Georg Forsters literarische Weltreise: Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung 9783110238020, 9783110238013

In many aspects, James Cook’s voyages of discovery in the South Pacific are part of the revolution of knowledge of the A

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German Pages 339 [340] Year 2011

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Table of contents :
I. Einleitung
1. Problemskizze
2. Methodische Annäherung
II. Literaturwissenschaft im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende
1. Vorbemerkung
2. Der kulturwissenschaftliche Umbruch
3. Interkulturelle Literaturwissenschaft als kulturwissenschaftliche Xenologie
4. Der Reisebericht als Gegenstand interkultureller Literaturwissenschaft
III. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel und Formen der Grenzüberschreitung
1. Vorbemerkung
2. Entdeckungsreise als wissenschaftliches Projekt
3. Fernab der Zivilisation: Die Aufklärung und ihre Antipoden
4. Das Fremde im eurozentrischen Blick
IV. Erkenntnistheoretischer Grundriss
1. Vorbemerkung
2. Empirie und ordnende Systematik
3. Reisemethodische Grundsätze
V. Nullius in Verba: Entdeckungsreise als Erkenntnispraxis
1. Vorbemerkung
2. Beobachten und Beschreiben als Methode
3. Dialektik des ethnographischen Erfahrungsprozesses
4. Entdeckung als Praxis der Aufklärung: Wirklichkeit und Utopieverlust
5. Aufklärung als Erkenntnisprozess
6. Reisebeschreibungspraxis als Wissensinszenierung
VI. Dialektik interkultureller Interaktion und Reflexion
1. Vorbemerkung
2. Das Aufeinandertreffen: Schauplätze kultureller Interaktion
3. Begegnung – interkulturelle Neugier – Interpretation
4. Strategien interkultureller Kommunikation und ›Critical incidents‹
5. Kulturelle Heterotopien – Anamnese – Ungleichzeitigkeit
6. Anthropologie – Kulturtheorie – Ausgrenzung
7. Kulturfortschritt als Naturteleologie
VII. Die Südsee im Schatten der Aufklärung
1. Vorbemerkung
2. »Was mußten die Wilden von uns denken?«
3. Entdeckungsreise – Koloniale Metaphorik – Selbstreflexion
4. Die entdeckte Südsee: Porträt einer zerstörten Idylle
5. Entdeckung und Globalisierung
6. Indien als Vorbild: Modell eines Kulturtransfers
VIII. Schlussbetrachtung
IX. Literaturverzeichnis
Register
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Georg Forsters literarische Weltreise: Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung
 9783110238020, 9783110238013

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger

Band 127

Yomb May

Georg Forsters literarische Weltreise Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung

De Gruyter

Redaktion des Bandes: Walter Erhart

ISBN 978-3-11-023801-3 e-ISBN 978-3-11-023802-0 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data May, Yomb. Georg Forsters literarische Weltreise : Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung / by Yomb May. p. cm. ⫺ (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd/ 127) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-023801-3 (alk. paper) 1. Forster, Georg, 1754⫺1794. Reise um die Welt. 2. Cook, James, 1728⫺1779. 3. Oceania ⫺ Discovery and exploration ⫺ Early works to 1800. 4. Voyages around the world ⫺ Early works to 1800. I. Title. G420.C72F6735 2011 910.411⫺dc23 2011022909

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort

In der literarischen Weltreise des Aufklärers und Universalgelehrten Georg Forsters finden jene interkulturellen Spannungsfelder und Übergänge Niederschlag, die auch das flächendeckende Phänomen der modernen Globalisierung prägen. Sie lassen sich mit dem Begriff Dialektik der Kulturbegegnung genau erfassen und beschreiben. Die vorliegende Studie stellt den Versuch dar, Forsters Bericht von der Weltreise mit Kapitän James Cook (1772–1775) auf die Natur und die Implikationen einer solchen Kulturbegegnung im Kontext der Aufklärungszeit zu befragen und zu ihrem Verständnis über den historischen Horizont hinaus beizutragen. Anregungen und Unterstützung zu dieser Studie verdanke ich zahlreichen Menschen, denen an dieser Stelle zu danken mir ein aufrichtiges Bedürfnis ist, insbesondere Herrn Prof. Dr. Christian Begemann (LMU München) und Herrn Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer (LMU München) sowie Herrn Prof. Dr. Günter Berger (Universität Bayreuth), die das Projekt gemeinsam begleiteten. Ihnen möchte ich an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Herrn Prof. Dr. Walter Erhart (Universität Bielefeld) und Herrn Prof. Dr. Christopher B. Balme (LMU München) danke ich für die wertvollen kritischen Anmerkungen und Hinweise, die in die Endfassung Eingang gefunden haben. Ohne meine Frau Andrea Blankenburg und meine Kinder Carl und Esther, die mich rückhaltlos unterstützten, wäre dieses Projekt kaum realisiert worden. Ihnen sei dieses Buch gewidmet.

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Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Problemskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2. Methodische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

II.

Literaturwissenschaft im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der kulturwissenschaftliche Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interkulturelle Literaturwissenschaft als kulturwissenschaftliche Xenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Reisebericht als Gegenstand interkultureller Literaturwissenschaft . .

III.

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Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel und Formen der Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entdeckungsreise als wissenschaftliches Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fernab der Zivilisation: Die Aufklärung und ihre Antipoden . . . . . . . . . . 4. Das Fremde im eurozentrischen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 41 41 48 61

IV.

Erkenntnistheoretischer Grundriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Empirie und ordnende Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reisemethodische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 78 80 97

V.

Nullius in Verba: Entdeckungsreise als Erkenntnispraxis . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beobachten und Beschreiben als Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dialektik des ethnographischen Erfahrungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entdeckung als Praxis der Aufklärung: Wirklichkeit und Utopieverlust . . 5. Aufklärung als Erkenntnisprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Reisebeschreibungspraxis als Wissensinszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 112 113 121 138 150 154

VI.

Dialektik interkultureller Interaktion und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Aufeinandertreffen: Schauplätze kultureller Interaktion . . . . . . . . . . 3. Begegnung – interkulturelle Neugier – Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Strategien interkultureller Kommunikation und ›Critical incidents‹ . . . . .

172 172 172 183 188 VII

5. Kulturelle Heterotopien – Anamnese – Ungleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . 196 6. Anthropologie – Kulturtheorie – Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7. Kulturfortschritt als Naturteleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 VII.

Die Südsee im Schatten der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Was mußten die Wilden von uns denken?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entdeckungsreise – Koloniale Metaphorik – Selbstreflexion . . . . . . . . . . . 4. Die entdeckte Südsee: Porträt einer zerstörten Idylle . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Entdeckung und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Indien als Vorbild: Modell eines Kulturtransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239 239 239 256 271 288 295

VIII. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 IX.

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

VIII

I.

Einleitung

Am 10. Januar 1794 stirbt Georg Forster knapp vierzigjährig in Paris. Von den vielen Nachrufen auf ihn wird Friedrich Schlegel dem außergewöhnlichen Anspruch seines Werks wohl am ehesten gerecht: Unter allen eigentlichen Prosaisten, welche auf eine Stelle in dem Verzeichnis der deutschen Klassiker Anspruch machen dürfen, atmet keiner so sehr den Geist freier Fortschreitung, wie Georg Forster. Man legt fast keine seiner Schriften aus der Hand, ohne sich nicht bloß zum Selbstdenken belebt und bereichert, sondern auch erweitert zu fühlen.1

Schlegels Aufforderung, Georg Forster einen festen Platz im »Verzeichnis der deutschen Klassiker« einzuräumen, hat bis heute an ihrer Aktualität nichts eingebüßt. Wie dringlich die Bewältigung dieses Auftrages ist, lässt sich bereits an der einhelligen Meinung der gegenwärtigen Forschung ablesen, »daß eine Beschäftigung mit Forster eine nicht antiquarisch-historische Angelegenheit ist, sondern daß eine Auseinandersetzung mit ihm uns helfen kann, unseren eigenen Zukunftsproblemen ins Auge zu sehen.«2 Besonders für jene, auch unsere Gegenwart prägenden Problemkomplexe, die aus dem Prozess interkultureller Interaktion resultieren, sensibilisiert Forsters Werk in geradezu paradigmatischer Weise. Nur dürfen solche Probleme, die in der vorliegenden Studie u. a. als Vorbedingungen für Grundfragen des modernen Lebens beleuchtet werden sollen, nicht zu einer falschen Aktualisierung Forsters verleiten. Forsters Werk und Denken verorten sich am Beginn zahlreicher Prozesse der modernen Kulturbegegnungen und nehmen zum europäisch-hemogenialen Anspruch, mittels der Entdeckungsreisen das Licht der Aufklärung und Zivilisation in die außereuropäische Welt zu tragen, kritisch Stellung. Deshalb gewährt sein Werk als Großkommentar des europäisch-südpazifischen Kulturkontakts ungewöhnliche Einblicke in die beginnende Verflechtung von Kulturen – eine Entwicklung, die von den Entdeckungsreisen maßgeblich vorangetrieben wurde, deren tragische Dimension allerdings fast nur in den ›entdeckten‹ Kulturen unmittelbar manifest wurde. All das lässt sich nicht nur, aber vor allem auch an Forsters glänzender literarischer Weltreise ablesen, die mit Recht als Gründungsdokument der modernen Reiseliteratur gilt. Die Tatsache, dass Forster die bis

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Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. v. Hans Eichner. München 1967, S. 81. H. i. O. Ludwig Uhlig, Georg Forsters Horizont. Hindernis und Herausforderung für seine Rezeption, in: Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive: Beiträge des Internationalen Georg-ForsterSymposiums in Kassel, 1. bis 4. April 1993, hg. v. Claus-Volker Klenke. Berlin 1994, S. 3–14, hier S. 14. Der Titel dieses Sammelbandes wird im Folgenden als FIP abgekürzt wiedergegeben.

1

in unsere Zeit hinein greifbare Dynamik der europäischen Forschungsreisen bereits in der Spätaufklärung mit eindrucksvoller Weitsicht beschreiben konnte, legt es nahe, ihn als Theoretiker der Globalisierung avant la lettre zu begreifen. In seiner reflexiven Gestaltung der Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts öffnet Forster nicht nur den Blick in die alarmierenden Anzeichen jener interkulturellen Konflikte, die heute zwischen den westlichen Ländern und dem Rest der Welt bestehen, sondern sein Weltreisebericht bietet sich geradezu auch paradigmatisch als Werkzeugkasten zur Entschlüsselung der Herausforderungen unserer Zeit. Das Besondere dabei ist, dass Forster genau das im Postulat der ›Mission civilisatrice‹ bereits ideologisch aufgeladene Weltbild, innerhalb dessen die Entdeckungsfahrten stattfinden, zum Anlass nimmt, um die dualistische Diskursivierung von Kulturen ebenso zu hinterfragen wie die essentialistischen Verkrustungen im europäischen Selbstverständnis. Vor diesem Hintergrund sind jene Einsichten und Reflexionen besonders aufschlussreich, welche belegen, warum Forster seiner Zeit so weit voraus war, dass er das Nachdenken über unsere »Zukunftsprobleme« tatsächlich antizipieren konnte. Nicht zuletzt deshalb muss man sich die eigenartige Rezeption ins Bewusstsein rufen, die Forsters bahnbrechenden Ideen und insbesondere seiner kritischen Haltung gegenüber epochentypischen Idealisierungen zuteil wurde. Zunächst von seinen Zeitgenossen als erster ›philosophischer Weltreisender‹ gefeiert, bescherten ihm seine Begeisterung und schließlich sein Engagement für die Französische Revolution alsbald die Verbannung aus dem Kanon der wegweisenden Gelehrten der Spätaufklärung. Dies sollte sich nachhaltig negativ auf die Rezeption seines Werks auswirken.3 Folgerichtig geriet mit Forsters intellektuellen Leistungen, die ihm zuvor den Zuspruch und die Anerkennung zeitgenössischer Gelehrter (Wieland, Jacobi, Herder, Goethe u. a. m.) eingebracht hatten, auch Schlegels Aufforderung zeitweise in Vergessenheit. Helmut Peitsch hat in seiner einschlägigen Studie die Rezeptionsgeschichte Forsters rekonstruiert4. Er legt dabei unterschiedliche, zum Teil ideologisch geprägte Phasen und Schwerpunkte offen, die ein uneinheitliches Bild dieses Gelehrten haben entstehen lassen. Konstante wissenschaftliche Beschäftigung mit Forsters Werk lässt sich dennoch ab Mitte der 60er Jahre feststellen.5 Der entscheidende Impuls für die bis dato andauernde Wende in Forsters Rezeption ist vor allem der von Gerard Steiner initiierten und zum großen Teil betreuten Akademie-Gesamtausgabe6 zu verdanken. Obwohl Forster in der

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5 6

2

Während Forster im angelsächsischen Raum vor allem als Naturwissenschaftler und Begleiter des Entdeckers James Cook, im französischen als Sympathisant der Französischen Revolution wahrgenommen wird, prägt das Bild des gescheiterten Revolutionärs nach wie vor einen Teil seiner Rezeption in Deutschland. Zum letzten Aspekt vgl. etwa Ulrich Enzensberger, Georg Forster. Ein Leben in Scherben. Frankfurt/M. 1996. Helmut Peitsch, Georg Forster. A History of His Critical Reception. New York 2001. Vgl. ebenfalls: Helmut Peitsch, Rezeptionslinien? Forster-Rezeption bei Diltey, Mehring und Nadler, in: FIP, S. 15–28. Angestoßen von Ludwig Uhlig in seiner Dissertation: Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt. Tübingen 1965. Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für Deutsche Sprache und Literatur. (ab 1974: Akademie

breiten Öffentlichkeit nach wie vor kaum als »Klassiker« wahrgenommen wird, erfährt sein Werk sowohl in der Bildung7 als auch in der Fachdiskussion inzwischen zunehmendes Interesse (mit entsprechenden Zeitschriftenorganen und Kolloquien)8, wodurch der Topos von einem »vergessenen Klassiker«9, der seiner Rehabilitierung harrt, allmählich an Gültigkeit verliert.10 Anknüpfend an diese positive Entwicklung gewinnen in der aktuellen Forster-Forschung insbesondere jene Fragestellungen an Bedeutung, die sich vor allem in einem interdisziplinären Blickfeld gestalten.11 Deshalb betont Ludwig Uhlig mit Recht, dass »wir gewinnen, wenn wir versuchen, seinen [Forsters] Horizont zu erfassen.«12 Allerdings bedarf die Annäherung an diesen Horizont einer genauen Aufgabenstellung und Zielsetzung, die Marita Metz-Becker in folgender Beobachtung treffend umreißt: Wie kaum ein anderer Kulturtheoretiker hat Georg Forster wesentlich zur Entwicklung unserer modernen Auffassung von Kultur beigetragen, ohne daß er aber – sein Denken und seine Thesen – in unserer eigenen Kulturwissenschaft bislang nennenswert rezipiert worden wäre.13

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der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Literaturgeschichte, ab 2003: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften). Bd.1ff. Berlin 1958ff. Georg Forsters Texte werden, wenn nicht anders angegeben, nach dieser Ausgabe zitiert: [AA., Bandangaben werden in römischen und Seitenzahlen in arabischen Ziffern ausgewiesen]. Georg Forster fungiert beispielsweise als Namensgeber eines großen Gymnasiums in Berlin, auch wird er in einigen Lehrbüchern der Oberstufe erwähnt. Neben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist vor allem der GeorgForster-Gesellschaft in Kassel das gegenwärtige Interesse an Forster zu verdanken. Die international ausgerichtete Kasseler Georg-Forster-Gesellschaft, die sich durch ihre »Georg-Forster-Studien« (bisher 15 Bände) zum Ziel gesetzt hat, »das geistige und wissenschaftliche Erbe Forsters aufzuarbeiten und zu verbreiten« [Klappentext], organisiert jährliche Tagungen mit bestimmten thematischen Schwerpunkten des Werkes Georg Forsters. Die Ergebnisse werden jeweils in einem entsprechenden Tagungsband dokumentiert. Ein weiterer Gewinn besteht darin, dass jeder neue Band unter der Rubrik »Georg-Forster-Bibliographie« eine Liste der neuen Publikationen über Georg Forster enthält. Auf diese Weise wird die internationale Georg-Forster-Forschung fortlaufend aktualisiert. Zu erwähnen ist ebenfalls die 1991 an der Universität Mainz ins Leben gerufene »Georg-Forster-Forschungsstelle für Geschichte der Ethnologie und der EuropäischÜberseeischen-Beziehungen«. Ulrike Bergmann, Die Mesalliance. Georg Forster: Weltumsegler, Therese Forster: Schriftstellerin. Frankfurt/M. 2008, S. 7. Bereits Claus-Volker Klenke findet 1994 das »Schlagwort vom Vergessenen korrekturbedürftig«, Vorwort zu FIP unpaginiert. Vgl. ebenfalls Michael Ewert, Georg Forster in der neueren Biographik, in: Georg-Forster-Studien VII (2002), S. 111–133. Dafür ist der 1994 erschienene Band (FIP, Anm. 2) wegweisend. Doch auch die nach diesem Band erschienenen Untersuchungen zeigen, dass nicht mehr Forsters Verhalten gegenüber der Französischen Revolution im Vordergrund der Forschung steht, sondern eine interdisziplinäre und international ausgerichtete Rezeption und Würdigung seines Werks. Dazu vgl. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 8f. Ebd., S. 14. Marita Metz-Becker, Kulturwissenschaftliche Köpfe« – ein Plädoyer für Georg Forster, in: Siegfried Becker u. a. (Hg.), Volkskundliche Tableaus. Eine Festschrift für Martin Scharfe zum 65. Geburtstag. Münster 2001, S. 385–392, hier S. 385.

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Es handelt sich um ein zentrales Desiderat, das in der vorliegenden Arbeit aufgearbeitet werden soll. Aufschlussreich dabei ist das methodische Unterfangen, in Forsters ethnographischer Narration jene Spurenelemente einer reflexiven Aufklärung zu entdecken, die den Blick auf das ›Andere‹ der europäischen Zivilisation mit einer kritischen Reflexion dieser europäischen Aufklärung im Sinne der modernen Kulturwissenschaft verbindet. Das verlangt erstens, dass bei der Lektüre von Forsters Weltreisebericht entsprechende Denkfiguren erfasst werden. Das verlangt zweitens, dass Forsters interkulturelle Anschauungen, die im Schnittfeld unterschiedlicher Disziplinen Gestalt annehmen, dahingehend extensiviert werden, dass der bis heute unterbelichteten Frage nachgegangen wird, inwiefern das kulturelle Selbstverständnis der Südseebevölkerung den Horizont der reisenden Europäer überstieg und welche Rückschlüsse sich für die damaligen interkulturellen Kompetenzen auf beiden Seiten ziehen lassen. Das setzt schließlich voraus, dass die von Forster selbst exponierten und geradezu als paradigmatisch empfundenen Grundprobleme der Kulturbegegnung im Kontext der Aufklärung als Ausgangspunkt interkultureller Erkenntnisse systematisch eruiert werden. Deshalb liegt die Aussicht eines entscheidenden Erkenntnisgewinns für die gegenwärtige Forster-Forschung weniger darin, eine Gesamtwürdigung seines thematisch ohnehin weitläufigen Werks ins Auge zu fassen. Hier lauert nämlich die Gefahr, alles anzusprechen und am Ende doch entscheidende Schwerpunkte aus den Augen zu verlieren.14 Deshalb sollen im Folgenden »dezidierte Akzente«15 skizziert werden, die in klar konturierbare Problemaspekte der hier zu untersuchenden interkulturellen Thematik einführen und möglichst greifbare Resultate erwarten lassen.

1.

Problemskizze

Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht Georg Forsters Hauptwerk, das 1777 auf englisch (A Voyage round the World) und 1778/80 auf deutsch unter dem Titel Reise um die Welt erschienen ist.16 Seine enorme Brisanz und nachhaltige Aktualität bezieht dieser Reisebericht aus einem im reiseliterarischen Kontext des 18. Jahrhunderts einzigartigen Grad an Reflexivität in der Darstellung der interkulturellen Begegnungen während der zweiten Weltreise von Kapitän James Cook (1772/75). Eine Auseinandersetzung mit Forsters enormem Beitrag zum interkulturellen Denken ist bisher nur in Ansätzen er-

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Vgl. Astrid Schwarz: Georg Forster (1754–1794). Zur Dialektik von Naturwissenschaft, Anthropologie, Philosophie und Politik in der deutschen Spätaufklärung. Kontinuität und Radikalisierung seiner Weltanschauung vor dem Hintergrund einer ganzheitlichen Werkinterpretation, Aachen 1998. Das Ziel von Schwarz, »entgegen der bisherigen Forschung das Gesamtwerk Forsters anhand einer genauen Aufarbeitung aller Quellen zu untersuchen« (S. 3) umfasst ein Problem- und Gedankenspektrum, das innerhalb einer Dissertation kaum sinnvoll dargestellt werden kann. Horst Dippel, Ernte eines Jubiläumsjahres. Neuerscheinungen zu Georg Forster, in: GeorgForster-Studien X (2005), S. 313–319, hier S. 314. Georg Forster, Reise um die Welt (AA II. u. AA III). Die englische Fassung erschien 1777: Georg Forster, A Voyage Round the World (AA I).

kennbar, und zwar dort, wo überschaubare Themen in einzelnen Aufsätzen punktuell aufgegriffen werden.17 Damit lassen sich aber das interkulturelle Potential in Forsters literarischer Weltreise und die Frage nach seinen Implikationen für die Erforschung des 18. Jahrhunderts kaum angemessen erfassen und behandeln. In dieser Hinsicht harrt Forsters Werk nach wie vor einer umfassenden und systematischen Analyse. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vorliegende Studie der Aufgabe, im Licht der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Ansätze das Verhältnis von Aufklärung, Interkulturalität und Universalismus als zusammenhängender Problemkomplex in Forsters Reise um die Welt einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Einen herausragenden Stellenwert nehmen dabei deshalb Kategorien wie Fremdheits- und Identitätskonstruktion, Fremdheitserfahrung, interkulturelle Kommunikation, Interaktion und Perspektivenwechsel ein, weil sie zum einen Aufschluss über die Paradoxien der europäisch-südpazifischen Kulturbegegnungen geben und zum anderen die fundamentale Frage aufwerfen, wie sich das Selbstverständnis der Mitglieder der europäischen Aufklärung auf das Verhältnis zu außereuropäischen Kulturen und Menschen ausgewirkt hat. Forsters literarische Weltreise, so besagt ein breiter Konsens, sei »the most readable of all accounts of Cook’s voyages.«18 Deshalb steht sie nicht nur im Hinblick auf ihre besondere narrative Gestaltung dieser Paradigmen, sondern vor allem auch hinsichtlich ihres heuristischen Anspruchs in der Interkulturalitätsforschung einzigartig da. Sie lässt nicht zuletzt auch aufgrund ihrer neuen Herangehensweise gattungsprägende Momente erkennen, in denen eine Dekonstruktion des aufklärerischen Diskurses über Kulturen der Südsee stattfindet. Es ist diese Wahrnehmung, die es erlaubt, den Fokus auf das Werk Reise um die Welt zu richten, weil der darin geschilderte Prozess kultureller Grenzüberschreitungen ein reiseliterarisches Dokument konstituiert, dessen kulturwissenschaftliches Potential Georg Forster wie kein anderer Gelehrter vor ihm nachhaltig reflektiert hat. Eine solche Betrachtung ist einerseits auf die unmittelbaren Erfahrungen während der Entdeckungsreise bezogen und andererseits doch von großem Wert für die späteren Schriften Forsters. Denn etliche der in der Reise um die Welt formulierten Ansichten und Überlegungen kehren auf verschiedenen Ebenen seiner weiteren Texte wieder. In der thematisch perspektivierten Zusammenschau all dieser Schriften nimmt Forsters Denken Gestalt als »a universal and compassing kind of knowledge, not only limited to exotic or distant phenomena, places, and peoples«19 an. Beansprucht Forsters Jugenderlebnis der Weltreise20 als literarisches Kondensat der europäisch-südpazifischen Kulturbegegnung der Spätaufklärung heuristischen Stellen-

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Die aus den jährlichen Symposien der Georg Forster-Gesellschaft hervorgehenden Bände sind einzelnen Themenbereichen im Leben und Werk Georg Forsters gewidmet. Bernard Smith, European Vision and the South Pacific. 1768–1850. A Study in the History of Art and Ideas. Oxford 1960, S. 39. Nicholas Thomas, »Preface«, in: George Forster, 1754–1794. A voyage round the world/George Forster; hg. v. Nicholas Thomas und Oliver Berghof. Hawaii 2000, S. xxii. Bei aller Eigenständigkeit, die Georg Forster als Gelehrter beansprucht, muss insbesondere bei der Analyse seiner Weltreisebeschreibung sowie seiner erkenntnistheoretischen Positionen

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wert in der kulturwissenschaftlichen Reflexion, dann deshalb, weil sich darin ein dialektisches Bild von Aufklärung und Zivilisation herauskristallisiert, das bereits die kulturellen Spannungsfelder unserer Gegenwart antizipiert hat. Hier ist die Frage von besonderer Relevanz, welche Anknüpfungsmöglichkeiten sich dabei für unsere Gegenwart und Zukunft anbieten. Denn in einer Umbruchzeit wie der Wende ins 21. Jahrhundert, in der die historischen Perspektiven den kaum überschaubaren Steuerungsmechanismen der modernen Globalisierung zu weichen scheinen, wächst der von Forster diagnostizierten Dialektik der europäisch-überseeischen Kulturbegegnung sowie der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Epoche der Aufklärung eine zentrale Bedeutung zu. Der Begriff ›Dialektik der Kulturbegegnung‹, der als zentrale Bezugskategorie die argumentative Architektonik der vorliegenden Arbeit konstituieren soll, bedarf der Präzisierung. Mit ›Dialektik der Kulturbegegnung‹ wird einerseits die Asymmetrie der konkreten interkulturellen Interaktionen zwischen Europäern und Insulanern während der Entdeckungsreisen der Aufklärungszeit erfasst, und andererseits soll damit Georg Forsters (schreibender) Blick auf die Übergänge und Spannungsfelder dieser Interaktionen beschrieben werden. Im Makroformat äußert sich die Dialektik im Wechselspiel von Licht und Schatten, von Fortschritt und Zerstörung, von Erkenntnis und Unwissenheit im Prozess der Entdeckung der Südsee im 18. Jahrhundert. Im Mikroformat tritt das dialektische Moment im triadischen Spannungsfeld von Verstrickung, Skepsis und Kritik, das Forsters Denk- und Schreibweise prägt, in den Blick. Dabei beschränkt sich die vorliegende Studie nicht auf die Beschreibung von der Dialektik der Kulturbegegnung, sondern geht zugleich der Frage nach ihren historischen und gegenwärtigen Implikationen auf den Grund. In diesem Zusammenhang wird zugleich die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Hypothese eruiert, dass Georg Forster durch seine Aufklärungskritik eine besondere Form der Aufklärungsarbeit leistet, die zugleich parallel, kontrastiv und komplementär zum philosophisch und politisch getragenen Sendungsbewusstsein und Weltverbesserungsanspruch der Europäer zu sehen ist. Der interkulturelle Zugriff auf Forsters Reisebericht macht plausibel, dass die Ankunft der Entdecker auf den Südseeinseln keineswegs nur den modernen, aufgeklärten Weltbildwandel, sondern zugleich den Auftakt eines kulturellen, sozialen und politischen Umbruchs markiert, der langfristig zur irreversiblen Transformation der einheimischen Kulturen führen sollte. Auf diese Weise sollen Inkongruenzen zwischen der wissenschaftlichen Erkenntnisrevolution und dem kolonialen »Umgang mit ungebildeten Völkern«21

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immer die Rolle seines Vaters, der zu dieser Zeit und auch später großen Einfluss auf ihn ausübte, miteinbezogen werden. Vgl. u. a. Michael E. Hoare’s grundlegende Studie: The Tactless Philosopher. Johann Reinhold Forster (1729–1798). Melbourne 1976. Hoare spricht von einer symbiotischen Beziehung zwischen Vater und Sohn und vertritt sogar die Meinung, »daß Johann Reinholds Leben ein Schlüssel zum Verständnis von dem Georgs ist«. Michael E. Hoare, Die beiden Forster und die pazifische Wissenschaft, in: FIP, S. 29–41, hier S. 39. Zum Einfluss Reinhold Forsters auf seinen Sohn Georg vgl. auch: Ludwig Uhlig, Der Ertrag der Weltreise für Georg Forster, in: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte. Mainz 2005, S. 129–135. AA V, S. 285.

vor Augen geführt werden. Der Anspruch auf die Aufklärung bzw. Zivilisierung außereuropäischer Menschen auf der einen und die ›Kollateralschäden‹ auf der anderen Seite bilden dabei einen komplexen Reflexionsrahmen, in dem es sichtbar werden soll, wo die Aufklärung ihrem selbst konstruierten Gegenteil überführt wird. Um eine differenzierte Einsicht in die Komplexität der Dialektik der Kulturbegegnung gewinnen zu können, wird die vorliegende Arbeit so perspektiviert, dass sowohl die diskursive Konstruktion der Südsee im ideengeschichtlichen Kontext des 18. Jahrhunderts als auch die Prozessualität von Forsters Erfahrung und Denken in der literarischen Gestaltung des spannungsreichen Ablaufs der Begegnung zwischen Europäern und den südpazifischen Insulanern analysiert werden. Ziel dabei ist es, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Aufklärung im interkulturellen Kontext des 18. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Doch diese ›Dialektik‹ wird nicht zuletzt auch an Forsters Umgang mit dem Explikationsdruck sichtbar, der sich aus der Erfahrung der kulturellen Differenz ergibt. Indem Forster die Idealisierung des Fremden als utopisches Korrektiv des Eigenen ebenso relativiert wie das Selbstverständnis der Entdecker als Mitglieder einer dominanten Kultur, zeichnet sich ein besonderer Konnex für unsere Gegenwart ab, in der Errungenschaften des Zeitalters der Aufklärung aus Mangel an Alternativen auch für Probleme unserer Moderne – vom Kampf der Kulturen22 bis hin zur Leitkulturdebatte23 – ein Referenzanspruch zugedacht wird. Angesichts der nicht zuletzt in der aktuellen politischen Diskussion wiederholt betonten Leitbildfunktion der europäischen Aufklärung in der Ordnung der Kulturen muss die Frage erörtert werden, auf welche Weise der im 18. Jahrhundert für die europäische Weltkenntnis erzielte Wissensfortschritt den Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten zwischen Europa und der Übersee bis heute geprägt hat. Forsters Weltreisebericht und das von diesem geprägte Frühwerk24 konstituieren ein Erkenntnisparadigma, das an Tiefe und Reflexivität einen kaum zu überbietenden Denkhorizont bereit hält, der neue Erkenntnisse über das ›aufgeklärte‹ Europa in seinem (Miss-)Verhältnis zu außereuropäischen Kulturen verspricht. Dabei werden zentrale, aber bisher als solche kaum wahrgenommene weitreichende Paradoxa eines historischen Prozesses augenfällig, deren Brisanz und nachhaltige Aktualität in der jüngst von Hans-Jürgen Lüsebrink aufgeworfenen Frage deutlich werden:

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Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München/Wien 1996. Vgl. auch Christian Bremshey, Hilde Hoffmann u. a. (Hg.), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster 2004, insbesondere S. 5f. Dazu vgl. Alfred Schobert, Frank Wichert (Hg.), Mythos Nation. Konstrukt mit Folgen. Münster 2004. Bei aller Kontinuität in der geistigen Entwicklung Georg Forsters, worauf Astrid Schwarz – teilweise zu Recht – hinweist (Vgl. Anm. 12, S. 2) erscheint die Einteilung der Arbeiten Forsters in das Früh- und Spätwerk insofern sinnvoll, als Forsters Eintritt für die Französische Revolution ab 1790 eine neue Schaffensphase einleitet, die nur peripher mit den früheren Schriften in Verbindung zu bringen ist.

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Wie ist das Phänomen des Kolonialismus, das Eroberung, Gewalt und Unterwerfung impliziert, mit dem Prozess der Aufklärung, der Freiheit, Emanzipation, Wissen und Erkenntnis meint, verknüpft?25

Der Schatten der europäischen Aufklärung und damit ein wesentliches Moment ihrer dialektischen Doppelnatur bleibt so lange unauffällig, wie sich solche Fragen in der Wissenschaft nicht stellen. Doch zeigen die von Lüsebrink skizzierten Probleme, wie erklärungsbedürftig die Verwirklichung von Aufklärung im interkulturellen Kontext des 18. Jahrhunderts tatsächlich ist. Deshalb soll an Forster exemplarisch aufgezeigt werden, wie sich Vertreter und Vermittler der europäischen Aufklärung und Zivilisation mit der zunehmenden geographischen Erschließung der Welt seit dem 18. Jahrhundert immer tiefer in unauflösliche Widersprüche verstrickten und das Aufklärungsprojekt schließlich an den Rand seiner Glaubwürdigkeit brachten. »Was mußten die Wilden von uns denken?«26 Nirgendwo besser als in dieser rhetorischen Frage trägt Forster seiner und unserer Zeit das mehr oder weniger unterschwellige Irritationspotential des europäischen Universalismusanspruchs buchstäblich ins Stammbuch. Neu ist hier nämlich der Spiegelblick, indem Forster seine Begegnung mit den Kulturen der Südsee sieht. Mit diesem Blick auf das Fremde artikuliert diese Frage nicht nur die im interkulturellen Diskurs hochaktuelle Bemühung um eine Umkehrung der Perspektive bei der Beschreibung von Kulturbegegnungssituationen, sie führt uns auch die Grenzen einer salvatorischen Definition von Aufklärung und Zivilisation vor Augen, so dass eine Korrektur der dogmatischen Auffassung dieser Begriffe, wie sie etwa von Forster oder Herder im 18. Jahrhundert angemahnt wurde, als fällig erscheint. Frank Vorpahl bestätigt: »Manches Ereignis, das Georg Forster in seinem Reisebericht schildert, wird besser verständlich, sobald man die Sicht der Entdecker mit der Perspektive der Entdeckten abgleicht.«27 Richtig ist aber auch, dass die Statuszuordnung »Entdecker« und »Entdeckten«, wie sie Vorpahl hier stellvertretend für die bisherige Forschung unreflektiert wiederholt, der Wirklichkeit der Kulturbegegnung, die auf gegenseitiger ›Entdeckung‹ basiert, nicht gerecht wird. Nicht zuletzt deshalb fällt jedem Forschungsansatz, der die perspektivische Relativität von Kulturbegegnungen während der Forschungsreisen des 18. Jahrhunderts heuristisch veranschaulichen will, die Aufgabe zu, das Versäumnis aufzuholen, dass das westliche imperiale Denken, welches ein konstituierendes Substrat des Diskurses der Aufklärung bildet, bis dato nicht wahrgenommen oder zugunsten der apodiktischen Metapher vom Licht der Aufklärung systematisch weginterpretiert wurde. Fragen, wie sie Lüsebrink stellt, greifen das Irritationspotential der Aufklärung auf. Sie eignen sich aber nicht nur dazu, von Essentialismen in der Diskursivierung von Kulturbegegnungsprozessen Abstand zu nehmen. Im Kontext der Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts machen sie vor allem auch die Grenzen der Aufklärung als historisches

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Hans-Jürgen Lüsebrink, Von der Faszination zur Wissenssystematisierung: die koloniale Welt im Diskurs der europäischen Aufklärung, in: Ders. (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006, S. 9–18, hier S. 9. AA III, S. 273. Frank Vorpahl, Forster auf Tanna: Der Menschenforscher in Malenesien, in: Georg-ForsterStudien XV (2010), S. 43–54, hier S. 44.

Bezugsmoment der Moderne sinnfällig und sind eine Prämisse für die fundamentale Hypothese, dass gerade diese Widersprüche den Ursprung und Antrieb für die zunehmend asymmetrische Vernetzung von Kulturen und die daraus resultierenden Konflikte bilden. Denn in geradezu klassischer Weise dokumentiert Forster die Grundlagen der Dialektik der europäischen Entdeckungsfahrten im 18. Jahrhundert in der Ambivalenz zwischen Wissenschaft und der Implementierung kolonialer Ansprüche. Deshalb geht die vorliegende Studie von der grundlegenden Hypothese aus, dass im Kontext der Begegnung mit außereuropäischen Kulturen im späten 18. Jahrhundert die Illusion einer ausschließlich erlösenden Aufklärung entschwindet, mit der Folge, dass die Kategorien ›Aufklärung‹ und ›Zivilisation‹ ihre apriorische Evidenz verlieren. Sie werden als empirisch relative oder schwankende Begriffe entlarvt, deren Plausibilität und Legitimation in der praktischen Begegnung mit Mitgliedern außereuropäischer Kulturen auf dem Prüfstand stehen. Die aufklärerische Selbstgewissheit, dass sich die europäische Zivilisation ihren Weg in die außereuropäische Welt bahnen würde und die Entdecker dabei nur Vermittlerdienste zu leisten hätten, wurde gerade im Vollzug der Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts durch die Entdecker selbst entscheidend desavouiert. Forsters literarische Weltreise bietet Anhaltspunkte, die helfen können, das Verständnis von Aufklärung und ihrem Gegenteil den Realitäten interkultureller Begegnungen im 18. Jahrhundert anzupassen. Die Dialektik der Kulturbegegnung bedeutet das Ende aller unangefochtenen kulturellen Selbstverständlichkeiten, einschließlich der Selbstverständlichkeit der Aufklärung und ihrer Konstruktion des ›Anderen‹. Forsters Weltreisebericht thematisiert eine perspektivische Begegnung, indem er kulturell bedingte Wahrnehmungen des Anderen einander gegenüberstellt, so dass sie sich gegenseitig qualifizieren und hinterfragen, auch wenn die Hinterfragung der europäischen Ansprüche gelegentlich durch Forster selbst und damit wiederum eurozentrisch formuliert wird. Dennoch führt der Text insgesamt zur Erkenntnis des hypothetischen Status von Aufklärung und Zivilisation, wodurch Forsters Werk ein weltanschaulich fortgeschrittener Standpunkt zuwächst28, dessen Konsequenz in der Revision eurozentrischer Darstellung von Kulturbegegnungen liegt. Bedingt durch die Dauerkonjunktur des ideologisch verbrämten Diskurses über die Überlegenheit europäischer Aufklärung und Zivilisation hat sich die Forschung lange auf das beschränkt, was Bernard Smith als »European reactions to the Pacific«29 beschrieben hat. Damit wurde das außenperspektivische Verstehen der Entdeckungsfahrten sträflich vernachlässigt – eine Praxis, die erst in der gegenwärtigen Forschung in Frage gestellt wird. So plädiert beispielsweise Nicholas Thomas mit Recht für ein »new look at these formative encounters […] that produced connections between the Baltic, the north of England, both the east and the west coasts of north America, the Thames, Tahiti, Tierra

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Vgl. Klaus Harpprecht, Ein Fremder namens Forster, in: Die Zeit, vom 7. Januar 1994, S. 38. Auch Silke Osman weist darauf hin, dass sich das Bild Forsters als eines »modernen Menschen«, der »höchst zeitgemäß« ist, in der gegenwärtigen Forschung etabliert. Silke Osman, Zwei bewegte Leben. Die Forscher Reinhold und Georg Forster, in: Preußische Allgemeine Zeitung, 20. November 2004, S. 9. Bernard Smith, European Vision and the South Pacific. S. 96ff.

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del Fuego and many places in the Pacific.«30 Besonders aufschlussreich ist daher zu analysieren, wie Forster im reiseliterarischen Kontext des 18. Jahrhunderts zum einen mit dem damals herrschenden ideengeschichtlichen und philosophischen Diskurs und zum anderen mit dem Tribut umgeht, den die Insulaner für ihre Aufklärung bezahlt haben. Allerdings impliziert die Dialektik der Kulturbegegnung die Hypothese, dass der Prozess der wissenschaftlichen und ideologischen Aufklärung der Südsee nicht nur für die Insulaner, sondern auch für die Europäer seinen Preis hatte, der sich an Forsters Bericht ablesen lässt. Es ist deshalb wichtig zu sehen, dass Forsters Kritik an dem mit Händen zu greifenden Zerfall der Südseekulturen im Begegnungsprozess mit Mitgliedern der europäischen Kultur, insbesondere der depravierenden Wirkung europäischer Luxusgüter und den Zerstörungen durch Feuerwaffen nur um den Preis schwerwiegender argumentativer Spannungen mit den universalen Vorgriffen der europäischen Aufklärung und ihrem hegemonialen Anspruch erfolgt. Das macht sich vor allem dort bemerkbar, wo Forster auf der Grundlage konkreter Erlebnisse den zivilisatorischen Seifenblasen der Aufklärung einen kritischen Stich gibt und sie zerplatzen lässt. Die dabei resultierenden Einsichten lassen deutlich werden, an welchen entscheidenden Punkten Forster den Horizont seiner Zeit überschreitet: Während frühere Reiseberichte von einseitigen ›Entdeckungen‹ fremder Kulturen durch Europäer ausgingen, thematisiert er erstmals explizit die Reprozität dieser Begegnung, bei der rein dichotomische Auffassungen von Kulturunterschieden und ihre ideologische Fundierung durch das relativierende Moment praktischer Kulturbegegnungen eingeholt werden. Wie kaum ein anderer Reisender vor ihm trägt Forster die sich im Kontext der Entdeckungsfahrten herauskristallisierende Dialektik der Kulturbegegnung aus, indem er die befürworteten und fragwürdigen Züge der Entdeckungsreisen ineinander verflochten zeigt. So macht er parallel zum Bericht über die Fortschritte der Entdeckungsfahrten in seiner Reise um die Welt eine Verlustrechnung der Aufklärung auf: Zerstörung, Diebstahl, Prostitution, moralische Korruption sind nur einige Beispiele, die es geboten erscheinen lassen, dieses Werks als eines der repräsentativsten Zeugnisse der Dialektik der Kulturbegegnung zu lesen. Aber dieses Werk ist auch ein verblüffendes Dokument zur kritischen Selbstreflexion der Aufklärung, wie sie sich in der Südsee spiegelt. Sowohl der Blick der Insulaner auf die Europäer als auch ihr Staunen über das Verhalten dieser Fremdlinge lassen für Forster die Erkenntnis zu: Die europäische Aufklärung hat im Prozess ihrer Begegnung mit der Südsee im späten 18. Jahrhundert nicht nur Vorzüge im wissenschaftlichen Fortschritt vorzuweisen, sondern auch vielfältige Defizite zu kompensieren, die im Selbstverständnis der Zivilisation a priori ausgeblendet wurden, in Wahrheit aber »die Moralität der Entdeckungsreisen überhaupt verdächtig machen.«31 Die reflexive literarische Narration der Interaktion zwischen Europäern und Insulanern, die bereits in der Reise um die Welt programmatischen Niederschlag findet, legt manch groteskes Missverhältnis der europäischen Aufklärung zu den Südseekulturen

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Nicholas Thomas, Discoveries. The Voyages of Captain Cook. London 2003, S. xxxv. AA V, S. 265.

offen und macht deutlich, dass auch die Aufklärung – wie jede normsetzende Instanz – der Kritik unterliegt. Mehr noch: Durch Forsters Reisebericht werden tiefe Risse im fest gefügten Bild der Aufklärung mitsamt ihrer Leitbegriffe wie ›Kultur‹, ›Humanität‹ und ›Zivilisation‹ augenfällig. Die vorliegende Studie macht deutlich, dass und wie sich die europäische Aufklärung und die südpazifische Inselwelt im Prozess ihrer Begegnung wechselseitig neu definieren und relativieren. Mit anderen Worten: Aufklärung und Südsee bilden relationale Kategorien, die in der diskursiven Darstellung des interkulturellen Begegnungsprozesses ihr Differenzverhältnis ständig neu konstituieren. Die europäische Aufklärung erlebt und beschreibt Forster im Südpazifik als einen Prozess mit vielen Gesichtern. Ihre Expansion erscheint an Schlüsselstellen sogar als die Kehrseite der Erkenntnisrevolution und der Erweiterung des europäischen Horizontes im 18. Jahrhundert. Nur sollte man daraus nicht apodiktisch folgern, dass Forsters Einsichten und Positionen unanfechtbar sind und er selbst automatisch und in jeder Hinsicht der »Rolle des selbstkritischen Aufklärers gerecht wird.«32

2.

Methodische Annäherung

Die Tatsache, dass Forsters Reisebericht sowohl aus wissenschafts- und kulturgeschichtlicher als auch aus literaturwissenschaftlicher und ethnologischer Perspektive zu den bedeutendsten Dokumenten im Umfeld der Entdeckungsreisen von James Cook gezählt wird, bedeutet, dass jede Beschäftigung mit ihm per definitionem ein interdisziplinäres Unterfangen ist. Deshalb bedarf der Blickwinkel, unter dem dieses Unterfangen in der vorliegenden Studie vorgenommen wird, einer kurzen Charakterisierung. Harriet Guest hat in einer rezenten Studie33 angemerkt, dass wir das, was Entdecker über außereuropäische Kulturen schreiben und ihre »attempts to theorise cultural differences« nur vor dem Hintergrund der »cultural bagage they [die Europäear, Y.M.] carried with them« und »the challenge their cultures [der Insulaner] pose to European conceptions of social order and hierarchy«34 richtig einschätzen können. Diese Einschätzung, die dem xenologischen Ansatz35 Rechnung trägt, erweist sich für die Lektüre von Forsters Reisebericht als besonders aufschlussreich. Denn auch Forster bleibt bei aller Reflektiertheit, die seinen Reisebericht kennzeichnet, den Mechanismen der Fremdheitsund Identitätskonstruktionen seiner Zeit unterworfen, die Phantasien der Kolonisierung und Zivilisierung Vorschub leisten. Deshalb muss eine kritische Lektüre der Reise um die Welt nicht zuletzt auch überprüfen, ob bzw. inwieweit es Forster angesichts seines reiseliterarisch unentschiedenen Schwankens zwischen »Erkenntnisfortschritt und

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Joachim Meißner, Mythos Südsee. Das Bild von der Südsee im Europa des 18. Jahrhunderts. Hildesheim u. a. 2006, S. 199. Harriet Guest, Empire, Barbarism, and Civilisation. James Cook, William Hodges, and the Return to the Pacific. Cambridge 2007. Ebd., S. 6. Vgl. unten S. 33ff.

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Traditionsbindung«36 gelingt, die beschränkte Perspektive der im dichotomen Weltbild der Aufklärung sozialisierten Entdecker des 18. Jahrhunderts zu durchbrechen und seine eigene kulturelle Brille abzulegen. Forsters Anspruch als Wegbereiter des wissenschaftlichen Reiseberichts mit außergewöhnlicher Sensibilität für die Dialektik der Kulturbegegnungen ist nicht zu bestreiten, wohl aber sollte er in Beziehung zu jenen kaum weniger auffälligen Momenten gesetzt werden, die nicht nur Brechungen und Ambivalenzen enthalten, sondern auch die Frage aufwerfen, wo Forster die intellektuelle Gefolgschaft zu verweigern ist. Ein solcher Ansatz ist deshalb notwendig, weil in der bisherigen Forschungsliteratur die Tendenz besteht, Forsters Reise um die Welt selektiv zu lesen, mit der Folge, dass dem Autor nahezu a priori Ausnahmestatus zugedacht wird. Eine solche Rezeption, die auf kritische Rückfragen und entsprechende Korrekturen verzichtet, kommt ohne gravierende Fehleinschätzungen nicht aus. Viel zu oft übersehen die Exegeten des Forsterschen Reiseberichts die Aporien des begrifflichen Rasters, in denen dieser Gelehrte der Aufklärung befangen bleibt. Forsters Sprachduktus macht paradoxerweise den Blick für die Kulturen des Südpazifiks frei, versperrt ihn aber auch wieder, und zwar aufgrund von Wahrnehmungsverzerrungen, die sich an seinen sprachlichen Reflexen abbilden und die Vermutung eines subjektiv deformierten und damit eingeengten Blicks auf die Bewohner der Südsee nahe legen. Auch wird allzu leicht verschwiegen, dass Forsters Denken und Schreibweise ihren Ursprung in genau jenem dialektischen ›Prozess der Aufklärung‹ haben, der in der Begegnung des Gelehrten mit Bewohnern der südpazifischen Kulturen nicht nur eine heuristische, sondern auch eine ideologische und letztendlich ambivalente Dimension entfaltet. Genau von diesem »elastischen Punkt«37 aus, und das ist für das Verständnis von Forster auch im Sinne Friedrich Schlegels als einer gerade einmaligen Erscheinung in seiner Zeit grundlegend, wird die hier zu untersuchende Dialektik der Kulturbegegnung auch intellektuell ausgeformt. Gerade in Forsters zumindest partieller Konformität seiner Gedanken und insbesondere in dem von ihm praktizierten Perspektiven- bzw. Standpunktwechsel muss das besondere Moment zu suchen sein, das seine wechselhafte Einstellungen sowohl zur eigenen als auch zur fremden Kultur des Südpazifiks begreifbar macht. Deshalb geht die Beleuchtung der schwierigen Balance zwischen aufklärerischen Visionen und der Last der Wirklichkeit von Entdeckungsreisen in der vorliegenden Studie stellenweise fast zwangsläufig mit Akzentverschiebungen innerhalb der Argumentationsfelder einher, um dem häufigen Positionswechsel in Forsters wenig geschlossener Darstellung und den darin vielfach formulierten relativistischen Positionen gerecht zu werden. Im Kontext einer avancierten interkulturellen Reflexion muss Forsters literarische Weltreise durch unterschiedliche Fokussierung darauf hin befragt werden, in welchem Verhältnis die Folie kritischer, aufgeklärter Ideen zu dem antieurozentrischen Denken des Autors steht, der es sich andererseits ausnimmt, das Geschäft der Entdeckungsfahrten

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Ludwig Uhlig, Erkenntnisfortschritt und Traditionsbindung in Georg Forsters naturwissenschaftlichem Werk, in: Georg-Forster-Studien XV (2010), S. 55–75, hier S. 55. Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I., S. 81.

von einem weltbürgerlichen Selbstverständnis aus in den Blick zu nehmen.38 Wie lässt sich Forsters Werk in den von Bernard Smith als »The European and the Pacific«39 beschriebenen historischen Kontext einordnen? Welche Konsequenzen hat die Verwurzelung von Forsters Denken in der europäischen Aufklärung für seine Wahrnehmung und Einschätzung des Verhältnisses zwischen der europäischen und der außereuropäischen Welt? Wie stehen Forsters Gedanken im Hinblick auf die seinerzeit aufkommenden »imperial ambitions of European states«?40 Wie steht es wirklich um Forsters ›Weltoffenheit‹ in den zahlreichen Begegnungen mit Bewohnern verschiedener Südseeinseln? Eine heuristisch interkulturelle Annäherung an Forsters Reisebericht kommt zudem nicht umhin, sich mit weiteren, bisher unterbelichteten Fragen zu beschäftigen, deren Beantwortung helfen kann, der Aufklärungsdogmatik entgegenzuwirken: Was sagen Forsters Schilderungen über die verschiedenen Komponenten der mentalen Dispositionen der neuen Forschergeneration aus, die Cook auf seinen drei Reisen begleitete, und worin liegen die Grenzen der aufklärungskritischen Perspektive dieses Gelehrten des 18. Jahrhunderts? Welche Folgen hat es für die interkulturelle kommunikative Praxis, dass Europäer und Insulaner die jeweiligen ›Kulturstandards‹ im Sinne Alexander Thomas41 nicht beherrschen? Warum löst die Kulturbegegnung bei Forster eine kritische Reflexion und Relativierung der eigenen aufklärerisch-universalistischen Wertmaßstäbe und Ideale aus und nicht zuletzt, worin liegen eigentlich die Grenzen von Forsters Verständnis der Südsseekulturen und welchen Raum nehmen Spekulationen in seinem Werk ein? Dieser Fragenkomplex, der auf die Beschreibung der von Forster im interkulturellen Kontext diagnostizierten, allerdings bis heute kaum ernsthaft thematisierten Krise der Selbstgewissheit der europäischen Aufklärung abzielt, führt nicht zuletzt in die Betrachtung von Forsters Reisebericht im Licht der ›Writing Culture‹-Debatte, einer Perspektive nämlich, in der Forsters wohl kalkuliertes Schreibverfahren für die Konstitution der Fremde textnah analysiert werden muss. Die Frage nach den literarischen Eigenschaften des Forsterschen Textes, d. h. Schreibstil, Erzählhaltung und Sprachduktus bei der Vermittlung von Fremdwahrnehmung, stellt einen ergiebigen Gegenstand dar, der über die konkreten Entstehungsumstände des Buchs hinaus erklärungsbedürftig erscheint. Die Schilderung der Begegnung und Interaktion mit Südseeinsulanern ist der gedankliche Ort für die Auseinandersetzung mit diesen Fragen, spiegeln sich doch darin zum einen klassische Grundprobleme der Kulturbegegnungen, die uns bis heute beschäftigen und zum anderen Forsters Schwanken zwischen der Achtung und Missachtung fremder Kulturen. Auch die bisher wenig thematisierten Zuspitzungen der subjektiven Überformung bei Forsters Beschreibung und Bewertung dieser Kulturen spielt hier eine wichtige Rolle. Gerade bei der »Beobachtung dieser von uns so verschiedenen Menschen«42 wird

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Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers. Göttingen 2004. Bernard Smith, European Vision and the South Pacific, S. 1. Ebd., S. 60. Alexander Thomas, Kultur und Kulturstandards, in: Alexander Thomas u. a. (Hg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Bd.1 Grundlagen und Praxisfelder. Göttingen 2003. AA V, S. 268.

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Forsters Empfänglichkeit und Anfälligkeit für den eurozentrischen Machtdiskurs und die »europazentrischen Selbstverständlichkeiten«43 im Prozess der Aufklärung – das ist eine der Grundannahmen der vorliegenden Arbeit – sichtbar. Deshalb muss das Werk Reise um die Welt bei allen Ausblicken in die Moderne notwendigerweise zuerst in seinem gesellschaftlich-historischen Kontext des 18. Jahrhunderts gesehen werden. Dabei wird deutlich, dass der »Prozess der Zivilisation« (Norbert Elias), so wie Forster ihn darin reflektiert, keine geradlinige Entwicklung eines zunehmenden Sichverständigens der Kulturen, sondern Brüche und gegenläufige Tendenzen darstellt. Die damaligen wie die heutigen Leser konfrontiert Forster in der Reise um die Welt mit einem interkulturellen Denkraum, der sich nicht auf die simplifizierende Formel »Faszination und Schrecken«44 reduzieren lässt. Ein wichtiger Schritt zur Überwindung einer solchen Verengung der Perspektive liegt in der Hypothese begründet, dass Forsters Südsee kein rein geographischer Topos, sondern im praktischen wie im metaphorischen Sinn einen interkulturellen Reflexionsund Erkenntnisraum bildet, der sich kaum mit der in Europa einseitig festgeschriebenen Leitbildfunktion der Aufklärung und Zivilisation verträgt. Die literarische Südsee regt vielfach dazu an, über die Grenzen des europäischen Universalismus ernsthaft nachzudenken: »Nur gar zu leicht übersieht man Dinge«, gibt Forster zu bedenken, »die uns gleichsam vor der Thür sind, vornehmlich wenn man ›auf Entdeckungsreisen ausgeht‹ […]«45 Durch seine kritische Distanz gegenüber apodiktischen Projektionen verortet Forster seinen Reisebericht in jenen aufklärerischen Kontext, den Harriet Guest als »selfreflective thoughtfulness and spirit of enquiry«46 beschreibt. Das bedeutet, dass die Begegnung mit den Insulanern und der Blick auf die europäische Kultur nicht nur mit einem positiven Erkenntniszuwachs, sondern auch mit einer »increasing disappointment or disillusion«47 Hand in Hand gingen. Deshalb verlangt eine differenzierte Beschreibung von der Dialektik der Kulturbegegnung, wie sie in der vorliegenden Studie vorgenommen wird, methodisch einen Sicht-Wechsel, der die Notwendigkeit eines Umdenkens generiert. Schließlich lässt sich nicht leugnen, dass Forster zumindest implizit das Bedürfnis artikuliert, »die Sichtweisen der Anderen kennen zu lernen«48 Die Implementierung dieses Blickwechsels als Gegenstand der Textanalyse wird gerade auch im Hinblick auf Forsters Reisebericht um so notwendiger, als etwa Alan Howard und Robert Borofsky mit Recht beklagen, das Forschungsmaterial zur »Early Contact Period«49 zwischen

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Jürgen Osterhammel, Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006, S. 19–36, hier S. 19. Sabine Wilke, »Faszination und Schrecken: Georg Forsters Südsee«, in: Germanistische Mitteilungen 64 (2006), S. 51–66. AA II, S. 45. Harriet Guest: Empire, Barbarism, and Civilisation, S. 7. Ebd. Hans-Jürgen Lüsebrink, Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, S. 13. Alan Howard/Robert Borofsky, »The Early Contact Period«, in: Alan Howard/Robert Borofsky (Hg.), Developments in Polynesian Ethnology. Honolulu 1989, S. 241–275.

Europa und dem Südpazifik sei »weighted far more toward Western perspectives than toward Polynesian ones«50, womit sie ein fundamentales erkenntnistheoretisches und forschungspraktisches Defizit offen legen: Indigenous perspectives are often underrepresented in scholarly studies. This constitutes a significant problem since data suggest Polynesians perceived certain historical events in rather different terms from Europeans51

Tatsächlich vermag die bisherige europäische Deutungshoheit der Entdeckungsreisen keinen exklusiven und unangefochtenen Zugang zur Wahrheit über den Prozess der Kulturbegegnung während der Entdeckungsfahrten zu vermitteln, weil sie im Kern einer Selbstauslegung der Aufklärung in Bezug auf das »Fremde« verpflichtet ist. Erst durch die Einbeziehung der Perspektive indigener Völker, die in der eurozentrischen Lesart oft aus dem Blick gerät, können Erkenntnisse zum Vorschein treten, welche diese Deutungshoheit interkulturell relativieren. Besonderes Augenmerk bei der hier vorgenommenen Lektüre von Forsters Reisebericht gilt der Einsicht in die dialektische Dysfunktionalität von Aufklärung und Zivilisation im Prozess der Kulturbegegnung. Daher lässt sich die entsprechende intellektuelle Anstrengung nicht auf die übliche Beantwortung der Frage nach den Leistungen der europäischen Aufklärung reduzieren, vielmehr schließt ein solcher Ansatz notwendigerweise auch intensives Nachdenken über »things that had gone wrong«52 ein, und zwar sowohl auf der Seite der Entdecker als auch auf der der Einheimischen. Damit sind vor allem solche Momente gemeint, die nach Thomas Nicholas »the entire business of European expansion«53 derart in Frage stellen, dass sie damals zum Teil nicht an die aufgeklärte Öffentlichkeit gelangen durften.54 Folgerichtig ist die vorliegende Studie darauf ausgerichtet, Aufklärung und Kulturbegegnung mittels der Polyperspektivität über Cooks Südseefahrten neu zu bewerten. Dabei wird Forster als ›Kronzeuge‹ nicht nur für die Fortschritte, sondern auch für »things that had gone wrong« im Prozess der Entdeckung der Südsee aufgerufen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Erkenntnis darüber, wie wir mit Hilfe der europäischen Reiseberichte entschlüsseln können, was die Bewohner der pazifischen Inseln von den Vertretern der europäischen Kultur erfahren und wie sie auf Erscheinungsformen dieser Kultur reagiert haben. Eine entsprechende Reflexion wird von Nicholas Thomas in folgender Feststellung nahegelegt: »The peoples Cook discovered themselves discovered Europe, or rather they discovered peculiar floating samples of European society.«55 Zu den Aufgaben derart perspektivierter Forschungsansätze gehört der Versuch herauszufinden, wie sich die indigene Sicht in die europäischen Reiseberichte im Allgemeinen und in Forsters Reise um die Welt eingeschrieben hat. Mit anderen Worten:

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Alan Howard/Robert Borofsky, »The Early Contact Period«, S. 242. Ebd., S. 242. Nicholas Thomas, Discoveries. The Voyages of Captain Cook. London 2003, S. xx. Ebd., S. xxvi. Vgl. ebd., S. xxvii. Nicholas Thomas, Discoveries, S. xx.

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Aus welchen Anhaltspunkten in Forsters Reisebericht lässt sich herauslesen, wie die Insulaner der Südsee die Ankunft der Europäer gesehen haben? Diese Frage muss durch Rückschlüsse aus Forsters Narration untersucht werden. Denn ohne Bezugnahme auf die indigene Sicht bleibt das Verständnis der Entdeckungsreisen als Projekt der Aufklärung und ihre literarische Dokumentation einseitig und damit für eine interkulturelle Reflexion unzulänglich. Gerade in der jüngsten Neubewertung der Cookschen Entdeckungsreisen aus ›australischer Perspektive‹56 zeichnet sich eine Deutung ab, die aus interkultureller Sicht vielversprechend erscheint. Sie zeitigt neue Erkenntnisse und Ansichten, die in manch entscheidenden Aspekten im Gegensatz zu der bis heute vorherrschenden europäischen Interpretation der Entdeckungsgeschichte der Südsee stehen. Dabei lässt sich der Terminus ›Entdeckung‹ nur noch im Doppelblick der Kulturen und damit aus dem Fazit der unterschiedlichen Perspektiven adäquat erfassen und erkenntnistheoretisch einordnen. Die hier methodisch angestrebte Kontrastierung der europäisch-südpazifischen Perspektiven sensibilisiert nicht nur für die von Nicholas Thomas erwähnten »difficulties of describing other people«57, sie hilft auch, wenn man differenziert mit ihr umgeht, die unterschiedlichen, kultur- und kontextbedingten Erwartungen bei der Begegnung zwischen Europäern und Insulanern aufzuzeigen. Dabei kristallisiert sich die heuristische Frage heraus, wie sich die europäische und die indigene Interpretation der Kulturbegegnung im Wechselverhältnis erhellen, ergänzen oder sogar neutralisieren. Die unmittelbare Konsequenz daraus liegt in der hier aufgestellten Hypothese begründet, dass Reiseberichte im Allgemeinen und Forsters Reise um die Welt im Besonderen missverstanden werden, wenn sie als europäischer Monolog über die Südsee gelesen werden. Das Verstehen der Art und Weise, wie der Doppelblick der Kulturen in der Reise um die Welt Niederschlag findet, setzt eine Lesart voraus, die Forsters Umkehrung des europäischen Blicks als interpretatorischen Kunstgriff mit einschließt. Dabei ist der Befund zentral, dass sich die europäische Kultur mit diesem Doppelblick zugleich selbst die Basis ihres Überlegenheitsanspruchs raubt: In mehr als einer Hinsicht durchkreuzt das Moment der Kulturkritik in der Konstruktion der Fremde den europäischen Anspruch, Träger der Vernunft, Kultur und Aufklärung zu sein, indem es implizit die Erkenntnis beinhaltet, dass die Europäer in der Begegnung mit Fremden an den eigenen zivilisatorischen Maßstäben scheitern. Aus dem Versuch, die Sicht der Insulaner in den europäischen Reiseberichten aufzuspüren und mit dem europäischen Diskurs zu kontrastieren, will die vorliegende Studie die zwei Richtungen der Südseeentdeckung in den Blick nehmen, zwischen denen Forsters Reisebericht als »arguably the richest of any eighteenth-century account of Pacific peoples«58 oszilliert. Dabei spielt gerade die aus australischem Standpunkt formulierte Erkenntnis eine wichtige Rolle, »dass eine Welt […] Cook als den großen Entdecker un-

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Wegweisend sind die Arbeiten von Nicholas Thomas, Discoveries. The Voyages of Captain Cook. London 2003; Maria Nugent, Botany Bay: Where Histories Meet. Sydney 2005; dies. Captain Cook Was Here. Melbourne 2009; Glyn Williams, The Death of Captain Cook: A Hero Made and Unmade. London 2008. Nicholas Thomas, Discoveries, S. 185. Nicholas Thomas, »Preface«, S. xiii.

serer südpazifischen Inseln verehrt, während seine Ankunft für die andere Welt […] den Beginn eines katastrophalen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umbruchs markiert […]«.59 Bemerkenswert ist, dass Cook für die australischen Aborigines unserer Zeit kein Salvator und deshalb auch kein »Heros der Aufklärung«60 ist, weil seine drei Reisen in die Südsee mit der britischen Landnahme und damit ihrer Enteignung einhergingen. Diese Perspektive steht im Gegensatz zur europäischen Lesart. Das ist wichtig zu wissen, um die Dialektik der Entdeckungsfahrten im Vorzeichen der Aufklärung zu begreifen. Diese Perspektive verspricht auch im Hinblick auf Forster Neues, weil sie das Bekannte in einem anderen Blickwinkel erscheinen lässt und dazu beiträgt, eingewurzelte Selbstverständnisse und Missinterpretationen zu korrigieren oder zu relativieren. Sie muss aber um eine bisher wenig beachtete Frage erweitert werden, nämlich welchen Einfluss die Südsee auf das Selbstverständnis der Aufklärer ausgeübt hat, denn die Begegnung mit den Insulanern hat, wie Thomas Nicholas richtig feststellt »effects – on himself [Cook, Y.M.], on his crew and on other people – that he could neither anticipate nor control.«61 Die Bedeutung von Cooks Reisen in den Südpazifik bleibt auch im Werk Forsters unbestritten, ihre apodiktische Idealisierung ist indes ungerechtfertigt, denn »Encounters with indigenous peoples entailed both friendship and exploitation, reciprocity and imposition, shared understanding and misrepresentation.«62 Derartige Interdependenzen zwischen den Agierenden in kulturellen Begegnungssituationen stiften nicht nur eine besondere Verstehenssituation, sondern auch eine gegenseitige Beeinflussung. Sie werden mit Hermann Bausinger »als Bestandteil einer Dialektik begriffen, die die relationalen Größen fremd und eigen immer wieder auswechselt und von der anderen Seite (mit)betrachtet.«63 Wie bereits angedeutet, sind wir auch dazu angehalten, die relationalen Größen ›Entdecker‹ und ›Entdeckte‹ immer wieder auszuwechseln – nicht zuletzt deshalb, um jene Selbstverständlichkeit, mit der die Integration der Ausbeute aus den Südseereisen des 18. Jahrhunderts in die europäischen Wissenssysteme angesehen wurde, zugunsten der von Adrienne Kaeppler aufgeworfenen Frage zu reflektieren, »ob die Aufklärung ohne Cooks Reisen dieselbe gewesen wäre«64 – einer Frage, die sich mit einem dogmatischen Weltbild einer unüberwindbaren Dichotomie zwischen der europäischen Aufklärung und dem Rest kaum verträgt. Gerade in einem

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Paul Tapsell, Neuseeland-Begegnungen der Maori mit Cook, in: James Cooks und die Entdeckung der Südsee. Herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Bonn/München 2009, S. 26–28, hier S. 28. Vgl. Karl-Heinz Kohl, James Cook als Heros der Aufklärung, in: Andreas Hartmann, Michael Neumann (Hg.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Bd.5: Vom Barock zur Aufklärung. Regensburg 2007, S. 85–99. Nicholas Thomas, Discoveries, S. xxi. Ebd., S. xxxiii. Hermann Bausinger, Kultur kontrastiv – Exotismus und interkulturelle Kommunikation, in: Armin Wolff, Wolfgang Rug (Hg.), Vermittlung fremder Kultur, Theorie, Didaktik, Praxis. Regensburg 1987, S. 1–16, hier S.11. Adrienne L. Kaeppler, Die drei Weltreisen des James Cook, in: James Cooks und die Entdeckung der Südsee. Herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Bonn/München 2009, S. 18–23, hier S. 23.

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praktischen Begegnungskontext, wie ihn die Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts darstellen, zeigt sich, dass Kulturen in einem ständigen Austauschprozess begriffen sind und sich über den Ablauf ihrer Begegnungen neu definieren, und zwar durch permanente Abstandsverschiebungen. Deshalb muss Forsters Reisebericht auch als Schilderung eines sozialen Vorgangs der Kulturbegegnung gelesen werden, »aus dem keiner unverändert wieder herauskommt.«65 Paul Gilroy ist deshalb in der Beobachtung zu folgen, dass die westliche Aufklärung und Moderne keine autarken Phänomene darstellen, da sie mit der Geschichte von nichteuropäischen Kulturen enger verbunden sind als in der Rhetorik vom unüberbrückbaren Dualismus der Kulturen oft suggeriert wird.66 Die kulturwissenschaftliche Bedeutung der umfangreichen Reiseerfahrungen Georg Forsters muss darin gesehen werden, was Thomas Nicholas als »ambiguities and confusions« bezeichnet.67 Die Einsicht in die narrative Gestaltung solcher »ambiguities and confusions« in der Reise um die Welt ermöglicht eine grundlegende Reflexion über das Missverhältnis der sich aufklärenden europäischen Zivilisation zu außereuropäischen Kulturen. Deshalb hat die hier vorgenommene Lektüre des Weltreiseberichts Forsters als literarischer Ort wechselseitiger Interpretation und Relativierung von kulturellen Selbstverständlichkeiten in Überschneidungssituationen ihr Ziel erreicht, wenn es gelingt, Georg Forster als Zeugen und klarsichtigen Analytiker der Dialektik von Kulturbegegnungen neu zu positionieren und damit das interkulturelle Forschungsinteresse an seinem Werk nachhaltig und gewinnbringend zu stiften.

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Alois Wierlacher, Interkulturelle Germanistik, in: Andreas Cesana (Hg.), Interkulturalität. Grundprobleme der Kulturbegegnung. Mainzer Universitätsgespräche 1998. Mainz 1999, S. 145–172, hier S. 160. Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London 1993, S. 1ff. Nicholas Thomas, Discoveries, S. xxxiv.

II. Literaturwissenschaft im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende

1.

Vorbemerkung

Die Untersuchung der literarischen Weltreise Georg Forsters als Quellendokument für die Veranschaulichung der Dialektik der Kulturbegegnung im Kontext der Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts bedarf eines theoretisch avancierten Zugriffs. Dieser verortet sich in der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der germanistischen Literaturwissenschaft. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass die Szenarien und Reflexionen, die Forster in seinem Werk vermittelt, für die (post)moderne Auffassung von Interkulturalität, insbesondere im Hinblick auf die virulente Frage nach Gestaltung und Auswirkungen interkultureller Begegnungen, Anschluss finden. Die literarische Repräsentation und Vermittlung außereuropäischer Kulturen, wie sie sich in Forsters Weltreisebericht artikulieren, lassen wichtige Paradigmen erkennen, die nicht nur die wirtschaftliche und politische, sondern vor allem auch die geistes- und kulturwissenschaftliche Bewusstseinsbildung im Kontext unserer Gegenwart ansprechen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich jener Fragen- und Problemkomplexe, die sich aus dem Prozess der beschleunigten Globalisierung immer deutlicher herauskristallisieren, wobei die unaufhaltsame Vernetzung der Kulturen und mit ihr eine nie da gewesene Problematisierung von Fremdheit den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs zu beherrschen scheinen. Mit Recht leitet Hartmut Böhme daraus das Postulat ab, »daß ohne eine Theorie der Alterität keine Kulturwissenschaft mehr hinreichend begründet sein kann.«1 Die Konsequenzen, die eine solche Einsicht für die Neuauffassung der Kulturwissenschaften hat, sind noch nicht hinreichend reflektiert worden. Während unser Denken und Handeln im Alltag nach wie vor von hitzigen, zum Teil ideologisch aufgeladenen Diskursen in der Politik und Wirtschaft hinsichtlich der Ausprägungen der Kulturbegegnung, der multikulturellen Gesellschaft und der Fremdheit stark beeinflusst werden, zeichnet sich in der internationalen Theoriedebatte ein deutlicher Wandel im Verständnis von Kulturbegegnungen als Merkmal der Globalisierung ab. Dieser Wandel leitet sich von der Erkenntnis ab, dass politische und wirtschaftliche Anschauungen und Begrifflichkeiten, auf die das Phänomen der Globalisierung oft reduziert wird, nicht alternativlos sind. Ihnen stehen nämlich kulturwissenschaftliche Reflexionsmodelle gegenüber, die sich als theoretisches Dispositiv für eine heuristische Annäherung nicht nur an den Prozess der

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Hartmut Böhme, Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs, in: Renate Glaser, Matthias Luserke (Hg.), Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996, S. 48–68, hier S. 61.

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Kulturbegegnung an sich, sondern auch an solche Texte eignen, in denen sich das Paradigma der kulturellen Fremdheit manifestiert. Vor diesem Hintergrund knüpfen die nachfolgenden Überlegungen zunächst an die Diskussion über die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Orientierung in den Geisteswissenschaften mit dem Ziel an, den spezifischen erkenntnistheoretischen Standort der germanistischen Literaturwissenschaft innerhalb der Disziplinenkonstellation zu reflektieren. Der entsprechende Theoriebedarf bringt es mit sich, den erkenntnistheoretischen Ansatz der Xenologie als Bezugskategorie der Literaturwissenschaft zu erläutern. Dies dient der Absicht, den Diskurs über kulturelle Fremdheit und Identität nicht nur als notwendige Begleiterscheinung, sondern vor allem auch als eine heuristische Kategorie der Reflexion im Prozess der Kulturbegegnung theoretisch zu begründen. Damit soll das erkenntnistheoretische Moment eines interkulturell ausgerichteten Denkens in der Literaturwissenschaft schärfer als bisher profiliert werden. Der abgesteckte Erkenntnishorizont soll helfen, einen für das spezifische Erkenntnisinteresse und -ziel der interkulturellen Literaturwissenschaft adäquaten Zugriff auf den Reisebericht Georg Forsters herauszuarbeiten.

2.

Der kulturwissenschaftliche Umbruch

In den letzten Jahrzehnten nimmt auch in Deutschland das Interesse an der Entwicklung der anglo-amerikanischen Cultural Studies2 zu. Die Formel kulturwissenschaftliche »Wende«3 hält in die entsprechende wissenschaftliche Debatte Einzug und wird mit Recht als Zeichen eines Umbruchs interpretiert. Ihren Niederschlag findet diese Entwicklung vor allem im unausgeschöpften Potential der erkenntnistheoretischen Entwürfe, wie sie sowohl in der Ethnologie und Anthropologie als auch in der Literatur-, Geschichts-, Medien- und Sprachwissenschaft sowie in der Kunstgeschichte – um nur einige Beispiele zu nennen – formuliert werden.4 Von einem »allgemeinen kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel«5 ist daher die Rede. Dieser Standpunkt erscheint umso plausibler, wenn man nicht allein die Sonderforschungsbereiche, die Graduiertenkollegs und die neuen Studiengänge6 mit kulturwissenschaftlicher Ausrichtung oder Schwerpunktsetzung, sondern vor allem auch die inzwischen kaum noch überschaubare Anzahl von

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Zur Geschichte und Bedeutung des Forschungsspektrums der Cultural Studies vgl. beispielsweise Fred Inglis, Cultural Studies. Oxford 1993. Den Begriff verwendet Doris Bachmann-Medick in Anspielung auf jene Entwicklung, die im amerikanischen kulturwissenschaftlichen Diskurs mit den sogenannten »cultural turns« beschrieben wird. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1996, S. 10ff. Einen Überblick über die verschiedenen Gebiete kulturwissenschaftlichen Arbeitens dokumentiert der Band Kulturwissenschaft Interdisziplinär. hg. v. Klaus Stierstorfer/Laurenz Volkmann. Tübingen 2005. Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Berlin 2004, S. 28. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf den an der Universität Bayreuth neu gegründeten Pro-

Publikationen betrachtet, die sich durch die exponierte Verwendung des Begriffs »Kulturwissenschaft« im Titel überbieten.7 Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Standort der geisteswissenschaftlichen Disziplinen im Allgemeinen und der germanistischen Literaturwissenschaft im Besonderen unausweichlich. Diese lässt sich allerdings nur dann im Kontext jener wissenschaftlichen Umbruchsituation sinnvoll eruieren, wenn man sowohl das Selbstverständnis der beteiligten Fächer als auch ihr jeweiliges Erkenntnisinstrumentarium auf den Prüfstand stellt. Im Anschluss an die Writing Culture-Debatte8, die bereits Ende der 70er Jahre zur Entstehung der sogenannten »Cultural Studies« in Großbritannien und in den USA geführt hat, entwickelte sich in den 80er Jahren auch in Deutschland eine bis heute anhaltende Kontroverse über die Auswirkungen dieser Paradigmen auf das hiesige (Selbst-) Verständnis der Disziplinen. Die Verlegenheit, in die manch ein Fachvertreter durch diesen unaufhaltsamen Transformationsprozess zu geraten scheint, drückt sich nirgendwo besser aus als in der Frage: »Warum hat sich eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Germanistik herausgebildet, und weshalb brauchen wir sie?«9 Gewiss ruft das schwindelerregende Tempo, in dem die Geistes- und Kulturwissenschaften momentan miteinander verschmolzen werden, Unsicherheiten hervor. Die Frage nach den Gründen und dem Sinn dieser offenbar unbeabsichtigten Neuausrichtung der Disziplinen erscheint wie eine legitime Abwehreaktion gegen eine hereinbrechende Entwicklung.10 Allerdings belegt diese Frage an sich hinreichend die Artikulation eines intellektuellen Umbruchs, wie er beispielsweise in der traditionellen Germanistik wahrgenommen wird. Das heuristische Potential dieser »Wende« entfaltet sich in wissenschaftlichen Positionen, die deshalb skizziert werden müssen, weil sie bewusst machen, dass die durch die Cultural turns ausgelöste wissenschaftliche Neuorientierung hierzulande zwar unterschiedlich und zum Teil polemisch bewertet, in jedem Fall aber als eine intellektuelle Herausforderung wahrgenommen wird. Wenn beispielsweise Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten von einer »mehr als zwei Jahrzehnte anhaltenden Legitimationskrise« sprechen11, dann vor allem deshalb, weil die Forderung nach einer kulturwissenschaftlichen Innovation der traditionellen Geisteswissenschaften, so wie sie in der Denkschrift Geisteswissenschaften heute von 1991 aufgestellt ist, sofort problematisiert wird. Die Frage danach, ob eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung sinnvoll ist oder nicht, zielt insbesondere auf die Dis-

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motionsstudiengang: »Internationales Promotions-Programm. Kulturbegegnungen – Cultural Encounters – Rencontres culturelles«. Mike Featherstone (Hg.), Global Culture: Nationalism, Globalization and Modernity. London 1991. James Clifford/George E. Marcus, editors, Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley 1986. Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hamburg 2002, S. 7–33, hier S. 16. Vgl. Stuart Hall, »The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Humanities«, in: October, 53 (1990) S. 11–23. Stuart Hall, »The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Humanities«, S. 12.

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kussion über das »Pro und Contra einer kulturwissenschaftlichen Orientierung«12 hin. Eine solche Diskussion wiederum ist kennzeichnend für das Klima des Unbehagens und der Polemik, in das sich Rahmenthemen wie »Kulturwissenschaft als Provokation der Literaturwissenschaft«13 einordnen. So wird vor einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Literaturwissenschaft gewarnt, obwohl Konsens darüber zu bestehen scheint, »dass die Kulturwissenschaft das Fundament für die verschiedensten Reformbemühungen abgeben könnte,14 welches letztendlich »eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit der Selbstbestimmung«15 der einzelnen Disziplinen eröffnet. Folgt man Benthien und Velten, so zeigen die bisherigen Debatten, dass »Germanistik als Kulturwissenschaft« verstanden wird, »ohne die philologische Basis des Fachs aufzugeben.«16 Begründet wird diese Ansicht, die beispielsweise durch die Ergebnisse des DFG-Symposiums »Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?«17 an deutlichem Profil gewinnt, mit neuen methodischen Ansätzen kulturwissenschaftlicher Ausrichtung. Damit wird die Perspektive Claus-Michael Orts aufgegriffen, der in der gegenwärtigen interdisziplinären Öffnung »Anschlussmöglichkeiten« für die Literaturwissenschaft sieht, ohne jedoch die »textbasierte Grundlage aufzugeben«.18 Gerade aus dieser Erkenntnis kristallisieren sich heute neue Ansätze für eine Literaturwissenschaft heraus, die sich dem Transformationsprozess der Kulturwissenschaften nicht entziehen kann, sich von diesem aber nicht absorbieren lässt. Haben das Konzept einer Diskursanalyse, wie es Foucault geprägt hat, die Kultursoziologie Bourdieus, die kulturanthropologischen Überlegungen Geertz’ und Stephen Greenblatts New Historicism insgesamt die argumentative Grundlage für die Forderung nach einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der klassischen Gegenstandsfelder der Geisteswissenschaften gelegt, so erschöpft sich der Leitgedanke dabei mitnichten in der Infragestellung der gängigen Abgrenzungen der Disziplinen. Gerhard von Graevenitz zum Beispiel sieht in der gegenwärtigen Debatte um die kulturwissenschaftliche »Wende« vor allem die »Artikulation einer allgemeinen Strukturveränderung der Wissenschaften.«19 Diese »Strukturveränderung«, die auf unterschiedliche Haltungen stößt, stellt nach Hartmut Böhme nicht die Endphase eines abgeschlossenen

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Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft, S. 22. Kulturwissenschaft als Provokation der Literaturwissenschaft. Literatur – Geschichte – Genealogie. Herausgegeben von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. München 2004. Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft, S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 7. Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart/ Weimar 2004. Claus-Michael Ort, Was Leistet der Kulturbegriff für die Literaturwissenschaft? Anmerkungen zur Debatte, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46 (1999), S. 534–546, hier S. 536. Gerhard v. Graevenitz, »Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999) S. 94– 115, hier S. 95.

Prozesses dar, sondern befindet sich in einer »konzentrierten Erprobungsphase«20, wobei sich die Konzeption der Kulturwissenschaft als einer wissenschaftlichen Plattform für die Vermittlung zwischen den Disziplinen herausbildet. Vor diesem Hintergrund argumentieren Böhme und Scherpe, dass sich das umworbene Konzept der Kulturwissenschaft als »eine Form der Moderation« versteht. Sie führen dabei den Grund an, dass dieses Konzept »im Unterschied zu den Philologien, die ihren Gegenstand naturwüchsig im Ensemble der Texte finden [...] nicht über eigene Objekte und Fragestellungen [verfügt], die nicht schon in den Philologien oder in den Sozialwissenschaften und der Historie formuliert wären.«21 Demzufolge führen kulturwissenschaftliche Fragestellungen dazu, »die heterogenen, hochspezialisierten, gegeneinanderabgeschotteten Ergebnisse der Wissenschaften zu ›dialogisieren‹«22. Was aber heißt das genauer? Wenn man davon absieht, dass für ein und dieselbe Disziplin – etwa die (germanistische) Literaturwissenschaft – nicht gleichzeitig interdisziplinäre Öffnung und philologischer Identitätsbeweis eingefordert werden können, wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der kulturwissenschaftlichen »Wende« durch folgenden Sachverhalt flankiert: Dadurch, dass sich die Debatten um Kulturwissenschaften wenig konklusiv und tendenziell unverbindlich gestalten, geraten gerade Antwortversuche auf die Frage, was nun Kulturwissenschaften eigentlich sind, leicht in den Verdacht, unter dem Stichwort »Moderator« vielmehr Beliebigkeit und Dilettantismus zu pflegen. Deshalb unterstreicht etwa Walter Haug »die Gefahr, dass ›Kulturwissenschaft‹ sich als ein Sammelsuriumsbecken präsentiert, in dem alles und jegliches seinen Platz findet, was irgendwie den Rahmen eines geisteswissenschaftlichen Einzelfachs überschreitet.«23 Dass solche Vorbehalte einleuchten, hat seinen Grund in der Schwierigkeit, das exogene Konzept der cultural studies in das etablierte Selbstverständnis der betroffenen Disziplinen ohne Weiteres zu übernehmen. Benthien und Velten sprechen von »zwei Varianten von Kulturwissenschaft«24, die sich einerseits von den amerikanischen cultural studies unterscheiden und andererseits den Begriff Kulturwissenschaft selbst in verschiedene Bedeutungsdimensionen zerfallen lassen.25 Daraus folgt, dass sich keine griffige Definition von Kulturwissenschaft bisher durchsetzen konnte. Die definitorische Unschärfe des Begriffs »Kulturwissenschaft« macht deshalb die Frage Lutz Musners sinnfällig, ob Kulturwissenschaften und Cultural Studies »zwei ungleiche Geschwister«26 seien.

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Hartmut Böhme, Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 42 (1998), S. 476–486, hier S. 481. Hartmut Böhme und Klaus Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek 1996, S. 7–24. Ebd. Walter Haug, »Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 69–93, hier S. 73. Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft, S. 15. Vgl. ebd. Lutz Musner, »Kulturwissenschaften und Cultural Studies. Zwei ungleiche Geschwister?«, in: KulturPoetik (2001), S. 261–271.

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Angesichts der in der bisherigen Diskussion oft verschwiegenen Tatsache, dass die deutschen Kulturwissenschaften unserer Zeit zwar von den amerikanischen cultural studies wichtige Impulse erhält27, mit jenen jedoch keineswegs in einer durchgehenden Traditionslinie stehen, argumentieren Benthien und Velten gegen das vielerorts vorgetragene Misstrauen gegenüber der Legitimation von sich zunehmend kulturalisierenden Geisteswissenschaften, dass die Praxis gewordene kulturwissenschaftliche Orientierung der Geisteswissenschaften »keine neue, konkurrierende ›Methode‹ unter anderen [darstellt]«; sie tendiere eher dazu, so die Autoren, »zu einem ›Globalparadigma‹ zu werden«28 – mit der gewichtigen Einschränkung allerdings, dass es sich dabei »nicht um ein ›normatives‹ Paradigma handelt, sondern um ein sehr offenes, das graduell unterschiedliche Anwendungen kulturwissenschaftlichen Arbeitens erlaubt.«29 Damit wird der bereits von Jan-Dirk Müller formulierte Standpunkt unterstützt, dass die kulturwissenschaftliche Wende »nicht auf die Aufhebung der Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen« hinaus läuft, sondern vielmehr »auf ihre Überschreitung im Dienste einer wechselseitigen Erhellung«30 abzielt. Diese Auffassung vertritt auch Böhme: »Die Zusammenführung verschiedener Fächer zu gemeinsamen Forschungsprojekten scheint nur zu gelingen, wenn sie sich interdisziplinär auf die Plattform kulturwissenschaftlicher Fragestellungen stellen.«31 Dabei handelt es sich nicht um ein bloßes Etikett ohne inhaltliches Gewicht, sondern um eine zumindest im Ansatz konturierbare Umorientierung, die allen beteiligten Disziplinen, wenn nicht gleich einen Perspektivenwechsel, so doch zumindest eine Ergänzung des Blickwinkels abverlangt und sich auf diese Weise in zwei innovative Richtungen auswirkt: Im Hinblick auf die Disziplinen steht nicht mehr nur die Fachkompetenz im Vordergrund, sondern es werden zunehmend trans- und interdisziplinäre Forschungsperspektiven, Fragegestellungen und Arbeitsweisen gefordert, weil sie zur Vernetzung und »Dynamisierung verschiedener Einzelwissenschaften«32 beitragen. Unter diesem Gesichtspunkt wird die kulturwissenschaftliche Wende als Chance für die Literaturwissenschaft gewertet, sich »ein international anschlussfähiges wissenschaftliches Profil zu geben.«33 In der literaturwissenschaftlichen Forschung mit kulturwissen-

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Vgl. Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Hamburg 2000, S. 11ff. Ebd., S. 16. Ebd. Jan-Dirk Müller, »Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft«, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 46/4 (1999), S. 574–585, hier S. 577. Hartmut Böhme, Kulturwissenschaft als Modell? Perspektiven Grenzüberschreitender Wissenschaftsentwicklung, in: Kulturwissenschaft als Provokation der Literaturwissenschaft. Literatur – Geschichte – Genealogie. Herausgegeben von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. München 2004, S. 10–26, hier S. 10. Horst Wenzel, »Mediävistik zwischen Textphilologie und Kulturwissenschaft«, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 46/4 (1999), S. 546–561, hier S. 548. Ortrud Gutjahr, Interkulturalität: zur Konjunktur und Bedeutungsvielfalt eines Begriffs, in: Claudia Benthien. Hans Rudolf Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Hamburg 2002, S. 345–369, hier S. 347.

schaftlicher Ausrichtung werden die Forschungsgegenstände zunehmend als übergreifende Fragestellungen im Kontext globalen Denkens formuliert und untersucht.34 Deshalb hält es Bernard Dieterle für sinnvoll, »Literatur als Teil der Gesamtkultur, also in ihrer Mitwirkung an Konstitution, Tradierung und Veränderung von kulturellen Sinn- und Zeichenbildungen«35 aufzufassen. Die gegen die Kulturwissenschaften gerichtete Kritik, »daß der verkündete Paradigmenwechsel bislang wenig fruchtbaren Niederschlag in den methodischen Praktiken findet«36, schießt zum Teil über das Ziel hinaus. Eine der weitreichenden Implikationen der kulturwissenschaftlichen Programmatik liegt in der Erkenntnis begründet, dass literarische Texte nicht mehr nur als Gegenstand ästhetischer Erfahrung betrachtet, sondern zunehmend als »Brennspiegel von Diskursen, Mythen, Ritualen, von Macht und Politik, von kulturellen Konstruktionen wie Rasse, Geschlecht, nationaler oder sozialer Identität«37 gelesen und untersucht werden. Weil Literatur eben »als Teil eines umfassenden kulturellen Kosmos«38, d. h. als »komplexe diskursive Konfigurationen von Erfahrung und Wahrnehmung der Welt«39 fungiert, gewinnt der Hinweis an Gewicht, dass die traditionelle Konzeption der Literaturwissenschaft als Texthermeneutik nicht mehr ausreicht, um der Bedeutungsdichte und -komplexität einer poetics of culture (Stephen Greenblatt) gerecht zu werden.40 Es geht also nicht um ein Paradigma, welches die »Grenzen der Geisteswissenschaften in Frage stellen könnte«41, sondern um ein solches, das die Erweiterung der Texthermeneutik hin zu einer Kulturhermeneutik programmatisch fordert: »Mit Blick auf kulturelle Diskurse sind die als fest angenommenen Grenzen literarischer Texte aufzubrechen und die Tätigkeit des Interpretierens zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem umfassenden Korpus kultureller Texte weiterzuentwickeln.«42 Diese Forderung ist aber nicht neu. Die Heranziehung außerliterarischer Quellen mit dem Ziel, literarische Texte zu erschließen, geht methodologisch auf die Tradition des New Historicism zurück. Doch hat die Aufforderung, die den durch die Kulturwissenschaft ausgelösten geistigen Umbruch unterstreicht, bisher keineswegs zu einer »kulturwissenschaftlichen Totalsanierung der Geisteswissenschaften«43 geführt. Die Angstszenarien, wonach die Literaturwissenschaft in der Kulturwissenschaft aufgehen oder ihr angestammter Gegenstand – das poetische Wort – abhanden kommen

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Hartmut Böhme spricht daher von der »Beendigung des deutschen Sonderwegs der Geisteswissenschaften« (Hartmut Böhme, Kulturwissenschaft als Modell? S. 12.) Bernard Dieterle u. a., »›Kulturpoetik – Eine Zeitschrift stellt sich vor«, in: KulturPoetik 1/1 (2001), S. 1–3, hier S. 1. Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte, S. 14. Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft, S. 20. Ebd., S. 18. Ebd., S. 23. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Kultur als Text, S. 10. Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie. Frankfurt/M. 2003, S. 20. Ebd., S. 9. Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte, S. 14.

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könnte44, müssen als unbegründet zurückgewiesen werden. Mit Recht halten Christian Begemann, Walter Erhart und Werner Frick »die phobischen und euphorischen Überreaktionen« im Zusammenhang mit der kulturwissenschaftlichen Erweiterung der germanistischen Fächer für »schwer nachzuvollziehen«, denn, so die Autoren, »[d]ie Kulturwissenschaft gibt es weder als Disziplin noch als methodisches Paradigma, aber auch die Germanistik, insbesondere die germanistische Literaturwissenschaft, ist bekanntlich alles andere als ein durch einheitliche methodische Ausrichtungen gekennzeichnetes Fach.«45 Deshalb können »antinomische Therapievorschläge«46 kaum etwas helfen. Dies umso weniger, wenn man dem Vorschlag von Britta Hermann folgt, wonach »die Dauerreflexion auf das eigene Fach weniger als disziplinäres Krisensymptom denn als Konstitutionsbedingung eines immer komplexer werdenden Gefüges«47 zu betrachten ist. Kulturwissenschaftliches Denken im Kontext der deutschsprachigen Philologien ist, anders als die überhitze Kontroverse suggeriert, nicht neu. Nach Peter J. Brenner handelt es sich um eine auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Tendenz, »Literatur als ein Kulturphänomen neben anderen zu begreifen.«48 Die Suche nach dem kulturellen Aussagewert literarischer Phänomene impliziert eine in den Debatten der 60er und 70er Jahre vorgenommene Erweiterung des Literaturbegriffs, der die ursprüngliche Praxis philologischen Arbeitens zu überwinden trachtet. Wenn Literatur »traditionell ein wichtiges kulturelles Medium der individuellen und kollektiven (ethnischen, nationalen, geschlechtlichen) Identitätsbildung [ist], dann bietet sie »in ihrer Textgestalt und ihren Symboliken eine wichtige Materialquelle für kulturanthropologische Fragestellungen und Konstanten. Sie enthält aber immer auch das Potential für die Durchbrechung der Standards.«49 Die Auffassung des Textes als Ausdruck sprachlich-kommunikativen Handelns expliziert den Umgang mit der »Kultur als Hypertext«50, woraus sich die Erkundung eines offenen Erkenntnishorizontes ergibt, der unterschiedliche Disziplinen anspricht. Dies zeigt sich exemplarisch an der Kategorie der Fremdheit, die seit der Entstehung der Interkultu-

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Vgl. Wilfried Barner, »Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 1–8. Christian Begemann, Walter Erhart und Werner Frick, »Einführung«, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart/Weimar 2004, S. 167– 173, hier S. 167. Britta Hermann, Germanistik und oder als Kulturwissenschaft(en)? Zur Historizität fachlicher Selbstbestimmungen, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart/Weimar 2004, S. 61–83, hier S. 61. Britta Hermann, Germanistik und oder als Kulturwissenschaft(en)? S. 63. Peter J. Brenner, Was ist Literatur? in: Renate Glaser, Mathias Luserke (Hg.), Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996, S. 11–47, hier S. 35. Christa Ebert, Literaturwissenschaft – Kolonialgebiet oder Kolonialmacht der Literaturwissenschaften? in: Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München 2004, S. 75–87, hier S. 85. Vgl. Claus Altmayer, Kultur als Hypertext. Zu Theorie und Praxis der Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache. München 2004.

rellen Germanistik in den 80er Jahren als »neues Paradigma der Literaturwissenschaft«51 elaboriert wird, welches aber in anderen geistes- und kulturwissenschaftlichen Feldern ebenfalls eine forschungsparadigmatische Stellung einnimmt. Davon legen Arbeiten zur interkulturellen Philosophie, Pädagogik, Religionswissenschaft und der Psychiatrie Zeugnis ab. Ortrud Gutjahr weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Fremdheit nicht von dem Phänomen der Interkulturalität zu trennen ist, das »im bildungs-, wirtschaftsund kulturpolitischen Bereich hoch im Kurs steht.«52 Folgerichtig fordert die Autorin die moderne Forschung dazu auf, Interkulturalität als Artikulation einer »Aufmerksamkeitsverlagerung im Zeichen eines neuen Wissens- und Erklärungsbedarfs zu verstehen.«53 Die Auseinandersetzung mit Fragen der Interkulturalität als Gegenstand der Literaturwissenschaft kann nur unter einer pluralen Perspektive, in der möglichst auf das Denken in »Schulen« verzichtet wird, sinnvoll gestaltet werden. So leitet die kulturwissenschaftliche Orientierung in der (interkulturellen) Literaturwissenschaft die Abkehr von einheitlichen Konzepten der Literaturbetrachtung ein – eine Abkehr, die unter der Erweiterung des Gegenstandsbereichs eine differenzierte Darstellung der kulturellen Bedingungen begünstigt, welche die Literatur hervorbringen. Ist den Kulturwissenschaften der Gegenstand »Kultur« gemeinsam, so sind die jeweils zugrunde liegenden Konzepte von Kultur und die Perspektiven, unter denen sie ihren Gegenstand betrachten und analysieren, unterschiedlich und weder erkenntnistheoretisch noch methodologisch auf einen Nenner zu bringen, denn »unter Kulturwissenschaft verbirgt sich ein heterogenes Feld von Ansätzen mit lokalen und theoretischen Unterschieden.«54 Daher befindet sich die kulturwissenschaftliche Ausrichtung bei der Betrachtung von Literatur »in einem synchronen Diskursgefüge, das als Netzwerk aus Texten und Diskursen, als kulturelle Intertextualität konzipiert ist.«55 Die Aufgabe einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft besteht demnach darin, diese Deutungsmuster zu synchronisieren und in den Dienst einer Erweiterung der Text – hin zur Kulturhermeneutik zu stellen. Im Sinne dieser grundsätzlichen Zielsetzung der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung können erkenntnistheoretische Hinzugewinne der (interkulturellen) Literaturwissenschaft nur dann sinnfällig werden, wenn ihre analytischen Ansätze zu einem gemeinsamen Problemfeld kulturwissenschaftlicher Disziplinen in ihren Differenzen und Konvergenzen systematisch fruchtbar gemacht werden. Daher bieten Annäherungen an das »Kulturthema Fremdheit«56 aus der Perspektive der Fachwissenschaften nicht nur die Möglichkeit, den weitgespannten theoretischen Rahmen in den Blick zu nehmen,

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Ortrud Gutjahr, Interkulturalität, S. 345. Ebd. Ebd., S. 346. Hartmut Böhme, Kulturwissenschaft als Modell? S. 12. Moritz Baßler, Stichwort Text. Die Literaturwissenschaft unterwegs zu ihrem Gegenstand, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 470–476, hier S. 473. Vgl. Alois Wierlacher (Hg.), Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München 1993.

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sondern vor allem auch das Selbstverständnis der interkulturellen Literaturwissenschaft als Hermeneutik kultureller Alterität näher zu begründen.

3.

Interkulturelle Literaturwissenschaft als kulturwissenschaftliche Xenologie

Aus dem Panorama der Schlüsselkategorien, die im Kontext der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskussion Anwendung finden, ragt der Begriff der Fremdheit in besonderem Maße hervor. Aufgrund der Verwendung dieses Begriffs über Fächer- und Disziplingrenzen hinweg bezeichnet beispielsweise Hartmut Behr die Fremdheitsproblematik als »ein[en] integrale[n] Bestandteil jeder wissenschaftlichen Beschäftigung, d. h. [...] insbesondere der gesellschafts- bzw. geisteswissenschaftlichen Beschäftigung.«57 Doch so unterschiedlich die Anlässe und Hintergründe für diese Hochkonjunktur erscheinen mögen, dem Problem der Fremdheit wird im kulturwissenschaftlichen Umbruchprozess eine besondere Brisanz eingeräumt: »Ein Testfall für Kulturwissenschaft heute«, so Klaus Scherpe, »ist gerade das Verhältnis zu fremden Kulturen.«58 Als Forschungsparadigma verortet sich Fremdheit im Kontext des Vernetzungsprozesses der Kulturen und der Disziplinen. Es macht zum einen sichtbar, dass der Prozess der Globalisierung das Denken in kulturellen Dichotomien und Polaritäten noch nicht aufgehoben hat. So wird in der Wahrnehmung und Diskursivierung der Kulturbegegnungen nach wie vor von fundamentalen Gräben zwischen Kulturen ausgegangen. Das Phänomen der Globalisierung wird zunehmend weniger optimistisch im Sinne einer friedlichen Begegnung der Kulturen, sondern vielmehr pessimistisch als Konflikt der Kulturen hypostasiert wird.59 Entsprechend werden solche Kategorien, die zur Markierung der kulturellen Differenz gebraucht werden, meist so vermittelt, als sagten sie etwas Absolutes aus. Vor dem Hintergrund einer derartigen Essentialisierung des Diskurses über kulturelle Unterschiede und Selbstverständlichkeiten wird jene von Scherpe identifizierte Herausforderung, und zwar die Frage nach den Prämissen und Möglichkeiten einer friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen, immer brisanter.60 Nun steht diese kulturwissenschaftlich geprägte Frage seit den 80er Jahren im Mittelpunkt der interkulturell ausgerichteten Literaturwissenschaft, einer Disziplin, »der es bei der Untersuchung von Literatur nicht allein um den eigenen kulturellen Kontext, sondern um die für den literarischen Text konstitutiven kulturellen Bezugssysteme, deren

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Hartmut Behr, Die Stellung der Xenologie in der Wissenschaft – oder: Die Stellung der Frage nach dem Fremden in der Wissenschaft, in: L .J. Bonny Duala-M’bedy (Hg.), Die Entgegnung des Fremden im Museum. Xenologie und Museumspädagogik. Oberhausen 1999, S. 26–40, S. 26. Klaus R. Scherpe, Kanon – Text – Medium. Kulturwissenschaftliche Motivationen für die Literaturwissenschaft, in: Wendelin Schmidt-Dengler, Anton Schwob (Hg.), Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik. Wien 1999, S. 19–37, hier S. 19. Bezeichnend dafür ist die Formel ›Kampf der Kulturen‹ von Samuel P. Huntington. Vgl. Gottfried Edel, Hinführung zur Weltkultur, in: Gottfried Edel (Hg.), Weltkultur. Begegnung der Völker-Gemeinschaft der Menschen. Mainz 1997, S. 11–26.

ästhetische Gestaltung und Vermittelbarkeit geht.«61 Damit macht die interkulturelle Literaturwissenschaft die Fremdheitsproblematik zu ihrem genuinen Forschungsgegenstand, dessen Wahrnehmung als virulentes Paradigma im Kontext des gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels zwei wichtige Erkenntnisziele erkennen lässt. Erstens: Wird die Fremdheitsproblematik adäquat und fundiert angegangen, ermöglicht sie den Zugang zu den Mechanismen der Diskursivierung interkultureller Begegnungen; andererseits eignet sie sich dazu, die Funktion dieser Mechanismen im (Miss) Verhältnis der Kulturen zueinander zu analysieren und somit Rückschlüsse auf die Entstehung interkultureller Spannungsfelder und Übergänge zu ziehen bzw. zu bestimmen.62 Zweitens: Die erkenntnistheoretischen Problemstellungen, die sich der Frage nach den Voraussetzungen und Grundlagen des interkulturellen Denkens widmen, sind deshalb nicht nur als »Testfall«, sondern sogar als Pflichtaufgabe einer kulturwissenschaftlich orientierten Reflexion anzusehen. Für die interkulturelle Literaturwissenschaft, wie sie in den letzten Jahrzehnten als germanistisches Fach praktiziert wurde, empfiehlt sich die Xenologie63 als erkenntnistheoretisches Bezugskonzept. Der Grund liegt nicht zuletzt darin, dass sich der Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von Munasu Duala-M’bedy entwickelte Ansatz inzwischen als Fachkomponente an verschiedenen Instituten insbesondere der interkulturellen Germanistik etabliert hat64, ohne dass die entsprechende Erkenntnistheorie in gebührender Weise implementiert worden wäre. Herausgebildet hat sich die xenologische Erkenntnistheorie aus der von DualaM’bedy vorgenommenen umfassenden Kritik an dem abendländischen Diskurs über außereuropäische Kulturen, deren Status als fremde Kulturen seit Ende des 18. Jahrhunderts über die Ethnologie und Anthropologie, d. h. qua Wissenschaft, exponiert und monologisch festgeschrieben wurde. Die von diesen Disziplinen generierten Fremdheitsbilder und -vorstellungen haben sich in dem bis in den heutigen öffentlichen Diskurs hineinragenden Dogma radikalisiert, dass zur Fremdheit wesensmäßig gehört, was nicht genuin dem abendländischen Kulturkreis entsprungen ist. Nirgendwo besser als in der Xenologie wird das abendländische Selbstverständnis als Referenz für die Definition dessen, was als fremd gilt und welche Eigenschaften es aufzuweisen hat, radikal in Frage gestellt. Mit dem Begriff Xenologie verbindet sich in erster Linie das erkenntnistheoretische Postulat, dass es »so etwas wie einen kategorischen Fremden in der Welt und in der Geschichte nicht gibt.«65 Mit diesem Postulat for-

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Ortrud Gutjahr, Interkulturalität, S. 349. Hartmut Behr weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass wir es »bei der Frage nach dem Fremden [...] zuallererst mit einem Set von Problemstellungen [zu tun haben], die es zu reflektieren gilt und nicht mit einem Set von Definitionen« (Hartmut Behr, Die Stellung der Xenologie in der Wissenschaft S. 27.) Munasu Duala-M’bedy , Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie. Freiburg 1977. Vgl. Kathrin Schröter, Xenologie. Zur Theorie des Fremden bei Munasu Duala-M’bedy, in: Christian Bremshey, Hilde Hoffmann u. a. (Hg), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster 2004, S. 18–29, insbesondere S. 22. L. J. Bonny Duala-M’bedy, Was ist die Wissenschaft von der Xenologie? in: L. J. Duala-M’bedy

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dert Duala-M’bedy erstmalig einen Paradigmenwechsel in der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Problematik der Fremdheit ein. Dabei muss die Frage bezüglich der Prämissen, nach denen Fremdheit konstituiert und zu einer erfahrbaren Größe gemacht wird, neu gestellt werden. Anders als die Ethnologie, die von ihrem Selbstverständnis her als »Wissenschaft vom kulturell Fremden«66 außereuropäische Kulturen zu ihrem Gegenstand macht, erteilt die Xenologie der Annahme einer naturwüchsigen Evidenz des Fremden per se eine Absage. Vielmehr strebt sie eine interkulturelle Theorie an, die von der Grundvoraussetzung ausgeht, »dass eine Gesellschaft bzw. eine Kultur niemals einer anderen Gesellschaft bzw. einer anderen Kultur neutral gegenübersteht.«67 Von dieser Perspektive aus hinterfragt die Xenologie den Universalitäts- und Verbindlichkeitsanspruch des westlichen Fremdheitsdiskurses, der sich exklusiv aus den okzidentalen Wahrnehmungsprämissen herausgebildet und eine entsprechende Fremderfahrung ermöglicht hat: »Von einem wirklich oder vorgeblich ›objektiven‹ Standort aus wird nicht die Differenz zwischen dem interpres und dem interpretandum ausgemessen.«68 Die Erfahrung bzw. Wahrnehmung von Fremdheit ist vom xenologischen Standpunkt her nur in dem Sinne ein ubiquitäres Phänomen, als jede Gesellschaft über ihre eigene Sprachsymbolik verfügt, welche »die prinzipiell unzugängliche Außenwelt in die Innenwelt [...] einholt.«69 Dieses Symbolfeld ist durch seine Unübertragbarkeit gekennzeichnet. Es konstituiert das so genannte xenische System, das wir bei der Lektüre der literarischen Weltreise Forsters auch als spezifische kulturelle »Brille« kennen lernen werden: »Danach stellt Fremdheit eine alle Kulturen der Welt verbindende Grunderfahrung dar und wird nicht mehr nur einseitig aus dem Selbstverständnis des abendländisch-europäischen Kulturkreises abgeleitet.«70 Insbesondere im Hinblick auf interkulturelle Begegnungen schreibt der Topos der/die/das Fremde eine Topographie in die diskursive Weltkarte ein, »die dauerhaft von stigmatisierten Polaritäten geprägt ist.«71 Der erkenntnistheoretische Abstand, den die Xenologie gegenüber herkömmlichen Fachdisziplinen gewinnt, wird insbesondere durch die Erkenntnis der Dialektik der Kulturbegegnung augenfällig. Es wird dabei deutlich, dass Fremdwahrnehmung im inter-

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(Hg.), Das Begehren des Fremden. Tagungsergebnisse 1991 des Kaiserswerther Instituts für Xenologie. Essen 1992, S. 13–29, hier S. 14. Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München 1993. Yomb May, Das xenologische Epithetum. Zur Konstruktion und Instrumentalisierung des Mythos vom Insularen Paradies in den Reiseberichten Antoine de Bougainvilles und Georg Forsters, in: Christian Bremshey u. a. (Hg.), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster 2004, S. 55–71, hier S. 55f. Eberhard Scheiffele, Interkulturelle Germanistik und Literaturkomparatistik: Konvergenzen, Divergenzen, in: Alois Wierlacher, Andrea Bogner (Hg.), Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar 2003, S. 569–576, hier S. 570. Marco Ortu, Vom sozialen System zum xenischen System. Die Xenologie als integrale Sozialtheorie der modernen Gesellschaften, in: Christian Bremshey, Hilde Hoffmann u. a. (Hg.), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster 2004, S. 12. Ebd. Marco Ortu, Vom sozialen System zum xenischen System, S. 12.

kulturellen Kontext einem Kodifizierungsprozess zugrunde liegt, der wiederum aus dem jeweiligen xenischen System resultiert. Demnach bilden sprachlich generierte Figuren des Fremden jene symbolischen Topoi, die sich im xenischen System einer gegebenen Kultur mehr oder weniger institutionalisiert haben: Unter einem Fremden wird dasjenige Subjekt verstanden, das als Systemelement – etwa in einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Kultur – Gegenstand einer Fremdheitsbestimmung wird. Das Attribut ›fremd‹, das weiterreichende Implikationen und Konnotationen als das bloß ›Andere‹ hat, kommt erst durch die Artikulation eines Fremdsystems in seiner vollen Tragweite zur Geltung. Fremdheit erscheint so als eine relative Funktion eines Systems.72

Es wird anhand dieser systemischen Definition des Fremden deutlich, dass sich die Xenologie sowohl von der Phänomenologie als auch von der Ontologie der Alterität, wie sie beispielsweise im Werk des französischen Philosophen Emmanuel Lévinas73 oder aber auch in den Arbeiten Bernard Waldenfels‹74 zum Ausdruck kommen, abgrenzt. Neu aus der xenologischen Perspektive ist die Erkenntnis, dass die spezifischen Fremdheitstopoi, die sich seit der Entstehung der Ethnologie und Anthropologie in das europäische Bewusstsein einzementiert haben, Rückschlüsse auf das europäische xenische System und damit die mentalen Dispositionen in der Begegnung mit Alterität geben. Der Aussagewert solcher sprachlich verfestigten rhetorischen Klischees muss in beiden Richtungen, d. h. sowohl hinsichtlich der angeblichen fremden Kulturen als auch hinsichtlich der europäischen Kulturen hinterfragt werden. Denn die Erfahrung der Fremdheit ist ein Konstrukt, das die im jeweiligen xenischen System herrschende spezifische Geisteshaltung sprachlich offenbart. An diesem erkenntnistheoretisch zentralen Punkt trifft sich die Xenologie mit der Kultursemiotik, wie sie etwa von Paul Ricoeur als System komplexer Bedeutungselemente verstanden wird.75 In ihrem Selbstverständnis als Wissenschaft von xenischen Systemen fördert die Xenologie jede Reflexion, die »den allgemeinen Symbolisierungsprozeß der Fremdheitsstrukturen und deren erkenntnistheoretische Fragen«76 ermöglicht. Wichtig ist dabei vor allem die Rekonstruktion des symbolisch-diskursiven Grenzziehungsprozesses zwischen den Kulturen. Das Prinzip, wonach die Grenzen zwischen Kulturen gezogen werden, folgt einer ebenso einfachen wie durchsichtigen Logik:

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L.J. Duala-M’bedy, Xenische Systeme. Ein kulturanalytisches Modell von Konfliktmanagement im sozialen wie im internationalen Kontext. 1999 (Unveröffentlichtes Manuskript) S. 2. Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Endlichkeit. Versuch über Exteriorität. Freiburg/München 1988. Vgl. Bernhard Waldenfels, »Das Eigene und das Fremde«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), S. 611- 620. Vgl. ebenfalls Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden. Frankfurt/M. 1990. Paul Ricoeur, Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen, in: Hans-Georg Gadamer u. Gottfried Boehm (Hg.), Seminar. Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt/M. 1978, S. 83–117, hier insbesondere S. 114. Munasu Duala-M’bedy, Xenologie, S. 19.

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Entweder man versucht, sich vom Fremden abzusetzen, indem man sich Eigenschaften zuschreibt, die man dem Fremden abspricht, oder man geht den umgekehrten Weg und schreibt dem Fremden Eigenschaften zu, derer man sich selbst entledigt.77

Dieser Konstruktionsprozess macht deutlich, dass Fremdheit nicht a priori wahrnehmbar ist, weil sie erst durch die Konfiguration von Dichotomien gebildet werden muss. Kulturelle Fremdheit muss im Kontext einer »Poetik und Rhetorik des Fremden«78 mittels Epitheta erzeugt werden, die wesensmäßig einen ideologisch geprägten und daher konfligierenden Diskurs beinhalten: »Das Fremde«, so Theo Sundermeier, »wird nur im Vergleich zum Bekannten [...] darstellbar. Wenn dieser Schritt gelingt, ist das Fremde akzeptabel und kann als Material gebraucht werden, den Anfang, die Vorstufe oder das Ideal der eigenen Kultur und Religion zu beschreiben, oder es bleibt, wenn unvergleichbar, Signum des Bösen, das ausgerottet werden muß. Tertium non datur.«79 Entscheidend ist, dass trotz der zunehmenden Vernetzung der Kulturen verkrustete Konstanten in der Begegnung zwischen Europa und der außereuropäischen Welt seit der Entdeckung der so genannten Neuen Welt vorzuherrschen scheinen. Dabei geht es aus der Perspektive der Xenologie nicht primär um das Verstehen dessen, was als fremd hypostasiert wird, sondern um dessen Vereinnahmung und Instrumentalisierung. Als »Projektionsfläche eigener Wünsche und Befürchtungen«80 dient Fremdheit zum Ausdruck eines dialektischen Bewusstseins. In der Regel wird sie zur Begründung eines hegemonialen Anspruchs, d. h. eines Diskurses instrumentalisiert, der eine hierarchische Ordnung der Kulturen und Menschen als notwendig, sinnvoll oder sogar natürlich suggeriert. Das Europa der entstehenden Ethnologie und Anthropologie, so auch der übereinstimmende Konsens postkolonialer Studien, hat es durch die Konstruktion und Konnotation von ›fremden‹ Kulturen verstanden, seinen Standards jenseits der eigenen Grenze bleibende Geltung zu verschaffen. So wurde mit der Verortung kultureller Fremdheit an der Peripherie bereits im 18. Jahrhundert ein »Raum der Intervention«81 geschaffen, der im Vollzug der Aufklärung wissenschaftlich (Ethnologie und Anthropologie) und politisch (Kolonisation) vereinnahmt werden sollte.82 Selbst wenn die postkoloniale Kritik, wie sie spätestens seit Edward Saids Standardwerk Orientalismus83 besonders in der frankophonen und anglophonen Welt als Paradigmenwechsel verstanden wird, der Wissenschaft jenes angeblich originäre Wissen oft

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Yomb May, Zur »Archäologie« des Fremden im Museum am Beispiel des Projektes »Afrika in uns« im Ludwig Forum (Aachen), in: L.J. Bonny Duala-M’bedy (Hg.), Die Entgegnung des Fremden im Museum. Xenologie und Museumspädagogik. Oberhausen 1999, S. 59–72, hier S. 61. Doris Bachmann-Medick, Kultur als Text, S. 21. Theo Sundermeier, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik. Göttingen 1996, S. 23f. Rolf-Peter Janz, Einleitung, in: Rolf-Peter Janz (Hg.), Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt/M. 2001, S. 7–18, hier S. 8. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 12. Zur imperialen Vereinnahmung vgl. Edward Said, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt/M.1984. Vgl.Edward Said, Orientalismus. Frankfurt/M. 1981.

schuldig bleibt, das dem europäischen Diskurs – wegen ethnozentrischer und kolonialer Befangenheit – abgesprochen wird84, so steht doch Folgendes fest: Die Orientierung des modernen europäischen Selbstverständnisses an den Phänomenen Aufklärung und Zivilisation besitzt zwar keinen unmittelbaren Erkenntniswert über außereuropäische Kulturen, doch sie entfaltet eine diskursive Eigendynamik, die »nach außen hin hierarchisch und ausgrenzend funktioniert.«85 Das ist deshalb so, weil beiden Phänomenen als Maßstab und Fundament des modernen Lebens universelle Geltung verschafft wird – notfalls mit Gewalt. Der im Grunde imperiale Diskurs ist also keineswegs wert- und zweckfrei, dient er doch einer funktionalen Konstanz, nämlich dem Entwurf von »fremden« Kulturen und ihrer Derogation in der Welt und in der Geschichte. Die seit dem 18. Jahrhundert verstärkte Reduzierung von anthropologischer und kultureller Differenz auf europäische Maßstäbe bringt eine schwerwiegende Hypothek für die in Reiseberichten dokumentierten interkulturellen Begegnungen und die gesammelten Kenntnisse über außereuropäische Kulturen mit sich: People who appeared peripheral or invisible to this Eurocentric history, and whose presence perhaps implicitly denied its pertinence or exposed its limits, could not readily be perceived to be endowed with the consciousness it generated; they could not easily be audible to Europeans as subjects.86

Konsequenzen für die Heranziehung xenologischer Ansätze für die Interpretation reiseliterarischer Texte lassen sich nicht nur in epistemisch-theoretischer Hinsicht, sondern auch unter methodologischen Gesichtspunkten beschreiben. Während theoretische Ansätze auf die Offenlegung jener Prinzipien abzielen, nach denen Fremdheitserfahrungen kodifiziert werden, entspringt methodologischen Überlegungen die Frage nach den Prämissen, unter denen sich Verstehen im Kontext der Kulturbegegnung herausbildet. Diese Frage setzt einen Kulturbegriff voraus, der kulturelle Fremdheit nicht als ontologisches Moment, sondern als Epoché begreifen lässt. Denn nur ein xenisches System kann einen Reflexionskontext liefern, in dessen Rahmen xenologische Objektivationen nach ihrem Wesen und ihrer Funktion befragt werden können. Verstehen ist in diesem Zusammenhang »nur über einen interkulturellen explikativen Diskurs möglich.«87 Denn als Epoché nimmt Fremdheit einen hermeneutischen Status ein, der die dualistisch-konflikthaften »Prozesse der Identitätsbildung und Selbstaffirmation von Kulturen«88 offen legt. Diesem Anspruch scheint die Ethnologie auch nach der sogenannten »Krise der ethnographischen Repräsentation«89 noch nicht gerecht zu werden, weil sie das Phänomen der kulturellen Fremdheit in ein Idiom kleidet, »das sich an der uns vertrauten Texthermeneutik euro-

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Dazu vgl. die ausgezeichnete Sudie: Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason: Toward a Hitory of Vanishing Present. Cambridge 1999. Hartmut Böhme, Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft), S. 61. Harriet Guest, Empire, Barbarism, and Civilisation, S. 26. Ortrud Gutjahr, Interkulturalität, S. 361. Hartmut Böhme, Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft), S. 61. Vgl. Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/M. 1993.

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päischer Geisteswissenschaft orientiert.«90 Deshalb weisen Martin Fuchs und Eberhard Berg darauf hin, dass selbst das Konzept einer ›dichten Beschreibung‹, mit dem Clifford Geertz91 die Ethnologie als hermeneutische Wissenschaft implementieren will, scheitert: Die Integration der Ethnographie in den Kreis der hermeneutischen Wissenschaften droht [...] das Moment der Differenz, des Nicht-Identischen aufzulösen in einen allgemeinen Begriff des Verstehens und eine universale positive Methodologie hermeneutischer Aneignung des passend zugerichteten Fremden.92

Die Ethnologie hypostasiert Fremdheit in den verschiedensten Schattierungen und Ausprägungen als äußerstes Extrem des abendländischen Selbstverständnisses und versucht, durch das wissenschaftliche Diskursmonopol des Westens diese Auffassung zu universalisieren. Darin liegt aber ein erhebliches Erkenntnisdefizit, denn so genannte fremde Kulturen können nur in der Weise als solche wahrgenommen und vermittelt werden, wie sie innerhalb des xenischen Systems diskursiv konfiguriert werden. Doch ein solches System, das letztendlich der Aufrechterhaltung der eigenen Weltauffassung dient, kann – gemessen am Kriterium der Objektivität – keine universelle Gültigkeit beanspruchen. Es trägt die Farbe der Kultur, die es produziert und übertüncht damit den Erkenntnisgegenstand. Demgegenüber basiert die Xenologie auf einer methodischen Ausrichtung, die sich als reflexiv versteht, da sie aus der Einsicht in die Vorbedingungen des Fremdheitsdiskurses heraus über die generellen Bedingungen der Repräsentation von Fremdheit im Begegnungsprozess der Kulturen nachzudenken hilft. Daher versteht sich der theoretische Entwurf einer Xenologie im Sinne der interkulturellen Hermeneutik als Korrektur eines Ansatzes, der das Verstehen anderer Kulturen der europäischen Kanonbildung unterwirft. Folgerichtig zielt der xenologische Ansatz darauf ab, die Bedingungen und Perspektiven der interkulturellen Begegnung und Kommunikation im Sinne einer »Wahrnehmung und Anerkennung der kulturellen Pluralität und Multipolarität«93 zu eruieren. Ziel ist nicht die Auflösung der dualistischen Konzeption von Identität und Fremdheit, wohl aber eine Auffassung von Fremdheit als einem komplexen Leitdifferenzmoment im Kontext der Kulturbegegnung. Gerade bei der Analyse von Reiseberichten erscheint das Erfassen jener Textur von Alterität notwendig, in der außereuropäische Kulturen beschrieben, geordnet und sprachlich-symbolisch dechiffriert werden, denn »We can be certain only that European representations of the New World tell us something about the

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Carsten Lenk, Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur, in: Renate Glaser, Matthias Luserke (Hg.), Literaturwissenschaft- Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996, 116–128, hier S. 126. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1983. Martin Fuchs, Eberhard Berg, Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation, in: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/M. 1993, S. 11–108, hier S. 20. Ernst-Ulrich Pinkert, Die Globalisierung im Spiegel der Reiseliteratur. Einleitung, in: ErnstUlrich Pinkert (Hg.), Die Globalisierung im Spiegel der Reiseliteratur. Kopenhagen/München 2000, S. 9–14, hier S. 9.

European practice of representation«94. Das heuristische Moment dieses Postulats liegt in der kritischen Abstandhaltung gegenüber einem »secure sense of reality«95 in der Wahrnehmung und Vermittlung von Fremdheit begründet. Die Erkenntnis der Irreduzibilität des Fremden eröffnet den Blick auf die dialektische Spannung zwischen dem kulturellen Selbstverständnis von Mitgliedern außereuropäischer Kulturen und seiner Durchformung im europäischen Text. Leitkategorien der gegenwärtigen Kulturforschung, wie sie beispielsweise aus postkolonialer Perspektive durch die Begriffe Differenz, Heterogenität, Pluralität, Hybridität usw. beschrieben werden96, kommt dabei eine Schlüsselbedeutung zu, da sie sich für die Analyse der xenischen Textur eignen. Zwar dürfen solche Kategorien nicht »in relativistische Indifferenz« abgleiten97, doch zu einer »Ausdifferenzierung des Kulturverständnisses« gibt es keine Alternative. Eine solche Ausdifferenzierung wiederum, die das »Denken in schematischen oder ideologieanfälligen Binäroppositionen und Dichotomisierungen zu bekämpfen« hilft98, macht bewusst, dass weder das Selbstverständnis einer gegebenen Kultur noch ein diesem Selbstverständnis entspringender Fremdheitsdiskurs absolut gesetzt werden darf. Darüber hinaus vermag diese Ausdifferenzierung die Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Frage zu bilden, »warum bestimmte Gesellschaften in jeweils spezifischer Form mit dem Fremden umgehen.«99 Der xenologische Ansatz eröffnet somit eine erkenntnistheoretische Reflexion, die »nicht von einem hierarchischen Gefälle ausgeht, sondern von der konstitutiven Gegebenheit, dass jede Kultur jeder anderen gegenüber eine fremde ist und bleibt, die also auf einer Wechselseitigkeit beruht, der ein alle Menschen umfassendes Verständnis von Humanität zugrunde liegt, das schon in der mythischen Rede vom Zeus Xenios impliziert war.«100 Unter xenologischem Vorzeichen erhält die interkulturelle Literaturwissenschaft einen methodischen Anhaltspunkt für die Analyse des xenischen Systems als eines jeder Kultur inhärenten Bezugsrahmens für die literarische Konstruktion der Ungleichheiten zwischen den Kulturen und zwischen Zentrum und Peripherie. Selbstbeschreibungen und Fremdzuweisungen stellen in methodischer Hinsicht den Reflexionsrahmen dar, in dem wir uns über den Begriff des (kulturell) Fremden verständigen können, denn der Fremdheitsdiskurs basiert auf »representations that are relational, local, and historically contigent.«101

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Stephen Greenblatt, Marvelous possessions. The Wonder of the New World. Oxford 1992, S. 7. Ebd. Die postkoloniale Theorie favorisiert die Kategorien Hybridität, Synkretismus, Kreolisierung, Ambivalenz, Mimikry, usw. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000. Nobert Mecklenburg, Interkulturelle Literaturwissenschaft, in: Alois Wierlacher, Andrea Bogner (Hg.), Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart 2003, S. 433–439, hier S. 435. Ebd. Theo Sundermeier, Den Fremden verstehen, S. 11. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Xenologie und Ethnologie. Versuch einer Klärung ihres Verhältnisses, in: Christian Bremshey, Hilde Hoffmann u. a. (Hg.), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster 2004, S. 30–40, hier S. 31. Stephen Greenblatt, Marvelous possessions, S. 12.

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Die Aufgabe der interkulturellen Literaturwissenschaft als einer kulturwissenschaftlichen Xenologie liegt also darin, zu reflektieren, »wie überhaupt ›Fremde‹ als das Objekt interkultureller Wahrnehmung entsteht und wie sich diese Konstitution des Fremden aus den eigenkulturellen Voraussetzungen heraus entfaltet.«102 Dabei muss ebenfalls plausibel gemacht werden, dass und wie sich diese Wahrnehmung im Verhältnis der Kulturen zueinander oder in ihrem Umgang miteinander auswirkt. Das führt zu der Erkenntnis, dass binäre Oppositionen nicht mehr als Beschreibungskategorien von Kulturen und ihres (Miss)verhältnisses zueinander ausreichen: »Eine solche Xenologie«, so Jan Assmann, geht von der Prämisse aus, daß jede Kultur, schon um überhaupt tradierbar zu sein, eine Grenze ziehen muß zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die Erzeugungsregeln dieser Grenzziehung sind in Tiefschichten der kulturellen Semantik verankert. Die xenologische Betrachtungsweise interessiert sich vor allem für die vielfältigen symbolischen Ausdrucksformungen der Grundstruktur.103

Auf keinen Fall kann die Xenologie den Fremdheitsdiskurs suspendieren, wohl aber fordert sie eine kritische Reflexion der stillschweigend tradierten »symbolischen Ausdrucksformungen« des Fremdheitsbegriffs der europäischen Ethnologie. Die Annahme einer verbürgten kulturellen Einheit als Identitätsbeweis ist unauflöslich mit dem Topos fremd verbunden. Sie ist die Grundlage für die Erkenntnis der Konstruiertheit aller kulturellen Identität und Fremdheit. »Den Fremden [zu] verstehen« (Sundermeier) bedeutet vom methodischen Standpunkt der Xenologie, literarische Texte, die sich aus Differenzkonstruktionen von Kulturbegegnungen speisen, in ihrem jeweiligen epochen- und kulturspezifischen Diskursfeld zu kontextualisieren mit dem Ziel, den gesellschaftlichen wie historischen Kristallisationspunkt von prototypischen Figuren des Fremden und ihre Funktion in der Ordnung der Kulturen ausfindig zu machen. Kulturen zeichnen sich nicht allein durch ihr Selbstverständnis, sondern auch dadurch aus, wie sie andere Kulturen wahrnehmen und projizieren. Interkulturelle Literaturwissenschaft muss daher eine erkenntnisorientierte Plattform bereitstellen, die nicht nur einen Einblick in die Vielfalt der Kulturen, sondern auch Grundeinsichten in das Wesen der Kulturbegegnungen ermöglicht. Sie befasst sich mit »Fragen der Überschneidung und Überlagerung von Sinnbereichen zwischen verschiedenen Kulturen.«104 Das entsprechende Verfahren der Textanalyse setzt bei der Freilegung jener Prinzipien an, die uns ermöglichen, den kontradiktorischen Entstehungsprozess unserer Moderne kritisch zu durchleuchten. Dies kann an der Konzeption des Reiseberichts als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Literaturwissenschaft illustriert werden.

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Peter J. Brenner, Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts, in: Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1989, S. 14–49, hier S. 16. Jan Assmann, Dietrich Harth (Hg.), Kultur und Konflikt. Frankfurt/M. 1990, S. 27. Doris Bachmann-Medick, Kultur als Text, S. 8.

4.

Der Reisebericht als Gegenstand interkultureller Literaturwissenschaft

Vor dem Hintergrund des beschriebenen theoretischen Blickfeldes erweist sich die Erschließung des Reiseberichts unter den Gesichtspunkten der interkulturellen Literaturwissenschaft als ein besonders ergiebiger thematischer Horizont. Dies liegt einerseits darin begründet, dass Reiseberichte durch das »Ineinanderwirken von Ethnographie und Literatur«105 genuin die Darstellung des Anderen oder Fremden und damit Kernprobleme der interkulturellen Literaturwissenschaft aufgreifen; andererseits zeigt sich, dass Reiseberichte »eine Neusicht literarischer Texte« als »Medien kultureller Selbstauslegung [ermöglichen], deren Horizont die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet.«106 Reiseberichte eignen sich somit für eine kulturwissenschaftliche Lektüre, die von dem Postulat ausgeht, dass Literatur »nicht nur eine Quelle von Distinktion, Abgrenzung, Konflikt, sondern auch ein Feld von Kontakt, Austausch, Diffusion und Integration sein kann.«107 Die Fokussierung auf den Reisebericht Georg Forsters hat nicht nur damit zu tun, dass Fremdheitsdiskurse der Reiseliteratur epochen- und kontextspezifische Merkmale aufweisen, da sie entsprechenden Identitätsbedürfnissen dienen; diese Schwerpunktsetzung greift vor allem auch ein Forschungsdesiderat auf, das Nicholas Thomas so formuliert: The Forsters’ texts can now be seen to be important for illuminating the meaningful transactions of these expeditions in European imaginings of the world and of cultural difference, and their marked but uneven ethnographic sensitivity makes them more suggestive than many sources, so far as the reconstruction of indigenous perceptions is concerned. 108

Ein solches Desiderat erhält umso mehr Gewicht, bedenkt man, dass Reiseberichte, wie sie im Vollzug der Entdeckungsfahrten des (späten) 18. Jahrhunderts geschrieben wurden, lange Zeit einseitig, ja ausschließlich als Dokumente für die »Geschichte europäischer ›Entdeckungen‹ und europäischer Leistungen in jenen Gebieten« gelesen wurden.109 Bereits mit den Arbeiten Urs Bitterlis110 wurde die Beschränktheit dieser eurozentrischen Lektüre, die z. T. auch in außereuropäischen Kulturen übernommen wurde, aufgedeckt, doch ging die Kritik nicht über den historiographischen Ansatz hinaus. Deshalb wurde die Einbindung der Reiseliteratur an das »Programm neuer kulturwissenschaftlicher Untersuchung und Analyse«111 zu Beginn der 80er Jahre besonders gefordert. Michael Harbsmeier weist darauf hin, dass nicht nur fiktive Reiseschilderungen »als Gegenstand der Forschung« in der Literaturwissenschaft »willkommen« sind112. Er

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Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Nobert Mecklenburg, Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 433. Nicholas Thomas, »Preface«, S. xiv. Ruth-Gaby Vermot, Rudolf Hadorn (Hg.), Das war kein Bruder. Das Bild des Weissen aus der Sicht ehemals kolonisierter Völker. Basel 1982, S. 10. Urs Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München 1976. Doris Bachmann-Medick, Kultur als Text, S. 10. Michael Harbsmeier, Reisebeschreibung als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu

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schlägt vor, Reiseberichte »als Zeugnisse für die spezifische Denkungsart des Verfassers und indirekt für die Mentalität seines Heimatlandes anzusehen«113, weil sie »als eine Art unfreiwilliger kultureller Selbstdarstellung der Ausgangskultur verstanden werden [können]«.114 Es geht dabei keineswegs nur um die Frage, ob europäische Darstellungen der Alterität der Südsee gerecht werden, sondern auch darum, wie sich die Konstruktion europäischer Identität gegenüber dieser »neuen Welt« vollzieht. Ernsthaft in Angriff genommen wurde diese xenologische Lektüre von Reiseberichten bisher freilich nur selten. Peter J. Brenner betont, dass die in Reiseberichten dokumentierte »Begegnung mit dem Fremden« den Anlass geben könne, »über die Formen des Kulturkontaktes und über das Selbstverständnis der eigenen Kultur neu nachzudenken und zugleich mehr oder weniger wissenschaftliche Strategien zur Verarbeitung der neuen Erfahrung zu entwickeln.«115 Auch Reinhard Heinritz116, der zum ersten Mal Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts »aus xenologischer Sicht«117 untersucht hat, hält eine xenologische Lektüre »klassischer Weltreisen« gerade »in Zeiten der Ausgrenzung des Fremden«118 für besonders aufschlussreich. Freilich handelt es sich dabei um beklagenswert wenige Ansätze; sie zeigen aber hinreichend, dass die xenologische Annäherung an die in Reiseberichten dokumentierte ethnographische Erfahrung eine wissenschaftliche Herausforderung darstellt, die eine besondere Erkenntnisqualität birgt. Eine Neuevaluation von Reiseberichten ist im Sinne einer xenologischen Theorie erforderlich. Sie gründet auf einem Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Umgang mit älteren Reiseberichten, die nicht mehr nur als Quellen der Wahrnehmung fremder Kulturen, sondern auch als Quellen der kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Dispositionen der wahrnehmenden Kultur betrachtet werden müssen. Insbesondere Reiseberichte aus der Zeit der Spätaufklärung nehmen dabei eine Schlüsselstellung ein. Sie dokumentieren nicht nur die wahrscheinlich folgenreichste Erweiterung des Erfahrungshorizontes in der Menschheitsgeschichte, sondern sie haben auch den nachhaltigsten Einfluss auf das europäische öffentliche Bewusstsein ausgeübt. Deshalb ermöglichen sie die Analyse der Kulturbegegnung119 als eines Ereignisses mit zwei Standpunkten, nämlich dem der Europäer und dem der Einheimischen.120

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einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Antoni Maczak, Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Reisebeschreibung als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Forschung. Wolfenbüttel 1982, S. 1–31, hier S. 1. Ebd. Ebd., S. 2. Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, S. 243. Reinhard Heinritz, »Andre fremde Welten« . Weltreisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 1998. Ebd., S. 13ff. Ebd., S. 269. Vgl. James Axtell, Natives and Newcomers. The Cultural Origins of North America. New York/ Oxford 2001; Anil Bhatti, Horst Turk (Hg.), Reisen, Entdecken, Utopien. Untersuchungen zum Alteritätsdiskurs im Kontext von Kolonialismus und Kulturkritik. Bern 1998. Eine kulturgeschichtliche Perspektive zur Inszenierung als einer besonderen Form im Umgang

Der Reisebericht stellt ein interkulturell organisiertes narratives Paradigma dar, an dem jene ideologischen »Fesseln« untersucht werden können, »denen ganze Epochen, ganze Nationen oder soziale Schichten«121 unterliegen, wenn sie die Begegnung mit anderen Kulturen diskursivieren. Er bietet sich nicht nur als eine der »Quellen der Kulturbeziehungsforschung«122 an, sondern auch als Medium der Reflexion über die heute wohl brisante Hypothese, »dass es der europäischen (und amerikanischen) Zivilisation misslungen ist, ein empfindliches, anerkennendes Verhältnis zum Anderen einzunehmen«123, womit nicht zuletzt auch Probleme des »Verstehens und der Verständigung«124 im Kontext der Kulturbegegnung impliziert sind. Waren Reiseschilderungen schon immer von der Spannung zwischen Heimat und der Ferne, zwischen Identität und Alterität gekennzeichnet, so artikulieren die Reiseberichte des späten 18. Jahrhunderts – bei allen ihren Unterschieden – ein neues europäisches Identitätsdenken, das sich aus der Konfrontation der Aufklärung und Zivilisation mit der außereuropäischen Welt herauskristallisiert und radikalisiert hat. Diese Haltung findet in der Ästhetisierung der Begegnung mit einer Wirklichkeit Niederschlag, die a priori als »fremd« qualifiziert wird. Die Berichte der Entdecker ziehen nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich Grenzen zwischen der Aufklärung und dem Rest, sie bilden auch die Grundlage für die vergleichende Völkerkunde sowie für die Kulturanthropologie – zwei Disziplinen, in denen die modernen Prinzipien der Grenzziehung zwischen Europäern und Nichteuropäern qua Wissenschaft festgeschrieben wurden. Vor allem aber wird dabei deutlich, dass das Fremde stets als eine abgrenzbare Erfahrung vermittelt wird, »gleichgültig, ob es geächtet, respektiert, idealisiert oder als Gegenstand potentieller Vereinnahmung aufgefaßt und behandelt wurde.«125 Hier stellt sich also die Frage, in welcher Weise Reiseberichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Allgemeinen und Forsters Reise um die Welt im Besonderen die Voraussetzungen einer asymmetrischen Kulturbegegnung offen legen, die Uwe Japp auf die einfache Formel »Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee«126 gebracht hat. Diese Formel, die das xenologische Moment in der Polarisierung von Aufklärung und Südsee exponiert, markiert den Kontext, in dem der in Reiseberichten elaborierte Diskurs an-

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mit »Fremden« ist Gegenstand des Bandes: Hans-Peter Bayerdörfer, Eckhart Hellmuth (Hg.), Exotica. Konsum und Inszenierung des Fremden im 19. Jahrhundert. Münster 2003. Gerhard Huck, Der Reisebericht als historische Quelle, in: Gerhard Huck, Jürgen Reulecke (Hg.), »...und reges Leben ist überall sichtbar!«. Reisen im Bergischen Land um 1800. Neustadt a. d. Aisch 1978, S. 27–44, hier S. 32. Vgl. Boris Krasnobeav, Gert Robel u. a. (Hg.), Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung, Berlin 1980. Leider liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf Reisen innerhalb des europäischen Kontinents. Reisen in außereuropäische Kulturen, die einer eigenen Dynamik folgen, werden nur peripher erwähnt. Hartmut Böhme, Kulturwissenschaft als Modell? S. 26. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie -Interkulturelle Philosophie. Würzburg 2002. Peter J. Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 19. Uwe Japp, Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee. Georg Forsters ›Reise um die Welt‹, in Hans Joachim Piechotta (Hg.), Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung. Frankfurt/M. 1976, S. 10–56.

