Georg Büchner Jahrbuch: Band 15 Büchners Dinge 9783110796278, 9783110793208

In the course of the 'material turn', objects have become a key field of interest in literary studies in recen

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German Pages 217 [208] Year 2023

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abhandlungen
Vorhang auf! Dinge, Theater und Politik – zu einer Anekdote in Büchners Briefen
Bube, Dame, König. Spielkarten und Spieltische bei Büchner
Fragmentierte Körper und ihre agentielle Macht in Danton’s Tod
Drehorgel/Leierkasten
„Schwerter, mit denen Geister kämpfen“
Porosität
Rede und Requisite
Maccheroni in Leonce und Lena
Sonne, Mond und Sterne
Unter der Schädeldecke
Essays
Über Dinge in Georg Büchners Woyzeck
Schmuck für Arme
Verzeichnis der Siglen
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Georg Büchner Jahrbuch: Band 15 Büchners Dinge
 9783110796278, 9783110793208

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Georg Büchner Jahrbuch 15

Georg Büchner Jahrbuch 15 Büchners Dinge Für die Georg Büchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner herausgegeben von Roland Borgards, Martina Wernli und Esther Köhring

Redaktionsadresse: Georg Büchner Jahrbuch c/o Prof. Dr. Roland Borgards Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik Hauspostfach 17 Campus Westend / IG-Farben-Haus Norbert-Wollheim-Platz 1 60323 Frankfurt am Main

ISBN 978-3-11-079320-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-079627-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-079639-1 ISSN 0722-3420 Library of Congress Control Number: 2022951564 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Porträt Georg Büchners, gezeichnet von Alexis Muston, 1833–1834. Herkunft: Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum © Dauerleihgabe der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen (RR-F) Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Abhandlungen Alexander Kling Vorhang auf! Dinge, Theater und Politik – zu einer Anekdote in Büchners Briefen 3 Peter Schnyder Bube, Dame, König. Spielkarten und Spieltische bei Büchner

27

Elisabeth Flucher Fragmentierte Körper und ihre agentielle Macht in Danton’s Tod Rudolf Drux Drehorgel/Leierkasten. Zur Dinglichkeit und Metaphorik eines „mechanischen Musikwerks“ bei G. Büchner und Zeitgenossen

45

63

Doerte Bischoff „Schwerter, mit denen Geister kämpfen“. Zur Performativität der Waffen bei Büchner 75 Antonia Eder Porosität. Zu Dinglichkeit, Verdinglichung und Entdinglichung in Büchners Lenz 91 Christiane Holm Rede und Requisite. Komische Dinge in Büchners Leonce und Lena

107

Peter C. Pohl Maccheroni in Leonce und Lena. Ein kulturwissenschaftlicher Versuch zu einem der letzten Dinge der Komödie 123 Michael Niehaus Sonne, Mond und Sterne. Nahbare Gestirne in Büchners Woyzeck

139

VI

Inhaltsverzeichnis

Agnes Hoffmann Unter der Schädeldecke. Büchners Präparate zwischen Pathologie und Poetik 153

Essays Alfons Glück Über Dinge in Georg Büchners Woyzeck

181

Magdalena Maria Idzi Schmuck für Arme. Maries Ohrringe in Georg Büchners Woyzeck Verzeichnis der Siglen

197

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Vorwort Die Dinge sind im Zuge des ‚material turns‘ in den letzten Jahren zu einem zentralen Untersuchungsfeld der Literaturwissenschaften avanciert. Verbunden ist damit die Erschließung eines spezifischen Themen-, Motiv- oder Metaphernreservoirs, aber vor allem ein neues Verständnis der Dinge selbst: Dinge sind nicht nur passive Inskriptionsflächen für semantische Zuschreibungen, sondern oft auch voller Widerständigkeit oder gar geprägt von einer eigentümlichen Selbsttätigkeit, die die Forschung mit Begriffen wie ‚Wirkmächtigkeit‘ oder ‚Agency‘ zu fassen versucht. Diese zielen indes nicht auf die Vorstellung einer reinen, von Bedeutungsprozessen völlig unabhängigen Materialität, sondern gerade auf die komplexen Verbindungen zwischen materiellen und semiotischen Vektoren, auf das, was Donna Haraway mit einer vielzitierten Formulierung „material-semiotic nodes or knots”1 genannt hat. Literarische Texte beziehen sich auf solche Dinge in all ihren Dimensionen: als Metaphern, als Topoi, als Elemente der irritierenden Wider- und Eigenständigkeit, als komplexe Verschränkungen des Materiellen mit dem Semiotischen. Ausgehend von dieser Fülle an literarischen Ding-Dimensionen ist mittlerweile eine äußerst reichhaltige Forschung zu den Dingen der Literatur entstanden.2 Angesichts dieser Entwicklung ist es bemerkenswert, wie wenig bisher die Dinge bei Büchner in den Blick genommen wurden.3 Dies liegt gewiss nicht daran, dass die Dinge bei Büchner unwichtig sind. Im Gegenteil: Sie finden sich überall im Werk, von den Spielkarten in Danton’s Tod über die schmerzhaften

 Donna Haraway: When Species Meet. Minneapolis 2008, S. 4.  Vgl. hierzu z. B. Susanne Scholz, Ulrike Vedder (Hrsg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin 2018; Bill Brown: Thing Theory. In: Critical Inquiry 28/1 (2001), S. 1–22. Anke Ortlepp, Christoph Ribbat (Hrsg.): Mit den Dingen leben. Zur Geschichte der Alltagsgegenstände. Übers. von Dorothea Löbbermann. Stuttgart 2010; Stefanie Samida, Manfred K.H. Eggert u. Hans Peter Hahn (Hrsg.): Handbuch Materielle Kultur. Stuttgart u. Weimar 2014; Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [1925]. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Vorwort von E. E. Evans-Pritchard. Frankfurt a. M. 2011; Igor Kopytoff: The Cultural Biography of Things. Commoditization as Process. In: The Social life of things. Commodities in cultural perspective. Hrsg. v. Arjun Appadurai. Cambridge 1986, S. 64–91; Alfred Gell: The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology. In: Anthropology Art and Aesthetics. Hrsg. v. Jeremy Coote u. Anthony Shelton. Oxford 1992, S. 40–66; Ders.: Art and Agency. An Anthropological Theory. Oxford 1998; Sigrid Köhler, Hania Siebenpfeiffer u. Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte. Frankfurt a. M. 2013.  Vgl. lediglich Doerte Bischoff: Büchners Kleider. Vestimentäre Inszenierung und Materialität der Zeichen. In: GBJb 12 (2012) 2009, S. 179–203; Ingo Breuer: Topographien epistolarer Kommunikatin. Konventionalität und Materialität in einigen Briefen Georg Büchners. In: Stowarzyszenie Germanistów Polskich. Zeitschrift des Verbandes Polnischer Germanisten 3/2 (2014), S. 103–116. https://doi.org/10.1515/9783110796278-203

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Vorwort

Steine im Lenz bis zum Messer im Woyzeck, und sie berühren alle genannten Dimensionen. Vom Messer etwa sagt Louis/Woyzeck den markanten Satz: „Ich muß das Ding haben.“ (H1, MBA 5, S. 11) Als dieses Ding ist das Messer ein Motiv, das in wiederkehrenden Formulierungen die Szenen rhythmisiert; es sperrt sich nach der Tat vor dem Verschwinden und wird damit zum Gegenspieler des Protagonisten; und es fordert Louis/Woyzeck zuvor sogar zur Tat heraus, wird zum treibenden Agenten der Handlung: Es ist (auch) das Ding, das den unbedingten Wunsch („ich muß das Ding haben“) erzeugt. Vergleichbar komplexe Dingkonstellationen finden sich in allen Werken Büchners, von den Jugendschriften über die literarischen Texte bis zu den naturwissenschaftlichen Schriften und den Briefen. Begleitet werden sie von einer vielgestaltigen Auseinandersetzung mit Fragen des Materialismus, der für Büchner – damit hat sich die Forschung schon eingehender beschäftigt4 – aus philosophischer, politischer, ästhetischer und epistemologischer Perspektive von Bedeutung ist. Das vorliegende Jahrbuch, das die Jahrestagung 2021 der Georg Büchner Gesellschaft dokumentiert, konzentriert sich auf die Dinge selbst – auf Drehorgeln, Ohrringe, Makkaroni, Spielkarten, Requisiten, Vorhänge, Körper, Präparate, Gestirne – sowie auf deren Erscheinungsformen, auf ihre Widerständigkeit, Aktivität, Porosität. Sich mit Büchners Dingen zu beschäftigen, kann Möglichkeiten eröffnen, aber auch zu Schwierigkeiten führen. Ein sehr spezifisches Problem fällt schnell ins Auge: Anders als bei anderen Autor:innen (wie zum Beispiel Friedrich Schiller) sind von Büchner keine letzten Federn oder Strümpfe, keine Tintenfässer oder Spazierstöcke überliefert, die man erforschen könnte. Einzig eine Haarlocke

 Heinz Ludwig Arnold: Materialismus und Subjektivität in den Schriften Georg Büchners. In: text + kritik 3 (1981). Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, S. 35–62; Rodney F. Taylor: Georg Büchner’s materialist critique of rationalist metaphysics. In: Seminar 22 (1986), S. 189–205; Hans-Georg Werner: Büchners aufrührerischer Materialismus. Zur geistigen Struktur von ‚Dantons Tod‘. In: Wege zu Georg Büchner. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften (Berlin-Ost) 1988. Hrsg. v. Henri Poschmann. Bern u. a. 1992, S. 85–99; Burghard Dedner: Kynische Provokation und materialistische Anthropologie bei Georg Büchner. In: Societas rationis. Festschrift für Burkhard Tuschling zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Dieter Hüning, Gideon Stiening u. Ulrich Vogel. Berlin 2002, S. 289–309; Peter Horn: Der mechanistische Materialismus und die Sinnlosigkeit der Welt in Büchners ‚Leonce und Lena‘. In: Georg Büchner. Hrsg. v. Barbara Neymeyr. Darmstadt 2013, S. 104–119; Ariane Martin u. Bodo Morawe: Dichter der Immanenz. Vier Studien zu Georg Büchner. Bielefeld 2013; Doris Neumann-Rieser: ‚Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen‘. Materialismus und Revolution bei Brecht und Büchner. In: Der Kreative Zuschauer. The Creative spectator. Hrsg. v. Stephen Brockmann u. Theodore F. Rippey. Wisconsin 2014, S. 188–195; Matthew Wilson: Georg Büchner, J.M.W. Turner, and the Materiality of Perception. In: Georg Büchner. Contemporary Perspectives. Hrsg. v. Robert Gillet. Leiden u. Boston 2017, S. 344–354; Gideon Stiening: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin 2019.

Vorwort

IX

ist geblieben. Es fehlt damit weitgehend der scheinbar ‚direkte‘ Kontakt zum Autor. Eine auratische Aufladung von Gegenständen und die Überwindung der zeitlichen Distanz führt daher bei Büchner nicht weit. Büchners Dinge sind vielmehr als Zeichen überliefert, sie finden sich in Briefen beschrieben oder treten als literarisierte Gegenstände in Erscheinung. Die Materialität der Dinge ist insofern eine erschriebene Materialität: Sie ist sprachlich geschaffen und wird sprachlich dargestellt. Das heißt aber nicht, dass die Gegenstände jeglicher Stofflichkeit entbehren. Die Zeichen-Gegenstände bergen vielmehr die Möglichkeit, (re-)materialisiert zu werden – gerade wenn sie in Dramen vorkommen, können sie in Inszenierungen zu Gegenständen der Handlung werden, zu materialisierten, handfesten Objekten. Darin überlagert sich die Zeichenhaftigkeit des Textes mit der Materialität der Requisite, der Präsenz der Staffage. Dinge haben bei Büchner einen ausgesprochen performativen Charakter. Mit der Dokumentation einer Jahrestagung und der Konzentration auf ein spezifisches Thema beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Georg Büchner Jahrbuchs. Anders als bisher soll künftig im jährlichen Rhythmus ein thematisch konturierter Band erscheinen. Gefolgt werden „Büchners Dinge“ von „Büchners Pflanzen“, im Blick haben wir darüber hinaus Themen wie „Büchners Bühnen“, „Büchners Briefe“, „Büchners Elemente“ oder „Büchners Bibeln“.5 „Büchners Dinge“ bieten hierzu einen idealen Auftakt, bringen sie doch die Büchner-Forschung zu den Dingen und die Ding-Forschung zu Büchner. Während der Produktion dieses Jahresbuches ist – viel zu früh – Agnes Hoffmann verstorben. Wir behalten ihren Vortrag und den persönlichen Austausch auf der Tagung mit ihr in sehr guter Erinnerung. Roland Borgards, Martina Wernli, Esther Köhring

 Mit Dank an Harald Neumeyer und die Kafka-Gesellschaft, die seit „Kafkas Tieren“ (2015) eine entsprechende Serie verfolgt.

Abhandlungen

Alexander Kling

Vorhang auf! Dinge, Theater und Politik – zu einer Anekdote in Büchners Briefen

1 „Den heutigen Abend“, so der Zuschauer Fischer, „sollte man doch wirklich im Theater-Kalender beschreiben.“1 Ohne Frage müsste man sich dieser Aussage anschließen, würde sie nicht von einer Figur getätigt, die selbst einem Text entstammt, der seinerseits den Berichten im Theaterkalender einiges verdankt – Fischer ist nämlich Zuschauer in Ludwig Tiecks romantischer Komödie Der gestiefelte Kater (1797).2 Für die folgende Analyse, die sich Büchners Brief vom 15. März 1836 an die Familie und den Dingen der hier mitgeteilten Anekdote widmen wird, gibt es zwei Gründe, Tiecks Der gestiefelte Kater als Ausgangspunkt heranzuziehen. Erstens ist die Aussage Fischers Reaktion auf eines der vielen Missgeschicke des verunglückten Theaterabends. Zu Beginn des dritten Akts wurde der Vorhang zu früh aufgezogen und so können die (fiktiven) Zuschauer einem Gespräch zwischen dem Dichter und dem Maschinisten beiwohnen, in dem Ersterer darum bittet, bei weiteren Aufführungsfehlern zur Ablenkung des Publikums „alle Maschinen spielen“ zu lassen.3 Der gestiefelte Kater inszeniert damit den Theaterraum mit all seinen Materialitäten als Medium, das sich für verschiedene Formgebungen nutzen lässt – dementsprechend wird am Ende des Stücks auch dem „leer[en]“ Theater applaudiert, auf dem „nur die Dekorationen“ zu sehen sind.4 Nachdem Dichter und Maschinist zu Beginn des dritten Akts bemerkt haben, dass der Vorhang bereits geöffnet ist, fliehen sie von der Bühne. Anschließend erklärt der Hanswurst das Vorgefallene folgendermaßen: Der Vorhang war zu früh aufgezogen. Es war eine Privatunterhaltung, die gar nicht auf dem Theater vorgefallen wäre, wenn es zwischen den Kulissen nur etwas mehr Raum hätte.

 Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater. In: Ders: Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. v. Manfred Frank u. a. Bd. 6: Phantasus. Frankfurt a.M. 1985, S. 490–566, hier S. 539.  Zu Büchners Bezügen zur romantischen Literatur, auch zu Tieck, vgl. Roland Borgards, Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner und die Romantik. Berlin 2020.  Tieck: Der gestiefelte Kater, S. 538.  Tieck: Der gestiefelte Kater, S. 562. Alexander Kling, Bonn https://doi.org/10.1515/9783110796278-001

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Alexander Kling

Sind sie also illudiert gewesen, so ist es wahrlich um so schlimmer, und es hilft nichts, Sie müssen dann so gütig sein, diese Täuschung aus sich wieder auszurotten; denn von jetzt an, verstehn sie mich, von dem Augenblicke, daß ich werde abgegangen sein, nimmt der Akt erst seinen Anfang.5

Ein Maschinist, der sich um etwas bitten lässt, ein Vorhang, der zu früh geöffnet wurde, das Öffentlichwerden eines privaten Vorgangs und eine fehlerhafte Illudierung, die möglichst ausgerottet werden soll – all diese Aspekte spielen auch, in veränderter Form, in Büchners Briefanekdote eine zentrale Rolle. Die unmittelbar auf das Missgeschick des zu früh geöffneten Vorhangs folgende Replik des Zuschauers Fischer, dass die Aufführung nicht irgendwo, sondern speziell im „Theaterkalender“ beschrieben werden soll, ist der zweite Grund, die Analyse von Büchners Anekdote mit Tiecks Der gestiefelte Kater zu beginnen. Der Theaterkalender ist als Periodikum zwischen 1775 und 1799 erschienen. Eine regelmäßig wiederkehrende Rubrik ist darin die Sammlung von Anekdoten, in denen von allen möglichen Sonderbarkeiten des Theaterlebens berichtet wird. Dazu gehören missglückte Aufführungen, bei denen es zu einer (Zer-)Störung der theatralen Illusion gekommen ist, sei es ausgehend vom menschlichen Personal, das heißt den Schauspielenden, Souffleuren, Maschinisten sowie dem Publikum, oder von den materiellen Dingen, etwa den Kulissen, Dekorationen und Requisiten. Auch im unmittelbaren Umfeld Büchners erscheinen noch verschiedene Sammlungen solcher Anekdoten. Im Folgenden wird die Anekdote in Büchners Brief vom 15. März 1836 im Zentrum der Analyse stehen. Zunächst soll allgemein die dingtheoretische Ausrichtung der vorgenommenen Argumentation skizziert werden. Anschließend wird Büchners Anekdote mitsamt ihren Dingen vorgestellt und historisch eingeordnet. Sodann werden zwei Gattungstraditionen betrachtet: die Theateranekdote und die politische Anekdote. Abschließend ist auf Büchners Briefanekdote zurückzukommen, wobei die politische Dimension der in der Anekdote erzählten Theaterdinge durch exemplarische Werkbezüge vertieft werden soll.

2 Eine dingtheoretische Ausrichtung der folgenden Analyse soll sich aus zwei Fokussetzungen ergeben: zum einen auf den Vorhang, zum anderen auf die Gattung der Anekdote. Vorhänge sind Dinge, die zugleich über den ontischen Status ande-

 Tieck: Der gestiefelte Kater, S. 540.

Vorhang auf!

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rer Dinge entscheiden. „Der Vorhang“, so Gabriele Brandstetter, „steht seit jeher im Dienst der Überraschung, der Verzauberung, der Illusion.“6 Die Wirkmacht des Vorhangs greift auf die Dinge über, die er zu sehen gibt oder auch verbirgt. Seine Handhabung bewegt sich entlang der Pole eines perfekten Timings einerseits, Fehlhandlungen und technischer Störungen andererseits. Indem er sowohl zu einer Verzauberung als auch zu einer Entzauberung beitragen kann, ist er als wirkmächtiges, aber potentiell widerständiges Ding von besonderem Interesse für dingtheoretische Fragestellungen. Dingtheorien stellen häufig die Widerständigkeit und Eigenmacht der Dinge in den Vordergrund.7 So produktiv diese Fokussierung für die Epistemologie einer dinglichen agency aber auch sein mag, ergibt sich daraus für die dingtheoretische Analyse literarischer Texte zugleich ein gewichtiges Problem. Literarische Texte können die Widerständigkeit der Dinge inhaltlich in Szene setzen, dennoch hat man es nicht mit einer dinglichen Eigenmacht zu tun, sondern mit Werkkompositionen, die noch jeden Un-Sinn der Zufälligkeit in den Sinn der Darstellung integrieren.8 Anders sieht dies im Fall von Theateraufführungen aus. Als Umsetzungen von Inszenierungskonzepten sind sie in weniger starker Form durativ, stattdessen eröffnen sie Spielräume für ungeplante Ereignisse.9 Wenn in einem Roman davon erzählt wird, dass während einer Theateraufführung eine Kulisse umstürzt, ist das etwas anderes, als wenn dies während einer Aufführung

 Gabriele Brandstetter: Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs. In: Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste. Hrsg. v. Gabriele Brandstetter, Sibylle Peters. Freiburg 2008, S. 19–41, hier S. 25. Vgl. als weitere Forschungsbeiträge zum Vorhang Dies.: Der Vorhang als Figur der Verwandlung. In: Verwandlungen. Archäologie der literarischen Kommunikation IX. Hrsg. v. Aleida u. Jan Assmann. München 2006, S. 283–297; Marlis Radke-Stegh: Der Theatervorhang. Ursprung – Geschichte – Funktion. Dargestellt bis in das Zeitalter des Barock. Maisenheim am Glan 1978. Ein Gesamtüberblick zur Geschichte des Vorhangs – vor allem ein solcher mit einer dingtheoretischen und praxeologischen Ausrichtung – liegt m.W. bisher nicht vor. Dafür hat sich die Forschung verstärkt mit den Vorhängen als bemalten Kunstwerken befasst. Diesen Studien sind wiederum allgemeine Aspekte zur Geschichte des Vorhangs zu entnehmen. Vgl. Karl Bachler: Gemalte Theatervorhänge in Deutschland und Österreich. München 1972; Susanne Fischer-Kauer: Wiener Theatervorhänge. Repräsentation, Kunstdiskurs und kulturelles Selbstverständnis um 1800. Berlin u. Boston 2020.  Vgl. als knappen Überblick Alexander Kling: Aus dem Rahmen fallen. Dingtheorie, Narratologie und das Komische (Platon, Vischer, Loriot). In: Das Verhältnis von res und verba. Zu den Narrativen der Dinge. Hrsg. v. Martina Wernli u. Alexander Kling. Freiburg 2018, S. 309–332, hier S. 313–316.  Vgl. Martina Wernli, Alexander Kling: Von erzählten und erzählenden Dingen. Zur Einführung. In: Das Verhältnis von res und verba, S. 7–31, hier S. 26.  Vgl. Kathi Loch: Dinge auf der Bühne. Entwurf und Anwendung einer Ästhetik der unbelebten Objekte im theatralen Raum. Aachen 2009, S. 116–120.

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Alexander Kling

tatsächlich geschieht – zumindest wenn dies nicht Teil des Inszenierungskonzepts ist. Das eine Mal ist die dingliche Widerständigkeit Teil des Kunstwerks, das andere Mal hebt sie es auf. Mit der Unterscheidung von literarischem Text und Theater rückt nun schließlich die Gattung der Anekdote und deren Bedeutung für dingtheoretische Fragestellungen in den Blick. Für Theateranekdoten gilt, dass sie zwischen Theater und literarischem Text, transitorischer Aufführung und durativem Werk positioniert sind. Theateranekdoten bereiten die flüchtigen Theaterereignisse, die häufig mit einer Widerständigkeit der Dinge verbunden sind, textuell auf.10 Dadurch bekommen diese Ereignisse einen durativen Charakter, der neben der Speicherung auch ihre Zirkulation ermöglicht.11 Eine Poetik der Dinge ist ohne eine Poetik der Gattungen nicht zu haben. Dabei ist aber auch Vorsicht geboten: Die Gattung der Anekdote suggeriert zwar eine protokollartige Wiedergabe der dinglichen Widerständigkeit, dennoch basiert die Vertextung der Dinge auch in Anekdoten auf einer literarischen Formgebung – Anekdoten sind verdichtete und komponierte Texte.12 In Hinblick auf ihre Darstellung der Dinge ist damit grundsätzlich nach dem Wie der textuellen Inszenierung zu fragen – das gilt auch für Büchners Briefanekdote sowie die Gattungstraditionen, die mit dieser verbunden sind.

3 Büchners Brief vom 15. März 1836 besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird von einer willkürlich verfahrenden Justiz berichtet, die nach Belieben straft oder nicht straft. Im dritten Teil thematisiert Büchner die Flucht ins Exil und die dort beobachtbare Anpassung, die sich u. a. in den „vielen und guten Examina“ (DKV 2, S. 431) niederschlägt. Pointiert formuliert, entwerfen die beiden Teile des Briefs somit den Übergang vom umkämpften Vormärz zum ruhiggestellten Biedermeier. Verknüpft sind beide Teile über den politischen Ausnahmezustand, in dem Gesetze Teil der Ge-

 Zur Referentialität und zum Realismus der Anekdote vgl. Reinhard M. Möller, Christian Moser: Anekdotisches Erzählen – zur Einführung. In: Anekdotisches Erzählen. Zur Geschichte und Poetik einer kleinen Form. Hrsg. v. Dies. Berlin u. Boston 2022, S. 1–24, hier S. 7.  Von hier aus gelangen die Theateranekdoten um 1800 in den Darstellungsraum der romantischen Literatur, wo ihr transzendentalpoetisches Potential für eine Inszenierung des Theaters, aber auch von Zufälligkeit und Un-Sinn genutzt wird.  Zur Spannung zwischen der Referentialität und dem Realismus der Anekdote auf der einen, ihrer Konstruiertheit und poetischen Formung auf der anderen Seite vgl. Möller, Moser: Anekdotisches Erzählen, S. 8 f.

Vorhang auf!

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walt sind und der zudem eine konspirative Kommunikation hervorbringt, die durch den Austausch von Berichten und Erzählungen den Ausnahmezustand dokumentiert und veranschaulicht.13 Den Mittelteil des Briefs bildet die Anekdote. Mit dieser wechselt der Brief von einem telling zu einem showing und nutzt so für die Darstellung des Ausnahmezustands die Evidenzkraft des Anekdotischen:14 Ich will Euch […] sogleich eine sonderbare Geschichte erzählen, die Herr J[aeglé] in den englischen Blättern gelesen, und die, wie dazu bemerkt, in den deutschen Blättern nicht mitgeteilt werden durfte. Der Direktor des Theaters zu [Braunschweig] ist der bekannte Componist Methfessel. Er hat eine hübsche Frau, die dem Herzog gefällt, und ein Paar Augen, die er gern zudrückt, und ein Paar Hände, die er gern aufmacht. Der Herzog hat die sonderbare Manie, Madame Methfessel im Kostüm zu bewundern. Er befindet sich daher gewöhnlich vor Anfang des Schauspiels mit ihr allein auf der Bühne. Nun intriguiert Methfessel gegen einen bekannten Schauspieler, dessen Namen mir entfallen ist. Der Schauspieler will sich rächen, er gewinnt den Maschinisten, der Maschinist zieht an einem schönen Abend den Vorhang ein Viertelstündchen früher auf, und der Herzog spielt mit Madame Methfessel die erste Scene. Er gerät außer sich, zieht den Degen und ersticht den Maschinisten; der Schauspieler hat sich geflüchtet. – (DKV 2, S. 430 f.)

Ein Maschinist, der sich bitten lässt, ein Vorhang, der zu früh geöffnet wurde, ein privater Vorgang, der öffentlich wird und eine Illudierung, die ausgerottet werden soll – Analogien zu Tiecks Der gestiefelte Kater liegen auf der Hand. Auch dieser Vorfall ließe sich in eine Sammlung von Theateranekdoten aufnehmen. Dass dies nicht erfolgt ist, ergibt sich daraus, dass man es hier nicht mit einem harmlosen Unfall, sondern mit einem politischen Skandal und einem veritablen Verbrechen zu tun hat. In Tiecks Der gestiefelte Kater ist das Öffnen des Vorhangs als subjektloser Vorgang gestaltet. Auf die Frage des Maschinisten – „Wer hat denn die Gardine aufgezogen“ – gibt das Stück keine Antwort. Auch an anderen Stellen verwendet der dramatische Nebentext Formulierungen, die auf kein Handlungssubjekt ver-

 Zum Ausnahmezustand bei Büchner vgl. Michael Niehaus: Recht und Strafe. In: BüchnerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Roland Borgards, Harald Neumeyer. Stuttgart u. Weimar 2015, S. 191–198.  Zur Evidenzkraft der Anekdote vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012, S. 190; Christian Moser: Von der Sonne der Wahrheit zum Blitz der Erkenntnis. Epistemische Funktionen der Anekdote – Antike und Neuzeit im Vergleich. In: Europäische Gründungsmythen im Dialog der Literaturen. Festschrift für Michael Bernsen zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Roland Ißler, Rolf Lohse, Ludger Scherer. Göttingen 2019, S. 463–476. Vgl. zudem zur Anekdote als Aufschreibeform der Gegenwart Johannes F. Lehmann: (Un-)Arten des Faktischen. Tatsachen und Anekdoten in Kleists Berliner Abendblättern. In: Unarten. Kleist und das Gesetz der Gattung. Hrsg. v. Andrea Allerkamp, Matthias Preuss, Sebastian Schönbeck. Bielefeld 2019, S. 265–283.

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Alexander Kling

weisen: „indem geht der Vorhang“, [d]er Vorhang fällt“, „[d]er Vorhang geht wieder auf“.15 In Büchners Anekdote werden mit dem zu früh geöffneten Vorhang ebenfalls Illusion und Wirklichkeit gemeinsam sichtbar. Anders als bei Tieck ist aber die Öffnung des Vorhangs eindeutig als menschliche Handlung, als Intrige, gekennzeichnet. Es geht hier auch nicht darum, hinter der poetischen Illusion die Prosa der materiellen Theaterbedingungen kenntlich zu machen. Vielmehr ist das, was der zu früh geöffnete Vorhang zeigt, selbst hochtheatral. Zu sehen sind Leidenschaften und Konflikte, soziale Rollen und Gewalt. Gespielt wird inmitten der Kulissen, die Schauspielerin ist bereits im Kostüm, ihr Mitspieler trägt, etwa mit dem Paradedegen, die Kleidung eines Herzogs. Die Wirklichkeit aber kommt dadurch auf die Bühne, dass es sich nicht um einen Theaterherzog, sondern um einen echten Herzog handelt; seine Bloßstellung ist nicht auf eine Rolle begrenzt, sondern wirkt über den Bühnenraum hinaus; sein Degen ist kein Requisit, sondern eine tatsächliche Waffe, deren Verwendung nicht zu einem vorgetäuschten, sondern zu einem wirklichen Mord führt. Der zu früh geöffnete Vorhang enthüllt eine theatrale Szene, die zugleich todernste Folgen zeitigt. Der Forschung, vor allem Ariane Martin, ist es gelungen, den historischen Hintergrund der Anekdote aufzubereiten.16 Gedruckt wurde sie in der englischen Tageszeitung The Times. Dort ist ihr der folgende einleitende Kommentar vorangestellt: We have been entertained here with a tragedy by our Royal Duke, that will prove to the world the cause of continual disagreement between the Prince and the people. The late acts of this family are convincing proofs of madness, and yet we are compelled to term it only ‚passion‘. The one is discarded for neglecting the nobility – the other will be protected for murdering his subjects! Here are the simple facts of the case.17

Auffällig ist die Vermischung von Objektbereich und Beschreibungssprache: Der Vorfall sei eine Tragödie, die Berichterstatter und Leser*innen nicht nur schockiere, sondern auch unterhalte. Ebenso heißt es im Folgenden, dass es der intrigierende Schauspieler und der Maschinist nur auf einen „joke“ abgesehen hatten, der

 Tieck: Der gestiefelte Kater, S. 538 sowie 497, 512 u. 514.  Vgl. Ariane Martin: Eine Anekdote aus „den englischen Blättern“. Büchner als Gegengeschichtsschreiber (am Beispiel seines Briefes vom 15. März 1836). In: Commitment and Compession. Essays on Georg Büchner. Festschrift für Gerhard P. Knapp. Hrsg. v. Patrick Fortmann, Martha B. Helfer. Amsterdam u. New York 2012, S. 231–256. Martin hat die verschiedenen Textmaterialien aus dem Umfeld von Büchners Anekdote erschlossen. In ihrer Analyse kennzeichnet sie die Anekdote als Gegengeschichtsschreibung, wobei sie auch auf die Gattungsgeschichte der Anekdote (allerdings nicht der Theateranekdote) eingeht, etwa ausgehend von Prokop.  Zit. n. Martin: Eine Anekdote aus „den englischen Blättern“, S. 238. Die Anekdote wurde auch in weiteren englischen Journalen abgedruckt.

Vorhang auf!

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dann aber zu einem „tragic end“ geführt habe.18 Entsprechend des Napoleon zugeschriebenen Sprichworts, dass es vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein kleiner Schritt sei – Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas –,19 sind auch in der Anekdote das Tragische und das Komische eng miteinander verwoben, allerdings kippt dabei nicht das Erhabene ins Lächerliche, vielmehr verwandelt sich mit der Ermordung des Maschinisten das Lachen über den entblößten Herzog in blankes Entsetzen. Wenn es im einleitenden Kommentar zur Anekdote heißt, dass diese ein weiterer Beleg für den Wahnsinn der herzoglichen Familie sei, dann bezieht sich dies nicht nur auf den amtierenden Herzog Wilhelm I. von Braunschweig, sondern auch auf dessen älteren Bruder und Vorgänger Karl II., der seit 1815 als Herzog amtiert hatte und im Zuge der revolutionären Unruhen im Jahr 1830 von seiner Herrschaftsposition zurücktreten musste – Karl gilt als der erste Fürst, der auf deutschem Boden durch einen Aufstand dauerhaft abgesetzt wurde.20 Ausgebrochen ist dieser Aufstand, während sich Karl im Theater befand, auch seine Geliebte, eine Schauspielerin, wurde dabei attackiert. Wilhelm I. übernahm das Herzogamt nach dem Aufstand und regierte bis zu seinem Tod im Jahr 1884. Stellt man aus der Perspektive des Jahres 1836 in Rechnung, dass es in der jüngeren Geschichte Braunschweigs zu Vorfällen gekommen war, in denen das Fehlverhalten des Herzogs, seine Liebschaften und sein Bezug zum Theater politisch folgenreich waren, wird die Brisanz von Büchners Anekdote erheblich erhöht, denn sie ruft mit der Gewalt des Herzogs zugleich die Vorgeschichte der Absetzung von dessen Vorgänger in Erinnerung. Im Folgenden wird nun ein Blick auf die Gattungen der Theateranekdote und der politischen Anekdote geworfen. Anschließend ist auf Büchners Anekdote zurückzukommen.

4 Theateranekdoten handeln häufig von Aufführungen, die gegenüber den Normen und Regeln des Theaters aus dem Ruder gelaufen sind. Je stärker das Theater normiert und reguliert wird, desto mehr Abweichungsmöglichkeiten gibt es, die sich

 Zit. n. Martin: Eine Anekdote aus „den englischen Blättern“, S. 239.  Zu dieser Sentenz vgl. Günter Oesterle: Epiphanie und Gleichursprünglichkeit des Erhabenen und Komischen in Karl Wilhelm Ferdinand Solgers Ästhetik und Eduard Mörikes Lyrik. In: Vom Erhabenen und vom Komischen. Über eine prekäre Konstellation. Hrsg. v. Hans Richard Brittnacher u. Thomas Koebner. Würzburg 2010, S. 65–74, hier S. 65–67.  Vgl. hierzu Gerd van den Heuvel: Das Herzogtum Braunschweig. In: Geschichte Niedersachsens. Vierter Band: Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Teil 1: Politik und Wirtschaft. Hrsg. v. Stefan Brüdermann. Göttingen 2016, S. 136–155, hier S. 145–151.

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dann anekdotisch aufbereiten lassen.21 Im Zentrum dieser Regulierungen und Normierungen steht um 1800 die theatrale Illusion, deren Zustandekommen sich, nach einer Formulierung von Friedrich Justus Riedel in seiner Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1774) daraus ergibt, dass von den Zuschauenden „das Bezeichnete sinnlicher und lebhafter, als das Zeichen, gedacht wird.“22 Das Signifikat als geistige Vorstellung muss gegenüber dem Signifikanten, dem materiellen Träger, in den Vordergrund treten – so verschwindet das Darstellende hinter dem Dargestellten und bringt die Illusion hervor.23 Wie dies theaterpraktisch umzusetzen ist, wird in einer Vielzahl von Texten verhandelt, die bereits nach ihren Titeln Gesetze, Regeln und Vorschriften zur Hervorbringung der theatralen Illusion sowie zur Regulation des gesamten Theaterdispositivs aufstellen. Die Schauspielenden müssen hinter ihren Rollen und die Requisiten hinter den von ihnen verkörperten Dingen verschwinden; die Kulissen müssen so gebaut sein, dass es durch schräge Sichtachsen und Größendisproportionen nicht zu Desillusionseffekten kommt; außerdem gibt es für das gesamte Theaterpersonal – Souff-

 Etappen dieser Regulierungen und Normierungen sind Gottscheds Reformen, etwa die Austreibung des Harlekins, sowie Lessings an Diderot orientierte Konzeption eines naturalistischen Theaters. Ebenfalls zu nennen ist der Kampf gegen das Laientheater. Vgl. hierzu Heinrich Bosse: Das Liebhabertheater als Pappkamerad. Der Krieg gegen die Halbheit und die „Greuel des Dilettantismus“. In: Dilettantismus um 1800. Hrsg. v. Stefan Blechschmidt u. Andrea Heinz. Heidelberg 2007, S. 69–90. Auch in den Stücken selbst werden die Regeln und Normen zur Darstellung gebracht. Zu denken wäre – neben Tieck – an die Handwerkerszenen in Shakespeares A Midsummer Night’s Dream (1595/56) oder an Gryphiusʼ Absurda Comica (1658). Die Opposition von Laientheater und offiziellem Theater, die u. a. anhand der Requisiten durchgespielt wird, setzt Charlotte Schiller in Der verunglückte 5te März (1802) in Szene. Sammlungen mit Theateranekdoten, auch zum Vorhang, finden sich auch über das 19. Jahrhundert hinaus. Vgl. Emil Pirchan: Bühnenbrevier. Theatergeschichten, Kulissengeheimnisse, Kunstkuriosa aus allen Zeiten und Zonen. Wien, Leipzig, Olten 1938; Volker Meid (Hrsg.): Lachen hinter dem Vorhang. Theateranekdoten. München u. Zürich 1992; Sibylle Peters: „Ich bin die Vorhangbegleitung.“ Vorhang-Anekdoten erzählt von Mitarbeitern des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. In: Brandstetter, Peters (Hrsg.): Szenen des Vorhangs, S. 163–167.  Friedrich Justus Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Neue Aufl. Wien u. Jena 1774 [1767], S. 152. Vgl. als Überblick zur ästhetischen Illusion Werner Wolf: Ästhetische Illusion. In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Hrsg. v. Martin Huber u. Wolf Schmid. Berlin u. Boston 2018, S. 401–417.  Zumindest hingewiesen sei darauf, dass die Illusion in einem Spannungsverhältnis zum Idealismus von Theater und Schauspiel steht. Als Beispiel für diesen Idealismus lassen sich Goethes Regeln für Schauspieler (1803/1824) nennen. Im Fall Schillers ist eine theoretische Verschiebung zu verzeichnen: Vertritt er im Abschnitt Das Schöne der Kunst aus den Kallias-Briefen (1793) noch die Vorstellung, dass eine gelungene Darstellung vor allem auf dem Unkenntlichwerden des Darstellenden basiert, argumentiert er hingegen in Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie (1803) für eine Darstellungsweise, in der die Freiheit des Spiels durch eine Distanznahme zum Gespielten – hierzu dient der Chor – erkennbar bleibt.

