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German Pages 274 [277] Year 2003
Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editor:
CHRISTOPH
MARKSCHIES
(Heidelberg)
Beirat/Advisory Board HUBERT CANCIK SUSANNA ELM
(Tübingen) • G I O V A N N I C A S A D I O (Salerno) (Berkeley) • J O H A N N E S H A H N (Münster) J Ö R G R Ü P K E (Erfurt)
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Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike herausgegeben von
Barbara Aland, Johannes Hahn und Christian Ronning
Mohr Siebeck
BARBARA ALAND, geboren 1937; Studium der e v a n g e l i s c h e n T h e o l o g i e , Klassischen Philologie und Orientalistik in F r a n k f u r t , M a r b u r g , Kiel und R o m ; Dr. phil. 1964 in F r a n k f u r t , Lic. in R o m 1969; Habilitation in e v a n g e l i s c h e r T h e o l o g i e 1972 in G ö t t i n g e n ; von 1983 bis zur P e n s i o n i e r u n g 2 0 0 2 D i r e k t o r i n des Instituts f ü r n e u t e s t a m e n t l i c h e T e x t f o r s c h u n g in Münster. JOHANNES HAHN, geboren 1957; Studium der Philosophie, G e s c h i c h t e und A r c h ä o l o g i e in M ü n c h e n , Heidelberg, O x f o r d und Berlin; 1982 M . A . in Philosophie in Berlin; 1986 Promotion; 1993 Habilitation in Alter G e s c h i c h t e in Heidelberg; Nach Lehrtätigkeit an den Universitäten Heidelberg, E r f u r t , Köln und Freiburg seit 1996 P r o f e s s o r f ü r Alte G e s c h i c h t e an der Universität Münster. CHRISTIAN RONNING, geboren 1973; Studium der Alten G e s c h i c h t e , Lateinischen Philologie, P o l i t i k w i s s e n s c h a f t und Mittleren G e s c h i c h t e ; 1999 MA in Alter G e s c h i c h t e in M ü n s t e r ; seit 2 0 0 0 w i s s e n s c h a f t l i c h e r M i t a r b e i t e r im S o n d e r f o r s c h u n g s b e r e i c h 4 9 3 der D F G „ F u n k t i o n e n von Religion in antiken G e s e l l s c h a f t e n des Vorderen O r i e n t s " an der W e s t f ä l i s c h e n W i l h e l m s - U n i v e r s i t ä t Münster.
G e d r u c k t mit U n t e r s t ü t z u n g der D e u t s c h e n F o r s c h u n g s g e m e i n s c h a f t
978-3-16-158669-9 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISBN 3-16-147982-3 ISSN 1436-3003 (Studien und Texte zu Antike und C h r i s t e n t u m ) D i e D e u t s c h e B i b l i o t h e k v e r z e i c h n e t d i e s e P u b l i k a t i o n in d e r D e u t s c h e n N a t i o n a l bibliographie; detaillierte b i b l i o g r a p h i s c h e Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
©
2 0 0 3 J.C.B. M o h r (Paul Siebeck) T ü b i n g e n .
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Vorwort Identifikationsfiguren eignet die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit von Einzelnen, von Gruppen und von Gesellschaften auf sich zu ziehen und damit zumal in schwierigen Situationen die Identität der Gruppe zu festigen oder zu stiften. Mit „Identifikationsfiguren und Mittlergestalten in Zeiten der Krise" befaßt sich das Teilprojekt B2 des Sonderforschungsbereichs 493 „Funktionen von Religion in antiken Gesellschaften des Vorderen Orients". Wir stellten daher das erste Kolloquium unseres Projekts am 9. und 10. November 2001 unter das Thema „Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren von der archaischen Zeit bis zur Spätantike". Es war unsere Absicht, einzelne Fallstudien, die sich über einen weiten Zeitraum und über verschiedene Kulturkreise erstrecken, zur Frage zusammenzutragen, wie einzelne historische und fiktive Personen textuell so zu Identifikationsfiguren modelliert, ja erst geschaffen wurden, daß sie in der Geschichte insbesondere in heiklen Situationen Wirkung entfalten konnten. Es ging uns um die Funktion solcher Personen und um die Absicht derer, die sie kreierten; von dieser Fragestellung ausgehend ließen sich Rückschlüsse auf die Situationen ziehen, in denen ein Bedarf nach solchen Personen bestand. Es ging folglich auch um die Wechselbeziehung zwischen diesen Personen und Gruppen oder Gesellschaften. In der