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thropologischer und kultureller Differenz eruiert werden muss. Hier bietet es sich an, das spezifisch xenische System, auf das Reiseberichte der Spätaufklärung diskursiv rekurrieren, in seiner kontextuellen Verankerung zu untersuchen, denn Fremdheitsdiskurse differieren nicht nur je nach Kultur, sondern auch nach historischen Konstellationen. Dies impliziert die Einbindung des Reiseberichts Georg Forsters in das aufklärerische Weltbild, in welches sich die großen Themen der Zeit, insbesondere geographische und anthropologische Projektionen und Topoi, einschreiben. Angetreten mit dem programmatischen Anspruch, die Mythen der Ferne mit Hilfe der Wissenschaft zu zertrümmern und die Welt mit den Kriterien abendländischen Denkens zu begreifen, stoßen Weltreisende der Aufklärungszeit auf Wertmaßstäbe, die sich einer zwangsweisen Integration in die präkonfigurierten Ordnungsvorstellungen der Europäer widersetzen. Damit verbunden stellt sich nun auch erkenntnistheoretisch die Frage, welche Implikationen die Selbstwahrnehmung der reisenden Europäer als aufgeklärte und zivilisierte Subjekte auf die Begegnung mit außereuropäischen Kulturen im Allgemeinen und der Südsee im Besonderen hat. In welcher Weise haben Erfahrungen von Reisenden den anthropologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts angestoßen und dynamisiert? Des Weiteren muss der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Reisebericht als »Poetik des kolonialen Blicks«127, d. h. im Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte zu sehen ist. Dabei müssen mögliche Verschränkungen zwischen dem wissenschaftlich sanktionierten Fremdheitsdiskurs der Forschungsreisen und den imperialen Zielen der Entdeckungsfahrten beleuchtet werden. Die Reiseliteratur, so wie sie am Beispiel des Werks Georg Forsters in der vorliegenden Untersuchung analysiert werden soll, gewinnt die Funktion eines kulturreflexiven Modells der Bearbeitung und Darstellung dialektischer Kulturbegegnungen, in denen die interkulturellen Reflexionen über Verfahren und Ziel von Identitäts- und Fremdheitskonstruktionen programmatisch werden. Forsters Weltreisebericht bietet sich so zur Diskussion der Frage an, warum »wir« in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen das Andere auf stereotype Merkmale reduzieren, bloß als Fremdes wahrnehmen es ausgrenzen und mitunter auch hassen, sofern es sich »unseren« Vorstellungen, die »wir« für absolut halten, widersetzt. In dem entsprechenden Interaktionsprozess, in dem Interkulturalität als Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Ansprüche durch das Medium der Literatur verhandelt wird, sollen die Spuren einer komplexen Wirklichkeit freigelegt werden, von der unsere globalisierte Moderne ihren Ausgang genommen hat.

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Hans Christoph Buch, Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurt/M. 1991, S. 75.

III. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel und Formen der Grenzüberschreitung

1.

Vorbemerkung

Seinem Weltreisebericht hat Forster sowohl eine »Vorrede« als auch eine ausgedehnte »Einleitung« vorangestellt. Beide Teile verfolgen ein doppeltes Ziel, nämlich zum einen den Leser in die Entstehung des Werks einzuführen1 und ihn zum anderen mit jenen Veränderungen vertraut zu machen, welche die Entdeckungsfahrten in der Spätaufklärung geprägt haben. Dabei weist Forster zugleich auf den besonderen Anspruch der zweiten Weltreise Cooks und auf die Sonderstellung seines Reiseberichts als Reflex dieser Umbruchphase in der Geschichte der Entdeckungsfahrten hin. Dementsprechend lässt sich die Entwicklung von Forsters Reiseschilderung nur dann adäquat analysieren, wenn man zuerst Prämissen und Kontext von spätaufklärerischen Entdeckungsfahrten reflektiert.

2.

Entdeckungsreise als wissenschaftliches Projekt

James Cooks zweite Weltreise (1772–1775), an der Georg Forster und sein Vater als wissenschaftliche Chronisten teilnehmen, findet in einem besonderen historischen Zeitraum statt, der in die Forschung als »zweites Entdeckungszeitalter« eingegangen ist.2 Es handelt es sich um die erste Etappe der planmäßig durchgeführten wissenschaftlichen Forschungsreisen [...], deren Protagonisten in dem Grade, in dem sie die Oberfläche der Erde durchmaßen, jenen mythischen, utopischen und wissenschaftlichen Spekulationen ein Ende setzten, die seit der Entdeckung der Neuen Welten erneut Aktualität erhalten und die europäische Bewußtseinslandschaft über Jahrhunderte hin beherrscht hatten.3

Die Geburtsstunde dieses neuen Typus von Entdeckungsreisen mit dezidiertem Erkenntnisanspruch hatte weitreichende Folgen für den Reisebericht als literarische Gattung4. Forster sieht darin einen historischen Paradigmenwechsel in der Geschichte der Entdeckungsfahrten. Vor diesem Hintergrund lobt er Bougainvilles Südseefahrt in den Jahren 1766 bis 1769, zählt diese doch zu den ersten jemals für wissenschaftliche Entdeckungen

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Dazu vgl. auch unten S. 175f. Vgl. Karl Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Berlin 1981, S. 8. Ebd. Vgl. dazu S.170ff.

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ausgerüsteten Weltreisen.5 Fast wörtlich wiederholt Forster dieses Lob an Bougainville in seinem späteren Aufsatz Cook der Entdecker. Dort heißt es: »Frankreich gab durch Bougainvilles Ausrüstung das erste Beyspiel von einer zu wissenschaftlichen Endzwecken gehörig eingerichteten Entdeckungsreise, in dem es diesem tapferen Officier einen Naturforscher, Commerson, und einen Astronomen, Verron, zugesellte.«6

Wenngleich Bougainvilles Reise um die Welt keine spektakulären wissenschaftlichen Entdeckungen zeitigen sollte, so dokumentieren Forsters Äußerungen doch das Bewusstsein für den im Kontext der Spätaufklärung vollzogenen Wandel der Entdeckungsreisen von eskapistisch-abenteuerlichen Fahrten hin zu wissenschaftlichen Forschungsreisen. Für das Verstehen dieses Kontexts, der für die reisegeschichtlichtliche Positionierung von Cooks zweiter Entdeckungsfahrt in die Südsee aufschlussreich ist, bieten die »accounts«7 von John Hawkesworth zwar nach wie vor wichtige Anhaltspunkte, die aber von Forster erkenntnistheoretisch massiv in Frage gestellt werden.8 Schon in der Vorrede zu seiner Reise um die Welt weist Forster darauf hin, dass Cooks zweite Weltreise »nach einem vollkommnern Plan unternommen ward.«9 Folgerichtig widmet er einen Teil der Einleitung den vor Beginn dieser zweiten Weltreise getroffenen Vorbereitungen, wobei er das Augenmerk auf die wissenschaftliche Ausrüstung der beiden Schiffe »Resolution« und »Adventure« lenkt und ausdrücklich darauf insistiert, daß ich von der Ausrüstung unserer Schiffe einige Nachricht voranschicke, weil solche, theils wegen der Originalität unsres Reiseplans, theils wegen der Erfahrungen und der Rathschläge unserer Vorgänger, ungleich vollkommner und in aller Absicht merkwürdiger war, als sie bey dergleichen Expeditionen bisher je zu seyn pflegte.10

Mit der betonten Platzierung dieser Aussagen an den Anfang des Reiseberichts will Forster offenbar den wissenschaftlichen Anspruch der zweiten Weltreise Cooks unterstreichen, die er nicht bloß als Beispiel für die Ablösung der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Abenteuerfahrten anführt, sondern in der Betonung der »Originalität« dieser Reise »in aller Absicht« eine historische Zäsur zu markieren versucht. Das zeigt sich an verschiedenen, von Forster akribisch registrierten Maßnahmen: Die Wahl der Schiffe, die zu langen und gefährlichen Reisen die tauglichsten sind, ist das erste in der Reihe der Anstalten, wodurch ein Mann wie Cook für den guten Ausgang seines Vorhabens sorgt.11

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Vgl. AA II, S. 23. AA V, S. 205. Hawkesworth, John (Hg.), An Account of the Voyages undertaken by the order of his present Majesty of making Discoveries in the Southern Hemisphere, And successively performed by Commodore Byron, Captain Wallis, Captain Carteret, and Captain Cook, In the Dolphin, the Swallow, and the Endeavour: Drawn up from the Journals which were kept by the several Commanders, And from the Papers of Joseph Banks. London 1773. Dazu vgl. S. 172. AA II, S. 7. Ebd., S. 19. AA V, S. 235.

Für Forster verbindet sich die zweite Weltreise Cooks, deren erklärte Aufgabe darin bestand, dem »Streit wegen eines [...] festen Landes ein Ende zu machen«12, auch mit der Erwartung, »die Lage der ehemals entdeckten Inseln vermittelst unsrer jetzigen astronomischen Instrumente und neuen Berechnungen, genauer zu bestimmen.«13 Forster weiß um die Tatsache, dass das neue Verfahren zur exakten Bestimmung von Größe und Lage der Inseln ein neues Kapitel in der Geschichte der Entdeckungsfahrten eröffnet: Was diese neueren Reisen vor den früheren voraus hatten, [lag] in den Forschritten, welche die Schifffahrtskunde seit der Zeit gethan hatte. Dadurch, daß man mit bessern astronomischen Werkzeugen versehen war, gewann die Geographie wenigsten so viel, daß die Lagen der Örter genauer bestimmt wurden[...]14

Damit spricht Forster insbesondere die logistisch-technischen Voraussetzungen an, wie sie in dem sprunghaften Fortschritt im Bereich der nautischen Technik und in der Verbesserung der Navigationsinstrumente sowie der astronomischen Werkzeuge (insbesondere der Chronometer und die Mondtabellen) deutlich werden. Im Hinblick auf diese für die moderne wissenschaftliche Erfassung der Welt und die Erstellung zuverlässiger Seekarten unverzichtbar gewordenen Instrumente notiert Forster in seiner eigenen Bewertung der Ausstattung der zweiten Weltreise Cooks: We had the greatest reason to admire the ingenious construction of the two watches which we had on board: one executed by Mr. Kendall, exactly after the model of that made by Mr. Harrison, and the other by Mr. Arnold, on his own plan, both went with great regularity.15

Der revolutionäre Stellenwert beider Uhren ist darin zu sehen, dass mit ihnen zum ersten Mal die Schwierigkeit der Distanzberechnung, etwa bei der Feststellung von geographischen Längen sowie der genauen Errechnung der Zeit eines bestimmten Ortes erstmals überwunden wurde. Darin lagen die Voraussetzungen nicht nur für die exakte Messung und Berechnung, sondern auch für die rasante Karthographierung der Weltkugel, die Karl Schlögel als »paradigmatische Form der Erkundung und Erschließung«16 beschreibt. Allerdings leitet Forster den paradigmatischen Wert, den er spätaufklärerischen Forschungsreisen im Allgemeinen und der zweiten Weltreise Cooks im Besonderen zuschreibt, nicht allein aus ihrer materiellen Ausstattung ab. Von entscheidender Bedeutung für die Reflektierung dieser historischen Umbruchphase ist ebenfalls jene noetische Zäsur, die Wolf Lepenies als »Umbruch der wissenschaftlichen Denkart«17 bezeichnet. Als Zentren für die neue wissenschaftliche Aufwärtsentwicklung, welche die Entdeckungsreisen und mit ihnen die von Andreas Bürgi beschriebene »Wandlung des Rei-

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Ebd., S. 25. AA V, S. 25. Ebd., S. 205. AA IV, S. 12f. Vgl. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003, S. 10. Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert. Linné – Buffon – Winckelmann – Georg Forster – Erasmus Darwin. München 1988, S. 7.

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seberichts in der Spätaufklärung«18 nachhaltig prägen, gelten vor allem England und Frankreich, wo bereits zu Beginn der Aufklärungsepoche sogenannte »Gelehrte Gesellschaften« entstanden sind, in denen sich der aufgeklärte Anspruch auf wissenschaftliche Erkenntnis manifestierte.19 In den zeitgenössischen Forschungsexpeditionen, deren Ziele zum Teil von den gelehrten und wissenschaftlichen Gesellschaften definiert wurden20, wird der neue Geist der Entdeckung spürbar. Die Weltreisen Cooks, an deren Planung sich die königliche Gesellschaft der Wissenschaften, die bereits 1662 gegründete Royal Society zu London, maßgeblich beteiligt war, sind dafür exemplarisch. Nicht zufällig präludiert Forster seinen Reisebericht mit dem Satz: Die Geschichte der Vorwelt zeigt uns kein Beispiel solcher gemeinnützigen Bemühungen zur Erweiterung menschlicher Kenntnisse, als die Britten während der Regierung ihres jetzigen Königs unternommen haben.21

Auch in der Forschung wird der Vorsprung betont, den Großbritannien in wissenschaftlicher Hinsicht am Ausgang des 18. Jahrhunderts gegenüber konkurrierenden europäischen Mächten verzeichnete: »Hier«, so etwa Klaus Harpprecht, »wurde alles Wissen der Welt gesammelt, um dem Empire ein solides Fundament der Erfahrung und Einsicht zu schaffen. In London brauchte man Köpfe – Männer seines Schlages und junge Talente wie seinen Sohn George.«22 Das, wofür solche »Köpfe« in Wirklichkeit stehen, ist ein beispielloser Prozess der Professionalisierung der Forschungsreisen als »an organized intellectual enterprise pursued by a community of practitioners for its existence […]«.23 Allein schon durch das sie begleitende wissenschaftliche Forschungsteam verdienen die Forschungsexpeditionen des 18. Jahrhunderts die Bezeichnung »organized enterprise«, was Georg Forster mit eigenen Worten so unterstreicht: Der erfahrenste Seemann dieser Zeiten, zween geschickte Sternkundige, ein Gelehrter, der die Natur in ihrem Heiligthum studiren, und ein Mahler, der die schönsten Formen derselben nachahmen sollte, wurden auf Kosten der Nation auserlesen.24

Dieses exponierte Personaltableau dient dem formalen Nachweis, wie sich ein wissenschaftliches Team als Bestandteil der Forschungsexpedition etabliert hatte. Es ist daher kein Zufall, wenn Forster darauf aufmerksam macht, dass die neuen Akteure »[i]nstru-

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Andreas Bürgi, Weltvermesser. Die Wandlung des Reiseberichts in der Spätaufklärung. Bonn 1989. Hans-Jürgen Lüsebrink spricht von einer europäischen Gelehrtenrepublik und verweist dabei zu Recht auf »neue Formen, Medien und Institutionen der Wissensvermittlung« hin, wobei zahlreiche Enzyklopädien eine herausragende Stellung einnehmen. Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, S. 12. Zur Entwicklung und Rolle der wissenschaftlichen Gesellschaften im 18. Jahrhundert vgl. James E. McCellan III, Science Reorganized. Scientific Societies in the Eighteenth Century. New York 1985, S. 41ff. AA II, S. 7. Klaus Harpprecht, Georg Forster oder die Liebe zur Welt, S. 55. James E. McCellan III, Science Reorganized, S. xvii AA II, S. 7.

ments, books, colours, paper for drawing, writing and herbals«25 als sichtbare Merkmale ihrer neuen Funktion bei sich führen: »Books are very dear«, notiert er in seiner nachträglichen Bewertung der Weltreise, »but a naturalist without them, is like an artist without tools.«26 Forsters Inventarisierung der auf die Weltreise Cooks mitgenommenen Instrumente und der Hinweis auf das mitfahrende Personal sind keine bloßen statistischen Aufzählungen. Sie indizieren die Wissensoffensive der Spätaufklärung und das sich etablierende Verständnis von Forschungsexpeditionen als Reisen »with no other aim, than that noble one of extending our knowledge, wholly free from the interested motives which had been the causes of every former voyage.«27 Die Ansicht, dass sich das Ziel der Südseereisen in der Erweiterung wissenschaftlicher Erkenntnisse erschöpft, muss indes als idealisierend eingestuft werden, verschleiert sie doch, wie wir später sehen werden, weitere nicht in der Öffentlichkeit diskutierte Ziele und interkulturelle Probleme der Entdeckungsfahrten. Was Forster selbst zunächst hervorhebt, ist das gesamtwissenschaftliche Aufgabenund Erwartungsspektrum, das an die Forschungsexpeditionen herangetragen wurde. Dies spiegelt sich auch in seinem Kommentar über die Ernennung seines Vaters wider, »von dem jedermann zugibt, daß er eine der geeignetesten Personen Europas für solch ein Unternehmen ist.«28 Daher schließt er im Hinblick auf den anspruchsvollen wissenschaftlichen Auftrag der Weltreise: Ein solcher viel umfassender Auftrag entsprach der Geistes-Größe vollkommen, durch welche sich alle Rathschläge der brittischen Nation auszuzeichnen pflegen, und in der festen Überzeugung, daß mein Vater, vermöge seiner eigenen Liebe zur Wissenschaft, von selbst darauf bedacht sein würde, der Gelehrsamkeit alle mögliche Vortheile durch diese Reise zu verschaffen, enthielt man sich auf die edelmüthigste Weise, ihm deshalb besondere Maaßregeln vorzuschreiben.29

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AA IV, S. 68. Ebd., S. 69. AAV, S. 27. Selbst innerhalb der britischen Admiralität finden sich Personen, für die die Verwissenschaftlichung der Südseefahrten keine Selbstverständlichkeit darstellt. Forster geht in der Einleitung zur Reise um die Welt auf den Streit zwischen Banks, der Cook auf der ersten Weltreise begleitet hatte – und der britischen Admiralität wegen der Forderung Banks auf eine optimale Ausstattung zu wissenschaftlichen Zwecken ein: »Allein der Minister vom Seewesen hatte keine Achtung für diese Forderungen, die er doch einem so uneigennützigen Eiferer der Wissenschaften wohl hätte zugestehen sollen.« AA II, S. 27. Der Minister änderte auch in Hinblick auf die dritte Weltreise Cooks seine Haltung nicht. Dazu schreibt Forster: »Es ward zu wiederholtenmalen vorgeschlagen, auch diesmal wieder Naturforscher auszuschicken, allein die Wissenschaft war nie des Ministers Object gewesen. Sie war ihm nach wie vor verächtlich, und folglich ward auf der neuen Reise kein Gelehrter geduldet.« (Ebd. S. 28.) Eine Erklärung kann darin liegen, dass England nach dem Siebenjährigen Krieg sein Kolonialreich in Amerika vergrößert hatte und expansionistische Interessen nach wie vor verfolgte. Doch auch diese Reise hatte, wie die beiden vorausgehenden, ein wissenschaftliches Ziel. Zit. nach AA IV, S. 123. AA II, S. 7f.

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Johann Reinhold Forster, der aus der Sicht seines Sohnes für das Gelingen des wissenschaftlichen Unternehmens zu bürgen schien, war sich dieser Erwartung bewusst. So schreibt er am 23. Juni 1772 kurz vor seinem Reiseantritt an den Zoologen Thomas Pennant: »Was in meiner Macht liegt, werde ich für die Naturwissenschaft tun, meine Anstrengungen werden groß sein [...].«30 In der Tat muss der ältere Forster dieses Versprechen eingelöst haben, gedenkt man seines großen wissenschaftlichen Eifers und seines Engagements bei der Ausführung seines Auftrages. Zu erwähnen ist zum Beispiel die Tatsache, dass er sich nicht nur die Mitnahme seines Sohnes ausbedingt, den er selber als »well qualified for to assist me«31 einschätzt. Bemerkenswert ist auch, dass er angesichts des erwarteten Umfangs an botanischen und zoologischen Entdeckungen auf eigene Kosten32 den schwedischen Naturforscher Dr. Anders Sparrman engagierte, der sich am Kap der Guten Hoffnung dem wissenschaftlichen Team anschloss. Voller Begeisterung ist Georg Forsters Bericht über die Bereitschaft des schwedischen Botanikers, der »unter dem Vater der Kräuterkunde, dem großen Carl von Linné studirt« hatte, an der Südseeexpedition teilzunehmen: Die Übereinstimmung in unsern wissenschaftlichen Beschäftigungen, und in der Art sie eifrig mit Hintansetzung aller andern Rücksichten zu betreiben, bewog Herrn Sparrmann, meines Vaters Vorschlag anzunehmen [...] Hier knüpften genauere Bekanntschaft und wechselseitige Hochschätzung zwischen uns ein festes Band.33

Mit dem Hinweis, Dr. Sparrmann sei Schüler von Linné34, will Forster offenbar den Qualitätssprung der Forschungsreise auch in der personellen Besetzung unterstreichen. Johann Reinhold Forster teilt diese Einschätzung, die das Bewusstsein für die fachwissenschaftliche Arbeitsteilung und die Professionalisierung erkennen lässt, in seiner späteren Widmung an den Sohn: In plantis imprimis adumbrandis adjutore usi fuimus amico optimo SPARRMANNO, cujus labores in ordinem redigere, simul et plantas delineare TUI fuit officii: mea denique provincia erat hos labores inde curatius inspicere, et paucissimis in locis corrigere; animalia omnia describere; mores, ritus, ceremonias, cultum religiosum, victum, amictum, agriculturam, commercia, artes, arma, bellicum apparatum, politiam, et linguam gentium nobis obviarum curiose investigare. 35

Obwohl das 18. Jahrhundert die fachwissenschaftliche Spezialisierung im heutigen Sinne und Umfang nicht kennt, sind während der zweiten Weltreise Cooks alle damals führenden Disziplinen von der Geographie und Astronomie über die Botanik und Zoologie bis

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Zit. nach AA IV, S. 127. AA IV, S. 395. Vgl. AA IV, S. 70. AA V, S. 132. Carl von Linné (1707–1778), schwedischer Naturforscher, führte die binäre Nomenklatur ein und gliederte Pflanzenarten in Gattungen, Arten und Ordnungen auf. Forster stand unter dem Einfluss seines Vaters dieser Methode positiv gegenüber, löste sich jedoch allmählich von ihr und hinterfragte sie schließlich. AA XI, S. 498.

hin zur Ethnographie und Anthropologie vertreten.36 Dadurch wird die interdisziplinäre Ausrichtung der Forschungsexpeditionen der Spätaufklärung deutlich.37 Kennzeichnend für Forsters Einschätzung des neuen historischen Kontextes ist ohne Zweifel das Bewusstsein von einem Funktionswandel der Entdeckungsreisen. So beschreibt er das primäre Ziel des neuen Typus von Entdeckungsreisen, deren bekanntester Vertreter in Deutschland Alexander von Humboldt werden sollte, prägnant mit der Formel »Erweiterung menschlicher Kenntnisse«.38 Es handelt sich um Reisen, die durch die Förderung der Wissenschaft die Bedürfnisse der damaligen Gelehrtenwelt sichtbar werden lassen, nämlich vor dem Hintergrund des systematischen Forschungsprogramms den Unterschied zwischen »wirklichen Entdeckungs-Reisen« und »nichtsbedeutenden Südseefahrten«39 deutlich zu machen. Forster macht letztere dafür verantwortlich, »daß die Geographen an das Daseyn eines großen festen Landes glaubten, welches den ganzen Südpol umgäbe [...].«40 Aus diesem Grund besteht Forster in der Einleitung seines Weltreiseberichts darauf, »daß ich die bisherigen Entdeckungs-Reisen erwähne, eh’ ich zur Beschreibung unsrer eignen schreite.«41 Ein solcher Einstieg weist auf ein wissenschaftliches Verfahren hin, das dem doppelten Zweck dient, einerseits den Kenntnisstand bis zur zweiten Weltreise Cooks wiederzugeben42 und andererseits die noch anstehenden Herausforderungen aufzuzeigen. Vom Standpunkt der Aufklärung aus fordert Forster das Aufbrechen der dogmatischen Orientierung an früheren Reisen. Der neue Aufbruch in die Südsee, so Forsters Überzeugung, soll das Ziel verfolgen, mit Hilfe der Wissenschaft »die Kenntnis der Erde in das hellste Licht zu setzen.«43 Dies erklärt den Grund, warum er die Einmaligkeit der wissenschaftlichen Pionierleistungen seiner Zeit hervorhebt, »wodurch die vorher unbekannte Hälfte der Erdkugel ausgekundschaftet worden ist. Ich sage, die Hälfte der

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Erweitert wurde dieser Kreis durch weitere Fachleute, wie Maler – bei der zweiten Weltreise Cooks war es William Hodges. Andere Wissenschaftler wie die beiden Forster konnten aufgrund ihrer vielseitigen Bildung verschiedene Aufgaben erfüllen. An einer Szene auf Dusky-Bay reflektiert Forster dieses Moment mit folgenden Worten: »Früh am 6ten [April 1773, Y. M.] giengen einige Officiere nach der Bucht, welche der Capitain am 2ten entdeckt hatte; der Capitain selbst aber nahm ein andres Bott und gieng nebst Herrn Hodges, Dr. Sparrman, meinem Vater und mir, nach der Nordseite, um für seine Person in Abzeichnung der Bay fortzufahren, Herr Hogdes, um Aussichten nach der Natur aufzunehmen, und wir, um die natürlichen Merkwürdigkeiten des Landes zu untersuchen.« AA II, S. 132. AA II, S. 7. Ebd., S. 19. Ebd., S. 204. Ebd., S. 19. Zu Beginn seines Reiseberichts listet Forster alle wichtigen Südseereisen auf und stellt ihre Ergebnisse vor. Diese methodische Vorgehensweise wurde aber nicht von Forster initiiert, denn bereits Bougainville hatte seinem Reisebericht die Erwähnung der vorangegangenen Weltreisen und ihrer Beiträge für das Wissen über die Südsee vorangestellt. Vgl. Louis Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde, S. 7ff. AA II, S. 207.

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Erdkugel, und man wird finden, daß dieser Ausdruck nicht zu viel sagt, wenn man einen Blick auf die Geographie vor Cooks Entdeckungen wirft.«44 Der Umbruch der Wissenschaft am Ausgang des 18. Jahrhunderts findet nicht nur in den thematisch verwandten Aufsätzen des jungen Forsters, sondern auch in Johann Reinhold Forsters Observations45 Niederschlag. Dieser Titel ist programmatisch, weil er die wissenschaftliche Dimension der Weltreise unterstreicht. Beide Titel Reise um die Welt und Observations kennzeichnen die neue Semantisierung des Begriffs der Entdeckungsreise. Doch Forsters Weltreisereisebericht eröffnet nicht nur den Blick für die wissenschaftliche Neukonzeption von Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung; er ist vor allem auch Teil eines umfassenden Diskurses, an dem sich ablesen lässt, wie die Südsee aus der Perspektive von Gelehrten und Reisenden im 18. Jahrhundert als Antipode zur Aufklärung konfiguriert und diskursiv vermittelt wurde. In diese mentalen Prämissen schreiben sich xenische Momente ein, die nicht nur den Blick auf die Kulturen des Südpazifiks, sondern auch den Begegnungsprozess mit den Insulanern dialektisch prägen sollten.

3.

Fernab der Zivilisation: Die Aufklärung und ihre Antipoden

Am 21. März 1775 geht das Schiff Resolution unter der Führung des legendären englischen Kapitäns James Cook nach fast dreijährigem Aufenthalt im Südpazifik in der TafelBai am Kap der Guten Hoffnung vor Anker. Die Mannschaft ist auf ihrem Rückweg von der zweiten Weltreise Cooks. Der inzwischen einundzwanzigjährige Georg Forster, der als Assistent seines Vaters Johann Reinhold Forster an der Expedition teilgenommen hat, fasst in seinem Reisebericht die allgemeine Euphorie der heimkehrenden Schiffsbesatzung so zusammen: »Wir brachten unsre Zeit sehr angenehm zu, und sammelten aus alten Zeitungsblättern die Geschichte derer Jahre, da wir so zusagen aus der Welt verbannt gewesen.«46 Die Metaphorik der Verbannung aus der Welt verdient besondere Aufmerksamkeit. Sie reicht qualitativ über die elementare Erkenntnis hinaus, dass Entdeckungsreisen vor dem Zeitalter des Internets notwendig mit einer mehr oder weniger vollständigen Isolation von der vertrauten europäischen Heimat verbunden waren. Forsters Wahrnehmung des Aufenthalts in der Südsee als »Verbannung« aus der Welt sowie seine anschließende Beschreibung der Ankunft in einer europäischen Kolonie, also einem Ort, »der mit Euro-

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AA V, S. 202. Johann Reinhold Forster, Observations made during a Voyage round the World, on Physical Geographie, Natural History, and Ethic Philosophy. By John Reinold Forster, London 1778 (dt. Johann Reinhold Forster’s Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophy, auf seiner Reise um die Welt gesammelt. Uebersetzt und mit Anmerkungen vermehrt von dessen Sohn und Reisegefährten Georg Forster, Berlin 1783.[Nachdruck unter dem Titel: Beobachtungen während der Cookschen Weltumseglung 1772–1775. Gedanken eines deutschen Teilnehmers, hg. v. Hanno Beck. Stuttgart 1981. AA III, S. 416.

pa in Verbindung stand,«47 als »Heimkehr in die Aufklärung«48, ist kein bloßer Ausdruck rhetorischer Emphase – auch nicht hinsichtlich ihrer Emotionalität. Vielmehr schreibt sie sich in einen spezifischen dialektischen Diskurs über außereuropäische Kulturen ein, den Gundolf Krüger als »Gegenwelt-Konstruktionen«49 bezeichnet. Die bewusst exponierte Polarität, die sich aus Forsters Aussage herauskristallisiert, reflektiert in nahezu symptomatischer Weise die in der Weltperspektive Europas im 18. Jahrhundert vorherrschende Geisteshaltung, in der Gesellschaften außerhalb des europäischen Kulturraumes nicht nur geographisch und kulturell, sondern auch anthropologisch jenseits der Aufklärung und Zivilisation verortet wurden.50 Auch in Forsters Reise um die Welt bildet die Südsee nicht nur eine geographische, sondern vor allem auch eine kulturelle Kontrastfolie für den Entwurf des eigenen aufgeklärten Selbstverständnisses. Daher bringt die Metapher von der Verbannung aus der Welt ein dichotomisches Weltbild51 zum Ausdruck, aus dem sich Forsters Wahrnehmung der Südseeinseln im ausgehenden 18. Jahrhundert zum Teil formt. Diesem Weltbild liegt eine zeit- und geistesgeschichtliche Spannung zugrunde, die entscheidend zur Konstruktion dessen beigetragen hat, was Hartmut und Gernot Böhme als Das Andere der Vernunft52 analysieren. Beiden Autoren zufolge ist dieses Andere, »von der Vernunft her gesehen, [...] das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische«.53 Diese binären Oppositionen, die sich in symbolischen Fest- und Zuschreibungen artikulieren, bilden die Grundlage für die Kodifizierungsmechanismen von Alterität, die auch in Forsters Weltreisebericht Niederschlag finden. Ihre Relevanz liegt in ihrem Anspruch als Demarkationslinie bzw. als Differenzaxiom zwischen europäischen Kulturen und dem Rest. Dieser Prozess der Differenz leitet sich aus dem Selbstverständnis der europäischen Kultur als differentia specifica ab und modelliert sich in einem komplexen Diskurs, in dem die Sicht, die Europa von sich hat, zum exklusiven Maßstab des Weltverständnisses erhoben wird. Dabei fällt der Vernunft, wie Christian Begemann im Anschluss an

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AA II, S. 412. Klaus Harpprecht, Georg Forster oder die Liebe zur Welt. Eine Biographie, Hamburg 1990, S. 265. Gundolf Krüger, »Wozu die Leute eine solche Menge Waffen haben? Ist bey ihrem gutherzigen verträglichen Charakter nicht leicht abzusehen«: Reflexionen über Krieg und Gewalt in der Südsee (1772–1775), in: Georg-Forster-Studien VIII (2003), S. 1–18, hier S. 1. Vergleichbar den Peripherien der Oikumene der griechischen und hellenistischen Antike, die als Wohnstätte von barbarischen Randvölkern ausgewiesen wurden. Vgl. Balbina Bäbler, Fremde Frauen in Athen. Thrakische Ammen und athenische Kinder, in: Ulrike Riemer, Peter Riemer (Hg.), Xenophobie-Philoxenie. Vom Umgang mit Fremden in der Antike. Stuttgart 2005, S. 65–88, insbesondere S. 65f. Gerhard Schulz spricht in diesem Zusammenhang von der »Dialektik von Ausfahrt und Heimkehr«: Erfahrene Welt. Berichte deutscher Weltreisender am Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, in: Walter Veit (Hg.), Antipodische Aufklärung. Festschrift für Leslie Bodi. Frankfurt/M. 1987, S. 439–456, hier S. 439. Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M. 1983. Ebd., S. 13.

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die Brüder Böhme argumentiert, eine definierende Funktion zu: »Die Vernunft, die den Anspruch absoluter Herrschaft stellt und das, was sie nicht ist, nicht mehr respektiert, erzeugt so überhaupt erst ihr Anderes [...].«54 Dadurch wird allerdings auch das aus postkolonialer Perspektive offenkundige Paradoxon sichtbar, dass die Aufklärung dialektisch an ihr Anderes gebunden ist, denn die Aufklärung [...] braucht ihr Anderes, um ihre Souveränität als das universale Ideal zu behaupten; wenn sie sich jemals in der wirklichen Welt als das wahrhaft Universale realisieren könnte, würde sie sich tatsächlich selbst zerstören.55

Das ausgehende 18. Jahrhundert bildet einen historischen Kontext, in dem die Südsee als Sinnbild einer »grandiosen antipodischen Welt«56 zur europäischen Kultur wahrgenommen und vermittelt wird. Zu einer Zeit, in der Europa sich durch die Kategorie vom Licht der Aufklärung definiert, wird der südpazifische Raum im Schatten der europäischen Vernunft57 als eine verkehrte Welt konfiguriert, sodass sie zur wichtigsten Projektionsfläche58 für europäische Mythen der Peripherie avanciert, die in Reiseberichten der Aufklärungszeit ein bevorzugtes Medium finden sollten. Während seines Aufenthaltes in der Südsee folgt Forster bei der Begegnung mit neuen Kulturen und Menschen zunächst grundsätzlich den im Zivilisationsdiskurs des 18. Jahrhunderts vorgegebenen Wahrnehmungsmustern, nämlich der Kodifizierung von Fremdheit mittels binärer Oppositionen.59 Doch im Unterschied zu früheren Reisebeschreibungen, in denen die apodiktische Schilderung von Legenden breiten Raum einnimmt, weist Forsters Bericht eine fundamentale Ambivalenz auf, die als Kennzeichen einer dialektischen Wahrnehmung der Südsee anzusehen ist. Seine Reise um die Welt rekrutiert sich diskursiv einerseits aus dem »Prozeß der Demarkation,«60 d. h. aus dem Fundus europäischer Mythen der Peripherie, und andererseits aus der Prämisse, dass der

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Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung: Zur Literatur und Bewusstseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1987, S. 12. Partha Chatterjee, Nationalist Thought and the Colonial World: A Derivate Discourse, London 1986, S. 17. Klaus Georg Popp, Nachwort zu: Georg Forster, Georg Chr. Lichtenberg: Cook der Entdecker, hg. v. Klaus-Georg Popp. Leipzig 1983, S. 222. Auf dieser Dichtomie basiert der Diskurs der europäischen Aufklärung über außereuropäische Kulturen. Vgl. Manuela Ribeiro Sanches, Dunkelheit und Aufklärung. Rasse und Kultur. Erfahrung und Macht in Forsters Auseinandersetzung mit Kant und Meiners, in: Georg-ForsterStudien VIII (2003), S. 53–82, insbesondere S. 80. Christiane Küchler Williams spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer »Sonderstellung der Südsee«. Ihr zufolge liegt der Grund dafür darin, dass die bereits entdeckten Kontinente Afrika, Amerika und Asien sich nicht für die Projektion europäischer Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen eigneten. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese. Zur europäischen Südseerezeption im 18. Jahrhundert. Göttingen 2004, S. 52f. Die von Reinhard Heinritz vorgenommene Differenzierung zwischen »Makrostrukturen« und »Mikrostrukturen« ist nur bedingt notwendig und sinnvoll, denn das Ergebnis ist das gleiche, nämlich die Konstruktion von Fremdheit. Vgl. Reinhard Heinritz, Andre fremde Welten, S. 40ff. Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, S. 13.

Wandel zum »aufgeklärten« Weltbild nur nach der Überwindung tradierter Wissensbestände vollzogen werden kann.61 Gehört die Konstruktion der europäischen Antipoden62 zu den prägenden Merkmalen der Reiseschilderungen europäischer Entdecker seit der Antike, so kristallisiert sich besonders im 18. Jahrhundert die Wahrnehmung ferner Länder als eines vom Phänomen der Aufklärung und Zivilisation unberührten Teils der Welt heraus. Kaum ein Weltreisender dieser Zeit konnte sich dem entsprechenden Diskurs entziehen. Zehn Jahre nach dem tragischen Tod Cooks63 verfasst Forster den berühmten Essay Cook der Entdecker64, in dem er dem englischen Kapitän ein Denkmal setzt. Dabei schildert er u. a., warum dem aufgeklärten Europäer, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Entdeckung der Südsee begibt, die Reise als Aufbruch zu den Antipoden der Aufklärung und der Zivilisation vorkommen musste: »Noch war die halbe Oberfläche der Erdkugel von tiefer Nacht bedeckt.«65 Mit der Metapher der »tiefen Nacht«, die dem Licht der Aufklärung entgegengesetzt wird, hält Forster wie in einem Brennspiegel sowohl die bedeutenden Prämissen für die antinomische Wahrnehmung der Welt im 18. Jahrhundert als auch die wichtigsten Quellen »zum Aufbau einer pazifischen Utopie«66 fest. Bis Ende des 18. Jahrhunderts hinein herrscht ein Weltbild vor, in dem außereuropäische Kulturen und ihre Bewohner prinzipiell »eine Quelle der seltsamsten Einfälle«67 abgeben. Die zum Teil dogmatische Pflege der überkommenen Bilder von der Ferne, entweder »im Rücken der Vernunft entstand[en]«68 oder durch sie sanktioniert, hat nicht nur den europäischen Blick auf den Südpazifik für eine lange Zeit verstellt; sie führt auch vor Augen, dass die gängige Auffassung vom 18. Jahrhundert als einem radikalen Bruch mit der Tradition eine Illusion ist. Deshalb kommt Gerhard Pickerodt dem Sachverhalt viel näher, wenn er von der »Doppelgesichtigkeit« der europäischen Aufklärung spricht: Es macht die Doppelgesichtigkeit der Aufklärung aus, daß sich in ihr verschiedene Intentionen überlagern und durchdringen: Aufklärerischer Geist zielt einerseits auf methodisch gewonnene Erfahrung, auf neues Wissen von bisher unbekannten oder nur dunkel geahnten Regionen der Welt, die nun durch sorgfältig geplante und vorbereitete Schiffsexpeditionen erkundet werden.

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Der Überwindungsprozess dieser Mythen der Ferne ist Gegenstand des 4. Kapitels der vorliegenden Arbeit. Zur Geschichte der Antipodenvorstellung seit Platon vgl. Gabriella Moretti, The Other World and the ›Antipodes‹. The Myth of the Unknown Countries between Antiquity and the Renaissance, in: Wolfgang Haase, Reinhold Meyer (Hg.), The Classical Tradition and the Americas. Berlin 1994, S. 242–284. Auf seiner dritten Weltreise wurde Kapitän Cook bei einem Streit mit Einheimischen am 14. Februar 1779 in der Kealakekua Bay an der Westküste Hawaiis erschlagen. AA V, S. 191–302. Ebd., S. 206. Walter F. Veit, Der beobachtete Beobachter. Anmerkungen zur Topik kognitiver Probleme der indigenen Reaktionen im Pazifik, in: Georg-Forster-Studien X (2005), S. 37–76, hier S. 42. Walter F. Veit, Der beobachtete Beobachter, S. 71. Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, S. 10.

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Andererseits sind es dieselben Expeditionen, die den Traum vom Südsee-Paradies unvergesellschafteter Natur stimulieren[...]69

Folgerichtig ordnet sich Forsters Reisebericht in einen geistesgeschichtlichen Kontext ein70, in dem sich zwar einerseits ein historischer Umbruch vollzieht, der auch den Charakter der Weltreisen, wie bereits oben erläutert, grundlegend verändert, andererseits aber in bedeutendem Maße die präkonfigurierte Haltung gegenüber der Südsee als einer der »Gegenwelten der Aufklärung«71 in vielen Hinsichten aufrechterhält. Daher erscheint es unerlässlich, eingangs die historische Tatsache in Erinnerung zu rufen, dass sich das Weltbild, auf das Forster mit Sprachbildern seiner Zeit rekurriert, in den Konstituierungsprozess von Fremdheit aus europäischer Perspektive einschreibt, denn: »Forster’s list of the categories and concepts by which the progress of civilisation was to be judged was, by the time he was writing, familiar enough.« 72 Problematisch an diesem historischen Diskurs ist die einseitig vollzogene Grenze, an der die europäische Selbstdefinition bzw. Selbstwahrnehmung als partikulare Identität stattfindet.73 Somit verschafft sich die abendländische Kultur die Legitimation, jener Standort zu sein, vom dem aus virtuelle Ränder der Welt monologisch synchronisiert werden. Gleichwohl wird dabei deutlich, dass die symbolisch-diskursiven »Spiegelungen des Anderen«74 und die damit verbundene Konfiguration außereuropäischer Kulturgemeinschaften immer unter Berücksichtigung der jeweiligen historischen Konstellation gesehen werden müssen. Bildet beispielsweise die Polis in der Antike den klassischen Bestimmungsstandort zur Beschreibung der Fremden als »Barbaren«75, so sehen die christlich geprägten Europäer der frühen Neuzeit in den Menschen jenseits der abendländischen Christenheit hauptsächlich gottlose »Heiden«. Dagegen avancieren im 18. Jahrhundert die Ka-

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Gerhard Pickerodt, Aufklärung Exotismus, in: Thomas Koebner (Hg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt/M. 1987, S. 121–136, hier S. 127. Vgl. dazu besonders, wenn auch ohne explizite Berücksichtigung der hier aufgeworfenen Frage nach den Grundlagen der Mythen der Ferne, Eberhard Berg, Zwischen den Welten. Über die Anthropologie der Aufklärung und ihr Verhältnis zur Entdeckungs-Reise und Welterfahrung mit besonderem Blick auf das Werk Georg Forsters. Berlin 1982. Ulrich Kronauer, Gegenwelten der Aufklärung. Heidelberg 2003, S. 57. Harriet Guest, Empire, Barbarism, and Civilisation, S. 13. An diesem Sachverhalt kommt die Interkulturalitätsforschung nicht vorbei. Vgl. Dagmar Heinze, Fremdwahrnehmung und Selbstentwurf. Die kulturelle und geschlechtliche Konstruktion des Orients in deutschsprachigen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, in: Karl Hölz u. a. (Hg.), Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2000, S. 45–91, insbesondere S. 45f. Karl Hölz, Einleitung – Spiegelungen des Anderen in der Ordnung der Kulturen und Geschlechter, in: Karl Hölz u. a. (Hg.), Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2000, S. 7–12, hier S. 7. Die Polarität von Hellenen und Barbaren taucht zum ersten Mal in der »Ilias« (Homer) auf, liegt aber ausschließlich in der sprachlichen Differenzierung und nicht allgemein im kulturellen Bereich. Vgl. Martin Braun, »Nichts Menschliches soll mir fremd sein«. Georg Forster und die frühe deutsche Völkerkunde vor dem Hintergrund der klassischen Kulturwissenschaften. Bonn 1991, S. 20.

tegorien »Aufklärung« und »Zivilisation« zu Referenzmomenten76 eines Weltbildes, in dem bestimmte Kulturgemeinschaften außerhalb Europas lediglich als »global contrast of civilisation«77 zusammengefasst werden.78 Damit wird deutlich, dass ›Aufklärung‹ und ›Zivilisation‹ als Ventil für den Konstruktionsprozess des ›Anderen der Vernunft‹ fungierten, denn [d]ieses Andere, das die Vernunft nicht umschließt, verkommt zu einem diffusen, unheimlichen und bedrohlichen Bereich. Über die Grenzen der Vernunft hinaus ist Orientierung nicht mehr möglich, jenseits wird Kultur nicht mehr gebildet.79

Die topographische Perspektive, in der Forsters Werk historisch, geistesgeschichtlich und nicht zuletzt auch diskursiv wurzelt, beruht aber nicht primär und nicht ausschließlich auf einer abstrakten philosophischen Weltanschauung, sondern sie entspricht auch einer wichtigen historischen Faktizität: Noch am Ende des 18. Jahrhunderts ist die südpazifische Inselwelt in Europa weitgehend unbekannt. Sie wird daher vielfach als eine Plattform für den Entwurf neuer oder bereits etablierter europäischer Mythen der Ferne gebraucht, deren Reduktion auf das ›Andere der Vernunft‹ für den Aufklärungs- und Zivilisationsdiskurs auch in Reiseberichten instrumentalisiert wird. Forsters Wahrnehmung des Südpazifiks80 vor den Reisen Cooks als jene »von tiefer Nacht bedeckt[e]« Weltgegend ist Ausdruck eines Standpunktes, der auf zwei Begründungsmomenten basiert, nämlich zum einen auf dem philosophisch-weltanschaulichen Referenzanspruch der Aufklärung und zum anderen auf dem damaligen geographischen Kenntnisstand: Während die Umsegelung Afrikas und Amerikas bereits im ausklingenden Mittelalter im spanisch-portugiesischen Wettlauf gelungen ist, während zu Beginn der Neuzeit vor allem holländische, französische und englische Seefahrer nach Nordund Südostasien vorstoßen, verschließen sich weite Teile des südpazifischen Raums für lange Zeit entsprechenden europäischen Bestrebungen. Dadurch nehmen sie, wie Christiane Küchler Williams darlegt, eine »Sonderstellung« in der diskursiven Konfiguration außereuropäischer Kulturen ein.81 Gemäß der zutreffenden Formulierung Klaus Georg Popps: »Wo konkretes Wissen fehlt, wachsen Spekulationen«82, gerät die Südsee im

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Dies kommt auch bei Forster sehr deutlich zum Ausdruck, so etwa in der Behauptung, es fehle den Indianern »an einem gewissen Grad von Aufmerksamkeit und Nachdenken […], den man bey allen uncivilisierten Völkern vermisst.« (AA II, S. 364.) Marshall Shalins, How »Natives« think: about Capitain Cook, for example. Chicago 1995, S. 11 Zwar fallen z. B. Perser oder Chinesen auch unter die Kategorie Fremdheit, doch sie werden nicht als »Naturvölker« klassifiziert. Böhme/Böhme, Das Andere der Vernunft, S. 14. Vgl. Joseph Gomsu, Georg Forsters Wahrnehmung Neuer Welten, in: Zeitschrift für Germanistik 8 (1998), S. 538–550. Nach dem Misserfolg des Südseefahrers Quiros blieb der Südpazifik lange Zeit unbefahren. Die wichtigsten Inseln, die erst später entdeckt wurden, lagen außerhalb der Seerouten nach Ostindien. So vergingen zwischen der Entdeckung von Neuseeland durch Abel Jansen Tasman im Jahr 1642 und Cooks erstem Besuch 1769 u. 1770 über hundert Jahre. Dazu vgl. ebenfalls Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 52. Klaus-Georg Popp, Nachwort, in: Louis-Antoine de Bougainville. Reise um die Welt. Berlin ³1980, S. 413.

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18. Jahrhundert zum Sammelbecken für »all those New World myths that have survived the age of Reason«.83 Die antipodische Denkweise des aufgeklärten 18. Jahrhunderts, die sich der auf diesen Raum projizierten Mythen bedient, findet nirgendwo besser Niederschlag als in den so genannten geographischen Mythen sowie in den kulturellen und anthropologischen Utopien. Repräsentativ für diesen Prozess, der mit dem Begriff »European Mythmaking in the Pacific«84 beschrieben werden kann, ist der seit der Antike anhaltende Glaube an die Existenz eines Südkontinents. Der als Terra australis incognita85 bezeichnete mysteriöse Kontinent taucht, obwohl ausschließlich in der Phantasie von Reisenden und Gelehrten existierend, in den Weltkarten fast aller führenden Kosmographen, von Claudius Ptolemäus über Abraham Ortelius bis hin zu Gerhard Mercator auf.86 Selbst die damalige Philosophie – von der kosmographischen These eines notwendigen Gegengewichts zur nördlichen Erdhälfte ausgehend – schließt sich der tradierten Erwartung an, es müsse ein südlicher Kontinent existieren.87 Damit rückt eine über Jahrhunderte hinweg tradierte Mutmaßung in die Nähe einer Gewissheit. Charakteristisch für diese Spekulationen ist, dass der »Südkontinent« a priori als Antipode zu Europa semantisiert wird, und zwar nicht nur im geographischen Sinne. Dies ist an William Eislers Kommentar über die Entwicklung der entsprechenden Dichotomie deutlich abzulesen: Over time the pictures from the southern world evoked what was essentially a bipolar vision of Terra Australis prior to the great Pacific voyages of the late eighteenth century: on the one hand, that of a generally barren region inhabited by brute savages; on the other, a more beautiful, plentiful land with a far more attractive and hospitable population. In the wake of Cook’s

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Suzanne Zantop, Dialectics and Colonialism: The Underside of the Enlightenment, in: W. Daniel Wilson, Robert C. Holub (Hg.), Impure Reason. Dialectic of Enlightenment in Germany. Detroit 1993, S. 301–321, hier S. 309. Forster weist beispielsweise darauf hin, dass es bis zu Cooks erster Reise noch weite Gegenden der Südsee gab, die »noch kein europäischer Seefahrer zu untersuchen gewagt [hatte]. Gleichwohl glaubte man durchgehends, daß in selbigen ein großes Land liegen müsse, und die Erdbeschreiber, die es in ihren Landcharten das südliche feste Land (Terra australis) nannten, hielten dafür, daß auf der West-Seite Neu-Seeland [...] die Küste desselben ausmachten.« AA II, S. 202. H. i. O. Gananath Obeyesekere, The Apotheosis of Captain Cook. European Mythmaking in the Pacific. Princeton 1992. Zur Entstehung des Mythos vom Südkontinent vgl. Eberhard Schmitt (Hg.), Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 2: Die großen Entdeckungen. München 1984, S. 537ff, insbesondere S. 593ff. In dem Aufsatz Cook der Entdecker schreibt Forster: »Der feste Punkt von dem sie [die spekulativen Geographen, Y.M.] ausgiengen, war jenes notwendige Gleichgewicht zwischen der nördlichen und südlichen Hälfte der Erdkugel, welches sie als eine ewige Wahrheit vorauszusetzen beliebten. Dies erforderte nun durchaus ein großes Land im Süden, um, ich weiß nicht welch ein Überschlagen unseres Planeten zu verhüten, wovon sie selbst wohl keine deutlichen Begriffe hatten.« (AA V, S. 217f.) Vgl. Numa Broc, La Géographie des philosophes géographes et voyageurs francais au XVIIIe siècle. Montpellier 1972, S. 185ff. Ferner: Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 9.

voyages (1768–80) this dichotomy would be transformed into two parallel visions: that of a desolate world of ›hard‹ primitives […] and a paradise of ›soft‹ primitives.88

Entgegen der in der Forschung weit verbreiteten Ansicht, wonach die Terra australis lediglich als Irrtum der im statu nascendi befindlichen Wissenschaft der Geographie zu bewerten sei89, lässt sich die Frage eines Südkontinents keineswegs auf geophysikalische Erwägungen reduzieren. Dass nämlich die Projektion der Geographen mit der im 18. Jahrhundert vorherrschenden antipodischen Kosmosophie übereinstimmt, ist kein Zufall. Sie eröffnet vielmehr eine neue Dimension der Reflexion: Spätestens seit der Neuzeit und insbesondere seit dem staatsphilosophischen Grundwerk Utopia (1516) des englischen Lordkanzlers Thomas Morus90 wird der Diskurs über den südlichen Kontinent durch eine Erwartungshaltung überformt, durch welche die Postulierung Neuer Welten zum Teil mit der Hoffnung auf eine fernab Europas liegende ideale Gesellschaft91, also auf ein irdisches Paradies gekoppelt wird: »Auf diese unbekannte Erdfläche«, schreibt beispielsweise Jörn Garber, »projizierte man alle utopischen Hoffnungen einer besseren Gesellschaft, also Paradiesvorstellungen.«92 Hieraus wird deutlich, dass sich in der Vorstellung vom Südkontinent zwei Kodifizierungsmomente zusammenfügen, nämlich einmal der geographisch geprägte Topos vom anderen Ende der Welt auf der einen und die ideologisch motivierte Sehnsucht nach dem reichen Land und dem verlorenen Paradies auf der anderen Seite.93 Betrachtet man beide Momente, so zeigt sich, dass der Mythos des Südkontinents funktionell nicht nur als Produkt einer utopischen Sehnsucht, sondern auch als Ausdruck jener überkommenen Denkweise zu verstehen ist, die Eric Voegelin als »das erste spürbare Symptom der großen geistigen Krankheit [entlarvt], die die westliche Zivilisation in den folgenden Jahrhunderten befiel.«94 Dieses Symptom beschränkt sich allerdings nicht auf Projektionen, sondern es greift auch auf die bereits entdeckten südpazifischen Inseln

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William Eisler, The Furthest Shore: Images of Terra Australis from the Middle Ages to Capitain Cook. Cambridge 1995, S. 2. Hierzu Vgl. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1986, S. 180. Thomas Morus (eigentlich Thomas More 1478–1535) veröffentlichte sein philosophisches Hauptwerk 1516 unter dem Titel De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia (Über die beste Staatsverfassung und die neue Insel Utopia.) In diesem Werk entwirft More das Panorama einer idealen Gesellschaft. Dass diese Vision die Spekulationen über die südpazifischen Inseln seit der Neuzeit nährte, erscheint vor dem Hintergrund der damals unzureichenden geographischen Kenntnisse nachvollziehbar. Explizit in der Südsee angesiedelt ist auch der Idealstaat von Francis Bacon: Nova Atlantis (1627). Eine der Quellen dieser Einstellung dürfte u. a. die Reise Marco Polos liefern, die im Ausgang des Mittelalters den Blick auf die Schätze im Orient eröffnete und damit den Topos von Wunderländern im Fernen Osten begründete. Jörn Garber, Georg Forster – ein Universalgelehrter im Zeitalter der Aufklärung, in: Fürstenhof und Gelehrtenrepublik: hessische Lebensläufe des 18. Jahrhunderts, S. 61–71, hier S. 63f. Vgl. Klaus H. Boerner, Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie. Frankfurt/M. 1984. Eric Voegelin, Die spielerische Grausamkeit der Humanisten. Eric Voegelins Studien zu Niccolò Machiavelli und Thomas Morus. München 1995, S. 120.

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über, die Forster zufolge dem Europa des 18. Jahrhunderts als »Eldorado der Südsee« vermittelt werden, »wo die Natur Perlen und edle Metalle, nebst andern Kostbarkeiten, verschwendet haben sollte.«95 Mit Recht weist Walter F. Veit darauf hin, dass die antipodische Konnotation der Südsee, wie sie auch in Forsters Reisebericht anzutreffen ist, nicht nur als eine »geographical location« im Sinne des »counterweight«, sondern vor allem auch als »the literary incarnation of the topos of the antithesis, of the commonplace of the opposite [...] the Other, the Unknown«96 zu verstehen ist. Diese Argumentation leuchtet ein, wenn man sie auf folgende Eintragung Georg Forsters bezieht: Gedachten Tages [Montag, 6. Dezember 1773, Y.M.] befanden wir uns um 7 Uhr Abends, im 51sten Grade 33Minuten südlicher Breite und unterm 180sten Grade der Länge; folglich gerade auf dem Punct der Antipoden von London. Hier nöthigte die Erinnerung dort zurückgelaßner häuslicher Glückseligkeit und gesellschaftlicher Freuden, jedem Herzen, das noch väterliche oder kindliche Liebe zu fühlen im Stande war, eine Empfindung des Heimwehs ab! Wir waren die ersten Europäer, und ich darf wohl hinzusetzen die ersten menschlichen Creaturen, die auf diesen Punct gekommen, den auch nach uns, vielleicht Niemand wieder besuchen wird.97

Forsters Wahrnehmung der Südsee als Antipode lässt sich also nur dann nachvollziehen, wenn man sie vor dem Hintergrund der allgemeinen projektiven Geisteshaltung seiner Zeit betrachtet. Wichtig dabei ist jedoch, dass sich diese Assoziationen, die Ernst Bloch als »Wunschbild des schönen Andersseins«98 bezeichnet, zu einem Gesamtbild fügen, das den europäischen Projektionen und Sehnsüchten am besten entspricht und somit ein Weltbild ermöglicht, das Leslie Bodi auf die Formel »Antipodean Inversion« gebracht hat.99 Diese antipodische Umkehrung bildet das geistige und diskursive Fundament für die Mythen der Peripherie, die im 18. Jahrhundert die kollektive Perzeption und Rezeption der Südsee nachhaltig prägen sollten. Beflügeln bereits die in der Antike entstandenen Reiseberichte die Phantasie nicht nur goldgieriger Entdecker, so bilden im 18. Jahrhundert vor allem enthusiastische Reisebeschreibungen europäischer Seefahrer über angebliche Traumländer im Südpazifik die wichtigste Quelle für das verzerrte Bild der Südseeinseln. Die meisten Südseereisenden der späten Aufklärungszeit, aber auch nichtreisende Gelehrte wie Rousseau oder Diderot tragen in unterschiedlicher Weise zur Konstituierung der »Antipodean identity«100 bei, die wiederum in vielen Reisebeschreibungen der Zeit Niederschlag findet. Bezeichnenderweise manifestiert sich der Einfluss Rousseaus in der folgenreichen Schilderung der Insel Tahiti durch Louis Antoine de Bougainville, der nur wenige Mo-

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AA V, S. 203. Walter F. Veit, The Antipodes – The Alter ego of Europe. Understandig of the Self in Face of the Other, in: Literatura e Pluridade Cultural. Lisboa 1999, S. 727–746, hier S. 727. AA II, S. 414. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M 1976, S. 434. Leslie Bodi, Antipodean Inversion and Australian Reality. On the Image of Australia in German Literature, in: Walter F. Veit (Hg.), Capitain Cook – Image and Impact. South Seas Discoveries and the Worl of Letters. Melbourne 1979, S. 56–98, hier S. 56. Walter F. Veit, The Antipodes, S. 741.

nate nach Samuel Wallis (1767), am zweiten April 1768, auf Tahiti vor Anker geht. Einen seiner Spaziergänge auf dieser Insel hält Bougainville mit folgenden Worten fest: J’ai plusieurs fois été, moi second ou troisième, me promener dans l’intérieur. Je me croyais transporté dans le jardin d’Eden: nous parcourions une plaine de gazon, couverte de beaux arbres fruitiers et coupée de petites rivières qui entretiennent une fraîcheur délicieuse, sans aucun des inconvénients qu’entraine l’humidité. Un peuple nombreux y jouit des trésors que la nature verse à pleines mains sur lui. Nous trouvions des troupes d’hommes et de femmes assises à l’ombre des vergers; tous nous saluaient avec amitié; ceux que nous rencontrions dans les chemins se rangeaient à côté pour nous laisser passer; partout nous voyions régner l’hospitalité, le repos, une joie douce et toutes les apparences du bonheur.101

Diese Passage macht die Topik der Sehnsucht nach Arkadien besonders augenfällig. Mit Tahiti erhält die südpazifische Utopie einen Namen, durch den Bougainville eine in der europäischen Heimat herrschende Vorstellung von einer paradiesischen Harmonie von Mensch und Natur suggeriert. So folgt auf die allgemeine natürliche Üppigkeit, die Bougainville wahrzunehmen meint, eine Beschreibung von Einheimischen, die auf einem breiten Repertoire von idealisierenden Epitheta basiert (»beaux arbres«, »fraîcheur délicieuse«, »joie douce«, usw.) und seinen Höhepunkt in Bougainvilles wehmütigem Abschied von Tahiti erreicht.102 Auf der Grundlage dieser betont hyperbolischen Darstellung der Eindrücke seines nur neuntätigen Aufenthalts hebt Bougainville den Mythos Tahiti aus der Taufe, was zugleich den Anstoß für eine bis heute anhaltende Begeisterung für die Südsee geben sollte. Als Chiffre für die Südseeromantik löst der Name Tahiti im Europa des späten 18. Jahrhunderts eine blinde Bewunderung und Sehnsucht nach der Ferne aus, die bis in die Tourismusindustrie unserer Zeit breitenwirksam fortwirken.103 Mit dem TahitiMythos wird ein Präzedenzfall in der Entdeckungsgeschichte außereuropäischer Kulturen geschaffen. Bougainville suggeriert nicht nur einen idyllischen Urzustand in den südpazifischen Gestaden, sondern er erreicht durch die Schilderung dieser Insel in Superlativen ein Kontrastbild, das im 18. Jahrhundert kaum zu überbieten ist und deshalb nur noch nachgeahmt werden kann, wie beispielsweise an dem im Mercure der France vom November 1769 erschienenen Brief Philibert de Commersons sichtbar wird: [...] Je reviens sur mes pas pour vous tracer une légère esquisse de cette île heureuse, dont je ne vous ai fait mention qu’en passant dans le dénombrement des nouvelles terres que nous avons vues en courant le monde. Je lui avais appliqué le nom d’Utopie que Thomas Morus avait donné à sa république idéale […]104

Mit diesen Beschreibungen avanciert Tahiti im 18. Jahrhundert zu einer Sehnsuchtsvokabel bzw. zu einem Nostalgiewort. Das Tahiti-Bild, das Bougainville und Commerson popularisieren, ist nicht nur zeittypisch, sondern es knüpft ideengeschichtlich an den

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Louis Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 128f. Ebd., S. 135f. Vgl. Walter F. Veit, The Antipodes, S. 739. Philibert de Commerson (Mercure der France November 1769), abgedruckt in: Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde, S. 283.

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idealisierenden philosophischen Diskurs an, dessen Tradition auf Thomas Morus zurückgeht und seit Jean Jacques Rousseau wieder in Mode gekommen ist.105 Auf diese idealisierende Schilderung des Lebens auf den Südseeinseln beziehen sich nahezu alle nachfolgenden Südpazifik-Reisenden des späten 18. Jahrhunderts und liefern somit den zivilisationskritischen Utopisten bewusst oder unbewusst Nährstoff.106 Neben Kapitän Cook, der bereits während seiner ersten Weltumseglung Tahiti besucht und seine Begeisterung über diese Insel dokumentiert,107 sind es vor allem Georg Forster und sein Vater, die in der Darstellung ihrer beiden Aufenthalte auf Tahiti (August 1773 und April/Mai 1774) zunächst in den Sog des Tahiti-Mythos geraten. In Anlehnung an Bougainvilles Reisebericht, den er vor seinem Reiseantritt übersetzt und mit auf die Reise nimmt108, notiert Forster im August 1773 kurz vor der Ankunft auf Tatihi: Wir steuerten nun die ganze Nacht über gegen die Küste hin und unterhielten uns, in Erwartung des Morgens, mit den angenehmen Schilderungen, welche unsre Vorgänger von diesem Lande gemacht hatten. Schon fingen wir an, die unter dem rauhen südlichen Himmelsstriche ausgestandnen Mühseligkeiten zu vergessen; der trübe Kummer, der bisher unsre Stirne umwölkt hatte, verschwand; die fürchterlichen Vorstellungen von Krankheit und Schrecken des Todes wichen zurück, und alle unsre Sorgen entschliefen109

Am Morgen des 16. August 1773 ist es dann soweit. Das Schiff erreicht Tahiti. Enthusiastisch schildert Forster die sehnsüchtig erwartete Ankunft: Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O-Tahiti 2 Meilen vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter, hatte sich gelegt; ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherley majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Unterhalb derselben erblickte das Auge Reihen von niedrigern, sanft abhängenden Hügeln, die den Bergen gleich, mit Waldung bedeckt, und mit verschiednem anmuthigen Grün und herbstlichen Braun schattirt waren [...] Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählig aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Canots unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren. Eine halbe Meile vom Ufer lief eine Reihe niedriger Klippen parallel mit dem Lande hin, und über diese brach sich die See in schäumender Brandung; hinter ihnen aber war das Wasser spiegelglatt und versprach den sichersten Ankerplatz. Nunmehro fing die Sonne an die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten und die Aussicht begonn zu leben. 110

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Vgl. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 217. Stellvertretend für die unmittelbar von Reiseberichten abgeleitete Zivilisationskritik Denis Diderot’s berühmtes »Supplément au voyage de Bougainville ou Dialoge entre A et B« in: Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 319–371. Kapitän Cook hielt sich während seiner ersten Reise um die Welt (1768–1771) vom 13. April bis zum 13. Juli 1769 auf Tahiti auf. Zu seiner Tahiti-Schilderung vgl. The Journals of Capitain Cook. Prepared from the original manuscripts by J.C. Beaglehole of the Hakluyt Society, 1955–67, hg.v. Philip Edwards. London 1999, S.36–63. Cook verwendet dabei oft den Namen Georges Island, den Kapitän Samuel Wallis bereits 1766 Tahiti beigelegt hatte. Forsters Übersetzung von Bougainvilles Reisebericht erschien 1772 in London, wenige Wochen vor Beginn der zweiten Weltreise Cooks. AA II, S. 217. Ebd., S. 217f.

Es fällt auf, dass Forster die Insel Tahiti zunächst so beschreibt, wie er unter dem Einfluss von Bougainvilles Reisebericht glaubt, dass sie tatsächlich beschaffen sei. Insbesondere seine Landschaftsschilderung, die Wieland in seiner Rezension von Forsters Reisebericht als »mahlerische Beschreibung«111 bezeichnet, ordnet sich in die arkadische SüdseeTopik des 18. Jahrhunderts ein.112 Deshalb sieht Wieland in Forsters Reisebericht die Fortsetzung des Tahitibildes, das bereits vor dessen Reise in der damaligen öffentlichen Wahrnehmung der Südsee zirkulierte. Wieland meint daher, Tahiti sei, »seit der ersten Nachricht, die uns Herr von Bougainville davon gegeben, eine Art von Schlaraffenland, oder Pais de Cocagne unsrer Europäer geworden.«113 Wie sehr Wieland mit dieser Einschätzung richtig liegt, lässt sich an Forsters Äußerung ablesen, »daß diese Gegenden [...] nichts von ihren Reizen verlören, und daß Herr von Bougainville nicht zu weit gegangen sey, wenn er dies Land als ein Paradies beschrieben [hat].«114 Obwohl Forster, wie wir später sehen werden, seine ersten Eindrücke von verschiedenen Inseln inklusive Tahiti nach und nach relativierten musste, übernimmt er auch beim zweiten Besuch in Tahiti im April/Mai 1774 Bougainvilles Paradiesesmythos. So notiert er nach einer Einladung der Insulaner: »Wahrlich! Wir hätten dies herrliche Land mit Mahomets Paradiese vergleichen mögen, wo der Appetit selbst nach dem Genuß noch ungesättigt bleibt!«115 Solche emphatischen Äußerungen machen verständlich, warum Forster seinen Aufenthalt auf Tahiti später als Grundlage für »den eindrucksvollen Höhepunkt der Schilderung von Landschaft und Kultur der pazifischen Inselwelt«116 empfindet. Die bisherigen Beispiele machen die Perspektive eines von außen kommenden Reisenden sichtbar, der die zu bereisende Kultur nicht von innen kennt und deshalb nur das hervorbringt, was Hans-Jürgen Lüsebrink als »Inventar von entdeckter und topographisch mit europäischen Blicken erfasster Fauna und Flora«117 bezeichnet. Damit meint Lüsebrink gewiss das, was Michaela Holdenried bei Humboldt als Naturalisierung des Fremden analysiert hat.118 Bei Forster manifestiert sich diese Naturalisierung in der überschwänglichen Schilderung der Schönheit von Landschaft und Menschen als Kontrast zur europäischen Kultur. Diese Einschätzung bedarf allerdings der Vertiefung. Selbst wenn Forster auf Neuseeland »die Schönheit dieses wilden, romantischen Flecks vollkommen«119 findet, so bleibt es keineswegs beim bloßen »Inventar«.

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Zit. nach AA IV, S. 180. Vgl. Jörn Garber, »Reise nach Arkadien – Bougainville und Georg Forster auf Tahiti«, in: Georg-Forster-Studien I (1997), S. 19–50. Christoph Martin Wieland, Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. 22. Band. Berlin 1954, S. 40. AA II, S. 229f. AA III, S. 64. AA V, S. 684. Hans-Jürgen Lüsebrink, Zivilisatorische Gewalt. Zur Wahrnehmung kolonialer Entdeckung und Akkulturation in Georg Forsters Reiseberichten und Rezensionen, in: Georg-Forster Studien VIII (2003), S.123–138, hier S. 127. Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte, S. 252ff. AA II, S. 141.

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In den Berichten sowohl von Bougainville als auch von Forster vermischen sich die subjektiv wahrgenommene neue Umgebung und das im ideologischen Substrat der verklärenden Tradition wurzelnde Postulat einer absoluten Schönheit der südpazifischen Inseln in einer Kodifizierung von Fremdheit. Dies zeigt sich, wenn Forster beispielsweise behauptet, die tahitische Luft sei so rein, »daß ein Sterbender davon aufs neue hätte belebt werden müssen.«120 Damit greift er, wie schon vor ihm Bougainville und Cook, den Mythos von »der Quelle des ewigen Lebens«121 auf, der durch die Evozierung eines arkadischen Zustands in den besuchten Inseln begünstigt wird: Bey dieser einsam gelegenen und von der Natur so reichlich gesegneten Gegend, wo wir ohne andre Gesellschaft als unsre beyden Indianer im Grase ruheten, fielen uns mit Recht die Beschreibungen der Dichter von bezauberten Inseln ein, die, als das Werk einer unbeschränkten Einbildungskraft, gemeiniglich mit allen möglichen Schönheiten geschmückt zu seyn pflegen. Dieser Fleck hatte auch würklich viel Ähnlichkeit mit dergleichen romantischen Schilderungen122

Symptomatisch für diese und vergleichbare Äußerungen ist die fast euphorische Schilderung der Schönheit der Natur, womit Forster in seiner Reisebeschreibung bewusst an ›romantische‹ Südseeträume anknüpft, die den Mythos vom insularen Paradies aktualisieren und nicht allein den literarischen Schwärmern, insbesondere der Frühromantik123, sondern auch den breiten »Strömungen des Exotismus«124 in der europäischen Moderne als zentrale Inspirationsquelle dienen sollten. Auch Künstler, allen voran der französische Maler Paul Gauguin (1848–1903)125, zeugen in ihren Gemälden von einer schöpferischen Hinwendung zur angeblich außerordentlichen Schönheit von Landschaften und Menschen der südpazifischen Inseln, die vielfach als geheimnisvoll vermittelt werden. Selbst Paul Klees Aquarell Südliche Gärten (1919) liegt in dieser Tradition. Diese Typisierung erfolgt also nicht nur in Reisebeschreibungen, sondern auch in der fiktionalen Literatur und in der Kunst, wodurch die weltanschaulich aufgeladene Kodifizierung der außereuropäischen Welt ins Exotische gesteigert wird.

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Ebd., S.351. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 87. AA II, S. 352. Christiane Küchler Williams analysiert die Bearbeitung des Südseethemas in der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts und beginnenden 19. Jahrhunderts und stellt dabei fest, dass Idylle und Utopie in ihren verschiedensten Variationen eine zentrale Stellung einnehmen. Vgl. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, insbesondere S. 165–190. Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte, S. 12. Hierzu vgl. beispielsweise Dina Sonntag, Gauguins Weg nach Tahiti, in: Christopher Becker (Hg.), Paul Gauguin – Tahiti. Katalog zur Ausstellung »Paul Gauguin – Tahiti« in der Staatsgalerie Stuttgart vom 7. Februar bis zum 1. Juni 1998. Stuttgart 1998, S. 85–106. Der Katalog enthält weitere Aufsätze, die nicht nur die Gründe für Gauguins intensive Beschäftigung mit Tahiti, sondern auch die ungeheuere, epochenübergreifende Wirkung seiner Bilder erläutern. Außerdem ermöglicht eine reichhaltige Wiedergabe von bekannten Bildern Gauguins einen sehr differenzierten Einblick in die Motive, von denen Gauguin sich hat inspirieren lassen, aber auch in seine Technik und seine künstlerische Phantasie.

4.

Das Fremde im eurozentrischen Blick

Liegt dem beschriebenen Verzerrungsprozess der Südsee das zugrunde, was Veit als »Topoi of the European Imagining the Non-European World« bezeichnet,126 dann handelt es sich nicht nur um eine Makrostruktur der Fremdheitskonstruktion127, sondern auch um eine tradierte xenische Ikonographie,128 in der außereuropäische Kulturen mit bestimmten (Sprach)Bildern und Denkfiguren belegt werden, die sich insgesamt als Blick auf die Exotik analysieren lassen. Um die europäische Kultur, die sich seit dem 18. Jahrhundert die Epitheta »aufgeklärt« und »zivilisiert« zuschreibt, auch nach außen hin wirksam abzugrenzen, wird im Alteritätsdiskurs der damaligen Zeit eine Gegenwelt zur Vernunft entworfen, die sich in Bezug auf die Südsee in einer Art »iconography of the southern world«129 kondensiert. Dabei handelt es sich um ein symbolsprachliches Dispositiv, das Edward Said aus postkolonialer Perspektive als Orientalismen entlarvt.130 Auch Veit spricht von »strategies of inventing the Antipodes«131, die er als ein diskursives Bezugssystem definiert, »which structures the perception Europe has of itself and the Pacific.«132 Dieses xenische System dient aus der Perspektive des postkolonialen Diskurses seit Said sowohl der Fixierung des Nichteuropäers als Inbegriff der maximalen Fremdheit durch eine Peripherisierung und Unterordnung133 außereuropäischer Kulturen. Die in postkolonialen Theorien formulierte Kritik am europäischen Diskurs über nichteuropäische Kulturen geht dahin, dass dieser sich ethnozentristischer und essentialistischer Muster bedient. Dass bestimmte Topoi zu klassischen Strategien der europäischen Wahrnehmung und Konstruktion von Fremdheit gehören, gilt inzwischen als Tatsache. Nach Michaela Holdenried sind solche Muster vor allem durch ihre »Ambivalenz zwischen Attraktion und Repulsion«134 der jenseits der europäischen Kulturen vermuteten oder tatsächlich erfahrenen Lebensweisen gekennzeichnet. Dies kann beispielsweise an Landschaftsbeschreibungen illustriert werden, wie sie als Topoi in Forsters Reisebericht

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Walter F. Veit, »The Topoi of the European Imagining the Non-European World«, in: Arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, 18,3 (1983), S. 1–20. Reinhard Heinritz hat dargelegt, dass die Diskurse über kulturelle Differenz, die sich in den Reisebeschreibungen seit dem 17. Jahrhundert artikulieren, entweder Makro- oder aber Mikrostrukturen aufweisen, innerhalb derer Alterität konstruiert wird. Vgl. Reinhard Heinritz, ›Andre Fremde Welten‹, S. 40ff. Hierzu vgl. Elisabeth Luchesi, Nadja Taskov-Köhler, Die Wilden und das Wilde. Rhetorische Figuren, Entwürfe, Streitreden und Bekenntnisse um die Bewohner Südamerikas, in: Thomas Theye (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalistische Beziehung. Reinbek 1985, S. 143–176. Es handelt sich um zum Teil tradierte Figuren, die das System der Fremdwahrnehmung organisieren und zwar als ein xenisches System. William Eisler, The Furthest Shore: Images of Terra Australis from the Middle Ages to Captain Cook. Cambridge 1995, S. 7. Edward Said, Orientalismus. Frankfurt/M. 1981. Walter F. Veit, The Antipodes, S. 733. Ebd., S. 741. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 13. Ebd.

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Gestalt annehmen. Sie entspringen diversen »Strömungen« der Exotik und lassen sich als Kodifizierungsmomente der Fremdheit dechiffrieren. Im Gegensatz zu seinen Naturbeschreibungen, die sich der Natur als Erkenntnisobjekt annehmen, weist Forsters Reisebericht eine besondere Neigung zur Konstruktion eines arkadisch-idyllischen Ideals auf, in dem die weit verbreitete Vorstellung von einer von der Zivilisation unberührten Natur an fernen Gestaden Ausdruck findet: Wer es je selbst erfahren hat, welch einen ganz eigenthümlichen Eindruck die Schönheiten der Natur in einem gefühlvollen Herzen hervorbringen, der, nur der allein, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie in dem Augenblick, wenn des Herzens Innerstes sich aufschließt, jeder, sonst noch so unerhebliche Gegenstand interessant werden und durch unnennbare Empfindungen uns beglücken kann. Dergleichen Augenblicke sind es, wo die bloße Ansicht eines frisch umgepflügten Ackers uns entzückt, wo wir uns über das sanfte Grün der Wiesen, über die verschiedenen Schattierungen des Laubes, die unsägliche Menge der Blätter […] so herzlich, so innig freuen können. Diese mannichfaltige Schönheit der Natur lag in ihrem ganzen Reichthum vor mir ausgebreitet.135

Diese emphatisch-emotionale Darstellung, in der das Pastorale hervorgehoben wird, trägt Spuren einer »gefühligen Hingabe an die Natur«,136 die kein Geringerer als Friedrich Schiller in seiner »Theorie von der sentimentalischen Dichtung« analysiert hat.137 Bei Forster überwiegen indes die unmittelbaren Eindrücke von der Landschaft. Im August 1774 stellt er auf den Neuen Hebriden fest: Hier glänzte das Laub des Waldes im goldenen Strahl der Sonne, indes dort eine Masse von Schatten das geblendete Auge wohltätig erquickte. Der Rauch, der in den bläulichen Kreisen zwischen den Bäumen aufstieg, erinnerte mich an die sanften Freuden des häuslichen Lebens; der Anblick der Pisang-Wälder, deren goldene, traubenförmige Früchte hier ein passendes Sinnbild des Friedens und Überflusses waren, erfüllten mich natürlicherweise mit dem herzerhebenden Gedanken an Freundschaft und Volksglückseligkeit.138

Weiter heißt es: Über mir der Himmel heiter, das Säuseln des kühlen Seewindes um mich her, stand ich da und genoß in Ruhe des Herzens all das Glück, welches ein solcher Zusammenfluß von angenehmen Bildern nur gewähren kann. 139

Mit diesem Portrait, das aufgrund der tropischen Versatzstücke stark an Rousseaus Schilderung des Sonnenaufgangs erinnert,140 evoziert Forster ein breites ikonographisches

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AA III, S. 269. Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, S. 28. Vgl. Friedrich Schiller, »Ueber naive und sentimentalische Dichtung«, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Fricke, Herbert Göpfert. München 1960, S. 694–780. AA III, S. 269. Ebd. In seiner bekannten Schrift Emile oder über die Erziehung schreibt Rousseau: »Von weitem kündet sich die Sonne mit feurigen Strahlen an. Die Glut wächst. Der ganze Osten scheint in Flammen zu stehen. In diesem Glanz erwartet man lange das Gestirn, ehe es erscheint. Jeden Augenblick glaubt man es zu sehen – endlich ist es da [...] Der Mensch erkennt seine Heimat und findet sie verschönt. Das Grün ist über Nacht kräftiger geworden. Der junge Tag, der es

Ensemble von »konventionell verklärenden Bildern«141, durch welche die tradierten Topoi der Idylle in einer bemerkenswerten Bilderassoziation vermittelt werden: Der ›goldene‹ »Strahl der Sonne«, der auf die »Pisang-Wälder« mit ihren »traubenförmige[n] Früchte[n] fällt, ruft beim Reisenden den »herzhebenden Gedanken an Freundschaft und Volksglückseligkeit« hervor, der sich in ein »passendes Sinnbild des Friedens und Überflusses« einfügt. Für Bernard Smith lässt sich eine solche Wahrnehmung so erklären: »Tahiti provided an ideal subject in which to combine classical idealism and scientific accuracy because in that island, as it was generally agreed, nature herself approached the classical ideal«142. Nun zeigt die von Smith vorgenommene Analyse der verschiedenen in der Südsee angefertigten und den Reiseberichten beigegebenen Zeichnungen von Menschen und Vegetation, dass es im Großen und Ganzen darum ging, der vorgeprägten Erwartungshaltung, d. h. »as it was generally agreed«, zu entsprechen143 – oft auch auf Kosten der Wirklichkeit. Bereits an den obigen Assoziationen, die Forsters Beschreibung hervorrufen, wird ablesbar, was Veit als »genealogy of [...] tropes in modern European thought«144 bezeichnet. In der Tat verbindet Forster die Südsee mit bestimmten Gewächsen, die in den Reiseberichten des späten 18. Jahrhunderts zu Symbolen der exotischen Ferne avanciert sind und bis heute insbesondere in Urlaubsprospekten für das exotische Dekor sorgen. Damit bewegt sich Forsters Beschreibung im Bedeutungsspektrum des Topos vom goldenen Zeitalter, der nach Elisabeth Frenzel auf den Beginn der Neuzeit zurückzuführen ist und traditionsstiftend die zivilisationskritischen Strömungen in Europa beeinflusst habe.145 Forsters Anfälligkeit für die schwärmerische Kodifizierung der Südsee stellt ein dialektisches Moment in seinem Reisebericht dar und muss deshalb angesprochen werden, auch wenn bzw. gerade weil sich der Reisebericht durch eine kritische Distanz gegenüber einer unreflektierten Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen auszeichnet. Es lässt sich nicht leugnen, dass Forster von Sprachbildern Gebrauch macht, die einen der schwärmerischen Tendenz nahe liegenden Grundtenor reproduzieren. Während seines Aufenthalts auf Dusky-Bay meint Forster »den Beweiß« gefunden zu haben, daß dieser Theil des Landes, bis jetzt wohl noch keine Veränderung von Menschen erlitten haben könne, [...] denn eine Menge kleiner Vögel schienen noch nie eine menschliche Gestalt gesehen zu haben, so unbesorgt blieben sie auf den nächsten Zweigen sitzen, oder hüpften wohl gar auf dem äußersten Ende unserer Vogelflinten herum [...].146

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beleuchtet, die ersten Sonnenstrahlen, die es vergolden, zeigen es mit einem Netz funkelnden Taues bedeckt, der in Licht und Farben erstrahlt. Die Vögel vereinen sich zu Chören und grüßen in Wettgesängen die Mutter des Lebens.« Jean–Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung. Paderborn 1974, S. 160. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 179. Bernard Smith, European Vision and the South Pacific, S. 45f. Vgl. ebd., S. 46ff. Walter F. Veit, The Antipodes, S. 744. Vgl. Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon Dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1992, S.830ff. AA II, S. 125. Vgl. Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 53.

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Selbst wenn man den eher unwahrscheinlichen Fall annimmt, dass die Entdecker hier die ersten Menschen überhaupt sind, so kommt es in solchen Szenen offenbar zu einem Diskurs, der die Grenze zwischen Wirklichkeit und Projektion verwischen lässt. Forsters Beschreibung dessen, was ihm hier tatsächlich begegnet, mag der unmittelbaren Erfahrung entsprechen; es fällt allerdings auf, dass diese Beschreibung dem tradierten Klischee von Urzuständen in der Südsee und somit der präkonfigurierten Erwartungshaltung europäischer Entdecker dient. Am Verhalten der Vögel will Forster als Repräsentant der europäischen Kultur das festmachen, was er aus der Perspektive der Aufklärung als Natürlichkeit der Südsee erwartet. Hier zeigt sich der Sachverhalt zunächst, dass auch Forster die Südsee auf den ersten Blick als Gegenwelt zur Aufklärung und Vernunft wahrnimmt. Auch für ihn bietet der Südpazifik zuerst Raum für kulturelle Utopien des Natürlichen und Ursprünglichen, so dass die Südsee vor allem in der ersten Hälfte seines Reiseberichts stellenweise durchaus das Leben im Goldenen Zeitalter eines vollkommenen Naturzustands repräsentiert. Als Beleg dafür lässt sich die Interpretation des Verhaltens der an einer neuseeländischen Bucht angetroffenen Vögel heranführen, denn eine Menge kleiner Vögel schienen noch nie eine menschliche Gestalt gesehen zu haben, so unbesorgt blieben sie auf den nächsten Zweigen sitzen, oder hüpften wohl gar auf dem äußersten Ende unsrer Vogelflinten herum, und betrachteten uns als fremde Gegenstände mit einer Neugierde, die der unsrigen einigermaßen gleich kam147.

Dass die Vögel keine Angst weder vor Menschen noch vor Waffen (!) zeigen, wird von Forster ins Symbolische übertragen und als Beweis für die Unschuld und den Urzustand semantisiert. Folgerichtig schließt er aus dieser denkwürdigen Begegnung, »daß in diesem südlichen Theile von Neu-Seeland die Wälder noch unangetastet, in ihrem ursprünglichen wilden, ersten Stande der Natur geblieben sind«, denn auch »der Augenschein beweiset solches beynahe unleugbar.«148 Hier kann man deutlich erkennen, wie durch die Suggestion urweltlicher Lebensformen in fernen Ländern die ideologische Umwidmung der Natur in der Südsee als xenische Kulisse aufbereitet wird. Dabei fällt besonders auf, dass die Ursprünglichkeit der Natur, wie sie etwa am Verhalten der kleinen Vögel festgemacht wird, als eine nur jenseits der »Zivilisation« zu erwartende Faszination stilisiert wird. Etwaige Hindernisse oder Gefahren werden dabei bewusst ausgeblendet. Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass die Evozierung der Naturidylle keinen singulären bzw. isolierten Sachverhalt darstellt. Im Gegenteil: Sie resultiert aus der für das vorherrschende Denken im 18. Jahrhundert charakteristischen Polarisierung, die Uwe Japp in der Formel »Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee« zutreffend beschrieben hat.149 Damit ist eine dialektisch potenzierte Perzeption der Südseekulturen gemeint, in deren unmittelbarer Filiation der Topos der Simplizität steht. Der antiken rhetorischen Tradition entsprechend wird »Simplicitas«, »Simplizität« oder Einfalt in Reisebeschreibungen der Spätaufklärung zu einer charakteristischen Ei-

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AA II, S. 125. Ebd. Uwe Japp, Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee, S. 10f.

genschaft von Menschen außerhalb der Zivilisation stilisiert. Auf diese vorgeprägte Konnotation greift Forster offenbar zurück, wenn er etwa die Bewohner der Insel MatavaiBay als Menschen beschreibt, die ihre Existenz »der glücklichen Einfalt zu verdanken [haben], in welcher sie ihr Leben mit Sorge und Mangel unbekannt zubringen [...].«150 Da Simplizität in der Erwartungshaltung der Aufklärung als Ausdruck der Unverdorbenheit verstanden wird, entsteht durch solche Beschreibungen ein positives Kontrastbild, das Forster zwangsläufig in die Nähe von Jean Jacques Rousseau bringt, auch wenn er sich später vehement von ihm distanziert, was sicherlich dem Desillusionierungsprozess zuzuschreiben ist, der sich kompositorisch am Stimmungsumschwung im Reisebericht ablesen lässt151. Doch wird das Profil der exotischen Tradition auch bei Forster erkennbar. Dies gilt besonders hinsichtlich seines Rekurses auf die sprachsymbolischen Klischees seiner Zeit, in denen die vermeintlich ursprüngliche Güte des Menschen im Naturzustand festgeschrieben wird. So glaubt er während eines Aufenthaltes auf den Societäts-Inseln einen abermaligen Beweis von der ursprünglichen Güte des menschlichen Herzens vor mir zu sehen, das in dem sich selbst überlassnen Stand der Einfalt, von Ehrgeiz, Wollust und andern Leidenschaften noch unverdorben, gewiß nicht böse ist.152

Hier werden Anspielungen und Assoziationsmuster gegenwärtig, die unwillkürlich mit der entlang des Zivilisationsprozesses wieder in Mode gekommenen Sehnsucht nach einem irdischen Paradies153 in Verbindung stehen. Dabei wird Fremdreferentialität nicht nur formal durch jene Epitheta erzeugt, die der Südsee beigelegt werden, sondern vor allem auch durch den inhaltlichen Abstand zu nichteuropäischen Lebensformen: »Was nicht Natur ist«, fassen Böhme/Böhme zusammen, »der Zustand des zivilisierten Menschen, wird erfahren als ein Produkt von Trennung, als der Gewinn von Ausdifferenzierung [...].«154 Genau um das Ausloten der kulturellen, aber auch der anthropologischen Differenz geht es in Forsters Wahrnehmung der Südsee. Daher fügt sich ein nicht unwesentlicher Teil seiner Beschreibung der Südseebewohner in einen symbolträchtigen ikonographischen Rahmen, in welchem nichteuropäischen Menschen nur im Naturzustand ein Platz eingeräumt wird. Nach Karl-Heinz Kohl lässt sich diese Haltung dadurch erklären, dass im Gefolge der Berichte über die Entdeckung Tahitis die Figur des Guten Wilden, wie sie nun in Gestalt des Südseeinsulaners die europäische Szene betreten sollte, eine unerwartete Wiederbelebung erfuhr.155

Mit einer solchen »Wiederbelebung« wird aber nicht immer dasselbe Ziel verfolgt. Deshalb muss man dabei die von Smith vorgeschlagene Unterscheidung zwischen »soft

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AA II, S. 281. Vgl. S. 162ff. AA III, S. 97. Vgl. Yomb May, Das xenologische Epithetum, S. 55–70. Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, S. 28. H. i. O. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 206.

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primitivism« und »hard primitivism«156 im Auge behalten. Der erste Typus erklärt sich aus der Tatsache heraus, dass der »Edle Wilde« als Bewohner des irdischen Paradieses betrachtet wird, das auf die Südsee im Allgemeinen und auf Tahiti im Besonderen projiziert wird. Henri Baudet hat festgestellt, dass im positiven europäischen Denken über den Nichteuropäer der Edle Wilde konzipiert wird als a member of that ideal society whose general characteristics were believed to correspond to certain main features of the paradisiacal condition which had been free of the burden of civilization, knowing neither human wickedness, suffering, nor want.157

Auch in Forsters Reisebeschreibung lassen sich Konturen dieser Denktradition nachweisen, wobei Typisierungen deutlich hervortreten. Als Prototyp des Edlen Wilden betrachtet er einen jungen Tahitier namens Maheime, der sich der Expedition als Informant158 anschließt und sich durch sein tadelloses Benehmen die Sympathie der ganzen Mannschaft sichert. Als Maheime seinen ursprünglichen Plan aufgibt, mit nach Europa zu reisen, findet Forster die Entscheidung für das Herz und die Sitten unsers unverdorbenen Freundes gewiß am zuträglichsten, daß er zurückblieb. Die Pracht von London hat er nun freylich nicht kennen lernen, aber dafür sind ihm auch alle die Gräuel der Sittenlosigkeit unbekannt geblieben, welche die größeren Hauptstädte Europens fast durchgehends mit einander gemein haben.159

Die Formel ›unverdorbener Freund‹ bildet im Gedankenkontext des 18. Jahrhunderts einen Topos, und zwar eine positive Kostrastfigur, die typische Merkmale aufweist. Dadurch wird deutlich, dass Forster auf das Mittel des Kontrastes zurückgreift, um das Bild des »Wilden« im positiven Sinne zu bestimmen. Dabei muss man allerdings wissen, dass die »Verherrlichung des Lebens des Menschen im Naturzustand«160 keine spezifische Erscheinung des 18. Jahrhunderts ist. Betrachtet man diesen Topos genauer, stellt man fest, dass er im Grunde die Säkularisierung und Umdeutung überkommener Projektionen beinhaltet, die sich entstehungsgeschichtlich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Schon Michel de Montaignes Vorstellung von einfachen, glücklichen und friedfertigen Menschen jenseits der europäischen Kultur bereitete den Boden für Topoi vor, die in die Zivilisationskritik des 18. Jahrhunderts Eingang finden sollten.161 Mit Blick auf das 18. Jahrhundert ist es aber vor allem Jean-Jacques Rousseau zuzuschreiben, dass der »Wilde« schließlich jene philosophische Konfiguration erhält, an der sich die Stilisierung der Bewohner überseeischer Kulturen162 orientiert. Nirgendwo

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Bernard Smith, European Vision and the South Pacific, S. 6. Henri Baudet, Paradise on Earth. Some Thoughts on European Images of Non-European Man. New Haven/London 1965, S. 27. Vgl. unten S. 137f AA III, S.113f. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 223. So etwa bei dem Jesuitenpater Joseph François Lafitau, der in seinem 1724 erschienen Werk Moeurs des sauvages ameriquains, comparées aux moeurs des premiers temps zwar von der Gleichsetzung der als wild bezeichneten Menschen mit wilden Tieren abrückt, den Begriff jedoch beibehält. Vgl. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 52ff.

besser als in Reiseberichten wird der von Rousseau in dem Discours sur l’inégalité parmi les hommes (1754) entworfene Typus des »homme naturel«163 nachhaltiger rezipiert. Nach Karl-Heinz Kohl ist der Reisebericht Bougainvilles, in dem die Säkularisierung der positiven Utopie von der Ferne einen bemerkenswerten Niederschlag findet, repräsentativ dafür, »inwieweit die von den Philosophen der Jahrhundertmitte entwickelten anthropologischen Theorien die Sichtweise und das Urteil eines [...] ethnographischen Beobachters bestimmen.«164 Betrachtet man Forsters Reisebericht unter diesem Gesichtspunkt, so werden Momente jener Denk- und Diskurstradition sichtbar, die im 18. Jahrhundert vor allem durch Rousseau und Diderot exponiert wird. Deshalb lässt Forsters obiger Äußerung zum Tahitier Maheime die Annahme zu, dass die Erfahrung von Reisenden auch dem Ziel dient, den spekulativen philosophischen Diskurs zu verifizieren. Ein weiterer Beleg dafür ist Forsters Schilderung der Bewohner der Insel Tahiti als »gutherzig, freundschaftlich und dienstfertig«.165 Hier gilt das Augenmerk solchen Epitheta, die im Kontext der Reisebeschreibung des späten 18. Jahrhunderts eine feste Konnotation besitzen, und zwar im Zusammenhang mit der Figur des Edlen Wilden. Bemerkenswert ist ebenfalls der Abschied von der Insel Raietea, den Forster zum Anlass nimmt, um den Topos des Edlen Wilden in prägnanter Form zu evozieren: Was übrigens ihren Tugenden, als der Gastfreyheit, der Gutherzigkeit und der Uneigennützigkeit, einen doppelten Wert giebt, ist dieses, daß sie selbst sich derselben nicht einmal bewußt, und es gleichsam den Fremdlingen, die zu ihnen kommen, überlassen aus dankbarer Erkenntlichkeit, ihren Tugenden Denkmäler zu stiften.166

Dem Reisenden und Erzähler Forster scheinen die Bewohner von »Oster-Eyland« vor diesem Hintergrund den Beweis dafür zu liefern, »daß sie überall in ihren Character etwas sanftes, mitleidiges und gutherziges haben, welches sie gegen die Fremden so willfährig, und so weit es ihnen das elende Land zu seyn erlaubt, so gastfrey macht.«167 Der Ambivalenz der idealisierenden Züge und Anspielungen in Forster Reisebericht wird in der Forschung kaum gebührende Beachtung gescheckt. Es bedarf aber einer differenzierten Betrachtung, um Modifikationen in Forsters Diskurs zu markieren und sie in einem weiteren Schritt als eine Überwindung der utopischen Tradition zu reflektieren. Setzt man den Naturalisierungsprozess der Insulaner mit der physischen und moralischen Aufwertung des Menschen im Naturzustand168 gleich, dann erfasst man nur eine Dimension des Topos des Wilden und dabei möglicherweise nicht einmal die entscheidende.

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Vgl. Walter F. Veit, Georg Forster and the Topos of Simplicity, in: Walter F. Veit (Hg.), Antipodische Aufklärungen. Antipodean Enligthenments. Frankfurt 1985, S. 489–502, hier vor allem S. 491ff. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 206. AA II, S. 242. AA III, S. 127. AA II, S. 453. H. Fairchild meint: »There is a strong aesthetic element in the Noble Savage idea«, The Noble Savage, S. 9.

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Thomas Lange zeigt zum Beispiel, dass der »Wilde« im Denken der aufgeklärten Europäer eine ambivalente Funktion erfüllt: War der Wilde einerseits Gegentypus der moralischen und politischen Kritik in Europa, so war andererseits seine Kolonisierung und Zivilisierung sichtbarstes Zeichen für den Fortschritt und der Ausbreitung der Aufklärung [...] Der edle Wilde hat als Menschenideal der bürgerlichen Gesellschaftskritik eine Doppelfunktion: er ist Beweis sowohl für die Verwirklichbarkeit der bürgerlichen Ideale wie für die idealisierende Kritik an der bürgerlichen Wirklichkeit.169

Insbesondere für die Verfechter der europäischen Aufklärung und Zivilisation, zu denen Forster ja bekanntlich gehört, wird diese auf den ersten Blick apodiktische Bewunderung des sogenannten »Naturmenschen« erheblich relativiert und gelegentlich sogar in Frage gestellt. Dies wird nicht zuletzt dadurch evident, dass Forster jene Insulaner, die seinen kulturellen Erwartungen nicht entsprechen, als »poor islanders«170 charakterisiert. In diesem Kontext werden »Wilde« als derart rückständig bezeichnet, dass sie keineswegs als Alternative zur Zivilisation vermittelt werden171, da Forster manche von ihnen »in the very barbarous periods of their existence«172 verortet. Der sogenannte »Wilde« wird also neben seinen positiven Zügen auch negativ als unterentwickeltes Geschöpf dargestellt, dessen Erlösung in dem zivilisatorischen Fortschritt der Europäer liegt. Damit wird der zweite Typus von Wilden beschrieben. Allein schon die lexikalische Degradierung des außereuropäischen Menschen zum Wilden folgt dem Kodifizierungsprinzip von Kontrastfiguren, die nicht nur geographisch an der Peripherie der europäischen Kultur angesiedelt werden, sondern auch mit Eigenschaften auftreten, durch die sie nicht zuletzt in anthropologischer Hinsicht eine derogative Stellung in der Welt einnehmen: Der Mensch als Tier ist der primitive Mensch; der von Fortschritt und Entwicklung ausgeschlossene Mensch, der an einem Nullpunkt steckengeblieben ist, wo die Zeit anfängt und noch keine Bedeutung hat. Der Mensch als Tier bildet eine allgemeine Bedrohung oder Herausforderung nicht nur für die Bedeutung von Zeit, sondern für die Bedeutung überhaupt.173

So erscheint es folgerichtig, dass der so genannte »Wilde« – ganz gleich, mit welchen Zuschreibungen er im europäischen Diskurs auftritt – in erster Linie als Antipode, als Kontrastfigur zum Europäer bzw. zum Zivilisierten konzipiert und vermittelt wird.174 Er gehört zu jenem Repertoire diskursiver Symbole, die für die Rechtfertigung der Hierarchisierung des Menschengeschlechts im anthropologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts und danach instrumentalisiert werden. Streng gesehen erfährt der außereuropäische

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Thomas Lange, Idyllische und exotische Sehnsucht: Formen der bürgerlichen Nostalgie in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Kronberg/Ts. 1976, S. 116. AA IV, S. 35. Vgl. hierzu S. 235f. AA IV, S. 45. Christopler L. Miller, Lesen mit westlichen Augen. Frankophone Literatur und Anthropologie in Afrika, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1996, S. 229–261, hier S. 239. Vgl. Urs Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976.

Mensch im Zuge seiner Konstruktion als Bestandteil der Natur weniger eine Aufwertung als vielmehr eine Abwertung mit der Folge, dass ihm vollmenschliche Qualitäten abgesprochen werden.175 Auch in dieser Hinsicht liefert die Reise um die Welt zum Teil erstaunliche Passagen, welche Ambivalenzen in Forsters Haltung gegenüber Insulanern hervortreten lassen. Bemerkenswert ist die Begegnung mit einem 14-jährigen Insulaner im Mai 1773 auf Neuseeland: Wir nahmen ihn mit uns in die Cajütte, und behielten ihn zu Tische, wo er sichs tapfer schmecken ließ. Unter andern verzehrte oder verschlang er vielmehr, mit recht gefräßigem Appetit, ein Stück von einer See-Raben-Pastete [...] Der Capitain schenkte ihm Madera-Wein ein, wovon er etwas mehr als ein Glas trank, anfänglich aber viel saure und schiefe Gesichter dabey machte. Als hierauf ein Flasche von ganz süßem Cap-Wein auf den Tisch kam, so ward ihm auch davon ein Glas vorgesetzt; dieser schmeckte ihm so gut, daß er die Lippen ohne Aufhören darnach leckte, und bald noch ein zweytes verlangte, welches ihm auch gegeben ward. Nunmehr fieng er an überaus lebhaft und gesprächig zu werden. Er tanzte in der Cajütte herum, und verfiel mit einem mal darauf des Capitains Boot-Mantel zu haben[...]Als er eine abschlägige Antwort hierauf bekam, ward er sehr verdrüßlich [...] so lief er im größten Zorn zur Cajütte hinaus. Auf dem Verdeck fand er einige unsrer Bedienten, die Leinenzeug zusammenlegten, welches sie getrocknet hatten. Von diesem hatte er in einem Augenblick ein Tischtuch weggehascht; man nahm es ihm aber gleich wieder ab. Nun wußte er sich gar nicht mehr zu bändigen, er stampfte mit den Füßen, drohte, brummte oder grunzte vielmehr etwas zwischen den Zähnen her, und ward zuletzt so tückisch, daß er kein Wort mehr sprechen wollte. Die empfindliche, leicht zu beleidigende Gemüthsart dieses Volks zeigte sich nirgends deutlicher als in dieses Knaben Betragen; und wir sahen bey dieser Gelegenheit, welch ein Glück es für sie ist, daß sie von berauschenden Getränken nichts wissen, denn dergleichen würde sie ohnfehlbar noch wilder und unbändiger machen.176

Die Sprachsymbolik dieser Beschreibung ist deshalb bemerkenswert, weil sie durchgehend ins Tierische verweist. Der Indianer isst nicht, sondern er »verschlingt«, er spricht nicht, sondern er »brummt« oder »grunzt« und soll schließlich dem Alkohol fernbleiben, da er sonst noch »wilder« und »unbändiger« werden könnte. »Nie zuvor« stellen Elisabeth Luchesi und Nadja Taskov-Köhler fest »war in der europäischen Einschätzung der Wilde dem Tier so nahe gekommen wie in dieser Zeit: Die wilde Umgebung wurde mit der Wildheit ihrer Bewohner in eins gesetzt.«177 Der Prototyp des »bösen Wilden«, den Forster in der oben zitierten Passage porträtiert, wird mit deutlich negativen Merkmalen als Komplementär zur Figur des »Edlen Wilden« inszeniert. Damit wird eine narrative Struktur sichtbar, die keineswegs im Dienst einer apologetischen Repräsentation der Südsee steht, sondern vielmehr Forsters Berührung mit dem konservativen Denken des 18. Jahrhunderts – was nicht zuletzt an seinen abfälligen Sprachgebrauch hinsichtlich der Insulaner erkennbar ist – vor Augen führt. Gerade die Verwurzelung im Diskurs der Aufklärung macht es Forster zunehmend schwer, einen neutralen Sprachduktus gegenüber Insulanern anzuwenden. Für ihn sind

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Vgl. Uta Sadji, Der Negermythos am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Frankfurt/M. 1979. AA II, S. 185. Elisabeth Luchesi, Nadja Taskov-Köhler, Die Wilden und das Wilde, S. 152.

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Neuseeländer Menschen, »die ohne Überlegung und Billigkeit, immer nur nach Instinkt und Eigensinn zu Werke gehen.«178 Zahlreich sind solche Beispiele, die jenes antagonistische Bild ersichtlich machen, von dem die Figur des »Wilden« seit der europäischen Renaissance geprägt ist. Aber auch Forsters Wortschatz lässt eine dialektische Spannung in seiner Wahrnehmung der ihm fremden Menschen und Kulturen erkennen. Bemerkenswert dabei ist, dass er sich in den herrschenden Diskurs seiner Zeit einschreibt, etwa mit Projektionen über den guten, aber ›primitiven‹, eine ›Vorzeit‹ repräsentierenden Wilden. Anhand der verschiedenen Epitheta und Merkmale, die dabei zum Ausdruck kommen, wächst der geographischen und kulturellen Ausgrenzung außereuropäischer Kulturen nun auch eine anthropologische Dimension zu. Der Insulaner als Inbegriff des Fremden, wie ihn Forster den Lesern seiner Zeit vermittelt, wird dadurch nicht bloß als der Andere, sondern als Träger dessen ausgewiesen, was Forster stellvertretend für seine Zeit in positiv verklärender oder in negativ ablehnender Kodifizierung als Differenz sui generis empfindet. Freilich ist das Problem dieses Sachverhalts weniger in der formalen Symbolik zu suchen. Vielmehr scheint die feste Konnotation der Begriffe und Epitheta, derer Forster sich bedient, der eigentliche Grund zu sein, warum er keinen neutralen Zugang zu den Kulturen der Südsee finden kann. Denn die Insulaner werden von ihm tendenziell als Prototypen porträtiert, die er je nach Konstellation einer der beiden Erscheinungsformen des »Wilden« zuordnet. Eine Individualisierung findet selten statt. So behält der »Wilde« auch bei ihm unweigerlich sein ideologisches Substrat als Kontrastwert zum Zivilisierten. Ohne dieses Substrat würde der »Wilde« seine Funktion als Repräsentant vom ›Anderen der Vernunft‹ und damit als Antipode verlieren. Daher kann man nachvollziehen, warum Forster mit der Figur des Wilden jene Dichotomie aufrechterhält, welche die gesamte geistes- und kulturgeschichtliche Begegnung zwischen Europa und der überseeischen Welt geprägt hat. Allein schon die Inkonsistenz in der begrifflichen Nomenklatur, die sich durch den abwechselnden Gebrauch der Bezeichnungen »Wilde«, »Indianer«, oder »Tahitier« manifestiert, macht einen aufgeklärten Umgang mit den Insulanern schwierig. Umso mehr verdient es hervorgehoben zu werden, dass sich Forster im Unterschied zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen der Äquivokationen bewusst ist, die der Stilisierung des nichteuropäischen Menschen anhaften: In meinem Exemplar von Carterets Reisebeschreibung [...] lese ich [...]: daß die Einwohner der Freewills Eilande von der gewöhnlichen Kupferfarbe der Indianer sind. Das wahre indische Gelb, welches Herr K. an dieser Stelle ließt, habe ich nicht finden können. Durch das Wort Indianer werden hier keineswegs die gelbbraunen Hindus, sondern überhaupt solche Menschen bezeichnet, die man sonst mit einem nicht weniger schwankenden Ausdruck, Wilde nennt.179

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AA II, S. 195. AA VIII, S. 135f. (H.i.O.). Diese Bemerkung ist insofern aufschlussreich, als sie deutlich macht, dass Forster zwar auf den Sprachgebrauch seiner Zeit zurückgreift, aber nicht dessen Inhalte reproduziert. Dies lässt sich beispielsweise bei Bougainville nicht beobachten. Dort werden die Termini Indianer, Wilde und Insulaner ohne jeglichen Ansatz einer kritischen Reflexion gebraucht.

Die sprachsymbolisch festgelegten Termini »Wilde« oder »Indianer« deuten auf eine Anomalie in der europäisch-überseeischen Kulturbegegnung hin, an die die Wissenschaften der Anthropologie und Ethnologie entstehungsgeschichtlich anknüpfen sollten.180 Folgerichtig ist das »Doppelbild Wilden«181 – ob mit dem neuzeitlichen Epitheton »böse« oder mit der aufgeklärten Verklärung zum edlen Wesen – auch in Forsters unterschiedlichen narrativen Mustern als ein pervertiertes Menschenbild in das europäische Bewusstsein eingetreten. Nirgendwo besser als in diesem Topos, der über die Zeit der Aufklärung hinaus eine populäre Instrumentalisierung erfahren sollte182, sieht Duala M’bedy zu Recht eine »Verzerrung des Menschenbildes« vollzogen, die »seit der europäischen Renaissance zu einem Charakteristikum des europäischen Denkens geworden ist.«183 Die anthropologische Diskussion des 18. Jahrhunderts und der darauf folgenden Epochen liefert dafür einschlägige Beweise.184 Die bisher angeführten Beispiele machen bereits deutlich, dass die einzelnen Südseebilder, auf die Forster rekurriert, keine isolierten Topoi und keine rein subjektive Wahrnehmungsmuster des Autors darstellen. Sie sind Bestandteile eines ikonographischen Systems, in dem die europäische Selbst- und Fremdreferenzialität artikuliert wird. So lässt sich erklären, dass sowohl bei Bougainville als auch bei Forster – um nur zwei prominente Beispiele unter den Weltreisenden der Spätaufklärung zu nennen – die Schönheit der Landschaft, wie sie Tahiti zugeschrieben wird, zu einer erotischen Ikonographie überleitet: les chants, la danse presque toujours accompagnée de postures lascives, tout rappelle à chaque instant les douceurs de l’amour, tout crie de s’y livrer.185

Insbesondere die Verknüpfung der Schönheit der Landschaft mit erotischen Momenten bildet eine folgenreiche Kodifizierung der Südsee als eine fremde Kultur, die sich angeblich den Rationalitätsstrukturen der Aufklärungszeit entzieht, aber zugleich in der weiblich – verführerischen Semantisierung zur europäischen Eroberung einlädt.186 Diese Konfiguration der Südsee ist aufgrund der Überlappung von positiven und negativen

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Wolf-Dietrich Schmied-Kowarzik argumentiert zwar völlig zu Recht, dass die Ethnologie dieses Erbe abgelegt hat, er gibt aber zugleich zu, dass diese Wissenschaft gerade in Entwicklungsländern mit begründeter Skepsis betrachtet wird. Vgl. Wolf-Dietrich Schmied-Kowarzik, Xenologie und Ethnologie, S. 30–40, insb. S. 31. Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte, S. 209. Die Figur des Indianers als auch die des Wilden haben auch für die Literatur des 19. Jahrhunderts eine wichtige Inspirationsquelle. Dies zeigt sich insbesondere an den von Karl May bearbeiteten Motiven, Stoffen und den inszenierten Figuren, die auf den Kontrast zwischen westlicher Zivilisation und der Wildheit außereuropäischer Kulturen angelegt sind. Munasu Duala M’bedy, Xenologie, S. 13. Vgl. S 227f. Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 146. Diesbezüglich schreibt Anne McClintock, »Women are the earth that is to be discovered, entered, named, inseminated and, above all, owned«. Anne McClintock, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality. London 1995, S. 31. Vgl. ebenfalls Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 100ff.

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Momenten dialektisch strukturiert. Wenn beispielsweise Bougainville die Insel Tahiti als »Nouvelle Cythère«187 bezeichnet, dann suggeriert er nicht nur den kultischen Ort der freien Liebe, sondern er spielt gleichzeitig auch auf eine im Europa der Aufklärungszeit verdrängte ungezügelte Sinnlichkeit an, in welcher der Insulaner angeblich verhaftet geblieben ist: »Vénus est ici«, notiert er, »la déesse de l’hospitalité, son culte n’y admet point de mystères, et chaque jouissance est une fête pour la nation.«188 In diesem Sinne werden insbesondere die in sexueller Hinsicht auffälligen Tahitier auch bei Forster als Gegensatz zur Zivilisation dargestellt, folgen sie doch lediglich einem animalischen Trieb, den das zivilisierte Subjekt hinter sich gelassen haben will. Bezeichnenderweise werden Tahitierinnen von Forster zum Teil als »Nymphen« apostrophiert, »davon die eine in dieser, jene in einer andern verführerischen Positur [...], so nackt als die Natur sie gebildet hatte.«189 Die sich hier artikulierende Ambivalenz, welche in der Verschmelzung positiver und negativer Konnotation der erotisierten Südsee dokumentiert wird, macht sich insbesondere in einer abwechselnden Bewunderung und Ablehnung der Südsee-Inseln bemerkbar.190 Dies hat zur Folge, dass es auch Forster nicht gelingt, »ein einheitliches, normalisiertes Bild der männlichen und weiblichen Geschlechtercharaktere herzustellen.«191 Zunächst – und vermutlich unter dem Einfluss Bougainvilles – erscheinen Tahiti und andere Südsee-Inseln auch bei Forster als Chiffre der weiblichen Schönheit. Tahiti wird dabei sogar zur »Königin der tropischen Inseln« erhoben, auf die »jedermann die Augen, fest […] hingerichtet« hält,192 weil dort besonders in sexueller Hinsicht die »Freiheit des Goldenen Zeitalters«193 praktiziert werde. Doch gehen diese metaphorischen Konstrukte über die positive Utopie hinaus. So charakterisiert Forster die Tahitier zum Teil pauschalisierend als »Creaturen [...], die alle Pflichten des gesellschaftlichen Lebens hintan setzten und sich lediglich viehischen Trieben überließen.«194 Offenbar wird die tahitische Frau als Beispiel der unvollkommenen menschlichen Natur nun auf zwei komplementäre Merkmale reduziert, nämlich die »viehische«, d. h. ungeregelte Triebbefriedigung und die Nacktheit, wodurch ihre wilden Affekte physisch exponiert werden. Obwohl diese abwertende Äußerung gerade im Hinblick auf Tahiti nur punktuell zum Ausdruck kommt, ist sie stellvertretend für eine Wahrnehmungsperspektive, die im Hinblick auf die durch die Aufklärung sanktionierte Kodifizierung der Fremdheit besonders aufschlussreich erscheint: Nicht der Verstand oder die Vernunft, die Forster

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Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 137. Ebd., S. 128. AA II, S. 226. Dies macht eine der Besonderheiten von Forsters Reisebericht aus. Die Tendenz der Forschungsliteratur, Forster in eine bestimmte Ecke zu drängen, resultiert oft aus einer wenig differenzierten Lektüre, die seinem Werk nicht gerecht wird. Carola Hilmes, Georg Forsters Wahrnehmung und Beschreibung der fremden Frauen auf Tahiti, in: Manfred Beetz u. a. (Hg.), Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 139–155, hier S. 143. AA III, S. 42. Ebd. AA II, S. 278.

stillschweigend als Maßstab für Kultur und Zivilisation voraussetzt und als Errungenschaft der aufgeklärten europäischen Gesellschaft hypostasiert, sondern ausschließlich die Lust diktiert das Leben des Wilden. Die binäre Gegenüberstellung von Rationalität und Irrationalität als Grundschema in der Konstruktion der europäischen Antipoden wird auch an dieser Stelle augenfällig. So wird die bei Forster oft angesprochene Nacktheit der Insulanerinnen als Ausdruck der »erhöhten sexuellen Bereitschaft« und als Gegensatz zur »Keuschheit im europäischen Sinne« interpretiert.195 Daraus folgt, dass auch die Beschreibung der Südsee-Frauen nicht konstant bleibt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Forster schreibt, die »hiesigen liederlichen Weibspersonen« würden ihre »Bacchanalien«196 im »Dienst Cytherens«197 feiern. In diesem symbolischen Kontext gilt die tahitische oder polynesische Frau nicht als begehrenswerte Schönheit, sie vertritt eher eine pervertierte Moral, weil sie eine ungezähmte Sexualität auslebt, die aus der Perspektive der Aufklärung das Irrationale und damit das Fremde verkörpert.198 In seinem späterem Aufsatz Leidfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit (1789) formuliert Forster einen weiteren Grund, der seine negative Bewertung des sexuellen Lebens in der Südsee nachvollziehbar macht: Nur solche Völker, die in ihrer früheren Periode der Wollust glücklich entgangen [....] sind, können und müssen zuletzt den höchsten Gipfel der Bildung ersteigen, wo die ganze Energie unseres Wesens sich in den feineren Werkzeugen der Empfindung und des Verstandes am thätigsten erweiset.199

Allgemein scheint sich bei Forster die Tendenz durchzusetzen, dass Insulanern jene Eigenschaften abgesprochen werden, die er als »Conventions-Tugenden«200 bezeichnet und als exklusive Errungenschaften der europäischen Kultur und Zivilisation vermittelt. So leitet er aus der spärlichen Schambedeckung, die er bei den Mallikolesen beobachtet, die Behauptung ab, [d]aß [...] Schamhaftigkeit […] nicht Antheil daran zu haben [scheint], denn diese sowohl als die Keuschheit, sind bloße Folgen unserer Erziehung, nicht aber angebohrne Begriffe [...] Bey allen rohen ungebildeten Völkern findet man augenscheinliche Beweise, daß Schaam und Keuschheit, im Stande der Natur, ganz unbekannte Tugenden sind201

Um den angedeuteten Unterschied von Natur und Zivilisation zu untermauern, stellt Forster sogar die Vermutung auf, dass die Männer auf der Insel Mallicollo

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Chistiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 111f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Georg Forster schreibt in diesem Zusammenhang: »Ihre Begriffe von weiblicher Keuschheit sind in diesem Betracht so sehr von den unsrigen verschieden, daß ein unverheirathetes Mädchen viele Liebhaber begünstigen kann, ohne dadurch im mindesten an ihrer Ehre zu leiden« (AA II, S. 187). AA VIII, S. 192. AA III, S. 181. AA III, S. 181.

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bey Erfindung der angeführten Tracht und Hülle ohnmöglich die Absicht gehabt haben, unzüchtigen Gedanken vorzubeugen; indem sie durch die Form jener Bekleidung mehr befördert als verhindert werden. Eben also käme es auch bey den Weibern noch auf die Frage ab, ob sie den elenden Strohwisch, der ihnen statt Schürze dient, nicht vielmehr aus Begierde zu gefallen, als aus Gefühl von Schaamhaftigkeit tragen?202

Die Tragweite dieses Diskurses, der Nichteuropäer als das »Andere der Vernunft« festschreibt, besteht in der suggerierten Annahme, dass die wilden Frauen der Südsee zwar nach dem europäischen Geschmack schön und bis zu einem gewissen Grad begehrenswert sind, aber gemessen an den durch die Aufklärung sanktionierten, bürgerlich-keuschen Verhaltensstandards Europäerinnen nicht ebenbürtig sein können. Problematisch ist die Perspektive deshalb, weil hier Fremdheit mit Minderwertigkeit und im Extremfall sogar mit Kulturlosigkeit gleichgesetzt wird. Folgerichtig entsteht der Eindruck, dass bei Menschen auf den Südsee-Inseln ein Defizit im Hinblick auf bürgerliche Tugenden vorherrscht. Diese oft ins Negative gewendete Darstellung der Insulaner basiert, ebenso wie die positive Gestaltung einer verklärenden Utopie, auf einer klaren Dichotomie von europäischer Verstandeskultur auf der einen und dem südpazifischen Triebleben auf der anderen Seite. Die Ansicht, dass Forsters Wahrnehmung der Südsee »überwiegend im Einklang mit den Strömungen der Zeit [steht]«, ist vor allem deswegen folgerichtig, weil die in seinem Reisebericht generierten Topoi in positiver wie in negativer Konnotation ein »Gegenbild zu der eigenen Realität«203 suggerieren: Die in Europa kursierenden Vorstellungen von den Bewohnern fremder Welten pendeln zwischen den Extremen von wilden Barbaren einerseits und glücklichen Kindern der Natur andererseits – je nachdem, ob man von der Überlegenheit der eigenen Zivilisation überzeugt ist oder sich nach einer verlorenen Natürlichkeit sehnt, die man in den primitiven Kulturen erhalten glaubt.204

Vergegenwärtigt man sich das diskursive Bezugsfeld, auf das Forster zurückgreift, um die Menschen und Kulturen im Südpazifik als Fremde schlechthin erscheinen zu lassen, so werden Denkfiguren sichtbar, die zwar nicht ausschließlich im Zeitalter der Aufklärung entstanden sind, aber dort mittels des Vernunftbezugs zur Stilisierung außereuropäischer Kulturen instrumentalisiert werden. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die assoziative Verknüpfung von Symbolen aus dem exotischen und erotischen Bereich. Welche Intention auch immer durch die Verklärung der Ferne oder ihre Schilderung via negativa verfolgt wird, die kulturelle und/oder anthropologische Antinomie bleibt ein wichtiges, dialektisches Moment im Reisebericht Forsters. Ihm liegt die Erwartungshaltung eines zumindest im Hinblick auf Nachrichten aus der Neuen Welt sensationsgewohnten Lesepublikums zugrunde. So ist die Tatsache folgerichtig, dass Forsters Leser der Versuchung erlegen sind, aus seinem Reisebericht jene Phantasien herauszu-

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Ebd. Horst Dippel, Vorbemerkung, in: Georg-Forster-Studien IX (2004), S. VIII. Alois Prinz, Das Paradies ist nirgendwo. Die Lebensgeschichte des Georg Forster. Weinheim 1997, S. 86.

lesen, welche in der öffentlichen Wahrnehmung der Südseeberichte vorherrschten; doch trifft die Behauptung, Forster sei ein Vorkämpfer der romantischen Wahrnehmung der Südsee,205 trotz offenkundiger Idealisierungstendenzen und der Übernahme überkommener Topoi nicht zu. Dementsprechend argumentiert zum Beispiel Gerhard Steiner, dass sich Forsters Beschreibung der Südsee »weniger in der Übernahme von Stoffen und Motiven als in einer Verstärkung ihrer gesellschaftlichen Einstellung zeigt.«206 Ihm zufolge gehört die Tatsache, dass Forsters Schilderungen »in einer für Wunschbilder anfälligen Zeit phantastischer Idyllik Nahrungen gaben«207, zu den Grundparadoxa der Reise um die Welt. In der Tat weist der Kunsthistoriker Bernard Smith darauf hin, dass die auch in Forsters Reisebericht stellenweise anzutreffende Wiedergabe der Landschaft und Menschen ein durch die europäische Brille gefiltertes Bild von Tahiti als einer Art Arkadien zur Folge hatte.208 Man kann sich vor diesem Hintergrund der Vermutung nicht erwehren, dass die Übernahme des eingeschliffenen Symbolapparates durch Forster wirkungsgeschichtliche Folgen haben musste, die der Autor womöglich nicht intendiert hat.209 Dennoch zeigt die damalige projektive Rezeption der Reise um die Welt, dass die vor allem positiv konnotierten Bilder zum Teil die Sehnsucht nach dem irdischen Paradies, welcher der Autor – wie später nachgewiesen werden soll210 – entgegen tritt, erst recht hervorgerufen oder gar zementiert haben. Exemplarischen Charakter erhalten dabei zwei in den Jahren 1777 und 1806 von aufgeklärten Gelehrten, insbesondere Mitgliedern des »Göttinger Hains« initiierte Auswanderungspläne nach Tahiti, wobei Forsters Werk ausdrücklich als Auslöser solcher Pläne genannt wird.211 Obwohl diese Pläne nicht umgesetzt wurden,212 ist ihre Entstehung ein deutliches Indiz dafür, dass Forster von einer zumindest unbewussten Mitwirkung an der europäischen Rezeption der Südsee als eines irdischen Paradieses nicht freigesprochen werden kann. Der Grund dafür ist der schwärmerische Ton, in dem weite Teile seiner Südseebeschreibung, insbesondere dabei der Aufenthalt auf Tahiti, gehalten ist. Der Göttinger Professor Christoph Meiners schreibt in seiner Rezension, die in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen von 1778 erschienen ist, Forsters Reisebericht sei mit »blendenden

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Winfried Volk, Die Entdeckung Tahitis und das Wunschbild der seligen Insel in der deutschen Literatur. Heidelberg 1934, S. 11. AA IV, S. 182. Ebd., S. 185. Vgl. Bernard Smith, European Vision and the South Pacific, S. 43f. Vgl. Uwe Quilitzsch, Georg Forster in Wörlitz. Begegnung mit Reform und neuer Kunst, in: Detlef Rasmussen (Hg.), Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethezeit. Tübingen 1988, S. 12–20, hier S. 14. Dieser Aspekt wird im 4. Kapitel der vorliegenden Untersuchung schwerpunktmäßig behandelt. In Deutschland löst Forsters Reisebericht kurz nach seinem Erscheinen ein Tahiti-Fieber aus. Einige Mitglieder des sogenannten »Göttinger Hains« erarbeiten einen Plan, um nach Tahiti auszuwandern. Keinen Geringeren als Forster selbst versuchen sie als Anführer zu gewinnen. Vgl. Alois Prinz, Das Paradies ist nirgendwo, S. 122f sowie Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 169f. Vgl. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 107.

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Schilderungen« behaftet, in denen »Vergleichungen zwischen den Europäern und den Bewohnern der Südseeinseln zum Nachteil der erstern« ausfielen.213 In seiner »Antwort an die Göttingischen Recensenten«214 wendet Forster ein: »Obschon Rec. hierinn Recht hat, wird mir der größte Haufen der Leser diesen Fehler doch gern vergeben, und auch für den großen Haufen muß man schreiben.«215 Forster macht in dieser Replik deutlich, dass ihm die Ambivalenz seines Reiseberichts durchaus bewusst ist. Zwar entspricht die Anforderung, auch für den »großen Haufen« zu schreiben, dem gesamtgesellschaftlichen Anspruch der im 18. Jahrhundert entstehenden und alle gesellschaftlichen Schichten ansprechenden Buchkultur,216 doch wird gerade in Reiseberichten auch typisch bürgerlichen Sehnsüchten entsprochen. Daher stellt Gerhard Steiner fest, »[d]aß die Südseeromantik in Deutschland mit ihren verschiedenartigen literarischen Gestaltungen von Forsters Buch außerordentlich gefördert worden ist [...].«217 Der Grund scheint in der allgemeinen Popularität zu liegen, der sich das Tahiti-Bild schon vor dem Erscheinen von Forsters Reisebericht erfreut. Die projektive Lektüre von Forsters Reise um die Welt ist ein hinreichender Indikator dafür, dass der Glaube an Mythen der Ferne auch am Ende der Aufklärungsepoche noch nicht vollständig überwunden ist. Deshalb entgeht Forsters Zeitgenossen jener Anspruch von dessen Reisebericht, in dem sein Selbstverständnis als reflektierender Intellektueller der Aufklärungszeit manifest wird. Doch wenn Forster beispielsweise bemerkt, dass es während einer Entdeckungsreise »sehr leicht [ist], selbst die ödeste Küste für das herrlichste Land in der Schöpfung anzusehen«,218 dann formuliert er eine Warnung gegen eine naive Rezeption der Reiseberichte: »Vielleicht findet sich auch unter den Ausgüssen der Phantasie«, schreibt er in der oben erwähnten Antwort an den Rezensenten, hie und dort ein Gedanke, der nicht ganz alltäglich ist, der vielleicht in ungewöhnlichem Lichte erscheint, der endlich warmes Menschengefühl, Bewunderung der Natur, richtigere Beurtheilung ihrer Vollkommenheiten, Zufriedenheit und Bestreben nach vernünftigem Genuß und Ausübung des irdischen Guten in manchem Herzen rege macht, welches auf so etwas nur selten gedacht, und just in diesem Werke nicht gesucht hätte.219

Gerade auch solche Ideen, die »nicht ganz alltäglich« sind, ermöglichen die Einordnung von Forsters Werk in den intellektuellen Umbruchkontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Denn anders als viele seiner Zeitgenossen und Nachfolger sieht Forster die überkommenen Südsee-Bilder auch dann nicht als sakrosankte historische Fakten an, wenn

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AA, IV, S. 154. Ebd., S. 51–60. Ebd., S. 57. Vgl. die grundlegende Arbeit von Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987. Schön schildert eindrucksvoll die mediale Dynamik der Literalität im 18. Jahrhundert als Umbruchsphänomen der Aufklärungszeit. Vgl. auch Cornelia Epping-Jäger, Die Inszenierung der Schrift. Der Literalisierungsprozeß und die Geschichte des Dramas. Stuttgart 1996. Gerhard Steiner (Hg.), Georg Forster, Reise um die Welt. Frankfurt/M. 1983, S. 1028. AA II, S. 123. AA IV, S. 58.

er auf sie rekurriert. Dies zeichnet Forsters selbstreflektierendes Denken aus, in dem die Südsee nicht mehr nur als Projektionsfläche instrumentalisiert, sondern zunehmend als Ort der wissenschaftlichen Herausforderung und der sich aufklärenden Zivilisation wahrgenommen wird. Darin zeichnet sich Forsters Auffassung der Weltreise als Paradigma eines umfassenden Programms der Aufklärung ab, was folgerichtig die Frage nach seinen eigenen erkenntnistheoretischen Grundsätzen aufwirft.

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IV. Erkenntnistheoretischer Grundriss

1.

Vorbemerkung

In seiner 1965 erschienenen Dissertation konstatiert Ludwig Uhlig – einer der profiliertesten Forster-Kenner – im Hinblick auf Forsters Werk den »Mangel eines äußerlich erkennbaren, allen Teilen gemeinsamen Bezugspunktes, der dem Ganzen ein Zentrum gäbe.«1 Ein rezenter Aufsatz ergänzt diese Feststellung: Über die Jahre hin kehrte Forster immer wieder zu bestimmten Fragen zurück, die vom Erlebnis der Weltreise in ihm erweckt worden waren und um deren Beantwortung er sich in wiederholten Neuansätzen bemühte. Einerseits bezeugt die Wiederkehr gewisser Denkformen die Kontinuität dieser Überlegungen, andererseits aber lassen Abwandlungen und sogar Widersprüche darin erkennen, dass Forster von den Problemen, die sich hier erhoben, immer weiter beunruhigt wurde und sich mit keiner eindeutigen Lösung zufrieden geben konnte2

Freilich muss sich eine Auseinandersetzung mit der Frage nach den erkenntnistheoretischen Grundsätzen Georg Forsters diese Einschätzung bewusst machen. Schon dem flüchtigen Blick fällt auf, dass eine solche Theorie »nicht die Frucht einer planmäßigen Beschäftigung mit den behandelten Problemen« ist3. Denn von seiner Reise um die Welt und den Ansichten vom Niederrhein (1791–94) abgesehen hat Forster kein anderes abgeschlossenes größeres Werk hinterlassen. Eine konsistente und systematische Erkenntnistheorie lässt sich nicht unmittelbar aus der Reise um die Welt herauslesen, wohl aber gibt es eine Vielzahl in Briefen, Aufsätzen und Rezensionen verstreuter programmatischer Aussagen, die einen relativ homogenen Befund ergeben. Immer wieder geht es um den richtigen Zugang zur Erkenntnis und immer wieder versucht Forster seine Positionen zu bestimmen, die gerade auch im Hinblick auf sein interkulturelles Denken besonders aufschlussreich sind. In einem Brief vom 2. Januar 1789 an Friedrich Heinrich Jacobi vergleicht Forster seine Arbeitsweise mit einer »unaufhörlichen Rotation«, die Einblick in eine teilweise inkonsequente Gestaltung seiner Gedanken gewährt, denn »[w]enn ich so etwas fertig

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Ludwig Uhlig, Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit, S. 18. Ludwig Uhlig, Der Ertrag der Weltreise für Georg Forster, in: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 100 (2005), S. 129–135, hier S. 132. Die Mehrzahl der in den Kleinen Schriften enthaltenen Aufsätze sind Fragmente oder haben inhaltlich einen fragmentarischen Charakter, da die darin aufgeworfenen Fragen selten zu Ende diskutiert werden. So Gerhard Steiner in seinen Erläuterungen zu Forsters Kleinen Schriften zu Kunst und Literatur AA VII, S. 438.

habe«, ist dem selben Brief zu entnehmen, »möchte ich gleich im nächsten Augenblick ins Feuer damit.«4 Diesen Schritt vollzieht Forster glücklicherweise nicht. Nicht zuletzt deshalb gewinnt man bei einer genaueren Lektüre nicht nur der Reise um die Welt, sondern auch der Kleinen Schriften5 den Eindruck, dass er sich zeitlebens mutatis mutandis und vor allem rastlos an Kontroversen zu heuristischen Fragen seiner Zeit beteiligt hat6. Dementsprechend muss man bei der Rekonstruktion seiner erkenntnistheoretischen Positionen nicht nur »den Wandel in der wissenschaftlichen Blickrichtung und Arbeitsweise«7, sondern auch offene Fragen und Widersprüche mit einbeziehen. Die heterogenen, in Essays, Rezensionen und Briefen verstreuten Entwürfe programmatischer Aussagen, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, gehören sowohl formal als auch inhaltlich zu den von Forster immer wieder aufgegriffenen, aber nie zu Ende gebrachten erkenntnistheoretischen Neuansätzen. Es fällt zudem auf, dass die Fragmente, in denen Forster seine Erkenntnisprinzipien niedergelegt hat, historio-genetisch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Sie verdanken ihre Entstehung teils praktischen und subjektiven Erfahrungen (so z. B. in der Reise um die Welt), teils sind sie das Ergebnis von Stellungnahmen auf punktuelle Streitfragen der Zeit (so etwa der Streit mit Kant), in die Forster bisweilen zeitkritische, in jedem Fall auf erkenntnistheoretischem Niveau gehaltene Reflexionen eingestreut hat.8 Behält man dies im Blick, dann erscheint die Frage, »ob Forster selbst seine Schriften als Theorie oder als Praxis verstanden habe«9, überflüssig, denn damit werden zwei Ebenen gegeneinander ausgespielt, die aber in Forsters Schriften in einem intensiven Wechselverhältnis zueinander stehen. Die Offenlegung der Grundzüge jener programmatischen Erkenntnisprinzipien und -leitlinien, die Forsters Weltbild nachhaltig geprägt haben, eröffnet einen wichtigen Zugang zu spezifischen Zügen in seiner Denkweise.