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leure, Maschinisten, Garderobiers, Friseure –, genaue Ablaufvorschriften, die bei Nichteinhaltung mit Geldstrafen geahndet werden.24 Dem reichen Fundus an Regulierungen und Normierungen steht ein ebenso reicher Fundus an Dingen gegenüber, die im Verlauf einer Aufführung schiefgehen können. Die Schauspielenden fallen aus der Rolle, die Requisiten geben sich als solche zu erkennen, Kulissen stürzen ein, Souffleure, Maschinisten usw. machen sich unfreiwillig bemerkbar, es kommt zu Slapstick-Kettenreaktionen, kurz: die ästhetische Illusion wird gestört oder aufgehoben. Von all solchen Ereignissen berichten die Anekdoten im Theaterkalender. Es sind komische Szenen, in denen nicht zuletzt die materiellen Dinge aus dem Rahmen und aus der Rolle fallen und sich so als widerständig erweisen. Ein entscheidender Faktor ist in diesem Zusammenhang der Vorhang. Als konkretes Ding, das den Illusionsraum der Bühne vom Wirklichkeitsraum der Zuschauenden trennt, ist er Stellvertreter eines imaginären Dings – der vierten Wand.25 Zudem reguliert er, was gesehen wird und was nicht. Damit trägt er elementar zum Zustandekommen der theatralen Illusion bei. Als regulierendes Ding muss der Vorhang auch selbst reguliert werden. Eine dieser Regulierungen gilt seiner dinglichen Erscheinung. So setzt sich im 19. Jahrhundert zunehmend die Tendenz durch, dass der Vorhang nicht mehr als mit allegorischen und mythologischen Figuren bemalter Gegenstand selbst den Rang eines Kunstwerks hat. Stattdessen wird, etwa von Karl Friedrich Schinkel, ein einfarbiger Vorhang gefordert, um zu verhindern, dass es eine „Vorstellung vor der Vorstellung“ gibt.26 Der Vorhang soll Teil des Rahmens, des Parergon, sein, er soll aber nicht selbst in den Rang des Ergon aufsteigen. Eine weitere Regulation des Vorhangs bezieht sich auf seinen praktischen Gebrauch. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden Vorhänge zunehmend zur Abtrennung der Akte ver-

 Exemplarisch seien folgende Texte genannt: Friedrich Ludwig Schröder: Gesetze des Hamburgischen Theaters. O.O. [1798]; Louis Catel: Vorschläge zur Verbesserung der Schauspielhäuser. Berlin 1802; Friedrich Weinbrenner: Über Theater in architektonischer Hinsicht. Mit Beziehung auf Plan und Ausführung des neuen Hoftheaters zu Carlsruhe. Tübingen 1809; Anton Franz Riccoboniʼs und Friedrich Ludwig Schröderʼs Vorschriften über die Schauspielkunst. Eine praktische Anleitung für Schauspieler und Declamatoren. Leipzig 1821; Theater-Gesetze für die unter der Leitung des Direktors Friedrich Spielberger gestellten Bühnen. Würzburg 1854.  Zum Zusammenhang von Vorhang und vierter Wand vgl. Denis Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst. In: Ders.: Ästhetische Schriften. Erster Band. Hrsg. v. Friedrich Bassenge. Berlin u. Weimar 1967, S. 239–347, hier S. 284. Zum Blickregime des Theaters in Verbindung mit der vierten Wand vgl. Johannes F. Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg 2000.  Karl Friedrich Schinkel: Nationaltheater. In: Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk. Berlin. Erster Teil. Bauten für die Kunst. Kirchen/Denkmalpflege. Hrsg. v. Paul Ortwin Rave. Berlin 1941, S. 79–87, hier S. 86. Vgl. auch Weinbrenner: Über Theater in architektonischer Hinsicht, S. 30 f.

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wendet. Dadurch erhöhen sich die Anforderungen an die Bühnentechnik sowie an das Timing der Maschinisten. Umgekehrt werden für fehlerhafte Öffnungen und Schließungen Geldstrafen festgelegt.27 Ohne Frage liegt das stärkste anekdotische Potential des Vorhangs in seiner fehlerhaften Öffnung. In dieser Form tritt er bei Tieck und bei Büchner in Erscheinung. Bei E.T.A. Hoffmann kommt dem fehlerhaften Öffnen bereits eine Verfremdungswirkung zu, die später von Bertolt Brecht als Technik der Desillusionierung ausgearbeitet wird.28 Insofern der Vorhang für die Regulation des Gesehenen und Nichtgesehenen sowie für die Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum zuständig ist, ließen sich alle Anekdoten, die von Missgeschicken und Grenzverletzungen handeln, auf ihn zurückführen. Im Theaterkalender finden sich immer wieder Anekdoten, die davon erzählen, wie Requisiten ungeschickt gebraucht werden, Kulissen einstürzen oder die Schauspielenden statt eines Degens einen Geigenbogen mit auf die Bühne bringen, den sie dann für Mordszenen verwenden müssen. Beliebt ist auch der Fall, dass auf Schauspielende, die als Leichname auf der Bühne liegen, Kerzenwachs tropft, sodass sie irgendwann ein Lebenszeichen von sich geben müssen, was in der Regel mit einem improvisierten Kommentar erfolgt, der dann vom Publikum mit Applaus goutiert wird. Die wenigen Beispiele zeigen bereits, dass die theatrale Illusion auf den richtigen Gebrauch der richtigen Dinge zum richtigen Zeitpunkt angewiesen ist. Es besteht eine Abhängigkeit von den Dingen, die sich jedoch den menschlichen Intentionen entziehen und auf diese Weise komische Effekte hervorbringen können.29 Umgekehrt entscheidet die Grenzlinie von Bühnen- und Zuschauerraum

 Die zunehmende Verwendung des Vorhangs zur Trennung der Akte steht auf enge Weise mit der theatralen Illusion in Verbindung. Vgl. Bachler: Gemalte Theatervorhänge, S. 28–32; Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen: 1982, S. 73–75. Zu den Geldstrafen vgl. Schröder: Gesetze des Hamburgischen Theaters, S. 37 f.; Spielberger: Theater-Gesetze, S. 21.  E.T.A. Hoffmann: Der vollkommene Maschinist. In: Ders.: Fantasiestücke in Callotʼs Manier. Werke 1814. Hrsg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen u. Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M. 2006, S. 72–82; Bertolt Brecht: Warum die halbhohe, leicht flatternde Gardine. In: Ders.: Gesammelte Werke. Band 16. Hrsg. v. Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a.M. 1967, S. 757–758. Vgl. auch Bertolt Brecht: Die Vorhänge. In: Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Zweite, durchgesehene und erweiterte Aufl. Hrsg. v. Berliner Ensemble, Helene Weigel. Berlin u. Frankfurt a.M. 1961, S. 133. Hingewiesen sei noch auf eine Erzählung von Wilhelm von Hoxar, in der ein Theatermeister ein Gespräch mit einem Vorhang führt, in dem es um dessen Erscheinungsweise und Gebrauch sowie insgesamt um die zeitgenössischen Inszenierungspraktiken geht. Vgl. Wilhelm von Hoxar: Der neue Vorhang. Eine Fantasie. In: Vor den Coulissen. Original-Blätter von Celebritäten des Theaters und der Musik. Bd. 2. Hrsg. v. Joseph Lewinsky. Berlin 1882, S. 186–210.  Komiktheoretisch ausgearbeitet wird diese Abhängigkeit des Menschen von den Dingen bereits von Stephan Schütze in seiner Abhandlung Versuch einer Theorie des Komischen (1817).

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über den ontischen Status der Dinge. Deutlich wird dies in einer Anekdote, in der ein Zuschauer plötzlich eine Pistole auf eine Schauspielerin auf der Bühne richtet – das Entsetzen der Anwesenden löst sich erst auf, als der Zuschauer in die Pistole beißt und diese sich so als eine Nachbildung aus Schokolade zu erkennen gibt.30 Anekdoten dieser Art ergeben sich aus der Verunsicherung der Grenze von Spiel und Wirklichkeit, von Attrappendingen oder Mordwerkzeugen. Seltener als die komischen Anekdoten sind solche mit einem ernsten Verlauf. Hierzu sei ein Beispiel aus einer Anekdotensammlung aus dem Jahr 1834 etwas genauer betrachtet. Dem Vorhang als Regulator des Sichtbaren sowie des ontischen Status der Ereignisse und Dinge kommt in dieser Anekdote eine zentrale Rolle zu: Eine Truppe von reisenden Schauspielern bey Bremen hatte so eben den ersten Act eines Melodrames vollendet. Der Vorhang fällt. Die Leute sind im Costüme unter sich. Ein raffinirter Bösewicht in Uniform, mit dem Degen an der Seite, ein gebeugter alter Mann, ein liebenswürdiger tugendhafter Jüngling, eine herrische junge Dame, ein naseweises Kammermädchen u.s.w. Unter den rohen Menschen, die vom Weine und durch das Spiel erhitzt sind, entsteht ein Streit. Der Bösewicht zieht in Wuth seinen Degen, und durchsticht den Alten. Der liegt am Boden. Seine Frau erhebt lautes Wehegeschrey. Alles ist verwirrt, und steht in staunenden Gruppen da. Der Theaterdiener glaubt, der zweyte Act beginnt. Er zieht die Glocke und den Vorhang; – er geht auf. Das Publikum starrt hin. Welch ein Anblick! Zwar kein künstlerischer, aber in seiner frappanten Zeichnung höchst ergreifender Auftritt. Ein Mann liegt in seinem Blute schwimmend am Boden; sein Auge ist geschlossen; er zuckte manchmahl krampfhaft auf. Seine Gattinn ist über ihn gebeugt, sie saugt seinen letzten Athem ein, und hält ihren verwaisten Sohn an der Hand. Rings umher bilden sämmtliche Charaktere des Stückes die schweigende Umgebung. Dazu jubilirt das Orchester, raset das Publikum, weinen die Sentimentalen, moquiren sich die Classischen. Man weiß zwar nicht recht, wie dieser Auftritt mit dem vorübergehenden zusammen hängt, man hofft baldige Erklärung, man vergißt einstweilen die Forderung der Wahrscheinlicheit, und ist von der Kraft der Darstellung hingerissen. Da tritt ein Beamter vor, der leider zu spät auf das Theater gerufen wurde, Ordnung zu schaffen. Er sagt: „Einen hohen Adel und verehrungswürdiges Publikum benachrichtige ich hiermit, daß der bevorstehende Casus nicht zum Stücke gehört, sondern ein Justizfall ist. Dieser Mann

Vgl. Ders.: Versuch einer Theorie des Komischen. Mit weiteren komiktheoretischen Texten Schützes. Einleitung, Schriftenverzeichnis und Anmerkungen hrsg. v. Alexander Kling u. Johannes F. Lehmann unter Mitarbeit von Justus Beyerling u. Alessia Heider. Hamburg 2022, S. 36–38. Zu einer Verknüpfung von Schützes Komiktheorie mit den Texten Büchners vgl. auch Johannes F. Lehmann: Mit Händen und Füßen. Büchner und die romantische Komiktheorie (von Stephan Schütze). In: Georg Büchner und die Romantik, S. 121–136.  Die Anekdote findet sich in Justus Hilarius [Sebastian Wilibald Schießler]: Coulissen-Blitze in Anekdoten, Schwänken, Schnurren und witzigen Einfällen auf Theater und Schauspieler geschleudert. Vierte Schleuder. Meißen u. Pesth 1829, S. 5 f.

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liegt wirklich, thatsächlich, nicht phantastisch ermordet da, und hier steht der Mörder, dem die gerechte Strafe nicht ausbleiben soll.“31

Zunächst einmal ist diese Anekdote ein gutes Beispiel dafür, dass die vermeintliche Unmittelbarkeit des dargestellten Theaterereignisses als Effekt einer textuellen Inszenierung angesehen werden muss. Deutlich wird dies an der gezielten Vermischung der Charaktereigenschaften der Schauspielenden mit Figurentypen des Theaterarsenals; im weiteren Verlauf werden dann zur Beschreibung und Kommentierung des Geschehens Begriffe der Theaterästhetik aufgegriffen; schließlich wird die Unmittelbarkeit durch die Verwendung eines dramatischen Modus in Szene gesetzt, etwa durch das Präsens sowie die parataktischen Sätze, die als Parallelismen aneinandergereiht sind. Auf diese Weise wird das beschriebene Ereignis den Leser*innen der Anekdote szenisch vor Augen gestellt. Die dabei eingefangenen Affekte ergeben sich ausgehend von der Grenze zwischen dem Bühnenraum als Ort des fiktiven Spiels und dem Zuschauerraum als Ort der Wirklichkeit – sowie deren Verletzung. Dem Vorhang kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu: Zunächst verdeckt er für das Publikum die Mordhandlung; die hinter dem Vorhang vernehmbaren Geräusche lassen dann den Theaterdiener glauben, dass das Spiel fortgesetzt wird. Deshalb öffnet er den Vorhang, was bei den Zuschauenden zwar den Eindruck einer Normwidrigkeit erzeugt, aber sie doch emotional in das vermeintliche Spiel verwickelt. Scheinbar hat sich hinter dem Vorhang ein rätselhaftes Geschehen ereignet, dessen Knoten das weitere Spiel lösen wird. Die Zuschauenden gehen also davon aus, dass alles, was sich auf der Bühne ereignet, selbst bei geschlossenem Vorhang, Teil der fiktiven Handlung ist. Aus dieser Perspektive wäre der Vorhang ein dramaturgisches Mittel, doch erweist sich schließlich der „phantastisch[e]“ Mord als echter Mord, die gespielten Affekte als echte Affekte, das Degenrequisit als echter Degen, der Theaterfall als „Justizfall“. Mit all diesen Verwandlungen schließt sich der Kreis zu Büchners Anekdote. Ein Unterschied besteht jedoch im sozialen Rang der handelnden Personen: Sind es „hier rohe[] Menschen“, ist es dort ein regierender Fürst. Deshalb wird in dem einen Fall der Delinquent umgehend seiner „gerechte[n] Strafe“ überführt, während im anderen Fall nach Auskunft der Anekdote ein Bekanntwerden des Mordes zumindest in den deutschen Journalen unterdrückt wird. Es ist diese mit der sozialen Hierarchie verbundene Geheimhaltung, die dazu führt, dass Büchners Anekdote sich nicht nur in die Gattungstradition der Theateranekdote, sondern auch der politischen Anekdote einreiht.

 C.F. Müller: Theater-Anekdoten, oder Enthüllung des inneren Lebens der Breterwelt und ihrer Kunstjünger, der Schauspieler, Theaterdichter und Compositeurs. In wahren komischen und erheiternden Charakterzügen und Begebenheiten gesammelt und dem theaterliebenden Publikum zugeeignet. Bd. 2. Wien 1834, S. 20–22.

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5 Insofern sich Theateranekdoten Normbrüchen und Abweichungen widmen, erzählen sie Gegengeschichten zum ‚offiziellen‘ Theater. Dies entspricht der Gattungsgeschichte der Anekdote. Der spätantike Geschichtsschreiber Prokop schildert in seinen Anekdota die geheimen Verbrechen am Hof des oströmischen Kaisers Justinian I. Das öffentliche Bild des Kaisers und seiner Frau Theodora wird auf diese Weise durch die im Verborgenen liegenden Laster in Frage gestellt. Gleich zu Beginn der Anekdota weist Prokop auf die Angst hin, für einen „Märchenerzähler[]“ oder „Tragödiendichter[]“ gehalten zu werden. Dennoch habe er sich aber zum Schreiben entschieden, um die „Taten und Wesenszüge“ der „Gewaltherrscher“ für „alle Zeiten schriftlich“ festzuhalten.32 Prokops Anekdoten funktionieren somit wie ein aufgezogener Vorhang – sie machen hinter dem öffentlichen Bild des Herrschers ein geheimes und verwerfliches Leben sichtbar. Die Unterscheidung eines öffentlichen und eines privaten Lebens der Herrschenden spielt auch in den frühneuzeitlichen Souveränitätstheorien eine zentrale Rolle. Auf dem Titelblatt von Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) findet sich in der unteren Bildhälfte ein Vorhang, auf dem Buchtitel und Autorname zu lesen sind. Nach Carl Schmitt deutet der Vorhang an, „daß hier nicht nur viel gesagt, sondern außerdem auch einiges verborgen ist.“33 Der Vorhang verdeckt die Geheimnisse der Souveränität. Während es bei Prokop dabei vor allem darum geht, was die Herrschenden heimlich tun, beschreiben frühneuzeitliche Theorien, was die Souveränität ist. Blaise Pascal bezieht in seinen Pensées (1669) die Vorstellung vom Souverän als „göttliche[s] Wesen“ auf sein Erscheinen „zusammen mit allen Dingen […], welche die Welt zu Achtung und Schrecken nötigen“.34 Indem der Souverän regelmäßig in einem solchen Rahmen auftrete, verwandle sich Gewohnheit in Ontologie – „Achtung und Schrecken“ werden vom Rahmen auf das „Wesen“ der souveränen Person übertra-

 Prokop: Anekdota. Geheimgeschichte des Kaiserhofs von Byzanz. Griechisch-deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Otto Veh. Mit Erläuterungen, einer Einführung und Literaturhinweisen von Mischa Meier und Hartmut Leppin. Düsseldorf u. Zürich 2005, S. 9–11.  Carl Schmitt: Die vollendete Reformation. Bemerkungen und Hinweise zu neuen LeviathanInterpretationen. In: Der Staat 4/1 (1965), S. 51–69, hier S. 57. Unter Rückgriff auf diese Formulierung hat Herfried Münkler den Vorhang als ein „Sinnbild der arcana imperii“ bezeichnet. Ders.: Thomas Hobbes. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Frankfurt a.M. u. New York 2001, S. 42. Auch Giorgio Agamben hat an Schmitt angeschlossen und das Ziel formuliert, den „Vorhang zu heben“. Giorgio Agamben: Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma. Aus dem Italienischen von Michael Hack. Frankfurt a.M. 2016, S. 43.  Blaise Pascal: Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Hrsg. v. Jean-Robert Armogathe. Aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann. Stuttgart 1997, S. 42 f.

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gen.35 Umgekehrt ließe sich die Rückgängigmachung dieser Übertragung als Enthüllung des verborgenen Geheimnisses der Souveränität verstehen; sie leistet eine Entmystifizierung der Lehre von den zwei Körpern des Königs.36 Pascal ist sich der Gefahr dieses Vorgangs für die Souveränität (und damit die politische Ordnung insgesamt) bewusst: Die „Gewohnheit“ sei der „mystische Grund ihrer Autorität“ – „[w]er sie auf ihren Ursprung zurückführt, vernichtet sie.“37 Ähnliche Überlegungen wie bei Pascal finden sich schon früher in Michel de Montaignes Essais (1580), etwa in Von der Ungleichheit, die zwischen uns ist: Die Komödianten, welche auf dem Schauplatze einen Herzog oder Kaiser vorstellen, werden bald darauf wieder armselige Bediente und Lastträger, welches ihr wahrer und ursprünglicher Stand ist. Eben so müssen wir auch einen Kaiser, dessen Pracht uns, wenn er sich öffentlich zeigt, die Augen blendet, […] hinter dem Vorhange betrachten, so werden wir nichts als einen gemeinen Menschen […] an ihm finden.38

Auch Montaigne geht es um Rahmungen und Theatralität, vor allem aber spielt in seiner Argumentation der Vorhang eine zentrale Rolle. Komödianten und Kaiser treten jeweils öffentlich auf und zeigen sich in einer Rahmung von Dingen, die, mit Pascal formuliert, „Achtung und Schrecken“ einflössen. Während aber bei den Komödianten diese Rahmung klar als Theater erkennbar ist und deshalb sofort nach der Aufführung ihre Wirksamkeit verliert, ist umgekehrt die Theatralität der öffentlichen Erscheinung des Kaisers nicht direkt einsehbar. Hier braucht es den Blick hinter den Vorhang, um zu erkennen, dass sich der Kaiser keineswegs wesensmäßig von anderen Menschen, und seien es schlechte Komödianten, unterscheidet.

 Vgl. hierzu auch Alexander Kling: Die Französische Revolution – „als bloßes Schauspiel betrachtet” (Wieland). Zur Inszenierung des Königs in der zeitgenössischen Berichterstattung und den Revolutionsdramen von Franz Hochkirch und Ernst Carl Ludwig Ysenburg von Buri. In: Geschichte in Geschichten. Hrsg. v. Friederike Felicitas Günther u. Markus Hien. Würzburg 2016, S. 77–111.  Vgl. Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Aus dem Englischen übersetzt v. Walter Theimer. München 1990. Vgl. zur Entmystifizierung auch Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktion des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt a.M. 2007, S. 151–159.  Pascal: Gedanken, S. 60. Vgl. hierzu auch Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann. Frankfurt a.M. 1991.  Michel de Montaigne: Von der Ungleichheit, die zwischen uns ist. In: Ders.: Essais. Sämtliche 107 Essais nach der ersten deutschen Gesamtausgabe von Johann Daniel Tietz. Durchgesehene Neuausgabe. Frankfurt a.M. 2010, S. 298–308, hier S. 300 f.

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Egal, ob mit dem Öffnen des Vorhangs die Geheimnisse des Seins oder des Tuns der Souveränität offengelegt werden, in jedem Fall handelt es sich um eine revolutionäre Geste. Der Souverän wird inmitten anderer Dinge (z. B. dem Bett statt dem Thron) oder bei einem anderen Umgang mit Dingen sichtbar, die jeweils der herrschaftslegitimierenden und -stabilisierenden Funktion des öffentlichen Bildes entgegenstehen. Diese Grundausrichtung legt es nahe, dass entsprechende Anekdoten, die von der Kreatürlichkeit oder der Gewalttätigkeit der Herrschenden handeln, gerade im Umfeld der Französischen Revolution zirkulieren. Auffällig ist dabei, dass das geheime Leben der königlichen Familie nicht nur in den revolutionären, sondern auch in den royalistischen Schriften zur Darstellung kommt. So wird die königliche Familie während ihrer Gefangenschaft 1792 im Temple nach der Topik aufgeklärter Empfindsamkeit in Szene gesetzt. Einerseits dient dies dazu, Mitleid zu generieren, andererseits führt dies aber dazu, dass der König und seine Angehörigen als gewöhnliche Menschen in Erscheinung treten – die royalistischen Schriften tragen somit unfreiwillig zur Entmystifizierung der Souveränität bei.39 Die revolutionären Schriften betonen hingegen auf drastische Weise die Verwerflichkeit der Herrschaftspersonen, vor allem anhand der Schilderungen von Gewalttätigkeiten und sexuellen Perversionen.40 Dass diese Darstellungen auch als ein Aufziehen des Vorhangs mit anekdotischen Mitteln verstanden wurde, belegt das Titelkupfer von Louis-Marie Prudhommes Schrift Les Crimes des Reines des France (1791, Abb. 1). Zu sehen ist, wie die Allegorie der Wahrheit den Vorhang lüftet und mit der Fackel Licht in die Geheimnisse der privaten Räume der Herrschenden wirft. Die Szenerie ist geprägt durch sex and crime: Der König ist ermordet, die nackte Frau in der Mitte, die in der Bilderklärung als eine „sirène“ bezeichnet wird, übernimmt das Zepter und verteilt Giftbecher an ihre Günstlinge. Auffällig ist zudem die schreibende Figur im linken Bildvordergrund. Nach der Bilderklärung handelt es sich um „le génie de l’historie“.41 Ebenso ließe sich von einer Anekdotenfigur sprechen, die hinter den aufgezogenen Vorhang blickt und so in der Tradition Prokops in die Lage kommt, die geheimen Verbrechen der Herrschenden öffentlich zu machen.

 Der Fall ist dies etwa im Tagebuch von Jean Baptiste Cléry, dem Kammerdiener von Ludwig XVI. Vgl. Ders.: Tagebuch über die Begebenheiten im Tempelthurm während der Gefangenschaft Ludwigs XVI. Königs von Frankreich. Hamburg 1798, u. a. S. 28–38. Vgl. hierzu auch, am Beispiel der zeitgenössischen Revolutionsdramatik, Kling: Die Französische Revolution, S. 92 und 106 f.  Vgl. hierzu Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott u. Konrad Honsel. Frankfurt a.M. 2007, S. 126–142.  Louis-Marie Prudhomme: Les crimes des reines de France depuis le commencement de la monarchie jusqu’à Marie-Antoinette. Paris: Au Bureau des Révolutions de Paris 1791, o.S.

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Abb. 1: Titelkupfer zu Louis-Marie Prudhomme: Les crimes des reines de France depuis le commencement de la monarchie jusqu’à Marie-Antoinette. Paris: Au Bureau des Révolutions de Paris 1791.

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Das Titelkupfer könnte den Eindruck erwecken, dass die herrschaftlichen Verbrechen nicht in erster Linie den Königen anzulasten sind, sondern ihren Frauen und Mätressen. Eine solche Misogynie ist für Prudhommes Band sicherlich ebenso kennzeichnend wie für die gesamte Revolution. Dennoch müssen Herrschaftspersonen im Allgemeinen als die Hauptzielscheibe des revolutionären Schrifttums angesehen werden. So schildert ein im Umfeld Prudhommes entstandener Band zu den Verbrechen der deutschen Kaiser „verstreute Thatsachen“ über Joseph II. von Österreich.42 Die anekdotische Evidenz dieser Schilderungen liegt darin, dass sie Joseph II. als verschlagen, gewalttätig und pervers in Szene setzen. Die Darstellung erinnert an die Texte des Marquis de Sade.43 Ziel des revolutionären Schrifttums ist es, mit dem anekdotischen Aufziehen des Vorhangs die Existenz nicht bloß von einzelnen Herrschenden, sondern der gesamten Herrschaftsstruktur in jeder Hinsicht zu delegitimieren.44

6 Bei allen sonstigen Unterschieden ist der Theateranekdote und der politischen Anekdote gemeinsam, dass sie etwas sichtbar machen, was im Verborgenen bleiben soll. In der Theateranekdote ist das die durch Missgeschicke und Fehler kenntlich werdende theatrale Dopplung als Grundlage der Bühnenillusion; in der politischen Anekdote geht es um das geheime Sein und Tun der Herrschenden. Mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren ist der Vorhang mit beiden Gattungstraditionen verbunden, allerdings sind dabei wiederum Unterschiede festzustellen. Im Theater ist die Öffnung des Vorhangs ein initiales Ereignis, das den Blick

 [Louis LaVicomtrie de Saint-Samson]: Verbrechen der Deutschen Kayser. Aus dem Französischen des Prudhomme. Mayland 1798, S. 294. Des Weiteren liegt von Saint-Samson ein Band über die Verbrechen der französischen Könige vor (Les crimes des rois de France; depuis Clovis jusqu’a Louis Seize, 1791). Vgl. zu Prudhommes Netzwerk Joseph Zizek: „New History“. The Radical Pasts of the French Revoluton, 1789–1794. In: Rethinking the Age of Revolutions. France and the Birth of the Modern World. Hrsg. v. David A. Bell, Yair Mintzker. Oxford 2018, S. 154–192, hier S. 180–182.  Zu denken wäre an die geheimen Boudoirs und Serails, die bei de Sade grundsätzlich als Orte von Gewalt und Perversion gekennzeichnet sind. Ein anderes Beispiel ist Mirabeaus Le rideau levé (1786). Hier wird der geöffnete Vorhang zum Ausgangspunkt einer sexuellen ‚Erziehung‘, wobei der Text das Vorhang-Spiel von Sichtbarkeit und Verhüllung auch reflexiv auf sich selbst bezieht.  Zumindest angemerkt sei hier, dass Bettina von Arnim im „Nachwort“ zu ihrem ArmenbuchProjekt die Beseitigung des Vorhangs als Möglichkeit beschreibt, die Trennung von König und Volk aufzuheben. Vgl. Dies.: Armenbuch – Materialien. In: Dies.: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 3. Hrsg. v. Wolfgang Bunzel u. a. Frankfurt a.M. 1995, S. 369–555, hier: S. 527 f.

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auf die Welt des fiktiven Spiels freigibt; anekdotisches Potential kommt dem Theatervorhang dann zu, wenn seine Öffnung und Schließung fehlerhaft erfolgt und er Dinge zu sehen gibt oder verdeckt, die jeweils anders vorgesehen waren. Der Vorhang muss also geöffnet werden, dies hat aber auf die richtige Weise und zum passenden Zeitpunkt zu geschehen, wenn die theatrale Illusion gewahrt werden soll. Anders verhält es sich in der politischen Anekdote. Der Vorhang stellt hier eine Allegorie dar, mit der das öffentliche und das private Leben der Herrschenden unterschieden wird. Schon dass es eine solche Scheidung gibt, gehört zum Geheimnis der Souveränität. Die anekdotenhafte Öffnung des allegorischen Vorhangs hat hier deshalb eine revolutionäre Tendenz, weil damit die Herrschenden in einem anderen Rahmen als dem für den öffentlichen Auftritt vorgesehenen in Erscheinung treten. Nachdem die Theateranekdote und die politische Anekdote im Einzelnen vorgestellt wurden, kann nun danach gefragt werden, inwiefern die Anekdote in Büchners Brief an die Familie vom 15. März 1836 beide Gattungstraditionen zusammenführt. Die Gemeinsamkeit mit der Theateranekdote besteht darin, dass auch bei Büchner von einem misslungenen Theaterabend erzählt wird, wobei mit dem zu früh geöffneten Vorhang ein Geschehen sichtbar wird, das nicht für die Augen der Zuschauenden bestimmt ist. Umgekehrt besteht der Unterschied zur Theateranekdote weniger im Kippen des Komischen ins Ernste – dies findet sich, wie gezeigt, auch in den Theateranekdoten –, als vielmehr im Anekdotenpersonal. Theateranekdoten beziehen sich zwar mithin auf historische Personen der Bühnenwelt, nicht aber auf regierende Fürsten. Diese Nähe zur politischen Gegenwart ist nicht nur der Grund, warum die Anekdote nur in den englischen Journalen gedruckt wurde, zudem verwandelt sich damit die Anekdote von einer Theateranekdote zu einer politischen Anekdote, die mit der Öffnung des Vorhangs Enthüllungen über den Souverän preisgibt. Ein Unterschied zu anderen politischen Anekdoten ergibt sich indes aus dem performativen Geschehen. Allgemein ist in der politischen Anekdotik die Öffnung des Vorhangs als Allegorie des Blicks hinter die Kulissen der öffentlichen Herrschaftsimago zu verstehen. In Büchners Anekdote legt aber die Öffnung des Vorhangs nicht nur ein Begehren des Herzogs frei, das sich als ein Kleidungsfetischismus verstehen lässt,45 stattdessen setzt er weitere Handlungen in Gang, was ihn auch zu einem mitspielenden Akteur werden lässt. Der Herzog reagiert auf die Enthüllung mit

 Von „kleiderfetischistischen Vorlieben des Herzogs“ spricht auch Martin: Eine Anekdote aus „den englischen Blättern“, S. 239. Zur Geschichte des Fetischismus vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006. Böhme thematisiert auch den sexuellen Fetisch, wobei er dessen Herausbildung als Konzept auf die 1880er Jahre datiert; das Phänomen selbst sei aber deutlich älter (vgl. ebd., S. 375). Zudem weist Böhme darauf hin, dass im „sexuellen Fetischismus […] ein hoher Bedarf an Theatralität“ besteht, der gerade auch die Dinge umfasst (ebd., S. 378).

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der Ermordung des Maschinisten und gibt so mit der Gewalttätigkeit und der fehlenden Affektkontrolle weitere Laster zu erkennen. Die erste, eher harmlose Enthüllung treibt also weitere, ungleich drastischere hervor. Auf offener Bühne beim Ausleben sexueller Fetische bloßgestellt zu werden, ist sicher ein Grund für eine affektive Überreaktion. Nimmt man aber ernst, was in den englischen Blättern über den herzoglichen Kleidungsfetisch gesagt wird – dieser sei als „known fact“ jedermann bekannt46 –, drängt sich die Frage auf, was den Herzog nach der Vorhangöffnung so in Wut versetzt, dass er vor aller Augen ein Verbrechen begeht, das auf fatale Weise die schlechte Regentschaft seines abgesetzten Vorgängers in Erinnerung ruft. Eine mögliche Erklärung ergibt sich aus der Bühnenrahmung. Das Theater war stets ein Ort der souveränen Repräsentation. Dabei galt der Souverän als derjenige, dem sich das Spektakel der Sichtbarkeit verdankt.47 Ganz anders sieht es in Büchners Anekdote aus. Hier befindet sich der Souverän auf der Bühne. Anstatt die Abläufe zu beherrschen, wird er im Zuge der Intrige von Schauspieler und Maschinist selbst zu einer inszenierten Figur. Der zu früh geöffnete Vorhang zeigt den Souverän also in einer Rahmung, die er nicht selbst bestimmt hat und die ihn als Theaterfigur zur Erscheinung bringt, umgeben von Schein-Dingen wie Kulissen, Requisiten und Kostümen. Bedenkt man die Auswirkung dieser Rahmung auf die Herrschaftsimago, erweist sich die Ermordung des Maschinisten weniger als falsch adressierte Rache für den enthüllten Kleidungsfetisch. Vielmehr ist der Gebrauch der souveränen Macht über Leben und Tod Demonstration der eigenen Echtheit.48 Entscheidend für diese Demonstration ist der Degen: Nur wenn es sich beim Degen um eine echte Waffe und nicht um ein Requisit handelt, kann der Herzog ein echter und kein gespielter Souverän sein. Mit dem Degen durchsticht der Herzog zudem die Grenze zwischen dem Illusions- und Wirklichkeitsraum. Die Demonstration einer nicht auf die Bühne begrenzten Tötungsmacht kann als starke Veranschaulichung von Souveränität verstanden werden. Ebenso ist aber nicht zu übersehen, dass der Herzog in eine Falle geraten ist: Das Erscheinen auf dem Theater zwingt ihn zur Demonstration seiner Echtheit, das  Zit. n. Martin: Eine Anekdote aus „den englischen Blättern“, S. 239.  Vgl. Nicola Gess, Tina Hartmann: Barocktheater als Spektakel. Eine Einführung. In: Dies., Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Régime. Hrsg. v. Dominika Hens. Paderborn 2015, S. 9–39. Im Barocktheater wurde die Maschinerie noch nicht zugunsten der Illusion verdeckt, vielmehr wurde sie, als Werk des Fürsten, offen aufgestellt (vgl. ebd., S. 15).  Zur souveränen Macht, die sich aus dem „Recht über Leben und Tod“ ergibt und deren „Symbol“ vor allem „das Schwert“ ist, vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1983, S. 131 f. Foucaults Historisierung von Machttypen veranschaulicht auch, dass es sich bei der souveränen Macht im 19. Jahrhundert um einen Anachronismus handelt.

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Verlachtwerden kontert er mit tödlichem Ernst. Dabei kippt jedoch die höchste Veranschaulichung der Souveränität in die Veranschaulichung einer massiven Heteronomie. So ist der Herzog über die gesamte Anekdote hinweg niemals Herr seines Handelns, stattdessen wird er zum Spielball externer Kräfte: zum einen der menschlichen Intrigen, zum anderen der Dinge, die Begehren hervorrufen (Kleidungsfetisch), das Sichtbare regulieren (Vorhang) und Handlungen ermöglichen (Degen). Die Begründungsgeste der Souveränität ist zugleich Ausdruck ihres eigenen Abgrundes. Die Evidenz von Büchners Anekdote liegt darin, dass sie den politischen Ausnahmezustand in knapper Form zur Darstellung bringt. Über den einzelnen Brief hinaus lassen sich weitere Werkbezüge herstellen, etwa zu folgender Stelle aus dem Hessischen Landboten: Im Namen des Großherzogs sagen sie, und der Mensch, den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverain, königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und schläft wenn sein Auge dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die Welt, wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf [eurem] Nacken. (DKV 2, S. 58)

Der Blick durch den Fürstenmantel als Metonymie für die Herrschaftsdinge zeigt – ganz im Sinn von Montaigne und Pascal –, dass der Souverän kein außergewöhnliches Wesen ist, stattdessen kennzeichnen ihn die körperlich-materiellen Prozesse des ‚Es‘.49 Man kann diese Nacktheit und Kreatürlichkeit des Souveräns als Gegenstück zu den verschiedenen (An-)Kleidungsszenen in Büchners Werk verstehen.50 Dabei wird gerade in den Briefen Politik immer wieder als eine Form der Verkleidung ausgewiesen.51 Nicht nur ist die Rede von der „Affenkomödie“ (DKV 2, S. 377) der Obrigkeit, ebenso berichtet Büchner scheinbar begeistert über die Ankunft des Generals Ramorino, dem Anführer des polnischen Aufstands, in Straßburg, ehe er diese Begeisterung im letzten Satz des Briefs unterminiert: „Darauf erscheint Romarino auf dem Balkon, dankt, man ruft Vivat! – und die Comödie ist fertig“ (DKV 2, S. 358). In Büchners Texten ist politisches Handeln eng mit Theater, Komödie und Verkleidung verknüpft. Eine ähnlich geartete Zeitdiagnose findet sich in Heinrich

 Vgl. zu dieser Passage auch Daniel Müller Nielaba: Das Loch im Fürstenmantel, Überlegungen zu einer Rhetorik des Bildbruchs im „Hessischen Landboten“. In: Colloquia Germanica 27/2 (1994), S. 123–140.  Vgl. zu Kleidung und Mode bei Büchner Doerte Bischoff: Büchners Kleider. Vestimentäre Inszenierung und Materialität der Zeichen. In: GBJb 12 (2009–2012), S. 179–203.  Vgl. hierzu Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 3., vollständig überarbeitete Aufl. Stuttgart u. Weimar 2000, S. 58 f.; Henri Poschmann: Briefe: In: Büchner-Handbuch. Hrsg. v. Borgards, Neumeyer. S. 138–156, hier S. 145.

