie sich etwas in der Fülle der Informationen zu verlieren.
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Und in der Tat, das Buch kann nicht dazu dienen, schnell auf Einzelinformation zuzugreifen und über das eine oder das andere Werk Ansorges rasch eine prägnante Vorstellung zu bekommen. Heitmanns Arbeit schlägt jedoch Brücken zwischen musikwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Forschungsgebieten und demonstriert eindrucksvoll, wie fruchtbar interdisziplinäre Ansätze für die Geisteswissenschaften sein können. Denn genau sie sind es, durch die sich das Werk Ansorges so umfassend und überzeugend erschließen lässt.
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Gabriele von Bassermann-Jordan
Gabriele von Bassermann-Jordan
Jens Schnitker: Ästhetizismus und Geschichtsphilosophie. Zum Zusammenhang von Décadence und Décadence in der gegen-naturalitischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 840), 312 S.
Jens Schnitker unterscheidet in seiner Dissertation vier verschiedene Bedeutungsebenen des Begriffs Décadence. Die erste bezeichnet die geschichtsphilosophische (gesellschaftlich-historischer Verfall), die zweite Motive und Themen des Verfalls (etwa Krankheit und Tod), die dritte die ästhetizistische Kunst- und Lebensauffassung der gegen-naturalistischen Literatur, die vierte die Ebene der Poetologie (S. 13f.). Im Zentrum der Studie steht der Zusammenhang von geschichtsphilosophischer und ästhetizistischer Bedeutung von Décadence. Schnitker will den Ästhetizismus als eine Antwort auf das im 18. Jahrhundert entwickelte geschichtsphilosophische Verständnis der Décadence im Sinn von moralisch-kulturell-gesellschaftlichem Verfall verstanden wissen (S. 20, S. 28 u. ö.). Diese These wird im Verlauf der Studie stringent verfolgt. Anhand von Montesquieus ‚Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence‘ (1734) und Rousseaus ‚Discours […] sur la question, si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs‘ (1750) verfolgt Schnitker zunächst die geschichtsphilosophische Bestimmung von Décadence im 18. Jahrhundert und behält die Anschlussfähigkeit der Gedanken für das (Selbst-)Verständnis des Ästhetizismus um 1900 dabei stets im Blick. Sowohl Montesquieu als auch Rousseau sehen die Décadence als eine unausweichliche Phase in der historischen Entwicklung eines Staats an. Beide benennen als zentrales Problem der untergehenden spätrömischen Gesellschaft den moralischen und körperlichen Verfall im Zusammenhang mit der zunehmend luxuriösen Lebensweise. Nach Rousseau bedingen Wissenschaft und Künste einen Sittenverfall, dessen Ausdruck sie zugleich sind (S. 34–60). https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0016
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Für die Engführung von geschichtsphilosophischer und literarischer Décadence ist insbesondere Kapitel 2.2.2 von Interesse. Schnitker kann hier zeigen, wie Nisard, Baudelaire und Gautier im Lauf des 19. Jahrhunderts an die Positionen Montesquieus und Rousseaus anknüpfen, sie in die Literatur überführen und in der Diskussion um den Ästhetizismus schließlich positiv umwerten. Désiré Nisard ordnet in ‚Etudes de mœurs et de critique sur les poètes latins de la décadence‘ (1834) der spätrömischen Antike eine eigene Literatur zu, die er allerdings im Vergleich mit der klassischen römischen Literatur (noch) als minderwertig ansieht (S. 62). In ‚Notes nouvelles sur Edgar Poe‘ (1857) gelingt es Charles Baudelaire, seine Zeit im historischen Sinn als dekadent zu kritisieren und zugleich die Décadence im literarischen Sinn positiv zu bewerten: Es gelte, sich zur Literatur der Décadence zu bekennen, um so nie dagewesene Werke schaffen zu können (S. 64f.). Baudelaire legt den Grundstein für die Opposition von Ästhetizismus und modernem Fortschritts- und Nützlichkeitsglauben, die die programmatische Basis der Autoren um 1900 sein wird (S. 65f.). Théophile Gautier schließlich feiert 1869 in einem Nachruf auf Baudelaire die literarische Décadence als inhaltlich und stilistisch meisterhaft (S. 68f.). Im Folgenden analysiert Schnitker vier repräsentative Prosatexte der Jahrhundertwende: Joris-Karl Huysmans’ ‚A Rebours‘ (1884), Oscar Wildes ‚The Picture of Dorian Gray‘ (1890/91), Georges Rodenbachs ‚Bruges-la-Morte‘ (1892) und Heinrich Manns ‚Pippo Spano‘ (1904). Die Textanalysen scheinen zunächst das in der Forschung häufig anzutreffende Urteil zu bestätigen, dass das Scheitern der Protagonisten auf ihre ästhetizistische Lebens- und Kunstauffassung zurückzuführen sei. Schnitkers genaue Lektüre vermag jedoch differenziertere Ergebnisse zu liefern: Zum einen seien auf der Figurenebene unterschiedliche ästhetizistische Konzepte vorzufinden; zum anderen sei das Scheitern der Figuren nicht notwendig an ihre ästhetizistische Lebensführung gekoppelt; zum dritten werde das ästhetizistische Lebensmodell bzw. das ästhetizistische Künstlertum nicht generell kritisiert, sondern nur einzelne Aspekte desselben. Schnitker beharrt abschließend auf der Gültigkeit seiner These, dass eine ästhetizistische Lebenshaltung sehr wohl eine gelungene Antwort auf die Probleme der Décadence als geschichtsphilosophisches Phänomen sein könne – nämlich dann, wenn sie sich, wie in Baudelaires Gedicht ‚Elévation‘, „ästhetizistisch über die Welt erheb[e]“ (S. 274). –
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Eine auch für die George-Forschung wichtige Studie, weil sie eine ganze literaturgeschichtliche Konstellation, die auch für George äußerst relevant ist, auf eine originelle Weise in den Blick nimmt.
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Wolfgang Braungart
Eckart Conze / Wencke Meteling / Jörg Schuster / Jochen Strobel (Hg.): Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept, 1890–1945. Köln – Weimar – Wien: Böhlau 2013 (= Adelswelten, Bd. 1), 365 S. Dieser Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung ‚Aristokratismus und Moderne: 1890–1945‘, die 2009 an der Universität Marburg stattgefunden hat. Dort verfolgt der Mitherausgeber Eckart Conze seit etlichen Jahren einen Forschungsschwerpunkt zu Neu-Adelsvorstellungen um und nach 1900. George-Lesern muss man kaum sagen, wie wichtig derartige Vorstellungen bei George selbst und im Kreis waren. Die Marburger Literaturwissenschaftlerin Barbara Stiewe nimmt in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band den einschlägigen Vers aus dem ‚Stern des Bundes‘ sogleich auf: „Neuen adel, den ihr suchet…“ Sie trägt viele Belege für die Bedeutung neuadliger Vorstellungen im George-Kreis zusammen, zeigt, wie wichtig sie für die Rekrutierung neuer Mitglieder im Kreis sind, und verschweigt auch nicht, dass „seine Schüler sich nicht immer von einem Missbrauch der Lehre für tagespolitische Ziele abhalten ließen; so instrumentalisierte beispielsweise Friedrich Wolters den geweissagten ‚neuen Menschen‘ respektive ‚neuen Adel‘ und das ‚neue Reich‘ im Kampf gegen Demokratie und Republik.“ (S. 296) „Im Zweiten Weltkrieg“, so Stiewe weiter, „schließlich wurde die Georgische Utopie einigen Adligen zur Waffe des tätigen Widerstandes gegen das Hitler-Regime.“ (Ebd.) Der Beitrag Stiewes zeigt exemplarisch, wie schwierig solche Neuadelskonzepte sind. Niemand möchte heute wohl ernsthaft bestreiten, dass auch die moderne Gesellschaft Eliten braucht. Moralisch (hoffentlich) integre Funktionseliten sind aber etwas anderes als die ‚Neuadelswelten‘, von denen in diesem grundlegenden Sammelband die Rede ist. Nach der Einführung der Herausgeber, die neue aristokratische Vorstellungen mit der Moderne in Verbindung bringt, folgen eine ganze Reihe von Aufsätzen, die auch für die George-Forschung interessant sind und hier zumindest genannt sein sollen: Günter Erbe befasst sich mit dem ‚Dandytum im 19. und frühen 20. Jahrhundert‘, dem der ‚Aristokrat‘ https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0017
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Wolfgang Braungart
selbst zum Kunstwerk wird. Ulrich Sieg stellt Nietzsche als grundlegende Autorität für den Neuadelsdiskurs dar. Und Jörg Schuster untersucht, wie ‚Aristokratie‘ zum poetischen Konzept um 1900 wird. Zu nennen sind hier schließlich noch Dirk Kaeslers Aufsatz über Max Weber, Ingo Wiwjorras Beitrag über ‚Völkische Konzepte des Aristokratischen‘, zumal auch der George-Kreis von ihnen nicht unberührt bleibt, und schließlich Jochen Strobels Untersuchung zu ‚Adelssemantik ab 1933 und die Literatur‘. Meines Erachtens ist dieser Band unerlässlich, wenn es darum geht, Georges Werk seit dem ‚Siebenten Ring‘ und insbesondere dem ‚Stern des Bundes‘ diskurs- und problemgeschichtlich zu verorten.