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AA XV, S. 231. Forsters Kleine Schriften umfassen 2 Bde. Der erste Band erschien 1789 unter dem Titel: Kleine Schriften. Ein Beitrag zur Völker- und Länderkunde, Naturgeschichte und Philosophie des Lebens (AA V). Der zweite und letzte Band kam 1797 unter dem Titel Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. (AA VII) heraus. Als Rezensent, Reisender und Reiseschriftsteller, sogar seine politischen Schriften zeugen davon. Ludwig Uhlig, Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 21. Zuerst hat Friedrich Schlegel darauf hingewiesen, dass Forsters Widersprüche ein heuristisches Moment enthalten. Vgl. Friedrich Schlegel, Georg Forster, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken 1796–1780, hg. v. Hans Eichner. München 1967, insbesondere S. 87. Dies ist insbesondere im Hinblick auf Forsters Buchkritiken, in Übersetzungen und seinen meist kommentierten Bearbeitungen von Texten und Reiseberichten anderer Autoren der Fall. Christa Krüger, Georg Forsters und Friedrich Schlegels Beurteilung der Französischen Revolution als Ausdruck des Problems einer Einheit von Theorie und Praxis. Göppingen 1974, S. 210.

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2.

Empirie und ordnende Systematik

In seinen 1792 erschienenen »Vorlesungen über allgemeine Naturkenntnis« notiert Forster nicht ohne Emphase über die prägende Bedeutung seiner Teilnahme an der zweiten Weltreise James Cooks: Die praktische Erforschung der Natur erfordert Muße, Hülfsmittel und Gelegenheiten, die nur durch einen besondern Glückswurf uns zu Theil werden können. Meine Jugendjahre waren diesem beglückenden Geschäfte geweiht; der größte Schauplatz, den ein Mensch betreten kann, um die Wunder des objektiven Daseyns zu beschauen, that sich mir auf: ich umschiffte die Erde. Ich verdanke dieser Schiffahrt die Entwicklung einer Anlage, welche von Kindheit an meine Richtung bestimmte, nämlich eines Bemühens, meine Begriffe zu einer gewißen Allgemeinheit zurückzuführen […] denn sie waren das Resultat jener Einsammlungen praktischer Kenntniße und des Nachdenkens über Erfahrungen10

Tatsächlich bringt der europäische Aufbruch in die südpazifische Inselwelt, wie er im zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung als Ausdruck einer wissenschaftlichen Neukonzeption von Entdeckungsreisen analysiert worden ist, auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht einen Paradigmenwechsel mit sich. Dieser artikuliert sich nicht nur, aber vor allem auch in der zunehmenden Infragestellung der abenteuerlich ausgeschmückten Berichte früherer Entdeckungsfahrten. Dabei entwickelt sich ein kognitiver Prozess, der sich in einer tief greifenden konzeptionellen Debatte vollzieht, in welcher der Begriff der Aufklärung nicht mehr nur eine philosophische Epochenkennzeichnung darstellt, sondern auch zu einer dezidiert wissenschaftstheoretischen Kategorie avanciert. Um die spezifischen Erkenntnisformen, die Forster in den Südseeinseln gesammelt hat, nachvollziehen und richtig einschätzen zu können, ist es unabdingbar, der Frage nach den Wahrnehmungsformen nachzugehen, die zu diesen Erkenntnissen geführt haben. Dies ist umso aufschlussreicher, als Forster es als eine der zentralen Herausforderungen der im Zeichen der Aufklärung unternommenen Entdeckungsreisen ansieht, die Erkenntnisdefizite vergangener Weltreisen zu überwinden. Aus diesem Grund definiert er die Forschungsreisen seiner Zeit als die »gemeinnützigen Bemühungen zur Erweiterung menschlicher Kenntnisse.«11 Damit berührt er eine zentrale Kategorie, die sich nach Wolfgang Griep »seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts zu einem beliebten Topos [entwickelte], der in mannigfachen Variationen Eingang in die Reisebeschreibung gefunden hatte.«12 Folgt man Griep, so ist der Wahrheitsbegriff, der dem Erweiterungsprozess menschlicher Kenntnisse zugrunde liegt, Ausdruck eines Epochenphänomens, das den

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AA VI, 2 S. 1754. AA II, S. 7. Wofgang Griep, Annäherungen. Über Reisen und Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: FIP, S. 109. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Äußerung von Friedrich Nicolai: »Ich habe mich beständig und nach meinen besten Kräften bemühet, in allen meinen Schriften, und auch in meiner Reisebeschreibung, Wahrheitsliebe und Sorgfalt zu vereinigen. [...] Wahrheit war meine einzige Absicht, und wird es immer seyn.« Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, von Friedrich Nicolai; 12 Bände. Berlin/Stettin 1783–1796; Band 7, Anhang, S. 3f.

spezifischen, wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch der Aufklärungszeit artikuliert. Allerdings bedarf diese Feststellung einer differenzierten Applikation auf das Werk Georg Forsters, dessen Bezugnahme auf die Kategorien Wahrheit und Erkenntnis sich nicht auf die damalige Hochkonjunktur dieser Termini reduzieren lässt. Forsters Beteiligung an Erkenntnisfragen seiner Zeit – und darin unterscheiden sich seine Überlegungen vom allgemeinen Wahrheitsdiskurs der Aufklärungszeit – zielt darauf ab, dem Anspruch der Aufklärung auf Erkenntnis- und Wahrheitssuche nicht zuletzt im Hinblick auf außereuropäische Kulturen eine theoretische Basis abzugewinnen. Daher sind seine entsprechenden Reflexionen in erster Linie Ausdruck einer kognitiven Wende, in der das um Universalität bemühte europäische Denken angezeigt wird. Die Erkenntnislehre Georg Forsters resultiert aus dem, was er im obigen Zitat als »Einsammlungen praktischer Kenntnisse« und das Nachdenken über »Erfahrungen« beschreibt. Beides impliziert das doppelte Wissen um den progressiven Verlust des Referenzanspruchs tradierter Wissensbestände auf der einen und die Notwendigkeit einer dem aufgeklärten Weltbildwandel konformen Basis der Wissensaneignung und -vermittlung auf der anderen Seite. So formuliert Forster bereits in der Vorrede seiner Reise um die Welt den programmatischen Leitgedanken, der seine erkenntnistheoretische Zielsetzung klar auf den Punkt bringt: »Jede Wiederlegung eines Vorurtheils ist Gewinn für die Wissenschaft; und jeder Beweis, daß eine herrschende Meynung des gemeinen Mannes irrig sey, ist ein Schritt zur Wahrheit [...].«13 Aus Forsters Vorurteilskritik, die er als notwendigen »Schritt zur Wahrheit« hypostasiert, ergibt sich ein komplexer Prozess, in dem sein erkenntnistheoretisches Postulat zu untersuchen ist. Es ist bemerkenswert, dass Forster in einem Brief vom 23. Juli 1790 seinem Berliner Verleger und Freund Johann Karl Philipp Spener das Werk Ansichten vom Niederrhein mit folgender Bemerkung zur Publikation anbietet: »Ich hoffe, dass dieses Werkchen interessant seyn, und sich gut wird lesen lassen, oder ich müsste vom Geschmack des Jahrzehends keinen Begrif haben.«14 Damit spielt er eindeutig auf die schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmende Popularität der Reiseliteratur an,15 die allerdings das Problem nicht los wird, dass der Reisebericht dem zeittypischen »Geschmack des Jahrzehends«, nämlich dem Anspruch auf Wahrheit, nicht immer entspricht. Demnach entspringt Forsters theoretisches Denken einem Bewusstseinswandel, der zum einen aus der zunehmend kritischen Rezeption von Reiseberichten im Zeitalter der Aufklärung und zum anderen aus seiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber Hypothesen resultiert. Für Forster, dessen Auseinandersetzung mit Reiseberichten insbesondere nach der Entdeckungsreise mit Cook sowohl quantitativ als auch qualitativ deutlich zunimmt,16 gibt es für die Skepsis gegenüber Reisebeschreibungen handfeste Gründe:

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AA II, S. 67. H.i.O. AA XVI, S. 164. Nach Küchler Williams gehören Reisebeschreibungen neben Romanen »zur populärsten Leihkategorie der Bibliotheken [...]«, (Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 41.) Diese Rezensionen haben ihm den Ruf des deutschen Südseeexperten des 18. Jahrhunderts eingebracht. Vgl. Leslie Bodi, Georg Forster: The ›Pacific Expert‹ of Eighteenth Century Germany, in: Historical Studies Australia and New Zealand 8 (1959), S. 345–363.

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Durch unkritisches Zusammenraffen der heterogensten Nachrichten, aus Reisebeschreibern von sehr ungleicher Glaubwürdigkeit, durch vermeinte practische, aber keineswegs mit strenger Prüfung angestellte Beobachtungen der Natur, durch den Zwang, den man Thatsachen anlegte, um sie einer Lieblingshypothese anzupassen, ist neuerlich in der Menschenkunde, die einige Schriftsteller als ihr Monopol zu betrachten anfiengen, alles in die äusserste Verwirrung gerathen, kaum ein Satz ist fest und sicher geblieben, und der richtigsten Erfahrungswissenschaft droht der Vorwurf der Ungewissheit, vor dem vielleicht nur die einzige Mathematik sicher bisher zu retten wusste.17

In dieser kritischen Bestandsaufnahme wird der Versuch unternommen, die Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit der Erfahrungswissenschaften, insbesondere gegen die damals jungen Wissenschaften der Ethnographie und Anthropologie, als nachvollziehbar zu vermitteln. Denn in kaum einer anderen Epoche stehen Berichte über Entdeckungsreisen derart unter dem Verdacht, »Mährchen« oder »Lügengeschichten«18 zu sein, wie am Ende des 18. Jahrhunderts. Folgerichtig sieht Forster die Aufgabe der neuen Reisenden darin, aus dem »Chaos von grundlosen Meinungen die Wahrheit zu ziehen.«19 Bei dieser programmatischen Aufgabe, mit der er »höhere Zwecke des Forschungsgeistes«20 anstrebt, wird eine Eruierung fundamentaler theoretischer Grundprämissen der Erkenntnis als Resultat einer Entdeckungsreise anvisiert: Denn die Reisenden haben uns zwar manche Beobachtung geliefert, aber das Wesentliche, worauf alles ankam, finden wir nicht, weil man um zweckmäßig beobachten zu können, auch schon mit dem Endzweck im Sinne, an die Beobachtung gehen, und voraus wissen muß, auf welche Punkte es eigentlich ankommt.21

Nun liegt es auf der Hand, dass die Wahrheit jenes wesentliche Moment darstellt, worauf es nach Forsters Ansicht »eigentlich ankommt«. Somit deutet sich schon die entscheidende erkenntnistheoretische Zielrichtung an, die nicht zuletzt auf eine heuristische Neuprofilierung der Reisebeschreibung als Augenzeugenbericht abzielt. Eine solche Perspektive gilt folgerichtig einem intellektuellen, erkenntnisgeleiteten Grundbedürfnis, vor dessen Hintergrund Manuela Ribeiro Sanches die These formuliert, dass Forsters Werk einen »Prozeß der Konstituierung von Wahrheit«22 darstellt. Obwohl Ribeiro Sanches hier mit Recht ein zentrales Moment anspricht, das einen adäquaten Einstieg in Forsters Erkenntnistheorie zu eröffnen vermag, bleibt ihr Ansatz doch hinter dem eigenen Anspruch zurück; sie substituiert die Prozesshaftigkeit von Forsters Denken durch die Grundfrage nach den Prämissen seiner Erkenntnistheorie.

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AA V, S. 375. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 77. In seinem Aufsatz Cook der Entdecker weist Forster noch einmal auf diesen Sachverhalt hin: »Ein Admiral de Fonte , der niemals existiert hat, ein griechischer Lootse Juan de Fuca, der mit einer aus der Luft gegriffenen Erzählung sein Glück machen wollte [...] und andere ähnliche Verwirrungen veranlassten gelehrte Kriege und erdichtete Landcharten« (AA V, S. 207). AA V, S. 207. Ebd., S. 276. AA XV, S. 376. Manuela Ribeiro Sanches, ›Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne‹. Das wahrnehmende Subjekt und die Konstituierung von Wahrheit bei Forster, in: FIP, S. 133–146, hier S. 138.

Eine auf die Wahrheitskategorie ausgerichtete Rekonstruktion von Forsters Erkenntnislehre muss von der Frage ausgehen, welchen Weg Forster zur Erkenntnis der Wahrheit als Ziel seiner theoretischen Überlegungen letztendlich postuliert. Charakteristischerweise deutet Forster, der sich in seiner 1778 erschienenen Streitschrift Reply to Mr. Wales’s Remarks23 selbst als »a great lover of truth«24 bezeichnet, zunächst darauf hin, dass die Suche nach Wahrheit ein allgemeinmenschliches Grundbedürfnis bildet. Doch von diesem »natürliche[n] Trieb nach allem Wahren«25 hebt er seinen erkenntnistheoretischen Umgang mit dieser Kategorie deutlich ab. Er bezieht diese vielmehr auf das durch empirische Beobachtung fundierte Selbstverständnis des Aufklärungszeitalters und erörtert sie folgerichtig in Reflexionszusammenhängen, die zwar die allgemeine Weltanschauung des ausgehenden 18. Jahrhunderts widerspiegeln, zugleich aber einen direkten Bezug auf die Problematik der Wahrnehmung, Dokumentation und Repräsentation bzw. Vermittlung außereuropäischer Kulturen erkennen lassen. Anhand dieser Spezifizierung erarbeitet sich Forster eine wichtige Grundlage für einen theoretischen Diskurs über die Prämissen der Erkenntnis. An dem Postulat, wonach »Wahrheitsliebe die erste Eigenschaft des guten Reisebeschreibers«26 sei, lässt sich ein wichtiges Leitmotiv von Forsters Erkenntnistheorie ablesen. Dieses wird durch die Einsicht begründet, dass den legendenumwobenen außereuropäischen Kulturen im Allgemeinen und der Südsee im Besonderen nur dann aufklärerische Erkenntnis abgerungen werden kann, »wenn Fortschritte der Erkenntniß, wenn Wahrheiten der Erfahrung«27 als erkenntnistheoretische Momente im Entdeckungsprozess voll entfaltet werden. Freilich gewinnen die Formeln »Fortschritte der Erkenntniß« und »Wahrheiten der Erfahrung«, die von Forster als Synonyme gebraucht werden, eine eigentümliche Bedeutung, denn sie markieren das Bekenntnis eines aufgeklärten Gelehrten, der sich bewusst ist, dass sich die Wahrheit im intellektuellen Streit zwischen Intellektuellen erschließt. Diese Erkenntnis bildet nicht nur einen der wichtigsten Eckpfeiler von Forsters Theoriebildungsprozess, sondern schlägt, wie wir später sehen werden, auch in seinem Schreibverfahren nieder28. Forsters konzeptiver Ansatz schreibt sich nämlich in einen intellektuellen Kontext ein, der mitreflektiert werden muss. Denn die Frage nach Bedingung und Möglichkeit von Wahrheit ist am Ende des 18. Jahrhunderts durch zwei konkurrierende erkenntnistheoretische Positionen geprägt, die zum Teil als unvereinbar vermittelt werden. Es handelt sich einerseits um den schulphilosophischen Rationalismus cartesianischer Prägung und andererseits um den sensualistischen Empirismus englischer Provenienz. Diese beiden Paradigmen markieren, wie wir sehen werden, die beiden Pole, zwischen denen sich Forsters Erkenntnislehre entfaltet. Wenn Peter Schmitter die These aufstellt, dass die Weltreise mit Kapitän Cook jene entscheidenden Jahre im Leben Forsters seien, die nicht nur »der Fixierung von Beob-

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AA IV, S. 11–48. Es handelt sich um eine der wichtigsten Streitschriften Forsters. Ebd., S. 43. AA VII, S. 37. AA V, S.131. Ebd., S. 190. Vgl. S. 172ff.

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achtungen, sondern vor allem auch der Theorie- und Hypothesenbildung«29 dienen, dann hat er Recht, auch wenn er die Grundlage der theoretischen Überlegungen Forsters nur im Ansatz anspricht. Diese artikulieren sich zwar bereits in seiner Reisebeschreibung, sie gewinnen aber erst im Vollzug der polemischen Debatte mit Immanuel Kant in den Jahren 1785 bis 1788 deutlich an Schärfe. Allerdings zeigt diese Kontroverse, die in der Forschung einseitig als Menschenrassen-Debatte rezipiert wird30, in Wirklichkeit die Artikulation jener explizit gewordenen erkenntnistheoretischen Reife Forsters, die sich bereits in der Reise um die Welt abzeichnet, wobei seine Kritik am Systemgeist der Aufklärung als bedeutendes erkenntnistheoretisches Verdienst anzusehen ist. Im November 1785 und im Januar 1786 veröffentlicht Kant in der Berlinischen Monatsschrift zwei Aufsätze unter dem Titel Bestimmung des Begrifs einer Menschenrace31 und Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte32. Durch diese Aufsätze fühlt sich Forster herausgefordert, sich in die kontroversen philosophischen Auseinandersetzungen seiner Zeit einzulassen. Doch seine Reaktion ist nicht nur darum bemerkenswert, weil sie eine Gegenmeinung zu Kant in der Beurteilung der heiklen Rassenproblematik dokumentiert, sondern vor allem deshalb, weil Forster darin seinen Beitrag zur Erkenntnistheorie und Methodendebatte seiner Zeit leistet. Den inhaltlichen Ausgangspunkt der Kontroverse bildet Kants kritische Auseinandersetzung mit Johann Gottfried Herders bereits 1774 erschienenem Werk Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit.33 Was Kant an der Erstlingsarbeit seines ehemaligen Schülers besonders bemängelt, ist keineswegs der darin erhobene Anspruch auf die Darstellung großer Zusammenhänge (Kosmos, Menschheit, Universalgeschichte, Naturgeschichte) – im Übrigen auch Kants Anliegen34 –, sondern vielmehr die Tatsache, dass Herders Werk – bedingt durch den sprunghaften Wechsel von Reflexionsebenen – in Kants Augen keine argumentative und gedankliche Stringenz erkennen lässt.35 Außerdem

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Peter Schmitter, Georg Forsters ›allgemeine Naturgeschichte‹ und die ›allgemeine Sprachkunde‹ Wilhelm von Humboldts, in: Jörn Garber (Hg.), Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Tübingen 2000, S. 162–192, hier S. 163. In keinem der bisher der Forster-Kant-Kontroverse gewidmeten Aufsätze wird die fundamentale erkenntnistheoretische Dimension dieser Debatte beleuchtet. So versteigt sich Tanja van Hoorn sogar zu der Behauptung, Forster reagiert allein deshalb auf Kants Aufsätze, »weil er sich zu diesem Zeitpunkt selbst intensiv mit dem Thema der Menschenrassen beschäftigt« (Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 112). Ihre Kritik an Ludwig Uhlig ist insofern absurd, als Uhlig zu Recht darauf hinweist, dass Forster in der Auseinandersetzung mit Kant auch die Gelegenheit sah, »noch einmal die Systematik Linnés zu erörtern« (Ludwig Uhlig, Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt, S. 59.) Immanuel Kant, Bestimmung des Begrifs einer Menschenrace, in: Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Frankfurt/M. 1977, S. 65–82. Die Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle Immanuel Kant Werke zitiert mit römischen Ziffern für die Bände und arabische Ziffern für die Seitenzahlen. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 85–102. Johann Gottfried Herder, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1989. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts. Gedanken zu Forster, Herder und Kant, in: FIP, S. 115–132. Vgl. Immanuel Kant, Werke, XII, S. 781–806.

wirft Kant Herder, der sich auch in seinem späteren Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) auf Reiseberichte, darunter auch Forsters Reise um die Welt Bezug nimmt, mangelnde Quellenkritik vor, »denn so würde niemand dreist auf einseitige Nachrichten fußen, ohne vorher die Berichte anderer genau angewogen zu haben.«36 Herder, der den im späten 18. Jahrhundert durchaus typischen Widerstand der Popularphilosophie gegen Kant teilt, findet in Forster einen Mitstreiter, auch wenn sich später erweisen sollte, dass die Kant-Kritik dem Königsberger Philosophen keineswegs gerecht wird.37 Doch bei dem Entschluss, sich in die Auseinandersetzung mit Kant einzuschalten, spielt weniger die Freundschaft mit Herder als vielmehr der Umstand eine entscheidende Rolle, dass Kant sich in eine weitreichende Theoriedebatte hineinsteigert, in der er seine These der apriorischen Erkenntnis darlegt. Obwohl Kant sein Universaldenken zum Teil auf Kenntnisse über ferne Länder aufbaut, die er allerdings ausschließlich aus der Lektüre von Reiseberichten, also aus zweiter Hand bezieht,38 schreckt er nicht vor der provokativen These zurück, die bloße Sehnsucht nach einem Goldenen Zeitalter sei die Triebfeder der Entdeckungsreisen, »eine Sehnsucht, die die Robinsone und die Reisen nach den Südseeinseln so reizend macht, überhaupt aber den Überdruß beweiset, den der denkende Mensch am civilisierten Leben fühlt.«39 Hinter Kants kritischer Reduktion der Reisemotivation auf das Fernweh der zivilisationsmüden Europäer verbirgt sich zweierlei. Zum einen wird darin eine Abwehrhaltung gegen die sich seit Rousseau ausbreitende Idealisierung der exotischen Ferne formuliert, die aus der Perspektive kritischer Intellektueller als Antiaufklärung und damit als eine ernstzunehmende Gefahr für die Zivilisation angesehen wird. Andererseits – und dies ist eine wichtige erkenntnistheoretische Begründung – vertritt Kant die gegen Forster gerichtete Position, dass »durch bloßes empirisches Herumtappen ohne ein leitendes Prinzip, wonach man zu suchen habe, nichts Zweckmäßiges jemals gefunden werden«40 könne. Küchler Williams interpretiert diese Aussage prinzipiell richtig, wenn sie sagt, die Reise sei für Kant sinnlos, »wenn der Reisende nicht schon wisse, wonach er suche und sich das notwendige philosophische Handwerk angeeignet habe.«41 Allerdings übersieht die Autorin die eigentliche Konsequenz dieses Ansatzes. Kant zielt nämlich auf die Steigerung der Vernunft zur absoluten, erkenntniskonstituierenden Instanz ab, was Forster vor dem Hintergrund seiner Teilnahme an der Weltreise und der in der Südsee

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Ebd., S. 801. Vgl. S. 104f. Dazu schreibt beispielsweise Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: »Kant hatte alle nur greifbare Literatur, Abhandlungen und Reisebeschreibungen, gründlich studiert«. (Wolfdietrich SchmiedKowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 115.). Die meisten Universaldenker dieser Zeit (Herder, Sömmering, Blumenbach, Buffon, Meiners, Rousseau, u. a.m.) sind selbst keine Reisenden, dafür aber eifrige Leser von Reiseberichten, deren sie sich zur Konstruktion ihres Weltbildes bedienen. Georg Forster und sein Vater gehören zu den ersten deutschen Weltreisenden. Vgl. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese. S. 69f. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 101. Ebd., S. 139–170, hier 148. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 69.

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gesammelten Erfahrungen keineswegs hinnehmen will. So geht seine Reaktion auf Kants Aufsätze auf die sich bereits in der Reise um die Welt abzeichnende Theorie der Erfahrung zurück42, die ihn vor dem aus seiner Sicht illusionären Glauben bewahrt, dass man durch das Denken allein zu neuen Erkenntnissen gelangen könne. Schon in seinem Brief vom 14. Mai 1784 an Sammuel Thomas Sömmering betont Forster: [...] wir sind nicht dazu bestimmt, nach Schatten zu greifen und drüber die Dinge, die handgreiflich vor uns liegen, zu verfehlen. Was – ja was ist Wahrheit? Unser einziges Mittel, wodurch wir erkennen und uns unserer selbst und der Dinge außer uns bewußt sind, Vernunft mit einem Worte, kann nur auf physische Gegenstände und ihre Verhältnisse angepaßt werden; und dies ist uns gewisse, für alle Menschen erreichbare Wahrheit, Wahrheit, worüber alle einverstanden sein können. Aber jenseits dieser Gränze nichts als Dunkelheit, Zweifel, Irrthum, Blendwerk, und hunderttausend Widersprüche, ja so viele Sinne als Köpfe sind!43

Es handelt sich um Überlegungen, die für Forsters Erkenntnistheorie programmatisch sind und Rückschlüsse auf die Gestaltung der knapp 10 Jahre vorher erschienenen Reise um die Welt ermöglichen, wo sie ihren Ursprung nehmen. In seinem 1786 erschienenen polemischen Aufsatz mit dem Titel Noch etwas über die Menschenrassen, den er als Brief an Johann Erich Biester, den Mitherausgeber der Berlinischen Monatsschriften, richtet, äußert sich Forster ironisch über die Leistungen »des vortrefflichen Herrn Professors Kant.«44 Interessant dabei ist, dass er seine Intervention für Herder mit der Verwandtschaft ihrer Denkansätze begründet: »Ich schicke Ihnen eine litterarische Kleinigkeit«, schreibt er an diesen in seinem Brief vom 21. Juli 1786, die ich jetzt eben ausgeheckt habe, frisch von der Feder. Kants Aufsatz im Berlinischen Journal setzte mich in Bewegung, und ich fühle, daß ich schreiben müßte, um mir Luft zu machen. Sie, vortrefflicher Mann, haben das nächste Recht auf dieses Produkt; Sie forderten von mir, daß ich Ihnen meine Gedanken über ihre unnachahmlichen »Ideen« sagen sollte: das konnte ich nicht; denn sie waren überströmende Liebe und Freude, wo wir zusammentrafen, und Bewunderung, wo wir nicht zusammentreffen konnten [...] Ich fürchte nicht, daß Sie mich nun weniger lieb haben werden, weil ich meinen Weg gehe, und so etwas von einem Sonderling scheine, wiewohl ichs im Grunde nicht bin.45

Diese Worte sind nicht deshalb aufschlussreich, weil sie das Lob Herders mit einer nicht zu überhörenden persönlichen Sympathiebekundung begründen, sondern vor allem deshalb, weil die zurückhaltenden Formulierungen zugleich den Unterschied zwischen beiden »Freunden« markieren. Dieser Unterschied liegt wohl darin, dass Forster die eigene Anschauung auf seine unmittelbaren Erfahrungen im Kontext der Weltreise gründet, während Herder seine Vorstellung über Länder und Völker aus den Reiseberichten anderer Reisender gewinnt – im Übrigen eine Gemeinsamkeit mit dem Hauptkontrahenten Kant.

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Dies zeigt sich in Postulaten wie »Augenschein geht über die deutlichsten Vernunftschlüsse« (AA II, S. 111). AA XIV, S. 62. H.i.O. AA VIII, S. 131. AA XIV, S. 512.

Forsters Eintreten für Herder ist also als Versuch zu verstehen, sich von der erkenntnistheoretischen Enge zu befreien, in die er sich durch Kants Aufsatz getrieben fühlt. Bei dem Ziel, sich »Luft zu machen«, geht es ihm zum einen darum, die Grenzen der Erkenntnismethode Kants, die der Vernunftwahrheit den Vorzug vor der Erfahrung einräumt, aufzuzeigen. Damit zusammenhängend will er zum anderen die Empirie – in Absetzung von abstrakten Spekulationen – als erkenntnistheoretische Basis begründen. Nach Uhlig wittert Forster die Gefahr, »daß die Empirie einer vorgefaßten Doktrin untergeordnet«46 werden könnte. Untermauert wird dieser Standpunkt durch Forsters Brief vom 5. März 1785 an seinen Freund Sömmerring. Darin begründet er, warum er sich dazu verpflichtet fühle, Herder gegen Kants Attacken in Schutz zu nehmen. Herder sei, so Forster, »auf dem rechten Wege der Erfahrung, und zwar der physischen, das ist, der für uns einzig möglichen«47 bei der Erkenntnissuche. Auch in seiner Schrift Ein Blick in das Ganze der Natur kritisiert Forster, der sicherlich auch Carl von Linné im Blick hat, dass die Suche nach Erkenntnis »zu einem leeren Gewächs von Namenverzeichnissen, Kunstwörtern und Systemen«48 zu verkommen drohe. Diese Position ist nach Schmied-Kowarzik darauf zurückzuführen, dass Herder »alles nur greifbare Erfahrungsmaterial zu einer umfassenden Theorie des Werdens von Natur und Menschheit zusammen[trägt].«49 Vor diesem Hintergrund setzt Forster dem von Kant in der Kritik der reinen Vernunft formulierten Postulat, »daß man in der Erfahrung nur alsdann finde, was man bedarf, wenn man vorher weiß, wornach man suchen soll,«50 die Antwort entgegen, »daß man bey dem bestimmten Suchen nach dem, was man bedarf, dasselbe auch oft da zu finden glaubt, wo es wirklich nicht ist.«51 In bewusster Abstandnahme von der Übermacht der Vernunft als Prämisse der Erkenntnis rückt Forster die Empirie in den Mittelpunkt des Erkenntnisprozesses, wodurch sein »Hang zur visuellen Durchdringung der Welt«52 sichtbar wird. Für ihn scheint Kants Ansatz jene Unzulänglichkeiten zu offenbaren, die jedem Erkenntnisvorgang anhaften, »wenn man [...] eine Hypothese, die irgend jemand auf eine Thatsache baute, nun selbst für eine Thatsache ansieht.«53 Dass Kants Differenzierung von Begriffsbestimmung und Untersuchung eines Naturgesetzes auch und gerade der empirischen Wissenschaft dienen könnte, zieht Forster zunächst nicht in Betracht. Dies liegt daran, dass Kant offensichtlich vom Begriff der Erfahrung nur im abstrakten und nicht von der Erfahrung im praktischen Sinn spricht. Das liefert Forster einen hinreichenden Grund, um Kants Ansatz als die »gewöhnlichste aller Illusionen«54 abzulehnen, da sie für den Forscher die »Gefahr« birgt, »im großen idealistischen Nichts sich selbst zu verlieren.«55

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Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines aufgeklärten Weltbürgers, S. 87. AA XIV, S. 293. AA VIII, S. 78. Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 118. AA VIII, S. 132. (Forster zitiert Kant vgl. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 65.) Ebd. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines aufgeklärten Weltbürgers, S. 11. AA VIII, S. 144. Ebd., S. 132. Ebd. S. 186.

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Kontrastiert man beide Positionen, dann ergibt sich folgendes Grundmuster, das im Einzelnen zu differenzieren wäre: Während Kant für die Erkenntnis a priori eintritt, d. h. für eine solche, die im Vorhinein und aller Erfahrung voraus durch den Verstand als »leitendes Prinzip« geprägt wird,56 postuliert Forster die unmittelbare Erfahrung als Prämisse der abstrakten Erkenntnis. Kants Erkenntnislehre basiert auf dem Postulat, dass sich der Konstituierungsprozess von Erkenntnis auch transzendental vollziehen kann. Demnach erweist sich die Vernunft als eine autonome Instanz der Erkenntnisgewinnung, d. h. als eine solche, die jenseits der Erfahrung und der Natur liegt. Kant betrachtet die Vernunft als »die intellektuelle Form aller Erfahrung.«57 In der Annahme, dass die Erkenntnis transzendental ist, setzt er auf das rationale Vermögen des Menschen, seine eigene Wirklichkeit im Denkvorgang zu konstituieren. Daher betont Schmied-Kowarzik, dass selbst dort, wo Kant den Erfahrungsbegriff verwendet, immer eine Erkenntnislehre a priori gemeint sei, »deren allgemeingültige Gesetzlichkeit niemals aus der Beobachtung abgeleitet werden kann, da sie aller Erfahrung vorausliegt.«58 Gegen den Kantischen Universalismus bringt Forster eine kulturbedingte Wahrnehmung in Stellung, die ihm einen flexiblen, geradezu ›interkulturellen‹ Blick auf das Fremde ermöglicht.59 So versteht es sich von selbst, dass Forster in dem Brief vom 8. Juni 1786 an Sömmering seine Distanz gegenüber »Philosophen von Profession«60 bekräftigt, die in ihrem »verzweifelte[n] Paroxismus« bloß das Ziel verfolgen, »die Natur nach ihren logischen Distinktionen [zu] modeln [...]«61, was er, Forster, mit seiner eigenen Naturbetrachtung, »so wie sie unserer Erfahrung sich darstellt«62, nicht vereinbaren könne. Dafür liefert er eine einfache und plausible Erklärung: »[Die] Ordnung der Natur folgt unseren Eintheilungen nicht, und sobald man ihr dieselben aufdringen will, verfällt man in Ungereimtheiten.«63 Auch in seinen Anmerkungen zu Cooks dritter Weltreise bekräftigt er diesen Standpunkt, »damit nicht irgend ein Weiser im Lehnstuhl [...] seine Hypothese kunstmäßig entwirft [...] und [...] den Beobachter der Blindheit beschuldigt [...].«64 Mit den »Ungereimtheiten« meint Forster allerdings nicht ausschließlich die transzendentale Erkenntnis, wie er sie in Kants Werken wahrzunehmen glaubt; er zielt damit zugleich, wenn auch mit der gebotenen Vorsicht, auf Linné65 ab, dessen aus Definitionen

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Johannes Saltzwedel, Mathias Schreiber, Erkenntnis für die Ewigkeit – der Aufklärer Kant, in: Der Spiegel Nr. 1/29.12.2003, S. 124. Immanuel Kant, Werke, III. S. 320. Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 124. Dies ist beispielsweise in der Zeit- und Raumvorstellung, wie sie Kant begründet, deutlich. Vgl. dazu: Reinhard Brand, Ausgewählte Probleme der Kantischen Anthropologie, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 14–32, insbesondere S. 30f. AA XIV, S. 486. Ebd. AA VIII, S. 164. Ebd., S. 146. AA V, S. 303. Vgl. AA VIII, S. 132. Mit dieser Bemerkung hat Forster Linnés Werk (Philosophia botanica 1751) im Blick.

und Klassifikationen bestehendes »Fachwerk« das systematische Denken im Wissenschaftsbetrieb des 18. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat. Wenn Forster die logische Systematik und die Linnéische Klassifikation auch auf erkenntnistheoretischer Ebene hinterfragt, so liegt das in seinen einschneidenden Erlebnissen im Südpazifik begründet. Bemerkenswert ist Forsters Hinweis, er habe während seines Aufenthaltes in Neuseeland »so wohl in dem Thier- als Pflanzenreiche, neue Reichthümer« entdeckt, aber »es gab kaum eine einzige Gattung, die mit den bekannten völlig übereinstimmte, ja viele wolten sich gar nicht einmahl unter die bekannten Geschlechter bringen laßen.«66 Hier wird einmal mehr deutlich, warum Forster sich der blinden Befolgung einer Systematik widersetzt. Die Inkongruenz zwischen Theorie und empirischer Erkenntnis zwingt ihn zu diesem Schritt, der jedoch nirgendwo in seinem Werk radikale Züge annimmt. Diese Position verweist allerdings nicht nur auf den Widerspruch zwischen theoretischer Klassifikation und praktischer Erfahrung, sondern auch auf den wissenschaftstheoretischen Kontext hin, in dem das philosophisch geprägte Denken der Frühaufklärung immer mehr mit dem Erfahrungswissen von Reisenden konfrontiert wird: »Was uns gefallen und unterhalten soll«, schreibt Forster in seiner Geschichte der Englischen Literatur, »muß auf irgend eine Art in einer so wichtigen unmittelbaren Beziehung mit uns stehen, daß es nicht erst eines Vernunftschlusses bedarf, um sie ausfindig zu machen, sondern daß unser Gefühl sie augenblicklich entdeckt.«67 Forster betrachtet die im Erkenntnisprozess notwendigen Vernunftschlüsse nicht als autonome Denk- und Reflexionsvorgänge, sondern als reflexive Deutung und Erweiterung der Erfahrung. Ein solcher Ansatz bedarf der Differenzierung. Postuliert Forster die empirische Erfahrung als Voraussetzung für Erkenntnis, so verzichtet er keineswegs auf eine begriffliche Konzeption, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte. Vielmehr gründet seine Abneigung gegen die uneingeschränkte Vernunftherrschaft auf der Überzeugung, dass die Beweise, derer das breite Lesepublikum des 18. Jahrhunderts bedarf, um sich im Sinne der Aufklärung »von den Fesseln des Vorurtheils«68 – auch gegenüber außereuropäischen Kulturen – zu befreien, nicht allein durch den transzendentalen Intellektualismus der Schulphilosophie geliefert werden können: Wie vieles Unheil ist nicht von jeher in der Welt entstanden, weil man von Definitionen ausgieng, worein man kein Mißtrauen setzte, folglich manches unwillkührlich in einem vorhinein bestimmten Lichte sah, und sich und andere täuschte! In sofern der unbefangene Zuschauer also nur getreu und zuverlässig berichtet, was er wahrgenommen, ohne lange zu ergrübeln, welche Spekulation seine Wahrnehmung begünstige, – und hiezu braucht er nichts von philosophischen Streitigkeiten zu wissen, sondern lediglich dem angenommenen Sprachgebrauch zu folgen – in sofern würde ich zuversichtlicher bey ihm Belehrung suchen, als bey einem Beobachter, den ein fehlerhaftes Princip verführt, den Gegenständen die Farbe seiner Brille zu leihen.69

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AA II, S. 124. AA VII, S.59. AA V, S. 261. AAVIII, S. 132f.

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Aus Forsters Kritik an dem transzendentalen Intellektualismus, die etwa in Gotthold Ephraim Lessings Fabel Die Nachtigal und die Lerche eine literarische Entsprechung findet,70 kristallisiert sich zweierlei deutlich heraus. Zum einen äußert Forster seinen Vorbehalt gegen den Apriorismus der übermächtigen Vernunft; zum anderen werden die Konturen seines Selbstverständnisses als eines empirisch orientierten Gelehrten deutlich, auch wenn diese Zuordnung immer dort relativiert werden muss, wo Forster die Wendung von der Erfahrung hin zur Theorie- und Hypothesenbildung vollzieht. Die rhetorische Frage, »Wer wollte nicht die wenigen Beobachtungen eines bloßen, jedoch scharfsichtigen und zuverlässigen Empirikers, den vielen geschminkten eines partheyischen Systematikers vorziehen?« 71, rührt aus Forsters Erfahrungen als Augenzeuge während seiner Weltreise, bei der sich ständig unvorhersehbare Ereignisse ergeben und somit manche wissenschaftlichen Vorgaben faktisch unbrauchbar machen: Denn ob es Fälle giebt, wo Spekulation und abstrakte Bestimmtheit voraus ahnden können, was die Anschauung hernach für wahr erkennt: so sind doch jene nicht selten, wo sie auf Abwege gerathen und die Erfahrung rechts liegen lassen.72

Folgt man der Argumentation von Heinritz, so muss man in Forsters Ablehnung einer instruierten Reise, in der Prinzipien der Datenerhebung im Vorfeld vorgegeben sind, den »aufklärerischen Autonomieanspruch«73 sehen. Denn Forsters Argumente richten sich nicht nur gegen Hypothesen, die nicht durch die Erfahrung zu beweisen sind, sondern auch gegen den Einfluss fremder Arbeitsanleitungen, deren mechanische Anwendung auf die Reisepraxis nur auf Kosten der Erfahrungswirklichkeit stattfinden könne. Die emphatische Bedeutung, welche die Empirie in Forsters Erkenntnistheorie einnimmt, erklärt sich aus seinem Bekenntnis zum englischen Sensualismus. Die Hauptrichtung dieser Erkenntnislehre besteht in der Ablehnung des spekulativen Denkens und der Postulierung der Erfahrung als Ausgangspunkt der Erkenntnis. Dementsprechend distanziert sich Forster von Entstehungs- bzw. Ursprungsfragen, weil sie seiner Ansicht nach nicht durch die Erfahrung begründ- und/oder erklärbar sind: »Wessen Blick durchdringt die dunkele Ferne verflossener und kommender Jahrhunderte, um den Lebenslauf ganzer Nationen so zu fassen und in einem großen Zusammenhange vor sich aufgedeckt zu überschauen?«74 Offenbar gegen die abstrakte Vernunfterkenntnis gerichtet, wirft Forster diese Frage an anderer Stelle wieder auf: Wer hat die kreißende Erde betrachtet in jenem entfernen und ganz in Unbegreiflichkeit verschleyerten Zeitpunkt, da Thiere und Pflanzen ihrem Schoße in vieler Myriarden Mannigfaltigkeit entsproßen, ohne Zeugung von ihres Gleichen, ohne Samengehäuse, ohne Gebärmutter? Wer

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»Was soll man zu den Dichtern sagen, die so gern ihren Flug weit über alle Fassung des größten Teils ihrer Leserschaft nehmen? Was sonst, als was die Nachtigall einst zu der Lerche sagte: Schwingst du dich, Freundin, nur darum so hoch, um nicht gehört zu werden?« (Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. IV Werke 1758–1759, hg.v. Gunter E. Grimm. Frankfurt/M. 1997, S. 328.) AA VIII, S. 133. Ebd., S. 132. Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹, S. 85. AA VII, S. 20.

hat die Zahl ihrer ursprünglichen Gattungen, ihrer Autochthonen, gezählt?[...] Wer ist so weise, der uns lehren könne, ob nur einmal, an einem Orte nur, oder zu ganz verschiedenen Zeiten, in ganz getrennten Welttheilen, so wie sie allmälig aus des Oceans Umarmung hervorgiengen, organische Kräfte sich regten?75

In diesen rhetorischen Fragen spiegelt sich Forsters Kritik am philosophischen Apriorismus wider. Denn auch wenn sich Kants – aber auch Herders – Weltanschauung auf eine intensive Lektüre von Reiseberichten stützen, so bleibt doch Forster in dem Aufsatz Noch etwas über die Menschenracen der Ansicht, dass Empirie unmittelbare Erfahrungen ermöglicht, »zu denen der belesenste Autor in seinem Studierzimmer nie gelangt.«76 Etwas zugespitzt heißt es wenig später: Um zuverläßig beobachten zu können, ob ein gewisses Objekt schwarz oder weiß sey, braucht man nicht zu wissen, daß die schwarze Farbe der Abwesenheit des Lichts, und die weiße der Vereinigung aller verschieden gebrochenen Strahlen zugeschrieben wird: wenn aber ein Beobachter, der diesen bestimmtern Begrif hat, und ein anderer, der blos empyrisch weiß, was schwarz sey, beide von demselben Gegenstande erzählen, daß er schwarz erscheine, so ist das Faktum desto unläugbarer.77

Diese gegen eine reine Vernunfterkenntnis gerichtete erkenntnistheoretische Denkrichtung, deren Pendant in dem französischen Materialismus78 zu sehen ist, avancierte spätestens seit David Hume (1711–1776) zum Gegengewicht gegenüber der Geistesfixiertheit der kontinentalen Philosophie.79 Die Notwendigkeit einer empiristisch-sensualistischen Hinwendung zur Wirklichkeit basiert auf der Abneigung gegen jegliches Gedankengebäude, das nicht auf Erfahrung beruht oder durch sie beweisbar ist. Dass Forster sich dieser Tradition verpflichtet fühlt, kommt in seiner Äußerung über John Locke zum Ausdruck: Seitdem Locke die angebohrnen Begriffe aus der Metaphysik verbannte, lag die Hoffnung der Englischen Philosophen lediglich im Fortschritt der empirischen beschlossen. Annäherung zu dem, was Menschen Wahrheit nennen, erwarteten sie hinfort nur aus dieser Quelle; und sollte diese Erwartung doch am Ende auf Wahn hinausgehen, so hat sie wenigstens das Gute, daß die Beobachtungen und Entdeckungen, welche sie veranlaßt, zu keiner Zeit verlohrne Arbeit sind, sondern von jedem speculativen Kopf benutzt, geordnet und verbunden werden können.80

Den Rückgriff auf Locke und damit auf den Empirismus begründet Forster damit, »daß auf dem Felde der theoretischen Philosophie keine neue Erndten mehr zu gewinnen sey.«81

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AA VIII, S. 143. Ebd., S. 130. Ebd., S. 134. Forster betrachtet beispielsweise Helvétius als Vorbild. Vgl. AA XIV, S. 428. Vgl. Annette Meyer, Von der ›Science of Man‹ zur ›Naturgeschichte der Menschheit‹. Einflüsse angelsächsischer Wissenschaft im Werk Georg Forsters, in: Jörn Garber, Tanja van Hoorn (Hg.), Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hannover 2006, S. 29–52, hier S. 39. AA VII, S. 66. Ebd. S. 90.

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Stimmt Forsters Einstellung mit der englischen Empirismustradition in der Ablehnung des Apriorismus überein, so wäre es doch verfehlt, daraus zu folgern, dass seine entsprechende Erkenntnislehre allein aus dem Studium jener Philosophen erwachsen ist. Forsters Selbstverständnis als empiristisch arbeitender Wissenschaftler82 hat einen bemerkenswerten biographischen Hintergrund: Anders als die meisten klassisch gebildeten Gelehrten seiner Zeit ist seine wissenschaftliche Vita activa nicht das Ergebnis eines akademischen Bildungsgangs. Sie geht vielmehr auf die unmittelbare Erfahrung der Kulturbegegnung83 zurück, in die ihn sein Vater Johann Reinhold Forster bereits in jungen Jahren eingeführt84 und durch die er ihn mit empirischen Arbeitsmethoden vertraut gemacht hatte.85 Demnach liegt der entscheidende Nexus zwischen dem Reisen und Forsters Theorie der Erfahrung darin begründet, dass sich während der Reise die Erkenntnisobjekte dem erkennenden Subjekt zunächst durch ihre unmittelbare Gegenwart darbieten. Der Entdecker nimmt die Kulturen, die er bereist, unmittelbar wahr und ist Zeuge dessen, worüber er schreibt. So tritt an die Stelle der spekulativen, zumal unverifizierten

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Die deutsche Popularphilosophie der Spätaufklärung wurde durch den englischen Empirismus beeinflusst bzw. geprägt. Dazu vgl. Doris Bachmann-Medick, Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989. In St Petersburg besuchte Georg Forster während seines Aufenthaltes 7 Monate lang die einzige konventionelle Schule seines Lebens. Die ersten Erfahrungen mit Feldforschungen gehen auf die Zeit in Nassenhuben zurück, wo Johann Reinhold den talentierten Sohn nicht nur in naturkundlichen Standardwerken unterweist, sondern ihn auf botanische Spaziergänge mitnimmt. Den Vorgeschmack als Reisender und Erkennender, wie er diese Rolle während der Cookschen Reise bekleiden wird, bekommt Forster bereits als 10-Jähriger 1765 während der Reise nach Russland, wo er seinem Vater als Assistent zur Seite steht. Vgl. dazu Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 18ff. Dies gilt insbesondere für die Völkerkunde, die Sprachen sowie für die wissenschaftlichen Methoden des Vergleichens, wobei das Interesse an den Lebensbedingungen der verschiedenen Völker und ihre Vorstellungen im Zusammenhang mit ihrer Umwelt und Geschichte immer im Mittelpunkt steht. Vgl. dazu Ulrich Enzensberger, Georg Forster. Ein Leben in Scherben. Eichborn 1996, S. 13. Dies hat Johann Reinhold Forster selbst mit folgenden Worten festgehalten: »Da wir in meinem Studirzimmer speiseten und auch unser Frühstück genossen, da der Knabe mich oft lesen und die Bücher brauchen sah, so erweckte dies bei ihm die frühe Lust, auch lesen zu lernen. Er ging an die Bücher der Bibliothek und frug, wie jeder Buchstabe des goldgedruckten Tituls hiesse, und wie die Silben ausgesprochen würden. Hierdurch lernte er diese Titel spielend lesen, und da beydes, lateinische und deutsche Titel auf den Büchern standen, so lernte er bald in beiden Sprachen lesen.« (Johann Reinhold Forster, Über Georg Forster, Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes. Philosophischer Anzeiger, 14. Januar 1795, St.2, S. 12.) Auch Georg Forster hat in seiner Korrespondenz den Einfluss seines Vater auf seine wissenschaftliche Laufbahn oft hervorgehoben. (Vgl. beispielsweise Brief vom 7. Januar 1788 an Johann Georg Zimmermann, AA XV, S. 89) doch entgeht dem aufmerksamen Leser dabei nicht, dass die Bedeutung Johann Reinhold Forsters für Georg Forster nicht nur positive Seiten hat. Aus diesem Brief geht hervor, dass Georg Forster eine ambivalente Beziehung zu seinem Vater unterhielt und sowohl wissenschaftlich als auch wirtschaftlich immer versuchte, sich von seinem übermächtigen Vater zu lösen.

»Vorkenntnisse«86 der »lebendige Eindruck«87, der den Augenzeugen als Garant für die Authentizität des Geschilderten legitimiert. Allerdings präzisiert Forster, »daß die Fakta, aus welchen gefolgert wird, ganz richtig aufgefaßt werden; weil ohne diese Vorsicht alle Syllogistik umsonst verschwendet wird.«88 Hier wird die Empirie und mit ihr die induktive Vorgehensweise als Ausgangspunkt der Erkenntnis aufgefasst: »Insofern das Entdeckungsgeschäft von Umständen abhängt, die sich nicht vorsehen lassen, ist es fast unmöglich, den Erfolg bei jeder neuen Veranlassung vorauszubestimmen.«89 Die Forderung nach einer Abkehr von der Systemphilosophie und einer Hinwendung zur Empirie kennzeichnet einen Paradigmenwechsel,90 der insbesondere durch Reisende der Spätaufklärung thematisiert wird. Schon Bougainville bezeichnet es als »Procédé bien singulier, bien inconcevable de la part des gens qui, n’ayant rien observé par eux-mêmes, n’écrivent, ne dogmatisent que d’après des observations empruntées de ces mêmes voyageurs auxquels ils refusent la faculté de voir et de penser.«91 An späterer Stelle unterstreicht er die Bedeutung der Empirie mit den Worten: […] la géographie est une science de faits; on y peut rien donner dans son cabinet à l’esprit de système, sans risquer les plus grandes erreurs qui, souvent ensuite, ne se corrigent qu’aux dépens des navigateurs.92

Lassen diese Aussagen eine gewisse Affinität in Bougainvilles und Forsters Haltung zur Empirie annehmen, so darf eine solche Parallele nicht darüber hinwegtäuschen, welch fundamentaler Unterschied zwischen beiden Weltreisenden liegt. Während Bougainville betont, seine Reiseschilderung sei »surtout pour les marins«93 konzipiert, wodurch er im Vorfeld auf eine erkenntnistheoretische Fachkontroverse verzichtet, geht Forster den umgekehrten Weg. Er problematisiert nicht nur tradierte Hypothesen und Erkenntnissysteme, sondern auch den Umgang mit Informationen aus zweiter oder gar dritter Hand in erkenntnistheoretischer Hinsicht. So hält er in seinem Brief vom 28. Januar 1792 an Heyne »unsere[n] Professoren« vor: Sie wollen immer nur stoppeln, sammeln. Darüber geht der allgemeine Blick verloren und ihr moralisches Auge wird an eine betrübte Myopie gewöhnt. Nichts nährt da den Geist. Der dürre Buchstabe giebt keine Nahrung, wenn man nicht die zarte Empfänglichkeit mit dem Stolz des Bewusstseyns zugleich erhält.94

Zum blinden Sammeln, das er bereits in der Reise um die Welt scharf kritisiert95, kommt nach Forster die Gewohnheit der Gelehrten hinzu, die Fakten vorausgedachten Systemen

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AA V, S. 622. Ebd., S. 625. AA VIII, S. 132. AA V, S. 260. Vgl. u. a. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932, S. 1–35; Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 298–309. Louis Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 20. Ebd., S. S. 118. Ebd., S. 19. AA XVII, S. 35f. AA II, S. 13.

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anzupassen, »die von fern in Augen fallen, aber, bey näherer Untersuchung, uns wie ein Traum mit falschen Erscheinungen betrügen.«96 Solchen Systemen apriorischer Deutung spricht Forster deswegen einen dezidiert heuristischen Stellenwert ab, weil er darin die Gefahr einer positivistischen Reduktion wähnt. Deshalb favorisiert er statt des ›dürren Buchstaben‹ eine erfahrungsbegründete Orientierung, wie sein Lob für Cook deutlich macht: »Ohne Anhänglichkeit an Systeme die er nicht kannte, an Vorurtheile die er belächelte oder verabscheute, blieb sein fester Punkt getreue Darstellung dessen, was er gesehen und erfahren hatte.«97Auch als Rezensent betont er, dass nicht »Mutmaßungen«, sondern »Fakta« das »zuverlässig Wahre« sind, das »mit Sorgfalt und Auswahl [...] gesammelt zu werden verdient.«98 Solche Positionen, wie sie auch bei Alexander von Humboldt zu beobachten sind99, zeigen, welche Bedeutung der Empirie in den erkenntnistheoretischen Überlegungen des späten 18. Jahrhunderts zukommt. Im Vorwort seiner Übersetzung einer spanischen Nachricht über Tahiti unterstreicht Forster seine aus der Erfahrung erwachsene wissenschaftliche Kompetenz mit den Worten: Unsere Begriffe von Völkern, welche nur selten besucht werden, und uns Deutschen wenigstens nur vom Hörensagen bekannt geworden sind, dürften leicht eine schiefe Richtung bekommen, zumahl wenn wißbegierige und wahrheitsliebende Leser nicht den Wunsch befriedigen können: in Ermangelung des eigenen Anschauens, in so viele Gesichtspunkte als möglich geführt zu werden, von wannen andere gesehen haben; und ihre Nachrichten unter einander zu vergleichen.100

Die überaus große Bedeutung, die Forster der unmittelbaren Erfahrung in nahezu allen seiner Schriften einräumt, hat in der Forschung dazu geführt, dass er als Empirist schlechthin angesehen wird. Da eine solche Rezeption irrig ist, bedarf sie der Differenzierung, die Forsters und Kants erkenntnistheoretische Ansätze nahe legen, wenn man sie von ihrer überspitzten Polemik bereinigt. Denn beide Denker, so verschieden sie in den Ausgangspunkten ihrer erkenntnistheoretischen Prämissen auch sein mögen, formulieren abschließend konvergierende Erkenntnisziele. Obwohl Kant bekanntlich die Umgebung seiner Heimat Königsberg nicht verlassen hat, befasst er sich, wie bereits erwähnt, mit Reiseberichten. Entsprechend ausgeprägt sind seine Kenntnisse über die Beschaffenheit der entlegenen Gegenden der Erde. Sein Hinweis, dass etwa die Erkenntnis über den Anfang des Menschengeschlechts »von der Erfahrung hergenommen werden« könne101, lässt erkennen, dass auch er auf die Kate-

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AA II, S.12. AA V, S. 297. Ebd., S. 330. Peter Schmitter hat gezeigt, dass Forster zwar für Humboldts wissenschaftlichen Werdegang eine entscheidende Rolle spielt, dass aber die einseitige Interpretation, die vor allem auf Humboldts Bezeichnung Forsters als sein Lehrer zu relativieren ist. Humboldt distanzierte sich von Forsters politischem Engagement, aber auch der alte Humboldt sieht Forsters wissenschaftliche Leistungen immer kritischer an. Vgl. Peter Schmitter, Georg Forsters ›allgemeine Naturgeschichte‹ und die ›allgemeine Sprachkunde‹ Wilhelm von Humboldts, S. 183f. AA V, S. 35. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 85.

gorie der Erfahrung als Grundlage der Erkenntnis nicht vollkommen verzichtet. Bemerkenswert ist daher sein entsprechendes Postulat, dass »[z]u den Mitteln der Erweiterung der Anthropologie im Umfange [...] das Reisen (gehört); sei es auch nur das Lesen der Reisebeschreibungen.«102 Nach Helmut Holzey ist Kants Erkenntnistheorie seit 1781 durch den Ausgleich zwischen empirischem und rationalem Erkenntnisvermögen des Menschen geprägt. Während die »Sinnlichkeit« sich dabei auf die Erfahrung bezieht und damit den Bereich der praktischen Anschauung abdeckt, fällt der erfahrungsfreie Akt des kategorisierenden Denkens und des Urteils dem Verstand zu.103 Wichtig ist, dass auch Forster sich in der weiteren Entwicklung seiner Erkenntnistheorie auf Kant zu bewegt, mit dem Ergebnis, dass er die dualistischen Gegenüberstellung von Empirie und Systematik auflockert.104 In einem späteren selbstkritischen Rückblick revidiert er seine anfänglich kompromisslose Ablehnung von Kants Erkenntnistheorie. So spricht er beispielsweise in seinem Brief vom 19. November 1788 an Johann Benjamin Jachmann überraschend vom »vortrefflichen Kant«, dem er seinen Respekt zolle, um dann fast kleinlaut hinzuzufügen, dass er »[a]us Mangel an philosophischen Vorkenntnissen« einen Streit mit Kant angefangen habe und »jetzt Gefahr [laufe] vor Vieler Augen einen Sandreiter abzugeben, indem er [Kant, Y.M.] sich mit seiner Kunstsprache in die unüberwindlichste, stachlichste Form des gehetzten Igels zusammengerollt hat, daß man glauben könnte, ihm sey gar nicht beizukommen.«105 Hier wird jene erkenntnistheoretische Zuspitzung, die Forster »in der Sache von den Menschenracen«106 vertritt, durch die Einsicht abgemildert, dass er mit seiner Kritik an Kant weit über das Ziel hinausgeschossen sei. In der Tat verbindet Forster und Kant in der Hinwendung zum Erfahrungsbegriff vor allem die Ablehnung der Autorität des Tradierten. Doch während Kant die Erfahrungswirklichkeit auch als Theorie durchspielt107, sieht Forster Erfahrung und Reflexion in einer »unauflöslichsten Verbindung [...].«108 Demnach vollzieht sich der Erkenntnisprozess in der Harmonisierung der mannigfaltigen Erscheinungen der Erfahrungs- bzw. Gegenstandswelt und der ordnungsstiftenden Leistung der Reflexion. Dies bringt Forster bei seiner späteren Beurteilung von Cooks Leistungen pointiert zum Ausdruck: Die praktischen Erfahrungen, welche beynahe das einzige waren, womit er [Cook, Y.M.] seinen Verstand hier bereichern konnte, gewannen indessen bey ihm, durch den Scharfsinn und die gesunde Beurtheilungskraft, womit er sie verdauete, eine neue Gestalt, und leiteten ihn bald zu dem wichtigen Resultate, welches Tausende in seiner Lage übersehen, daß mathematische und

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Immanuel Kant, Werke, XII, S. 400. Helmut Holzey, Kants Erfahrungsbegriff. Quellengeschichtliche und bedeutungsanalytische Untersuchungen, Basel/Stuttgart 1970. Mit Recht hat Michael Ewert darauf hingewiesen, dass Forster nicht blind dem Empirismus folgt. Vgl. Michael Ewert, ›Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanz vereint‹. Die Essayistik Georg Forsters. Würzburg 1993, S. 115ff. AA XI, S. 645. Ebd. Vgl. Immanuel Kant, Werke, III, S. 311ff. AA, V, S.627.

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vorzüglich astronomische Kenntnisse zur Bildung des geschickten Seemannes unentbehrlich sind.109

Wenn Jörn Garber argumentiert, Forster weise die Vorstellung zurück, »daß es allgemeine, d. h. nicht an die konkrete Erfahrung gebundene Aussagen über Gegenstände der Wirklichkeit gibt, die als Schemata von Erfahrung und Erkenntnis fungieren«110, dann vor allem deshalb, weil Forster »die Beschreibung sinnlich wahrgenommener Darstellungsobjekte in Fachterminologien der Wissenschaften vornimmt.«111 Demnach zielt Forster nicht auf eine Ablösung des abstrakten Denkens durch die Empirie ab. Er macht aber deutlich, dass es um die Erkenntnis nicht gut bestellt wäre, wenn »die Spekulazion freies Feld gewinnt.«112Abstraktionen im Sinne einer theoretischen Reflexion sind ihm zufolge nur dann fundiert, wenn sie von der Erfahrung abgeleitet werden. Hier wird das dialektische Vorgehen erkennbar, das Forsters Umgang mit den Kategorien Erfahrung und Reflexion zugrunde liegt. Der bloßen Instrumentalisierung der Erfahrung, die Forster bei Kant herauszulesen glaubt, setzt er die erkenntnispsychologische Einsicht entgegen, dass kein theoretisches Konzept »den lebendigen Eindruck ersetzten [kann], den wir durch unsere eigenen Sinne erhalten.«113 Obwohl er, wie Garber richtig konstatiert, »dem Erfahrungsvorgang eine doppelte Leistung der Sinne und des Verstandes«114 abzugewinnen versucht, hält er daran fest, dass im Erkenntnisprozess die Sinneswahrnehmung der Reflexion vorausgehen müsse. Anders formuliert: Die synthetische Leistung des Verstandes, nämlich die »Wahrnehmung der Verhältnisse und Absonderung der Begriffe«115 zum Zweck der Beschreibung von Gesetzmäßigkeiten setzt das Erfahrungsmaterial voraus. In dieser Hinsicht trifft die Argumentation Klaus Georg Popps zu, dass Forsters Überlegungen den »Schriften Kants und Herders verpflichtet« seien116, wohl aber im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung, die Spannungsfelder und Übergänge erkennen lässt. Festzuhalten ist, dass Forster es ablehnt, empirische Tatsachen von apriorischen Abstraktionen her zu deuten. Er verlangt auf der Grundlage seiner Weltreise, dass abstraktes Denken aus der Bewertung der empirischen Tatsachen gewonnen werde. Dieser Ansatz läuft aber nicht darauf hinaus, dass das rationale Weltverständnis der Erfahrungsphilosophie Platz macht. Forsters Erkenntnislehre, die im Hinblick auf die grassierende Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert paradigmatisch erscheint, ist das Plädoyer eines engagierten Gelehrten für einen Denkansatz, in dem sinnliche Anschauung und Verstand

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AA V, S. 300. Jörn Garber, Statt einer Einleitung, S. 9. Ebd., S. 7. AA VII, S. 51. AA V, S. 625. Jörn Garber, Statt einer Einleitung, S. 9. AA V, S. 195. Klaus-Georg Popp, Nachwort zu Georg Forster. Cook der Entdecker. Schriften über James Cook Herausgegeben, mit einem Nachwort und Anmerkungen von Klaus-Georg Popp. Leipzig 1983, S. 226.

in der Synthese aufgehoben sind – ein Anspruch, den er in der literarischen Gestaltung seines Weltreiseberichts vielfach einlöst117.

3.

Reisemethodische Grundsätze

Wenn Forster die »Empfindungsart eines jeden Reisenden«118 im Erkenntnisprozess betont, dann spricht er ein wichtiges Moment, nämlich die Subjektivität119 an, deren Spuren auf seine Teilnahme an der zweiten Weltreise Cooks zurückgehen. Auch diesbezüglich liefert die Dokumentation der Weltreise aufschlussreiche Anhaltspunkte. Diese untermauern mit anderer Akzentsetzung, dass Forster eine konzeptive Suche nach Wahrheit »ohne Vorliebe für irgend ein systematisches Hirngespenst«120 anstrebt. Schon in der Vorrede zur Reise um die Welt begründet Forster im Zusammenhang mit den Streitigkeiten zwischen Reinhold Forster und der englischen Admiralität121, weshalb sein Reisebericht und die im Abstand von nur wenigen Wochen erschienenen Journals von Cook nicht bloß als zwei um den Erfolg konkurrierende Werke, sondern vielmehr als notwendig komplementäre Reiseschilderungen zu betrachten sind: Beym ersten Anblick können vielleicht zwo Nachrichten von einer und derselben Reise überflüßig scheinen; allein man muß in Erwägung ziehen, daß sie aus einer Reihe wichtiger Vorfälle bestehen, welche immer durch die Erzählung zwoer Personen in stärkeres Licht gesetzt werden.122

Diese Explikation hat eine heuristische Zielsetzung. Forster macht deutlich, dass das Moment der mannigfaltigen Kulturerscheinungen und die jeweilige Perspektive der Beobachter eine erkenntnistheoretische Relevanz haben. Bereits in der Einleitung des Reiseberichts wird der Leser damit konfrontiert, und zwar durch folgenden Hinweis: »Capitain Cook hatte alle Hände voll zu thun, um das Schiff mit Lebensmitteln zu versehen und wieder in Stand zu setzen, dagegen ich den mannigfaltigen Gegenständen nachgieng,

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Vgl. unten S. 182ff. Klaus-Georg Popp, Cook der Entdecker, S.226. Auch Reinhard Heinritz thematisiert das Moment der »Subjektivierung« in den Entdeckungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts. Doch er meint damit nur die »persönlich gefärbten Motive[n]« der Reisenden, die letztendlich »zu einer Aufspaltung in Privatreisen [führt], deren wissenschaftlicher Anspruch immer mehr als laienhaft erscheint[...]« (Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹, S. 89) Im Hinblick auf Forster geht es vielmehr um die Subjektivität als Bestandteil des Wahrnehmungsprozesses. AA V, S. 627. Die Gründe für diesen Streit erörtert Forster in der Vorrede zu seiner Reise um die Welt. Vgl. AA II, S. 8ff. In Folge dieses Streits wurde Johann Reinhold Forster die ihm zunächst zugesicherte Erlaubnis zur Publikation des offiziellen Reiseberichts wieder entzogen. Vgl. Michael E. Hoare, The Tactless Philosopher. Johann Reinhold Forster (1729–1798). Melbourne 1976. AA II, S. 10. Es ist aber nicht der einzige Grund. Man muss bedenken, dass Forsters Reisewerk etwa die ursprünglich vorgesehenen Kupferstiche nicht mehr enthält, so dass der Verweis auf Cooks Reise auch als Ergänzung zu verstehen ist. Forster ist sich zumindest in dieser Hinsicht der Unvollständigkeit seines Reiseberichts bewusst.

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welche die Natur auf dem Lande ausgestreuet hatte.«123 Vordergründig informiert Forster den Leser über jene Kompetenzverteilung, die während der Reise zu einer impliziten Konkurrenzsituation führte und im Nachhinein schließlich auch in den oben erwähnten Streitigkeiten eine Rolle spielte. Diese Differenzierung ist aber an sich von zentraler Bedeutung. Forster schreibt sich damit in direktem Vergleich mit Cook, dem er nautisches Interesse attestiert, eine wissenschaftlich-philosophische Kompetenz zu. Zwar ist die Interessenvielfalt, die aus der Verschiedenheit der Beschäftigungen beider resultiert, ein plausibler Grund für eine derartige Argumentation, doch bei weitem nicht der entscheidende. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch aufschlussreich ist dabei vielmehr der von Forster vertretene Standpunkt, »daß man einerley Dinge oft aus verschiedenen Gesichtspunkten ansiehet, und daß dieselben Vorfälle oft ganz verschiedene Ideen hervorbringen.«124 Ergänzt wird diese Ansicht an anderer Stelle durch den Zusatz: »Außerdem haben selten zween Reisende einerley Gegenstand auf gleiche Weise gesehen, sondern jeder gab, nach Maßgabe seiner Empfindung und Denkungsart, eine besondere Nachricht davon.«125 Nicht aus einem übergeordneten System bezieht das im Wahrnehmungsprozess befindliche Individuum – in diesem Fall der Entdecker- seine Erkenntnis, sondern aus seiner subjektiven »Empfindung und Denkungsart«, die seine Beobachtungsperspektive126 mitbestimmen. Zudem resultiert aus der »Verschiedenheit unserer Wissenschaften, unserer Köpfe und unserer Herzen [...] nothwendigerweise eine Verschiedenheit in unseren Empfindungen, Betrachtungen und Ausdrücken.«127 An anderer Stelle heißt es: »Ein jeder hat [...] seine eigne Art zu sehen. Nationalcharakter, Nationalpolitik, Erziehung, Klima, und was sonst nicht alles? sind eben so viele Häutchen im Auge, deren jedes die Strahlen anders bricht [...].«128 Der Terminus »Gesichtspunkt« bezieht sich, wie Peter Bexte festgestellt hat, auf die »Beschränktheit innerweltlicher Perspektiven.«129 Zugleich aber wird damit die reflexive Situation markiert, die nach Karl-Heinz Kohl charakteristisch für die ethnographische Feldarbeit ist.130 Forsters erkenntnistheoretischer Vorstoß liegt in dem Postulat begründet, dass die Wahrnehmung so genannter fremder Kulturen und ihre diskursive Sortierung notwendigerweise in die ethnozentrische Perspektive eingebunden ist, welche die Entdeckungsreise zu einer kulturbedingten Aneignung der Wirklichkeit und ihrer Vermittlung macht. Im Wahrnehmungsprozess, aus dem sich die Urteilsbildung über »fremde« Kulturen konstituiert, findet also nicht nur eine subjektive, sondern auch eine kulturbedingte Frak-

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AA II, S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Forster verwendet den Begriff der Perspektive nicht vordergründig im Sinne einer räumlichen Kategorie, sondern vielmehr im Zusammenhang mit dem Begriff der Empfindung. AA II, S. 13. AA V, S. 35. Peter Bexte, Fluchtlinien. Mythen des Horizonts oder das Fazit der Perspektiven, in: Werner Künzel (Hg.), Denken und Reisen. Berlin 1993, S. 45–72, hier S. 52. Karl-Heinz Kohl, Ethnologie, die Wissenschaft vom kulturellen Fremden. München 2000, S. 114.

tionierung der Wirklichkeit statt,131 die sich aufgrund der Interessensunterschiede der erkennenden Subjekte jeder formalisierten Vorgabe entzieht. Die so identifizierte Bedingtheit der Wahrnehmung gehört nach Forster in die erkenntnistheoretische Reflexion, da der Impetus der Erkenntnissuche nicht nur »in jedem Menschen von höchstverschiedener Intension«, sondern auch »nach der mannichfaltigen Verschiedenheit des äusseren Verhältnisses«132 geprägt ist. Dabei handelt es sich um einen Sachverhalt, auf dessen Komplexität Peter J. Brenner mit der Forderung aufmerksam macht, es müssen die ideologischen Fesseln, denen ganze Epochen, ganze Nationen oder soziale Schichten unterliegen, in ihrer Wirkung auf den Realitätsgehalt der Reiseliteratur herausgearbeitet werden. Im gleichen Maß und eng damit zusammenhängend müssen die persönlichen Dispositionen des Reisenden in den Blick genommen werden; seine Darstellung hängt von seiner Einstellung gegenüber dem Leben, vor allem aber der sozialen Lage, dem Niveau von Bildung und Erziehung, den beruflichen Interessen, den politischen Ansichten, religiösen und schließlich von den persönlichen Eigenschaften (Charakter, Temperament, Wahrnehmungsfähigkeit) ab.133

Bezogen auf Georg Forster wird auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine qualitative Zäsur gegenüber älteren Reisenden sichtbar. Diese liegt darin, dass Forster explizit die Momente Subjektivität und Perspektive neu semantisiert, und zwar als konstitutive Bestandteile der empirischen Wahrnehmung der nichteuropäischen Kulturen durch die Entdecker: Zuweilen folgte ich dem Herzen und ließ meine Empfindungen reden; denn da ich von menschlichen Schwachheiten nicht frey bin, so mußten meine Leser doch wissen, wie das Glas gefärbt ist, durch welches ich gesehen habe.134

Mit dieser einzigartigen Reflexion über die Bedingungen der eigenen Wahrnehmung tritt Forster als subjektiver Ich-Erzähler in einen unmittelbaren Dialog mit dem Leser ein, um ihn zur Machart seines Reiseberichts135 anzuleiten und ihn über den Inhalt beurteilen zu lassen. Angesichts des subjektiven Impetus, der sich in dem Hinweis auf »Empfindungen« und menschliche »Schwachheiten« artikuliert, erfährt der vom wissenschaftlichen Erkenntnisprozess erwartete Anspruch auf Wahrheit und Objektivität eine deutliche Relativierung. Forster ist sich offenbar der Tatsache bewusst, dass auch sein Blick auf die Menschen und Kulturen der Südsee nicht von Wahrnehmungsverzerrungen frei ist. In diesem Zusammenhang gewinnt die oben erwähnte Metaphorik des gefärbten Glases eine eigentümliche Bedeutung. Mit ihr wird das xenische System, d. h. das Raster des gesamten kulturellen Hintergrundes des beobachtenden Subjekts impliziert. Die europäische Kultur wird als Prisma in der Wahrnehmung der »fremden« Kultur136 identifiziert,

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Vgl. auch Manuela Ribeiro Sanches, Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne, in: FIP, S. 140. AA VII, S. 17. Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 30. AA II, S. 13. Vgl. unten S. 169ff. Vgl. dazu Dagmar Barnouw, Eräugnis. Georg Forster on the Difficulties of Diversity, in: Daniel Wilson, Robert C. Holub (Hg.), Impure Reason, S. 322–334, hier S. 328.

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die in Analogie zu der eigenen beurteilt wird: »Erfahrung auf Reisen bedeutet demnach, eine über ihre eigenen Formen aufgeklärte Beziehung zu den Gegenständen der Wahrnehmung herzustellen.«137 Wird nun die Perspektive des erkennenden Subjekts durch das xenische System geformt, dann wird auch seine Annäherung an das Erkenntnisobjekt dadurch maßgeblich beeinflusst. Daher artikuliert die ethnographische Subjektivität, die Forster erkenntnistheoretisch anspricht, einen einseitigen Annäherungsakt des verstehenden Subjekts. Sie bildet, bezogen auf die fremde Kultur, das Verstehenszentrum, von dem aus das Objekt betrachtet und beschrieben wird. Wenn Jörn Garber feststellt, »daß jede Aussage über einen Gegenstandsbereich von einem bestimmten Standort des Beobachters abhängig ist«138, dann bestätigt er diese Ansicht, wenn auch der Begriff Standort nicht auf die räumliche Kategorie reduziert werden darf. Forster verwendet den Begriff »Standort« zwar selber nicht, aber er impliziert das entsprechende Bewusstsein für eine grundsätzliche Gebundenheit an die eigene kulturelle Subjektivität und an den historischen Kontext des späten 18. Jahrhunderts. Demnach sind auch Vorurteile im Prozess der ethnographischen Erkenntnis unvermeidbar, da sie nolens volens die Wahrnehmungsvorgabe, den eigenkulturellen Referenzrehamen konstituieren. Indem Forster darauf hinweist, dass der Beobachter seine Empfindung und Reaktionen auf den Gegenstand der Beobachtung projiziert139, macht er auf den Einfluss subjektiver Faktoren bewusst, die Clifford Geertz als eines der grundlegenden Probleme der Ethnologie thematisiert.140 Die unmittelbare Konsequenz, die sich aus der Heranziehung von Subjektivität und Perspektive im Erkenntnisprozess ergibt, liegt in der Betrachtung von Wahrheit als einer relativen Kategorie: »[D]a die Wahrheit [...] in jedem Kopfe anders modifiziert erscheint [...]«141, wirft Forster daher die rhetorische Frage auf: »warum sollte ich mich nicht an die relative Wahrheit halten [...]?«142 Damit gibt er zu verstehen, dass »Wahrheit«, wie sie im Zuge der Begegnung mit fremden Kulturen herausgebildet wird, immer die Perspektive des Beobachters beinhaltet, weil damit auch das »Verhältniß der Dinge […] zu uns«143 artikuliert werde. Sprachliche Wendungen wie »nach europäischen Sitten zu urtheilen«144 oder »unsern vaterländischen Begriffen nach«145, auf die Forster oft in der Reise um die Welt rekurriert, kennzeichnen die Perspektivierung seiner Aussagen deutlich. Gleichzeitig lassen sie aber auch die Schwierigkeit des Gelehrten Forster erkennen,

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Rotraut Fischer, Reisen als Erfahrungskunst – Georg Forsters »Ansichten vom Niederrhein«. Die »Wahrheit« in den »Bildern des Wirklichen«. Frankfurt/M. 1990, S. 267. Jörn Garber, Statt einer Einleitung, S. 7. Vgl. Jörn Garber, Georg Forster – ein Universalgenie im Zeitalter der Aufklärung, in: Fürstenhof und Gelehrtenrepublik: hessische Lebensläufe des 18. Jahrhunderts. Wiesbaden 1999, S. 61–71. Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1987. AA VII, S. 11. Ebd. AA V, S. 199. AA III, S. 199. Ebd., S. 295.

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den kulturellen Sinnhorizont der von ihm bereisten Südseeinseln adäquat zu erfassen – eine Tatsache, die sich gerade auch in verschiedenen interkulturellen Interaktionssituationen beobachten lässt.146 Zwei Grundaspekte lassen sich in diesem Gedankenkontext herausstellen, nämlich einerseits die Ansicht, dass die Bemühung der Aufklärung um die Erkenntniserweiterung zwar als »Weg zur Wahrheit«147, aber die Wahrheit an sich als ein für den Menschen unerreichbares Ziel interpretiert wird: »der Verstand des Sterblichen ist leider zu kurzsichtig«, schreibt Forster kurz vor dem Ende der Weltreise, »um in den Werken der Natur überall die eigentlichen Absichten des weisen Schöpfers zu entdecken, besonders wenn noch so wenig Beobachtungen, als in gegenwärtigem Falle, dazu vorhanden sind.«148 Andererseits entlarvt Forster damit den Anspruch auf Besitz der Wahrheit als eine Illusion, die den Unternehmungsgeist des Menschen im Dogmatismus erstarren lässt. Die Wahrheit bietet sich dem Menschen nicht in ihrer Ganzheit, sondern »nur in abgerissenen Theilen«149 dar und stehe, so Forster, »am Ende einer Reihe von Schlüssen.«150 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis versucht Forster die Möglichkeiten von Objektivität zu eruieren. So fordert er, das Streben nach objektiver Erkenntnis an den Abgleich verschiedener subjektiver Einzelerfahrungen und Perspektiven mit dem Ziel anzubinden, individuelle Ansichten zu einem bestimmten Erfahrungsgegenstand kenntlich zu machen und sie dann komplementär in Beziehung zueinander zu setzen. Daher schreibt Vanessa Agnew: Yet, because every observer sees differently, when theoretical conceptions are tested against empirical reality, the comparative mode also serves as a means of distilling new questions and highlights the singurality, and perhaps greater truth of divergent interpretations.151

In der Tat begründet Forster seine Forderung nach einem vergleichenden Umgang mit Reiseberichten damit, daß sowohl die persönlichen Eigenschaften der Beobachter, als die Lokalumstände, und andere Verhältnisse, worin sie sich befanden, ihren Werken selbst in Absicht auf das Materielle, auf die darin enthaltenen Thatsachen, einen verschiedenen Charakter und einen bestimmten Werth geben.152

Eine solche Betonung des subjektiven Faktors erklärt sich aus dem Umstand heraus, dass Forsters Reisebericht neben seinem wissenschaftlichen Anspruch auch zahlreiche nicht objektivierbare Momente einbezieht, die dem Leser den apodiktischen Glauben an die absolute Wahrheit austreiben sollen. Nach Astrid Schwarz ist eine solche Vorstellung

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Vgl. S. 141f. AA VII, S. 13. AA III, S. 378. AA VII, S. 18. AA VIII, S.78. Vanessa Agnew, Ethnographic Transgressions and Confessions in Georg Forster’s »Voyage Round the World«, in: Nicholas Saul u.a (Hg.), Schwellen. Germanistische Grundlegungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 304–315, hier S. 309. Ebd.

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für Forster ein »idealistischer Traum und Zwangslegitimation«.153 An ihre Stelle tritt die Erkenntnis der subjektiven Authentizität, die insbesondere durch die »pluralistische Perspektivik«154 modelliert wird. Dadurch widerspricht Forster eindeutig dem Wahrheitsanspruch des instrumentellen Rationalismus, »denn in diesem Falle werden die Begriffe von absoluter und relativer Wahrheit dergestalt mit einander verwechselt, daß man sich unfehlbar von jener desto weiter entfernt, je mehr man diese verschmäht.«155 Forsters Erweiterung des Wahrheitsbegriffs um die subjektive Komponente stellt eine selbstreflexive Denkweise dar, die antizipatorisch deutliche Parallelen zum postmodernen Dispositiv der pluralen Erkenntnis zeigt. Anke Haarmann156 stellt beispielsweise fest, dass führende französische Philosophen des vergangenen Jahrhunderts alle Diskurse dekonstruieren, »die sie allesamt als manifest, zentriert, unbeweglich, allumfassend, wahrheitsmächtig oder einheitlich charakterisieren.«157 Haarmann sieht im Postrukturalismus eine Auffassung von der Wissensbildung als einem produktiven Erkenntnisprozess, der dem Bewusstsein von der Relativität des Wissens und von dessen Heterogenität verpflichtet ist: »Die Relativierung moderner Wissenstypen kritisiert deren absoluten Anspruch, denn kein Wissen kann sich unabhängig vom kulturellen Fundament wähnen, dem es aufliegt.«158 Wenn auch die Kategorien Dekonstruktion und Postrukturalismus sich aus dem modernen epistemologischen Begriffsfeld herauskristallisiert haben, so formulieren sie doch das bereits von Forster erkannte und ausdrücklich geforderte Prinzip »der pluralen Erkenntnis.«159 Dies geschieht durch eine schrittweise Überwindung der einseitigen Subjektivität mittels wechselseitiger Überprüfung. Insbesondere Friedrich Nietzsche hat, fast hundert Jahre später, dieses heuristische Moment in der Formel radikalisiert, »dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss«, denn »[e]s giebt nur ein perspektivisches Sehen, n u r ein perspektivisches ›Erkennen‹.«160 In seinem Fragment eines Briefes an einen deutschen Schriftsteller über Schillers ›Götter Griechenlands‹ (1. Fassung: 1788, 2. Fassung:1793) hält Forster dem orthodoxen Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg in teils polemisch-sarkastischem, teils ironischem Duktus vor, Schillers Gedicht gänzlich missverstanden zu haben. Interessant dabei ist aber vor allem die Art und Weise, wie er sich seiner Theorie des Subjektivismus bedient, um gegen den Rezensenten zu argumentieren: »Ihre Überzeugung nennen Sie also Wahrheit?«, fragt er rhetorisch und fährt fort:

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Astrid Schwarz, Georg Forster, S. 149. Wolfgang Hinrichs, Kulturelle Pluralität und Identität in Schleiermachers Philosophie und Professorenethos, in: Eberhard Beckers u.a (Hg.) Pluralismus und Ethos der Wissenschaft. Gießen 1999, S. 199–235, hier S. 217. AA V, 626. Anke Haarmann, Die Natur des Menschen – philosophisch betrachtet, in: Ästhetik & Kommunikation. Heft 121. 34. Jahrgang. Erkenntniskritik und Macht. S. 83–89. Ebd., S. 83. Anke Haarmann, Die Natur des Menschen – philosophisch betrachtet, S. 84. Ebd., S.85. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta. München 1958, Bd. II, S. 861.

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In dem nämlichen Augenblick, wenn Sie damit im Gerichtsaal auftreten, werden ganze Schaaren ähnlicher Wolkengestalten erscheinen. Umsonst rufen Sie, die Ihrige sey allein die ächte. Hunderte andere Stimmen erklären sich laut, eine jede für eine verschiedene vermeyntliche Wahrheit. Wollen Sie jene anderen alle überschreyen?161

Hier wird deutlich, dass Forster der willkürlichen Verallgemeinerung des partikularen Geltungsbereichs individueller »Wahrheit« das Moment der Perspektive entgegensetzt, durch das er gegen den dogmatischen Anspruch auf absolute oder übergeordnete Erkenntnis opponiert. Für ihn verkörpert Stolberg den intellektuellen Despotismus und damit ein »Wähnen über Dinge [...], die jenseits [der] Erfahrung und Erkenntnis liegen!«162 Bereits in der Reise um die Welt fordert Forster die Reisenden dazu auf, den Leser nicht durch ihre Schilderungen zu vereinnahmen, sondern ihm »den Weg zu neuen Entdeckungen und künftigen Untersuchungen zu bahnen«.163 Mit der Forderung nach der (intellektuellen) Freiheit als einer der zentralen »Triebfedern des wissenschaftlichen Fortschrittes«164 zielt er darauf ab, dass der Leser an der Subjektivität des Reisenden teilhat und sich zugleich in die Lage versetzt, sich seine eigene Meinung über die ihm vorgelegten Reiseberichte zu bilden. Als ständig reflektierender Beobachter, der den Reisebericht von einer reinen Erzählung löst und zum Gegenstand des Nachdenkens über Fragen der Kulturbegegnungen macht, verfolgt Forster das Ziel, die Wechselbeziehung zwischen Entdecker, Erkenntnisobjekt und dem europäischen Leser des Reiseberichtes zu operationalisieren. Eine solche Theorie hat insofern einen heuristischen Stellenwert, als in der Betonung des wissenschaftlichen Charakters der Südsee-Reisen im späten 18. Jahrhundert oft der Eindruck erweckt wird, als seien diese Reisen allein schon dadurch zur Erfüllung des aufklärerischen Programms prädisponiert, weil ihnen statt der Neigung zur Legendenbildung wie in früheren Reiseberichten nun der erkenntnissensibilisierte und nüchterne Blick der aufgeklärten Entdecker zugrunde liege. Dem scheint aber Forster anhand der bisher angeführten Beispiele relativierend entgegen zu treten. Denn aus der Bindung des Erkenntnisgegenstandes an das Erkenntnissubjekt, dessen Wahrnehmung insgesamt ethnozentrischen Einflüssen unterliegt, folgert Wolf Lepenies, dass Forster »die Beachtung der Wahrnehmungsverzerrungen, denen jeder Reisende ausgesetzt ist«165, formuliert. Das ist genau der Punkt, den Forster in der »Vorrede« der Reise um die Welt anspricht, wenn er notiert: »Man mußte also erst mit dem Beobachter bekannt seyn, ehe man von seinen Bemerkungen Gebrauch machen konnte.«166

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AA VII, S. 7. Ebd., S. 6. AA II, S. 13. AA VII, S. 57. Die Forderung nach Freiheit ist bei Forster nicht ausschließlich politisch zu verstehen. Er meint sicherlich auch eine intellektuelle Loslösung vom tradierten Wissenskanon und damit den freien Gebrauch der individuellen Verstandeskräfte. Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, S. 126. AA II, S. 13.

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Da Entdeckungsreisen durch die Subjektivität des Beobachters und den ideologischen Hintergrund seiner Kultur vorbelastet sind, schließen dokumentierte Reiseerfahrungen auch nichtreflektierte kulturelle Vorurteile des Reisenden mit ein: »Erfahrung auf Reisen bedeutet demnach, eine über ihre eigenen Formen aufgeklärte Beziehung zu den Gegenständen der Wahrnehmung herzustellen.«167 Die programmatische Forderung nach einer Reflektierung des eigenen subjektiven Erkenntniswegs und -hintergrunds geht einher mit der Frage, wie Forster Objektivität im Rahmen des empirischen Erkenntnisvorgangs postuliert. Hans Joachim Piechotta weist beispielsweise darauf hin, dass es »den avanciertesten Vertretern der Reisebeschreibung im 18. Jahrhundert darauf [ankomme], die subjektive Bestimmtheit von Wirklichkeit im Sinne der Identität zwischen einem allgemeinen Ich und dem Gegenstand zu thematisieren.«168 Tatsächlich problematisiert Forster, wie kaum ein anderer Reisender vor ihm, das dialektische Verhältnis zwischen dem erkennenden Subjekt (europäischer Entdecker) und dem Erkenntnisgegenstand (südpazifische Kultur). Dabei wird deutlich, wie Ribeiro Sanches feststellt, dass das Subjekt »nicht statisch oder problemlos die Empirie wahr[nimmt], sondern [diese] nach seinen subjektiven Vorstellungen oder Vorurteilen«169 ändert. Diese Reflexion leitet zu der Feststellung über, dass das tatsächliche Ziel, welches Forster durch das Reflektieren des Affektionsmoments empirischer Erfahrung verfolgt, darin liegt, den Weg eines undogmatischen Strebens nach Erkenntnis zu eröffnen. Auf diese Weise wird dem Leser von Reiseberichten erkenntnistheoretisch vor Augen geführt, dass die Repräsentation der Südsee durch zwei Momente geprägt ist, nämlich zum einen durch die europäische Kultur, welcher der Reisende sich zugehörig fühlt und die »Brille« seiner Wahrnehmung bildet, und zum anderen durch den besonderen historischen Kontext der Aufklärung, in dem der Beobachter geistig verwurzelt ist. An beiden Momenten wird ersichtlich, dass der Reisebericht nicht mit einer unumstößlichen Wahrheit gleichzusetzen ist – auch der Reisebericht der Aufklärung nicht –, denn die Projektion der eigenkulturellen Vorurteile auf den Gegenstand der Dokumentation, nämlich die fremde Kultur, ist konstitutiver Bestandteil der Reisebeschreibung. Nach Thomas Strack forderte bereits Voltaire die Reisenden dazu auf, »ihre Beobachtungssituation im Bericht mit darzustellen und damit für den Leser eine kritische Teilhabe an der Entstehung von Schlussfolgerungen zu ermöglichen [...]«170 Strack folgert deshalb zu Recht, dass Forster »auf die Partikularität seiner Ergebnisse und die Bedingtheit der Erkenntnis hin[weist], was dann auch zur Vorsicht bei den Schlussfolgerungen aus jenen

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Rotraut Fischer, Reisen als Erfahrungskunst, S. 267. Hans Joachim Piechotta, Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Reisebeschreibung: Friedrich Nicolais Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, in: Hans Joachim Piechotta (Hg.), Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung. Frankfurt/M. 1976, S. 98–148, hier S. 99. Manuela Ribeiro Sanches, Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne, S. 138. Thomas Strack, Exotische Erfahrung und Intersubjektivität. Reiseberichte im 17. und 18. Jahrhundert. Genregeschichtliche Untersuchung zu Adam Olearius – Hans Egede – Georg Forster. Paderborn 1994, S. 17.

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privilegierten Beobachtungen und zu einer besonderen Aufmerksamkeit für die jeweils verwendeten Darstellungszusammenhänge führt.«171 Doch die Erkenntniskonzeption Forsters erweist sich besonders dort als prekär, wo sie zu der wohl berechtigten Frage veranlasst, ob Forster »mit dem Nachdruck auf Perspektivismus und Relativismus [...] nicht zugleich den Zugang zu einer allgemeinen, mitteilbaren, d. h. objektiven Wahrheit, wie sie den Ansprüchen der Aufklärung entspricht«172, aufgibt. Obwohl die Antwort auf diese Frage in den vorangehenden Überlegungen zumindest teilweise vorweggenommen wurde, scheint es geboten, ihre Berechtigung ins Bewusstsein zu rufen, denn Forsters Überlegungen weisen in der Tat solche Bruchstellen auf, die diese Deutung nahe legen und somit zu dem Schluss verführen könnten, dass sich jede Erkenntnis, weil aus einer individuellen bzw. subjektiven Erfahrung hervorgegangen, in der Beschränktheit der Einzelperspektive erschöpft. In Forsters Forderung nach der Berücksichtigung der individuellen Wahrnehmungsperspektive werden einige wesentliche Aspekte in der Entwicklung des Reiseberichts als Mittel des Aufklärungsprogramms am Ende des 18. Jahrhunderts sichtbar. Es handelt sich zum einen um eine methodische und erkenntnistheoretische Konzeption. Sie bezieht nach Justin Stagl »auch die Erlebnisform« ein, wodurch der »Erlebnis- und Erkenntnisaspekt des Reisens« miteinander verwoben werden.173 Zum anderen geht es um das, was Wolfgang Hinrichs im Hinblick auf Schleiermacher als »Einsicht in das Recht des anderen zu seiner Sicht, in die Relativität und das Recht eigener und fremder Sichtweise« bezeichnet.174 Von diesem Standpunkt aus kann Forster nicht nur der »Gefahr des positivistischen Glaubens«175 begegnen, die in der einseitigen Verallgemeinerung subjektiver Erfahrungen lauert, er leitet daraus zugleich das Postulat ab, dass sich der Reisebericht nicht in der (Re)produktion der subjektiven Wahrnehmung des erkennenden Subjekts erschöpft. Vielmehr macht er deutlich, dass das Bemühen um Objektivität keinesfalls gegen Ethnozentrismus gefeit ist. Gleichwohl gilt die damit implizierte allgemeine Kritik nicht dem Streben nach Objektivität an sich, sondern der künstlichen Stilisierung der subjektiven Perspektive und Wahrnehmung zur absoluten Wahrheit: Wir suchen die Wahrheit, jeder mit eigenem Gefühl, jeder mit Geisteskräften, die für ihn unfehlbar sind und seyn müssen. Giebt es also eine allgemeine, von allen anzuerkennende Wahrheit,

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Ebd., S. 197. Manuela Ribeiro Sanches, Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne, S. 140. Justin Stagl, Der wohl unterwiesene Passagier. Reisekunst und Gesellschaftsbeschreibung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: B.I. Krasnobaev, Gert Robel und Herbert Zeman(Hg.), Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung. Berlin 1980, S. 353–384, hier S. 379. Wolfgang Hinrichs, Kulturelle Pluralität und Identität in Schleiermachers Philosophie und Professorenethos, in: Eberhard Beckers, Petrer C. Hägele, u. a. (Hg.), Pluralismus und Ethos der Wissenschaft. Gießen 1999, S. 199–235, hier S. 212. Manuela Ribeiro Sanchez, Dunkelheit und Aufklärung – Rasse und Kultur. Erfahrung und Macht in Forsters Auseinandersetzung mit Kant und Meiners, in: Georg-Forster-Studien VIII (2003), S. 53–82, hier S. 70.

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so führt kein anderer Weg zu ihr als dieser, daß jeder sage und vertheidige, was ihn Wahrheit dünkt.176

Mit dieser Aussage ist nicht die Reduktion der Erkenntnis auf die Subjektivität des Beobachters gemeint, womit Forster jeden Anspruch auf Objektivität aufgeben und seine eigene Erkenntnistheorie ad absurdum führen würde. Auch ist das Eingeständnis des Anteils an subjektiver Wahrnehmung nicht mit einer etwaigen Aufhebung des Anspruchs der Wissenschaft auf objektive Erkenntnis gleichzusetzen: Aus der freyen Äusserung aller verschiedenen Meynungen, und ihrer eben so freyen Prüfung muß endlich, insoweit dieses eingeschränkte, kurzsichtige Geschlecht überhaupt zu einer solchen Erkenntnis geschickt ist, die lautere Wahrheit als ein […] jeden Sinn erfüllendes Resultat hervorgehen […] 177

Forsters Kampf gegen das Meinungsmonopol vollzieht sich also in der Anerkennung der Pluralität der subjektiven Standpunkte. Andererseits setzt sich hier die Erkenntnis durch, dass eine grenzenlose Relativierung des Objektivitäts- und Wahrheitsbegriffs und damit letztendlich auch des Stellenwertes der Reiseberichte innerhalb des Aufklärungsprogramms in die Sackgasse führt. Daher artikuliert Forster rückblickend in seiner 1792 erschienenen Rezension der Reisebeschreibung des Abbé Rochon das, worauf es bei der Überlegung nach den Bedingungen einer möglichen Objektivität erkenntnistheoretisch ankommt: Alle diese Reiseberichte zusammengenommen reitzen vielmehr die Wißbegierte der Leser, als daß sie dieselbe befriedigen sollten. Je mehr sie in manchen Details von einander abweichen, desto unterhaltender ist es, mit ihnen gleichsam in Gedanken zu reisen und durch die Farbe des Glases hindurch, welche jedem Verfasser seine eigenthümliche Ansicht verlieh, den wahren Charakter der Einwohner und die wirkliche Beschaffenheit des Landes zu errathen.178

Die Metaphorik der »Farbe des Glases« bildet den ethnozentrischen Referenz- und Bezugsrahmen, durch den die Erfahrungen des Reisenden gefiltert und bearbeitet werden. Ob die »Farbe des Glases« es ermöglicht, den »wahren Charakter der Einwohner« zu sehen, bleibt fraglich; es ist aber anzunehmen, dass die Nutzung des »Glases« gerade auch im sensiblen Prozess der Kulturbegegnung unweigerlich Nachteile mit sich bringt, die in der Wertung des Gesehenen nach europäischen Maßstäben zu sehen sind. Mit anderen Worten: Die Brille ermöglicht es Forster, die neuen Kulturen der Südsee und die vertraute eigene Welt anders zu sehen, was zu Relativierungen, aber auch zu Zuspitzungen führt. Die Vielfalt der Standpunkte, wie sie in verschiedenen Reiseberichten notwendigerweise auftritt, wird als eine unterhaltende und zugleich bildende Bereicherung interpretiert. Vielleicht liegt hierin der Grund, warum Forster seinen späteren Reisebericht mit dem Begriff Ansichten179 betitelt. Das Phänomen der Polyperspektivität versteht Forster

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AA VII, S. 1. AA VII, S. 1 AA V, S. 625. AA IX (Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790).

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dabei allerdings nicht als Selbstläufer, da Objektivität nicht automatisch aus der Summe einzelner subjektiver Wahrnehmungen resultiert. Er betont vielmehr das Moment der »Beobachtungsdifferenziertheit.«180 Die Heranziehung unterschiedlicher Perspektiven und ihre Reflektierung gehen einher mit einem Erfahrungszuwachs, der zum einen den Erkenntnisprozess fördert und zum anderen zu einer selbstständigen Reflexion motiviert. Folgt man Uhlig, so beinhaltet Forsters Forderung nach der Perspektivenvielfalt, womit er auch aus dem Schatten seines Vaters herauszutreten versucht181, ein »erkenntnisförderndes Moment.«182 Da aus Forsters Sicht Verstehen immer standpunktgebunden ist, bedeutet die Wahrnehmung anderer Perspektiven zugleich eine selbstkritische Reflektierung der eigenen. Den aufgeklärten Leser will Forster offenbar für die besondere Erkenntnis sensibilisieren, dass sich umfassende Kenntnisse über ferne Kulturen kaum aus einer Einzelperspektive gewinnen lassen. Er setzt auf das heuristische »Anerkennen der Differenz«183 unterschiedlicher subjektiver Perspektiven, deren komparative Beurteilung es ermöglicht, eine dogmatische Fixierung einzelner Sichtweisen zu vermeiden. Für das Verständnis dieser theoretischen Position als eines konstituierenden Moments in der Reise um die Welt erscheint Forsters Schrift vom Brotbaum (1784) aufschlussreich. Darin lassen sich manche Passagen als nachträglicher Kommentar der bereits während der Weltreise umgesetzten Theorie, ja in gewisser Hinsicht als explikativer Text für den Weltreisebericht lesen: Er setze nicht nur den Brotbaum in vergleichende Beziehung zu ähnlichen eßbaren Pflanzen, sondern sucht auch zu erfassen, welche Fäden den naturkundlichen Gegenstand zum Beispiel mit geographischen, meteorologischen, ethnographischen, siedlungskundlichen, historischen du wirtschaftlichen Faktoren verknüpfen.184

Hieraus lässt sich folgern, dass die Heranziehung verschiedener Perspektiven, die Forster in Reise um die Welt praktiziert, darauf hinausläuft, »den Verstehenshorizont aufzufächern und die eigenen unhinterfragten Wertmaßstäbe zu problematisieren.«185 Die aufklärerische Bedeutung dieses erkenntnistheoretischen Verfahrens, durch das Forster den »Verdacht des Subjektivismus«186 zu überwinden versucht, liegt insofern in dem schöpferischen Umgang mit der Perspektivenvielfalt, als jeder Reisebericht eine »Veranlassung zum eigenen Denken«187 bildet: »[S]o ist es«, schreibt Forster in der oben erwähnten Rezension, bei der Beschreibung von entferntern Ländern und Völkern, welche wir selbst zu sehen keine Gelegenheit haben, gerade das Erwünschteste, was sich zu unserer Befriedigung denken läßt,

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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 117. Vgl. Kapitel V, S. 176. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines aufgeklärten Weltbürgers, S. 86. Vgl. ders: Instructio Peregrinatoris. Georg Forsters Lehrjahre im Schatten seines Vaters, in: Eurphorion 94 (2000), 43–78, insbesondere S. 74f. Manuela Ribeiro Sanches, ›Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne‹ , S. 141. Georg Forster: Werke in vier Bänden, hg. v. Gerhard Steiner. Leipzig 1971, Bd. 2, S. 141. Marita Metz-Becker, Kulturvermittlung als Fortschrittsprogramm, S. 181. Manuela Ribeiro Sanches, ›Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne‹, S. 139. AA V, S. 376.

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wenn mehrere Schilderungen, aus verschiedenen Gesichtspunkten oder von verschiedenen Seiten, mit verschiedenen Graden von Kenntniß und Empfänglichkeit entworfen, uns in Stand setzen, von demselben Gegenstande ein desto bestimmteres Bild zu entwerfen [...]188

Die Einsicht in die Notwendigkeit pluralistischer Perspektiven ist der wichtigste Impetus für Forsters spätere Beschäftigung mit dem französischen Kulturphilosophen Marie Jean Antoine Condorcet (1743–1794). Bekanntlich tritt Condorcet in seinem politisch geprägten Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions prises à la pluralité des voix für das Prinzip der »pluralité des voix« ein, wovon Forster sich stark angesprochen fühlen musste189, da es mit seiner Forderung nach einer Perspektivenvielfalt kongruiert. Damit antizipiert Forster ein Konzept, das in die Ethnologie des 20. Jahrhunderts als »radical polyphony«190 eingegangen ist. Gemeint ist eine pluralisierende Darstellungsweise, bei der es darum geht, die ethnographische Beobachtungssituation zu dezentrieren. Mit Recht weist Anke Gilleir191 auf die Parallele zwischen Forsters Forderung nach der Anerkennung der Perspektivenvielfalt und Michail Bachtins Theorie der Dialogizität192 hin. Nach Bachtin offenbart sich die Erkenntnis über einen Gegenstand nicht im monologischen Diskurs, sondern immer »vor dem Hintergrund anderer konkreter Äußerungen über dasselbe Thema, [und] im Zusammenhang der [...] differenzierten Meinungen, Standpunkte und Wertungen.«193 Genau aus diesem Grund lehnt Forster, wie bereits erläutert, den Anspruch auf das Wahrheitsmonopol vehement ab. Seine erkenntnistheoretische Haltung schreibt sich insofern in das (selbst)kritische Programm der Aufklärung ein, als sie erkennen lässt, dass der Absolutismus der Vernunft einiger seiner Zeitgenossen die Gefahr einer Dogmatik enthält, die er sogar in die Nähe des Despotismus bringt: »[...] ich mag keinen Despotismus« schreibt er an Friedrich Heinrich Jacobi, nicht ohne zu betonen, auch nicht den der allgemein gültigen Principien. Eine allein seligmachende Philosophie ist mir so zuwider, wie ein allein seligmachender Glaube. [...] Diese ausschließende Rechthaberei hat mich immer revoltirt. Gegen sie schreibe ich den Aufsatz über Proselytenmacherei, gegen sie schrieb ich, als ich Schiller’n vertheidigte.194

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Ebd., S. 625. Am 15. Juni 1789 schreibt Forster an seinen Verleger Spener: »Ich habe andere Arbeiten in Händen, die ich zwar aufschieben, aber nicht ganz aufgeben kann; das eine ist Condorcets Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions prises à la pluralité des voix; das andere ist Cepède, Quadrupedes ovipares – jenes muß ich übersetzen, weil es mir einen Freund macht; diese möcht‹ ich übersetzen, weil es leichte Arbeit ist, und ichs schon in Göttingen angefangen habe.« (AA XV, S. 305f). Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht Realität. James Clifford, The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography, Literature and Art. Cambridge 1988, S. 51f. Anke Gilleir, Die Vielstimmigkeit der Aufklärung. Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 27, 2.(2003), S. 171–188. Vgl. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt/M.1979. Ebd., S. 173. AA XV, S. 363.

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Folgerichtig sieht Forster in dem Versuch, »jene begünstigte Form zur einzigen zu erheben, alle andere neben ihr zu vernichten, und sie, die einzige, ewig unverändert zu erhalten«195 eine unstatthafte Verengung von Perspektiven. Den Dogmatismus hält er für »neuere Attentate gegen die Denk- und Gewissenfreyheit.«196 Deshalb prangert er in dem Aufsatz Über den Gelehrten Zunftzwang197 den Vorrechtanspruch des apriorischen Systemdenkens mit den Worten an: »Diejenige Vorstellungsart [...], die keine andere neben sich dulden mag, die allein gelten will, wo alle gleiche Ansprüche und gleiche Mängel haben, verdient allein in die Schranken der Gleichheit zurückgewiesen zu werden.«198 Doch der Begriff der Gleichheit ist insofern differenziert zu verstehen, als Forster ihn hier ausschließlich auf das Recht und den Anspruch jedes Einzelnen auf Erkenntnis bezieht, ohne jedoch die individuelle Anschauung zum universellen Maßstab erheben zu wollen, denn »[w]er anders empfindet, wird auch anders urtheilen.«199 Und wenn Forster betont, er fordere »von niemandem Gleichheit der Denkungsart«200, so vor allem deshalb, weil wir überall das Bild der Wahrheit im Spiegel der Vernunft, bald mehr, bald weniger verzerrt, auch in der seltsamsten Strahlenbrechung noch ehren und von unserer eigenen Vernunft ohne die lächerlichste Inkonsequenz nicht glauben dürfen, daß sie allein untrüglich und ihr Spiegel allein geradeflächig sei.201

Nicht also der differenzlosen Einheit, sondern der Differenz hat die auf Empirie basierende Erfahrungswirklichkeit Rechnung zu tragen. Forster geht es folglich nicht darum, Objektivität zugunsten des Perspektivismus und des Relativismus aufzugeben. Im Gegenteil ermöglichen ihm erst differenzierte Ein- und Ansichten eine objektive Beurteilung darüber, »wie die Authenticität einer Reisebeschreibung beschaffen seyn kann.«202 Peter Brenner nimmt sogar Forsters Reisebericht gegen den Verdacht der »Fiktionalisierung von Realitätsbezügen« in Schutz: Wie auch immer der skeptische Erkenntnistheoretiker Forster seine Wahrnehmung subjektiviert und im Sinne der späteren Aufklärung durch die Reduktion des Wahrheits- auf einen Wahrscheinlichkeitsanspruch relativiert: Der Anspruch auf Authentizität des Mitgeteilten, wenn auch in subjektiver Perspektive, wird nicht preisgegeben und der tatsächliche, nicht nur fingierte Realitätsbezug bleibt ein konstituierendes Merkmal der Gattung Reisebeschreibung.203

In Forsters Reflexionen kristallisiert sich eine Erkenntnis- und Denkmethode heraus, in der jede Selbstzentrierung hinterfragt wird, weil sie sich für das aufgeklärte Projekt der Horizonterweiterung als Hindernis erweist:

195 196 197 198 199 200 201 202 203

AA VII, S. 2. Ebd., S. 4. AA VIII, S. 228–233. Ebd., S. 232. AAVII, S. 26. Ebd., S. 13. Ebd. AA II, S. 12. Peter Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 155.

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Je mehr sie [die Reiseberichte, Y.M.] in manchen Details voneinander abweichen, desto unterhaltender ist es, mit ihnen gleichsam in Gedanken zu reisen und durch die Farbe des Glases hindurch, welche jedem Verfasser seine eigenthümliche Ansicht verlieh, den wahren Charakter der Einwohner und die wirkliche Beschaffenheit des Landes zu errathen.204

Statt einer engbrüstigen Spezialisierung favorisiert Forster eine interdisziplinäre Arbeitsund Denkweise ausdrücklich: Bei der klaren Überzeugung, daß es unmöglich sey, alles zu umfassen, verfällt man gar zu leicht auf den Gedanken, sich einen gewissen Kreis von Ideen auszuwählen, sich auf irgend ein besonderes Fach der Kenntnisse zu beschränken, um dieses, wo möglich ganz zu schöpfen. Allein der falsche Grundsatz, von dem man in einem solchen Falle ausgehen muß, daß nehmlich die Zweige des menschlichen Wissens sich so vereinzeln und absondern, und unabhängig von ihren Beziehungen auf das Ganze dennoch vollkommen erschöpfen lassen, führt unmittelbar zu einer Einseitigkeit und Armuth des Geistes, welche dem Zweck, den man erreichen wollte, gerade entgegensteht.205

Die Modernität dieser Gedanken liegt in der Forderung nach einer Vernetzung der Disziplinen. In diesem Sinne trägt Forster, den Gerhard Pickerodt »einen enzyklopädisch gebildeten Autor« nennt206, nicht nur dem Geist seiner Zeit Rechnung207, sondern er begründet zugleich die Notwendigkeit der Interdisziplinarität, wie sie in der modernen Forschung unverzichtbar geworden ist. Forster meint: »Beobachtung und Erfahrung erweitern und verbinden alle Wissenschaften miteinander.«208 In seiner Schrift Ein Blick in das Ganze der Natur (1781)209, in der er teilweise auf Erkenntnismomente seines Forschungsaufenthalts im Südpazifik anspielt210, wendet sich Forster gegen die Einteilung der Wissenschaft in »Facultäten« und »Unterabtheilungen und Fächer«.211 Seine Forderung nach Interdisziplinarität erneuert er dabei mit dem Argument, »daß jegliche Wissenschaft unfruchtbar ist, solange sie ledig bleibt, und daß alle Wissenschaften reiche Früchte tragen, wenn sie sich untereinander umarmen und küssen und gemeinsam in einer Ehe miteinander verbinden.«212 Diese an Sprachbildern reiche Aussage lässt Forsters Modernität greifbar werden.213 Daran knüpft auch sein Wilnaer Vortrag Limites historiae naturalis vom 2. Februar 1785

204 205 206 207

208 209 210 211 212 213

AA V, S. 625. Ebd., S. 626. Gerhard Pickerodt, Aspekte der Aktualität Georg Forsters, in: Gerhard Pickerodt (Hg.), Georg Forster in seiner Epoche. Berlin 1982, S. 4–8, hier S. 5. Ralph-Rainer Wuthenow argumentiert, dass das Verlangen nach globalem Wissen Ausdruck der Umrundung des Globus ist. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt/M. 1980, S. 351. Dieses globale Bewusstsein erfordert zu Forsters Zeit ein universales Bildungsspektrum. Spezialisiertes Wissen sieht man noch als Ausdruck eines beschränkten Kenntnishorizontes an. AA V, S. 295. AA VIII, S. 77–97. Der im Kontext einer Vorlesung am Collegium Carolinum in Kassel entstandene Aufsatz trägt den Untertitel »Einleitung zu Anfangsgründen der Thiergeschichte«. Ebd., S. 78. Ebd. Ebd., S. 77. Vgl. dazu auch Johannes Rohbeck, Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Georg

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an. Auch hier setzt sich der Gelehrte mit der »Zerstückelung der Wissenschaften«214 kritisch auseinander. Der junge Friedrich Schlegel sollte als erster Forsters Grundanliegen erkennen: Die Wiedervereinigung endlich aller wesentlich zusammenhängenden, wenn gleich jetzt getrennten und zerstückelten Wissenschaften zu einem einzigen, unteilbaren Ganzen, erscheint ihm [Forster, Y.M.] als das erhabenste Ziel des Forschers.215

Schlegel weist auf das wesentliche Postulat der Erkenntnistheorie Forsters hin, dass das Objektiv-Wahre, wonach der Entdecker und der Leser zu streben haben, nicht aus der Gleichförmigkeit des Denkens resultiert: Ein solches Programm gründet sich allerdings nicht nur auf den »Dialog zwischen divergierenden bzw. konvergierenden Perspektiven«216, sondern auch auf die Konzeption von Erkenntnis als »Fazit der Perspektiven.«217 Deshalb betont Forster in seinen »Vorlesungen über allgemeine Naturkenntnis« im Jahr 1792, daß die Vielseitigkeit des Gegenstands nicht wohl anders vollständig aufgefaßt werden kann, als indem er von jedem Beobachter aus dem in seiner Individualität gegebenen Gesichtspunkte betrachtet wird. Je mehr wir die Natur in allen ihren mannichfaltigen Verhältnissen untersuchen und durchspähen, desto mehr scheint sich die Linie unseres Forschens dem Kreise der Wahrheit zu nähern218

Damit knüpft Forster an jenes innovative Moment der Multiperspektivität an, das als heuristisches Grundprinzip in seiner literarischen Weltreise vielfach Anwendung gefunden hat.

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Forsters Geschichtsphilosophie im Kontext der europäischen Aufklärung, in: Jörn Garber, Tanja van Horrn (Hg.), Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hannover 2006, S. 13–28, hier S. 13. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 180. Friedrich Schlegel, Georg Forsters Schriften, in: Meisterwerke deutscher Literaturkritik, Hg. von Hans Mayer. Band I. Berlin 1954, S. 548f. (Der Aufsatz erschien zuerst 1797 in Reichardts »Lyzeum der schönen Künste«, Bd. I/1.) Manuela Ribeiro Sanches, ›Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne‹, S. 142. Peter Bexte, Fluchtlinien, S. 52. AA VI, 2. S. 1753.

111

V.

Nullius in Verba: Entdeckungsreise als Erkenntnispraxis

1.

Vorbemerkung

Das Motto Nullius in Verba1, das dem Cook-Essay voran steht, gibt den Leitgedanken wieder, dem sich die Royal Society seit 1663 verschrieben hatte, und unter dem Forsters Aufenthalt in der Südsee gesehen werden muss. In diesem Motto artikuliert sich nämlich ein wissenschaftliches Credo, das dem Bewusstsein eines Paradigmenwechsels entspricht, so wie er sich aus dem Umbruch des wissenschaftlichen Denkens schon seit der Frühaufklärung, insbesondere jedoch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzieht. Bereits in der Einleitung der Reise um die Welt stellt Forster programmatisch klar: »in diesem erleuchteten Jahrhundert glaubt man keine Mährchen mehr, die nach der romantischen Einbildungskraft unserer Vorfahren schmecken.«2 Folgerichtig sieht er den aufklärerischen Impetus der wissenschaftlichen Weltreisen darin begründet, »mancherley Fehler unsrer Vorgänger zu berichtigen und alte Irrthümer zu wiederlegen«3 – eine Aufgabe, die in der inhaltlichen Gestaltung seines Reiseberichts einen breiten Raum einnimmt. Die Metaphorik des »erleuchteten Jahrhunderts« verwendet Forster bewusst, ermöglicht sie doch die Einordnung seines Denkens und seines Werks als Korrektiv in den spezifischen reiseliterarischen Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts.4 Denn anders als Reiseschilderungen aus früheren Jahrhunderten, in denen zwischen Erlebtem und Erfundenem kaum unterschieden wurde, soll die neue Reisedarstellung nach Forsters Vorstellung den Anforderungen des ›aufgeklärten‹ Zeitalters entsprechen. Diese Herausforderung, die Forster oft mit der Formel ›Erweiterung der menschlichen Kenntnisse‹ umschreibt, ist dann erfüllt, »wenn alte eingewurzelte Vorurtheile und Irr-

1

2 3 4

Eigentlich: nullius addictus iurare in verba magistri, bedeutet auf niemands Worte schwören, niemand ungeprüft Glauben schenken. Forster benutzt dieses Motto im Sinne des englischen Empirismus, dem er wie im letzten Kapitel erörtert erkenntnistheoretisch nahe steht. Auch für Forster hat die Erkenntnis nur dann Bestand, wenn sie der Prüfung durch die Erfahrung standhält. Vgl. Horst Dippel, Rezensionen, in: Georg-Forster-Studien XIV (2009), S. 209–212, hier S. 210. Vgl. ebenfalls Ludwig Uhlig, Erkenntnisfortschritt und Traditionsbindung in Georg Forsters naturwissenschaftlichem Werk, in: Georg-Forster-Studien XV (2010), S. 55–75, hier S. 55f. AA II, S. 10. AA III, S. 157. Vgl. dazu Eberhard Berg, Zwischen den Welten. Über die Anthropologie der Aufklärung und ihr Verhältnis zu Entdeckungs-Reise und Welt-Erfahrung mit besonderem Blick auf das Werk Georg Forsters. Berlin 1982.

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thümer ausgerottet werden.«5 Daraus wird ersichtlich, dass es Forster nicht zuletzt auch darum geht, die Zeit jener Reiseberichte, in denen der Realitätsgehalt unentwegt abenteuerlichen Erzählungen weicht, mit Hilfe der empirisch gewonnenen Erkenntnisse zu überwinden: »Bewusster als je zuvor«, schreibt Urs Bitterli, »suchte man im Zusammenhang mit der Erschließung der Südsee die gelehrte Diskussion im Mutterland durch den gezielten Augenschein an Ort und Stelle zu beleben, zu berichtigen und zu vertiefen.«6 Georg Forster, der sich dieser Aufgabe auch nach seiner Weltreise widmet7, glaubt fest daran, mit dem Erkenntniszuwachs seiner Zeit die Mythen der Peripherie zu beenden. Die Entdeckung der Südsee bietet eine Plattform für die Realisierung des ambitionierten Programms der Aufklärung, in dem der Kampf gegen althergebrachte Vorurteile und Unwissenheit eine zentrale Rolle spielt. Zwar ist die im zweiten Kapitel beschriebene Tatsache nicht auszublenden, dass auch in der Reise um die Welt Relikte tradierter Sehnsuchtstopoi und übernommene Vorurteile allenthalben präsent sind, aber Forster gehört zu den ersten Reisenden seiner Zeit, die sich explizit zum Ziel setzen, die in älteren Reiseberichten überlieferten, jedoch keineswegs verifizierten »fabelhaften Nachrichten«8 über die Südsee und ihre Bewohner einer umfassenden Überprüfung zu unterziehen. Die Aufgabe, die Geheimnisse der südpazifischen Hemisphäre zu klären, wird in unterschiedlicher Weise vorgenommen. Das zeigt sich zum einen in Forsters oben beschriebener Erkenntnistheorie und zum anderen in seiner besonderen Form der Annäherung an die fremden Kulturen.

2.

Beobachten und Beschreiben als Methode

Das erste Kapitel seines Reiseberichts leitet Forster mit dem Hinweis darauf ein, dass sein Vater und er selbst die Reise unternommen hätten, »um Gegenstände der Naturgeschichte, zu sammeln, zu beschreiben und zu zeichnen.«9 Das für die Bewältigung dieses Auftrags praktizierte wissenschaftliche Verfahren lässt sich mit der Terminologie Hans-Jürgen Lüsebrinks als »hermeneutisch-ethnographische[s] Verstehen«10 beschreiben. Der Einblick in die Komplexität dieses Verfahrens bedarf aber, will man sich nicht auf eine verkürzte Einschätzung beschränken, einer näheren Betrachtung des konkreten Verstehensprozesses im Verlauf der Weltreise. Die vollkommene Planung der Reise, auf die Forster im Vorwort der Reise um die Welt referiert11, ist deshalb für ihn von besonderer Relevanz, weil er darin einen Paradig-

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8 9 10 11

AA III, S. 371. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 199. Fast alle Rezensionen, die Forster nach der Weltreise veröffentlicht hat, enthalten kritische Überlegungen, in denen er die Fehler der Reiseschreiber berichtigt. Dies zeigt sich u. a. in seinen Aufsätzen O-Taheiti (AAV, 35–71, insb. S. 35f. und in den Fragmenten über Cooks letzte Reise (AA V, 72–92, insb. S. 73f.) Ebd., S. 315. AA II, S. 35. Hans-Jürgen Lüsebrink, Zivilisatorische Gewalt, S. 133. AA II, S. 7.

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menwechsel erblickt, nämlich das Bedürfnis der Epoche wissenschaftlicher Reisen nach exakten Erkenntnissen, die nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch methodisch eines neuen Fundaments bedürfen. Deshalb spricht er, das muss man betonen, früheren Entdeckungsreisenden einen dezidiert wissenschaftlichen Umgang mit den fremden Kulturen ab: Ältere Südseefahrer scheuten gleichsam den Anblick des Landes; wo sie Küsten fanden, eilten sie schnell vorüber, oftmals ohne nur einen Fuß darauf zu setzen, ohne den Umfang, die Gestalt und den Zusammenhang ihrer Entdeckung zu untersuchen. Landeten sie auch irgendwo, so nahmen sie sich selten Zeit, den Endzweck einer Landung zu erreichen, und von den vorgefundenen Produkten einigen Vortheil zu ziehen. Ihr Betragen gegen die Eingebohrnen machte gewöhnlich einen schleunigen Abzug nöthig, ehe sie noch die Beschaffenheit der Gegend und ihrer Erzeugnisse erforschen, und mit den Eigenthümlichkeiten der dortigen Menschengattung bekannt werden konnten. Daher fehlt es ihren Berichten so oft an allem Interesse; und weit entfernt, den Forderungen des Physikers und des Weltweisen ein Genüge zu leisten, oder zur Sicherheit künftiger Seefahrer, und zum glücklichen Erfolg ihrer Unternehmung beyzutragen, wussten sie nicht einmal die müßige Neugier des großen Haufens zu befriedigen.12

Betrachtet man diese grundsätzliche Kritik genauer, so fällt auf, dass Forster den entscheidenden Funktionswandel der Entdeckungsreisen der Spätaufklärung auch als eine methodische Herausforderung versteht. Nun will er, wie er selbst sagt, dass die Südseeinseln mit »philosophischen Augen etwas näher betrachtet […] werden«13. Dabei geht es primär darum, die offenkundigen Versäumnisse der früheren Entdeckungsreisen durch eine heuristisch ausgerichtete Annäherung an die südpazifische Inselwelt zu überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, macht sich Forster den wissenschaftlichen Anspruch zu eigen, »unsere Kenntnisse vom Reich der Wahrheit durch neue Bemerkungen der Natur, im Menschen so wohl, als in Thieren, Pflanzen und leblosen Körpern, zu bereichern.«14 Das Verfahren, wodurch nach Forster die Erweiterung des Horizontes ihren erkenntnistheoretischen wie praktischen Ausgang nimmt, wird an den zentralen Kategorien Beobachten und Beschreiben sichtbar. Beides unterstreicht nicht nur Forsters Selbstverständnis als Empiriker, sondern zugleich auch einen zielführenden Forschungsansatz, der im historischen Kontext seiner Anwendung einen bahnbrechenden Stellenwert beansprucht. Es ist daher wichtig, einige Schlüsselmomente dieses Verfahrens in Augenschein zu nehmen. Charakteristisch ist etwa Forsters Beschreibung von der Ankunft Cooks auf Tahiti am 16. August 1773: Kaum bemerkte man die großen Schiffe an der Küste, so eilten einige [Insulaner, Y.M.] ohnverzüglich nach dem Strande herab, stießen ihre Canots ins Wasser und ruderten auf uns zu. Es dauerte nicht lange, so waren sie durch die Öffnung des Riefs, und eines kam uns so nahe, daß wir es abrufen konnten.15

Anhand dieser Zeilen, die Forsters Reisebericht als einen mittels empirischer Beobachtung fundierten Erfassungs- und Wahrnehmungsmodus der ethnographischen Wirklich-

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AA V, S. 208f. AA III, S. 30. AA V, S. 209. AA II, S. 218.

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keit ausweist, springt dem Leser bereits das systematische Vorgehen bei der Erkundung neuer Kulturen ins Auge: Interessant dabei ist, dass der Prozess der ethnographischen Beobachtung schon vom Schiff aus ansetzt. Doch handelt es sich, wie Dieter Heintze zutreffend formuliert, zunächst um eine »Ethnographie mit dem Fernrohr«16, da die neue Insel, die das Erkundungsschiff ansteuert, zuerst nur vom fernen Standpunkt des Beobachters aus wahrgenommen wird. Von dieser Warte aus beschreibt der Beobachter die Menschen, so wie er sie sozusagen mit »Hülfe der Ferngläser«17 sieht, nämlich ungenau. Doch sobald das Schiff ankert, werden nun die wichtigsten Entdeckungsobjekte, nämlich die Menschen, ihre Kultur und ihre Umwelt aus unmittelbarer Nähe in den Blick genommen, was sich an der detailreichen Schilderung bemerkbar macht: Die Leute, welche uns umgaben, hatten so viel Sanftes in ihren Zügen, als Gefälliges in ihrem Betragen. Sie waren ohngefähr von unserer Größe, blaß mahogany-braun, hatten schöne schwarze Augen und Haare, und trugen ein Stück Zeug von ihrer eignen Arbeit mitten um den Leib, ein andres aber in mancherley mahlerischen Formen, als einen Turban um den Kopf gewickelt. Die Frauenpersonen, welche sich unter ihnen befanden, waren hübsch genug, um Europäern in die Augen zu fallen [...] Die Kleidung derselben bestand in einem Stückzeug, welches in der Mitte ein Loch hatte um den Kopf durchzustecken und hinten und vornen bis auf die Knie herabhieng. Hierüber trugen sie ein anderes Stück von Zeuge, das so fein als Nesseltuch und auf mannigfaltige, jedoch zierliche Weise, etwas unterhalb der Brust als eine Tunica um den Leib geschlagen war, so daß ein Theil davon, zuweilen mit vieler Grazie, über die Schulter hieng.18

Auffällig an dieser Passage ist die auf Präzision ausgerichtete Vorgehensweise beim Protokollieren dessen, was Forster als neu und berichtenswert erachtet. Dieses Verfahren ist darauf angelegt, das Neue möglichst genau zu sammeln und zu dokumentieren, wobei die eurozentristische Perspektive, wie sie etwa bei der Erwähnung der »Frauenpersonen« durchscheint, den Schreibprozess und damit die Sinnkonstruktion in einer, wie später zu sehen sein wird, problematischen Weise prägt. Entscheidend ist aber hier zunächst die Bemühung um eine präzise äußere Beschreibung dessen, was der Weltreisende beobachtet. Schließlich geht es dabei nicht zuletzt darum, die bestehenden Wissenslücken zu schließen, denn bey den mehresten Ländern, die wir bisher besucht, hatten unsere Vorgänger uns noch allerhand neues zu sagen übrig gelassen, und an Menschen und Sitten, als worauf der vornehmste Endzweck eines jeden philosophischen Reisenden vorzüglich gerichtet seyn soll, noch immer manches übersehen.19

Der Begriff ›philosophischer Reisender‹, den Forster durchgehend für sich und seinen Vater programmatisch in Anspruch nimmt, steht für einen neuen Typus von Weltreisenden, die ihre Aufgabe darin sehen, das ans Tageslicht zu fördern, was »unsere Vorgänger

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Dieter Heintze, Forster auf der Osterinsel, 1774, in: FIP, S. 45–57, hier S. 51. Heintze bezieht sich dabei auf die Formulierung »[...] we observe through the Glasses [...]« von Reinhold Forster. Vgl.: The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster 1772–75, hg. v. Michael Hoare, Bd. III, London 1982, S. 463. AA II, S. 337. Ebd., S. 219f. H.i. O. AA III, S. 157.

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uns noch [...] zu sagen übrig gelassen« hatten. Diesen Versäumnissen der Vorgänger versucht Forster nun methodisch durch eine genaue Beobachtung und exakte Dokumentation der Südseekulturen entgegenzuwirken: Ein Reisender, der nach meinem Begriff alle Erwartungen erfüllen wolle, müßte Rechtschaffenheit genug haben, einzelne Gegenstände richtig und in ihrem wahren Lichte zu beobachten, aber auch Scharfsinn genug, dieselben zu verbinden, allgemeine Folgerungen daraus zu ziehen, um dadurch sich und seinen Lesern den Weg zu neuen Entdeckungen und künftigen Untersuchungen zu bahnen.20

Ob der ethnographische Forschungskontext und die Mittel es dem Entdecker erlauben, nicht nur »einzelne Gegenstände«, sondern vor allem auch die fremden Menschen »in ihrem wahren Licht zu beobachten«, darf angesichts der von Forster selbst angesprochenen Wissenslücken bezweifelt werden.21 Wichtig ist hier aber zunächst die Einsicht, dass Forster eine neue Vorgehensweise fordert, welche die Anwendung der Prinzipien naturwissenschaftlichen Verfahrens auf die Erfassung fremdkultureller Erscheinungen sichtbar macht. Ziel dabei ist es, einen Beitrag dazu zu leisten, dass Spekulationen und Anekdoten, die früheren Reiseberichten wesensmäßig anhaften, im Sinne nachprüfbarer und übergreifender Erkenntnisse überwunden werden. Andererseits liegt es Forster, wie Werner Patzelt22 im Kontext der Ethnomethodologie formuliert, daran, jene Momente zu erfassen, »die gemeinsam eine spezifische Wirklichkeit hervorzubringen«23 vermögen. In diesem Zusammenhang sind Forsters Bemerkungen über den mündlichen Bericht eines Seeoffiziers aufschlussreich, der auf Tahiti einer Heiratszeremonie beiwohnt und nach seiner Rückkehr aufs Schiff lediglich behauptet, die Zeremonie sei zwar sehr sonderbar gewesen, er könne sich aber an keine Einzelheiten erinnern und wüsste auch nicht, wie er sie erzählen solle.24 »Auf solche Art«, notiert Forster enttäuscht, »entgieng uns eine merkwürdige Entdeckung, die wir bey dieser Gelegenheit über die Gebräuche dieses Volks hätten machen können; und es war zu bedauern, daß kein verständigerer Beobachter zugegen gewesen, der wenigstens das, was er gesehen auch hätte erzählen können.«25 Die Figur des ›verständigen Beobachters‹ impliziert keineswegs nur die Fähigkeit, das Gesehene oder Beobachtete korrekt wiederzugeben. Forster zielt damit vielmehr auf eine ›philosophische‹ Filterung der Erfahrung ab, denn allein eine solche intellektuelle Qualifikation befähigt den Entdecker dazu, in die Eigenart der fremden Kultur vorzudringen. Der geschilderte Vorfall und insbesondere Forsters Reaktion haben exemplarischen Charakter. Zuerst klagt Forster vor dem Hintergrund seiner Erwartungshaltung zu Recht über die verpasste Gelegenheit, Genaueres über die Heiratsbräuche der Tahitier als ei-

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AA II, S. 13. Vgl. unten S. 131ff. Vgl. Werner Patzelt, Grundlagen der Ethnomethodologie: Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags. München 1987. Werner Patzelt, Grundlagen der Ethnomethodologie, S. 14. Vgl. AA III, S. 72. AA III, S. 72. H. i O.

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nes wichtigen ethnographischen Erkenntnisgegenstandes zu erfahren. Dabei erscheint es allerdings bemerkenswert, dass er dem betroffenen See-Offizier das abspricht, was Lepenies »zu den Tugenden des Erfahrungswissenschaftlers«26 rechnet, nämlich das doppelte Vermögen, genau zu beobachten und das Beobachtete angemessen zu beschreiben. Dies lässt sich daraus erklären, dass der Offizier, der nicht zum wissenschaftlichen Team gehört, in Forsters Augen »kein[en] verständige[n] Beobachter« repräsentiert, was so viel bedeutet, dass ihm die entsprechende wissenschaftliche Kompetenz fehlt, welche die qualitative Differenz unter den Südseereisenden ausmacht. Andererseits drückt sich in Forsters Kritik am Offizier unmissverständlich sein Selbstverständnis als reisender Wissenschaftler aus. Dieses beinhaltet die Forderung nach einer Detailgenauigkeit in der Beobachtung und Beschreibung außereuropäischer Kulturen. Dabei wird dem Augenzeugen eine wissenschaftliche Autorität zuerkannt, welche die Authentizität des Berichteten und damit die – wenn auch subjektive – Wahrheit garantiert. Weiterhin macht Forsters Urteil über den Offizier deutlich, dass das Beobachten eine primäre Erkenntniskategorie bildet, die durch die Fähigkeit der Darstellung einen sekundären Erkenntnisprozess auslöst.27 Das komplexe Verhältnis von Wahrnehmung und Schreiben, das die literarische Darstellung der Reiseerfahrungen steuert und den Schein der Authentizität erzeugt, lässt sich bei Forster stark vereinfacht unter der Triade »sammeln«, »beschreiben«, »zeichnen« subsumieren. Diese Triade macht die Leitlinien von Forsters Wissenschaftskonzeption sichtbar. Doch die Spannung zwischen dem Erleben und Wahrnehmen einerseits und dem Schreiben als einer davon getrennten Praxis andererseits wird von Forster vielmehr im Zusammenhang der ästhetischen und narrativen Kohärenz der Darstellung der Reise um die Welt ansatzweise expliziert28. Es ist wahr, dass Forster hohe methodische Anforderungen an Expeditionsteilnehmer stellt, wie dies auch in seinem späteren Brief an Herder deutlich wird. Im Vorfeld der Vorbereitungen zu dem wegen des türkisch-russischen Krieges letztlich zerschlagenen Projekt einer russischen Weltreise, für die er als wissenschaftlicher Leiter vorgesehen war, schreibt Forster am 21. Oktober 1787 an Herder, er wünsche sich einen Begleiter, der »als Naturalist und Historiograph, von niemand als sich selbst abhängig« sei29. Zudem müsse dieser, wie aus einem weiteren Brief vom 27. November 1787 hervorgeht, »dem zoologischen und botanischen Fache gewachsen« sein.30

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28 29 30

Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, S. 127. Diese Methode, die Reinhold Forster bereits während seiner Russlandexpedition (1765–1766) in Begleitung von seinem Sohn Georg praktiziert hatte, findet ihren bedeutendsten Niederschlag in seinen Observations made during a Voyage round the World, hg. v. Nicholas Thomas, Harriet Guest u. a.. Hawaii 1996 [Zuerst London 1778] Das Buch wurde wenig später von Georg Forster ins Deutsche übersetzt: Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie auf seiner Reise um die Welt gesammlet. Uebersetzt und mit Anmerkungen vermehrt von dessen Sohn und Reisegefährten Georg Forster. Berlin 1783. Vgl. unten S. 179ff. AA XV, S. 51. Ebd., S. 66.