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Heines Ideen. Das Buch le Grand (1827): „[N]ach dem Abgang der Helden kommen die Clowns und Graziosos mit ihren Narrenkolben und Pritschen, nach den blutigen Revolutionsszenen und Kaiseraktionen kommen wieder herangewatschelt die dicken Bourbonen mit ihren alten abgestandenen Späßchen“.52 Heine bestimmt die Epochensignatur durch eine Zitathaftigkeit, die Menschen und Dinge gleichermaßen umfasst und die durch ihre Wiederholungsstruktur komische Züge aufweist. Wiederum ähnlich argumentiert Karl Marx, wenn er in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852) die Aussage Hegels, „daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen“, um die Formulierung ergänzt, dass dies „das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce“ vor sich gehe.53 Sowohl bei Heine als auch bei Marx stellt sich der Eindruck einer Nachträglichkeit ein: erst die „Tragödie“, dann die „Farce“, erst die „Helden“, dann die „Clowns und Graziosos“, erst die todbringenden Waffen, dann die „Narrenkolben und Pritschen“. Auch Büchners Texte zeigen immer wieder die Komik im Ernsten und den Ernst im Komischen.54 Dabei zielen diese Vermischungen jedoch nicht auf eine sich durch Wiederholung und Nachträglichkeit einstellende Harmlosigkeit – dies ist ein Darstellungsproblem bei Heine und Marx –, sondern auf eine ins Groteske gesteigerte Bedrohlichkeit. „[W]ir stehen immer auf dem Theater“, so heißt es in einer Replik in Dantons Tod, „wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden.“ (DKV 1, S. 40) In Verbindung mit der Briefanekdote ist auch diese Aussage als Epochendiagnose zu lesen. Aus der Wirklichkeit mag eine Komödie geworden sein, ebenso mag man über die Kleidungsfetische, die requisitenhafte Erscheinungsform sowie die von Intrigen und Dingen hervorgetriebene Heteronomie der Herzöge lachen. Dennoch sollte man sich über die Epochensignatur nicht täuschen: Der gespielte und der echte Herzog, das Requisit und die Waffe, das Komödienspiel und der Ausnahmezustand – sie alle gehen auf bedrohliche Weise ineinander über.

 Heinrich Heine: Ideen. Das Buch Le Grand. In: Ders.: Werke. Bd. 2: Reisebilder, Erzählende Prosa, Aufsätze. Hrsg. v. Wolfgang Preisendanz. Frankfurt a.M. 1968, S. 179–236, hier S. 211.  Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Kommentar von Hauke Brunkhorst. Frankfurt a.M. 2007, S. 9. Vgl. zu dieser Zeitdiagnostik bei Heine, Marx und Büchner auch Jürgen Schröder: Restaurationszeit – Komödienzeit – Narrenzeit. Georg Büchner als „enfant du siècle“. In: Ironische Propheten. Sprachbewußtsein und Humanität in der Literatur von Herder bis Heine. Studien für Jürgen Brummack zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Markus Heilmann u. Birgit Wägenbaur. Tübingen 2001, S. 259–273.  Die Vermischung des Tragischen und Komischen bei Büchner findet sich bereits beschrieben bei Rudi Dutschke: Georg Büchner und Peter-Paul Zahl, oder: Widerstand im Übergang und mittendrin. In: GBJb 4 (1984), S. 10–75, hier S. 28. Vgl. auch Arnd Beise: Georg Büchners Leonce und Lena und die „Lustspielfrage“ seiner Zeit. In: GBJb 11 (2005–2008), S. 81–100.

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7 Versteht man die Briefanekdote als evidentes Darstellungsmittel der Epochensignatur, erübrigt sich bereits die Frage nach ihrem Realitätsgehalt. Die Forschung ist dennoch dieser Frage nachgegangen. So hat Ariane Martin vehement dafür plädiert, die Anekdote als realen Fall anzuerkennen.55 In der Marburger Ausgabe findet sich hingegen die Einschätzung, die Anekdote sei „offenbar erfunden und lanciert worden, um dem Herzog zu schaden“.56 In der Tat ist es unwahrscheinlich, dass sich ein herzoglicher Mord auf offener Bühne so umfassend verheimlichen lässt, dass abgesehen von der Anekdote keine weiteren Hinweise auf das Ereignis vorliegen. Das heißt indes nicht, dass die gesamte Anekdote als erfunden zu gelten hat. Das Tagebuch des Herzogs belegt die Affäre mit Luise Methfessel sowie die Tolerierung durch deren Ehemann.57 Zudem verdeutlicht eine behördliche Eingabe der herzoglichen Beamten, dass es tatsächlich ein Zusammentreffen von Herzog und Maschinist auf der Bühne gegeben hat.58 Doch auch diese Eingabe ist weniger mit Blick auf die Aufklärung der realen Ereignisse von Bedeutung, vielmehr veranschaulicht sie, wie von herzoglicher Seite – auch unter Rückgriff auf die Dinge – eine Gegenanekdote entworfen wird, die auf eine Entdramatisierung und Entpolitisierung des Geschehens ausgerichtet ist: Wir dürfen dabei jedoch nicht unbemerkt lassen, daß, wie gewöhnlich, auch hier eine Thatsache der Erfindung allerdings zum Grunde liegt, nämlich die, wenn auch noch so unbedeutende Verletzung, die einem der Theaterarbeiter von Sr. Durchlaucht dem Herzoge selbst mit der untersten Spitze des Degenbeschlages in dem Augenblicke zugefügt wurde, als Höchstderselbe das Theater verlassend und den kürzesten Weg über einen Theil der Bühne wählend, von jenem Arbeiter, der Ihn nicht gewahrte, mit einer Maschinerie, die derselbe fortzutragen im Begriffe war, unvorsichtig berührt wurde, neben Ihm mehrere schwere zu den Coulissenapparaten gehörige Bretter niedergeworfen und darauf diesen mit dem frei in der Hand getragenen Degen von sich abwehrte. Dieser Vorgang, dessen höchst unerhebliche Folgen hier fast Jedermann kennt, hatte am 1sten Januar d.J. Statt und erscheint nun 10 Wochen später, auf diese Weise entstellt.59

So verklausuliert diese Beschreibung auch ist, zeigt sie doch, wie eine andere Darstellung der Dinge die gegen den Herzog lancierte Anekdote verharmlosen kann. Der Erzählung vom Herzog, der von menschlichen Intriganten und einem Vorhang  Vgl. Martin: Eine Anekdote aus „den englischen Blättern“, S. 244 f.  MBA 10.2, S. 320.  Vgl. Bernhard Kiekenap: Karl und Wilhelm. Die Söhne des Schwarzen Herzogs. Bd. 1. Braunschweig 2000, S. 500–503.  Zur Eingabe vgl. Martin: Eine Anekdote aus „den englischen Blättern“, S. 244, sowie MBA 10.2, S. 320.  Zit. n. Kiekenap: Karl und Wilhelm, S. 504.

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bloßgestellt wird und anschließend die scherzhafte Enthüllung des Kleidungsfetisches mit seinem Degen in blutigen Ernst verwandelt, steht hier eine Erzählung gegenüber, die von unglücklichen Zufällen und nichtintendierten Missgeschicken, mobilen Theaterapparaten und umfallenden Kulissen berichtet. Textuell aufbereitet wird der Vorgang durch die Inszenierung einer komplexen Gleichzeitigkeit materieller Bewegungen, u. a. mittels des Partizip Präsens. Sieht man von handfesten Ungereimtheiten ab – etwa warum der Herzog die Bühne mit gezogenem Degen überquert –, könnte diese Slapstick-Anekdote problemlos im Theaterkalender gedruckt werden. Büchners Brief und die herzogliche Gegendarstellung machen deutlich, dass der politische Kampf mit dem Mittel der Anekdote geführt wird. Von zentraler Bedeutung ist dabei, wie die Dinge in Szene gesetzt werden: als sich öffnende Vorhänge, Kleiderfetische und tödliche Degen, die einerseits Objekte menschlichen Handelns sind, andererseits aber das menschliche Handeln ihren Skripten unterwerfen, oder als Apparate, Kulissen und Bretter, die durch Missgeschicke und Unfälle slapstickhaft-harmlose Kettenreaktionen auslösen. Die Darstellung der Dinge und ihres Tuns ist politisch. Dies gilt auch dann, wenn mit den sich verselbstständigenden Dingen menschliche Handlungen entdramatisiert werden, wie dies in der herzoglichen Gegenanekdote der Fall ist, schließlich ist dieses Erzählen als politische Intervention konzipiert. Dass Büchner ebenfalls das Genre der Slapstick-Anekdote beherrscht, zeigt sich in seinem Brief an die Familie vom 2. Juli 1834. Die hier berichtete Anekdote handelt von einer durch Falschinformationen provozierten Hausdurchsuchung, die der Druckerpresse von Friedrich Ludwig Weidigs Flugschrift Leuchter und Beleuchter für Hessen galt. Die im Brief erzählten Ereignisse werden auch im Gedicht Herr Du-Thil mit der Eisenstirn und Schreinermeister Kraus in Butzbach beschrieben. Im Zentrum sowohl der Anekdote als auch des Gedichts steht eine Falle, in die ein großherzoglicher Beamter während der Hausdurchsuchung geraten ist: Was sagt man zu der Verurteilung von Schulz? – Mich wundert es nicht, es riecht nach Kommißbrot. – A propos, wißt ihr die hübsche Geschichte vom Herrn Commissär, etc. … ? Der gute Columbus sollte in X … . bei einem Schreiner eine geheime Presse entdecken. Er besetzt das Haus, dringt ein. „Guter Mann, es ist Alles aus, führ’ Er mich nur an die Presse.“ – Der Mann führt ihn an die Kelter. „Nein, Mann! Die Presse! Die Presse!“ – Der Mann versteht ihn nicht, und der Commissär wagt sich in den Keller. Es ist dunkel. „Ein Licht, Mann!“ – „Das müssen Sie kaufen, wenn Sie eins haben wollen.“ – Aber der Herr Commissär spart dem Lande überflüssige Ausgaben. Er rennt, wie Münchhausen, an einen Balken, er schlägt Feuer aus seinem Nasenbein, das Blut fließt, er achtet nichts und findet nichts. Unser lieber Großherzog wird ihm aus einem Civilverdienstorden ein Nasenfutteral machen. (DKV 2, S. 386 f.)

Wieder gestaltet Büchner mit dem Erzählen einer Anekdote in Hinblick auf den politischen Ausnahmezustand den Wechsel von einem telling zu einem showing,

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und wieder geht es dabei um die Dinge und Medien des Öffentlichmachens – statt Vorhang und Bühne ist es hier die Druckerpresse. Außerdem fällt auch hier auf, dass das slapstickhafte Geschehen mit einem dramatischen Darstellungsmodus in Szene gesetzt wird, vor allem durch die Verwendung des Präsens, kurzer parataktischer Sätze sowie die Wiedergabe direkter Rede. Die Komik der Anekdote ergibt sich daraus, dass der Versuch, mit der Konfiszierung der Druckerpresse alle Formen des Öffentlichmachens zu unterbinden, selbst in seiner Ungeschicklichkeit öffentlich wird. Man hat es mit einem Slapstick zu tun, der die Steifheit des Beamten genüsslich auf die Festigkeit des Holzbalkens treffen lässt. Auch ein Stück Holz kann politisch sein, und zwar dann, wenn sich an ihm – im wörtlichen Sinn – die politische Macht bricht und dies zugleich von einer gesuchten, aber nicht gefundenen Druckerpresse auf die Bühne der anekdotischen Öffentlichkeit gebracht wird.

Peter Schnyder

Bube, Dame, König Spielkarten und Spieltische bei Büchner La période révolutionnaire s’est fait sentir sur les cartes à jouer d’une manière plus sensible encore que sur toutes les autres branches de l’industrie.1

Spielkarten sind ein besonderes Ding. Ihr semiotischer Aspekt ist so dominant, dass man ihren materiellen Aspekt leicht übersieht, zumal sie so dünn und leicht sind. Man vergisst, wie schon Diderot in der Encyclopédie betont, ein wie komplexes Ding diese kleinen Dinger sind: „Entre les petits ouvrages, il y en a peu où la main d’œuvre soit si longue & si multipliée: le papier passe plus de cent fois entre les mains du Cartier avant que d’être mis en cartes, comme on le va voir par ce qui suit.“2 Und tatsächlich gibt der Enzyklopädist dann über mehrere Spalten hinweg eine im besten Sinne umständliche Schilderung der zeitgenössischen Spielkarten-Produktion. Aber eben: Diese materielle Seite der Spielkarten geht leicht vergessen neben der semiotischen; jedenfalls außerhalb von Spezialdarstellungen zur Geschichte der Spielkarten. Immer stehen die symbolischen und ikonischen Zeichen im Vordergrund, mit denen die Karten bedruckt sind. Es sind also die Farben Herz, Karo, Pik und Kreuz, die Figuren Bube, Dame und König sowie die Zahlen von 1 (Ass) bis 10, die im Fokus stehen, wenn von den – die allgemeine Vorstellung von Spielkarten in der westlichen Welt prägenden – französischen Karten die Rede ist. Und auch da, wo die Karten unabhängig von den aufgedruckten Zeichen als Gesamtphänomen betrachtet werden, besteht eine starke Tendenz, sie als topisches Zeichen oder Symbol zu verstehen. So werden Spielkarten in bürgerlichem Kontext traditionellerweise als Symptom für einen dekadentaristokratischen oder liederlich-proletarischen Lebenswandel gesehen. Noch ausgeprägter ist die Dominanz des semiotischen Aspekts von Spielkarten in der Kunst und insbesondere in literarischen Werken. Hier wird ihr Zeichencharakter oft schon auf der intradiegetischen Ebene des dargestellten Geschehens explizit thematisiert; etwa dann, wenn sich die Figuren in einem Roman ausgehend von den Farben und Figuren auf Spielkarten zu Vergleichen und Metaphern inspi-

 Henry-René d’Allemagne: Les cartes à jouer du XIV au XXe siècle. Paris 1906, S. X.  Denis Diderot: Art. Cartes (Jeux). In: Encyclopédie. Hrsg. von dems. und Jean Le Rond d’Alembert. Paris 1751 ff., Bd. 2, S. 711–715, hier S. 711. Peter Schnyder, Neuchâtel https://doi.org/10.1515/9783110796278-002

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rieren lassen oder wenn sie den Umstand, dass jemand Karten spielt, als Hinweis auf dessen zweifelhaften Lebenswandel interpretieren. Aber auch da, wo es nicht schon werkimmanent zu einer Deutung der Kartenzeichen kommt, entwickeln diese für die Leserinnen und Leser einen besonderen Deutungssog. In der Interpretation von literarischen Spielszenen knüpft man denn auch gerne (und aus guten Gründen) an die Bedeutungen an, die den Karten dort schon explizit zugeschrieben werden, und zudem macht man das Kartenspiel auf unterschiedliche Weisen als Zeichen lesbar, das, über das im Text selbst Angesprochene hinaus, bedeutsam sein kann für die Struktur und den Gehalt des entsprechenden Werks. Diese beiden Varianten – sowohl die Anknüpfung an das intradiegetisch Diskutierte wie die darüber hinausgehende Deutung des Kartenspiels als Zeichen – lassen sich auch beispielhaft in den Interpretationen der Spielszene ausmachen, die Georg Büchner an den Anfang von Danton’s Tod gesetzt hat: Danton beobachtet in dieser ersten Szene zusammen mit Julie, wie Hérault-Séchelles mit einigen Damen spielt, und das Spiel gibt sowohl den Beobachtern wie den Spielenden Anlass zu anzüglichen Bemerkungen. So meint der beobachtende Danton, die eine spielende Dame sei eine, die ihrem Mann „immer das cœur und andern Leuten das carreau“ hinhalte (DKV I, S. 13). Die Farben Herz und Karo werden mithin zeichenhaft verwendet, um das Ehe- und Liebesleben der Dame auf den Punkt zu bringen.3 Nicht die Farben, sondern die Kartenfiguren von Bube, Dame und König macht dann der spielende Hérault-Séchelles fruchtbar, um ein Bild erotischer Promiskuität zu entwerfen: „Ich würde meine Tochter dergleichen [Kartenspiele] nicht spielen lassen, die Herren und Damen fallen so unanständig übereinander und die Buben kommen gleich hinten nach.“ (DKV I, S. 14) Und es liegt auf der Hand, dass der doppelte zeichenhafte Bezug zwischen den Spielkarten und der Erotik, wie er von den dramatis personae zum einen über die Farben und zum andern über die Figuren hergestellt wird, in den Kommentaren und Deutungen zu dieser Eröffnungsszene verschiedentlich aufgenommen und weiter elaboriert wurde; so wahrscheinlich am ausführlichsten von Reinhold Grimm in seinem den Geist der 1970er Jahre atmenden Aufsatz Cœur und Carreau, in dem Büchner mit viel Emphase sozusagen als Herbert Marcuse avant la lettre starkgemacht wird.4

 Im Kommentar von MBA 3.4, S. 34, wird darauf verwiesen, dass sich „die erotische Ausdeutung der Spielfarben“ auch in der Erzählung Zerbin von Lenz finde. Dort ist sie allerdings, was auch erwähnt werden müsste, klar als idiosynkratisch-absurde Interpretation des Protagonisten gekennzeichnet. Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz: Zerbin. In: ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. München 1987, Bd. 2, S. 354–379, hier S. 362.  Vgl. Reinhold Grimm: Cœur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner [1979]. In: Georg Büchner I/II (Sonderband von text + kritik) [1979]. Hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. 2., verb. Aufl. München 1982, S. 299–326.

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So wie die Kartenfarben und -figuren in ihrer Zeichenqualität bereits im Stück selbst thematisiert werden, wird darin auch schon das Kartenspiel insgesamt als Zeichen für aristokratische Dekadenz angesprochen; nämlich da, wo Robespierre vor dem Jakobinerklub den Umstand, dass im Umfeld von Danton gespielt wird, als sicheres Indiz für die moralische Verkommenheit der Dantonisten anführt.5 Diese innerhalb des Werks geäußerte Deutung wird in den Interpretationen zu Danton’s Tod ebenfalls aufgenommen; etwa wenn Rüdiger Campe unterstreicht, wie die Dantonisten in dieser Exposition durch das Kartenspiel als vom aristokratischen „ennui“ angekränkelte Bürger vorgeführt würden.6 Und schließlich wird das Kartenspiel in den einschlägigen Interpretationen eben auch über das im Stück selbst Diskutierte hinaus als Zeichen gelesen; so wiederum exemplarisch bei Campe, der die These vertritt, dass Büchner mit dem prominent am Stückanfang platzierten Kartenspiel ein klares Zeichen gesetzt habe, das auf den in den ästhetischen Diskussionen um 1800 topischen Zusammenhang von Spiel und Kunst verweise.7 Was nun an den genannten Deutungen und Kommentaren auffällt, ist, dass sie die Karten und das Spiel nur gleichsam als Abstrakta in den Blick nehmen, ohne weiter nach den historisch-konkreten Formen des Kartenspiels um 1800 zu fragen. Ausgeblendet wird damit sowohl die Geschichte der Kartenproduktion und des spezifischen Kartendesigns als auch die Frage nach den Besonderheiten bestimmter historischer Kartenspiele, und entsprechend wurde nie gefragt, was es konkret für Spielkarten sind, mit denen in Büchners Drama gespielt wird und was es denn für ein Spiel sein könnte, das Hérault-Séchelles und die Damen spielen. Diese Fragen zur materiellen Konkretheit des Kartenspiels sollen deshalb im Fokus des ersten Teils (1.) der folgenden Ausführungen stehen. Nach dieser historischen Erdung werden dann (2.) nacheinander zwei Punkte aus den genannten Interpretationen aufgegriffen und problematisiert: Zum einen soll ein Fragezeichen hinter die These Campes gesetzt werden, wonach Büchner mit seiner Inszenierung des Spiels unmittelbar an die von Schiller angestoßene Theorie-Debatte um den Zusammenhang von Kunst und Spiel anschließe. Zum andern wird argumentiert, dass es zu kurz greift, das Kartenspiel der Dantonisten – ganz auf der Linie des zweifelhaften Robespierre – bloß als Symptom eines aristokratischen ennui zu verstehen. Vielmehr soll es sozusagen als Geschichtszeichen der Moderne überhaupt lesbar gemacht werden.

 Vgl. DKV I, 24: „Wir dürfen wohl fragen, ist das Volk geplündert […] worden, wenn wir Gesetzgeber des Volks mit allen Lastern und allem Luxus der ehemaligen Höflinge Parade machen, wenn wir diese Marquis und Grafen der Revolution […] spielen […] sehen.“  Rüdiger Campe: Danton’s Tod. In: Büchner-Handbuch, S. 18–38, hier S. 32.  Campe: Danton´s Tod, S. 32.

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1 Ein politisches Ding Es mag irritieren, wenn hier gefragt wird, mit welchen Karten die Dantonisten spielen. Denn aus dem Text geht ja klar hervor, dass mit französischen Karten gespielt wird. Die Rede von „coeur“ und „carreau“ sowie die Erwähnung von „Buben“ und „Damen“ lassen keinen Zweifel daran. Entsprechend beschränkt sich der Kommentar der Marburger Ausgabe darauf, anzumerken, dass Büchner die französischen Karten gekannt habe, da in seiner Familie in Darmstadt auch mit solchen (und nicht mit deutschen Karten) gespielt worden sei.8 In den anderen Ausgaben bleiben die Karten ganz unkommentiert. Dass die Dantonisten in Paris mit klassischen französischen Karten spielen, wird mithin für selbstverständlich genommen. Doch diese Selbstverständlichkeit verflüchtigt sich bei einem näheren Blick auf die Geschichte der französischen Spielkartenproduktion – aus der zudem hervorgeht, dass Spielkarten ein überaus politisches Ding sind. Seit der Frühen Neuzeit wurde in Frankreich auf alle verkauften Spielkarten eine besondere staatliche Steuer erhoben.9 Um aber die Erhebung dieser Spielkartensteuer effizient kontrollieren zu können, erteilte der König nur einer sehr beschränkten Zahl von Kartenmachern („cartiers“) die Lizenz zur Herstellung von Spielkarten. Und mehr noch: Der Staat legte auch zentral fest, wie die Karten auszusehen hatten.10 Die Spielkarten-Politik des Ancien Régime hat also nicht nur einen fiskalischen und damit ökonomischen, sondern auch einen ausgeprägt semiotischen Aspekt. Die Festschreibung der aristokratischen Hierarchie von König („roi“), Dame („dame“) und Bube („valet“) auf den Karten war Teil einer bewussten königlichen Zeichenpolitik, die auch viele andere Bereiche des Lebens umfasste. Als nun aber 1789 die Revolution ausbrach, wurde nicht nur zum Sturm auf die Bastille geblasen, sondern auch zum Angriff auf alles, was die Spuren der königlichen Zeichenpolitik trug. Und vor allem nach der Gründung der französischen Republik im Herbst 1792 gingen die Revolutionäre immer konsequenter gegen jene Spuren vor. Genau wie die Sprache von allen Residuen monarchischen

 Vgl. MBA 3.4, S. 34.  Vgl. Detlef Hoffmann: Kultur- und Kunstgeschichte der Spielkarte. Marburg 1995, S. 56: „Anders als in Deutschland und Italien nahm sich in Frankreich die zentrale Steuerbehörde der Spielkarten an.“  Es gab neun, nach Regionen unterschiedene Kartenbilder, das wichtigste war das „portrait de Paris“. Vgl. dazu Hoffmann: Kulturgeschichte der Spielkarte, S. 58, sowie ausführlicher d’Allemagne: Les cartes à jouer du XIV au XXe siècle, S. 108–128 (inkl. Abbildungen).

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Denkens gereinigt werden sollte,11 sollte auch die Politik nicht-sprachlicher Zeichen ganz neu ausgerichtet werden. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass auch die Spielkarten in den zeichenpolitischen Fokus der Revolutionäre gerieten: Für einen richtigen Republikaner war es – wie man im Journal de Paris vom 23. März 1793 nachlesen kann – unerträglich, mit Karten zu spielen, die mit ihren Königen und Königinnen auf Schritt und Tritt an die verhasste monarchische Ordnung erinnerten: „Il n’est pas de Républicain qui puisse faire usage (même en jouant) d’expressions qui rappellent sans cesse le despotisme & l’inégalité; il n’étoit point d’Homme de goût qui ne fût choqué de la maussaderie [Trostlosigkeit] des figures des Cartes à jouer, & de l’insignifiance de leurs noms.“12 Es war deshalb nur konsequent, dass das Spielen mit Karten, die mit Königen, Damen und Buben bedruckt waren, verboten wurde. Davon zeugt das Dekret Nummer 1771 des Nationalkonvents vom 22. Oktober 1793, das den „Signes de Royauté & de Féodalité qui se trouvent sur les Cartes“ gewidmet ist.13 Teilweise retouchierten die Kartenmacher sogar schon vor dem formellen Verbot die Kronen und andere Zeichen königlicher Macht aus den traditionellen Karten-Druckvorlagen.14 Dann machten sie sich aber vor allem auch daran, die royalen Figuren überhaupt durch ganz andere zu ersetzen. Das zeigt sich zum Beispiel an einem Kartenset, das in dem gerade zitierten Artikel aus dem Journal de Paris als revolutionstauglich angepriesen wurde: Darin ist keine monarchische Hierarchie mehr erkennbar. Die Könige sind durch „Genien“ ersetzt, die Damen durch „Freiheiten“, die Buben durch „Gleichheiten“ und die Ass-Karten stehen bedeutungsträchtig für „das Gesetz“ als den höchsten Wert (Abb. 1).15

 Vgl. dazu Jacques Guilhaumou: Sprache und Politik in der Französischen Revolution [1988]. Übers. von Katharina Menke. Frankfurt a. M. 1989.  Journal de Paris vom 23. März 1793, Supplément, S. 1.  Dieses Dekret ist z. B. abgedruckt in: Collection générale des lois, décrets […] publiés depuis 1789 jusqu’au 1er avril 1814. Hrsg. von L. Rondonneau. Tome IV/2. Paris 1818, S. 726.  Vgl. für Abbildungen solcher ‚entkrönter‘ Kartenkönige und -königinnen z. B. Hoffmann: Kulturgeschichte der Spielkarte, S. 124; zahlreiche weitere lassen sich finden unter dem in der nächsten Fußnote angegebenen Link der Bibliothèque nationale.  Diese „Nouvelles cartes de la République française“ fanden „weit über Frankreichs Grenzen [hinaus] Beachtung“, wie Hoffmann: Kulturgeschichte der Spielkarte, S. 60, anmerkt. Neben diesem Set wurden auch andere entworfen. Vgl. allgemein zu Spielkarten aus der Zeit der Revolution Hoffmann: Kulturgeschichte der Spielkarte, S. 59‒61, und ausführlicher d’Allemagne: Les cartes à jouer du XIV au XXe siècle, S. 128–146, sowie Thierry Depaulis: Les cartes de la Révolution. Cartes à jouer et propagande. Issy-les-Moulineaux 1989. Die Bibliothèque nationale besitzt eine großartige Sammlung an Spielkarten, die über https://gallica.bnf.fr konsultiert werden kann (Stichwort: „cartes de jeux“). Darunter finden sich auch zahlreiche Karten aus der Zeit der Revolution.

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Abb. 1: Nouvelles cartes de la République française [von Jean-Demosthène Dugourc und Urbain Jaume]. Paris 1793. (Bibliothèque nationale de France: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8412202g).

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Realisiert man so, dass in Paris spätestens ab Ende 1793 offiziell nicht mehr mit traditionellen Karten gespielt werden durfte, wird deutlich, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass Büchner die Dantonisten in einer Szene, die historisch im Frühling 1794 zu verorten ist, mit Karten spielen lässt, die überdeutlich die „Signes de Royauté & de Féodalité“ tragen. – Aber wusste Büchner von der revolutionären Spielkarten-Gesetzgebung, die dann kurz nach 1800 von Napoleon wieder abgeschafft worden war? Das ist eine naheliegende kritische Nachfrage, und sie wird sich wohl nicht eindeutig beantworten lassen. Doch letztlich ist es auch gar nicht entscheidend, ob Büchner in den von ihm konsultierten Quellen und Berichten zur Revolution direkt auf ein Zeugnis jener Gesetzgebung gestoßen ist oder vielleicht mündlich von Zeitzeugen16 davon gehört hat. Denn die wiederholten Nennungen der „Signes de Royauté & de Féodalité“ im Zusammenhang mit den Spielkarten fällt in Danton’s Tod auch für sich genommen auf, ohne dass ein kartengeschichtliches Spezialwissen vorausgesetzt werden muss. Wird im Stück an anderen Stellen – unter Anknüpfung an von Büchner nachweislich konsultierte Quellen – deutlich, dass im revolutionären Kontext nur schon Anreden wie „Monsieur“ oder „Madame“ (an Stelle von „citoyen“ und „citoyenne“) höchst problematisch waren,17 ist offensichtlich, dass die Rede von „Kartenköniginnen“, „Damen“ und „Buben“ im Kontext des Spiels nicht nur erotisch, sondern auch unmittelbar politisch aufgeladen ist. Dass sich diese bereits stückimmanent gegebene politische Signifikanz dann auch noch in aller wünschenswerten Konkretheit im Blick auf die Geschichte der Spielkarten zur Zeit der Französischen Revolution bestätigt, ist so eine für das Argument letztlich gar nicht mehr zwingend nötige Zugabe. Es ist freilich eine besonders reizvolle und aufschlussreiche Zugabe – und

 Mündlich könnte er zum Beispiel von seiner Großmutter mütterlicherseits, Louise Reuß, geb. Hermani (1764–1846) davon gehört haben. (Für diesen Hinweis danke ich Eva-Maria Vering.) Die Familie Reuß stammte aus dem in linksrheinischen Territorien von Hessen-Darmstadt gelegenen Pirmasens und hatte dort 1792 den Ausbruch des Ersten Koalitionskrieges und die Proklamation der Französischen Republik sozusagen aus nächster Nähe miterlebt. Im November 1793 war sie in die rechtsrheinischen Stammlande der Landgrafschaft geflohen. (Vgl. Georg Büchner. Bilder zu Leben und Werk. Bearbeitet von Jan-Christoph Hauschild. Düsseldorf 1987, S. 11 f.) Im Alter lebte die seit 1815 verwitwete Großmutter im Haus der Familie Büchner – und verbrachte ihre Zeit vorzugsweise beim Kartenspiel, wie Georgs Bruder Alexander in seinen launigen Memoiren berichtet. Vgl. Alex Büchner: Das „tolle“ Jahr. Vor, während und nach [1848]. Von einem der nicht mehr toll ist. Erinnerungen. Gießen 1900, S. 9–11.  Vgl. dazu den Kommentar in MBA 3.4, S. 33 f. Als Quelle, in der die Problematik der Anreden verhandelt wird und die Büchner nachweislich konsultiert hat, wird verwiesen auf Louis Sébastien Merciers Le nouveau Paris. Auszüge aus dem entsprechenden Kapitel LXIV von Mercier sind abgedruckt in MBA 3.3, S. 307 f.

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eine, die in jedem Kommentar zur Eröffnungsszene von Danton’s Tod erwähnt zu werden verdient. Wie sieht es nun aber mit der zweiten eingangs angekündigten Frage nach dem Kartenspiel bei Büchner aus, das heißt, was ist es konkret für ein Spiel, das in dieser Eröffnungsszene gespielt wird? Auch darauf findet sich in den gängigen Kommentaren keine Antwort – und es ist hier gleich vorneweg einzuräumen, dass diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann. Dafür genügen die Hinweise im Text nicht. Doch es lässt sich immerhin eine begründete Vermutung formulieren. Was erfährt man über das Spiel, das Hérault und die Damen spielen? Im ersten Satz ist davon die Rede, dass eine der spielenden Damen die Karten „artig […] dreht“ (DKV I, 13). Wie aus dem Manuskript hervorgeht, hatte Büchner zunächst anstatt „dreht“ das Verb „hält“ gewählt, dieses dann gestrichen und ein Wort mit „w“ einsetzen wollen; wahrscheinlich „wendet“ (vgl. das Faksimile in MBA 3.1). Dann hat er aber auch dieses „w“ gestrichen und eben „dreht“ geschrieben. Die Dame hält die Karten also nicht einfach, sondern dreht sie, und wie diese leicht irritierende Formulierung (vielleicht) zu verstehen ist, wird noch zu klären sein.18 Der nächste Hinweis auf das Spielgeschehen bezieht sich nicht auf die Karten, sondern auf die Finger des spielenden Hérault-Séchelles; genauer noch auf dessen Daumen: „Schlagen Sie den Daumen nicht so ein, es ist nicht zum Ansehn“ (DKV I, 13), beklagt sich seine Mitspielerin. Daraus kann geschlossen werden, dass er mindestens eine Hand für eine, wie vermutet wird, obszöne Geste frei hat.19 Unmittelbar darauf verliert er das Spiel, und aus seiner Bemerkung, dass ihn das „Geld“ (DKV I, 14) koste, ergibt sich, dass es sich um ein Geldspiel handelt – was freilich nicht besonders aussagekräftig ist, da Kartenspiele damals eigentlich immer um größere oder kleinere Einsätze gespielt wurden.20 Aufschlussreicher ist dann hingegen Hérault-Séchelles’ Kommentar zu seiner Niederlage: „Ich zettelte eine Liebschaft mit einer Kartenkönigin an, meine Finger waren in Spinnen verwandelte Prinzen, Sie Madame waren die Fee; aber es ging schlecht, die Dame lag immer in den Wochen, jeden Augenblick bekam sie einen Buben.“ (DKV I, 14) Offenbar hatte er darauf gesetzt, dass im Spiel eine Königinnenkarte gespielt

 In den Büchner-Ausgaben blieb sie unkommentiert. Sucht man im Deutschen Textarchiv (das unter www.dwds.de zu finden ist) nach der Kollokation von „Karten“ und „drehen“, ergibt sich nur ein einziger Treffer: die Formulierung aus der Eröffnungsszene von Danton’s Tod.  Im Kommentar MBA 3.4, S. 35, wird die Geste, relativ frei spekulierend, als sogenannte „Feige“ gedeutet, bei der der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurchgesteckt wird.  Vgl. dazu u. a. den Artikel Jouer. In: Encyclopédie, Bd. 8, S. 884: „JOUER, […] c’est risquer de perdre ou de gagner une somme d’argent ou quelque chose, qu’on peut rapporter à cette commune mesure, sur un événement dépendant de l’industrie ou du hasard.“

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würde, und während er nervös die weitere Entwicklung des Spiels verfolgte, bewegte er unruhig seine Finger. Diese wurden eben gleichsam zu „Spinnen“, die nur aus ihrem Spinnendasein hätten befreit werden können, wenn eine Königinnenkarte gespielt worden wäre; und zwar von seiner im Gleichnis als „Fee“ bezeichneten Mitspielerin. Doch dann kamen mehrere Buben hintereinander, und so verlor Hérault-Séchelles das Spiel. Sucht man nun nach einem Spiel, auf das seine gleichnishafte Schilderung passen könnte, wird man bald fündig. Denn es spricht einiges dafür, dass Büchner seine Bühnenfiguren hier das wohl berühmteste und berüchtigtste Kartenspiel des 18. Jahrhunderts spielen lässt: das sogenannte Pharao- oder Faro-Spiel, das für die Zeitgenossen der Inbegriff eines Glücksspiels war – was sich nicht zuletzt auch in zahlreichen literarischen Werken des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zeigt, in denen Hasardspieler vorkommen. Ob in Voltaires Candide, in Tiecks William Lovell, in Friedrich Schlegels Lucinde, in E.T.A. Hoffmanns Spieler-Glück oder in Puschkins Pique Dame – wenn es ums Glücksspiel geht, wird in der Literatur vor 1830 fast immer Pharao gespielt. Beim Pharao gibt es – um das kurz und vereinfachend zu erklären21 – einen Bankhalter, die anderen Spieler sind sogenannte Ponteurs. Jeder Ponteur hat vor sich auf dem Tisch ein Set von 13 Karten, vom Ass bis zum König, und setzt dann vor Spielbeginn auf eine dieser Karten einen bestimmten Geldbetrag. Der Bankhalter seinerseits hat ein vollständiges Kartenspiel von 52 Karten in der Hand und deckt nun jeweils zwei Karten nacheinander auf. Die erste legt er links von sich hin, und hat einer von den Ponteurs auf diese Karte gesetzt – wobei nur die Kartenhöhe, nicht aber die Kartenfarbe entscheidend ist –, so gewinnt er.22 Die zweite Karte legt der Bankhalter rechts von sich hin; und hat einer von den Ponteurs auf diese Karte oder besser: auf diesen Kartenwert gesetzt, so verliert er. Danach deckt der Bankhalter wieder zwei Karten auf u.s.w. Wendet man sich nun wieder der Spielszene bei Büchner zu, kann angenommen werden, dass die besonders hervorgehobene Mitspielerin von Hérault-Séchelles

 Vgl. für eine Spielanleitung zum Beispiel G. W. von Abenstein: Neuester Spielalmanach für Karten-, Schach-, Brett-, Billard-, Kegel- und Ball-Spieler; zum Selbstunterrichte, nach den gründlichsten Regeln und Gesetzen. Zweite, durchaus verbesserte und mit neuen Spielen vermehrte Ausgabe. Berlin 1820, S. 238–260.  Präzisierend ist noch anzufügen, dass die Kartenhöhe natürlich nur von relativer Bedeutung ist: Entscheidend ist, dass der Wert der aufgedeckten Karte dem Wert der Karte entspricht, auf die jemand gesetzt hat. Es ist also gleichgültig, ob es dabei um einen König, ein Ass oder eine 2er Karte geht. Damit kommt ein im Revolutionskontext besonders relevantes egalitäres Moment in den Blick: Die Nomenklatur der Karten verweist zwar auf die feudale Hierarchie, doch im Pharao-Spiel ist diese Hierarchie letztlich ohne Bedeutung.

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die Bankhalterin ist, denn offenbar ist sie es, die die Karten aufdeckt. Deshalb sagt Danton im ersten Satz, dass sie die Karten „dreht“, und deshalb wird sie als „Fee“ bezeichnet, die die unruhigen Spinnenfinger des nervösen Hérault-Séchelles aus ihrer Verzauberung befreien könnte, wenn sie nur die richtige Karte – eben eine Königin – aufdecken würde. Man sieht hier übrigens beispielhaft, wie HéraultSéchelles in seinem Verhältnis zu den Karten-Dingen vom Subjekt zum Quasi-Objekt wird: Zwar hat er sich als Subjekt aktiv entschieden, mitzuspielen und auf die Königin zu setzen, doch im Moment, da das Spiel startet, geht die agency sozusagen an die Karten über. Er muss passiv abwarten, ob seine Karte kommt. Er hofft also auf eine Königin, doch die Bankhalterin deckt mehrmals hintereinander Buben auf, wenn es um die Gewinnkarte der Ponteurs geht – und dann deckt sie offenbar doch noch eine Königin auf, aber im falschen Moment; nämlich dann, als es ums Aufdecken einer jener Karten geht, die anzeigen, welche Einsätze an die Bank fallen. So kommt es, dass Hérault-Séchelles sein Geld verliert, das er auf die Königin gesetzt hatte. (Er hat ja, wie gesagt, ein Set von 13 Karten mit den Werten vom Ass bis zum König vor sich liegen – was auch erklärt, weshalb er die nervös zuckenden Hände frei hat für anzügliche Gesten.) Noch einmal: Beweisen lässt es sich nicht, dass Büchner hier seine Figuren Pharao spielen lässt. Doch es darf immerhin vermutet werden, und sicher ist, dass es um ein Glücksspiel mit nicht revolutionskonformen französischen Karten geht, das um Geld gespielt wird. Damit ist die Kartenspielszene so weit in der konkreten Kulturgeschichte des Kartenspiels geerdet, dass nun allgemeinere Perspektiven zur Deutung dieser Szene in den Blick genommen werden können.