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Boris Roman Gibhardt
Olivier Agard / Barbara Beßlich (Hg.): Kulturkritik zwischen Deutschland und Frankreich (1890–1933). Frankfurt a. M.: Peter Lang Edition (= Schriften zur Politischen Kultur der Weimarer Republik, Bd. 18), 392 S.
Der Band verfolgt in seiner Bestimmung des Phänomens der Kulturkritik um 1900 zwei wesentliche Ziele: Zum einen schlägt er vor, die häufig in einer spezifisch deutschen Denktradition situierte Kulturkritik in einer deutsch-französischen Perspektive zu betrachten. Zum anderen will er der virulenten Etikettierung der Kulturkritik als konservative Modernefeindlichkeit entgegentreten. Mit anderen Worten: Kulturkritik sei, selbst wenn sie immer auch Missstände der Kultur zur Begründung der eigenen Artikulation erhebt und damit tendenziell „alarmistisch“ und „hypergeneralisierend“ (S. 273) verfährt, nicht schon per se gegen den gesellschaftlichen und ästhetischen Fortschritt gerichtet. Was den ersten Punkt betrifft, so dient die deutsch-französische Perspektive den Herausgebern dazu, Gemeinsamkeiten kulturkritischer Argumentationsmuster zu betonen. Gleichwohl bringt die länderübergreifende Sicht – zunächst einmal – gerade die Vielzahl nationalistischer Implikationen der Kulturkritik um 1900 ans Licht: In beiden Ländern richtete sich letztere oft auch gegen den jeweiligen Nachbarn. In ihrer Einleitung (S. 9–24) minimieren die Herausgeber auch keineswegs die Tatsache, dass die Diagnosen über die moderne Zivilisation in Deutschland wie Frankreich unter der Bedingung ihrer jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Prozesse zu verstehen sind. Ein epochenvergleichender Blick hätte die spezifische nationalistische Zuspitzung der Kulturkritik um 1900 vielleicht noch besser konturieren können. Denn in ihren Anfängen im 18. Jahrhundert, also vor den Nationalbewegungen, dürfte sich Kulturkritik stärker an der eigentlichen ‚Kultur‘, das heißt an Lebens- und Denkgewohnheiten abgearbeitet haben. (Hier wäre etwa an die Entgegensetzung von Genfer und Pariser Kultur bei Jean-Jacques Rousseau oder von napoleonischer Hegemonie und deutscher Intellektualität bei Madame de Staël zu denken – diese Historizitäten des Phänomens „Kulturkritik“ bis einschließlich Friedrich Nietzsche bleiben im https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0018
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Boris Roman Gibhardt
Band leider ausgespart). Die Herausgeber betonen, dass es bei aller Nationalisierung der Kulturkritik im deutsch-französischen Verhältnis um 1900 auch Konvergenzen gab. Diese hätten bislang nicht selten im Schatten der vermeintlichen Polarität eines deutschen Kulturpessismismus des wilhelminischen Bürgertums einerseits und eines französischen Fortschrittsoptimismus der republikanischen Intellektuellen andererseits gestanden. Von dieser These ausgehend, werden im Band sozial-, kultur- und literaturgeschichtliche Aspekte in erhellender Weise parallel gelesen. Um die skizzierte deutsch-französische Konvergenz zu belegen, werden im Band Versuche herangezogen, die Kultur stärker vom Individuum und seiner schöpferischen Entfaltung her zu denken. Diese Bemühungen, so der Tenor, gründeten, bei aller Differenz, in einer der Sache nach analogen kulturkritischen Fragestellung. Entsprechend wird in mehreren Beiträgen auf Henri Bergsons Philosophie, die anthropologisch von der Kreativität des Individuums ausgeht und in Deutschland schnell Verbreitung fand, Bezug genommen (vgl. bes. S. 207–222). Freilich bleibt der im Band prominent vertretene, dort jedoch nicht systematisch definierte Transfer-Begriff hier, wie so oft, insofern etwas unscharf, als er eine positive Suggestion mitführt, die man schnell politisiert, als wäre, wo etwas transferiert wurde, immer auch gleich ein im politischen Sinn anti-nationales Ziel verfolgt worden. Hier bliebe zu berücksichtigen, dass ästhetisch-philosophische Austausch-Beziehungen, wie etwa die Bergson-Übersetzungen, nicht per se politische Ansichten widerspiegeln. Dies wird im Band auch nicht unterstellt. Allerdings bleibt unklar, wie sich Austausch-Beziehungen in möglicherweise bewusst entpolitisierten Sphären, etwa bestimmten literarischen oder philosophischen Haltungen wie denjenigen im Umfeld der Bergson-Rezeption, in die politisch-nationale Grundstruktur einfügen, die im Band durch die Fragestellung vorgegeben ist. Ob Bergsons Denken und seine Rezeption schon deshalb völkerverständigend sind, weil es um philosophische Diskurse geht, bleibt im politischen Rahmen eine etwas unsichere Grundlage der ‚Konvergenz‘-These. Einerseits sollen Stereotype wie Fortschrittsglaube und Modernefeindlichkeit zugunsten der Kulturkritik als „Reflexionsmodus“ (S. 10) aufgebrochen werden. Andererseits dürfte der Band nicht immer ganz dem Impuls entgehen, die Akteure der Kulturkritik in Nationalisten einerseits und Europäer andererseits einzuteilen, wobei dann fraglich bleibt, was damals wie heute unter
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einem „europäischen Denken“ (S. 15) zu verstehen ist und welche Rolle die Künste bei diesen Politisierungen spielen: Sind Kunst und Philosophie, da sie nicht mit politischen Begriffen operieren, immer per se unnationalistisch? Sicherlich nicht, doch lassen sie sich nicht mit derselben Hermeneutik befragen wie kulturpolitische Streitschriften im engeren Sinne. Die Beiträge argumentieren hier für sich genommen jeweils sachgerecht und differenziert; zugleich bleibt angesichts der genannten Verschiedenheit der jeweiligen Formen und Gattungen die methodische Frage der Vergleichbarkeit bestehen. (Angesichts der umfangreichen Forschungsprojekte, in deren Filiation der Band steht, wäre in Ergänzung des einleitenden begriffsgeschichtlichen Problemaufrisses vielleicht ein Schlusswort aufschlussreich gewesen, in dem eine stärker systematische Perspektivierung der Forschung hätte skizziert werden können.) Was besonders positiv auffällt, ist, dass innerhalb der Beiträge die Standpunkte der Kulturkritik in Hinsicht auf die Milieus, Dynamiken und Werte-Konzeptionen befragt werden, in deren Rahmen sie erst zu verstehen sind – wie etwa der Katholizismus oder philosophische und künstlerische Traditionsbildungen. Als ein aufschlussreicher Fall hierfür erscheint dabei der im Band thematisierte sog. Böcklin-Streit um 1905, bei dem Vertreter einer nationalistischen und einer dezidiert am französischen Impressionismus ausgerichteten Kunstästhetik kontrovers diskutierten, wie „modern“ die Malerei des Schweizers Arnold Böcklin sei. Wie dem entsprechenden Beitrag (Bernhard Walcher, S. 259–273) zu entnehmen ist, wurde die (später als urgermanisch stilisierte) Kunst Böcklins von dem nationalistisch gesinnten Heidelberger Kunstgelehrten Henry Thode nicht nur gegen französische Kunst, sondern in einer Instrumentalisierung der Kunstkritik für die Kulturkritik auch gegen Frankreich insgesamt in Stellung gebracht, während der Impressionismus-Apologet Julius Meier-Gräfe die mythologisch-symbolistischen Sujets Böcklins als Parade-Beispiel für die von ihm diagnostizierte Schwäche der deutschen Kunst abwertete. Zugleich jedoch lassen sich in Thodes Argumentation Kriterien finden, die – was im Beitrag leider nicht thematisiert wird – auf die frühromantische Kunstphilosophie hinweisen und nicht pauschal (oder eben nur in ihrer Instrumentalisierung) dem wilhelminischen Nationalismus zugeordnet werden können. Zudem galt Böcklin auch und gerade in fortschrittsorientierten Kreisen als Hoffnungsträger der modernen Kunst, so dass die seit dem BöcklinStreit tradierten Zuschreibungen zu hinterfragen sind (S. 273).