Diskussion mit den auswärtigen Teilnehmern des Kolloquiums und angeregt durch Ihr Nachfragen konnten wir die Begrifflichkeit der „Identifikationsfiguren" noch schärfer fassen, so daß sich daraus ein heuristisches Instrumentarium zum besseren Verstehen einschlägiger Texte ergab. Insbesondere die jüngeren Mitarbeiter des Projekts haben im Anschluß an das Kolloquium die theoretische Klärung der angesprochenen Grundbegriffe - Krise, Identitätsfigur - weiter vorangebracht (siehe dazu u.a. den Beitrag ,Soziale Identität - Identifikation - Identifikationsfigur. Versuch einer Synthese'), so daß die Beiträge in mancher Hinsicht für die Drucklegung schärfer gefaßt werden konnten. Den nunmehr vorliegenden Band haben Jutta Tloka und Christoph Möllers redaktionell betreut. Wir danken allen herzlich. Insbesondere sagen wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft unseren Dank dafür, daß sie uns im Rahmen des Sonderforschungsbereich 493 die Möglichkeit zum kritischen und frucht-
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Vorwort
baren Austausch geboten hat. Wir hoffen auch durch den hiermit vorgelegten Band auf anregende Kritik und Förderung bei der weiteren notwendigen Klärung der Wirkmächtigkeit von literarisch stilisierten Figuren in Kultur und Gesellschaft.
Barbara Aland
Johannes Hahn
Christian Ronning
Inhaltsverzeichnis
HUBERT CANCIK
Myth-Historie. Zur Literarisierung historischer Vorgänge und Personen im antiken Epos
1
ADOLF KÖHNKEN
Herakles und Orpheus als mythische Referenzfiguren („Identifikations-" bzw. „Integrationsfigur") im hellenistischen Epos
19
MATTHIAS BALTES
Nachfolge Epikurs Imitatio Epicuri
29
BARBARA ALAND
Märtyrer als christliche Identifikationsfiguren. Stilisierung, Funktion, Wirkung
51
JUTTA TLOKA
„... dieser göttliche Mensch!" Die Dankrede des Gregor Thaumaturgos an Origenes als Beispiel für die Christianisierung antiker Identifikations- und Deutungsschemata
71
JOHANNES H A H N
Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? Das Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen
87
CHRISTIAN RONNING
Rituale der Rhetorik - Rhetorik der Rituale. Überlegungen zu Konstantin als Identifikationsfigur in der spätantiken Panegyrik
111
CATHERINE HEZSER
Der Rabbi als spezifisch jüdische Identifikationsfigur der Spätantike
139
VIII
Inhaltsverzeichnis
KARL-FRIEDRICH POHLMANN
Jeremia als Identifikationsfigur im Frühjudentum
155
MARKUS VINZENT
Vom philosophischen Apologeten zum theologischen Ketzerbekämpfer. Zur biographischen Verkirchlichung von christlichen Amtsträgern am Beispiel Kyrills von Alexandrien 173 THOMAS GRAUMANN
Kirchliche Identität und bischöfliche Selbstinszenierung. Der Rückgriff auf „Athanasius" bei der Überwindung des nachephesinischen Schismas und in Kyrills Propaganda
195
VOLKER MENZE
Die Stimme von Maiuma: Johannes Rufus, das Konzil von Chalkedon und die wahre Kirche
215
CHRISTIAN RONNING
Soziale Identität - Identifikation - Identifikationsfigur. Versuch einer Synthese
233
Register Stellenregister Personenregister Orts- und Sachregister
253 260 262
Myth-Historie Zur Literarisierung historischer Vorgänge und Personen im antiken Epos von HUBERT CANCIK
§ 1 Historia und Mythos §1.1 vera cum fictis: Servius zu Vergib Geschichtsbild
(I)
1. Der „Qualität" nach ist Vergils Aeneis ein heroisches Gedicht - so erklärt Servius in der Einleitung zu seinem gelehrten Schulkommentar 1 . In dem Gedicht agieren menschliche und göttliche Personen, und es „enthält Wahres zusammen mit Fiktivem": continens vera cum fictis. Wahr sei offenkundig, daß Aeneas nach Italien gekommen ist; fingiert (compositum), daß Venus mit Iuppiter spricht. Historie ist wahr. Sie darf aber „nach dem Gesetz der Poetik" nicht immer „offen" ausgebreitet werden. Manchmal wird der Dichter sie nur „im Vorübergehen berühren": per transitum ponere.2
tangit historiam
quam per legem artis poeticae
aperte non
potest