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Die hier formulierten Anforderungen lassen erkennen, dass Forster von dem aufgeklärten Reisenden erwartet, dass dieser »in der Kunst zu beobachten und zu sammeln geübt«31 ist, da die Weltreise des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht zuletzt die Funktion habe, den »Forderungen eines aufgeklärten Publikums Genüge zu leisten.«32 Dieser Anspruch wird insbesondere an den Stellen seines Reiseberichts sichtbar, in denen der unmittelbare Kontakt mit den Einheimischen aus der methodischen Perspektive reflektiert wird: Schon am Strande, wo die Neugier den größten Haufen der Einwohner zu versammeln pflegte, beschäftigte man sich oft Tage lang mit der Erlernung der Sprache, mit der Beobachtung dieser von uns so verschiedenen Menschen [...] In ihren Hütten erforschte man ihre Lebensart erst durch wiederholte Besuche, man untersuchte allmählig, so wie man sich durch Geschenke und kleine Liebkosungen gleichsam die Rechte der Freundschaft in einem immer höheren Grade erwarb, das Innere des Haushalts, die Geräthschaften, die Speisen, und ihre Zubereitung.33

Die Küste erweist sich nicht nur als eine wichtige Plattform der interkulturellen Begegnung und Annäherung34, sondern vor allem auch – und aus der Sicht Forsters in erster Linie – als jener Ort, an dem der empirisch fundierte wissenschaftliche Erkenntnisprozess über die Südsee seinen Anfang nimmt. Hier beginnt Forster »mit der Erlernung der Sprache«, wodurch er sich nicht nur eine für den sinnvollen ethnographischen Umgang mit Einheimischen notwendige Verständigungsbasis erhofft, sondern worin er auch aufgrund der »so verschiedenen Menschen« die Notwendigkeit einer differenzierten Wahrnehmung der südpazifischen Inselwelt sieht. In dieser Hinsicht fällt eine wichtige methodische Parallele zwischen Forster und seinem Vater auf, dessen eigene Dokumentation des praktischen Erkenntnisvorgangs durch die Bemühung um eine größtmögliche Genauigkeit gekennzeichnet ist. Johann Reinhold Forster, der während eines Aufenthaltes auf der Osterinsel auf verstreute menschliche Knochen stößt, reflektiert in bemerkenswerter Weise, wie er mit diesem neuen Fund umgeht: »looking carefully round it, we found a number of human bones, which confirmed our conjecture«,35 dass die Wissenschaftler vor einer Art Begräbnisstätte stünden. Doch der ältere Forster begnügt sich nicht mit dieser Bestätigung, sondern er unternimmt eine weitergehende Untersuchung der gefundenen menschlichen Skelette und kommt zu folgendem Ergebnis: »We found on the Pedement among the stones several human bones of the same size as ours, for I held a Thighbone against my own, & found it exactly correspond.«36 Diese Forschungsmethode, deren Einfluss auf Georg Forsters Reisebericht unverkennbar ist, wird sowohl durch die Adverbien »carefully« und »exactly« lexikalisch genau fixiert. Doch anders als sein Vater, dessen Interesse weitgehend – wenn auch nicht ausschließlich – der Fauna und Flora gilt, legt Georg Forster, seinem Vater bei

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AA V, S. 131. Ebd., S. 192. AA V, S. 268. Vgl. Kapitel VI der vorliegenden Arbeit. AA I, S. 329. Johann Reinhold Forster, The Resolution Journal III, S. 468.

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der Zeichnung unbekannter Pflanzengattungen und Vögel helfend, großen Wert darauf, »den Charakter, die Sitten und den gegenwärtigen Zustand der Einwohner genau zu beobachten.«37 Es handelt sich dabei um dezidiert ethnographische Aufgaben, die Forster, wie bereits angedeutet, an Landungsplätzen wahrzunehmen beginnt. Das von ihm verfolgte Ziel einer umfassenden Dokumentation der Inselkulturen macht es unerlässlich, die Insulaner sogar in »ihren Hütten« zu beobachten, wohin die Europäer bei verschiedenen Spaziergängen gewöhnlich eingeladen werden. Forster nimmt bei solchen Treffen, die zum Teil zufällig und zum Teil geplant stattfinden, immer die Gelegenheit wahr, das häusliche Leben der Insulaner in allen Details zu beobachten und möglichst genau zu dokumentieren: Es war 5 Uhr Abends, als wir daselbst ankamen. Die Wohnung war klein, aber niedlich, und das vor demselben befindliche Steinpflaster fanden wir mit frischem Laube bestreuet, auf welchem ein großer Vorrath der besten Coco-Nüsse und wohlbereiteter Brodfrucht in schönster Ordnung aufgetragen war. Zwey ältliche Personen standen dabey und suchten die Ratten von den Speisen abzuhalten; auf diese lief der junge Mensch zu und stellte sie uns, bey unserer Annäherung, als seine Eltern vor. Man konnte es ihnen augenscheinlich ansehen, wie herzlich vergnügt sie darüber waren, die Freunde ihres Sohnes bey sich zu sehen und sie bewirthen zu können. In dieser Absicht bathen sie, daß wir uns zu der veranstalteten Mahlzeit niederlassen mögten.38

Der Standort, von dem aus diese Passage geschrieben ist, deutet eine ethnographische Herangehensweise an, die in die Forschungsliteratur als »teilnehmende Beobachtung« eingegangen und bisher Bronislav Malinowski, dem Autor der Argonauts of the Western Pacific39, zugeschrieben wird. Dieser Terminus muss im Licht von Forsters wissenschaftlichen Aktivitäten im Südpazifik, insbesondere im Hinblick auf seine methodische Vorgehensweise, differenziert gesehen werden: Zwar benutzt Forster die Methodenbezeichnung »teilnehmende Beobachtung« nicht, da ihre konzeptuelle Ausformung erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzt40, auch die entscheidenden Voraussetzungen für die Umsetzung dieser Methode (Sprachkenntnisse und längerer Aufenthalt) sind zum Teil nur im Ansatz vorhanden, aber das in der Reise um die Welt dargelegte Vorgehen zeigt, dass die Geschichte des Konzepts ›teilnehmende Beobachtung‹ viel älter ist als der Begriff selbst. Deshalb wird Forster mit Recht als »Wegbereiter der Völkerkunde als Wissenschaft«41 betrachtet, und seine methodische Vorgehensweise, die auf Beobachten, Sammeln, Forschen und Analysieren basiert, kann mit der Terminologie von Nicholas Thomas als »methodized unterstanding«42 charakterisiert werden. Forster selbst reflektiert diese Methode in seinem Cook-Aufsatz mit den Worten:

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AA II, S. 239. AA II., S. 250f. Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuginea, hg. v. Fritz Kramer. Frankfurt/M. 1984 [engl. zuerst 1922]. Vgl. Jean. Poirer, Histoire de la pensée éthnologique, in: Ethnologie générale. Paris 1968, 22f. Manfred Urban, Forster in der Südsee und die Entwicklung des ethologischen Blicks., in: Georg Forster. Weltbürger – Europäer – Deutscher – Franke, Ausstellungskatalog zum 200. Todestag. Mainz 1994, S. 17–54, hier S. 24. Nicholas Thomas, »Preface«, S. xiv.

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In ihren Hütten erforschte man ihre Lebensart erst durch wiederholte Besuche; man untersuchte allmälhlig, so wie man sich durch Geschenke und kleine Liekosungen gleichsam die Rechte der Freundschaft in einem immer höheren Grade erwarb, das Innere des Haushalts, die Geräthschaften, die Speiesen, und ihre Zubereitung; zuweilen lernte man nur wenig, aber täglich wenigstens etwas neues. Bald beobachtete man die Austheilung der Arbeiten, die Verfertigung der Kleidungsstücke, die Bestellung des Ackers, den Bau einer Hütte oder eines Kahns; bald ereignete sich Gelegenheit, irgend eine merkwürdige Sitte, oder einen auffallenden Gebrauch zu sehen; bald fand man unverhoft einen Ehrenman, der von der Erzeugung seiner Götter und von der Schöpfung zu erzählen wußte.43

Forster gehört zu den ersten Weltreisenden, die aus wissenschaftlichen Gründen bewusst einen fast vertrauten Umgang mit den Insulanern suchen. Das ist im Kontext der Cookschen Entdeckungsfahrten neu. Mit dieser Aus- und Einrichtung seiner Forschungstätigkeit hat Forster einen Paradigmenwechsel antizipiert, den Kohl so charakterisiert: Ethnographische Feldforschung nach den Prinzipien der teilnehmenden Beobachtung zu betreiben, stellt eine extrem persönliche Form der Erfahrung dar. Der Ethnograph ist in die Gesellschaft, deren wissenschaftliche, und das heißt eben auch: objektive Darstellung er anstrebt, subjektiv involviert.44

Anders als seine Vorgänger, die aus Mangel an vertrautem Kontakt mit den Einheimischen dazu neigen, die »entdeckten« Völker lediglich mit tradierten Legenden zu belegen, sucht Forster gezielt die Nähe der ihm unbekannten Menschen. Gewiss steckt dahinter der Versuch, das empirische Erkenntnisobjekt durch eine systematische Informationsbeschaffung in seinem historischen und sozio-kulturellen Entfaltungskontext zu verstehen. Das zeigt sich nicht zuletzt auch anhand von Forsters ausgeprägtem Interesse an den Sprachen der Insulaner, die er nicht nur zu sprechen lernt, sondern auch beschreibt und vergleichend analysiert.45 Doch mit dem Erlernen der Sprachen außereuropäischer Kulturen wird nicht allein die Kommunikation mit den Einheimischen intendiert. Das, was Joseph Marie De Gérando in den 1800 veröffentlichten »Considérations« offenbart, lässt sich im Großen und Ganzen auch auf Forster übertragen: Le premier moyen pour bien connaître les Sauvages, est de devenir en quelque sorte comme l’un d’entre eux; et c’est en apprenant leur langue qu’on deviendra leur concitoyen.46

Diese Forderung hat nicht so sehr einen humanistischen Impetus, wie man auf den ersten Blick annehmen möchte, sie ist vielmehr eine Reaktion auf den unsicheren fremdkulturellen Kontext, in dem die ethnographische Feldforschung der Spätaufklärung vollzogen wird. Eine nähere Bekanntschaft mit den besuchten Völkern und das Einfühlungsvermögen seitens der Entdecker sind dabei für die Herausbildung wissenschaftlich fundierter

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AA V, S. 268. Karl-Heinz Kohl, Ethnologie, die Wissenschaft vom kulturellen Fremden, S. 114. »Was mich angeht, so schien mir keine Sprache leichter als diese.« AA II, S. 220. Joseph Marie De Gérando, Considérations sur les diverses methodes à suivre dans l’observation des peuples sauvages. Paris 1800, S. 159. Nachdrucke in Revue d’anthropologie, Bd. VI, 2. Serie. Paris 1883, sowie George W. Stocking, (Hg.), Joseph. Marie De Gérando, The Observation of the Savage Peoples. London 1969.

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Erkenntnisse unverzichtbar. Doch auch mit diesen Methoden stoßen die Entdecker des 18. Jahrhunderts an ihre Grenzen, die Forster zu reflektieren versucht.

3.

Dialektik des ethnographischen Erfahrungsprozesses

Der Prozess der Beobachtung und der Beschreibung der Insulaner, wie ihn Forster in seinem Weltreisebericht reflektiert, öffnet den Blick auf jene dialektischen Momente, welche die Praxis der ethnographischen Feldforschung im Kontext des 18. Jahrhunderts prägen. Vorauszuschicken dabei ist die Feststellung Wolf Lepenies‹, dass die Erfahrungswissenschaften »eine wichtige, unentbehrliche Quelle der Erkenntnis«47 in der Spätaufklärung konstituieren. Dem pflichtet Jörn Garber mit folgenden Worten bei: Der Kampf Forsters gegen den Systemgeist der Aufklärung, von ihm [Georg Forster, Y.M.] als Kampf gegen den Mechanismus erfahrungsloser Begriffe bezeichnet, ist eine Parteinahme für die Realia gegen die Verba.48

Zwar ist diese Charakterisierung verkürzt, sie ermöglicht aber ansatzweise die Antwort auf die Frage, warum Forster nicht nur in seinem Weltreisebericht, sondern auch in seinen späteren Schriften den Erfahrungswissenschaften einen besonderen Stellenwert im Prozess des Erkenntnisgewinns einräumt: »Die Erfahrungswissenschaften«, so Forster in seiner Schrift Über lokale und allgemeine Bildung, diese ächten, unentbehrlichen Quellen der Erkenntniß, einst so trübe und verachtet, strömen jetzt ihre klaren, segenreichen Fluten von den äussersten Grenzen der Erde zu uns herab und in ihrem Spiegel erkennt die Vernunft ihre eigene Gestalt [...] Das vermogten die Völker nicht, die, zwar von ihrem Himmelstrich und von der fruchtbaren Erde begünstigt, sich frühzeitig ein System von milden Sitten, von bürgerlicher Gesetzgebung und gottesdienstlicher Vorschrift entwarfen, aber, lange von allen übrigen Menschenstämmen getrennt, in ihrer einseitigen Vorstellungsart bis zur Unbiegsamkeit veralteten.49

Ruft man sich Forsters Kritik an der Kantischen Vernunftwahrheit in Erinnerung, dann zeigt sich, dass die verzerrte Repräsentation außereuropäischer Kulturen, so wie sie in verschiedenen Reiseberichten bis ins 18. Jahrhundert hinein Niederschlag findet, nicht nur aus Unwissenheit und Irrtümern, sondern auch aus tradierten Vorurteilen resultiert. Forster führt diesen Umstand zudem darauf zurück, dass die zeitgenössischen Universaldenker entweder keine eigenen unmittelbaren Erfahrungen über jene Kulturen besitzen oder aber von einem falschen Erfahrungsbegriff ausgehen: [...] gekettet an den todten Buchstaben, versteifte man sich in logische Spitzfindigkeiten und metaphysische Grübeleyen und unversöhnlichen Wortstreit, in des der Weg der Anschauung und Erfahrung unbetreten blieb, und die Nacht der Vorurtheile ihren dichten Schleyer um die besten Köpfe zog.50

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Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, S. 137. Jörn Garber, Georg Forster – ein Universalgelehrter im Zeitalter der Aufklärung, S. 64. AA VII, S. 47f. AA VII, S. 24.

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Doch nirgendwo besser als in seiner Reise um die Welt bringt Forster dem Leser den in den philosophischen Spekulationen abgelehnten »Weg der Anschauung und Erfahrung« nahe. Das Werk muss daher in erster Linie als die Dokumentation der ethnographischen Erfahrungen eines aufgeklärten europäischen Intellektuellen gelesen werden, der alles, worüber er berichtet, aus dem unmittelbaren Kontakt mit den Einheimischen bezieht. Der Anspruch der Reise um die Welt als eine der ersten ethnographischen Feldforschungsarbeiten der Spätaufklärung51gründet auf ihrer reflektierten Eigenschaft als Bericht eines Augenzeugen. Forster und sein Vater waren in erster Linie Praktiker. Deshalb wird Georg Forster mit dem Hinweis auf seinen Südsee-Reisebericht oft der Status Vater der modernen Ethnographie zugesprochen. In den entsprechenden Untersuchungen52 steht allerdings meistens nur das Ergebnis seiner ethnographischen Sammlungen im Mittelpunkt.53 Eine Auseinandersetzung mit dem von ihm geschilderten Erkenntnisweg, der nicht nur die Erkenntnisquellen, sondern auch die Aporien und Grenzen des Erfahrungswissenschaftlers in dialektischer Wechselwirkung anzeigt, bleibt oft unberücksichtigt. Eine wichtige Ausnahme bildet der ethnologische Blick von Dieter Heinze auf die Reisen in das Südmeer.54 Doch will man sich ein objektives Bild von Forsters Aufenthalt als Wissenschaftler in der südpazifischen Inselwelt machen, so muss man sich mit den Quellen und den Wissenslücken der Reise um die Welt als Produkt ethnographischer Arbeit55 auseinandersetzen. Um dies zu systematisieren, soll im Folgenden der ambivalente Beitrag der Insulaner zur Konstituierung des europäischen Wissens über die südpazifische Inselwelt am Ende des 18. Jahrhunderts in den Fokus gerückt werden56 Man kann von der Zusammenarbeit von Mitgliedern verschiedener Kulturen als Ausgangspunkt und Grundlage für die ethnographische Wissensbildung im Kontext der Entdeckungsfahrten sprechen. Forster gibt mehrfach Anlass dazu, sich Gedanken über die Funktion und den Stellenwert der Einheimischen in diesem Prozess zu machen. Zwar werden die Insulaner an verschiedenen Stellen seines Reiseberichts tendenziell

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Vgl. Martin Braun, ›Nichts Menschliches soll mir fremd sein‹. Georg Forster und die frühe deutsche Völkerkunde vor dem Hintergrund der klassischen Kulturwissenschaften. Bonn 1991, S. 25f. Vgl. u. a. den hervorragenden Ausstellungskatalog: Brigitta Hauser-Schäublin, Gundolf Krüger (Hg.), James Cook. Gifts and Treasures from the South Seas/Gaben und Schätze der Südsee. The Cook/Forster Collection, Göttingen/Die Göttinger Sammlung Cook/Forster. München/New York 1998. Vgl. dazu Adrienne L. Kaeppler, Die ethnographischen Sammlungen der Forsters aus dem Südpazifik. Klassische Empirie im Dienste der modernen Ethnologie, in: FIP, S. 59–75. Vgl. Dieter Heinze, Dem Ethnologischen bei Forster nachspürend, in: Georg Forster-Studien I (1997), S. 51–64. Ebenfalls: Dieter Heinze, Forster auf der Osterinsel, 1774, in: FIP, S. 45–57 Unter der Vielzahl von Untersuchungen, die das Problem der ethnographischen Feldarbeit thematisieren, bietet Harry F. Wolcott einen guten Überblick in seinen beiden Arbeiten: The Art of Fieldwork. Oxford 1995 und Ethnography: A Way of Seeing. Oxford 1999. Vgl. Hans Erich Bödecker, Aufklärerische ethnologische Praxis: Johann Reinhold Forster und Georg Forster, in: Hans Erich Bödecker, Peter Hans Reill u. a. (Hg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750–1900. Göttingen 1999, S. 227–253.

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nur als Begleiter oder Helfer porträtiert57, die sich entweder durch ihre Abneigung oder ihre Dienstfertigkeit gegenüber den Europäern auszeichnen, doch Forster versäumt es keineswegs, auf ihren komplexen Stellenwert als unverzichtbare Mitarbeiter einzugehen: sie [die Insulaner, Y.M.] führten uns als Wegweiser in der Insel herum, kletterten auf die höchsten Bäume, um uns Blüthen zu verschaffen und holten uns die Vögel aus dem Wasser die wir geschossen hatten. Oft wiesen sie uns die schönsten Pflanzen nach, und lehrten uns die Namen derselben. Wenn wir ihnen ein Kraut zeigten, von dessen Gattung wir gern mehr zu haben wünschten, so ließen sie sich die Mühe nicht verdrießen, es selbst aus den entferntesten Gegenden herbeyzuschaffen.58

Auch wenn sich hier bereits ein dialektisches Verhältnis zwischen Entdeckern und Insulanern abzeichnet, das je nach Situation eine deutliche Verschärfung erfährt59, so wird doch deutlich, dass sich der Stellenwert der Einheimischen nicht darauf beschränkt, die von Europäern geschossenen Vögel »aus dem Wasser« zu holen oder die Entdecker beim Überqueren von Flüssen zu tragen.60 Die Insulaner »lehrten«, trotz der ihnen aus ideologischen Gründen zugewiesenen subalternen Rolle, die Entdecker die Namen der neuen Pflanzen. Sie sind also Wissenslieferanten. Bedenkt man den Stellenwert der Botanik bei solchen Entdeckungsreisen, gibt Forster damit bereits ein wichtiges Indiz für den Beitrag der Insulaner zur ethnographischen Wissensformation. Bemerkenswert ist zudem, dass Forster die Bezeichnung der Inseln, der neu entdeckten Pflanzen und Vögel sowie die Namen einiger wichtiger Persönlichkeiten und ihre Titel in der einheimischen Sprache notiert. Das begründet er damit, daß wir es uns zur Regel gemacht hatten, von allen fremden Ländern die wir besuchen würden, allemal die eigenthümlichen Namen welche sie in der Landessprache führen, auszukundschaften, denn die allein sind selbstständig, und nicht so häufiger Veränderung unterworfen als die willkürlichen Benennungen, welche jeder Seefahrer seinen eignen und andern Entdeckungen beyzulegen das Recht hat.61

Zweierlei wird hier deutlich: Zum einen die Tatsache, dass Forster die Einheimischen als eine unentbehrliche Quelle für die Konstituierung der ethnographischen Erkenntnis einbezieht62 und die lokale Verankerung dieses Wissens ernst nimmt. Damit zusammenhängend unterstreicht er zum anderen sein Interesse an authentischen Informationen über die einheimischen Kulturen, die er durch seine literarische Gestaltung universalisiert.63 Solcher Art Betonung der Authentizität im Prozess der ethnographischen Erkenntnisgewinnung bringt die Perspektive der Einheimischen zum Ausdruck und setzt neue Formen der Beziehung zwischen Europäern und Einheimischen voraus. Forsters Bericht

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AA II, S. 227. AA III, S. 140. Vgl. Kapitel VII der vorliegenden Arbeit, insb. S. 298f. Vgl. AA II, S. 231. AA III, S. 208. Vgl. Dieter Heinze, Dem Ethnologischen bei Forster nachspürend. Vgl. Leo Kreutzer, Die Lokalität von Wissen und ihre Universalisierung bei Georg Forster und Alexander von Humboldt, in: Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken. (2003), S. 112–125.

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ist zu entnehmen, dass fast überall, wo die Expeditionsschiffe ankern, die ersten Bemühungen der wissenschaftlichen Mannschaft sich danach richten, »das Vertrauen der Eingebohrnen [...] zu gewinnen.«64 Freilich nutzen die Europäer die Gelegenheit, die Schiffe in Stand zu setzen und die für die Fortsetzung der Reise notwendigen Lebensmittel einzuhandeln. Doch der qualitative Unterschied, den Forster bei Cooks Weltreisen gegenüber früheren Entdeckungsfahrten in dieser Hinsicht ausmacht, liegt zweifelsohne in der wissenschaftlichen Absicht, die mit der Annäherung an die Insulaner verbunden ist. Demnach gestaltet sich die Suche nach und der Umgang mit jenen Insulanern, von denen sich insbesondere die wissenschaftliche Mannschaft der Expedition Hilfe bei der Erkundung der Inseln erhofft: »bald fand man [...] einen Ehrenmann«, notiert Forster, »der von der Erzeugung seiner Götter und von der Schöpfung zu erzählen wußte.«65 Wenn Forster sich beispielsweise auf der Osterinsel, wo die Forschungsmannschaft auf merkwürdige Steine stößt, an die »[...] most intelligent persons among them« wendet, so deshalb, weil er weiß, dass sie über Kenntnisse »concerning the nature of these stones« verfügen und schließlich: »from what we could understand, we concluded that they were monuments erected to the memory of some of their areekees, or kings.«66 Die Systematik und Akribie, mit denen Georg Forster und sein Vater das Wissen der Einheimischen für sich zu gewinnen versuchen, ist auch aus heutiger Sicht erstaunlich. Auffällig ist, dass sie sich nach jeder Landung ihres Schiffes gezielt auf die Suche nach den so genannten Tahowa machen, die Forster ihrer gesellschaftlichen Funktion entsprechend als »Lehrer« bezeichnet. Diese Vorgehenswiese hat einen strategischen Grund, denn Forster erkennt, dass es sich um erfahrene Personen handelt, die dafür sorgen, »daß die National-Kenntnisse von der Geographie, Astronomie und Zeitrechnung nicht verlohren gehen.«67. In der Absicht, diesen Erfahrungs- und Kenntnisschatz näher kennen zu lernen und zu dokumentieren, besucht Forster beispielsweise auf den Societäts-Inseln einen dieser »Lehrer« namens Tutawaʀ. Den Verlauf ihrer Unterhaltung hält er mit folgenden Worten fest: Dem hochgearteten Tutawaʀ schien damit gedient zu seyn, daß er Gelegenheit fand, seine Wissenschaft auszukramen. Es schmeichelte seiner Eigenliebe, daß wir ihm so aufmerksam zuhörten; und dies vermogte ihn auch sich über die Materie mit mehr Geduld und Beharrlichkeit herauszulassen, als wir sonst bei flüchtigen und lebhaften Einwohnern dieser Inseln gewohnt waren.68

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AA V, S. 261. Ebd., S. 268. AA I, S. 329. Dieter Heintze hat darauf hingewiesen, welchen Missverständnissen und Fehldeutungen solche schnellen Schlüsse unterliegen, zumal die Entdecker der Sprache der Einheimischen nicht Herr waren. Vgl. Dieter Heintze, Dem Ethnologischen bei Forster nachspürend, S. 55. AA III, S. 125. Ebd., S. 119.

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In der gezielten Hinwendung zu solchen Menschen, »die von den Traditionen, von der Mythologie und von der Sternkunde ihrer Nation Kenntniß haben«69, zeigt sich die in der klassischen europäischen Ethnologie oft angewandte Methode, sich mit Hilfe der Kenntnisse und Erfahrungen der Einheimischen den Zugang zur Tradition der Menschen in der Zielkultur zu verschaffen.70 Als ein weiteres charakteristisches Beispiel in diesem Zusammenhang kann der Tahitianer Tupaya erwähnt werden, der Cook bei dessen erstem Aufenthalt in der Südsee als Informant begleitete, doch die angetretene Reise nach Europa nicht überleben sollte.71 Auf Tupayas Kenntnisse geht eine von Reinhold Forster in seinen Observations aufgenommene Notiz zurück: Chart representing the Isles of the South-Sea, according to the Notions of the Inhabitants of O-Taheitee and the Neighbouring Isles, chiefly collected from the accounts of Tupaya.72

Als Pendant zu Tupaya, für dessen umfassende geographische Kenntnisse die beiden Forster gebührende Anerkennung zeigen, erweist sich während Cooks zweiter Reise ein junger Mann namens Maheime von den Societäts-Inseln. Dieser Insulaner, den Forster wohlwollend »unser[en] indianische[n] Reisegefährte[n]«73 nennt, verbringt seine Zeit mit Spatziergehen auf dem Verdeck […], oder er besuchte die Officiers, oder er wärmte sich beym Feuer in des Capitains Cajütte. Bey müßigen Stunden machten wir uns seine Gesellschaft zu Nutze, um in der tahitischen Sprache weiter zu kommen: Unter andern giengen wir das ganze Wörterbuch mit ihm durch, welches wir auf den Societäts-Inseln zusammengetragen hatten. Auf diese Art erlangten wir von seiner und den benachbarten Inseln manche neue Kenntniß, mit deren Hülfe wir bey unsrer Rückkunft wegen verschiedener Umstände, genauere und richtigere Nachfrage halten konnten, als zuvor.74

Maheime nimmt in Forsters Reisebericht deshalb einen besonderen Stellenwert ein, weil er – ähnlich Tupaya – jene Funktion ausübt, die in die Ethnologie als Mittler75 eingegangen ist. Warum diese Beispiele einen Paradigmenwechsel darstellen, wird erst deutlich, wenn man Forsters Urteil über das Verfahren früherer Südseereisender betrachtet. »Ältere Südseefahrer«, so Forster in einem retrospektiven Blick, scheuten gleichsam den Anblick des Landes; wo sie Küsten fanden, eilten sie schnell vorüber, oftmals ohne nur den Fuß darauf zu setzen, ohne den Umfang, die Gestalt und den Zusam-

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Ebd., S. 18f. Vgl. Karl Heinz Kohl, Ethnologie, die Wissenschaft vom kulturellen Fremden, S. 42. Forster berichtet, dass die meisten Insulaner während der zweiten Reise Cooks nach Tupaya fragten und sich von der Nachricht seines Todes betrübt zeigten. Johann Reinhold Forster, Beobachtungen während der Cookschen Weltumsegelung 1772–1775. Gedanken eines deutschen Teilnehmers. Unveränderter Neudruck der 1783 erschienenen »Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie auf seiner Reise um die Welt gesammelt.« Stuttgart 1981, S. 461 [Karte ist geklebt und unpaginiert.] AA II, S. 397. AA II, S. 417. Vgl. Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹, S. 136ff.

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menhang ihrer Entdeckungen zu untersuchen [...] Ihr Betragen gegen die Eingebohrnen machte gewöhnlich einen schleunigen Abzug nöthig [...]76

Es gibt aber auch Schattenseiten in der Zusammenarbeit mit den Insulanern. So positiv jenes Licht erscheinen mag, in dem Forster die neuen Entdeckungsfahrten kontrastiv vermittelt und so eifrig sein Vater und er selbst die Entdeckung der Südsee nach den Maßstäben der Aufklärung vorantreiben möchten, dem Wissensdurst der Entdecker sind bestimmte Grenzen gesetzt. Diese Erfahrung legt ihm eine Reflexion über die Aporien des ethnographischen Prozesses nahe. Um diese Dimension des Reiseberichts erfassen zu können, muss man auf jene grundlegenden Momente eingehen, die Forster bei der Dokumentation seiner Erfahrungen als »Hindernisse« für den europäischen Ethnographen auf der Südsee mitreflektiert: Gewissere und wichtigere Beobachtungen, oder gar, einen vollständigen Abriß vom ganzen Umfang der Kenntnisse dieser Insulaner, wird hoffentlich niemand erwarten oder fordern, der [...] die Hindernisse bedenkt, welche das Mistrauen der Einwohner uns [...] in den Weg legte. Diesen allein ist beyzumessen, daß so manche Puncte [...] uns gänzlich unbekannt geblieben sind.77

Zahlreich sind solche Situationen und Erlebnisse, bei denen Forster sich in ähnlicher Weise über seinen Aufenthalt im Südpazifik äußert und damit mehr oder weniger vor überzogenen Erwartungen bei der Lektüre seines Reiseberichts warnt. Was sich dabei deutlich herauskristallisiert, sind Spannungen in der Zusammenarbeit zwischen einheimischen Informanten und Entdeckern. Man kann auch von Diskrepanzen sprechen, die in erster Linie dazu dienen, den Reisebericht im Spannungsfeld zwischen Leistungen und Grenzen der Erfahrungswissenschaften zu verorten. Eine solche Reflexion ist umso wichtiger, als etwa Urs Bitterli über den Aufenthalt der Europäer im Pazifik schreibt: »Man informierte und beriet die Europäer freizügig über alles, was sie wissen wollten, und stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite.«78 Diese Einschätzung ist nicht nur verklärend, sie wird in ihrer Naivität der Komplexität ethnographischer Feldforschung nicht gerecht. Forster liefert in seinem Reisebericht zahlreiche Beispiele, die der hier artikulierten Apodiktik klar widersprechen. Er zeigt, dass die Informationen der Einheimischen weder »freizügig« noch »alles« enthalten, »was« die Europäer »wissen wollten«. Weil die beiden Forsters nicht immer und überall ihren Wissensdurst stillen können, stellt Nicholas Thomas fest:»Though their observations were often accurate and their speculations perspicatious, the internal values and dynamics of these cultures were essentially beyond their vision.«79 Am Beispiel der unterschiedlichen Beschreibung einer Maori-Familie in den Reiseberichten Cooks und Forsters weist Nicholas Thomas darauf hin, dass die Europäer »suffered basic confusion about who was who in the ›family‹ that they met.«80 Auch wenn der Autor hier ein Extrembeispiel herausgreift, stößt man bei

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AA V, S. 208. AA III, S. 281. Urs Bitterli, Alte Welt–neue Welt, S. 201f. Nicholas Thomas, »Preface«, S. xxxii. Nicholas Thomas, Discoveries, S. 176.

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der Lektüre der Reise um die Welt auf Szenen, die dem Erkenntnisdrang der Entdecker klare Grenzen setzen. Dies liegt aber weder an den angewandten Methoden noch weniger am Denkvermögen der Reisenden, sondern teilweise an äußeren Faktoren, die sie nicht beeinflussen können. Exemplarisch ist jene Szene, bei der die Tannaer das Vorhaben der Europäer, einen Vulkan auf ihrer Insel näher zu untersuchen, durch eine falsche Auskunft zu verhindern versuchen. In dieser Absicht weisen sie den Europäern einen Pfad an, der, ihrem Vorgeben nach, gerade auf den Assuhr oder Volkan hinführen sollte. Wir folgten ihnen etliche Meilen weit, konnten aber, weil sich der Pfad beständig im Walde herumzog, an keiner Seite frey umher sehen, bis wir uns wider alles Vermuthen auf einmal am Strande befanden, von da wir hergekommen waren.81

Wenig später bietet sich den Entdeckern ein Insulaner als Wegweiser an. Doch das Angebot erweist sich als wohl kalkulierte Irreführung: In dem wir ihm folgten, sahe er sich zu verschiednenmalen um, und zählte wie viel unserer wären; nach Verlauf einiger Zeit erreichten wir einen offenen Platz, wo das Land weit und breit zu übersehen war, und nun zeigte sich, daß er uns geflissentlich irre geführt hatte.82

Forster berichtet ebenfalls von einem anderen Insulaner, der sich den Europäern bei der Suche nach einem Muskatnussbaum als Informant anbietet, dabei jedoch die Gelegenheit nutzt, sie hinters Licht zu führen: Das Laub, welches wir für Muscat-Nuß-Blätter bekommen hatten, wollte keiner von denen am Strande versammelten Indianern dafür gelten lassen; sondern sie gaben demselben durchgehends einen ganz anderen Namen, als unser Wegweiser. Als dieser merkte, daß wir auf der Spur waren, seinen Betrug zu entdecken, winkte er seinen Landsleuten zu, daß sie den Blättern eben den Namen beylegen möchten, als er.83

Aufgrund eines solchen Verhaltens, das in der Begegnung zwischen Europäern und Insulanern allenthalben zu lauern scheint, hegt Forster zu Recht den Verdacht auf mehr oder weniger organisierte Tricks und Täuschungen durch die Insulaner. Daraus schließt er, dass auf diese Art eine nähere Bekanntschaft mit den Europäern verhindert werden sollte: »Vermuthlich hatten sich die Indianer dieser List bedient, um uns mit guter Manier von ihren Wohnhütten zu entfernen, in deren Nachbarschaft sie durchaus nicht gern Fremde leiden mögen.«84 Gewiss muss man bei der Interpretation der Intention der Insulaner vorsichtig bleiben, die Schilderung solcher Szenen durch Forster führt aber dem Leser das Auseinanderdriften von Erwartungshorizont und Erfahrungswirklichkeit im Prozess der ethnographischen Wissensgewinnung klar vor Augen. Vor diesem Hintergrund argumentiert Harriet Guest:

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AA III, S. 240. Ebd., S. 255. AA III, S. 258. Ebd., S. 240.

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There is a strong suggestion that the islanders resist investigation; that they are indifferent or even hostile to a properly intellectual curiosity. They deny the Europeans the opportunities his quest of knowledge demands, opportunities of observing them as though he were not present.85

Demnach liegt es auf der Hand, dass durch das hier beschriebene Verhalten der Insulaner Wissenslücken im ethnographischen Erkenntnisprozess entstehen müssen. Insbesondere fällt es auf, dass Forster in zahlreichen Situationen sein Selbstverständnis als aufgeklärter Intellektueller deutlich hervorkehrt, indem er den Auskünften der Insulaner grundsätzlich mit Skepsis begegnet.86 Deshalb prüft er jede ihrer Aussagen auf ihre Stimmigkeit hin, indem er sich Auskünfte aus verschiedenen Quellen einholt und diese miteinander vergleicht.87 Dank dieses Verfahrens, das seine Theorie der Multiperspektivität abbildet, gelingt es ihm mitunter, bestimmte Informationen als Wahrheit zu bestätigen, andere dagegen als Lüge zu entlarven oder zumindest als relativierungsbedürftig zu charakterisieren. Letzteres zeigt sich zum Beispiel an den von dem »Befehlshaber« Orea und seinem Sohn »Tehaïura« vermittelten geographischen Angaben. Forster kommentiert sie wie folgt: Die Aussage dieser Leute stimmte jedoch, mit dem Bericht unsers gestrigen Führers, nur zum Theil überein; denn von allen neun Inseln, deren jener gedacht hatte, nannten sie uns nicht mehr als die erste, zweyte, siebente und neunte; behaupteten auch, die zweite sey allerdings bewohnt. Dagegen sprachen sie noch von Worio oder Woriea, einer großen Insel, imgleichen von einer andern, Orimatarra genannt, die beyde beständig bewohnt wären; wo aber diese Inseln eigentlich liegen sollten, und wie weit von hier, darinn waren sie gar nicht einig. Auch war von allen denen, die wir darum befragten, keiner selbst da gewesen.88

Forster muss also nicht nur zusehen, dass er gezielt fehlinformiert wird, sondern auch, dass er Zusammenhänge der einheimischen Kulturen nicht versteht. Angesichts solch offenkundiger Ungereimtheiten entwickeln Forster und sein Vater, wie bereits erwähnt, eine zunehmend kritische Distanz gegenüber den Informationen ihrer einheimischen Begleiter: »[...] wenigstens sind alle Nachrichten, die man aus dem Munde der Eingebohrnen erfährt, bey der Unvollkommenheit unserer Sprachkenntniß, mehr oder weniger schwankend und unzuverläßig.«89 Mit dieser kritischen Erkenntnis bringt Forster die dialektische Erfahrung des aufgeklärten Ethnographen auf den Punkt, der auf Menschen und Informationen angewiesen ist, denen er zugleich misstraut, weil er weder die Sprache noch die Intention der Informanten beherrscht. Es ist nicht einmal klar, ob die Insulaner die Europäer freiwillig informieren oder ob sie bloß pro forma kooperieren, »weil sie

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Harriet Guest, Empire, Barbarism, and Civilisation, S. 93. Das von Descartes geprägte Methodenbewusstsein, das auch für den Rationalismus des 18. Jahrhunderts prägend werden sollte, gründet den Skeptizismus, den Descartes mit dem Hinweis begründet, es sei »ein Gebot der Klugheit, niemals denen ganz zu trauen, die auch nur einmal uns getäuscht haben«, René Descartes, Meditation über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg.v. Artur Buchenau. Hamburg 1972, S. 12. Vgl. AA II, S. 340. AA II, S. 321. AA V, S. 259.

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den Zorn der mächtigen Fremdlinge auf sich zu laden fürchteten.«90 Die dialektische Spannung im ethnographischen Prozess ist hier darin zu sehen, dass im Verhalten der Einheimischen nicht immer klar ist, ob es das Wissen ermöglicht, das sich die Entdecker erhoffen. Tatsächlich stellt diese Schwierigkeit eine charakteristische Erfahrung für Forster und seinen Vater dar, da sie nolens volens die Hilfe der Insulaner in Anspruch nehmen müssen, zugleich aber jedem Verdachtsmoment nachgehen, um die ihnen vermittelten Informationen zu hinterfragen. Selbst vor den Leistungen des viel gerühmten Tupaya macht Forster mit seiner Kritik keinen Halt. Nachdem er die von Tupaya angefertigte »Charte der Süd-See« mit eigenen Erfahrungen verglichen hat, kommt er zu dem Schluss, »daß Tupaia um sich das Ansehn einer größern Einsicht und Wissenschaft zu geben, diese Charte der Süd-See blos aus der Fantasie entworfen und vielleicht manche Namen erdichtet habe, denn er hatte deren mehr als fünfzig angezeigt.«91 Bemerkenswert hierbei ist, dass Forster mit dieser Karte wesentlich kritischer umgeht als sein Vater, der darin eher einen Beleg für die enorme intellektuelle Leistung des Insulaners sieht. Parallel zu den bewussten und unbewussten Täuschungen, die zumindest jenen Teil des Reiseberichts unter Vorbehalt stellen, der sich aus den Informationen der Einheimischen zusammensetzt, zeigt Forster, wie der Fortgang der ethnographischen Feldforschung in beträchtlichem Maße durch weitere Hindernisse geprägt wird. Dazu zählt beispielsweise die Weigerung der Insulaner, mit Europäern überhaupt zusammenzuarbeiten: Indem wir über die Landspitze weg und längs dem jenseitigen Ufer fortgehen wollten, stellen sich mit einmal funfzehen bis zwanzig Indianer in den Weg und baten uns, sehr ernstlich, umzukehren [...] und gaben [...] durch allerhand Gebehrden zu verstehen, daß ihre Landsleute uns ohnfehlbar todtschlagen und fressen würden, wenn wir noch weiter vordringen wollten.92

Diese Erfahrung gehört zu den zahlreichen Begegnungen, bei denen die Europäer dazu gezwungen werden, »einer Wißbegierde Schranken [zu] setzen, die uns sonst gewiß nachtheilig geworden seyn würde.«93 Die Konsequenz einer solchen Haltung seitens der Insulaner entgeht Forster nicht, denn er erkennt, die Einheimischen »schienen [...] auf alle Weise verhindern zu wollen, daß unsre Leute nicht selbst darnach hingehen und den Ort untersuchen sollten.«94 Nicholas Thomas bestätigt: »neither ritually nor in other respects did they [die Insulaner, Y.M.] incorporate the visitors in any significant ways.«95 Lässt sich der Verzicht auf die Untersuchung der von den Insulanern abgeschirmten Orte aus der Sicht der Europäer einerseits als Gebot der Vernunft und Klugheit auslegen, so macht sich andererseits die Erfahrung des nicht erfüllten Auftrags der »Aufklärung« breit. Dadurch reflektiert Forster zweierlei: Zum einen wird deutlich, dass dem Entdecker

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AA II, S. 301. Ebd., S. 322. AA III, S. 233. Ebd., S. 234. Ebd., S.199. Nicholas Thomas, »Preface«, S. xxxiii.

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wesentliche Informationen ›unentdeckt‹ bleiben und zum anderen, dass der Spielraum, den er tatsächlich hat, sehr begrenzt ist. Und so überrascht es nicht, wenn Forster am Ende seines Aufenthaltes auf der Insel Tanna frustriert feststellt: »Von der Religion der Tanneser wissen wir nichts zu sagen [...], weil uns die Einwohner allemal sorgfältig von dieser Gegend zu entfernen suchten.«96 Eine weitere Spielart dieser Erfahrungen, welche die Aporien der ethnographischen Feldforschung kennzeichnen, stellt Forster überall dort fest, wo die Insulaner ihr Wissen mit dem Mantel des Tabus umhüllen.97 Symptomatisch ist u. a. der Vorfall auf der Insel Raietea (»Societäts-Inseln«), wo die Erschießung zweier Vögel durch Europäer eine allgemeine Unruhe bei den Einheimischen auslöst. Zwar vermutet Forster, dass die verstörte Reaktion der Insulaner mit der Vögelverehrung bzw. mit einer totemistischen Gottesvorstellung in Verbindung stünde98, doch weil diese religiöse Praxis offenbar Tabuvorschriften unterliegt, bleibt den wissensdurstigen Entdeckern der Grund für die Unruhe ein Rätsel. Auf die Frage, »was die Ursach von der Verehrung dieser beyden Vogel-Gattungen seyn mögte«, bekommt Forster »so wenig Auskunft [...] als zuvor.«99 Stattdessen ergeht an die Fremden die eindringliche Bitte des Königs, »keine Eisvögel und Reyher mehr auf seiner Insel zu tödten.«100 In derartigen einschneidenden Situationen bleibt dem Entdecker nichts anderes übrig als der fromme Wunsch: »Ich hätte mich gern mit einem Indianer darüber besprechen mögen [...].«101 Vergleichbare Erfahrungen auf Tahiti und auf den »freundschaftlichen Inseln«, wo Forster vieles »bey bloßen Muthmaßungen bewenden lassen« muss102, führen dazu, dass er die bisher gewonnenen Kenntnisse über die religiöse Welt der SüdseeInsulaner als unzureichend bezeichnet: Was [...] sowohl diese Leute, als die Einwohner auf Tahiti und den Sociätäts-Inseln, veranlaßt haben mag, ihren Gottesdienst neben den Gräbern zu verrichten? bleibt uns dunkel; denn die Religions-Artikel eines Volks sind gemeiniglich dasjenige, wovon der Reisende die wenigsten und späteste Kenntniß erlangt, zumal wenn er in der Landessprache so unerfahren ist als wirs in der hiesigen waren. Außerdem pflegt die Kirchen-Sprache von der gemeinen oft zu verschieden, und die Religion selbst in Geheimnisse gehüllt zu seyn.103

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AA III, S. 280. H.i.O. Vgl. Ludwig Uhlig, Georg Forster, Captain Cook und das Tabu, in: Georg-Forster-Studien IX (2004), S. 39–53. Uhlig macht darauf aufmerksam, dass den Weltumseglern des 18. Jahrhunderts das komplexe Bedeutungsfeld des Tabus verschlossen blieb, da ihnen das Wort selbst unbekannt war. Doch: »Hier nämlich regelte das Tabu als grundlegendes, ordnendes Prinzip alle Bereiche des Gesellschaftslebens, vom Sprachgebrauch über die alltäglichen familiären Umgangsformen bis zur Religion. Dies wurde jedoch von der europäischen Völkerkunde erst spät und auf Umwegen erkannt« (Ebd., S. 40). Es handelt sich eine Vogelart, welche die Insulaner e-Atua nennen. Doch zeigt sich, dass nicht alle denselben e-Atua haben. So weist Forster beispielsweise darauf hin, dass die Männer oft über die e-Atuas der Frauen spotten würden. Vgl. AA IV, S. 115. AA II, S. 319. Ebd. Ebd., S. 320. AA III, S. 267. AA II, S. 362.

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Tatsächlich lässt Forsters Reisebericht erkennen, dass die Entdecker keinen Einblick in die kulturelle Innendeutung und das Selbstverständnis der Insulaner gewinnen. Das bestätigt Adrienne Kaeppler mit der zutreffenden Feststellung: Cook und seine Männer hatten keine Vorstellung von den kulturellen Traditionen der Völker, denen sie begegneten. Sie wussten nichts über die indigenen Vorstellungen von der Organisation des Raums, die sich mit der Erschaffung und mit der Struktur des Universums beschäftigte, nichts darüber, wie der Raum bei Ritualen und im täglichen Leben genutzt wurde.104

Insbesondere zu den stark abgeschirmten Grabstätten und Höhlen bekommen die europäischen Entdecker keinen Zugang. Forster lässt durch seine Schilderung erkennen, dass die religiöse Welt der Insulaner, wie sie sich etwa in den Begräbniszeremonien oder in der oben angesprochenen Verehrung bestimmter Tierarten manifestiert, zu einem Wissensbereich gehört, zu dem der Europäer keinen Zugang findet: »Die Religion der Einwohner«, heißt es folgerichtig an anderer Stelle, »ist uns ganz unbekannt geblieben, weil dergleichen abstracte Ideen [...] nicht leicht ausgeforscht werden konnten.«105 Cook pflichtet Forster in dieser Hinsicht bei, wenn er notiert: It was […] very rare we found a person both able and willing to giving us the information we wanted, fort he most of them hate to be troubled with what they probably think idle questions. Our situation at Tongatabu where we remained the longest, was likewise unfavourable; it was in part of the country where there were few inhabitants except fishers; it was always holiday with our visitors as well as with those we visited, so that we had but few opportunities of seeing into their domestic way of living.106

Hieraus lässt sich folgern, dass der Bericht über die Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts zumindest in der Entstehung eine starke Fraktionierung aufweist, die durch die tatsächlichen Forschungsbedingungen vor Ort geprägt ist. Will man Forsters differenzierter Beschreibung jener Momente in vollem Umfang gerecht werden, die sich im ethnographischen Erkenntnisprozess einstellen, so muss man über das Verhalten der Insulaner hinausgehen. Zu den weiteren wichtigen Faktoren, die eine negative Auswirkung auf die ethnographische Feldforschung entfalten, gehören insbesondere die unzureichenden Sprachkenntnisse seitens der Entdecker sowie der Zeitfaktor. Was das Problem der Sprachkenntnisse angeht, so argumentieren Forster und sein Vater, der Mangel an fundierten Kenntnissen in den einheimischen Sprachen habe ihnen und ihren Mitreisenden einen adäquaten Zugang zu Schlüsselinformationen verwehrt. Obwohl sich die beiden Reisenden intensiv um das Erlernen der südseeischen Sprachen bemühen, bleiben ihre Kenntnisse der verschiedenen einheimischen Sprachen objektiv gesehen zu unzureichend, um einen adäquaten Umgang mit den fremden Kulturen pflegen zu können. Dabei weist Forster neben der erheblich eingeschränkten verbalen

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Adrienne Kaeppler, Begegnungen im unbekannten Pazifik, in: James Cooks und die Entdeckung der Südsee. Herausgegeben von Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Bonn/München 2009, S. 88–92, hier S. 91. AA II, S. 463. James Cook, The Journals of Captain Cook on his Voyages of Discovery, III: The Voyage of the Resolution and Discovery, 1776–1780, hg. v. John C. Beaglehole. Cambridge 1967, S. 166.

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Kommunikation mit den Einheimischen107 auf das erschwerte kognitive Eindringen in die Kulturen der Südsee sowie die daraus resultierenden Fehleinschätzungen hin. So notiert er beispielsweise am Ende einer Schenkungszeremonie: Ob wir gleich das Wort verstanden, so war uns doch die Bedeutung davon noch dunkler als die vorhergehende, und was das schlimmste ist, so haben wir auch nie dahinter kommen können.108

Forster führt also die unzureichenden Kenntnisse über die Rituale der Südseekulturen nicht einseitig auf die Weigerung der Einheimischen, ihre Kultstätten dem forschenden Blick der Europäer preis zu geben, sondern zum Teil auch auf die unzureichenden Sprachkenntnisse seitens der Entdecker zurück. Die Feststellung, »daß Unbekanntschaft mit der Sprache jener Völker in den meisten Fällen dem Forscher ein unübersteigliches Hinderniß in den Weg legt«109, rundet das Eingeständnis der Unfähigkeit ab, zu allem Wissenswerten vorzudringen, um eine plausible Erklärung aller Phänomene abgeben zu können. Wichtig ist hier vor allem, dass Forster einerseits seine scharfsinnigen Beobachtungen durch ausführliche Beschreibungen der von ihm besuchten Völker immer wieder betont, dabei aber zugleich das Unerklärliche und das Hinderliche in objektivierender und differenzierender Weise reflektiert.110 In diesen Komplex gehört auch das Zeitproblem. Übereinstimmend äußern sich Forster und sein Vater darüber, dass die Art und der Umfang der von ihnen vorgenommenen oder notwendigen Untersuchungen auf der einen und die ihnen zur Verfügung stehende Zeit auf der anderen Seite in keinem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. So schreibt beispielsweise der ältere Forster nach dem Aufenthalt in Tonga-Tabu: »The short stay we made in these Isles […] hindered me from collecting more information in regard to the Manners & Customs usual in Marriages & Burials.«111 Michael E. Hoare hat ausgerechnet, dass in den 1100 Tagen, in denen Cook und seine Mannschaft während der Weltreise unterwegs waren, lediglich 290 Tage an Land zugebracht wurden.112 Dabei muss man allerdings zweierlei unterscheiden: Zum einen die von Forster angesprochenen »einsamen Stunden einer einförmigen Seefahrt«113, d. h. das »eingeschloßne Leben am Bord eines Schifs«114, das den Wissenschaftler zum Nichtstun zwingt und Forster dazu veranlasst, über die Langeweile der »traurigen Einförmigkeit, in welcher wir sehr lange unangenehme Stunden, Tage und Monathe in diesem öden Theil der Welt zubringen mußten«115, zu klagen. Andererseits berichtet Forster mit Verbitterung, Cook »wollte sich [...] nicht die Zeit nehmen«, bestimmte Inseln, deren Erschlie-

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Darauf wird im Kapitel VI der vorliegenden Untersuchung ausführlich eingegangen. AA II, S. 306. AA V, S. 359. Ludwig Uhlig weist zu Recht auf »eine Beschränkung in Forsters Einsicht und Mittlertätigkeit« hin. (Ludwig Uhlig, Georg Forster, Captain Cook und das Tabu, S. 39). The Resolution Journal III, S. 402. Vgl. Michael E. Hoare, The Tactless Philosopher. Johann Reinhold Forster (1729–98). Melbourne 1976, S. 104. AA II, S. 66. Ebd., S. 72. Ebd., S. 108.

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ßung für den Naturkundigen von Bedeutung gewesen wären, »näher zu untersuchen.«116 In diese Richtung zielt er wohl mit seiner Äußerung nach seinem ersten Aufenthalt auf Tahiti im September 1773: Es that uns ungemein leid diese herrliche Insel jetzt schon zu verlassen, weil wir mit den glücklichen Bewohnern derselben eben recht bekannt zu werden anfiengen. Unser Aufenthalt hatte in allem nur vierzehn Tage gedauert, und davon waren zween, auf der Reise von einem Haven zum andern, gleichsam verlohren gegangen. Überdem hatten wir uns während dieser allzu kurzen Zeit in einem beständigen Taumel von Beschäftigungen befunden, und folglich nur wenige Augenblicke dazu erübrigen können, die Natur der Einwohner zu studieren.117

Die verpasste Gelegenheit, »die Natur der Einwohner zu studieren«, wird eindeutig auf den Zeitmangel, aber indirekt auch auf die mangelnde Einsicht seitens Cook zurückgeführt. Die logische Konsequenz, die aus der Kürze der Zeit resultiert, ist der oberflächliche Kontakt mit den Einheimischen, was schließlich auch zu inkonsistenten Forschungsergebnissen führte. Spürbar wird in solchen Zusammenhängen die gegen Cook gerichtete Kritik, die aber umso absurder erscheint, als Vater und Sohn offenbar darüber unterrichtet waren, dass nicht nur die Reiseroute, sondern auch die Zeitplanung bereits in den »Verhaltungsbefehlen«118 der britischen Admiralität vorgegeben waren.119 Doch dieser Sachverhalt wird vollkommen verschwiegen, weil insbesondere der ältere Forster hinter jeder Entscheidung Cooks, die seinen Vorstellungen nicht entsprach, nahezu reflexartig persönliche Feindseligkeiten und Missachtung der Wissenschaft vermutete.120 Doch wer auch immer die Verantwortung für die Zeitplanung tragen mochte, Forster konstatiert darin eine große Beeinträchtigung des ethnographischen Forschungsprozesses, worüber er sich nach einem kurzen Aufenthalt im Hafen Madre de Dios im April 1774 hinreichend äußert: Der Mangel an Zeit hatte uns auch verhindert mit den Einwohnern genauer bekannt zu werden; sie hätten sonst gar wohl verdient, von Reisenden, mit philosophischen Augen etwas näher betrachtet zu werden. Besonders that es uns leid, daß wir nicht im Stande gewesen waren, die Verzäunungen auf den Bergen in Augenschein zu nehmen; denn ich bin immer noch der Meynung, daß diese mit ihren Religions-Gebräuchen in einiger Verbindung stehen.121

Hier macht das ethnographische Forschungsdefizit deutlich, dass selbst der »mit philosophischen Augen« beobachtende Reisende »aus Mangel eines längeren Aufenthalts«122 auf die notwendige Beleuchtung der von ihm vermuteten »Verbindung« zwischen verschiedenen Beobachtungen oft verzichten muss. Wenn Forster damit den Anspruch des oben beschriebenen neuen Typus von Reisenden nicht generell in Frage stellt, so gibt er doch zu erkennen, dass der Ethnograph, der den der Forschungsexpedition zugrun-

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AA III, S. 285. AA II, S. 297. (Hervorhebung Y. M.) Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. Michael E. Hoare, The Tactless Philosopher; vgl. ebenfalls Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabendteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 69. AA III, S. 30. Ebd., S. 182.

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deliegenden »Verhaltungsbefehlen volles Genüge leisten«123 muss, letztendlich mit der Konsequenz lebt, dass er die ihm fremde Kultur nur flüchtig wahrnehmen kann, »theils wegen unsres kurzen Aufenthalts, der nur wenige Stunden, Tage oder höchsten Wochen dauerte, theils wegen der unschicklichen Jahreszeit, in welche derselbe fiel.«124 Rückblickend fragt Forster in seinem Cook-Aufsatz rhetorisch: Wie läßt sich auch denken, daß man in einigen Tagen, oder wenn es hoch kommt in einigen Wochen, alle Produkte, selbst nur jener kleinen Bezirke einsammeln könne, da jede Jahreszeit und fast jeder Monat, seine Blüthen und Früchte trägt, da Thiere, Vögel und Fische zu gewissen Zeiten ihre Wohnplätze verändern, und Insekten während ihrer verschiedenen Verwandlungsepochen oftmals von der Oberfläche der Erde verschwinden?125

In diesem Zusammenhang hat Urs Bitterli darauf hingewiesen, »daß die Ankunft eines europäischen Schiffes die Eingeborenen in einen Zustand des Erstaunens, des Schreckens oder der Unruhe versetzte, der es erschwerte, ihr Normalverhalten zu beurteilen.«126 Offenbar führen solche Erfahrungen dem Reisenden als einem erkennenden Subjekt die Diskrepanz zwischen Anspruch der Aufklärung und der Wirklichkeit der Erfahrungswissenschaften sehr anschaulich vor Augen. Hierin liegt der Grund, weshalb Forster sich auch in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen, die sich ja aus der Praxis herausgebildet haben, mit den Reiseberichten hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes und ihrer Aussagefähigkeit über die beschriebenen Kulturen kritisch auseinandersetzt.127 Andererseits ist auf solche Erfahrungen die für die Ethnologie des 19. und 20. Jahrhunderts wohl konstitutive Konsequenz zurückzuführen, dass »längere Studienaufenthalte und die Beherrschung der Eingeborenensprachen zum Zweck der vorurteilsfreien Erforschung des Überseebewohners« gefordert werden.128 Der grundlegende Unterschied zwischen Forster und seinen Vorgängern liegt diesbezüglich in seiner Reflektierung des Südsee-Aufenthaltes als eines komplexen ethnographischen Erfahrungsprozesses, bei dem Verstandenes und Nichtverstandenes, Erfahrenes und verborgen Gebliebenes sowie unerklärbare Rätsel und Täuschungen der Informanten als zusammenhängend reflektiert werden. Zwar zeichnet sich Forster durch die stetige Bemühung aus, der fremden Kultur möglichst viel abzugewinnen und das Erfahrene möglichst exakt zu dokumentieren129, doch weil er sich mit seinem Reisebericht an ein mündiges und aufgeklärtes Publikum

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AA II, S. 26. Zu den »Verhaltungsbefehlen«, der Cook mit auf den Weg gegeben wurden, gehörte auch ein von der Admiralität ausgearbeiteter Reiseplan, der nicht nur die Reiseroute, sondern sogar die Dauer der Aufenthalte an verschiedenen Stützpunkten vorgeschrieben hatte. Vgl. AA II, S. 25. AA II, S. 82. AA V, S. 260. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 196. Vgl. Kapitel IV, S. 103ff. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 199. Leo Kreutzer weist in diesem Zusammenhang auf den Einfluss der Naturwissenschaften hin. Vgl. Leo Kreutzer, Die Lokalität von Wissen und ihre Universalisierung, S. 115.

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wendet, sieht er es auch als seine Aufgabe an, dieses Publikum nicht nur über den Ertrag, sondern auch über die Unzulänglichkeiten seines Weges zum Ergebnis zu unterrichten: Gewissere und wichtigere Beobachtungen, oder gar, einen vollständigen Abriß vom ganzen Umfang der Kenntnisse dieser Insulaner, wird hoffentlich niemand erwarten oder fordern, der die kurze Dauer unsers Aufenthalts und die Hindernisse bedenkt, welche das Mistrauen der Einwohner uns [...] in den Weg legte. Diesen allein ist beyzumessen, daß so manche Puncte [...] uns gänzlich unbekannt geblieben sind.130

Diese Bemerkung ist deshalb aufschlussreich, weil Forster damit zum einen die seinem eigenen Reisebericht anhaftenden Erkenntnislücken späteren Forschungen anheim stellt, wodurch seine Auffassung von Wissenschaft als einem Prozess deutlich wird. Zum anderen artikuliert sich auf diese Weise das Interesse eines gewissenhaften Reisenden, seine Leserschaft über die Grenzen der Erfahrungswissenschaften im 18. Jahrhundert zu unterrichten. Deshalb trägt er, so Ludwig Uhlig, »seine [Forsters, Y.M.] Ergebnisse meist als vorläufige, ergänzungs- und korrekturbedürftige Beiträge vor.«131 Dadurch, dass Forster nicht nur präzise beobachtet und vergleichend schildert, sondern auch auf das aufmerksam macht, was sich dem Zugriff der aufgeklärten Forschungsreisenden entzieht, macht er den Prozess der ethnographischen Wissensgewinnung wie kein anderer Reisender vor ihm begreif- und nachvollziehbar. Doch alles, was Forster nicht objektivieren kann, sei es aus Mangel an Zeit oder an Sprachkenntnissen oder auch wegen der Tabus der Insulaner, wird explizit oder implizit dem ›Anderen der Vernunft‹ zugeordnet. Sicherlich ist Forsters Werk nicht nur von solchen Erlebnissen geprägt, welche den fragmentarischen Charakter der Erfahrungen der Reisenden dokumentieren. Dennoch machen die genannten Momente, »welche [...] der feurigsten Forschbegierde Einhalt thun können«132, das Problem der Beobachtung als Grundlage der Erfahrungswissenschaften sehr deutlich. Denn in dem Maße, in dem sich bestimmte Lebensbereiche ferner Kulturen dem Zugriff des Ethnographen verweigern oder von ihm durch die ›Farbe seiner Brille‹ verändert werden, werden sie dem »Prozess der Exotisierung« ausgesetzt.133 Nimmt Forster solche Momente in seinen Reisebericht auf, so will er die Notwendigkeit, mit Hilfe der Erfahrungswissenschaften die Südsee zu erschließen und aufzuklären, keineswegs anzweifeln. Im Gegenteil: Die Aporien, denen sich der Entdecker gegenüber findet, erweisen sich als Erkenntnismoment, nämlich dann, wenn die Reflektierung der

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AA III, S. 281. Ludwig Uhlig, Erkenntnistheorie und Traditionsbindung, S. 55. AA V, S. 260. Nach Peter Weber-Schäfer konstituiert sich der Prozess der Fremdkonstruktion in der Wissenschaft dort, wo bestimmte Lebensbereiche nicht objektiviert werden können. Hier liegen ihm zufolge die Wurzeln für den Vorgang der Exotisierung: »Der Prozess der Exotisierung verengt das Blickfeld so, dass es an der Kultur, die es zu verstehen gilt, nur noch das Fremdartige, das von unseren Gewohnheiten Abweichende, eben das Exotische wahrnimmt.« Peter Weber Schäfer, Exotismus und Esoterik. Oder wie man sich den Fremden durch wohlmeinende Ignoranz vom Leibe hält, in: Christian Bremshey, Hilde Hoffmann u. a. (Hg.), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster 2004, S. 92–109, hier S. 92f.

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besonderen Umstände, unter denen der Entdecker arbeitet, die Authentizität sowohl des Materials als auch der Ergebnisse eines Reiseberichts geradezu unterstreicht: [...] der Entdecker soll ja nicht Topograph seyn; er hängt von seinem Reiseplan ab, und sucht sein Verdienst in einer weisen Eintheilung und Benutzung seiner Zeit, so daß er zugleich seinen Hauptzweck, die Entdeckung neuer Länder, und die wichtige Nebenabsicht ihrer genaueren Untersuchung, nach Möglichkeit erreicht.134

Nur wenn man dies im Auge behält, können die im Laufe der Entdeckungsfahrten gemachten Beobachtungen im Südpazifik angemessen eingeschätzt und analysiert werden. Forster zufolge ist nicht der Umfang der in Reiseberichten dokumentierten Erfahrungen, sondern vielmehr der auf Gründlichkeit, Genauigkeit und Selbstreflexivität basierende qualitative Anspruch der vermittelten Beobachtungen entscheidend für ihre Tauglichkeit als Instrument der Aufklärung: Dem Reisenden bleibt unter diesen Umständen weiter nichts übrig, als aufmerksam zu beobachten, und das Gesehene treu zu erzählen. Alles was außer seinem Gesichtspunkte liegt, ist so gut, als ob es noch nicht existirte.135

Christoph Martin Wieland geht in seiner 1778 im Teutschen Merkur erschienenen Rezension der Reise um die Welt auf die von Forster thematisierte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der maritimen Forschungsreisen des 18. Jahrhunderts ein. Er weist im Hinblick auf die betont planmäßige Organisation der zweiten Weltreise Cooks und die ihr zugrunde liegenden wissenschaftlichen Zielsetzungen darauf hin, daß dieser Plan und diese Absicht, weder was die Reise selbst noch was die Beschreibung derselben betrifft, in ihrem ganzen Umfang und in der Vollkommenheit, die man sich gedacht, ausgeführt worden sey.136

Wielands Bemerkungen problematisieren nicht nur den Anspruch, sondern auch die Erwartung, dass eine unter dem Vorzeichen der Aufklärung vorgenommene Entdeckungsreise vollkommen sein müsse. Dabei vertritt der Rezensent die Ansicht, dass ein solcher Anspruch bzw. eine solche Erwartung insofern unrealistisch wäre, weil das »Vorhaben [...] so unendlich kompliziert« ist.137 Forster zustimmend macht er darauf aufmerksam, dass der Fortgang der Entdeckungsreise von Augenblick zu Augenblick von so unendlich vielen Umständen, die zum Theil außer den Grenzen menschlicher Gewalt oder Klugheit liegen, ab[hängt], und [...] bey jedem Schritt auf so unsäglich viele Schwierigkeiten [stößt], daß es ihm schlechterdings unmöglich ist, sich anders als bedingungsweise zu Ausführung irgend eines vorgezeichneten Plans anheischig zu machen.138

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Ebd. AA V, S. 259. Wieland, Christoph Martin, Wielands Werke Bd. 22 Kleine Schriften II 1778–1782, hg. v. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1954, S. 21. Ebd. Ebd.

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Es wäre zwar vermessen, diese Unzulänglichkeiten lediglich als eine Schwäche im Werk Forsters auszulegen. Doch der Leser ist gleichzeitig gefordert, den Reisebericht mit der notwendig kritischen Distanz zu betrachten, da Forster in der Annahme, dass »vollständiges Verstehen der fremden Kultur unmöglich ist,«139 einen reflektierten Umgang mit Reiseberichten einfordert. Er warnt selbst davor, seine eigenen Beobachtungen »für allgemein auszugeben.«140 Forster leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Methodenreflexion nicht nur auf das eigene Vorgehen selbst, sondern auch auf die Ethnographie des 18. Jahrhunderts schlechthin. Dies erscheint umso mehr plausibel, als Kia Vahland beispielsweise darauf aufmerksam macht, dass die Bedeutung der während Cooks Weltreisen gesammelten »Schätze« aus der Südsee bis heute teilweise nicht erschlossen sei. Für Vahland hängt das damit zusammen, dass die Gebrauchs- und Kultobjekte das »Abstraktionsvermögen […] von reisenden Europäern des 18. Jahrhunderts bei Weitem [überstieg].«141 Solche Hinweise sind für eine kritische Lektüre des Beitrags der Reiseberichte für das Verständnis der bereisten Kulturen von großer Bedeutung. Sie bestätigen die These, »daß Ethnographien niemals die Fülle der Erfahrung und der teilnehmenden Beobachtung vermitteln können, geschweige denn das weite Spektrum der Selbstäußerung von Mitgliedern der beschriebenen Gesellschaft.«142 Auch deshalb wird Forsters oben erörterte Theorie der Relativität der Erkenntnis und Wahrheit, die den Reisebericht des dogmatischen Charakters enthebt, einmal mehr sinnfällig: »So sind es häufig nicht Resultate von Erkenntnisprozessen, mit denen Forster den Leser konfrontiert«, stellt Peter Koch im Zusammenhang mit den Ansichten vom Niederrhein fest, »sondern der Prozeß der Erkenntnis selbst wird vor dem Leser ausgebreitet.«143 Diese Feststellung lässt sich ohne Abstriche auch und gerade auf die Reise um die Welt anwenden, in der nicht mehr nur die Insulaner, sondern auch der Prozess ihrer Beobachtung durch Europäer thematisiert und problematisiert wird. Mit dem Hinweis, dass das Ziel, die Südsee-Kulturen zu dokumentieren, nur »nach Möglichkeit erreicht«144 werden könne, löst Forster durch seine reflexive Schreibweise den Anspruch ein, mit seinem Reisebericht »eine Erzählung, der genauesten historischen Wahrheit gemäß«145 zu liefern. Es handelt sich nämlich um einen Reisebericht, in dem der Leser nicht mit fertigen Ergebnissen, sondern vielmehr mit jener ethnographischen Erfahrung konfrontiert wird, die Walter Veit als »prohibition to know more than allowed« zutreffend bezeichnet.146

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Walter F. Veit, Der Beobachtete Beobachter, S. 48. AA III, S. 277. Kia Vahland, Rückkehr des gefiederten Gottes. Eine Schau in Bonn zeigt die Schätze aus der Südsee, die der Weltumsegler James Cook im 18. Jahrhundert sammelte, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 199, 31. 08.2009, S. 11. Doris Bachman-Medick, Kultur als Text, S. 32. Peter Koch, Selbstbildung und Leserbildung, S. 9. AA V, S. 260. AA II, S. 10. Walter F. Veit, The Antipodes, S. 733.

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4.

Entdeckung als Praxis der Aufklärung: Wirklichkeit und Utopieverlust

Karl-Heinz Kohl hat die These aufgestellt, dass die in der Spätaufklärung unternommenen Forschungsreisen das »Ende der Mythen«147 eingeläutet haben. Damit deutet er eine geistige Haltung an, die dem theoretischen Anspruch vom Zeitalter der Aufklärung auf eine umfassende Erweiterung des Kenntnishorizontes entspricht. Kohl folgt, auch wenn er dies nicht explizit macht, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die darauf hingewiesen haben, dass schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die »Entzauberung der Welt«148 begonnen habe. Horkheimer und Adorno sprechen zu Recht von der Herausforderung, »die Mythen auf[zu]lösen und Einbildung durch Wissen«149 zu ersetzen. Beiden Autoren zufolge impliziert dieser Prozess, der wohl auf Francis Bacon zurückgeht, einen epochalen Umbruch, dem jedoch erst im Ausgang des 18. Jahrhunderts ein programmatischer Anspruch zuwachsen sollte. Dabei nehmen die Entdeckungsreisen eine besondere Stellung ein, als sie in einer von Idealen und Theorien geprägten Epoche eine Plattform für die Praxis bieten. Dieser Anspruch lässt sich am Reisebericht Georg Forsters verifizieren. Der Autor sieht das Ziel der Entdeckungsfahrt in den Südpazifik darin, »das Reich der menschlichen Kenntnisse zu erweitern«150, und zwar primär durch praktisches Wissen. Die Kategorie des Wissens als eine fortschreitende Erweiterung des Kenntnishorizontes artikuliert eine grundlegende Erwartungshaltung, die sich wie ein roter Faden durch Forsters Arbeiten zieht und vorzugsweise in seinem kritischen Umgang mit überlieferten Berichten über die Südsee Niederschlag findet. Wenn Forster in seinem Cook-Essay betont, die Vorgänger Cooks hätten mit ihren Reisebeschreibungen »mehr Ungewißheit als Licht über jene Weltgegend verbreitet«151, dann versucht er durch die Metaphorik des Lichtes eine historische Zäsur zu markieren. Erst mit Cooks epochalen Reisen sei es gelungen, »über Vorurtheile [...], die den Verstand des gemeinen Seemannes seit Jahrhunderten gefangen hielten«152, den »Sieg« zu erringen. Forster sieht sich selbst als Mitgestalter dieses Prozesses. Die Tatasche, dass sein Vater und er selbst bei der zweiten Weltreise Cooks zahlreiche zeitgenössische Reisebeschreibungen und Sammlungen von früheren Reiseberichten mit an Bord führen,153 dient dem Verständnis ihrer Arbeit als Korrektiv gegenüber traditionellen Reiseberichten. Der ständige Rückgriff auf diesen »alten« Fundus, zu dem Voyage autour du monde von Bougainville und Hawkesworths Sammlung154 gehören, macht Forsters Bericht

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Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 7. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1969, S. 9. Ebd. AA V, S. 228. Ebd., S. 206. Ebd., S. 272. Forster spricht sogar von »unsrer kleinen Bibliothek« ( AA III, S. 289). Zu dem Fundus gehörten u. a. die von Alexander Dalrymple und John Hawkesworth herausgegebenen Kompilationen von Reiseberichten. Dazu ausführlicher vgl. unten S. 168.

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allein schon für intertextuelle Untersuchungen interessant, wobei es weniger um die Einarbeitung von Texten anderer Autoren in den eigenen geht.155 Vielmehr geht es darum, in einer direkten Konfrontation von Buch und unmittelbarer Erfahrung, »die vorherigen Bemerkungen und Nachrichten [...] zu prüfen […] zu bestätigen«156 oder aber auch – wie bei Forster oft der Fall ist – zu revidieren. Dieses Ziel macht deutlich, dass Forster mit seinem Reisebericht zweierlei gleichzeitig betreibt, was dem Projekt der wissenschaftlichen Aufklärung dient, nämlich die Dokumentation unmittelbarer Erfahrungen zum einen und eine historische Quellenkritik zum anderen. Wolfgang Griep spricht daher von »Erfahrung und Beglaubigung.«157 Zwar handelt es sich um eine Vorgehensweise, die sich in Forsters Reisebericht durchgesetzt hat, deshalb aber nicht als einsträngig verstanden werden darf. »Beglaubigung« ist nur Teil eines umfassenden Verifikationsprozesses, der sich nämlich nicht nur im Sinne der Bestätigung vollzieht, sondern gleichermaßen auf Hinterfragung oder Widerlegung hinauslaufen kann. Anders als etwa Bougainville, der in der Einleitung seines Reiseberichts dem im Sinne des Projektes der Aufklärung notwendigen Konflikt der wissenschaftlichen Beglaubigung der Erfahrung mit den Worten ausweicht: » [...] je ne cite ni ne contredis personne; je prétends encore moins établir ou combattre aucune hypothèse«158, nimmt sich Forster geradezu vor, nahezu jeden Südseereisebericht darauf hin zu prüfen, ob er den wissenschaftlichen Anforderungen und Zielsetzungen seiner Zeit entspricht.159 Wegweisend dabei ist der bereits erörterte erkenntnistheoretische Grundsatz, dass die konkreten Beobachtungen und Erfahrungen während des Aufenthaltes auf der Südsee die Grundlage dafür liefern, den Inhalt früherer Reiseberichte »bald zu bestätigen, bald zu berichtigen«.160 Exemplarisch für diese Vorgehensweise ist Forsters Stellungnahme zur Kritik des französischen Südafrika-Experten La Caille an dem Reisebericht Peter Kolbes.161 Forster kommt am Ende einer langen polemischen Tirade, in der er auch auf eine schonungslose Demontage von La Cailles Text abzielt, zu dem Schluss »[d]aß die ausführlichen Nachrichten dieses einsichtsvollen Mannes [Kolbe, Y.M.] der Wahrheit gemäß waren.«162 Diese Schlussfolgerung begründet er mit der aus der Praxis, d. h. aus der Befragung der Einheimischen gewonnenen Erkenntnis, dass »nicht nur die vornehmsten hiesigen Einwohner durch ihr Zeugnis [dies bestätigen], sondern wir fanden

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Vgl. Manfred Pfister: Intertextuelles Reisen oder Der Reisebericht als Intertext, in: Herbert Foltinek, Wolfgang Riehle u. a. (Hg.), Tales and ›their telling difference‹. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Heidelberg 1993, S. 109–132. AA II, S. 217. Wolfgang Griep, Annäherungen, S. 103. Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 19. Dieses Grundmotiv zeigt sich auch in Forsters Tätigkeit als Rezensent von Reiseberichten, die nach seiner eigenen Weltreise geschrieben wurden. AA II, S.105. Peter Kolbe, Vollständige Beschreibung Des Africanischen Vorgebürges der Guten Hoffnung. Nürnberg 1719. AA II, S. 89.

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auch Gelegenheit, uns zum Theil durch eigne Untersuchungen, von der Richtigkeit seiner Beobachtungen zu überzeugen.«163 Hieraus wird deutlich, dass Forster die Glaubwürdigkeit von Kolbes Bericht an der praktischen Erfahrung misst, und zwar einerseits mit Hilfe der Zeugenberichte der Einwohner, die er selbst befragen kann und andererseits durch eigene Untersuchungen vor Ort. Vor diesem Hintergrund fordert er, »Kolben als einen treuen und genauen Beobachter zu rechtfertigen.«164 Ein weiteres, sehr anschauliches Beispiel führt Forster im Zusammenhang mit dem damals äußerst kontrovers diskutierten Thema vor, nämlich das Problem des Kannibalismus in der Südsee. Bei einem Aufenthalt auf Neuseeland im November 1773 notiert er, nicht ohne den Vorzug der empirischen Methode zu betonen: Philosophen, die den Menschen nur von ihrer Studierstube her kennen, haben dreist weg behauptet, daß es, aller älteren und neueren Nachrichten ohnerachtet, nie Menschenfresser gegeben habe: Selbst unter unsern Reisegefährten waren dergleichen Zweifler vorhanden, die dem einstimmigen Zeugniß so vieler Völker bisher noch immer nicht Glauben beymessen wollten. Capitain Cook hatte indessen schon […] aus guten Gründen gemuthmaaßt, daß die Neu-Seeländer Menschfresser seyn müssten; und jetzt, da wir es offenbar mit Augen gesehen haben, kann man wohl im geringsten nicht mehr daran zweifeln.165

Durch diese und ähnliche Beispiele wird Forsters Auffassung der Entdeckungsreise als Prozess der Aufklärung deutlich exponiert. Wissenschaftliche Kenntnisse über fremde Kulturen haben demnach nur dann Bestand, wenn sie der Prüfung durch die empirische Erfahrung standhalten. Auch der »Prozeß der geographischen Aufklärung«166 gehört in diese Konzeption, die »evidente Wahrheit« als Ergebnis »empirisch bewiesene[r] Forschungsergebnisse« ansieht.167 Das zeigt sich sehr deutlich, wenn Forster beispielsweise schreibt: Ob wir nun gleich das Land selbst nicht fanden, so haben wir dennoch der Geographie durch unser hin und her kreutzen in dieser Gegend einen Dienst gethan, indem daraus unläugbar erhellet, daß die französische Entdeckung nichts weiter als eine kleine Insel, keinesweges aber das nördliche Ende eines unter diesem Himmelsstrich belegenen großen festen Landes sey, wie man anfänglich geglaubt hat.168

Der Ausdruck »hin und her kreutzen in dieser Gegend« stellt ein empirisches Moment dar, dem Forster eine heuristische Funktion zuschreibt. Um dies zu verdeutlichen, weist Forster auf die im Laufe der vergangenen Jahrhunderte offen gebliebenen Fragen zur Erdgestalt hin, indem er betont, es sei Cook wie kaum einem anderen Weltreisenden zuvor gelungen, »den letzten Rest geographischer Irrtümer, welche aus verworrenen Nachrichten [...] unkundiger Kaufleute entstanden waren, vollends aus dem Weg zu

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Ebd., H.i.O. AA II, S. 90. H.i.O. Ebd., S. 404. (Hervorhebung Y. M.) Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, S. 127. Ludwig Uhlig, Erkenntnisfortschritt und Traditionsbindung, S. 57. AA II, S. 116. H.i.O.

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räumen.«169 In Bezug auf frühere Berichte über außereuropäische Länder erinnert Forster daran, welche Traumgestalten [...] nicht in ihr [der außereuropäischen Welt [Y.M.] umher[schwebten], die den leichtgläubigen Geographen täuschten und selbst den vernünftigen Forscher verwirrten; scheinbare Mutmaßungen spekulativer Köpfe, müßige, auf mißverstandene Überlieferungen gegründete Märchen und dreiste Erdichtungen vorsetzlicher Betrüger.170

Forster zufolge konstituierten Mutmaßungen, Erdichtungen und vorsätzliche Täuschungen, die vor der Zeit der Aufklärung entstanden sind, die Grundlagen eines kulturgeschichtlich verankerten Diskurses, auf dem die verzerrte Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen im Allgemeinen und der Südsee im Besonderen über Jahrhunderte hinweg basiert. Daher betrachtet er die von England initiierten wissenschaftlichen Entdeckungen als Vorbild, an dem sich andere Nationen ein Beispiel nehmen sollen, hätten doch die englischen Reisen des späten 18. Jahrhunderts die Voraussetzungen geschaffen, wodurch die vorher unbekannte Hälfte der Erdkugel ausgekundschaftet worden ist. Ich sage die Hälfte der Erdkugel, und man wird finden, daß dieser Ausdruck nicht zu viel sagt, wenn man einen Blick auf die Geographie vor Cooks Entdeckungen wirft.171

In der Einleitung der Reise um die Welt berichtet Forster, dass die geographische Karte am Ende des 18. Jahrhunderts noch voller weißer Flecken sei, in denen sich althergebrachte Projektionen Europas hartnäckig eingenistet hätten, so dass er sie als eine besondere Herausforderung für den aufgeklärten Menschen ansieht: Die gründlichsten Naturforscher dieses Jahrhunderts haben angenommen, daß um den Südpol her festes Land befindlich seyn müsse. Diese Meinung wird freylich durch unsere Erfahrung gar sehr geschwächt [...].172

Nachdrücklich und mit fast triumphaler Genugtuung betont Forster in diesem Zusammenhang das, was im Kontext des späten 18. Jahrhunderts durchaus einen großen wissenschaftlichen Durchbruch darstellt, nämlich die Erkenntnis »daß eben so wenig das Daseyn des eingebildeten Südlandes jemals wieder behauptet werden kann, als die dunkle Lehre vom nothwendigen Gleichgewicht der beiden Halbkugeln[...]«.173 Betrachtet man diese Aussagen genauer, dann leuchtet die Einschätzung der zweiten Weltreise Cooks als »Teil einer Erkenntnisrevolution der Weltgeographie«174 ein, da sie auch nach Forsters Einschätzung den Grund dafür gelegt hat, dass die »Ursachen,

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AA V, S. 230. Ebd., S. 206. Ebd., S. 202. AA III, S. 408. AA V, S. 279. Jörn Garber, Georg Forster – ein Universalgelehrter im Zeitalter der Aufklärung, S. 64. Vgl. dazu ebenfalls: Hanno Beck, Georg Forster und Alexander von Humboldt. Zur Polarität ihres geographischen Denkens, in: Detlef Rasmussen (Hg.), Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethezeit. Tübingen 1988, S. 175–188.

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die man für die Existenz des Continents angiebt, durch neuere Erfahrungen verworfen worden [sind].«175 Entscheidend für das, was Forster später in den Ansichten vom Niederrhein als »wissenschaftliche Aufklärung«176 bezeichnet, sind also offenbar »die siegreichen Beweise vom Nichtseyn eines festen Südlandes«177, an das »man anfänglich geglaubt hat.«178 Dieser Nachweis, dem auf der Basis der Entdeckung von Neukaledonien und einer Anzahl weiterer Inseln der Neuen Hebriden sukzessive eine exakte Kartographierung der Südsee folgen wird, beendet die Zeit der geographischen Mythen und stellt auch aus Forsters Perspektive deshalb einen Paradigmenwechsel dar, weil die ganze Erdkugel mit allen ihren Ländern und Inseln, ihren Häfen und Ankerplätzen, ihren Sandbänken, Klippen, Durchfahrten und Strömungen überall bekannt und in Charten genau verzeichnet ist [...].179

Die Entdeckung der südpazifischen Inselwelt, wie sie Forster hier als Programm der Aufklärung vermittelt, beschränkt sich allerdings keineswegs auf das Gebiet der Geographie. Spannend ist ebenso die Entschleierung weiterer Mythen der damaligen Zeit und dabei insbesondere jener, welche die europäische Rezeption der Südsee als irdisches Paradies maßgeblich geprägt haben. Diesbezüglich nimmt Forsters Reisebericht eine besondere Stellung ein. Auch wenn einem aufmerksamen Leser nicht entgehen dürfte, dass Forster den als exotisch empfundenen Reiz der Südseeinseln gelegentlich nahezu schwärmerisch vermittelt, so liest sich sein Reisebericht – und darin widerspiegelt sich ein wichtiges dialektisches Moment – größtenteils als Dokument eines wechselseitigen Desillusionierungsprozesses zwischen Europäern und Insulanern, was auf Forsters oft kritischen Blick auf beide Seiten zurückzuführen ist. Als Vertreter einer Periode, die sich der Aufgabe verschrieben hat, den Wissenshorizont auf der Grundlage der Erfahrung zu erweitern, nutzt Forster jede Gelegenheit, der Vereinnahmung der Südsee durch Utopisten und apodiktische Zivilisationskritiker entgegenzutreten. Dies zeigt sich, wenn man jene Stellen genau in den Blick nimmt, in denen Forster sich mit dem in den Reiseberichten der damaligen Zeit zum Topos avancierten sexuellen Leben der Insulaner auseinandersetzt. Gegen seine Vorgänger, welche dem Beispiel Bougainvilles folgend, die Südsee undifferenziert zum Liebesparadies deklarieren180, erhebt Forster den schwerwiegenden Vorwurf, nicht beobachtet zu haben,

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180

AA III, S. 408. AA IX, S. 294. AA V, S. 223. AA II, S. 100. AA V, S. 188. Die kartographische Erfassung und Fixierung nicht nur der Küstengebiete, sondern auch der Binnenräume der Kontinente, erreichte ihren Höhepunkt um die Wende zum 19. Jahrhundert mit Reisenden wie Mungo Park (Afrika), Lewis und Clark (Pazifik) und Alexander von Humboldt (Amazonas), um nur einige Beispiele zu nennen. Dazu vgl. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 110ff.

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daß die hiesigen liderlichen Weibspersonen von der gemeinsten oder nidriegsten Classe sind; das bestätigt sich jetzt noch augenscheinlicher, weil diese Personen gerade dieselbigen waren, die sich bereits bey unserm ersten Aufenthalt zu Tahiti, in so ausgelassene Sittenlosigkeit, mit unsern Seeleuten einließen. Dies beweiset meines Erachtens offenbar, daß die H.... hier zu Lande ebenfalls eine besondere Classe ausmachen. Sie ist jedoch [...] lange so allgemein nicht, als unser Vorgänger solches vielleicht zu verstehen geben. Mich dünkt, sie haben dabey zu wenig auf Ort und Umstände, Rücksicht genommen.181

Forsters augenscheinliche Beobachtung zielt eindeutig auf eine Relativierung der seinerzeit herrschenden Stigmatisierung und Rezeption der Südsee als ›erotische Paradiese‹ – ein Topos, dessen Fortleben Forsters Kritik allerdings nicht aufzuhalten vermochte, da er, wie wir bereits gesehen haben, den europäischen Blick auf die Südsee auch nach Forsters kritischen Einwürfen lange prägen sollte. Dennoch ist der Impetus der Aufklärung in Forsters Worten unüberhörbar. Exemplarische Bedeutung gewinnt deshalb auch seine Beschreibung der Erriyos-Gesellschaft, die er im Mai 1774 in Tahiti kennen lernt. Nachdem er erfahren hat, dass die Errioys einer Gesellschaft angehören, »deren unabänderliches Grundgesetz ist, daß keines ihrer Mitglieder Kinder haben dürfe«,182 nimmt er diese auf Krieg spezialisierte Gesellschaft zum Anlass, um die Frage aufzuwerfen, »wie ein Volk, das in den übrigen Stücken so sehr der Natur getreu blieb, gerade dem ersten Grundgesetz derselben zuwider handeln, und gegen eine so tief gepflanzte Empfindung sich habe verhärten können?«183 Freilich handelt es sich hier um eine rhetorische Frage, die darauf abzielt, einen Widerspruch zu markieren. Die Reichweite einer solchen Frage wird allerdings erst dann erfasst, wenn man erkennt, dass Forster damit gezielt aufzeigen möchte, inwiefern dem einseitig positiven Tahiti-Bild, das spätestens seit Bougainville in die europäische Südsee-Rezeption Einzug gehalten hat, eine unstatthafte Verklärung zugrunde liegt. Interessant dabei ist die für Forster gewiss überraschende Erkenntnis, dass gerade die Insel Tahiti, die er selbst bisher für die unter den Südsee-Kulturen am weitesten fortgeschrittene gehalten hat, vorschreibt, »die unglücklichen Kinder gleich nach der Geburt umzubringen.«184 Aufschlussreich ist hier allerdings nicht ausschließlich die Entlarvung einer bisher als Ideal stilisierten Kultur aus der humanistischen Perspektive, die Forster durchaus verkörpert. Folgendes muss ebenfalls in die Überlegung einbezogen werden: So sehr Forster das von den Errioys praktizierte Ritual der Kindestötung als Ausdruck barbarischer Grausamkeit wahrnimmt185 und es dementsprechend kritisiert, so wenig verleitet ihn diese Erfahrung auf eine einseitige Verurteilung der Insulaner, denn [w]ie groß die Verderbniß der Sitten in Europa sey, kann man unter andern daraus abnehmen, daß es zu London Buben giebt, die sich ihrer Geschicklichkeit, in der Kunst Abortantia zu präparieren, öffentlich rühmen, und in diesem Fach ihre Dienste anbieten. Avertissements von

181 182 183 184 185

AA III, S. 45f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 106. Ebd., S. 103. Ebd., S. 103ff.

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solchem Innhalt werden auf den Straßen ohne Scheu ausgetheilt und finden sich auch fast in allen Zeitungen.186

Überraschend konfrontiert Forster seinen Leser auf diese Weise mit der Frage, ob die eigene Kultur, die auch die »Kunst Abortantia« pflegt, anderen Kulturen der Welt als Vorbild dienen könne. Forsters Kritik durchkreuzt hier den Anspruch Europas, Träger von Vernunft, Aufklärung und Zivilisation zu sein, indem sie zumindest indirekt artikuliert, dass, was die Europäer weltweit implementieren möchten, bei Ihnen selbst (noch) nicht realisiert sei. Die Parallelen, die zwischen der Erriyos-Gesellschaft und manchen Praktiken in Europa gezogen werden, sprechen für die konstitutive Erkenntnis, dass sich die Dialektik der Kulturbegegnung in Forsters literarischer Weltreise auch methodisch darin artikuliert, dass der Autor nicht nur die Südsee, sondern auch die eigene Kultur im Blick behält. Folglich tragen sich die Ambivalenzen des xenischen Systems auch in die Wahrnehmung des Eigenen ein. Wie schon Montaigne und Diderot in ihren jeweiligen kulturkritischen Schriften deckt Forster genau jene Vorgänge auf, die den essentialistischen Diskurs Europas über die südpazifische Kultur ad absurdum führen. Doch während beide französische Gelehrten ihre Kulturkritik in philosophischen Abhandlungen respektive in abstrakten Überlegungen formulieren, bedient sich Forster der unmittelbaren Erfahrung, und er lässt es auch nicht bei der Relativierung der Kulturen unter dem Hinweis auf vergleichbare Mängel bewenden. In Anspielung auf die Ubiquität von Verfehlungen in allen Kulturen spricht er die Überschätzung eines sittlichen Europa an, indem er dessen zivilisatorischen und moralischen Führungsanspruch mit dem Argument anzweifelt, dass in jeder Gesellschaft »große Unvollkommenheiten und Schwachheiten stattfinden!«187 Genau solche »Unvollkommenheiten« führen Forster die Schattenseiten jener Kulturen vor Augen, die in Europa des 18. Jahrhunderts teilweise als irdische Paradiese gelten. Vor allem in der Beobachtung der sozialen Organisation der Südseegesellschaften öffnet Forster den Blick auf den Sachverhalt, dass der Topos »einer höheren gesellschaftlichen Glückseligkeit«, der insbesondere Tahiti damals zugeschrieben wurde, der Realität nicht entspricht. Dies zeigt er an dem asymmetrischen Verhältnis der Geschlechter, das eine aus damaliger – und heutiger – europäischer Sicht erschreckende Ungleichheit zwischen Männern und Frauen belegt. Letztere werden nach Forsters Beobachtung als »Geschöpfe von niederer Art«188 behandelt, was er bereits an ihrem physischen Erscheinungsbild zu veranschaulichen versucht: Die Weiber, welche wir [...] fanden, waren ganz dürftig in alte schmutzige Zeug-Lumpen gekleidet, und daß die Arbeit eben nicht leicht seyn müsse, konnte man daraus schließen, daß ihre Hände eine dicke, hornharte Haut davon bekommen hatten. Wir setzten nun unsern Weg weiter fort und gelangten bald in ein schmales Thal. Ein wohlaussehender Mann, bey dessen Wohnung wir vorüber kamen, lag im Schatten da, und lud uns ein, neben ihm auszuruhen.189

186 187 188 189

Ebd., S. 107. Ebd., S. 318. AA III, S. 252. AA II, S. 236.

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Während Frauen hart arbeiten müssen, liegen die Männer »im Schatten«. Mit diesem Kontrast kritisiert Forster die patriarchalische Struktur der tahitischen Gesellschaft, die eine allgemeine Unterdrückung des weiblichen Geschlechts fördert. Damit antizipiert er die Reflexion über einen weitreichenden Problemkomplex, der zwar in den Universalgeschichten der damaligen Zeit thematisiert wird, dessen interkulturelle und wissenschaftliche Ausprägung jedoch erst in den modernen Gender Studies auch theoretisch genauer konturiert wird.190 Es ist deshalb kein Zufall, wenn Forster folgende Beobachtung überliefert: »In verschiedenen Winkeln der Hütte saßen, hier die Mannleute, dort die Frauenspersonen beysammen und nahmen so voneinander abgesondert ihr Mittagsmahl zu sich.«191 Forster empfindet es als eine »sehr sonderbare Gewohnheit, daß sich hier zu Lande beyde Geschlechte beym Essen von einander trennen müssen.«192 Diese Beobachtung veranlasst ihn zu dem Schluss, dass »alle ungesittete[n] Völker den Weibern die allgemeinen Rechte der Menschheit zu versagen [pflegen].«193 Herbert Uerlings hat gezeigt, dass Forster den Zivilisationsgrad der einzelnen Inseln nicht zuletzt am Umgang mit dem weiblichen Geschlecht bemisst. Er stellt mit Recht fest, dass Forsters Beobachtungen bezüglich der gesellschaftlichen Stellung der Insulanerinnen für die »Geschlechteranthropologie«194 aufschlussreich seien. Allerdings artikulieren diese Beobachtungen nicht ausschließlich ein geschlechterspezifisches Problem. Insgesamt zeichnet Forster damit ein völlig neues Bild von Südsee-Kulturen, an dem der Mythos der glücklichen Gleichheit und der allgemeinen Glückseligkeit des Menschen im so genannten Naturzustand zerbricht. Überraschenderweise wird in der Forschung kaum darauf hingewiesen, dass sich diese kritische Perspektive schon in Bougainvilles Voyage autour du monde abzeichnet, wenn auch nur sporadisch. Dennoch kann nicht übersehen werden, dass auch Bougainville, der bekanntlich die Insulaner sehr wohlwollend schildert, letztendlich gesteht, die angenommene paradiesische Gleichheit unter den Insulanern existiere nicht: »J’ai dit plus haut«, notiert er in seinem Reisebericht, que les habitants de Tahiti nous avaient paru vivre dans un bonheur digne d’envie. Nous les avions cru presque égaux entre eux, ou du moins jouissant d’une liberté qui n’était soumise qu’aux lois établies pour le bonheur de tous. Je me trompais, la distinction des rangs est fort marquée à Tahiti, et la disproportion cruelle.195

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195

Vgl. Karl Hölz, Einleitung – Spiegelungen des Anderen in der Ordnung der Kulturen und Geschlechter, in: Karl Hölz u. a. (Hg.), Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. u. a. 2000, S. 7–10, hier S. 8f. AA II., S. 240. Ebd. Ebd., S. 252. H.i.O. Herbert Uerlings, Geschlecht und Fortschritt. Zu Georg Forsters Reise um die Welt und dem Diskurs der ›Universalgeschichten des weiblichen Geschlechts‹, in: Karl Hölz u. a.(Hg.), Beschreiben und Erfinden: Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2000, 13–44, hier S. 17. Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 154.

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Weiter heißt es: Jusqu’à la manière de s’éclairer dans la nuit différencie les états, et l’espèce de bois qui brûle pour les gens considérables n’est pas la même que celle dont il est permis au peuple de se servir. Les rois seuls peuvent planter devant leurs maisons l’arbre que nous nommons le saule pleureur ou l’arbre du grand seigneur.196

Mit diesen einschneidenden und, wie man festhalten muss, kritisch-reflexiven Beobachtungen, die bei der Lektüre seines Reiseberichtes oft unbeobachtet bleiben, liefert Bougainville in der Tat die notwendigen Prämissen für einen nüchternen Blick auf eine Gesellschaft, die voller innerer Widersprüche ist. Es bleibt unbegreiflich, wie eine dermaßen hierarchisch und streng regierte Gesellschaft von europäischen Reisenden für das irdische Paradies gehalten werden konnte, denn die Risse, die Bougainville an dem von ihm selbst entworfenen und später von Diderot noch stärker geprägten Idealbild Tahitis zeigt, sind augenfällig. Anders als Bougainville, dessen überschwängliche Tahitischilderung die ansatzweise differenzierten Äußerungen quasi sekundär erscheinen lässt, nimmt Forster die Erfahrungen über die hierarchischen Klassengesellschaften, deren Mitglieder nicht gleichermaßen in den Genuss der »Vergnügungen« kommen, kritischer und einprägsamer ins Visier. So macht er weitere Unterschiede zwischen »gemeinen Leuten, die mehrentheils nackt giengen«197 und den »ganz arbeitslosen Vornehmen«198 aus. Schrittweise und, das muss betont werden, analytisch sehr konsequent, legt Forster die Strukturen einer feudal organisierten Gesellschaft frei, so dass mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen dem Mythos der egalitären Ursprünglichkeit der Boden entzogen wird. Zu den markantesten Erfahrungen, aus denen sich Forsters aufklärerische Perspektive in der Wahrnehmung der Südsee herausbildet, gehört sicherlich die Schilderung jener denkwürdigen Begegnung bei einem Spaziergang im August 1773. Auf Tahiti kommen Forster und einige Mitreisende zu einem hübschen Hause, in welchem ein sehr fetter Mann ausgestreckt da lag, und in der nachläßigsten Stellung, das Haupt auf ein hölzernes Kopfküssen gelehnt, faullenzte. Vor ihm waren zwey Bediente beschäftigt seinen Nachtisch zu bereiten. [...] Inmittelst setzte sich eine Frauenperson neben ihn und stopfte ihm von einem großen gebacknen Fische und von Brodfrüchten jedesmal eine gute Hand voll ins Maul, welches er mit sehr gefräßigem Appetit verschlang. Man sahe offenbar, daß er nichts als den Bauch sorge, und überhaupt war er ein vollkommnes Bild phlegmatischer Fühllosigkeit.199

Ohne Zweifel markiert diese Begegnung einen der Höhepunkte in der kritischen Wahrnehmung und Vermittlung der Insel Tahiti durch Forster. Hatte er sich bei seiner ersten Ankunft auf dieser Insel der Illusion hingegeben, daß wir [...] endlich einen Winkel der Erde ausfündig gemacht, wo eine ganze Nation einen Grad von Civilisation zu erreichen und dabey doch eine frugale Gleichheit unter sich zu erhalten ge-

196 197 198 199

Ebd., S. 155. H. i. O. AA II, S. 220. Ebd., S. 300. AA II, S. 248f.

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wusst habe, dergestalt, daß alle Stände mehr oder minder, gleiche Kost, gleiche Vergnügungen, gleiche Arbeit und Ruhe mit einander gemein hätten200,

so wird diese Hoffnung beim Anblick des am Boden liegenden »Ungeheuer[s] von Faulheit«201 endgültig zerstört. Forster ist nicht nur irritiert, sondern auch bitter enttäuscht. Die ironische Ernüchterung der zunächst geweckten romantischen Erwartungen, die in Forsters Reisebericht immer wieder durchscheinen, ist hier unverkennbar. Doch mehr als das: Für ihn bricht ein Topos mit einem besonders dialektischen Moment zusammen: So sehr Forster gelegentlich der Neigung zur Verklärung der Südsee erliegt, so sehr muss er im Verlauf der Reise, insbesondere mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse und die Feudalstrukturen, die europäischen Mythen vom ›irdischen Paradies‹ revidieren. Gleichzeitig setzt ein dialektischer Wahrnehmungsprozess ein, denn Forster nimmt nun Tahiti nicht mehr apodiktisch, sondern als eine Gesellschaft wahr, die nicht nur »von Widersprüchen und Gegensätzen [...] geprägt wird«202, sondern weitere Analogien zur europäischen Kultur erkennen lässt. Deshalb sieht er den »Tahitischen Fresser«203 als Pendant zum »privilegirten Schmarotzer in gesitteten Ländern.«204 Damit hat der Insulaner in Forsters Augen seinen Stand der Unschuld eingebüßt. Auch als Korrektiv des Eigenen eignen sich die Südseeinsulaner nur in Einzelfällen205, weil der kontrastiv konstruierte Südseeinsulaner immer in Gefahr ist, aus dem Zustand des »Edlen Wilden« in den eines nur noch Wilden zu verfallen. Beim Anblick des »Tahitischen Fresser[s]« lösen sich die Idealvorstellungen des ›Edlen Wilden‹, wie sie damals in Europa gepflegt wurden, in einem Wunschbild auf. In Wirklichkeit zeigen sich die Insulaner der Südsee an Lernfähigkeit, Temperament und Sittlichkeit höchst verschieden. Das führt wiederum den heuristischen Stellenwert der Empirie der Reise für die Erprobung spekulativer Denkmodelle vor Augen. Das ›Goldene Zeitalter‹ eines paradiesischen Naturzustands erscheint, wenn es denn jemals existiert haben sollte, in jedem Fall als historisch überholt, weil die Verlaufsrichtung des Fortschritts, wie später zu zeigen sein wird, unumkehrbar sei.206 Raum gewinnt deshalb das reflexive Moment, indem Forster dem Leser durch zahlreiche Beispiele vor Augen führt, dass der ›Edle Wilde‹ und das ›Goldene Zeitalter‹ Elemente der europäischen Fata Morgana sind, denn »The idea of the noble savage was grounded in the belief that primitive man lived in harmony with natural laws that were universal, coherent , harmonious, and complete […]« 207 Wie sehr nun die geschilderten gegenteiligen Erfahrungen auf der Südsee Forsters Denken markiert haben müssen, zeigt sich daran, dass er auch in seinem Cook-Aufsatz

200 201 202 203 204 205 206 207

Ebd., S. 250. Ebd. Jörn Garber, »Reisen nach Arkadien«, S. 20f. AA II, S. 250. Ebd., S. 249. So etwa der Insulaner namens Maheime. Vgl. unten S. 327. Vgl. dazu S.239ff. Bernard Smith, European Vision and the South Pacific, S. 63.

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wieder darauf rekurriert. Darin stellt er fest: »Der gemästete Müßiggänger ist in OTaheiti, wie in Europa, nur eine Missgeburt der Regierungsform, die auf Unkosten einer arbeitenden und dienstbaren Klasse von Menschen existiert.«208 Aus dieser Parallele lässt sich schließen, dass Forster vor dem Hintergrund seiner Weltreise bestimmte kulturübergreifende Erscheinungsformen erkennt, die tatsächlich für »eine Desillusionierung des Südseekultes seiner Zeitgenossen« stehen209, gleichzeitig aber auch deutlich machen, wie sich eine Neuperspektivierung der europäischen Kultur und der südpazifische Inselwelt im Prozess der Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung einstellt. Forsters unüberhörbarer Angriff auf die feudale Willkür, wie er sie in den damaligen Südseekulturen zu beobachten glaubt und in Europa des 18. Jahrhundert nicht ganz überwunden ist, zielt darauf ab, die essentialistische Konstruktion der europäischen und der südseeischen Kulturen ad absurdum zu führen. Andererseits führt das gesellschaftliche System der Ungleichheit und der Ausbeutung, das Forster auf Tahiti kennen lernt, vor Augen, dass »die ursprüngliche Gleichheit der Stände [...] schon mehr in Verfall geraten [ist], die Vornehmern der Nation leben schon auf Kosten der Geringern.«210 Forster zufolge lasse sich die tahitische Gesellschaft »gewissermaaßen mit dem alten europäischen Feudal-System vergleichen [...] es stehet nemlich unter einem allgemeinen Oberherrn, und ist in die drey Classen von Erihs, Manahuana’s und Tautaus getheilt«211. Gerade durch den Hinweis, dass die Diskrepanz zwischen den Ständen auf Tahiti »im Ganzen genommen, nicht einmal ein solcher Unterschied [ist], als sich in England zwischen der Lebensart eines Handwerksmannes und eines Tagelöhners findet«212, macht sich Forsters dialektisches Denken bemerkbar. Es ermöglich die Erkenntnis, dass soziale Asymmetrie nicht als eine Anomalie einer bestimmten Kultur zu bewerten ist, sondern kulturspezifische Ausprägungen aufweist, die in jedem Fall kritikwürdig erscheinen. Dadurch hebt Foster die frühere Wahrnehmung der Südsee als Antipode der europäischen Kultur, die sich im etwa von Kant geprägten Aufklärungsdiskurs zu radikalisieren scheint, zumindest partiell auf. Entscheidend ist, dass die unerwartet negativen Erfahrungen auf Tahiti den Reisenden Forster einen neuen Ton anschlagen lassen, bei dem die anfängliche Bewunderung der Insel einer nüchternen Reflexion Platz macht, die sowohl der fremden als auch der eigenen Kultur gilt. Dies lässt sich daraus erklären, dass sich das Bild einer gerechten Gesellschaft, mit dem Forster die Reise in den Südpazifik antrat, der praktischen Erfahrung vor Ort nicht standhält, und die von Forster beobachtete soziale Asymmetrie sollte sich mit der Ankunft der Entdecker noch mehr verschärfen.213 Deshalb veranlasst ihn die Begegnung mit dem tahitischen Taugenichts dazu, die ersten Eindrücke einer

208 209 210 211 212 213

AA V, S. 281. Helmut Scheuer, Bürgerliches Heldenporträt – Ein Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechts. Georg Forsters Biographik, in: FIP, S. 287–306, hier S. 303. AA II, S. 300. Ebd., S. 299. Ebd. Forster weist dabei auf die »Spuren jenes ehemaligen patriarchalischen Verhältnisses« zwischen dem König und seinen Untertanen hin. Ebd., S. 300. Vgl. unten S. 301ff.

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vollendeten Idylle, die er sich aus den Schilderungen seiner Vorgänger gemacht hatte, in Frage zu stellen: Aber wie verschwand diese schöne Einbildung beym Anblick dieses trägen Wollüstlings, der sein Leben in der üppigsten Unthätigkeit ohne allen Nutzen für die menschliche Gesellschaft, eben so schlecht hinbrachte, als jene privilegierten Schmarotzer in gesitteten Ländern, die sich mit dem Fette und Überflusse des Landes mästen, indeß der fleißigere Bürger desselben im Schweiß seines Angesichts darben muß.214

Mit dieser kritischen Haltung gegen jede bewusste Legendenbildung reißt Foster Tahiti den Schleier des Paradieses endgültig weg.215 Der Schilderung des tahitischen Fressers wächst insofern eine programmatische Bedeutung zu, weil sie dazu dient, die etwa von Rousseau und Bernadieu de Saint-Pierre behauptete Gleichheit der Menschen im Naturzustand als Illusion zu entlarven. Forster sieht Tahiti folgerichtig nicht in naivem Sentimentalismus, sondern er revidiert seine anfängliche Behauptung, Tahiti sei »einer der glücklichsten Winkel der Erde«.216 Und je länger der Aufenthalt dauert, desto bewusster wird ihm der trügerische Charakter seines ersten Anblicks der Insel: Zwar waren uns ehemals, nachdem wir lange Zeit vorher nichts als See, Eis und Luft vor uns gesehen hatten, auch die öden Felsen von Neu-Seeland vortheilhaft ins Gesicht gefallen, daß wir anfänglich ebenfalls sehr günstige Urtheile darüber fällten: Allein diese ersten Eindrücke waren auch bald wieder verschwunden, und wir hatten in der Folge täglich mehr Gelegenheit gefunden, uns zu überzeugen, daß sich dieses Land allerdings noch in einem wilden chaotischen Zustande befände.217

Dieses Beispiel macht deutlich, dass und wie Forster längere Landaufenthalte dazu nutzt, gängige Klischees und Topoi, die er zum Teil aus anderen Reiseberichten übernommen hatte, zu korrigieren oder zu bestätigen. Die Maorie zum Beispiel, die bei europäischen Reisenden schon lange in schlechtem Ruf standen, erfahren eine ausgewogene Einschätzung. Insbesondere auf Tahiti, wo er anfänglich auf »einer bezauberten Insel zu seyn«218 glaubt, wird Forster mit einer Realität konfrontiert, die ihn nicht nur ernüchtert, sondern mit der er die schwärmerische, oberflächliche Beschreibung der Südsee durchbricht. Wenn auch das Entzücken an der Schönheit einiger der von ihm besuchten SüdseeInseln immer wieder durchscheint, so verabschiedet sich Forster u. a. durch die Verortung eines gefräßigen Despoten im »Paradies« von O-Tahiti von den Südseephantasien seiner weltfremden Vorgänger und Zeitgenossen. Dabei geht er noch einen Schritt weiter in der

214 215

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AA II, S. 249. Es stimmt also keineswegs, wenn Christiane Küchler Williams behauptet, dass der Südpazifik erst mit der Ermordung Cooks »zum Sündenfall des pazifischen Paradieses« wird (Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 26.) Es handelt sich vielmehr um einen Ernüchterungsprozess, der bereits mit Bougainvilles Reisebericht ansetzt. Erstaunlich ist vielmehr die Beständigkeit der positiven Vorstellung Tahitis über Jahrhunderte, obwohl diese Vorstellung wie Forsters kritische Bemerkungen deutlich machen, kaum durch die Realität vor Ort gestützt wurde. AA II, S. 261. Ebd. AA II, S. 321.

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Erkenntnis, dass die südpazifische Inselwelt anders ausfällt als die verklärende europäische Vorstellung von ihr. Mit spürbarer Ernüchterung, die aus der zunehmenden Erfahrungs- und Sachkenntnis über die südseeischen Gesellschaften herauswächst und den Schein der Idylle aufdeckt, reflektiert Forster, dass die Konfiguration der Südsee, so wie sie im historischen Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts die europäische Bewusstseinslandschaft prägt, sowohl in den »überspannte[n] Nachrichten«219 als auch in »dunklen Tagebücher[n]«220 früherer Entdecker wurzelt. Viele von diesen Nachrichten möchte er »für eine bloße Grille von gewissen lustigen und kurzsichtigen Reisenden oder Reisebeschreibern ansehen, die das liebe Publikum wohl mit noch abentheuerlichen Mährchen unterhalten haben.«221 Daher stellt er resümierend fest: Immerhin mögen Romandichter, die sich ihrer Ideale nicht entschlagen können, und gewohnt sind, von Naturmenschen, vom goldnen Zeitalter, von ursprünglicher Vortrefflichkeit und Einfalt, und einem angebohrnen Gefühl, daß allen alles gehöre, überirrdisch zu träumen, immerhin mögen sie, sage ich, diese Bilder ihrer süßelnden Phatasie auch in ihre Darstellung der wirklichen Welt übertragen: [...]. Getäuscht durch eine faselnde Erdichtung, die den Namen der Geschichte und der Philosophie entheiligt, schämt er sich endlich seiner kindischen Leichtgläubigkeit [...]222

Die Konsequenz dieser Entmythisierung des vermeintlich utopischen Raums des Anderen ist bei Forsters allerdings nicht die automatische Aufwertung der eigenen Herkunftskultur, sondern eher die Feststellung von Unzulänglichkeiten, die den heterogenen Gesellschaften gemeinsam sind, zumal Forster den erreichten Stand der westlichen Aufklärung nicht verabsolutiert, sondern vielmehr als einen vorläufigen Punkt in einem endlos fortschreitenden Kulturprozess betrachtet. Festzuhalten ist: Der Paradigmenwechsel, den Forster bei der kritischen Wahrnehmung der südpazifischen Inseln herbeiführt, lässt sich in seinem Umgang mit dem Topos Tahiti exemplifizieren: Wurde die Insel Tahiti bisher nur als Ort der Sehnsucht stilisiert, so macht sie Forster zu einem Ort der Dekonstruktion von europäischen Mythen der Peripherie. Damit steht Forster wiederum im Einklang mit dem aufklärerischen Prozess der Entzauberung der Welt.

5.

Aufklärung als Erkenntnisprozess

Auf die Frage, ob die Menschen im 18. Jahrhundert bereits in einem aufgeklärten Jahrhundert leben würden, antwortet Immanuel Kant 1784 mit »Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.«223 In dieser bewusst nuancierten Antwort macht Kant in pro-

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AA V, S. 203. Ebd., S. 206. AA III, S. 105. AA V, S. 262. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 59.

150

phylaktischer Absicht deutlich, dass die Epoche der Aufklärung224 keinen historisch abgeschlossenen Entwicklungszustand der europäischen Geschichte und Kultur, sondern einen jenseits der begriffsdefinitorischen Klärung225 fortschreitenden Erkenntnisprozess bildet, der sowohl hinsichtlich seiner Umsetzung als auch im Hinblick auf seinen universellen Geltungsanspruch ein Projekt mit offenem Ausgang darstellt.226 Auch Forsters Ansicht, »die Aufklärung [...] schreitet von Erfahrung zu Erfahrung ins Unbegränzte fort«227, deckt sich mit der Konzeption Kants, weil sie weder in kontextueller noch in historischer Hinsicht ein befristetes Programm impliziert. Dabei geht Forster, wie Schmied-Kowarzik festgestellt hat, davon aus, »daß Aufklärung eine immer wieder neu zu leistende Aufgabe ist.«228 Allerdings muss die von Kant und Forster postulierte Prozesshaftigkeit der Aufklärungsbewegung aus unterschiedlichen Perspektiven reflektiert werden. Während Kant einen philosophisch-weltanschaulichen Horizont im Blick hat, vertritt Forster den Standpunkt des Erfahrungswissenschaftlers, der sich zuerst an messbaren empirischen Ergebnissen orientiert. Dazu gehört auch die kritische Musterung des bisherigen vermeintlichen Wissens der älteren Reiseberichte, deren Wahrheitsgehalt an der Erfahrung überprüft wird.229 Im historischen und geistigen Schwellenkontext des 18. Jahrhunderts, in dem sich der affirmative Glaube an den unbegrenzten »Fortschritt der Aufklärung« als treibendes Moment durchsetzt, nehmen wissenschaftliche Forschungsexpeditionen eine Schlüsselfunktion ein. Vor allem die Teilnahme von Gelehrten an solchen Expeditionen eröffnet die doppelte Möglichkeit, einerseits die europäische Aufklärung ideell bewusst in die Peripherie hinauszutragen (Mission Civilisatrice) und andererseits außereuropäische Kulturen für die Konstruktion des enzyklopädischen Wissens als allgemeines Projekt der Aufklärung zugänglich zu machen.230 Deshalb betont Forster den revolutionären Stellenwert der Forschungsreisen, wenn er in seinem Cook-Essay dem Leser vor Augen führt, wie weit er [Cook, Y.M.] sein Jahrhundert in Erkenntniß und Aufklärung fortgeführt, welchen Zuwachs die menschliche Glückseligkeit durch sein Bestreben gewonnen, und welche neue Aussichten in die goldene Zukunft einer allgemein vollendeten Bildung sein Genius uns eröffnet habe.231

224

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231

Zur Geschichte des Aufklärungsbegriffs vgl. Peter André Alt: Aufklärung. Stuttgart 1996, S. 1ff. Alt analysiert sowohl die Entstehungsgeschichte des Aufklärungsbegriffs als auch die unterschiedlichen Definitionsansätze zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis hin zu ihrer Ausprägung als geistesgeschichtliche Grundlage einer gesamten Epoche. Dazu ordnet sich beispielsweise Kants vielzitierte Definition »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Immanuel Kant, Werke, XI, S. 53) Vgl. Kapitel IV der vorliegenden Untersuchung. AA V, S. 199. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 120. Vgl. S. 154. Vgl. Horst Walter Blanke, Wissen- Wissenserwerb- Wissensakkumulation – Wissenstransfer in der Aufklärung. Das Beispiel der Allgemeinen Historie der Reisen und ihrer Vorläufer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006, S. 138–156, insb. S. 139. Vgl. auch James E. McClellan III, Sciences Reorganized, S. 104ff. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 192.

151

Parallel zu dieser Einschätzung, in der die Weltreisen Cooks als eine Art Apotheose der Erkenntnis erscheinen, gibt es freilich eine zweite Dimension, die Forsters kritische Distanz gegen jede Form von Apodiktik unterstreicht. Das macht eine differenziertere Beleuchtung seiner Einstellung zum wissenschaftlichen Projekt der Aufklärung erforderlich. Die Ansätze von Forsters reflexiver Haltung gehen auf die Reise um die Welt zurück: Übrigens ist wohl nichts augenscheinlicher und gewisser, als daß die Zusätze, die auf dieser Reise zum Ganzen der menschlichen Kenntnisse gemacht worden, obschon nicht ganz unbeträchtlich, dennoch von geringem Werth sind, sobald wir sie mit dem, was uns noch verborgen bleibt, in Vergleichung stellen. Unzählig sind die unbekannten Gegenstände, welche wir, aller unsrer Einschränkung ohngeachtet, noch immer erreichen können. Jahrhunderte hindurch werden sich noch neue, unbeschränkte Aussichten eröfnen, wobey wir unsere Geisteskräfte in ihrer eigenthümlichen Größe anzuwenden, und in dem herrlichsten Glanze zu offenbaren Gelegenheit finden werden.232

Zunächst muss betont werden, dass die Platzierung dieser Passage am Ende des Reiseberichts kein Zufall ist. Denn erst von hier aus leistet Forster gewissermaßen einen zusammenfassenden Rückblick auf die gerade beendete Weltreise. Nirgendwo besser als in diesem originellen Passus, in dem Forster die oben angesprochenen Paradoxa der Erfahrungswissenschaften durchscheinen lässt, zeigt sich das sokratische Axiom, demzufolge jedes Wissen, jede Erkenntnis nur vorläufig sein kann. Forster weiß, dass er die Südsee nur in dem Maße versteht, in dem er sie sich verstehend aneignet, aber nirgendwo in seinem Bericht erreicht er den Punkt, wo er dem Leser vermittelt, die ihm neuen Kulturen verstanden zu haben. Einen wichtigen Grund für diese reflexiv-kritische Einstellung formuliert Forster in seinem Cook-Aufsatz: »so lange wir den Planeten, den wir bewohnen, nicht in allen seinen Theilen und Verhältnissen erforscht haben, so lange rühmen wir uns umsonst des gränzenlosen Umfangs unserer Erkenntniß.«233 Doch Forster weiß auch, dass dieser Anspruch eine Illusion ist. Deshalb erinnert er mit Recht daran, »daß es auch schlechterdings unmöglich sey, auf Entdeckungsreisen, die einen bestimmten Zweck haben, den ganzen Umfang aller Verhältnisse eines jeden neuentdeckten Landes zu erschöpfen.«234 So überrascht es nicht, wenn Forster in demselben Essay betont, dass auch die während der drei Weltreisen Cooks erworbenen Kenntnisse »ihre Gränzen«235 hätten, wohingegen der Prozess der Aufklärung an sich unaufhaltsam voranschreite: Der Gränzpunkt der fortschreitenden Aufklärung liegt außer unserm Gesichtskreise; selbst wenn ihre Blüte längst verwelkt, ihre Frucht abgefallen und zerstreuet sein wird, sprossen ihre Samen in einem anderen Boden wieder hervor. Wie ließe es sich also bestimmen, wo der Einfluß, den Cook auf sein Zeitalter und auf die Nachwelt haben muß, sich in den Strom der Jahrhunderte gänzlich verlieren wird?236

232 233 234 235 236

AA III, S. 452. AA V, S. 201. Ebd., S. 259. Ebd., S. 199. Ebd., S. 295.

152

Forster erliegt also trotz – oder gerade wegen – seines ausgeprägten wissenschaftlichen Optimismus und der enormen wissenschaftlichen Ausbeute während der Entdeckungsfahrten seiner Zeit nicht der dogmatischen Ansicht, dass mit der Wissenschaft die Welt vollständig erschlossen wäre. Selbst in Bezug auf die eigenen Erkenntnisse notiert er: »I am ready to give them up, whenever any thing more probable is produced.«237 Hieraus lässt sich auf Forsters Überzeugung schließen, dass der welthistorische Fortgang der Wissenschaften als Instrumente des Aufklärungsprojektes nicht nur unaufhaltbar ist, sondern auch, dass er auf einer permanenten Überwindung seiner einstigen Errungenschaften basiert. In diesem modernen, über eine positivistisch-normative Auffassung von Aufklärung hinausweisenden Wissenschaftsverständnis zeichnet sich Forster als jener Typus von Gelehrten aus, den Anthony Pagden als »scientific discoverer« bezeichnet: »For the scientific discoverer, the intellectual conqueror, there can be no end to the quest. Science constitutes a form of conquest and possession. But the objects it seeks to possess are infinite.«238 Dass diese Charakterisierung auf Forster zutrifft, belegt die der Ausgabe der Kleinen Schriften vorangestellte Widmung, in der Forster das fehlgeschlagene Vorhaben Russlands, eine Weltreise mit ihm als führendem Naturwissenschaftler bedauert: Als Catharina die Große von Barbaren angegriffen ward, mußte sie das wohltätige Vorhaben, die Erforschung der Erde zu vollenden dem furchtbaren Gesetz der Selbsterhaltung aufopfern; und meine Hoffnungen, Kenntnisse von Natur und Menschheit, die ich unter Cooks Führung gesammelt hatte, zu ergänzen, waren vereitelt.239

Das Verb »ergänzen« hat hier einen paradigmatischen Wert. Es grenzt sich von vom Verb »vervollständigen« ab. Forster betrachtet das umfangreiche Wissen, das er aus der Südsee mitgebracht hat, nicht als Endstand, sondern vielmehr als eine Prämisse, die ihm einen weiteren Forschungsantrieb verleihen sollte. Da er sich der »Unvollkommenheit unseres Wissens«240 bewusst ist, lauert er quasi auf jede Gelegenheit, dieses Wissen zu »ergänzen«. Aus dieser Auffassung von Wissen und Erkenntnis als Prozess kristallisiert sich Forsters Vorstellung vom idealen Reisenden heraus, der sich nicht auf seine einmal gewonnenen Kenntnisse beschränkt.241 Hierbei fällt ein Kantisches Paradigma ins Auge, das Horkheimer und Adorno als Paradoxon so formuliert haben: »Kein Sein ist in der Welt, das Wissenschaft nicht durchdringen könnte, aber was von Wissenschaft durchdrungen werden kann, ist nicht das Sein.«242 Wie auch seine späteren »Vorlesungen über die allgemeine Naturkenntnis« von 1792 belegen, wurde Forster seit der Weltreise mit Cook durch das Bewusstsein geprägt, »daß unser Wissen nichts ist, daß wir ungeachtet des unermesslichen, bereits zurückgelegten

237 238 239 240 241 242

AA IV, S. 16. Anthony Pagden, European Encounter with the New World. London 1993, S. 115. AA V, S. 323. AA VII, S. 35. Vgl. AA IV, S. 16f. Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 32.

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Weges, gleichsam noch Alles unerforscht und unergründet vor uns haben«243 Dieses Bewusstsein um die Unendlichkeit des menschlichen Erkenntnispotentials hat insofern einen aufklärerischen Impetus, als jede wissenschaftliche Errungenschaft immer nur eine Vorstufe für das noch Verborgene darstellt. Daher verweigert sich jede Erkenntnis per se dem Besitzanspruch, weil sie dazu da ist, »künftigen Weltweisen vorzuarbeiten«244, wie Forster zu Recht erkennt. Wenn er in seiner Geschichte der englischen Literatur vom Jahr 1788 die Aufklärung als »eine vollständigere, richtigere Erkenntnis« bezeichnet, dann drückt er durch die komparativische Form einen graduellen Abstand aus, der allerdings keine Apotheose suggeriert, sondern den qualitativen Unterschied zu früheren Zeiten verdeutlicht. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt der Schlusssatz seines Aufsatzes Über den gelehrten Zunftzwang eine aufschlussreiche Bedeutung: Wer [...] am Schlusse des 18. Jahrhunderts noch Pharisäer genug ist, sich selbst oder der Welt zu heucheln: er habe die Wahrheit, den rufen wir auf, den ersten Stein auf unsern Träumer zu werfen!245

6.

Reisebeschreibungspraxis als Wissensinszenierung

Mit seinem Erstlingswerk, Reise um die Welt, legitimierte Forster seinen Ruf, Begründer eines innovativen Typus von Reiseberichten zu sein. Die bis heute anhaltende Faszination dieses Werkes hat sicherlich mehrere Gründe. Man ist sich in der Forschung darin einig, dass mit der Reise um die Welt Forster ein Werk vorgelegt hat, das den Erwartungshorizont für Reiseberichte im reiseliterarischen Kontext des 18. Jahrhunderts weit übertrifft. Nach Nigel Leask ist die Reise um die Welt, »in many ways a milestone for romantic period travel writing, establishing the principles which would increasingly be demanded from scientific travel writers over the next half-century.« 246 Zwar ist die Tatsache, dass Forster erst 18 Jahre ist, als er dieses Werk verfasst, bemerkenswert, aber nicht ausschlaggebend für diese einhellige Einschätzung. Die bisherigen Ausführungen liefern, gerade auch in der notwendigen Abweichung von der gewöhnlichen Forstereuphorie, einschlägige ideengeschichtliche und praxisnahe Beispiele, welche Einblicke in die Sonderstellung von Forsters literarischer Weltreise geben. Besonderes Augenmerk verdient die Dramaturgie von Forsters Text, weil sich dabei wichtige innovative Züge herauskristallisieren lassen. Bereits die Vorrede stellt, das bleibt in der Forschung oft unerwähnt, einen multifunktionalen Text dar, in dem Forster zum einen die Entstehungsgeschichte des Werkes skizziert und zum anderen den tief greifenden Wandel sichtbar macht, der nicht nur dem neuen Verständnis der Entdeckungsfahrten, sondern auch den neuen Anforderungen an die Gattung des Reiseberichts zugrunde liegt:

243 244 245 246

AA VI, 2. S. 1753. AA V, S. 193. AA VIII, S. 233. Nigel Leask, Curiosity and the Aesthetics of Travel Writing, 1770–1840: ›From an Antique Land‹. Oxford 2002, S. 41.

154

Die Brittische Regierung schickte und unterhielt meinen Vater auf dieser Reise als einen Naturkundiger, aber nicht etwa blos dazu, daß er Unkraut trocknen und Schmetterlinge fangen; sondern, daß er alle seine Talente in diesem Fach anwenden und keinen erheblichen Gegenstand unbemerkt lassen sollte. Mit einem Wort, man erwartete von ihm eine philosophische Geschichte der Reise, von Vorurtheil und gemeinen Trugschlüssen frey, worinn er seine Entdeckungen in der Geschichte des Menschen, und in der Naturkunde überhaupt, ohne Rücksicht auf willkührliche Systeme, blos nach allgemein menschenfreundlichen Grundsätzen darstellen sollte; das heißt, eine Reisebeschreibung, dergleichen der gelehrten Welt bisher noch keine war vorgelegt worden.247

Auch wenn nicht Johann Reinhold Forster, sondern sein Sohn Georg »an seiner Stelle eine philosophische Reisebeschreibung [...] verfertigen«248 sollte, so lassen diese Zeilen doch erkennen, dass es hier nicht um die Erfüllung einer reinen »Pflicht« geht, »die wir dem Publiko schuldig waren.«249 Es geht vielmehr um die Ankündigung eines außergewöhnlichen Buches, in dem Forster offenbar ein bis dahin nicht befriedigtes Epochenbedürfnis nach einem neuen Typus von Reiseschilderung aufgreift. Es handelt sich nach Forsters Worten um einen Reisebericht, »dergleichen der gelehrten Welt bisher noch keine war vorgelegt worden«. Doch was heißt das genau? Beflügelt von dieser anspruchsvollen Zielvorgabe, die sich an den bereits besprochenen Begriff des ›philosophischen Reisenden‹ anknüpft, weist Forster von Anfang an darauf hin, dass die in seinem Bericht dokumentierten Erfahrungen »keines erdichteten Zusatzes bedürfen.«250 Damit will er den Wahrheitsgehalt und den aufklärerischen Anspruch dieses Werks unterstreichen. Tatsächlich hat neben dem 1770 erschienenen Reisebericht Louis-Antoine de Bougainvilles kaum eine andere Reiseschilderung das Interesse und die Begeisterung deutschsprachiger Gelehrten der Spätaufklärung nachhaltiger hervorgerufen als Georg Forsters Reise um die Welt. Bereits Christoph Martin Wieland bezeichnet in seinem Teutschen Merkur, einer der renommiertesten Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, den Reisebericht Forsters als »eines der merkwürdigsten Bücher unsrer Zeit.«251 Damit macht Wieland auf den besonderen Anspruch aufmerksam, den Forsters Reisebericht in der Gattungsgeschichte erhebt. Bevor dieser Anspruch im Detail analysiert wird, soll vorausgeschickt werden, dass Forster offenbar mit der außergewöhnlichen Wirkung seines Buches gerechnet hat. Aufschlussreich ist etwa sein Brief vom 17. September 1776 an seinen Freund und Verleger Johann Karl Philipp Spener: Ich will glauben daß das deutsche publicum (vielleicht auch das hiesige) billig genug wird seyn, den unterschied zwischen mir und den gewöhnlichen Reisebeschreibern zu erkennen.252

247 248 249 250 251 252

AA II, S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S.10. AA II, S. 10. Christoph Martin Wieland, Wielands Werke, S. 20. AA XIII, S. 52f.

155

Gerade im Hinblick auf die grassierende Reiseliteratur in der Spätaufklärung erscheint es von entscheidender Bedeutung, dass Forster es sich vornimmt, sich von »den gewöhnlichen Reisebeschreibern« abzuheben. Sollte dies gelingen und dem Werk Reise um die Welt einen gattungspradigmatischen Status verleihen, so war zu bedenken, dass die Reise um die Welt nicht einfach eine weitere Reisebeschreibung unter vielen anderen würde. Dabei spielt das Moment der Authentizität eine wichtige Rolle. Dies wird an Forsters ziemlich abfälliger Bemerkung über den Bericht zu Cooks erster Weltreise, der nicht von Cook selbst verfasst wurde, deutlich: Die Geschichte von Capitain Cooks erster Reise um die Welt, ward mit großer Begierde gelesen, sie ward aber, hier in England, mit allgemeinem Tadel, ich mögte fast sagen, mit Verachtung aufgenommen. Sie war von einem Manne aufgesetzt, der die Reise nicht mitgemacht hatte; und ihre üble Aufnahme wurde seinen geringhaltigen Beobachtungen, seinen unnöthigen Ausschweifungen und seinen sophistischen Grundsätzen zugeschrieben.253

Der Vorwurf, den Forster dem renommierten Schriftsteller und Kompilator von Reiseberichten, Dr. John Hawkesworth254, macht, nämlich einen Bericht für eine Reise zu schreiben, an der er selbst nicht teilgenommen hat, berührt ein zentrales Anspruchs- und Qualitätsmerkmal, das er an den Reisebericht stellt. Gemeint ist der Bezug auf das subjektive Erleben und Wahrnehmen als unverzichtbaren Ausgangspunkt für das reiseliterarische Schreiben. Der berühmten Veröffentlichung von Hawkesworth, die 1773 einige frühere englische Südsee-Reisen und die erste Cook-Weltumsegelung zusammenfasste, fehlt aus Forsters Sicht das, was Alexander von Humboldt später als charakteristisches Merkmal von Forsters Reisebericht kennzeichnen sollte, nämlich die »lebensfrischen Bilder«255, welche die Spannung zwischen Erfahrung und literarischer Repräsentation des Fremden aufrechterhalten. Die überaus positive Resonanz, die Forsters Reisebericht bereits kurz nach seinem Erscheinen in England und wenig später in Deutschland erleben sollte, ist daher kein Zufall. Sie resultiert, sieht man von der im dritten Kapitel angesprochenen projektiven Rezeption ab, aus einem Komplex kompositorischer und inhaltlicher Merkmale, die im Licht der ›Writing Culture‹-Debatte den Qualitätssprung der Reise um die Welt markieren. Nahezu überschwänglich notiert Christoph Martin Wieland in seiner berühmt gewordenen Rezension: Es ist immer der Mühe wert, jedem Manne zuzuhören, der uns seine Reise um die Welt erzählt. Ist aber der so weit gereiste Mann noch ein junger Mann, dessen warmes Herz jeden Eindruck der Natur desto reiner und tiefer auffasst, den neuen Gegenständen, die sich ihm darstellen, noch mit Liebe entgegenschlägt, und der, wenn er sich der Schönen und Größen, so er nicht nur gesehen, sondern auch genossen hat, wieder erinnert, mit Feuer und Begeisterung davon

253 254

255

AA II, S. 11. John Hawkesworth (1715–1773) wurde 1771 damit beauftragt, auf der Basis von Cooks Tagebüchern einen anschaulichen Reisebericht für ein breites Publikum zu verfassen. Aus seinen Sammlungen ist eine mehrbändige Geschichte der See-Reisen und Entdeckungen im Südmeer entstanden. Alexander von Humboldt, Kosmos Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, hg.v. Ottmar Ette, Oliver Lubrich. Frankfurt/M. 2004, S. 224.