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Mit solchen Rekontextualisierungen schlägt der verdienstvolle Band ganz die richtige Richtung ein, da er sich vornimmt, Etikettierungen der Kulturkritik in Frage zu stellen und die vermeintliche Polarität von rückwärtsgewandtem Konservatismus und fortschrittsorientierter Moderne zu durchbrechen. Will man weitere Forschungsfragen benennen, die auf dem Band aufbauen und über ihn hinausgehen könnten, so wäre an die gerade im Zusammenhang mit dem Böcklin-Streit erwähnte romantische Tradition der lange Zeit als „konservativ“ abgestempelten Positionen zu denken. Denn im Sinne einer historischen Semantik wurde wohl in der Romantik, zumal der Frühromantik, erstmals der Blick auf das gelenkt, was im rationalistisch-modernistischen Fortschrittsglauben vergessen oder tabuisiert wurde. Es besteht deshalb noch kein Grund, von einer durchgängig konservativen Orientierung der europäischen romantischen bis spätromantischen Prägungen auszugehen (vgl. den Hinweis auf S. 54 sowie zur politischen Romantik S. 223–244). Insofern ergibt sich – so aufschlussreich die binationale Perspektivierung ist, die der Band vorschlägt – durchaus das Desiderat, die Bedingungen der Kulturkritik auch noch einmal aus der Kunst und Ästhetik im engeren Sinn heraus zu bestimmen (vgl. hierzu bereits die interessanten Ansätze in den Beiträgen S. 275–290 sowie S. 291–308). Dies dürfte sich aber gegenüber dem synchronen, dabei binationalen Blickwinkel als eine vielleicht noch komplexere Aufgabe erweisen, weil noch stärker als im Band bereits geschehen auch Quellen nicht-diskursiver Ausrichtung zu berücksichtigen wären: Texte und Bilder, die, wie gerade in und seit der (Früh-)Romantik häufig der Fall, im symbolischen oder allegorischen Darstellungsmodus weitreichende theologische oder geschichtsphilosophische Implikationen verhandeln und deren Methode und ästhetische Alternativität ja nicht ohne weiteres in propositionale Argumentationen und Semiotiken verengt werden kann. Solche Darstellungsformen, denen mit gängigen Schlagworten des Moderne-Narrativs nicht beizukommen ist, dürften bis heute gegenüber programmatischen Kunst- und Protestbewegungen (etwa der Avantgarden) immer noch ein Stück weit unter dem Legitimationsdruck stehen, ihre Modernität unter Beweis stellen zu müssen. Insofern entgeht auch oder insbesondere die Forschung bis heute den Zuschreibungen nicht immer, zu deren Hinterfragung der Band zu Recht einlädt.
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Gabriele von Bassermann-Jordan
Dieter Burdorf / Thorsten Valk (Hg.): Rudolf Borchardt und die Klassik. Berlin – Boston: de Gruyter 2016 (= Klassik und Moderne. Schriftenreihe der Klassik Stiftung Weimar 6), 305 S.
Um 1800 ist die Vorstellung des ‚Klassischen‘ eng mit einer als ‚harmonisch‘ gedachten Antike verbunden, die der dezentrierten Moderne als strukturelles Vorbild dient. Um 1900, nach Bachofen, Freud und Nietzsche, ist das ‚Klassische‘ neu zu denken. ‚Klassizität‘ ist nicht zu verwechseln mit ‚Klassizismus‘, dem epigonalen Festhalten an überlebten Traditionen. Wie Rudolf Borchardt das ‚klassische‘ Erbe versteht, das zu einer (Neu-)Begründung der deutschen Dichtung um 1900 beitragen soll, wird in dem von Dieter Burdorf und Thorsten Valk herausgegebenen Sammelband in insgesamt 13 Aufsätzen diskutiert. Verschiedene Aspekte des ‚Klassischen‘ werden etwa im Rückgriff auf Rudolf Borchardts ‚Epilegomena zu Homeros und Homer‘ (Matthias Buschmeier, S. 45–64) und auf seine Dante-Übersetzung (Olaf Müller, S. 85–99) rekonstruiert, anhand seiner Bezugnahmen auf Klassik und Romantik (Kai Kauffmann, S. 159–180; Ralf Klausnitzer, S. 181–201), anhand seiner Goethe- und Schiller-Deutungen (Dirk Werle, S. 121–137; Nikolas Immer, S. 139–158) oder unter Bezugnahme auf Borchardts klassizistische Lyrik (Lars Korten, S. 247–265). Daraus ergibt sich ein Katalog von – einander teilweise widersprechenden – Merkmalen, der sich in der instruktiven Einleitung der Herausgeber zusammengefasst findet (S. 1–16). Spreche Borchardt vom ‚Klassischen‘, so beziehe er sich auf die „späthöfische Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts“ (S. 2), die, angesiedelt in Weimar, durch die Leitfiguren Goethe und Schiller sowie durch Wieland und Herder repräsentiert werde (S. 3). Zum ‚Klassischen‘ gehöre die „Gesellschaftsorientierung des Dichters“, die wiederum von den Rezipienten „erkannt, bejaht und umgesetzt“ werde (S. 4). Weitere Merkmale des ‚Klassischen‘ seien für Borchardt die „Idee des Überzeitlichen“, die „Vorstellung eines Neubeginns“ und, damit verbunden, die Denkfigur des „Abschließens und Vollendens kulturgeschichtlicher Entwicklunhttps://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0019