2 Das Kartenspiel des Lebens Die Spiel-Szene ist, wie gesagt, die erste Szene von Danton’s Tod überhaupt, und ihr expositorischer Charakter wird zusätzlich unterstrichen durch die deiktische Aufforderung Dantons, mit der sie beginnt und die natürlich nicht nur an Julie, sondern auch an die Zuschauer gerichtet ist: „Sieh die hübsche Dame, wie artig sie die Karten dreht!“ (DKV I, 13) Diese prominente Platzierung des Kartenspiels zu Beginn des Dramas legt nahe, dass ihm über die Einzelszene hinaus eine besondere Bedeutung zukommt, und so glaubt eben zum Beispiel Rüdiger Campe, dass Büchner damit einen zentralen Zusammenhang der Theorie-Debatten um 1800 in Szene gesetzt habe: Das Spiel bringt […] die moderne Begründungsfigur des Ästhetischen auf die Bühne: ‚Der Mensch ist nur ganz Mensch, wo er spielt‘, hatte Schiller in den Briefen zur ästhetischen Erziehung der Menschheit [sic!] formuliert. Büchner aktiviert das Theoriemodell der neuen,

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ihm über die Rezeption der Romantiker vertrauten Ästhetik […] in eigener und wörtlich genommener Weise.23

Eine solche Brücke von Büchner zu Schiller ist nun freilich problematisch: Wenn man Schillers vielzitierten Satz aus dem 15. Brief Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen betrachtet, wird deutlich, dass er nicht einfach für alle Spiele gilt. Oder genauer: dass er vielleicht als allgemeine anthropologische Aussage für alle Spiele gilt, dass er aber nicht bedeutet, dass sich von allen Spielen her ein Zusammenhang mit dem ästhetischen Phänomen der Erfahrung des Schönen ergibt. Schiller ist in diesem Punkt sehr deutlich, wenn er unmittelbar vor dem berühmten Zitat die folgende wichtige Einschränkung macht: „Freylich dürfen wir uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem wirklichen Leben im Gange sind und die sich gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten“.24 Und was damit allgemein gesagt ist, wird noch in für den gegenwärtigen Kontext wünschenswerter Deutlichkeit konkretisiert, wenn Schiller explizit darauf verweist, dass das „Chartenspiel“ nicht seinem Spielbegriff subsumiert werden dürfe: „Es gibt ein Chartenspiel […]; aber offenbar ist das Chartenspiel viel zu ernsthaft für diesen Nahmen [also für die Bezeichnung ‚Spiel‘].“25 Es macht sich hier bei Schiller ein moralischer Vorbehalt gegenüber den Kartenspielen bemerkbar; ein Vorbehalt, der erstens damit zu tun hat, dass viele der berühmtesten Kartenspiele im 18. Jahrhundert Glücksspiele waren, in denen der Erfolg allein von der dunklen Macht des Zufalls und nicht von perfektiblen Fähigkeiten des Menschen abhing; und ein Vorbehalt, der zweitens auch damit zu tun hat, dass Kartenspiele historisch gesehen eben eigentlich immer um Geld gespielt wurden, womit sie gleichsam von ökonomischem Ernst kontaminiert wurden.26

 Campe: Danton’s Tod, S. 32. Richtig lautet der vollständige Titel von Schillers Schrift in der Horen-Fassung: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. Auch das Zitat daraus ist nicht wortgetreu wiedergegeben. Korrekt lautet es: „er [der Mensch] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen [10.–16. Brief]. In: Die Horen (1795), Zweytes Stück, S. 51–94, hier S. 88 (Hervorhebung im Original).  Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 86.  Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 86.  Dieser doppelte Vorbehalt, der nicht nur bei Schiller erkennbar ist, hat die Auseinandersetzung mit dem Glücksspiel als kulturellem Phänomen nachhaltig geprägt. Auch in Huizingas berühmter Studie zum homo ludens ist er offensichtlich, wenn dort den Geld- und Glücksspielen jedes kulturgenerierende Potential abgesprochen wird. Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938]. Hamburg 1997, S. 58, wo es heißt, die Hasardspiele brächten „dem Geist und dem Leben keinen Gewinn“. Entsprechend werden sie im ganzen Buch kaum je richtig behandelt. Vgl. zur Problematik dieses Ausschlusses u. a. Thomas M. Kavanagh: Dice, Cards, Wheels. A Different History of French Culture. Philadelphia 2005, S. 7–30.

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Wenn Büchner also ein Glücks- und Geldspiel an den Anfang von Danton’s Tod gesetzt hat, kann das nicht als Aktivierung und Konkretisierung des Schiller’schen Theoriemodells erklärt werden. Wenn schon, wäre diese Inszenierung des Kartenspiels als bewusster Gegenentwurf zu Schiller zu verstehen; und zwar wäre sie ein Gegenentwurf nicht nur, weil Büchner provokativ das Kartenspiel in Schillers Theoriemodell eingefügt hätte, sondern weil er dieses Theoriemodell damit insgesamt subvertiert. Campe argumentiert bezogen auf Büchner: „Aus dem Spiel und seiner Beobachtung entfaltet sich […], was man den sich selbst inszenierenden, seinen eigenen Rahmen erfindenden Dialog auf der Bühne nennen kann.“27 In Schiller’schem Sinne würde also vorgeführt, wie sich aus dem Kartenspiel und seiner Beobachtung heraus ein Theaterdialog entwickelt, der gleichsam seinen eigenen theatralen Bühnenrahmen mit schafft und damit das Dialoggeschehen als klar abgegrenztes Spiel erkennbar werden lässt.28 Dagegen soll hier die These vertreten werden, dass es Büchner mit der Inszenierung des Kartenspiels und den Bühnendialogen, die es veranlasst, gerade nicht um eine Grenzziehung zwischen Spiel und Ernst geht. Vielmehr wird vorgeführt, wie die Dynamiken des Kartenspiels so omnipräsent wirksam sind, dass letztlich keine klaren Unterscheidungen zwischen Spiel und Ernst mehr möglich sind. Das Glücksspiel wird zu einem ubiquitären Phänomen. Um dies zu plausibilisieren, muss zunächst Campes Beschreibung des Bühnengeschehens korrigiert werden. Er geht von einer Unterscheidung zwischen den Beobachtern des Spiels (Danton und Julie) einerseits und den Spielenden (HéraultSéchelles und die Damen) andererseits aus und spricht von einer „hin und her springenden Fokussierung des Dramas zwischen dem sprechenden und dem spielenden Paar“.29 Nun beobachten Danton und Julie aber nicht das Spiel, sondern die Spielenden, die zudem genauso sprechen wie das beobachtende Paar. Letzteres ist zu weit weg, um zu erkennen, welche Karten gespielt werden. Danton kommentiert deshalb auch nur die Bewegungen der spielenden Dame. Was im Spiel wirklich geschieht, können nur die Spielenden sehen und kommentieren. Das heißt, HéraultSéchelles und die Damen – es sind ja mehrere Damen, nicht nur eine, wie die Rede vom „spielenden Paar“ suggeriert – sind spielend zugleich die Beobachter ihres Spiels. Oder anders formuliert: So wie Danton und Julie das Verhalten der Spielenden beobachten und kommentieren, beobachten und kommentieren die Spielenden das Geschehen auf dem Spieltisch. Und so formuliert wird die entscheidende

 Campe: Danton’s Tod, S. 32.  Vgl. ergänzend dazu Rüdiger Campe: Schau und Spiel. Einige Voraussetzungen des ästhetischen Spiels um 1800. In: figurationen 5/1 (2004) S. 47–63. Auch in diesem Aufsatz geht es zentral um Büchners Spiel-Szene.  Campe: Danton’s Tod, S. 32.

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Schachtelungsstruktur von Büchners Eröffnungsszene erkennbar: Was auf dem Spieltisch geschieht, wird von den Spielenden beobachtet und kommentiert (erste Ebene); die Spielenden selbst aber werden ihrerseits von Danton und Julie beobachtet (zweite Ebene) – und die Beobachtung der Beobachter wird vom Theaterpublikum beobachtet (dritte Ebene). Oder noch einmal anders und auf das von HéraultSéchelles konkret geschilderte Spielgeschehen hin bezogen formuliert: Die Spielenden kommentieren, was sich unter den Kartenköniginnen und den Kartenbuben abspielt, und Danton und Julie kommentieren ihrerseits, was sich unter den Figuren am Spieltisch abspielt. Aus dieser Parallelisierung ergibt sich eine offensichtliche Überblendung der Kartenfiguren mit den Spielenden – und darüber hinaus mit den Protagonisten der Dramenhandlung überhaupt. Denn diese werden so für das Theaterpublikum nicht nur als dramatis personae, sondern auch als chartarum personae erkennbar. Es ergibt sich mithin eine Überblendung und ein Vergleich, den Büchner später in Leonce und Lena (II/2) explizit ausgeführt hat, wenn er dort Valerio ins weite Land hinausblicken und zu Leonce sagen lässt: Die Erde und das Wasser da unten sind wie ein Tisch, auf dem Wein verschüttet ist, und wir liegen darauf wie Spielkarten, mit denen Gott und der Teufel aus Langeweile eine Partie machen, und Ihr seid ein Kartenkönig, und ich bin ein Kartenbube, es fehlt nur noch eine Dame, eine schöne Dame, mit einem großen Lebkuchenherz auf der Brust und einer mächtigen Tulpe, worin die lange Nase sentimental versinkt. (DKV I, S. 115)

Dieser Spielkarten-Vergleich, der übrigens auch nur vollständig verstanden werden kann, wenn man sich auf die Geschichte des Kartendesigns in Büchners Zeit einlässt und sieht, wie eine Pik-Dame damals aussah (Abb. 2)30 – dieser Spielkarten-Vergleich also, wie er nicht nur in Leonce und Lena, sondern indirekt vermittelt über die Schachtelungsstruktur der Eröffnungsszene eben auch in Danton’s

 Im Kommentar der MBA wird auf die „Pik-Dame“ hingewiesen, „deren Blume in dem damals wie heute meist verbreiteten französischen Kartenbild der Tulpe ähnelt und deren Kartenfarbe in Farbe und Form an ein Lebkuchenherz erinnert“ (MBA 6, S. 500). Ungenügend an diesem Hinweis ist, dass nicht auf die – trotz aller Kontinuitäten – wichtigen Differenzen zwischen dem Kartenbild in Büchners Zeit und demjenigen von heute eingegangen wird: Wenn in der Familie Büchner, wie im Kommentar MBA 3.4, S. 34, erwähnt, in den 1810er/20er Jahren mit französischen Karten gespielt wurde, ist davon auszugehen, dass auf diesen noch Ganzkörperfiguren und nicht punktgespiegelte Doppelporträts (wie sie kurz darauf üblich wurden) abgebildet waren. Nur wenn man, wie in Abb. 2, eine Pik-Dame, wie sie zum Beispiel in einem Kartenset „au portrait officiel“ aus dem Jahre 1816 zu finden ist, vor sich hat, wird die Rede vom „Lebkuchenherz“ auf dem Körper der Königin verständlich. Denn mit jenem Herz ist nicht, wie im zitierten Kommentar suggeriert, das PikZeichen gemeint, das sich ja auch gar nicht auf dem Körper befindet und das zudem in seiner Schwärze nur einen arg verbrannten Lebkuchen vorstellen würde … Viel naheliegender ist es, das wie ein umgekehrtes Herz geformte Ornament auf dem Kleid der Königin – ein Ornament, das auf den heutigen Karten fehlt – mit dem „Lebkuchenherz“ zu assoziieren.

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Tod vorkommt, lässt sich nun selbstverständlich anbinden an eine längere Tradition der Karten- und Glücksspielmetaphern; an eine Tradition, die wohl so alt ist wie die Kartenspiele selbst.

Abb. 2: Die Pik-Dame aus einem Kartenspiel „au portrait officiel“ aus dem Jahr 1816. Einer alten Tradition folgend sind die Figuren der französischen Karten mit Namen versehen; so die Pik-Dame mit dem Namen „Pallas [Athene]“. (Bibliothèque nationale de France: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10525102n).

Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Vergleich des Lebens mit einem Kartenspiel in der Zeit der Französischen Revolution, das heißt an der Schwelle zur Moderne, eine ganz neue Tragweite gewinnt.31

 Vgl. allgemein zur Bedeutung der Glücksspiel-Metaphorik in der Moderne Peter Schnyder: Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels 1650–1850. Göttingen 2009.

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In einem ersten Zugriff lässt sich das belegen durch den Verweis auf einen kurzen Text Über das Kartenspiel des noch ganz jungen Hegel; einen Text von 1798, der von seinem Zuschnitt her fast schon an Adornos Minima Moralia erinnert. Wie Hegel dort festhält, sei „die Neigung zum Kartenspiel“ zu einem „Hauptzug im Charakter unserer Zeit“ geworden.32 Und ausgehend von der zeitgenössischen Omnipräsenz der Kartenspiel-Praxis entwickelt er dann in wenigen Sätzen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Charakter des Spiels und dem Charakter des Zeitalters, so dass das Kartenspiel qua Hasardspiel schließlich nicht mehr allein ein Indiz für die „leidenschaftliche, unruhige Stimmung“33 der Zeit ist, sondern zu einem zentralen Symbol für die heraufkommende Moderne überhaupt wird. Am Spieltisch wird demnach für Hegel en miniature sicht- und erfahrbar, wie in der Moderne als dem Zeitalter der Kontingenzsteigerung die „unruhige Stimmung“ vom Spieltisch auf das ganze Leben übergegriffen hat. Das ganze Leben habe, wie nie zuvor, den Charakter eines Karten- und Glücksspiels angenommen. Und dieser Gedanke findet sich nicht nur bei Hegel. Vielmehr hat er in Texten aus dem Umfeld der Französischen Revolution schon fast topische Qualität. Es mag genügen, wenn an dieser Stelle auf die wahrscheinlich berühmteste zeitgenössische Schrift zur Revolution verwiesen wird, das heißt auf Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France von 1790, wo beklagt wird, Frankreich sei durch die Revolution in einen einzigen riesigen Spieltisch verwandelt worden. In Friedrich Gentz’ weit verbreiteter, zeitgenössischer Übersetzung lautet die entsprechende Passage wie folgt: Der große Endzweck dieser Staatsmänner [der französischen Gesetzgeber] ist kein andrer, als der, ihr Vaterland aus einem großen Königreich in einen großen Spieltisch umzuschaffen, seine Einwohner in eine Nation von Spielern, ihr Leben in ein langes Hazardspiel zu verwandeln, jedes Geschäft des Bürgers mit Spekulation zu untermischen und die ganze Summe der Hoffnungen und Besorgnisse des Volks von ihrer bisherigen Richtung ab, und auf die Leidenschaften und Thorheiten derer hinzulenken, die vom Eigensinn des Glücks und von ungewissem Gewinn leben.34

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über das Kartenspiel. In: ders.: Theorie Werkausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1971, Bd. 1, S. 445.  Hegel: Über das Kartenspiel, S. 445.  Edmund Burke: Betrachtungen über die französische Revolution. Nach dem Englischen des Herrn Burke neu-bearbeitet […] von Friedrich Gentz. Berlin 1793, Zweiter Theil, S. 40 (Hervorhebungen im Original). Vgl. Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France. Ed. by Connor Cruise O’Brien. Harmondsworth 1986, S. 309 f: „The great object in these politics is to metamorphose France, from a great kingdom into one great play-table; to turn its inhabitants into a nation of gamesters; to make speculation as extensive as life; to mix it with all its concerns; and to divert the whole of the hopes and fears of people from their usual channels, into the impulses, passions, and superstitions of those who live on chances.“

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Nun mag man einwenden, Burke sei – ganz anders als Büchner – ein Revolutionskritiker. Doch seine Schrift ist ja viel mehr als nur eine Kritik der Revolution. Viele Phänomene, die er anprangert, betreffen keineswegs nur Frankreich, sondern den Prozess der Modernisierung insgesamt, und die Kritik an ihnen kann später auch in verschiedene Varianten frühsozialistischer ‚Entfremdungs‘-Kritik eingehen.35 Das gilt auch für die zitierte Passage, in der es insbesondere um neue ökonomische Praktiken und Sichtweisen geht, durch die der „Geist und die Symbole des Spielens in die kleinsten Angelegenheiten“ übertragen worden seien.36 Burke kritisiert die den modernen Kapitalismus insgesamt prägende, durchgehende Quantifizierung aller ökonomischen und gesellschaftlichen Relationen. Wie er in immer neuen Wendungen klagt, seien im Zuge der Aufklärung – nicht nur in Frankreich – alle qualitativen Momente aus den politisch-gesellschaftlichen Beziehungsgeflechten abstrahiert worden. Alles sei einer gleichmacherischen Rechnung unterworfen worden, das heißt, wie man präzisieren kann: Alles ist der Wahrscheinlichkeitsrechnung unterworfen worden, unter deren erbarmungslosem Blick alles, ohne Rücksicht auf Tradition und Herkommen, zum Gegenstand einer Spekulation mit bestimmten Risiken werden kann.37 Dadurch wird der moderne Mensch des 19. Jahrhunderts gleichsam zu einem Spieler, für den alles die Form einer Wette annimmt; ein Phänomen, zu dem Walter Benjamin im Zusammenhang mit dem Spielmotiv bei Baudelaire bemerkte: „Sie [die Wette] ist ein Mittel, den Ereignissen Chockcharakter zu geben, sie aus ihren Erfahrungszusammenhängen herauszulösen. Für die Bourgeoisie nahmen auch die politischen Ereignisse leicht die Form von Vorgängen am Spieltisch an.“38 Und natürlich wird der moderne Mensch nicht nur zum Spieler, sondern er wird – im Zeitalter von Statistik und Versicherung – seinerseits auch zum Gegenstand von Risiko-Berechnungen. Wurde schon im 18. Jahrhundert deutlich, dass Geburten und Todesfälle gewissen statistischen Regelmäßigkeiten unterliegen, so wurden nun im 19. Jahrhundert auch statistische Muster in menschlichen Handlungen erkennbar, von denen man glaubte, sie unterlägen ganz bewussten individuellen Entscheidungen. In einer Mischung aus Faszination und Schrecken entdeckte  Burke war von zentraler Bedeutung für die politische Romantik in Deutschland. Auf deren Berührungspunkte mit frühsozialistischer Entfremdungskritik machen u. a. aufmerksam Klaus Peter: Einleitung. In: Die politische Romantik in Deutschland. Eine Textsammlung. Hrsg. v. ders. Stuttgart 1985, S. 9–73, sowie Manfred Frank: Die Dichtung als ‚Neue Mythologie‘. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hrsg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt a. M. 1983, S. 15–40, hier S. 32–35.  Burke: Betrachtungen, S. 40.  Vgl. dazu auch Burkes Polemik gegen die „oeconomists“ und „calculators“. Burke: Reflections, S. 170.  Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire [1939]. In: ders.: Illuminationen. Frankfurt a. M. 1977, S. 185–229, hier S. 212.

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man Regelmäßigkeiten in den jährlich begangenen Selbstmorden und den jährlich verübten Verbrechen – und begann an der agency der handelnden Subjekte zu zweifeln. Waren diese nicht vielmehr Quasi-Objekte, die von einer dunklen, durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmten Macht zu ihrem Handeln getrieben wurden? Waren sie nicht wie Spielkarten, die von einer ‚unsichtbaren Hand‘ nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit ausgespielt wurden? – Tatsächlich haben die Pioniere der Gesellschafts-Statistik immer wieder einen Vergleich zwischen dem Geschehen in der Gesellschaft und dem Geschehen auf dem Spieltisch oder in einer Lotterie gezogen; so nicht zuletzt auch der berühmte belgische Statistiker Adolphe Quetelet, dessen Klassiker Sur l’homme in eben jenem Jahr 1835 erschien, in dem auch Danton’s Tod publiziert wurde. Damit soll nun nicht irgendein direkter Einfluss von Quetelet auf Büchner suggeriert werden. Aber es ist wichtig, die Karten- und Glücksspielszene in Büchners Drama (auch) auf den entsprechenden Diskurszusammenhang zu beziehen, der von zentraler Wichtigkeit ist für die kontingenzgeschichtliche Schwelle um 1800.39 An jener Schwelle ist das Kartenspiel, wie zahlreiche sensible Zeitgenossen – von Burke bis Hegel – bemerkten, weit über die Spieltische hinaus für die moderne Gesellschaft bedeutsam geworden. Und so ist es auch bei Büchner nicht bloß als Indiz für den aristokratischen ennui der Dantonisten zu lesen, sondern als ‚Geschichtszeichen‘ für die Moderne als dem Zeitalter einer gesteigerten Kontingenzerfahrung überhaupt.

 Vgl. dazu auch Peter Schnyder: Art. Ökonomie. In: Büchner-Handbuch, S. 182–186, hier S. 185 f.

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Fragmentierte Körper und ihre agentielle Macht in Danton’s Tod Je kleiner das Fragment ist, desto mehr widersteht es.1

In Danton’s Tod ist ein Materialismus formuliert, der den Menschen im Rahmen einer revolutionären Programmatik konsequent in ein System der Natur einbezieht. Der klassische philosophische Materialismus der Neuzeit verweist auf einen engen Zusammenhang zwischen Körper und Geist. Die Art und Weise dieses Zusammenhangs und die Frage, ob es sich dabei um eine Art von Kausalität handelt, beschäftigt insbesondere die Theoriebildung. Damit steht philosophisch die menschliche Freiheit als reale Handlungsmacht auf dem Spiel. Nicht nur die Philosophie, auch die Literatur ist wesentlich an den Imaginationen des Körpers im Kontext einer Geschichte der Subjektkonstitution beteiligt, vor allem in ihren emotionalen und ethischen Aspekten.2 Büchners vielzitierter Materialismus3 äußert sich im Drama in der Rhetorik erstens in der Metapher: Menschen werden als Puppen, Marionetten oder Maschinen imaginiert,4 und zweitens in der Metonymie: Materielle Dinge und Attribute wie Kleidungsstücke und andere persönliche Gegenstände können zu Stellvertretern der dramatis personae werden.5 Verkompliziert wird die Handlungsdynamik durch Sprachspiele, Wiederholungen, durch das Mittel des Spiels im Spiel und ein ständiges (episches) Kommentieren der Theatralität des Dramengeschehens.6 Durch die Zitat-Poetik wird Handlung im Drama strikt sprachlich verstanden, die exzessive Rhetorik übersetzt die körperliche Materialität und ihre Fragmentiertheit durch

 Michel Serres: Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour. Berlin 2008, S. 179.  Vgl. hierzu Marianne Henn u. Holger A. Pausch: Introduction. Genealogy and Construction of Body Identity in the Age of Goethe. In: Body Dialectics in the Age of Goethe. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 55 (2003), S. 9–22.  Vgl. einschlägig Gideon Stiening: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin u. Boston 2019.  Vgl. Rudolf Drux: Marionette Mensch. Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von Hoffmann bis Büchner. München 1986.  Vgl. Doerte Bischoff: Büchners Kleider. Vestimentäre Inszenierung und Materialität der Zeichen. In: GBJb 12 (2012), S. 179–203.  Vgl. Rüdiger Campe: Büchners politische Komödien Dantons Tod und Leonce und Lena. Tragödie oder Komödie: Gattungen des Sozialen. In: Das Politische des romantischen Dramas. Athenäum Sonderheft 28 (2018), S. 183–199. Elisabeth Flucher, Siegen https://doi.org/10.1515/9783110796278-003

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das Mittel der Metonymie in sprachliche Zeichen. Die Intertextualität lädt zur Übertragung auf das reale historische Geschehen ein, verweist dabei jedoch zugleich auf die künstliche Gemachtheit der Diskurse. Damit schafft Büchner eine Möglichkeit, in der übertriebenen Rhetorisierung der Handlung deren Künstlichkeit und Zeichenhaftigkeit transparent zu machen und dem Materiellen Raum zurückzugewinnen. In der Büchner-Forschung wurden die Begriffe des Materialismus und (Geschichts-)Fatalismus bereits in engem Zusammenhang gesehen, da sie auf unterschiedliche Weise die Idee eines rational und frei handelnden Subjekts in Frage stellen.7 Zugleich ist immer wieder die Rhetorizität des Dramas betont worden. Beide verweisen aufeinander, da die Rhetorisierung der Handlung genau die Unmöglichkeit wirksamen Handelns ausstellt. Das Drama inszeniert die Aushöhlung der dramatischen Gestaltungsmöglichkeiten und weist auf diese Weise die Grenze der eigenen Gattung auf. Die Einsicht in diese Aporie führt in Danton’s Tod dazu, dass der melancholische Protagonist Danton auf einen rhetorischen und aktiven Eingriff in die Handlung verzichtet und aufgrund seiner Verweigerungshaltung zum Opfer der Revolution wird. Danton vollzieht damit am eigenen Leib die Konsequenz einer materialistisch-mechanistischen Naturauffassung, die auch die Geschichte als Naturkausalität auffasst. Einer solchen fatalistischen Deutung des Dramas liegt jedoch ein passiver Materiebegriff zugrunde, der Handlungsmacht primär vom Subjekt her denkt. In der rezenten Theoriebildung des Neuen Materialismus, insbesondere in Karen Barads Theorie eines agentiellen Realismus, wird hingegen ein Paradigmenwechsel von einem diskursiven hin zu einem materiellen Machtbegriff formuliert.8 Vor diesem Hintergrund möchte ich der Frage nachgehen, wie sich der menschliche AkteurStatus verändert, wenn der Materie originäre Handlungsmacht zugeschrieben wird. Die These lautet, dass Menschen unter der Prämisse des in Danton’s Tod präsentierten Materialismus nur Handlungsmacht zukommen kann, sofern sie selbst als Materie begriffen werden. Somit wird die Frage nach handelnder Wirksamkeit in Büchners Drama vom Subjektbegriff abgekoppelt und aus materialistischer Perspektive neu verhandelt. Mit der Vorstellung einer autonomen Aktivität der Materie wird, wie ich zeigen möchte, ein Ausweg aus der Handlungsaporie gegeben. Im Folgenden untersuche ich, wie sich die materialistischen Körpervorstellungen zur dramatischen Handlungslogik und zur Figurenrede in ihrer Rhetorizität

 Vgl. Heinz Ludwig Arnold: Materialismus und Subjektivität in den Schriften Georg Büchners. In: Georg Büchner, Bd. 3 (text + kritik Sonderband), 1981, S. 35–62.  Vgl. Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham u. London 2007, S. 132 f., sowie Katharina Hoppe u. Thomas Lemke: Die Macht der Materie. Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad. In: Soziale Welt 66/3 (2015), S. 261–279, hier S. 263.

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verhalten. Dabei werde ich im ersten Schritt analysieren, welche materialistischen Körpervorstellungen in Danton’s Tod wirksam sind und inwiefern die Guillotine als agentielle Instanz im Drama fungiert. Hierzu wird das Drama im medizinischen Diskurs der Zeit verortet und analysiert, wie Büchner medizinische Begriffe politisch liest: die Metapher des Körpers und seine Gesundheit stehen dabei im Zentrum, im Sinne eines body politic. Im zweiten Schritt möchte ich zeigen, wie sich die Rhetorik der Zergliederung und ihre Bevorzugung der Metonymie auf das Handeln der Figuren auswirkt. Abschließend beziehe ich in einem kurzen Ausblick die Frage nach der materiellen Handlungsmacht in Danton’s Tod auf die (neu-)materialistische Handlungstheorie Karen Barads.

1 Der Mensch als Maschine und die Guillotine als Akteurin Danton’s Tod ist bevölkert von „zerfezten Gliedern“ (II/1, MBA 3.2, S. 31) und zerstückten Leichen.9 Die Guillotine ist die zentrale Metapher des Dramas und der dargestellten Terreur-Phase der Revolution, die mit dem Fragmentcharakter des Körpers ernst macht und diesen mechanisch herstellt: Die Maschine produziert Leichen. Die philosophischen Voraussetzungen einer solchen Redeweise finden sich in den materialistischen Konzeptionen des Menschen, wie sie wirkmächtig in Descartes’ De homine und La Mettries L’homme machine entworfen wurden. Der entscheidende Punkt des neuzeitlichen Materialismus ist, dass das Geistige des Menschen, Denken und Gefühl, auch nur eine Funktion am Körper ist und dass dieser mechanisch als Maschine, vergleichbar einem Uhrwerk,10 vorgestellt werden müsse. La Mettrie wendet sich dabei entschieden gegen ein teleologisches, theologisches und logozentrisches Menschen-

 Mit der alptraumhaften Vision von zerstückelten Menschenkörpern ist an Lacans Begriff des corps morcelé im Kontext seiner Theorie des Spiegelstadiums zu denken, vgl. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Jacques Lacan. Schriften I. Hrsg. v. Norbert Haas. Übersetzt von Rodolphe Gasché u. a. Weinheim u. Berlin 21986, S. 61–70.  Vgl. Julien Offray de la Mettrie: L’homme machine. Die Maschine Mensch. Übersetzt und hrsg. v. Claudia Becker. Französisch-deutsch, Hamburg 1990, S. 120: „Je ne me trompe point; le corps humain est un horloge, mais immense, et construite avec tant d’artifice et d’habileté, que si la roüe qui sert à marquer les secondes, vient à s’arrêter; celle des minutes tourne et va toujours son train; comme la roüe des Quarts continüe de se mouvoir: et ainsi des autres, quand les premieres roüillées, ou dérangées par quelque cause que ce soit, ont interrompu leur marche. Car n’est-ce pas ainsi que l’obstruction de quelques Vaisseaux ne suffit pas pour détruire, ou suspendre le fort des mouvements, qui est dans le coeur, comme dans la pièce ouvrière de la Machine“.

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bild, mit empirischen Argumenten, die eine Selbstständigkeit und relative Selbsttätigkeit von Körperorganen behaupten.11 Er wirft einen dezentralen Blick auf den menschlichen Körper, der das Ganze in seine Teile zerlegt und diesen Autonomie zuschreibt. Empirischen Beleg findet La Mettries Sichtweise in Sektionen von Tieren und in der Beobachtung einer fortgesetzten Bewegung abgeschnittener Körperteile: Muskeln, Eingeweide, Herzen, Pfoten und eben auch abgetrennter Köpfe. Selbiges gilt auch, wie La Mettrie betont, für den menschlichen Körper.12 Karen Barads Neuer Materialismus knüpft an den klassischen Materialismus an, indem sie dessen Potential nutzt, Dichotomien und binäres Denken aufzulösen. In der Verbindung von Ethik, Ontologie und Epistemologie weist ihre Theorie zugleich auf die ethische Verantwortung des Handelns hin.13 In Anknüpfung an die Quantenphysik zeigt sie, wie technische Apparate die Erkenntnisgegenstände herstellen und zugleich in ihrer Objektivität festlegen. Während La Mettrie von Beobachtungen sezierter Tierkörper ausgeht, thematisiert Barad eine andere Art von Schnitten („cuts“): Sie geht davon aus, dass Apparate als verkörperte Agenten in die Materie eingreifen und Schnitte durchführen („the apparatus enacts an agential cut“14), und damit zugleich Grenzen zum Zweck der Herstellung von Bedeutung ziehen („agential separability […] provides the condition for the possibility of objectivity“15). Durch diese diskursiven und damit metaphorischen Schnitte werden objektive Erkenntnisgegenstände, also „vermeintlich feste Entitäten überhaupt erst hergestellt.“16 Damit ist Barads Materialismus zugleich in der Lage, die soziale Realität und Machtrelationen darzustellen, ohne von einem sozialen Konstruktivismus auszugehen. Diskursive Praktiken werden nämlich nicht in ihrer repräsentativen Funktion betrachtet, sondern performativ verstanden: „a performative account insists on understanding thinking, observing, and theorizing as practices of engagement, and as part of the world in which we have our being.“17 Damit soll zugleich die Dualität zwischen Sprache/Diskurs auf der einen Seite und Materie/Realität auf der anderen Seite aufgebrochen werden.18 Büchners Drama thematisiert die Apo-

 Vgl. La Mettrie: L’homme machine, S. 120.  La Mettrie: L’homme machine, S. 100 f.: „Si les dissections se faisoient sur des Criminels suppliciés, dont les corps sont encore chauds, on verroit dans leur coeur les mêmes mouvemens, qu’on observe dans les muscles du visage des gens décapités.“  Vgl. Eva Georg: Das therapeutisierte Subjekt. Arbeiten am Selbst in Psychotherapie, Beratung und Coaching. Bielefeld 2020, S. 115.  Karen Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 175.  Ebd.  Eva Georg: Das therapeutisierte Objekt, S. 115.  Karen Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 133.  Vgl. Thomas Lemke: The Government of Things. Foucault and the New Materialisms. New York 2021, S. 57–58.

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rien politischer Repräsentation und die Machtlosigkeit ihrer Rhetorik. Die Guillotine dient nicht nur als Instrument der Revolution, ihr wird im Drama ein zentraler Akteur-Status zugeschrieben. Barads erweiterter Materialismus-Begriff erlaubt, die Guillotine nicht nur als kausal wirksames Instrument zu verstehen, sondern ihr ebenso eine Funktion in der Konstruktion von Erkenntnis zuzuschreiben. Daran anschließend lässt sich fragen: Welche Art von sozialer und ethischer Realität wird durch die Guillotine erzeugt und objektiv erkennbar gemacht, und wie kann dieser „agential cut“ zugleich ethisch reflektiert werden? Die Guillotine als Akteurin bestimmt die Objektivität der ihr unterworfenen Gegenstände. Der menschliche Körper, nur noch als materielles Ding und nicht mehr als Leib und damit als Pendant der Seele aufgefasst, verliert dabei seine Sinnhaftigkeit zugleich historisch: Die fragmentierten Toten haben keinen Sinn, dienen keinem anderen Zweck als der Aufrechterhaltung der destruktiven und ökonomischen Logik, immer mehr Tote zu produzieren. Der Akt der Hinrichtung bildet bereits den Übergang zum nicht mehr Darstellbaren, obwohl er dem hingerichteten Subjekt an der Schwelle zum Tod noch ein kurzes Wahrnehmungsfenster zugesteht: „Es ist noch vorzuziehen, sie treten mit gelenken Gliedern hinter die Coulissen und können im Abgehen noch hübsch gesticuliren und die Zuschauer klatschen hören. Das ist ganz artig und paßt für uns, wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden“ (II/1, MBA 3.2, S. 32). Dies wird als empfindendes Weiterleben der abgetrennten Köpfe imaginiert: „Kannst du verhindern, daß unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?“ (IV/7, MBA 3.2, S. 79) Die Frage, ob abgetrennte Häupter nach oder während der Guillotinierung Schmerz empfinden, visuell und akustisch wahrnehmen oder ihren mimischen Ausdruck noch kontrollieren könnten, war eine wissenschaftliche Frage, die experimentell untersucht wurde, deren Beantwortung aber jederzeit spekulativ blieb und sich dem deutenden Verstehen entzog – im Sinne einer Unlesbarkeit der Zeichen.19 Zuletzt ging es bei der Diskussion um die Guillotine als Hinrichtungsinstrument auch um Fragen des Mitgefühls: Einige Ärzte plädierten aufgrund ihrer Schnelligkeit und angeblichen Schmerzfreiheit für die Guillotine.20 In Büchners Drama gilt den Figuren schließlich auch das unbestimmte Warten auf die Hinrichtung im Gefängnis als das

 Vgl. Roland Borgards: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner. München 2007, S. 349–356.  Samuel Thomas Soemmering (Über den Tod durch die Guillotine, 1795) etwa geht von möglichen Empfindungen nach dem Tod durch Guillotine aus, dagegen spricht sich etwa Alfred Velpeau aus, vgl. hierzu Michael Rohrwasser: ‚Danton’s Tod‘, Moskau 1937 und die Guillotine. In: Enttäuschung und Engagement. Zur ästhetischen Radikalität Georg Büchners. Hrsg. v. Hans Richard Brittnacher u. Irmela von der Lühe. Bielefeld 2014, S. 83–111, und ausführlicher Roland Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 341–392.