1 Servius, Kommentar zu Vergil, Aeneis, Vorspruch. Vgl. Serv., Aen. I 286: ... ut in qualitate carminis diximus, ad laudem tendit Augusti, sicut et in sexti catalogo et in clipei descriptione. Damit sind die drei für die Darstellung der römischen Geschichte in Vergils Aeneis wichtigsten Stellen zusammengefaßt: Iuppiter-Rede (I), census in der Unterwelt (VI), Schildbeschreibung (VIII); s. hier §3.1. - Typische SchülerErklärungen: Serv., Aen. I 4 (Ende); I 267 (Ende) u.ö. - Ausgaben: Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, rec. G. Thilo/H. Hagen, 3 Bde., Leipzig 1881-84: hiernach wird zitiert; Serviani in Vergilii carmina commentarii, rec. E.K. Rand et al., 3 Bde., Lancaster (Penns.)/Oxford 1946-63. 2 Serv., Aen. I 382: Vergil „berührt hier die Geschichte": die „Führung durch die Mutter Venus" sei eine Anspielung auf Varros Überlieferung über den Stern der Venus, der auch am Tage die Troianer nach Westen führte und verschwand, als sie Latium erreicht hatten. Das ist also für Servius „Geschichte". Er beruft sich auf Varro in secundo divinarum, d.i. Varro, Antiquitates rerum divinarum (hg. v. B. Cardauns, Wiesbaden 1976, Bd. I, 40: Appendix ad librum II).
Hubert Cancik
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Der Dichter „mischt" seinem Lied, nach seiner Gewohnheit, Geschichte bei: carmini suo, ut solet, miscet
historiam?
Wer sich an dieses „Gesetz" nicht hält, wie Lucan in seinem historischen Gedicht über den römischen Bürgerkrieg, verdient es nicht, ein Poet zu sein 4 : So streng ist bei Servius die normative Poetik des myth-historischen Epos. Der Unterschied zwischen Mythos und Historia ist ihm klar: der Mythos (fabula) ist „gegen die Natur", wie die Fabel von Pasiphae und dem Stier, ob nun geschehen oder nicht geschehen; die Historia ist „naturgemäß", ob geschehen oder nicht geschehen, wie die Historie von Phaedra und ihrem Stiefsohn Hippolytos 5 . Das Kriterium zur Unterscheidung von Erzählungen ist hier also nicht die Faktizität eines Ereignisses, sondern seine naturgegebene Wahrscheinlichkeit, seine reale Möglichkeit: daß sich das wirklich so hätte ereignen können. 2. Der „Intention" nach ist Vergils Aeneis, so wiederum Servius, Nachahmung Homers und Lob des Augustus von seinen Vorfahren her 6 . Vergil benutzt die Formen des heroischen Epos, um römische Geschichte, insbesondere Augustus, zu „loben". So wird die Historie um Augustus mythi3 Serv., Aen. VII 601; vgl. I 246: amat poeta rem historiae carmini suo coniungere. Varrò enim dìcit hunc fluvium ab incolis mare nominari. 4 Serv., Aen. I 382: Quod autem diximus eum poetica arte prohiberi, ne aperte ponat historiam certum est. Lucanus namque ideo in numero poetarum esse non meruit, quia videtur historiam composuisse, non poema. Vgl. die Comm. Bernensia zu Luc. I 4: Lucanus dicitur a plerisque non esse in numero poetarum, quia omnino historiam sequitur, quod arti poeticae non convenit. 5 a) Serv., Aen. I 235: inter fabulam et argumentum, hoc est historiam, hoc interesse, quod fabula est dicta contra naturam, sive facta sive non facta, ut de Pasiphae; historia est, quicquid secundum naturam dicitur, sive factum sive non factum, ut de Phaedra. Beachte die Textvariante bei Thilo/Hagen (I 89,14-17). - Zu argumentum - z.B. der hypothesis von Dramen - vgl. unten § 1.3. - b) Zur Bedeutung von historia bei Servius vgl. Serv., Aen. I 267: ab hac autem historia ita discedit Vergilius, ut aliquibus locis ostendat, non se per ignorantiam, sedper artem poeticam hoc fecisse. ... sie autem omnia contra hanc historiam ficta sunt, ut illud ubi dicitur Aeneas vidisse Carthaginem, cum earn constet ante LXX annos urbis Romae conditam. - Serv., Aen. VIII 361: prolepsis; vgl. zu 363; zu 341. - c) Für Macrobius sind die doctrinae Vergils {ius pontificium, ius augurale, astrologia, philosophia, Kenntnis alter Dichtung) wichtiger geworden als die historia: Macr., Sat. I 24,1-21. 6 Serv., Aen. I Vorspruch (I 4,10 f. Thilo/Hagen): Intentio Vergilii haec est, Homerum imitari et Augustum laudare a parentibus. Vgl. Serv., Aen. VIII 672: sane ubique propositum est poetae Augusti gloriam praedicare\ vgl. zu VIII 678: Vergils Zeitgeschichte in historiographischer Prosa; vgl. zu VI 861: in Augusti adulationem.