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gen“ (S. 9). ‚Klassizität‘ manifestiere sich ferner für Borchardt dort, „wo die Poesie einer späten Kulturepoche auf ihre Wurzeln in einer fernen Vergangenheit zurückbezogen“ werde (S. 11). Zwei Aufsätze des Bandes widmen sich Borchardts Verständnis des ‚Klassischen‘ im Vergleich zu demjenigen Stefan Georges. Cornelia Blasberg analysiert in ihrem Beitrag „Klassizität und Europäizität“ die unterschiedlichen Positionen Borchardts und Georges hinsichtlich der Frage, welcher Stellenwert dem europäischen Literaturerbe bei der Erneuerung der deutschen Literatur um 1900 zukomme (S. 203–224). George verstehe sich als „Gesetzgeber[ ]“ (S. 216). Die Option auf die eigene Klassizität verbinde George mit der Vorstellung des Neubeginns in der deutschen Literatur, die die deutschen zeitgenössischen literarischen Strömungen radikal verabschiede und sich stattdessen zur europäischen Dichtung hinwende (S. 217). Die Lyrik des französischen, belgischen und holländischen Symbolismus und der durch die Symbolisten vermittelte Baudelaire werden von George „mit Blick auf die besondere deutsche Situation“ als „‚klassisch‘ interpretiert“ (S. 221) und – in seiner eigenen Baudelaire-Übertragung und in den davon inspirierten lyrischen Zyklen des Frühwerks – in die deutsche Dichtung eingeführt. Diese „neue Kunst“ beanspruche, eine eigenständige Genealogie zu begründen, die mit dem Namen ‚Stefan George‘ aufs engste verbunden sei (S. 219).1 Borchardt dagegen verstehe sich nicht als Neuschöpfer, sondern als „Interpret[ ] transhistorischer Gesetze“ (S. 216). Nach Borchardt, so Blasberg im Rückgriff auf den ‚Europa‘-Essay, konstituiere sich Europa nicht geographisch oder politisch, sondern geistig, in einer Abfolge von immer neuen Akten der Selbstsetzung (S. 214f.). Entsprechend fordere Borchardt „[z]ugunsten einer neuen Klassizität […] ein dynamisches, dem Transitraum Europa angemessenes Traditionsbewusstsein, das den Gestus der geistigen Setzung Europas lebendig“ erhalte (S. 216). Sich selbst sehe Borchardt in diesem Prozess als „Medium“ (S. 213). Seine 1
Carl August Klein: Über Stefan George. Eine neue Kunst. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George, hg. von Carl August Klein, Berlin 1892–1919, abgelichteter Neudruck, Düsseldorf – München 1968, 1. Folge, 2. Heft (1892), S. 45–50. – Der von George postulierte Neuanfang ist freilich keine creatio ex nihilo. Vgl. dazu Maik Bozza: Genealogie des Anfangs. Stefan Georges poetologischer Selbstentwurf um 1890, Göttingen 2016 (= Castrum Peregrini 9).
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Übersetzungen seien im Sinn der Revitalisierung des europäischen ‚traditums‘ zu verstehen (S. 213f.) Als ‚Schöpferische Restauration‘ des ‚Klassischen‘ fasst Borchardt auch seine Tätigkeit als Herausgeber auf. Gerhard R. Kaiser analysiert die Bezugnahme auf die deutsche klassisch-romantische Lyrik, die Borchardt und George / Wolfskehl in ihren Anthologien ‚Ewiger Vorrat deutscher Poesie‘ (1926) und in ‚Deutsche Dichtung‘ (3 Bände, 1900–1902) vornehmen („Klassik und Romantik in den Anthologien von George / Wolfskehl, Hofmannsthal und Borchardt“, S. 225–246). Den Anthologisten sei gemeinsam, dass sie die literarische Tradition, als deren Erben sie sich verstehen und die folglich auf ‚richtige‘ Weise anzueignen sei, in der Auswahl und Anordnung der Gedichte (bis hin zu massiven Texteingriffen) zuallererst selbst konstruieren, wobei sie unterschiedliche Akzente setzen (S. 244 und S. 246). Borchardt wolle in der Dichtung der Klassik und Romantik ein „wesenhaft Deutsches“ erkennen (S. 231), das sich ihm als ein besonderes „Verhältnis des Sterblichen zum Unsterblichen“2 darstelle. Gretchens Lied ‚Ach neige, Du Schmerzensreiche‘ versteht er als einen „katholische[n] Litaneienwiderhall“,3 das er, höchst eigenwillig, nicht unter die frühe Lyrik Goethes, sondern zwischen zwei spätmittelalterliche Kirchenlieder einordnet.4 Für George / Wolfskehl dagegen stehen die klassische „Konzeption zweckfreier Schönheit“ in Schillers ‚Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ sowie „frühromantische Konzepte einer kalkulierten Gemütserregungskunst“ im Vordergrund, so Kaiser (S. 236).5 Dementsprechend wählen sie die Gedichte ihres ‚Goethe‘-Bandes so aus, dass der Klassiker als „artistischer Formenkünstler“ erscheine, der – nicht nur durch Georges Kleinschreibung und seine eigenwillige Interpunktion – als ein „Vorläufer des frühen Stefan George vereinnahmt“ werden könne (S. 237). Blasberg und Kaiser diskutieren also nicht die George und seinen Kreis betreffenden Schriften Borchardts und das schwierige persönliche 2
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Rudolf Borchardt: Nachwort. In: Ders.: Ewiger Vorrat deutscher Poesie, München 1926, S. 443–484, hier S. 474. Ebd., S. 462. Vgl. ebd., S. 25. Vgl. Stefan George / Karl Wolfskehl (Hg.): Deutsche Dichtung. 3. Band: Das Jahrhundert Goethes, hg. von Ute Oelmann, Stuttgart 1991, ‚Vorrede zur zweiten Ausgabe‘, S. 6f., hier S. 7.
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Verhältnis der beiden Autoren.6 Sie rekonstruieren vielmehr, wie Borchardt und George die Erneuerung der deutschen Dichtung im Zeichen von ‚Klassizität‘ auf unterschiedlichen Wegen zu erreichen suchen.
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Ausführlich dazu Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der ‚Untergang der deutschen Nation‘. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003, Kapitel II: ‚Der feindliche Dichter: Stefan George‘, S. 255–295.