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spricht: so weiß ich nicht welches Gedicht, wenn auch das Werk der reichsten und glänzendsten Einbildungskraft, uns soviel Vergnügen machen könnte als eine solche Reisebeschreibung.256

Demnach wird das Faszinierende und zugleich Gattungsparadigmatische an Forsters Reise um die Welt, also das, was dieses Werk als »die beste von allen Darstellungen, die über die epochalen Entdeckungsreisen Cooks geschrieben wurden«257 erscheinen lässt, erst deutlich, wenn man die Qualität von Forsters Reiseschilderung mit dem Begriff erfasst, den der Autor seinen Vorgängern abspricht, nämlich »Authenticität«.258 Es handelt sich um ein komplexes Moment, das Michael Neumann allzu unbestimmt als »Philosophische Nachrichten aus der Südsee«259 beschrieben hat, dessen paradigmatische Relevanz sich jedoch nicht in der Oberflächenstruktur der Begrifflichkeiten, sondern in der texturalen Konstitution von Wissen und Alterität abbildet. Will man zu den spezifischen literarischen Qualitäten dieses Reiseberichts vordringen, muss man ihn auf »Gehalt und Schreibart«260 hin untersuchen. Dass Forsters Reise um die Welt keinen bloßen Bericht, sondern vielmehr ein neues Schreibverfahren modelliert, das über das hinausgeht, was die Zeitgenossen unter Reisebericht verstehen, lässt sich an verschiedenen Momenten ablesen, die insgesamt eine innovative Form der Wissensinszenierung erkennen lassen. Grundlegend dabei ist, dass das Sammeln von Erfahrungen und ihre literarische Gestaltung zu komplementären Formen der Wissensbildung und Erkenntnis gestaltet werden. Erkennbar wird dabei ein integratives Modell der Reiseschilderung, in dem heterogene Informationsquellen, Perspektiven und Wissensgebiete zusammengeführt werden. Schon in der Vorrede heißt es: Dem Seefahrer, der von Kindesbeinen an mit dem rauhen Elemente bekannt geworden, muß manches alltäglich und unbemerkenswerth dünken, was dem Landmann, der auf dem vesten Lande lebt, neu und unterhaltend scheinen wird.261

Die Unterscheidung zwischen »Seefahrer« und »Landmann«, die Forster auf Cook und sich selbst bezieht, wirkt sich, wie später zu sehen sein wird, auf die inhaltliche Gestaltung von Forsters Reisebericht aus. Doch zunächst gilt folgende Beobachtung hervorzuheben: Anders als in früheren und zeitgenössischen Reiseberichten verzichtet Forster in seiner literarischen Wiedergabe der Weltreiseerfahrungen weitgehend auf eine einseitige Schilderung exotischer Kuriositäten, auch wenn er eine solche Interpretation der ihm fremden Menschen nicht ganz ausblenden kann. Dem Leser werden die extremen Bedingungen und lebensgefährlichen Strapazen einer langen Seereise im 18. Jahrhundert zwar

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260 261

Christoph Martin Wieland, Wielands Werke, S. 21f. Gerhard Steiner, Georg Forster, Reise um die Welt, S. 1015. AA II, S. 12. Neumann, Michael, Philosophische Nachrichten aus der Südsee. Georg Forsters Reise um die Welt, in: Hans Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 517–544, hier S. 517. Gerhard Steiner, Georg Forster, Reise um die Welt, S. 1015. AA II, S. 11.

157

nicht vorenthalten262, doch liegt der Schwerpunkt des Reiseberichts auf dem komplexen Beziehungsgeflecht der Trias Mensch, Natur und Geschichte. Nicht erst im Vollzug seiner Universitätslehrtätigkeit in Kassel und Wilna in den Jahren 1778 bis 1784, sondern bereits während der Weltreise mit Cook und bei der literarischen Verarbeitung seiner Erfahrungen implementiert Forster seinen bahnbrechenden Ansatz, den er in seiner Kasseler Vorlesung im Wintersemester 1781/82 als Ein Blick in das Ganze der Natur bezeichnet hat. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist Forsters Brief vom 28. Mai 1791 an den Verleger Christian Friedrich Voß. Forster kündigt in der »Beilage« ein Buchprojekt über Indien an und skizziert den Inhalt folgendermaßen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.

Allgemeine Notion von Indien, seiner geographischen Lage, pp. Muthmaßungen über die älteste Geschichte – Racen – Alterthümer. Geographische Skizze. Orthographie und Oryktologie von Indien. Klima und Boden. Pflanzenwuchs. Thiere. Physische beschaffenheit der Einwohner. Sittliche Bildung. Ackerbau – Künste. Sitten. Gebräuche. Sprachen. Schrift. Litteratur. Religion. Mythologie und Dichtkunst. Stämme. Gottesdienst. Bramen. Büßer. Tempel. Verfaßung und Gesezgebung. Wißenschaften. ältere Geschichte. neuere Geschichte. Geschichte des neueren Handels. Gegenwärtiger Zustand.263

Zwar kommt dieses Buch, das Forster als Ergebnis eines Forschungsaufenthalts in Indien veröffentlichen will, nicht zustande, doch in dieser Skizze bezeugt sich nicht nur Forsters Formel vom Blick in das Ganze der Natur, sondern vor allem auch die Fortentwicklung des Ansatzes der Reise um die Welt. Schon hier beabsichtigt Forster, den Reisebericht als umfassendes Zeugnis empirisch fundierter Tatsachenkenntnis von der Vereinnahmung durch spekulative Philosophen zu befreien, wie sein scharfer Vorwurf gegen die zeitgenössischen Philosophen verrät: Die Philosophen dieses Jahrhunderts, denen die anscheinenden Widersprüche verschiedener Reisenden sehr misfielen, wählten sich gewisse Schriftsteller, welche sie den übrigen vorzogen,

262 263

Den Grund für seine Schwerpunktsetzung nennt Forster schon in der »Vorrede« seines Reiseberichts. Vgl. AA II, S. 11. AA XVI, S. 295.

158

ihnen allen Glauben beymaßen, hingegen alle andre für fabelhaft ansahen. Ohne hinreichende Kenntniß warfen sie sich zu Richtern auf, nahmen gewisse Sätze für wahr an [...] und bauten sich auf diese Art Systeme, die von fern ins Auge fallen, aber, bey näherer Untersuchung, uns wie ein Traum mit falschen Erscheinungen betrügen. Endlich wurden es die Gelehrten müde, durch Declamation und sophistische Gründe hingerissen zu werden, und verlangten überlaut, daß man doch nur Thatsachen sammlen sollte.264

Das Willkürliche, das Forster hier und andernorts kritisiert265, bezieht sich nicht nur auf den Inhalt solcher Reisebeschreibungen, deren Wahrheitsgehalt er mehrfach in Frage stellt; hier hält er auch den Gelehrten vor, Reiseberichte willkürlich zu beurteilen. Doch auch die Forderung der Philosophen, »nur Tatsachen zu sammeln«, findet bei ihm keinen Anklang: Ihr Wunsch ward erfüllt; in allen Weltteilen trieb man Thatsachen auf, und bey dem Allem stand es um ihre Wissenschaft nichts besser. Sie bekamen einen vermischten Haufen loser einzelner Glieder, woraus sich durch keine Kunst ein Ganzes hervorbringen ließ.; und indem sie bis zum Unsinn nach Factis jagten, verlohren sie jedes andre Augenmerk, und wurden unfähig, auch nur einen einzigen Satz zu bestimmen und zu abstrahieren.266

In seiner Reise um die Welt hält Forster den Stubenphilosophen und ihren Helfershelfern vor, mit einem »vermischten Haufen loser einzelner Glieder« zu arbeiten, »woraus sich durch keine Kunst ein Ganzes hervorbringen« lasse. Demgegenüber ist der Entdecker »mit philosophischen Augen« kein bloßer Sammler, sondern ein beobachtendes und zugleich denkendes Subjekt. Im Mittelpunkt steht also das »Ganze der Natur«, das es in seinen Zusammenhängen darzustellen gilt. Damit soll jenen Lesern, die nicht die Möglichkeit haben, eigene Erfahrungen mit außereuropäischen Kulturen zu machen, ein systematischer Zugang zur Erkenntnis durch die Erfahrung eröffnet werden.267 Forster artikuliert damit seine Absage an eine positivistische Jagd nach Fakten, ihre Aufzählung und Klassifizierung, wie dies seit Carl von Linné (Systema naturae) praktiziert wurde. Nach Helmut Peitsch bildet Forsters Forderung nach einem neuen literarischen Umgang mit den gesammelten Erfahrungen ein »integriertes Gegenteil der Jagd nach isolierten Fakten«.268 Tatsächlich erklärt Forster selbst das Grundprinzip, dem er bei der Abfassung seines Reiseberichtes folgt, mit folgenden Worten: »Ich habe mich immer bemühet, die Ideen zu verbinden, welche durch verschiedne Vorfälle veranlaßt wurden.«269 Das ist die Grundlage von seiner bahnbrechenden Poetik des Reiseberichts. Das Spannende dabei liegt in dem Anspruch, aus den Tatsachen Ideen zu abstrahieren und diese miteinander zu verbinden, um Zusammenhänge herzustellen. Eine Anhäufung von Tat-

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AA II, S. 12. »I could not mention what I did not know«, schreibt er beispielsweise in seinem Reply to Mr. Wales’s Remarks, AA IV, S. 33. AA II, S. 12f. H.i.O. Vgl. dazu Rotraut Fischer, Die ›Wahrheit‹ in den ›Bildern des Wirklichen‹. Zur Funktion des Ästhetischen in Forsters Reisewerk, in: FIP, S. 317–323. Fischer beschreibt Forsters Umgang mit dem ethnographischen Material zu Recht als »begreifendes Wahrnehmen.« (Ebd. S. 317). Helmut Peitsch, Zum Verhältnis von Text und Instruktionen in Georg Forsters Reise um die Welt, in: Georg-Forster-Studien X (2005), S. 77–123, hier S. 87. AA II, S. 13.

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sachen wird damit ausgeschlossen. Als entscheidend erweist sich aus Forsters Sicht die Fähigkeit, punktuelle Beobachtungen mit übergreifenden Erkenntnissen literarisch zu vernetzen. Dies geht beispielsweise aus seiner Beurteilung eines Familienstreits hervor, den er im April 1773 unmittelbar beobachtet: Der Mann schlug die beyden Frauenpersonen, die wir für seine Weiber hielten; das Mädchen hingegen schlug ihn und fieng darauf an zu heulen. Wir konnten die Ursach ihres Gezänks nicht ausmachen; wenn aber das Mädchen des Mannes Tochter war […], so muß man in Neu-Seeland sehr verworrne Begriffe von den Pflichten der Kinder haben; oder vielmehr welches vielleicht der Wahrheit am nächsten kommt, diese einsam lebende Familie handelte gar nicht nach Grundsätzen und überlegter Ordnung, die gemeiniglich nur das Werk gesitteter Gesellschaften sind; sondern sie folgte in allen Stücken gerade zu der Stimme der Natur, die sich gegen jede Art von Unterdrückung empört.270

Die hier exemplarisch dargelegte intellektuelle Verarbeitung eines punktuellen Erlebnisses und die philosophisch übergreifenden Schlussfolgerungen sind Kennzeichen einer innovativen Denkrichtung, mit der Forster eine neue Gattung der Reisebeschreibung ins Leben rufen sollte. Kein Geringerer als Alexander von Humboldt bezeichnet Forsters Reisebericht als ein »aus dem geahndeten Zusammenhange des Sinnlichen mit dem Intellectuellen« hervorgegangenes Werk.271 Mit der Reise um die Welt, so Humboldt, habe Forster einen reiseliterarischen Paradigmenwechsel vollzogen: Der Schriftsteller, welcher in unserer vaterländischen Litteratur nach meinem Gefühle am kräftigsten und am gelungensten den Weg zu dieser Richtung eröffnet hat, ist mein berühmter Lehrer und Freund Georg Forster gewesen. Durch ihn begann eine neue Aera wissenschaftlicher Reisen, deren Zweck vergleichende Völker- und Länderkunde ist. Mit einem feinen ästhetischen Gefühle begabt, in sich bewahrend die lebensfrischen Bilder, welche auf Tahiti und anderen, damals glücklicheren Eilanden der Südsee seine Phantasie […] erfüllt hatten: schilderte Georg Forster zuerst mit Anmuth die wechselnden Vegetationsstufen, die klimatischen Verhältnisse, die Nahrungsstoffe in Beziehung auf die Gesittung der Menschen nach Verschiedenheit ihrer ursprünglichen Wohnsitze und ihrer Abstammung.272

Humboldt stellt damit jenes Moment heraus, das Forsters Reisebericht besonders auszeichnet, nämlich die Synthese von »Individualität und Anschaulichkeit«.273 Gemeint ist die ganzheitliche Betrachtung der Südseekulturen unter Berücksichtung des Wechselspiels von Natur, Geschichte und Leben der Insulaner. Demzufolge beinhaltet Forsters Reisebericht eine neue Naturbetrachtung, die »jeder Verallgemeinerung der Naturansicht glücklich zugewandt« sei. Humboldt, der Forster auf dessen letzter Reise durch Westeuropa begleiten durfte, fasziniert sicherlich das Zusammenfließen von Erfahrungswissen und abstrahierendem Denken in den Arbeiten Georg Forsters. Damit stimmt er mit Friedrich Schlegel überein, der Forster als »denkende[n] Beobachter«274 charakterisiert hat.

270 271

272 273 274

Ebd., S. 149. Alexander von Humboldt, Kosmos. S. 224. Zur Rolle der Vernunft in der empirischen Wissenschaft des 18. Jahrhunderts vgl. Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Übers. von Elisabeth Piras. Frankfurt/M. 1989 [ital. zuerst 1970]. Alexander von Humboldt, Kosmos, S. 223. [H. i. O.] Ebd. Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I, S. 86.

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Tatsächlich ist Forsters Bemühung, die bereiste Südsee enzyklopädisch zu erfassen und erzählend zu vermitteln, ein charakteristisches Moment seines Weltreiseberichts. Darin konfrontiert er den Leser weder mit einem trockenen Tatsachenbericht noch mit einem Sammelsurium heiterer bzw. abenteuerlicher Erzählungen über seinen Aufenthalt im Südpazifik. Die im Laufe der Weltreise gesammelten Erfahrungen oder Erfahrungskomplexe werden mit entsprechenden abstrakten Überlegungen versehen, die aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern dem Leser »zum Selbstdenken Anlaß geben«275 oder, mit den Worten Lepenies, »die Steigerung der Fähigkeit zur Reflexion«276 fördern. Wenn Uhlig nun behauptet, das Werk »Voyage sollte nach dem Willen seines Verfassers dem Anspruch des empiristischen Jahrhunderts auf eine ›einfache Sammlung von Tatsachen‹[...] nachkommen«277, so muss dies wohl als Irrtum eingestuft werden. Zwar lässt Forster, wie bereits betont, keinen Zweifel an seiner Erfahrungsorientierung. Er reduziert aber seine Arbeit keineswegs auf eine einfache Sammlung von Tatsachen. Annette Meyer dagegen charakterisiert Forsters Ansatz richtig, wenn sie von einer »Pendelbewegung« spricht, d. h. »von den empirischen Einzelerscheinungen zu den Einsichten in den Gesamtzusammenhang der Natur, um daraus Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können.«278 Dieser Ansatz, den Forster in seiner Schrift Ein Blick in das Ganze der Natur vorgetragen hat, impliziert die Erweiterung der menschlichen Kenntnisse, wie sie der spezifischen Wissensoffensive des 18. Jahrhunderts entspricht. Er erfasst sowohl die Vermehrung der Tatsachenkenntnis als auch ihre Aufbereitung und Entfaltung in der Reflexion. Dazu schreibt Schlegel: »so war für seinen Geist [Forsters, Y.M.] doch immer eine äußre Wahrnehmung das Erste, gleichsam der elastische Punkt. Er geht vom Einzelnen aus, weiß aber bald ins Allgemeine hinüberzuspielen, und bezieht überall es überall aufs Unendliche.«279 Wie das oben angeführte Beispiel über Forsters Umgang mit dem Familienstreit in Neuseeland deutlich demonstriert, handelt es sich um ein erkennendes Sehen, um eine intellektuelle Anschauung. Ein solches erkennendes Sehen, das Tilman Fischer mit Recht zu den »integralen Bestandteilen seines [Forsters, Y.M.] Programms einer neuen Gattung von Reiseliteratur« zählt280, führt Forster nach dem Aufenthalt auf der Insel Tongatabu (freundschaftliche Inseln) zu der Annahme, »daß ihr Regierungsund Religions-System dem Tahitischen ähnlich, und, so weit wir es beurtheilen können, aus einer und eben derselben Quelle, vielleicht unmittelbar aus dem gemeinschaftlichen Vaterlande beyder Colonien hergeflossen ist.«281

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281

AA V, S. 184. Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, S. 132. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit, S. 24. Annette Meyer, Von der ›Science of Man‹ zur ›Naturgeschichte der Menschheit‹, S. 47. Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I, S. 82. Tilman Fischer, Denklust und Sehvergnügen. Zum Rollenwechsel in den Reisebeschreibungen Georg Forsters, in: Jörn Garber, Tanja van Hoorn (Hg.), Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hannover 2006, S. 171–196, hier S. 172. AA II, S. 378.

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Nicht mehr an der Summe der gesammelten Objekte, sondern an der Vernetzung von Erfahrung und Reflexion bzw. am Spannungsfeld zwischen empirischem Beobachtungsvorgang und Reflexionsprozess in der textlichen Rekonstruktion ethnographischer Erfahrung ist die Singularität der Reise um die Welt zu messen. Folgerichtig ist die literarische Gestaltung von Forsters Reiseerfahrungen als Augenzeugen-, Erlebnis- und Reflexionsbericht durch das Konvergieren zweier Wissensarten gekennzeichnet, die Heinritz mit den Begriffen »Beobachtungswissen« und »Reflexionswissen« richtig charakterisiert.282 Diese Synthese impliziert ein Reflexionsmodell, welches es Forster ermöglicht, »eine zusammenhangende Geschichte der Reise zu schreiben«283, wobei das Interesse »an Menschen« und »Sitten« als »dem vornehmste[n] Endzweck eines jeden philosophischen Reisenden«284 deutlich dominiert. In dieser kulturellen und anthropologischen Ausrichtung der Reise um die Welt schlägt sich Forsters Selbstverständnis als Reisender nieder, der sich vom bloßen Reiseberichterstatter abhebt. Tatsächlich antizipiert Forster das, was Tanja van Hoorn in Anlehnung an Britta Rupp-Eisenreich285 als »Emanzipation von der statistischen Völkerkunde«286 bezeichnet. Eine solche Emanzipation vollzieht sich darin, dass der Reisebericht auf der Basis empirischer Erfahrungen philosophische Fragen aufwirft, deren Beantwortung die Komplementarität von Empirie und Reflexion als Merkmal der Reise um die Welt exponiert. Damit will Forster den Fehler jener »Mikrologen« vermeiden, »die ihr ganzes Leben auf die Anatomie einer Mücke verwenden, aus der sich doch für Menschen und Vieh nicht die geringste Folge ziehen läßt.«287 Das handwerkliche Protokollieren von Fakten im Vollzug des Beobachtungsprozesses hat nur dann Sinn, wenn einerseits kraft der Reflexion unmittelbare Anschauung und Einsicht in den inneren Zusammenhang aufeinander bezogen werden288, und andererseits der Reisebericht zum selbstständigen Nachdenken, d. h. zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den subjektiven Erfahrungen des Reisenden anregt. So warnt Forster davor, daß die edle Wißbegierde unseres philosophischen Jahrhunderts sich blos auf Gegenstände von unmittelbarer Nutzbarkeit erstreckt. Die Zeiten sind nicht mehr, wo man nur darin Befriedigung suchte, im engen Kreise der Sublunarischen Existenz die Früchte seiner Regsamkeit würklich zu geniessen. Dem helleren Auge wird diese Spanne des Lebens zu klein; es durchschaut künftige Jahrtausende [...]. Wo ehemals die praktische Philosophie ihren Sitz hatte, und mit Genügsamkeit nur immer die frohe Feyer des gegenwärtigen Augenblicks bewürken wollte, da thronet nunmehr die Spekulation, und sammelt alles zu dem Bau, den einst die Nachwelt aufführen soll.289

282 283 284 285

286 287 288 289

Vgl. Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹, S. 91. AA II, S. 9. AA VII, S. 75. Britta Rupp-Eisenreich, Aux origines de la Völkerkunde allemande. De la Statistik à l’Anthropologie de Georg Forster, in : Britta Rupp-Eisenreich (Hg.), Histoire de L’Anthropologie. Paris 1984, S. 89–115. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 13. AA II, S. 13. Vgl. Uwe Japp, Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee, S. 25. AA V, S. 96.

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Waren traditionelle Reiseberichte lose bzw. zusammengewürfelte Erzählungen, die eher zu einer dogmatisch-heiteren Rezeption verleiteten, so bewirkt Forsters Reise um die Welt auch beim Rezipienten ein permanentes Zusammendenken von Anschauung und Reflexion. Dies ist dem in der Reise um die Welt vollzogenen Wandel der inhaltlichen Ausrichtung und Gestaltung des Reiseberichts von einem Vehikel abenteuerlicher oder anekdotenhafter Reiseepisoden hin zu einer literarischen Grundlage abstrakter Auswertung der empirischen Reiseerlebnisse zuzuschreiben. Der damit verbundene qualitative Sinnzuwachs äußert sich wohl darin, dass Forster die einzelnen Beobachtungen über Insulaner und ihre Sitten sowie über ihre unterschiedlichen Kulturen als Anlass für eine philosophische Betrachtung der Natur des Menschen insgesamt nimmt. Deshalb schreibt Forster an Spener, der Reisebericht soll den Verstand erleuchten, seine [des Menschen, Y.M.] Kenntnisse in allen Arten der Wissenschaften befestigen und bereichern, das Ganze seiner Erfahrungen vermehren, die Sitten verbessern, das Gefühl mit neuen Gegenständen bekannt machen, den Geschmack verfeinern, ihn zum Gesellschaftlichen Leben und allen bürgerlichen Tugenden bilden, von Vorurtheilen befreien und Ihnen im ganzen betrachtet, vervollkommnen. Die Nutzbarkeit der Reisen ist nun freilich nicht so allgemein, daß sie nicht sehr oft grosse Ausnahmen leiden sollte; insbesondere wenn lasterhafte oder lüderliche, unempfindliche und schlecht erzogene, vernachlässigte und unwissende rohe Jünglinge Reisen antreten.290

Demnach muss ein Reisebericht den Versuch erkennen lassen, über die bloße Faktenzusammenstellung hinaus zu einer umfassenden intellektuellen Deutung vorzustoßen, deren jeweiliger Abschluss in der Reise um die Welt durch Sätze wie »Ich lenke nunmehro in die Erzählung wieder ein«291 erzähltechnisch gekennzeichnet ist. In dieser Hinsicht verdient die Komposition von Forsters Reise um die Welt besondere Aufmerksamkeit, denn die inhaltliche Komplexität und der Aufbau dieses Reiseberichts lassen sich nicht zuletzt aus praktischen Erwägungen des Autors im ungewöhnlichen Entstehungskontext des Werks heraus erklären. Das Verfassen des Reiseberichts über die zweite Weltreise Cook – eine besonders anspruchsvolle Aufgabe, für die Johann Reinhold Forster vorgesehen war – stellte den jungen Forster plötzlich vor eine Herausforderung, auf die er keineswegs vorbereitet war, aber in diesem entscheidenden Moment zu meistern wusste: Ich hatte hinreichende Materialen während der Reise gesammelt, und fieng mit eben so gutem Muthe an, als je ein Reisender, der selbst geschrieben, oder ein Stoppler, der je bestochen worden, die Nachrichten andrer zu verstümmeln. Kein Vergleich band mir die Hände, und selbst derjenige, den mein Vater eingegangen, erwähnte Meiner nicht mit einem Worte und entzog mir nicht im mindesten seinen Beystand. Bey jedem wichtigen Vorfall habe ich also seine Tagebücher zu Rathe gezogen, und solchergestalt [diese] Erzählung [...] bewerkstelligt.292

290 291 292

AA XIII, S. 53. AA III, S. 356. AA II, S. 10. H.i.O.

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Mit der Wendung »die Nachrichten anderer zu verstümmeln« spielt Forster auf die kompositorische Zusammensetzung seines Reiseberichts aus eigenen Reiseaufzeichnungen und aus Unterlagen der Mitreisenden an, wobei der Rekurs auf die Aufzeichnungen seines Vaters und Cooks Journals eine große Rolle spielt. Dieser Rückgriff auf die Tagebücher von Johann Reinhold Forster und James Cook ist für die Deutung von Forsters Reisebericht von solch fundamentaler Bedeutung, dass er einer differenzierten Bewertung bedarf, da Forster damit unterschiedliche Ziele verfolgt, was der Reise um die Welt einen besonderen Charakter verleiht. Die nicht ganz überraschende Entbindung seines Vaters von der Aufgabe, den offiziellen Reisebericht zu schreiben, nutzt Forster primär dazu, dessen Aufzeichnungen im Sinne der ursprünglichen Aufgabe zu verwerten, um zu verhindern, dass sich »das Publikum in seinen Erwartungen getäuscht [sieht].«293 Dabei geht er allerdings nicht eklektisch, sondern schöpferisch vor. Das bestätigt der Brief vom 17. September 1776, in dem Forster dem Verleger Spener über den Fortgang der Arbeit Auskunft gibt: Ich meines theils habe aus 10 seiten des journals 70 gemacht, nicht daß ich etwa gewäßert hätte [...] aber eben diese ausführung kostet zeit, und zehn mal mehr nachdenken als alle andre art der composition.294

Diese »art der Composition« hat erhebliche Konsequenzen für das Wesen und die spezifisch literarischen Qualitäten von Forsters Reisebericht. Interessanterweise artikuliert Forster nicht nur, dass die Aufzeichnungen des Vaters die materiellen, aber auch die ideellen Grundlagen seines Reiseberichts bilden, sondern er gewährt auch Einblick in seine schöpferische Arbeitsweise. Hier zeigt sich zum einen, dass Forster in der nachträglichen Verarbeitung und literarischen Gestaltung der Erfahrungen der Weltreise am Schreibtisch (!) einen Mittelweg zwischen reiner Empirie und ordnender Systematik sucht. Zum anderen wird deutlich, dass sich die durch die literarische Weltreise vermittelte Erkenntnis aus der inhaltlichen Zusammenfügung verschiedener Textbausteine und Perspektiven konstituiert. Damit erreicht Forster zweierlei, einerseits kommt er seinem erkenntnistheoretischen Postulat nach295, und anderereits verändert er die Vorlagen sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Allein schon diese intellektuelle Erweiterung der Vorlagen legitimiert seinen Anspruch auf die Autorschaft der Reise um die Welt. Deshalb betont er in seiner Streitschrift Reply to Mr. Wale’s Remarks, in der er sich gegen den Vorwurf wehrt, sein Vater und nicht er sei der wahre Autor der Reise um die Welt, dass sein Reisebericht nicht ausschließlich »from my own materials«, sondern auch »by collecting all the information I could obtain from others«296 hervorgegangen sei. Allerdings ist dieses exzerpierende Sammeln von fremden Informationen nicht mit einem Plagiat gleichzusetzen, weil es zu einem produktiven Reflexionsvorgang überleitet, bei dem der Gelehrte das Rohmaterial der Erfahrung auswertet und in größere gedankliche Zusammenhänge stellt. Zwar kann

293 294 295 296

Ebd., S. 9. AA XIII, S. 52. Vgl. Kapitel IV, S. 98. AA IV, S. 20.

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ein solcher Reisebericht durchaus als »product and responsibility of a community of workers, not the lone investigator or prophet«297 gelesen werden, da aber die Abstraktion und die Formgebung eine individuelle Leistung darstellen, erscheint es folgerichtig und legitim, dass Forster sein selbstständiges Denken verteidigt. Daher zögert er nicht, auf die Meinungsverschiedenheit mit seinem Vater hinzuweisen: »we also frequently differ in matters of opinion.«298 In diesem Anspruch auf eine intellektuelle Reife manifestiert sich wohl der früheste Versuch Georg Forsters, aus dem geistigen Schatten des übermächtigen Vaters herauszutreten, auch wenn nach wie vor vieles dafür spricht, dass das Werk Reise um die Welt zum großen Teil sowohl arbeitstechnisch als auch gedanklich aus einer Symbiose zwischen Vater und Sohn hervorgegangen ist. Das zeigt sich beispielsweise auch, wenn Forster schreibt: Nach Tisch blieb ich an Bord, woselbst mir Dr. Sparmann die am Morgen eingesammelten natürlichen Merkwürdigkeiten in Ordnung bringen half; mein Vater aber gieng mit den Capitains wieder ans Land um noch mehr aufzusuchen. Bey Untergang der Sonne, kamen sie von ihrer Wanderschaft zurück, und mein Vater gab mir, von dem was ihnen begegnet […] Nachricht.299

Nun erscheint es im Hinblick auf die der Reise um die Welt zugrunde liegende kompositorische Leistung Forsters besonders wichtig zu sehen, dass sich die angesprochene Symbiose, die Forsters Theorie der Multiperspektivität sehr anschaulich macht, nicht auf die Zusammenarbeit zwischen Vater und Sohn beschränkt. Auch Cook hat daran Anteil. Forster betont deshalb, er habe auch aus Cooks Tagebüchern das Wichtigste hier in der deutschen Ausgabe eingeschaltet. Diese Zusätze betreffen jedoch [...] nur etliche wenige Vorfälle, von denen ich entweder nicht selbst Zeuge gewesen war, oder die ich aus einem andern Gesichtspunkt angesehen hatte.300

Neben dieser inhaltlichen Notwendigkeit nennt Forster eine weitere Begründung für die Heranziehung von Cooks Reiseaufzeichnungen. Ihm zufolge soll »auch das deutsche Publikum, neben meiner Reisebeschreibung gegenwärtiger Reise, zugleich des Capitain Cooks Nachrichten von derselben, ohne ausdrückliche Kosten, mit benutzen.«301 Heinritz hat diese Stelle mit den Worten kommentiert, dass Forster Cooks Journals »zur bloßen Informationsquelle herabstufen«302 wolle. Diese Einschätzung verfehlt den Kern des Problems ganz und gar.303 Heinritz übersieht die entscheidende Tatsache nämlich, dass Forster, wie Tilman Fischer zu Recht konstatiert, »den Leser in den Stand setzen

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James E. McCellan III, Science Reorganized, S. xvii. AA IV, S. 16. Dennoch ist der ideelle Einfluss des älteren Forster auf den Reisebericht nicht unerheblich. AA II, S. 350f. H.i.O. Ebd., S. 14. Ebd. Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹, S. 98. Christiane Weller weist mit Recht auf den Versuch William Wales hin, die Arbeiten der beiden Forsters als unwissenschaftlich zu diskreditieren, dabei aber am Wesen von Reise um die Welt vorbeipolemisiert. Vgl. Christiane Weller, Autorisierungen – Von Johann Reinhold Forster zu Georg Forster, in: Georg-Forster-Studien XV (2010), S. 123–135, hier S. 126.

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[möchte], das Mitgeteilte beurteilen zu können.«304 Die neuartige Gattung, die Forsters Buch darstellt, zeichnet sich trotz subjektiver Brüche, die nicht zu leugnen sind, durch einen hohen Grad an Reflexivität aus, wodurch der Autor zum einen dialektische Momente einzufangen und zum anderen wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen vermag. Obwohl Forster gegenüber dem Reisebericht Cooks nicht mit Spott und Kritik spart305, liegt der erkenntnispraktische Impetus für die »Einschaltung« der Cookschen Aufzeichnungen in die Reise um die Welt vor allem in dem synthetisierenden Anspruch seines Denkens, was sich bereits an seinen erkenntnistheoretischen Leitlinien abbildet. Daher helfen die völker- und naturkundlich orientierten Aufzeichnungen seines Vaters auf der einen und die geographisch-astronomischen Angaben Cooks306 auf der anderen Seite, diese Synthese literarisch zu verarbeiten. Ebenso wie die Aufzeichnungen Johann Reinhold Forster sind Cooks Journals für Forster unverzichtbar, schließlich hat der englische Kapitän viele Küsten, Häfen und Riffe auf Seekarten verzeichnet. Nur durch die Heranziehung dieser Informationen ist es für Forster möglich, die notwendige Verbindung zwischen naturhistorischen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen und Perspektiven herzustellen. Dadurch kann er seine Forderung nach einem Blick in das Ganze der Natur und nach Interdisziplinarität einlösen. Als Wanderer zwischen den Disziplinen ist sich Forster bei seinem Vorgehen durchaus bewusst, dass ein Reisebericht im Kontext des späten 18. Jahrhunderts astronomische und geographische Informationen integrieren muss, will der Autor dem Anspruch der Zeit auf eine Erweiterung der menschlichen Kenntnisse im vollen Umfang genügen: »Ehe ich diesen Ort unsers bisherigen Aufenthalts ganz verlasse«, notiert er immer wieder in verschiedenen Variationen, »will ich aus Capitain Cook’s Tagebuch noch folgende astronomische Bemerkungen einrücken.«307 Betrachtet man diese kompositorische Technik genauer, so kann von einer reinen Herabstufung von Cooks Aufzeichnungen keine Rede sein. Richtig ist, dass Forster in Cooks Reisebericht Unzulänglichkeiten aufdeckt und offen anspricht: Die Geschäftigkeit des Capitain Cook und sein unermüdeter Entdeckungsgeist haben ihn abermals gehindert, den Abdruck seines Tagebuchs selbst zu besorgen; er hat also auch jetzt wieder einen Dollmetscher annehmen müssen, der an seiner Statt mit dem Publikum reden könnte. Außer dieser Unannehmlichkeit hat seine Beschreibung gegenwärtiger Reise noch einen andern

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Tilman Fischer, Denklust und Sehvergnügen, S. 173. In der Vorrede zur Reise um die Welt schreibt Forster: »Die Geschichte von Capitain Cooks erster Reise um die Welt [...] ward mit großer Begierde gelesen, sie ward aber, hier in England, mit allgemeinem Tadel, ich mögte fast sagen, mit Verachtung aufgenommen. Sie war von einem Manne aufgesetzt, der die Reise nicht mitgemacht hatte; und ihre üble Aufnahme wurde seinen geringhaltigen Beobachtungen, seinen unnöthigen Ausschweifungen und seinen sophistischen Grundsätzen zugeschrieben [...] Außer dieser Unannehmlichkeit hat seine Beschreibung gegenwärtiger Reise noch einen andern Fehler mit der vorigen gemein, diesen nemlich, daß aus derselben [...] manche Umstände und Bemerkungen weggelassen worden [...]« (AA II, S. 11f). Vgl. AA II, S. 163. Dort heißt es etwa: »Ehe ich diesen Ort unsers bisherigen Aufenthaltes ganz verlasse, will ich aus Capitain Cook’s Tagebuch noch folgende Astronomische Bemerkungen einrücken.« (Ebd.) AA II, S. 163.

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Fehler mit der vorigen gemein, diesen nehmlich, daß […] manche Umstände und Bemerkungen weggelassen worden, die man auf eine oder die andre Art für nachtheilig ansahe.308

Obwohl Forster den Vorzug seines eigenen Reiseberichts in der Authentizität sieht, d. h. sein Bericht hat sich – im Gegensatz zu Cooks – nicht die »Censur und Verstümmelung über sich ergehen lassen [müssen]«309, ist er doch auf die Lektüre von Cooks Logbüchern und den Schriften früherer Seefahrer angewiesen, um einen Reisebericht zu schreiben, mit dem er die breite Öffentlichkeit erreichen kann. Deshalb muss man vor allem der Machart von Forsters Bericht besondere Aufmerksamkeit widmen. Ausgehend von Cooks Tagebüchern, die Johann Reinhold Forster zum Teil zur Verfügung gestellt wurden310, und denen seines Vaters entwickelt der junge Forster eine dialektische Argumentationsweise, der sein essayistischer Stil gelegen kommt.311 Auch seine Übersetzung des Berichts von Cooks dritter Reise ist vom Anspruch geprägt, eine weiterführende Reflexionsgrundlage zu erarbeiten: Bey einem Werke von so gemeinnütziger Beschaffenheit, welches für alle Klassen der Lesewelt bestimmt ist, und Allen Belehrungen gewähren soll, dünkte mich es sey Pflicht, da wo ein gewagter Ausdruck, oder eine zweifelhafte Bemerkung, oder eine willkührlich angenommene Meynung irre führen konnte, auch meinen Gesichtspunkt anzugeben, nicht in der Absicht, ihn als den einzig wahren aufzustellen, sondern nur den Leser dadurch zum Selbstdenken zu erwecken [...].312

Bezogen auf seinen Weltreisebericht dient die Heranziehung der Aufzeichnungen seines Vaters und derjenigen Cooks nicht nur dazu, zwei wichtige Standpunkte, und zwar den des Seefahrers und den des ›mitreisenden Philosophen‹ miteinander zu verbinden, nämlich »the nautical one by Captain Cook; the phylosophical one by my father,«313 sondern auch, die eigene vermittelnde oder korrigierende Position »anzugeben«. Indem Forster die ethnographische und die nautische Perspektive aufeinander bezieht, sensibilisiert er den Leser nicht nur für die Erkenntnisschwerpunkte beider Wissensarten, sondern auch für ihre Komplementarität. Dabei spielt die Technik des Verweises – zum Teil durch Fußnoten – eine ganz wichtige Rolle. Sie kommt in Formulierungen wie: »Man sehe Cooks Reisebeschreibung im Englischen, 1ster Band: pag. 2 woraus ich die obenangeführte Instruction zu Ergänzung meines Werks dem deutschen Publikum vortrage«314 deutlich zum Ausdruck. Der »Dienst«, den Forster seinen »Landsleuten« bei der Be- und Umarbeitung von Tagebüchern verschiedener Reisender leistet – was Forster selbst als »Verstümmlung«315 bezeichnet –, besteht in der Möglichkeit, den Anspruch auf eine Perspektivhoheit zu

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Ebd., S. 12. Ebd. Vgl. AA II, S. 8. Vgl. Michael Ewert, ›Vernunft, Gefühl und Phantasie‹, S. 15ff. AA V, S. 187. AA IV, S. 74. (H.i.O.) AA II, S. 36. (H.i.O.) AA II, S. 12.

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überwinden, den er nicht nur in der Reise um die Welt, sondern auch in späteren Aufsätzen und Rezensionen erkenntnistheoretisch mehrfach hinterfragt.316 Wenn Schmied-Kowarzik von der Reise um die Welt schreibt, dass sie »in der Beobachtungsdifferenziertheit und in der systematischen Gründlichkeit alles Bisherige übertrifft«317, so trifft dieses Urteil insofern zu, als es vor Forster – soweit bekannt – kaum einen Reisebericht gibt, in dem die verschiedenen Erscheinungsformen einer entdeckten Kultur (Menschen, Geschichte, Geographie, Naturwissenschaft, Philosophie und Kunst) so vollendet aufeinander bezogen sind wie in der Reise um die Welt. Ein solcher Bericht sollte, so Astrid Schwarz, »eine Gesamtschau sein, die mit Hilfe der Vereinigung aller Wissenschaftszweige zur Erschließung der Natur – als einzige Quelle der Wahrheit – die Grundlage eines modernen Weltbildes bilden [...]«318 Nun muss man auf Forsters oben erwähnten Anspruch hinweisen, »eine zusammenhangende Geschichte der Reise zu schreiben«, was einen deutlichen Akzent auf die Reisebeschreibung und nicht etwa auf eine Gesamtdarstellung von Natur und Kultur legt. Solche Nuancierung lässt erkennen, dass Forsters Reisebericht konzeptionell und kompositorisch eine Zusammenfassung von Perspektiven319 anstrebt, was sowohl in der Erzählweise als auch in der literarischen Darstellungsform Ausdruck findet. Dementsprechend charakterisiert Uhlig Forsters Reise um die Welt »als meisterhafte Erzählung, die einerseits raffend die Monotonie der Fahrt vor Augen führt und andererseits bestimmte Episoden an Land mit dramatischer Anschaulichkeit schildert und in einen sinnvollen fortlaufenden Zusammenhang setzt.«320 Diese Charakterisierung macht auf eines aufmerksam: Die literarische Organisation des Forsterschen Textes erwächst aus einer darstellerischen Strategie, welche die Schwelle der bisher gebräuchlichen Anpassung von Form und Inhalt überschreitet. Diese paradigmatische Erzähltechnik hat mit Forsters Auffassung von der Aneignung und Vermittlung der Reiseerfahrung als eines literarischen Gegenstands zu tun, wie man in seinem zwölf Jahre nach der Reise um die Welt erschienenen Aufsatz Die Kunst und das Zeitalter nachlesen kann: Schön ist der Lenz des Lebens, wenn die Empfindung uns beglückt und die freye Phantasie in rosigen Träumen schwärmt. Uns selbst vergessend im Anschauen des gefühlserweckenden Gegenstands, fassen wir seine ganze Fülle und werden Eins mit ihm. Nicht bloß die Liebe

316 317 318 319

320

Vgl. Kapitel IV der vorliegenden Untersuchung. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S.117. Astrid Schwarz, Georg Forster, S. 28. Diesen Anspruch betont Forster auch in seinem Aufsatz Der Brotbaum mit den Worten: »Die Geschichte der Erzeugnisse des Erdbodens ist tief und innig in die Schicksale der Menschen und in den ganzen Umfang ihrer Empfindungen, Gedanken du Handlungen verwebt. Das Reich der Natur gränzt mit dem Bezirk einer jeden Wissenschaft, und es ist unmöglich, jenes zu übersehen, ohne zugleich in diese hinüber zu blicken. Auch sind es nur diese Beziehungen der Dinge außer uns auf unser eigenes Selbst, die einer jeden Wissenschaft ein allgemeines Interesse geben; so wie von einer andern Seite die Gemeinnützigkeit wissenschaftlicher Wahrheiten und ihr Einfluß auf das Glück der Menschheit, lediglich von ihrer allgemeinen und vollkommenen Ausbreitung abhängt.« AA VI, S. 80. Ludwig Uhlig, Georg Forster Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 85.

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spricht: gebt alles hin, um alles zu gewinnen! Bey jeder Art des Genusses ist diese unbefangene Hingebung der Kaufpreis des vollkommenen Besitzes. Aber auch nur was so innig empfangen, uns so innig angeeignet ward, kann ebenso vollkommen von uns ausströmen und als neue Schöpfung hervorgehen.321

Wenn Heinritz die Reisebeschreibung am Ende des 18. Jahrhunderts als eine Mischform322 ansieht, dann vor allem deshalb, weil viele Reiseberichte aus dieser Zeit erzähltechnisch auf einer wechselnden Darstellungsweise der Erfahrungen beruhen und gattungstechnisch Elemente aus den verschiedenen Genres der Reiseliteratur verarbeiten. Dass die reiseliterarische Darstellung – trotz Empirismus – von ›Ideen‹ bestimmt sein soll, gehört zum Credo der spätaufklärerischen Geschichtsschreibung, kondensiert insbesondere in Wilhelm von Humboldt Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers (1821). Doch Forster geht es vielmehr um die Produktion von (interkultureller) Bedeutung in der narrativen Organisation und der ästhetischen Gestaltung der Reisebeschreibung. Folgendes ist festzuhalten: Die Untersuchung der Reise um die Welt auf ihren paradigmatischen Stellenwert hin exponiert eine Dimension des Gelehrten Forster, die bis heute verborgen geblieben ist: Ein moderner, vernetzt denkender Mensch immer auf der Suche nach Zusammenhängen. Als einer der ersten Reiseberichte, die mit Recht als enzyklopädisch bezeichnet werden kann, erfüllt die Reise um die Welt den gattungsparadigmatischen Anspruch schon dort, wo die unmittelbare Erfahrung Anlass gibt, übergeordnete Anschauungen zu formulieren; die literarisch-ästhetische Dimension entfaltet das Werk nicht zuletzt in diesem Übergang von der praktischen Realitätswahrnehmung zum kognitiven Aneignungs- bzw. Verarbeitungsprozess, wodurch eine vergleichenddifferenzierte Betrachtung und Vermittlung der Gegenstände, aber auch der Perspektiven möglich wird. Zur reflexiven Organisation von Fremddarstellung und Schreibweise wendet Forster nicht nur Techniken der Montage, etwa beim oben geschilderten Umgang mit Cooks Tagebüchern, sondern auch der Brechungen an, wie folgende Passage exemplarisch illustrieren mag: Der Geschmack am Haarpuder gieng hier so weit, daß man schon auf die Künsteley verfallen war, ihm allerhand Farben zu geben, denn einer von den Männern hatte blaues, und mehrere Leute, sowohl Männer als Weiber, ein orangenfarbenes Puder, von Curcuma, gebraucht. Der Heilige Hieronymus , der gegen die Eitelkeiten seiner Zeiten predigte, warf schon damals den römischen Damen eine ähnliche Gewohnheit vor: ne irrufet crines & anticipiet sibi ignes gehennæ! Die Thorheiten der Menschen sind sich also ähnlich, daß man die längst vergeßnen Moden der ehemaligen Bewohner von Europa, noch heut zu Tage unter den neuern Antipoden wieder findet! 323

Hier wird sehr deutlich, dass Forster den begonnenen Erzählfluss unterbricht, um eine Verbindung zwischen einer reinen Erzählung, historischem Rückblick und abstraktphilosophischer Reflektierung herzustellen. Dieser Kunstgriff ist prägend für Forsters

321 322 323

AA VII, S. 20. Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹, S. 71. AA II, S. 367.

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Reiseschilderung, variiert allerdings je nach Aussageabsicht des Verfassers. Neben der Paraphrase der mündlichen Schilderungen von mitreisenden Offizieren und Matrosen bedient sich Forster vor allem auch der Technik des Zitats, wobei er die übernommenen Passagen nicht nur als solche kennzeichnet, sondern auch am Ende mit einem Kommentar versieht. Eingeleitet werden die Zitate mit Formeln wie: »Sie [die Offiziere, Y.M.] erzählten uns von ihren Verrichtungen, und da man es vielleicht lieber sehen wird, etwas zusammenhängendes darüber zu hören, so will ich hier einen Auszug aus meines Vaters Tagebuch einrücken.« 324 Die langen Auszüge aus dem Tagebuch seines Vaters kommentiert Forster mit den Worten: Man siehet aus dieser Nachricht, daß selbst die sorgfältigsten Nachforschungen noch nicht hinreichend gewesen sind, ein gewisses Licht über die bewundernswürdigen Gegenstände zu verbreiten, die wir auf dieser Insel antrafen.325

An vielen Stellen finden sich ebenfalls eingefügte Zitate berühmter europäischer Denker und Dichter. Einige dieser Zitate stehen leitmotivisch zu Beginn eines Kapitels326, während andere so kunstvoll in den Text eingebaut sind, dass sie den gedanklichen Fluss weiterführen: Am 15ten ward der Wind stärker und verwandelte sich bald darauf in einen heftigen Sturm which took the ruffian billows by the top Curling their monstruous heads and hanging them With deafning clamours in the slippery clouds. SHAKESPEAR.(sic!)327

Forster hat dieses Zitat dem Drama King Henry IV, Part II von William Shakespeare328 entnommen und leicht verändert in einen neuen Kontext gestellt. Das gleiche Verfahren verwendet er im Umgang mit Zitaten von Sallust, Horaz, Virgil und Juvenal, um nur einige Namen zu nennen, die dem Leser der Reise um die Welt ins Auge springen. Mit diesem Verfahren lässt Forster die Tradition der großen europäischen Denker in seinem Reisebericht leise durchschimmern, auf die er ideell anknüpfen möchte, was er allerdings nirgendwo in diesem Werk explizit formuliert. Dem Leser fällt aber auf, dass all diese Zitate einen legitimierenden Charakter haben. Nicht zuletzt deshalb wird man dem Reisbericht Forster nur dann gerecht, wenn man ihn als großes Werk der europäischen Literatur im weitesten Sinn des Wortes liest. Das lässt nun eine völlig neue Dimension der literarischen Qualität der Reise um die Welt augenfällig werden, die den Konstruktcharakter und das dialektische Moment des darin vermittelten Wissens über die Südsee weiterhin bestätigt, nämlich ihre über die Kritik an älteren Reiseberichten hinausrei-

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Ebd., S. 453. Ebd., S. 459. Vgl. ebd. S. 35. AA II, S. 423. (H.i.O.). William Shakespeare, King Henry the Fourth, in: William Shakespeare. Histories and Poems, hg.v. W. J. Craig. London 1966. Im Übrigen heißt es dort: »And the visitation of the winds,/ Who take the ruffian billows by the top […]« Ebd., S. 304.

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chende Intertextualität – eine schöpferisch-literarische Schreibweise, die sich erst im 20. Jahrhundert voll entfalten und als solche etablieren konnte, in Forsters literarischer Weltreise jedoch schon deutliche Spuren hinterlassen hat.329

329

Vgl. Gerhart Pickerodt, Wahrnehmung und Konstruktion, S. 276.

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VI. Dialektik interkultureller Interaktion und Reflexion

»Der Amerikaner, der den Kolumbus entdeckte, machte eine böse Entdeckung« Georg Ch. Lichtenberg

1.

Vorbemerkung

Nicholas Thomas hat neuerdings die These aufgestellt, dass Forsters Reise um die Welt, »in relation both to the cultures of Oceanie that the Forsters did much to document and to the history of the European voyaging in the Pacific«1 stehe. Dieser Gedanke resultiert aus der in der Einleitung angesprochenen »korrigierende[n] Rezeption«, die, so Uhlig, »dazu verhelfen [mag], Forster in seinem eigenen historischen Horizont besser zu verstehen.«2 Bei der Bemühung, diesen Horizont in seiner komplexen, interkulturellen Dimension zu erfassen, zeigt sich vor allem die Notwendigkeit, Forsters Aufenthalt in den südpazifischen Kulturen aus dem eurozentrischen Verständnis des Entdeckungsbegriffs herauszulösen und ihn jener Perspektive zu unterwerfen, welche zum einen die Kategorie »Entdeckung« im interkulturellen Kontext als reziproken Vorgang erkennen lässt und zum anderen die dialektische Dimension in Forsters anthropologischem Konzept sowie in seiner Idee des Fortschritts begreifen lässt.

2.

Das Aufeinandertreffen: Schauplätze kultureller Interaktion

Reisen im Allgemeinen und Entdeckungsfahrten im Besonderen waren schon immer geprägt von der Begegnung und Interaktion zwischen »Reisenden« und »Einheimischen«. Doch während frühere Reisende solche Begegnungen stark unter dem abenteuerlichen Eindruck ihrer Schilderungen stellten, vollzieht sich in Georg Forsters Reisebericht eine Wende in der Einschätzung des Aufenthaltes der Europäer in der Südsee. Anstelle des einseitigen Selbstverständnisses der Europäer als »Entdecker« neuer Kulturen tritt die Vermittlung der Südseefahrten als eine Begegnung, bei der Europäer und Insulaner einander entdecken. Der Einblick in die Wechselseitigkeit, die eine solche Perspektivierung der Begegnung impliziert, erfordert eine neue Lektüre des Reiseberichts als Dokument über den Doppelblick der Kulturen. Damit gibt die klassische Einteilung Entdecker/

1 2

Nicholas Thomas, »Preface«, S. xiv. Ludwig Uhlig, Georg Forster, Captain Cook und das Tabu, S. 41.

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Entdeckte, die ein Subjekt und ein Objekt der Entdeckung festschreibt, nicht mehr den notwendigen Reflexionsrahmen ab3, der es ermöglicht, den Entdeckungsprozess als interkulturelle Begegnungssituation in ihrer Komplexität zu erfassen. Nehmen Reiseberichte in den einschlägigen historischen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten über die frühen europäisch-überseeischen Kulturkontakte eine zentrale Stellung ein4, so nicht zuletzt deshalb, weil es deutlich geworden ist, dass sich nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Begegnungen im Laufe der Jahrhunderte verändert. Dies zeigt sich darin, dass in den Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts außereuropäische Kulturen zwar auch – aber nicht nur – als geographische Entdeckungsräume, sondern zunehmend als Orte der Begegnungen von Menschen einander fremder Kulturen mit entsprechenden Annäherungsstrategien und Spannungsfeldern reflektiert werden. Urs Bitterli, dessen Untersuchungen einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des im Kontext der Entdeckungsfahrten erwachsenen Missverhältnisses der europäischen Kultur zur außereuropäischen Welt darstellen, hat die These aufgestellt, dass sich die historische Begegnung zwischen Vertretern der europäischen und der überseeischen Kulturen in bestimmten »Grundformen des Kulturkontakts«5 vollziehe, deren Hauptunterscheidungskriterien die Dauer und die Intensität des Kontaktes seien. Demnach unterscheidet Bitterli zwischen »Kulturberührung«, »Kulturzusammenstoß« und »Kulturbeziehung«6. Dieser systematisierte Ansatz, so wie er sich bereits in Bitterlis früherem Werk Die Wilden und die Zivilisierten7 entwickelt hat, wurde in der bisherigen Forschung meistens apodiktisch aufgenommen.8 Doch so sehr sich die von Bitterli vorgeschlagene Begrifflichkeit in einem historischen Makro-Reflexionszusammenhang der Kulturbeziehungsforschung auch immer als nützlich erweisen mag, so wenig empfiehlt sie sich als ein für die Analyse einer doppelblickenden Kulturbegegnung anwendbares Modell. Was man dabei vor allem nicht übersehen sollte, ist genau das, was Bitterlis Ansatz außer Acht lässt, die Tatsache nämlich, dass das Aufsuchen der Übersee durch Europäer mit einer interkulturellen Interaktion einhergeht, die sich zum einen auf einer primär intersubjektiven Ebene der Annährung

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Bisher beschränkten sich die meisten Studien, die sich diesem Problemfeld annehmen, darauf, die spätestens seit Diderots imaginierte Kritik der Einheimischen an den Europäern zu untersuchen. Vgl. Gerd Stein (Hg.), Exoten durchschauen Europa. Frankfurt/M.1984; Hartmut Kluger, Das Streitgespräch zwischen ›Zivilisierten‹ und ›Wilden‹, in: Albrecht Schöne (Hg.), Akten des VII. Int. Germanistenkongresses. Tübingen 1986, II 63–72. Dass auch Insulaner auf ihre Weise die Europäer entdecken, wird dabei nicht explizit thematisiert. Unter diesem Aspekt weist die Forster-Forschung noch erhebliche Desiderate auf. Wegweisend hierzu: Boris Krasnobeav u. a. (Hg.), Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung. Berlin 1980. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 17. Ebd. Ebd. Die Arbeiten Bitterlis sind im Zusammenhang mit der europäischen Entdeckungsgeschichte seit der frühen Neuzeit zu Standardwerken geworden. Doch in vielen Arbeiten fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit Bitterlis Ansatz. Vgl. zum Beispiel Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte, S. 11.

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vollzieht und zum anderen nicht überall begrifflich streng strukturierten oder gar systematisierten Begegnungsabläufen folgt. Mit anderen Worten: Die Begegnung zwischen Europäern und Insulanern ist, sieht man von wiederkehrenden Momenten wie etwa das Zeremoniell ab, von unterschiedlichen Faktoren geprägt, die sich der Zuordnung zu einem festen Schema entziehen. Forsters Reisebericht verdient diesbezüglich insofern besondere Aufmerksamkeit, weil er sich durch eine differenzierte Wahrnehmung der interkulturellen Begegnungssituationen auszeichnet. Damit eröffnet er qualitativ den Blick auf verschiedene Orte der Begegnung sowie ihre jeweiligen Spannungsfelder, die eine Aufstellung von Konstanten bei der Begegnung zwischen unterschiedlichen Kulturen unhaltbar erscheinen lassen. Insbesondere enthält Forsters Dokumentation des Reiseverlaufs umso mehr überraschende Momente, als der Autor vor Augen führt, dass die Entdeckungsfahrten in erster Linie eine Plattform der interkulturellen und zwischenmenschlichen Begegnungen und Beziehungen mit schwer kalkulierbaren Imponderabilien darstellen. Wie bei den maritimen Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts üblich, spielen sich die von Forster dokumentierten Begegnungssituationen zwischen Europäern und Insulanern im Großen und Ganzen an den Küsten und Häfen der Südseeinseln ab. Cook wurde von der britischen Admiralität ausdrücklich dazu angehalten, die Küsten aufzusuchen »um seine Leute zu erfrischen, und die Schiffe wieder in Stand zu setzen.«9 Und tatsächlich beschreibt Forster solche Landungen als ein besonderes Ereignis: Um drei Uhr Nachmittags kamen wir endlich unter der Spitze einer Insel vor Anker, woselbst wir einigermaßen gegen die See gedeckt und der Küste so nahe waren, daß man sie mit einen kleinen Taue erreichen konnte. Kaum war das Schiff in Sicherheit, als unsre Matrosen ihre Angeln auswarfen, und in wenig Augenblicken sahe man an allen Seiten des Schifs eine Menge vortreflicher Fische aus dem Wasser ziehen, deren viel versprechender Anblick die Freude über unsre glückliche Ankunft in der Bay ungemein vermehrte.10

In dieser Passage wird ein Phänomen charakterisiert, das in den Entdeckungsfahrten seit der Antike für Spannung gesorgt haben muss, nämlich die während der langen und entbehrungsreichen Seefahrten entstandene Sehnsucht »nach Land und frischen Gewächsen«.11 Die große Freude, die das Erreichen einer Küste oder eines Hafens bei den Entdeckern auslöst12, erklärt sich zum einen daraus, dass mit solchen Plätzen die Hoffnung verbunden war, frische Nahrungsmittel zu finden und das Schiff zu reparieren. Zum anderen hofften die Entdecker, die Einheimischen zu treffen, und zwar nicht nur,

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AA II, S. 37. Ebd., S. 123. Ebd., S. 122. So beschreibt Forster die Freude der Schiffsmannschaft bei der Ankunft in Neuseeland im März 1773: »Nach einer Fahrt von einhundert und zwei und zwanzig Tagen, auf welcher wir ohngefähr dretausend fünfhundert Seemeilen in ofner See zurückgelegt hatten, kahmen wir endlich am 26sten März zu Mittge in Dusky-Bay an. […] Je länger wir uns nach Land und frischen Gewächsen gesehnt hatten, desto mehr entzückte uns nun dieser Prospect, und die Regungen der innigsten Zufriedenheit, welche der Anblick dieser neuen Scene durchgängig veranlasste, waren in eines jeglichen Augen deutlich zu lesen.« AA II, S. 122.

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um sie ethnographisch zu beobachten, sondern auch, um mit ihnen in Kontakt zu treten, zumal sie die einzigen Garanten für die Versorgung der Schiffe mit Nahrungsmitteln waren. Daher bezeichnet Mary Louise Pratt die Ankerplätze als »contact zones.«13 Mit diesem Begriff wird auf den komplexen Begegnungs- und Annäherungsprozess zwischen Europäern und Insulanern hingewiesen, der sich in solchen Plätzen entfaltet und verschiedenste Formen annimmt. Dort nehmen die Entdecker den ersten Anlauf für ethnographische und naturkundliche Untersuchungen, die einen wichtigen Teil des wissenschaftlichen Auftrags ihrer Forschungsexpedition ausmachen. Freilich hat man es bei diesen »Kontaktzonen«14 mit einer Vielzahl von Situationen zu tun, die sich zwar einer Einordnung in ein festes Schema widersetzen, das Profil der Begegnung zwischen Europäern und Insulanern jedoch an zwei zentralen Momenten erkennen lassen, aus denen sich ebenfalls zwei Typen von Begegnungssituationen unterscheiden lassen. In Forsters Reisebericht handelt es sich einerseits um solche Begegnungen, die sich mit Klaus Scherpes Terminologie als »First-Contact-Szene«15 beschreiben lassen, weil sie durch die absolute Fremdheit auf beiden Seiten gekennzeichnet sind. Hier bewirkt das Auftauchen der europäischen Schiffe eine unerwartete Begegnung mit Insulanern, die »noch keinen Europäer unter sich gesehen«16 hatten. Andererseits dokumentiert Forster Begegnungssituationen mit solchen Insulanern, die »von Zeit zu Zeit europäische Schiffe bey sich zu sehen«17 gewohnt waren. Auch wenn diese grobe Unterscheidung der Komplexität des Begegnungsprozesses nur im Ansatz gerecht wird, so ermöglicht sie es doch, eine Reflexion darüber anzustellen, wie die verschiedenen Grade der Fremdwahrnehmung auf den Annäherungsprozess zurückwirken. Der erste Begegnungstypus bezieht seine paradigmatische Bedeutung aus einem Komplex von verschiedenen Reaktionen, die sich aus dem Anblick von Menschen aus einer anderen Kultur ergeben und nicht automatisch zu einem Kontakt führen. Eine solche Erstbegegnungssituation schildert Forster bei der Ankunft auf Dusky-Bay (Neuseeland) im Frühjahr 1773. Hier vermuten die Europäer, dass die Insel »nicht unbewohnt seyn müsse«18, doch es vergehen mehrere Tage, ohne dass sich ein einziger Einheimischer blicken lässt. Und so wird die Erwartung, nach über drei Monaten Fahrt auf offener See, in Kontakt mit Einheimischen zu treten, zu einer großen Spannung, die am Morgen des 28. März eine vorläufige Wende nimmt. Bei der Untersuchung einer Bucht stoßen die Europäer völlig unerwartet auf ein bemanntes Boot:

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Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London/New York 1992, S. 6. Wolfgang Schäffner, Verwaltung der Kultur. Alexander von Humboldts Medien (1799–1834), in: Stefan Rieger u. a. (Hg.), Interkulturalität zwischen Inszenierung und Archiv. Tübingen 1999, S. 352. Klaus Scherpe, First-Contact-Szene. Kulturelle Praktiken bei der Begegnung mit dem Fremden, in: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel.(Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 149–167. AA II, S. 341. Ebd. AA II., S. 128.

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Es war mit sieben oder acht Leuten besetzt, die uns eine Zeitlang anguckten, aber durch keine Zeichen der Freundschaft als Zurufen, Aushängen von weißen Tüchern, Vorzeigung von GlasCorallen und dergleichen, sich wollten bewegen lassen, näher zu kommen; sondern nach einer Weile den Weg zurück ruderten den sie gekommen waren.19

Für Forster liegt das überraschende und zugleich heuristische Moment dieser Erstbegegnung in der Spannung, die sich auf der völlig konträren Reaktion der beiden Parteien in ihrer reziproken Wahrnehmung aufbaut. Die Insulaner betrachten die Annäherung der ihnen fremden Europäer zugleich mit Neugier und großer Sorge, so dass sie es folgerichtig nicht wagen, »mit den Fremden in Verbindung zu kommen«, da sie nicht wissen, wie diese »gesinnet sind.«20 Sie ziehen sich aus Furcht zurück, so dass der erste Anlauf der Europäer, mit den ihnen ebenfalls fremden Menschen Kontakt aufzunehmen, zunächst scheitert. Doch weil die Europäer allein schon wegen ihrer knappen Nahrungsmittel auf diesen Kontakt angewiesen sind, unternehmen sie in den darauf folgenden Tagen verschiedene Versuche, die aber Forster zufolge allesamt erfolglos bleiben, da die Insulaner »allem Anschein nach, in den Wald geflüchtet waren.«21 Daraufhin entwickeln die Entdecker eine neue Strategie für eine erste Kontaktaufnahme: »Um uns ihr Vertrauen und Zuneigung zu erwerben, legten wir ihnen einige Schaumünzen, Spiel, Glas-Corallen und andere Kleinigkeiten in das Canot und giengen, ohne weiteren Aufenthalt, wieder zu unserm Bot.«22 Doch dieser erste Versuch der Kontaktnahme bleibt ohne Erfolg: »Allein unsre Hauptabsicht«, stellt Forster wenig später fest, »erreichten wir bey diesem zweyten Besuch eben so wenig als bey dem vorhergehenden, denn wir bekamen abermals keinen von den Einwohnern zu sehen, ohnerachtet sie, unserm Bedünken nach, nicht weit seyn konnten, und wir so gar den Rauch von ihren Feuern zu riechen glaubten.«23 Dieser Schilderung ist zu entnehmen, dass die Insulaner Berührungsängste gegenüber Europäern zeigen, was aus der Perspektive der Xenologie zwar ein strukturbildendes Erkenntnismoment konstituiert24, dennoch keine exklusive Erscheinungsform der »First-Contact-Szene« darstellt. Denn Forster beobachtet ein solches Verhalten in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, so zum Beispiel bei Insulanern, die »über den unvermutheten Besuch so fremder Gäste«25 beunruhigt sind und folgerichtig gegenüber den Fremden »Besorgniß oder Mißtrauen«26 hegen. Letzteres trifft auf die Begegnung mit den Maori auf Dusky-Bay zu, auch wenn sich die Situation als vorübergehend erweisen sollte. Immerhin fast zwei Wochen nach

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Ebd. Ebd., S. 157. Ebd., S. 129. Ebd. AA II, S. 129. Vgl. zum Beispiel Wolfgang Bödecker, Das Fürchten lernen. Anmerkungen zur kathartischen Dimension der Xenologie, in: Christian Bremshey u. a. (Hg.), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis. Münster 2004. S. 168–183. AA III, S. 175. Ebd., S. 185 und S. 286.

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Ankunft der Europäer kommt es vor einer kleinen benachbarten Insel, »auf welcher wir einen Menschen sehr laut rufen hörten«27, zu folgender aufschlussreicher Begegnung: Als wir weiter heran kamen, entdeckte man, daß es ein Indianer war, der mit einer Keule oder Streit-Axt bewafnet, auf der Felsenspitze stand, und hinter ihm erblickte man in der Ferne, am Eingang des Waldes, zwo Frauenspersonen, deren jede einen Spieß in der Hand hielt. Sobald wir mit dem Boot bis an den Fus des Felsen hingekommen waren, rief man ihm in der Sprache von Tahitei zu: Tayo Harre maï, d.i. Freund komm her! Allein das that er nicht, sondern blieb an seinem Posten, auf seine Keule gelehnt stehen und hielt in dieser Stellung eine lange Rede [...] Da er nicht zu bewegen war näher zu kommen, so gieng Capitain Cook vorn ins Boot, rief ihm freundlich zu und warf ihm sein und andrer Schnupftücher hin, die er jedoch nicht auflangen wollte. Der Capitain nahm also etliche Bogen weiß Papier in die Hand, stieg unbewaffnet auf dem Felsen aus und reichte dem Wilden das Papier zu. Der gute Kerl zitterte nunmehro sichtbarer Weise über und über, nahm aber endlich, wiewohl noch immer mit vielen deutlichen Merkmalen von Furcht, das Papier hin. Da er dem Capitain jetzt so nahe war, so ergrif ihn dieser bey der Hand und umarmte ihn, indem er des Wilden Nase mit der seinigen berührte, welches ihre Art ist zu begrüßen. Dieses Freundschaftszeichen benahm ihm mit einemmale alle Furcht, denn er rief die beyden Weiber zu sich, die auch ungesäumt herbey kamen, indeß daß von unsrer Seite ebenfalls verschiedne ans Land stiegen, um dem Capitain Gesellschaft zu leisten.28

Als spannendes Ereignis wird die Begegnung zwischen Europäern und Insulanern in dieser Passage dargestellt. Die Kontaktaufnahme zu den Einheimischen erweist sich als komplexes Unterfangen. Doch sollte nicht daraus geschlossen werden, dass die Initiative immer von den Europäern ausgeht. Forster berichtet nämlich von einer Familie »auf Indian-Eyland« (Neuseeland), welche die Entdecker nicht getroffen hätten, »wenn sie sich nicht selbst entdeckt und die ersten Schritte zur Bekanntschaft gethan hätte. Auch würden wir diese Bucht verlassen haben, ohne zu wissen daß sie bewohnt sey, wenn die Einwohner, bey Abfeurung unsers Gewehrs, uns nicht zugerufen hätten.«29 Insbesondere muss in diesem Zusammenhang ein Moment thematisiert werden, auf das Forster betont hinweist, da es sich in vielen Begegnungssituationen wiederholt. Es handelt sich um das Zeremoniell, das den Ereignischarakter der Begegnung unterstreicht. Dies lässt sich beispielsweise in jener Begegnung mit einer kleinen Familie auf DuskyBay beobachten, die Forster im April 1773 überliefert. Die Begegnung findet auf einer Brücke statt, doch ehe der Insulaner einen Fus auf die Brücke setzte, trat er seitwärts, steckte ein Stück von einer Vogelhaut, an welcher noch weiße Federn saßen, statt eines Gehänges, in das eine Ohr und brach von einem Busche einen grünen Zweig ab. Mit diesem in der Hand gieng er nunmehro vorwärts; stand still, als er so weit gekommen war, daß er die Seitenwände des Schiffes eben erreichen konnte und schlug an diese, so wie an das daran befestigte Tauwerk des Hauptmastes, zu wiederholtenmalen mit dem grünen Zweige. Hierauf fieng er an, eine Art von Anrede – oder Gebeths- oder Beschwörungs-Formel, gleichsam im Tacte, als nach einem poetischen Sylbenmaaß, herzusagen, und hielt die Augen unverrückt auf die Stelle geheftet, welche er zuvor mit dem Zweige berührt hatte. Er redete lauter als gewöhnlich und sein ganzes Betragen war ernsthaft und feyerlich. Während dieser Ceremonie, welche ungefähr 2 bis 3 Minuten dauerte, blieb das Mädchen, die

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AA II, S. 132. Ebd., S. 132f. AA II, S. 157f.

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sonst immer lachte und tanzte, ganz still und ernsthaft neben ihm stehen, ohne ein Wort dazwischen zu sprechen. Bey Endigung der Rede schlug er die Seiten des Schiffs nochmals, warf seinen Zweig zwischen die Wandketten und stieg sodann an Bord.30

Aus dieser symbolträchtigen Begegnung kristallisieren sich zwei Momente heraus, die für die Gestaltung des interkulturellen Kontakts zwischen Europäern und Insulanern wichtig erscheinen. Es handelt sich zum einen um die vorausgehende Rede des Insulaners, der einer Gruppe vorsteht und in deren Namen er spricht bzw. handelt. Stefan Goldmann argumentiert, dass der spezifische Empfang der Europäer dem Zweck dient, die Angst zu überwinden und solide Kontaktverhältnisse zu den Reisenden herzustellen: »In diesen Zeremonien sollte die Xenophobie, die den Kontakt zwischen fremden Völkern grundsätzlich beherrscht, überwunden werden.«31 An der Rede des Insulaners wird aber auch das Bedürfnis nach einem geregelten, hierarchisch geordneten Ablauf des ersten Kontakts erkennbar. Das Auftreten des Insulaners macht zudem deutlich, dass die Begegnung mit Vertretern einer anderen Kultur wie ein formeller Besuch behandelt wird, der durch eine lange Rede offizialisiert wird. Ähnlich wird die Ankunft der Entdecker auf Neu-Kaledonien im September 1774 gefeiert: [...] gleich darauf hielt ein ansehnlicher junger Mann [...] eine Rede, nachdem zuvor ein andrer, durch lauten Ausruf, allgemeine Stille geboten hatte. Die Rede schien ernsthaft zu seyn, klang aber doch sanft, und ward zuweilen mit lauter Stimme vorgetragen. Hin und wieder mochte der Redner Fragen vorlegen, wenigstens hielt er inne, und einige alte Männer aus dem Haufen antworteten alsdenn jedesmal. Die ganze Rede dauerte zwo bis drey Minuten. Bald darauf kam ein andrer angesehener Mann [...], der auf eben die Art eine Rede hielt, und nun mischten wir uns ohne Bedenken unter die Versammlung.32

Diese detailreiche Schilderung gewährt Einblick in die Art und Weise, wie die Insulaner die Begegnung mit Europäern auffassen. Ihr Verhalten, ob positiv oder negativ, demonstriert und dokumentiert den besonderen Stellenwert interkultureller Begegnungen im 18. Jahrhundert. Auch Forster ist sich des außergewöhnlichen Charakters solcher Kontakte bewusst. Das zeigt sich beispielsweise an seiner Schilderung eines überraschenden Empfangs der Europäer im April 1773 auf Dusky Bay sehr anschaulich: Sie [die Insulaner, Y.M.] bereiteten sich nemlich, uns in allem ihrem Schmuck und Staat zu empfangen [...] Sie hatten sich gekämmt und die Haare, mit Öl oder Fett eingeschmiert, auf der Scheitel zusammen gebunden, auch weiße Federn oben in den Schopf gesteckt.33

Entgegen dem von Marita Gilli formulierten Vorschlag, die Gastfreundschaft der Insulaner »einfach als angeborene Eigenschaft der Eingeborenen«34 zu betrachten, dürfen

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Ebd., S. 150. Stefan Goldmann, Die Übersee als Spiegel Europas. Reisen in die versunkene Kindheit, in: Thomas Theye (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalistische Beziehung. Reinbek 1985, S. 208–242, hier S. 210. AA III, S. 295 AA II, S. 136. Marita Gilli, Die Reaktion der Eingeborenen auf die Entdecker aus Forsters Sicht im Vergleich zu Bougainville und Dumont d’Urville, in: Georg-Forster-Studien X (2005), S. 125–156, hier S. 138.

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Forsters Schilderungen auch dann nicht den Blick auf ihre Ambiguität verstellen35, wenn sie hier eine gelungene Kontaktaufnahme exponieren, denn oft fragt sich Forster, »ob den Wilden so ganz sicher zu trauen sey.«36 Hieraus lässt sich schließen, dass Forster die Gastfreundschaft der Insulaner zwar zu schätzen weiß, den Fremden aber mit Vorsicht und Skepsis begegnet. Wie bereits erwähnt zweifelt Forster nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht an der Ehrlichkeit der Insulaner, sondern zuweilen auch an ihren zumal überschwänglichen Freundschaftsangeboten, die er sowohl quantitativ als qualitativ als etwas Neues erlebt. Über den tahitischen König O-Tuh, der Cook zu einem längeren Aufenthalt zu überreden versucht, sagt Forster: »Ob er eigennützige Absichten dabey hatte oder ob dies Anerbieten blos aus der Fülle des Herzens kam, will ich nicht entscheiden [...].«37 Dennoch will Forster längst gefunden [haben], daß von der thätigen Gutherzigkeit, welche uns der Mittelstand, durch Gastfreyheit und eine Menge dienstfertiger und edler Handlungen, bezeigte, im geringsten nicht auf die Denkungsart des Hofes und der Hofleute schließen lasse, sondern daß es mit der scheinbaren und glänzenden Höflichkeit derselben blos drauf abgesehen sey, unsre Hoffnungen durch leere Versprechungen zu nähren und von einer Zeit zur andern aufzuhalten.38

Hier überträgt Forster die Kritik der Aufklärer am Absolutismus auch lexikalisch (»Mittelstand«, »Hof«) auf den südpazifischen Kontext und verzichtet somit darauf, das Authentische der Südsee-Inseln in dieser Hinsicht herauszustellen. Bezogen auf das unmittelbare Ereignis der Begegnung ist Forsters Unsicherheit im Umgang mit den ihm fremden Kulturen allenthalben präsent. Exemplarisch ist die von ihm geschilderte Erfahrung auf den Societät-Inseln, wo die Entdecker im Juni 1774 ankern, um eine Felsenklippe nach Pflanzen abzusuchen: Von hier aus riefen wir nun den Indianern in allen uns bekannten Süd-See-Sprachen zu, daß wir Freunde wären, und daß sie zu uns an den Strand herab kommen mögten. Nachdem man eine Zeitlang unter sich sprechen und einander hatte zurufen hören, kam endlich am Eingange des Bachbettes oder Erdrisses einer von ihnen zum Vorschein [...] Hinter ihm hörten wir viele Stimmen in dem hohlen Wege, die Leute selbst aber konnte man, der Bäume wegen, nicht ansichtig werden.39

Man kann hieraus einen unterschiedlichen Ablauf der Erstkontakte auf den verschiedenen Südseeinseln schließen. Sie reichen von positiv verlaufenden Kontaktszenen bis hin zur

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Nicht selten findet Forster heraus, dass sich Freundschaftsversicherungen als Falle herausstellen. Diese Erfahrung machte beispielsweise Dr. Sparrman im September 1773: »Es hatten sich zwey Indianer zu ihm gesellet und ihn unter steten Freundschafts-Versicherungen und mit vielfältigem Tayo! gebeten weiter ins Land heraufzugehen; allein, ehe er sichs versahe, rissen sie ihm den Hirschfänger, welches sein einziges Gewehr war, von der Seite, und als er sich hierauf bückte, um nach einem Steine zu greifen, gaben sie ihm einen Schlag über den Kopf, daß er zu Boden fiel. Nun rissen sie ihm die Weste und andre Kleidungsstücke [...] vom Leibe« (AA II, S. 312). AA III, S. 219. Ebd., S. 86. AA II, S. 257. AA III, S. 131f.

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vollständigen Ablehnung der Europäer. Im Gegensatz zu den Bewohnern auf Dusky-Bay verweigern sich diese Insulaner jeder Annäherung mit den Fremden: »Umsonst riefen wir ihnen in einem freundlichen Tone zu«40, notiert Forster und fügt hinzu, dass die Einheimischen ausschließlich eine feindselige Haltung einnehmen, die sie dann auch wenig später durch einen Angriff mit Speeren und Bogen unterstreichen, woraufhin die Europäer mit einem »Plotton-Feuer« antworten.41 Die erschrockenen Insulaner, wie wir von Forster erfahren, »ergriffen plötzlich, unter einem grässlichen Geheul die Flucht. Nun giengen wir wieder in die Boote, und wollten mit diesen Leuten nichts mehr zu schaffen haben, da wir sie durch kein Bitten zu einer freundschaftlichen Aufnahme hatten bewegen können.«42 Als ein weiteres Beispiel dieser Art lässt sich die Begegnung mit einer weiblichen Person auf den Marquesas-Inseln im April 1774 anführen: Als wir ohngefähr drey Meilen von der See ins Land hinaufgegangen waren, sahen wir, ohngefähr dreyßig Schritt weit vor uns, eine junge Frauensperson aus einem Hause herauskommen. So viel sich in vorbesagter Entfernung erkennen ließ, war sie, der Gesichtsbildung nach, einer Tahitierin ziemlich ähnlich, übrigens von mittlerer Größe, und in ein Stück Maulbeerzeug gekleidet, das ihr bis auf die Knie herabreichte. Wir konnten nicht näher an sie herankommen, denn sie floh vor uns den Berg hinauf, und ihre Landsleute gaben uns durch allerhand Zeichen zu verstehen, daß wir umkehren mögten.43

Man kann also sehen, dass selbst dort, wo die Insulaner ihre anfängliche Furcht überwinden und mit den Europäern Kontakt aufnehmen, das Verhältnis in den Erstbegegnungssituationen meist oberflächlich, ja zweideutig bleibt. Deshalb kommentiert Forster den Abschied von den »Freunden« auf Dusky-Bay so: Die einbrechende Nacht nöthigte uns von unsern neuen Freunden Abschied zu nehmen, wir versprachen ihnen aber, sie morgen wieder zu besuchen. Der Mann sahe uns bey der Abfahrt in ernsthafter Stille und mit einer Aufmerksamkeit nach, die tiefes Nachdenken anzuzeigen schien.44

Das tiefe »Nachdenken« des Insulaners, das den Ausdruck »misstrauischer Besorgniß«45 dokumentiert, kann als symptomatisch für die Reaktion der Bewohner des Südseeinseln auf den ersten Kontakt mit Europäern im 18. Jahrhundert charakterisiert werden. Demgegenüber zeigt sich, dass sich der Ablauf der Begegnung mit solchen Insulanern, welche Europäer aus Cooks erster Reise her kennen, intensiver und entspannter vollzieht. Diese Art von Begegnung beobachtet und erlebt Forster auf der Insel Tahiti, wo er den Empfang, der Europäern zuteil wird, als eine eingespielte Routine vermittelt: »Kaum bemerkte man die großen Schiffe an der Küste, so eilten einige ohnverzüglich nach dem Strande herab, stießen ihre Canots ins Wasser und ruderten auf uns zu.«46 An

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Ebd., S. 133. Ebd. AA III, S. 134 und S.288. Ebd., S. 26. AA II, S. 134. Ebd., S. 227. Ebd., S. 218.

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anderer Stelle heißt es: »Viele derselben erkannten ihre alten Freunde unter den Officiers und Matrosen, mit einer gegenseitigen Freude, die sich nicht leicht beschreiben läßt.«47 Anders als in Dusky-Bay, wo das Misstrauen der Einheimischen gegenüber den Entdeckern zu dominieren scheint, kommen Besucher und Besuchte auf Tahiti schnell ins Gespräch: »In weniger als einer Stunde«, notiert Forster »umgaben uns Hunderte von dergleichen Fahrzeugen in deren jedem sich ein, zwey, drey zuweilen auch vier Mann befanden. Ihr Vertrauen zu uns gieng so weit, daß sie sämmtlich unbewafnet kamen.«48 Auch auf den Marquesas-Inseln hält Forster fest: »So bald wir landeten, umarmten sie [die Insulaner, Y.M.] uns, wie die Neu-Seeländer, durch gegenseitige Berührung der Nasen, und fiengen sogleich an, Cocos-Nüsse und Hunde zum Verkauf an die Boote zu bringen.«49 Hier kommt es sogar zum Tausch der Namen zwischen Entdeckern und Insulanern: »Zum Zeichen der Freundschaft verwechselten sie ihre Namen mit den unsrigen, ein jeder von ihnen wählte sich nemlich einen Freund, dem er besonders zugethan war.«50 Neben den feierlichen Reden der einheimischen Könige oder Anführer gehören die gegenseitige Berührung mit der Nase und der Namentausch zu den wichtigsten Ausprägungsformen der Begrüßungszeremonien, die Forster im Südpazifik beobachtet. Dass diese zum Teil sonderbaren Gesten mehr als nur ein »Zeichen der Freundschaft« bedeuten, ist Forster erst später deutlich geworden, wie an seinem Kommentar über den Namentausch abzulesen ist: Dieser Gebrauch, durch gegenseitige Vertauschung der Namen, Freundschaft mit einem anderen zu erreichten, ist auf allen Inseln des Süd-Meeres, so viel wir deren bisher besucht hatten, eingeführt, und hat würklich etwas verbindliches und zärtliches an sich.51

Der Namenstausch stellt demnach keinen bloßen Akt eines freundlichen Empfangs dar. Er impliziert vielmehr das, was Nicholas Thomas zu Recht als »honorary ›insider‹ status« bezeichnet.52 Mit dem Namentausch gewähren die Insulaner den Europäern ein anerkanntes Gastrecht. Offenbar handelt es sich aus der Sicht der Insulaner um eine über den bloßen Akt der Begrüßung hinausreichende Aufnahme der fremden Besucher in die einheimische Gemeinschaft – ein Sachverhalt, der sich mit dem heutigen Begriff ›Integration‹ umschreiben ließe. Wichtig ist, dass auch die Insulaner durch die Annahme europäischer Namen versuchen, sich in die Fremden hineinzufühlen. Die Tatsache, dass diese Initiative von den Insulanern ausgeht, spricht für ihr hohes interkulturelles Bewusstsein. In solchen Begegnungen, bei denen der Identitätstausch inszeniert wird, kann man mit Urs Bitterli von »Kulturberührungen im Zeichen freundlicher gegenseitiger Annäherung« sprechen.53 Dabei dominiert die Freude über das Wiedersehen mit den »alten Bekann-

47 48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 266. AA II, S. 219. AA III, S. 36. AA II, S. 266. AA III, S. 222. Nicholas Thomas, »Preface« , S. xxxii. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 19.

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ten«, welche die Insulaner »mit den lebhaftesten Freundschaftsbezeugungen« empfangen.54 Forster geht sogar soweit, Tahiti als »unsre zwote Heimath« zu bezeichnen, da sich die Europäer von dieser Insel »die beste Aufnahme [...] versprechen konnten.«55 Auf Tahiti betont Forster über weite Teile seines Berichts, dass beide Parteien schnell miteinander vertraut werden. Man erkundigt sich danach, was sich in der Zwischenzeit zugetragen hat56, wobei die meisten Insulaner nach ihrem Landsmann Tupaya fragen, der mit Cook auf dessen erster Weltreise nach Europa gereist war. Dies fällt auch Cook auf: It was not untill the Evening of this day that any one enquired after Tupia […] little enquiry was made after Aotourou the man M. de Bougainville to[ok] away with him, but they were constantly asking after Mr. Banks and many others of the Gentlement and people that were with me last voyage.These people informed us that Toutaha, King of the greater Kingdom of Otahiete was kill’d in a battle which happen’d between the two Kingdoms about five months ago and that Otou was now the Reigning Prince.57

Cooks Aufzeichnung stimmt mit der Feststellung Forsters über die überaus positive Aufnahme der Europäer auf Tahiti überein: Diese Leute schienen sich des Capitain Cook’s zu erinnern, denn sie wandten sich an ihn und fragten nach Tupaya, dem Indianer von O-Taheitti, welchen er auf seiner vorigen Reise bey sich gehabt, und der bey des Schiffes Anwesenheit in Neu-Seeland noch am Leben gewesen war.58

Obwohl die Nachricht vom Tode Tupayas überall mit sichtlicher Bestürzung aufgenommen wird59, fällt Forster auf, dass die Begegnung und Annäherung von zwei Momenten geprägt werden. Einerseits herrscht auf beiden Seiten Neugier aufeinander und andererseits zeigt sich eine fast unübertroffene Gastfreundschaft seitens der Insulaner, die, so Forster, »unsre Leute mit allen ersinnlichen Freundschaftsbezeugungen auf[nahmen]. Der Capitain erwiderte solche durch Austheilung von mancherley Geschenken [...].«60 Nahezu überall, wo Europäer und Insulaner einander treffen, werden die neu geschlossenen Freundschaften durch Austausch von Geschenken unterstrichen: Der Capitain, welcher den neuen Mantel von rothen Boy selbst umgenommen hatte, zog solchen aus und überreichte ihn dem Manne, der so höchlich darüber erfreut war, daß er sogleich ein Pattu-Pattu oder eine kurze, flache Streit-Axt, von einem großen Fischknochen verfertigt, aus seinem Gürtel zog, und dem Capitain ein Gegengeschenk damit machte.61

54 55 56

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AA II, S. 293. AA III, S. 41. »Sie (die Insulaner, Y.M.) hatten sich an den Seiten des Schiffs herum gesetzt, sprachen von allerlei Dingen und machten sich durch Zeichen verständlicher, wenn es mit Worten nicht gelingen wollte. Wir hörten zu, und fanden, daß sie zum Theil frugen, wie es unsern Leuten seit ihrer letzten Abreise von hier ergangen sey« (AA II, S. 267). The Journals of Captain Cook. Prepared from the original manuscripts by John C. Beaglehole for the Hakluyt Society, 1955–67, hg.v. Philip Edwards. London 1999, S. 283. AA II, S. 182f. Vgl. ebd., S. 183. AA II, S. 199. AA II S. 136.

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Forster fasst diese Praxis mit den Worten zusammen: »Keiner kam mit leeren Händen, und daher ließen auch wir niemand unbeschenkt von uns.«62 Es gibt kaum einen Reisebericht über die Südsee, in dem die Gastfreundschaft der Tahitier nicht gepriesen wird. Überall, wo die Entdecker ankommen, werden sie grundsätzlich mit Geschenken empfangen: »Wir kamen nicht leicht bey einer Hütte vorbey« resümiert Forster, »wo man uns nicht genöthigt hätte, einzusprechen und etwas Erfrischungen anzunehmen; und die frohe Bereitwilligkeit, womit sie das angebotene würklich hergaben, war in der That allemal sehr rührend.«63 Vor diesem Hintergrund vergleicht Dumont d’Urville Tahiti sogar mit einer »hôtellerie toujours ouverte«64, wodurch ihm eine Charakterisierung der tahitischen Gastfreundschaft mittels eines treffenden Sprachbildes gelingt.

3.

Begegnung – interkulturelle Neugier – Interpretation

Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass sich die Begegnung zwischen Europäern und Insulanern nicht unidirektional, sondern vielmehr auf der Grundlage gegenseitiger Perzeption vollzieht, wobei zwei Kategorien zu dominieren scheinen, nämlich die interkulturelle Neugier (selten in feindlichen Situationen) und das gegenseitige Interesse: »Einige kamen«, so Forster, »um zu gaffen und begafft zu werden.«65 Doch Forster weist in offensichtlich eurozentristischem Duktus daraufhin, dass einigen Insulanern »an einem gewissen Grad von Aufmerksamkeit und Nachdenken fehlte, den man bey allen uncivilisierten Völkern vermißt«66, wodurch er das spezifisch wissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Entdecker andeutet. Allerdings lassen sich zahlreiche Situationen und Verhaltensweisen in seinem Reisebericht finden, die dem widersprechen: »[...] einige ergriffen unsre Hände«, schreibt Forster beispielsweise nach der ersten Ankunft auf Tahiti im August 1773, andre lehnten sich auf unsre Schulter, noch andre umarmten uns. Zu gleicher Zeit bewunderten sie die weiße Farbe unsrer Haut und schoben uns zuweilen die Kleider von der Brust, als ob sie sich erst überzeugen wollten, daß wir eben so beschaffen wären als sie.67

Die Neugier der Insulaner, die fast überall »durch den außerordentlichen Anblick eines europäischen Schiffes«68 ausgelöst wird, steigert sich ins Anthropologische. Der Europäer, der nicht nur durch seine Physiognomie, sondern auch durch die sichtbaren Zeugnisse seiner Kultur Fremdheit und Andersheit verkörpert, weckt bei den Einheimischen Interesse. So stellt Forster während einer spontanen Einladung bei einer tahitischen Familie fest:

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AA III, S. 101. Ebd., S. 69. Dumont d’Urville, Voyage pittoresque autour du monde. Paris 1834, S. 526. AA III, S. 15. AA II, S. 364. Ebd., S. 220. AA III, S. 14.

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Es schien, als hätten sie noch keinen Europäer in der Nähe gesehen, wenigstens fiengen sie sogleich an, unsre Kleidungen und Waffen neugierigst zu untersuchen [...] Man bewunderte unsre Farbe, drückte uns die Hände, konnte nicht begreifen, warum keine Puncturen darauf waren und daß wir keine lange Nägel hätten. Man erkundigte sich sorgfältig nach unsren Namen und machte sich eine Freude daraus, sie uns mehrmalen nachzusprechen. Dies kam aber, der indianischen Mundart nach, allemal so verstümmelt heraus, daß selbst Etymologisten von Profeßion Mühe gehabt haben würden, sie wieder zu errathen. Forster ward in Matara verändert; Hodges in Oreo; Grindall in Terino; Sparman in Pamani, und George in Teori.69

Neben der Hautfarbe, ziehen vor allem die »Kleidungen«, die »Waffen« und die »Namen« der Besucher die Aufmerksamkeit der Insulaner auf sich, weil sich diese offenkundigen Merkmale der Besucher von ihnen und ihrer Kultur unterscheiden. Daraus entwickelt sich eine interkulturelle Neugier, die Forster an speziellen Fragen der Einheimischen feststellt, so zum Beispiel bei jenem alten Mann, dem die Europäer im August 1773 einen kurzen Besuch abstatten: Ohne sein Haupt vom Stuhl zu erheben, that er verschiedne kleine Fragen an uns: Z. E. wie der Erih oder Befehlshaber des Schiffs hieße? wie das Land genannt werde aus dem wir kämen? Wie lang wir bleiben würden? ob wir unsre Frauens bey uns hätten? u.d.gl. Er schien zwar von alle dem schon durch seine Landsleute unterrichtet zu seyn, doch mochte er von uns selbst die Bestätigung ihrer Aussage hören.70

Die Fragen des alten Insulaners haben einen Erkenntniswert, den Forster möglicherweise deshalb nicht einschätzen kann, weil er den Insulanern grundsätzlich wissenschaftliche Neugier abspricht. Doch die Fragen des alten Insulaners zielen auf ein konkretes Wissen über die Europäer ab. Man kann diese Fragen zumindest im Ansatz als wissenschaftlich charakterisieren, auch wenn eine solche Kategorie von den Insulanern selbst nicht verwendet wird. Im Rückblick spricht Forster in diesem Zusammenhang von »ein paar Jungen [...], welche von dem unüberwindlichen Hange, fremde Länder zu sehn, hingerissen wurden, und sich nicht abweisen ließen.«71 Damit bestätigt er zumindest indirekt das proto-wissenschaftliche Interesse der Insulaner an der ihnen unbekannten europäischen Welt. Diese gegenseitige Neugier zeigt eine weitere Dimension im musikalischen Austausch. Während Cooks Aufenthalt auf Matavai-Bay im August 1773 stellt Forster bei den Insulanern eine besondere Begeisterung für die europäische Musik fest: Während dieser Unterredung spielte unser Bergschotte einige Stücke auf dem Dudelsack, zu unendlichem Vergnügen der Zuhörer, die über seine Music voll Verwunderung und Entzücken waren. König O-Tu insbesondere war mit seiner Kunst, die warlich sehr unbedeutend war, so ausnehmend zufrieden, daß er ihm ein großes Stück des gröbern Zeuges zur Belohnung reichen ließ.72

Bei einer weiteren Ende August 1773 datierten Begegnung mit dem König notiert Forster:

69 70 71 72

AA II, S. 245. H.i.O. Ebd., S. 247. AA V, S. 74. AA II, S. 273. H. i. O.

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Auf Sr. Majestät Verlangen mußte nun auch unser Bergschotte wieder auf dem Dudelsack spielen, und die geringfügige Kunst dieses Virtuosen war hier so würksam als Davids Harfe, deren harmonischere Töne Sauls Schwermuth zu vertreiben pflegen. Die gute Würkung der Music zeigte sich bald thätig. Der König ließ ein Schwein kommen, und schenkte es dem Capit. Cook; und bald nachher ließ er ein zweytes für Capitain Furneaux bringen.73

Die musikalische Darbietung der Europäer findet bei den Insulanern Anklang. Diese wiederum antworten mit ihren eigenen Liedern: Als wir mit unsern Liedern fertig geworden, sagten wir, die Reihe sey nun an ihnen; darauf stimmte einer ein sehr simples Lied an, welches harmonisch genug klang, auch, unserm Bedünken nach, weit mehr Melodie hatte, denn irgend eins von denen, die wir unter dem heißen Himmelsstrich im Südmeer gehört.74

Durch diese Beispiele versucht Forster zentrale Momente festzuhalten, welche die Reprozität in der Begegnung zwischen Europäern und Insulanern vor Augen führen. Zum einen betrachtet er die Musik als eine universelle, alle Völker verbindende menschliche Errungenschaft. Der ältere Forster geht sogar soweit, dass er den Insulanern die Fähigkeit zur eigenen Zivilisation zuspricht: »All this«, schreibt er im Zusammenhang mit den musikalischen Darbietungen der Insulaner, must convince us, that they [die Tonga-Insulaner, Y.M.] have more civilization than we at first outset think. Our Peotry, Music, Dramatic Performances, make a vast addition to the refinement of Civilization: but these Nations are not without their Songs, which seem to be well measured & adapted to their Music, & allways accompanied by Dances.75

Diese überraschenden Worte sind allerdings nicht apodiktisch gemeint, denn die als Beispiele herangeführten Lieder der Insulaner und der Europäer ermöglichen es auch, die kulturellen Unterschiede aufzudecken. Doch Georg Forster interpretiert diese Unterschiede so, dass sein eigener Anspruch auf Objektivität fragwürdig erscheinen muss. Er beurteilt die Musik der Einheimischen schlichtweg als »schlecht [...] und höchst einfach.«76 An anderer Stelle liest man: »Diese Musik, so wie diejenige, welche wir in der vorigen Nacht gehört, war eben nicht wohlklingend, auch nicht abwechselnd.«77 Gerade an solchen abschätzigen Bemerkungen, auf die der Leser der Reise um die Welt oft stößt, zeigt sich bei Forster die Schwierigkeit, sich einer »fremden« Kultur neutral und objektiv zu nähern. Immer wieder durchscheinen europäische Maßstäbe – so auch bezüglich der Musik der Insulaner – als Beurteilungskriterien der fremden Kultur, deren Eigenart er aber dadurch zumindest partiell verfehlt. Selbst wenn Forster hin und wieder Bemerkungen wie »der Geschmack der Menschen ist unendlich verschieden«78 in seinen Text einstreut, so bricht immer wieder das dialektische Moment in seiner eurozentristischen Perspektive durch, die sich aus dem

73 74 75 76 77 78

Ebd., S. 292. Ebd., S. 248. The Resolution Journal III, S. 396. AA II, S. 193. AA III, S. 176. Ebd., S. 173.

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Bedürfnis nach Hierarchie in der Ordnung der Kulturen erklären lässt. Ähnliches lässt sich über den älteren Forster sagen. Er relativiert die Schönheit der Insulanerinnen gegenüber derjenigen der Europäerinnen mit der absurden Bemerkung: But after all, what I have said in favour of both kinds of beauties, what are their charms when compared with those of our European fair ones? Among which the Brittish ones, no doubt, deserve the first rank.79

Hier wird klar: Durch den Versuch, die Insulaner vorurteilsfrei zu beschreiben und gleichzeitig an den europäischen Normen festzuhalten, hantieren die beiden Forsters mit einer Ambivalenz, die für ihr interkulturelles Denken strukturbildend ist und aus der sie nur sporadisch ausbrechen. Sowohl im Hinblick auf die körperliche als auch hinsichtlich der musikalischen Schönheit werden, wie bereits angedeutet, subjektive Maßstäbe europäischer Ästhetik angelegt, was letzten Endes prägende eurozentristische Züge in der Wahrnehmung der südpazifischen Kultur durch die Besatzungsmitglieder der Forschungsexpeditionen vor Augen führt. Gerhard Pickerodt spricht im Hinblick auf den älteren Forster daher von einer »Dialektik von sinnlichen Bedürfnissen und zivilisatorischen Ansprüchen, die einander wechselseitig bedingen und fortentwickeln.«80 Abgemildert, aber keineswegs überwunden, wird diese Dialektik nur dort, wo Forster sich explizit um neutrale Aussagen bemüht, teils wegen der offensichtlichen Unzulänglichkeiten der europäischen Zivilisation, teils wegen seiner Bemühung um die Überwindung tradierter Vorurteile. Das zeigt sich etwa, wenn er darauf verweist, dass die Tahitier »in Ansehung der Neugier, eben so arg, als die civilisirteren Völker« seien.81 Diese wohlwollende Haltung lässt sich nicht zuletzt an jener poetischen Skizze ablesen, die er der europäisch-südpazifischen Begegnung in folgendem Dialog widmet: Imiroa. Weh! was ist das? Du hast ja einen wehen Finger! Teori. Der Nagel war gequetscht; das wird wieder besser. Imiroa. Sieh! meine Nägel sind alle glatt und lang. Warum sind deine so kurz? Bist du kein Freigeborner? Teori. Tuti ist mein Oheim. Bei uns beschneidet sich jedermann die Nägel; der König selbst. Imiroa. (zu ihrem Vater). Er ist Tuti’s Neffe! – Ich wußte das nicht, lieber Teori. Deine Hand ist auch so weiß, und meine so gelb, und du hast keine solche schwarze Pünktchen drauf. Bist du noch nicht tattauirt? Sieh, ich bin es schon. Teori. Keiner von uns allen ist es, er sey jung oder alt. Aber deine Hand ist dennoch schön. Die langen niedlichen Finger! Weißer bist du auch als deine Landsmänninnen. Das Tattauiren ist keine so üble Erfindung; eure Haut sieht dabey noch einmal so weiß aus: zumal hier die schöne Hüfte mit dem breiten, schwarzen Streif. Das that wohl weh?82

Das imaginäre Gespräch, in dem Forster den Europäer namens Teori83 und den Insulaner Imiroa auftreten lässt, ist die poetische Verarbeitung der interkulturellen Erfahrungen

79 80 81 82 83

The Resolution Journal III, S. 390. Gerhard Pickerodt, Aufklärung und Exotismus, in: Thomas Koebner (Hg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt/M. 1987, S. 121–137, hier S. 135. AA III, S. 61. AA IV, S. 115f. H.i.O. So nennen die Insulaner Georg Forster, weil sie den Vornamen »Georg« nicht aussprechen

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in der Südsee, die nicht nur die gegenseitige Neugier, sondern auch das Bewusstsein der kulturellen Differenz schärft. Wichtig dabei ist vor allem, dass in dem inszenierten Dialog die gegenseitige Wahrnehmung der Fremdheit deutlich zum Ausdruck kommt. Doch so sehr Forster darin zu folgen ist, dass Europäer und Insulaner eine gewisse Ähnlichkeit in der gegenseitigen Neugier demonstrieren, was eigentlich als eine anthropologische Grundkonstante anzusehen ist, so wenig ist davon »eine Bestätigung menschlicher Gleichheit« abzuleiten, wie es etwa Helmut Peitsch suggeriert84 und so wenig kann auch von einer Versöhnung der Dialektik im Sinne Pickerodts85 gesprochen werden. Indem Forster den Insulanern vorhält, »ihr angebohrnes flatterhaftes Wesen [ließ] nicht zu, länger als einen Augenblick bey einerley Gegenstande zu verweilen«86, weist er implizit darauf hin, dass es sich bei den Europäern um eine ethnographische Begegnung handelt, bei der die Einheimischen als Erkenntnisobjekte im Sinne Fink-Eitels verwertet werden.87 Dagegen werden die Insulaner tendenziell als eine Menschengruppe porträtiert, die ihre Aufmerksamkeit nicht über die unmittelbare Faszination gegenüber Europäern hinaus zu richten wissen: Am 12ten suchen wir dem Könige mancherley Veränderungen zu machen. Wir feuerten unsre scharf geladenen Canonen ab, so, daß die Kugeln und Kartetschen über das Rief ins Meer schlugen, welches für ihn und einige Tausend andere Zuschauer ein sehr angenehmes und bewunderungswürdiges Schauspiel war. Bey Einbruch der Nacht ließen wir Raketen und Luftkugeln steigen, worüber sie noch mehr Vergnügen und Erstaunen bezeigten. Sie hielten uns für ganz außerordentliche Leute, und wussten nicht, was sie dazu sagen sollten, daß wir Blitze und Sterne nach Belieben hervorbringen könnten.88

Besonders in solchen Begegnungssituationen, die tatsächlich zu einer Kontaktaufnahme führen, lässt Forster erkennen, dass Europäer von Insulanern entweder als mächtige Freunde bestaunt und bewundert oder, wie später analysiert wird, als gefährliche Eindringlinge gefürchtet und bekämpft werden.89 Die Art und Weise, wie sich die Reaktio-

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88 89

können. Forster hat auf die Verstümmelung der europäischen Namen durch die Insulaner zum Teil ironisch hingewiesen. Helmut Peitsch, »Noch war die halbe Oberfläche der Erdkugel von tiefer Nacht bedeckt«. Georg Forster über die Bedeutung der Reisen der europäischen »Seemächte« für das deutsche »Publikum«, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006, S. 157–174, hier S. 162. Gerhard Pickerodt, Aufklärung und Exotismus, S. 135. AA II, S. 245. Hinrich Fink-Eitel unterscheidet vier Tendenzen bei europäischen Annäherung an den Fremden, nämlich die »entfremdende«, die »verwertende«, die »idealisierende« und die »verstehende«. Letztere korrespondiert mit Forsters Einstellung zu den Insulanern. Vgl. Hinrich Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg 1994, S. 106f. AA III, S. 81. In ihrem Buch Das war kein Bruder. Das Bild des Weissen aus der Sicht ehemals kolonisierter Völker. Basel 1982, weisen Ruth-Gaby Vermot, Rudolf Hadorn allgemein darauf hin, dass die frühen Kulturbegegnungen ausschließlich aus der Perspektive der Entdecker vermittelt wurden, so dass das Verhalten der Einheimischen nicht als eigenständiger Diskurs auch in der späteren Forschung nur am Rande thematisiert sei. Vgl. ebd. S. 9f.

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nen auf einander gestalten, hängt nicht zuletzt auch von gegenseitigen Erwartungen ab, die von Insel zu Insel, aber auch in unterschiedlichen Begegnungssituationen zum Teil erheblich variieren. Dennoch spricht die Tatsache, dass Forster solche Momente in aller Ausführlichkeit erwähnt und ihren Ablauf analysiert, für seine Bemühung, die Begegnung zwischen Europäern und Insulanern als einen Prozess zu reflektieren, bei dem ausschließlich der europäische Betrachter die intellektuelle Fähigkeit mitbringt, Affinitäten und Unterschiede gegenüber der neuen Kultur zu objektivieren:. »Einem Perser«, schreibt er in einem späteren Aufsatz, um dieses exklusive Privileg des Europäers noch einmal hervorzuheben, »würde es vielleicht unglaublich scheinen, dass wir Europäer in einer Entfernung von einigen tausend Meilen von Dingen, die den Ort seines Aufenthalts betreffen, vollständiger und genauer unterrichtet sind, als er selbst.«90 Es sind gerade solche Positionen, die aus heutiger südpazifischer Perspektive als anmaßend besonders scharf kritisiert werden.91 Sie sind aber charakteristisch für Forsters dialektische Denkweise, die sich nicht darauf beschränkt, kulturelle Differenz zu markieren, sondern meistens ein hierarchisches Modell zugunsten Europa daraus ableitet. Diese Selbsteinschätzung der Europäer gegenüber fremden Kulturen belastet, ja unterminiert eine gleichberechtigte Begegnung zwischen Entdeckern und Insulanern, sie ist aber nicht allein ausschlaggebend für das Gelingen oder das Scheitern der Kulturbegegnungen während der Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts. Als besondere Herausforderung erweist sich ebenfalls die damalige Praxis der interkulturellen Kommunikation und Verständigung.

4.

Strategien interkultureller Kommunikation und ›Critical incidents‹

In der Forschungsliteratur zum Thema interkulturelle Kommunikation92 herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass unter Kommunikation eine sprachlich oder symbolisch bzw. semiotisch vermittelte Interaktion93 zu verstehen ist, bei der kulturübergreifende Bedeutungen und Sinndeutungen ›ausgehandelt‹ werden. Die Frage, wie sich interkulturelle Kommunikation im Kontext der Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts gestaltet,94 betrifft ein brisantes Thema, dem die bisherige Forsterforschung kaum Beachtung geschenkt hat. Auch die vorzügliche Studie von Karl. H. Rensch95 thematisiert hauptsächlich die vergleichenden Sprachforschungen der beiden Forsters.

90 91 92

93 94 95

AA XI, S. 114. Vgl. Paul Tapsell, Neuseeland-Begegnungen der Maori mit Cook, S. 28. Einen exemplarischen Überblick über die Einführungsliteratur in die Interkulturelle Kommunikation bieten Kurt Luger, Rudi Renger (Hg.), Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien. Wien 1994. Eine ausführliche Definition des Konzeptes liefert Herbert Blume, Symbolic Interactionism. Berkeley 1986. Vgl. Albert Gerdes, Die Mühen des Weges. Notizen zur Kultur und Geschichte des Reisens, in: Thomas Theye (Hg.), Der geraubte Schatten. München 1989, S. 164–185. Karl H.Rensch, The Language of the Noble Savage: The Linguistic Fieldwork of Reinhold and

188

Konkret fassbar wird das Problem der interkulturellen Kommunikation, wenn man Forsters Reisebericht darauf hin überprüft, welche kommunikativen Dispositionen und Strategien Europäern und Insulanern zur Verfügung stehen und welche Schlussfolgerungen sich im Hinblick auf das »Wechselverhältnis von Fremdem und Eigenem«96 ableiten lassen. Hier muss eingangs betont werden, dass sich Forster und sein Vater – vielleicht mehr als jeder andere Mitreisende – den weitreichenden Problemen der Kommunikation zwischen Europäern und Insulanern widmen und in ihren Schriften bewusst versuchen, diese Kommunikationsprobleme in ihren facettenreichen Erscheinungsformen zu reflektieren. Forster weist mit Recht darauf hin, dass die Begegnung mit den Bewohnern der Südseeinseln nicht primär aus wissenschaftlichen Interessen, sondern zunächst aus einem rein kommunikativen Bedürfnis über die Kultur- und Sprachgrenzen hinweg eine besondere Herausforderung darstellen, »weil keiner in des andern Sprache [...] erfahren war.«97 Dafür gibt er in seinem Cook-Essay eine ebenso einfache wie einleuchtende Erklärung: Der erste Gegenstand des eigenen Nachforschens oder der Nachfrage bey den Einwohnern, war ein bequemer Platz, wo man die ledigen Wasserfässer mit frischem Trinkwasser füllen könnte. Die Pantomime leistete bey solchen Gelegenheiten wesentliche Dienste, bis man die nothwendigsten Wörter der Landessprache erlernt hatte. Das Bedürfniß des Essens und Trinkens durch Zeichen zu verstehen zu geben, ist so leicht und dem Mißverstande so wenig unterworfen, daß alle Conversation am Lande gemeiniglich davon anfängt.98

Diese Erfahrungen öffnen den Blick darauf, dass die Kommunikation mit den Einheimischen allein schon deshalb unvermeidbar ist, weil die Europäer auf die lokalen Lebensmittel angewiesen sind. Doch in Ermangelung einer gemeinsamen Sprache sehen sich Reisende und Einheimische bei vielen Begegnungssituationen vor große kommunikative Probleme gestellt, bei deren Lösung sie sich zuerst mit der Zeichensprache behelfen: [S]obald die Anker ausgeworfen waren, luden wir die Einwohner unter allerley FreundschaftsZeichen [...] ein, zu uns an Bord zu kommen. Sie wagten es aber nicht eher, als bis sie dicht am Schiff von ihren Canots aus, uns einige Pfefferwurzeln, zum Zeichen des Friedens, wie auf den Societäts- und freundschaftlichen Inseln, dargeboten hatten [...].99

Durch die Zeichensprache, auf welche Europäer und Insulaner in verschiedenen Begegnungssituationen als Verständigungsmittel zurückgreifen müssen, wird Forster auf das Phänomen der nonverbalen Kommunikation in kulturellen Begegnungssituationen aufmerksam. Sein Kommentar nach einem gescheiterten Annäherungsversuch auf DuskyBay Ende April 1773 ist deshalb aufschlussreich:

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Georg Forster in Polynesia on Cook’s Second Voyage in the Pacific 1772–1775. Canberra 2000. Karl Esselborn, Dialog, in: Alois Wierlacher u. a. (Hg.), Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar 2003, S. 214–221, hier S. 218. Dieser Aufsatz ist auch im Hinblick auf die Erläuterung der Dialog-Konzepte als Rahmenkategorie interkultureller Germanistik aufschlussreich. AA II, S. 133. AA V, S. 266f. AA III, S. 14.

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Es war mir bei dieser Gelegenheit besonders auffallend, dass auch diese Nation, gleich wie fast alle Völker der Erden, als hätten sie es abgeredet, die weiße Farbe und grüne Zweige für Zeichen des Friedens ansieht, und daß sie, mit einem oder dem andern versehen, den Fremden getrost entgegen gehen.100

Auf die Beobachtung, dass alle Nationen das Schwingen der grünen Zweige oder einer weißen Fahne »als Merkmale des Friedens«101 verstehen, reagiert Forster offenbar überrascht. Was er aber in Wirklichkeit wahrnimmt, sind jene »interkulturellen Invarianten«, die Elmar Holenstein als Grundlage der interkulturellen Kommunikation analysiert hat.102 Tatsächlich scheinen weitere Beobachtungen, die Forster etwa auf der Insel Mallicolo macht, die von Holenstein vertretene Theorie von sprachlichen Universalien zu bestätigen: »Sie [die Mallicolesen, Y.M.] begriffen unsre Zeichen und Gebehrden so schnell und richtig, als ob sie schon wer weiß wie lange mit uns umgegangen wären.«103 Angesichts dieses Faktums neigt Forster dazu, die Einheit des Menschengeschlechts vor dem babylonischen Sprachgewirr anzunehmen, denn »[e]ine so durchgängige Übereinstimmung«, stellt er auf Dusky-Bay fest, muß gleichsam noch vor der all der allgemeinen Zerstreuung des menschlichen Geschlechts getroffen worden seyn, wenigstens siehet es einer Verabredung sehr ähnlich, denn an und für sich haben weder die weiße Farbe, noch grüne, eine selbständige unmittelbare Beziehung auf den Begrif von Freundschaft.104

Weitere Erfahrungen solcherart scheinen Forster in dieser Meinung zu bestätigen. Exemplarisch ist jene Szene bei Cooks letztem Aufenthalt auf Neuseeland im Oktober 1774. Hier schließen Cook und seine Begleiter aus der Gestik der Insulaner, dass die ganze Mannschaft eines europäischen Schiffs von den Einheimischen getötet und gefressen worden sei. Die Europäer denken automatisch an die Mitglieder des Begleitschiffs »Adventure« (unter der Leitung von Kapitän Tobias Fourneaux), das im Nebelsturm den Kontakt zur Resolution verloren hatte und ein Jahr früher von der Weltreise zurückgekehrt war. Auf die Gebärden der Insulaner hin starten die Europäer einen in kommunikativer Hinsicht abenteuerlichen Versuch, um jeden Zweifel aus der Erzählung der Einheimischen auszuräumen: Diesen Endzweck zu erreichen schnitten wir zwey Stückchen Papier in Gestalt zweyer Schiffe aus, davon das eine die Resolution, das andre die Adventure vorstellen sollte. Alsdenn zeichneten wir den Plan des Havens auf einem größeren Papier, zogen hierauf die Schiffe so vielmal in- und aus dem Haven, als wir wirklich darinn geankert hatten, und wieder abgesegelt waren, bis zu unsrer letzten Abreise im November. Nun hielten wir eine Zeitlang ein; und fiengen sodann an, Unser Schiff nochmals hereinzuziehen; hier unterbrachen uns aber die Wilden, schoben unser Schiff zurück und zogen das Papier, welches die Adventure vorstellte, in den Haven und wiederum heraus, wobey sie zugleich an den Fingern zählten, seit wie viel Monden dieses Schiff

100 101 102 103 104

AA II, S. 155. AA III, S. 31. Elmar Holenstein, Menschliches Selbstverständnis: Ichbewußtsein, intersubjektive Verantwortung, interkulturelle Verständigung. Frankfurt/M. 1985, S. 104. AA III, S.165. H. i. O. AA II, S. 155.

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abgesegelt sey. Auf solche Art erfuhren wir, mit zwiefachem Vergnügen, nicht nur, daß unsre ehemalige Reisegefährten gewiß von hier abgesegelt wären, sondern auch, daß die Einwohner mit einem Grad von Scharfsinn begabt sind [...].105

Durch diese kommunikative Meisterleistung versucht Forster seinen Leser für das zu sensibilisieren, was Stuart Schwartz mit dem sinnvollen Terminus »implicit understanding«106 beschrieben hat. Forster erkennt also, ganz im Sinne Schwartz und Holensteins, dass sprachlich und kulturell einander fremde Völker durchaus semiotisch miteinander kommunizieren können. Folgt man Bernd Müller-Jacquier, so ist die »Entschlüsselung von Zeichenbedeutungen«, die Forster im obigen Zitat beschreibt, Ausdruck der interkulturellen Kompetenz auf beiden Seiten.107 Doch die Kommunikationsresultate, die Forster im Verlauf unterschiedlicher Kommunikationsprozesse dokumentiert, führen auch die Grenzen der »Zeichendeutungskompetenz«108 vor Augen. Zunehmend wird der Leser von Forsters Reise um die Welt mit der Erkenntnis konfrontiert, dass Zeichen und Symbole keine interkulturelle Kommunikation garantieren, weil sie nicht anthropologisch fundiert, sondern zutiefst kulturell verankert sind und daher nur bedingt eine universell applizierbare Grundlage von Bedeutungssystemen abgeben können. Zahlreiche Beispiele lassen sich anführen, an denen Forster erkennt, dass eine ausschließlich semiotisch organisierte Kommunikation nur dort stattfindet, wo sich die Interpretation der Zeichen desselben kulturellen Bezugsystems bedient: Da das Boot, in welchem ich mich befand, den Wilden am nächsten stand, so rief Capitain Cook, dem darinn commandirenden Officier zu, daß er ans Land steigen, und ihre dargebothne Freundschaft annehmen solle [...] Ob der Officier, Capitain Cooks Meynung nicht verstand […], will ich dahin gestellt seyn lassen. Genug, wir landeten nicht, und die armen Leute, die sich allem Anschein nach, nichts Gutes von Unbekannten versprachen, die ihre Friedens-Anerbietungen gering schätzten, flohen eiligst in den Wald zurück.109

An diesem Beispiel wird ersichtlich, zu welchen Folgen unterschiedliche Reaktionen auf kulturell kodierte Zeichen führen können. Da Zeichen, wie Müller-Jacquier feststellt, »auf kulturell verschiedenen Konventionen beruhen«110, verbirgt sich in jedem Zeichen ein ungeahntes Missverständnispotential. Daher erweist sich eine semiotisch getragene interkulturelle Kommunikation als besonders prekär. Dies lässt sich an einer weiteren, von Forster sorgfältig dokumentierten Begegnung im April 1773 exemplifizieren. Auf die Zeichen der Freundschaft, welche die Europäer den Einheimischen geben, achten

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AA III, S. 347, H. i. O. Stuart B. Schwartz (Hg.), Implicit Understanding. Observing, Reporting, and Reflecting on the Encounters Between Europeans and Other Peoples in the Early Modern Era. Cambridge 1994. Bernd Müller-Jacquier, Interkulturelle Kompetenz als Entschlüsselung von Zeichenbedeutungen, in: Der Deutschunterricht 5 (2008), S. 21–35. Ebd. S. 33. AA II, S. 155. Bernd Müller-Jacquier, Interkulturelle Kompetenz als Entschlüsselung von Zeichenbedeutungen, S. 33.

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jene nicht und nehmen entsprechend die damit verbundene Einladung, ans Schiff zu kommen, nicht an: Da solchergestalt nichts vermögend war sie an das Schiff zu bringen, so ruderten verschiedne Officiere und Seeleute zu ihnen herüber. Die Wilden nahmen sie mit treuherzigem Wesen auf, aber alle Versuche durch Zeichen mit ihnen zu reden, waren vergebens, denn keiner von beyden Theilen konnte sie dem andern verständlich genug machen.111

Interpretiert man die Haltung der Einheimischen nicht als eine vorgeschobene Vorsichtsmaßnahme, sondern im Sinne Forsters, dann lässt sich daraus schließen, dass fehlende Kenntnisse der jeweiligen Zeichensprache eine erfolgreiche kommunikative Annäherung zwischen Europäern und Insulanern verhindern. All diese Kommunikationsschwierigkeiten lassen sich mit dem Konzept ›Critical incidents‹ erfassen, das in der modernen Interkulturalitätsforschung eine zentrale Rolle spielt. Gemeint ist »an intercultural interaction or repeated experience which one or all parties to the communication experienced as ineffective and/or inappropriate and/or unsatisfying.«112 ›Critical incidents‹ kommen nicht nur in nahezu allen Begegnungssituationen zwischen Entdeckern und Insulanern vor, sie sind auch unterschiedlich ausgeprägt und haben deshalb jeweils eine unterschiedliche Auswirkung auf die Beteiligten. Besonders signifikant ist deshalb die Beobachtung, wie Europäer beim Essen des mitgebrachten Pökelfleisches von Neuseeländern, die in damaligen Entdeckungsberichten als Inbegriff des Kannibalismus gelten113, nun selbst für Menschenfresser gehalten werden, zumal es den Entdeckern nicht gelingt, die Mutmaßungen der Einheimischen kommunikativ zu beseitigen: Die Indianer begannen bey Erblickung desselben sehr laut und ernstlich unter einander zu reden, und unsre Leute mit Erstaunen und Merkmahlen von Abscheu anzusehn; endlich gingen sie gar weg, und gaben durch Zeichen zu erkennen, daß ihre fremden Gäste ohnfehlbar Menschenfresser seyn müssten. Der Offizier suchte diesen häslichen Argwohn von sich und seinen Cameraden abzulehnen; allein, aus Mangel der Sprachfertigkeit wollte es ihm nicht gelingen.114

Die Ironie dieser Reaktion liegt wohl darin, dass die Insulaner zumindest unbewusst das damals in Europa sehr populäres Klischee umkehren. Nun sind es die Maorie, die glauben, europäischen Kannibalen begegnet zu sein.115 Doch nicht überall haben solche interkulturellen Missverständnisse einen harmlosen Ausgang wie in dieser Szene. Bei

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Ebd., S. 142. Helen Spencer-Oatey, Peter Franklin, Intercultural Interaction. A Multidisciplinary Approach to Intercultural Communication. London 2009, S. 221. Dies begründet die Suche der Mannschaft Cooks nach entsprechenden Beweisen. Forster beschreibt sehr ausführlich, was Europäer alles tun, um diese Beweise herbeizuführen Vgl. AA II, S. 403f. AA III, S. 321. Gundolf Krüger meint, dass die Europäer durch das ›Experimentieren‹ mit dem Thema Kannibalismus gerade auch während der zweiten Weltreise Cooks zu solchen Missverständnissen beigetragen haben. Vgl. Gundolf Krüger, Konflikte, tragische Momente und Gewalt, in: Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hg.), James Cooks und die Entdeckung der Südsee. München 2009, S. 103–107, insb. S. 104f..

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Cooks Landung auf der Insel Nihau, führt die defizitäre Kommunikation zwischen Europäern und Insulanern zu Fehleinschätzungen mit tragischen Folgen: Viele hunderte der Einwohner versammelten sich am Strande, ihn zu empfangen, ja mit einemmale sprangen sie schaarenweis ins Wasser, packten das Boot an, und schienen im Taumel ihrer Freude sogar Lust zu haben, es sammt der ganzen Ladung auf ihren Schultern herauszutragen. Denen im Boote mochte bey dieser etwas zweydeutigen Höfflichkeit nicht wohl zu Mute zu seyn; sie klopften daher den rüstigen Insulanern, mit den Rudern derb auf die Finger, und als dies nicht helfen wollte, glaubte der Lieutnant einen totschiessen zu müssen. In der That hatte der Schuß alles erwünschte Würkung; die Leute verliessen das Boot und schleppten den Leichnam ihres armen Landsmanns in den Wald.116

Diese Szene erhellt exemplarisch die Tragik der eingeschränkten oder fehlenden interkulturellen Kommunikation während der Entdeckungsreisen. Doch parallel zur nonverbalen Kommunikation bemühen sich beide Parteien um eine verbale Verständigung. Nicht übersehen darf man deshalb, dass Forster diesen Bemühungen einen breiten Raum in seinem Reisebericht gibt: Charakteristisch ist die äußerst positive Reaktion der Insulaner auf das Interesse der Europäer, ihre Sprachen zu erlernen: Da sie merkten, daß wir Lust hätten ihre Sprache zu lernen, weil wir uns nach der Benennung der gewöhnlichsten Gegenständen erkundigten [...] so gaben sie sich viel Mühe uns zu unterrichten, und freuten sich, wenn wir die rechte Aussprache eines Wortes treffen konnten.117

In seinem Cook-Aufsatz erläutert Forster diese Methode näher: Beynahe immer nennt der Insulaner, sobald er begreift was man von ihm fordert, das Verlangte, z. B.Wasser, oder die Frucht am Baume, auf die man hindeutet, oder das Schwein welches unweit seiner Hütte umher läuft, mit Namen; und für Leute, denen alles daran liegt, sich verständlich zu machen, gehen seine Ausrufungen nicht verloren. Sobald er seiner Seits durch einige Beyspiele dieser Art inner wird, daß die Fremden seine Töne nachsprechen und zu verstehen suchen, deutet er auf die Menge der Gegenstände um sich her, und nennt einen jeden mit dem in seiner Sprache üblichen Worte.118

Die Insulaner ihrerseits zeigen sich nach Forsters Darstellung an der englischen Sprache ebenfalls sehr interessiert, so dass sich so etwas wie eine gemeinsame Bereitschaft zur interkulturellen Verständigung auf beiden Seiten herauskristallisiert: Bey ihrer angebohrnen Neigung zum Plaudern, geriethen wir gleich ins Gespräch mit einander und ließen uns in ihrer Sprache Unterricht geben. Sie wunderten sich, daß wir die Wörter so schnell ins Gedächtnis faßten, und schienen eine Weile nachzudenken, wie es zugehen mögte, daß man den Klang der Worte durch Bleystift und Papier ausdrücken könne. So emsig sie einerseits waren, uns ihre Sprache zu lehren; so neugierig waren sie anderer Seits auch, etwas von der unsrigen zu lernen, und sprachen alles was wir ihnen davon vorsagten, mit bewundrungswürdiger Fertigkeit ganz genau nach.119

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AA II, S. 81. Ebd., S. 220. AA V, S. 267. AA III, S. 169. H. i. O.

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Trotz dieser Reprozität betont Forster den für sein dialektisches Denken bezeichnenden Unterschied, dass die Insulaner beim Erlernen der englischen Sprache kaum Fortschritte machen, während die Europäer die Sprache der Einheimischen schneller lernen würden. Dafür liefert er aber eine biologische Erklärung, die vielmehr sein asymmetrisches Denkmodell sichtbar macht. Er exemplifiziert diese Erklärung pars pro toto an dem Tahitier O-Mai, den Kapitän Fourneaux mit nach England genommen hatte: Seine Sprache, die keine rauhen Mitlauter hat, und in welcher sich alle Worte mit einem Vocal endigen, hatte seine Organe so wenig geläufig gemacht, daß er ganz unfähig war, die mehr zusammengesetzten englischen Töne hervorzubringen.120

Für Forster handelt es sich dabei um einen »physische[n] oder vielmehr Gewohnheitsfehler«121, der die Insulaner daran hindert, die englische Sprache schnell oder überhaupt zu erlernen. Demgegenüber hebt er die Fortschritte der Europäer beim Erlernen der Südsee-Sprachen besonders hervor. So notiert er beispielsweise nach einem kurzen Aufenthalt auf der Insel Tanna (Vanuatu) und nach flüchtigen Kontakten mit den dortigen Einwohnern: »Es war uns um Kenntniß ihrer Sprache zu thun, und wir lernten auch würklich eine Menge neuer Wörter.«122 Im Gegensatz zu seinen Mitreisenden beschränkt sich Forster nicht darauf, Sätze »aus den Wörterbüchern voriger Reisenden«123 situativ herzusagen. Sein Interesse gilt neben dem elementaren Bedürfnis, mit den Insulanern ins Gespräch zu kommen, besonders der Grammatik der ihm fremden Sprache, deren Bau und Funktionsweise sowie dem Verhältnis zu den Sprachen der benachbarten Inseln.124 Der ältere Forster notiert in seinem Journal über die Sprache der Tonga-Insulaner: Their language is only in a few words similar to that of the isles […] but I understood a few words, on account of the similarity & knowledge of the Dialects of the Language in all the Isles, which I studied very much, in order to form an Idea of them during the short time of our stay amongst them[…].125

Doch so sehr dieser wissenschaftliche Ansatz Georg Forster und seinen Vater von den übrigen Mitgliedern der Forschungsexpedition abhebt, so wenig gelingt es ihnen, die interkulturellen Kommunikationsprobleme ausreichend zu bewältigen. Forster ist sich der Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Beschreibung einer Sprache und der Fähigkeit, sie tatsächlich zu sprechen, durchaus bewusst. Er ruft ins Bewusstsein, dass das, was die Entdecker vor dem Hintergrund der Kürze ihres Aufenthaltes objektiv lernen können, nicht über bestimmte eingespielte Formeln oder einzelne Wörter hinausgeht. Sogar auf Tahiti, wo der Umgang zwischen Europäern und Insulanern nahezu normal erscheint, gibt Forster im August 1773 offen zu:

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AA II, S. 15. Ebd. AA III, S. 212. AA II, S. 220. Karl H. Rensch, The Language of the Noble Savage, S. 17 The Resolution Journal III, S. 379.

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Ohnerachtet wir uns seit unserm Hierseyn schon viel Mühe gegeben hatten die Sprache zu erlernen, so waren wir doch noch nicht weit darinn gekommen und mußten daher Verzicht auf das Vergnügen thun, welches uns die Unterhaltung mit diesen glücklichen Leuten ohne Zweifel gewähret haben würde. Einzelne Wörter und stumme Pantomime war alles, wodurch wir uns ausdrücken konnten.126

Zwar gehören Forster und sein Vater zu den ersten Südsee-Reisenden, die auf der Grundlage der vergleichenden Analyse der verschiedenen Südseesprachen zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die meisten dieser Sprachen Dialekte des Tahitischen darstellen, doch in dieser Frühphase der Erforschung der Sprachen der Südsee kommen sie nicht nur zu wegweisenden Ergebnissen, sie stoßen auch auf große Ungereimtheiten. So bemerkt Forster beispielsweise über die Einheimischen, die er auf der von Quiros als Tierra del Espritu Santo bezeichneten Insel trifft: »Wir redeten sie verschiedentlich an, und sie antworteten etlichemale, doch verstand keiner den andern.«127 Dafür liefert er folgende Erklärung: »Die Sprachen von Mallicollo und Tanna waren diesen Leuten entweder unbekannt, oder wenigstens, so als wir sie aussprachen, unverständlich.«128 Das interkulturelle kommunikative Problem der Europäer liegt tatsächlich aber nicht nur in der unzureichenden Beherrschung der Südseesprachen. Eine genaue Lektüre der Reise um die Welt macht deutlich, dass die Europäer die kulturellen und kommunikativen Standards der Südseeinseln nicht beherrschen. Deshalb führt ihre Interpretation kritischer Interaktionen (Critical incidents) in der Begegnungssituation oft zu Missverständnissen und, wie wir noch genauer sehen werden129, zu blutigen Auseinandersetzungen. Andererseits haben die Entdecker weder die Zeit noch die Mittel, um jene interkulturellen kommunikativen Strategien zu entwickeln, auf denen das von Bernd Müller Jacquier entwickelte Konzept der »Linguistic Awarness of Cultures« basiert.130 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die interkulturelle Kommunikation zwischen Europäern und Insulanern, wie sie Forster während seiner Weltreise beschreibt, einen neuralgischen Punkt in den Südseefahrten des 18. Jahrhunderts darstellt. Sie besteht aus einer Mischung verschiedener Mittel, die zwar den notwendigen Umgang miteinander erlaubt, eine interkulturelle Verständigung aber nur im Ansatz ermöglicht. Folglich bleibt der Raum für gravierende interkulturelle Missverständnisse viel größer. Einzig der Geschlechtsverkehr zwischen Insulanerinnen und europäischen Seeleuten verlief nach übereinstimmenden Berichten ohne Verständigungsschwierigkeiten.

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AA II, S. 246. AA III, S. 287. Ebd., H. i. O. Vgl. unten S. 208. Vgl. Bernd Müller-Jacquier, Lingusitic Awarness of Cultures. Grundlagen eines Trainingsmoduls, in: Jürgen Bolte (Hg.), Studien zur internationalen Unternehmenskommunikation. Waldsteinberg 2000, S. 20–49.

195

5.

Kulturelle Heterotopien – Anamnese – Ungleichzeitigkeit

Im dritten Kapitel der vorliegenden Untersuchung wurde erläutert, dass der vorherrschende Alteritätsdiskurs im Europa des 18. Jahrhunderts, wie er mitunter auch in Forsters Reise um die Welt Niederschlag findet, darauf abzielt, zwischen der europäischen Kultur und den außereuropäischen Kulturen, zwischen Aufklärung und dem ›Anderen der Vernunft‹ feste Grenzen zu ziehen. Bei einer genaueren Betrachtung dieses Diskurses stößt man aber nicht nur auf Dichotomien. Flankiert wird Forsters literarische Weltreise durch kongruierende Parallelen zu Kulturen »am entgegengesetzten Ende der Welt«131 mit der Folge, dass die antipodische Konfiguration der Südsee mitunter eine bemerkenswerte Relativierung erfährt.132 Bereits der Jesuitenpater Joseph Francois Lafitau kritisiert in seinem Werk Moeurs des sauvages amériquains, comparées aux mœurs des premiers temps (1724), mit dem er in die Forschungsliteratur als einer der Begründer der vergleichenden Völkerkunde eingegangen ist,133 die in älteren Reiseberichten stark verbreitete Behauptung, wonach die amerikanischen Indianer in absoluter Asebie leben würden: »Ich habe mit vielem Verdruß in den mehresten Nachrichten bemerkt«, leitet er seine Kritik ein, daß diejenigen, welche die Sitten der barbarischen Völker beschrieben, uns solche als Menschen abgebildet, bei welchen nicht die geringsten Spuren einer Religion, keine Kenntnis von Gott, kein Vorwurf einiger Verehrung anzutreffen. Sie haben uns solche als Leute vorgestellet, die weder Gesetze, weder eine äußerliche bürgerliche Verfassung, noch die geringste Art einer Regierungsform hätten; mit einem Wort, als solche Geschöpfe, bei denen fast nichts als die menschliche Gestalt anzutreffen wäre. Dieser Fehler ist auch selbst bei den Missionarien und vielen von solchen Männern gemein, die einesteils mit großer Übereilung von Sachen geschrieben, so ihnen nicht hinlänglich bekannt gewesen, und andernteils die übeln Folgerungen nicht vorgesehen, welche aus einem der Religion so nachteiligen Vorgehen gemacht werden können.134

Lafitaus Ansatz, der sich nach Karl H. Kohl einerseits »durch ein sorgfältiges Studium antiker Quellen, neuerer und zeitgenössischer Reisebeschreibungen« und andererseits »anhand der Beobachtungen [...], die er während seines eigenen mehrjährigen Aufenthaltes unter den kanadischen Indianerstämmen gesammelt hatte«, entwickelt, mündet letztendlich in eine folgenreiche »Gleichsetzung der Indianer mit den Völkern des alten Griechenland.«135 Mit dieser Gleichsetzung schafft Lafitau ein Paradigma, das in erkenntnistheoretischer Hinsicht mit dem Phänomen der Heterotopie136 beschrieben wird.

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AA V, S. 207. Oft wird Forster deshalb ein Kulturrelativismus zugeschrieben, ohne die wirklichen Konsequenzen dieser Theorie jedoch zu Ende zu denken. Vgl. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 77f. Zit. nach Karl-Heinz Kohl, ebd. S. 78f. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 80. Heterotopie bezieht sich auf ein von Michel Foucault entwickeltes Konzept, das für realisierte Utopien steht. Vgl. Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt/M 2005, S. 7–22.