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eigentlich Schreckliche,21 sodass einige Figuren, allen voran Danton und am Ende auch Lucile, den Tod herbeisehnen. Die melancholische Todessehnsucht strukturiert auf diese Weise das Drama. Sie führt Danton zu einer Passivität, die den richtigen Moment der politischen Aktion verstreichen lässt.22 Die Verweigerung einer Teilnahme an den Intrigen der Macht und die Entscheidung für das Hingerichtetwerden anstelle des Hinrichtens (in dieser strengen Alternative)23 werden im Drama nicht nur aus einer ‚epikureischen‘24 Menschenliebe, sondern auch aus einem dezidierten Todestrieb motiviert. Das Versprechen einer Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen für alle kann auf diese Weise nicht eingelöst werden, diese Einsicht führt aber nach der Logik der Terreur nur zu einer Steigerung im Tempo der Tötungsindustrie: „Die paar Tropfen Bluts vom August und September haben dem Volk die Backen nicht roth gemacht. Die Guillotine ist zu langsam. Wir brauchen einen Platzregen.“ (I/2, MBA 3.2, S. 11) „Der Guillotinenthermometer darf nicht fallen, noch einige Grade und der Wohlfahrtsausschuß kann sich sein Bett auf dem Revolutionsplatz suchen.“ (I/4, MBA 3.2, S. 17) Hier klingt bereits an, dass die Revolutionäre selbst die Handlungsmacht eingebüßt haben und sich die Logik der Guillotine verselbständigt hat. Dem liegt u. a. ein Modell der Gesundheit zugrunde, das den Blutkreislauf des menschlichen Körpers auf den Staatskörper überträgt: Der Blutkreislauf des Staates muss metaphorisch gesprochen im Fluss bleiben. In der Monarchie, so die Analyse der Revolutionäre, ernähren sich die Adeligen gleichsam vom Blut des Volkes, das sie ausbeuten: „Sie haben kein Blut in den Adern, als was sie uns ausgesagt haben.“ (I/2, MBA 3.2, S. 10) In der Revolution soll die Richtung dieses Blutflusses umgekehrt werden, die Bürger durch das Blut der Adeligen ernährt werden,25 aber – so zeigt  Vgl. auch III/3, MBA 3.2, S. 53 f.: „Es ist jezt ein Jahr, daß ich das Revolutionstribunal schuf. […] [I]ch hoffte die Unschuldigen zu retten, aber dieß langsame Morden mit seinen Formalitäten ist gräßlicher und eben so unvermeidlich.“ Vgl. auch III/6, MBA 3.2, S. 60: „Madame verlangt den Tod, sie weiß sich auszudrücken, das Gefängniß liege auf ihr wie ein Sargdeckel. Sie sitzt erst seit vier Wochen. Die Antwort ist leicht. (er schreibt und liest.) Bürgerin, es ist noch nicht lange genug, daß du den Tod wünschest.“  Anja Lemke bezieht diese Handlungsweigerung überzeugend auf den Melancholiediskurs und sieht darin den poetologischen Ausdruck einer Kritik politischer Repräsentationslogik, vgl. Anja Lemke: Handeln ›in effigie‹. Büchners melancholischer Realismus. In: Die sieben Todsünden. Hrsg. v. Ingo Breuer, Sebastian Goth, Björn Moll u. Martin Roussel. München 2015, S. 285–302, bes. S. 288.  Vgl. II/1, MBA 3.2, S. 31: „Und wenn es gienge – ich will lieber guillotinirt werden, als guillotiniren lassen.“  Vgl. I/6, MBA 3.2, S. 25: „Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß d. h. er thut, was ihm wohl thut.“  Zum biopolitischen Bild der Guillotine zur Heilung des Volkskörpers vgl. Eva Horn: Der nackte Leib des Volkes. Volkskörper, Gesetz und Leben in Georg Büchners Danton’s Tod. In: Bilder

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das Drama im nächsten Schritt, indem es die Rhetorizität dieser Gleichsetzung transparent macht – die nährende Funktion der Guillotine war nur eine Metapher, die die eigentliche Not von Hunger und Armut nicht beseitigen kann. So analysiert Danton: „Ihr wollt Brod und sie werfen Euch Köpfe hin. Ihr durstet und sie machen euch das Blut von den Stufen der Guillotine lecken.“ (III/9, MBA 3.2, S. 66) Dass die revolutionäre Transsubstantiation jedoch nicht funktioniert, erkennt schließlich auch das Volk: „1. Bürger. Ja, das ist wahr, Köpfe statt Brod, Blut statt Wein. Einige Weiber. Die Guillotine ist eine schlechte Mühle und Samson ein schlechter Bäckerknecht“. (III/10, MBA 3.2, S. 67) Die symbolische (und christlich aufgeladene) Ersetzung von Brot und Wein durch Leib und Blut trägt also nicht: Die Todesopfer bringen gerade keine Erlösung von der materiellen Armut und dem physischen Leid. Die symbolische Logik der Revolution denkt die Guillotine in einer weiteren metaphorischen Ersetzung als Herz und Zentrum eines Blutkreislaufs, der das Volk zu einem Körper verbindet. So analysiert Danton im dritten Akt: „Sie wollen die Republik im Blut ersticken. Die Gleisen der Guillotinenkarren sind die Heerstraßen, auf welchen die Fremden in das Herz des Vaterlandes dringen sollen.“ (III/9, MBA 3.2, S. 66) Der metaphorische Aderlass schließt an einen Gesundheits- und Reinheitsdiskurs an, der im Ablassen von Blut eine Maßnahme der Heilung des organischen Körpers sieht. Das „Ersticken“ impliziert jedoch bereits die Fehlgeleitetheit einer solchen Vorstellung. Der Aderlass dient im Drama aber auch dazu, aufmüpfiges Verhalten abzudämpfen und zu unterbinden, sich also die Subjekte gefügig zu machen.26 Die Reinheitsidee wird zugleich moralisch aufgeladen. In diesem Sinn entlarvt Danton Robespierres Instrumentalisierung der Guillotine für die Moral: „Hast du das Recht aus der Guillotine einen Waschzuber für die unreine Wäsche anderer Leute und aus ihren abgeschlagnen Köpfen Fleckkugeln für ihre schmuzzigen Kleider zu machen, weil du immer einen sauber gebürsteten Rock trägst?“ (I/6, MBA 3.2, S. 25) Auch wenn der Aderlass nicht ohne Weiteres mit der neuzeitlichen Medizin und der Idee des Blutkreislaufs vereinbar ist, bleibt er im 18. Jahrhundert zunächst fest im Repertoire medizinischer Therapien verankert.27 Die Idee einer Notwendigkeit des Aderlasses ergibt sich aus einer Verschwendungs- und Überschusslogik, wie Koschorke in seiner Analyse des medizinischen Diskurses des 18. Jahrhunderts fest-

und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie. Hrsg. v. Beate Fricke, Markus Klammer u. Stefan Neuner. München 2011, S. 237–270, hier S. 263–265.  Vgl. III/2, MBA 3.2, S. 52: „Herrmann. Sey ruhig, vor einigen Tagen kommt er [Girard, E.F.] zu mir und verlangt man solle allen Verurtheilten vor der Hinrichtung zur Ader lassen um sie ein wenig matt zu machen, ihre meist trotzige Haltung ärgere ihn.“  Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 56–57.

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stellt: „Es gibt eine quasi natürliche Überproduktion, wenn man will, eine natürliche Verschwendung.“28 Diese ökonomische Logik wird auch im Drama zum entscheidenden Motor der Guillotine. Schließlich geht es um eine Umverteilung der Reichtümer, und nicht zuletzt speist sich die Wut auf die Aristokraten aus der Armut und dem Hunger des Volkes. Camille aus der Gruppe der Dantonisten demaskiert diese Blutgier als Selbstzerfleischung für den Staatskörper und damit als destruktiv: Pathetischer gesagt würde es heißen: wie lange soll die Menschheit im ewigen Hunger ihre eignen Glieder fressen? oder, wie lange sollen wir Schiffbrüchige auf einem Wrack in unlöschbarem Durst einander das Blut aus den Adern saugen? oder, wie lange sollen wir Algebraisten im Fleisch beym Suchen nach dem unbekannten, ewig verweigerten x unsere Rechnungen mit zerfezten Gliedern schreiben?“ (II/1, MBA 3.2, S. 31)

Die Vernichtungslogik wird hier als sinnlos entlarvt. Zugleich wird die Vernichtungsdynamik als angetrieben von seiner Sinnsuche analysiert, die, so der Tenor, unter den Gegebenheiten der Terreur nicht eingelöst werden kann. Denn, so könnte man folgern, die zerfetzten Glieder sind keine Zeichen, die auf etwas verweisen, sondern verweigern eine Sinnzuschreibung. Damit wird der Guillotine von den Dantonisten die erkenntnis- und bedeutungsstiftende Funktion abgesprochen, die ihr von den bedingungslosen Verteidigern der Revolution um Robespierre zugeschrieben wird. Ein Übergang von der Revolution zur Republik erscheint damit im Drama unerreichbar, da die Revolution als maschinelle und mechanische, umfassende Handlungsmacht fungiert und zugleich als einzige Akteurin29 des Dramas, so Danton: „[E]s ist mir, als wäre ich in ein Mühlwerk gefallen und die Glieder würden mir langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht: So mechanisch getödtet zu werden!“ (III/7, MBA 3.2, S. 63) Und: „Wir haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat uns gemacht.“ (II/1, MBA 3.2, S. 31) Die Möglichkeit einer Heilung des Staatskörpers wird jedoch zweifach in Aussicht gestellt, von Robespierre und Danton und ihren Anhängern, einmal in der konsequenten Fortsetzung der Terreur, das andere Mal im Übergang von der Revolution zur Republik. Während Danton folglich die Revolution zu beenden strebt und sich ihrer ökonomischen Logik widersetzt, identifiziert sich Robespierre mit der Revolution und stellt sich in seinem Repräsentationsanspruch zugleich über sie. Robespierre erhebt einen quasi-messianischen Anspruch, wobei sein satirisches Attribut „Blutmes-

 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 57.  Campe schreibt diesen Akteur-Status auch dem Volk zu, das zeitweilig als Publikum des Spiels im Spiel erscheint, vgl. Rüdiger Campe: Büchners politische Komödien Dantons Tod und Leonce und Lena, S. 185.

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sias“30 bereits auf ein Blutopfer verweist, das noch einmal mit Sinn gefüllt werden soll. So heißt es bei St. Just, der dieselbe Logik beschreibt: „Die Revolution ist wie die Töchter des Pelias; sie zerstückt die Menschheit um sie zu verjüngen. Die Menschheit wird aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen der Sündfluth mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum Erstenmale geschaffen.“ (II/7, MBA 3.2, S. 47) St. Just funktionalisiert die Zerstückelung in Hinblick auf eine Verjüngung der Menschheit, die als Einheit in der Zusammenfügung der Glieder imaginiert wird. Ob die einmal zerteilten Glieder aus dem Blutkessel jedoch wieder zusammengesetzt werden könnten, ist mehr als fraglich, zumindest der Mythos um die ‚Zerstückung‘ des Pelias legt einen anderen, unglücklicheren Ausgang nahe.31 Die Konstruktion eines ganzen Staatskörpers erweist sich damit als imaginär. Auch Danton schreibt sich selbst noch eine Handlungsmacht zu, sieht dabei aber in striktem Gegensatz zu Robespierre den eigenen Körper als Organ solchen Handelns: „Sie haben die Hände an mein ganzes Leben gelegt, so mag es sich denn aufrichten und ihnen entgegentreten, unter dem Gewichte jeder meiner Handlungen werde ich sie begraben. / Ich bin nicht stolz darauf. Das Schicksal führt uns die Arme, aber nur gewaltige Naturen sind seine Organe.“ (III/4, MBA 3.2, S. 55) Danton wäre dann weder Opfer (da der mythische oder tragische Begriff des Opfers hinfällig geworden ist)32 noch Kollateralschaden33 des Gangs der Geschichte, sondern  Bodo Morawe weist den Begriff „Blutmessias“ als Neologismus Büchners nach, der sich in den historischen Quellen nicht findet. Der Begriff „Blutmensch“ sei hingegen in antijakobinischen Kreisen verbreitet gewesen, vgl. Bodo Morawe: Blut, Blutmensch, Blutmessias. Politische Körpersprache und subversive Rhetorik in Danton’s Tod von Georg Büchner. In: Dvjs 87/2 (2013), S. 217–239, hier S. 232.  Vgl. dazu Michael Rohrwasser: ‚Danton’s Tod‘, Moskau 1937 und die Guillotine, S. 96, und Martin Vöhler: Dekonstruktion des Schreckens. In: Enttäuschung und Engagement. Zur ästhetischen Radikalität Georg Büchners. Hrsg. v. Hans Richard Brittnacher u. Irmela von der Lühe. Bielefeld 2014, S. 15–34, hier S. 32–34.  Vgl. hierzu Daniel Weidner: ‚Wehe über euch Götzendiener‘: Büchner und die prophetische Rhetorik im Vormärz. In: Weimarer Beiträge 61/3 (2015), S. 325–341, hier S. 338. Martin Vöhler argumentiert für eine dekonstruktive Abwandlung des Katharsis-Begriffs im Stück und begründet dies durch die ambivalente Bedeutung des Blutes als reinigend und befleckend, vgl. Vöhler: Dekonstruktion des Schreckens, S. 31–34.  Vgl. II/7, MBA 3.2, S. 45 f.: „St. Just: Die Natur folgt ruhig und unwiderstehlich ihren Gesetzen, der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in Conflict kommt. Eine Veränderung in den Bestandtheilen der Luft, ein Auflodern des tellurischen Feuers, ein Schwanken in dem Gleichgewicht einer Wassermasse und eine Seuche, ein vulkanischer Ausbruch, eine Ueberschwemmung begraben Tausende. Was ist das Resultat? Eine unbedeutende, im großen Ganzen kaum bemerkbare Veränderung der physischen Natur, die fast spurlos vorübergegangen seyn würde, wenn nicht Leichen auf ihrem Wege lägen.“ Diese Gesetzmäßigkeit wird auch auf die Geschichte übertragen: „Soll eine Idee nicht eben so gut wie ein Gesetz der Physik, vernichten dürfen, was sich ihr widersezt? […] Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme eben so, wie

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deren Instrument – er weiß die ‚Wahrheit‘ auf seiner Seite. Als Instrument34 und Organ versteht er sich als Teil derselben Natur und Realität, in der auch die Guillotine als Apparat wirkt. In den „gewaltige[n] Naturen“35 imaginiert Danton in der Figur der Erhabenheit eine Handlungsmacht, die den Körper, und zwar den toten, in Einsatz bringt und noch einmal in eine Teleologie einbindet. Diese Größe wird Danton nicht zuletzt auch vom Lager um Robespierre zugestanden: „St. Just. Wir müssen die große Leiche mit Anstand begraben, wie Priester, nicht wie Mörder. Wir dürfen sie nicht zerstücken, all ihre Glieder müssen mit hinunter.“ (I/6, MBA 3.2, S. 28) Die symbolische Repräsentation des Grabes und die Bewahrung der Ganzheit des Körpers sind für Dantons Gegner hier die Garantie dafür, ihm die politische Wirkungsmacht zu nehmen. Danton stellt sich seine Wirkungsmacht jedoch ganz anders vor: „Danton. […] Die Sündfluth der Revolution mag unsere Leichen absetzen wo sie will, mit unseren fossilen Knochen wird man noch immer allen Königen die Schädel einschlagen können.“ (IV/5, MBA 3.2, S. 75) Danton begreift seine Wirksamkeit instrumentell und materiell. Zudem erhält die körperliche Materialität auch eine olfaktorische Komponente, die die körperliche Wirksamkeit umfassend sinnlich begleitet: „Wenn einmal die Geschichte ihre Grüfte öffnet kann der Despotismus noch immer an dem Duft unsrer Leichen ersticken.“ (IV/5, MBA 3.2, S. 75) Das Nachleben der toten Körper in ihrer Materialität und Sinnlichkeit – ihr Verwesungsgestank als Zeichen und Spur des Organischen – soll dabei revolutionär wirken.36 Im vierten Akt imaginiert sich Danton bereits als lebender Toter (die Dualität von physischem und symbolischem Leib des Souveräns zitierend)37. Der vierte Akt steht ins-

er in der physischen Vulcane oder Wasserfluthen gebraucht. Was liegt daran ob sie nun an einer Seuche oder an der Revolution sterben?“ (II/7, MBA 3.2, S. 46) Stiening: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners, S. 442, weist jedoch darauf hin, dass diese Sichtweise keineswegs Büchners eigener Haltung entspricht.  Als Musikinstrument: vgl. II/1, MBA 3.2, S. 31: „So ein armseeliges Instrument zu seyn, auf dem eine Saite immer nur einen Ton angiebt!“  Die gewaltige Natur zeigt sich auch in der physischen Größe, die Danton (teils symbolisch, teils wörtlich) zugeschrieben wird, so etwa von Robespierre, vgl. I/6, MBA 3.2, S. 26: „Sie werden sagen seine gigantische Gestalt hätte zuviel Schatten auf mich geworfen, ich hätte ihn deßwegen aus der Sonne gehen heißen. / Und wenn sie Recht hätten?“ Und später in der Szene vor Dantons Haus, bevor die Bürger Danton festnehmen, kommentiert Simon ebenfalls die gewaltige physische Gestalt Dantons: „Todt oder lebendig! Er hat gewaltige Glieder. Ich werde vorangehn, Bürger.“ (II/6, MBA 3.2, S. 42)  Zur Obszönität von Büchners sinnlich-körperlicher Bildlichkeit vgl. Morawe: Blut, Blutmensch, Blutmessias, S. 218–221.  Nicholas Fenech verweist auf eine Analogie zwischen Dantons untotem Leib und dem Leib des Souveräns. Es wäre jedoch der Unterschied festzuhalten, dass Dantons untoter Körper die monarchische Herrschaft provoziert und unterwandert, statt sie zu bestätigen, vgl. Nicholas Fen-

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gesamt im Zeichen der Verwesung und nimmt damit die historische (revolutionäre) Wirkungsmacht andeutend vorweg.38 Auf welche Weise der Tod imaginiert wird, ist also politisch entscheidend. Dantons Todessehnsucht in der ersten Szene des Stückes ist daher programmatisch: „Die Leute sagen im Grab sey Ruhe und Grab und Ruhe seyen eins. Wenn das ist, lieg’ ich in deinem Schooß schon unter der Erde. Du süßes Grab, deine Lippen sind Todtenglocken, deine Stimme ist mein Grabgeläute, deine Brust mein Grabhügel und dein Herz mein Sarg.“ (I/1, MBA 3.2, S. 5) Die erotisch imaginierte Ruhe des Todes bleibt Utopie. Zugleich legt diese Rede die Repräsentationslogik der allgemeinen Sprache offen („Die Leute sagen“). Die metaphorischen Ersetzungen werden erläutert und damit potentiell in ihrer unmittelbaren Überzeugungskraft entschärft. Die metaphorische Kraft eines schönen Todes wird mit einer skeptischen Note versehen. Der vierte Akt zeigt, dass eine religiöse Deutung39 des Todes durch die Guillotine nicht mehr möglich ist, und verweist mit der Brüchigkeit solch metaphorischer und symbolischer Zuschreibungen zugleich auf die Unmenschlichkeit und Grausamkeit des Hinrichtungstodes. Die Zerstückelung der Körper ist im Drama die letzte Konsequenz, sie verdient jedoch zugleich den Begriff Tod nicht, der nämlich der erotisierten und fast sakralen Grabesruhe vorbehalten bleibt.40

2 Rhetorische ‚Schnitte‘ – zur Performanz fragmentierter Körper Danton’s Tod betreibt eine konsequente Ersetzung von Personen durch Gliedmaßen. Da das Drama auf den Akt der Hinrichtung durch Enthauptung zustrebt, ist es für das Drama bedeutsam, auf welche Weise dieses untheatralische (obszöne) Ereignis der Enthauptung im Stück vorbereitet und reflektiert wird und wie des

ech: Transfusions of Sovereignty: Büchner’s Danton’s Tod, Political Theology, and the Afterlife of Language. In: The German Quarterly 91/1 (2018), S. 34–48, hier S. 41.  Hier wird umgekehrt nicht der lebende Körper als toter aufgefasst, sondern der Tod selbst als Stufe des Organischen erfasst. Vgl. dazu bereits III/7, MBA 3.2, S. 64: „Danton. Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisirtere Fäulnis, das ist der ganze Unterschied!“  Vgl. IV/5, MBA 3.2, S. 76: „Danton. Aber wir sind die armen Musicanten und unsere Körper die Instrumente. Sind die häßlichen Töne, welche auf ihnen herausgepfuscht werden nur da um höher und höher dringend und endlich leise verhallend wie ein wollüstiger Hauch in himmlischen Ohren zu sterben?“  Der sanfte Tod wird am Ende des Dramas noch einmal von Lucile beschworen, vgl. IV/9.

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Weiteren die Zerstückelung und Zerteilung des Körpers zu einem formalen Gestaltungsprinzip wird, das sich bis auf die Mikroebene der einzelnen Szenen und Reden auswirkt. Danton wird bereits lange vor seiner Hinrichtung, nämlich schon im ersten Akt, durch die Beine seiner Geliebten guillotiniert: „[D]ie Schenkel der demoiselle guillotiniren dich, der mons Veneris wird dein tarpeiischer Fels.“ (I/5, MBA 3.2, S. 24) Und so witzelt auch Lacroix nach einer Rede Robespierres bereits über Halsschmerzen: „Die Phrase machte mir Halsweh. Danton. Sie hobelt Bretter für die Guillotine.“ (I/5, MBA 3.2, S. 22) Auch Barrère kommentiert das Geschehen wortwitzig: „Er schneidet sich mit seiner Bouteille den Hals ab“. Und: „Ja, geh St. Just, und spinne deine Perioden, worin jedes Komma ein Säbelhieb und jeder Punkt ein abgeschlagner Kopf ist!“ (III/6, MBA 3.2, S. 60) Hier wird bereits die tödliche Konsequenz einer Rhetorik angezeigt, die den Körper in der Sprache zerstückelt und zergliedert.41 Der rhetorischen Rede wird damit dramatische Konsequenz zugeschrieben. Von den sie aussprechenden Subjekten kann sie jedoch nicht mehr kontrolliert werden. Der Diskurs verselbständigt sich und verbündet sich auf diese Weise mit der Wirksamkeit der Materie und der agentiellen Macht der Guillotine. Die Fragmentierung bestimmt zugleich die erotische Ästhetik des Körpers. Auf die Frage „Wo ist Danton?“ heißt es: Was weiß ich? Er sucht eben die mediceische Venus stückweise bey allen Grisetten des palais royal zusammen, er macht Mosaik, wie er sagt; der Himmel weiß bey welchem Glied er gerade ist. Es ist ein Jammer, daß die Natur die Schönheit, wie Medea ihren Bruder, zerstückelt und sie so in Fragmenten in die Körper gesenkt hat.“ (I/4, MBA 3.2, S. 18)

In Kontrast dazu steht die Einheitsfantasie Marions, die eine organische Einheit des Leibes (im Gegensatz zum mechanisch gedachten Körper)42 imaginiert: „Aber ich wurde wie ein Meer, was Alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in einen Leib.“ (I/5, MBA 3.2, S. 19) Das ist schon insofern ein imaginärer Leib, als er nicht individualisiert ist, sondern alle Männer umfasst und damit den Staatskörper erotisiert.43

 Vgl. Lemke: Handeln ›in effigie‹, S. 299.  Zur wichtigen begrifflichen Unterscheidung von Körper und Leib bei Büchner vgl. Roberta Carnevale: „In carne e ossa“: il corpo nelle opere die Georg Büchner. Büchner, Rousseau e i materialisti francesi del Settecento. Firenze 2009, S. xxi, Carnevale weist zugleich darauf hin, dass Büchner den Begriff ‚Leib‘ weit häufiger gebraucht als ‚Körper‘.  Vgl. hierzu umfassend mit Blick auf den politischen Diskurs der Zeit Maud Meyzaud: Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet. München 2012, S. 47–54.

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Die verselbständigten Körperteile erhalten performative Handlungsfähigkeit,44 indem sie die Macht materiell verkörpern und zugleich Bedeutung produzieren und an die Stelle der diskursiven und repräsentativen Logik treten. Schon die erste Szene macht die Finger und Hände zum Mittelpunkt des agentiellen und rhetorischen Geschehens. Die Geschicklichkeit im Hantieren mit den Spielkarten verweist darauf, ebenso wie Dantons Aussage, „wir strecken die Hände nacheinander aus“, die sich so gar nicht aus dem Bild der Dickhäuter45 ergibt. Schließlich wird eine obszöne Geste46 ironisch als Liebeserklärung kommentiert.47 Damit wird der einzelne Finger zum Träger von personalen Charaktermerkmalen und kann damit stellvertretend für die Person stehen. Nicht nur werden noch in derselben Szene weitere Redewendungen durchgespielt (‚sich die Finger an etwas verbrennen‘ und ‚die Finger von etwas lassen‘), auch die Finger Robespierres werden in den Augen seiner Feinde parodierend zu „Guillotinmesser[n]“, wenn Camille auf die „dünnen auf der Tribune herumzuckenden Finger“ Robespierres verweist (I/6, MBA 3.2, S. 28). Die Zunge wird zur metaphorischen Guillotine, da die Sprache und der frei flottierende Wortwitz im Drama durchweg tödliche Konsequenzen zeitigen: „Das sind todte Leute, Ihre Zunge guillotinirt sie.“ (I/3, MBA 3.2, S. 14) Die rhetorische Zergliederung der Körper dient einem dynamischen Ersetzungs- und Verschiebungsspiel, bei dem die Gliedmaßen an die Stelle von Perso-

 Siehe hierzu den Begriff der Performanz bei Karen Barad, den sie im Ausgang von Judith Butler entwickelt, dabei jedoch stärker die materielle Körperlichkeit anstelle des sprachlichen Aktes betont, vgl. Karen Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 133.  Roland Borgards erläutert die naturwissenschaftliche Einordnung und Hierarchisierung der Dickhäuter im System der Tiergattungen der Zeit. Demnach wird in einem System der Sinnesorgane eine Analogie zwischen Menschen und Dickhäutern gebildet, vgl. Roland Borgards: Dickhäuter. In: Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Ariane Martin u. Isabelle Stauffer. Bielefeld 2012, S. 101–120. Eine weitere Möglichkeit, das Bild der Dickhäuter zu erläutern, wäre Descartes’ Konzeption der Haut, die er mit einem Handschuh vergleicht, die das eigentliche Tastorgan nur umhüllt, vgl. René Descartes: Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der französischen Ausgabe von 1664 übersetzt und mit einer histor. Einl. und Anm. versehen von Karl E. Rothschuh, Heidelberg 1969, S. 70: „Denn wenn auch für gewöhnlich nicht sie selbst [die kleinen Fäserchen] direkt durch die Dinge der Außenwelt berührt werden, sondern die Häute, die sie umhüllen, so ist es dennoch nicht wahrscheinlicher zu glauben, daß die Haut selbst das Organ dieses Sinnes ist, als etwa zu glauben, daß es, wenn man irgendeinen Körper mit Handschuhen betastet, die Handschuhe sind, die dazu dienen, ihn zu fühlen.“  Dafür spricht der Kontext des Kartenspiels, da die Geste neben der sexuellen Konnotation auch Glück (im Sinne des Glücksspiels) symbolisiert.  Vgl. I/1, MBA 3.2, 4 f. „Dame. Schlagen Sie den Daumen nicht so ein, es ist nicht zum Ansehn. Hérault. Sehn Sie nur, das Ding hat eine ganz eigne Physiognomie. […] Dame. Dann haben Sie Ihre Liebeserklärungen, wie ein Taubstummer, mit den Fingern gemacht.“

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nen treten, an deren Stelle agieren, sich selbstständig gerieren und so auf rhetorischer Ebene die Ganzheit des Menschen als autonom Handelndem in Frage stellen. Das Ausagieren der sprachlichen Möglichkeiten solchen Wortwitzes trägt die eigentliche Dynamik und schließlich tödliche Konsequenz des Dramas. Wenn schon in der ersten Szene des ersten Aktes metaphorisch (und wörtlich) mit Köpfen gespielt wird – „Wie lange sollen wir noch schmutzig und blutig seyn wie neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben und mit Köpfen spielen?“ (I/1, MBA 3.2, S. 6) –, so erscheint es zwei Szenen später beinahe als frevelhaft und empörend, den Kopf noch „fest auf den Schultern zu tragen“: „Die Leute, die seidne Kleider tragen, die in Kutschen fahren, die in den Logen im Theater sitzen und nach dem Dictionnär der Academie sprechen, tragen seit einigen Tagen die Köpfe fest auf den Schultern.“ (I/3, MBA 3.2, S. 13) Wie weit sich das metonymische Prinzip im Stück erstreckt, belegt auch die Rede einer anderen Figur: Dillon beschreibt die Menschenmenge um das Tribunal wie folgt: Das Volk drängte sich um den Justizpallast und stand bis zu den Brücken. Eine Hand voll Geld, ein Arm endlich, hm! hm! / (er geht auf und ab und schenkt sich von Zeit zu Zeit aus einer Flasche ein.) / Hätt’ ich nur den Fuß auf der Gasse. Ich werde mich nicht so schlachten lassen. Ja, nur den Fuß auf der Gasse! (III/5, MBA 3.2, S. 56 f.)

Hier sind es einzelne Glieder (Arm und Fuß), auf die der Mensch in der Masse reduziert wird, die aber letztlich über Gedeih oder Verderb entscheiden. Die Beispiele solcher metonymischen Ersetzung ließen sich noch weiter fortsetzen. So ist etwa in St. Justs Rede über die Dantonisten der Fokus auf die Stirn, die Waden und Ohren gelegt: „Er machte seine revolutionäre Stirn und sprach in Epigrammen; er duzte sich mit den Ohnehosen, die Grisetten liefen hinter seinen Waden drein und die Leute blieben stehn und zischelten sich in die Ohren, was er gesagt hatte.“ (I/6, MBA 3.2, S. 27) Die Körperlichkeit solcher Rhetorik macht die Fragmentarizität der Körper anschaulich.48 Die nicht nur metonymische, sondern semiotische Verselbständigung der Gliedmaßen zeigt sich emblematisch in der Konfrontation Robespierres und Dantons. Dessen Anschuldigung der Lüge (und des Mordes) verfolgt Robespierre bis in seinen intimen Monolog: Keine Tugend! die Tugend ein Absatz meiner Schuhe! Bei meinen Begriffen! / Wie das immer wiederkommt. / Warum kann ich den Gedanken nicht loswerden? Er deutet mit blutigem Finger immer da, da hin! Ich mag soviel Lappen darum wickeln als ich will, das Blut schlägt immer durch. (I/6, MBA 3.2, S. 26 f.)

 Zur Visualität der Körperlichkeit siehe Claudia Nitschke: Visualität in Büchners Danton’s Tod. In: Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Hrsg. v. Stefan Keppler-Tasaki u. Wolf Gerhard Schmidt. Berlin u. Boston 2015, S. 77–95.

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Das schlechte Gewissen und die damit verbundene Unaufrichtigkeit werden in einem blutigen Finger in der verurteilenden Geste zeichenhaft ausgedrückt. Die Lesbarkeit dieses Zeichens basiert auf der Verkörperung der Gedanken.49 Ganz ähnlich äußert sich Dantons eigenes schlechtes Gewissen: „Was das Wort [September; E.F.] nur will? Warum gerade das, was hab’ ich damit zu schaffen. Was streckt es nach mir die blutigen Hände? Ich hab’ es nicht geschlagen“. Erfolglos versucht er sich vor dem eigenen Gewissen zu rechtfertigen: „Wir schlugen sie, das war kein Mord, das war Krieg nach innen.“ (II/5, MBA 3.2, S. 41) Die blutigen Hände und der blutige Finger sind in ihrem Referenzcharakter anklagend. Sie zeigen auf den Schuldigen und machen zugleich ihren Verweischarakter transparent: Körperteile sind als Zeichen lesbar, ohne auf ein repräsentatives Ganzes zu verweisen. Die Fragmentierung strukturiert das Stück noch bis zu den metaphysischanthropologischen (bzw. bestiologischen) Aussagen der Figuren. So mache „[d]as leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, […] einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.“ (III/1, MBA 3.2, S. 49) Und Dantons anthropologische Einsicht besagt, „daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beyde das Nämliche thun, so daß Alles doppelt geschieht. Das ist sehr traurig.“ (II/1, MBA 3.2, S. 30) Diese Logik der Doppelung oder besser Halbierung steht schon im Zeichen des Todesbewusstseins („Sterbende werden oft kindisch.“) und betrifft nicht nur das Wiederaufgreifen und Spiegeln des bereits Gesagten,50 sondern auch das zentrale

 Vgl. dazu Nitschke: Visualität in Büchners Danton’s Tod, S. 80–81, die eine solche Lesbarkeit des Körperlichen als Zeichen bei Büchner mit Rekurs auf, aber zugleich in Abgrenzung von Merleau-Pontys Phänomenologie erläutert: „Obwohl sich Existenz bei Büchner körperlich manifestiert, weicht er ab von der Vorstellung von einem prä-objektiven Zur-Welt-sein als einem Dritten ‚zwischen Psychischem und Physiologischem‘ (wie es Merleau-Ponty formuliert). Das Individuum ist bei Büchner vielmehr einer Körperlichkeit ausgesetzt, im positiven wie im negativen Sinne. Körperlichkeit wird bei ihm zur Erfüllung und Bedrohung, zugleich Quelle des intensivsten Selbstgefühls und vollständiger Entindividualisierung: Geburt (Sexualität) und Tod können dabei als körperliche Extreme dieser Existenzerfahrung verstanden werden.“ Zur leiblichen Semiotik vgl. auch Hubert Thüring: Georg Büchners Semiotik des Lebens und die romantische Transzendenz. In: Georg Büchner und die Romantik. Hrsg. v. Roland Borgards u. Burghard Dedner. Stuttgart 2020, S. 231–247, der Büchners Idee einer Lesbarkeit des Körpers durchaus als skeptische Haltung versteht. Das Hindernis einer einfachen Lesbarkeit bezeichnet er als psychophysischsemiotische bzw. Körper/Zeichen-Schwelle.  Vgl. Andrea Polaschegg: Romantische Passion? Konfessionspoetik und Medienpolitik in Georg Büchners Danton’s Tod. In: Georg Büchner und die Romantik. Hrsg. v. Roland Borgards u. Burghard Dedner. Stuttgart 2020, S. 99–120, die von einer Poetik des Nachhalls spricht, vgl. hierzu auch John Reddick: Georg Büchner. The Shattered Whole. Oxford 1994, S. 9.

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Motiv von Parodie und Theaterspiel51 (damit Marx’ Diktum von der Wiederholung der Geschichte, einmal als Tragödie, einmal als Farce,52 vorwegnehmend). Dass mit der Fragmentstruktur zugleich eine Poetik des Zitats einhergeht, sei hier nur angemerkt.53 Zwei weitere wichtige Aspekte sind in der Fragmentlogik angelegt: Die metonymische Ersetzung erstreckt sich erstens auch auf die die Figuren umgebenden Gegenstände und insbesondere ihre Kleider,54 und sie impliziert zweitens die Vertauschbarkeit von Körper und dinglicher Umwelt,55 indem beide gleichermaßen der „toten“ Körperwelt angehören. Belebt wird diese Welt nicht mehr durch eine seelische Substanz, sondern nur noch durch ein Geistiges, das im Medium der Sprache materialisiert/verkörpert wird, aber phrasenhaft leer bleibt: „Nimmt Einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich 3 Acte hindurch herumquälen, bis es sich zulezt verheirathet oder sich todtschießt – ein Ideal!“ (II/3, MBA 3.2, S. 37) Durch das Stück hindurch sind die schönen Kleider Dantons, die seidnen Kleider der Aristokraten, die lumpigen und löchrigen Kleider der Bürger soziale Erkennungszeichen. Sie repräsentieren, auf welcher Seite der Revolution die sie tragende Person steht, und werden damit zum alleinigen Anklagegrund („todtgeschlagen wer kein Loch im Rock hat“ I/2, MBA 3.2, S. 12).56 So zeigt sich die scheinheilige Moral am Schuhabsatz Robespierres,57 den Danton ihm abschlagen will, und heißt es in den satirischen Worten Camilles, „daß der saubre Frack des Messias das Leichenhemd Frankreichs ist.“ (I/6, MBA 3.2, S. 28) Kleider und Körperteile sind jedoch gleichermaßen Einkleidungen einer (phrasenhaften) Sprache und damit innerlich hohl.

 Campe: Büchners politische Komödien Dantons Tod und Leonce und Lena, S. 185, liest Danton’s Tod nicht nur als Tragödie im Sinne Hegels, sondern auch als romantische Komödie.  Vgl. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Text nach dem Erstdruck von 1852, Kommentar von Hauke Brunkhorst, Frankfurt am Main 32018, S. 9: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“  Vgl. dazu Nitschke: Visualität in Büchners Danton’s Tod, S. 81.  Löcher finden sich zahlreich in den Jacken und Hosen der Bürger, aber auch im Boden (II/2), schließlich im Grab als dem „engste[n]“ Loch (III/5, MBA 3.2, S. 58).  Zur Ununterscheidbarkeit von Körper und Kleid vgl. Doerte Bischoff: Büchners Kleider, S. 196.  Vgl. Bischoff: Büchners Kleider, S. 195–198, die den Bezug zum Hessischen Landboten und der dort verhandelten Ausbeutung der Arbeiter herstellt und einleuchtend zeigt, wie diese Logik in Danton’s Tod radikal umgekehrt wird, wenn die Bürger hier imaginieren, sich aus den Leibern der Aristokraten Kleider zu machen, vgl. etwa I/2, MBA 3.2, S. 10: „Aber sie haben die Todten ausgezogen und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren. Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus machen, wir wollen ihnen das Fett auslassen und unsere Suppen mit schmelzen.“  Vgl. Bischoff: Büchners Kleider, S. 189 f.

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Die Verschränkung zwischen Sprache und deren Verkörperung (in ihrer analogen Verhüllungsfunktion) irritiert jedoch in ihrer Konsequenz. Danton erschrickt, als er bemerkt, dass seine Gedanken sich unwillkürlich körperlich, und das heißt nicht nur durch sein Zittern, sondern auch sprachlich äußern:58 Julie. Du sprachst von garstigen Sünden und dann stöhntest du: September! Danton. Ich, ich? Nein, ich sprach nicht, das dacht ich kaum, das waren nur ganz leise heimliche Gedanken. Julie. Du zitterst Danton. Danton. Und soll ich nicht zittern, wenn so die Wände plaudern? Wenn mein Leib so zerschellt ist, daß meine Gedanken unstät, umirrend mit den Lippen der Steine reden? (II/5, MBA 3.2, S. 40)

Die Stimme eines solchen sprachlichen Aktes steht dem Körper fremd gegenüber und führt zu einer Spaltung des Selbst, und zwar nicht nur einer Doppelung, sondern zugleich einer destruktiven Auflösung der Einheit. Das „Zerschellen“ hat nur noch Fragmente zum Resultat. Zugleich wird diese Zerstörung der Leibeseinheit in den Gedanken und den Worten gespiegelt, die „unstät“ und „umirrend“ nicht mehr in einer Subjekteinheit fokalisiert werden können. Sie führen zu einer Pluralisierung des Subjekts, das sich nicht mehr vom anderen und den umgebenden Gegenständen unterscheiden kann und damit zugleich den Subjektstatus, wie in Lacans Theorie des Spiegelstadiums beschrieben, verliert. Der Wahnsinn eines solchen Subjektivitätsverlustes wird im vierten Akt vielfach gespiegelt, in Lucile und Camille, Julie und Danton, die allesamt die Zerteilung des Körpers in der Zerrüttung des Geistes vorwegnehmen. Die Frage lässt sich jedoch anschließen, ob in dem Verlust der Subjekteinheit zugleich ein Gewinn liegt, ob nämlich die Erweiterung des Subjektbegriffs hin auf die materiellen Dinge nicht zugleich zu einer Erweiterung der Handlungsmacht führt und ob diese Transformation nur in einer ganz bestimmten Perspektive als zerstörerisch erfahren werden muss. Zumindest stellt sich im vierten Akt des Dramas eine Erkenntnis ein, die in der konsequent materialistischen Sichtweise mit einer Destruktion des klassischen Subjektivitätsbegriffs einhergeht. Die als Wahnsinn stigmatisierte Fragmentierung des Subjekts wird von

 Christian Kohlross verhandelt Büchners Ästhetik unter dem Gesichtspunkt poetischer Schlussverfahren. Die Verknüpfung von körperlichen Empfindungen und Worten wäre ein Beispiel eines solchen Schlusses, vgl. Christian Kohlross: Die poetische Erkundung der wirklichen Welt. Literarische Epistemologie (1800–2000). Bielefeld 2010, S. 125: „Ja, ich denke sogar, dass wir in unseren Gefühlen beständig aus den Zuständen unseres Körpers Schlüsse ziehen, wir gerade da unsere Selbstwahrnehmungen als Repräsentationen gebrauchen. Und bekanntlich sind die Büchnerschen Figuren in einem bisweilen sogar beängstigenden Maße mit dieser Fähigkeit ausgestattet[.]“

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Büchner insofern umgewertet, als sie zumindest mit einem Erkenntnismoment ausgestattet wird, das wiederum handlungsrelevant werden könnte, sofern sich ein neuer, flexiblerer Subjektbegriff daraus entwickeln ließe. Ansätze dazu bieten sich mit den Versuchen in Danton’s Tod, das Organische als Fossil und Fäulnis zu denken und damit den Menschen stärker als natürlich zu begreifen. Zugleich dekonstruiert das Drama eine Repräsentationslogik der Macht und zielt auf die performative Konstitution eines Staatskörpers durch einzelne Körper, also einzelne materielle Standpunkte und Verkörperungen. Auf diese Weise wird Handlungsmacht relational gedacht.59 Mit La Mettries Materialismus lässt sich die Aufteilung der Körper in einzelne Organe und Glieder mit relativer Autonomie und Empfindungsfähigkeit nachvollziehen. Die Begrifflichkeit des agentiellen Realismus nach Karen Barad erlauben es zudem, die Guillotine als Apparat und damit als Akteurin in einem erkenntnistheoretischen und sozial-politischen Gefüge zu lesen, die auf ihre Gegenstände (die materiellen Menschenkörper) nicht nur einwirkt, sondern sie auch einer objektivierenden Erkenntnis unterzieht und sie damit allererst als Objekte hervorbringt. Die Guillotine macht folglich als Erkenntnismetapher eine soziale Realität sichtbar, die sie in einen konsequent materiellen Weltbezug stellt. Damit wird zugleich die Frage nach verantwortungsvollem Handeln mit erneuter Vehemenz gestellt. Sich selbst überlassen wird der Erkenntnis-Apparat zur Tötungsmaschine, der seine Gegenstände zwar objektiviert, sie damit aber zugleich als leblose Körper festschreibt. Damit ist Büchners Drama zugleich ein Appell, die agentielle Macht nicht allein den technischen Apparaten zu überlassen.