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Holger Dainat
Philipp Redl: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft. Köln – Weimar – Wien: Böhlau 2016. 566 S. Im späten 18. Jahrhundert entstand ein Menschenbild, das auf eine harmonische Entfaltung aller Fähigkeiten zielte. Aus dieser Perspektive wären ‚Dichtergermanisten‘ recht eingeschränkte Erscheinungen. Nun wurde aber die idealistische Anthropologie als Gegenkonzept zu einem Prozess gesellschaftlicher ‚Arbeitsteilung‘ und damit individueller Vereinseitigung formuliert. Der einzelne Mensch war eben nur ein Rädchen in einer großen Maschine, festgelegt auf wenige Eigenschaften, auf die er sich spezialisierte und die er über die Maßen ausbildete. Die Menschheit profitierte davon, der Einzelne litt darunter, wie Schiller erkannte. Die Differenzierungsprozesse sind seitdem derart vorangeschritten, dass man heute solche Konzepte bevorzugt, die nicht mehr den Menschen, sondern die sich verselbstständigenden Teilsysteme, die sozialen Felder oder Diskurse ins Zentrum rücken, um von hier aus die Gesellschaft zu beschreiben. Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf die Eigenlogiken der Teilbereiche, an denen die Einzelnen partizipieren. Aus dieser Sicht sind ‚Dichtergermanisten‘ interessante Figuren, die immerhin in zwei differenten Teilssystemen etwas Besonderes zu leisten versuchen. Um ihre Leistung zu beschreiben, müsste man allerdings von den sozialen Feldern ausgehen. Das macht Philipp Redl jedoch nicht. Er hegt ein gewisses Misstrauen gegenüber „der modernen Ansicht, dass Wissenschaft und Dichtung disjunkte Bereiche zu sein haben, die nicht gleichzeitig von einer Person vertreten werden sollen“ (S. 7). Deshalb setzt er auf biographische Fallstudien, um am Beispiel der Dichter und Germanisten Ernst Stadler (1883–1914), Friedrich Gundolf (1880–1931) und Philipp Witkop (1880–1942) das Verhältnis von poetischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu analysieren. Zwar thematisiert er in seiner Einleitung ausgiebig den „Hintergrund der funktionalen Disjunktion von Künstlertum und Gelehrtentum, den die Philologie vollzogen hatte“ (S. 20). Jedoch https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0020
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entwickelt er daraus keine systematische Fragestellung, an der sich seine Untersuchung ausrichtet. Entsprechend begrenzt fallen die Resultate aus, die Redl in seinem abschließenden verhältnismäßig kurzen „Envoi“ (S. 372–374) präsentiert. Die „Konjunktur“ (S. 7) des Themas scheint eine theoretische Grundlegung des eignen Vorhabens zu erübrigen; eine Abgrenzung zu ähnlich gelagerten Beiträgen1 erfolgt vor allem auf der Ebene der Untersuchungsobjekte. In seiner Einleitung referiert der Verfasser die einschlägige Forschungsliteratur mehr, als dass er sie diskutiert oder reflektiert. Die Ausdifferenzierung der Fachwissenschaft wird akzentuiert, die der (Kunst-)Literatur dagegen vernachlässigt. Dennoch gilt als Kriterium für den Typus des ‚Dichtergermanisten‘ ein „öffentlich wahrgenommene[s] Gleichgewicht von Dichtung und Forschung; dazu gehört auch eine institutionelle Karriere“ (S. 11). Positionen in der akademischen Laufbahn lassen sich eben leichter bestimmen als die literarische Reputation. Eine Professur hatten alle drei inne, über ihren Status als Dichter könnte man streiten. Dennoch eignen sich diese drei Germanisten für eine exemplarische Untersuchung über den Typus des ‚Dichtergermanisten‘, gehören sie doch der gleichen Generation an, die in zeitlicher Parallele um 1910 Literatur und Literaturwissenschaft ‚revolutionierte‘. Bezüge zwischen diesen beiden ‚Paradigmenwechseln‘ haben schon die Zeitgenossen sehen wollen, wie auch eine neue Nähe von Literaturwissenschaft und Literatur. Dagegen fällt das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ernüchternd aus: „Wissenschaftlicher Innovationismus [!] geht keineswegs mit ästhetischem einher und umgekehrt zwingt akademischer Traditionalismus nicht zu poetischem Konservatismus.“ (S. 374) Was sich wie eine empirisch fundierte Bestätigung der funktionalen Differenzierung liest, deutet Redl eher verschwörungstheoretisch, wenn er behauptet, „dass zwei zeitgenössisch prominente Vertreter der anti-philologischen und anti-historischen Germanisten [gemeint sind Gundolf und Wit1
Alexander Nebrig: Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin – Boston 2013; Jan Behrs: Der Dichter und sein Denker. Wechselwirkungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in Realismus und Expressionismus, Stuttgart 2013; Mark-Georg Dehrmann: Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Berlin – München – Boston 2016.
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kop – H. D.] von ihrer Disziplin als Dichter marginalisiert werden. Sie gelten nicht als Innovatoren, sondern als Transgressoren, die die erst erworbene Wissenschaftswürde der Disziplin diskreditieren.“ (S. 374) Würde man nur Einleitung und Fazit zugrunde legen, käme man zu einem wenig günstigen Urteil über diese Heidelberger Dissertation. Deutlich erfreulicher fallen jedoch die drei biographischen Fallstudien zu Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop aus, die den Umfang kleiner Monographien haben. Detailliert und auf breiter Literaturbasis sowie unveröffentlichtem Archivmaterial werden die Karrierewege, vor allem aber die Entwicklung der literarischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten analysiert und auf eine Weise kontextualisiert, die von einer stupenden Belesenheit zeugt. Besonders für Stadler und Witkop hat Redl wahre Pionierleistungen vollbracht, selbst für den weit besser erforschten Gundolf Beachtliches geleistet. Wer sich zukünftig mit diesen drei ‚Dichtergermanisten‘ beschäftigt, wird an den hier vorlegten „Doppelbiographien“ nicht vorbeikommen. Das betrifft auch den umfangreichen Anhang (S. 375–480), der bislang ungedrucktes Archivmaterial vornehmlich zur wissenschaftlichen Laufbahn der drei Germanisten präsentiert. In seiner Darstellung bevorzugt Redl die „historiographisch hergebrachte Sicht ‚von oben‘“ (S. 337), während sich unten auf den Seiten ein Heer von Fußnoten tummelt, das nicht selten mehr Platz beansprucht als der Haupttext. Nicht ohne Grund, denn „[v]on philologischer Warte aus bilden Anmerkungen überhaupt die Grundlage für Wissenschaftlichkeit“ (S. 297f.): Hier präsentiert der Verfasser seine beeindruckende Materialkenntnis. Eine Diskussion der Forschungspositionen findet fast nur im Kleingedruckten statt. Die Faktenfülle bewältigt der Verfasser vor allem darstellerisch am Leitfaden der Biographie und anhand von Textanalysen „mit dem Vokabular der klassischen Rhetorik“ (S. 38). Bei der Deutung der Befunde dient immer wieder die „Disjunktion“ von Dichter und Wissenschaftler als Erklärungshypothese, selbst wenn die mitgeteilten Informationen andere Begründungen plausibler erscheinen lassen. Wenn z.B. Stadlers erste Straßburger Vorlesung zur „Geschichte der elsässischen Literatur im Zeitalter der Reformation“ schlecht, die zweite aber zur „Geschichte der deutschen Lyrik der neuesten Zeit“ gut besucht war, so muss das keineswegs daran gelegen haben, dass „sich das Publikum offenbar dafür interessierte, den nun als Dichter des Aufbruch bekannten Stadler als Professor zu
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hören“ (S. 138f.); das Interesse könnte ja auch schlicht dem Thema geschuldet sein. Bei Gundolf schreibt Redl die große Hörerzahl dem „Faszinosum der Vorlesungen [zu], einen Dichter über Literatur sprechen zu hören“ (S. 241f.), als ob es sich nicht um einen der prominentesten Literaturwissenschaftler seiner Zeit gehandelt hätte, der zahlreiche junge Fachwissenschaftler anzog (vgl. die stattliche Reihe prominenter Namen, die auf S. 244 genannt werden). Wenn Redl eine „Strategie der ‚Abwehr durch Lob‘“ behauptet, „mit der Gundolf als ‚Wissenschaftskünstler‘ marginalisiert wurde“ (S. 237), müsste er auch erläutern, warum sich der derart ‚Marginalisierte‘ ausbedungen hat, „weder Prüfungen abnehmen noch Seminare abhalten“ (S. 241) zu müssen, und selbst Promotionen lange Zeit ablehnte, warum er sich also dem universitären Kerngeschäft der Lehre weitgehend entzogen hat. Kurios wird es schließlich, wenn Witkop selbst dann noch als Opfer seiner Kollegen2 dargestellt wird, als sogar das Ministerium, das ihn allzu lange über Gebühr förderte, schließlich einsehen musste, dass es ihm schlicht an fachlicher Kompetenz mangelte. Nicht die Thesen, sondern das ausgebreitete Material macht die drei Charakteristiken lesenswert.