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Auch Forster knüpft an dieses Paradigma an. Wie schon vor ihm Bougainville macht er ebenfalls auf Aspekte aufmerksam, die nach seiner Auffassung besondere Affinitäten zwischen der Südsee und dem antiken Griechenland markieren. Das zeigt sich bereits an der Übernahme des symbolträchtigen Namens »Neue Kythera«, den Bougainville Tahiti verliehen hatte. Doch nicht nur an Kythera, die Kultstätte der Aphrodite, sondern auch »an die Beschreibungen von Calypso’s bezauberter Insel«137, fühlt sich Forster durch die Insel Tahiti erinnert. Mit dem Namen Calypso evoziert Forster jenen geschichtsträchtigen Ort Ogygia, wo nach Homers Sage eine Nymphe vergeblich versuchte, den schiffbrüchigen Odysseus zu verführen und für immer festzuhalten.138 Bedenkt man die Gefahren, denen Forschungsexpeditionen des 18. Jahrhunderts ständig ausgesetzt waren, dann liegt die Parallelisierung mit den Odysseusfahrten auf der Hand. Doch darum geht es Forster primär nicht. Vielmehr will er den Leser durch die Apostrophierung Tahitis als »Kythera« oder Calypso’s Insel auf jene Wahrnehmung des Fremden als »Resonanzboden des Eigenen«139 einstimmen. Die retrojektive Lokalisierung der griechischen Antike in der Südsee, die Forster mit entsprechenden Figuren besetzt und diese semantisch neu konnotiert, stellt einen bemerkenswerten Kunstgriff dar, der sich an verschiedenen kulturellen und anthropologischen Vergleichsmomenten beobachten lässt. In diesem Zusammenhang verdient Forsters Beschreibung der tahitischen Armee bei einer ihrer Kriegsvorbereitungen im April 1774 besondere Aufmerksamkeit: »Überhaupt fiel uns bey dem Anblick der Tahitischen Flotte die Seemacht jener alten Republicaner ein, und wir nahmen in der Folge Anlaß, beyde noch näher mit einander zu vergleichen.«140 Bei diesem Vergleich gilt Forsters Augenmerk vorwiegend den Übereinstimmungen in der Organisation beider Armeen: Die vereinte Macht von ganz Griechenland, die ehemals gegen Troja in See gieng, konnte nicht viel beträchtlicher seyn, als die Flotte, mit welcher O-Tu die Insel Eimeo anzugreifen gedachte; und ich kann mir die mille carinæ eben nicht viel furchtbarer vorstellen, als eine Flotte Tahitischer Kriegs-Canots, deren eins von funfzig bis zu einhundert und zwanzig Ruderer erfordert. Die Schiffahrt der alten Griechen erstreckte sich nicht viel weiter, als heut zu Tage die Tahitische.[...] Die damaligen Seefahrer im Archipelagus, richteten bey der Nacht ihren Lauf nach den Sternen; und so machen es die auf der Südsee noch jetzt jedenfalls.141

Wie auf einem Palimpsest lässt Forster das antike Griechenland in der Südsee wieder auferstehen. Dabei gründen die Systematik und die Beschreibungsdichte, die dieser Gegenüberstellung zugrunde liegen, auf der gezielten Inszenierung der Vergleichsmomente. Nach Feststellung der Analogien bei der formalen Ausstattung der altgriechischen und

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AA III, S. 42. Vgl. Homer, Odyssee, hg. v. von Eduard Schwartz. Augsburg 1994, V, 13–281 sowie XII, V 447– 450. Ortfried Schäffter, Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: ders. (Hg.), Das Fremde. Opladen 1991, S. 11–42. Das Fremderleben wird von Schäffter in vier Modi unterschieden: »Fremdheit als Resonanzboden des Eigenen«, als »Gegenbild«, als »Ergänzung« und als »Komplementarität«. Terminologisch problematisch erscheint die Unterscheidung der als Synonyme verwendeten Begriffe »Ergänzung« und »Komplementarität«. AA III, S. 84. Ebd., H. i. O.

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der tahitischen Kriegsführung sowie ihrer Kriegsfahrzeuge, geht Forster zur Parallelisierung der Physiognomie und der Charaktermerkmale der Altgriechen und der Tahitier über. Dabei lenkt er bewusst den Blick auf die anthropologische Heterotopie mit den Worten: »Die Griechen waren brav; und daß es die Tahitier nicht minder seyn müssen, beweisen die vielen Narben ihrer Befehlshaber.«142 Sowohl die Physiognomie als auch die Kriegsmaschinerie der Tahitier entsprechen nach Forsters Darstellung ganz den verloren gegangenen Idealen der griechischen Kultur. Dieses dialektische Moment hat schwerwiegende Konsequenzen in der Wahrnehmung der fremden Kultur. Demnach resultiert die positive Schilderung der Tahitier weniger daraus, dass Forster sie unvermittelt idealisiert, sondern vielmehr aus seiner Bewunderung der griechischen Lebenskultur. Die erste Konsequenz ist, dass Forster der tahitischen Kultur bewusst oder unbewusst eine eigenständige Originalität abspricht. Darüber hinaus muss angemerkt werden, dass der nostalgische Ton, der in Forsters aufwertender Hinwendung zur griechischen Antike anschlägt, nicht allein mit der von Lafitau angestoßenen Denkweise in Verbindung gebracht werden kann. Unmittelbarer Einfluss geht wohl auf Johann Joachim Winckelmann zurück, dessen 1755 erschienene Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst143 die »normative Ästhetik-Anthropologie«144 des 18. Jahrhunderts begründet haben. Diese beruht auf der Annahme, dass die schönsten Menschen »unter dem griechischen Himmel«145 entstanden seien, wobei Nichteuropäer als Erscheinungen der Gattung beschrieben werden, die eine Abweichung von dieser Norm bilden.146 Auch wenn Forster, wie später gezeigt wird, sich von der Klimatheorie emanzipiert, der Winckelmanns Überlegungen verpflichtet sind147, so bleiben dessen Auswirkungen in der Konzeption des Schönen auch bei Forster auffällig. Viel zu oft tendiert Forster in seiner Reiseschilderung dazu, Insulaner mit einer hellen Hautfarbe eine günstigere

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AA III, S. 84. Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hg. v. Ludwig Uhlig. Stuttgart 1995. Tanja van Hoorn, Physische Anthropologie und normative Ästhetik. Georg Forsters kritische Rezeption der Klimatheorie in seiner Reise um die Welt, in: Georg-Forster-Studien VIII (2003), S.139–161, hier S. 159. Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, S. 3. »Die gepletschte Nase der Kalmücken, der Chinesen und anderer entlegenen (!?) Völker ist ebenfalls eine Abweichung: denn sie unterbricht die Einheit der Formen, nach welcher der übrige Bau des Körpers gebildet worden, und ist kein Grund, warum die Nase so tief gesenkt liegt und nicht vielmehr der Richtung der Stirn folgen soll; so wie hingegen die Stirn und Nase aus einem geraden Knochen, wie an Tieren, wider die Mannigfaltigkeit in unserer Natur sein Würde. Der aufgeworfene schwülstige Mund, welchen die Mohren mit den Affen in ihrem Lande gemein haben, ist ein überflüssiges Gewächs und ein Schwulst, welchen die Hitze ihres Klimas verursacht, so wie uns die Lippen vor Hitze und von scharfen, salzigen Feuchtigkeiten, nach einigen Menschen im heftigen Zone aufschwellen« (Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Sonderausgabe, unveränd. Reprograf. Ndr. D. Ausg. Wien 1934, Darmstadt 1982, S. 146f. [zuerst 1764] Zur Widerspiegelung der Klimatheorie in Winckelmanns Überlegungen vgl. Tanja van Hoorn, Physische Anthropologie und normative Ästhetik, S. 146ff.

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Porträtierung erfahren zu lassen148 als solche mit dunkler Hautfarbe. So charakterisiert er beispielsweise die schwarze Bevölkerung von Madeira im August 1772: Das gemeine Volk ist schwärzlich von Farbe […] Die Frauenspersonen sind häßlich; es fehlt ihnen die blühende Farbe, welche, nebst der gefälligen regelmäßigen Gestalt, dem weiblichen Geschlecht unserer nördlichen Gegenden den Vorzug über alles andre Frauenzimmer giebt.149

Die Frage, ob dieser negative Sprachduktus als rassistisch einzustufen ist, erscheint im Lichte der Überlegungen von Margaret Jolly berechtigt.150 Dass Forsters Wortwahl zumindest diskriminierende Züge gegen Dunkelhäutige aufweist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Spätestens dann, wenn er hellhäutige Menschen vor sich hat, schlägt seine Wortwahl ins Positive um. Dies zeigt sich beispielsweise an der Beschreibung des Königs O-Aheatua (von Klein-Tahiti), den Forster im August 1773 trifft: »Er [der König, Y.M.] war heller von Farbe als alle seine Unterthanen, und hatte schlichtes, langes, lichtbraunes Haar, das an den Spitzen ins röthlichtgelbe fiel.« 151 Hier wird die helle Hautfarbe als Hierarchisierungsmoment und als natürliche Prädisposition zur Herrschaft und Macht interpretiert. Auch die spätere Beschreibung der Tochter eines Gastgebers, die Forster bei einem Sparziergang flüchtig kennenlernt, erscheint diesbezüglich bemerkenswert: Seine Tochter übertraf an zierlicher Bildung, heller Farbe und angenehmen Gesichtszügen, fast alle Tahitischen Schönheiten, die wir bisher gesehen, und sie sowohl als andre ihrer jungen Gespielen ließen es gewiß an nichts fehlen, sich beliebt zu machen.152

Solche Äußerungen enthalten ein dialektisches Moment, dessen Reichweite erst erfasst wird, wenn man erkennt, dass der Wahrnehmung und Vermittlung der südpazifischen Fremdheit kein einheitlicher sprachlicher Duktus zugrunde liegt, sondern Fremdheit bildet sich bei Forster in verschiedenen sprachlichen Schattierungen ab. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Forster während seines Aufenthaltes im Südpazifik grundsätzlich alles höher schätzt, was seiner Ansicht nach eine Affinität mit der griechischen Antike – und damit der europäischen Kultur – hat. Dies hat zur weiteren Folge, dass in seiner Wahrnehmung und literarischen Gestaltung der Begegnung mit den ihm fremden Kulturen der Südsee immer wieder eine dialektische Zuspitzung durchbricht, welche den Einfluss seiner europäischen Brille erkennen lässt und seinen Anspruch auf Weltoffenheit

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Nach Günter Berger liegen die Wurzeln dieser Sichtweise, die auch in den Reiseberichten französischer Pazifikreisender vorzufinden ist, im Rassendiskurs des 18. Jahrhunderts, in den Relikte mittelalterlicher Bibelexegese Eingang gefunden haben. Vgl. Günter Berger, Neger im Paradies? Vorurteile an Bord französischer Pazifikfahrer, in: Papa Samba Diop, Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Littératures et Société Africaines. Regards comparatistes et perspectives interculturelle. Mélanges offerts à János Riesz à l’occasion de son soixantième anniversaire. Tübingen 2001, S. 179–185, insb. S. 183. AA II, S. 47. Vgl. Margaret Jolly, ›III-natured companions‹. Racism and Relativism in European Representations of ni- Vanuatu from Cook’s Second Voyage, in: History and Anthropology 5 (1992), S. 331–364. AA II, S. 255. Ebd., S. 289.

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stark in Frage stellt. So kommentiert er beispielsweise ein Musikinstrument, das Cook auf den Societäts-Inseln als Geschenk überreicht wird, mit folgenden Worten: Die Ähnlichkeit, welche sich zwischen diesem Instrument und der Syrinx- oder Pan-Flöte der alten Griechen befand, gab ihm in unsern Augen mehr Werth als seine musicalische Vollkommenheit; denn schon aus der Art wie es gespielt wurde, werden die Music-Liebhaber genugsam einsehn können, daß diese göttliche Kunst hier noch in ihrer Kindheit sey.153

Die Feststellung einer an die griechische Antike erinnernden »göttliche[n] Kunst«, die sich auf der Südsee »noch in ihrer Kindheit« befindet, ist zugleich paradigmatisch und programmatisch. Dabei erweist sich die in der bisherigen Forschung vorherrschende Annahme, wonach Forsters Schilderung der tahitischen Armee lediglich als Ausdruck der »Antikisierung« zu bewerten sei, ebenso zu kurzgreifend wie die Deutung dieser »Antikisierung« als Moment interkultureller Wahrnehmung, wobei die explizit herausgestellten Ähnlichkeiten als Zeichen für die Aufwertung der tahitischen Kultur interpretiert werden.154 Die Analogien, die Forster sowohl in anthropologischer als auch in kultureller Hinsicht zwischen Tahitiern des 18. Jahrhunderts und der griechischen Antike zieht, mögen die Tahitier auf den ersten Blick in einem günstigen Licht erscheinen lassen, sie lassen sich aber bei einer genaueren Textanalyse vielmehr als dialektisches Moment, genauer gesagt, als Instrumente zur Anamnese charakterisieren. Das lässt sich genau exemplifizieren: Wenn Forster beispielsweise eine Tanzveranstaltung im Mai 1774 auf Tahiti mit den Worten kommentiert »Dies erinnerte mich an jenes glückliche, im Schooß des Überflusses gewiegte Volk, das Ulysses in Phäacien antraf [...]«155, dann kommt der Wendung »Dies erinnerte mich« eine wichtige Funktion zu, weil an ihr die Indienstnahme der Südsee für eine doppelbödige Erzählkulisse ablesbar wird. Dem Leser wird die Südsee zum einen als jener Ort vorgeführt, an dem sich der Europäer des Verlustes der eigenen kulturellen Vergangenheit bewusst wird; zugleich aber wird Tahiti zum anderen als eine Art kulturelle Enklave porträtiert, wo die verloren gegangenen griechischen Ideale wieder zu finden seien. Vor diesem Hintergrund spricht Christopher Balme mit Recht von einer »Praxis«, die auf die »Verniedlichung« der fremden Kultur abzielt.156 Allerdings erschöpft sich diese Deutung bei Forster nicht in einem nostalgischen Pathos, da sie als Anstoß für eine mediale Vergegenwärtigung der griechischen Vergangenheit fungiert. Forster führt damit zwei neue dialektische Momente in seine Reisebeschreibung ein, in denen Alterität zugleich neutralisiert und aufrechterhalten wird. Es handelt sich um die Historizität und die Verzeitlichung der Insulaner. Diesbezüglich argumentiert beispielsweise Gerhart Pickerodt, dass sich Forsters Bezug auf die Antike nicht in einer »elegischen Haltung«157

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Ebd., S. 362. Vgl. Christiane Küchler Williams, Erotische Paradiese, S. 95–100. AA III, S. 112. Christopher B. Balme, Fremde Haut. Tätowierung und Inszenierung kolonialer Mimesis in der Südsee, in: Claudia Jeschke u. a.(Hg.), Andere Körper – Fremde Bewegungen. Theatrale und öffentliche Inszenierungen im 19. Jahrhundert. Münster 2005, S. 17–34, hier S. 23. Gerhart Pickerodt, Forster als Mittler zwischen Antike und Moderne, in: Georg Forster-Studien IX (2004), S. 1–15, hier S. 6.

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erschöpft, sondern die Bemühung um die Rehabilitierung »einer vergessen geglaubten Antike«158 beinhalte. Nach Pickerodt erreicht Forster dieses Ziel durch eine emphatische Vermittlung zwischen der Antike und der Moderne. Wenn Pickerodt allerdings schreibt: »Als modellhaft für einen derartigen Antike-Bezug gilt für Forster Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands159, dann übersieht er jenen genuinen und zugleich katalysierenden Erfahrungskomplex der Weltreise, in dem Forsters Antike-Bezug wurzelt.160 Pickerodt muss außerdem entgegengehalten werden, dass sich Forsters Hinwendung zur Antike, soweit sie mit den Reiseerlebnissen in Verbindung steht, auf Kosten der Südseeinsulaner vollzieht. So kann nicht übersehen werden, dass Forster die Tahitier dafür lobt, dass sie einer antiken und damit europäischen Vorstellung von Schönheit entsprechen, dass Tahiti für den Europäer als Spiegelbild für den Ursprung seiner Kultur fungiert. Das Problem einer solchen Perspektive liegt zugegebenermaßen in einer einseitigen, die National-Stereotypen wiederholenden Deutung und Beurteilung der Tahitier, da ihre Lebensweise – zumindest was Forster darin an positiven Merkmalen zu entdecken meint – in europäische Kategorien übersetzt und damit vereinnahmt wird. Wenn Forster aus seinen Erfahrungen auf Tahiti die Analogie ableitet, »daß Menschen, bey einem gleichen Grade von Cultur, auch in den entferntesten Welttheilen einander ähnlich seyn können«161, dann läuft eine solche Schlussfolgerung keineswegs nur auf die Aufwertung der Tahitier hinaus wie die verbreitete These der Antikisierung suggeriert; dahinter lässt sich eher eine Strategie erkennen, »Fremdheit zur Behauptung der eigenen Werteordnung zu vereinnahmen.«162 In diesem Sinne ist Claude Blanckaert zu folgen, wenn er solche Haltung gegenüber fremden Kulturen generell als »réduction itéritative de l’inconnu au connu, qui rend l’étrangeté du sauvage à la familiarité d’une culture humaine«163 deutet. Unter diesem Gesichtspunkt muss die »Antikisierung« der Südsee, wie sie auch von Forster vorgenommen wird, als ein ambivalentes Lob angesehen werden. Ihr liegt nämlich eine Doppelstrategie zugrunde, die Forster als Kind seiner Zeit erscheinen lässt. Zum einen dient sie der Legitimation für die Sehnsucht nach den verloren gegangenen Idealen der eigenen Kultur, die nun in der Anamnese vergegenwärtigt werden. Zum anderen führt sie zu einer sehr problematischen Verzeitlichung von Alterität, d. h. zu einer zeitlichen Inkompatibilität zwischen Entdeckern und Insulanern. Der Vergleich demonstriert die Überlegenheit der gegenwärtigen europäischen Kultur mit der Folge, dass das Hier und Jetzt der tahitischen Kultur nicht der Gegenwart der europäischen Kultur, sondern vielmehr ihrer früheren Kulturstufe entspricht. Inwiefern

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Ebd., S. 14. Ebd., S. 3. Zwar bekommt Forsters Rehabilitierung der Antike durch die Schiller-Lektüre einen zusätzlichen Impuls, deshalb kann aber die Reise um die Welt in diesem Zusammenhang nicht übergangen werden. AA III, S. 85. Karl Hölz, Einleitung – Spiegelungen des Anderen in der Ordnung der Kulturen und Geschlechter, S. 8. Claude Blanckaert, Naissance de l’ethnologie? Anthropologie et missions en Amérique (XVIXVIIIe siècle). Paris 1985, S. 18.

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Forster auf diese Weise die Eigenart der tahitischen Kultur verfehlt, wurde in der bisherigen Forschung kaum thematisiert. Hier muss unterstrichen werden, dass die Ungleichzeitigkeit, die sich aus Forsters Antikisierung Tahitis herauskristallisiert, ein markantes Moment der Dialektik der Kulturbegegnung in der Reise um die Welt bildet. Darin wird ein besonderes Alteritätsverhältnis generiert, das in der historischen Distanz Ausdruck findet. So bringt die zeitliche Entrückung und die Versetzung Tahitis in das homerische Griechenland mit sich, dass die Gegenwart der Tahitier als Vergangenheit der Europäer164 wahrgenommen wird. Dabei wird die räumliche Distanz mit einem gewaltigen zeitlichen Abstand von mehr als 1800 Jahren in Verbindung gebracht: »Die räumliche Ferne«, so Manuela Ribeiro Sanches, »entspricht einer zeitlichen Distanz, die aus jenen Völkern bloße Vorstadien der westlich-europäischen Zivilisation macht.«165 Dabei ist in erster Linie wichtig zu beobachten, dass Forster jenes Griechenland verklärt, mit dem er die Tahitier kulturell und anthropologisch parallelisiert. Auch die Tahitier werden verklärt, sodass sie nicht in ihrer Eigenart wahrgenommen werden. Dies erklärt die offensichtliche Begeisterung, die Forsters Südsee-Antike-Vergleiche kennzeichnen. Das zeigt sich beispielsweise, wenn er in einer Fußnote folgende Stelle aus dem Tagebuch des Astronomen Wales mit der Bemerkung zitiert, sie sei »der Übersetzung werth«166: ›Ich gestehe‹, sagt dieser gelehrte Astronom, ›daß ich oft geglaubt, Homer habe in den Thaten, welche er seine Helden mit dem Speer verrichten läßt, zu sehr das Wunderbare gesucht: wenigstens dünkte es mir, nach den strengen Regeln des Aristoteles, in einem epischen Gedichte etwas auffallend. Selbst Pope, der eifrigste Vertheidiger Homers, gesteht, daß ihm diese Helden-Thaten verdächtig vorgekommen wären. Allein seitdem ich die Tanneser kennen gelernt, und gesehen habe, wie viel sie mit ihren hölzernen, stumpfen und nicht gar harten Speeren ausrichten, finde ich gegen alle diese Stellen Homers nicht das geringste mehr einzuwenden. Im Gegentheil entdecke ich nun da, wo ich sonst etwas tadelnswerthes zu bemerken glaubte, neue, unerkannte Schönheiten. Wie malerisch und wie richtig hat er nicht alles, bis auf die kleinste Bewegung des Speers und dessen der ihn abwirft, zu beschreiben gewusst! In Tanna hab ich dies Bild bis auf das geringste Detail realisirt gefunden.167

Offenbar verwendet Forster diese Textstelle, die er unkommentiert wiedergibt, als ›Beweis‹ für die eigene zeitversetzte Wahrnehmung der Tahitier.168 Gravierender erscheint jedoch, dass mittels der Temporalisierung dem Tahitier eine zeitgemäße Existenz abgesprochen wird.169 Das hat zur weiteren aufschlussreichen Konsequenz, dass der Europäer dem Insulaner nicht als Zeitgenossen, sondern als Repräsentanten einer früheren Entwicklungsstufe der Menschheit begegnet. Hier vermischen sich Beobachtung, Projek-

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Vgl. Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object. New York 1983. Mauela Ribeiro Sanches, Von der Südsee nach Ozeanien oder Forster am Anfang des 21. Jahrhunderts lesen, in: Georg-Forster-Studien X (2005), S. 157–185, hier S. 173. AA III, S. 217. Ebd., H. i. O. Mit anderen Worten drückt Forster damit aus, dass er in dieser Position nicht allein da steht. Wales Beobachtungen dienen ihm sozusagen als Bestätigung der eigenen Wahrnehmung. Vgl. Johannes Fabian, Time and the Other, S. 75.

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tion und Retrojektion in einer Weise, die eine unverfälschte Wiedergabe der Erfahrung unmöglich macht. Mehr noch: Selbst dann, wenn Forster Affinitäten zwischen beiden Kulturen betont, bleibt der antikisierte Tahitier ein Konstrukt des Europäers, was übrigens einem Metadiskurs über Einwohner der Südsee den Weg ebnet, da ihnen grundsätzlich ein kindliches Verhalten attestiert wird. Diese Form der Infantilisieung der Insulaner dient zudem einem Machtdiskurs, den die Aufklärung für die Zivilisierung außereuropäischer Kulturen benötigt. Das zum Topos gewordene Bild der Südseeinsulaner geht beispielsweise aus dem Kommentar einer Szene hervor, in der Forster die Schwierigkeit des Zeichners Hodges anspricht, junge Tahitier zu porträtieren: »Zu dem Ende gaben wir uns Mühe sie auf einige Augenblicke lang zum Stillsitzen zu bringen, indem wir ihnen allerhand Kleinigkeiten vorzeigten und zum Theil auch schenkten«170 Ähnliche, zum Teil subtil abfällige Bemerkungen finden sich häufig in den Begegnungen mit Insulanern und nicht nur in solchen Passagen, in denen Forster die ihm lästige Bettelei der Einheimischen kritisch anspricht.171 Das Grundproblem der Temporalisierung, das sich in Forsters Parallelisierung zwischen den Kulturen der Südsee und dem europäischen Altertum artikuliert, liegt nicht allein in der verzerrten Wahrnehmung von Ort, Zeit und Menschen, sondern auch in der Verzerrung der Erkenntnisperspektiven. So wird die Entdeckungsreise in den Südpazifik als eine Reise »in die versunkene Kindheit«172 Europas vermittelt, wobei zweierlei in einen Zusammenhang gebracht wird, was auf den ersten Blick einander auszuschließen scheint, nämlich die Nähe und die Ferne einer fremden Kultur gegenüber der eigenen. Als nah erscheint Tahiti dem europäischen Leser insofern, als Forster dort positive Eigenschaften wahrzunehmen meint, die er mit der griechischen Antike verknüpft. Doch weil jede Erinnerung rückwärtsgewandt ist, rückt Forster die Tahitier und ihre Kultur nicht nur in die räumliche, sondern vor allem auch in die zeitliche Ferne der europäischen Kultur der Aufklärungszeit. Nach Uhlig entspricht diese Haltung gegenüber den Tahitiern »einer ganz bestimmten Forschungsrichtung seiner Zeit« nämlich dem Versuch, aus dem Vergleich der Südseeinwohner »mit früheren Kulturstufen allgemeine kulturgeschichtliche Erkenntnisse zu gewinnen«.173 Dies setzt jedoch die verheerende Annahme

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AA II, S. 188. Auch über den Tahitier O-Mai, den er in England trifft schreibt er: »Seine Beurtheilungskraft war noch kindisch; daher verlangte er auch, wie ein Kind, nach allem, was er sahe, und vorzüglich nach Dingen, die ihn durch irgend eine unerwartete Wirkung vergnügt hatten« (AA II, S. 16). » Wenn wir zum Beyspiel unter eine oder die andere Art von Leuten Corallen austheilten, so drängten sich bisweilen junge unverschämte Bursche herbey und hielten die Hände auch her [...] Unter solchen Umständen bekamen sie aber eine abschlägige Antwort. Schon schwerer war es, alten ehrwürdigen Männern eine Gabe zu versagen, wenn sie bebender Hand die unsrigen ergriffen, sie herzlich druckten und in vollkommnen Vertrauen auf unsre Güte uns ihr Anliegen ins Ohr wisperten.« (AA II, S. 272). Stefan Goldmann, Die Übersee als Spiegel Europas, S. 208. Ludwig Uhlig, Georg Forster, Captain Cook und das Tabu, S. 44.

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voraus, dass die Südseeinsulaner »auf einer früheren Stufe der Menschheitsentwicklung stehengeblieben seien«.174 Andererseits: Mit dieser Annahme, welche die ambivalente Haltung der Philosophen und Weltreisenden des 18. Jahrhunderts gegenüber außereuropäischen Kulturen und Menschen kennzeichnet, wird offenbar ein kulturgeschichtlicher Vergleich zwischen Gesellschaften forciert, die in keinem diachronischen Verhältnis zueinander stehen. Forster bedient sich dieses asymmetrischen Vergleichs, um sich der Historizität und der fortgeschrittenen Entwicklung der eigenen europäischen Kultur zu vergewissern. Entgegen einer in der Forschung vertretenen Ansicht, wonach Forsters Hinwendung zur Antike kulturrelativistisch sei,175 muss betont werden, dass sich in Forsters Denken eine bemerkenswerte »antiklassizistische Wende«176 vollzieht, die allerdings erst in seinen Ansichten vom Niederrhein ihren Niederschlag findet. Dort rechnet er im ersten Teil mit dem antiken Griechenland ab und emanzipiert sich so von den namentlich von Winckelmann und Schiller vorgedachten Bahnen des klassizistischen Idealismus: Was sollen uns die alten Lappen, wären sie auch noch so schön, auf dem neumodigen Kleide? Griechische Gestalten und griechische Götter passen nicht mehr in die Form des Menschengeschlechts; sie sind uns so fremd, wie griechisch ausgesprochene Laute und Namen in unserer Poësie.177

Hier liegt der Schluss nahe, dass sich bei Forster – wie im Übrigen auch schon bei Winckelmann178 – die »Einsicht in die Unwiederholbarkeit historischer Entwicklungen«179 allmählich durchgesetzt hat. Die Antike ist bei Forster zwar ein Idealbild, aber jenes, das nur in historischer Ferne seine Autorität hat. Die nostalgische Glorifizierung der Antike dient lediglich als Kostrast zur Gegenwart, sie umspannt diese aber nicht mehr. Als Forster seine Reise um die Welt schreibt, hat sich diese Einsicht allerdings noch nicht eingestellt.

6.

Anthropologie – Kulturtheorie – Ausgrenzung

Die bisherigen Ausführen lassen bereits ein wichtiges Moment erkennen: Wie kaum ein anderer Gegenstand steht die Gattung Mensch im Mittelpunkt von Georg Forsters Denken und Werk. Das ist teilweise durch den historischen Kontext der Aufklärung bedingt, in dem die Anthropologie einen zentralen Platz im Gelehrtendiskurs einnimmt.180 Es ist also kein Zufall, dass Forster in der »Vorrede« seiner Reise um die Welt programmatisch betont: »Meine Absicht dabey war, die Natur des Menschen so viel möglich in mehre-

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Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden, S. 19. Vgl. Tanja van Hoorn, Physische Anthropologie und normative Ästhetik, S. 146ff. Gerhart Pickerodt, Wahrnehmung und Konstruktion, S. 285. AA IX, S. 67. Vgl. Ludwig Uhlig (Hg.), Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland. Tübingen 1988, S. 7. Ebd., S. 9. Vgl. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 4ff.

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res Licht zu setzen[...]«181 Dieses ehrgeizige Ziel sollte er lange verfolgen, wie aus der Einleitung zu seinen »Kleinen Schriften«, die fast fünfzehn Jahre nach der Rückkehr von der Weltreise veröffentlicht wurden, deutlich hervorgeht: »Die Naturwissenschaft im weitesten Verstande«, heißt es darin und insbesondere die Anthropologie war bisher meine Beschäftigung. Was ich seit meiner Weltumschiffung geschrieben habe, steht damit großentheils in enger Beziehung. Mit den lebendigen Eindrücken, welche nur die unmittelbare Anschauung des Objekts, und sonst nichts, geben kann, gieng ich an die Quellen der Länder- und Völkerkunde, schöpfte dort und prüfte zugleich.182

Doch auch auf Forsters anthropologisches und kulturtheoretisches Denken trifft die gleiche Feststellung zu, die in Bezug auf seine erkenntnistheoretischen Grundsätze gemacht wurde, nämlich, dass es erst rekonstruiert werden muss, weil es facettenreich ist und in unterschiedlichen Abhandlungen Niederschlag gefunden hat. Nichtsdestotrotz ist man sich in der Forschung darin einig, dass die Begegnung mit Insulanern, die in ihrem Aussehen und Verhalten nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber Europäern zum Teil erhebliche Unterschiede aufweisen, den Ausgangspunkt von Forsters Interesse am außereuropäischen Menschen als Gegenstand der Anthropologie bildet. Dieses Interesse schreibt sich daher in den spezifischen Gedankenkontext der Spätaufklärung ein183, der für die Entstehung der Anthropologie als Wissenschaft von grundlegender Bedeutung werden sollte. Die Bedeutung, welche die Entdeckungsfahrt mit Kapitän Cook in Forsters Menschenbild und dessen Relevanz in der Diskussion über Unterschiede zwischen Menschen und menschlichen Gesellschaften im 18. Jahrhundert einnimmt, wird bereits an seiner Beschreibung der angetroffenen Völker der Südsee ablesbar. Geprägt ist Forsters Schilderung der verschiedenen Völkerschaften durch die Erkenntnis der Mannigfaltigkeit. Parallel zu der eher typisierenden Beschreibung des Verhaltens der Insulaner gegenüber Europäern, was oftmals den tradierten Stereotypen dient, bemüht sich Forster um eine individualisierende und damit vergleichende Wahrnehmung der Südseebewohner in ihrer Physiognomie, dem unterschiedlichen Grad ihrer Kultur, der Verschiedenheit ihrer Mentalitäten sowie ihrer Sitten, Sprachen und Bräuche. In diesem Kontext bewegt sich Forster zunächst innerhalb jenes anthropologischen Denkhorizontes, der durch Montesquieu und Buffon geprägt wurde und unter der Bezeichnung Klimatheorie das anthropologische und kulturtheoretische Denken des 18. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst hat.184 In der Auseinandersetzung mit dieser

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AA II, S. 13. AA V, S. 345. Zur Einordnung von Forsters Anthropologie in die Epoche der Spätaufklärung vgl. Jörn Garber, ›So sind also die Hauptbestimmungen des Menschen[...]‹.Anmerkungen zum Verhältnis von Geographie und Menschheitsgeschichte bei Georg Forster, in: Jörn Garber (Hg.), Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Tübingen 2000, S. 193–229. Garber weist insbesondere auf die Verschränkung der physischen Anthropologie, der Kulturanthropologie und der Menschheitsgeschichte als spezifische Erscheinung in der Anthropologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts hin. Gonthier-Louis Fink, Klima- und Kulturtheorien der Aufklärung, in: Georg-Forster-Studien. II

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Theorie, die sich vom klassifikatorischen Ansatz Carl von Linnés abgrenzt185, entfaltet Forster sowohl seine physische Anthropologie186 als auch seine Kulturanthropologie, deren Übereinstimmung mit der Klimatheorie zunächst ins Auge sticht. So attestiert er beispielsweise den Tahitiern, die er in einem mäßigen Klima lebend antrifft, nicht nur körperliche Schönheit und einen geselligen Charakter, sondern auch einen fortgeschrittenen Zivilisationsgrad, den er an der Organisation ihrer Gesellschaft in Ständen und an ihrem luxuriösen Leben festmacht.187 Dagegen stuft er die Mallikolesen und Tannaer als die hässlichsten und ungesittesten Völker überhaupt ein. Eine solche Unterscheidung lässt sich aus der Übernahme des klimatheoretischen Ansatzes erklären. Dies wird in Fosters Gegenüberstellung von Tahitiern und Mallikolesen in seinem Aufsatz O-Taheiti sichtbar: Der Taheitier pflanzet neben dem nährenden Brodbaume, die Staude, die ihm Kleidung giebt, und die Blume, deren Wohlgeruch ihn erquickt; sein Anzug wetteifert mit der Einfalt und Schönheit griechischer Ideale [...] hingegen der Mallikolese, baut im Innersten verjährter Wälder, einen kleinen Vorrath von Wurzeln und Früchten, kaum hinreichend den Hunger zu stillen [...] er schleicht nackend herum, sein Putz ein Stein in der Nase, und eine schwarze Schminke, die seine eigenthümliche Häßlichkeit erhöht.188

Es handelt sich hierbei um einen qualitativen Unterschied, der über die physiognomischen Differenzen hinausreicht, da er auch das Verstehen dessen ermöglicht, was Forster als »Nationalcharakter der Einwohner«189 bezeichnet. Während Forster die ausgeglichene Ausstrahlung der Tahitier mit dem auf ihrer Insel herrschenden milderen Klima begründet, führt er das feindselige Verhalten der Mallikolesen und Tanneser auf eine raue Umwelt zurück, der sie ausgesetzt sind. Damit zielt er auf das Postulat ab, dass das physische Erscheinungsbild eines Volkes mit den »lokalen« kulturellen und klimatischen Verhältnissen in Verbindung steht: »Hellere Hautfarbe und sanftere Gesichtszüge«, stellt er im Oktober 1773 auf den »freundschaftlichen Inseln« fest, »sind natürliche Folgen einer bequemen, unthätigen Lebensart, bey welcher man sich der Sonnenhitze nicht auszusetzen braucht, und an allem, was das Land Gutes und köstliches liefert, Überfluß hat.«190 Auch in seinem Aufsatz Über lokale und allgemeine

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(1998), S. 25–55. Vgl. auch Ludwig Uhlig: Theoretical or Conjectural history. Georg Forsters Voyage Round the World im zeitgenössischen Kontext. In: Germanisch-Romanische Monatschrift. 53 (2003), S. 399–414. Ders, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794). Göttingen 2004, dort vor allem S. 85–95. Insbesondere Buffon, der sich mit Linné einen Konkurrenzkampf lieferte, hatte großes Interesse an einer Methode, die sich nicht in ein System einzwängen lässt. Eine solche Methode musste auch für Forster attraktiv sein, da auch er Nomenklaturen ablehnte. Damit beschäftigt sich Tanja van Hoorn in ihrer Dissertation, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004. Dies zeigt Forster beispielsweise an der Beschreibung des Königs O-Aheatua (von Klein-Tahiti) und seinem Hof. AA II, S. 255f. AA V, S. 51. AA V, S. 259. AA II, S. 374.

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Bildung greift Forster diesen Standpunkt wieder auf und stellt ihn in einen größeren Zusammenhang: Was der Mensch werden konnte, das ist er überall nach Maasgabe der Lokalverhältnisse geworden. Klima, Lage der Örter, Höhe der Gebirge, Richtung der Flüsse, Beschaffenheit des Erdreichs, Eigenthümlichkeit und Mannigfaltigkeit der Pflanzen und Thiere haben ihn bald von einer Seite begüngstigt, bald von der andern eingeschränkt, und auf seinen Körperbau, wie auf sein sittliches Verhalten, zurückgewirkt. So ist er nirgends Alles, aber überall etwas verschiedenes geworden, das dem Verstande des Forschers, wenn er über die Schicksale und Bestimmungen seiner Gattung nachdenkt, Aufschluss verspricht, oder wenigstens den Stoff zu einer eigenen Hypothese über den wichtigsten Gegenstand unseres Grübelns in die Hände spielt.191

Darin wird der doppelte Prozess der Anthropologisierung des kulturellen Diskurses und zugleich der Kulturalisierung des anthropologischen Diskurses bei Forster deutlich. Seine Kulturanthropologie, die bereits in der Reise um die Welt Niederschlag findet, wird somit auch auf erkenntnistheoretischer Ebene reflektiert.192 Von diesem Grundgedanken lässt sich auch Herder in dem im Herbst 1785 erschienenen zweiten Teil seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit anregen. Vehement wendet er sich gegen die Vernichtung der Lebenswelt überseeischer Kulturen unter dem Vorwand der Zivilisation: Die Beschaffenheit ihres Körpers und ihrer Lebensweise, alle Freuden und Geschäfte, an die sie von Kindheit auf gewöhnt wurden, der ganze Gesichtskreis ihrer Seele ist klimatisch. Raubet man ihnen ihr Land: so hat man ihnen alles geraubet.193

In diesen kritischen Aussagen stimmt Herder den Klimatheoretikern seiner Zeit darin zu, dass der Mensch durch sein geographisches Umfeld stark geprägt ist und dass die historisch gewachsene Vielfalt der Menschen und Kulturen eben auf die jeweils herrschenden klimatischen Bedingungen zurückzuführen ist. Doch in seinem Rekurs auf Forsters Arbeiten übersieht Herder offensichtlich, dass Forster selbst kein apodiktischer Anhänger der Klimatheorie ist. Schon einige Erfahrungen in der Südsee führen ihn dazu, von der herrschenden Lehre abzurücken, wonach der Einfluss des Klimas die maßgebliche Erklärung für das unterschiedliche Aussehen der Menschen, für ihre unterschiedlichen Verhaltensweisen und nicht zuletzt für ihre asymmetrischen kulturellen Entwicklungen ist. Konkrete erste Skepsis gegenüber dieser Lehrmeinung äußert Forster nach der Beobachtung der Mallikolesen im Juli 1774 mit den Worten »Ich meines Theils gestehe [...] dem Clima bey weitem keinen so allgemeinen und allwürksamen Einfluß zu [...]«.194 Hier wird deutlich, dass Forster das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt komplexer auffasst, als dies etwa in der Klimatheorie der Fall ist. Entscheidender Grund dafür ist, dass Forster im Verlaufe der Reise auf weitere Ungereimtheiten stößt, welche die Plausibilität der Klimatheorie eher schwächen als stär-

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AA VII, S. 45. Vgl. Dieter Heinze, Georg Forster, in: Wolfgang Marschall (Hg.), Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Margaret Mead. München 1990, S. 69–87. Johann Gottfried Herder, Ideen, S. 259. AA III, S. 179.

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ken. Auf Neu-Kaledonien z. B.stellt er einen Widerspruch zwischen der Physiognomie der Einwohner und ihrer Umwelt fest: Je sparsamer nun allhier die Natur ihre Güther ausgetheilt hat, desto mehr ist es zu bewundern, daß die Einwohner minder wild, mißtrauisch und kriegerisch, als auf Tanna, und vielmehr so friedlich und gutartig waren! Eben so merkwürdig ists, daß sie, bey aller Dürre des Landes, und bey ihrer kärglichen Versorgung mit Pflanzenspeisen, dennoch von größerer und muskulöser Leibesstatur sind, als die Tanneser.195

Aus der Beobachtung, dass die Neu-Kaledonier zwar kulturell auf einem niedrigen Grad stehen, der mit dem der Tannaer vergleichbar erscheint, doch im Gegensatz zu diesen gutmütige Menschen sind, schließt Forster: Der verschiedene Charakter der Nationen muß folglich wohl von einer Menge verschiedner Ursachen abhängen, die geraume Zeit über, unabläßig auf ein Volk fortgewirkt haben.196

Diese Erfahrungen, die Tanja van Hoorn mit Recht als »Deutliche Irritation in der Südsee« überschreibt197, führen Forster die beschränkte Aussagefähigkeit198 der Klimatheorie über das »Gesetz der Mannichfaltigkeit«199 vor Augen: »Diejenigen Philosophen«, schreibt er an die Adresse der Klimatheoretiker, »welche den Gemüthscharakter, die Sitten und das Genie der Völker lediglich vom Klima abhängen lassen, würden gewiß sehr verlegen seyn, wie sie, aus diesem allein, den friedfertigen Charakter der Leute auf Neu-Caledonia erklären sollten.«200 Forsters stetes Bemühen, aus der Enge bestimmter Lehrmeinungen seiner Zeit auszubrechen, hat die Klimatheorie zwar nicht ad absurdum geführt, seine Beobachtungen machen aber deutlich, dass die unterschiedlichen Ausprägungen von Gesellschaften, wie sie an Menschen, Kulturen und Sitten der Südsee sichtbar werden, nicht allein vom Einfluss des Klimas abhängig gemacht werden können. Forsters Erkenntnisgewinn liegt in der Einsicht begründet, dass kulturelle und anthropologische Erscheinungsformen einem diachronen Entwicklungsprozess unterworfen sind, in dem nicht zuletzt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle spielt, was Forster mit dem Begriff der »Gewohnheit«201 umschreibt. Forsters Ansatz ist so angelegt, dass die geographische Beschaffenheit der verschiedenen Inseln die Physiognomie der Insulaner, ihr Temperament, ihre Fähigkeiten, ihre Bräuche und ihre Sprachen als zusammenhängende und daher vergleichbare Momente vermittelt werden. So wird nahezu jede Insel, auf welcher sich die Expeditionsmann-

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Ebd., S. 326. H.i.O. Ebd., S. 327. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 47. Nirit Scholz weist darauf hin, »daß das Klima als maßgebliche Ursache für die Eigenart des Nationalcharakters auszuschließen sei.« Nirit Scholz, Georg Forsters Darstellung von Kulturkontakt und Kolonialismus in seiner Reise um die Welt, in: Welfengarten. Jahrbuch für Essayismus. X (2000), S. 66–78, hier S. 71. AA IX, S. 260. AA III, S. 327. H.i. O. Ebd., S. 180.

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schaft aufhält, mit anderen Inseln in Beziehung gesetzt. Dafür liefert die Beobachtung, die Forster auf der Insel »Oster-Eyland« im März 1774 macht, ein anschauliches Beispiel: Als sie [die Insulaner, Y.M.] auf dem Rückwege um das Hintertheil des Schiffs herum ruderten, und daselbst eine ausgeworfne Angelschnur vom Verdeck herabhängen sahen, banden sie zum Abschieds-Geschenk, noch ein klein Stückchen Zeug daran. Beym Heraufziehen fanden wir, daß es aus eben solcher Baumrinde als das Tahitische verfertigt und gelb gefärbt war. Den wenigen Worten nach zu urtheilen, die wir von ihnen gehört hatten, dünkte uns ihre Sprache ein Dialect des Tahitischen zu seyn. Es wird also an beyden Enden der Südsee einerley Sprache geredet. Ihr ganzes Ansehen ließ uns vermuthen, daß sie ein Zweig desselbigen Volk-Stamms seyn müßten. Sie waren von mittlerer Größe, aber mager, und der Gesichtsbildung nach, den Tahitiern ähnlich, jedoch nicht schön.202

Das ausgeprägte Interesse am Vergleich der verschiedenen Südseesprachen mit dem Tahitischen dient dem Ziel, die Bevölkerungsgeschichte der südpazifischen Inselwelt zu rekonstruieren. Mit anderen Worten: Von der Beschäftigung mit Südseesprachen unter komparatistischen Gesichtspunkten erhoffen sich Forster und sein Vater Rückschlüsse nicht nur auf die Beziehung der Einwohner auf den einzelnen Inseln, sondern auch auf ihre Herkunft. So glaubt Forster aufgrund von Sprachähnlichkeiten zwischen den Societäts- und den freundschaftlichen Inseln den »[...] entscheidendste[n] Beweis von der Verwandtschaft beyder Völker«203 gefunden zu haben. Ihm zufolge liegt dieser »in der Ähnlichkeit ihrer Sprachen. Die mehresten Arten von Lebensmitteln, welche beyde Inseln mit einander gemein haben, Glieder des Cörpers, kurz die ersten gewöhnlichsten Begriffe, wurden auf den Societäts- und auf den freundschaftlichen Inseln durch ein und eben dieselben Worte ausgedrückt.«204 Auch von seinem Aufenthalt auf den freundschaftlichen Inseln, wo er einer Tanzaufführung beiwohnt, berichtet Forster, dass Gebräuche und Sprache dieser Insulaner [...] überhaupt eine große Ähnlichkeit mit den Tahitischen zu haben [scheinen]; warum sollte sie also nicht auch bey ihren Tänzen statt finden? Beyde Nationen müssen doch im Grunde von einem gemeinschaftlichen Stamm-Volke herkommen; auch siehet man, selbst in denen Stücken wo sie am merklichsten von einander abweichen, daß der Unterschied bloß von der Verschiedenheit des Bodens und des Clima beyder Inseln veranlaßt worden ist.205

Joseph Gomsu ist in der Meinung zu folgen, dass die Bestandsaufnahme der unterschiedlichen Menschen auf den Südseeinseln Forsters »ethnographisches Denken« dokumentiert.206 Wichtig dabei ist aber die anthropologische Funktion dieser Bestandsaufnahmen, wie etwa die spätere Kontroverse mit Immanuel Kant belegt. Forsters Beitrag zu der damals heftig geführten Debatte über die Polygenese und Monogenese des Menschenge-

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AA II, S. 435. Ebd., S. 379. Ebd. Ebd., S. 376. Joseph Gomsu attestiert Georg Forster ein »ethnophilosophisches« Denken, das er in den Zusammenhang mit dessen Neigung zur Polygenese bringt. Vgl. Joseph Gomsu, Georg Forsters Wahrnehmung neuer Welten, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (1998), S. 538–550, hier insb. S. 544ff.

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schlechts207 zeichnet sich allerdings durch einen ständigen Wechsel von Positionen und Begrifflichkeiten aus, die seine Unsicherheit im Umgang mit diesem Thema erkennen lassen.208 Vertritt Forster bereits in seiner Reise um die Welt, insbesondere jedoch in seinem Aufsatz Noch etwas über die Menschenraßen die These von einer Polygenese des Menschen, so gibt er diese Position spätestens in seiner Schrift Die Kunst und das Zeitalter mit den Worten wieder auf: Was man auch über den Ursprung der Menschengattung wähnen mag; es sey, daß jedes Land seine Bewohner als Autochthonen aus eigenem Schlamm hervorgehen ließ, oder daß von Einem gemeinschaftlichen Stamm, oder von etlichen wenigen Urältern das ganze Heer der Nationen entsproß und sich allmählich über alle Weltgegenden verbreitete: so mußte doch bei der vielfältig verschiedenen Beschaffenheit der Länder und ihrem wirksamen Einfluß auf innere und äussere Bildung, die Gegend irgendwo zu finden seyn, wo die menschliche Organisation mit der Lage, den Erzeugnissen, dem Himmelstrich, vor allen übrigen harmonirte, wo alles zusammenstimmte, sie zur höchsten Vollkommenheit und Schönheit zu bilden.209

Offenbar hat sich Forsters Interesse von der Fragestellung, ob die Menschengattung einen mono- oder polygenetischen Ursprung hat, auf die Suche nach jenem Land verlagert, das so etwas wie den vollendeten Menschen hervorgebracht hat. Ein solcher Umschwung vollzieht sich, und das ist wichtig für das Verständnis von der dialektischen Prozessualität in Forsters Denken, zugunsten einer hierarchisierenden Richtung, die von nun an Forsters anthropologische Reflexion bestimmen sollte. Sie impliziert die Frage nach dem Stellenwert der Europäer im Menschengeschlecht und in der Ordnung der Kulturen, wodurch ihr eine kosmopolitische Dimension zuwächst.210 Postuliert Forster, »daß Griechenland jenes beglückte Ländchen war, wo die schönsten Formen der Menschengattung einst entstehen mußten«211, dann stellt er sich nicht bloß in die oben erläuterte Tradition Johann Joachim Winckelmanns, sondern er exponiert zugleich jenes asymmetrische Moment, das ein wichtiges Merkmal seines anthropologischen Denkens ist, nämlich die Begründung für die beherrschende Sonderstellung der Europäer im Vergleich zu anderen Völkern: [...] unser Glück, oder daß ich ernsthafter rede, die höhere Ordnung der Dinge hat es gewollt, daß nicht nur die köstlichen Schätze der Erkenntniß aus der Vorwelt in unsere Hände fielen,

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Eine Zusammenfassung dieser Debatte liefern: Michael Weingarten, Menschenarten und Menschenrassen. Die Kontroverse zwischen Georg Forster und Immanuel Kant, in: Gerhart Pickerodt (Hg.), Georg Forster in seiner Epoche. Berlin 1982, S. 117–148. Wolfdietrich SchmiedKowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, in: FIP, S. 115–132. Ebenso Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, insbesondere S. 85–124. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 123ff. AA VII, S. 18. Die Kritik Tanja van Hoorns, dass Forster zu Unrecht vielmehr als Ethnologe und weniger als Anthropologe betrachtet wird, ist vor diesem Hintergrund berechtigt. Vgl. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 9. Doch als Vertreter der physischen Anthropologie ist Forster auch auf das ethnographische Material angewiesen. Vgl. AA XV, S. 376. AA VII, S. 18.

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sondern daß auch politische Verkettungen der Begebenheiten die Leidenschaften des Europäers, insbesondere Habsucht, Ehrgeiz und Herschgier bis zu einem Grad der Verwegenheit schärften, dem keine Unternehmung zu groß, keine Anstrengung zu weit getrieben schien.212

Führt Forster den Vorsprung der Europäer auf ihre »köstlichen Schätze der Erkenntnis« zurück, so betont er zugleich, dass die »höhere Ordnung der Dinge« auf der einen und die »gesammelte Weisheit aller verflossenen Jahrhunderte« sowie die künstlerischen Errungenschaften aus »Egypten und Asien« auf der anderen Seite »den jetzigen Zustand unserer Entwicklung vor[bereitet] hätten«213. Zwar hat dieses Verständnis der europäischen Kultur und Zivilisation als einer hybriden Kultur214 bis heute nur in den postkolonialen Theorien215 wissenschaftliche Resonanz gefunden, doch relativiert Forster damit die im Zivilisationsdiskurs mitschwingende Postulierung Europas als der geistige Nabel der Welt. Forsters These, »daß unser Wissen beinah nichts Ursprüngliches und Eigenthümliches mehr hat, daß es die philosophische Beute des erforschten Erdenrunds ist«216, ist deshalb als eine radikale Infragestellung der essentialistischen Auffassung der europäischen Kultur überhaupt zu betrachten. In Abgrenzung von Christoph Meiners, dessen Anthropologie nach wie vor als »Wurzel« des rassistischen Wahns betrachtet wird217, wirft Forster die Frage auf: Hätte sich [...] die Vernunft unter den nordischen Völkern so leicht und auf die Art, wie es geschehen ist, entwickelt, wenn sie nicht früher schon in Childäa, Indien und Ägypten Fortschritte gemacht hätte, wenn die Buchstabenschrift nicht mit den Künsten und Wissenschaften aus Asien und Afrika nach Griechenland gewandert wäre, und dort unter günstigen Verhältnissen, des Orts, des Himmelstrichs, der Verfassung und der Organisation, eine schönere Epoche der Aufklärung bewirkt, [...] und [...] in Schwung gebracht hätte?218

Von dieser historischen Perspektive aus spricht Forster einen Aspekt der europäischen Kultur an, der in kulturkonservativen Kreisen bis heute gern unterschlagen wird, näm-

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Ebd., S. 47. Ebd. Der Begriff der kulturellen Hybridität hat sich besonders in postkolonialen Studien etabliert. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 165f. Für die kritische Vorstellung der wichtigsten Theorien vgl. Mario do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan (Hg.), Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005. AA VII, S. 48. Vgl. Jörg Schmidt, Wurzeln des Wahns. Die Geschichte des modernen Rassismus, wie er auf dem Balkan und andernorts das Gesicht der Welt entstellt, begann schon lange vor Gobineau und Chamberlain, in: Die Zeit 18.09.1999, S. 37. In diesem historisch fundierten und mit vielen Belegen versehenen Aufsatz zeichnet Schmidt überzeugend die Geschichte des modernen Rassismus seit der Zeit der Aufklärung nach. Besonders aufschlussreich dabei ist die Erkenntnis, dass die Aufklärungszeit den gedanklichen Fundus für die Rassentheoretiker bis in unsere Zeit abgibt. Zu der Kritik Forsters an Meiners vgl. ebenfalls Ruth Stumman-Bowert, Georg Forster: Übersetzer, Herausgeber und Rezensent am Beispiel der Nachrichten von den Pelew-Inseln in der Westgegend des stillen Oceans (1789), in: Georg-Forster-Studien IX (2004), S.181–223. Auch Stumman-Bowert rekapituliert wichtige rassistisch geprägte anthropologische Thesen Meiners‹ und die Kritik Georg Forsters. Auf die Erläuterung der modernen Perspektive dieser Auseinandersetzung geht sie jedoch nicht ein. AA XI, S. 240. H.i.O.

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lich ihre multikulturelle Prägung. Er betrachtet die europäische Zivilisation nicht als ein autarkes Gebilde, sondern vielmehr als Ergebnis einer kulturhistorischen Entwicklung, bei der »außereuropäische Regionen mit ihren kulturellen Leistungen mit einbezogen werden müssen.«219 Folgerichtig stellt sich damit zugleich die Frage nach dem spezifisch Europäischen an diesem Prozess. Denn mit der Annahme kultureller Hybridität lässt Forster die Frage der europäischen Identität akut werden. Offenbar ist er sich dieses Problems bewusst, denn er betont, dass die »gesammelte Weisheit« aus den genannten Kulturen und »allen verflossenen Jahrhunderte[n] in die »nordischen Köpfe« überging.220 Mehr noch: »Dieser intellektuelle Reichthum« ist für ihn »das Medium der Hierarchie«221, denn: Das Lokale, Spezielle, Eigenthümliche mußte im Allgemeinen verschwinden, wenn die Vorurtheile der Einseitigkeit besiegt werden sollten. An die Stelle des besonderen europäischen Karakters ist die Universalität getreten und wir sind auf dem Wege, gleichsam ein abstrahirtes Volk zu werden, welches, mittelst seiner Kenntnisse, und, ich wünsche hinzuzusetzen, seiner ästhetischen sowohl, als sittlichen Vollkommenheit, der Repräsentant der gesamten Gattung heißen kann.222

In anthropologischer Hinsicht und im Hinblick auf die Ordnung der Kulturen – auch innerhalb der Südsee – denkt Forster, und das muss hier ausdrücklich betont werden, stark hierarchisch, sodass er seine eigenen kulturrelativistischen Ansätze immer wieder aufhebt. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn er allein dem Europäer die Fähigkeit einräumt, »das beglückende Licht der wahren Aufklärung in den übrigen Erdtheilen anzünden zu können.«223 Ein diesem Denken angemessenes Verständnis setzt heutzutage die genaue Kenntnis seines historischen Entstehungskontexts voraus. Forster kehrt nämlich das elitäre Selbstbewusstsein des ›aufgeklärten Europäers‹ gegenüber Menschen anderer Kulturen und Weltregionen hervor, indem er dem Europäer Repräsentativität in Bezug auf das Ganze zuschreibt. Aus seinem Versuch, die anthropologische Vielfalt im kosmopolitischen Sinne zu ordnen, kristallisiert sich eine Hierarchie des Menschengeschlechts deutlich heraus, die ihre Entsprechung in Kants Reflexionen zur Anthropologie findet: 1

Americaner unempfindlich. Ohne affect und Leidenschaft als blos vor Rache. Freyheitsliebe ist hier bloße faule Unabhängigkeit. Sprechen nicht, lieben nichts, sorgen vor nichts [...] nehmen keine Cultur an. 2. Neger. Gerade das Gegenteil: sind lebhaft, voller affect und Leidenschaft. Schwatzhaft, eitel, den Vergnügen ergeben. Nehmen die Cultur der Knechte an, aber nicht der freyen, und sind unfähig sich selbst zu führen. Kinder.

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Joseph Gomsu, »Die schöne Erscheinung des Mannigfaltigen«. Zur Dialektik von Identität und Differenz in Georg Forsters Essays, in: Weltengarten, Jahrbuch für Essayismus X (2000), S.46–65, hier S. 51. AA VII, S. 47. Ebd. Ebd., S. 48. H.i.O. Forster wiederholt diesen Ausdruck in seinem Aufsatz ›Ein Blick in das Ganze der Natur‹ (AA VIII, S. 91). AA VII, S. 54.

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3. Indianer [Asiaten]. Sind gelassen, gleichsam selbstbeherrschend, nehmen die Cultur der Kunst an, aber nicht der Wissenschaft und Aufklärung. Sind immer Schüler. Gut zu Bürgern und geduldig, aber nicht zu magistraten; denn sie kennen nur den Zwang und nicht das Recht und Freiheit. Gelangen nicht zu Begriffen der wahren Ehre und Tugend. [...] 4. Weisse. Enthalten alle Triebfedern der Natur in affecten und Leidenschaften, alle Talente, alle Anlagen zur Cultur und Civilisierung und können sowohl gehorchen als herrschen.224

Kants Hierarchisierung der Rassen gründet sich auf die eurozentristische Annahme, dass der europäische Weltteil »wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben [werde]«.225 Sie korrespondiert mit Forsters Annahme von der »Superiorität« der Europäer, wie er sie vor allem im wissenschaftlichen Bereich beobachtet, wofür ihm die Entdeckungsfahrten seiner Zeit Beweise an die Hand geben. Damit antizipieren Kant und Forster mit der Konzeption einer »Leitzivilisation«226 eine Überbewertung der eigenen Kultur und Rasse. Dies ist der geistige Nährboden für die (kolonialistische) Ideologie, die sich aus dem Postulat speist, anderen Völkern überlegen zu sein. Daran anknüpfend steigert sich Forster in seinem 1789 erschienenen Aufsatz Über Leckereyen zu der Behauptung: Nur der Europäer kann [...] bestimmen, was ein Leckerbissen sey, denn nur er ist vor allen anderen Menschen im Besitz eines feinen unterscheidenden Organs und einer durch vielfältige Übung erhöhten Sinnlichkeit.227

Das kulturchauvinistische Gedankengut, das sich in dieser und in ähnlichen Aussagen artikuliert, vermutet man normalerweise nicht bei einem Gelehrten wie Forster, der in der bisherigen Forschung für einen Vertreter einer weltoffenen Denktradition gehalten wird. Die Beispiele, die bisher genannt wurden, verraten aber nicht nur ethnozentrische Züge, sondern auch imperialistische Anschauungen beim ›Aufklärer‹ Forster. Freilich birgt seine Annahme, dass »wir« ein »abstrahirtes Volk« sind und dass der Europäer quasi als »Repräsentant der gesamten Gattung« gelten könne, einen Anspruch, aus dem sich fast zwangsläufig eine Verzerrung des Menschbildes entwickelt, dessen sich die rassistischen und kolonialen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts bedienen konnten. Bei Forster allerdings hat dieses Gedankengut, das sich bereits in der Reise um die Welt abzeichnet und dort vor allem in seiner paternalistischen Haltung gegenüber den Insulanern zum Ausdruck kommt, nicht die pathologischen Auswüchse der Rassenideologien seiner Zeit.228 Es gründet aber offenbar auf einer Hierarchisierung kultureller und anthropologischer Differenz, bei der Nichteuropäer de facto als minderwertig eingestuft werden.229

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Immanuel Kant, Werke, XV, S. 877f. Immanuel Kant, Werke, VI, S. 48. Jörn Garber, Anthropologie und Geschichte. Spätaufklärerische Staats- und Geschichtsdeutung im Metaphernfeld von Mechanismus und Organismus, in: FIP, S. 193–210, hier S. 203. AA VIII, S. 168. Vgl. Jörg Schmidt, Wurzeln des Wahns, S. 37. Daher spricht Nicholas Thomas im Zusammenhang mit Forsters Beschreibung mancher Südseeinsulaner von einem »quasi-racist element of Forster’s narrative« (Nicholas Thomas, »Preface«, S. xxxiii).

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Vor diesem Hintergrund sind Ludwig Uhligs Annahme, dass Forster die Südseeinsulaner »von vornherein als seinesgleichen, als gleichberechtigte Mitmenschen ansah«230 und seine Behauptung, Forster »konnte [...] ihnen [den Insulanern, Y.M.] schließlich auch in all dem gerecht werden, was sie von ihm unterschied«231, kaum haltbar. Offenbar übersieht Uhlig die aufgezeigte genuine Ambivalenz im (anthropologischen) Denken Forsters. Zwar orientiert sich Uhlig dabei zu Recht an Forsters wohl proklamierter »Vorurteilslosigkeit im Umgang mit Diversität innerhalb des Menschengeschlechts«232, er setzt sich jedoch dem Verdacht aus, vorschnell Forsters Position zu idealisieren. Auch Forsters Denken – das zeigen die bisherigen Ausführungen deutlich – spiegelt jene Dialektik von Anspruch und Wirklichkeit wider, die das Unternehmen Weltreise insgesamt charakterisiert. So kann im Hinblick auf Forsters abfällige Äußerungen gegenüber Insulanern kaum von einer Gleichberechtigung die Rede sein.233 Richtig ist, dass die eurozentrischen Dimensionen in Forsters Äußerungen ein dialektisches Moment indizieren, das eine differenzierte Auslegung der Weltoffenheit dieses Gelehrten erfordert.234 Deshalb müssen solche eurozentrisch-hierarchischen Aspekte immer in Beziehung zu einer kaum weniger auffälligen Kritik an der europäischen Zivilisation gesetzt werden. Bemerkenswert ist, dass Forster nicht nur von den »köstlichen Schätzen der Erkenntniß« bei den Europäern redet, sondern ebenso auch von ihren hypertroph gewordenen »Leidenschaften«, zu denen gerade die Herrschgier zählt235, also die Neigung, sich und die eigenen Vorstellungen zu verabsolutieren. Die

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Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 93. Ebd. Diesen Gedanken formuliert Uhlig bereits in seinem Aufsatz Georg Forster und Herder, in: Euphorion (1990), S. 339–366, hier S. 344. Dem ist allerdings in beiden Fällen nicht zuzustimmen, da Uhlig Forsters sehr differenzierte, z.T. hierarchisch strukturierte Beschreibung der Südseeinsulaner auf einen einzigen positiven Nenner der Gleichheit und Gleichberechtigung zu bringen versucht. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 10. Georg Forster können aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Meiners keine rassistischen Absichten unterstellt werden. In seinem Brief an Herder vom 21. Januar 1787 schreibt er über Meiners Werk: »Es ist Göttingische Belesenheit, auf eine unhaltbare Hypothese angewendet. Sein Werk scheint mir, bei allem Reichthum der Materialien, und selbst bei aller Anordnung, nicht gehörig geordnet. Sie werden mich schon verstehen. Er glitscht über den physischen Theil weg, und geht oft zu sehr ins Detail in Sachen, wo es entbehrlich war. Und dann ein Hauptmangel scheint sich in judicio critico zu offenbaren. Liebster Himmel! wie ist ihm jeder Reisebeschreiber und jeder Compilator so eben recht, als ob einer so viel Vertrauen verdiente wie der andere! Dafür muß man Sinn haben, oder selbst an Ort und Stelle gewesen sein« (AA XIV, S. 621f.) Darauf hat Gomsu zu Recht hingewiesen. Doch die Behauptung, Forster gehöre »zu jenen wenigen europäischen Intellektuellen, die einen anderen, nichtkolonialistischen und nicht völlig eurozentrischen Diskurs entwickelt haben« (Joseph Gomsu, Die schöne Erscheinung des Mannigfaltigen, S. 53) erscheint sehr fragwürdig. Auch wenn man Forster in einem positiveren Licht erscheinen lassen will – dazu gibt sein Werk genug Anlass – dürfen seine zum Teil imperialen Gedanken nicht unterschlagen werden. Kolonialismus und Eurozentrismus sind auch dann als konstituierende Kategorien in Forsters Diskurs zu analysieren, wenn der Gelehrte kritisch mit ihnen umgeht. Vgl. S. 230.

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Kontraproduktivität einer solchen Einstellung illustriert Forster denn auch an seinem Kommentar über die Rückkehr des Tahitiers O-Mai nach einem Aufenthalt von mehr als einem Jahr in London.: Sein Vaterland [Tahiti, Y.M.] wird von den Engländern keinen Bürger zurücknehmen, dessen erweiterte Kenntniß, oder mitgebrachte brauchbare Geschenke, ihn zum Wohlthäter, vielleicht zum Gesetzgeber seines Volks machen könnten.236

Forster nimmt die Verabschiedung O-Mais zum Anlass, um den zivilisatorischen Anspruch der europäischen Nationen in Frage zu stellen. Mit dem Fall O-Mai zeigt er, dass die Erwartung, dass Europäer außereuropäische Menschen zwar mit dem »Salz europäischer Universalkenntniß« würzen können, »ohne sie in Europäer zu verwandeln«, ein Trugschluss ist237, denn: »Die schöne Erscheinung des Mannichfaltigen mußte auch im Menschengeschlechte nicht verloren gehen [...].«238 Das liest sich wie ein Plädoyer nicht nur für die Wahrnehmung, sondern auch für die Anerkennung der menschlichen und kulturellen Pluralität. Bei allen Widersprüchen, die sich aus dem historischen Prozess der Aufklärung und seinem Missverhältnis zu außereuropäischen Kulturen speisen, scheint bei Forster eine implizite Befürwortung der multiethnischen Gesellschaft zu überwiegen, die eher der Wirklichkeit unserer multikulturellen Welt entspricht. Doch anders als in unserer Zeit ist ein offenes Bekenntnis zur Hierarchie der Menschen und Kulturen im 18. Jahrhundert nicht verpönt. Das macht manche Äußerungen Georg Forsters, die uns im Zeitalter des political correctness befremden mögen, dennoch verständlich. Zugleich aber wird daran erkennbar, dass Forster immer wieder in die eurozentristischen Sichtweisen und Annahmen seiner Zeit zurückfällt. Besonders hervorzuheben bei Forster ist allerdings der Gedanke des Besonderen, aber nur »im Zusammenhange mit dem ganzen großen Weltenbau.«239 Dies hängt sicherlich mit der im Cook-Aufsatz formulierten Erkenntnis zusammen, »daß die Natur des Menschen zwar überall klimatisch verschieden, aber im Ganzen, sowohl der Organisation nach, als in Beziehung auf die Triebe und der Gang ihrer Entwickelung, specifisch dieselbe ist.«240 Interessanterweise korrespondieren Forsters Aussagen exakt mit jenen Gedanken, die bereits David Hume als methodische Prämisse für die Vergleichbarkeit der Völker formuliert hatte: It is universally acknowledged that there is a great uniformity among the actions of men, in all nations and ages, and that human nature remains still the same, in ist principles and operations.

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AA II, S. 16. H.i.O. Vgl. dazu Boris Barth, Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserungen seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz 2005. Der 16 wissenschaftliche Aufsätze umfassende Band bietet einen fundierten Einblick in die Widersprüche der so genannten Zivilisierungsmission der Aufklärungszeit. AA VII, S. 49. AA VIII, S. 80. AA V, S. 280.

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The same motives always produce the same actions: […] Mankind are so much the same in all times and places, that history informs us of nothing new or strange in this particular.241

Vielleicht liegt hier der Grund, warum Forster Christian Gottfried Körner in einem Brief vom 25. November 1789 von seinem Wunsch nach einer »neue[n] Anthropologie« 242 verrät. Daraus kann man schließen, dass Forster mit den anthropologischen Konzepten seiner Zeit, einschließlich seiner eigenen Entwürfe seit der Weltreise nicht zufrieden ist. Charakteristisch in diesem Brief ist, dass Forster eine neue Nische für sein anthropologisches Interesse zu erschließen hofft, die ihm die »Nüäncen des Menschengeschlechts«243 bieten soll. Diese Formulierung belegt, dass Forsters Anthropologie weniger den seinerzeit vorgenommenen, zum Teil abenteuerlichen Klassifikationen des Menschengeschlechts244 gilt, als vielmehr dem Ziel, »Geseze des Zusammenhangs«245 in der verstreuten Vielfalt im Menschengeschlecht und in den Kulturen zu ergründen. Dieses spezifische Erkenntnisinteresse resultiert aus dem, was Dagmar Barnouw als »difficulties of Diversity«246 bezeichnet. Gemeint ist die Dialektik der Einheit und Mannigfaltigkeit des Menschengeschlechts in globaler Perspektive. Sie wurde insbesondere seit der Entdeckung außereuropäischer Völker sichtbar247, und sie korrespondiert mit jener kosmopolitischen Weltanschauung, die etwa Christoph Martin Wieland zu der Forderung führte, alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie und das Universum als einen Staat [zu betrachten], worin sie mit unzähligen anderen vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern, indem jedes nach seiner besondern Art und Weise für seinen Wohlstand geschäftigt ist.248

Ist die Verschiedenheit der Menschen und ihrer Kulturen der Grund für die Verschiedenheit der Wertesysteme, dann sind Zweifel an der universellen Gültigkeit der europäischen Kategorien angebracht. Doch die nahe liegende Forderung nach einer Gleichberechtigung aller Kulturen erhebt Forster nicht. Daran wird sichtbar, dass er zwar die Eigenheiten

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David Hume, Enquiry concerning Human Understanding and the Principles of Morals. Reprinted from the 1777 edition with an Introduction by L. A. Selby-Bigge. Hg. V. P. H. Nidditch. Oxford 1989, S. 83. In diesem Brief schreibt Forster: »Eine neue Anthropologie ist so sehr mein Wunsch, daß ich fast nur darum sehnlich nach England zu gehen verlange, wo ich noch am ersten diejenigen Materialien zu finden hoffte, welche mir zu einem solchen Werk unentbehrlich scheinen« (AA XV, S. 376). Ebd. Ausführlich dazu vgl. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 63–73. Es handelt sich dabei um eine alte Debatte, deren Rekapitulation durch van Hoorn eher aufgebläht und inhaltlich überflüssig erscheint, da die meisten der dort vertretenen Positionen aus heutiger Sicht völlig überwunden sind. AA VIII, S. 190. Dagmar Barnouw, Eräugnis. Georg Forster on the Difficulties of Diversity, in: Daniel Wilson, Robert C. Holub (Hg.), Impure Reason. Dialectic of Enlightenment in Germany. Detroit 1993, S. 322–343, hier S. 322. Vgl. Annette Meyer, The Experience of Diversity and the Search of Unity. Concepts of Mankind in the Late Enlightenment, in: Studi Settecenteschi 21 (2001), S. 245–264. Christoph Martin Wieland, Wielands Werke IV, S. 225.

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der Kulturen anerkennt und die Vereinheitlichung der Differenz ablehnt, ohne jedoch alle Menschen und Kulturen als gleichwertig anzuerkennen.249 Diversität bedeutet eben nicht Gleichheit. Die so beschriebene dialektische Denkweise liefert die Erklärung dafür, dass Forster die Menschheit trotz ihrer mannigfaltigen Erscheinung als Einheit wahrnimmt, zugleich aber dem Europäer Qualitäten zuspricht, die ihm einen unangefochtenen Führungsanspruch im weiteren Verlauf des Weltgangs sichern sollen. Diese Denkhaltung fügt sich einerseits in Forsters Bemühen, »ein umfassendes Bild von der Menschheit zu gewinnen«250, andererseits greift sie die herrschende Ideologie der so genannten zivilisatorischen Mission auf. Diese Einstellung bewährt sich in der für den Bericht Reise um die Welt charakteristischen Asymmetrie zwischen Vertretern der europäischen und der südpazifischen Kulturen. Auch die Frage nach dem monogenetischen oder polygenetischen Ursprung des Menschengeschlechts erfährt in Forsters anthropologischen Reflexionen unterschiedliche, einander widersprechende Antworten.251 Doch statt sich an dieser aus heutiger Sicht unsinnigen Frage aufzureiben, lenkt Forster das Augenmerk darauf, »daß alles in der Schöpfung durch Nüancen zusammenhängt«252, wodurch er einen paradigmatischen Wechsel vollzieht. Mit diesem neuen Erkenntnisfeld im Blick wirft Forster nun folgende Fragen auf: [...] indem wir die Neger als einen ursprünglich verschiedenen Stamm vom weissen Menschen trennen, zerschneiden wir da nicht den letzten Faden, durch welchen dieses gemishandelte Volk mit uns zusammenhieng, und vor europäischer Grausamkeit noch einigen Schutz und einige Gnade fand? Lassen sie mich lieber fragen, ob der Gedanke, daß Schwarze unsere Brüder sind, schon irgendwo ein einzigesmal die aufgehobene Peitsche des Sklaventreibers sinken ließ?253

Freilich schließt sich Forster damit jener humanistischen Perspektive in der Anthropologie an, die nirgendwo besser als in Herders Briefe[n] zur Beförderung der Humanität Niederschlag findet.254 Forster erschließt sich somit einen neuen Denkkontext, in dem er die Aufgabe der Europäer in der kosmischen Bildung anderer Menschen definiert:

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In seinem Brief vom 16. April 1793 an seine Frau wiederholt er, was er bereits in seinen anthropologischen Schriften niedergelegt hat: »Freiheit und Gleichheit? [...] Allein diese Enthaltsamkeit, die Achtung für die Rechte des Andern, welche dem Philosophen so natürlich ist, findet in der wirklichen Welt noch nicht statt«. David Simo, Georg Forsters Übersetzung des Sankrits-Dramas Sakontala. Voraussetzungen und Bedeutung einer Kulturvermittlung, in: Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken. (2003), S. 46–61, hier S. 54. Vor diesem Hintergrund erscheint die Kritik Tanja van Hoorns an der Arbeit von Astrid Schwarz völlig überflüssig, denn sie übersieht wie jene, dass sich Forsters Anthropologie nicht in der Frage erschöpft, ob die Menschheit mono- oder polygenetischen Ursprungs ist. Forster selbst hat diese inzwischen obsolete Frage nicht beantwortet. AA VIII, S. 141. Ebd., S. 154. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 127f.

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Dürfen wir unserer Phantasie den weiten Spielraum vergönnen und die Wirkungen errathen wollen, welche unsere kosmische Bildung auf die übrigen Geschlechter der Menschen hervorbringen kann? – Aus Europa erhalten sie dereinst ihre eigenen Ideen mit dem Stempel der Allgemeinheit neu ausgemünzt wieder zurück und die zahlreichen europäischen Pflanzstädte, Handelsposten und eroberten Provinzen beider festen Länder dort das Licht der Vernunft zur vollkommenen Klarheit gemischt, wo es zuvor nur in gebrochenen, farbigen Stralen aufgefangen ward.255

Die Forderung nach der Anerkennung der anthropologischen und kulturellen Unterschiede schließt nach Forsters Ansicht also nicht die kulturelle und moralische Überlegenheit aus, »die man den Europäern nicht abstreiten kann.«256 Wenn Forster dennoch an der Vielfalt von Menschen und Kulturen festhält, so nicht zuletzt deshalb, weil er sich nur vom Kontrast der Kulturen ebenso wie von ihren anthropologischen Spielarten »den richtigeren Begrif der Menschheit«257 verspricht. Denn er weiß: »Neger und Mongolen, Lappländer und Feuerländer bleiben freilich auch unter jedem möglichen Einfluß neuer, ihnen angemessener Begriffe, ja selbst bei jeder erdenklichen Vermischung mit anderen Stämmen, von ihrem Boden und ihrem Himmel gezeichnete Menschen.«258 Damit erkennt er, dass die im Globus verteilten unterschiedlichen Kulturen und Menschen nicht ineinander aufgehen können und dürfen.259 Wie man auch immer Forsters anthropologisches Denken einschätzen mag, es gründet auf der Kernforderung, Menschen und Kulturen in ihrer Verschiedenheit zu bewahren und sie im Vollzug der Kolonisation nicht »in Europäer zu verwandeln«.260 Denn für ihn steht fest: »nur in unaufhörlichen partiellen Disharmonien konnte der große Zusammenklang des Weltalls bestehen!«261 So gesehen bildet Forsters Legitimation der so genannten Mission Civilisatrice und seine Forderung, die Existenz außereuropäischer Lebensformen in ihrer Eigenständigkeit anzuerkennen, keinen Widerspruch. Seine Anthropologie ist an der Idee einer humanistisch geprägten anthropologischen Vielfalt festgemacht, die sich deshalb einer Nivellierung widersetzt, »weil auch das vollendetste irdische Wesen nur ein Akkord ist jenes großen Zusammenklangs, in dessen Rauschen unser Geist versinkt!«262 In seinem Cook-Essay formuliert Forster jenen Gedanken, der als Kernaussage seines anthropologischen Denkens betrachtet werden kann: Dem Menschen liegt unstreitig kein Gegenstand näher als der Mensch selbst in allen seinen mannichfaltigen Verhältnissen der Gestalt, der Entwicklung, der Verfassung, der Zeit und des

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AA VII, S. 48f. Ebd., S. 46. Ebd. AA VII, S. 49. Hierzu schreibt beispielsweise Michèle Duchet: » [...] l’espèce ne peut varier que par le concours des causes extérieures et accidentelles. Dans le temps et dans l’espace, elle se diversifie à l’infini, en s’altérant ou en se perfectionnant, mais elle ne peut perdre ses caractères essentiels ». Michèle Duchet, Anthropologie et histoire au siècle des Lumières. Paris 1971, S. 219. AA VII, S. 49. AA VIII, S. 167. AA VII, S. 19.

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Ortes. Die Vergleichung unzähliger Abweichungen von unserer Lebensweise, die Betrachtung dessen, was in diesen verschiedenen Gemälden auf unsern eignen Zustand anwendbar ist, die Erweiterung einer Menge von Ideen, Vorstellungen, Begriffen und Neigungen, die bereits in uns vorhanden waren, aber durch ähnliche oder auch entgegengesetzte Züge im Charakter verschiedener Nationen erst angestoßen wurden, sind eben so viele kräftige Mittel die Aufmerksamkeit des Verstandes zu fesseln.263

Es handelt sich um eine Anthropologie, die sich nicht in Dichotomien erschöpft264, sondern, wie Forster in seinem Aufsatz Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit formuliert, die »Ähnlichkeit des Allgemeinen mit dem Besondern«265 zu verbinden sucht. Forster gehört mit dieser Ansicht neben Herder zu den wenigen Gelehrten seiner Zeit, die Menschen der Übersee trotz des angenommenen kulturstiftenden Einflusses der Europäer einen eigenen Stellenwert zuerkennen. In diesem Zusammenhang entfaltet er eine anthropologische Perspektive, die David Simo unserer Gegenwart mit folgenden einprägsamen Worten ins Stammbuch schreibt: »[...] eine Welt, wo dieselben Verhaltensmuster, wo dieselben Denkweisen, dieselben Ausdrucksweisen überall anzutreffen wären, wäre sicherlich eher eine Armut.«266 Allerdings wird die hier implizierte Zusammenschau verschiedener Menschen und Kulturen von Forster nicht konsequent eingehalten. Schon in seiner Auffassung vom Fortschritt zeigen sich besondere dialektische Risse.

7.

Kulturfortschritt als Naturteleologie

Sowohl die Hochkonjunktur des Mythos vom ›Edlen Wilden‹ als auch der hartnäckige Glaube an ein irdisches Paradies jenseits der europäischen Kultur durchkreuzen den Diskurs der europäischen Zivilisation mit seinem Wissenschafts- und Fortschrittsoptimismus. In diesem Kontext entfacht im Europa des 18. Jahrhunderts eine heftige Kontroverse zwischen Befürwortern des Kulturfortschritts auf der einen und den Zivilisationskritikern auf der anderen Seite. Gekennzeichnet ist diese Gegenüberstellung, wie wir sie heute noch in der historischen Kulturforschung nachlesen können, durch eine zunehmende Polarisierung von Natur und Kultur. Herausgebildet u. a. aus den Schriften des französischen Aufklärungsphilosophen Jean-Jacques Rousseau, findet diese Polarisierung in zahlreiche Reisebe-

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AA V, S. 278. Vgl. Manuela Ribeiro Sanches, Dunkelheit und Aufklärung – Rasse und Kultur. Erfahrung und Macht in Forsters Auseinandersetzung mit Kant und Meiners, in: Georg-Forster-Studien VIII (2003), S. 53–82. Forsters Kritik an Kant und Meiners wird richtigerweise vor dem erkenntnistheoretischen Hintergrund beleuchtet. Dabei übersieht die Autorin allerdings, dass Forster mit seiner Forderung nach der Anerkennung der Einheit und Vielfalt im Menschengeschlecht eine einfache dichotomische Diffenzierung ablehnt. AA VIII, S. 186. David Simo, Die Nord-Süd-Problematik aus der Sicht des Südens. Leben in einer multikulturellen Welt, in: Mehdi Jafari Gorzini, Heinz Müller (Hg.), Handbuch zur interkulturellen Arbeit. Wiesbaden 1993, S. 21–32, hier S. 30.

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schreibungen der damaligen Zeit Eingang. Die literarischen Schilderungen der Südseereisenden nehmen dabei eine Schlüsselfunktion ein, weil sie je nach Perspektive und Leseart mal der Notwendigkeit des Kulturforschritts, mal der Zivilisationskritik passende Belege zu liefern scheinen.267 Auch Georg Forster, der sich kaum eine zentrale Frage seiner Zeit hat entgehen lassen, beteiligt sich an dieser Debatte, und zwar in einer Weise, die aufgrund ihrer Originalität bemerkenswert erscheint. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern widerspricht Forster, wie wir bereits gesehen haben, der apodiktischen Idealisierung des Naturzustandes. Grundlage seiner Überlegungen, aus denen sich eine ambivalente Theorie des Fortschrittes herauskristallisieren sollte, sind die unmittelbaren Erfahrungen im Kontakt mit den Südseeinsulanern und ihren Kulturen. Besondere Relevanz haben jene Vorgänge, die Forster bei der Ankunft der »Resolution« am 26. März 1773 in Neuseeland dokumentiert. Kurze Zeit nach ihrer Ankunft errichten die Europäer ein Lager am Strand. Durch ihr Treiben verändern sie schnell das vorgefundene Landschaftsbild. Diesen Vorgang kommentiert Forster mit den Worten: In wenig Tagen hatte eine geringe Anzahl von unsern Leuten, das Holz von mehr als einem Morgen Landes weggeschafft, welches funfzig Neu-Seeländer, mit ihren steinernen Werkzeugen, in drey Monathen nicht würden zu Stande gebracht haben. Den öden und wilden Fleck, auf dem sonst unzählbare Pflanzen, sich selbst überlassen, wuchsen und wieder vergiengen, den hatten wir zu einer lebendigen Gegend umgeschaffen, in welcher hundert und zwanzig Mann unablässig auf verschiedene Weise beschäftigt waren.268

Durch die Betonung der Betriebsamkeit der Europäer, die dem »wilden Fleck« der Insulaner gegenüber gestellt wird, skizziert Forster seine Bewertung der europäischen Präsenz, die ihm zufolge »Augenblicke [...] der Cultur«269 in einem Land in Gang gesetzt hätte, »das bis jetzt noch eine lange Nacht von Unwissenheit und Barbarey bedeckt hatte!«270 An dieser Aussage, die in zeittypischer Weise außereuropäische Kulturen mit den Metaphern der »Nacht« und der »Barbarey« als zwei der europäischen Zivilisation entgegengesetzte Extreme lexikalisch identifiziert, wird ein Paradigma manifest, das Forsters Fortschrittsoptimismus zu begründen scheint. Gemeint ist der positive Wandel vom Natur- hin zum Kulturzustand. Diese Position gewinnt im Kontext der Reise um die Welt an deutlichen Konturen. Dabei nimmt der Fluchtversuch des Matrosen John Marra auf Tahiti eine exponierte Stelle ein. Marra, der offenbar »statt der mancherley Unglücksfälle die ihm zur See droheten, ein gemächliches, sorgenfreyes Leben in dem herrlichsten Clima von der Welt, zu ergreifen wünschte«271, fällt bei Forster in Ungnade. Als Augenzeuge des Ereignisses

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Als eines der prominenten Beispiele kann man Denis Diderot anführen, der nach der Lektüre von Bougainvilles Reisebeschreibung sein berühmtes zivilisationskritisches »Supplément« verfasst. Dieser Aufsatz ist eine der großen Stützen für den Topos des Edlen Wilden. Vgl. KarlHeinz Kohl, Entzauberter Blick, S. 203f. AA II, S. 161f. Ebd., S. 163. Ebd. AA III, S. 86.

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nimmt Forster diesen Desertionsversuch zum Anlass, um deutlich zu machen, worin der europäische Fortschritt dem so genannten Naturzustand der Südsee vorzuziehen ist: Freylich, mit etwas mehr Beurtheilungskraft, würde er [der Matrose, Y.M.] eingesehen haben, daß ein Mensch von seiner Art, der zu einem thätigen Leben gebohren, mit tausend Gegenständen bekannt, wovon die Tahitier nichts wissen, und gewohnt sind, an das Vergangne und Zukünftige zu denken, daß der, einer so ununterbrochnen Ruhe und eines beständigen Einerley, bald überdrüssig werden müsse, und daß eine solche Lage nur einem Volk erträglich seyn könne, dessen Begriffe so einfach und uneingeschränkt sind, als wir sie bey den Tahitiern fanden.272

Mit seinem Kommentar über den Vorfall dokumentiert Forster einmal mehr seine Distanz zur Faszination der Südsee, wie sie in dem Diskurs der Zivilisationskritiker des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Das arkadische Schäferleben der Tahitier ist deshalb kein erstrebenswerter Weg, weil es ihm zufolge die Menschheit keinen Schritt voranbringt: In der Lebensart der Tahitier herrscht durchgehends eine glückliche Einförmigkeit. Mit Aufgang der Sonne stehen sie auf, und eilen sogleich zu Bächen und Quellen, um sich zu waschen und zu erfrischen.273

So sehr die Tahitier mit »dieser einfachen Art zu leben« glücklich sein mögen, in der sie »nichts von Kummer und Sorgen« wissen, so wenig hält Forster ein solches Leben für einen Europäer geeignet, der ihm zufolge auf Betriebsamkeit angelegt sei. Mit diesem Hinweis wendet sich Forster indirekt gegen Rousseau, dessen Unterscheidung vom ›Wilden‹ und ›Zivilisierten‹ sich geradezu als eine Absage an den Fortschritt lesen lässt: Der wilde und der polierte Mensch gehen im Grunde ihres Herzens und ihrer Neigungen so weit voneinander ab, daß der eine verzweifeln würde, wenn er das hätte, wobei sich der andere glücklich schätzt. Jener sehnt sich nur nach Ruhe und Freiheit; er will leben und untätig bleiben [...]. Der immertätige Bürger hingegen schwitzet, arbeitet und quält sich unaufhörlich [...]. Er arbeitet sich tot, um leben zu können [...].274

Anders als Rousseau, der in seinen philosophischen Betrachtungen mit dem ursprünglichen Glück und der ursprünglichen Harmonie auch dann kokettiert, wenn er sie lediglich als hypothetisch entwirft, fordert Forster aus seinen praktischen Erfahrungen mit den Insulanern, den Begriff der »Glückseligkeit« zu relativieren: »Schon der schwankende Begriff der Glückseligkeit, den jeder mit sich herumträgt, müsste wohl, ehe er praktisch werden könnte, in den meisten Fällen eine große Einschränkung oder eine gänzliche Umschmelzung leiden.«275 Für Forster scheinen die Insulaner nur deswegen glücklich, »weil ihnen Wasser und Brodfrucht genügt«276, ein Sachverhalt, der sich auf die europäische Kultur nicht übertragen lasse. So enthalten Forsters Relativierung des Begriffs der Glückseligkeit und seine tendenziell negativen Äußerungen über das vermeintlich glückliche Leben der Insulaner

272 273 274 275 276

Ebd., S. 89f. Ebd., S. 89. Zit. nach: Gerd Stein (Hg.), Europamüdigkeit und Verwilderungswünsche. Frankfurt/M. 1983, S. 180f. AA V, S. 285f. Ebd., S. 96.

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eine gegen die Kulturaussteiger gerichtete Warnung. Für Alois Prinz liegt die Begründung von Forsters Kritik in folgendem Sachverhalt begründet: Die Begeisterung für die Südsee deutet auf einen Riss in der Aufklärung hin: Ausgerechnet im hoch zivilisierten Europa, wo die Vernunft so selbstbewusst auf dem Vormarsch ist, werden die sogenannten Wilden als Vorbild entdeckt.277

Tatsächlich unterscheidet sich Forster von den als beachcombers bezeichneten Aussteiger darin, dass sich diese aus Mangel an »Beurtheilungskraft« für die von den Utopisten propagierte Paradiesvorstellung der Südsee besonders anfällig zeigen, wovon die Meuterer auf der Bounty 1789 Zeugnis ablegen. Demgegenüber fühlt sich Forster als aufgeklärter Reisender verpflichtet, die durch Rousseau und seine Anhänger bevorzugte Interpretation des Fortschritts als Ausdruck einer Dekadenz für die Menschheit zu korrigieren. So wendet er den Fortschrittsbegriff, der bei Rousseau mit dem Verfall der Menschennatur gleichgesetzt wird, zur Erklärung der Notwendigkeit des Weltlaufs und der Menschheitsgeschichte im positiven Sinn an. Erschüttert zeigt sich Forster über jenes Lebensextrem im Naturzustand, auf das er im Dezember 1774 im Feuerland stößt. Bei der Begegnung mit den »Pesserähs«- wie die Bewohner des Feuerlandes seit Bougainville heißen278 – stellt er fest: Auf vielfältiges Zuwinken kamen etliche von diesen Leuten ins Schiff; doch ließen sie nicht das geringste Zeichen von Freude blicken, schienen auch ganz ohne Neugierde zu seyn. Sie waren von kurzer Statur [...] hatten dicke große Köpfe, breite Gesichter, sehr platte Nasen, und die Backenknocken unter den Augen sehr hervorragend; die Augen selbst waren von brauner Farbe, aber klein und matt, das Haar schwarz, ganz gerade, mit Thran eingeschmiert, und hieng ihnen wild und zottigt um den Kopf. Anstatt des Barts standen einige einzelne Borsten auf dem Kinn, und von der Nase bis in das häßliche, stets offene Maul war ein beständig fließender Canal vorhanden.279

Kaum ein anderes Volk schneidet in Forsters Reisebericht so negativ ab wie die Bewohner des Feuerlandes. Allerdings stehen die Pesserähs nicht nur wegen ihrer Physiognomie ganz am Ende der menschlichen und kulturellen Skala, sondern auch deswegen, weil sie Merkmale aufweisen, die für Forster das Fehlen von Fortschritt und Zivilisation schlechthin vor Augen führen: »Diese Züge machten, zusammen genommen, das vollständigste und redendste Bild von dem tiefen Elend aus, worinn dies unglückliche Geschlecht von Menschen dahinlebt.«280 Es fällt auf, dass das Elend der Feuerländer nicht bloß beschrieben, sondern auch sprachlich potenziert wird, um das absolute Fremde konstruieren zu können. Hieraus wird verständlich, dass die Feuerländer von Forster kaum als

277 278

279 280

Alois Prinz, Das Paradies ist nirgendwo, S. 59. Die Bezeichnung »Pesseräh« geht auf Bougainville und nicht auf Forster zurück, wie von Tanja van Hoorn fälschlicherweise angenommen wird. Vgl. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 77. Bougainville schreibt: »Nous les avions nommés Pécherais, parce que ce fut le premier mot qu’ils prononcèrent en nous abordant et que sans cesse ils nous le répétaient«. Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde, S. 94. H.i. O. AA III, S. 380f. Ebd., S. 381.

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Edle Wilde, sondern vielmehr als Chiffre einer in Degeneration begriffenen Natur des Menschen vermittelt werden: Sie schienen unsre Überlegenheit und unsre Vorzüge gar nicht zu fühlen, denn sie bezeigten auch nicht ein einzigesmal, nur mit der geringsten Geberde, die Bewundrung, welche das Schiff und alle darinn vorhandenen große und merkwürdige Gegenstände bey allen Wilden zu erregen pflegten! Dem Thiere näher und mithin unglückseliger kann aber wohl kein Mensch seyn, als derjenige, dem es, bey der unangenehmsten körperlichen Empfindung von Kälte und Blöße, gleichwohl so sehr an Verstand und Überlegung fehlt, daß er kein Mittel zu ersinnen weiß, sich dagegen zu schützen?, der unfähig ist, Begriffe miteinander zu verbinden, und seine eigne dürftige Lage mit dem glücklicheren Zustande andrer zu vergleichen?281

Diese Fragen sind rhetorisch gemeint und bedenkenswert zugleich. Die Anerkennung der »Vorzüge« europäischer Zivilisation, d. h. ihre Macht und Überlegenheit, wird zu einem anthropologischen Definitionskriterium erhoben. Weil die Feuerländer intellektuell nicht einmal dazu in der Lage sind, »unsre Überlegenheit« wahrzunehmen, beschließt Forster, sie als »die seltsamste Mischung von Dummheit, Gleichgültigkeit und Unthätigkeit«282 zu kategorisieren, denn »Geberden, die der niedrigste und einfältigste Bewohner irgend einer der Inseln in der Südsee verstand, begriff hier der Klügste nicht.«283 Das eigentliche Erkenntnismoment dieser Beschreibung liegt nicht in dem als bedauernswürdig exponierten Zustand der Feuerländer, sondern zum Teil in dem Sprachduktus begründet, dessen sich Forster bedient. Schon die stilistisch exponierte Anhäufung der Begriffe »Dummheit«, »Gleichgültigkeit« und »Unthätigkeit« führt zur Konstruktion des Fremden katexochen und dessen Verortung jenseits der Vernunft. Doch auch hier wird die Ambivalenz in Forsters Darstellung augenfällig: Wie schon während seines zweiten Aufenthaltes auf Tahiti beschreibt er hier aus der Perspektive eines ungebrochenen Fortschrittsglaubens die Mängel der Naturgesellschaft, sodass ihm die Bewohner Feuerlands als konkretes Beispiel für den verwahrlosten Naturzustand deutlich vor Augen treten. Die in der Reise um Welt vielfach artikulierte Erwartung, dass die Insulaner die Überlegenheit der Europäer anerkennen sollen, ist Ausdruck eines zugrunde liegenden Machtdiskurses, der gerade die Verfügbarkeit des Anderen, des Insulaners, voraussetzt. Eine solche Erwartung, die sich aus dem Prinzip anthropologischer und kultureller Hierarchie ergibt, stellt insofern eine problematische Konstante in Forsters Weltbild dar, als sie auf einer Herr-Knecht-Dialektik basiert284 und damit letztendlich genau jene Asymmetrie im Verhältnis der Kulturen befördert, der Forster in seinem Selbstverständnis als Aufklärer und Weltbürger entgegenzuwirken vorgibt. Mit anderen Worten: Forsters Aussagen machen deutlich, dass das Prinzip der Macht und Überlegenheit die Konstanz in den Beziehungen zwischen Europäern und Insulanern

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282 283 284

Ebd., S. 383. Bei Bougainville heißt es: »Ils (les Pécherais, Y.M.) ne temoignèrent aucune surprise ni à la vue des navires, ni à celle des objets divers qu’on y offrit à leurs regards« (LouisAntoine de Bougainville, Voyage autour du monde, S. 99.) AA III, S. 382. Ebd., S. 382f. Vgl. Ulfried Reichardt, Alterität und Geschichte. Funktionen der Sklavereidarstellung im amerikanischen Roman. Heidelberg 2001, S. 70ff.

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bildet. Selbst dort, wo Forster den Machtmissbrauch der Entdecker moniert, geht es ihm lediglich um die Verhältnismäßigkeit, am Prinzip der europäischen Superiorität hält er grundsätzlich fest. Im Verhalten der Feuerländer sieht Forster, der sich hier in der Tradition des mechanischen Materialisten Thomas Hobbes bewegt, unverkennbare Zeichen für einen niedrigen Stand der menschlichen Entwicklung. Ihre radikale Ausprägung veranlasst ihn dazu, den Feuerländern vollmenschliche Qualitäten abzusprechen und vom Postulat der universalen Gleichheit der Menschen noch weiter als bisher abzurücken. Nach Forsters Einschätzung haben Feuerländer einen »so geringen Vorzug von den unvernünftigen Thieren voraus«285, dass ihr Leben keineswegs bewundert, geschweige denn als erstrebenswert angesehen werden kann. Hier wird klar, dass Forster die Feuerländer, wie im Übrigen auch die anderen Insulaner, denen er begegnet, nach den selbstverständlichen Wertungen seiner Gesellschaft beurteilt, allerdings hier in noch verschärfter Form, die seine Forderung zu mehr Toleranz und Verständigung radikal in Frage stellt. Dies erscheint umso problematischer, als Forster seinem Reisebericht den ethischen Leitgedanken voranstellt: »Alle Völker der Erde haben gleiche Ansprüche auf meinen guten Willen«286 und im Zusammenhang mit der Vermittlung seiner Reiseerfahrungen betont, sein »Lob« bzw. sein »Tadel« gegenüber südpazifischen Kulturen sei »unabhängig von National-Vorurtheilen, wie sie auch Namen haben mögen.«287 Abgesehen davon, dass die Kriterien für das »Lob« oder den »Tadel« einseitig nach der europäischen Erwartungshaltung definiert sind, scheitert Forster an dem Anspruch auf eine objektive Annäherung an die Südseebewohner »jenseits ethnozentrischer Vorurteile.«288 Dass der gute Wille allein nicht ausreicht, um Objektivität im Begegnungsprozess der Kulturen zu erzielen, scheint Forster sogar selbst einzusehen, allerdings erst in seinem späteren Brief an den spanischen Mineralogen Don Fausto d’ Elhuyar y de Suvisa. Darin heißt es: Je suis fidèle et zélé dans le service auquel on m’employe, et libre des préjugés ordinaires des gens de lettres [...] puisque les théories et les hypothèses s’accordent rarement avec les cours des affaires réelles dans le monde.289

Tatsächlich wird schon in der Reise um die Welt erkennbar, dass sich Forster aufgrund seiner aufklärerischen Sozialisation zwar der »préjugés ordinaires« nicht bedient, die Dialektik zwischen Hypothesen und den »affaires réelles«, wie diese die Praxis der Kulturbegegnung offenbart, vermag er jedoch nicht konsequent und nachhaltig zu überwinden. Folgerichtig wird Forster einem gleichberechtigten Umgang mit den Insulanern oder gar einer Begegnung auf Augenhöhe allein schon deshalb nicht gerecht, weil er die Insulaner, wie bereits gesehen, in der Regel von einem Standpunkt aus beurteilt, der die europäische Zivilisation höher und als Norm voraussetzt.

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AA III, S. 403. AA II, S. 13. Ebd., S. 14. Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹, S. 96. AA XV, S. 76.

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Dennoch ist es bemerkenswert, dass Forster bei der Beurteilung nichteuropäischer Völker eine bewusste Kennzeichnung seines eurozentrischen Standpunktes vornimmt: »Werturteile, die er [Forster, Y.M.] formuliert«, stellt Lepenies fest, »insbesondere negative Einschätzungen fremder Sitten, die er nicht unterdrücken kann, werden von ihm stets durch Kennzeichnungen wie ›nach unseren Begriffen‹, ›in unsern Augen‹ oder ›unsern vaterländischen Begriffen nach‹ relativiert.«290 Freilich sind sprachliche Wendungen dieser Art aufschlussreich. Sie sind Beleg dafür, dass Forster trotz seiner Versicherung, »daß es nicht finster und trübe vor meinen Augen gewesen ist«291, kaum über die gängige Erwartungshaltung seiner Zeit hinaus gelangt, womit das ethnographische Grundproblem der Repräsentation fremder Völker angesprochen ist.292 Dem Reisenden Forster ist also bewusst, und darin liegt ein wesentlicher Erkenntnisgewinn, dass sich das gut gemeinte Ziel, den Fremden unbefangen zu begegnen, gerade auch im spezifischen Kontext der Entdeckungsreisen nicht allein durch die Bekundung eines guten Willens erreichen lässt. Bereits bei Bougainville, der schon vor Forster den Feuerländern begegnet war, finden wir diese eurozentrische Haltung voll entfaltet: De tous les sauvages que j’ai vus dans ma vie, les Pécherais sont les plus dénués de tout : ils sont exactement dans ce qu’on peut appeler l’état de nature ; et, en vérité, si l’on devait plaindre le sort d’un homme libre et maître de lui-même […] je plaindrais ces hommes.293

Auch Forster greift in seiner Reise um die Welt diese eindeutig gegen Rousseau gewendete Perspektive auf. Mit Blick auf den Topos des Edlen Wilden erscheint sein Urteil über die Feuerländer unmissverständlich: Was die ärgste Sophisterey auch je zum Vortheil des ursprünglich wilden Lebens, im Gegensatz zur bürgerlichen Verfassung, vorbringen mag; so braucht man sich doch nur einzig und allein die hülflose bedauernswürdige Situation dieser Pesserähs vorzustellen, um innig überzeugt zu werden, daß wir bey unsrer gesitteten Verfassung unendlich glücklicher sind!294

Zeichnet sich in den im Laufe der Weltreise gesammelten Erfahrungen über die unterschiedlichen Kulturstufen der menschlichen Gesellschaften so etwas wie ein Votum für den Fortschritt und die Zivilisation ab, so entwickelt und baut Forster seine entsprechenden theoretischen Ansätze in seinen späteren Schriften aus, in denen die Auseinandersetzung mit Rousseau verschärft wird. Er zielt darauf ab, die Thesen Rousseaus, denen er bereits in Reise um die Welt praktische Erfahrungen entgegen stellt, nun auch auf der theoretischen Ebene zu widerlegen. In diesem Zusammenhang nimmt der CookEssay insofern eine herausragende Stellung ein, weil Forster sich darin vornimmt, eine

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Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, S. 126. AA II, S. 13. Vgl. Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. München/ Wien 1990, S. 51. Louis-Antoine de Bougainvielle, Voyage autour du monde, S. 100. AA III, S. 383.

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»consequentere Philosophie«295 zu entwickeln, welche Rousseaus »Täuschung wieder aufheben kann.«296 Am Beginn des Cook-Aufsatzes formuliert Forster seine Zweifel daran, »daß die Ausbildung des Menschengeschlechts einen anderen Gang hätte nehmen können, als sie wirklich genommen hat« und fügt gleich hinzu: »ehe man dies beweiset, ruft man uns vergebens in die Wälder zurück.«297 Genau dies tut aber Rousseau nicht, wie bereits in der Forschung mehrfach hingewiesen wurde.298 Doch allein der Hinweis, Forster habe Rousseau missverstanden, greift vor allem dann zu kurz, wenn man nicht erkennt299, dass Forster Rousseau nur zum Vorwand nimmt, um den Forschritt als »Bestimmung des Menschengeschlechts«300 zu erweisen, ganz gleich, ob jener seine Thesen als möglich oder nur hypothetisch gemeint haben mochte. Zuerst erscheint es wichtig, dass Forster den Fortschrittsgedanken mit der Idee der Perfektibilität in Verbindung bringt, die bereits Rousseau entworfen und als die Fähigkeit zur Vervollkommnung definiert hatte. Doch schon in der Bewertung vom Stellenwert der Perfektibilität machen sich zwischen Rousseau und Forster erhebliche Unterschiede sichtbar. Während Rousseau die Perfektibilität in negativer Konnotation als »die Quelle allen Unglücks des Menschen« betrachtet, weil sie das Individuum »auf die Dauer zum Tyrannen seiner Selbst und der Natur macht«301, hebt Forster zuerst das Positive an der »Anlage zur Vervollkommnung« hervor. Stimmt Forster Rousseau darin zu, dass die »Anlage zur Vervollkommnung« die Bedingung für den Forschritt bildet, so warnt er jedoch davor, »die Perfectibilität als ein der Natur entgegengesetztes Extrem zu betrachten.«302 Somit widerspricht er der Auffassung von einer radikalen Dichotomie zwischen Naturzustand und Fortschritt, wodurch er aber seine bereits erörterte Analogisierung der Tahitier mit dem Kindheitszustand der (europäischen) Menschheit nicht aufgibt, sondern vielmehr eine diachronische Perspektive konstruiert. Für ihn handelt es sich bei der Differenz zwischen Zivilisation und dem, was er vom Standpunkt der europäischen Kultur als Wildheit wahrnimmt, weniger um einen prinzipiellen, als vielmehr um einen graduellen Abstand, der den »Unterschied zwischen Natur und Cultur [...] höchstens in einem willkührlichen Gebrauch der Worte«303 begründet. Forster wendet sich damit gegen die Zivilisationskritiker, die den Kulturfortschritt als dekadenten Gegensatz der Natur interpretieren. Seiner Ansicht nach sind der »Naturmensch« und der »Kulturmensch« im Besitz der gleichen Anlagen zur Perfektibilität,

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AA V, S.193. Ebd., S.193f. Ebd., S.193. Vgl. Ulrich Kronauer, Rousseaus Kulturkritik aus der Sicht Georg Forsters, in: FIP, S. 147–156. Eine solche Tendenz zeigt sich beispielsweise bei Ulrich Kronauer, der über weite Teile seines Aufsatzes die Frage behandelt, inwiefern Rousseau von Forster missverstanden wurde. Vgl. ebd. AA V, S. 193. Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, hg. v. Heinrich Meier. Paderborn 1984, S. 105. AA V, S. 193. Ebd., S. 162.

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auch wenn sich Unterschiede in der Entwicklungsweise dieser Anlagen ergeben. In Analogie dazu stellt Forster in seinem Aufsatz »Der Brotbaum« fest, »daß auch der Brotbaum eine Perfectibilität besitzt, welche sich vermittelst der fleißigen Kultur entwickeln kann.«304 Der so genannte Naturzustand bedeutet demnach nicht die Abwesenheit von Kultur, sondern – wenn die paradoxe Wendung erlaubt ist – der Naturzustand der Kultur: Der unterschobene Begriff, die Perfectibilität als ein der Natur entgegengesetztes Extrem zu betrachten, mußte freylich den Gesichtspunkt verwirren und eine Täuschung zuwege bringen, welche nur eine consequentere Philosophie wieder aufheben kann.305

Demnach fasst Forster den Fortschritt als »Zweck der Natur«306 auf. Damit erfolgt eine die starre Dichotomie von Natur und Kultur auflösende Naturalisierung der Kultur und des Fortschritts sowie umgekehrt eine Historisierung der Natur. Forster betont die Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit der Entwicklung hin zum Kulturzustand als »Bestimmung des Menschengeschlechts.«307 In dieser Perspektive findet der den Thesen Rousseaus entgegengesetzte schottische Denkansatz Ausdruck, den Uhlig als »Conjectural history«308 analysiert und dessen Hauptvertreter Adam Furgesson war: »We speak of art as distinguished from nature; but art itself is natural to man.«309 Obwohl die conjectural history einen empirischen Hintergrund hat, verwendet sie auch Kant. Das kann man daran erkennen, dass auch er den Prozess der Vergesellschaftung aus der Naturnotwendigkeit ableitet: Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich – und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich – vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, als den einzigen Stand, in welchem sie alle ihre Anlage in der Menschheit völlig entwickeln kann.310

Hier zeigt sich eine nahezu vollkommene Übereinstimmung mit Forsters Thesen, die in der Ansicht Ausdruck finden, dass der Kulturfortschritt unvermeidlich und unaufhaltbar ist. Kant hebt zudem hervor, der Forschritt befreie den Menschen »aus der Vormundschaft der Natur« und setze ihn »in den Stand der Freiheit [...].«311 Ihn interessiert daher nicht die Frage, »[o]b der Mensch durch diese Veränderung gewonnen, oder verloren habe.«312 Hierin liegt der Grund für Kants harsche Kritik an Herders Ideen, wobei auch Forsters gelegentliches Plädoyer für den Schutz der Insulaner gegen negative Einflüsse der Europäer ins Visier genommen wird:

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AA VI, 1, S. 73. Der Aufsatz ist sonst auch für das Verständnis von weiteren erkenntnistheoretischen Ansätzen Forsters aufschlussreich. AA V, S. 193f. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 91. AA V, S. 193. Ludwig Uhlig, »Theoretical or Conjecural history. Georg Forsters Voyage Round the World im zeitgenössischen Kontext«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift. 53,4 (2003), S. 399–414. Adam Furgesson, An Essay on the History of Civil Society, hg.v. Fiana Oz-Salzberger. Cambridge 1995, S. 12. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 45. Ebd., S. 92. Ebd.

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Meint der Herr Verfasser wohl: daß, wenn die glücklichen Einwohner von Otaheite, niemals von gesitteten Nationen besucht, in ihrer ruhigen Indolenz auch Tausende von Jahrhunderten durch zu leben bestimmt wären, man eine befriedigende Antwort auf die Frage geben könnte, warum sie denn gar existieren, und ob es nicht eben so gut gewesen wäre, daß diese Insel mit glücklichen Schafen und Rindern, als mit im bloßen Genusse glücklichen Menschen besetzt gewesen wäre.313

Betrachtet man die Ausführungen Forsters und Kants zur Notwendigkeit des Fortschritts und zum Verhältnis von Natur und Kultur genauer, so wird das Bestreben deutlich, die Menschengattung von dem von Rousseau erhobenen Vorwurf freizusprechen, wonach die Annahme der Zivilisation oder die Förderung des Fortschritts sich gegen die Natur richtet. Dagegen meint Forster in seinem Aufsatz Neuholland und die brittische Colonie in Botany-Bay: Wer die Vorzüge des gesitteten Lebens, ohne Vorurtheil erwägt, wird nicht in Abrede seyn, daß der Mensch in diesem Zustand erst eigentlich der Natur, die ihn mit Fähigkeiten ausrüstete, ein Genüge zu leisten anfängt, und wahrer Mensch, das ist, ein denkendes Wesen wird, welches mehr im Genusse seines Bewusstseyns und seiner Vorstellungen, als in der Befriedung blos sinnlicher Begierden und blinder Triebe glücklich ist.314

Nirgendwo besser als in diesem Gedanken formuliert Forster seine These vom Fortschritt als Gesetz der Natur so deutlich. Der Forschritt sei, so Forster, »eine weise Einrichtung der Natur.«315 Damit will er vor Augen führen, warum es widersinnig ist, sich »über die Mängeln der bürgerlichen Gesellschaft [zu entrüsten], und ihr den Stand der Wildheit vor[zu]ziehen.«316 Die Spuren dieses Gedankens führen zum älteren Forster zurück, der in seinen Observations seine Ablehnung der Thesen Rousseau programmatisch formuliert: Wenn die Glückseligkeit, welche wir in Europa theils geniessen, theils geniessen könnten, von denjenigen verderbten Mitbürgern beeinträchtigt wird, welche den Luxus und die Laster nebst ihrem Gefolge eingeführt, und dadurch manche neue Gattung von Elend hervorgebracht haben; so folgt daraus keineswegs, daß die höchste Vervollkommnung der Aufklärung, die Völlige ungehinderte Entwicklung aller Seelenkräfte überhaupt, der natürlichen, bürgerlichen und sittlichen Glückseligkeit nachtheilig sey; und eben so wenig, daß die Stufe der Entwicklung, worauf einige südländische Völker mit so vielem Reitz erscheinen, in Wahrheit jener höhern vorgezogen werden dürfe.317

Die Hypothese, wonach das als gesittet qualifizierte Leben in den europäischen Kulturen den Menschen glücklicher macht, zielt eindeutig gegen die Idealisierung des als ›primitiv‹ empfundenen Lebens im so genannten Naturzustand. Doch lässt die Annahme einer ordnenden Instanz im Sinne einer »Kette von Verhältnissen, [...] welche nothwendig, wie Ursach und Wirkung in einander greifen, und die Möglichkeit vernichten, daß ein

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Immanuel Kant, Werke, XII, S. 805. AA V, S. 161. AA VIII, S. 93. AA V, S. 162. Johann Reinhold Forster, Observations, S. 256.

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Stäubchen sich anders bewegt haben könnte, als es sich bewegt hat«318, zugleich eine deterministische Auffassung vom Fortschritt erkennen: Wenn also die Verhältnisse des Menschen, wodurch diese oder jene Fähigkeit in ihm sich entwickelt, nicht von ihm selbst abhängig sind, so ist es auch diese Entwicklung nicht; folglich gehört die wissenschaftliche Entwicklung [...] ohne Widerrede zu den bestimmten Einrichtungen der Natur.319

Die Angewiesenheit des Menschen auf den Forschritt bedeutet bei Georg Forster keineswegs, dass das Individuum nur Objekt der Natur ist. Der Mensch behält nämlich, wie Adorno in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff »Forschritt« festgestellt hat, »die Kontrolle außer- und innermenschlicher Natur.«320 Diese Idee, welche die Auffassung von einer abstrakten Fortschrittssteuerung relativiert, bringt Forster bereits in seiner Definition der Perfektibilität als »angewandte Besonnenheit«321 zum Ausdruck. Dadurch wird deutlich, dass er Natur und Kultur in einer Wechselbeziehung sieht, wobei dem Menschen innerhalb des Fortschrittsprozesses eine gestaltende Funktion zukommt. Entsprechend argumentiert Forster in seiner Schrift Ein Blick in das Ganze der Natur, »daß der Mensch als Eigenthumsherr der Erde ihre ganze Oberfläche verwandelt und erneuert, ja daß er von jeher die Herrschaft mit der Natur getheilt hat.«322 Gerade in dieser Fähigkeit, die den Menschen quasi zum »König der Erde veredelt«323, liegt nach Forster »der incommensurable Unterschied zwischen der Natur des Menschen, und der vernunftlosen Thiere«324, was er beispielsweise bei der technischen Veränderung der Natur und bei der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in den europäischen Kulturen verwirklicht sieht: bey diesem unvermeidlichen, sowohl negativen als positiven Zwange, hatte die Vernunft einen Schritt vorwärts gethan, und der Mensch fühlte seine Würde nun nicht mehr in körperlicher Stärke, sondern im Erkennen und Auswählen dessen, was recht und gut ist. Hier entstanden Gesetzgebung und bürgerliche Verfassung; künstliche, zerbrechliche Maschinen, die aber der höheren Kultur den Weg bahnten [...].325

Demnach findet Forsters Einschätzung der geschichtlichen Entwicklung einen Anschluss an Adornos Definition von Fortschritt: Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Forschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit innewird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über die Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet.326

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AA V, S.194. Ebd. Theodor W. Adorno, Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt/M. 1969, S. 35. AA V, S. 195. AA VIII, S. 96. Ebd., S. 94. AA V, S. 195. Ebd., S. 196. Theodor W. Adorno, Stichworte, S. 37.

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Forster betrachtet den Fortschrittsdrang, der mit der Entstehung und Verbreitung der Zivilisation einhergeht und damit das Leben in »gesitteten« Gesellschaften ermöglicht und reguliert, als einen dynamischen Prozess einer steten Aufwärtsentwicklung. Jeder, der sich diesem Prozess zu entziehen versucht, zeigt, so Forster, daß er vielleicht für jede andre Welt, nur nicht für diese wirkliche, geschaffen sey. Daher eilt das Zeitalter auf seiner Bahn weiter, ohne die Wehklage eines Hypochondristen zu hören, der von solchen Hirngespinsten ausgeht, und das Menschengeschlecht nach Idealen mißt.327

Nun liegt es auf der Hand, dass Forster mit dieser Aussage Rousseau, den er hier als ›Hypochondrist‹ apostrophiert, einen Seitenhieb verpassen will. Auch in seinem Essay Über Leckereyen spottet Forster über Rousseau mit den Worten: [...] was nämlich der Wilde vor dem gesitteten Menschen voraus hat, beredete schon einmal einen Philosophen, es sey ungleich besser, nackt im Walde Eicheln zu fressen, als hinterm Ofen in Schlafrock und Mütze zu deraisonieren; nur Schade, daß es ihn nicht auch zum Tausch bereden konnte.328

Bei seiner Aufforderung, »die Dinge so zu nehmen wie sie sind«329, spürt man die Wirkungen der Erfahrungen während der Weltreise noch deutlich. Rousseaus Gedankenexperiment scheitert Forster zufolge an den real entdeckten »wilden« Völkern. Doch indem Forster sich vornimmt, Rousseaus Denkmodell mit den empirischen Erfahrungen zu widerlegen, schießt er gelegentlich über das Ziel hinaus. Indes kann Forster eine Dekonstruktion der Südseeutopie auch dann nicht abgesprochen werden, wenn sein Reisebericht, wie bereits erwähnt, teilweise eine projektive Lesart ermöglicht. Seit der Weltreise ist Forsters »Theorie des Fortschrittes der menschlichen Gesellschaften, überhaupt vom Stande der Wildheit zur höchsten Staffel der Aufklärung und Politur«330 durch die Erkenntnis geprägt, dass der paradiesische Urzustand, »nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich niemals existieren wird.«331 Da sich der Fortschritt in einen unumkehrbaren Prozess ein- und fortschreibt, ist der Zustand, in dem die Südseeinsulaner leben, für den Europäer ein für allemal verloren, und für die Insulaner selbst handelt es sich nur um eine Übergangsphase ihrer geschichtlichen Entwicklung, die Forster nicht zuletzt auch mit der Ankunft der Europäer bereits in einem Umbruchsprozess begriffen sieht. Diese Auffassung, in der das biblische Motiv von der Vertreibung des Menschen nach dem ersten Sündenfall nachklingt, teilt auch Heinrich von Kleist, der nahezu dreißig Jahre später konstatiert: »[...] das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.«332

327 328 329 330 331 332

AA V, S. 197. AA VIII, S. 166. AAV, S. 197. AA XI, S. 104. Ulrich Kronauer, Rousseaus Kulturkritik aus der Sicht Georg Forsters, S. 155. Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater. Stuttgart 1984, S. 88.

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Doch anders als Kleist, der sich auf Umwegen den Wiedereinzug in das »Paradies« erhofft, sieht Forster den Weg der Zivilisation und des Fortschritts nicht als einen nachzutrauernden Abstieg, sondern vielmehr als einen notwendigen Aufstieg der menschlichen Kultur an. Vor diesem Hintergrund hält er den nostalgischen Rückblick in die Vergangenheit, der insbesondere in Rousseaus Discours deutlich wird333, für anachronistisch, »weil«, so Forster in seiner Geschichte der Englischen Litteratur, vom Jahr 1788334, »nichts in der Welt stille stehen kann.«335 Nicht also die Sehnsucht nach dem verlorenen Gleichgewicht des goldenen Zeitalters, sondern allein die Frage, was aus dem Menschen werden soll, hält Forster für sinnvoll, da die »Entwicklung eine wesentliche Bedingung unseres Daseyns«336 und als Bestimmungsfaktor der Zukunft zu betrachten sei.337 Da der Fortschritt nach Forsters teleologischer Betrachtung dem Menschen »natürlich« ist, erübrigt sich die Frage, ob der Fortschritt dem Menschen ausschließlich zur Vervollkommnung verholfen, oder ob er ihn zurückgeworfen hat. Verständlich ist dieser Gedankengang in seiner Interpretation der Fortschrittsidee, die sich der Paradoxie ihres Selbstverständnisses als Dynamik bewusst macht. Uhlig spricht daher von Gedankenansätzen, »die dem Schema von der Vervollkommnung der Menschheit im Lauf des Fortschritts zur Zivilisation diametral entgegenlaufen.«338 Gerade deshalb zielt Forsters Kritik an den kolonialen Zerstörungen in der Südsee, wie später zu zeigen sein wird, nicht darauf ab, die betreffenden Kulturen wieder in die vorkoloniale »Unschuld« zu entlassen. Die Kulturbegegnung löst einen unumkehrbaren Prozess aus, der auch fatale Folgen für die durch die Entdeckung angeschlossenen außereuropäischen Völker einschließt.339 Mit diesem Blick in die Zukunft argumentiert Forster, dass der dynamische Prozess, innerhalb dessen sich der Fortschritt vollzieht, keineswegs harmonisch verlaufe. Dies stellt er in einem Brief vom 2. Januar 1789 an seinen Freund Jacobi deutlich heraus: Unter denen, die da schreiben, sind hunderte, die es noch weniger dürften als ich, für einen, der etwa mehr Befugniß hätte, und das Jahrhundert, wie das Menschengeschlecht überhaupt, rückt nicht vorwärts in einem regelmäßigen Schritt, sondern in einer unaufhörlichen Rotation. Der Ball wird von unzähligen Händen geschlagen, geworfen, gestoßen, gestreift, berührt, und alle diese verschiedenen kleinen und großen Impulsionen treiben ihn fort. Alles ist Extrem, und muß es bleiben, wie ich im Cook gesagt habe, bis ein Gott, oder Buffon’s Erstarrungsepoche hinzukommt.340

333

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340

Jean-Jacques Rousseau meint, es wäre besser gewesen, wenn der Mensch »ewig in seinem anfänglichen Zustand geblieben wäre« (Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 22.). AA VII, S. 57–82. Ebd., S. 62. AA V, S.198f. So Forster in der Rezension zu Gentys L’influence de la découverte de l’Amérique sur le bonheur du genre humain (1788), in : AA XI, S. 134–138, hier S. 134. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 40. Vgl. Ruth Stummann-Bowert, Georg Forsters naturgesetzliche Begründung von Gewalt und Kulturfortschritt: »Neuholland« und die brittische Colonie in Botany-Bay und Cook, der Entdecker, in: Georg-Forster-Studien. VIII (2003), S. 83–122. AA XV, S. 231.

231

Der Mythos von der ursprünglichen Harmonie, wie ihn Rousseau durch die Evozierung des Zustands arkadischer Idylle suggeriert, bedeutet für Forster im günstigsten Fall Stillstand. Doch handelt es sich um einen Zustand, in dem der Mensch nicht existieren kann, weil er als Vernunftwesen nicht nur einen Forschrittswillen, sondern auch ein »Begehrungsvermögen«341 besitzt, das ihn antreibt. Darauf führt Forster beispielsweise den »Europäischen Durst nach Kenntnissen«342 zurück. Sowohl den Erkenntnistrieb als auch den Trieb zu besitzen sieht Forster als eine Anlage der Natur, die notwendig mit manchen »Zerrüttungen« im Sinn von Veränderungen verbunden ist, was sich dadurch erklären lässt, »daß nur durch diesen unaufhörlichen Wechsel alles besteht.«343 Hierin stimmen Forster und Kant wieder überein, da auch Letzterer den Fortschritt naturteleologisch als »eine Veränderung« beschreibt, die zwar ehrend, aber zugleich sehr gefahrvoll ist, indem sie ihn [den Menschen, Y.M.] aus dem harmlosen und sicheren Zustande der Kindespflege, gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne seine Mühe versorgte, heraustrieb[...] und ihn in die weite Welt stieß, wo so viel Sorgen, Mühe und unbekannte Übel auf ihn warten.344

In der Erkenntnis, dass der Fortschritt den Menschen antreibt, »die Mühe, die er haßt, dennoch geduldig über sich zu nehmen, dem Flitterwerk, das er verachtet, nachzulaufen«345, formuliert Kant jene naturteleologische Position, durch welche die Ambivalenzen des Fortschritts auch philosophisch erklärbar erscheinen: »Die Natur hat gewollt«, so Kant in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, »daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe«346. Die teleologische Wendung »Die Natur hat gewollt« setzt Kant gedanklich wie folgt fort: »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft.«347 Ähnlich Kant bekräftigt Forster in deutlicher Kritik an den Vorstellungen der utopischen Sozialisten des 18. Jahrhunderts, dass Wachstum und Zerstörung gleichermaßen die Bedingungen zur Entwicklung der Menschheit darstellen, weil sie »in der Ökonomie der Natur« liegen348, die selbst »zwischen Erschaffen und Vernichten schon seit Jahrtausenden schwebt.«349 Im Kontext der von der Akademie von Lyon gestifteten Preisfrage nach dem Nutzen der Entdeckung Amerikas für die Menschheit350 distanziert sich Forster von den Positionen von Guillaume-Thomas Raynal, dessen radikale Kritik an der Entdeckung und der

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AA V, S. 195. Ebd., S. 231. Ebd., S. 197. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 91f. Ebd., S. 91. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. AA V, S. 194. AA VIII, S. 82. Hierzu vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Alexandre Mussard, Avantages et désavantages de la dé-

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kolonialen Ausbreitung auf die Ablehnung des Einflusses Europas auf die Südseeinseln hinausläuft.351 Forster dagegen gibt insbesondere im Hinblick auf die Brutalität und die kulturellen Verwüstungen der Entdecker zwar die Nachteile der Entdeckungsfahrten zu, sieht sie aber als unvermeidbaren Kollateralschaden im Prozess der »Ausbildung des Menschengeschlechts«352 an. Daher überrascht es nicht, dass in seinem Werk die Idee der Gleichberechtigung der Menschen und Kulturen der Legitimation der kosmopolitischen Aufgabe der Europäer an entscheidenden Stellen weicht. Hierin gründet er seinen gelegentlichen Optimismus in der Begegnung zwischen Europäern und Insulanern, so dass ein Spaziergang auf der Insel Tanna ihn zu der erhabenen Ansicht verleitet, daß wir uns hier, zur Ehre der Menschheit in einem sehr vortheilhaften Lichte gezeigt hätten! Wir hatten nun vierzehn Tage unter einem Volk zugebracht, das sich anfänglich äußerst mißtrauisch und ganz entschlossen bewieß, auch die geringste Feindseligkeit nicht ungeahndet zu lassen. Diesen Argwohn, dieses eingewurzelte Misstrauen, hatten wir durch kühles, überlegtes Verhalten, durch Mäßigung, und durch das Gleichförmige aller unserer Handlungen, zu besiegen, zu vertreiben gewusst. Sie, die in ihrem Leben noch nie mit so harmlosen, friedfertigen, und gleichwohl nicht feigen oder verächtlichen, Leuten umgegangen, sie, die bisher in jedem Fremden, einen heimtückischen, verrätherischen Feind zu sehen gewohnt waren, hatten jetzt von uns, und durch unser Beyspiel gelernt, ihre Nebenmenschen höher zu schätzen!353

Dieses Selbstbild entspringt dem zivilisatorischen Sendungsbewusstsein, demzufolge die englischen Seeleute den Insulanern ein vorbildliches Leben vorleben, das in ihrer eigenen Kultur zu sittlichem bzw. zivilisiertem Verhalten führt. Dieser Ansatz, »der sich im Selbstverständnis als Prozess der ›Zivilisierung‹ barbarischer Völker versteht«354, resultiert aus dem asymmetrischen Diskurs der damaligen Zeit, in der die Gleichheit und Freiheit aller Menschen dem Mythos der europäischen Überlegenheit und ihrer Vorteile untergeordnet werden. Forster teilt diese Position. Er meint, die Entdeckung der Neuen Welt hätte die Wilden schneller civilisieren, und den Halbwilden eine vollkommenere Einrichtung geben können, in dem sie ihnen unsere Künste und unsere religiöse, politische, sittliche Einsicht mitgetheilt hätte.355

Damit bekommt auch der Gewaltbegriff innerhalb von Forsters Fortschrittsvorstellungen eine positive Deutung, die im interkulturellen Kontext allerdings eine problematische

351

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couverte de l’Amerique, Dossier réuni et commenté par Hans-Jürgen Lüsebrink et Alexandre Mussard. Saint-Etienne 1994, S. 147. Guillaume-Thomas Raynal entwickelt seine Kritik an der Legitimität der kolonialen Eroberung in seinem Werk Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce dans les Deux Indes (1771/80). Dieses Werk, an dem auch Denis Diderot mitgearbeitet hat, wird in der Forschung als »die erste umfassende Kolonialgeschichte der Neuzeit« betrachtet. (Hans-Jürgen Lüsebrink, Zivilisatorische Gewalt, S. 125). AA V, S. 193. AA III, S. 270. H.i.O. Hans Jürgen Lüsebrink, Zivilisatorische Gewalt, S. 126. AA XI, S. 135.

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Legitimation erfährt.356 Das macht folgende Textstelle aus der Abhandlung Über lokale und allgemeine Bildung anschaulich: Laßt uns einen Schleier werfen über die Mittel, wodurch wir zu dieser Höhe gestiegen sind. Nie kann es den Europäern zur Entschuldigung gereichen, daß ihre Schandthaten in allen Erdtheilen, verglichen mit denen der ungebildeten einheimischen Völker, zuweilen etwas weniger empörend sind; allein es gibt vielleicht einen höheren Standpunkt als den menschlichen, wo der Erfolg die Mittel rechtfertigt. Alles Entstehen ist chaotisch und das Chaos mit seinen streitenden Elementen flößt Abscheu oder Entsetzen ein. Wenn aber die Schöpfung in stillem Glanz hervortritt, dann gedenken wir der Finsterniß und ihrer Stürme nicht mehr.357

Die Aussage, dass »der Erfolg die Mittel rechtfertigt«, ist ein wichtiges Indiz für Forsters Vorstellung vom Verhältnis zwischen Europäern und Nichteuropäern, wobei der Begriff »Erfolg« ebenso wie die mitimplizierte Vorstellung von Forschritt allein aus eurozentristischer Perspektive zu verstehen sind. Die »streitenden Verhältnisse und Widersprüche«358, die bei diesem Prozess überall am Werk sind, sieht Forster »in der Ökonomie der Natur« begründet. Der »Wechsel zwischen Wachstum und Zerstörung«359, von dem Ruth Stummann-Bowert zu Recht spricht, ist ein weiteres charakteristisches Moment der Dialektik des Fortschrittes: Man nenne dieses Schwanken zwischen den Extremen, wenn man will, einen Puls der Natur, der bald schneller, bald langsamer schlägt, bis etwa Buffons Epoche der Erstarrung eintritt, oder das Machtwort einer Gottheit dreinredet, – so lange das jetzige Schema der Erscheinungen besteht, müssen auch diese Oscillationen fortdauern. Das Mittel zwischen den Extremen, welches manche Philosophen so eifrig suchten, und oft zu finden wähnten, das vollkommene Gleichgewicht der Kräfte, ist Ruhe, aber Ruhe des Todes.360

Sucht man nach der Begründung dieses Gedankens, so findet man sie gewiss darin, dass für Forster »das Gleichgewicht der Kräfte« deshalb negativ gedeutet wird, weil nicht die Harmonie, sondern der Antagonismus im Zentrum jeder geschichtlichen Entwicklung, einschließlich der Kulturbegegnung steht. Demnach liegt dem Fortschritt das Prinzip eines selbstregulativen Prozesses im Sinne einer schöpferischen Zerstörung zugrunde, in der Gutes und Böses die Balance halten »und da sich mit fortschreitender Zivilisation die Menschen nicht mehr gegenseitig auffressen, so müssen sie einander wenigstens umbringen, um die Natur im Gleichgewicht zu halten.«361 Folgerichtig argumentiert Forster, dass »Kriege, selbst der Wilden [...] einen Keim der Kultur [enthalten].«362 Damit verteidigt er den antagonistischen bzw. dialektischen

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Vgl. Horst Dippel, Vorbemerkung, in: Georg-Forster-Studien VIII (2003), S. VII-IX; insb. S. IX. Zur weiteren Diskussion in ethologischer Perspektive vgl. Peter J. Bräunlein u. a. (Hg.), Krieg und Frieden. Ethnologische Perspektiven. Bremen 1995. AA VII, S. 48. AA V, S. 194. Ruth Stummann-Bowert, Georg Forsters naturgesetzliche Begründung von Gewalt und Kulturfortschritt, S. 99. AA V, S. 195. Wolf Lepenies, Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, S. 39. AA V, S. 197.

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Vorgang, der nicht nur der Entwicklung menschlicher Anlagen, sondern auch dem Verhältnis zwischen europäischen und außereuropäischen Kulturen zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls folgende Aussage zu verstehen: Auf jeder Stufe der Kultur, welche das Menschengeschlecht erreicht hat oder noch ersteigen kann, sind Bedürfnisse und Leidenschaften die Triebfedern aller erhaltenden, aber auch aller zerstörenden Thätigkeit.363

Hier zeigt sich, dass sich trotz grundlegender Affinitäten zwischen Forster und Kant in ihrer Interpretation des Forschritts als Naturteleologie deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Betrachtung vom Ziel der Geschichte bemerkbar machen. Anders als Kant, der in seinem philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden (1795) die Utopie eines immerwährenden Weltfrieden postuliert364, steht Forster der Idee eines harmonischen Ausgleichs der Kräfte der Natur und damit zwischen den Kulturen kritisch gegenüber, da einem solchen Ausgleich der Naturvorgang selbst konträr sei. In seinem Cook-Essay schreibt er folgerichtig: Das Mittel zwischen den Extremen, welches manche Philosophen so eifrig suchten, und oft zu finden wähnten, das vollkommene Gleichgewicht der Kräfte, ist Ruhe, aber Ruhe des Todes.365

Für Forster schließt der evolutionäre Plan, in dem sich der Forschritt auch im interkulturellen Kontext vollzieht, aus naturgesetzlicher Notwendigkeit auch Unrecht ein, wird doch der Gang der Kulturentwicklung durch den »Zusammenstoß streitender Kräfte [vorangetrieben] Tugend und Laster sind daher überall gleichzeitige Erscheinungen; denn auch die Tugend wird nur durch Widerstreben möglich.«366 Das teleologische Prinzip des Fortschritts bringt Forster in seiner Schrift Ein Blick in das Ganze der Natur so auf den Punkt: Erschaffen und Vernichten sind Eigenschaften der Allmacht. Das Erschaffene umgestalten, auflösen und wieder einkleiden: so weit gehen die Veränderungen, denen es unterworfen ist. Die Natur, als eine Dienerin der unwiderruflichen Befehle Gottes, und als Bewahrerin seiner unwandelbaren Rathschlüsse, entfernt sich nie aus diesen Gränzen, ändert nichts an den ihr vorgezeichneten Entwürfen, und trägt das Siegel des Höchsten allen ihren Werken aufgedrückt.367

Ist nun der Weg zum Fortschritt ein unaufhaltsamer Prozess, so wird er aus Forsters Sicht von nicht zu vertuschenden Risiken und Problemen begleitet, die seine widersprüchliche Natur kennzeichnen: Glücklich seyn, scheint demzufolge [...] einen Zustand zu bezeichnen, wo Arbeit und Ruhe, Anstrengung und Ermattung, Begierde und Befriedigung, Wollust und Schmerz, Freude und Leid mit einander wechseln, wo aber die frohen Augenblicke des Genusses kräftig genug zu

363 364 365 366 367

Ebd., S. 198. Vgl. Immanuel Kant, Werke, XI, S. 195–251. AA V, S. 195. AA V, S. 197. AA VIII, S. 82. H.i.O.