 Diese Abwendung von der Repräsentation und Hinwendung zur Performanz zeichnet ebenfalls den Neuen Materialismus Barads in Nachfolge Donna Haraways aus, vgl. Hoppe/Lemke: Die Macht der Materie, S. 268.

Rudolf Drux

Drehorgel/Leierkasten Zur Dinglichkeit und Metaphorik eines „mechanischen Musikwerks“ bei G. Büchner und Zeitgenossen Zu Beginn des Jahres 1834 tut Georg Büchner aus seinem Studienort Gießen seiner Braut in Straßburg kund: „Ich bin ein Automat“. Was ihn zu dieser metaphorischen Prädikation veranlasst, teilt er sogleich mit: „die Seele ist mir genommen“ (MBA 10.1, S. 31). Damit fasst er eine Symptomatik zusammen, die ihn quäle, seit er im Oktober 1833 den Rhein überquert habe: Missempfindungen, Passivität, eine „dumpfes Brüten“, „Stummsein“ und Emotionslosigkeit (MBA 10.1, S. 34). Er sei in diesen Monaten, erklärt er später in einem vor Ende März 1834 an seine Eltern geschriebenen Brief, „in tiefe Schwermuth verfallen“, was nicht zuletzt an den „politischen Verhältnisse[n]“ liege, die von „einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus“ geprägt seien (MBA 10.1, S. 38). Büchners melancholische Identifikation mit einem Automaten wird dann in Danton’s Tod ins Universelle gewendet, und zwar mit der Entgegnung des Titelhelden auf Philippeaus tröstliche Aussicht, dass es „ein Ohr“ höherer Ordnung gebe, „für welches das Ineinanderschreien und der Zeter, die uns betäuben, ein Strom von Harmonien sind“ (MBA 3.2, S. 76). Dem hält Danton entgegen, dass die Menschen doch nur „die armen Musicanten“ und ihre eigenen „Körper die Instrumente“ seien, aus denen zum sadistischen Vergnügen der Götter „die häßlichen Töne […] herausgepfuscht werden“. Aber wie diese ernüchternde Vision nicht mehr als ‚fortgeführte Metapher‘ im Sinne der klassischen Rhetorik bezeichnet werden kann, d. h. als gemischte Allegorie, deren einzelne Bildelemente mit bestimmten Bedeutungseinheiten, quasi in einer Eins-zu-eins-Zuordnung, korrelieren,1 so ist auch das Aus Die Metapher als Similaritätstrope, die aufgrund einer wirklichen oder angenommenen Ähnlichkeit zwischen einem Element der eigentlichen/gemeinten Bedeutungsebene [z. B. ‚der Mensch‘] und einem des Bildbereichs/Übertragungskontextes [‚ein Automat‘] zustande kommt, wird, wenn sie über korrelierende Einheiten aus den beiden semantischen Kontexten (Wortfeldern) ‚fortgeführt‘ wird, zur Allegorie (inversio), die Cicero (de oratore 3, 41, 166) deshalb als translatio continuata definiert (vgl. auch Quintilian, institutio oratoria 8, 6, 44). Dieser Tropus wird zudem nach dem Grad seiner Verständlichkeit „in die allegoria permixta, in der der ‚Zweitsinn‘ explizit dargelegt wird, und die allegoria pura/tota unterteilt, die, von keinen exegetischen Ausführungen begleitet, aus einem ‚reinen‘ Bild besteht und zur Deutung textueller oder pragmatischer Signale bedarf“ (Rudolf Drux: Tropus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg v. Gert Ueding. Bd. 9. Tübingen 2009, S. 812). Es gibt allerdings auch ‚fortgeführte Metaphern‘, die keine Allegorien sind, sondern über Rudolf Drux, Köln https://doi.org/10.1515/9783110796278-004

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gangsbild verändert. Nicht mehr der anthropomorphe Automat (Android) wird hier zur verdeutlichenden Prädikation herangezogen, sondern von einem anderen Gegenstand aus dem Gebiet mechanischer Gebilde geht Dantons bedrückende Vorstellung aus. Das real existierende Ding, das ihr zugrunde liegt,2 lässt sich besser als aus der zitierten Äußerung Dantons aus Büchners Brief an die Braut vom 8. März 1834 erschließen, der als eine Art ‚Keimzelle‘ der Metaphern gelten kann, mit denen die humanistisch gebildeten Revolutionäre in der Conciergerie das menschliche Dasein in seiner Sinnlosigkeit zu umschreiben suchen. In diesem Brief schildert Büchner die Menschen, die er im „Gefühl des Gestorbenseins“ wahrgenommen habe (MBA 10.1, S. 33); deren „ganze [leiernde] Maschinerie“: die knarrende Stimme, „das ewige Orgellied“, zu dem „die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen“, – sie lässt keinen Zweifel daran, dass eine Drehorgel der Bildspender ist. Diese hatte schon E. T. A. Hoffmann als ‚Da- bzw. Soseinsmetapher‘ verwendet, und zwar in seiner Erzählung Die Jesuiterkirche in G. aus dem ersten Teil seiner Nachtstücke (1816/17), als deren Verfasser der „Autor der Fantasiestücke in Callots Manier“ wegen ihres großen Erfolges auf dem Deckblatt angegeben wird. Und auch Büchner spielt mit seinem selbstironischen Hinweis auf den „Herrn Callot-Hoffmann“, für den er in der Zeit seines anhaltenden „Starrkrampfs“ ein brauchbares Modell abgegeben hätte,3 auf Hoffmanns Fantasiestücke an.

ein semantisches Merkmal oder Lexem eine eigenständige Bedeutungsebene (Isotopie) errichten, also ohne dass die ‚bildlichen‘ (uneigentlichen) Ausdrücke jeweils mit Einheiten eines wörtlichen (eigentlichen) Diskurses korrespondieren. Das ist eben der Fall im Gespräch der Revolutionäre über das menschliche Dasein (in Danton‘s Tod IV, S. 5): Zwar werden die Menschen als „Musicanten“ und die Körper als ihre „Instrumente“ bezeichnet, aber „die häßlichen Töne“, das sie erzeugende missratene Spiel und „die himmlischen Ohren“ besitzen kein lexikalisch bestimmtes Korrelat; gerade dadurch wird jedoch jene trost- und hoffnungslose Stimmung im Hinblick auf die augenblickliche und künftige Lage der Sprecher spürbar.  Für die ‚Ding‘-Begriffe in den verschiedenen Textstellen, die hier zitiert werden, kann insgesamt gelten, was Martina Wernli/Alexander Kling: Von erzählten und erzählenden Dingen. Zur Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Das Verhältnis von res und verba. Zu den Narrativen der Dinge. Freiburg i. Br., Berlin u. Wien 2018, S. 7, feststellen: Es sind „durch Zeichen repräsentierte Dinge“, deren Analyse zum einen auf ihre „Verweischarakteristiken, Funktionen und Bedeutungen“ ausgerichtet ist, sich zum andern „mit der[en] Materialität, der Stofflichkeit und der Widerständigkeit“ befasst. Anders gesagt, geht es um ihren jeweiligen semiotischen Status, der zwischen einer möglichst ‚dingfesten‘ einsinnigen Wiedergabe und einer mehrsinnigen Symbolhaftigkeit, der kein reales Denotat mehr zuzuordnen ist, anzusiedeln ist.  Damit beschließt Büchner die Passage über seinen „seit acht Tagen“ anhaltenden „Starrkrampf“ und gibt so Wilhelmine indirekt zu verstehen, dass dieser Zustand nun mehr überwunden sei: „Ich hätte Herrn Callot-Hoffmann sitzen können, nicht wahr, meine Liebe? Für das Modelliren hätte ich Reisegeld bekommen“ (MBA 10.1, S. 34).

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Was ihn zum Modell für Callots Kupferstiche oder Hoffmanns Erzählungen prädestiniert, ist nämlich nicht seine eingangs zitierte Gleichsetzung mit einem Automaten, sondern die Furcht vor seinem Spiegelbild.4 Dass dieses dem armen Erasmus Spikher durch teuflischen Zauber abhanden gekommen war, erzählt, dessen gar „wundersame Geschichte“ wiedergebend, der „reisende Enthusiast“ im Rahmen seiner Abenteuer der Silvesternacht, die E. T. A. Hoffmann ins zweite Buch seiner Fantasiestücke in Callots Manier ‚einrückte‘. Immerhin tritt darin mit jenem dieselbe Erzählfigur wie in den finstereren Nachtstücken auf: Der „reisende Enthusiast“ ist ein kunstsinniger, finanziell unabhängiger Bürger mittleren Alters, der, wenn auch selbst kein Künstler, von den Künsten begeistert ist. Ihm kommt die narrative Funktion zu, die verschiedenen Orte, in denen sich die Handlung der einzelnen Stücke jeweils ereignet, als Augenzeuge miteinander zu verbinden. In der Jesuiterkirche nun begibt er sich auf das Gebiet „der edlen Malerkunst“, als deren „Kenner und Ausüber“ er sich versteht.5 Das heißt konkret, er ist dem Maler Berthold bei nächtlichen Marmorierungsarbeiten in der Kirche der Jesuiten behilflich; dabei findet er genügend Zeit, diesem vorzuhalten, dass er doch eigentlich „zu etwas Besserem“ tauge als zu der wenig kreativen Architekturmalerei, bei der „Geist und Fantasie in die engen Schranken geometrischer Linien gebannt“6 würden. Diesen Einwand wehrt Berthold entschieden ab; frevelhaft sei es, „die verschiedenen Zweige der Kunst“ in eine gleichsam feudalistische „Rangordnung“ zu zwingen, frevelhafter noch, nur denen Achtung zu zollen, die sich von den Ketten des Irdischen frei fühlen, „ja [als produzierende Künstler] selbst sich Gott wähnen“. Statt sich auf die Historien- oder Porträtmalerei einzulassen und zu versuchen, dabei „wie ein Handlanger der Natur […] Menschen zu bilden“,7 was dann, wenn es misslingt, den einen Moment lang vom „Prometheusfunken“ entzündeten Künstler in einen „Abgrund“ stürze, sei es allemal besser, mathematisch „genauer Berechnung“ zu folgen: „Wie herrlich ist die Regel!“, ruft er geradezu schwärmerisch aus, denn „alle Linien, treu und ehrlich gezeichnet, einen sich zum bestimmten Zweck; zu bestimmter deutlich gedachter Wir Unmittelbar vor seinem Hinweis auf „Callot-Hoffmann“ stellt er fest, dass er, obwohl er keineswegs „lästre“, „doch […] gestraft [sei], ich fürchte mich vor meiner Stimme und – vor meinem Spiegel“. Die Furcht vor der eigenen Stimme wie dem Spiegelbild wird prominent in Jean Pauls Titan (Sämtliche Werke. Abt. I. Hrsg. von Norbert Miller. München 1976, Bd. 3, S. 688 f.) im Zuge der Selbstentfremdung des Bibliothekars Schoppe dargestellt. Auf eher komische, aber durchaus signifikante Weise hat auch König Peter (Leonce und Lena I, 2) bei der öffentlichen Mitteilung seiner Denkbemühungen an ihr zu leiden: „Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht wer es eigentlich ist, ich oder ein anderer, das ängstigt mich“ (MBA 6, S. 103).  E. T. A. Hoffmann: Nachtstücke. Hrsg. v. Gerhard R. Kaiser. Stuttgart 1990, S. 111.  Hoffmann: Nachtstücke, S. 112 f.  Hoffmann: Nachtstücke, S. 113.

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kung. Nur das Gemessene ist rein menschlich; was darüber geht, vom Übel“ – und der vermessene „Frevler, der sich angemaßt Göttliches zu fahen“, werde (da dieses im Irdischen nicht rein zu erhalten ist) „verdammt zu ewiger fürchterlicher Qual“.8 Das erläutert Berthold an der „Fabel von dem Prometheus“, dem mythischen Prototypen des Künstlers nicht nur in der Goethezeit, und fügt ihr als Warnung das weniger mythologische als alltägliche Bild vom Leierkasten an: „Wer artig ist, trachtet nicht, wie der neugierige Bube, den Kasten zu zerbrechen, in dem es orgelt, wenn er die äußere Schraube dreht“.9 Das Musikstück erklingt nicht, so lässt sich dieser mahnende Satz wohl paraphrasieren, wenn das Instrument, mit dem es erzeugt wird, aus Neugier oder Übermut obduziert, also auseinander genommen wird. Jedenfalls stützt sich das Plädoyer des Malers für die Orientierung an das Geregelte, das Mess- und Berechenbare im Bereich der Kunst und im menschlichen Dasein überhaupt auf die Anthropologie der aufgeklärten Materialisten, die in diesem Nachtstück vom „Professor im Jesuiter-Collegio Aloysius Walter“ vertreten wird. Dessen Aussage: „Tiere und wir selbst sind gut eingerichtete Maschinen, um gewisse Stoffe zu verarbeiten“,10 hält Berthold „am Ende“ für richtig. Wie sein ganzes Betragen jedoch, seine Stimme, „Worte und der Ausdruck des Gesichts“ dem Enthusiasten „das ganze zerrissene Leben eines unglücklichen Künstlers vor Augen“11 führen, so ist hinter seinem forcierten Einsatz für den Maschinenmenschen die Klage „eines auf den Tod verwundeten Gemüts“ vernehmbar, das „sich nur in schneidender Ironie“12 artikulieren kann. Bertholds Trauma resultiert, wie der Leser im zweiten Teil des Nachtstücks erfährt, aus einem furchtbaren Ereignis in seinem Leben: dem Tod seiner Frau und seines Kindes, den er in seiner Kunst zu verdrängen oder zu bewältigen sucht.13

 Hoffmann: Nachtstücke, S. 113 f.  Hoffmann: Nachtstücke, S. 114.  In Hoffmann: Nachtstücke, S. 114, wird der Satz folgendermaßen fortgeführt: „[…] und zu verkneten für den Tisch des unbekannten Königs“. Dieses Bild erfährt in den Visionen der eingekerkerten Revolutionäre von der Opferung der Menschen „für fürstliche Tafeln“ und den „Tisch der seligen Götter“, die sich „ewig am Farbenspiel des Todeskampfes [erfreuen]“ (MBA 3.2, S. 76 f.), eine drastische Steigerung.  Hoffmann: Nachtstücke, S. 108.  Hoffmann: Nachtstücke, S. 115.  Den hatte Bertold, was die Erzählung allerdings offen lässt, selbst verschuldet, als er in einen desaströsen Zwiespalt zwischen dem in der ‚Innenwelt Geschauten‘ und den Phänomenen der ‚Außenwelt‘ geriet (das zentrale Dilemma der Hoffmann’schen Künstlergestalten) und die als sein „Ideal“ wahrgenommene Frau, die ihn zu künstlerischer Produktion inspirierte, als Hausfrau und Mutter ins alltägliche Eheleben zog.

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Der „geneigte Leser“,14 der mit Hoffmanns Werk vertraut ist, müsste Bertholds geregelte Kunstausübung, die der mechanischen Grundierung des Menschen entspreche, von Vornherein als ironisch verstehen; denn unmissverständlich hat sein Autor die „Verbindung des Menschen“ mit lebloser Materie als „erklärte[n] Krieg gegen das geistige Prinzip“15 bezeichnet. Diesen Satz legt er dem künstlerisch begabten Ludwig aus der Erzählung Die Automate (Pl. von ‚das Automat‘) in den Mund, die nur „Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens“ seien16 – und unter ebendiese reiht sich Büchner während seiner Gießener Krise ein. Das harte Urteil des jungen Akademikers Ludwig ist darin begründet, dass ihm „die durch die Mechanik nachgeahmten menschlichen Bewegungen toter Figuren fatal“ sind. Aber „vollends die Maschinenmusik“ hat für ihn „etwas Heilloses und Greuliches“; denn durch Ventile, Springfedern, Hebel und Walzen und was noch alles zu dem mechanischen Apparat gehören mag, musikalisch wirken zu wollen, ist der unsinnige Versuch, die [technischen] Mittel allein das vollbringen zu lassen, was sie nur durch die innere Kraft des Gemüts belebt und von derselben in ihrer geringsten Bewegung geregelt ausführen können.17

Dem kann sich Büchner aus eigener Erfahrung anschließen, war ihm doch seiner Meinung nach „die Seele genommen“ (MBA 10.1, S. 31), also die Belebung durch „die innere Kraft des Gemüts“ abhanden gekommen, weshalb er die Melodie des pulsierenden Lebens nur mehr als widerliches Geräusch wahrzunehmen vermochte. Die implizite Kritik am Menschenbild des aufgeklärten Materialismus lässt sich so bei Hoffmann wie Büchner ausmachen, wobei es nicht nur um die 1747 anonym veröffentlichte Abhandlung des Arztes und Anatoms Julien Offray de La Mettrie (L’Homme machine) geht, der die cartesianische „Thiermaschine“ radikalisiert. Descartes spricht dieser (u. a. in seiner erst postum 1664 veröffentlichen Beschreibung des menschlichen Körpers und aller seiner Funktionen)18 zwar auch in Hinsicht auf den Menschen Gültigkeit zu, aber eben nur für seinen Körper, eine res extensa, für die die Physik zuständig ist, hält ihr aber „eine vom Körper verschiedene Substanz“ entgegen, die res cogitans, das Denkvermögen, das die Besonderheit des menschlichen Seins begründet. Indem La Mettrie nun den cartesianischen Dualismus aufgibt, definiert er den Menschen als rein materielles Wesen, das wie eine Ma-

 Hoffmann: Nachtstücke, S. 106 u. passim.  E. T. A. Hoffmann: Die Automate. In: Die Serapions-Brüder. Nach dem Text der Erstausgabe (1819–23) […]. Bd. 2, 4. Abschnitt, München 1976, S. 330 f.  Hoffmann: Die Automate, S. 330 f.  Hoffmann: Nachtstücke, S. 346 f.  Vgl. Rudolf Drux (Hrsg.): Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimov. Stuttgart 1988, S. 27–29.

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schine funktioniert, allerdings die „höchst organisierte“19 unter allen Lebewesen. Im Grunde ist dieses „der ächte Typus des Intermechanismus“, den Büchner in seinen Philosophischen Exzerpten schon aus Descartes’ Studien ableitet: Der „homme machine wird [darin] vollständig zusammengeschraubt“ (MBA 9.1, S. 91 f.).20 ‚Echt‘ bedeutet aber auch ‚unverfälscht‘ und ‚eigentlich‘. In der Tat stand für die französischen Materialisten die Wirklichkeit des Mechanismus Mensch außer Frage, d. h., die Aussage: ‚Der Mensch ist eine Maschine‘, war für sie keine Prädikatsmetapher, das Kompositum ‚Maschinenmensch‘ eigentlich tautologisch. Ja, die Androiden des genialen Automatenbauers Jacques de Vaucanson galten sogar als naturgetreue Modelle für das Wesen des Menschen. Sein kunstvoller Flötenspieler, der mit „ächt“ (MBA 9.1, S. 91) erscheinenden Finger- und Lippenbewegungen 12 Melodien blasen konnte, wurde sogar von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Paris 1738 für seine klare Konzeption und gelungene Realisierung ausgezeichnet. Wenn der Ingenieur, so La Mettrie, etwas „mehr Kunst anwenden“ würde, dann könne aus einem Flöte spielenden Androiden sogar ein „Sprecher“ werden. In der Annahme, dass damit selbst die Gabe, die die Natur dem Menschen vorbehalten hat, die Sprachfähigkeit nämlich, auf technischem Weg erlangt werde, zögert La Mettrie nicht, den Automatenbauer Vaucanson in mythische Dimensionen zu rücken und ihn einen „neuen Prometheus“ zu nennen – in Anlehnung an den Menschenschöpfer des klassischen Mythos.21 Nicht minder kunstvoll nimmt sich die (auch heute noch in Neuchâtel/Schweiz zu bewundernde) mechanische Rokoko-Musikerin von Vater und Sohn Jaquet-Droz (1768) aus. Sie entlockt fünf verschiedene Stücke einem Harmonium, dessen Tasten auf den Druck ihrer Finger zu reagieren scheinen, während ihre Augen den Bewegungen ihrer zierlichen Hände folgen – und könnte Hoffmann zu seiner automatischen Puppe Olimpia aus seinem Nachtstück Der Sandmann angeregt haben, die, Klavier spielend und taktvoll tanzend, dabei keine eigene Meinung äußernd, die

 Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch eine Maschine. Aus dem Französischen übers. v. Theodor Lücke. Stuttgart 2001, S. 66 f.  „In der Abhandlung de homine“, führt Büchner aus, „macht er [Descartes] den Versuch zur Begründung einer Physiologie aus mathematischen und physikalischen Principien. […] Ein Centralfeuer im Herzen […], die in einem Dunst von Nervengeist schwebende, nach verschiednen Richtungen sich neigende Zirbeldrüße, als Residenz der Seele, Nerven mit Klappen, […] die Lunge als Kühlapparat […], Milz, Leber, Nieren als künstliche Siebe, sind die Schrauben, Stifte u. Walzen“ [sic!] (MBA 9.2, S. 85). Es sind also fast ausschließlich ‚Dinge‘, res extensae im cartesianischen Sinn, die nach den ‚Grundregeln‘ (formalen Prinzipien) der an diesem „Versuch“ beteiligten Disziplinen (die im frühen 19. Jahrhundert anders definiert sind als in der heutigen Naturwissenschaft) „zusammengeschraubt“ werden. Nur, eine „Residenz der Seele“ dürfte beim ‚totalen intermechanistischen Typus‘ schwer auszumachen sein.  Alle Zitate hier aus La Mettrie: Der Mensch eine Maschine, S. 83.

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Benimm-Regeln wahrlich verinnerlicht hat, die das Bildungsbürgertum seinen ‚höheren Töchtern‘ vorschrieb. Der schöne Rücken der Harmonium-Spielerin ließ sich übrigens öffnen, so dass der Zuhörer, wie Achim von Arnim schildert, darin „sehr verwickelte Messingräder“ entdecken konnte, und darunter „war die Walze eingesteckt, die alles trieb“.22 So erweisen sich die musizierenden Androiden, obwohl Meisterstücke des Uhrmacherhandwerks von hohem technischen Standard, bei allem handwerklichen Geschick ihrer Konstrukteure im Kern nur als Drehorgeln in menschlicher Gestalt. Noch heute sind sie, ob antiquiert und angestaubt oder postmodern programmiert und mit einer Elektronik ausgestattet, die intelligent anmutende Aktionen ermöglicht, auf Jahrmärkten anzutreffen.23 Dass sich künstlerische Inspiration gerade auf dem Gebiet der Musik im Kunsthandwerk erschöpft, war einem Schriftsteller, der wie Hoffmann zugleich Komponist war, zuwider; das kann kaum verwundern, zeigt darüber hinaus aber auch den kulturgeschichtlichen Ort seiner Kritik an. Die Musik hatte nämlich für die Romantik den gleichen Stellenwert wie die Sprache für die Aufklärung; sie war das Höchste, was der Mensch hervorbringen konnte, die ‚regina artium‘, Königin der Künste, weil sie durch ihre universellen Klänge die ursprüngliche Teilhabe des Menschen am göttlichen Kosmos erahnen und durch ihre unendlichen Harmonien das Gefühl einer höheren Sphäre spüren lasse.24 Für Büchners Danton sind jene jedoch zu „hässlichen Töne[n]“ verkommen, die, „höher und höher dringend und endlich leise verhallend“, keine Resonanz erfahren und sich im „Nichts“ verlieren, nur mehr als leiser „Hauch“ von wie auch immer gearteten „himmlischen Ohren“ vernehmbar (MBA 3.2, S. 76). Die semantische Unbestimmtheit dieses Bildes, das zugleich eine dichte betrübliche, gar trostlose Stimmung evoziert bzw. verstärkt, zeigt ein neues Entwicklungsstadium metaphorischen Sprechens an, das, mit Hans Blumenberg gesprochen, „als ein schmaler Spezialfall von Unbegrifflichkeit zu nehmen ist“.25

 Achim von Arnim: Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Sämtliche Romane und Erzählungen. Hrsg. v. Walter Migge. München 1962, Bd. I, S. 276 f.  Vgl. zur Technik- und Literaturgeschichte der menschenähnlichen Automaten/Androiden die bestens illustrierte, exemplarische Darstellung von Herbert Heckmann: die andere schöpfung. Geschichte der frühen Automaten in Wirklichkeit und Dichtung. Frankfurt a. M. 1982, hier bes. S. 241–281, sowie Siegfried Richter: Wunderbares Menschenwerk. Aus der Geschichte der mechanischen Automaten. Leipzig 1989.  Vgl. zu Hoffmanns Auffassung von Musik und ihrer Erforschung Brigitte Feldges, Ulrich Stadler: E.T.A. Hoffmann. Epoche-Werk-Wirkung. München 1986, S. 241–257, und Gerhard R. Kaiser: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart 1988, S. 128–132 sowie S. 190–193.  Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979, S. 77.

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Nun ist dem mechanischen Materialismus der Aufklärung nach der Mensch als Maschine aber keineswegs eine isolierte Größe, sondern eingelassen in das als große Maschinerie gedachte System der Natur, wie der Titel von Paul Thiry d’Holbachs philosophischer Abhandlung von 1770 lautet.26 Glück stellt sich dann ein, wenn sich die „schwache Triebfeder“ Mensch mit dem Räderwerk der „großen Maschine“ Natur im Gleichlauf befindet.27 Diese Vorstellung greift Heinrich Heine in der Harzreise (1824) auf; während eines großen Gelages im Gasthof auf dem Brocken, dem deutschen Nationalberg, steigt ein Student auf seinen Stuhl und belehrt nach Dozentenart seine Zechbrüder: „Meine Herren! Die Erde ist eine runde Walze, die Menschen sind einzelne Stiftchen darauf, scheinbar arglos zerstreut; aber die Walze dreht sich, die Stiftchen stoßen hier und da an und tönen, die einen oft, die andern selten, das gibt eine wunderbare, komplizierte Musik, und diese heißt Weltgeschichte. Wir sprechen also erst von der Musik, dann von der Welt und endlich von der Geschichte; letztere aber teilen wir ein in Positiv und spanische Fliegen –“. Und so ging’s weiter mit Sinn und Unsinn.28

Der Redner erklärt die Weltgeschichte mit einer traditionellen Allegorie: Die Prädikatsmetapher: „Die Erde ist eine runde Walze“ wird mit jeweils zwei korrespon-

 Paul Thiry d’Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt.– In: Drux (Hrsg.): Menschen aus Menschenhand, S. 50–60, S. 51. „Die Natur, im engeren Sinne oder in jedem Ding für sich betrachtet, ist das Ganze, das sich aus dem Wesen, das heißt, aus den Eigentümlichkeiten, den Verbindungen, den Bewegungen und Wirkungsarten ergibt, die dieses Ding von anderen Dingen [!] unterscheiden. So ist der Mensch ein Ganzes, das Ergebnis von Verbindungen verschiedener, mit besonderen Eigentümlichkeiten versehener Stoffe, deren Anordnung man Körperbau nennt. […] Ist die Natur selbst nicht eine große Maschine und unsere Gattung eine schwache Triebfeder darinnen?“ Der Mensch, dessen ganzes Streben auf Glück und Wohlergehen gerichtet ist, erreicht sein Ziel, wenn er sich in Übereinstimmung mit der Natur begibt und ihre universelle mechanische Gesetzmäßigkeit als Notwendigkeit (fatalité) anerkennt.  In seinem prägnanten „Exkurs: Menschmaschine und Gesellschaft“ stellt Alex Sutter: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant. Frankfurt a. M. 1988, S. 145–150, angesichts der „geläufigen sozialphilosophischen Assoziationen, die sich an die Menschmaschine zu knüpfen pflegen“, fest, „dass La Mettrie auch heute noch unter dem schlechten Stern steht, für andere, etwa für Holbach, herhalten zu müssen. Dessen ‚Système de la nature‘ beruht auf völlig anderen philosophischen Voraussetzungen, nämlich auf der Ontologie eines mechanischen Materialismus, der mit einer ‚natürlichen Moral‘ ausgestattet ist. Erst in diesem Rahmen wird der Mensch zu einer nützlichen Maschine der Gesellschaft, wird das Individuum mit Haut und Haaren der utopischen Staatsmaschine einverleibt. Taucht in der Literatur en passant der Name ‚La Mettrie‘ auf, müsste statt dessen in vielen Fällen eigentlich ‚Holbach‘ dastehen“ (S. 150).  Heinrich Heine: Die Harzreise. Sämtliche Schriften in 12 Bdn. Bd. 3: Schriften 1822–1831. Hrsg. v. Günter Häntzschel. Frankfurt a. M., Berlin u. Wien 1981, S. 150.

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dierenden Elementen aus den Wortfeldern ‚Welt‘ und ‚Drehorgel‘ erweitert, aber ihr Aussagewert hält sich in engen Grenzen, entbehrt jeder begrifflichen Klarheit, die die Schulrhetorik für die Aufgabe der Belehrung (officium docendi) im schlichten, eingängigen Stil (genus subtile) verlangt,29 bietet vielmehr, wie der Erzähler selber feststellt, eine durchgängige Mischung aus „Sinn und Unsinn“, womit die übliche Explikation eines abstrakten Begriffs anhand eines gewöhnlichen Gegenstandes parodiert wird. Diese obsolete Methode hatte schon der Physikprofessor und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg im Heft J seiner von Heine geschätzten Sudelbücher kritisiert:30 Einen läppischeren Gebrauch kann wohl der Mensch von seinen Seelenkräften nicht machen als wenn er die Weltmaschine durch ein Räderwerk darzustellen sucht, das immer zur Familie der Bratenwender gehört, und daran erinnert.

Den „Bratenwender“ hatte Kant zum metaphorischen Paradigma für Unfreiheit erkoren,31 und ein so kalkulierbares, mechanisch determiniertes Getriebe, das keinerlei Spontaneität zulässt, des Menschen Vernunftvermögen nicht herausfordert – ein Räderwerk konnte Lichtenberg als Modell für den unwägbaren Gang der Welt nicht akzeptieren. Weit eher ist ein solches zum Ausdruck einer gleichförmigen und ernst zu nehmender Sinnhaftigkeit entbehrenden Existenz geeignet – wie in einem der auf allerlei „Puppen und Spielzeug“ abhebenden Vorschläge, die der frisch inthronisierte König Leonce seiner „Gemahlin“ Lena am Ende des Lustspiels für ihre gemeinsame Zukunft unterbreitet: „Oder hast du Verlangen nach einer Drehorgel auf der milchweiße ästhetische Spitzmäuse herumhuschen?“ (MBA 6, S. 154) Und da die Drehorgel zu jenen „Apparate[n gehöre], die nur unter Anwendung mechanischer Mittel (Drehen einer Kurbel, Aufziehen einer Feder), also ohne seitens des Spielers Musikbildung vorauszusetzen, Tonstücke mehr oder minder vollkommen vorzutragen ermöglichen“, wie schon in den frühen 1840er Jahren Meyers Großes Konversationslexikon feststellt, sei „nicht zu übersehen, dass dieselben eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die lebendige Kunstpflege bedeuten“.32 Darüber hinaus aber ist ein Leierkasten, in dem eine Kompo-

 Vgl. Gert Ueding: Einführung in die Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. Stuttgart 1976, S. 231 f.  Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 1: Sudelbücher I. Hrsg. v. Wolfgang Promies. München 1968, S. 827 f. (J 1228).  Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke in 10 Bdn. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1975. Bd. 6: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. 1. Tl., S. 174.  Meyers Großes Konversationslexikon. 6. Aufl. 1905–1909 (digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21 ,

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sition, deren Gelingen doch von einer Vielzahl kooperierender „Seelenkräfte“, kognitiven und emotionalen, abhängt, auf eine unabänderliche mechanische Reproduktion beschränkt; deshalb gilt er der romantischen Musikästhetik als ein Ding, das keinen künstlerischen Wert beanspruchen könne, somit in deren Perspektive eigentlich ein ‚Unding‘ ist.33 Die Geringschätzung der Drehorgel lässt sich zudem auch an einem sozialen Etikett ablesen, das ihr seit Anfang des 18. Jahrhunderts anhaftet: „Die D. ist jetzt das verbreitetste Instrument der musizierenden Bettler“,34 weshalb sie „auch Bettlerleier“ genannt werde – und als solche tritt sie in ihrer einsinnigen Materialität ins Blickfeld des vereinsamten Wanderers in Wilhelm Müllers Winterreise. In deren letztem Lied begegnet jener einem „Leiermann“, der, wie er selbst abgesondert von menschlicher Gemeinschaft, „drüben hinterm Dorfe“ auf dem menschenleeren Eis einer offenbar sinnlosen, zumindest kein Geld einbringenden Tätigkeit nachgeht.35 Dem asozialen Erscheinungsbild des „alten Mann[es]“ („Barfuß auf dem Eise / Schwankt er hin und her“) entspricht die ästhetische Minderwertigkeit seiner wahrer Kunstausübung abholden Drehorgel. Dennoch scheint der Wanderer in den monotonen Klängen des Leierkastens, den der „wunderliche Alte“ eifrig „mit starren Fingern dreht“, die passende Begleitung für seine Lieder gefunden zu haben. Deren Zyklus schließt bemerkenswerter Weise mit zwei rhetorischen Fragen, die per definitionem keine Antwort erwarten, sondern eine Aussage in Frageform verstärken: In den beiden letzten Versen: „Willst zu meinen Liedern / Deine Leier drehn?“,36 bezieht sie sich selbstreferenziell auf die Ausdrucksform, in der das ziellos wandernde Ich, das seine Fremdheit und Sinnleere schmerzlich erfährt, diese so aber als Grunderfahrung seiner Zeit wiederzugeben vermag, – nämlich in

(15. Mai 2022). Bd. 14, S. 316: Musikwerke (mechanische, automatische). Das gelte trotz deren Verbesserung vermittels „elektropneumatischer Phonographie“.  Adelung. Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801. Bd. 4, Sp. 841: „Das Unding, des -es, plur. die -e, im Gegensatze eines Dinges, entis, etwas, das nicht wirklich vorhanden ist, und in weiterer Bedeutung, was nicht vorhanden seyn kann, nicht möglich ist. Ein vierseitiges Dreyeck, ein hölzernes Eisen sind Undinge, weil sie unmöglich sind. Gespenster werden von vielen für Undinge gehalten, so fern es wirklich keine gibt, ob sie gleich möglich sind“. Oder ein Ding, so wäre zu ergänzen, das seinem Anspruch nicht genügt bzw. dem ihm zugeschriebenen Gebrauchswert nicht entspricht.  Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 5, S. 183: Drehorgel, schon im Ur-Meyer (1840–1852/ 1855) verzeichnet.  Wilhelm Müller: Die Winterreise und andere Gedichte. Hrsg. v. Hans-Rüdiger Schwab. Frankfurt a. M. 1986, S. 62.  Müller: Die Winterreise, S. 62.

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den Liedern, die der Leierkasten begleitet, das „Lumpeninstrument“37 in seiner brutalen, nicht mehr zu transzendierenden Dinglichkeit. Im Hinblick auf Büchners Verwendung des Motivs der Drehorgel bzw. des Leierkastens lässt sich zusammenfassend festhalten, dass dieses wie auch der Bezug auf den Automaten zuerst in zwei persönlichen Briefen an seine Braut erscheint und ihm zum metaphorischen Ausdruck seines emotionalen „Starrkrampfes“ dient, der ihn seit Wochen heimgesucht habe. In Danton‘s Tod wird diese griffige, aber noch konventionelle Metapher in eine nicht mehr pragmatisch aufzulösende Isotopie umgeformt, mit der die Metaphorik in die atmosphärisch dichte Sprache der „Unbegrifflichkeit“38 übergeht. Heine parodiert hingegen den schulrhetorischen Gebrauch eines handfesten Dings zur Erklärung eines hochkomplexen abstrakten Sachverhaltes, was schon Lichtenberg kritisiert hatte, während Hoffmann die Kunstausübung mit einem festgelegten Mechanismus wie dem des Leierkastens für einen fundamentalen „Verstoß gegen das geistige Prinzip“ hält, wobei er sich vehement gegen das mechanische Menschen- und Weltbild der aufgeklärten Materialisten wendet. Die diversen metaphorischen Rückgriffe auf die allseits bekannte Drehorgel können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese in der realen Alltagswelt der hier zitierten Autoren vornehmlich als Instrument zum Erbetteln von Geld und milden Gaben präsent ist – und damit zu einem Indiz für ein Leben in Armut und Einsamkeit wird, der der auf seiner Autonomie beharrende Künstler in der Restaurationszeit ausgesetzt ist.

 Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 5, S. 183.  Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 77.