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„Die amtlich wie fachlich etablierten Philologen exekutieren hier ihre Macht erfolgreich über die Gutachtertätigkeit und zeigen sich aufgrund ihrer eigenen wissenschaftlichen Prägung kritisch gegenüber Neuheiten.“ (S. 311)
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Christian Benne / Dieter Burdorf (Hg.): Rudolf Borchardt und Friedrich Nietzsche. Schreiben und Denken im Zeichen der Philologie. Berlin: Quintus-Verlag 2017 (= Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft, 14), 233 S.
Es hätte George vermutlich nicht gefallen, dass in ‚seinem‘ Jahrbuch ein Sammelband über Rudolf Borchardt besprochen wird, und dies dann nicht einmal in Bezug auf ihn, sondern auf Friedrich Nietzsche, das andere „Ausstrahlungsphänomen“ (so Gottfried Benn über George wie auch über Nietzsche). Borchardt also – und dann auch noch Nietzsche! Georges Nietzsche-Skepsis begann nicht erst mit seinen kulturkritischen Zeitgedichten, sondern – so Jan Andres in dem einzigen Beitrag des Bandes mit George-Bezug – bereits um 1900, also im Todesjahr des Philosophen. Für George war Nietzsche vor allem eines: „kein Sänger, keine Gestalt“ (Andres), Bedeutung hatte er für ihn nur als Rhetor: „sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele!“ kritisiert George Nietzsche mit dessen eigenen Worten. Dass der von Christian Benne und Dieter Burdorf herausgegebene Band als tertium comparationis nicht das „Schreiben und Denken“ im Zeichen der Poesie, sondern im „Zeichen der Philologie“ dient, erscheint so gesehen auch nur folgerichtig; dass Borchardt dadurch auch gleich mit aus den dichterischen Höhen in die Niederungen der Wissenschaft gezogen wird, hätte George vermutlich wohlwollend zur Kenntnis genommen. Nietzsches Einfluss auf die Literaten des frühen 20. Jahrhunderts ist spätestens seit Erscheinen der Arbeiten von Bruno Hillebrand und Christian Schärf ein fester Bestandteil der Moderneforschung. Nietzsche „zu ignorieren“, so heißt es gleich in der Einleitung des hier vorgestellten Bandes, „war in der deutschen, ja europäischen intellektuellen Welt seit 1900 nur möglich um den Preis der freiwilligen Selbstaufgabe“. Die Werke von Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Benn und auch George sind ohne den Einfluss des „weitreichende[n] Gigant[en] der https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0021
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nachgoethischen Epoche“ (Benn) nicht mehr denk- geschweige denn verstehbar. Nun wird mit einer gewissen Verspätung die Verbindung zwischen Nietzsche und Borchardt in den Blick genommen, die sich in erster Linie durch ihr Studium der klassischen Philologie in einer bestimmten, antimetaphysischen und antitheologischen Spielart ausdrückt, die „prägend für ihr Verständnis der Antike, aber auch ihren geistigen Stil wurde“ (Benne / Burdorf). Anhand von Borchardts dezidiert experimentell-moderner und gerade nicht nur restaurativer Pindar-Anverwandlung (die aller Wahrscheinlichkeit in Unkenntnis der NietzscheSchriften vonstatten ging) zeigt Dieter Burdorf exemplarisch die Ähnlichkeit ihrer beider produktiven Anverwandlung der Antike. Aufgrund dieses schöpferischen Zugangs bezeichnet der Altertumswissenschaftler Wolfgang Schuller die beiden Autoren – unter halbironischer Anspielung auf Nietzsches Gegenspieler, den bedeutenden Gräzisten Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff – als „Philologen der Zukunft“. Wie das schöpferische Element ihrer philologischen Tätigkeiten mit ihrer Begeisterung für Italien zusammenhing, zeigt der Beitrag der Florentiner Germanistin Vivetta Vivarelli; ihre Kollegin aus Padua, Isabelle Ferron verdeutlicht, dass im Falle von Borchardt auch zeitgenössische italienische Philosophen, wie Benedetto Croce, Leitsterne wurden. Dass zu einem derartigen Selbstverständnis nicht nur eine scharfe Auseinandersetzung mit der u.a. von Wilamowitz-Moellendorf geforderten Neuausrichtung des Faches gehörte, sondern auch eine mit dem als Teufel beschriebenen „traditionslosen Traditionszerstörer“ Wilamowitz-Moellendorff, veranschaulicht Peter Sprengel in seinem Aufsatz über das Verhältnis von Borchardt zu Wilamowitz-Moellendorf, dessen „entscheidendes Manko“ Borchardt in dessen „Unfähigkeit zur ‚Interpretation‘ auf Basis eines sicheren Formbewusstseins“ gesehen habe. Und Form ist für Borchardt, für Nietzsche und, so Claus Zittel, auch noch für Adorno der höchste oder eigentliche Inhalt. Wie sich der schöpferische Umgang mit dem Material auch auf die eigene Biographie erstreckt, zeigt schließlich der Aufsatz von Christian Benne, der in Ecce Homo und Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt alternative Formen autobiographischen Schreibens sieht, in denen es darum gehe, „nach dem Ende des Subjekts die Person zu retten und neu zu begründen.“ Der Band zeigt auf eindringliche und äußerst erfreuliche Weise, dass sich die daran beteiligten Forscherinnen und Forscher – dem philologi-
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schen Selbstverständnis der von ihnen behandelten Autoren nicht unähnlich – von dem Anspruch „intensive[r] Konzentration und minutiöse[r] Lektüre“ leiten ließen, vor allem da glänzen, wo sie größere Thesen am konkreten Textbeispiel entwickeln, und sich nicht auf „antiquarische[s] Sammlertum[…] oder kollektive[…] Forschungsprojekte modernen Typus“ verlegen.