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neuer Thätigkeit reizen, und lebenslang die möglichste Entwicklung aller physischen und sittlichen Kräfte befördern.368

Welche Konsequenzen lassen sich nun hieraus für die europäisch-südpazifische Kulturbegegnung ziehen? Man geht sicherlich in der Annahme nicht fehl, dass Forster vom Standpunkt seiner Konzeption der Fortschritts aus die im Namen der Zivilisation begangenen Verbrechen der Entdecker und der Kolonisatoren für unvermeidbar hält, da er sie durchaus als Katalysator des Fortschrittes interpretiert, »denn indem der Eroberer seines Sieges genießt, vermehren sich seine Bedürfnisse.«369 Damit widerspricht er dem Topos der egalitären Ursprünglichkeit, wie ihn Rousseau und seine Nachahmer hypostasierten. Demgegenüber vertritt Forster die Ansicht, dass die Perfektibilität zwar eine universelle, in jedem Menschen und in jeder Gesellschaft inhärente Anlage ist, ihre Entfaltung in der Kulturformation jedoch durch das »Schauspiel ringender Kräfte«370 und durch äußere Einflüsse ausgelöst werde.371 Und weil sich die Perfektibilität nicht überall gleich entwickelt, was sich unzweifelhaft an dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der Kulturen sichtbar macht, legitimiert Forster die Forschungsreisen auch dadurch, dass die Anwesenheit der Europäer in der Südsee und die Vermittlung der zivilisatorischen Werte die bei vielen Südseeinsulanern noch schlafenden Anlagen zur Entfaltung bringen: »Nach wenig Tagen«, notiert er im Zusammenhang mit dem Aufenthalt aus Tanna, einer der zur Zeit der Cook-Reise am wenigsten entwickelten Südsee-Inseln, begannen sie [die Tannaer, Y.M.] sogar, an unsrer Gesellschaft Vergnügen zu finden, und nun öffnete sich ihr Herz einem neuen uneigennützigen Gefühl von überirdischer Art, der Freundschaft! Welch ein schätzbares Bewußtseyn, rief ich aus, auf solche Art das Glück eines Volkes befördert und vermehrt zu haben! welch ein Vortheil, einer gesitteten Gesellschaft anzugehören, die solche Vorzüge genießt und andern mitheilt!372

Diese Passage macht deutlich, wie Forster sich eine der wesentlichen Ideologien der europäisch-überseeischen Kulturbegegnung zu eigen macht, und zwar die Präsumtion, dass Europa durch die weltweite Implementierung seiner bürgerlichen Tugenden quasi automatisch den Vergesellschaftungsprozess bei so genannten wilden Völkern in Gang setzen würde.373 Wie bereits Scholz festgestellt hat, sieht Forster die Tanneser »in einer kulturellen Entwicklung begriffen«,374 deren augenblickliche Entfaltung er aber dem exogenen Einfluss der Europäer zuschreibt. Dies mag auch der Hintergrund sein, weshalb Forster in seiner Rezension der Abhandlung L’influence de la découverte de l’Amerique sur le bonheur du genre humain, die als Antwort auf die Preisfrage, »ob die Entde-

368 369 370 371

372 373 374

Ebd., S. 286f. AA V, S. 197. AA IX, S. 129. »Wer kennt nicht die Zufälle wodurch eine stets wachende Vorsehung dem unbeholfenen Menschen zur Erhaltung und Bequemlichkeit neue Quellen eröffnet, wodurch sie ihn sogenannte Erfindungen machen läßt, welche manchmal das Schicksal ganzer Staaten entscheiden? Der ärmste Wilde hat an dieser Vorsorge gleichen Antheil mit dem feinsten Europäer« (AA V, S. 57). AA III, S. 271. Vgl. Nirit Scholz, Georg Forsters Darstellung von Kulturkontakt und Kolonialismus, S. 70. Ebd.

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ckung von Amerika dem Menschengeschlecht Vortheil oder Schaden gebracht habe«375 gedacht war, die Ansicht vertritt, die Entdeckung habe zur Zivilisierung der Wilden beigetragen.376 Aus dieser Perspektive besteht das Verdienst der Entdeckungsreisen nach Forster u. a. darin, »daß die Einwohner der jenseitigen Halbkugel in dem wohlthätigen Lichte, welches sie plötzlich bey der Erscheinung der Europäer an ihren Küsten strahlte [...]«377, nun stünden. Hier wird der salvatorische Anspruch der Aufklärung ohne Abstriche exponiert. Auch vor diesem Hintergrund wird das Postulat: »Columbus kam; und die Cultur that Riesenschritte in beiden Welten«378 ebenso verständlich, wie Forsters Behauptung, Cooks zweite Weltreise hätte den Forschritt bei den Insulanern bereits dadurch ausgelöst, »daß wir Ziegen auf Tahiti, Hunde auf den freundschaftlichen Inseln und Neuen Hebriden, und Schweine auf Neu-Seeland und Neu-Caledonien zurückgelassen haben«379. Weil Forster – wie Michèle Duchet für eine Reihe aufklärerischer Gelehrter konstatiert380 – der Präsenz der Entdecker in der Südsee eine kulturstiftende Aufgabe zuspricht381, äußert er den Wunsch, »daß dergleichen Entdeckungs-Reisen, mit so wohlthätigen und wahrhaft nützlichen Absichten noch ferner fortgesetzt würden«382, damit Fortschritt und Zivilisation im Sinne der europäischen Aufklärung weltweit aufkeimen und zur Entfaltung kommen, denn Fortschritt der Cultur ist [...] Interesse der Menschheit, und Bevölkerung der ganzen Erde mit gesitteten Bewohnern das große Ziel, welches wir zunächst, als unseres Erringens werth, vor uns sehen. Und wie merkwürdig ist nicht die Schnelligkeit, womit alles diesem Ziel entgegeneilt.383

Solche Ideen, in denen das Bild einer für die gesamte Menschheit anzustrebenden Zivilisation vorgeschoben wird, verschleiern, so Duchet, die kolonialen Intentionen ihrer Urheber.384 Betrachtet man Forsters Beitrag zu der im 18. Jahrhundert herrschenden Debatte über die Frage nach dem Vorzug des europäischen oder außereuropäischen Gesellschaftsmodells, so wird deutlich, dass Forster die starre Natur-Kultur- Dichotomie zugunsten einer Perspektive auflöst, in der sich Fortschritt und Zivilisation als Ausdrucksformen der entfalteten Naturanlagen in einem universalen Kontext interpretieren lassen. »Auf diese Weise«, so das Fazit von Johannes Rohbeck, »verschränken sich die Kulturgeschichte der Natur und die Naturgeschichte der Kultur.«385

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AA XI, S. 134–138. Vgl. ebd., S. 135. AA V, S. 188f. AA V, S. 162. AA II, S. 17. H. i. O. Vgl. Michèle Duchet, Anthropologie et histoire, S. 218f. Dies wird allerdings durch verschiedene Erlebnisse, mit denen Forster sich kritisch auseinandersetzt, zum Teil stark relativiert. AA II, S. 17. AA V, S. 162. Michèle Duchet, Anthropologie et histoire, S. 226f. Johannes Rohbeck, Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, S. 28.

237

Doch gerade in der Forderung nach einer weltweiten Implementierung der europäischen Rationalität als einer treibenden Kraft des Forschritts liegt nicht nur jener Widerspruch begründet, aus dem sich die Kolonisation als besondere Ausdrucks- und Gestaltungsform von der Dialektik der Entdeckungsfahrten herauskristallisiert, sondern auch die Einsicht in die Notwendigkeit der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die Forsters Begeisterung für die Französische Revolution verständlich machen.386

386

Dazu schreibt beispielsweise Helmut Reinalter: » Die revolutionäre Gewalt war für ihn [Georg Forster, Y.M.] ein Naturereignis, eine Erscheinungsform des »Naturgesetzes« und dadurch gerechtfertigt«. Helmut Reinalter, Johann Georg Forsters Revolutionsverständnis, in: Georg-Forster-Studien VIII (2003), S. 207- 218, hier S. 215. Doch obwohl Forster letzendlich das Resultat der Revolution, nämlich die Freiheit hervorhebt (Vgl. AA X/1, S. 600), erscheint es unausgewogen, wenn man seine kritische Auseinandersetzung mit den revolutionären Ereignissen aus den Augen verliert. Zu einer differenzierteren Sicht vgl. Marita Gilli, Die Grenzen der Demokratie: Die Gewalt in den Parisischen Umrissen, in: Georg-Forster-Studien VIII (2003), S. 219- 235.

238

VII. Die Südsee im Schatten der Aufklärung

1.

Vorbemerkung

Um die Dialektik der Kulturbegegnung im Reisebericht Georg Forsters im Blick zu behalten, muss man sich immer wieder die Frage neu stellen: Was ist aufklärerisch an der Entdeckung der Südsee bei den Weltreisen Cooks? Die Erfahrungen während Cooks zweiter Weltreise und ihre literarische Gestaltung haben bei Forster eine unterschiedliche, ja widersprüchliche Einschätzung der Begegnung zwischen der europäischen Zivilisation und den südpazifischen Kulturen im Zeichen der Aufklärung ausgelöst. Dabei handelt es sich um einen selbstreflexiven Denkprozess, der erkennen lässt, dass Forster den essentialistischen Diskurs der Aufklärung auf die Probe stellt, indem er ihn am Umgang der Europäer mit den Insulanern misst. Andererseits zeichnet sich dabei der Versuch ab, die Perspektive der Einheimischen einzubeziehen, was nicht nur Forsters Reisebericht, sondern auch seinen anderen Abhandlungen einen besonders interkulturellen Charakter verleiht. Zugleich kristallisiert sich ein Konflikt heraus, dessen Verschärfung in Forsters Auseinandersetzung mit der Frage nach den Auswirkungen der europäischen Entdeckungen in der südpazifischen Inselwelt zum Tragen kommt. Forster verwickelt sich dabei mitunter in Widersprüche zu seiner Fortschrittstheorie. Die Erkenntnis, dass die Entdeckungsfahrten nicht nur den enormen Wissenszuwachs seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ermöglicht, sondern auch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Aufklärung bei der Begegnung mit den Südseebewohnern verschärft haben, resultiert aus einer dialektischen Spannung, die im Folgenden genauer in den Blick genommen wird.

2.

»Was mußten die Wilden von uns denken?«

In seiner 1992 erschienenen Studie mit dem programmatischen Titel European Encounters with the New World1 stellt Anthony Pagden folgende These auf: »Europeans have for long been preocupied with the difficulties involved in encountering other worlds and their often fiercerly ›other‹ inhabitants.«2 Pagden macht deutlich, dass sich Entdeckungsreisen nicht in hermeneutischen Strategien erschöpfen, denn sie strukturieren tiefgreifende Umbrüche, die für die Analyse von Forsters Werk aufschlussreich sind. Forster lässt nämlich

1 2

Anthony Pagden, European Encounters with the New World. London 1992. Ebd., S. 2.

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wie kaum ein anderer Reisender vor ihm die Bemühung erkennen, die Schattenseiten der europäischen Aufklärung im Südpazifik als Bestandteil der Entdeckungsreisen in Augenschein zu nehmen. Nimmt man allgemein an, dass die Begegnungen zwischen Europäern und Insulanern im 18. Jahrhundert aufgrund der unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Gewohnheiten und Weltanschauungen notwendigerweise ein Konfliktpotential in sich bergen, so besteht das Besondere in Forsters Schilderung dieser Kontakte darin, dass Handlungs- und Verhaltensweisen freigelegt werden, die es geboten erscheinen lassen, Projekt und Prozess der Aufklärung im Vollzug der Entdeckungsreisen differenzierter als bisher zu betrachten. Dies erscheint umso notwendiger als in den zahlreichen Begegnungen mit Bewohnern verschiedener Inseln freundschaftliche Empfangszeremonien und ausgesprochen blutige Auseinandersetzungen einander abwechseln. Die Brisanz dieser Thematik zeigt sich allein schon darin, dass Forster im ersten Kapitel seines Reiseberichts an die »Instruktionen« erinnert, die Cook von der britischen Admiralität auf seiner zweiten Weltreise mit auf den Weg gegeben wurden.3 Insbesondere die Anweisung hinsichtlich des Umgangs mit den Einheimischen verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit: »Träfe man Einwohner an«, heißt es darin, »so sollte Capitain Cook ihren Charakter, Temperament, Genie und Anzahl bemerken, und wo möglich freundschaftlichen Umgang mit ihnen zu haben suchen.«4 Diese Aufforderung zum freundlichen Umgang mit den Einheimischen ist seit Cooks erster Weltreise Bestandteil der Instruktionen: »You are to endeavour by all proper means to cultivate a friendship with the Natives, presenting them such Trifles as may be acceptable to them […]«5 Betrachtet man diese Forderungen, so wird klar, dass die Instruktionen, in denen Aufgaben und Ziele der Forschungsreisen beschrieben sind, nicht nur als wissenschaftliche Anleitung, sondern auch als Heft des Handelns im Umgang mit den Einheimischen gedacht sind. Doch auch wenn solche »Verhaltungsbefehle«6 keine spezifische Forderung des 18. Jahrhunderts sind7, so zielt ihre offizielle Verankerung in den Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung auf einen Paradigmenwechsel ab.

3 4 5

6 7

Vgl. John C. Beaglehole (Hg.), The Journals of Capitain Cook on his Voyage of Discovery. Cambridge 1955–1967 (Vol.2: The Voyage of the Resolution and Adventure, 1772–1775). AA II, S. 37. John C. Beaglehole (Hg.), The Journals of Capitain Cook on his Voyage of Discovery. Cambridge 1955–1967 (vol.1: The Voyage of the »Endeavour« 1768–1771 (Cambridge 1955) S. CCLXXIX. AA II, S. 37. Bereits im 15. Jahrhundert kritisierte Bartolomé de Las Casas die beispiellose Brutalität der spanischen Conquistadores gegen die Einheimischen in Südamerika. Vgl. Bartolomé de Las Casas Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder, hg.v. Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt/M. 1981. Las Casas‹ Bericht wurde im 18. Jahrhundert besonders in Frankreich und in Deutschland rezipiert. Vgl. dazu: Hans-Jürgen Lüsebrink, »Trilateraler Kulturtransfer. Zur Rolle französischer Übersetzungen bei der Vermittlung von Lateinamerikawissen im Deutschland des 18. Jahrhundert«, in: Günter Berger, Franziska Sick (Hg.), Französischdeutscher Kulturtransfer im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 81–87.

240

Nach Urs Bitterli stehen die Instruktionen für »ein gewandeltes Verhältnis des Europäers zu Vertretern von Fremdkulturen.«8 Allerdings sieht Bitterli darin nicht nur den »Wunsch nach möglichst konfliktfreien Kontakten«9 zwischen Einheimischen und Europäern, sondern auch ein »handfeste[s] Kalkül«, das er so beschreibt: Reisen über derartige Distanzen mit entsprechenden logistischen Problemen gestatten es dem Seefahrer nicht, militant aufzutreten. Aber auch die betont wissenschaftlichen Prioritäten, denen die Pazifikreisen des späten 18. Jahrhunderts sich verpflichtet fühlten, verlangten gebieterisch nach friedfertiger Abwicklung der Kontakte.10

Diese Auslegung erscheint umso einleuchtender, als Forster in seinem späteren CookEssay rückblickend den »Umgang mit diesen ungesitteten Menschen« als »einen weit reellen Nutzen für die Entdecker«11 bezeichnet und ihn primär als notwendiges Mittel zur Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse der reisenden Europäer bescheinigt: Wir wussten schon aus Erfahrung, wie nöthig uns ihre Gegenwart sey, weil unsre Leute sich nicht halb so gut, als sie, auf den Fischfang verstanden, und, auch ohne diese Abhaltung, alle Hände voll am Schiff zu thun hatten.12

Einen breiten Raum nimmt in Forsters Reisebericht die Erfahrung ein, dass der »Wunsch nach möglichst konfliktfreien Kontakten«13 in verschiedenen Begegnungssituationen nicht erfüllt wird, und zwar aus Gründen, die eine genaue Analyse der Natur der Entdeckungsreisen der damaligen Zeit ermöglichen. Aus Forsters Reisebericht wird deutlich, dass das Phänomen der interkulturellen Spannungen den Entdeckungsfahrten inhärent ist, wobei die Begegnungen zwischen Europäern und Insulanern im 18. Jahrhundert einen besonderen historischen Kontext darstellt, der im Licht der Aufklärung zu betrachten ist. Als Mitglied des Forschungsteams ist Foster kein unbeteiligter Beobachter, sondern selbst Subjekt jener Kulturzusammenstöße, die Urs Bitterli verharmlosend als »Trübungen« in den europäisch-überseeischen Kulturkontakten seit dem ersten Entdeckungszeitalter beschreibt.14 Doch nicht mit »Trübungen«, sondern mit handfesten Kulturkonflikten haben wir zu tun, die das Gesamtprojekt der Aufklärung der Südsee in Frage stellen: In Mallikollo wagten wir es kaum, zehn Schritte weit in den Wald zu gehen, der sich längs dem Strande hinzog; und dennoch winkten uns die Einwohner, sobald sie uns gewahr wurden, wir sollten sogleich an den Strand zurückkehren. In Tanna durften wir anfänglich auch nur ganz kurze Spaziergänge wagen [...].15

8 9 10 11 12 13 14 15

Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 190. Ebd., S. 198. Ebd., S. 199. AA V, S. 84. AA III, S. 343. Urs Bitterli,, Alte Welt –- neue Welt, S. 198. Ebd., S. 17ff. AA V, S. 267.

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Es ist wichtig, zwischen Ursachen und Folgen verschiedener unglücklicher Begegnungen zu differenzieren, die das Verhältnis zwischen Entdeckern und Einheimischen nachhaltig beschädigen. Nach Forsters Schilderung begnügt sich Cook im günstigsten Fall mit dem Befehl, »eine Flintenkugel über ihre [der Insulaner, Y.M.] Köpfe hin[zu] feuern.«16 Abgesehen davon, dass dieses Auftreten einer friedlichen Begegnung im Weg steht, pflegt Cook sogar die einheimischen Herrscher und ihre Verwandten vorübergehend gefangen zu nehmen, um seinen Willen durchzusetzen. Nicht also das Selbstverständnis der Einheimischen, sondern der Wille der Entdecker ist die Richtschnur bei diesen Begegnungssituationen, die dadurch ein stark asymmetrisches Gepräge bekommen. Den Insulanern soll also notfalls mit Waffengewalt beigebracht werden, dem Europäer Respekt zu zollen und »die Gesetze der Gastfreyheit nicht auf eine [...] hässliche Weise [zu] übertreten«.17 Mit dem Begriff »Gesetze der Gastfreyheit« meint Forster hier wohl die den Insulanern von Kapitän Cook erteilte Erlaubnis, das europäische Schiff zu betreten und mit den Matrosen Umgang zu pflegen. Damit reduziert Forster aber die Bedeutung des Begriffs »Gastfreyheit«, da er ihn ausschließlich im Hinblick auf die Insulaner verwendet, denen er vor dem europäischen Eigentum Respekt abverlangt. Darauf, dass solche »Gesetze« nur dann Sinn haben, wenn sie auf dem Prinzip der Reziprozität beruhen, geht er auffälligerweise nicht ein. Offenbar verwischen sich die Grenzen zwischen Gast und Gastgeber zu ungunsten der Einheimischen, die nun die »Gastfreyheit« der Besucher einhalten müssen. Diese Umkehrung der Rollen begründet den Verdacht, dass auch Forster in letzter Konsequenz den Insulanern das Recht auf Eigentum abspricht, vor allem, wenn dieses den Interessen der Entdecker im Wege steht. Unter diesem Gesichtspunkt klingt es paradox, wenn Forster betont feststellt, Cook habe wie kaum ein anderer Weltreisender vor ihm viel Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Südsee-Insulaner bewiesen: Cook vermied [...] sorgfältig jede Gelegenheit zum Streite, und suchte das Vertrauen der Eingebornen zu rechter Zeit durch Geschenke und Freundschaftsbezeigungen zu gewinnen. Von einer andern Seite hingegen litt er es nie, dass man ihm und seinen Leuten ungestraft die allgemein erkannten, und selbst dem Wilden heiligen, Rechte des Eigenthums gewaltthätig kränkte.18

Trotz der blutigen Auseinandersetzungen, denen Cook während seiner dritten Weltreise auf Hawai’i tragisch zum Opfer fallen sollte, gehört der englische Kapitän in Forsters Augen zu jenen wenigen Forschungsreisenden, die einen friedlichen Umgang mit den Einheimischen anstreben. So lobt ihn Forster ausdrücklich dort, wo es ihm in brenzligen Situationen gelingt, offene Konflikte mit den Einheimischen zu vermeiden oder, wenn möglich, »ohne Blutvergießen«19 die Autorität der Europäer unter Beweis zu stellen. Doch bei einer genaueren Analyse des Umgangs zwischen Europäern und Insulanern muss man immer im Auge behalten, dass man es mit Forsters persönlicher Einschätzung

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AA III, S. 211. AA II, S. 232. AA V, S. 261. AA III, S. 100.

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zu tun hat, auch wenn der europäische Blickwinkel deutlich erkennbar ist; und hier besteht die Tendenz, manches einseitig zu relativieren. Die Sicht der Einheimischen, die für eine mögliche Korrektur einer solchen Einschätzung notwendig wäre, kann nur aus ihren Reaktionen herausgelesen werden. Gewiss bezieht Forster im Hinblick auf das machtbetonte Auftreten der Europäer vor den Einheimischen unterschiedliche Positionen, die ebenfalls zu unterschiedlichen Interpretationen Anlass geben. So hat beispielsweise Hans-Jürgen Lüsebrink in diesem Zusammenhang die These von der zivilisatorischen Gewalt aufgestellt.20 Doch der Begriff ›zivilisatorische Gewalt‹ birgt an sich eine Ambivalenz, ja sogar einen Widerspruch, der für das Aufklärungsprogramm charakteristisch ist. Gerade im interkulturellen Kontext des 18. Jahrhunderts ist der Gewaltbegriff symptomatisch dafür, wie humanistische Vorstellungen durch die kolonial geprägten Fortschrittsvorstellungen ersetzt werden. Unstrittig ist, dass sich Forster mit diesem Wandel des Gewaltbegriffs kritisch auseinandersetzt, gleichzeitig fällt auf, dass er dazu neigt, Europäer als eine Autorität anzusehen, die aufgrund der waffentechnischen Überlegenheit notfalls die Gewalt anwenden können, keineswegs aber im Sinne oder zugunsten der Einheimischen. Damit dient Gewalt eindeutig der Etablierung von vielfältigen asymmetrischen Strukturen, die wiederum ein dialektisches Moment im Selbstverständnis der ›aufgeklärten Entdecker‹ markieren. Die Annahme, Forster billige die an den Insulanern verübte Gewalt uneingeschränkt als zivilisatorische Maßnahme, muss im Zusammenhang mit seiner Fortschrittstheorie gesehen werden. Gewalt an Einheimischen – ob physisch, geistig, moralisch oder kulturell – ist gerade im Kontext der Endeckungsfahrten Ausdruck dessen, was Peter Hume zu Recht als »Colonial Encounters« beschreibt.21 Wenn Forster beispielsweise behauptet, die »Neu-Caledonier« seien »das einzige Volk in der Südsee [...] das keine Ursach hat, mit unsrer Anwesenheit unzufrieden zu seyn«22, dann liefert er ein überraschendes, im Kern aber folgerichtiges Eingeständnis, das mit den Instruktionen, aber auch mit dem gesamten Programm der Aufklärung der Südsee kollidiert. Vor diesem Hintergrund drängt sich nun die Frage auf, wie sich dieser Umschwung in Forsters Beurteilung des Umgangs mit Einheimischen erklären lässt. Diese Frage kann am besten beantwortet werden, wenn man erkennt, dass Forster weit davon entfernt ist, Cook blindlings zu loben. Mit großer Missbilligung registriert er einige Strafmethoden, durch die Cook sich über die Forderungen der Instruktionen hinwegsetzt. Im schlimmsten Fall, und das wirft ein stärkeres Licht auf die Zwiespältigkeit von Cooks Verhalten, nimmt er sogar den Tod der Insulaner in Kauf, so beispielsweise auf der »Oster-Eyland«, wo die Entdecker im April 1774 Opfer eines Diebstahls werden: So bald Capitain Cook, der eben ins Boot steigen wollte, diesen Diebesstreich erfuhr, befahl er, sogleich eine Muskete über den Kerl hinzufeuern, indeß er selbst mit dem Boote um das Schiff herumzukommen und sich der Stange wieder zu bemächtigen suchen wollte. Der Schuß

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Hans Jürgen Lüsebrink, Zivilisatorische Gewalt. Zur Wahrnehmung kolonialer Entdeckung und Akkulturation in Georg Forsters Reiseberichten und Rezensionen, in: Georg-Forster-Studien VIII (2003), S. 123–138. Peter Hume, Colonial Encounters. Europe and the Native Caribbean, 1492–1792. London 1985. AA III, S. 327.

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geschah, der Wilde aber gerieth dadurch nicht aus seiner Fassung, sondern sahe vielmehr ganz unbesorgt um sich her. Der Capitain ließ also, indem er selbst vom Schiff abstieß, den zweeten Schuß, wiewohl mit eben so wenig Erfolg, thun. Ein Officier, der in diesem Augenblick aufs Verdeck kam, ward über die Verwegenheit des Indianers so aufgebracht, daß er nach einem Gewehre grif, und den Unglücklichen auf der Stelle todt schoß.23

Solche Vorfälle zeigen, dass nicht nur für die Europäer (wie oft suggeriert wird), sondern auch für die Insulaner die interkulturelle Begegnung einen gefährlichen Verlauf nimmt. Für den Offizier – und das ist hier bemerkenswert – bleibt diese Handlung ohne Konsequenzen. Es ist also nicht klar, ob von Seiten der Entdecker hier überhaupt Unrechtsbewusstsein besteht. Selbst Forster, der aus Berichten früherer Entdeckungsreisen weiß, wie oft die europäische waffentechnische Überlegenheit zur blutigen Niederwerfung der Einheimischen missbraucht wird, und obwohl er diese Praxis auch gelegentlich kritisiert, scheint er die europäische Machtdemonstration grundsätzlich zu begrüßen, denn »dadurch erreichten wir unsern Zweck, daß nemlich in wenig Augenblicken nicht ein Mann mehr auf dem Strand zu sehen war.«24 Gleichzeitig aber hält Forster seinen Mitreisenden mangelndes Einfühlungsvermögen vor, weil er sie nicht in der Lage sieht, die »verschiedene Gemüthsart«25 der Insulaner richtig einzuschätzen: »Je mehr Zurückhaltung und Mißtrauen der Insulaner blicken läßt«, stellt er fest, »desto vorsichtiger und behutsamer muß sich der Reisende gegen ihn betragen.«26 Forster demonstriert mit diesem Hinweis nicht nur sein eigenes Talent als genauer Beobachter, sondern er führt auch einige Gewaltakte völlig zu Recht auf eine mangelnde interkulturelle Sensibilität seitens der Entdecker zurück. Mit Blick auf die 1721 vom Holländer Jacob Roggeveen geleitete Weltreise, betont er den für den zivilisatorischen Anspruch der Aufklärung doch paradoxen Sachverhalt, dass die bewaffneten Entdecker »nur zum Zeitvertreib auf diese armen Leute, die ihnen doch nichts zu leide thaten, gefeuert, und eine große Menge von ihnen, bloß um den übrigen ein Schrecken dadurch einzujagen, niedergeschossen hätten.«27 Dieses Vorwissen ist sicherlich die Erklärung dafür, dass Forsters Urteil über Cooks Umgangs mit Insulanern ambivalent erscheint. Das Augenmerk liegt dabei zunächst auf der Unverhältnismäßigkeit in der Anwendung von Gewalt durch Europäer. Besonders gut lässt sich das brutale Vorgehen der Entdecker in der von Forster überlieferten Szene veranschaulichen, welche die Verfolgung eines flüchtenden Diebes auf den »Societäts-Inseln« im Oktober 1773 darstellt. Während eines Besuches im Schiff entwendet ein Insulaner »verschiedene [...] Kleinigkeiten, wovon er in seinem Leben keinen Gebrauch machen konnte.«28 Die Reaktion der Entdecker beschreibt Forster so: Um ihn einzuholen, schossen unsre Leute eine Flintenkugel durch das Hinterteil seines Canots, worauf er nebst verschiednen andern ins Wasser sprang. Demohnerachtet hörte man nicht auf

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AA III, S. 16 Ebd., S. 211. AA V, S. 267. Ebd. AA II, S. 452f. Ebd., S. 369.

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ihm nachzusetzen, doch seine bewundernswürdige Hurtigkeit schütze ihn noch eine ganze Zeit lang [...] Endlich ward einer von den Matrosen des Spiels überdrüßig, und warf den Boothaken nach ihm; unglücklicherweise drang das Eisen ihm unter die Rippen in den Leib; es ward dem Matrosen also nicht schwer, den Indianer vollends bis ans Boot heran zu ziehen und ihn an Bord zu heben29

Die Tatsache, dass Forster weniger vom entwendeten Eigentum der Europäer, als vielmehr von der Handlungsweise des Matrosen spricht, erscheint bemerkenswert. Das z.T. ungerechtfertigte gewalttätige Verhalten Cooks und seiner Leute steht nach Forsters kritischer Ansicht im Gegensatz zum Selbstverständnis einer überlegenen affektkontrollierten westlichen Kultur. Damit wird auch die xenische Dichotomie zwischen ›Zivilisierten‹ und ›Wilden‹, zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ tendenziell ausgehebelt. Dementsprechend bezeichnet Forster das Verhalten des Matrosen als eine »barbarische Verfolgung und Misshandlung«30 der Einheimischen. Gerade diese Wortwahl erscheint hier besonders relevant. Auch wenn es Forster keineswegs daran liegt, die zivilisatorischen Errungenschaften der Aufklärung von Grund auf zu hinterfragen, so demaskiert er doch die im Zivilisationsdiskurs des 18. Jahrhunderts vielfach praktizierte Grenzziehung zwischen sogenannten »Wilden« auf der einen und »Zivilisierten« auf der anderen Seite als arbiträr und realitätsfern. So berichtet er unter dem Eindruck der unbeherrschten Emotionalität, welche die Gewaltanwendung gegen die Insulaner in vielen Situationen charakterisiert, von einem Vorfall auf der Insel Tanna: Beim Handel mit den Europäern benimmt sich ein Tanneser besonders zudringlich, so dass Kapitän Cook persönlich »ihm [...] eine Ladung Schrot ins Gesicht«31 schießt. Man sieht, dass Forster sich mit der Beurteilung des Waffeneinsatzes in Kontaktsituationen ziemlich schwer tut. Doch so sehr seine kritischen Worte persönliche Ambivalenzen erkennen mögen, so sehr folgen die Entdecker mit dem Waffeneinsatz einer Logik, die Jan Philipp Reemtsma mit folgenden Worten auf den Punkt bringt: »Wer Macht über Personen haben will, dem reicht es nicht, Macht zu haben«.32 Dieses Prinzip kommt auch in jener Szene deutlich zum Ausdruck, bei der sich die Insulaner weigern, die Entdecker ins Land zu lassen. Daraufhin gibt Cook den Befehl, »eine Kanone abzufeuern, um den Insulanern einen Begriff von unsrer Übermacht beyzubringen.«33 Auf diese Weise erzwingen die Entdecker ihre Landung. Solche Vorgänge belegen in historischer Perspektive nicht nur das, was Michèle Duchet als »la barbarie des civilisés« bezeichnet hat34, sondern auch die moderne These Huntingtons:

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Ebd. Auch der ältere Forster berichtet über diesen Vorfall, vgl. The Resolution Journal III, S. 387f. AA II, S. 452f. AA III, S. 324. Jan Philipp Reemtsma, Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Aufsätze und Reden. Hamburg 1998, S. 131. AA III, S. 205. Michèle Duchet, Anthropologie et histoire, S. 227.

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Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion [...], sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung organisierter Gewalt.35

Im Kontext des 18. Jahrhunderts zeigt sich allerdings die Aporie dieses Prozesses vor allem dort, wo eine ungezügelte Gewaltanwendung zur Aushöhlung der Grundwerte der Zivilisation führt.36 So bemerkt Forster nach einer glimpflich verlaufenen Auseinandersetzung mit den Insulanern, dass in der Schiffsmannschaft nicht viele Menschen waren, denen das Leben ihrer Mitmenschen keine geringschätzige Kleinigkeit zu seyn dünkte. Andere hingegen schienen ganz unzufrieden damit, daß es nicht zum Todschlagen gekommen war. An die schrecklichen Auftritte des Krieges und Blutvergießens gewöhnt, thaten sie, als ob es gleich viel sey, nach einem Menschen, oder nach einem Ziele zu schießen.37

Hierdurch ruft Forster das eigentliche Problem der Gewalt im Zusammenhang mit den Entdeckungsfahrten ins Bewusstsein. Es ist nämlich nicht (immer) so, dass die Gewaltanwendung der Europäer als legitime Abwehrreaktion auf die feindselige Haltung der Insulaner ihnen gegenüber überall interpretiert werden kann. »Wenn man vollends sich erinnert«, schreibt Forster in den Fragmenten über Cooks letzte Reise, »auf welche feindselige Art die Tahitier den Capitain Wallis empfiengen, so wird man leicht einsehen, daß ihr jeziges furchtsames Betragen blos eine Folge der Verwüstung war, die seine Kanonen damals unter ihnen und ihren Pflanzungen anrichteten.«38 Die feindselige Reaktion der Insulaner erscheint umso plausibler, als Forster bereits in der Reise um die Welt betont: »So harmlos sich [...] die guten Leute auch gegen uns betrugen, so blieben sie dennoch von den Unglücksfällen nicht verschont, die bey Entdeckungen fremder Länder gar zu oft vorfallen.«39 Wenn »Unglücksfälle« »gar zu oft vorfallen« – und damit meint Forster hier die Regelmäßigkeit der Zusammenstöße, bei denen vor allem Insulaner Opfer zu beklagen haben – dann können sie nicht mehr dem Zufall zugeschrieben werden. Dann müssen sie den Kollateralschäden der europäischen Aufklärung zugerechtet werden, die im Prozess der Begegnung zwischen Insulanern und Entdeckern allenthalben sichtbar werden. Forsters Fähigkeit, die Probleme, die ihn bewegen – und dazu gehört die Gewaltproblematik – aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, hebt seinen Bericht von der diskursiven Einseitigkeit seiner Vorgänger und Zeitgenossen ab – ganz unabhängig davon, welche (Zwischen)positionen er dabei einnimmt.

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Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 68. Eine solche Forderung zeichnet sich bereits in Jean-Jacques Rousseaus Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes (1754) und in Voltaires Essai sur les mœurs (1756) ab. Doch auch wenn diese Werke für Toleranz werben, entspringen sie nahezu entgegengesetzten Denkrichtungen. Während Voltaire sich dem Fortschrittsdenken seiner Zeit verpflichtet fühlt, lenkt Rousseau das Augenmerk auf den ›Naturmenschen‹, den er als positive Gegenfigur des ›Zivilisierten‹ entwirft. AA III, S. 100f. AA V, S. 87. AA II, S. 368.

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Paradigmatisch ist, dass Forster vielleicht zum ersten Mal in der Entdeckungsgeschichte den Spieß umdreht und die Gewaltbereitschaft der Inselbewohner nicht apodiktisch als angeboren stilisiert, sondern diese in Verbindung mit der »Erscheinung bewaffneter Männer auf ihrem Grund und Boden«40 zu erklären versucht, was ihn wiederum in Konflikt mit dem Aufklärungsdiskurs bringt, den er an manchen Stellen ja selbst pflegt. Für ihn begründet sich die Gewaltbereitschaft der Insulaner durch Besonderheiten der Begegnungssituationen, durch die die Einheimischen herausgefordert werden. Auf der Insel Tanna zum Beispiel, »wo wir drey oder vier Häuser [...] vor uns fanden. Zehen bis zwölf Wilde, die mit Bogen, Pfeilen, Streitkolben und Speeren wohl bewaffnet, ohnweit den Hütten in einer Reihe saßen, sprangen bey unserm Anblick alsbald von der Erde auf.«41 Die Reaktion der Insulaner kann auch hier nur an der Oberfläche als feindselig interpretiert werden; tatsächlich resultiert sie aber nach Forsters Darstellung aus einer natürlichen Notwehr heraus, denn »[j]ede Kultur«, so Ruth-Gaby Vermot, »wehrt sich gegen Veränderungs- oder Zerstörungsabsichten von außen.«42 Auch Lüsebrink spricht in diesem Zusammenhang vom »Recht auf Widerstand gegen gewaltsame Unterdrückung.«43 Vor diesem Hintergrund zeigt Forster Verständnis für die Flucht des Königs O-Tuh, dem Cook einen Besuch abstatten will: [W]enn man bedenkt, auf was für eine fürchterliche und blutige Weise die Europäer diesem Volk ihre Gewalt und Übermacht [...] gezeigt haben«44, dann erscheint eine solche Reaktion nur folgerichtig. Die Furcht der Insulaner vor Europäern interpretiert Forster entsprechend als »eine Folge der verschiednen Begegnung, welche die Einwohner [...] von den Europäern ehemals erfahren hatten.«45 Fast überall, wo Forster Insulaner trifft, die scheinbar ohne Grund den Entdeckern mit großem Misstrauen begegnen oder ihnen aus dem Weg gehen, schließt er, »daß sie von der Übermacht der Europäer zuvor schon etwas gehört hatten und sich also für dem mörderischen Schießgewehr fürchteten.«46 Diese Aussage legt die These eines gestörten Verhältnisses zwischen Europäern und Insulanern nahe. In diesem Kontext berichtet Forster von der Entdeckungsreise von Kapitän Wallis, dessen Mannschaft mit den Einwohnern »fast gar keinen Umgang [hatten], dennoch fanden sie für nöthig, ihnen durch Abfeuerung einer Musquete einen Schreck einzujagen.«47 Der Hinweis auf solche Ereignisse hat das Ziel, die Frage nach der Verantwortung der Europäer in dem doch konfliktreichen Begegnungsprozess mit Einheimischen aufzuwerfen: »Es dünkt mir nemlich höchstwahrscheinlich«, notiert Forster im August 1773, daß unsere Leute, wenn sie sich dessen gleich nicht bewußt seyn mögen, durch irgendeine Beleidigung Gelegenheit dazu gegeben haben müssen. Gesetzt aber auch, das wäre nicht; so ist

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AA V, S. 88. AA III, S. 255f. Ruth-Gaby Vermot, Rudolf Hadorn, Das war kein Bruder, S. 17. Hans Jürgen Lüsebrink, Zivilisatorische Gewalt, S. 125. AA II, S. 292. Ebd., S. 310. AA II, S. 373. Ebd.

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doch Selbsterhaltung das erste Gesetz der Natur, und der Anschein berechtigte die Einwohner allerdings unsre Leute für ungebetne Gäste und für den angreifenden Theil zu halten, ja was mehr als das alles ist, sie hatten Ursach für ihre Freiheit besorgt zu seyn.48

An dieser Aussage wird eine weitere Differenzierung in der Beurteilung der Gewaltbereitschaft der Insulaner ersichtlich. Forster lässt die Insulaner tendenziell als Opfer der Entdeckung erscheinen, da sie allein schon unter waffentechnischen Gesichtspunkten den Entdeckern unterlegen sind. Allgemein stellt er in seinem späteren Cook-Aufsatz fest: Der Europäer, dem seine Waffen eine entschiedene Überlegenheit geben, kann überdies nicht eigentlich von dem Schwächern beleidigt werden, dessen Unwissenheit er schonen, und dessen Tapferkeit er ehren muß.49

Aber genau vor »der aufklärerischen Selbstverpflichtung […], auch weniger zivilisierte Kulturen von der Vision einer friedfertigen Menschheit zu überzeugen«50, versagt die »überlegte Ordnung der Europäer« im Prozess der interkulturellen Begegnungen während Cooks Entdeckungen mehr oder weniger vollständig51. Solche traurigen Vorfälle, wie sie Forster allenthalben miterlebt, machen Kategorien wie »überlegte Ordnung der Europäer« unbrauchbar, weil sich ihre Bedeutung in einer abstrakten Vision erschöpft. Verfehlen die Entdecker durch ihr Verhalten das Ziel der »Toleranz und Weitsicht« als Hauptforderung der Aufklärung, dann wird nicht das Projekt eines »universale(n) Vernunftwerdens« 52 einseitig beschädigt, sondern vor allem die so genannten fremden Kulturen werden in Mitleidenschaft gezogen. Erschwerend kommt hinzu, dass Foster das Verhalten der Insulaner gegenüber den Europäern nicht a priori als feindselig einstuft. Nach Abwägung der verschiedenen Gefahrensituationen, denen die Europäer ausgesetzt sind, kommt er zu der bemerkenswerten Feststellung, dass man von den Insulanern »nicht das mindeste« zu befürchten habe, »wenn man nur seiner Seits sie in Ruhe läßt und sie nicht vorsetzlich bös macht.«53 Doch genau das lassen die Entdecker in ihrem Auftreten vermissen: Als wir ohngefähr zwanzig Schritte weit vom Ufer waren, rief Capitain Cook den Einwohnern zu, und gab ihnen durch Zeichen zu verstehen, daß sie die Waffen niederlegen, und sich vom Strande zurückziehen sollten.54

Wie bereits oben angedeutet liefert ein solches Auftreten die Begründung für das Verhalten der Insulaner, die nach Forsters Einschätzung die Sorge um den Verlust ihrer Freiheit haben, zumal die Entdecker in verschiedenen Begegnungssituationen »das vornehmste Gebot der Gastfreyheit«55 bewusst verletzen.

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Ebd., S. 267f. AA V, S. 261. Stefan Greif, Das Diskontinuierliche als Kontinuum. Aufklärung und Aufklärungskritik im Werk Georg Forsters, in: Georg-Forster-Studien XV (2010), S. 77–93, hier S. 77. Ebd. Ebd., S. 77f. AA III, S. 361. Ebd., S. 211. Ebd., S. 272.

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Sein explizites Bemühen um die Überwindung der Vorurteile seiner Vorgänger und Mitreisenden begründet Forster gelegentlich mit der Friedfertigkeit der Einheimischen, wodurch er zur Argumentation neigt, »dass der Mensch ursprünglich im Zustand natürlicher Güte lebt.«56 Das Verhalten der Entdecker auf fremdem Boden stellt dagegen ein negatives Beispiel dar. So fragt er im Hinblick auf jenen Zwischenfall, bei dem der französische Seefahrer Marion Dufresne und ein Großteil seiner Mannschaft von Einheimischen getötet wurden: Warum sollten wir also nicht annehmen dürfen, daß die Franzosen, ohne es vielleicht selbst zu wissen oder gewahr zu werden, ihnen etwas in den Weg gelegt, wodurch jene sich für berechtigt gehalten haben, ihrer Rachsucht dermaaßen den Zügel schießen zu lassen, als dies von rohen Wilden nur immer erwartet werden kann?57

Obwohl dieser Zwischenfall für das misstrauisch-aggressive Verhalten späterer Entdecker prägend wurde, bemüht sich Forster offensichtlich um eine möglichst objektive Erklärung, die das Verhalten der Insulaner gegenüber den Europäern zwar nicht rechtfertigt, doch nachvollziehbar macht. Obwohl Forster die »rohen Wilden« hier in eine toposgeschichtliche Tradition stellt, versucht er beispielsweise nach einem heftigen Streit zwischen Insulanern und Europäern auf der Insel Eromanga, bei dem die Malenesen viele Tote beklagen, den Hergang der Feindseligkeit sachlich zu rekonstruieren. Er könne nicht erkennen, daß diese Wilden, als sie unser Boot aufhielten, die geringste Feindseligkeit sollten im Sinne gehabt haben! Nur das mogte sie aufbringen, daß auf sie, oder vielmehr auf ihren Anführer, mit einem Gewehr gezielt ward. Gleichwohl war den unsrigen auch nicht zu verdenken und so scheint es denn schon ein unvermeidliches Übel, daß wir Europäer bey unseren EntdeckungsReisen den armen Wilden allemal hart fallen müssen.58

Forster macht hierbei Momente sichtbar, die als Zivilisationsbruch interpretiert werden können, da er in den Entdeckern nicht nur Vorbote einer glücklichen Epoche, sondern gleichermaßen eine Gefahr für das Leben der Einheimischen sieht. Sodann erklärt er die Haltung der Insulaner aus der Wahrnehmung dieser Bedrohung, die sie zur Gegenwehr zwingt. Wie Forster feststellt, sieht man »aus ihrem übrigen Betragen gegen die Europäer, daß sie weder verrätherisch, noch menschenfeindlich sind.«59 Hier wird die Bemühung um eine Korrektur des Topos vom bösen Wilden erkennbar: Denn die Rache der Wilden kommt insbesondere dann zum Ausdruck, weil die Entdecker sie dazu veranlassen. Forster bemerkt, dass die Entdecker bei vielen Begegnungen »das vornehmste Gebot der Gastfreyheit so schändlich aus den Augen gesetzt hatten«60, was bereits Bougainville als »abus de la supériorité de nos forces«61 beschreibt.

56 57 58 59 60 61

Stefan Greif, Das Diskontinuierliche als Kontinuum, S. 77. AA III., S. 355. Ebd., S. 201. Ebd., S. 355. Ebd., S. 272. Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 171.

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Nun stellt sich die Frage nach der Perspektive der Einheimischen auf ein solch martialisches Auftreten, das auf dem Missbrauch der waffentechnischen Überlegenheit beruht. Forsters Reisebericht liefert einige interessante Indizien, welche eine Rekonstruktion dieser Perspektive ermöglichen. Zunächst lässt sich erkennen, dass die Einheimischen ausfallende Verhaltensweisen der Entdecker als Provokation betrachten. Deshalb weigern sie sich zum Teil ostentativ, manch einer Forderung der Europäer Folge zu leisten: »[…] vielleicht kam es ihnen gar unbillig«, kommentiert Forster ein entsprechendes Verhalten der Tannaer, »daß eine Handvoll Fremde sich’s beygehen ließ, ihnen, in ihrem eigenen Lande, Gesetze vorzuschreiben.«62 Dass sich die Einheimischen in solchen Begegnungssituationen dazu gezwungen sehen, dem aggressiven Besucher die Stirn zu bieten, hält Forster für folgerichtig: »Einer, der dicht an das Ufer kam, hatte sogar die Verwegenheit, uns den Hintern zu zeigen und mit der Hand darauf zu klatschen, welches, unter allen Völkern im Süd-Meer, das gewöhnliche Zeichen zur Herausforderung ist.«63 Zahlreich sind solche Situationen, welche einerseits die feindliche Reaktion der Einheimischen sinnfällig machen, andererseits den in den Instruktionen geforderten freundschaftlichen Umgang der Europäer mit den Einheimischen als unrealistisch erscheinen lassen. Hier sei nur auf jene Szene auf Tanna hingewiesen, die Forster aus der Perspektive der Einheimischen als Herausforderung zur Gewalt interpretiert: Man hatte, wie gewöhnlich, eine Schildwacht ausgestellt, die den Platz, den unsere Leute zu ihren Geschäften brauchten, von Indianern rein halten musste, dahingegen die Matrosen diese Scheidelinie ohne Bedenken überschreiten, und sich nach Belieben unter die Wilden mischen durften.64

Aus der Wendung »wie gewöhnlich« wird deutlich, dass der hier beschriebene Vorgang keinen Einzelfall, sondern eine bereits etablierte Methode in den Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung bildet. Der aggressive Charakter solcher als Schutzmaßnahmen proklamierten »Repressalien«65 wird nicht nur formal an der militärischen Besatzung der europäischen Schiffe, sondern auch am Vorgehen der Entdecker vor Ort sichtbar. Die Scheidelinie am Strand drückt beispielsweise die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Einheimischen symbolisch aus. Forster, der den Vorgang aus der Perspektive der Insulaner zu vermitteln und verständlich zu machen versucht, vermutet zu Recht, dass sich die Einheimischen durch das Verhalten der Entdecker, die de facto asymmetrische Beziehungen schaffen, provoziert fühlen. Zwangsläufig hegen sie den Verdacht, so Forsters zutreffende Interpretation, »daß wir auf ihr Land und anderes Eigenthum Absichten hätten, und [sie] machten daher Anstalt, beydes zu vertheidigen.«66 Die Ambivalenz des militanten Auftretens der Entdecker wird dadurch offenkundig, dass einerseits die eigene Sicherheit gegenüber den als unberechenbar porträtierten In-

62 63 64 65 66

AA III, S. 211. Ebd. Ebd. Ebd., S. 79. Ebd., S. 208. Vgl. ebenfalls AA II, S. 221.

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sulanern legitimiert wird, andererseits aber die Spannungen zwischen ihnen verschärft werden: Einer von den Indianern [...] hatte sich zwischen seinen Landsleuten vorgedrängt und wollte über den freyen Platz gehen. Weil aber unsere Leute diesen für sich allein zu haben meynten; so nahm die Schildwache den Indianer beym Arm, und stieß ihn zurück. Dieser hingegen glaubte mit Recht, daß ihm, auf seiner eigenen Insel, ein Fremder nichts vorzuschreiben habe, und versuchte es daher von neuem, über den Platz wegzulaufen, vielleicht blos um zu zeigen, daß er gehen könne, wo es ihm beliebte.67

Die von den Europäern gezogene Trennungslinie erweist sich als Katalysator der Interessenkollision zwischen dem Sicherheits- und Machtanspruch der Entdecker auf der einen und der Entschlossenheit der Insulaner, ihre »gekränkte Freyheit zu vertheidigen«68, auf der anderen Seite. Dadurch wird die Gewalt der Insulaner gegen die Entdecker als Notwehrreaktion abgemildert. Doch häufen sich solche Fälle nicht nur, so dass sie als konstituierender Bestandteil des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes zu betrachten sind, sie haben oft auch einen tragischen Ausgang: Zween Männer saßen im Grase und hielten einen Dritten, todt, in ihren Armen. Sie zeigten uns eine Wunde, die er von einer Flintenkugel in die Seite bekommen hatte und sagten dabey mit dem rührendsten Blick: ›er ist umgebracht.‹69

Sieht man von dem dramatischen Kunstgriff ab, durch den Forster dieses traurige Ereignis vermittelt, so erscheint das implizite Paradoxon von Bedeutung, dass für die Insulaner die Annäherung an die europäische Zivilisation tödlich endet. Es ist also kein Zufall, wenn Forster den Leutnant Rowe, einen Verwandten Cooks, in diesem Kontext als Beispiel heranzieht: Dieser unglückliche junge Mann hatte, bey einer sonst guten Denkungsart, die Vorurteile der seemännischen Erziehung noch nicht völlig abgelegt. Er sahe [...] Einwohner der Südsee mit einer Art von Verachtung an, und glaubte eben dasselbe Recht über sie zu haben, welches sich, in barbarischen Jahrhunderten, die Spanier über das Leben der amerikanischen Wilden anmaaßten.70

Als günstigste Reaktion auf solche tragischen Vorfälle stellt er fest, dass die Einheimischen den Europäern systematisch aus dem Weg gehen, »um den grausamen, verrätherischen Leuten zu entkommen, die auf fremdem Boden sich solche Ungerechtigkeiten erlauben.«71 Mit Blick auf die Auseinandersetzung zwischen Europäern und Insulanern auf der »Oster-Eyland« im April 1774 thematisiert Forster das dialektische Moment beim Versuch, den Insulanern begreiflich zu machen, dass auf einen ihrer Landsleute geschossen wurde, »bloß weil er sich an unserm Eigenthume vergriffen [hat]; wir wären aber gesonnen, als Freunde mit ihnen zu leben[...]«72

67 68 69 70 71 72

AA III, S. 272. Ebd. Ebd., S. 271. Ebd., S. 348. Ebd., S. 272. Ebd., S. 17.

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Anders als Bitterli, der in den Forschungsreisen des späten 18. Jahrhunderts das »neue Klima der interkulturellen Toleranz«73 verwirklicht sieht, vermittelt Forster die Begegnung zwischen Europäern und Insulanern als eine solche, die Parallelen mit der Zeit vor der Aufklärung sichtbar macht: Die ersten Entdecker und Eroberer von Amerika, haben oft und mit Recht den Vorwurf der Grausamkeit über sich ergehen lassen müssen, weil sie die unglücklichen Völker dieses Welttheils nicht als ihre Brüder, sondern als unvernünftige Thiere behandelten, die man gleichsam zur Lust niederzuschießen berechtigt zu sein glaubt. Aber wer hätte es von unsern erleuchteten Zeiten erwarten sollen, daß Vorurtheil und Übereilung den Einwohnern der Südsee fast ebenso nachtheilig werden würden?74

An solchen Reflexionen bricht Forster mit der Apodiktik des Aufklärungs- und Zivilisationsdiskurses, in dem die nicht nur wissenschaftliche Notwendigkeit der Entdeckungsfahrten legitimiert wird. Die Gewalt erscheint hier als Überbleibsel barbarischer Zeiten, als Atavismus in der Zivilisation. Forsters Dilemma in der realen Begegnungssituation liegt auf der Hand, denn die Pointe dieser Erfahrung ist in der Wiederholung von Handlungen zu sehen, die er früheren Reisen zuschreibt, die sich aber ebenfalls als konstitutives Moment des zivilisatorischen Prozesses erweisen. Gerade die Erfahrung vorzivilisatorischer Verhaltensmuster bei den Entdeckern markiert einen Zwiespalt, dem sich Forster auf der ganzen Reise ausgesetzt sieht. Forsters Erfahrungen tragen in diesem Zusammenhang dazu bei, die Dialektik der Kulturbegegnung im Kontext der Entdeckung und ›Aufklärung‹ der Südsee augenfällig zu machen, wobei seine kritischen Ansätze sich nicht in der Erkenntnis erschöpfen, »daß ein Mensch den andern wegen einer so geringen Veranlassung ums Leben brachte.«75 Das eigentliche Skandalon liegt in der Anspielung auf Las Casas, der in seiner Brevísima Relación de la destrución de las Indias (1552) den Conquistadores vorhält, daß unsere lieben Spanier durch ihre Grausamkeiten und Schandtaten daselbst mehr als zehn Königreiche, die gegenwärtig Einöden sind, ehedem aber stark bevölkert waren, verwüstet und verheert haben.76

Mit dem Rückgriff auf Las Casas perspektiviert Forster seine Kritik an den Gewaltexzessen der Reisenden neu, indem er bewusst eine Parallele zwischen den spanischen Konquistadoren des ersten Entdeckungszeitalters und den aufgeklärten Entdeckern des 18. Jahrhunderts herstellt. Durch diesen erzähltechnischen Kunstgriff, der seiner Kritik an der Handlungsweise der aufgeklärten Entdecker gegenüber den Insulanern Nachdruck verleiht, widerspricht Forster zugleich seiner eigenen Konstruktion der englischen Südseefahrten der Spätaufklärung als einem positiven Gegenmodell zu den übrigen europäischen Entdeckernationen seinerzeit. Aus der Perspektive der Aufklärung wiegt vermutlich nichts schwerer als die Kritik, dass ›aufgeklärte‹ Entdecker des 18. Jahrhunderts nicht oder nur geringfügig von den Konquistadoren abweichen. Entscheidend für die Expli-

73 74 75 76

Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 191. AA III, S. 16. Ebd. Bartolomé de Las Casas, Kurzgefaßter Bericht, S. 12.

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zierung dieses dialektischen Moments ist aber die aus Forsters Sicht kaum zu leugnende Erkenntnis, dass den wissenschaftlich motivierten und explizit auf humanen Umgang mit den Einheimischen verpflichteten Reisen eine Desavouierung ihres Anspruchs immanent ist und im Verhalten der Entdecker Ausdruck findet. Selten sind solche Begegnungen, die beide Parteien absolvieren, »ohne Gewalt zu gebrauchen und die blutigen Auftritte vergangener Zeiten zu wiederholen.«77 Angesichts der bereits in früheren Weltreisen etablierten Gewalt der Entdecker gegen die Einheimischen erweisen sich die aufgeklärten Humanitätsappelle der wenigen philanthropisch inspirierten Gelehrten wie Herder zwar als notwendig, aber in der Praxis der interkulturellen Begegnungen der damaligen Zeit als wirkungslos. Die Brutalität, welche die Entdeckungsfahrten vor und nach der Aufklärungszeit kennzeichnet, entzieht sich Forster zufolge jeder zivilisatorischen Legitimation und jeder rationalen Erklärung. So spricht er im Anschluss an eine Szene, in der er das Auftreten der Entdecker mit einer »Kriegs-Expedition«78 vergleicht, von »unser[em] militärisch[en] Kreuzzug«79 – einem Ausdruck, durch den die Entdeckungsreisen als Feldzug unter dem Vorwand der Wissenschaft und Aufklärung erscheinen. Überschattet durch eine exzessive Gewaltanwendung gegen Einheimische – und dies sowohl in sprachlicher als auch physischer Hinsicht – werden in der zweiten Weltreise Cooks Diskrepanzen zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit der Forschungsexpeditionen offenkundig. Diese Diskrepanzen dokumentieren jenen Sachverhalt, den Jan Philipp Reemtsma als »Allianzen von Zivilisation und Barbarei« beschreibt80 und worauf auch Helmut Peitsch in der Feststellung aufmerksam macht, dass Wissenschaftler und Seesoldaten bzw. Wissenschaftliches und Militärisches in Forsters Bericht oft nebeneinander erscheinen, so dass sie nahezu eine Einheit bilden.81 Freilich machen die beiden Forsters durch ihre kritische Reaktion auf diese »Allianzen«, denen sie letztlich machtlos gegenüberstehen, die Erkenntnis über die Aporien wissenschaftlicher und zivilisatorischer Evidenz in den Weltreisen der Spätaufklärung sichtbar. Insbesondere das Erlebnis der sinnlosen Tötung eines Insulaners am Strand der Insel Tanna begründet und bestätigt Forsters Zweifel an der zivilisatorischen Evidenz in exemplarischer Weise: Wie plötzlich, durch was für eine ruchlose That waren die angenehmen Hoffnungen, womit ich mir, noch wenig Augenblicke zuvor, geschmeichelt hatte, nun nicht auf einmal vereitelt! Was mußten die Wilden von uns denken? Waren wir jetzt noch besser, als andere Fremdlinge? oder verdienten wir nicht weit mehr Abscheu, weil wir uns, unter dem Schein der Freundschaft eingeschlichen hatten, um sie hernach als Meuchelmörder zu tödten?82

Durch diese rhetorischen und zugleich brisanten Fragen versucht Forster einige Momente zu verdeutlichen, in denen sich die Dialektik der Entdeckungsreisen in einer bemerkens-

77 78 79 80 81 82

AA II, S. 268. Ebd. Ebd., S. 101. Jan Philipp Reemtsma, Mord am Strand, S. 21–52. Helmut Peitsch, Zum Verhältnis von Text und Instruktionen, S. 104. AA III, S. 273.

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werten Schärfe kondensiert. Es geht um die Hinterfragung des Sendungsbewusstseins und das Scheitern der Aufklärung an den eigenen Ansprüchen und Maßstäben. Deshalb ist die Tatsache, dass Forster darauf verzichtet, William Wedgeborough, den Todesschützen von Tanna, persönlich zu kritisieren, kein Zufall. Denn auch wenn dieser Mord als eine individuelle Verfehlung dem Wachsoldaten anzulasten ist, so stellt er doch – und wird durch das Personalpronomen »uns« in Forsters Zitat unterstrichen – das Exponat des Umgangs der Entdecker mit den Einheimischen dar, wodurch nicht nur die schlichte Dichotomie zwischen Wilden und Zivilisierten hinfällig, sondern auch der Sinn der europäischen Aufklärung aus der Perspektive der Insulaner hinterfragt wird. Spätestens auf der Insel Tanna ist der Punkt erreicht, an dem Forster sich zu der Feststellung veranlasst sieht, dass der Europäer seine zivilisatorische Mission auf diesem Erdteil – und dies gilt für die meisten ›entdeckten‹ und kolonisierten Länder – verspielt hat. Gegenüber der undifferenzierten Hypostasierung der Aufklärung reflektiert Forster, wie die als Vorboten der Zivilisation porträtierten Weltreisenden des zweiten Entdeckungszeitalters durch ihren Umgang mit den Einheimischen die grundlegenden Aufklärungsprinzipien untergraben. So stellt das denkwürdige Ereignis am Strand von Tanna im August 1774 in seinen Augen ein Sinnbild dar, das nicht nur eine bittere Erfahrung für einen Verfechter der Idee der Humanität bildet, sondern zugleich die europäische Aufklärung in ihrem Anspruch gegenüber außereuropäischen Kulturen entmythologisiert. Bereits Bougainville antizipiert diese Gedankenrichtung, wenn er von einem Mordfall berichtet, bei dem die Bestürzung der Einheimischen über das Verhalten der Entdecker an dramatischer und pathetischer Inszenierung kaum zu überbieten scheint: »Les femmes éplorées«, schreibt Bougainville, »se jettèrent à ses genoux, elles lui baisaient les mains en pleurant et en répétant plusieurs fois: Tayo, maté, vous êtes nos amis et vous nous tuez.«83 Christian Ritter wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob die Gewalt gegen die Insulaner und ihre literarische Rezeption in den Reiseberichten nicht »typisch für die Aufklärungsepoche sind.«84 Diese Frage kann deshalb nicht bejaht werden, da Gewaltexzesse gegen außereuropäische Völker keine spezifische Erscheinung des 18. Jahrhunderts sind. Ihr zum Teil massives Vorkommen während der Weltreisen Cooks zeigt allerdings, dass die wohlmeinenden Instruktionen ›graue Theorie‹ geblieben sind. Das Problem liegt nun darin, dass gerade solche Instruktionen die Entdeckungsfahrten als Projekt der Aufklärung legitimieren. Über die reine Feststellung der Kontinuität der Gewalt in der Geschichte der Entdeckungsreisen hinaus legen Forster und Bougainville in den überlieferten Szenen dem Leser jenen historischen Widerspruch nahe. So belegt Forsters oben zitierte Frage »Waren wir jetzt besser als andere Fremdlinge?« zum einen ein hohes Bewusstsein von der Dialektik der europäischen und südpazifischen Perspektiven.85 Im Grunde genommen

83 84 85

Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 133. H. i. O. Christian, Ritter, Darstellung der Gewalt in Georg Forsters Reise um die Welt, in: Georg-ForsterStudien VIII (2003), S. 19–51, hier S. 51. Dazu vgl. Yomb May: »Was mußten die Wilden von uns denken?« – Georg Forster, der Entdecker als Kritiker, in: Georg-Forster-Studien X (2005), S. 1–20.

254

handelt es sich dabei auch um einen Kunstgriff, wodurch Forster zeigt, wie wichtig die Perspektive der Einheimischen für eine objektive Einschätzung der Entdeckungsfahrten ist. Zum anderen dokumentiert diese Frage Forsters skeptische Haltung gegenüber der auch von ihm selbst oft betonten Vorbildlichkeit Englands im Umgang mit den Einheimischen bei den Südseefahrten. Tatsächlich verlangt die Verunsicherung, die sich in solchen Fragen ausdrückt, dass man sich über das Missverhältnis der europäischen Aufklärung zu außereuropäischen Kulturen klar wird. Statt einer friedlichen Implementierung der europäischen Zivilisation, was an und für sich auch schon einen imperialistischen Anspruch beinhaltet, beobachtet und dokumentiert Forster nahezu überall rohe Gewalt gegen die Inselbevölkerung: Und hier in Tanna, wo wir uns, bis auf den Augenblick unserer Abreise, gesitteter und vernünftiger, denn irgendwo, betragen hatten, auch hier mußte dieser Ruhm, durch die offenbahreste Grausamkeit, wieder vernichtet werden!86

Nirgendwo besser als in der Erkenntnis, dass der Entdecker die ›Vernichtung‹ nicht nur der fremden Kultur als seines Entdeckungsobjektes, sondern auch seiner eigenen Ziele vorantreibt, formuliert Forster Widersprüche der Weltreisen, die der Leser allenthalben in seinem Werk wahrnimmt. Der brutale Umgang der »zivilisierten« Europäer mit den Insulanern macht Forsters Zivilisationseuphorie ein Ende. Vor diesem Hintergrund liegt Jan Philipp Reemtsma in der Argumentation richtig, dass Forster die Insel Tanna als »Ort der tiefsten zivilisatorischen Depression«87 erlebt habe. Insbesondere die zugespitzten Ereignisse auf Tanna bewirken bei ihm das, was Eberhard O. Müller treffend als eine »Implosion des Glaubens an die aufklärerische Rationalität«88 bezeichnet. Doch geht es nicht um ein Phänomen der Moderne, wie Müller suggeriert, sondern um eine historische Erfahrung, die Forster bereits im Zusammenhang mit den Vorkommnissen auf der Weltreise veranschaulicht: Vielleicht würde der Umgang, mit uns Europäern, Nutzen gestiftet, und den Wachsthum der Sittlichkeit befördert haben, wenn die letzte unüberlegte That nicht alle günstige Eindrücke, welche sie etwa schon angenommen haben mochten, zu schnell wiederum ausgelöscht hätte!89

Forsters Äußerungen zum Thema Gewalt während der Entdeckungsfahrten machen wieder einmal seine Ambivalenzen deutlich. Seine Distanzierung von einer sinnlosen Gewalt ist zwar keine punktuelle Kritik, die sich im interkulturellen Reflexionszusammenhang erschöpft, sondern sie artikuliert ein grundsätzliches Unbehagen, das vor allem in solchen Teilen der Reise um die Welt deutlich zum Ausdruck kommt, in denen er die moralische und physische Zerstörung der einheimischen Kultur durch die Entdecker moniert; doch dabei zeigt Forster keine Alternative auf, die ihn nicht in einen Widerspruch bringt. Dies zeigt sich insbesondere, wenn er die Mordtaten der Entdecker mitunter als »das

86 87 88 89

AA III, S. 273. Jan Philipp Reemtsma, Mord am Strand, S. 23. Erhard O. Müller, Frankfurter Rundschau, 24. 12. 2001 [Nr. 299], S. 6. AA III, S. 282.

255

harte Gesetz der Nothwendigkeit«90 relativiert und möglichen Kritikern bereits mit dem Argument den Wind aus den Segeln nimmt: »Könnte oder möchte man sich doch zuvor ganz an die Stelle des Entdeckers denken, ehe man sein Betragen gegen die Einwohner jener fernen Weltgegegenden verdammte!«91 Diese Ambivalenz, die für den ganzen Reisebericht strukturbildend ist, basiert nicht zuletzt darauf, dass Forster sich nicht festlegen kann oder will, »was die Selbsterhaltung [der Entdecker, Y.M.] fordert, und wo die Menschlichkeit anfängt.«92 Fasst man Forsters Argumente für und gegen die Anwendung der Gewalt im Begegnungsprozess zwischen Europäern und Insulanern zusammen, so muss man festhalten, dass der in den Instruktionen formulierte Wunsch nach einem friedlichen Umgang mit Einheimischen die Entdeckungsreisenden der Spätaufklärung zum ersten Mal zu einer humanistischen Haltung verpflichtet. Doch kommt diese Forderung nach Forsters Einschätzung im Großen und Ganzen nicht über den Ansatz hinaus, weil die Entdecker die kulturelle Einstellung mitbringen, »daß man die Wilden, wenn sie sich im geringsten beygehen ließen, zu drohen, geradeweges niederschießen müsse.«93 Dementsprechend liegt folgende Feststellung Nicholas Thomas auf der Hand: »It is obvious that Pacific Islanders young and old, male and female, warriors and priest met Europeans on different terms and had different interests in meeting them or avoiding them.«94 Vielleicht liegt darin die Erklärung begründet, dass sich Forster weder dem Trugbild der zivilisatorischen Mission beugt noch die Brüche der Aufklärung verabsolutiert; indes zeigt seine Auswertung der zweiten Weltreise Cooks, in der die angerichteten Verwüstungen zum Teil im Namen des Fortschritts entschuldigt werden, dass sich die Entdeckungsfahrten des späten 18. Jahrhunderts nicht im wissenschaftlichen Erkenntnisdrang erschöpfen; sie speisen sich auch aus imperialen Sehnsüchten im Sinne einer »koloniale[n] Entdeckung der Völker der Südsee«95, die Forster trotz der skizzierten Skepsis mancherorts durchaus befürwortet.

3.

Entdeckungsreise – Koloniale Metaphorik – Selbstreflexion

Das Epitheton »wissenschaftlich«, das als Kennzeichnung für den Paradigmenwechsel bei den Weltreisen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hypostasiert wird, täuscht oft über weitere Ziele solcher Reisen hinweg. Deshalb wird der von Forster beschriebene Umgang der Europäer mit den Insulanern als Prozess (prä)kolonialer Kontakte in der Forster-Forschung kaum wahrgenommen96, obwohl dieses asymmetrische Verhalten

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AA V, S. 264. Ebd. Ebd., S. 264f. AA III, S. 273. Nicolas Thomas, Discoveries, S. xxxv. Helmut Peitsch, Zum Verhältnis von Text und Instruktionen, S. 119. Als wichtige Ausnahme gilt der von Hans-Jürgen Lüsebrink herausgegebene Band, Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006.

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essentiell mit den kolonialen Zielen der Entdeckung zusammenhängt, die in der Regel mit den wissenschaftlichen Anliegen kaschiert wurden. Diesen Konnex zu übersehen, bedeutet ein schwerwiegendes Desiderat, denn: However important these voyages were for geographical knowledge and the advancement of science – and Bougainville with his naturalist Commerson were deeply concerned with the advancement of science – all these expeditions […] were undertaken for the control of new territory for commercial exploitation and strategic use.97

Argumentiert man in der gegenwärtigen Kulturwissenschaft, dass der Aufbruch der Europäer in die Südsee am Ende des 18. Jahrhunderts die Grundlage unseres modernen Weltbildes gelegt hat,98 so beruft man sich oft auf die Tatsache, dass das uns heute vertraute Weltbild ohne die Ergebnisse der damals eingeführten exakten Kartographierung99 nicht hätte entstehen können. Obwohl über die bahnbrechende Erkenntnisoffensive des 18. Jahrhunderts allgemeiner Konsens besteht, wird in neueren Studien aus dem Umfeld des Postkolonialismus vor einem apodiktischen Umgang mit historischen Zäsuren gewarnt. Diese Warnung erweist sich gerade im Hinblick auf die Beurteilung der Forschungsreisen der Spätaufklärung umso fundierter, als über ihre weitreichenden Implikationen nur allzu unzureichend nachgedacht wird. Dies wird umso deutlicher, wenn beispielsweise Michael Neumann den Reisebericht Georg Forsters, auf eine »zweckfreie Neugierde aufs Unbekannte«100 reduziert. Durch eine solche Lektüre, die sich einseitig und unkritisch am exponierten wissenschaftlichen Anspruch der Forschungsreisen der damaligen Zeit orientiert, tritt eine Blickverengung ein, die zur Folge hat, dass man von den Entdeckungsfahrten in der Tat ein schiefes Bild erhält. Eine genauere und differenziertere Lektüre von Forsters Reise um die Welt ist erforderlich, denn sie öffnet den Blick nicht nur für die zum Teil sublime »Verknüpfung von Neuentdeckung und Inbesitznahme«101, sondern auch für die ebenfalls konstituierende Tatsache, dass der wissenschaftliche Fortschritt, d. h. die zunehmende Erweiterung des Wissenshorizonts seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein neues Kapitel in der Geschichte des eurozentrischen Universalismus eröffnet hat. Die Frage nach den Beziehungen zwischen Entdeckung, Aufklärung und Eroberung, zwischen Wissenschaft und Kolonisation ist für die Analyse von der Dialektik der Kulturbegegnungen in den Entdeckungsreisen der damaligen Zeit unverzichtbar. Die Tatsache, dass dieser Sachverhalt übersehen oder gar weginterpretiert wird, hängt zum Teil mit

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Philip Edwards (Hg.), The Journals of Capitain Cook, hg.v. J.C. Beaglehole. London 1999, S. 9. Vgl. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 178f. Folgt man Karl Schlögel, so spielt die Kartographie seit dem 18. Jahrhundert ein entscheidende Rolle in der Eroberung überseeischer Territorien. Sie entwickelt sich nämlich von einer Organisationsform wissenschaftlicher Kenntnisse hin zu einem politischen und schließlich militärischen Instrument. Vgl. Karl Schlögel, Im Raume Lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003, S. 19. Michael Neumann, Philosophische Nachrichten aus der Südsee. Georg Forsters Reise um die Welt, in: Hans Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 517- 544, hier S. 517. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 199.

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einem Kunstgriff zusammen, dessen sich Forster bedient, um »die Distanz zum Zeitalter der Eroberungen überscharf zum Ausdruck102« zu bringen. Schon die Vorrede zur Reise um die Welt bietet dazu ein anschauliches Beispiel, an dem Forster nicht ohne Emphase erläutert, die zweite Weltreise Cooks sei »aus der edlen Absicht«103 entstanden, »Entdeckungen zu machen«, die »zur Erweiterung menschlicher Kenntnisse« beitragen, so dass er selbst damit rechne, »die Wissenschaft als Siegerinn zu sehn!«104 Nun greift eine unreflektierte Bezugnahme auf den von Forster prognostizierten Sieg der Wissenschaft insbesondere dann zu kurz, wenn man den bei den Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung angestrebten Erkenntniszuwachs selbst nicht als ein ambivalentes Moment in einer komplexen historischen Situation beleuchtet. Mit Recht weist Heinritz darauf hin, dass die Begegnung mit außereuropäischen Kulturen im 18. Jahrhundert nicht nur »eine Bestärkung des europäischen Überlegenheitsgefühls«, sondern auch »eine Legitimation von Herrschaftsansprüchen«105 mit sich gebracht habe. In der Tat dokumentiert Forsters Bericht von der Reise mit Kapitän Cook jene Schnittstelle zwischen wissenschaftlichen und politischen Motivationen, die sich mit einem Ausdruck Heinritz‹ als das »doppelte Interesse der Aufklärung«106 an den Südseeinseln treffend beschreiben lässt. Dabei erscheint es bemerkenswert, dass gerade Bougainville, dessen Weltreise in die Forschung als Auftakt zur wissenschaftlich motivierten Forschungsexpeditionen eingegangen ist, sich gegenüber seinem Reisebegleiter Prinz von Nassau im August 1766, also kurz vor Antritt seiner Weltreise, äußert: Alle Reichtümer der Erde gehören Europa, das die Wissenschaften zum Souverän der anderen Weltteile gemacht haben; gehen wir daran, diese Ernte einzubringen. Das Südmeer wird ein unerschöpfliche Quelle für den Export französischer Produkte sein zum Nutzen der zahllosen Völker, die dort wohnen und die, in der Unwissenheit, in der sie leben, unbegrenzt aufnehmen werden, was unser Wissen für uns so selbstverständlich und so spottbillig gemacht hat. Von dort werden wir beziehen, was wir für unseren Luxus und zur Befriedigung unserer Bedürfnisse so teuer im Ausland kaufen müssen.107

Die Auffassung, Europa habe »die Wissenschaften zum Souverän der anderen Weltteile gemacht«, ist kennzeichnend für eine Einstellung, in der die Verschränkung von Politik, Ökonomie und Wissenschaft in den Entdeckungsfahrten wirksam zu werden beginnt. Im Kontext der Spätaufklärung zeigt sich dies vor allem in den geheimen Instruktionen, die handfeste geopolitische und wirtschaftliche Absichten der Entdeckungsreisen dokumentieren. Es versteht sich von selbst, dass diese Absichten geheim gehalten werden mussten, weil sie nicht nur einer wissenschaftlichen Annäherung an die Einheimischen im Wege stehen, sondern auch wissenschaftlichen Zielsetzungen notfalls eine untergeordnete Bedeutung zuweisen.

102 103 104 105 106 107

Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹ , S. 84. AA II, S. 7. Ebd. Reinhard Heinritz, ›Andre fremde Welten‹, S. 16. Ebd. Louis-Antoine de Bougainville, Reise um die Welt, hg. v. Klaus-Georg Popp. Berlin ³1980, S. 417.

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Da es unwahrscheinlich ist, dass Georg Forster in die inhaltlichen Details der Geheiminstruktionen eingewiesen wurde, muss die politische Komplizenschaft der Wissenschaft in den nachfolgend zu analysierenden Positionen Forsters vor dem Hintergrund eines weltpolitischen Kontextes gesehen werden, der zu dem Wettlauf bei der Entdeckung der Südsee geführt hat. Bedenkt man die Tatsache, dass die See- und Kolonialmächte Frankreich und England zum Zeitpunkt der Weltreisen James Cooks ihre jeweiligen aufständischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent108 gerade verloren hatten, wird nachvollziehbar, dass die Entdeckung neuer Territorien dem nationalen Prestige dienen sollten, verspricht man sich doch von der Erschließung der Südsee die Kompensation für den erlittenen territorialen Verlust: »Die Geographie des 18. Jahrhunderts«, notiert daher Bitterli, »war nicht unpolitisch, obwohl sie sich nicht selten darin gefiel, unpolitisch zu scheinen. Sie empfing wesentliche Impulse aus der historischen Situation der beiden hauptsächlich beteiligten Nationen England und Frankreich.«109 Damit liefert Bitterli wichtige Hintergründe für die Implementierung der Kolonisation in den Weltreisen des 18. Jahrhunderts. Harriet Guest bestätigt diese Ansicht, wenn sie auf folgenden Sachverhalt aufmerksam macht: »Cook’s three voyages of 1769–80 span […] a period of major reassessment and reconfiguration of British national and imperial identity.«110 Tatsächlich finden sich in Forsters Reisebericht hinreichende Indizien dafür, dass die Ausrüstung von Entdeckungsfahrten der Bildung einer »national and imperial identity« dient und dass Forster dies durchaus bewusst ist. Von aufschlussreicher Bedeutung ist der in der Einleitung zur Reise um die Welt platzierte Hinweis, dass Cooks zweite Entdeckungsfahrt »auf Kosten der Nation«111 unternommen werde. Diese Formulierung verrät bereits einen Umstand, der eine politische Deutung zulässt. Denn mit der großzügigen Finanzhilfe, welche die »Nation« zur Ausstattung der Forschungsreise aufbringt112, verbindet sich weniger eine uneigennützige Erweiterung wissenschaftlicher Erkenntnisse als vielmehr ein handfestes politisches Kalkül, das von James E. McClellan III unterstrichen wird: Special grants from the crown allowed the Royal Society to undertake several major expeditions and projects that had an immediate bearing on the government’s interests in navigation, trade, and colonial expansion.113

In diese Richtung gehend stellt Helmut Peitsch fest, »dass die unterstellte Harmonie zwischen Auftrag und Ergebnis problematisch ist.«114 Tatsächlich beklagt Forster schon während der zweiten Weltreise:

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Für Frankreich handelt es sich um Kanada und Louisiana, während für England die nordamerikanischen Besitzungen mit den Beginn der Unabhängigkeitskriege verlustig gingen. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 185. Harriet Guest, Empire, Barbarism, and Civilsation, S. 6. AA II, S. 7. Im Übrigen handelt es sich bei allen Forschungsreisen, die am Ende des 18. Jahrhunderts insbesondere der Suche nach dem Südkontinent gelten, um Regierungsaufträge. James E. McClellan III, Science Reorganized, S. 30. Helmut Peitsch, Zum Verhältnis von Text und Instruktionen, S. 79f.

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Allein, das Studium der Natur ward auf dieser Reise immer nur als eine Nebensache betrachtet; nicht anders, als ob der Zweck der ganzen Unternehmung blos darauf hinausliefe, in der südlichen Halbkugel »nach einer neuen Curslinie« umherzusegeln! Ein Glück war’s, daß, wenigstens dann und wann, die Bedürfnisse der Mannschaft mit dem Vortheil der Wissenschaften einerley Gegenstand hatten; sonst würden die letztern vielleicht ganz leer ausgegangen seyn.115

Auch im Zusammenhang mit Cooks dritter Weltreise, an der auf die Teilnahme von Wissenschaftlern verzichtet wurde, notiert Forster über den zuständigen Minister: »[D] ie Wissenschaft war nie des Ministers Object gewesen. Sie war ihm nach wie vor verächtlich, und folglich ward auf der neuen Reise kein Gelehrter geduldet.«116 Nun lässt es sich relativ leicht vorstellen, dass der Minister zwar unter dem Deckmantel der Wissenschaft Expeditionen in die Südsee schickt, doch andere Ziele als rein wissenschaftliche verfolgt. Dies muss einleuchten, wenn Forster den Sachverhalt anspricht, dass die neu entdeckten Inseln fortlaufend mit englischen Namen belegt werden.117 Obwohl er die Umbenennung der Südseeinseln nicht weiter kommentiert, möglicherweise weil dieser Sachverhalt nicht in dem Zuständigkeitsbereich seines Vaters liegt, so impliziert der Vorgang an sich jedoch schon im semantischen wie im symbolischen Sinn einen Besitzanspruch. Diese Praxis scheint bei allen Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts mehr oder weniger Usus zu sein. Bereits Bougainville bezeichnet die Umbenennung der Südseeinseln als »acte de prise de possession« und »méthode pour toutes les terres découvertes.«118 Es handelt sich um eine elegante Art, auf neue Länder Besitzanspruch zu erheben, ohne dass die Bewohner es merkten. Obwohl man hier noch nicht von einer effektiven territorialen Besitznahme wie im 19. Jahrhundert sprechen kann, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Entdecker des 18. Jahrhunderts mit den Inseln der Südsee so umgehen, als gäbe es keine bestehenden Besitzrechte. In gewisser Hinsicht stellt dieser Umgang einen Paradigmenwechsel dar, den Takashi Mori mit folgenden Worten auf den Punkt bringt: »Nunmehr nahmen nicht länger Seeräuber oder Kaufleute, sondern Forscher und Professoren die Erdkugel in Besitz.« 119 Diese Feststellung trifft auf Cooks Weltreisen zu. Der Umgang des Kapitäns mit den von ihm entdeckten Inseln der Südsee scheint jedenfalls den Verdacht einer unterschiedlichen Gewichtung der Weltreiseziele zu erhärten. Rolf Siemon stellt einen engen Zusammen-

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AA III, S. 288. AA II, S. 28. »Er bestand aus zehen großen und einer Menge kleinerer Eylande, die, von allen im Süd-Meer bekannten, am weitesten gegen Westen liegen, bisher aber, ihrem eigentlichen Umfange und Zusammenhange nach, noch von keinem Seefahrer untersucht worden waren, auch noch keinen allgemeinen Namen führten. Diesen ertheilte ihnen Capitain Cook; Er nannte sie nemlich, in Beziehung auf die an der westlichen Küste von Schottland befindlichen Hebridischen Inseln, die Neuen Hebriden.« AA III, S. 289f. Uhlig weist darauf hin, dass diese Umbenennung zum Teil mit punktuellen Erlebnissen im Zusammenhang steht. Vgl. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 57. Louis Antoine de Bougainville, Voyage autour du Monde, S. 134. Takashi Mori, Kabine auf der Weltumsegelung und Kabinett auf der unbewohnten Insel. Forsters Einfluss auf die Robinsonade, in: Georg-Forster-Studien XV (2010), S. 21–41, hier S. 27.

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hang zwischen »Erforschung und Inbesitznahme«120 seit Cook’s erster Weltreise fest. Das lässt sich an verschiedenen, teilweise metaphorischen Handlungen beobachten. Forster erwähnt z.B., dass Cook dem König Orih beim Abschied eine Platte schenkt, »auf welcher die Anzeige von der ersten Entdeckung dieser Insel eingegraben war; ferner stellten sie ihm noch eine kleine kupferne Platte zu, mit der Inschrift: »His Britannick Majesty’s ships Resolution and Adventure« Darüber hinaus schenken sie ihm »eine Anzahl Medaillen, mit dem Bedeuten, daß er alles dieses den Fremden vorzeigen möge, die etwa nach uns hierher kommen dürften.«121 Die in dieser Platte eingravierten Informationen bilden das, was hier als koloniale Metaphorik verstanden wird. Diese korrespondiert mit den geheimen Instruktionen, die an der kolonialen Intention der Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung kaum Zweifel lassen: You are with the consent of the Natives to take possession of convenient Situations in the Country in the Name of the King of Great Britain, and to distribute among the Inhabitants some of the Medals with which you have been furnished to remain as Traces of your having been there. But if you find the Country inhabited you are to take possession of it for His Majesty by setting up proper marks & Inscriptions as first Discoverers & Possessors.122

Die Formulierung »with the consent of the Natives« ist bei genauerer Analyse des Ablaufs der Kulturbegegnungen während Cooks Reisen irreführend. Angesichts der Eroberungspraxis, die zum Teil in der oben erläuterten Gewaltanwendung zum Ausdruck kommt, bleibt diese Aussage eine bloße rhetorische Wendung. Nirgendwo dokumentiert Forster in seinem Reisebericht eine ernsthafte Verhandlung zwischen Entdeckern und Einheimischen über die Inbesitznahme ihrer Inseln.123 Nirgendwo ist von in beiderseitigem Einvernehmen geschlossenen Verträgen die Rede. Die Praxis der territorialen Inbesitznahme ist das Bedürfnis der Entdecker bzw. ihrer Auftraggeber und nicht der Wunsch der Insulaner, wie vielfach suggeriert oder gar unterstellt wurde. Nicht einmal bei der Landung der Entdeckungsschiffe auf ihren Inseln wird nach ihrer Zustimmung gefragt.124 In seiner Studie mit dem programmatischen Titel »Colonial Encounters« unterstreicht Peter Hume deshalb »the question that asks by what right land is taken away from those living on it.«125 Charakteristisch im Kontext dieser Frage ist die von Forster dokumentierte Reaktion der Europäer auf die Weigerung der Insulaner, ihnen Schweine zu verkaufen:

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Rolf Siemon, James Cook, der Entdecker der Weltmeere, in: Damals 12 (2006), S.14–22, hier S. 17. AA II., S. 314. H. i. O. The Jounals of Captain James Cook, on His Voyages of Discovery,. (1955–1974, II: The Voyage of the Resolution and Adventure, 1772–1775), hg.v. John C. Beaglehole. Cambridge 1961, S. clxviii. Vgl. Heintze, Dieter, Terra Nullius. Von einer langlebigen Fiktion, in: Georg-Forster-Studien X (2005), S. 222ff. Die Landungen werden, wie wir oben gesehen haben, notfalls mit Waffengewalt durchgesetzt – ein Vorgehen, dem Forster angesichts des hohen menschlichen Tributs seitens der Einheimischen skeptisch bis kritisch gegenübersteht, seine Notwendigkeit jedoch nicht in Frage stellt. Peter Hume, Colonial Encounters, S. 222.

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Anstatt mit dieser Antwort zufrieden zu seyn und dem guten Willen der Leute Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, die uns, wenn gleich nicht mit Schweinen, doch mit anderen Lebensmitteln versorgten, denen unsre Kranken ihre Wiederherstellung, und wir alle unsere Erquickung zu verdanken hatten, ward den Capitains von einigen Leuten an Bord der Vorschlag gemacht, mit Gewalt eine hinlängliche Anzahl Schweine zu unserem Gebrauche wegzunehmen, und hernachmals den Einwohnern so viel an europäischen Waaren zu geben, als das geraubte Vieh, dem Gutdünken nach, werth seyn mögte.126

Dieses Beispiel steht symptomatisch für koloniale Verhaltensmuster, die umso drastischer erscheinen, als Forster betont, die Einheimischen hätten die Entdecker »freygebig an den Naturgütern der Insel Theil nehmen [...] lassen.«127 Folgt man Forsters Bericht, so gehen die Entdecker – nicht nur die des 18. Jahrhunderts – grundsätzlich davon aus, »daß alles Eigenthum der Wilden, von Gott und rechtswegen, ihnen [den Europäern, Y.M.] zukomme«128, so dass sie etwa auf Neuseeland keine Bedenken tragen, »einen armen Wilden in seiner Hütte zu berauben.«129 An die Stelle des Einverständnisses der Einheimischen tritt »die selbstherrliche Willkür des Militärs«130, unter dessen Schutz sich die wissenschaftliche Expedition vollzieht. Vielleicht ohne es zu intendieren, bietet Forster mit seiner Reise um die Welt dem Leser die beste Möglichkeit, genauer nachzulesen, wie die politische Dimension der Reise fast inkognito Wirklichkeit wird und wie die kolonialen Eroberungen des 19. Jahrhunderts bereits durch die Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts wissenschaftlich vorbereitet werden.131 Bemerkenswert erscheint Forsters Bericht, wonach Cook und sein Vater an einen Ort geführt werden, wo eben ein Krieges-Canot gebauet ward, welches der König O-Tahiti nennen wollte. Capitain Cook aber, der dem Fahrzeuge lieber den Namen Brittania beyzulegen wünschte, schenkte dem Könige in dieser Absicht eine kleine englische Flagge, einen kleinen Anker und das dazu gehörende Tau. Da nun Se. Majestät zu der Veränderung des Namens sogleich ihre Einwilligung gaben; so ward die Flagge aufgesetzt und das Volk bezeugte nach Art unsrer Matrosen, durch ein dreymaliges Freudengeschrey, sein Wohlfallen darüber.132

Diese Szene erscheint, wie viele ähnliche in Forsters Reisebericht, unspektakulär und auf den ersten Blick harmlos. Doch wenn man sie genauer liest, wird eine bestimmte Handhabung erkennbar, in der die verdeckte koloniale Intention der Entdecker und die Naivität der Insulaner kontrastiert werden. Insbesondere parallelisiert diese Szene mit Forsters Schilderung der Ankunft des Tahitiers O-Mais nach seinem London-Aufenthalt in seiner Heimat:

126 127 128 129 130 131 132

AA II, S. 239. Ebd. S. 268. AA III, S. 358. H.i.O. Ebd., S. 357. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, S. 70. Vgl. Jörg Esleben, Enlightenment Canvas. Cultures of Travel, Ethnographic Aestetics, and Imperialist Discourse in Georg Forster’s Writing. New York. Phil. Diss 1999. AA III, S. 71.

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Cook hatte ihm [O-Mai, Y.M.] eine kleine Englische Flagge geschenkt; diese lies er an seinem Mastbaum wehen, und als er Huaheine erblickte, machte er damit das Signal von »Land«, und schoß eine Flinte in die Luft.133

Auf diese subtile Weise gelingt es Cook, die Fahne der Vereinnahmung zu hissen, ohne dass dies dem Einheimischen O-Mai bewusst wäre. Dieses Procedere lässt sich mit Greenblatts Terminologie als »a scene of legitimate appropriation«134 beschreiben. Gemeint ist an appropriation enabled, through a mechanism at once institutional and psychic, by the giving of gifts and the display of what must have been to the natives utterly incomprehensible representations: the portrait of the king stamped on a gold coin, the royal banners, the cross.135

Solche Gesten, die Forster dem Leser überraschenderweise kritik- und kommentarlos präsentiert, zeigen bei genauerem Hinsehen, dass die kolonialistische Eroberung in mannigfacher Form vorangetrieben wird. Forsters eigene Haltung dazu kann als ambivalent charakterisiert werden. Auch wenn er die Kolonisation in den als notwendig empfundenen Prozess der Aufklärung einordnet, so versucht er doch neue Akzente zu setzen, die teils dem Geist des kritischen Selbstverständnisses der Aufklärungszeit, teils seinen persönlichen Überzeugungen entsprechen. Dies wird sichtbar, wenn er im August 1772 die von Portugal kolonisierte Insel Madeira besucht und von der Ausbeutung der Einheimischen erschüttert wird: Die Leute auf dem Lande sind ausnehmend mäßig, und leben schlecht. [...] Der Wein selbst, der diese Insel so berühmt gemacht hat, und der ihrer Hände Arbeit ist, kommt selten vor ihren Mund. Ihre Hauptbeschäftigung ist Weinbau; da solcher aber den größten Teil des Jahrs keiner Wartung bedarf, so können sie sich um so mehr ihrer Neigung zum Müßiggang überlassen [...] Die portugiesische Regierung scheint bis jetzo noch nicht die besten Mittel [...] ergriffen zu haben, [...] den Landmann fürs erste unter die Arme zu greifen, oder Belohnungen zu versprechen, die ihn geneigt zu Neuerungen und willig zur Arbeit machen könnten.136

Doch nicht nur über die Ausbeutung, sondern auch über die Brutalität der portugiesischen Kolonisatoren gegenüber den Insulanern zeigt sich Forster so empört, dass er sogar in seiner 1790 erschienenen Rezension zu Voyage de Monsieur le Vaillant dans l’intérieur de l’Afrique, par le Cap de Bonne Espérance, dans les année 1780–85 (1790) seine Kritik wiederholt: Noch gehässiger, und wir fürchten nur, zu sehr gegründet, sind die Beschuldigungen von fühlloser Grausamkeit und Ungerechtigkeit, welche diese bösartigen Menschen gegen die unabhängigen Stämme der Kaffern ausüben, die, nach unsers Verfassers Erfahrung, wie die Hottentotten, zu den harmlosesten Hirtenvölkern des Erdenrunds gehören.137

Mit dieser Kritik knüpft Forster an die oben erwähnte Haltung des spanischen Geistlichen Las Casas, aber auch an die des französischen Aufklärungsphilosophen Voltaire

133 134 135 136 137

AA V, S. 78. Stephen Greenblatt, Marvelous Possession, S. 13. Ebd. AA II, S. 48. AA XI, S. 227.

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an. In ihren jeweiligen Abhandlungen bringen sie eine deutliche Kritik an den »Untaten europäischer Kolonialmächte« zum Ausdruck, »die ihren Aufenthalt in Übersee lediglich zu Ausbeutung und Versklavung missbraucht hätten.«138 Schlimmer noch prognostiziert Forster für die von Portugal kolonisierten Bewohner von Madeira lediglich »Trübe Aussichten, die nicht einmal Hofnung zum Glück zeigen«139, zumal die Kolonisierten wissen, »daß Elend und Sclaverey das Loos ihrer unglücklichen Kinder seyn werde.«140 Aus dieser Perspektive wird die Aufklärung nicht als Prozess der universalen Befreiung des Menschen aus der Unmündigkeit, sondern als Synonym für die Aufrechterhaltung des außereuropäischen Menschen in der Unmündigkeit fassbar gemacht. Schließt man nun aus diesen kritischen Aussagen, dass Forster von der Gründung von Kolonien in der Südsee generell abrät, dann wird man schnell eines Anderen belehrt. Ribeiro Sanches hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Forsters kolonialkritische Äußerungen »die systematisch-dialektische Beschreibung eines kolonialgeschichtlichen Prozesses«141 ermöglichen, bei dem nicht nur jene Auswüchse angeprangert werden, in denen Forster die Glaubwürdigkeit der zivilisatorischen Legitimation in Gefahr sieht, sondern bei dem zugleich die Notwendigkeit dieses Prozesses selbst betont wird. Daher erschöpft sich Forsters Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kolonisation nicht darin, die Missstände in den portugiesischen Kolonien zu kritisieren. Vielmehr besteht seine Intention darin, die portugiesische Kolonisation mit der englischen zu vergleichen, wobei er darauf abzielt, die Überlegenheit Englands zu beweisen, ganz wie sein Vater, der England als »superior to those of every Nation under Heaven«142 lobt. Diese anglophile Haltung lässt sich genau beobachten, wenn Forster behauptet, dass die unter der Kolonisation anderer europäischer Länder stehenden Inseln »wichtig und einträglich gemacht werden könnten«, wenn sie nur die Aufsicht »einer so wohltätigen und freyen Regierung genössen als die englische ist. Als dann würde statt des jetzigen kümmerlichen Unterhalts von Wurzelwerk, ihr Tisch mit Überfluss besetzt und ihre elenden Hütten in bequeme Häuser umgeschaffen werden.«143 Es geht hier offenkundig um eine Parteinahme mit dem Ziel, England im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialmächten in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Forster stellt also nicht das Phänomen der Kolonisation, das Unterdrückung, Ausbeutung und Unrecht impliziert, in Frage, sondern er äußert lediglich den Wunsch: Vielleicht werden die Europäer, wenn sie dereinst ihre americanischen Colonien verloren haben, auf neue Niederlassungen in entferntern Ländern bedacht seyn; mögte nur alsdenn der Geist der ehemaligen Entdecker nicht auf ihnen ruhen! mögten sie die einheimischen Bewohner der Südsee als ihre Brüder ansehen, und ihren Zeitgenossen zeigen, daß man Colonien anlegen könne, ohne sie mit dem Blut unschuldiger Nationen beflecken zu dürfen!144

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Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 198. AA II, S. 60. Ebd. Manuela Ribeiro Sanches, Von der Südsee nach Ozeanien oder Forster am Anfang des 21. Jahrhunderts lesen, in: Georg-Forster-Studien Band X (2005), S. 157–185, hier S. 179. The Resolution Journal III, S. 80. AA II, S. 61. Ebd., S. 411.

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An anderer Stelle heißt es: Wir wünschten nur unter den Colonisten aller Nationen ein mitleidiges Gefühl gegen diese Unglücklichen rege zu machen; und sie, die das unschätzbare Glück der Freyheit selbst genießen oder wenigstens danach streben, – zu erinnern, daß sie menschlich und gütig gegen Elende seyn sollen, denen sie den Seegen der Freiheit, vielleicht ohne alles Mitleid vorenthalten.145

Dieser humanistisch geprägte, wenn auch naive Wunsch erklärt Forsters Kritik an der spanischen Kolonisation: Die Spanier [...] sahen in den Wilden heidnische Geschöpfe, die der Christengott zum Zeitvertreibe seiner Anhänger geschaffen hätte, die auf nichts Anspruch machen dürften, und die man wie das Wild in den Wäldern niederschießen müsste, sobald sie es wagten Menschen seyn und Menschenrechte fordern zu wollen. Schauderhafte Beispiele von der fühllosen Grausamkeit dieser Spanier findet man in den Tagebüchern, die wir hier mittheilen, aufgezeichnet; einer Grausamkeit, die man nicht sowohl der menschlichen Natur, als der Ruchlosigkeit gewisser Lehrer der Menschen geben muß.146

An dieser Kritik wird das humanistische Ethos der Aufklärungszeit ablesbar, das kein Geringerer als Johann Gottfried Herder mit einer scharfen Kritik am Kolonialismus verbinden sollte: Die ganze Erde leuchtet beinahe schon von Voltaires Klarheit! Und wie scheint dies immer fortzugehen! Wo kommen nicht europäische Kolonien hin, und werden hinkommen! Überall werden die Wilden, je mehr sie unsern Branntwein und Üppigkeit lieb gewinnen, auch unsrer Bekehrung reif! Nähern sich, zumal durch Branntwein und Üppigkeit, überall unserer Kultur – werden bald, hilf Gott! Alle Menschen wie wir sein! Gute starke, glückliche Menschen!147

Obgleich Herder die Kolonisation kritischer sieht als Forster, geht es auch ihm nicht um eine prinzipielle Ablehnung des Exports europäischer Aufklärung via Kolonisation, sondern lediglich um eine Schadensbegrenzung. Diese ambivalente Haltung, an der die Dialektik der Aufklärungsbewegung im interkulturellen Kontext manifest wird, zeigt sich auch bei James Douglas, dem damaligen Präsidenten der »Royal Society«, der gegenüber englischen Südseereisenden lediglich die Ermahnung ausspricht: To have still in view that sheding the blood of those people is a crime of the highest nature: They are human creatures, the work of the same omnipotent Author, equally unter his care with the most polished European; perhaps being less offensive, more entitled to his favor. They are the natural, and in the strictest sens of the word, the legal possessors of several Regions they habit. Nor European has a right to occupy any part of their country, or settle among them without voluntary consent. Conquest over such people can give no just title; because they could never be Agressors.148

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Ebd., S. 77. AA V, S. 381–614, hier S. 449. Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Frankfurt/M. 1967, S. 88. The Journals of Captain Cook, S. 514ff.

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Freilich erscheinen solche Überlegungen sowohl aus Humanitäts- als auch aus völkerrechtlichen Gründen einleuchtend, denn sie beinhalten den Versuch, die Kolonisatoren in die Pflicht zu nehmen, sie halten jedoch am kolonialen Projekt fest und überblenden zudem die Realität der Entdeckungsreisen. Lässt sich Forsters Sympathie für die Eroberung der Südsee in der Reise um die Welt mit dem überdeutlich formulierten humanistischen Impetus erklären, so werden in seiner 1786 erschienenen Abhandlung Neuholland und die brittische Colonie in Botany–Bay149 weitere Argumente erkennbar, die eine monokausale Erklärung für seinen Einsatz für die britische Kolonisation als unzureichend erscheinen lassen. Diese Abhandlung macht vor allem deutlich, dass sich die Inbesitznahme des Südpazifiks, wie sie sich Forster vorstellt, weder durch einen rein humanitären noch durch einen rein altruistischen Gestus zu erklären ist. Forster nimmt mit seiner Abhandlung zur geplanten Ansiedlung Australiens mit englischen Schwerverbrechern, welche »die Straßen der großen Hauptstadt schänden«150, Stellung. Diese Schrift, die Forster die Gelegenheit geboten hätte, das Vorhaben Englands gesellschaftsmoralisch zu hinterfragen, liest sich teilweise eher wie ein Gutachten, in dem er seine Empfehlung für die Durchführung des Siedlungsprojekts in Australien abgibt. Cooks Reisen hätten, so Forster, »das Feld geographischer Kenntnisse von Pol zu Pol erweitert [...] und schon macht Grosbritannien Anstalt, einen großen neuen Weltteil durch Colonien anzubauen.«151 Entsprechend der in der vorliegenden Untersuchung vertretenen Hypothese, dass die Wissenschaft im Vollzug der Entdeckungsfahrten nicht nur der Wissensvermehrung diene, sondern auch in beträchtlichem Maße für koloniale Zwecke vereinnahmt werde152, widmet Forster den ersten Teil seines Aufsatzes der Beschreibung Australiens in geographischer und ethnographischer Hinsicht. Dabei weist er darauf hin, daß eine Handvoll Einwohner, auf einem Lande von so großem Umfange zerstreut, bey der Anlegung eines europäischen Pflanzorts in keine Betrachtung kommen, und der Colonie so wenig gefährlich sind, als diese vorerst sie selbst beeinträchtigen kann. Wie leicht finden vierzig oder funzig Menschen, die in der Gegend, wo die Niederlassung geschehen soll, herumirren, einen andern, zu ihrer Absicht eben so bequemen Aufenthalt!153

Forster tritt also hier – und das zeigt das Doppelgesicht dieses Vertreters der europäischen Aufklärung – mehr oder weniger direkt für die Zwangsumsiedlung der Einheimischen ein, die, weil sie bloß »herumirren«, auch »einen andern«, ihnen angemessenen Aufenthaltsort finden könnten. Er begründet die hier deutlich werdende Enteignung der

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153

AA V, S. 161–180. AA V, S. 179. Ebd., S. 162f. Vgl. Ingmar Probst, Wissen, Nicht- Wissen oder Herrschaftswissen? – Die Bedeutung kaufmännischen Nachrichtenwesens für den Transfer von Wissen über den kanadischen Westen in Großbritannien zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006, S. 249–270, hier insb. S. 261f. AA V., S. 178.

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australischen Urbewohner mit dem Hinweis auf ihren Lebensstil, der ihm zufolge der europäischen Vorstellung von Eigentum nicht entspricht: Diese Menschen ohne bleibende Stätte, ohne Eigenthum, ohne Hausrath, die nichts zu verlieren und nichts zu vertheidigen haben, die ohne Sorge für den morgenden Tag, sich einzig und allein vom Bedürfnisse des gegenwärtigen Augenblicks regieren und bestimmen lassen, diese so einzeln zerstreute Wilden, fühlen gleichwohl eher, daß sie einander im Wege stehen.154

Hier scheint Forster offenbar seinen Appell an die Wahrung der kulturellen und anthropologischen Mannigfaltigkeit zu verlassen, bei dem zumindest theoretisch die Anerkennung einer gewissen Eigenständigkeit außereuropäischer Kulturen angenommen werden kann; er bewegt sich vielmehr auf den Bahnen jenes noch im 18. Jahrhundert herrschenden Völkerrechtsdenkens, in dem die neu entdeckten Territorien in Übersee als Terra Nullius deklariert werden.155 Doch Australien empfiehlt sich nach Forsters Einschätzung nicht nur in ethnographischer Hinsicht, sondern auch wegen seiner hervorragenden geographischen Lage sowie seines mäßigen Klimas für die Errichtung einer europäischen Kolonie englischer Prägung: Der Ort, den man zur ersten englischen Niederlassung daselbst gewählt hat, die von Cook, wegen ihres Pflanzenreichtums so benannte Botanny-Bay, hat vor allen bisher an jener Küste bekannt gewordenen Häven die vortheilhafteste Lage, das angenehmste Klima und das ergiebigste Erdreich. Sie liegt in der südlichen Breite von 34 Graden, und in 151 Graden 23 Minuten östlicher Länge von Greenwich; ist geräumig, sicher und bequem, hat ein Bach mit frischem Wasser an der nördlichen Seite, wo ein Schiff völlig vom Lande gedeckt vor Anker liegen und seinen Holz- und Wasservorrath ganz bequem einnehmen kann156

Solche Informationen beweisen, dass Forster bereits in der Reise um die Welt mit der sorgfältigen Kartographierung und einem differenzierten Bericht über das Verhalten der Menschen auch die Voraussetzung für ein verstärktes Interesse Englands an den bereisten Inseln schafft: »Man denke sich in Neuseeland einen Staat mit Englands glücklicher Verfassung, und das wird die Königinn der südlichen Welt.«157 Mit solchen Aussagen kommen Forsters kolonialen Phantasien, die bereits im Zivilisierungsanspruch seiner Zeit inhärent sind, deutlich zum Durchbruch. Angesichts dieses westlichen Eroberungspathos liegt die Annahme nahe, dass die wissenschaftlichen Entdeckungsfahrten Cooks – anders als der offizielle Teil der Instruktionen suggeriert – nicht nur auf das »improvement of geography and navigation«158 ausgerichtet und ausgerüstet sind. Vielmehr zeigt sich, dass im Kontext der Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung

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AA V, S. 175. Dazu vgl. Alan Frost, »New South Wales as Terra Nullius: The Britisch Denial of Aboriginal Land Rights«, in: Historical Studies. Australia and New Zealand 19 (1981), S. 513–523, insb. S. 522. Ebenfalls: Merete Borch, »Rethinking the Origins of Terra Nullius«, in: Australian Historical Studies, 32,117 (2001), S. 222–239, insb. S. 225f. AA V, S. 178f. Ebd., S. 214. The Journals of Captain James Cook II, S. 726.

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Geographie, Nautik und Anthropologie als Beispiele »erobernder Wissenschaften«159 einen entscheidenden Beitrag zur Eröffnung von Kolonialisierungs- und Handelsmöglichkeiten in der Südsee leisten: »Wissenschaftliche und kommerzielle Motive waren eng verflochten«160, so die aufschlussreiche Feststellung von Urs Bitterli über die Entdeckungsfahrten seit der frühen Neuzeit. Der überschwängliche Ton, der in den zitierten Passagen unüberhörbar zum Ausdruck kommt, markiert jene Grenze, die Forsters Kolonialismuskritik nicht überschreitet. Sie scheint dort ganz zu verstummen, wo es insbesondere um »einen ökonomischen Nutzen«161 geht. Obwohl Forster es selbst ablehnt »zwischen Vortheil und Nachteil der Entdeckung die kaufmännische Bilanz [zu] ziehen«162, ist seine Haltung von einer wirtschaftlichen Ausbeutung der Kolonie nicht freizusprechen. Zwar unterstellt Forster vom Standpunkt einer aufgeklärten Philanthropie aus, dass die Besiedlung von Neuholland mit Häftlingen aus England »einen glücklichen Einfluß [...] auf diese ungebildeten [...] barbarischen Eingebohrnen«163 haben werde, er betont aber im gleichen Atemzug die wirtschaftlichen Vorteile, die sich das Mutterland von diesem Projekt zu versprechen habe: [...] die daselbst so häufig wachsende vortrefliche Flachspflanze [...] das dortige unvergleichliche Schiffsbauholz; die Perlenausterbank weiter hinabwärts an der Küste von Neuholland, und [...] die Ausfuhr einiger noch zu entdeckender Landesprodukte, oder des Ertrags der anzulegenden Pflanzungen nach Indien und selbst nach Europa, sind gleichsam die ersten Aussichten, welche diese merkwürdige Anstalt für die Zukunft darbietet.164

In auffälliger Weise parallelisiert diese Passage mit jener Stelle in der Reise um die Welt, wo Forster im Mai 1773 auf dem Weg von Dusky-Bay nach Charlotten-Sund von einer kleinen Insel behauptet, »daß die inneren Gegenden unendliche Schätze der Natur enthalten, die dem ersten zivilisierten Volk zu Theil und nützlich werden müssen, welches sich die Mühe geben wird, sie aufzusuchen.«165 Wenn Forster das bloße Aufsuchen einer Südseeinsel durch die Europäer automatisch ihre Inbesitznahme rechtfertigt, dann erweist sich eine utilitaristisch-imperialistische Deutung der Aufklärung als sinnvoll. Dabei tritt vor allem der übliche humanistische Impetus in den Hintergrund und lässt auch bei Forster das Plädoyer für die Kolonisierung der Übersee in Augenschein nehmen. Forsters Werk untermauert zumindest stellenweise die Hypothese, dass die europäische Entdeckungsgeschichte immer als Teil einer »europäischen Expansion« zu verstehen ist, die »nicht nur wissenschaftlichen Zwecken galt«166,

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Rudolf Borchard, Gesammelte Werke in Einzelbänden, 14 Bde, Prosa III, hg.v. Marie Luise Borchard. Stuttgart 1960, S. 27. Urs Bitterli, Alte Welt – neue Welt, S. 57. AA II, S. 11. AA V, S. 198. Ebd., S. 178. Ebd., S. 179f. AA II, S. 177. Eberhard Schmitt, Die großen Entdeckungen. München 1984, S. 583.

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denn Handel und Wissenschaft bilden dabei eine untrennbare Einheit als Motive der Entdeckungsfahrten. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Georg Forster wie die meisten seiner Zeitgenossen die Südsee nicht nur mit wissenschaftlichen oder philosophischen Augen, sondern auch mit »Imperial Eyes«167 sieht. Auch er fasst die Angaben über die neu entdeckten Inseln dahin zusammen, dass, wenn seine Wahlheimat England dort eine Kolonie gründen wollte, es sie wenig Mühe kosten würde. Somit steht seine Reisebeschreibung im Dienst einer Epoche, in der Berichte über ferne Kulturen eine doppelte Funktion erfüllen, nämlich die wissenschaftlichen und die ökonomischen Prämissen für die Koloniengründung zu untersuchen. Auch wenn Forster die kolonialen Absichten Englands zum Teil mittelbar unterstützt, so machen seine entsprechenden Äußerungen klar, dass die wichtigsten Vertreter der europäischen Präsenz in der Südsee nicht mehr nur als wissenschaftliche Pioniere, sondern auch als Prospektoren zu betrachten sind. Sie werden aufgrund ihrer Zuarbeit gegenüber ihren Regierungen den Ruf als Vorboten der Kolonisation nicht los. Im Übrigen ist interessant zu sehen, dass diese Wahrnehmung der Europäer eine unterschiedliche Auffassung der Geschichte besonders in Australien bis heute begründet hat. Kontrovers wird gerade mit der Persönlichkeit James Cook umgegangen: »In der Geschichte der Siedler ist er [Cook, Y.M.] der Urahn der britischen Landnahme, in der Geschichte der Ureinwohner beginnt mit Cook die Enteignung des eigenen Landes.«168 Dies lässt sich an der Version der Cook-Rezeption gut illustrieren, die Hobbles Danaiyairi, ein Insulaner aus einer nordaustralischen Gegend, der Ethnologin Deborah Rose 1982 diktiert hat: Captain Cook had been shooting there for, I think, nearly three weeks’time. Shooting all, all the people. Women got shot, kids been get knocked out. That means Captain Cook getting ready for the country, going to try to take it away.169

Zwar wird Kapitän Cook hier allein als »Symbolfigur für vorsätzlichen gewaltsamen Landraub«170 stilisiert, aber andere Mitglieder der Forschungsexpedition, etwa die beiden Forsters, können aufgrund ihrer theoretischen Abhandlungen nicht ohne weiteres von dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnenden kolonialen Projekt freigesprochen werden.171 Richtig ist, dass die Art und Weise, wie Forster sich die Inbesitznahme der Südsee durch Europa am Ende des 18. Jahrhunderts vorstellt, keinen prinzipiellen, sondern lediglich einen graduellen Unterschied zu früheren Entdeckungsreisen aufweist. Den irrwitzig-optimistischen Erwartungen Forsters, die einer Fehlprognose über den Verlauf der Kolonisation gleichkommt, muss daher die Äußerung des Einheimischen

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Mary Louise Pratt, Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation. London/New York 1992. Maria Nugent, Jenny Newell, James Cook, der Entdecker? Die australische Perspektive, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hg.), James Cooks und die Entdeckung der Südsee. München 2009, S. 29–31, hier S. 31. Deborah Bird Rose, »The Saga of Captain Cook: morality in Aboriginal and European Law«, in: Autralian Aboriginal Studies (1984), S. 25–39, hier S. 32. Dieter Heintze, Terra Nullius. Von einer langlebigen Fiktion, S. 222. Vgl. Joseph Gomsu, »Die schöne Erscheinung des Mannigfaltigen«, S. 63f.

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Bungaree, eines Aborigines im Dienste der Kolonialverwaltung, gegenübergestellt werden, der vierzig Jahre nach der von Forster so begrüßten Errichtung der Strafkolonie in Botany Bay meint: I wish I had never been taken away out of the bush, and educated as I have been, for I cannot be a white man, they will never look on me as one of themselves; an I cannot be a blackfellow, I am disgusted with their way of living.172

Nirgendwo besser als in diesen Worten wird das formuliert, was Henry Reynolds als »Aboriginal resistance to the European invasion of Australia«173 analysiert. Die Äußerungen Bungarees korrespondieren mit jener von Herder groß angelegten Kritik an der europäischen Expansion und der mit ihr einhergehenden Zerstörung der einheimischen Kulturen: Von den spanischen Grausamkeiten, vom Geiz der Engländer, von der kalten Frechheit der Holländer, von denen man im Taumel des Eroberungswahnes Heldengedichte schrieb, sind in unsrer Zeit Bücher geschrieben, die ihnen so wenig Ehre bringen, daß vielmehr, wenn ein europäischer Gesamtgeist anderswo als in Büchern lebte, wir uns des Verbrechens beleidigter Menschheit fast vor allen Völkern der Erde schämen müßten. Nenne man das Land, wohin Europäer kamen und sich nicht durch Beeinträchtigungen, durch ungerechte Kriege, Geiz, Betrug, Unterdrückung, durch Krankheiten und schädliche Gaben an der unbewerten, zutrauenden Menschheit, vielleicht auf alle Äonen hinab, versündigt haben!174

Ingesamt ist die nicht aufhebbare Paradoxie der Eroberung außereuropäischer Kulturen, die Herder hier allgemein anspricht, die Grundlage jener Kolonialismuskritik, die Denis Diderot in folgenden Sätzen auf den Punkt bringt: Ce pays est à nous. Ce pays est à toi! et pourquoi? parce que tu y as mis le pied? Si un Tahitien débarquait un jour sur vos côtes, et qu’il gravât sur une de vos pierres our sur l’écorce de vos arbres: Ce pays est aux habitants de Tahiti, qu’en penserais-tu? 175

Es handelt sich hier um rhetorische Fragen, die sich paradoxerweise auch im Werk Forsters wiederfinden und die Ambivalenz des Gelehrten veranschaulichen. Denn, wenn Forster die Kolonisation außereuropäischer Kulturen auch grundsätzlich favorisiert, so entgehen ihm jene Fragen nicht, die eine wie auch immer begründete Inbesitznahme anderer Kulturen aufwirft: Können auch, darf ich fragen, gesittete Europäer den Begriff des Eigenthumsrechtes weiter ausdehnen? Und ist er nicht jederzeit wechselseitig? ist das Recht des Seefahrers auf sein Eigenthum nicht so gültig, als das, womit der Wilde das seinige besitzt?176

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Zit. n. Henry Reynolds, The other Side of the Frontier. Aboriginal resistence to the European invasion of Australia, Ringwood 1982, S. 150. Reynolds bezieht sich auf George Grey, The Journals of two Expeditions of Discovery. London 1841, II, S. 370–371 als Originalquelle. Henry Reynolds, The other Side of the Frontier. Aboriginal resistence to the European invasion of Australia. Ringwood 1982. Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/M. 1991.S. 234f. Denis Diderot, Supplément, S. 329. AA V, S. 263. H. i. O.

270

Hält man Forster zu Recht vor, dass er gegenüber der europäischen Expansion in der Südsee immer wieder Skepsis äußert, ohne das koloniale Unternehmen an sich in Frage zu stellen, so geht es hier um treffende und zugleich ergreifende Gedanken, die auch in unserer Zeit Gültigkeit beanspruchen.

4.

Die entdeckte Südsee: Porträt einer zerstörten Idylle

Bei der Beurteilung der Entdeckungsfahrten überwiegt in der Regel die Euphorie über den erzielten Erkenntnisfortschritt. Kaum Beachtung findet dabei die Frage, in welchem Zustand die Europäer jene Südseeinseln hinterlassen haben, die von ihnen aufgesucht wurden. Doch die Erfahrungen, die Forster in seinem Reisebericht überliefert, machen deutlich, dass Cooks Landung auf den Inseln der Südsee den Beginn einer unumkehrbaren, vielfach negativen Veränderung der einheimischen Kulturen darstellte. Bei der Lektüre von Forsters Reise um die Welt stellt man fest, dass der Autor zu schwanken scheint zwischen der Begeisterung über die wissenschaftlichen Erfolge der Entdeckungsreise und der bedrückenden Erkenntnis, dass diese mit einem dramatischen Umsturz der einheimischen Kulturen einhergehen. Die Formel »Fatal Impact«, die Alan Moorhead177 in seinem gleichnamigen Werk in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt hat, kann deshalb für die Analyse des von Forster beobachteten ambivalenten Prozesses herangezogen werden. Anknüpfend an Forsters kritische Reflexionen über die konfliktreiche Begegnung zwischen Europäern und Insulanern hat Marita Metz-Becker dem Weltreisenden ein hohes Bewusstsein von der Dialektik der Aufklärung und der Kulturbegegnung mit der Begründung bescheinigt, dass dessen Bericht von der Weltumsegelung »zu einer differenzierten Wahrnehmung interkultureller Begegnungssituationen geführt [habe], als es bei seinen Zeitgenossen bis dahin der Fall war.«178 Dem muss man zustimmen, wenngleich darauf hinzuweisen ist, dass man sich dabei nicht auf die erkenntnistheoretischen Aspekte beschränken darf, denn Forsters Bilanzierung der Südsee-Entdeckung haften in ebensolchem Maße eklatante Widersprüche an, wie sie durch keinen anderen Reisenden vor ihm reflektiert worden waren. Als exemplarischer Ausgangspunkt für eine entsprechende Reflexion kann Cooks mehrwöchiger Aufenthalt auf Dusky-Bay (Neuseeland) Ende April 1773 herangezogen werden: Kurz vor der Weiterreise nach Charlotte’s Sound, wirft Forster einen letzten Blick auf jenen Ort zurück, an dem er zu Beginn des Aufenthaltes die Vorteile der europäischen Zivilisation gegenüber dem aus seiner Sicht rückständigen Naturzustand der Insulaner in höchsten Tönen gepriesen hat179:

177 178 179

Alan Moorhead, The Fatal Impact. An Account of the Invasion of the South Pacific 1767–1840. New York 1966. Marita Metz-Becker, Kulturvermittlung als Fortschrittsprogramm, S. 180. Vgl. AA II, S. 161.

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Dies schöne Bild der erhörten Schönheit Menschheit und Natur war indeß von keiner Dauer. Gleich einem Meteor verschwand es fast so geschwind als es entstanden war. Wir brachten unsre Instrumente und Werkzeuge wieder zu Schiffe, und ließen kein Merkmahl unsers Hierseyns, als ein Stück Land, das von Holz entblößt war.180

Schon mit dieser überraschenden Erkenntnis ruft Forster ein weiteres Paradoxon der Entdeckungsfahren ins Bewusstsein: Die Entdeckungsreisen lassen zwar »Augenblicke [...] der Cultur« in der Südsee entstehen, zugleich aber werfen sie den Schatten einer »vernichtenden Zukunft«181 voraus. Durch diese in der Metapher eines vom Holz entblößten Landes vermittelte Perspektive nimmt das Porträt der Südsee als einer zerstörten Idylle seinen Ausgang. Wenn Walter Veit schreibt, dass »Georg Forster und viele seiner Zeitgenossen [...] den fremden Pazifik als das bessere antipodische Andere dem schlechteren europäischen Eigenen gegenüberstellen«182, dann handelt es sich um eine Verallgemeinerung, die in dieser Form wohl auf Forster nicht zutrifft und deshalb einer Differenzierung bedarf. Dies zeigt sich an mehreren Beispielen, wobei die Begegnung mit einem Insulaner auf der Insel Tanna besonders aufschlussreich erscheint. Hier beobachtet Forster, wie ein Einheimischer mühsam versucht, einen Baum zu fällen, was ihm jedoch nicht gelingt, denn »[s]eine Axt war ein sehr elendes Werkzeug [...] die Klinge [bestand] blos aus einer Muschelschaale. Auch ging seine Arbeit deshalb so langsam von statten.«183 Dies sollte sich jedoch mit dem Erscheinen der Europäer schnell ändern, weil sie ihm aus Mitleid, mit einem unsrer englischen Beile zu Hilfe kamen, da denn in Zeit von wenig Minuten mehr Stangen abgehauen waren, als er, den ganzen Vormittag über, hatte fertig schaffen können. Die Einwohner, die bey jetziger Mittagszeit auf ihrem Heimweg, vom Strande aus, hierüber vorbei kamen, blieben alle stehen, um die große Nutzbarkeit unsers Beils zu bewundern184

Der herablassend-wohlwollende Ton, der in dieser Beschreibung deutlich wahrzunehmen ist, entspricht der hegemonialen Haltung der Entdecker in der Begegnung mit den Einheimischen. Die Zielrichtung, die der Gegenüberstellung von der rudimentären tahitischen Axt und dem englischen Beil zugrunde liegt, ist nicht schwer auszumachen. Forster will durch diesen Vergleich nicht nur den Vorsprung der europäischen Technik veranschaulichen, sondern er entwickelt damit auch die früheste Form der Entwicklungshilfeideologie, die Kerry R. Howe rückblickend so reflektiert: It is assumed that they [die Insulaner, Y.M.] were basically a helpless, persecuted lot, a poor unsophisticated, stone-age people obviously unable to take any initiatives of their own in face of the white man’s all-powerful civilisation.185

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AA II, S. 163. Ebd. Walter F. Veit, Der beobachtete Beobachter, S. 69f. AA III, S. 260. Ebd., S. 260f. Kerry R. Howe, »The Fate of the ›Savage‹ in Pacific Historiography«, in: The New Zealand Journal of History XI, 2 (1977), 137–154, hier S. 147.

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Der Gedankenkontext, den Howe hier beschreibt, stellt den Hintergrund dar, vor dem Forster die Verteilung von Eisengeräten unter die Bewohner des Südpazifiks zunächst interpretiert. Er hofft, dass diese Geräte tatsächlich den Fortschritt für die technisch quasi noch in der Steinzeit lebenden Menschen auf den Südsee-Inseln voranbringen würden: »Den Werth, der bereits vorher zurückgelaßnen Geschenke zu erhöhen«, notiert er im Zusammenhang mit einer Schenkungszeremonie auf Dusky-Bay, »fügten wir jetzt noch ein Beil hinzu, und um ihnen den Gebrauch desselben begreiflich zu machen, haueten wir einige Spähne von einem Baum ab, und ließen es alsdenn in dem Stamm stecken.«186 In dieser Aussage verbirgt sich genau das, was Harpprecht als »Triumph der europäischen [...] Ideologien in der Dritten Welt«187 charakterisiert. Allerdings – und darauf kommt es in Forsters Bericht an – geht die mit dieser Geste verbundene Hoffnung, die Einführung der europäischen Geräte würde einen allgemeinen positiven Wandel der Südseekulturen auslösen, kaum in Erfüllung. Je länger Forster sich im Südpazifik aufhält und je intensiver er die Auswirkungen des Eisens in den Südseegesellschaften beobachtet, desto klarer tritt ihm das vor Augen, was er in der Reise um die Welt folgerichtig mit »Trümmern einer zerstörten Welt«188 vergleicht. Als Katalysator dieses negativen Prozesses, an dessen Ende die Südsee nach einer Formulierung Harpprechts als das »beschädigte Paradies«189 steht, ist genau jener lebhafte Tauschhandel190 zwischen Insulanern und Europäern, den Forster einer kritischen bzw. differenzierten Analyse unterzieht: »Die Menge von Canots«, schreibt er beispielsweise nach der Ankunft auf Tahiti, »welche zwischen uns und der Küste ab- und zu giengen, stellte ein schönes Schauspiel, gewissermaßen eine neue Art von Messe auf dem Wasser dar.«191 Der Ausdruck »schönes Schauspiel«, mit dem Forster den Ablauf des Handels atmosphärisch schildert, täuscht über die enormen Probleme hinweg, welche diese »neue Art von Messe auf dem Wasser« kurz- und langfristig mit sich bringt. Denn abgesehen davon, dass der Verlauf des Tauschhandels von den Europäern entsprechend ihren Vorstellungen und aktuellen Bedürfnissen asymmetrisch geprägt ist,192 zeigt sich Forster über die zunehmende Stehlsucht der Insulaner irritiert: »Nach ein Paar Stunden an Bord« notiert er auf Neuseeland, »fiengen sie an zu stehlen und alles auf die Seite zu bringen was ihnen in die Hände fiel. Man ertappte einige die eben eine vierstündige Sand-Uhr, eine Lampe, etliche Schnupftücher und Messer fortschleppen wollten.«193

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AA II, S. 129. Klaus Harpprecht, Georg Forster oder Die Liebe zur Welt, S. 120. AA II, S. 421. Klaus Harpprecht, Georg Forster oder Die Liebe zur Welt, S. 125. Dieser Handel beruht darauf, dass die Insulaner den Europäern Nahrungsmittel (insbesondere Früchte und Scheine) und Kunstobjekte (etwa Waffen und Kleidungen) verkaufen, wofür sie europäische Eisengeräte, vor allem Nägel und Beile erhalten. AA II, S. 219. Ob der Handel mit Einheimischen eingestellt oder fortgesetzt wurde, hing letztendlich davon ab, was und wie viel die Europäer von ihnen kaufen oder an sie verkaufen wollten. AA II, S. 189.

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Diese Erfahrung wiederholt sich nahezu überall, wo die Europäer ankern und mit den Einheimischen in Kontakt kommen: »Die Verkäufer«, stellt Forster auf Tahiti fest, »kamen zum Theil auf Verdeck und nahmen der Gelegenheit wahr, allerhand Kleinigkeit wegzustehlen; einige machten es gar so arg, daß sie unsre erhandelten Coco-Nüsse wieder über Bord und ihren Cameraden zu practicirten, und diese verkauften sie unsern Leuten alsdenn zum zweytenmal.«194 Die Ansicht, dass die Einheimischen »zu kleinen Diebereyen sehr aufgelegt und geschickt sind«195, scheint die in den damaligen Reiseberichten weitverbreitete negative Meinung über die Insulaner zu bestätigen. Forsters Reise um die Welt hebt sich allerdings davon ab, weil der Autor darin nach einer Erklärung für das Verhalten der Insulaner sucht. Dabei formuliert er Argumente, die den Topos, wonach Insulaner von Natur aus chronische Diebe wären, als unhaltbar erscheinen lassen. Doch zunächst rechtfertigt Forster ganz im Sinne des erzieherisch-zivilisatorischen Programms der Aufklärung die Bestrafung der diebischen Insulaner: Nichts gleicht dem Übermuth des Räubers, dem sein erster Versuch gelingt; mit stolzer Verachtung sieht er auf seinen Gegner als seine Beute herab, und indem der Besitz des geraubten Gutes seine Habsucht schärfer reizt, kann ihn nichts mehr abhalten, einen neuen Anschlag auf des Fremden Eigenthum und Leben zu wagen.196

Diese Begründung wird jedoch von Forster selbst problematisiert, denn zum einen argumentiert er, dass Straftaten mitnichten die Eigenheit einer bestimmten Kultur sind. Er betrachtet sie vielmehr als ubiquitäre Phänomene, was ihn zu einem polemischen Vergleich zwischen Europa und der Südsee veranlasst: »Lasterhafte Gemütsarten giebts unter allen Völkern; aber einem Bösewichte in diesen Inseln könnten wir in England oder anderen civilisirten Ländern funfzig entgegen stellen.«197 Zum anderen stellt Forster im Gegensatz zu früheren Reiseschilderungen einen engen Zusammenhang zwischen der Einführung europäischer Waren und der von den Entdeckern als Fehlverhalten betrachteten Neigung der Einheimischen zum Diebstahl fest: »Ihre offenen Häuser, ohne Thür

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Ebd., S. 225. Ebd., S. 374. AA V, S. 261f. AA II, S. 313. Darauf weist auch Georg Christoph Lichtenberg in seinem Brief vom 10. Januar 1775 an Ernst Gottfried Baldinger hin »Stellen Sie sich eine Straße vor [...]. Auf beiden Seiten hohe Häuser mit Fenstern mit Spiegelglas. Die untern Etagen bestehen aus Boutiquen und scheinen ganz von Glas zu sein; viele Tausende von Lichtern erleuchten da Silberläden, Kupferstichläden, Bücherläden [...] Kaffeezimmer und Lottery Offices ohne Ende [...] Dem ungewohnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nötig, alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen Sie still, Bums! Läuft ein Gepäckträger wider Sie an und ruft by your leave wenn Sie schon auf der Erde liegen. [...] Auf einmal ruft einer, dem man sein Schnupftuch genommen: Stopp thief, und alles rennt und drückt und drängt sich, viele, nicht um den Dieb zu haschen, sondern selbst vielleicht eine Uhr oder einen Geldbeutel zu erwischen.«, in: Wolfgang Promies (Hg.), Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe (Bd. IV). München 1967, Nr. 102, S. 210–212.

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und Riegel, beweisen auch zur Genüge, daß in dieser Absicht keiner von dem andern etwas zu besorgen hat.«198 Hieraus folgert Forster: Wir sind also an dieser Untugend in so fern selbst schuld, weil wir die erste Veranlassung dazu gegeben, und sie mit Dingen bekannt gemacht haben, deren verführerischen Reiz, sie nicht widerstehen können. Überdies halten sie selbst, dem Anschein nach, ihre Diebereyen eben für so strafbar nicht, weil sie vermuthlich glauben, daß uns dadurch doch kein sonderlicher Schaden zugefügt werde.199

Diese Feststellung ist zum einen deshalb bemerkenswert, weil sie ein differenziertes Licht in einen Sachverhalt wirft, der einseitig zu ungunsten der Einheimischen ausgelegt wurde, sie ist zum anderen wichtig, weil sie einer selbstreflexiven Kritik entspringt, die Forster auch in seinem späteren Aufsatz O-Taheiti pointiert formuliert: Wenn man von den Diebereyen der Taheitier spricht, so sollte man billig allemal bedenken, daß der Anblick europäischer Waaren sie den unwiderstehlichen Versuchungen aussetzte. Erwähnt man ihres Müßiggangs, so wisse man zugleich, daß ihre wenigen Bedürfnisse leicht befriedigt werden, und daß der Fleiß nur ein Kind des Mangels ist. Nennt man sie gierig und gefräßig, so rufe man sich die Beschreibung von ihrem großen Wuchs, ihrer auszeichnenden Stärke [...] im Ringen und ihrer Corpulenz zurück.200

Mit dieser kritischen Diagnose problematisiert Forster nicht zuletzt die weltweite Implementierung des europäischen Rechtsverständnisses, wie es bei der von Cook praktizierten Bestrafung der Insulaner Anwendung findet. Die Tatsache, dass sich Europäer »das Recht nehmen«, die Insulaner »zu züchtigen oder loßzulassen«201, verstößt nach Forsters Meinung gegen das Völkerrecht, da von den Insulanern kein exogenes Rechtsverständnis erwartet werden könne. Entsprechend kritisiert er die Bestrafung der Insulaner nach den Normen der europäischen Moral. Damit formuliert Forster, ohne den Diebstahl verharmlosen, entschuldigen oder gar rechtfertigen zu wollen, eine deutliche Warnung vor einer apodiktischen Projektion eigener Wertmaßstäbe auf fremde Kulturen. Allerdings scheint Forster selbst diesen Anforderungen nicht zu genügen, wie ihm Christoph Martin Wieland vor dem Hintergrund seiner abfälligen Äußerung über ein beim Diebstahl erwischtes tahitisches Kind zu Recht vorhält: ›O des herrlichen Europäischen Natur und Völkerrechts!‹ Ey, ey, lieber Herr Forster, – wo war in diesem Augenblick Ihre Filosofie? – Wie können Sie von dem jungen Menschen [dem Tahitianer, Y.M.] verlangen, daß es Ihren Puffendorf und Barbeyrac gelesen haben soll? Wie können Sie sich einbilden, daß er das Messer und den zinnernen Löffel aus einer andern Ursache, als aus kindischem Instinkt oder höchstens aus unbesonnenem, arglosem Mutwillen genommen hat?202

Die Verwunderung Wielands ist insofern nachvollziehbar, als Forster – entgegen seinem Anspruch auf Objektivität und Vorurteilslosigkeit – nicht umhin kann, die Moral der Insulaner mit europäischen Maßstäben zu beurteilen. Diese Haltung spiegelt die Selbst-

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AA II, S. 283. Ebd., S. 283f. AA V, S. 64f. AA V, S. 64. Christoph Martin Wieland, Wielands Werke, S. 47.

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gerechtigkeit der Entdecker, aber auch ihre Verwurzelung in einer als »Leitkultur« verstandenen Aufklärung wider. Dennoch kann Forsters Bemühung um ein gerechtes Urteil besonders dann nicht übersehen werden, wenn er klagt, »daß Europäer sich so oft ein Strafrecht über Leute anmaßen, die mit ihren Gesetzen so ganz unbekannt sind.«203 In einer solchen Kritik zeigt er, welche erheblichen Probleme im unreflektierten Umgang mit Kulturen auftreten können, die auf anderen Grundwerten basieren. Deshalb stellt er in dem erwähnten Aufsatz klar, dass Tugend und Laster [...] relative Begriffe [sind], welche im Nationalcharakter nur verhältnismäßweise mit anderen Völkern gebraucht werden dürfen; und auch alsdenn muß man keinem Volk, ohne Zuziehung der Sittenlehre welche ihm zur Richtschnur dient, das Urtheil sprechen. Auf diese Art vermeiden wir den Vorwurf, daß wir fremden Völkern unsere Gedanken leihen [...].204

Eine einfache Übertragung westlicher Selbstverständlichkeiten auf außereuropäische Kulturen lehnt Forster mit Blick auf die natürliche Eigenständigkeit der Kulturen ab, auch wenn diese im Vollzug der Kolonisation, die er ja bekanntlich befürwortet, eher einen hypothetischen Charakter hat. Hierin schließt sich Forster Diderot argumentativ an, der in seinem Supplément konstatiert: »A peine t’es-tu montré parmi eux, qu’ils sont devenus voleurs«205 Deshalb fordert er: »Mais tu n’accuseras pas les mœurs d’Europe par celles de Tahiti, ni par conséquent les mœurs de Tahiti par celles de ton pays.«206 Wenn auch Forster die Radikalität Diderots nicht übernimmt, so exemplifiziert er doch am Offizier, den eine junge Tahitierin um seine Bettwäsche bittet, eine charakteristische Verhaltensweise der Entdecker, die den moralischen Zerfallsprozess der einheimischen Kulturen, wenn nicht begründet, so doch in eklatanter Weise beschleunigt hat: Er war zwar nicht abgeneigt, ihr solche zu überlassen, verlangte aber eine besondre Gunstbezeugung dafür, zu welcher sich Maroraï anfänglich nicht verstehen wollte. Als sie indessen sahe, daß kein anders Mittel sey zu ihrem Zweck zu gelangen, so ergab sie sich endlich nach einigem Widerstreben.207

Der ironisch als »Triumph«208 bezeichnete Akt des Soldaten ist ein Widerruf des Postulats, wonach der Kontakt mit zivilisierten Europäern automatisch zu einer »Verfeinerung der Sitten«209 in der Südsee führe. »Möchte das Bewustseyn des großen Vorzugs, den uns der Himmel so vor manchen unserer Mitmenschen verliehen, nur immer zu Verbesserung der Sitten, und zur strengern Ausübung unsrer moralischen Pflichten angewandt werden!«210 Um Forsters Porträt der Südsee als einer im Folge der Entdeckung zerstörten Idylle umfassend zu verstehen, muss man den Topos des sexuellen Paradieses heranziehen,

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AA II, S. 457. AA V, S .64 Denis Diderot, Supplément, S. 331. Ebd., S. 353. AA II, S. 223. Ebd. AA III, S. 279. Ebd., S. 384.