Doerte Bischoff

„Schwerter, mit denen Geister kämpfen“ Zur Performativität der Waffen bei Büchner

1 Das Spiel mit der Waffe Im Oktober 2021, kurz vor der Frankfurter Tagung, die sich mit Dingen bei Büchner beschäftigte, ging die Nachricht durch die Medien, dass der bekannte USamerikanische Schauspieler Alec Baldwin an einem Filmset in New Mexico eine Kamerafrau erschossen und den Regisseur verletzt habe. Unabsichtlich, wie sofort versichert wurde, denn man hatte ihm zuvor die Waffe als ‚cold gun‘ zur Verfügung gestellt. Erhebliche mediale Aufmerksamkeit hat der Fall wohl kaum wegen des sinnlosen Todes der getroffenen Frau hervorgerufen – jeden Tag sterben allein in den USA statistisch mehr als fünfzig Menschen durch Schusswaffen – und wohl auch nicht allein wegen der Prominenz des unfreiwilligen Täters. Erschütterung und gleichzeitig Faszination ging offensichtlich gerade von der besonderen Situation aus, dass aus einer für den Film gespielten Gewaltszene plötzlich blutiger Ernst geworden war, dass also die Grenze zwischen Realität und Fiktion, die es ermöglicht, Gewaltakte im Modus des ‚als ob‘ zu rezipieren und selbst nur in der Phantasie Täter oder Opfer zu sein, instabil geworden war. Wichtiger als die technischen Erörterungen, wie es dazu kommen konnte, die auf den Vorfall folgten und die im Detail u. a. die Beschaffenheit präparierter Requisiten-Waffen betrafen, erscheint für einen kulturwissenschaftlichen Kontext allerdings die Feststellung, dass Waffen überaus prominent in Filmen, der Literatur und auf dem Theater präsent sind (von Videospielen ganz zu schweigen), so dass sich die Frage nach Wirklichkeitsbezug und Wirkmacht solcher Inszenierungen stellt. Dies führt auch auf eine in Büchners Texten zentrale Konstellation der Verschränkung von Waffen und Theatralität oder Performanz. Waffen sind Dinge, die in besonderer Weise mit Handlungsmacht verknüpft sind: Sie können durch ihren gewaltsamen Einsatz oder dessen Androhung zur Durchsetzung von Machtansprüchen verwendet werden.1 Dabei sind sowohl individuelle wie kollektive Machtinteressen denkbar, die mit Waffengewalt erkämpft

 Barbara Stollberg-Rilinger: Macht und Dinge. In: Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Hrsg. v. Stefanie Samida u. Manfred K. H. Eggert u. Hans Peter Hahn. Stuttgart 2014, S. 85‒88. Doerte Bischoff, Hamburg https://doi.org/10.1515/9783110796278-005

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oder durch deren Latenz durchgesetzt und stabilisiert werden. In Bezug auf den einzelnen Menschen ermöglicht ein als Waffe benutztes Objekt die Erweiterung der Körperkraft und sichert ihrem Träger Überlegenheit über nicht oder unzureichend Bewaffnete. In manchen Sprachen ist diese enge Verknüpfung mit dem menschlichen Körper, dessen Kräfte durch Waffengewalt supplementiert erscheinen, in einer Angleichung der Begriffe aufbewahrt: Arme und Waffen heißen im Englischen gleichermaßen arms. Die darin implizite Naturalisierung lässt den prothetischen Charakter der getragenen oder geführten Waffe in den Hintergrund treten und den Effekt ihres Einsatzes als (natürliche) Macht des Kämpfenden erscheinen. In der Mythologie und in vielen literarischen Texten tritt demgegenüber jedoch immer wieder gerade auch die Waffe in der ihr eigenen Materialität und magischen Macht in den Vordergrund. Die (mit ihnen) kämpfenden Helden können von dieser Macht profitieren, sie aber nicht vollständig kontrollieren. Bei Büchner wird diese potentiell prekäre Macht der Waffe, die das souveräne Subjekt aufrichten und stärken, aber auch in Frage stellen kann, mit einer Erkundung derjenigen sozialen, ökonomischen und politischen Ordnung verknüpft, welche die Möglichkeiten des Individuums, eigenmächtig zu agieren und Machtpositionen einzunehmen, unterstützen bzw. begrenzen. Denn dass die entsprechenden Möglichkeiten des Individuums zur Selbstbehauptung letztlich natürlich nicht getrennt von seiner oder ihrer spezifischen Umgebung, den zeittypischen Diskursen und Machtverhältnissen, fassbar sind, gehört zu den eindrücklichen Analysen, die Büchners Texte ins Werk setzen. Dennoch lässt sich wohl feststellen, dass die beiden von ihm entworfenen Trauerspiele (bei aller Problematik gattungsgeschichtlicher Einhegung), Danton’s Tod und Woyzeck, die im Folgenden genauer betrachtet werden sollen – ergänzt durch einige Verweise auf weitere Texte Büchners – hier unterschiedliche Akzente setzen: Während mit Woyzeck ein Einzelner im Zentrum steht, der als derart eingebunden in über ihn verfügende Institutionen und Machtverhältnisse vorgeführt wird, dass ihm schließlich als einzig möglicher Akt der Selbstermächtigung ein Mord (der zugleich ein zumindest sozialer Selbstmord ist) bleibt, steht in Danton’s Tod mit den geschichtsmächtigen Figuren der Protagonisten der Französischen Revolution zugleich auch die Frage nach den Möglichkeiten und Abgründen staatlicher Selbstbehauptung im Fokus. „Aux armes, citoyens“ – dieser revolutionäre Schlachtruf ist der Refrain der Marseillaise, die Danton und die mit ihm Verurteilten zuletzt auf dem Schafott anstimmen. (IV/7, DKV 1, S. 87) Es wird zu zeigen sein, inwiefern dieser Aufruf zur Selbstermächtigung und zum Waffengebrauch im Kampf um die Republik im Laufe des Dramas zugleich problematisiert wird.

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2 Büchners Arsenal der Waffen Dem Messer, das Woyzeck erwirbt und als Tatwaffe benutzt, steht im Vorgängerdrama die Guillotine gegenüber: dem individuell besitz- und handhabbaren mobilen Gegenstand das auf dem Revolutionsplatz in der Hauptstadt errichtete ‚Blutgerüst‘ als Ausdruck der revolutionären Gewalt bzw. der um Macht und Legitimität ringenden ‚Schreckensherrschaft‘.2 Tatsächlich kommt diesen beiden „fatalen Requisiten“3 in den Schauspielen, in denen die Materialisierung von Macht erprobt wird, jeweils eine zentrale Rolle zu. Es wäre eine eigene, für die hier eingenommene Perspektive sicherlich sehr lohnende Untersuchung, die Umsetzung beider in der Inszenierung auf dem Theater im Vergleich zu betrachten. Eine ältere Forschungsarbeit behandelt das Symbol des Messers im Woyzeck bereits explizit unter dem Aspekt, wie es als theatrales Objekt in Aufführungen adäquat in Szene gesetzt werden könnte, um seinen Charakter als ‚Leitmotiv‘ des fragmentarischen Dramentexts aufzunehmen.4 Die folgenden Überlegungen knüpfen daran an, konzentrieren sich aber auf die vorhandenen Dramentexte und gehen der Frage nach, inwiefern Waffen bei Büchner als Dinge gestaltet werden, die Prozesse der Materialisierung von Macht (und Ohnmacht) reflektieren. Auch für Danton’s Tod gibt es Studien, die vor allem die zentrale Tötungsapparatur der Guillotine unter dem Aspekt ihrer gegenüber den menschlichen Akteuren sich verselbständigenden Rolle, nämlich selbst als ‚tragische[n] Held[en]‘ reflektieren.5 Allerdings geschieht dies bislang nirgends systematischer im Hinblick auf die spezifische Ding-Logik der Waffen und die Frage, ob und inwiefern die unterschiedlichen Waffen, die in Büchners Texten eine Rolle spielen – neben Messer und Guillotine findet man auch Schwerter, Speere, Säbel, Beil, Pike, Dolch, Sichel, Gewehre, Bajonette und nicht zuletzt einen Donnerkeil6 – eine gemeinsame Betrachtung herausfordern.

 In Danton’s Tod werden diese beiden Waffen gelegentlich auch unmittelbar zusammen aufgerufen, etwa wenn Barrère überlegt: „ob ich ein Guillotinen oder ein Taschenmesser nehme? Es ist der nämliche Fall, nur mit etwas verwickelteren Umständen, die Grundverhältnisse sind sich gleich.“ (III/7, DKV 1, S. 71.)  Claude Haas: Fatale Requisiten in Tragödie und Trauerspiel. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. v. Susanne Scholz u. Ulrike Vedder. Berlin u. Boston 2018, S. 197–205.  Svend Erik Larsen: The Symbol of the Knife in Büchner’s Woyzeck. In: Orbis Litterarum 40 (1985), S. 258–281.  Jan Kott: Die Guillotine als tragischer Held. Über „Danton’s Tod“ von Büchner. In: Lettre International 5 (1989), S. 4–17.  Vgl. auch die Metaphernsammlung bei Liselotte Werge: „Ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude …“. Zur Metaphorik und Deutung des Dramas „Danton’s Tod“ von Georg Büchner. Stockholm 2000, S. 86–93 („Klingen- und Schneidenmetaphern in Danton’s Tod“).

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Eine Hypothese der folgenden Überlegungen ist es, dass Waffen in den Texten in dem Maße besonders hervortreten und teilweise auch einen Status als Akteure annehmen, in dem ihre Zirkulationen beschrieben und kommentiert werden. Dies bezieht sich sowohl auf Wanderungen und Tausch-Prozesse, denen sie in ihrem Dingcharakter ausgesetzt sind, als auch auf Disseminationen ihrer Bedeutung, die sich der Kontrolle der souveränen Instanzen bzw. solchen Instanzen, die Souveränität beanspruchen, tendenziell entziehen. Waffen sind, sofern sie über ihren tatsächlichen Gebrauchswert hinaus bedeuten, kulturgeschichtlich in besonderem Maße als Symbole von Macht und Herrschaft in Erscheinung getreten. Öffentlich an zentralen Plätzen ausgehängte Marktschwerter indizierten die Macht des Stadtregiments, das Reichsschwert gehört zu den Herrschaftsinsignien von Monarchien, aber auch in Darstellungen von Allegorien der Freiheit, der Aufklärung oder der Gerechtigkeit erscheinen diese zum Zeichen ihrer Macht mit einem Schwert ausgestattet.7 Dass diese Bedeutung symbolischer Macht in Akten kultureller Produktion und Affirmation von Zeichen hergestellt wird, die ihrerseits eine durchaus gewaltsame Zurichtung von Körpern und Existenzmöglichkeiten implizieren, reflektieren Büchners Texte in der Engführung von Theatermetaphorik und Gewaltdarstellung.

3 Silberne Säbel: Materialität der Waffen und das Verhältnis von Zweck und Mittel Ein Einsatzmoment für die Fokussierung von Waffen als Requisiten einer theatralen Inszenierung bei Büchner ist offensichtlich die Kritik an der überlebten Selbstdarstellung aristokratischer Herrschaft, die sich längst selbst als entleerte Staffage zeigt. „Es ist eine blecherne Flinte und ein hölzerner Säbel, womit nur ein Deutscher die Abgeschmacktheit begehen konnte, Soldatchens zu spielen“ (DKV 1, S. 366), schreibt Büchner im April 1833 an die Familie. Die Waffen, Flinte und Säbel, werden mit Attributen versehen, die auf ihre Unbrauchbarkeit für den Kampf verweisen und sie als Spielzeug von Kindern oder eben Theaterschauspielern erscheinen lassen. In ihrer unpassenden Materialität, Blech und Holz, werden sie als Dinge in den Blick genommen, welche die Potentialität der Gewaltausübung und mithin ihre mögliche Funktionalität eingebüßt haben und die als Zeichen angeeignet, in andere Kontexte übertragen und vervielfältigt werden können. Als solche haben sie auch ihren Ort im literarischen Text gefunden. Eine parallele Stelle findet sich etwa in Leonce und Lena, wo die beiden Titelfiguren im Zusammenhang mit ihrer fürstlichen Hochzeit

 Vgl. Stollberg-Rilinger: Macht und Dinge, S. 86.

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bemerken, dass sie „die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug“ (III/3, DKV 1, S. 128), und Leonce anregt: „wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? […] Wollen wir ein Theater bauen?“ (Ebd.) Offenbar sind auch hier die Säbel, ursprünglich in der Kavallerie gebräuchliche Hieb- und Stichwaffen, Spielzeug, das die beiden beliebig handhaben können. Indem sie die ‚Puppen‘ nach gängigen Vorstellungen bemalen und ausstaffieren, ahmen sie in satirischer Performance die leeren Gesten herrscherlicher Machtdemonstration nach, zu deren Zweck die Untertanen instrumentalisiert und zugerichtet werden. Sie verweisen dabei aber auch auf den Gebrauch der Waffen auf dem Theater, das mit ihrer Zeichenfunktion spielen kann, indem Figuren entsprechend ausgestattet und als Akteure eingesetzt und markiert werden. In Woyzeck findet diese Szene noch einmal ein Echo, wenn der Ausrufer auf dem Jahrmarkt ein Tier als menschlichen Soldaten vorführt, indem er es mit „Rock und Hosen“ sowie einem „Säbel“ bekleidet. (3, DKV 1, S. 150) Die Grenze zwischen Mensch und Tier wird hier nur scheinbar durch die Möglichkeit, Werkzeuge und Waffen zu gebrauchen, angezeigt. Vielmehr unterminiert der Auftritt des Affen als Soldat diese Differenz und setzt den menschlichen Soldaten, als der ja auch Woyzeck in die militärische Ordnung eingebunden ist,8 mit einer Marionette gleich, der von außen Machtzeichen als Accessoires angesteckt werden. Diese verweisen weniger auf seine eigene Handlungsfähigkeit als auf die Macht der Institutionen, in diesem Fall sowohl des Militärs als auch der Wissenschaft. In unterschiedlicher Weise bestimmen die Institutionen über die Mensch-Tier-Grenze und nehmen im Gewand der Zivilisation (als deren Marker hier ironischerweise gerade auch der Säbel in Betracht kommt) Menschen als Un-Menschen für ihre Zwecke in den Dienst. Mit dieser Wendung weist die im Woyzeck aufgenommene Säbel-Szene schon deutlich über den Kontext aristokratischer Herrschaftskritik hinaus auf die Analyse moderner Machttechniken, deren Disziplinarstrategien das Individuum als eines hervorbringen, das sich seiner Souveränität nicht versichern kann. Dass hier mit dem Säbel mehrfach ein vergleichsweise altertümliches Waffen-Objekt benannt wird, lässt sich also nicht nur als Verweis auf eine überlebte Repräsentationskultur der höfischen Gesellschaft lesen, sondern kann auch als Strategie des Textes, in diesem Fall vor allem im Woyzeck, begriffen werden, komplexe und abstrakte Wirkmechanismen diskursiver Gewalt unter Bezugnahme auf anschauliche und bekannte Ding-Objekte sichtbar und verständlich zu machen.9 Tatsächlich gibt es auch bereits im Hessischen Landboten eine Beschreibung von Justizbeamten, die ihrerseits  Vgl. Harald Neumeyer: Woyzeck. In: Büchner Handbuch, S. 98‒118, hier S. 115.  Das Verfahren wäre dann etwa vergleichbar mit der heute bekannten Verwendung von Buchund Briefsymbolen auf einem Computerbildschirm zur Kennzeichnung digitaler Ordner bzw. Informationseinheiten.

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durch „Fräcke, Stöcke und Säbel“ (DKV 1, S. 55) als Repräsentanten der Macht gekennzeichnet sind. Diese Symbole, die den potentiellen Leser:innen der Flugschrift vertraut gewesen sein dürften, werden nun aber durch die Fokussierung ihrer Materialität destabilisiert. Denn sie sind, wie es heißt, „mit dem Silber“ von fast 200.000 Gulden beschlagen, denn so viel betrügen die Ausgaben für die Gerichtshöfe und Kriminalkosten. Sie sind also, so wird suggeriert, nicht Symbole einer unabhängigen und an sich wehrhaften staatlichen Gewalt, sondern Zeichen von Käuflichkeit und Opportunismus. Ähnlich wie bei den Blechflinten und Holzsäbeln werden die Waffen in ihrer Symbolfunktion gleichsam entschärft, indem ihnen als Dingen eine andere Materialität zugeschrieben wird. Dies hat wiederum den Effekt, dass sie als anders und zu neuen Semantisierungen zu nutzende in Erscheinung treten, hier aber explizit auch, dass ihre Abhängigkeit von materiellen und ökonomischen Verhältnissen zutage tritt, die sie – als über die Maßen mit Silber beschlagene – nicht mehr verdecken, sondern ausdrücklich zur Schau stellen. Diese Strategie der Texte unterscheidet sich signifikant etwa von jener Revolutionsrhetorik, welche den Einsatz von Waffen als notwendige Mittel zur Erreichung eines legitimen Ziels auffasst. In Danton’s Tod ist es Robespierre, der in seiner Rede den Säbel als Zeichen der tyrannischen Macht ins Spiel bringt. Dem Vorwurf, dass der Schrecken (also die Terreur, die den Einsatz der Guillotine einschließt) die „Waffe einer despotischen Regierung“ (I/3, DKV 1, S. 23) sei, begegnet er mit dem Hinweis, dass nicht das Mittel bzw. die Waffe an sich den Unterschied mache, sondern allein der Zweck, dem sie untergeordnet sei. Wohl gleiche „das Schwert in den Händen eines Freiheitshelden dem Säbel […], womit der Satellit des Tyrannen bewaffnet ist“ (ebd.), die Waffe des Ersten ist jedoch durch sein Ziel, die Errichtung der Republik und die Herrschaft der Tugend, gerechtfertigt, während die Tyrannis ihr Ziel vielleicht auch erfolgreich mit Waffengewalt erreiche, darin aber nicht gerechtfertigt sei. Im Gegensatz zu Robespierres Haltung, dass der Zweck die Mittel heilige, die als solche austauschbar werden und allein in Bezug auf Effizienzkriterien in den Blick kommen, lässt der Dramentext und lassen die Büchner’schen Texte insgesamt die Waffen als Dinge auftreten, die sich keiner festen Bedeutung, keinem Repräsentationsbegehren und auch keinem idealistischen Ziel, unterordnen lassen. Sie sind nicht nur Mittel, sondern behaupten sich in ihrer manchmal überraschenden Materialität, die ihre Indienstnahme für Herrschaftsansprüche tendenziell unterläuft.

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4 Schwert des Gesetzes oder Geisterwaffe? Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Robespierre den Begriff Guillotine nie explizit benutzt. Stattdessen spricht er metaphorisch vom „Schwert des Gesetzes“, das den Verräter, den Fremden, den Feind der Tugend ‚treffe‘ (I/3, DKV 1, S. 23, 25).10 Treten menschliche Handlung und Intervention – etwa in Bezug auf die Konzeption und Konstruktion des republikanischen Mordinstruments, aber auch in Bezug auf Verfahren der Rechtsprechung sowie der Exekution – dabei hinter eine mythisierende Vorstellung vom Gesetz zurück, die den Sprechenden und seine Parteigänger als seine Exekutoren rechtfertigen,11 so entspricht dies dem Phantasma von der Guillotine als Instrument reibungsloser Umsetzung einer „schnelle[n], strenge[n] und unbeugsame[n] Gerechtigkeit“ (I/3, DKV 1, S. 23). Hiermit korrespondiert auch die Vorstellung, dass im Namen dieser Wahrheit und Gerechtigkeit artikulierte Urteile praktisch unmittelbar exekutiert werden, der Sprechakt, der sich auf das Gesetz beruft, selbst als wirkmächtiges Schwert funktioniert. „[W]er < mir > in den Arm fällt, wenn ich das Schwert ziehe, ist mein Feind“, droht Robespierre gegenüber Danton (I/6, DKV 1, S. 32). Damit macht er sich selbst zum privilegierten Instrument der Revolutionsidee und maßt sich gleichsam das mythisierte „Schwert des Gesetzes“ als eigene Waffe an. In der Rede St. Justs wird diese Vorstellung bekräftigt und außerdem mit einer Naturalisierung verknüpft: „Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme eben so, wie er in der physischen Vulkane oder Wasserfluten gebraucht.“ (II/7, DKV 1, S. 54) Es ist klar, dass Robespierre nicht in erster Linie Kämpfer, sondern Redner ist. Die Verschaltung von Rhetorik und Waffengewalt, die in der Geschichte der Rhetorik eine lange Tradition hat,12 bringt jedoch die performative Gewalt des Ge-

 Kritisch distanziert findet sich diese Formulierung von der Gegenseite aufgenommen, etwa wenn Mercier über die Ideale der Revolution formuliert: „Die Gleichheit schwingt ihre Sichel über allen Häuptern“ (III/3, DKV 1, S. 61). Statt vom Schwert ist hier von der Sichel die Rede, einem nicht militärisch konnotierten Schneidewerkzeug, das in langer kulturgeschichtlicher Tradition mit dem personifizierten Tod (Sensenmann, Schnitter etc.) verknüpft ist. Die Wehrhaftigkeit der vermeintlich gerechten Sache tritt dabei hinter die Unkalkulierbarkeit, Unverfügbarkeit und Sinnlosigkeit des Todes. Das Volkslied vom Tod als Schnitter, das zuletzt von Lucile angestimmt wird, ist zudem als Intertext im Drama präsent (vgl. IV/8, DKV 1, S. 89).  So versichert Robespierre dem Volk, den „Patrioten“, „das Schwert des Gesetzes roste nicht in den Händen, denen [sie] es anvertraut“ hätten (I/3, DKV 1, S. 25).  Vgl. etwa Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. Teil I. Darmstadt 1988. Quintilian behandelt die „Waffen [arma] der Redefertigkeit“ in ihrer Ambivalenz (S. 247) und empfiehlt dem künftigen Redner die Orientierung an dem „Speerträger, der für den Krieg taugt und auch für die Ringschule“ (S. 625). Ziel der Rhetorikausbildung

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sprochenen besonders deutlich zum Ausdruck.13 Ist die Rhetorik seit jeher mit der Vorstellung verknüpft, dass Worte Wirklichkeit nicht nur darstellen, sondern schaffen können, so präsentiert diese sich hier offenbar in einer extremen Variante. Denn die ebenfalls tief in die rhetorische Tradition eingelassene Idee von der agonalen, also kämpferischen Aushandlung der Wahrheit im Disput scheint hier der totalitären Behauptung der alleinigen und sofortigen Geltung einer bestimmten Rede zu weichen.14 Dass das Subjekt dieser Rede kein fehlbarer Mensch unter anderen mehr sein kann, bestärkt die mythisch-religiöse Aufladung des revolutionären Geschehens bei Robespierre. Entsprechend ruft eine Frau aus der Menge, die ihm als Redner zugehört hat, mit implizitem Bezug auf das biblische Buch Numeri (4 Mose 21,24) aus: „Hört den Messias, der gesandt ist zu wählen und zu richten; er wird die Bösen mit der Schärfe des Schwertes schlagen. Seine Augen sind die Augen der Wahl, und seine Hände sind die Hände des Gerichts!“ (I/2, DKV 1, S. 20)15 In dieser Wahrnehmung ist der Körper Robespierres mit der Republik, ihrer legitimierenden Idee und ihren Institutionen regelrecht verwachsen. Damit aber fallen Zweck und Mittel in eins und mit Letzterem wird auch das Erste fragwürdig. Man könnte sagen, dass in Robespierres Redeperformanz nicht nur Gewalt im Namen des Gesetzes gerechtfertigt wird, sondern sich zugleich diejenige Gewalt, die das Gesetz bzw. das Recht überhaupt erst einsetzt, manifestiert. Denn, um es mit Walter Benjamins Worten aus seiner Kritik der Gewalt zu sagen: „Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt.“16 Die Metapher vom Schwert des Gesetzes macht dies deutlich, ihre Amalgamierung mit dem Körper des revolutionären Redners löscht jede Un-

sei es, der Redekunst „Waffen in die Hand“ (Quintilianus: Ausbildung des Redners, S. 625) zu geben. In der Engführung von Kampf und Rede wird Letztere immer wieder ausdrücklich als Angelegenheit von Männern konnotiert.  Vgl. hierzu Rüdiger Campe: Danton’s Tod. In: Büchner Handbuch, S. 18‒38, S. 34. Campe stellt fest, dass Büchner „rhetorische Formung in ihren institutionellen Rahmen auf der Bühne“ ausstelle: „Jeder der vier Akte von Danton’s Tod zeigt auf der Bühne nochmals eine Bühne rhetorischer Rede, eine Institution, in der Worte zu Handlungen werden.“  Auch Danton wird natürlich als Redner eingeführt, dessen rhetorische Performanz Wirklichkeitseffekte haben kann. Er selbst hält sich zugute, mit seiner Stimme „aus dem Golde der Aristokraten und Reichen dem Volke Waffen geschmiedet“ zu haben (III/4, DKV 1, S. 64). Mit den Parallelen treten dabei auch die Unterschiede deutlich zutage: Dantons Rede stattet das Volk, in dessen Namen er spricht, mit Waffen aus, während Robespierres Rede jeden Aufschub bzw. jede Distanz der Stellvertretung leugnet, indem er sich selbst als Schwert des Gesetzes inszeniert.  Hierzu passt auch die Rede von St. Just (II/7, DKV 1, S. 55): „Moses führte sein Volk durch das rote Meer […], eh’ er den neuen Staat gründete. Gesetzgeber! Wir haben weder das rote Meer noch die Wüste aber wir haben den Krieg und die Guillotine.“  Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: Gesammelte Schriften. Bd. II/1. Frankfurt a. M. 1977, S. 179–203, hier S. 198.

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terscheidung zwischen Körper und Waffe aus – und zwar sowohl bezogen auf den individuellen Akteur, dessen Artikulationen unmittelbar gewaltsame Wirkungen haben, wie auch auf das Gesetz, das nicht (mehr nur) als Regulativ für die Bestimmung von Mitteln zu dessen Verteidigung und Schutz erscheint, sondern als solches unablässig neu gewaltsam eingesetzt werden muss. Die prinzipielle Unabschließbarkeit dieser Gewaltakte, die nicht zu einem Ende zu kommen, an dem die Mittel im Dienst des Gesetzes als letztem Zweck verausgabt wären und ihre Funktion verlören, kann und will Robespierre nicht einsehen – und doch wird er in einer von Büchner frei gestalteten Sequenz von traumatischen Erinnerungen heimgesucht, die in ihrer Wiederholungsstruktur die Unendlichkeit des Mordens reflektieren (vgl. I/6, DKV 1, S. 35). In diesem Punkt werden die Gegenspieler Danton und Robespierre tatsächlich angenähert, denn auch Danton wird ja wiederholt von seiner Schuld an den sogenannten Septembermorden heimgesucht. In der Frage der Mittel und damit in Bezug auf den rhetorischen und tatsächlichen Einsatz von Waffen stehen sich beide jedoch diametral gegenüber. Während Robespierres Selbstgewissheit in der Überzeugung gründet, im Einsatz von Waffen zur Erreichung des abstrakten Ziels gerechtfertigt zu sein und er sogar selbst als verkörperte Waffe in diesem Sinne in Szene gesetzt wird, bereitet Danton dieselbe Vorstellung Angst und Sorge: „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht wie im Märchen.“ (II/5, DKV 1, S. 49) Auch hier werden Menschen und Waffen enggeführt, doch da auf unheimliche Weise unklar bleibt, was der Grund, was das Ziel ihres Einsatzes ist, entzieht das damit verbundene Gefühl dem Subjekt jede Selbstgewissheit. Anstatt durch einen höheren Zweck als Mittel zu dessen Durchsetzung legitimiert zu sein, erscheinen die Menschen hier als bloße Instrumente unergründlicher Bewegungen, als umhergeworfene Dinge, die als scharfe Waffen auch Gewalt zufügen, ohne diese selbst als sinnvolle begreifen und Zwecken zuordnen zu können.

5 Guillotine: Exekution oder Dissemination von Sinn? Im Gegensatz zu Robespierre bezeichnet Danton die Guillotine sehr häufig als solche. Das Mordinstrument tritt damit nicht hinter die Rede von Tugendidealen oder Staatsideen zurück, sondern rückt als unmittelbar in deren Durchsetzung involviertes menschengemachtes Mittel in den Vordergrund. Dabei wird der Zusammenhang von wirkmächtiger Rhetorik und gewaltsamer Exekution in der Revolution noch einmal ausdrücklich reflektiert. Auf Lacroix’ Kommentar zu Ro-

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bespierres Rede vom Schrecken als Waffe und Mittel der Tugendherrschaft, „Die Phrase machte mir Halsweh“ (I/5, DKV 1, S. 30), entgegnet Danton: „Sie hobelt Bretter für die Guillotine.“ (I/5, DKV 1, S. 30) Und nach ihrer Gefangensetzung bringt Mercier die Fatalität, die die Revolutionsrhetorik für ihre Opfer hat, noch einmal ganz explizit in Verbindung mit den Exekutionsinstanzen: „Diese Elenden, ihre Henker und die Guillotine sind eure lebendig gewordnen Reden.“ (III/3, DKV 1, S. 62) In einer gegen Robespierre gerichteten Schrift wird dieser mit dem Bild konfrontiert, „daß seine dünnen auf der Tribüne herumzuckenden Finger, Guillotinmesser“ (I/6, DKV 1, S. 37) seien, womit die von ihm weitgehend verschwiegene Mordmaschine direkt mit seinem Körper, seinen Gesten und seiner Rhetorik in Verbindung gebracht wird. In der Rede Dantons und seiner Mitstreiter, gelegentlich auch in den Einwürfen des Volkes, vervielfältigen sich die Bezugnahmen auf die Guillotine dabei derart, dass deren Omnipräsenz und Wirksamkeit in den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft wahrnehmbar wird. Besonders auffällig sind dabei Komposita und Neologismen, in denen das Wort Guillotine sich mit anderen Begriffen verbindet, welche die unterschiedlichsten Kontexte aufrufen. So ist von „Guillotinenromantik“ (I/1, DKV 1, S. 14) oder einem „Guillotinenthermometer“ (I/4, DKV 1, S. 26) die Rede, von der Guillotine als „Waschzuber“ (I/6, DKV 1, S. 33), von „Guillotinenbetschwestern“ (I/6, DKV 1, S. 36), von der Guillotine als „schlechte[r] Mühle“ (III/10, DKV 1, S. 75), als Mittel, ein Paar „von Tisch und Bett [zu] trennen“ (IV/2, DKV 1, S. 77), als „specificum gegen die Lustseuche“ (III/6, DKV 1, S. 70) sowie als „Arzt“ (IV/7, DKV 1, S. 88). Auch als Verb ‚guillotinieren‘ kommt das Wort mehrfach vor, indem etwa von Unvorsichtigen berichtet wird, deren Zunge sie guillotiniere (I/3, DKV 1, S. 22) oder Danton angekündigt wird, dass ihm dasselbe durch „die Schenkel“ seiner Geliebten widerfahren werde (I/5, DKV 1, S. 32). Dabei wird sowohl die Möglichkeit einer aktiven Handlung wie auch des Erleidens in Betracht gezogen. So will Danton „lieber guillotiniert werden, als guillotinieren lassen.“ (II/1, DKV 1, S. 39) Indiziert wird durch diese überbordende Evokation des Wortes die ubiquitäre Präsenz der Mordmaschine, deren zentrale und totalitäre Funktion, die Ziele der Revolution durch einen Einschnitt in die Körper, der mit technischer Präzision und Sicherheit unmittelbar und unendlich wiederholbar ausgeführt werden kann, durchzusetzen, die Gemeinschaft in nahezu allen Aspekten betrifft und prägt. Indiziert wird aber auch, dass die mit der Guillotine verknüpfte Zentralisierung und Stillstellung von Bedeutung und deren rhetorischer Aushandlung offensichtlich nicht gelingt. Nachvollziehbar ist vielmehr eine bemerkenswerte Dissemination des Signifikanten, der sich nicht über dem einen Signifikat, das Robespierre mit Waffengewalt zu erkämpfen sucht, schließt. Als Waffe kehrt sich die Guillotine im Text des Dramas gegen ihre Konstrukteure und Handlanger.

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6 Woyzecks Messer In Büchners unabgeschlossen hinterlassenem Woyzeck-Drama stehen entsprechend dem veränderten historischen und sozialen Setting andere Waffen im Vordergrund. Dennoch lässt sich eine Verbindung zu einer signifikanten Szene in Danton’s Tod herstellen. Es handelt sich um eine Episode gleich zu Beginn des Revolutionsdramas, in der auf die legendenhaften römischen Geschichten von Lucrezia und Virginia Bezug genommen wird. In beiden sterben die Frauen durch einen Messerstich, den sich Lucrezia selbst zufügt und Virginia durch ihren Vater erleidet. Beide Taten stehen in Zusammenhang mit einer Entehrung der Frauen durch eine außereheliche Vergewaltigung, wobei diese bei der verheirateten Lucrezia tatsächlich stattfindet, ihr Suizid also ein Akt der Selbstreinigung ist, während der noch jungfräulichen Virginia die Entehrung, vor der ihr Vater sie durch ihre Ermordung bewahrt, lediglich angedroht wird. Beide Motive wurden in Literatur und Kunst vielfach aufgenommen, so dass die Passage in Danton’s Tod auch als Kommentar zu vorausgehenden Gestaltungen verstanden werden kann. Mit dem Thema der gegen den weiblichen Körper gerichteten Stichwaffe, das im Woyzeck eine etwas anders gelagerte Fortsetzung findet, kommt in die Verhandlung der Waffen bei Büchner ausdrücklich eine Genderkonnotation ins Spiel, die die bereits untersuchten Aspekte ergänzt und noch einmal anders perspektiviert. Die Zitation antiker Vorbilder, durch die vor allem die Robespierre-Fraktion ihre Machtansprüche bekräftigt, findet in der Szene auf der Gasse, in der zunächst Simon und sein „Weib“ und später weitere Bürger und Umstehende auftreten, bevor schließlich Robespierre selbst sich unter das Volk mischt, eine Wiederholung als Farce. Simon vergleicht sich mit Virginius, dem Vater Virginias, da er sich durch das Verhalten seiner Tochter, die sich prostituiert und so zur Sicherung der Existenz der Familie beiträgt, in Schande gebracht sieht (vgl. I/2, DKV 1, S. 17). „Gebt mir ein Messer, Römer!“ (I/2, DKV 1, S. 17), kann als Anrede an einen der Revolutionäre gemeint sein, die sich als Repräsentanten einer neu gegründeten Republik nach römischem Vorbild inszenierten, oder aber im Sinne eines Aufrufens der antiken Prätexte verstanden werden. Nachdem er noch einmal nach einem Messer gerufen hat, mischt sich ein „Bürger“ ein und gibt zu bedenken, dass sich die Wut nicht gegen die junge Frau, die sich aus Not prostituiert, richten soll, ein Messer stattdessen „für die Leute, die das Fleisch unserer Weiber und Töchter kaufen“ (I/2, DKV 1, S. 18) beschafft und eingesetzt werden müsse. Die Formulierung macht die Herabsetzung deutlich, die in der Behandlung und Benutzung von Frauen als Ware liegt. Die Vorstellung von einer männlichen Ehre, die von einem intakten oder aber mortifizierten Frauenkörper garantiert werden kann, in dem sie sich verkörpert, wird so mit der Wirklichkeit sozialer Ungleich-

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heit und Abhängigkeit konfrontiert.17 Es geht dabei nicht nur darum, dass das Tugendideal als unlebbar angesichts der ökonomischen Situation der Familie vorgeführt wird. Wie schon in Lessings Emilia Galotti, wo der Vater in der Nachfolge des Virginius tatsächlich seine Tochter ersticht, um sie den Nachstellungen des Prinzen zu entziehen, wird auch hier regelrecht die Fatalität dieses Tugendbildes vor Augen geführt, die hier in der eher komödiantischen Szene jedoch auf Distanz gehalten wird. Wenn das Messer, wie hier in Abweichung von einer mächtigen Symbol- und Bildtradition suggeriert wird, nicht gegen den potentiell bedrohlichen und schuldhaften Frauenkörper eingesetzt wird, gerät auch eine Geschlechterordnung, die wesentlich auf der Idealisierung des Weiblichen aufruht, in Bewegung. Es wird angedeutet (wie schon bei Lessing), dass die Aufrichtung des privilegierten Zeichens von Reinheit, Wahrhaftigkeit und Tugend, das sich in der jungfräulichen Frau verkörpert, selbst an Akte gewaltsamer Zurichtung geknüpft ist. Um zum Phallus als privilegiertem Zeichen zu werden, muss die Frau, wie Lacan es formuliert, „all ihre Attribute“, vor allem aber ihr Begehren und ihre nicht kontrollierbare Lebendigkeit, in dieses Zeichen bannen.18 In dem Moment, in dem die Waffe als phallisches Objekt in Bewegung versetzt wird und nicht mit dem weiblichen Körper als männlicher Besitz und Projektionsfläche eins wird, sondern fungibel bleibt und zwischen den Positionen, auch der unterschiedlichen Geschlechter, zirkuliert, scheint ein erweitertes Feld von Symbolisierungspraktiken auf, die nicht in einem (weiblichen) Idealbild oder -körper sistiert werden können. In Woyzeck klagt Marie sich einmal selbst an: „Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt’ mich erstechen.“ (8, DKV 1, S. 154) Durch ihre Affäre mit dem Tambourmajor, der ihr Geschenke macht und sie zumindest imaginär Anteil an einer (etwas) besseren Welt haben lässt, fühlt sie sich schuldig. Ihre Absicht, sich selbst töten zu wollen, deutet schon auf ihr Ende voraus, bringt aber auch ein Moment weiblicher Selbstbehauptung ins Spiel. Denn ähnlich wie Emilia Galotti, die vor der Tat ihres Vaters diesen aufgefordert hatte, ihr den Dolch zu geben, und sogar, nachdem dieser dies verweigert hatte, in Erwägung zieht, eine Haarnadel zum Dolche werden zu lassen,19 beansprucht sie das männlich konnotierte phallische Objekt. Indem dieses einer Frau übergeben und als Waffe von ihr be-

 Zu Genderkonstellationen bei Büchner insgesamt vgl. Doerte Bischoff: Geschlecht. In: Büchner Handbuch, S. 225–230.  Jacques Lacan: Die Bedeutung des Phallus. In: Das Werk von Jacques Lacan. Hrsg. v. JacquesAlain Miller, übers. v. Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger. 3. korr. Auflage. Weinheim, Berlin 1991, S. 119–132.  Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. In: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 2. Darmstadt 1996, S. 127–204: hier: S. 202: „EMILIA. […] Mir, mein Vater, mir geben Sie diesen Dolch. ODOARDO. Kind, es ist keine Haarnadel. EMILIA. So werde die Haarnadel zum Dolche! – Gleichviel.“

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nutzt wird, findet grundsätzlich eine Destabilisierung der tradierten Geschlechterordnung statt.20 Diese wird in Woyzeck vielfach aufgerufen, etwa indem Marie sich mit Ohrringen schmückt, die sie vom Tabourmajor bekommen hat, und Woyzeck derjenige ist, der das Messer kauft und benutzt. Wie Georg Simmel in seinem Exkurs über den Schmuck schreibt, stellt Schmuck in vielen Kulturen das älteste und oft einzige Privateigentum der Frau dar: „Wenn der persönliche Besitz der Männer mit dem der Waffen zu beginnen pflegt, so offenbart dies die aktive, aggressive Natur des Mannes, der seine Persönlichkeitssphäre erweitert, ohne auf den Willen Andrer zu warten. Für die passivere weibliche Natur ist dieser – bei allem äußeren Unterschied formal gleiche – Effekt mehr von dem guten Willen Andrer abhängig.“21 Woyzeck zeigt nun aber minutiös, dass es keineswegs die an sich aggressivere Natur des Mannes ist, die ihn dazu treibt, Waffen zu besitzen und ggf. zu benutzen. Vielmehr ist Woyzecks Tat motiviert und induziert durch eine Vielzahl entwürdigender Einwirkungen und Zurichtungen, deren Gewaltförmigkeit seine eigene Tat schließlich in verschobener Weise aufführt. Wenn es einmal heißt, Woyzeck laufe „wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt“ (12, DKV 1, S. 160), an dem man sich schneiden könne, erscheint er als Objekt, das den Status des Subjekts verloren hat und dessen Rolle als Barbier, die seinen gesellschaftlichen Platz bestimmt, entgleist ist. Wie Danton, der den Eindruck hat, ein von fremden Geistern geführtes Schwert zu sein, erscheint auch Woyzeck als für andere gefährliche Waffe – in diesem Fall wird zudem eine Transformation von einem Rasiermesser in eine Waffe angedeutet –, ohne dass er selbst diese Gefahr noch kontrollieren bzw. als souverän handelndes Subjekt in Erscheinung treten könnte. Dass der Hauptmann als Repräsentant der militärischen Ordnung, in der Woyzeck als Herumkommandierter und Geschundener ganz unten steht, Grund hat, diesen zu fürchten, deutet sich an, wenn er den Eindruck formuliert, Woyzeck ersteche ihn „mit Sei Auge“ (12, DKV 1, S. 160). Der Körper als Waffe ist hier jedoch eher Indiz für die Ohnmacht Woyzecks, der keine Mittel zu seiner Selbstaufrichtung zur Verfügung hat. Dass er selbst das Gefühl hat, es ‚ziehe‘ ihm „zwischen de Auge wie ein Messer“ (18, DKV 1, S. 165), bestätigt diese ambivalente Disposition zwischen Subjektivierung durch Waffenbesitz und -gebrauch einerseits und schmerzvollem Selbstverlust bzw. Dissoziation andererseits. Dass Woyzecks Messerkauf ganz und gar eingebettet ist in ökonomische Zwänge und Abhängigkeiten, wird darin deutlich, dass der Jude, von dem er es erwirbt und der

 Vgl. hierzu auch Doerte Bischoff: Körperteil und Zeichenordnung. Der Phallus zwischen Materialität und Bedeutung. In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hrsg. v. Claudia Benthien u. Christoph Wulf. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 293–316.  Georg Simmel: Exkurs über den Schmuck. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hrsg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1992, S. 414–421, hier: S. 420.