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Aus der Stefan-George-Gesellschaft Gabriele von Bassermann-Jordan
Nachrichten Zur Jahrestagung 2016 Am 5. und 6. November 2016 hat die große Jahrestagung ‚Stefan George und die Jugendbewegung‘ im Stefan-George-Haus in Bingen stattgefunden. In insgesamt elf Vorträgen wurde das Verhältnis Stefan Georges und seines Kreises zur Jugendbewegung analysiert. Prof. Dr. Wolfgang Braungart (Bielefeld), Vorsitzender der Stefan-GeorgeGesellschaft e. V. Bingen, begrüßte die Anwesenden und eröffnete die Tagung. Prof. Dr. Barbara Stambolis (Paderborn) hielt den ersten Vortrag zum Thema ‚Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis. Überlegungen zur Kreisbedürftigkeit und Kreispraktiken in der Jugendbewegung, mit und ohne George‘. Prof. Dr. Rainer Kolk (Bonn) sprach aus germanistischer Perspektive über ‚Literatur und ‚Jugend‘ am Beginn des 20. Jahrhunderts‘. Sodann wurde das Thema ‚Stefan George und die Jugendbewegung‘ in insgesamt drei Vorträgen aus der Sicht von Historikern angegangen. Prof. Dr. Manfred Hettling (Halle / Saale) sprach über ‚Bürgerliche Gruppenbildungen‘, Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer (Münster) über ‚Bünde und Kreise. Jugendbewegte Gemeinschaftsformen von der Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik‘, Prof. Dr. Eckhart Conze (Marburg) über den ‚Aristokratismus in der Jugendbewegung nach 1918‘. Aus philologischer Perspektive folgten dann der Vortrag von Dr. Malte Lorenzen (Bielefeld) zur ‚George-Rezeption in der jugendbewegten Literaturkritik‘ sowie ein Vortrag von Dr. Dr. Michael Fischer (Freiburg) mit dem Titel ‚Der Flamme Trabant. Zum Motiv von Flamme und Feuer in Liedern der Jugendbewegung und des Nationalsozialismus‘. Für den öffentlichen Abendvortrag konnte Prof. Dr. Micha Brumlik (Berlin) gewonnen werden, der über ‚Jüdische Jugend zwischen Martin Buber und Stefan George, zwischen Berlin und Palästina. Die Werkleute und der Kibbuz Hasorea‘ sprach. https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0022
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Die Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Dr. Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen), hielt am Sonntag, 6. November, den ersten Vortrag zu ‚Freundschaft und Exklusion – Beobachtungen zur Konstruktion von Gemeinschaft im Wandervogel anhand der Fahrtenund Nestbücher im Vergleich zum George-Kreis‘. Anschließend sprach Dr. Michael Philipp (Hamburg) über ‚Die Flamme, der Führer, der Bund. Jugendbewegte Topoi in der Dichtung Stefan Georges‘. Der letzte Vortrag gehörte Dr. Georg Dörr (Tübingen), der über ‚Stefan George, Walter Benjamin und die Jugendbewegung‘ referierte. Nach der Abschlussdiskussion endete die Tagung, die neben den Referenten und Referentinnen von einer großen Zahl sehr interessierter Zuhörer getragen wurde. Wie bei jeder Jahrestagung, so fand auch im Jahr 2016 nach dem Abendvortrag ein Empfang mit Wein und einem kleinen Imbiss für Mitglieder und Gäste statt, der ebenfalls gut besucht war. Die Ergebnisse der Jahrestagung von 2016 werden in einem eigenen Band ‚Stefan George und die Jugendbewegung‘ (2018) veröffentlicht, die Vorträge der Jahrestagung von 2015 hingegen (‚Stefan George und die Briefkommunikation im Kreis‘), über deren Verlauf bereits im Jahrbuch 11 berichtet worden ist, erscheinen in diesem, nun vorliegenden Jahrbuch. Neuerscheinungen 2016 Im Sommer 2016 wurde das Stefan-George-Jahrbuch 11 ausgeliefert und an die Mitglieder verschickt. Zudem ist Maik Bozzas Studie ‚Genealogie des Anfangs. Stefan Georges poetologischer Selbstentwurf um 1900‘ 2016 in der Reihe Castrum Peregrini im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. Sie wird im vorliegenden Jahrbuch besprochen. Zur Mitgliederversammlung 2016 Zu Beginn der Mitgliederversammlung 2016 gedachten die Anwesenden des verstorbenen Mitglieds Wolfgang Saur. Danach trug Prof. Dr. Wolfgang Braungart seinen Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016 vor, den Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan um einen kurzen Abriss ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin ergänzte. Der Kassenbericht für das Jahr 2015 hat noch OStR. i. R. Gisela Eidemüller erstellt. Er wurde von den Kassenprüfern Gudrun Hilsdorf, Apo-
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thekerin i. R., und Reiner Oschewsky, OStD. i. R., für in bester Ordnung befunden. Diese beiden Rechnungsprüfer legten anschließend ihr Amt nieder. Für die Prüfung des Kassenberichts des Jahres 2016, den erstmals Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan erarbeiten wird, haben sich Dr. Markus Pahmeier und Kim Walla, beide Bielefeld, zur Verfügung gestellt. Die Mitglieder dankten Gudrun Hilsdorf und Reiner Oschewsky für ihr Engagement in der Vergangenheit sowie Markus Pahmeier und Kim Walla für ihr Engagement in der Zukunft. Auf Antrag von Prof. Dr. Kai Kauffmann erfolgte einstimmig die Entlastung des Vorstands (bei Enthaltung der Vorstandsmitglieder). Im Rahmen der Mitgliederversammlung wurde die langjährige Geschäftsführerin der Stefan-George-Gesellschaft e. V., OStR. i. R. Gisela Eidemüller, verabschiedet, in Anwesenheit von Oberbürgermeister Thomas Feser und Herrn Siegfried Theobald. OB Feser begrüßte die Mitglieder der Gesellschaft. Er dankte Frau Eidemüller im Namen der Stadt für ihre engagierte Arbeit und drückte diesen Dank, nach ausführlicher Darstellung und Würdigung ihres beruflichen Werdegangs, durch die Verleihung der Basilika-Münze aus, die in einer limitierten Sonderedition zum 600-jährigen Jubiläum der Basilika St. Martin, einem Wahrzeichen Bingens, herausgegeben worden ist. Prof. Dr. Wolfgang Braungart dankte seinerseits Frau Eidemüller für ihr beinahe 50-jähriges Engagement für die Gesellschaft. Diese hat einstimmig beschlossen, sie zum Ehrenmitglied der Gesellschaft zu ernennen. Frau Eidemüller nahm die Ehrungen an und verabschiedete sich in den wohlverdienten Ruhestand. Der von Prof. Dr. Braungart persönlich gestiftete Buchpreis für die beste Leistung im Fach Deutsch im Abiturjahrgang 2015/16 wurde wiederum an AbiturientInnen des Stefan-George-Gymnasiums Bingen und des Wilhelm-Hofmann-Gymnasiums St. Goarshausen vergeben. Die Preisträgerinnen sind Milena Breitenbach (Dahlheim) und Laura Kolz (Waldalgesheim). Die Reihe von Vorstellungen von Gedichten Georges auf der Homepage der Stadt Bingen wird fortgesetzt. Der Vorsitzende dankte Frau Christiane Spira von der Stadt Bingen ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit. Ende 2016 hatte die Gesellschaft 214 persönliche und 7 korporative Mitglieder.
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Zum Museum und den Sammlungen Im Stefan-George-Museum gab es keine Neuanschaffungen oder sonstige größere Veränderungen. Seit Sommer 2014 wird von OStR. i. R. Gisela Eidemüller eine sehr umfangreiche, detaillierte Bestandsaufnahme aller Bücher, Bilder und sonstiger Objekte neu erstellt, u.a. unter den Gesichtspunkten des Besitzes privater und öffentliche Leihgeber (auf Dauer oder auf Zeit), des Eigentums des Museums, der Übernahmen von der Vorgängergesellschaft, der Schenkungen von Mitgliedern und Bürgern der Stadt Bingen, des Eigentums der Stadt Bingen sowie der Anschaffung von Mobiliar, mit fotografischen Belegen. Auch der Zeitpunkt der Restaurierung von Gemälden, Grafiken und Büchern wird mit erfasst. Zu den Jahrestagungen 2017 und 2018 2017 fand eine kleinere Jahrestagung zum Thema ‚Stefan George und Hugo von Hofmannsthal‘ statt. 2018, anlässlich des 150. Geburtstags Stefan Georges, ist zum 12. Juli eine Festveranstaltung in Bingen geplant. Prof. Dr. Wolfgang Braungart wird einen Vortrag halten, der mit Musik der Jahrhundertwende begleitet werden soll. Im Mittelpunkt der Jahrestagung im November 2018 wird eine Podiumsdiskussion zum Thema ‚George heute‘ stehen. Diskutierende sollen aus Vertretern der Stadt, der Schulen, der Kulturpolitik sowie der George-Forschung kommen. Dank Bei der Jahresversammlung wurde seitens der Stefan-George-Gesellschaft vielfältig gedankt für Förderung und Unterstützung – den Mitgliedern für Spenden, der Stadt Bingen für Hilfe bei der Organisation der Tagung und für die jährlich wiederkehrende finanzielle Unterstützung. Besonderer Dank galt wie immer den Jahrbuchherausgebern Prof. Dr. Wolfgang Braungart und Dr. Ute Oelmann. Die nächsten Vorstandswahlen finden bei der Mitgliederversammlung im Jahr 2018 statt. Weitere Informationen zur Gesellschaft und ihren Veranstaltungen erhalten die Mitglieder durch die ausführlichen Rundschreiben im Mai eines jeden Jahres.