Myth-Historie
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siert: durch Genealogie, Typologie, fortlaufende Antizipation (Prolepse), Allegorisierung, Aitiologie 7 . Gleichzeitig wird der alte Mythos politisch aktualisiert, wissenschaftlich historisiert, literarisch modernisiert. Troia, Aphrodite, Aeneas, Mars werden historische Orte und Personen, indem sie zum ersten Glied einer Zeitspanne werden, die in Zahlen und Generationen gemessen werden kann. Dieser Zeitraum endet im Herbst 23 v. Chr. mit dem Tode des Marcellus, dem jüngsten historischen Ereignis, das Vergil in sein Gedicht aufgenommen hat 8 . Und so wurde die Aeneis ein myth-historisches Epos. Woher kommen die poietischen „Gesetze" für dieses Gebilde? Wo sind die Quellen seiner Poetologie? Sind qualitas carminis und intentio poetae, wie ich sie hier nach Servius berichtet habe, zutreffend erfaßt? §1.2
mythistoria
1. Ins Relief gebracht hat die Vorstellungen, wie sich Historie und Mythos zueinander verhalten, Archelaos von Priene. Um 130 v. Chr. schuf er eine figurenreiche „Apotheose Homers" 9 . Der göttliche Dichter thront in der Höhe. Eine weibliche Gestalt opfert ihm Weihrauch, hinter ihr steht eine lange Reihe von Verehrerinnen Homers, glücklicherweise vom Künstler mit Beischriften versehen: vorn Historia, dahinter Poiesis, Tragoedia, Komoedia, Physis, Arete, Mneme, Pistis und Sophia 10 . Vorn neben Historia steht Mythos, er hält eine Libationskanne in der Hand. Die Vorstellungen, die diese Allegorie der homerischen Dichtung geformt haben, sind nicht zu einem antiken Begriff geronnen. Das Paar Mythos und Historia steht nebeneinander: sie verbinden sich nicht zu einer
7 Die Gattungen, Figuren und Begriffe werden von Servius in verschiedenen Zusammenhängen benutzt: (a) Genealogie: Serv., Aen. VIII 130 ff. (b) Typus - allegoria: Zur Begriffsgeschichte vgl. H. CANCIK-LINDEMAIER, Art. Allegorese/Allegorie, HrwG I,
1 9 8 8 , 4 2 4 — 4 3 2 ; ( c ) prolepsis:
Serv., A e n . VIII 3 6 1 ; (d) A i t i o l o g i e :
vgl. H.
CANCIK-
LINDEMAIER, Art. Ätiologie (Aitiologie), HrwG I, 1988, 391-394. 8 Verg., Aen. VI 860 ff. Zum Anlaß vgl. Prop. III 18. 9 Fundort: Bovillae bei Rom, 17. Jh.; Aufbewahrungsort: London, British Museum; Abbildungen: P. MORENO, Scultura ellenistica, 2 Bde., Roma 1994, 561-563; 5 7 4 - 5 7 9 ; 640-644; J.M. TOYNBEE, The Hadrianic School: a chapter in the history of Greek art, Cambridge 1934 (Ndr. Roma 1967), Tafel XXI. Vgl. D. PLNKWART, Das Relief des Archelaos von Priene und die „Musen des Philiskos", Kallmünz 1965. Vgl. auch T. SCHMITT-NEUERBURG, Vergils Aeneis und die antike Homerexegese. Untersuchungen zum Einfluß ethischer und kritischer Homerrezeption auf imitatio und aemulatio Vergils, Berlin/New York 1999. 10
Zu Homer als Quelle der Wissenschaft vgl. Ps.-Plut., Vit. Horn.: s.u. § 2.3; vgl. M. HILLGRUBER, Die pseudoplutarchische Schrift De Homero, Teil I, Stuttgart/Leipzig 1994.