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denn dieser hat, wie bereits gesehen, die Wahrnehmung der Südsee seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblich geprägt. Obwohl Forster »Beweise« gefunden zu haben meint, »daß Schaam und Keuschheit, im Stande der Natur, ganz unbekannte Tugenden sind«211, stellt er jedoch fest, dass in fast allen Inseln, in denen die Entdecker durch den Tauschhandel mit den Einheimischen in Kontakt treten, sexuelle Ausschweifungen dramatisch zunehmen. Konfrontiert wird Forster mit dem Ausmaß dieser Entwicklung bereits in Charlotten-Sund, wo die Resolution im Mai 1773 vor Anker geht: Unsere Matrosen hatten seit der Abreise vom Cap mit keinen Frauenspersonen Umgang gehabt; sie waren also sehr eifrig hinter diesen her, und aus der Art wie ihre Anträge aufgenommen wurden, sahe man wohl, daß es hier zu Lande mit der Keuschheit so genau nicht genommen würde, und daß die Eroberungen eben nicht schwer seyn müssten.212

Bemerkenswert ist, dass Forster auch hier nicht in der Beobachtung stehen bleibt, dass die Matrosen fast nach Belieben Insulanerinnen erobern können, so dass eine Verkürzung seines Berichts auf die Kritik an der Promiskuität der Insulanerinnen das eigentliche Problem nicht erfasst, wofür er den Leser sensibilisieren will. Auffällig ist, dass er im Zusammenhang mit den sexuellen Ausschweifungen während der Entdeckungsfahrten einerseits die Relativität des Tugendbegriffs vor Augen führt, da auch die Matrosen als Mitglieder der europäischen Kultur sich als anfällig für die »wilde« Erotik erweisen. Andererseits macht Forster darauf aufmerksam, welche verheerenden Auswirkungen der Aufenthalt der Europäer in der sozialen Organisation der Inselkulturen hervorgerufen hat: Doch hiengen die Gunstbezeigungen dieser Schönen nicht blos von ihrer Neigung ab, sondern die Männer mußten, als unumschränkte Herren, zuerst darum befragt werden. War deren Einwilligung durch einen großen Nagel, ein Hemd oder etwas dergleichen erkauft; so hatten die Freuenspersonen Freiheit mit ihren Liebhabern vorzunehmen was sie wollten, und konnten alsdenn zusehen noch ein Geschenk für sich selbst zu erbitten.213

Der Skandal, den Forster dem aufgeklärten Leser vor Augen führen möchte, liegt auf verschiedenen Ebenen. Zum einen macht er die Instrumentalisierung und vor allem die allgemeine Degradierung des weiblichen Geschlechts zum Sexobjekt sichtbar. Zum anderen macht er darauf aufmerksam, dass einige der Insulanerinnen, »die dieses Gewerbe trieben [...] kaum neun oder zehen Jahr alt seyn [mochten] und [...] noch nicht das geringste Zeichen der Mannbarkeit an sich [hatten].«214 Mit anderen Worten: Forster beobachtet einen durch Mitglieder der aufgeklärten Kultur sanktionierten sexuellen Missbrauch an Kindern. Nirgendwo besser als in diesem Problemkomplex macht Forster die Dialektik der Aufklärung und der Kulturbegegnung im Kontext der Forschungsexpeditionen des späten 18. Jahrhunderts so greifbar. Dass Insulaner ihre Töchter oder sogar Frauen »mit der größten Zudringlichkeit [...] anboten«215, lässt sich nach Forsters Beobachtung nur mit

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Ebd., S. 181. AA II, S. 186. AA II, S. 186. Ebd., S. 226. AA III, S. 351.

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der Einführung des Luxus, vornehmlich der Nägel und anderer Gegenstände geringeren Wertes durch Europäer erklären. Der zunehmende Sittenverfall, den Forster mit dem Aufenthalt der Europäer in der Südsee in Verbindung bringt, erreicht einen weiteren Höhepunkt in der Beobachtung, daß einige derselben [Frauen Y.M.) sich nicht anders als mit dem äußersten Wiederwillen zu einem so schändlichen Gewerbe gebrauchen ließen, und die Männer mußten ihre ganze Autorität je sogar Drohungen anwenden, ehe sie zu bewegen waren, sich den Begierden von Kerlen preis zu geben, die ohne Empfindung ihre Thränen sehen und ihr Wehklagen hören konnten.216

Es ist bemerkenswert, dass Forster hier nicht nur das Verhalten der Tahitier, sondern auch das der Matrosen anprangert, die, wie der letzte Satz dieser Passage deutlich macht, ein Negativbeispiel der europäischen Zivilisation abgeben: »Ohnerachtet sie [die Matrosen, Y.M.] Mitglieder gesitteter Nationen sind«, stellt Forster nüchtern fest, »so machen sie doch gleichsam eine besondere Classe von Menschen aus, die ohne Gefühl, voll Leidenschaft [und] rachsüchtig [...] sind.«217 Nach Thomas Strack stellen Matrosen in Forsters Augen den »sozialen Bodensatz der Europäer«218 dar. Sie stehen, so Strack weiter, »für die von den aufgeklärten Bürgern überwundenen menschlichen Schwächen, von denen sich der reisende Bürger abzugrenzen hatte.«219 Die Kritik an den Matrosen zeigt, dass Forster nicht dem Trugschluss erliegt, dass die bloße Zugehörigkeit zur europäischen Kultur automatisch mit einem zivilisierten Verhalten einhergeht. Führt man diese Kritik gedanklich weiter, dann erkennt man, dass es Forster zwar auch, aber nicht nur um die Diskrepanz zwischen Anspruch auf Zivilisation und dem zum Teil radikal konträren Verhalten einiger Mitglieder der Forschungsexpedition geht, sondern auch um die »traurige Wahrheit«220, dass der Mensch generell nur bedingt zivilisierbar ist. Anders als seine Vorgänger, insbesondere Bougainville und Cook, in deren Berichten über die angeblich freie Sexualität der wilden Frau eher ein allgemeiner, den Erwartungen der Zeit entsprechender Topos festgeschrieben wird, geht aus Forsters entsprechenden Berichten eine kritisch reflexive Betrachtungsweise aus.221 So führt er dem Leser die tahitische Frau auch dann eher als Opfer sowohl von einheimischen als auch von europäischen Männern vor Augen, wenn er ironisch meint, die tahitischen Mädchen hätten »den englischen Seemann [...] ausstudirt«222 und wüssten, »ihm an Corallen, Nägeln, Beilen oder Hemden alles rein abzulocken.«223

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AA II, S. 186. Ebd., S. 420f. Thomas Strack, Exotische Erfahrung und Intersubjektivität, S. 208. Ebd. AA II, S. 254. Forster ist ständig darum bemüht, seine Beobachtungen zu differenzieren, um den pauschalen Bildern seiner Vorgänger entgegenwirken zu können »Wodurch sich aber die hiesigen Frauenzimmer von den Tahitierinnen würklich unterschieden, war, daß sie um Corallen und andre solche Geschenke nicht so sehr bettelten, desgleichen mit ihren Gunstbezeigungen nicht so freygebig waren als jene.« (AA II, S. 309). AA II, S. 278. Ebd.

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Mit seinem Vater, der die Insulanerinnen gegen europäische Pauschalvorurteile in Schutz nimmt, ist Forster einer Meinung. Das zeigt sich wenn Johann Reinhold Forster beispielsweise nach einer Exkursion auf der Insel Eua notiert: »Their women [der Insulaner, Y.M.] are more reserved, though I believe not in the least more modest or chaste, for they seemed to invite some of our people to go aside with them [...] however I saw several that seemed to refuse all immodesty offered to them.«224 Was den jüngeren Forster in diesem Gedankenkontext am meisten bewegt, liegt in folgender fundamentaler Frage begründet: Ob unsre Leute, die zu einem gesitteten Volk gehören wollten und doch so viehisch seyn konnten, oder jene Barbaren, die ihre eignen Weibsleute zu solcher Schande zwungen, den größten Abscheu verdienen? ist eine Frage, die ich nicht beantworten mag.225

Forster überlässt dem Leser die Antwort auf diese Frage. Der mündige Leser macht sich ein eigenes Urteil darüber, ob das Verhalten der Weltreisenden den Ansprüchen der europäischen Aufklärung genügt oder nicht. Dennoch: Der von Forster beschriebene Sachverhalt, den Nicholas Thomas als »joint brutality of mariners and indigenous men«226 charakterisiert, macht den Blick frei für die von ihm selbst formulierte Erkenntnis, dass in vielen Begegnungssituationen »es die gesitteten Europäer selbst nicht besser machten«227, als die Insulaner, die sie für ungesittet hielten. Es liegt also auf der Hand, dass Forster nicht nur die Insulaner, sondern auch die Europäer für den rapiden Sittenverfall auf der Südsee verantwortlich macht. Der Umgang mit Sexualität stellt aus Forsters Perspektive eine »evidence of common ground«228 zwischen Entdeckern und den Insulanern dar. (Positive Ausnahmen lassen sich auf beiden Seiten finden). Die oben angeführten Beispiele legen den für die Dialektik der Kulturbegegnung konstitutiven Befund offen, dass die europäischen Entdecker nicht überall die Segen der Zivilisation, sondern auch das hinterlassen haben, was Gerald Fitzgerald wenig später als »Injured Islanders« bezeichnen sollte229. Die Metapher der verletzten Insulaner hat auch einen realen Bezug, durch den es Forster gelingt, »die eigenen unhinterfragten Wertmaßstäbe zu problematisieren.«230 Dabei kann Forster sich von der Last des westlichen Moralismus befreien und eine differenziertere Ansicht über »den Handel mit Sex«231 auf der Südsee formulieren als dies in früheren Reiseberichten der Fall war. Was Forster allerdings nicht weiß, ist die Tatsache, dass sich die Insulaner in den sexuellen Beziehungen mit den Europäern noch weit mehr versprachen, als materielle Gegenstände.

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The Resolution Journal III, S. 381. AA II, S. 186. Nicholas Thomas, Discoveries, S. xxv. AA II, S. 397. Harriet Guest, Empire, Barbarism, and Civilisation, S. 135. Gerald Fitzgerald, Injured: or, the influence oft art upon the Happiness of Nature (1779). Zit. Nach: Bernard Smith, European Vision and the South Pacific, S. 62. Marita Metz-Becker, Kulturvermittlung als Fortschrittsprogramm, S. 181. Margaret Jolly, Gender und Sexualität auf Cooks Reisen im Pazifik. in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hg.), James Cooks und die Entdeckung der Südsee. München 2009, S. 98–102, hier S. 99.

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Sie bildeten sich ein, dass sexuelle Beziehungen mit den mächtigen Ausländern, eine Chance war, einflussreiche Kinder zu zeugen, welche die Macht innerhalb ihres Stammes sichern sollten. Da Forster diesen verklausulierten Aspekt nicht erkennt, ist sein Erkenntnisgewinn darin zu sehen, dass er das auf den ersten Blick moralisch beklagenswerte Verhalten der Menschen in der Südsee differenzierter und anschaulicher erklärt, als seine Vorgänger, die den Sachverhalt beurteilten, ohne ihn überhaupt analysiert zu haben. Anstatt den Insulanern pauschal und leichtfertig zu diskreditieren, sieht Forster ihre Verfehlungen teilweise als »Folgen einer allmähligen Verderbniß der Sitten«232, die er auf die Einführung der europäischen Waren zurückführt. Nicholas Thomas stellt deshalb fest, »that women are degraded in this way only because civilized Christians have arrived. »233 Freilich ist die Verbindung von Zivilisation und Christentum mit der Sittenzerstörung in außereuropäischen Kulturen im Kontext der hier analysierten Dialektik der Kulturbegegnung letztlich als Warnung vor der Überschätzung eines sittlichen Europas zu verstehen, dessen moralischen Führungsanspruch Forster angesichts der Beobachtungen in der Südsee folgerichtig als labil und widersprüchlich entlarvt. Mehr noch: Forster kommt auf der Basis eigener Erfahrungen über die Ambivalenz der europäischen Zivilisation im Südpazifik zu der Einsicht, dass »unsere civilisirten Nationen […] vielmehr mit Lastern befleckt [sind], deren sich selbst der Elende, der unmittelbar an das unvernünftige Thier gränzt, nicht schuldig macht.« Daher empfindet er es als Schande, »daß der höhere Grad von Kenntnissen und von Beurtheilungskraft, bey uns nicht bessere Folgen hervorgebracht hat!«234 Zweierlei macht sich hier bemerkbar: Zum einen tadelt Forster die Tahitier dahingehend, dass sie ihre Töchter und Frauen zum Vergnügen mit den Europäern drängen und dadurch eine Form der Zwangsprostitution bzw. einen Frauenhandel fördern. Damit nehmen sie den Verfall ihrer Sitten in Kauf. Zum anderen nimmt er auch die Europäer ins Visier, deren Anwesenheit die Erklärung gerade für dieses Verhalten der Insulaner bildet: Allein wir haben alle Ursach zu vermuthen, dass sich die Neu-Seeländer zu einem dergleichen schändlichen Mädchen-Handel nur seitdem erst erniedrigt hatten, seitdem vermittelst des Eisengeräthes neue Bedürfnisse unter ihnen veranlaßt worden. Nun diese einmal statt fanden, nunmehro erst verfielen sie, zu Befriedigung derselben, auf Handlungen an die sie zuvor nie gedacht haben mochten und die nach unsern Begriffen auch nicht einmal mit einem Schatten von Ehre und Empfindsamkeit bestehen können.235

Zunächst muss hier angemerkt werden, dass das Fehlverhalten der Matrosen gegenüber den Bewohnern der Südsee ein ständiges Thema des Reiseberichtes Forsters ist. Forster reflektiert und analysiert das Auftreten der Matrosen aus unterschiedlichen Perspektiven, was ihm ermöglicht, das Verhalten der übrigen Mannschaft, zu der er sich selbst zählt, davon deutlich abzugrenzen.236 Andererseits steht er mit seinen drastischen Betrachtun-

232 233 234 235 236

AA II, S. 267. Nicholas Thomas, Discoveries, S. xxvi. Ebd. AA II, S. 187. Dies macht sich beispielsweise an folgendem Bericht bemerkbar: »Nachmittags gab der Capitain

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gen, in denen die zivilisationskritische Anklage unüberhörbar wird, nicht allein da. Auch Cook zeigt sich darüber empört, welche Veränderungen der Handel mit den Europäern auf den entdeckten Inseln mit sich bringt: such are the consequences of a commerce with Europeans and what is still more our Shame civilized Christians, we debauch their Morals already to prone to vice and we interduce among them wants and perhaps diseases which they never before knew and which serves only to disturb that happy tranquillity they and their fore Fathers had injoy’d. If any one denies the truth of this assertion let him tell me what the Natives of the whole extent of America have gained by the commerce they had with Europeans.237

Die »consequences of a commerce with Europeans« sind also negativ für die Insulaner, da »we debauch their Morals«, so Cook, der damit auch ein dialektisches Moment der von ihm geleiteten Entdeckung der Südsee erfasst. Forster und Cook, vor deren Augen sich gleichsam dieser Vorgang abspielt, stimmen darin überein, dass die Südsee-Idylle durch die Einführung des europäischen Luxus negativ beeinflusst bzw. beschädigt worden ist: »Diese Art von Ausschweifung« ergänzt Forster, ist aber nichts so unerhörtes, sondern vielmehr unter den civilisirten Europäern weit herrschender als hier. Sollte man also, blos daher Anlaß genommen haben, die Errioys zu beschuldigen, daß sie einander ihre Weiber wechselsweise Preiß gäben, so würde das ohngefähr eben so herauskommen, als wenn man, wegen der lüderlichen Lebensart einzelner Europäer, behaupten wollte, daß es in Europa eine Classe von Leuten beyderley Geschlechts gäbe, die ihre Tage in einer steten Befriedigung sinnlicher Lüste zubrächte!238

Ohne in die apodiktische Idealisierung des Lebens in der Südsee zurückzufallen, gerät Forster offenbar mit dem essentialistischen Diskurs der Aufklärung239 in Konflikt. Zugunsten der Insulaner notiert er, »daß statt die Einwohner dieser Inseln ganz in Sinnlichkeit versunken zu finden, wie sie von andren Reisenden irriger Weise dargestellt worden, wir vielmehr die edelsten und schätzbarsten Gesinnungen bey ihnen angetroffen haben, welche der Menschheit Ehre machen.«240

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mehreren Matrosen Erlaubniß ans Land zu gehen, wo selbst von den Wilden allerhand Curiositäten einhandelten, und sich zu gleicher Zeit um die Gunst manches Mädchens bewarben, ohne sich an die ekelhafte Unreinlichkeit derselben im geringsten zu kehren. Hätten sie indessen nicht gleichsam aller Empfindung entsagt gehabt; so würde die widrige Mode dieser Frauenspersonen, sich mit Oker und Öl die Backen zu beschmieren, sich schon allein von dergleichen vertrauten Verbindungen abgehalten haben. Außerdem stanken die Neu-Seeländerinnen auch dermaßen, daß man sie gemeiniglich schon von weitem riechen konnte und saßen überdem so voll Ungeziefer, daß sie es oft von Kleidern absuchten und nach Gelegenheit zwischen den Zähnen knackten. Es ist zum Erstaunen, daß sich Leute fanden, die auf eine viehische Art mit solchen ekelhaften Creaturen sich abzugeben im Stande waren, und daß weder ihr eignes Gefühl noch die Neigung zur Reinlichkeit, die dem Engländer doch von Jugend auf beygebracht wird, ihnen eine Abscheu vor diesen Menschern erregte!« AA II, S. 190. The Journals of Captain Cook II, S. 175. AA III, S. 105. Vgl. Christiane Küchler Williams, Südsee, Sex und Frauen im Diskurs des 18. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006, S. 302–325, hier insb. S. 309f. AA II, S. 313.

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Durch eine solche Distanz gewinnt der aufklärerische Anspruch von Forsters Reisebericht an scharfen Konturen, weil er das unreflektierte Südseebild früherer Reiseberichte ins rechte Licht rückt und es gleichsam korrigiert. Um das Bild, das er sich von den Konsequenzen des Handels zwischen Europäern und Insulanern macht, abzurunden, bringt Forster die grassierenden venerischen Krankheiten auf den Südsee-Inseln in Verbindung mit den Entdeckungsfahrten und ordnet sie ihren negativen Folgen zu. Obwohl er in seinen Spekulationen über die Herkunft dieses Übels auch die Hypothese mit einschließt, dass venerische Krankheiten möglicherweise in der Südsee zu Hause sein können241, sieht er wenigstens in ihrer rasanten Verbreitung eine Schandthat mehr auf Rechnung der gesittetern Europäischen Nationen. Sie haben zwar die Befriedigung ihrer Lüste erkauft und bezahlet, allein das kann um so weniger für eine Entschädigung des Unrechts gelten, weil selbst der Lohn den sie dafür ausgetheilt (das Eisenwerk) neue strafbare Folgen veranlaßt, und die moralischen Grundsätze dieses Volks vernichtet hat [...].242

Kurz vor dem Ende der Weltreise notiert Forster über die Insel Flores: Vor vielen Jahren scheiterte ein großes reichbeladnes Spanisches Kriegsschiff an der Küste von Flores. Doch ward die Mannschaft und die Ladung gerettet. Diese Spanier brachten die venerische Krankheit auf die Insel, woselbst man sie zuvor gar nicht gekannt hatte; und weil das Frauenzimmer ihren reichen Geschenken nicht widerstehen konnte, so waren in kurzer Zeit alle Einwohner ohne Ausnahme angesteckt.243

Gewöhnlich nimmt Forster solche punktuellen Erfahrungen oder Erlebnisse zum Anlass, um tiefgehende Überlegungen über den Nutzen der Entdeckungsfahrten für die entdeckten Inseln anzustellen, wobei Ambivalenzen in seiner eigenen Einschätzung ins Augen springen. Dies wird beispielsweise in der kritischen Ansicht deutlich, daß alle unsre Entdeckungen so viel unschuldigen Menschen haben das Leben kosten müssen. So hart das für die kleinen, ungesitteten Völkerschaften seyn mag, welche von Europäern aufgesucht worden sind, so ists doch warlich nur eine Kleinigkeit in Vergleich mit dem unersetzlichen Schaden, den ihnen diese durch den Umsturz ihrer sittlichen Grundsätze zugefügt haben. Wäre dies Übel gewissermaßen dadurch wieder gut gemacht, daß man sie wahrhaft nützliche Dinge gelehret oder irgend eine unmoralische und verderbliche Gewohnheit unter ihnen ausgerottet hätte; so könnten wir uns wenigstens mit dem Gedanken trösten, daß sie auf einer Seite wieder gewonnen hätten, was sie auf der andern verlohren haben mögten.244

Die Erkenntnis, dass die Aufklärung der Südseeinsulaner den »Umsturz ihrer sittlichen Grundsätze« bedeutet, ist einer der Glanzpunkte von Forsters Kritik der Aufklärung als Fortschrittprogramm. Die Bilanz, die Forster hier für die Begegnung zwischen den Europäern und den Südseekulturen zieht, verträgt sich kaum mit der aufklärerischen Idee der Mission Civilisatrice.245 Diese Erfahrung, die den Insulanern durch den Kontakt mit den Europäern ereilen sollte, bedauert er mit den Worten:

241 242 243 244 245

Dabei bezieht sich Forster vor allem auf den Umstand, »daß keiner von des Capitain Wallis Leuten hier angesteckt worden [sei]« (AA, II, S. 301). AA II, S. 207. AA III, S. 444. AA II, S. 187. Vgl. Jürgen Osterhammel, »The Great Work of Uplifting Mankind«. Zivilisierungsmission und

282

das unglückliche Volk, welches sie [die Europäer, Y.M.] mit diesem Gift angesteckt haben, wird und muß ihr Andenken dafür verfluchen. Der Schaden den sie diesem Theile des menschlichen Geschlechts dadurch zugefügt haben, kann nimmermehr und auf keine Weise, weder entschuldigt noch wieder gut gemacht werden.246

Der von Forster diagnostizierte »Schaden« ist in der Forschung mit erschütternden Zahlen genau dokumentiert worden: »Nicht einmal 100 Jahre nach der Ankunft der Europäer war die Bevölkerung Tahitis infolge eingeschleppter Krankheiten von rund 200000 auf knapp 7200 Menschen dezimiert worden!«247 Dieses Bild der zerstörten Idylle passt trotz der unüberhörbaren Anklage in die im vorangehenden Kapitel analysierte geschichtsphilosophische Perspektive, von der aus Forster die Entdeckungsreisen als Ausdruck des unaufhaltsamen Zivilisationsprozesses legitimiert. Vor diesem Hintergrund macht er deutlich, dass ein Ausgleich der Widersprüche im Prozess der Entdeckung außereuropäischer Kulturen nicht in Sicht ist. Doch handelt es sich um Widersprüche, die den kulturellen Fortgang der entdeckten Völker prägen sollten, wie heute aus postkolonialer Perspektive festgestellt wird.248 Wenn Bernd Thum und Elisabeth Lawn-Thum den Gelehrten Georg Forster als eine »Schlüsselfigur« des 18. Jahrhunderts bezeichnen, so vor allem deshalb, weil er aus ihrer Sicht »die wesentlichen intellektuellen und moralischen Probleme, die sich in der Zukunft für den Umgang mit Fremdkulturen stellen, exemplarisch vorweggenommen« habe.249 Vorweg nimmt Forster dadurch aber nicht nur die postkoloniale Deutung der Entdeckungsgeschichte, sondern gleichermaßen auch die Wahrnehmung der Krise der Aufklärung, wie sie in unserer Zeit durch Jürgen Habermas in seiner Rede »Glauben und Wissen« anschaulich gemacht hat: Was unter glücklicheren Umständen bei uns immerhin als ein Prozeß schöpferischer Zerstörung erfahren werden konnte, stellt dort keine erfahrbare Kompensation für den Schmerz des Zerfalls traditionaler Lebensformen in Aussicht.250

In diesem Gedanken wird die Disproportionalität zwischen dem Nutzen der Entdeckungsfahrten für die »entdeckten« Völker und der unaufhaltsamen Hybridisierung ihrer Kulturen augenfällig. Forsters revolutionärer Wunsch,

246 247 248 249

250

Moderne, in: Boris Barth u. a. (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserungen seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz 2005, S. 363–425, insb. S. 417. AA II, S. 301. H.i.O. Joachim Schüring, »Hunderte, ja Tausende von Maden«, in: Spektrum der Wissenschaft 1. (2010), S. 34–37, hier S. 37. Grundlegend sind die Arbeiten von Edward Said, Orientalismus (1981) Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur ( 2000). Bernd Thum, Elisabeth Lawn-Thum, Kultur-Programme und Kulturthemen im Umgang mit Fremdkulturen: Die Südsee in der deutschen Literatur , in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8 (1982), S. 8. Jürgen Habermas, FAZ, 15.10.2001 [Nr.239], S. 9.

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daß der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln in Zeiten abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der civilisirten Völker diese unschuldigen Leute anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich leben251,

steht zwar in krassem Widerspruch zu seinem Fortschrittsdenken, resultiert aber aus einer Erkenntnis, die er mit anderen kritischen Gelehrten teilt. So etwa Dumont d’Urville, der in seinem 1834 erschienenen Voyage Pittoresque Forsters Reise um die Welt ausgiebig zitiert252 und ihn oft bestätigt: Ajoutons que ces peuples, par leur commerce avec les Européens, ont perdu plusieurs de leur qualités natives. Ainsi, ils sont devenus défiants, dissumulés, avares, exigeants et cupides. Peu de vertus nouvelles leur sont venues en échange, et d’ailleurs pas une de leurs barbares coutumes n’a encore réellement cédé au contact de la civilisation.253

Sowohl bei Forster als auch bei Dumont d’Urville handelt es sich um drastische Worte, in denen der Anspruch der Entdecker auf die »Aufklärung« der südpazifischen Inselwelt eine eher ironische Wendung bekommt, sieht man von der geographischen Deutung dieses Begriffs ab. Insbesondere Forsters Gedanken, die geistesgeschichtlich dem 18. Jahrhundert verpflichtet sind, markieren das Denken eines skeptischen Aufklärers, der erst im Kontakt mit außereuropäischen Kulturen deutliche Risse in der Wirklichkeit der Aufklärung erkennt, auf die bereits Johann Gottfried Herder in seiner 1774 erschienenen Abhandlung Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit kritisch hingewiesen hatte: Handel und Papsttum, wie viel habt ihr schon zu diesem großen Geschäfte beigetragen! Spanier, Jesuiten und Holländer: ihr menschenfreundlichen, uneigennützigen, edlen und tugendhaften Nationen! wie viel hat euch in allen Weltteilen die Bildung der Menschheit nicht schon zu danken? [..] Wahrlich ein großes Jahrhundert als Mittel und Zweck [...] gewissermaßen alle Völker und Weltteile unter unserem Schatten, und wenn ein Sturm zwei kleine Zweige in Europa schüttelt, wie bebt und blutet die ganze Welt!254

Die Formel »alle Völker und Weltteile unter unserem Schatten« passt genau in das Konzept der Weltreisen der Aufklärungszeit. Die Südsee steht im Prozess der Entdeckungsfahrten des späten 18. Jahrhunderts buchstäblich im »Schatten« der Aufklärung. Dadurch macht Herder das Paradoxon von der weltweiten Implementierung der europäischen Zivilisation augen- und sinnfällig. Auch Forster legt in seinem Reisebericht Schritt für Schritt den irreversiblen Schaden bloß, den der Zivilisationszug in den meisten entdeckten Kulturen angerichtet hat. Zu Recht stellt er nüchtern fest, daß unsre Bekanntschaft den Einwohnern der Süd-See durchaus nachteilig gewesen ist; und ich bin der Meinung, daß gerade diejenigen Völkerschaften am besten weggekommen sind, die

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253 254

AA II, S. 254. Auf den Einfluss Forsters auf Dumont d’Urville macht Marita Gilli aufmerksam. Marita Gilli, Die Reaktion der Eingeborenen auf die Entdecker aus Forsters Sicht im Vergleich zu Bougainville und Dumont d’Urville, in: Georg-Forster-Studien X (2005), S. 125–156. Dumont d’Urville, Voyage pittoresque, II, S. 400. Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie, S. 88f.

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sich immer von uns entfernt gehalten und aus Besorgniß und Mistrauen unserm Seevolk nicht erlaubt haben, zu bekannt und zu vertraut mit ihnen zu werden255

In dieser selbstkritischen Einschätzung resümiert Forster jene Dialektik, deren Spuren in seiner Analyse vom Verlauf und vom Ergebnis der zweiten Weltreise Cooks allenthalben präsent sind. Die Erfahrung des sittenzerstörenden Einflusses europäischer Entdecker auf die pazifischen Kulturen berechtigt ihn, eine Gleichsetzung von ›höherer‹ Zivilisation und ›höherer Moral‹ in Frage zu stellen. Damit greift Forster einen zentralen Gedanken auf, den bereits Denis Diderot in einer einschlägigen Passage seines Supplément dem alten Tahitier (vieillard) in den Mund legt: Pleureuz, malheureux Tahitiens! Pleurez; mais que ce soit de l’arrivée, et non du départ de ces hommes ambitieux et méchants : un jour, vous les connaîtrez mieux. Un jour, ils reviendront, le morceau de bois que vous voyez attaché à la ceinture de celui-ci dans une main, et le fer qui pend au côté de celui-là dans l’autre, vous enchaîner, vous égorger, ou vous assujettir à leurs extravagances et à leurs vices ; un jour vous servirez sous eux, aussi corrompus, aussi vils, aussi malheureux qu’eux.256

Der Sachverhalt, den Diderot in seiner imaginären Ansprache des alten Tahitiers exponiert, liegt nicht sehr weit von dem entfernt, was Forster in der Südsee erfahren sollte, nämlich die fortschreitende Zerstörung der einheimischen Kulturen im Kontakt mit den europäischen Entdeckern, »denn zu Tahiti hatten wir nur ein einziges Paar [Hühner, Y.M.] auftreiben können, so sehr war diese Insel […] davon entblößet worden.«257 Die Metapher von der Entblößung der Südsee durch die Europäer ist insofern signifikant, als sie in einem Bedeutungsspektrum steht, das dem Anspruch der Entdecker auf Aufklärung der Südsee widerspricht. Dieses Spektrum beschränkt sich nicht nur auf die offensichtliche Zunahme von Diebstählen und der Prostitution seitens der Insulaner. Ihm wächst ebenfalls das von Forster reflektierte Phänomen zu, dass die Einführung der europäischen Eisenwaren, insbesondere der Beile und Waffen kriegerische Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Inseln verschärften. Adrienne Kaeppler hat dafür folgende Erklärung erarbeitet:»[...] die Pazifikinsulaner realisierten beim Kontakt mit den Europäern die Überlegenheit der Metallwerkzeuge über ihre aus Stein gefertigten sofort.«258 Diese Einsicht der Insulaner wirkt sich negativ auf das Zusammenleben der Südseebewohner aus. Erschüttert zeigt sich Forster deshalb über den Bericht seiner Reisebegleiter auf Neuseeland: [...] der Wilde habe vor seinem Abzuge durch Zeichen zu verstehen gegeben, er wolle aufs Todschlagen ausgehen und dazu die Beile gebrauchen. Hat man ihn recht verstanden, so war damit unsere angenehme Hoffnung, den Ackerbau und andere nützliche Arbeiten, durch die Austheilung von brauchbaren Werkzeugen gewissermaßen zu befördern und zu erleichtern, auf einmahl vernichtet.259

255 256 257 258 259

AA II, S. 187f. Denis Diderot, Supplément, S. 328. AA II, S. 304. Adrienne Kaeppler, Die ethnographischen Sammlungen der Forsters aus dem Südpazifik. Klassische Empirie im Dienste der modernen Ethnologie, in: FIP, S. 59–75, hier S. 61. AA II, S. 159.

285

War es nicht das Ziel der Entdecker, im Namen der Aufklärung auch den außereuropäischen Menschen zu verbessern? Dieses Beispiel ist eine sinnfällige Metapher für die zivilisatorischen Dilemmata der Aufklärung im Südpazifik. Am Verhalten des Insulaners wird nicht so sehr die formale Zweckentfremdung der europäischen »Eisengeräthe«, sondern vielmehr die Tatsache illustriert, wie der zivilisatorische Anspruch der Aufklärung in seinen Gegenteil umschlägt. Die Absicht des Insulaners, das europäische Beil nicht als Arbeitsinstrument zu verwenden, sondern es als eine Mordwaffe einzusetzen, ist für Forster ein Beleg für die Gefahr der Destabilisierung der einheimischen Kulturen. Hatte er den Handel zwischen Europäern und den Südseeinsulanern zunächst als Beitrag zur Förderung der Landwirtschaft und damit für den Fortschritt der besuchten Kulturen betrachtet, so erkennt er nun, dass dieser Anspruch vor Ort nicht eingelöst worden ist. Die Ironie dieser Wendung bringt Nicholas Thomas auf den Punkt: It was a commerce that resonated closely, but horribly ironically, with Cook’s instructions. The great aim of the programme of voyaging that the Admirality had prosecuted with the blessing of the King had been the discovery of new lands and peoples with whom trade could in due course be opened up, to both honour and enrich Britain. A trade was getting under way here very quickly that neither honoured nor enriched anyone. The Maori did not have to be coaxed into commerce. They leapt into it. This commerce promised not the long-term refinement of civility that many theorists thought it engendered. It instead produced immediate and patent damage that was not only moral.260

Tatsächlich konstatiert Forster eine quantitative Zunahme von kriegerischen Auseinandersetzungen unter den Insulanern, die dem Reiz der europäischen Gegenstände so ausgeliefert sind, dass der bisher relativ friedliche Umgang miteinander nun dem Kampf um europäische Nägel und Waffen weicht. Die Insulaner tun alles, so Forster, »damit sie nur die Gelegenheit europäische Waaren zu bekommen nicht ungenutzt [...] vorbey streichen lassen.«261 An einer anderen Stelle heißt es ausführlicher: Ich fürchte, wir selbst hatten Schuld daran, daß ihre unseligen Zwistigkeiten mit andern Stämmen wieder rege geworden waren: denn unsre Leute begnügten sich nicht, von ihren Bekannten unter den Indianern, so viel steinerne Äxte, Pattu-Pattuhs, Streit-Kolben, Kleider, grüne Steine und Fischangeln etc. aufzukaufen, als diese im Vermögen hatten; sondern sie verlangten immer mehrere, und suchten die armen Leute, durch Vorzeigung ganzer Ballen von Tahitischem Zeuge, anzulocken, daß sie noch ferner Waffen und Hausgeräth herbeyschaffen möchten. Wenn sich aber die Neu-Seeländer, wie wohl zu vermuthen steht, durch solche Versuchungen hinreißen ließen; so werden sie auch wohl gesucht haben, sich das, woran es ihnen fehlte, auf die leichteste und schnellste Art zu verschaffen, und dieses Mittel mag vielleicht in Beraubung ihrer Nachbarn bestanden haben.262

Vor diesem Hintergrund stellt Forster fest, dass die Befriedigung dessen, wozu die Europäer die Einheimischen anlocken, »schwerlich ohne Blutvergießen abgelaufen«263 sei. Mit anderen Worten: In dem Maße, in dem die Insulaner versuchen, an die Produkte der

260 261 262 263

Nicholas Thomas, Discoveries, S. 184f. AA II, S. 260. Ebd., S. 400. Ebd.

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Europäer heranzukommen, wird die Destabilisierung der Inselkulturen manifest. Diese Beobachtungen, die eine empirisch fundierte Korrektur der apodiktischen Aufklärungsideologie markieren, stützen sich ebenfalls auf das Verhalten der beiden auf englischen Schiffen reisenden Insulaner Tupaia und O-Maï, »denn sie schmeichelten sich, in England Feuer-Gewehr in Menge zu erhalten.«264 Forster erklärt sich diese Pläne folgendermaßen: Nachdem beide Insulaner die tödliche Wirkung der europäischen Waffen auf ihrer Inseln hautnah miterlebt haben, versprechen sie sich von ihrem Aufenthalt in England, »sich von unserer Kriegskunst einen Begriff zu machen, und sie hernachmals auf die besondere Lage [ihrer] Landsleute anzuwenden.«265 Und so berichtet Forster über O-Maï, »daß er sich in England mehrmalen hat verlauten lassen, wenn ihm Capitain Cook zu Ausführung seines Vorhabens nicht behülflich wäre; so wolle er schon dafür sorgen, daß ihm seine Landsleute keine Lebensmittel zukommen lassen sollten.«266 Zwar kann O-Maï das Vorhaben, mit Hilfe der europäischen Waffen neue Machtverhältnisse in seiner eigenen Heimat herbeizuführen, nicht ausführen, denn die gewaltsame Unterwerfung seiner Heimat durch die Kolonisatoren ist schon im Gang. Doch O-Mai erkennt, dass ihm der Besitz der europäischen Waffen den Weg ebnet, um sich eine neue Machtposition in seiner Heimat zu sichern. Hier drängt sich der Gedanke auf, dass viele Diktaturen, die bis heute in der »Dritten Welt« existieren, ohne europäische Waffen vielleicht nicht in dieser Form hätten zustande kommen können. Entsprechend stellt Schmied-Kowarzik fest, dass die europäische Zivilisation »den Menschen keineswegs nur zum Besseren vorantreibt.«267 Er mahnt, sich bewusst zu machen, »welche Zerstörung die Aufklärung zugleich bewirkt« habe.268 In diesem Kontext stehen die Gedanken Hans-Christof Wächters, der in seinen Pazifischen Passagen269 notiert: Die westliche Zivilisation fiel über die Inseln. Sie zerstörte gewachsene Strukturen, vernichtete uralte Kulturen, mischte willkürlich Nationalitäten und nivellierte regionale Eigenständigkeiten. [...] Wir weißen Europäer sind das Unheil der farbigen Naturvölker.270

Dieses postmoderne Bewusstsein, das die Diskrepanz zwischen zivilisatorischem Anspruch und Zerstörung oder erzwungener Veränderung außereuropäischer Kulturen markiert, finden wir bereits in Forsters Reisebericht klar formuliert, wodurch er der aufklärerischen Apodiktik entgegenwirkt. Dies zeigt beispielsweise folgendes Fazit, in welchem er seine Skepsis und Enttäuschung in dramatischen Worten fass- und greifbar macht:

264 265 266 267 268 269 270

Ebd., S. 317. Ebd. Ebd. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, S. 116. Ebd. Hans-Christof Wächter, Pazifische Passagen. Reisen in die Südsee. Wien 1998. Ebd., S. 131.

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Warlich! wenn die Wissenschaft und Gelehrsamkeit einzelner Menschen auf Kosten der Glückseligkeit ganzer Nationen erkauft werden muß; so wär’ es für die Entdecker und Entdeckten, besser, daß die Südsee den unruhigen Europäern ewig unbekannt geblieben wäre!271

Diese scharfe Einsicht, die Forster nur um den Preis schwerer argumentativer Spannungen mit den europäisch-hegemonialen Weltverbesserungsansprüchen vereinbaren kann, ist treffend und zeugt davon, bis zu welchem Grad sein Bewusstsein von der Dialektik der Kulturbegegnung im Kontext der Weltreisen des 18. Jahrhunderts ausgeprägt ist. Der Einzug der europäischen Aufklärung, so die Aussageabsicht Forsters, geht überall einher mit der Auflösung der einheimischen Kulturen: Zerstörung, Diebstahl, moralische Korruption, sexueller Missbrauch, Krankheiten und die Zunahme von Kriegen mit Hilfe der neu erworbenen europäischen Waffen und Werkzeuge erscheinen ihm nicht zuletzt als Resultat des Kontakts der Insulaner mit den Europäern. Deshalb zweifelt Forster als Verfechter des Aufklärungsprogramms an der Alternativlosigkeit des eurozentristischen Zivilisationsmodells. Forster sieht die Südsee, wie Carola Hilmes in Bezug auf Tahiti, richtig festgesllt hat, »als ein von den Europäern infiziertes Paradies.«272 Er argumentiert vor dem Hintergrund und im Angesicht der üblen Folgen der Entdeckungsfahrten, die er unmittelbar im Südpazifik erlebt, doch er weiß auch, dass der alte Zustand der südpazifischen Kulturen nicht mehr wiederhergestellt werden kann. Mit seiner ausdrücklichen Anklage intendiert Forster keineswegs eine apodiktische Idealisierung des Lebens im Südpazifik, das er im Laufe der Weltreise kritisch differenzierend als eine von verschiedenen Völkern geformte mannigfaltige Welt vermittelt. Den Entdeckungsfahrten, so wie sie in der Reise um die Welt dargestellt sind, liegt ein dialektischer Begegnungsprozess zugrunde, der in seiner dynamischen und weltumspannenden Ausstrahlung das Fundament der Globalisierung mit ihren Chancen, Risiken und Gefahren gelegt hat.

5.

Entdeckung und Globalisierung

Mit dem Terminus »Globalisierung« verbindet man heute oft die flächendeckende »Entwicklung der Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten [...] die auf der modernen Entfaltung von Techniken des Verkehrs, der Telekommunikation, der Finanzierung beruht.«273 Doch wie Ernst-Ullrich Pinkert zu Recht kritisiert, sperrt sich diese Gegenwartfixierung im Verständnis des Globalisierungsbegriffs gegen die aufschlussreiche Erkenntnis, daß die Globalisierung nicht nur ein Phänomen der Gegenwart ist, sondern daß sie ihre Geschichte hat und daß diese auch stets medial vermittelt ist. Ein wichtiges Medium waren die verschiedenen Genres und Ausdrucksformen der Reiseliteratur.274

271 272 273 274

AA II, S. 301. Carloa Hilmes, Georg Forsters Wahrnehmung, S. 150. Helmut Schmidt, Globalisierung. Politische, ökonomische und kulturelle Herausforderungen, Düsseldorfer Vorlesungen. Stuttgart 1998, S. 32f. Ernst-Ulrich Pinkert, Die Globalisierung im Spiegel der Reiseliteratur, S. 9.

288

Schließt man sich Pinkert in der Ansicht an, dass die »unterschiedlichen Textsorten der Reiseliteratur [...] als Spiegel der Globalisierung gedient haben«275, so darf man dabei nicht übersehen, dass eine reflektierte Vermittlung der Entdeckungsfahrten als Ausgangspunkt eines weltweiten Vernetzungsprozesses der Kulturen erst in solchen Reiseberichten Niederschlag gefunden hat, die sich explizit auf die so genannten Forschungsexpeditionen der Spätaufklärung beziehen. Tatsächlich liegt die besondere Faszination, die aus heutiger Perspektive vom Werk Georg Forsters ausgeht, nicht nur in der fundierten, bis ins Widersprüchliche differenzierten Schilderung und Bewertung der Entdeckungsfahrten des späten 18. Jahrhunderts begründet; von großer Bedeutung ist ebenfalls Forsters Versuch, die langfristige Bedeutung der Weltreisen in den globalen Kontext einzuordnen. Als Zeuge einer Epoche, in der zum ersten Mal in der Weltgeschichte die seit der Antike tradierten geographischen Mythen verschwinden, reflektiert Forster, wie sich im Vollzug der Entdeckungsfahrten seiner Zeit das Angesicht der Welt verändert und sich jenem Koordinatennetz unterworfen hat, aus dem unsere globale Moderne hervorgegangen ist. Das besondere Privileg, »rund um die Welt zu seegeln«276 und diesen Weltbildwandel aus intellektueller Warte zu beobachten, macht sich Forster dadurch zu Nutze, dass er Cooks Entdeckungsreisen im Südpazifik als Auftakt eines Veränderungsprozesses im universalen Gefüge interpretiert. So vermag die Untersuchung seines Werkes auf diesen Sachverhalt dazu beizutragen, die gängige Vorstellung der Globalisierung als ein Phänomen unserer Zeit zu relativieren und historisch zu kontextualisieren. Forsters Weltreisebericht zählt zu solchen repräsentativen Texten, welche Einblicke in die spezifischen Globalisierungserfahrungen am Ende des 18. Jahrhunderts gewähren. Denn parallel zur Überwindung der Mythen der Peripherie im »Fortgang der Wissenschaften«277 hebt Forster hervor, dass Cooks Südseeexpeditionen wie kaum eine andere Weltreise zuvor das Bewusstsein für ein globales Weltbild geschärft haben. Forster, der sich der Erweiterung »unseres Wissens« verschrieben hat, betont, dass die fortschreitende Globalisierung der europäischen Rationalität qua Wissenschaft keine Grenze mehr kenne, sondern sie definiere sich in einer sich perpetuierenden Horizonterweiterung: wie viele Völker, die wir zuvor auch nicht dem Namen nach kannten, sind nicht durch die unvergesslichen Bemühungen dieses großen Mannes [Cook, Y.M.] bis auf die kleinsten Züge geschildert worden!278

Das Bewusstsein für die im Vollzug der Entdeckungsfahrten globalisierte Welt, wie es sich in Forsters Reisebericht einstellt, hängt mit der intellektuellen Erfassung des Globus als eines zusammenhängenden Ganzen zusammen. Dem liegen die im Kontext dieser

275 276 277 278

Ebd., S. 12. AA II, S. 37. AA III, S. 413. Ebd., S. 209.

289

Reisen gewonnenen geographischen, kulturellen und anthropologischen Kenntnisse zugrunde: »Entdeckungen von großem Umfang« schreibt Forster daher im Cook-Essay, können nicht mehr stattfinden, und der Erdball ist nunmehr von einem Ende zum andern bekannt. Wer einen Blick auf die Karte wirft und die Veränderung in der Erdkunde bemerkt [...] wird der noch einen Augenblick zweifeln können, daß unser Jahrhundert sich in seiner Größe mit jedem Zeitalter messen darf?279

Dieser Standpunkt trifft mit der Bedeutung des Begriffs Weltreise im erweiterten globalen Sinn zusammen, und Forster macht bereits in der Reise um die Welt den Blick frei für die historisch fundierte Erfahrung der Welt als eines zusammenhängenden Ganzen und dies sowohl in wissenschaftlicher, politischer, ökonomischer und nicht zuletzt kultureller Hinsicht. Als paradigmatisch sind daher jene Reflexionen einzustufen, die er beim Anblick des Amsterdamer Hafens zwölf Jahre nach der Weltreise anstellt: Das Seewesen hat das eigene, dass es so viel umfasst, so manche Wissenschaft, Mathematik, Mechanik, Physik, Astronomie, Geographie, anwendet, die fernen Welttheile so aneinander knüpft, die Völker zusammenführt, die Produkte aller Länder an einem Orte häuft und die Ideen daselbst vermehrt, in schnellern Umlauf bringt, und immer schärfer prüft und läutert. Es ist unmöglich, beym Anblick sovieler Schiffe nicht etwas von diesem großen Werk der Menschen in Gedanken sich vorzustellen; ja, man fühlt es eigentlich in seinem ganzen Umfange, als den Totaleindruck aller der mannigfaltigen zu Einem Ganzen hier vereinigten Gegenstände. Denn zergliedert man dieses wieder in seine einzelnen Theile, wie klein und zerstückelt und geringfügig erscheint nicht alles? Das Ganze bildet sich und wirkt sich aus ins Daseyn, ohne dass jemand nach einem Plan arbeitete oder arbeiten liesse, und die Geschäftigsten hier lassen sichs nicht träumen, wie sehr ihre Arbeit nur Stückwerk ist, wie sehr sie selbst nur kleine Räder, nur Maschinen und Werkzeuge sind. Das Ganze ist daher auch nicht vorhanden, ausgenommen in der Phantasie dessen, der es umfassen kann. Ihm bieten die grossen Resultate sich dar, weil er aus einer gewissen Entfernung beobachtet; dahingegen die allzu grosse Nähe des einzelnen Gegenstands, auf den die Menschen hier, jeder als auf seinen Endzweck, losarbeiten, ihnen den Zusammenhang, die Gestalt des Ganzen verbirgt.280

Bemerkenswert ist hier u. a. Forsters Rekurs auf seinen Weltreisebericht, in dem er den Aufbruch der Europäer in die Südsee als Prämisse für den modernen Weltbildwandel reflektiert. Bezeichnend dabei ist in erster Linie sein Verständnis der Entdeckungsfahrten als Beitrag »zur Erweiterung menschlicher Kenntnisse«281, womit er den weltumspannenden Charakter der Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung andeutet. Die mit der Weltreise verbundene Erwartung, »daß wir in einem von dem unsrigen so weit entfernten und auf der andern Hälfte der Erdkugel gelegenen Weltteile, viel Neues für die Wissenschaften finden müßten«282, stellt Forster in erster Linie in den Dienst der geographischen Kenntnisse, »weil sie die Sphäre unseres Wissens erweitern, und dem Menschen einen größeren Reichthum von Vorstellungen geben.«283

279 280 281 282 283

AA V, S. 233. AA XVI, S. 119f. (Brief vom 28. April 1790 an seine Frau Therese). AA II, S. 7. Ebd., S. 75. AA V, S. 200.

290

Von diesem Standpunkt aus attestiert Forster in seinem Cook-Essay den epochalen Weltreisen Cooks deshalb einen erkenntnis-revolutionären Stellenwert, weil die ganze Erdkugel mit allen ihren Ländern und Inseln, ihren Häfen und Ankerplätzen, ihren Sandbänken, Klippen, Durchfahrten und Strömungen überall bekannt und in Charten genau verzeichnet ist, daß man folglich überall hinhandeln könne, daß aber auch die rühmlichen Bemühungen der Entdecker, für die Geographie, die Sternkunde, die Natur- und Menschengeschichte, und[...] auch für die Religion, sehr viel geleistet haben [...].284

Auch in seinem Aufsatz Neuholland betont Forster, dass Cooks Reisen »das Feld geographischer Kenntnisse von Pol zu Pol erweitert [haben], und keine bedeutende Insel [...] noch unerkannt im Ocean [liegt].«285 Damit zeigt er jenen Weltbildwandel an, dem eine veränderte Vorstellung von Raum und Zeit zugrunde liegt: Allein heut zu Tage reist man [...] nicht mehr wie in der Terra incognita: fast giebt es kein Städtchen und Ländchen mehr, dass nicht seine langweilige Topographie aufzuweisen hätte; man weis im Voraus was man finden und sehen wird.286

In diesem Wissen, das Forster vor mehr als zwei hundert Jahren präzise erfassen konnten, finden wir jenen Gedanken formuliert, den Karl Schlögel als »unentwegte Anstrengung zur Bewältigung des Raumes, seiner Beherrschung und schließlich seiner Aneignung«287 treffend charakterisiert. Wenn Forster in der Vorrede seines Weltreiseberichts notiert: »Die Karte, worauf unsre Entdeckungen und die Umseglungs-Linie gezeichnet worden, habe ich mit dem größten Fleiß nach den richtigsten Materialien [...] entworfen«288, dann deutet er die Möglichkeit an, die Erde »mit festem, allumfassenden (sic!) Blick zu durchschauen«289, was er nicht zuletzt in seinem Cook-Essay durch die Formulierung wiedergibt, Cook sei »mit dem ganzen Erdball so genau bekannt geworden, als trüge er ihn, wie den Reichsapfel, in der Hand.«290 Was bedeutet das Sinnbild der (westlichen) Macht, auf das Forster hier referiert, anders als den politisch-expansiven Anspruch der Europäer auf den Besitz und die Beherrschung der nun umrundeten Erdkugel? Auch wenn es sich dabei um einen Prozess handelt, dessen Wurzeln in die Entdeckungsfahrten des 16. Jahrhunderts zurückreichen, in denen Eberhard Schmitt zu Recht die Zeichen »jener beginnenden Zeit des europäischen Ausgreifens über die Erde mit ihren weltverändernden Folgen« sieht,291 so muss man in dem von Forster reflektierten Kontext des späten 18. Jahrhunderts von einem Paradigmenwechsel sprechen.

284 285 286 287 288 289 290 291

Ebd., S. 188. Ebd., S. 162f. AA XII, S. 226. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 9. AA II, S. 14. AA V, S. 192. Ebd., S. 208. Eberhard Schmitt, Atlantische Expansion und Maritime Indienfahrt im 16. Jahrhundert, in: Stephan Füssel (Hg.), Die Folgen der Entdeckungsreisen für Europa. Nürnberg 1992, S. 127–144, hier S. 144.

291

Denn Forster sieht mit der wissenschaftlichen Umrundung des Globus nicht nur die Kolonialmächte, sondern mit ihnen zugleich »den weit um sich greifenden Handel« auf dem Vormarsch, »der getrennte Weltteile verbindet.«292 Er beschreibt dieses Phänomen so: Die Folgen des mächtigen Schwunges, den Ein großer Mann seinem Jahrhundert zu geben wusste, fangen bereits an sich zu offenbaren. Schon knüpft der Handel eine Gemeinschaft zwischen China und der neuentdeckten Nordwestküste von America.293

Diese Feststellung wiederholt Forster fast wortgleich im Cook-Essay, wenn er schreibt […]schon jezt sprossen die Früchte der ersten und letzten Reise des Entdeckers hervor. Zwischen China und der neuentdeckten Westküste von Nordamerika haben Kaufleute das Band des Handels schon mit dem besten Erfolg geknüpft, und ihr erster wohlgerathener Versuch beweist die Einträglichkeit dieser neuen Fahrt. Die Pelzwerke jenes neuen Welttheils, und insbesondere die See-Otterfelle, welche der üppige Mandarin beynahe mit Gold aufwiegt, werden sich lange in ihrem Preise erhalten; denn diese Thiere müssen seltener werden, je eifriger der Amerikaner, durch den Tauschhandel angereizt, ihnen nachstellt.294

Im Vollzug des globalen Handels, wie er sich bereits im Orienthandel seit dem späten Mittelalter entwickelt,295 verändern sich die tradierten Relationen zwischen Zentren und Peripherien, die fortan in ständiger Berührung multikultureller Prägung stehen. Forster schildert entsprechend den Beginn einer neuen, weit in die Zukunft weisenden Epoche des weltumspannenden Handels im Sinn der bereits im 16. Jahrhundert begonnenen »internationalen Verflechtungen des Wirtschaftslebens.«296 Insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit dem aufgeklärten Aufbruch in die Weltwirtschaft wird Forsters reflektiertes Nachdenken über die ökonomischen Prozesse seiner Zeit manifest. Dabei fällt auf, dass er diesem Prozess, der durch die weltweite Implementierung der europäischen Zivilisation ideologisch getragen wird, positiv gegenübersteht. Deshalb hinterfragt Forster auch nicht die Tatsache, dass vor allem die europäischen Seemächte die Nutznießer dieser neuen, Profit bringenden Entwicklung sind. Solche Momente lassen, wie wir bereits in anderen Zusammenhängen sehen konnten, einen dialektischen Hiatus in Forsters weltbürgerlichem Selbstverständnis erkennen.297 Dieser Hiatus ist nicht von Forsters Auffassung des Handels als Paradigma der Globalisierung zu trennen, wie sie beispielsweise in dem Cook-Essay durch die Annahme formuliert wird,

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AA V, S. 214. Ebd., S. 163. Ebd., S. 288. Vgl. Eberhard Schmitt, Atlantische Expansion, S. 130. Rolf Walter, Nürnberg in der Weltwirtschaft des 16. Jahrhunderts. Einige Anmerkungen, Feststellungen und Hypothesen, in: Stephan Füssel (Hg), Die Folgen der Entdeckungsreisen für Europa. Nürnberg 1992, S. 145–160, hier S.145. Dieser Hiatus wird oft übersehen. Vgl. Marita Metz-Becker, Kulturvermittlung als Fortschrittsprogramm: Der ›Weltbürger‹ Georg Forster (1754–1794), in: Gottfried Edel (Hg.), Weltkultur: Begegnung der Völker-Gemeinschaft der Menschen; auf dem Weg zur Weltgesellschaft. Mainz 1997, S. 180–186.

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daß verschiedene große und wichtige Länder dem Unternehmungsgeiste der Europäer die vortheilhaftesten Lagen zu neuen Pflanzstädten darbieten, wodurch dereinst das gemeinschaftliche Band der Nationen gestärkt, und die Kultur des Menschengeschlechts in allen Weltteilen befördert werden kann.298

Auch in seiner Abhandlung Die Nordwestküste von Amerika greift Forster diesen Gedanken in bemerkenswerter Weise wieder auf: Das Band, welches entfernte Weltteile wohltuend und zwanglos an einander knüpft, das Band der Schiffahrt und des Waarentausches, schien jetzt den Kreis der Erde ganz zu umschlingen, und es ließ sich erwarten, daß Asiens und Europens Begriffe und Erzeugnisse, nach dem wilden Amerikanischen Ufer geführt, eine sanfte, allmälige Veränderung in der Denkart und Handlungsweise des rohen Bewohners der neuen Welt bewirken würden.299

Beide Passagen machen symptomatische Gedanken deutlich, durch die Forster die Vernetzung weit voneinander liegender Weltteile mit Hilfe des Handels registriert und als bestimmendes Zukunftsszenario prognostiziert. Diese moderne Dimension und Auffassung der Globalisierung thematisiert Forster auch in seinen Ansichten vom Niederrhein. So hält er nach dem Besuch einer Tuchfabrik in Aachen fest: Mir wenigstens ist es immer ein fruchtbarer Gedanke, daß hier Tausende von Menschen arbeiten, damit man sich am Euphrat, am Tigris, in Polen und Rußland, in Spanien und Amerika prächtiger oder bequemer kleiden könne; und umgekehrt, daß man in allen jenen Ländern Tücher trägt, um den Tausenden hier Nahrung und Lebensbedürfnisse aller Art zu verschaffen [...]. Der Handel bleibt die Hauptursache von dem jetzigen Zustande unserer wissenschaftlichen und politischen Verfassungen; ohne ihn hätten wir Afrika noch nicht umschifft, Amerika noch nicht entdeckt, und überhaupt nichts von allem, was uns über die anderen Thiere erhebt, unternommen und ausgeführt.300

Forster sieht im Handel also die Realisierung der wissenschaftlichen und politischen Entwicklung im globalen Kontext: Je dringender unsere wahren und erkünstelten Bedürfnisse das Verkehr mit entfernten Weltteilen fordern, je emsiger der kaufmännische Geist von der Unersättlichkeit des Zeitalters seinen Vortheil zieht, indem er ihr Nahrung verschafft; desto stärker wächst das politische Interesse der Staaten, an der Erweiterung geographischer und anderer Erfahrungskenntnisse [...]. Großbrittannien, dessen Handel von so ungeheurem Umfang ist, hat folglich auch in dieser Rücksicht den Nationen das Schauspiel von Entdeckungsreisen gegeben, wodurch die vorher unbekannte Hälfte der Erdkugel ausgekundschaftet worden ist.301

Die Forderung nach der Intensivierung des Handels mit außereuropäischen Kulturen liegt weniger in der Absicht begründet, eine partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe zu etablieren. Vielmehr stehen die ökonomischen Vorteile für die Metropole im Vordergrund. Dabei lässt Forster ein Ordnungssystem mitschwingen, das in dem ökonomischen Gefälle zwischen den Kulturen seinen Hauptcharakter offenbart. Deshalb dienen die von

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AA V, S. 280. Ebd., S. 449f. AA IX, S. 97. AA V, S. 201f.

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ihm geforderten kulturübergreifenden Handelsbeziehungen eher der weltweiten Implementierung des europäischen Denkens, das bis in die Gegenwart dem Globalisierungsprozess ein typisch westliches Gesicht verliehen hat. Die Art und Weise, wie Forster die Konjunktion von Entdeckung und Globalisierung präsentiert, lässt seinen Weltreisebericht auch dann als einen wichtigen Beitrag zur – wenn auch problematischen – Universalisierung der europäischen Aufklärung lesen, wenn er sich gelegentlich kritisch mit dem universalen Anspruch der westlichen Zivilisation auseinandersetzt. Als Kind seiner Zeit sieht Forster mit den Entdeckungsfahrten des späten 18. Jahrhunderts eine Epoche angebrochen, wo eine neue zweckmäßige Entwicklung des Menschengeschlechts und seiner Kräfte den Anfang nehmen und ein fester Punkt mehr gewonnen werden sollte, aus welchem die weiseren Europäer den alten asiatischen Eigensinn und jene unbezwingbare Widersetzlichkeit des vollkommensten, üppigsten und an natürlichen Schätzen unerschöpflichen Weltteils gegen alle Fortschritte der Aufklärung endlich bestürmen müßten?302

An dieser Frage wird eine weitere Paradoxie der Aufklärung ablesbar, die Horkheimer und Adorno angesprochen haben.303 Es zeigt sich, dass Forster nicht nur von der Überlegenheit der europäischen Kultur, sondern auch von ihrem Anspruch als Modell im Verhältnis der Kulturen in letzter Konsequenz überzeugt bleibt.304 Das ist der Hintergrund, vor dem er letztendlich alle Kulturen, die sich der Entwicklung der europäischen Kultur noch nicht angeschlossen haben, dazu auffordert, »Mängeln ihres Verstandes und Herzens zu entsagen und dafür die Wahrheit zu erkennen und anzunehmen, welche den europäischen oder aus Europa entsprungenen Selbstdenker glücklich macht!«305 Wie man an solchen Aussagen deutlich ablesen kann, entfaltet Forster sein Denken in einer durch die Ideologie der Aufklärung geprägten Perspektive, von der aus er die Globalisierung der europäischen Aufklärung einfordert: »Kühn ist der Gedanke immer«, schreibt er in seinem Cook-Essay, daß fünf bis sechshundert Millionen Menschen, die sich nicht träumen lassen, wie ernstlich und liebreich die Philosophie ihrer Brüder schon die Mittel sie aufzuklären berechnet, von einem Zeitpunkte nicht mehr fern seyn sollen, wo in ihrem Denken, Thun und Lassen eine merkwürdige Revolution vorgehen wird, wo Lehren der Weisheit aus Europa, vielleicht auch aus Amerika und den Südländern, mit unwiderstehlicher Macht der Überredung sie auffordern werden, ihrer lange gewohnten Sklaverey, ihrer natürlichen Weichlichkeit und Indolenz, dem desultorischen Gange ihrer in Bildern spielenden Vernunft, kurz den angeerbten, klimatischen Irrthümern und Mängeln ihres Verstandes und Herzens zu entsagen, und dafür die Wahrheit zu erkennen und anzunehmen, welche den Europäischen oder aus Europa entsprungenen Selbstdenker glücklich macht!306

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AA V, S.292. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 31. Karl Hölz, Einleitung – Spiegelungen des Anderen in der Ordnung der Kulturen und Geschlechter, in: Karl Hölz, Viktoria Schmidt-Linsenhoff u. a. (Hg.), Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2000, S. 7–12, hier S. 7. AA V, S. 293. Ebd., S. 292f.

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Allerdings ist Forster die explizite dialektische Dynamik bei der weltweiten Vernetzung der Kulturen nicht entgangen. Die Schattenseiten des Siegeszuges der europäischen Rationalität erkennt er bereits an der sich anbahnenden Globalisierung von Problemen der europäischen Zivilisation im Südpazifik. Deshalb lässt sich festhalten, dass Forsters Überlegungen nicht nur das Bewusstsein für den sich anbahnenden Globalisierungsprozess erkennen lassen, sondern vor allem auch vor Augen führen, dass Europa durch die Entdeckungsreisen diesem Prozess in seiner positiven wie negativen Ausprägung seinen Stempel aufgedrückt hat. Mit diesen Erfahrungen lässt sich Forsters Werk am Beginn zahlreicher Prozesse der modernen Globalisierung verorten. Denn in der Tat reflektiert der Gelehrte die zunehmende – wenngleich einseitige, weil weitgehend von Europa ausgehende – Verflechtung von Kulturen und Territorien, die gerade auch von den Entdeckungsreisen vorangetrieben und, wie er sieht, weithin von ökonomischen Faktoren etwa dem Handel bestimmt wird. Dass sich auch hier das Wissen um unhintergehbare, irreversible und unentschuldbare Kollateralschäden in das Pathos der Weltbeglückung mischt, gibt Forsters Sicht der Globalisierung eine fast schon tragische Dimension, allerdings eine, die nicht die Europäer, sondern ›die Anderen‹ trifft. Dass Forster aber freilich die Umkehrung der Verlaufsrichtung der globalen Dynamik fordert, indem er die Internationalisierung von europäischem Wissen unterstützt, zeigt sich an dessen Hinwendung zur indischen Kultur.

6.

Indien als Vorbild: Modell eines Kulturtransfers An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut.307

So urteilen Karl Marx und Friedrich Engels die Auswirkungen einer flächendeckenden Kulturbegegnung als Begleiterscheinung der Globalisierung. Sie machen insbesondere deutlich, dass dieser Prozess, wie er durch die Entdeckungsfahrten der Spätaufklärung beschleunigt wurde, nicht nur den Welthandel und damit ökonomische Implikationen zur Folge hatte. Das zunehmende Bewusstsein für die kulturellen Leistungen außereuropäischer Völker beflügelt gerade in der Spätaufklärung den geistigen Kontakt und den Austausch zwischen weit voneinander entfernten Kulturen. Führende Denker im späten 18. Jahrhundert betonen sowohl in ihren kulturtheoretischen als auch in ihren literarischen Schriften den zunehmenden Stellenwert außereuropäischer Kulturen für die Erweiterung des europäischen kulturellen Horizontes.308 Will man Georg Forsters kosmopolitischen Horizont erfassen, so muss man dessen Empfänglichkeit für solche Gedanken in Augenschein nehmen. Die Sonderstellung, die er in diesem Zusammenhang unter den Gelehrten seiner Zeit einnimmt, liegt darin, dass

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Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 4. Berlin 1974, S. 466. Vgl. unten S. 301.

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er die ihm fremden Kulturen nicht ausschließlich als exotische Ferne stilisiert, sondern er betrachtet sie als ein Epoché, das ihm die Gelegenheit bietet, sein global ausgerichtetes Weltbild auf- und auszubauen. Die Auswahlprinzipien der Gegenstände, die Forster dabei wichtig erscheinen, verdienen insofern eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie – um eine moderne Terminologie zu verwenden – einer einschlägigen interkulturellen Kompetenz entspringen, die Forster in der gegenwärtigen Forschung die wohl treffende Bezeichnung als »Mittler zwischen Menschen und Kulturen«309 eingebracht haben.310 Diese Kompetenz, die über die zeitgeschichtliche Aktualität hinausweist, artikuliert sich in verschiedenen Variationen und Schwerpunktsetzungen in Forsters Gesamtwerk, welches mit dem Begriff von Joachim Sartorius als »Investition in Völkerverständigung« beschrieben werden kann, »die auf einer besseren Kenntnis der Kulturen untereinander beruht.«311 Dieses Projekt, auf dessen Realisierung Forster zeitlebens hinarbeiten sollte, beginnt zwar in seiner Begegnung mit den Südseeinsulanern312, es gewinnt allerdings erst nach der Weltreise, vornehmlich in den Jahren 1788 bis 1791, eine besondere Konturenschärfe. Dies lässt sich aus dem Umstand erklären, dass Forster sich in dieser Zeit zunehmend mit der orientalischen Kultur beschäftigt. In seiner Geschichte der Englischen Literatur, vom Jahr 1788 macht er auf eine Erkenntnis aufmerksam, die im damaligen Kontext eine Ausnahme darstellt und der bis heute aktuelle Relevanz zukommt. Es handelt sich um die besonders aus postkolonialer Perspektive aufschlussreiche Erkenntnis, dass England durch die Entdeckung außereuropäischer Kulturen eine Aufklärung aus der Peripherie erfahren habe: Nicht allein durch eigenes Forschen, sondern auch durch eifrige Benutzung der Entdeckungen und Fortschritte anderer Nationen, ward in den letzten Jahrhunderten die Masse der intensiven Aufklärung in England sichtbarlich vermehrt. Noch nie traten so häufige Übersetzungen in allen Theilen der Gelehrsamkeit hervor, als eben in dieser Periode.313

Die Dialektik der Kulturbegegnung, so wie sie sich in der Reise um die Welt gestaltet, entfaltet ihre aufklärerische Funktion darin, dass die Grenzen des europäischen Universalismus reflexiv greifbar gemacht werden. Forster gehört deshalb vielleicht zu den wenigen Gelehrten seiner Zeit, die in der Lage sind, den Beitrag außereuropäischer Kulturen zur europäischen Aufklärung offen anzuerkennen, was ihm sicherlich keine

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Joseph Gomsu, Georg Forster und Alexander von Humboldt: Mittler zwischen Menschen und Kulturen, in: Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken (2003), S. 62–76. Vgl. ebd. Joachim Sartorius, Im Namen Goethes. Zu den ideellen Fundamenten der Auswärtigen Kulturpolitik heute, in: Markus Hänsel-Hohenhausen (Hg.), Im Namen Goethes! Erfundenes, Erinnertes und Grundsätzliches zum 250. Geburtstag Johann Wolfgang von Goethes, Frankfurt/M. 1999, S. 283–293, hier S. 289. Die eingehenden Reflexionen, die Forster dem Austauschprozess zwischen Europäern und Insulanern widmet, dienen dem Zweck eines besseren Verstehens der jeweiligen Kultur. AA VII, S. 69.

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Widersprüche erspart. Doch gerade darin liegt ja auch ein wesentliches Moment seines fortschrittlich-dialektischen Denkens begründet. Vor diesem Hintergrund erscheint es nachvollziehbar, dass Forster die rasche Veröffentlichung eines indische und persische Begriffe umfassenden Glossars mit dem Argument anmahnt, »daß auch Leser, die weiter nicht mit orientalischen Sprachen und indischer Geschichte bekannt sind, sich Raths erholen könnten.«314 Diese Bemühung, das eurozentrische Blickfeld nach Osten hin zu erweitern, stellt Forster in die Nähe von Goethe, dessen produktive Auseinandersetzung mit dem Orient eines der wesentlichen Momente seines interkulturell ausgerichteten Weltliteraturkonzeptes darstellt.315 Als 1789 The Indian Vocabulary veröffentlicht wird, betont Forster die Relevanz eines solchen Wortregisters u. a. im Hinblick auf die Erweiterung der Kenntnisse über die indische Geschichte.316 Freilich zeichnen diese Ideen Forsters kosmopolitisches Denken im Allgemeinen aus. Im Besonderen stehen sie aber symptomatisch für dessen Suche nach einem interkulturellen Zugang zur indischen Kultur und Geschichte – einer Suche, die er in einem Brief vom 15. März 1790 an Sophie La Roche mit der Bitte konkretisiert, sie möge ihm helfen, den Kontakt zu Warren Hastings, dem soeben aus Ostindien zurückgekehrten Generalgouverneur, herzustellen: Ich wünsche diesen interessanten Mann und diese interessante Frau, Ihre Freunde, kennen zu lernen, und wünsche, da mein Studium des Menschen und der Natur es mit sich bringt, mich von Indien und seinen Bewohnern mit beiden zu unterhalten, um zu sehen, wie viel ich von meinen Otahaitiern im Indier wieder finden kann, von dem sie doch wahrscheinlich entsproßten.317

Zweierlei verdient hier besondere Aufmerksamkeit. Zum einen die Bezugnahme auf die nunmehr fünfzehn Jahre zurückliegende Weltreise. Dabei wird deutlich, auf welche Weise diese Reise das Fundament für Forsters späteres interkulturelles Denken gelegt hat. Zum anderen fällt die Hypothese von der Verwandtschaft zwischen Indern und Tahitiern auf, die sich bereits in Forsters Polemik gegen Kant abzeichnet und einen anthropologischen Impetus erkennen lässt, was er selbst als Grund für seinen Londoner Besuch angibt. In London stößt Forster völlig unerwartet auf das von Hastings mitgebrachte SanskritDrama Sakontala des Dichters Kalidasa, dessen Lebzeit im ersten Jahrhundert vor Christus angegeben wird – eine Entdeckung mit weitreichenden intellektuellen und interkulturellen Folgen, wie sich herausstellen sollte. Mit Begeisterung übersetzt er das Stück aus dem Englischen, so dass es bereits Anfang April 1791 auch in deutscher Sprache erscheint. Die Besonderheit, die der Sakontala-Übersetzung zukommt, lässt sich am besten herausstellen, wenn man daran erinnert, dass Forsters Übersetzungstätigkeit sehr ausgeprägt ist. Obwohl sie nach der Feststellung Jörg Eslebens keine Systematik aufweist318, liegt

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AA XI, S. 131. Hierzu Vgl. Yomb May, Goethe, Islam, and the Orient: The Impetus for and Mode of Cultural Encounter in the West-östlicher Divan, in: James Hodkinson, Jeffrey Morrisson (Hg.), Encounters with Islam in German Literature and Culture. New York 2009, S. 89–107. Vgl. AA XI, S. 198. Ebd. Vgl. Jörg Esleben, Übersetzung als interkulturelle Kommunikation bei Georg Forster, in: GeorgForster-Studien IX (2004), S.165–179, hier S. 166.

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Forsters zentrales Anliegen darin, den in Deutschland herrschenden Mangel an unmittelbaren Erfahrungen über fremde Kulturen wenigstens auf diesem Weg zu kompensieren. Vor diesem Hintergrund sind Forsters Übersetzungen der europäischen Reiseberichte sowie die Übertragung des Sankontala-Dramas ins Deutsche in das »Projekt der interkulturellen Vermittlung« einzuordnen.319 Dies macht schon die Widmung plausibel, die Forster an seinen Schwiegervater, den Altertumsforscher Heyne, richtet: Wenn ich des Abends nach vollbrachter Arbeit mit dieser Blume Indiens spielte, war mir oft gegenwärtig, wie angenehm es einen mit der Phantasie der Griechen, der Römer und anderer berühmten Völker vertrauten Geist beschäftigen müßte, dieses Werk mit den Dichtungen ihrer Kindheit zu vergleichen und wahrzunehmen, wiefern die schöpferische Energie des Menschen sich in ihren Äusserungen überall gleich bleibt, und wie sie durch Lokalverhältnisse sich verändern läßt. Wem wird es nun nicht einleuchten, warum ich diese litterarische Seltenheit vor Ihren Richterstuhl bringe? Bei Ihnen selbst wird der kindliche Geist, der in diesen Blumen weht, mein Fürsprecher seyn, wenn ich sie zum Kranz für die ehrwürdigen Schläfe des besten Vaters weihe.320

Die verschiedenen Gründe, die Forster hier für seine Hinwendung zur Literatur der Inder nennt, unterstreichen insgesamt nicht nur sein Selbstverständnis, sondern auch seinen Anspruch als Universaldenker im Zeitalter der Aufklärung. Die Kenntnis der indischen Kultur ist für ihn die Prämisse dafür, dem früheren Stadium der eigenen Kultur auf der einen und dem Einfluss des Lokalen auf das Verbindende von Menschen und Kulturen auf der anderen Seite nachzuspüren. Hier gilt die Bewunderung aber zunächst der Harmonie zwischen Mensch und Natur, die Forster bereits auf Tahiti kennen und schätzen gelernt hatte. Diese von Forster immer kritisch reflektierte Harmonie, die er in seinem Aufsatz Die Kunst und das Zeitalter (1789) als wesentliches Moment der antiken Kunst beschreibt, wird insbesondere in der Jagdszene des ersten Aufzugs des Sankontala-Dramas deutlich: Sakontala (vorwärts sehend): Jener Amrabaum, meine Lieben, winkt mit den Fingerspizen seiner Blätter, die der Wind leise bewegt; er will uns ein Geheimnis ins Ohr säuseln. Ich muß ihm näher treten. (Sie nähern sich alle dem Baum.) Priyamwada. O meine Sakontala, laß uns ein Weilchen hier im Schatten bleiben. Sakontala. Warum nun eben hier? Priyamwada. Weil der Amrabaum mit dir vermält zu seyn scheint, die du in voller Anmuth der blühenden Winde gleichst, welche sich um ihn schlängelt.321

Das pantheistische Weltbild, das sich aus dem Dialog zwischen Sakontala und Priyamwada herauskristallisiert, mag einer der Gründe sein, warum Forster eine Verbindung zwischen Tahitiern, Indern und den Altgriechen herstellt, die zwar in keinem diachronischen Verhältnis zueinander stehen, jedoch ein Tertium comparationis aufweisen: Die besondere Stellung des Topos Natur in dem jeweiligen historischen und kulturellen Kontext.

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Ebd. AA VII, S. 278. AA VII, S. 298.

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Betrachtet Forster das harmonische Zusammenwirken zwischen Mensch und Natur, wie es in Sakontala vorkommt, als ein Desiderat in der eigenen durch den wissenschaftlichen Fortschritt einseitig geprägten europäischen Kultur, so ist dies mitnichten der einzige Grund, warum er dem deutschen Publikum seiner Zeit ein dichterisches Werk der altindischen Kultur zugänglich macht. Als weiterer wichtiger Impetus weist David Simo auf die »Vorstellung von der Existenz einer allgemeinen Menschheit mit lokalen Unterschieden«322 hin, die Forster bereits in seiner Reise um die Welt andeutet und in der Vorrede seiner Sakontala-Übersetzung mit den Worten unterstreicht, daß die zartesten Empfindungen, deren das menschliche Herz fähig ist, sich so gut am Ganges und bei dunkelbraunen Menschen, wie am Rhein, am Tyber, am Ilissus bei unserem weissen Geschlechte äußern konnten.323

Schon in seinem Weltreisebericht, in dem er seine Sympathie für manche Inselvölker bekundet, bemängelt Forster mehrfach, dass sich die mitreisenden Europäer gegenüber den Insulanern unempfindsam verhalten würden. Paradigmatisch erscheint jene Szene in Neuseeland, wo die Entdecker im November 1773 mit dem Kannibalismus konfrontiert werden: Herr Pickeersgill wünschte den Kopf [des getöteten jungen Mannes, Y.M.] an sich zu kaufen, und solchen zum Andenken dieser Reise mit nach England zu nehmen. Er bot also einen Nagel dafür und erhielt ihn […] Als er mit seiner Gesellschaft an Bord zurück kam, stellte er ihn oben auf das Geländer des Verdecks zur Schau hin. Indem wir alle darum her waren ihn zu betrachten, kamen einige Neu-Seeländer vom Wasserplatze zu uns. Sobald sie des Kopfes ansichtig wurden, bezeugten sie ein großes Verlangen nach demselben, und gaben durch Zeichen deutlich zu verstehen, daß das Fleisch von vortreflichem Geschmack sey. Den ganzen Kopf wollte Herr Pickersgill nicht fahren lassen, doch erbot er sich ihnen ein Stück von der Backe mitzutheilen, und es schien als freuten sie sich darauf. Er schnitt es auch würklich ab und reichte es ihnen; sie wolltens aber nicht roh essen, sondern verlangten es gar gemacht zu haben. Man ließ es also, in unsrer Gegenwart ein wenig über dem Feuer braten, und kaum war dies geschehen, so verschlungen es die Neu-Seeländer vor unsern Augen mit der größten Gierigkeit. Nicht lange nachher kam der Capitain mit seiner Gesellschaft an Bord zurück, und da auch diese Verlangen trugen, eine so ungewöhnliche Sache mit anzusehen, so wiederholten die Neu-Seeländer das Experiment noch einmal in Gegenwart der ganzen Schiffsgesellschaft. Dieser Anblick brachte bey allen denen die zugegen waren, sonderbare und sehr verschiedne Würkungen hervor […] Nur allein Maheime, der junge Mensch von den Societäts-Inseln, zeigte bey diesem Vorfall mehr wahre Empfindsamkeit als die andern alle. […] Er wandte die Augen vom dem grässlichen Schauspiel weg, und floh nach der Cajütte, um seinem Herzen Luft zu machen.324

Obwohl diese Passage in der Forschung oft zitiert wird, wurde bisher kaum darauf aufmerksam gemacht, dass es Forster dabei um einen Kontrast geht, dem das Phänomen des Kannibalismus nur als Ventil dient. Allein dem Insulaner Maheime schreibt Forster eine der Situation angemessene Verhaltensweise zu. Den Europäern dagegen attestiert er

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David Simo, Forsters Sakontala Übersetzung des Sanskrit-Dramas Sakontala. Voraussetzungen und Bedeutung einer Kulturvermittlung, in: Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken. (2003), S. 46–61, S. 51. AA VII, S. 287. AA II, S. 403f. H.i.O.

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eine naturwidrige Haltung, die sich in der umgekehrten Bewertung des Tahitiers spiegelt. Die Europäer schienen, so Forster, dem Eckel zum Trotze, der uns durch die Erziehung gegen Menschenfleisch beygebracht worden, fast Lust zu haben mit anzubeißen, und glaubten etwas sehr witziges zu sagen, wenn sie die Neu-Seeländischen Kriege für Menschen-Jagden ausgaben. Andre hingegen waren auf die Menschenfresser unvernünftigerweise so erbittert, daß sie die Neu-Seeländer alle todt zu schießen wünschten, gerade als ob sie Recht hätten über das Leben eines Volks zu gebieten, dessen Handlungen gar nicht einmal für ihren Richterstuhl gehörten!325

Es handelt sich um äußerst kritische Worte, welche die reflexive Dimension in Forsters Denken deutlich macht. Gerade das unreflektierte Verhalten und dabei insbesondere die mangelnde moralische Distanz der Entdecker gegenüber dem Geschehen führen Forster das Problem der Selbstverständlichkeit der europäischen Aufklärung vor Augen. Er führt das Verhalten seiner Landsleute auf eine zwar aufgeklärte, aber, wie die Kannibalismusszene deutlich macht, unausgeglichene Erziehung zurück. Dabei formuliert er den kritischen Gedanken, dass Europäer nicht zu einer gefühlsmäßigen Anteilnahme an ihrem außereuropäischen Mitmenschen in der Lage seien. In Bezug auf die Kannibalismusszene notiert er über den Tahitier Maheime: »Seine Empfindlichkeit ist für gesittete Europäer, die so viel Menschenliebe im Munde und so wenig im Herzen haben, warlich, eine demüthigende Beschämung.«326 Auch fällt Forster beim Abschied von der Insel Borabora im September 1773 auf, dass die Insulaner im Gegensatz zu den europäischen Entdeckern ihren Empfindungen freien Lauf lassen: Ihre Thränengüsse schienen manchem von uns vorzuwerfen, daß er unempfindlich sey; und in der That scheint man bey unsrer Erziehung den natürlichen Bewegungen des Herzens zu viel Einhalt zu thun; man will, daß wir uns derselben in den mehresten Fällen schämen sollen, und darüber werden sie endlich unglücklicherweise ganz unterdrückt. Auf diesen Inseln hingegen, lassen die unverdorbnen Kinder der Natur allen ihren Empfindungen freyen Lauf und freuen sich ihrer Neigung für die Nebenmenschen.327

Klaus Harpprecht hat zwar mit Recht eingewandt, dass Forster entgangen zu sein scheint, »daß die Tränen in der Gesellschaft der Insel eine zeremonielle Bedeutung hatten und nicht immer den Gefühlen der Beteiligten entsprachen«328, doch kann man nicht darüber hinweg sehen, dass Forsters Kritik einer emotionalen Lücke der Aufklärung gilt, die sich wie ein roter Faden in der Reise um die Welt zieht. Offenbar bedient sich Forster dieser Kontrastfiguren, um ein Manko in den als »gesittet« geltenden Gesellschaften ins Bewusstsein zu rufen.329

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Ebd. AA III, S. 16f. AA II, S. 335. Klaus Harpprecht, Georg Forster oder die Liebe zur Welt, S. 124. Johann Reinhold Forster kommentiert das unterschiedliche Verhalten der Europäer auf der einen und Maheime auf der anderen Seite als »A proof that all our artificial Education, our boasted civilization, our parade of humanity & Social virtues, was in this case outdone by the tender tears & feelings of the innocent, goodnatured boy, who was born under the benign influence of

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Diese emotionale Lücke führt Forster in seinem Essay Über Lokale und allgemeine Bildung auf die einseitig rationale Ausrichtung der zeitgenössischen Erziehung zurück, die er zum Teil scharf kritisiert: Abwerfen müssen wir, um bloße, vernünftige Menschenhülsen zu werden, die unbegreifliche Essenz selbst unseres Wesens, die sich in der ihr zugetheilten Spontaneität des Wirkens und Empfangens, ihres Daseins erfreut; denn nicht Empfindung, sondern der Buchstabe des Gesetzes befiehlt uns fortan, was wir bewundern oder lieben, wann wir lachen oder weinen sollen.330

Dieser Aufsatz stellt, wie bereits gesehen, eine der wichtigsten Grundlagen für Forsters anthropologisches Denken dar. Allerdings wird die darin postulierte Vorreiterfunktion der europäischen Kultur dadurch relativiert bzw. aufgelockert, dass die in Indien anzutreffende Ausprägung der Humanität als Modell für Europa ausdrücklich empfohlen wird: Durch wissenschaftliche Verfeinerung in Kenntnissen und Sitten zu einer künstlich abgemessenen, raisonnirten Lebensweise gestimmt, könnten wir aber leicht des einfachen Naturgefühls entwohnen, wenn wir es nicht in den Geisteswerken solcher Nationen wieder fänden, die bis zu unserer komplicirten Ausbildung nicht hinangestiegen sind. Aus diesem Gesichtspunkte darf uns die Litteratur der Indier nicht gleichgültig seyn. Hier öfnet sich unserm Gefühl und unserer Phantasie ein ganz neues Feld, eine vorzüglich schöne Individualität des menschlichen Charakters.331

Angesichts der bereits erörterten Erkenntnis von der Pluralität der Kulturen mag Forster bei der Übersetzung des Sakontala-Dramas von dem Gedanken getrieben worden sein, »dass die Größe einer Kultur gerade in der Kenntnis und Aufnahme anderer Kulturen« liegt.332 In diese Richtung zielt auch Esleben, wenn er Forsters Übersetzungstätigkeit im Allgemeinen und die Übertragung des indischen Dramas ins Deutsche insbesondere als Modus der interkulturellen Kommunikation beschreibt: Forster situiert die Übersetzung in einem Projekt, das gegen die einseitig rationale Entwicklung der europäischen Kultur gerichtet ist. Er gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Bekanntmachung mit Geistesprodukten anderer Kulturen diese Einseitigkeit überwinden und europäisches Gefühl, Fantasie und ästhetischen Sinn anregen wird.333

Forster steht, wie bereits erwähnt, mit der Einsicht in die Notwendigkeit der geistigen Überbrückung der Kulturen und Völker nicht allein da. Diesen kosmopolitischen Blick teilen auch andere Gelehrte der damaligen Zeit, so etwa Gotthold Ephraim Lessing, der mit seinem 1799 veröffentlichen Drama Nathan der Weise den Horizont der Aufklärung nachhaltig geprägt hat334, oder Johann Wolfgang Goethe, der im West-östlichen Divan nicht nur das Persische und das Deutsche zu verbinden, sondern auch eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen beabsichtigt.

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the Sun within the Tropics [...] where it seems cruelty & ferociousness have not so much gained ground, as to destroy the principles of humanity.« (The Resolution Journal III, S. 427.) AA VII, S. 52. Ebd., S. 286f. David Simo, Forsters Sakontala Übersetzung des Sanskrit-Dramas Sakontala, S. 51. Jörg Esleben, Übersetzung als interkulturelle Kommunikation, S. 174. Michael Hofmann, Aufklärung. Tendenzen – Autoren – Texte. Stuttgart 1999.

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Die Erkenntnis, dass sich eine Kultur nur dann fortentwickelt, wenn sie sich anderen Kulturen öffnet und mit diesen eine gegenseitige Befruchtung eingeht, liegt am Ende des 18. Jahrhunderts in der Luft. Diese Erkenntnis bewirkt, wie etwa Goethe in seinem 1779 erschienenen Drama Iphigenie auf Tauris thematisiert335, eine Überwindung des im nationalen Rahmen vollzogenen kulturellen Selbstverständnisses mit der Folge, dass ein kosmopolitischer Horizont in die Reflexion über den universellen Standort der Kulturen Einzug hält. In diesem Sinne hat Forster in seiner Beschäftigung mit der indischen Dichtung, aber auch mit europäischen Literaturen qua Übersetzung jenen grundlegenden interkulturellen Horizont antizipiert, den Goethe in seinem vielzitierten Begriff »Weltliteratur« erst 1827 formulieren sollte. Forsters Umgang mit dem Sakonta-Drama belegt sein Bewusstsein für die Funktion von Literatur als Medium der interkulturellen Kommunikation.336 Durch die Vermittlung fremdkultureller Literatur zielt er auf die Dekonstruktion ethnozentrischer Vorurteile ab. Die Übersetzung stellt für ihn also eine geistige Alternative zum Ethnozentrismus dar. Dieses Projekt hat Forster sicherlich im Sinn, wenn er in seinem Aufsatz Über Leckereyen »den wechselseitigen Einfluß der Völker« als Beitrag zu »einem vollkommenen Ganzen« befürwortet. 337 Die Dimension von Forsters Beitrag zur Herausbildung einer interkulturellen Denkrichtung in der Spätaufklärung zeigt sich schon in der katalysierenden Wirkung seiner Übersetzung des altindischen Dramas »Sakontala«. Darauf wird nämlich die Entstehung der Indologie in Deutschland der Frühromantik zurückgeführt.338 Kein Geringerer als Johann Gottfried Herder lobt den inzwischen verstorbenen Forster in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität (1796) als jenen Gelehrten, »der uns mit den Gedanken andrer Nationen verknüpfet.« Forsters Sankontala-Übersetzung sei eine jener genialen Leistungen, die »uns ins Universum sämmtlicher gebildeter Nationen versetzen, und auf unserm einsamen Gange von ihnen uns Licht und Hülfe zufördern.«339 Auch in der Vorrede der 1803 erschienenen Sakontala-Ausgabe wird Forster von Herder ausdrücklich als Mittler zwischen Kulturen hervorgehoben: Ein zweites gutes Schicksal waltete über die Sakontala, das sie zur Deutschen Uebersetzung dem gleichfalls vielverdienten und auch wie Jones zu frühe dahingegangenen G. Forster in die Hand kam. Er, beider Sprachen und der Naturgeschichte Indiens kundig, dabei ein Mann von Geschmack und zartem Gefühl, bereicherte seine Uebersetzung mit Erläuterungen, deren das Englische Original entbehret; treffende Erläuterungen auch für andre Poesien der Inder, die

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Vgl. dazu Yomb May, »Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?« – Goethes Drama Iphigenie auf Tauris als xenologisches Paradigma, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie. Justin Stagl zum 60. Geburtstag. Würzburg 2002, S. 186–196. Leo Kreutzer, Für eine andere Moderne. Noch einmal: Goethes Vorstellung von Weltliteratur, in: Welfengarten. Jahrbuch für Essayismus ( 1999), S. 79–92. AA VIII, S. 168. Vgl. Gerhard Steiner, Kalidasas Sakontala oder die deutsche Entdeckung Indiens, in: Detlef Rasmussen (Hrsg.), Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethe-Zeit. Tübingen 1988, S. 59–68, hier S. 67. Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, S. 768.

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ohne Känntniß der Naturgeschichte dortiger Gegend einen großen Theil ihrer Anmuth verlieren. Uns Deutschen wird G. Forsters Name eben auch mit der Sakontala in lieblichem Andenken leben.340

Das Indienbild Forsters, das durch seine positive Ausstrahlung besticht, hat indes mit der apodiktischen Idealisierung außereuropäischer Kulturen nichts zu tun. Das Fremde, nämlich die »orientalische Humanität«341, welche durch das indische Drama vermittelt wird, wird nicht als positive Alternative suggeriert, sondern diese orientalische Prägung der Humanität bietet sich vielmehr »als eine Möglichkeit der [...] Ergänzung und Bereicherung«342 des Eigenen der europäischer Kulturen. »Eine Menge erhabener sowohl als zarter Vorstellungen finden sich hier, die man bei einem Griechen vergebens suchen würde«343, so Herder, der in den Briefen zur Beförderung der Humanität an Forsters Konzeption einer »allgemeinen Bildung« anknüpft. Auf dem Weg von der Südsee nach Europa notiert Forster bei einem Empfang in Capetown, »daß wahres Verdienst nicht auf gewisse Erdstriche oder Völker eingeschränkt ist.«344 Die kosmopolitische Bildung, wie sie Forster auch durch die Sankontala-Übersetzung anstrebt, ist nicht nur auf alle Menschen übertragbar, sondern sie besticht auch durch die Förderung der interkulturellen Kompetenz. In ihr liegt die Forderung nach einer »Aneignung der in allen Kulturen enthaltenen Bruchstücke, die erst zusammengefügt das Allgemeinmenschliche ausmachen.«345 In seinen Reisebeschreibungen und seinen zahlreichen Übersetzungen versucht Forster den Deutschen die Literatur und Kultur anderer Kulturgemeinschaften zu erschließen und »ihnen den Blick [zu] weiten.«346 Dass er dabei antiethnozentrischen Prämissen von der wechselseitigen Bereicherung von Kulturen folgt, liegt auf der Hand. Somit sind Kenntnisse der indischen Kultur, die den Blick auf die eigene Kultur relativieren und erweitern, integrierbar in die Idee der interkulturellen Bildung, in der Forster erkenntnistheoretisch das Postulat der modernen Interkulturalitätsforschung vorweg nimmt. Das hervorzuheben ist deshalb von großer Bedeutung, weil wir uns dadurch dezidiert ins Bewusstsein rufen können, dass Forsters Frühwerk einen intellektuellen Vorgriff in die damals sich ankündigende komplexe Entwicklung zur Moderne dokumentiert.

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Johann Gottfried Herder, Vorrede zur zweiten Ausgabe von G. Forsters »Sakontala«, in: Herders Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, XXIV, Berlin 1886, S. 476f. Gerhard Steiner, Kalidasas Sakontala oder die deutsche Entdeckung Indiens, S. 66. David Simo, Georg Forsters Übersetzung des Sankrit-Dramas Sakontala, S. 61. Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, S. 767. AA III, S. 415. David Simo, Georg Forsters Übersetzung des Sankrit-Dramas Sakontala, S. 55. Marita Metz-Becker, Kulturvermittlung als Fortschrittsprogramm, S. 184.

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VIII. Schlussbetrachtung

Neben Goethes Italiänischer Reise (1816–17) steht Georg Forsters Reise um die Welt in der Geschichte des Reiseberichts deutscher Sprache einzigartig da. Das Werk überragt die Reiseberichte anderer Weltreisender seiner Zeit allein schon durch das heuristische Moment der hier beschriebenen Dialektik der Kulturbegegnung. Zentral dabei ist die Erkenntnis, dass nur die wenigen reisenden Europäer des späten 18. Jahrhunderts im Begegnungsprozess mit außereuropäischen Kulturen realisierten, wie aufklärungsbedürftig die europäische Aufklärung ist. Forster hat wie keiner seiner Zeitgenossen eurozentrische Perspektiven in Frage gestellt. Statt einen weltweiten Siegeszug der europäischen Rationalität und Aufklärung zu feiern, zeichnet und vermittelt er ein mahnendes Bild, mit dem der Autor aus einer explizit interkulturellen Perspektive verstärkt doppelte Aufklärung leistet. Die Wirklichkeit der Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts spricht weder für die sentimentalen Idealvorstellungen vom natürlichen Menschen noch für die reine Erlösung der außereuropäischen Kulturen durch den Segen der Aufklärung und Zivilisation. Diese Erkenntnis bildet so etwas wie einen ›elastischen Punkt‹ in Forsters literarischer Weltreise. Umso größeres Gewicht bekommt das methodische Unterfangen der vorliegenden Arbeit, in Forsters ethnographischer Praxis jene Spurenelemente einer reflexiven Aufklärung zu erschließen, die den Blick auf das ›Andere‹ der europäischen Kultur mit einer kritischen Reflexion dieser europäischen Aufklärung verbindet. So sinnvoll eine vollständige Erschließung unseres Globus gewesen sein mag, so verhängnisvoll war es doch, dass im Laufe der Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts die angestrebten positiven Effekte der Aufklärung durch die Vertreter der europäischen Aufklärung selbst teilweise wieder aufgehoben wurden. Damit warf der Prozess der Aufklärung seinen Schatten voraus. Die in der vorliegenden Studie vorgenommene Analyse des Weltreiseberichts Georg Forsters bringt Licht in die Dialektik des europäischen Aufklärungsprojekts im Kontext der Entdeckung der Südsee im 18. Jahrhundert. Ausgehend von dem erkenntnistheoretischen Postulat, dass Kulturbegegnungen, so wie sie in Berichten über europäische Entdeckungsfahrten vermittelt werden, ein xenologisches Denkmodell konstituieren, begründet die vorliegende Arbeit, dass sich der Südsee-Bericht Georg Forsters und die von diesem beeinflussten weiteren Schriften des Autors in besonderer Weise für eine moderne kulturwissenschaftliche Reflexion anbieten. Sie legen Kulturbegegnungsprozesse offen, die charakteristisch für den Beginn unserer Moderne sind. Zu ihrem Verständnis hat Forster wie kaum ein anderer Weltreisender und Gelehrter vor ihm einen nachhaltigen Beitrag geleistet, wobei er in seinem Weltreisebericht die Annäherung zwischen der europäischen und der südpazifischen Welt im Kontext der Entdeckungsreisen der Spätaufklärung als dialektisches Moment reflektiert. Dabei 304

kristallisiert sich ein kosmopolitisches Denken heraus, das die Tradition der Aufklärung, der Forster geistesgeschichtlich verpflichtet ist, aufzubrechen versucht. Auf diese Weise ermöglicht Forsters Werk eine Vorausschau in die Fremdheits- und Interkulturalitätsprobleme unserer Zeit. Entscheidend dabei ist die durchgehende postkoloniale Kritik avant la lettre. Problematisiert wird das zementierte Selbstverständnis des Westens, einseitig zu dekretieren, was die Zivilisation und ihr Gegenteil sei, und welche Werte bzw. Anschauungen es verdienen, universell geltend gemacht zu werden. In diesem Kontext eröffnet Forsters Bericht über die zweite Weltreise Cooks einen historischen Rückblick auf den Prozess der Begegnung zwischen der westlichen Kultur und der Südsee am Ende des 18. Jahrhunderts. Dabei wird deutlich, dass Cooks Weltreisen in dem geistesgeschichtlichen Umbruchkontext der Spätaufklärungszeit stattfinden, in dem insbesondere die bis dahin unbekannte und unerforschte Südsee der wissenschaftlichen Offensive Europas unterworfen wird. Vor diesem Hintergrund stellen die Entdeckungsreisen, wie sie als wissenschaftliche Unternehmungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unternommen werden, Teile eines umfassenden Projekts der Aufklärung dar, bei dem die märchenhaften Vorstellungen über die Südsee dem rationalen Erkenntnisanspruch weichen sollten. Die Südsee, die in den Reiseberichten bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als Topos für das Bild des Fremden, insbesondere als Inbegriff des exotischen Kuriosums vermittelt wird, nimmt auch in Forsters Reisebericht zunächst als Refugium für Relikte zivilisationskontrastierender Projektionen Gestalt an. Damit verbunden ist eine diskursive Entgrenzung der Südseekulturen und Menschen durch eine xenische Ikonografie, durch die Insulaner als Antipoden des ›Zivilisierten‹ erscheinen. Doch belegt dieser projektive Erwartungshorizont die Theorie der kulturellen Kodifikation von Fremdheit im Reisebericht, so macht die vorliegende Untersuchung eine entscheidende Zäsur im Werk und Denken Forsters aus: Anders als seine Vorgänger zeichnet sich Forster durch den Versuch aus, die zu Klischees erstarrte Konstruktion der Südsee als Paradies aufzubrechen, indem er seinem Weltreisebericht die empirische Methode der Erkenntnissuche zugrunde legt. Dank dieser Methode, die eine kritische Musterung der älteren Reiseberichte einschließt, gelingt es Forster die europäischen Mythen vom »irdischen Paradies« in der Südsee zu revidieren. Forster zeichnet sich, davon legen seine Reiseberichte deutliches Zeugnis ab, durch seinen an den Fakten der beobachteten Welt orientierten Zugang zur Wirklichkeit aus. Doch verabsolutiert er die Erfahrung nicht, auch wenn er sie als Basis für die gesicherte Erkenntnis postuliert. Seine Bemühung, Erfahrung und Reflexion als komplementäre Momente im Erkenntnisprozess zu synthetisieren, stellt einen Beitrag nicht nur zur Überwindung des Hiatus zwischen Empirie und abstraktem Denken dar, sondern auch zur Begründung der interkulturellen Hermeneutik innerhalb jenes neuen Typus von Reisebeschreibung, die mit dem Epithetum »philosophisch« in die Gattungsgeschichte eingegangen ist. Der philosophische Anspruch, mit dem Forster auftritt, ist zugleich Programm. Als aufgeklärter Weltreisender folgt er zunächst dem Prinzip der empirischen Überprüfung tradierter Vorstellungen der Südsee mit dem Ziel, überkommenen Mythen der Peripherie entgegenzuwirken. Entsprechend macht die vorliegende Untersuchung deutlich, dass 305

Forster nicht nur die Quellen, sondern auch jene konkreten Aporien reflektiert, mit denen der europäische Ethnograf seinerzeit konfrontiert war, nämlich einerseits die mitgebrachten Vorurteile, welche eine objektive Darstellung »fremder« Verhältnisse erschweren und andererseits die praktischen Grenzen ethnographischer Erfahrung. Beide Paradigmen markieren die Pole, zwischen denen Forster die Relativierung des Reiseberichts als Quelle ethnographischen Wissens vornimmt. Er führt vor Augen, dass die ethnographische Erfahrung nur einen begrenzten und perspektivierten Zugang zur Kultur der Einheimischen vermittelt. Von paradigmatischer Bedeutung ist ebenfalls die Erkenntnis, dass die Weltreisen des 18. Jahrhunderts das ›pazifische Paradies‹ nicht gefunden haben. Forster, der den aufklärerischen Anspruch seines Reiseberichts damit deutlich unterstreicht, bietet nicht vordergründig den Blick auf die Exotik an, sondern er versucht, die kulturellen und anthropologischen Grundbedingungen der von ihm bereisten Inseln so weit wie möglich sachlich zu erfassen und sie mit der europäischen Kultur zu kontrastieren. Dabei stößt er auf überraschende Parallelen, welche die in der (Reise)Literatur der Spätaufklärung weitverbreitete Verklärung der Südsee infrage stellen. In diesem Zusammenhang zeigt die vorliegende Untersuchung, dass die Vermittlung der Weltreise als Prozess der Kulturbegegnung zu den zentralen Dimensionen des Reiseberichts Georg Forsters gehört. Hier konnte deutlich gemacht werden, dass Forsters reflektierte Darstellung der Begegnung zwischen Mitgliedern der Forschungsexpedition und den Südseeinsulanern in exemplarischer Weise die Widersprüche der Entdeckungsfahrten der Aufklärungszeit in Form einer Dialektik belegt. Die Widersprüchliches zulassende Form des Reiseberichts erlaubt Einblicke in die Ambivalenzen im Denken Forsters. Dass Forster sich selbst keineswegs ganz aus seinen eigenen »Nationalvorurteilen« befreien kann, liegt auf der Hand, doch immerhin – und darin ist er vielen seiner Zeitgenossen weit voraus – nimmt er sie soweit wahr, dass er sie jeweils zu markieren und dadurch zumindest ansatzweise zu relativieren versucht. Von zentraler Bedeutung ist, dass das vermittelte Weltbild keine bloße Dichotomie, sondern einen dynamisch geprägten multikulturellen Raum darstellt, der nicht zuletzt in anthropologischer Hinsicht den Prinzipien der Vielfalt in einem zusammenhängenden Ganzen unterworfen ist. Dabei vollzieht Forster sowohl unter theoretischen als auch unter praktischen Gesichtspunkten einen Erkenntnisgewinn, mit dessen Hilfe er die im Universaldenken des 18. Jahrhunderts festgeschriebene Repräsentation außereuropäischer Kulturen als Antipode der Aufklärung und der Zivilisation durchbricht. Hinter Forsters Engagement für die Inbesitznahme der entdeckten Südseeinseln durch seine Wahlheimat England konnten zwei wichtige Motive herausgearbeitet werden. Zum einen handelt es sich um konkrete wirtschaftliche und politische Interessen, die sich aus der machtpolitischen Konstellation seinerzeit heraus erklären lassen. Zum anderen ist dabei eine kosmopolitische Fortschrittsideologie wirksam, die den Fortschritt als einen notwendigen und zugleich antagonistischen Prozess aller Kulturen expliziert. In beiden Motiven wird aber der Idee der Gleichheit zwischen Völkern, die in Forsters Forderung nach der Erkennung und Pflege der Differenz ansatzweise zum Ausdruck kommt, bis zum Widerspruch relativiert. Damit konnte erwiesen werden, dass im Kontext der Forschungsexpeditionen der Spätaufklärung Wissenschaft, Politik und Geschichtsphilo306

sophie Hand in Hand gehen und somit auch in dem Reisebericht Forsters Niederschlag finden. Den positiven Leistungen der Entdeckungsfahrten stellt Forster die destruktiven Folgen gegenüber. Diese werden bereits im konkreten Umgang der Europäer mit den Einheimischen manifest. Hier konnten mit Blick auf die exzessive Gewaltanwendung gegenüber Insulanern atavistische Verhaltensweisen festgestellt werden, die Brüche und Ambivalenzen der Aufklärung sowie Forsters Einsicht in das Missverhältnis Europas zur außereuropäischen Welt vor Augen führen. Aus xenologischer Sicht erschöpft sich diese reflexive Schreibweise nicht in der Erkenntnis, dass das imaginäre »wir« der Entdecker und die imaginierten »anderen« der Insulaner keine homogenen kulturellen Größen formen. Bekräftigt wird die paradigmatische Erkenntnis, dass sich das Verhalten der Entdecker gegenüber den Insulanern nicht in jeder Hinsicht mit dem Anspruch des zivilisatorischen Auftrags verträgt. An dieser zentralen Beobachtung lassen sich Spannungen ablesen, die dem Schreibprozess der Reise um die Welt zugrunde liegen. Evident geworden ist zudem nicht nur Forsters Anspruch und Selbstverständnis als Mittler zwischen erkenntnistheoretischen Richtungen, sondern vor allem auch zwischen den Kulturen. Sowohl in seinem Bericht über die Südsee als auch in seinen Rezensionen und Übersetzungen sucht Forster Möglichkeiten zu einem Brückenschlag zwischen Europa und der außereuropäischen Welt, da er Völkerannäherung als dringende Herausforderung in einer zusammenwachsenden Welt betrachtet. Deshalb ist seine literarische Weltreise durch den ständigen Versuch geprägt, die unvereinbar scheinenden Ansprüche der Aufklärung und der Realität der Entdeckungsfahrten seiner Zeit in einen dialektischen Ausgleich zu bringen. Darin gründet sich sein Selbstverständnis als Universaldenker mit ausgeprägter interkultureller Kompetenz. In seiner Bemühung, durch eine intensive Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen neue Verstehenshorizonte zu eröffnen und das Interesse der Gelehrten des 18. Jahrhunderts auf jene Kulturen zu lenken, gewinnt der Gelehrte Forster als Kulturgeograph und Mittler zwischen Völkern deutlich an Profil. Vor diesem Hintergrund will Forsters Werk auch als ein kritisches Dokument über die Geschichte der Globalisierung und die ihr inhärente Frage des Anderen verstanden sein. Es zeigt nicht nur, dass die Forschungsexpeditionen des 18. Jahrhunderts das Dispositiv für den Beginn der Globalisierung bereitgestellt haben, es macht auch deutlich, dass es sich dabei um das Ergebnis ineinandergreifender Faktoren handelt, wobei das Denken im globalen Horizont und der Siegeszug des westlichen Expansionismus eine entscheidende Rolle spielen. Damit stellen Forsters Reflexionen über die Kulturbeziehungen eine Vorausschau auf die auch in unserer Zeit immer offenkundiger werdenden Folgelasten der europäisch-überseeischen Kulturbegegnung seit dem 18. Jahrhundert dar. Der so genannte Kampf der Kulturen (Huntington), der als eine der brisanten Entwicklungen unserer Zeit diskutiert wird, ist demnach kein originäres Phänomen der Gegenwart, sondern die Artikulation eines historischen Prozesses, der in einem asymmetrischen Kontakt der Völker seinen Ausgang nimmt. Die Frage, ob man die Begegnung zwischen Europa und der nichteuropäischen Welt in der Epoche der Aufklärung für eine Erfolgsgeschichte oder vielmehr für ein Verhängnis bzw. für beides halten sollte, 307

hat bei der Analyse von Forsters Werk nach wie vor ihre Berechtigung. Insbesondere ist deutlich geworden, dass dem Ruf nach einer weltweiten Implementierung der europäischen Rationalität Macht- und Herrschaftsmechanismen zugrunde lagen, welche die europäische Aufklärung in einen bis heute andauernden Widerspruch zu anderen Kulturen und zu sich selbst bringen sollten. In dieser dialektischen Grundlage, wie sie auch die moderne Kulturbegegnung im Zeitalter der Globalisierung prägt, verbirgt sich nicht zuletzt der Anreiz, Forsters Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive zu erschließen – nicht jedoch, um allgemein verbindliche, als für oder wider auslegbare Antworten zu formulieren, sondern vielmehr, um den historischen Prämissen und Mechanismen der von Forster prognostizierten Gestaltung der modernen Weltgesellschaft nachzuspüren und sie zu reflektieren. Das Werk Reise um die Welt, das ein exzellentes Beispiel für die Aufklärung der Aufklärung darstellt, macht bereits deutlich, warum Forster sich in seinem bewegten Leben mit einem nationalen oder eurozentrischen begrenzten Weltbild nicht abfinden konnte. Doch dieses Werk dokumentiert auch das Scheitern des Gelehrten Forster an den eigenen Ansprüchen. Forster bleibt in seiner aufklärungskritischen Perspektive insofern inkonsequent, als er die europäischen Dominanzansprüche nur punktuell hinterfragt, sodass sich sein Verständnis von zentralen Begriffen wie Kultur und Zivilisation nicht die Antwort, sondern die Frage aufwirft, wie sich Kulturkontakte ohne ethnozentrischen Pathos gestalten sollten. Diese Frage bleibt auch in der literarischen Weltreise in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit ebenso zurück wie die nagenden Zweifel, in denen Forsters Bewusstsein von der Dialektik der Kulturbegegnung eine seiner markantesten Ausdrucksformen gefunden hat.

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IX. Literaturverzeichnis

1.1

Georg Forster (Akademie-Ausgabe AA)

Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für Deutsche Sprache und Literatur (ab 1974: Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Literaturgeschichte, ab 2003: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften). Bd.1ff. Berlin 1958ff. (Zitiertitel: AA). –





















A Voyage Round the World. Bearb. v. Kahn, Robert L., in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. I. 2. unveränderte Aufl. Berlin 1989. (Zitiertitel: AA I). Reise um die Welt. 2 Bde. Bearb. v. Gerhard Steiner, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd II. u. III. 2. unveränderte Aufl. Berlin 1989. (Zitiertitel: AA II u. III). Streitschriften und Fragmente zur Weltreise. Erläuterungen und Register zu Band I–IV. Bearb. v. Kahn, Robert L., Steiner, Gerhard u. a. in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. IV 2., unveränderte Aufl. Berlin 1989. (Zitiertitel: AA IV). Kleine Schriften zur Völker- und Länderkunde. Bearb. v. Fiedler, Horst, Popp, Klaus-Georg, u. a., in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaft der DDR. Bd. V. Berlin 1985. (Zitiertitel AA V). Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Sakontala. Bearb. v. Steiner, Gerhard, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. VII. Berlin 1963. (Zitiertitel: AA VII). Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte. Bearb. v. Scheibe, Siegfried, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften Berlin. Bd. VIII. 2. Aufl. Berlin 1991. (Zitiertitel: AA VIII). Ansichten vom Niederrhein. Von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790. Bearb. v. Steiner, Gerhard, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. IX. Berlin 1958. (Zitiertitel: AA IX). Rezensionen. Bearb. v. Fiedler, Horst, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Bd. XI. 2. berichtigte Aufl. Berlin 1992. (Zitiertitel: AA XI). Tagebücher. Bearb. v. Leuschner, Brigitte, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften. Bd. XII. 2. berichtigte Aufl. Berlin 1993. (Zitiertitel: AA XII). Briefe 1784–1787. Bearb. v. Leuschner, Brigitte, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. XIV. Berlin 1978. (Zitiertitel: AA XIV). Briefe Juli 1787–1789. Bearb. v. Fiedler, Horst, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. XV. Berlin 1981. (Zitiertitel: AA XV).

309





1.2

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Andere Ausgaben

A Voyage Round the World, Georg Forster hg. v. Thomas, Nicholas, Berghof, Oliver, I-II., Honolulu 2000. Georg Forster, Reise um die Welt, hg.v. Steiner, Gerhard. Frankfurt/M. 1983. Georg Forster, Werke in vier Bänden, hg. v. Steiner, Gerhard. Leipzig 1971.

2.

Historische Quellentexte

Borchard, Rudolf, Prosa III Gesammelte Werke in Einzelbänden 14 Bde hg. v. Borchard, Marie Luise. Stuttgart 1960. Bougainville, Louis-Antoine de, Voyage autour du Monde. Par la Frégatte «Boudeuse» et la Flûte «L’Etoile» suivi du Supplément de Diderot. Genève 1969. – Reise um die Welt, hg. v. Popp, Klaus-Georg. Berlin ³1980. Buffon, Georges-Louis LeClerc, Comte de, Histoire naturelle, générale et particulière, avec la description du Cabinet du Roy. 37 Bde. Paris 1749–1789. Commerson, Philibert de, (Mercure de France November 1769), abgedruckt in: Louis-Antoine de Bougainvilles, Voyage autour du monde. Genève 1969. Cook, James, The Journals of Captain Cook on his Voyages of Discovery, I: The Voyage of the Endeavour 1768–1771, hg.v. Beaglehole, John C. Cambridge 1968. – The Journals of Captain Cook on his Voyages of Discovery. [Vol] 2: The Voyage of the Resolution and Adventure 1772–1775, hg. v. Beaglehole, John C. Cambridge 1969. – The Journals of Captain Cook on his Voyages of Discovery, III: The Voyage of the Resolution and Discovery, 1776–1780, Parts 1 and 2 hg. v. Beaglehole, John C. Cambridge 1967. Descartes, René, Meditation über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg.v. Buchenau, Artur. Hamburg 1972. Diderot, Denis: »Supplément au voyage de Bougainville ou Dialoge entre A et B« in: Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde. Par la Frégatte «Boudeuse» et la Flûte «L’Etoile» suivi du Supplément de Diderot. Genève 1969. S. 319–371. Fanon, Franz, Peau noire masques blancs. Paris 1952. Forster, Johann Reinhold, Observations made during a Voyage round the World, hg. v. Nicholas Thomas, Harriet Guest u. a.. Hawaii 1996 [Zuerst London 1778]. – The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster 1772–1775. Volume III, hg.v. Hoare, Michael E.. London 1982. Gérando, Joseph Marie De, Considérations sur les diverses methodes à suivre dans l’observation des peuples sauvages, Paris 1800, S. 159. Nachdrucke in Revue d’anthropologie, Bd. VI, 2. Serie (Paris 1883). – The Observation of the Savage Peoples, hg. v. Stocking, George W. London 1969. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von Helmut der Boor, Richard Newald, Bd. VI (Neufassung von Jørgensen, Sven Aage, Bohnen, Klaus u. a. München 1990. Goethe, Johann Wolfgang von, Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, IV, Bd. 9. Weimar 1891. Hawkesworth, John (Hg.), An account of the Voyages undertaken by the order of his present Majesty of making Discoveries in the Southern Hemisphere, And successivly performed by Commodore

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 138, 153, 229, 294 Agnew, Vanessa 101 Alt, Peter André 151 Altmayer, Claus 26 Assmann, Jan 36 Axtell, James 38 Bachmann-Medick, Doris 20, 25, 32, 36f., 68, 92, 137 Bäbler, Balbina 49 Bachtin, Michael 108 Bacon, Francis 138 Baldinger, Ernst Gottfried 274 Balme, Christopher B. 200 Barner, Winfried 26 Barnouw, Dagmar 99, 216 Baßler, Moritz 27 Barth, Boris 215, 282 Baudet, Henri 66 Bausinger, Hermann 17 Bayerdörfer, Hans-Peter 39 Beaglehole, John C. 131, 182, 240, 257, 261 Beck, Hanno 48, 141 Becker, Christopher 60 Becker, Siegried 3 Beckers, Eberhard 102, 105 Beetz, Manfred 72 Begemann, Christian 26, 49, 50 Behr, Hartmut 28, 29 Benthien, Claudia 21ff. Berg, Eberhard 33, 34, 52, 112 Berger, Günter 199, 240 Berghof, Oliver 5 Bergmann, Ulrike 3 Bexte, Peter 98, 111 Bhabha, Homi K. 32, 35, 61, 211 Bhatti, Anil 38 Biester, Johann Erich 86 Bitterli, Urs 37, 55, 68, 113, 126, 134, 173, 181, 241, 252, 257, 259, 264, 268 Blanckaert, Claude 201 Blanke, Horst Walter 151 Bloch, Ernst 56

Blume, Herbert 188 Blumenbach, Johann Friedrich 85 Bodi, Leslie 56, 81 Boehm, Gottfried 31 Bödecker, Hans Erich 122 Bödecker, Wolfgang 176 Bogner, Andrea 30, 35 Böhme, Hartmut 19, 22ff., 27, 33, 39, 49, 50f., 53, 62, 65 Böhme, Gernot 49, 50, 51, 53, 62, 65 Bollacher, Martin 84 Bolte, Jürgen 195 Borchard, Marie Luise 268 Borchard, Rudolf 268 Borofsky, Robert 14, 15 Bougainville, Louis Antoine de 41f., 47, 56ff., 63, 67, 70ff., 93, 138f., 143, 145f., 155, 197, 222f. 225, 249, 254, 257f., 260, 278, 284 Bourdieu, Pierre 22 Brand, Reinhard 88 Bräunlein, Peter 234 Braun, Martin 52, 122 Bremshey, Christian 7, 29f., 35, 135, 176 Brenner, Peter J 26, 36, 38f. 99, 108 Broc, Numa 54 Buch, Hans Christoph 40 Buchenau, Artur 128 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 85, 205 Bungaree 270 Bürgi, Andreas 43 Cassirer, Ernst 93 Chatterjee, Partha 50 Clifford, James 21, 108 Cook, James 2, 4f., 13, 15, 17, 41ff., 51, 53, 58, 60, 81, 83, 94, 97f., 114, 122, 124f., 126, 131ff., 138, 140, 149, 151ff., 164ff., 169, 174, 179f., 182, 184, 190ff., 200, 205, 240, 242ff., 251, 253ff., 267, 269, 271, 275, 278, 279, 281, 287, 288, 291, 305 Commerson, Philibert de 57, 257

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Condorcet, Marie Jean Antoine, 108 Craig, William J. 170

Füssel, Stephan 292 Furgesson, Adam 227

Dalrymple, Alexander 138 Danaiyairi, Hobbles 269 Descartes, René 128 Dhawan, Nikita 211 Diderot, Denis 56, 67, 144, 146, 220, 233, 270, 276, 285 Dieterle, Bernard 25 Diop, Papa Samba 199 Dippel, Horst 4, 74, 112, 234 Douglas, James 265 Duala-M´bedy, Bonny L.J 28f., 30, 31f., 71 Duchet, Michèle 218, 237, 245 Dufresne, Marion 249

Gadamer, Hans-Geog 31 Garber, Jörn 55, 59, 84, 91, 96, 100, 111, 121, 141, 147, 161, 205, 213 Gauguin, Paul 60 Geertz, Clifford, 22, 34, 100, 225 Gérando, Joseph Marie de 120 Gerdes, Albert 188 Gilleier, Anke 108 Gilli, Marita 178, 238, 284 Gilroy, Paul 18 Glaser, Renate 19, 26, 34 Glyn, Williams 16 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 296f., 301f., 304 Göpfert, Herbert 62 Goldmann, Stefan 178, 203 Gomsu, Joseph 209, 212, 214, 269, 296 Gorzini, Mehdi Jafari 219 Graevenitz, Gerhard von 22 Greenblatt, Stephen 22, 25, 35, 263 Greif, Stefan 248f. Griep, Wolfgang 80, 139 Grimm, Gunter E. 90 Grübel, Rainer 108 Guest, Harriet 11, 14, 33, 52, 117, 127f., 259 Gumbrecht, Hans Ulrich 25 Gutjahr, Ortrud 24, 26, 29, 33

Ebert, Christa 26 Edel, Gottfried 28, 292 Edwards, Philip 182, 257 Eichner, Hans 1, 79 Eisler, William 54f., 61 Elias, Norbert, 14 Engels, Friedrich 295 Enzensberger, Hans Magnus 240 Enzensberger, Ulrich 2, 92 Epping-Jäger, Cornelia 76 Erhart, Walter 22, 26 Esleben, Jörg 262, 297, 301 Esselborn, Karl 189 Ette, Ottmar 156 Ewert, Michael 3, 167 Fabian, Johannes 202 Fairchild, Hoxie N. 67 Featherstone, Mike 21 Fink, Louis-Gonthier 205 Fink-Eitel, Hinrich Fischer, Rotraut 100, 104, 159 Fischer, Tilman 161, 165f. Fitzgerald, Gerald 279 Foltinek, Herbert 139 Forster, Johann Reinhold, 6, 46, 48, 92, 97, 117f., 125, 132f., 155, 163ff., 186, 188, 194, 228, 253, 269, 279, 300 Foucault, Michael 22, 196 Fourneaux, Tobias 190, 194 Franklin, Peter 192 Frenzel, Elisabeth 63 Frick, Werner 26 Fricke, Gerhard 62 Frost, Alan 267 Fuchs, Martin 33f.

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Haarmann, Anke 102 Haase, Wolfgang 51 Habermas, Jürgen 283 Hadorn, Rudolf 37, 187 Hall, Stuat 21 Harbsmeier, Michael 37 Harpprecht, Klaus 9, 44, 49, 273, 300 Harth, Dietrich 36 Hartmann, Andreas 17 Hastings, Warren 297 Hauser-Schäublin, Brigitta 122 Haug, Walter 23 Hawkesworth, John 42, 138, 156 Hinrichs, Wolfgang 102, 105 Heinritz, Reinhard 38, 50, 61, 90, 97, 125, 162, 165, 169, 224, 258 Heintze, Dieter 115, 121ff., 207, 261, 269 Hellmuth, Eckhart 39 Herder, Johann Gottfried 2, 8, 84ff., 91, 117, 207, 214, 217, 219, 227, 253, 265, 270, 284, 302, 303 Hermann, Britta 26

Heyne, Christian Gottlob 93, 298 Hilmes, Carola 72, 288 Hoare, Michael E. 6, 97, 115, 132f. Hobbes, Thomas 223 Hodges, William 47, 203 Hoffmann, Hilde 7, 29, 35, 135 Hofmann, Michael 301 Holdenried, Michaela 20, 25, 59, 61, 71, 173 Hodkinson, James 297 Holenstein, Elmar 190f. Holub, Robert C. 54, 99, 216 Holzey, Helmut 95 Hölz, Karl 52, 145, 201, 294 Homer 197 Hoorn Tanja van 3, 84, 91, 111, 161f., 198, 204, 206, 208, 210, 214, 216f., 222 Horkheimer, Max 138, 153, 294 Howard, Alan 14, 15 Howe, Kerry R. 272f. Huck, Gerhard 39 Humboldt, Alexander von 47, 59, 94, 123, 141f., 156, 160, 175 Humboldt, Wilhelm 169 Hume, David 91, 215 Hume, Peter 243 Huntington, Samuel P. 7, 28, 245f., 307 Inglis, Fred 20 Irmscher, Hans Dietrich 270 Jachmann, Johann Benjamin 95 Jacobi, Friedrich Heinrich 2, 78, 108, 231 Janz, Rolf-Peter 32 Japp, Uwe 39, 64, 162 Jeschke, Claudia 200 Jolly, Margaret 199, 279 Kaeppler, Adrienne L. 17, 122, 131, 285 Kalidasa 297, 302 Kant, Immanuel 84ff., 91, 94ff., 150f. 209, 212f., 227f., 232, 235, 297 Kittsteiner, Heinz Dieter 26 Klee, Paul 60 Kleist, Heinrich von 230f. Klenke, Claus-Volker 13 Kluger, Hartmut 173 Koch, Peter 137 Koebner, Thomas 52, 186 Kohl, Karl-Heinz 17, 30, 41, 54, 58, 65ff., 82, 98, 120, 125, 138, 196, 220 Kolbe, Peter 139, 140, 204 Kondylis, Panajotis 93 Körner, Christian Gottfried 216

Kramer, Fritz 119 Krasnobeav, Boris 39, 105, 173 Kreutzer, Leo 123, 134, 302 Kronauer, Ulrich 52, 226, 230 Krüger, Christa 79 Krüger, Gundolf 49, 122, 192 Küchler Williams, Christiane 50, 53, 60, 63, 66, 71, 73, 75, 81, 85, 142, 149, 200, 281 Künzel, Werner 98 Kurrelmeyer, Wilhelm 136 La Caille, Abbé de 139 Lafitau, Joseph François 66, 196, 198 Lange, Thomas 68 La Roche, Sophie 297 Las Casas, Bartolomé de 252, 263 Lawn-Thum, Elisabeth 283 Leask, Nigel 154 Lenk, Carsten 34 Lepenies, Wolf 43, 103, 117, 121, 140, 161, 225, 234 Lessing, Gotthold Ephraim 90, 301 Lévina, Emmanuel 31 Lichtenberg, Georg Christoph 274 Linné, Carl von 46, 87, 88, 159, 206 Locke, John 91 Lubrich, Oliver 156 Luchesi, Elisabeth 61 Luger, Kurt 188 Lüsebrink, Hans-Jürgen 7, 8, 14, 44, 59, 113, 151, 187, 199, 232f., 240, 243, 247, 256, 266, 281 Luserke, Matthias 19, 26, 34 Maczak, Antoni 38 Malinowski, Bronislav 119 Marcus, George E. 21 Marra, John 220 Marschall, Wolfgang 207 Marx, Karl 295 Matussek, Peter 24 May, Yomb 30, 65, 254, 297, 302 Mayer, Hans 111 McClintock, Anne 71 McCellan III, James E 44, 151, 165, 259 Mecklenburg, Norbert 35, 37 Meier, Heinrich 226 Meiners, Christoph 75, 85, 211, 214 Meißner, Joachim 11 Mercator, Gerhard 54 Metz-Becker, Marita 3, 107, 271, 279, 303 Meyer, Annette 91, 161, 216 Meyer, Reinhold 51

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Miller, Christopher L. 68 Moorhead, Alan 271 Montaigne, Michel de 66, 144 Montesquieu, Charles-Louis de 205 Moravia, Sergio 160 Moretti, Gabriella 51 Mori, Takashi 260 Morrisson, Jeffrey 297 Morus, Thomas 55, 58 Müller, Eberhard O. 255 Müller, Heinz 219 Müller, Jan-Dirk 24 Müller, Lothar 24 Müller-Jacquier, Bernd 191, 195 Musner, Lutz 23 Mussard, Alexandre 232 Nassau-Siegen, Prinz von 258 Neumann, Gerhard 175 Neumann, Michael 17, 157, 257 Newell, Jenny 269 Nicolai, Friedrich 80 Nietzsche, Friedrich 102 Nugent, Maria 16, 269 Obeyesekere, Gananath 54 O-Maï 287 Ort, Claus-Michael, 22 Ortelius, Abraham 54 Ortu, Marco 30 Osman, Sike 9 Osterhammel, Jürgen 14, 215, 282 Oz-Salzberger, Fiana 227 Pagden, Anthony 153, 239 Patzel, Wener 116 Peitsch, Helmut 2, 159, 187, 253, 256, 259 Pickerodt, Gerhart 51, 52, 110, 171, 186f., 200, 204 Piechotta, Hans Joachim 39, 104 Pinkert, Ernst-Ulrich 34, 288f. Piras, Elisabeth 160 Pfister, Manfred 139 Poirer, Jean 119 Popp, Klaus-Georg 50, 53, 96f., 258 Pratt, Mary Louise 175, 269 Prinz, Alois 74f. 222 Probst, Ingmar 266 Promies, Wolfgang 274 Ptolemäus, Claudius 54 Quilitzsch, Uwe 75 Quirós, Pedro Fernández de 195

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Rasmussen, Detlef 75, 141, 302 Raynal, Guillaume-Thomas 232f. Reichardt, Ulfried 223 Reemtsma, Jan Philipp 245, 253, 255 Reill, Hans Peter 122 Reinalter, Helmut 238 Renger, Rudi 188 Rensch-Karl H. 188, 194 Reulecke, Jürgen 39 Reynolds, Henry 270 Ricoeur, Paul 31 Rieger, Stefan 175 Riehle, Wolfgang 139 Riemer, Peter 49 Riemer, Ulrike 49 Riesz, János 199 Ritter, Christian 254 Robel, Gert 39, 105 Rochon, Alexis-Marie de 106 Roggeveen, Jacob 244 Rohbeck, Johannes 110, 237 Rose, Deborah 269 Rousseau, Jean-Jacques 56, 58, 62, 65ff., 85, 149, 219, 221f., 225, 226ff., 231f. 236, 246 Rug, Wolfgang 17 Rupp-Eisenreich, Britta 162 Sadji, Uta 69 Said, Edward 32, 61, 283 Saint-Pierre, Bernadieu de 149 Saltzwedel, Johannes 88 Sanches, Manuela Ribeiro 50, 82, 99, 104f., 107, 111, 202, 219, 264 Sartorius, Joachim 296 Scharfe, Martin 3 Saul, Nicholas 101 Schäffner, Wolfgang 175 Schäffter, Ortfried 197 Scheifelle, Eberhard 30 Scherpe, Klaus 23, 28, 175 Scheuer, Helmut 148 Schiller, Friedrich 62, 102, 204 Schings, Hans Jürgen 157, 257 Schlegel, Friedrich 1, 2, 12, 79, 111, 160, 161 Schlechta, Karl 102 Schleiermacher, Friedrich 105 Schlögel, Karl 257, 291 Schmidt, Helmut 288 Schmidt, Jörg 211, 213 Schmidt-Dengler, Wendelin 28 Schmidt-Linsenhoff, Viktoria 294

Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 35, 39, 71, 84f., 87, 88, 107, 151, 168, 210, 217, 287 Schmitt, Eberhard 54, 268, 291, 292 Schmitter, Peter 83f. 94 Schobert, Alfred 7 Scholz, Nirit 208, 236 Schön, Erich 76 Schöne, Albrecht 173 Schlögel, Karl 43 Schreiber, Mathias, 88 Schröter, Kathrin 64 Schüring, Joachim 283 Schulz, Gerhard 49 Schwartz, Eduard 197 Schwartz, Stuart B. 191 Schwarz, Astrid 4, 7, 101, 168, 217 Schwob, Anton 28 Shakespeare, William 170 Shalins, Marshall 53 Sick, Franziska 240 Siemon, Rolf 260, 261 Simo, David 217, 219, 299, 301, 303 Smith, Bernard 5, 9, 13, 63, 65, 75, 147, 279 Sömmering, Samuel Thomas 85, 86, 87 Sonntag, Dina 60 Sparmann, Anders 46, 165, 179 Spencer-Oatey, Helen 192 Spener, Johann Karl Philipp 81, 108, 155, 163, 164 Spivak, Chakravorty Gayatri, 33 Stagl, Justin 105 Stanzel Franz K. 139 Stein, Gerd 173, 221 Steiner, Gerhard 2, 75f., 78, 107, 157, 302f. Stierstorfer, Klaus 20 Stocking, George W 120 Stolberg, Friedrich Leopold zu 102f. Strack, Thomas 104, 278 Stummann-Bowert, Ruth 211, 231, 234 Sundermeier, Theo 32, 35 Suphan, Bernhard 303 Suvisa, Don Fausto d´Elhuyar y de 224 Tapsell Paul 17, 188 Taskov-Köhler, Nadja 61, 69 Teuteberg, Hans Jürgen 38 Theye, Thomas 61, 188 Thomas, Alexander, 13 Thomas, Nicholas 5, 9ff., 37, 117, 119, 126, 129, 172, 181, 213, 256, 279, 286

Thum, Bernd 283 Turk, Horst 38 Uerlings, Herbert 145 Uhlig, Ludwig 1, 3, 6, 12f., 75, 78, 79, 84, 87, 92, 107, 111f., 130, 132f., 135, 140, 161, 168, 172, 198, 203f., 206, 214, 227, 231, 260, 262 Urban, Manfred 119 Urville, Dumont d´ 183, 284 Vahland, Kia 137 Varela Castro, Mario de Mar 211 Veit, Walter F. 49, 51, 56f., 61, 63, 67, 137, 272 Velten, Hans Rudolf 21ff. Vermot, Ruth-Gaby 37, 187, 247 Voegelin, Eric 55 Volk, Winfried 75 Volkmann, Laurenz 20 Voltaire (eigentlich: Francois-Marie Arouet), 246, 263 Vorpahl, Frank 8 Voß, Christian Friedrich 158 Wächter, Hans-Christof 287 Waldenfels, Bernard 31 Wales, William 202 Wallis, Samuel 57, 58, 246f., 282 Walter, Rolf 292 Weber-Schäfer, Peter 135 Wedgeborough, William 254 Weigel, Sigrid 175 Weingarten, Michael 210 Wenzel, Horst 24 Weller, Christiane 165 Wichert, Frank 7 Wieland, Christoph Martin 2, 59, 136, 155, 157, 216, 275 Wierlacher, Alois 18, 27, 30, 35, 189 Wilke, Sabine 14 Wilson, Daniel W. 54, 99, 216 Winckelmann, Johann Joachim 198, 204, 210 Wolcott, Harry F. 122 Wolff, Armin 17 Wuthenow, Ralf-Rainer, 110 Zantop, Suzanne 54 Zimmermann, Johann Georg 92

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