Nachruf auf Dr. Siegfried Grimm
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Wolfgang Braungart Nachruf auf Dr. Siegfried Grimm1 Am 29. 07. 2017 ist der Ehrenvorsitzende der Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen Dr. Siegfried Grimm im Alter von 92 Jahren verstorben. Dr. Siegfried Grimm war zuerst Studienreferendar an der Hildegardisschule in Bingen (1951), dann Studienassessor in Oppenheim und anschließend Studienrat bzw. Oberstudienrat am Stefan-George-Gymnasium in Bingen, an das er zum 01. 04. 1955 wechselte. Später wurde er zum Studiendirektor befördert und vor allem für sein langjähriges, großes Engagement im deutsch-französischen Schüleraustausch (von ca. 1951 bis 1982) ausgezeichnet. Die deutsch-französische Verständigung lag ihm besonders am Herzen. Das zeigte sich zum Beispiel darin, dass er für französische Delegationen aus den Binger Partnerstädten gedolmetscht hat. Seit 1976 war er Vorsitzender der ‚Gesellschaft zur Förderung der Stefan-George-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen e. V.‘. Dieses Amt hatte er bis zum 03. 10. 1992 inne. Diese Gesellschaft war eine der beiden Vorgängergesellschaften, aus denen 1994 die heute existierende Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen hervorging. Nach dem Ende seiner Amtszeit als Vorsitzender wurde Siegfried Grimm 1995 Ehrenmitglied des Vorstands der Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen. Im Juni 1996 wurde das Stefan-George-Museum im ‚Haferkasten‘ eröffnet. Seit dieser Eröffnung gehörte Siegfried Grimm zu den Helferinnen und Helfern aus der Binger Bevölkerung, die die Öffnungszeiten garantierten und Einzelbesucher und Gruppen empfingen. Infolge seiner Erkrankung konnte Dr. Grimm dieses Amt nach der Jahrtausendwende zunächst nur zeitweilig, dann gar nicht mehr ausüben. Solange es ihm aber möglich war, nahm er auch an den Vorstandssitzungen der Stefan-George-Gesellschaft und an den Jahrestagungen teil. Die Stefan-George-Gesellschaft ist Dr. Siegfried Grimm für sein großes und immer so freundliches Engagement im Rahmen der Gesellschaft sehr dankbar. Sie wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren. 1
Ich danke Gisela Eidemüller für ihre Mithilfe bei diesem Nachruf.
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Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen Vorstand Prof. Dr. Wolfgang Braungart Universität Bielefeld Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Postfach 10 01 31 33615 Bielefeld Tel. + 49 (0)5 21-1 06 52 64 E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Christine Haug (Stellvertr. Vorsitzende) LMU München Studiengänge Buchwissenschaft Institut für Deutsche Philologie Schellingstraße 3 RGB 80799 München Telefon: + 49 (0)89-21 80-24 97 E-Mail: [email protected] Dr. Ute Oelmann (Stellvertr. Vorsitzende) Faullederstr. 11 70186 Stuttgart Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan (Geschäftsführerin) LMU München Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 80799 München Tel.: +49 (0)89-21 80-23 34 E-Mail: [email protected] Der Oberbürgermeister der Stadt Bingen, Thomas Feser, gehört dem Vorstand kraft Amtes an.
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Kuratorium Dr. Hans-Peter Geh (Bad Homburg), Präsident der Struktur- und Genehmigungsdirektion Süd, Prof. Dr. Hans-Jürgen Seimetz (Neustadt an der Weinstraße).
Beirat Prof. Dr. Bernhard Böschenstein (Genf), Prof. Dr. Katharina Mommsen (Stanford/USA), Prof. Dr. Christoph Perels (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Klaus Reichert (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Reimar Schefold (Leiden/Niederlande), Prof. Dr. Michael Thimann (Göttingen), Jutta Schloon (Bergen/Norwegen), Diana Richtsteiger (St. Goarshausen). Stefan-George-Museum Stefan-George-Haus Freidhof 9 D-55411 Bingen am Rhein Ausstellung zu Leben und Werk Stefan Georges. Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag und Samstag von 14–17 Uhr, oder nach Vereinbarung. Telefon nur während der Öffnungszeiten: + 49 (0)67 21-99 10 94 Telefon Tourist-Information: + 49 (0)67 21-1 84-2 05 Korrespondenzadresse für das Museum ist die Adresse der Geschäftsführerin. Periodika Stefan-George-Jahrbuch im Auftrag des Vorstandes herausgegeben von Prof. Dr. Wolfgang Braungart (Bielefeld) und Dr. Ute Oelmann (Stuttgart); es erscheint seit 1996 alle zwei Jahre im De Gruyter Verlag (Berlin).
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Mitgliedschaft Die Mitgliedschaft wird durch schriftliche Beitrittserklärung gegenüber dem Vorstand (Brief an die Geschäftsführerin) erworben. Der Mitgliedsbeitrag beträgt z.Zt. 45 € jährlich, für Studierende (mit Studienausweis) 20 €. Mitgliedern, die ihren Beitrag bezahlt haben, wird das Jahrbuch zugesandt. Bankverbindung Deutschland: Sparkasse Rhein-Nahe Int. Bank Account Number: DE88 5605 0180 0030 0447 70 SWIFT-BIC.: MALADE51KRE
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Anschriften der Beiträger
Anschriften der Beiträger Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan, LMU München, Deutsche Philologie, Arbeitsstelle ‚Literatur in Bayern‘, Schellingstraße 3, 80799 München Prof. Dr. Rainer Bayreuther, Staatliche Hochschule für Musik, Abt. Musikwissenschaft, Schultheiß-Koch-Platz 3, 78647 Trossingen Prof. Dr. Wolfgang Braungart, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Jürgen Brokoff, FU Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Prof. Dr. Dieter Burdorf, Universität Leipzig, Institut für Germanistik, Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig Apl. Prof. Dr. Holger Dainat, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Dr. Alessandra D’Atena, Università di Roma Tor Vergata, Macroarea di Lettere e Filosofia, Via Columbia 1, 00133 Roma, Italien Jun.-Prof. Dr. Nicolas Detering, Universität Konstanz, FB Literaturwissenschaft, Postfach 1 63, 78456 Konstanz Prof. Dr. Waldemar Fromm, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, Schellingstr. 3, 80799 München Dr. Gunilla Eschenbach, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Deutsche Schillergesellschaft, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach a. N. PD Dr. Boris Gibhardt, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Janus Gudian M.A., Johann Wolfgang Goethe-Universität, Historisches Seminar, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main Prof. Dr. Joachim Jacob, Justus-Liebig-Universität + Gießen, Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft, Otto-Behaghel-Straße 10B, 35394 Gießen https://doi.org/10.1515/george-2018/2019-0025
Anschriften der Beiträger
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Anna Lenz u. A., Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Dr. Helmuth Mojem, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Deutsche Schillergesellschaft, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach a. N. Prof. Dr. Cornelia Ortlieb, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Fakultät für Germanistik und Komparatistik, Bismarckstraße 1B, 91054 Erlangen PD Dr. Frederike Reents Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg, Hauptstr. 207–209, D-69117 Heidelberg Prof. Dr. Renate Stauf, TU Braunschweig, Seminar für Deutsche Sprache und Literatur, Bienroder Weg 80, 38106 Braunschweig Dr. Birgit Wägenbaur, Stefan George Archiv, Württembergische Landesbibliothek, Postfach 10 54 41, 70047 Stuttgart Dr. Kay Wolfinger, LMU München, Deutsche Philologie, Schellingstr. 3 RG, 80799 München