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Hubert Cancik
„Mythistoria". Das Wort ist nicht einmal griechisch belegt, im Lateinischen spät, selten, marginal 11 . 2. Die Quelle, aus der Archelaos von Priene und der Grammatiker Servius schöpfen, ist die hellenistische Homerphilologie 12 , sind die Theorien über den Wahrheitsgehalt einer narratio oder historischer Stoffe in der Rhetorik und in der Grammatik. Eine Erzählung, sagt Cicero, ist Darlegung von Ereignissen, die wirklich geschehen sind oder so gut vom Erzähler konstruiert sind, daß sie aussehen, „als ob" sie geschehen seien: narratio est rerum gestarum aut ut gestarum expositio. Es gibt drei Arten von Erzählungen: (a) weder wahr {verum) noch wahrscheinlich (verisimile): dann handelt es sich um einen Mythos (fabula), z.B. die geflügelten Schlangen der Medea-Tragödien; (b) wahr und wahrscheinlich (narratio probabilis): dann handelt es sich um eine historia; (c) nicht wahr aber wahrscheinlich: dann handelt es sich um ein argumentum, einen fingierten, nicht geschehenen Sachverhalt, der aber seiner inneren Wahrscheinlichkeit nach und gemäß der Art der Erzählung hätte geschehen können: das argumentum hat eine „potentielle Wahrheit" 13 . Diese Theorie macht einen Rat Ciceros für die Abfassung von „Geschichten" in der Rede mindestens verständlich: Man könne etwas „erlügen" (ementiri) in den Geschichten, damit auf diese Weise ein Sachverhalt schärfer ausgedrückt werden könne 14 . Aber sogar einem richtigen Historiker, L. Lucceius, legt Cicero nahe, „die Gesetze der Historiographie zu verachten" und ihn und sein Konsulat ein wenig mehr zu loben und zu schmücken, „als es die Wahrheit zulassen wird": plusculum quam concedet veritas15.
11 Nach Auskunft des Thesaurus linguae Latinae sind mythistoria und mythistoricus belegt nur für HA, Opil. 1,5: (de Iunio Cordo viliora quaeque de imperatoribus referente) quae illa omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendo, und HA, quatt. tyr. 1,2: Macrinus ... qui et mythistoricis se voluminibus implicavit. Auch im mittelalterlichen Latein ist das Wort nach Auskunft der Glossaria zur media und infima Latinitas nicht belegt. 12 H. ERBSE, Beiträge zur Überlieferung der Iliasscholien, Zetemata 24, München 1960; Scholia Graeca in Homeri Iliadem, rec. H. ERBSE, 7 Bde., Berlin 1969-1988. - R. PFEIFFER, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Reinbek b. Hamburg 1970. 13 Cic., Inv. I 19,27; vgl. Auct. ad Herenn. I 8,13; Quint., Inst. II 4,2: narrationum tres species. 14 Cic., Brut. 11,42: (die Redner können) ementiri in historiis ut aliquid dicere possint argutius. Cicero begründet seine Empfehlung mit einem Hinweis auf Herodot und Theopomp, die ja auch so viele Fabeln erzählt hätten. Vgl. Cic., Leg. I 1,5. 15 Cic., Fam. V 12,3: ad Lucceium (Juni 56 v. Chr.).
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Archelaos von Priene, Apotheose Homers; London, British Museum (Höhe 1,15 m; Breite 0,81 m). In der unteren Ebene sind dargestellt (von links nach rechts): Oikoumene und Chronos; Homer sitzend mit Ilias und Odysseia; Mythos, Historia, Poiesis, Trago(i)dia, Komo(i)dia; Gruppe mit Physis, Arete, Mneme, Pistis, Sophia. Darüber der Helikon mit Musen, Apoll, Mnemosyne, Zeus. (Foto aus: Doris Pinkwart, Das Relief des Archelaos von Priene, in: Antike Plastik, hg. v. W.U. Schuchhard, Lieferung IV, Teil 7, Berlin 1965, S. 55-65, Tafel 28).
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3. Ähnliche Kriterien für die Beurteilung von Wahrheit, Lüge und Fiktion benutzt Asklepiades von Myrlea (um 100 v. Chr.), um die Stoffe der Philologie zu gliedern. Die „historische Abteilung" der Philologie (xö i c x o p i K Ö v yevoq) behandelt Personen, Orte, Zeiten, Handlungen, die (a) „wahr" sind, (b) „erlogen" in den Tragödien, Genealogien, Mythen und (c) „Erfindungen" (TrA,aa|aaxa, fictiones) in den Komödien und Mimen: Sie sind „quasi-wahre Geschichte": ex; aÄ,r|0r)