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glaubt, er werde es für einen Suizid verwenden, noch den Tod, den das Messer bringen kann, mit seinem Preis kalkuliert: „Ihr sollt Euern Tod wohlfeil habe, aber doch nit umsonst. […] Er soll en ökonomischen Tod habe.“ (20, DKV 1, S. 166) Dabei ist deutlich, dass Woyzeck das Messer überhaupt einer anderen Waffe, etwa einer Pistole, vorzieht, weil ihm das Geld für Letztere fehlt („Das Pistolche is zu teuer“, 20, DKV 1, S. 166). Das Messer ist aber zugleich nicht so eindeutig als Waffe festgelegt: „Das kann mehr als Brot schneiden“ (20, DKV 1, S. 166), stellt Woyzeck fest, womit die Bedeutungsverengung des Objekts auf die Waffe aus mehreren möglichen, auch alltäglichen Funktionen und Bedeutungen, ebenfalls als von den Umständen forcierter Prozess erscheint. Gleichzeitig bleibt die potentielle Multifunktionalität und Vieldeutigkeit des Messers in der Szene präsent. Nach der Mordszene schließlich wird noch einmal eine unheimliche, fast magische Nähe zwischen dem Täter und der Tötungswaffe suggeriert – Woyzeck wird nicht nur von der Erinnerung an die Tat heimgesucht; das Messer, das er am Tatort noch einmal aufsucht, lässt sich auch kaum so weit fortwerfen, dass es ihn nicht mehr belasten und verraten würde. Schließlich nimmt die Umgebung Attribute des Messers an: „Der Mond ist wie ein blutig Eisen!“ (28, DKV 1, S. 172) Auch hier, so scheint es, findet eine Dissemination der Zeichen der Waffe statt – die dem Wahnsinn zuneigende Wahrnehmung Woyzecks lässt die Unterscheidung von Natur und Kultur, Körper und Waffe, kollabieren. Eine regulative Idee, auf die sich Versuche, rechtmäßigen von unrechtmäßigem Waffengebrauch zu unterscheiden, beziehen könnten, lässt sich nicht mehr feststellen.

7 Fazit Waffen kommen in Büchners Texten weniger als Attribute sozialer Stellung oder Instrumente in der gewaltsamen Aushandlung von Macht ins Spiel; typisch ist vielmehr, dass ihre instrumentelle Funktion destabilisiert wird und ihr Dingcharakter als solcher in den Vordergrund tritt. Aufmerksamkeit wird etwa auf ihre materielle Beschaffenheit gelenkt, die häufig ihre Funktionalität unterläuft, oder auf ihre Beweglichkeit und Zirkulation durch unterschiedliche Verwendungsund Bedeutungskontexte hindeutet. So tendieren sie immer wieder dazu, für die sie handhabenden Menschen unkontrollierbar und zur Durchsetzung bestimmter Vorstellungen, Interessen und Absichten unverfügbar zu werden. Indem gerade Prozesse der Transformation von potentiell tödlichen Waffen in Spielzeug oder umgekehrt von Alltagsgegenständen in Tötungswerkzeuge akzentuiert werden, wird das Zustandekommen von Machtregimen, ihre Funktionsweise und Kontingenz als solche erkundet. Insbesondere die vor allem im Revolutionsdrama ubiquitäre Metaphorisierung der Rede als Waffe, die eine kulturgeschichtlich virulente

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Verknüpfung von Rhetorik und Waffengewalt evoziert, führt auf Formen und Verfahren der Materialisierung von Sprechakten, die deren performative Macht hervorkehren. Diese lässt sich aber, wie durch die von Zitaten und Intertexten überbordende Rede der Protagonisten demonstriert, nicht aneignen, da sie auf vielfache Bedeutungskontexte verweist. Gerade die Guillotine, die von ihren Betreibern als ultimativ effizientes Instrument der Revolution präsentiert wird, das deren Idealen reibungslos zur Durchsetzung verhilft, wird auf ihre sprachliche Dimension als Signifikant zurückgeführt, dessen Dissemination in unterschiedlichsten Konnotationen und Kontexten nicht sistiert werden kann. Der Tendenz, dass Waffen als von Menschen nicht vollständig kontrollierbare Dinge und damit als eigenständige Akteure ins Spiel kommen, stehen zudem Konstellationen gegenüber, in denen Menschen selbst zu Waffen werden. Auch diese Tendenz, die sich sowohl in Robespierres Selbstverständnis als „Schwert des Gesetzes“ abzeichnet wie in der Verbindung Woyzecks mit dem Messer, deutet auf das Zusammenbrechen einer Vorstellung hin, welche die Waffe als Manifestation individueller (oder staatlicher) Handlungsmacht begreift. Büchners Anti-Helden führen nicht das Schwert oder benutzen nicht das Messer, um ihren jeweiligen Zielen und Idealen zur Durchsetzung zu verhelfen, vielmehr erscheinen sie selbst als die Schwerter oder Messer, „mit denen Geister kämpfen“. Während intertextuelle Bezüge zu Märchen, Volkliedern und immer wieder auch der Bibel Kontexte zitieren, in denen Waffen übersinnliche Macht entfalten, die menschliche Souveränität und Handlungsfähigkeit in Frage stellt, verknüpfen Büchners Texte diese Tendenz mit der Beschreibung und Analyse von Praktiken der Macht in der Moderne.

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Porosität Zu Dinglichkeit, Verdinglichung und Entdinglichung in Büchners Lenz Wenn Büchners Lenz bekanntermaßen im „Kunstmonolog“1 fordert, „das Leben des Geringsten“ (DKV 1, S. 234) wiederzugeben, zeigt sich eine Haltung zu den Menschen, zur Welt, zu den Dingen, die Elias Canetti einmal mit Blick auf den Woyzeck als Büchners „Keuschheit fürs Geringe“2 bezeichnet hat. Diese Achtung dem Geringen gegenüber formuliert auch Lenz im Lenz als eine merkwürdige Mischung aus Berührungsscheu und Andacht, die das Geringe als das konstitutiv Notwendige eines Realen ehrt und eine deutliche Skepsis gegenüber dem Idealen, Inszenierten, utopisch Überhöhten und erhaben Überformten zeigt.

1 Aus dem Grund Entgegen eines anfänglichen Verdachts, dass es mit den Dingen im Lenz nicht allzu weit her sei, erweisen sich im Gegenteil die Dinge, insbesondere eine performative Dinglichkeit und Verdinglichung als zentral für die Tektonik des Textes sowie des im und durch den Text verhandelten Verhältnisses von Darstellung und Dargestelltem. Die Dinge und eine oftmals erst sukzessive entstehende Dinglichkeit zeigen sich im Lenz als unverzichtbare Akteure – und dies nicht trotz, sondern gerade aufgrund der konsequent durch, in und über die Figur Lenz perspektivierten Erzählhaltung. Allererst über die Dinge wird der ästhetischen Forderung nach einer Darstellung des Geringen und „Geringsten“ entsprochen, erst in und an den Dingen kann sich Lenz‘ spezifisch schwankende, aufgelöste Welt doch immer wieder erzeugen und zeitweilig festhalten, an und in den Dingen wird seine immer wieder neu zu konturierende und sich doch wieder entziehende Wirklichkeit etabliert, um

 Ingrid Oesterle: „Ach die Kunst“ – „Ach die erbärmliche Wirklichkeit“. Ästhetische Modellierung des Lebens und ihre Dekomposition in Georg Büchners Lenz. In: Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Hrsg. v. Bernhard Spies. Würzburg 1995, S. 58–67, hier S. 59.  Elias Canetti: Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 1972. In: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt 1972, S. 59–62, hier S. 62. ( [14. April 2022]). Antonia Eder, Karlsruhe https://doi.org/10.1515/9783110796278-006

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sich gleichwohl auch wieder defigurativ abzubauen. Diese wechselnde Dynamik zwischen Figuration und Defiguration, Realisation und Derealisierung, Verdinglichung und Entdinglichung lässt sich im Text als visuell narrativiertes Phänomen beobachten, bei dem sich etwas (von Lenz Wahrgenommenes) aus dem Grund empor- oder abhebt und anschließend wieder darin versinkt3 – ich werde das im Folgenden anhand von Textpassagen erläutern. Wie eng für Lenz Wirklichkeit und Wahrnehmung korreliert sind, zeigt bereits der oft und eingehend über das Innen und Außen von Körper, Seele und Wetter ausgedeutete erste Abschnitt der Erzählung: Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nicht’s am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. (DKV 1, S. 225)

Vom Farben und Formen wahrnehmenden Auge aus, über den Leib zum Fühlen bis unter die Haut4 gehen hier die Sinneseindrücke, die im ebenso beiläufig geäußerten wie berühmten, physiologisch und psychologisch normsprengenden Wunsch gipfeln, „auf dem Kopf gehn“ zu können.5 Die narrative Konzentration auf die Figur Lenz generiert dabei im Erzählen der Wahrnehmungsbewegungen eine spezifische Wechselwirkung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Büchners Text wendet sich, so könnte man sagen, generell dem unsichtbaren Lenz6 zu: Es ist, wie auch der Text die Figur Lenz selbst betonen lässt, gerade nicht der „gedruckt[e]“ (DKV 1, S. 227) Lenz, den Büchner zur Darstellung bringt, sondern der spurlose, letztlich in der „Last“ der „Leere“ verstummende Lenz: „– – So lebte er hin“ (DKV 1, S. 250). Es ist diese Grundanlage der Erzählung als Negativ (statt als Positiv), die einer spezifischen Form für das zu schildernde Nicht-Identische von Welt und Figur bedarf – und eben diese nicht-identische Form erzeugen in Büchners Lenz nicht zuletzt die Dinge.

 Zu dieser theatral grundierten Denkfigur vgl. Juliane Vogel: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche. München 2017.  Vgl. Oesterle: Ach die Kunst, S. 61.  Ganz ähnlich ist der in Leonce und Lena in I/1 sehnsüchtig geäußerte Wunsch von Leonce formuliert (DKV 1, S. 95): „Dann – habe ich nachzudenken, wie es wohl angehen mag, daß ich mir einmal auf den Kopf sehe. – O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eines von meinen Idealen.“  Vgl. Oesterle: Ach die Kunst, S. 61.

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Die Logik eines Negativ-Positiv-Verhältnisses zeigt sich gleich eingangs, wenn Lenz im Steintal bzw. im Dorf „Waldbach“ (DKV 1, S. 226), wie es im Text heißt, ankommt: Ein Wechselverhältnis aus Licht und Schatten erzeugt hier auffällige Effekte von Tiefenwahrnehmungen, die über Kontrast und Relief Wahrnehmung allererst generieren. Zum einen öffnen sich Lichtschächte in der ansonsten dominierenden Fläche der Finsternis: Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in Eins. […] Endlich hörte er Stimmen, er sah Lichter, es wurde ihm leichter […]. […] [D]ie Lichter schienen durch die Fenster, er sah hinein im Vorbeigehen, Kinder am Tische, alte Weiber, Mädchen, Alles ruhige, stille Gesichter, es war ihm als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen, es ward ihm leicht. (DKV 1, S. 226 f.)

So wie hier das Licht aus der Tiefenlogik des umgebenden Dunkels heraus „durch“ kleine Öffnungen „ausstrahl[t]“, heben sich anschließend umgekehrt, wenn Lenz im Innern des Pfarrhauses ist, leuchtende Gesichter heraus, aus und ab von einem dunklen, dämmrigen Grund: [N]ach und nach wurde er ruhig, das heimliche Zimmer und die stillen Gesichter, die aus dem Schatten hervortraten, das helle Kindergesicht, auf dem alles Licht zu ruhen schien […], bis zur Mutter, die hinten im Schatten engelgleich stille saß. (DKV 1, S. 227)7

Analog zum Lichtfeld des Kindergesichts, das sich aus dem dunklen Raumgrund heraushebt und im Anschluss gleichermaßen Lenz selbst zugeschrieben wird („sein blasses Kindergesicht“, DKV 1, S. 227; „das anmutige Kindergesicht“, DKV 1, S. 229), treten in dieser Stube, in der Lenz sich „gleich zu Haus“ (DKV 1, S. 227) fühlt, nicht von ungefähr auch seine Erinnerungen aus dem dunklen Grund seines Vergessens hervor und in ein Licht der unter diesen Bedingungen nun möglich gewordenen Darstellung des Vergangenen ein: Er fing an zu erzählen, von seiner Heimat; er zeichnete allerhand Trachten, man drängte sich teilnehmend um ihn, er war gleich zu Haus, sein blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, sein lebendiges Erzählen; er wurde ruhig, es war ihm als träten alte Gestalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte Lieder wachten auf, er war weg, weit weg. (DKV 1, S. 227)

 Ganz ähnlich gestaltet findet sich dieselbe narrative Beleuchtungsregie, d.i. zuerst aus einem Innen ins Außen, dann im Innen auf ein Gesicht, nochmals in der folgenden Passage: „Es war finster Abend, als er an eine bewohnte Hütte kam, im Abhang nach dem Steintal. Die Türe war verschlossen, er ging an’s Fenster, durch das ein Lichtschimmer fiel. Eine Lampe erhellte fast nur einen Punkt, ihr Licht fiel auf das bleiche Gesicht eines Mädchens, das mit halb geöffneten Augen, leise die Lippen bewegend, dahinter ruhte.“ (DKV 1, S. 237)

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In dem Hervortreten aus einem dunklen Grund gewinnen hier für einige Momente die Dinge ihre Gestalt und eröffnen durch die demonstrierte Möglichkeit ihres Erscheinen-Könnens zudem die metonymische Verschiebung dieser BeLichtung hin in einen Seelenraum, der sich bezeichnenderweise ebenfalls über Hell und Dunkel, Positiv und Negativ konstituiert: Das Alte, Vergessene, Gewesene tritt aus dem „Dunkeln“ dieses Seelengrunds in das Licht einer sichtbaren („er zeichnete“), erzählbaren („er fing an zu erzählen“), von Lenz als wohltuend, als „vertraulich“ und „teilnehmend“ (DKV 1, S. 227) erlebten Gegenwart. Auf der Kontrastfolie, die sich zwischen abgeschattetem Raum und hellem Kindergesicht, zwischen Negativ und Positiv, zwischen Grund und Form ergibt, kann sich ein beleuchtetes Halbrelief aus zuvor verschütteten, nun sich formenden Erinnerungen erheben. Die momentane Figuration sowohl von Dingen als auch von Erinnerungen funktioniert hier als optisches Phänomen: Nachdem dieser kontrastive Mechanismus Menschen und Dinge als sichtbar Geformtes aus dem ungeformten, da dunklen Grund hat aufscheinen lassen, überträgt sich dieser optische Modus subtraktiver Formgewinnung auf die Eigendynamik der Erinnerungsarbeit. Im Lichte der sich zeigenden, Vertrauen erweckenden Dinglichkeit einer ihn beruhigenden Umgebung materialisieren sich auch Lenz‘ Erinnerungen in einem ganz analog beschriebenen Prozess, der als Herauslösen aus, Abheben vor und sich Ablösen von einem dunklen Grund funktioniert. Dinge wie Gedanken (oder Erinnerungen) konturieren und materialisieren sich als Wahrnehmbares nur unter den spezifischen Bedingungen des sich „ruhig“, „stille“ und „leicht“ (DKV 1, S. 227) Fühlens über eine optische Kontrastdynamik.8 Erst vor einem dunklen Grund zeigt sich das Relief des Dings (Tisch, Zimmer, Gesicht), so wie erst vor dem flächigen Negativ der entspannten, „heimliche[n]“ (DKV 1, S. 227) (Selbst-)Vergessenheit das Relief von Erinnerungspartikeln als belichtetes Positiv aufsteigen und sich zeigen kann: „Es wirkte alles wohltätig und beruhigend auf ihn“ (DKV 1, S. 229). Über diese skulpturale Logik einer erzählten Genese von performierter Wirklichkeit als Wahrnehmung, die Sichtbarkeit nur über gleichzeitige Unsichtbarkeit zu erzeugen und Darzustellendes nur über Nicht-Darzustellendes zu konturieren

 Diese Lichtregie von Hell und Dunkel bestimmt übrigens auch eines der beiden von Büchners Lenz im Kunstmonolog als „schönste[], innigste[]“ (DKV 1, S. 234), da „faßlich[]“, beschriebenen „Bilder“ der von ihm präferierten „Holländischen Maler“, die ihm „die Natur am Wirklichsten“ geben: Das Gemälde, das Lenz „Christus und die Jünger von Emaus“ (DKV 1, S. 235) nennt, wurde von Carel van Savoy, einem Schüler Jan Cossiers und beeinflusst von Rembrandt, ca. 1650 gemalt und war Büchner vermutlich aus Darmstadt bekannt (vgl. Kommentar, DKV 1, S. 843). Es bezieht seine Wirkung vor allem über Hell-Dunkel Kontraste, die Plastizität und Tiefenwirkung über die Lichtregie eines Spiels zwischen abgeschattetem Grund und erhellter, hervortretender Form erzeugen – darin lassen sich die malerische und Büchners eigene literarische (Wirkungs-)Ästhetik analogisieren.

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vermag, gewinnt die Erzählung Lenz auch formal eine Logik der bedingenden Relation. Erzählt wird, das hat bspw. Bernhard Greiner über das Motiv der Spaltung gezeigt, eine konstitutiv relationale Spannung zwischen Zerfall und Widerständigkeit.9 Diese wechselhafte Dynamik lässt sich einerseits auf Ebene der Figur Lenz sowie andererseits und darüber hinaus auf der poetologischen Ebene des Discours und damit auf der Formebene der Erzählung selbst beobachten: Dies Wechselverhältnis zeigt sich bspw. in der diagnostisch informierten Schilderung einer religiösen Melancholie10 und im bilderreichen Kampf der Figur mit eben diesem Wahnsinn, ebenso wie in der symbolisierenden Analogie zwischen Natur, Wetter11 und Figur und der zugleich, so Greiner, an Lenz zu beobachtenden Verweigerung gegenüber dem Versprechen eines (nach Kant) mathematisch Erhabenen, das besagt, dass sich in der Distanzierung von dieser Naturerfahrung (d. h. allererst in der erneuten Spaltung) das Selbst stabilisiere. Und nicht zuletzt lässt sich in den Widersprüchen der ästhetischen Ausführung sowie der häretischen imitatio christi, so Greiner weiter, eine Widerständigkeit, ja ein Aufstand der Figur gegen die eigene Auflösung identifizieren. Büchners Spaltung der Figur in Auflösung und Auflehnung wird so zur Bedingung der Kohärenz der Erzählung selbst. Das Motiv des Gespaltenen und Geteilten als Motiv des nur oder immerhin Halben zeigt sich einerseits also in der psychopathologischen „Partialstörung“,12 die Büchner seiner literarischen Dichterfigur, die aber eben auch eine reale ist, attestiert: In einem Brief an seine Eltern im Oktober 1835 schreibt er, dass er sich mit dem Poeten Lenz, der gleichzeitig mit Goethe im Elsass war, beschäftige und Beschreibungen studiere, die besagen, dass dieser „halb verrückt wurde“ (DKV 1, S. 419). Das Halbe kann gleichwohl andererseits auch mit Blick auf die oben aufgezeigte Dynamik zwischen Grund und Form als Konstitution der Erzählung gelten: Erzählen wie Erzähltes funktionieren über das einander bedingende Wechselverhältnis von Negativ und Positiv, von Manie und Ruhe, von gehetzter Beschleunigung und entspannender Entlastung, von Kälte und Wärme, von Schwere und Leichtigkeit, von Dunkel und Licht, von Halb und Halb. Die Vorläufigkeit eines  Bernhard Greiner: Lenz’ Doppelgesicht. Büchners Spaltung der Figur als Bedingung der Kohärenz der Erzählung. In: Commitment and Compassion. Essays on Georg Büchner. Hrsg. v. Patrick Fortmann u. Martha Helfer, Amsterdam u. New York 2012, S. 91–111.  Vgl. Carolin Seling-Dietz: Büchners Lenz als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹. In: GBJb 9 (1995–1999) 2000, S. 188–236; allgemein zum Verhältnis von Melancholie und Wahnsinn in Büchners Werk vgl. Harald Neumeyer: Melancholie und Wahnsinn. In: Büchner Handbuch. Hrsg. v. Roland Borgards u. Harald Neumeyer. Stuttgart 2015, S. 242–248.  Vgl. Oliver Grill: Wetterlaunen. Büchners Lenz. In: Ders.: Die Wetterseiten der Literatur. Poetologische Konstellationen und meteorologische Kontexte im 19. Jahrhundert. München 2019, S. 73–115.  Greiner: Lenz‘ Doppelgesicht, S. 91.

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jeden dieser Zustände markiert der Text über die raschen Wechsel zwischen ihnen, wodurch sich einmal die Intensität seiner Faktur, zugleich aber deren Gefährdung und intrikate Instabilität erweist: Diese stets gefährdete Form generiert dabei eine Art Durchlässigkeit, eine Porosität des Erzählten wie des Erzählens, das sich an den Umschlagpunkten als narrativierte Defiguration, als eine Art ‚Entdinglichung‘ zeigt.

2 Poros Porosität bedeutet eine gewisse Durchlässigkeit, die die Dichte und Stabilität der Form untergräbt, die das Feste durchlöchert und die die stete Latenz eines Bruchs signalisiert. Gleichwohl ist das Poröse allererst Bedingung von Möglichkeiten: Porosität und porös stammen vom griechischen Wort Poros (Πόρος) ab, und Poros bedeutet: Ausweg. Die Figur des Poros ist denn auch im griechischen Mythos die Verkörperung der Findigkeit, also der Fähigkeit, in jeder Situation einen Ausweg zu finden, und damit auch Verkörperung von Variabilität und von Reichtum, literaliter wie übertragen: als Reichtum der Form, als Fülle und als Möglichkeiten. Als Sohn der proteisch begabten Okeanide Metis und als Vater des Eros ist die mythische Figur Poros sowohl mit dem Scharfsinn als komplexem, oft implizitem Wissen verwandt, so wie ihm ebenfalls das Begehren nahesteht13 – Poros und mit ihm das Poröse und die Porosität sind demnach Inbegriff einer Beweglichkeit, die zugleich Möglichkeiten wie deren Instabilitäten erzeugt. Im Bild des Porösen zeigen sich Latenz ebenso wie Potenz, neben dem Begehren nach Komplexität und Veränderlichkeit steht der potentielle Zerfall, in der Brüchigkeit des Verhältnisses von Struktur und Oberfläche entstehen Ausweg und Übergang – immer allerdings nur vorläufig. Diese Vorläufigkeit prägt auch das Erzählen und das Erzählte im Lenz. Die Dinge selbst, die Lenz begegnen oder vor seinem (inneren) Auge entstehen und sich verändern, erweisen sich auf intrikate Weise als porös. Immer zeigen sich die Dinge als im Übergang begriffen – und dies ganz unabhängig davon, ob er sie imaginiert oder sie einer intersubjektiv geteilten Realität angehören, sprich: ob er diese Dinge innerlich erzeugt oder sie (so wie andere um ihn herum auch) tatsächlich sieht, Dinge eigenhändig benutzt oder allererst herstellt. Zunächst etablieren die Dinge eine Welt, ob phantasmagorisch oder handfest, und ermöglichen Lenz Bewegung im „praktische[n] Leben“ (DKV 1, S. 228). Denn ob es im monoma-

 Vgl. Platon: Symposion, 203b. In: Ders.: Symposion. Hrsg. v. Thomas Paulsen u. Rudolf Rehn. Stuttgart 2006.

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nischen Zustand der „Ofen“ ist, hinter den Lenz „die Erde“ (DKV 1, S. 225) meint „setzen“ zu können, oder das „Moos“, unter dem ihm „die Erde wich“, während er sich „in das All hinein“ wühlt (DKV 1, S. 226): In einem ersten Schritt entsteht über eben diese, sich ihm darbietenden Dinge für Lenz ein ihn umgebender, sich konturierender Raum – ein Raum, der gerade nicht mehr formloser, lichtloser, namenloser Grund ist. Eben dies gilt für die „Gerippe von Hütten“, die kaum mehr sind als „Bretter mit Stroh“, für die „Wege“ und „Kanäle“, für „das weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Gesangbuche“ (DKV 1, S. 231) wie für den immer wieder aufgesuchten „Brunnen“ (DKV 1, S. 228 f.) und die vergeblich erbetenen Schläge mit „Gerten“ (DKV 1, S. 243) – all diese Dinge konturieren und formen allererst den Lenz umgebenden Raum und stehen ein für die (auch schmerzhafte) Rückbindung an eine Wirklichkeit. Doch ebenso wie diese Ding-Räume entstehen, sind sie über das Phänomen der ihnen über die Erzähltektonik eingeschriebenen Porosität auch gefährdet. Anzeichen hierfür ist erneut das „Licht“, das während der Figuration der Dingräume vorhanden ist oder hinzutritt, das aber (natürlich oder künstlich bedingt) auch wieder schwindet und darin den Zerfall der eben nur vorläufig formierten und haltgebenden Strukturen einer Dingwelt bewirkt: Aber nur so lange das Licht im Tale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst, er hätte der Sonne nachlaufen mögen; wie die Gegenstände nach und nach schattiger wurden, kam ihm Alles so traumartig, so zuwider vor […]; […] er klammerte sich an alle Gegenstände, […] es waren Schatten, das Leben wich aus ihm. (DKV 1, S. 229)

Gekoppelt an ein schwindendes Licht ist nicht zuletzt (als zentrales Motiv im gesamten Text)14 die Kälte: [M]an gab ihm ein Zimmer im Schulhause. Er ging hinauf, es war kalt oben, eine weite Stube, leer, ein hohes Bett im Hintergrund, er stellte das Licht auf den Tisch, und ging auf und ab, er besann sich wieder auf den Tag, wie er hergekommen, wo er war, das Zimmer im Pfarrhause mit seinen Lichtern und lieben Gesichtern, es war ihm wie ein Schatten, ein Traum, und es wurde ihm leer, wieder wie auf dem Berg, aber er konnte es mit nichts mehr ausfüllen, das Licht war erloschen, die Finsternis verschlang Alles; eine unnennbare Angst erfaßte ihn, er sprang auf, er lief durchs Zimmer, die Treppe hinunter, vor’s Haus; aber umsonst, Alles finster, nichts (DKV 1, S. 227).

Dass sich das erlöschende Licht und die Kälte des Raums ausgerechnet mit einem Ort der Autorität und der Erziehung, dem „Schulhaus“, verbinden, verweist zudem auf die symbolische, die väterliche Ordnung, der Lenz sich ja gerade zu entziehen versucht. Die bedrohliche Leere und „unnennbare Angst“, die ihn aufgrund der veränderten Außen- und Raumbedingungen nach dem Ausschluss aus

 Vgl. Inge Stephan: „Chiffren von Verstörung“. Von Büchner über Lenz zu Rihm. In: LenzJahrbuch 24 (2017), S. 9–28.

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dem „Pfarrhaus“ befällt, führt zurück in den alptraumhaften Zustand der eigenen Nichtigkeit und des quälenden Selbstverlustes: „[E]r konnte sich nicht mehr finden“ (DKV 1, S. 228). Als Ausweg ermöglichen die Dinge durchaus eine vorläufige Formation und Stabilisation einer für Lenz nur schwer bzw. dauerhaft nicht (mehr) zu realisierenden Raum-Zeit-Ebene: „Er mußte dann mit den einfachsten Dingen anfangen, um wieder zu sich zu kommen.“ (DKV 1, S. 248) Die Dinge sind gleichwohl „Punkte“ (DKV 1, S. 228), an denen Lenz sich orientieren und übergangsweise festhalten kann: Denn solche Ding-Punkte lassen sich verbinden, über sie lässt sich sukzessive und immer aufs Neue eine Welt „zeichne[n]“ (DKV 1, S. 229), in der sich auch ein über diese geordneten Punkte etabliertes Leben abzeichnet: Und „jemehr er sich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger“ (DKV 1, S. 229). Dieses Leben allerdings wird lediglich ermöglicht durch eine Ding-Welt, die sich jederzeit zu verwandeln oder aufzulösen droht, sobald nämlich die Bedingungen ihrer Möglichkeit sich ändern: Zentral für diese Dynamik einer figurierenden und defigurierenden Wahrnehmung der Dingwelt sind „Ruhe“ (DKV 1, S. 236, 249), Licht und/oder Wärme, zunächst wirksam in einem Außen, das aber unvermittelt umspringt in das (erzählte und erzählende) Innen der Figur. So materialisiert sich für Lenz ein funktionales Leben über die und mit den Dingen, dies bleibt aber ein stets unsicherer Zwischenzustand: „Aber es waren nur Augenblicke, […] als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wußte von nichts mehr.“ (DKV 1, S. 226) Im Laufe des Textes wird es, gewissermaßen umgekehrt proportional zum abnehmenden Licht, das Lenz oftmals nur noch streift, immer sichtbarer, wie schwer dieser Zustand, in dem sich die Dinge als Welt um Lenz und für ihn materialisieren, zu erzeugen oder gar zu stabilisieren ist: „Ahnungen von seinem alten Zustande durchzuckten ihn, und warfen Streiflichter in das wüste Chaos seines Geistes.“ (DKV 1, S. 239) Aus diesem Nichts heraus und zu einem Etwas hin können aber immer wieder ebenfalls die Dinge führen – besser: Es kann ein Herbei-„rezitier[en]“ (DKV 1, S. 229) die Dingwelt realisieren. Lenz muss die Dinglichkeit, damit sie sich ihm stabiler zeigt, beschwören, sie besprechen, sie besingen, sie erzeichnen und erlesen – oder er muss sie erzwingen: [E]r riß sich mit den Nägeln, der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben, […] [er] stürzte sich in den Brunnen, die grelle Wirkung des Wassers machte ihm besser (DKV 1, S. 228 f.).

Lenz folgt hier und in vielen weiteren Situationen dem „Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz“ (DKV 1, S. 249). Als „selbsttherapeutische[n] Einsatz eines vitalisierenden und subjektkonstituierenden Schmerzes“ beschreibt Roland Borgards das von Büchner (gegen den Bericht des historischen Oberlin) in

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seine Erzählung eingebrachte, moderne Schmerzverständnis, das Schmerz nicht mehr theologisch als Buße, sondern therapeutisch als „Konsolidierung“ von „Körper- und Selbstgefühl“ denkt.15 Geradezu analog zu dieser therapeutischen Funktion, derzufolge der Schmerz den Körper von innen her nicht nur befällt, sondern ihn eben zugleich als wahrnehmendes Subjekt realisiert, stellt sich das Wahrnehmungsverhältnis zwischen Subjekt und Ding dar: So wie Lenz unter bestimmten äußeren Be-Dingungen (Wohlsein, Ruhe, Helligkeit, Wärme) in die Lage versetzt ist, aus dem „wüsten Chaos seines Geistes“ geformte Realitätspartikel einer zeitweilig stabilisierten Dingwelt zu destillieren, d. h. bedingt durch die Umwelt seinem Inneren (auf Zeit) ein Außen abzuringen, so fungiert der Schmerz umgekehrt analog als das Außen, das (als temporärer Reiz) ein sich „besser“ (DKV 1, S. 229) bzw. sich überhaupt wieder fühlendes Innen etablieren kann. Zudem verbinden sich hier Schmerz und Ding: Denn Büchners Lenz erzwingt über ein physisches Außen der Dinge (Nägel, Wasser) einen gleichfalls physischen Körperschmerz, der ihn „zu sich selbst“ (DKV 1, S. 249) bringt, „ihm das Bewußtsein wieder[gibt]“ (DKV 1, S. 228) und ihn über dieses schmerzinduzierte Selbstgefühl ganz eigentlich als Subjekt konstituiert. Es entsteht so qua Reiz einer widerständigen, schmerzempfindlichen Körpermaterie allererst Lenz’ Selbstgefühl, das zum einen aus und zum anderen anstelle der haltlosen „Leere“ (DKV 1, S. 226 u.ö.) entsteht – und in einem zweiten Schritt gewissermaßen reziprok auch Halt in und Bezug zu einem Außen stiftet. Diese dynamische Wechselwirkung in der Wahrnehmung von Außen (Ding, Schmerz) und Innen (Schmerz, Selbstgefühl) und Außen („Leben“, DKV 1, S. 229) vermag Lenz periodisch als jenes Subjekt zu konsolidieren, das seinerseits (zeitweilig) souverän mit der Außenwelt interagieren kann. Da dieser Effekt jedoch nicht auf Dauer zu stellen ist, muss Lenz die triangulierte Dynamik eines ding-, schmerz- und selbstsichernden Agon immer wieder aufs Neue anstrengen, was ihm im späteren Verlauf der Erzählung zunehmend misslingt. Die agonale Materialität und Widerständigkeit von Gegenständen, Sachen und Körpern gewährt Lenz eine Art Absicherung über die welt- und selbstvergewissernde Technik der immer wieder zu performierenden Verdinglichung. Als problematisch zeigt sich dabei einerseits die Resilienz aller Dinge einer (im Erzählten) nicht per se stabilen Außenwelt, die sich den Wechseln in Lenz‘ Innenwelt nur allzu leicht unterordnen. Ebenso wie diese Resilienzen der Dinge Wechsel im Außen bedingen, auf die Lenz’ Innen geradezu seismographisch reagiert oder sie allererst antizipiert. In dem sich perpetuierenden Prozess von Ver-Dinglichung und Ent-Dinglichung wird sich so für Lenz die Porosität von „Allem“ nur immer wieder

 Roland Borgards: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner. München 2007, S. 442–444.

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erweisen: Der „rettungslose Gedanke, als sei Alles nur sein Traum, öffnete sich vor ihm“ (DKV 1, S. 229). Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt zeigt sich hier nicht nur als das immer schon relationale Gefüge einer Welt- und Seelenwirklichkeit einer/s jeden, sondern gerinnt in Büchners Lenz für die Figur Lenz immer wieder neu zur Erfahrung einer boden- und bezugslosen Haltlosigkeit in einem allenfalls porösen Raum zwischen Dinglichkeit und Möglichkeit.

3 Agens und Patiens Eine anthropologisch erprobte Methode zur Verwandlung von unsicherer, ja beängstigender Möglichkeit in abgesicherte Wirklichkeit ist nun aber die Versprachlichung, genauer: die Benennung. Als „Apotropaion der Namengebung“ hat Blumenberg diese téchne in seiner Arbeit am Mythos beschrieben.16 Das Numinose qua sprachlicher Zurichtung zu bannen und die „namenlose Angst“ und das „Entsetzliche[]“ (DKV 1, S. 226) in ein kalkulierbares Risiko dank Formgebung zu verwandeln, ist Funktion und operationalisierende Macht dieser beschwörenden Technik. Als eine solche namentliche Beschwörung im Kleinen kann letztlich auch jedes Ritual des sich miteinander Bekanntmachens gelten. Eine solche Szene findet sich auch im Lenz, wenn Gast und Oberlin aufeinandertreffen: Oberlin hieß ihn willkommen, er hielt ihn für einen Handwerker. ‚Seien Sie mir willkommen, obgleich Sie mir unbekannt.‘ – Ich bin ein Freund von … und bringe Ihnen Grüße von ihm. ‚Der Name, wenn’s beliebt‘ … Lenz. (DKV 1, S. 227)

Hier findet über das Einander-Vorstellen, flankiert von Informationen, die den freundschaftlichen Kontext signalisieren, das Ritual des Sich-miteinander-bekanntMachens als Apotropaion der Namengebung statt, in dem sich das bzw. der Fremde in das/den Bekannte/n verwandelt. In nuce hat so gewissermaßen die „Bewältigung eines uns entzogenen Zuvor“17 über ein ‚sich selbst einander Erzählen‘ statt und

 Hans Blumenberg: Die Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1979, S. 22. Für Blumenberg führt die narrative Bannung der bedrohenden Welt über das „Apotropaion der Namengebung“ zur Figuration des Mythos. Als „ein Stück zu Gestalt und Gesicht bringender Bewältigung eines uns entzogenen Zuvor“ formt sich in der ästhetischen Zurichtung der angsteinflößenden Natur deren „magische, rituelle und kultische“ (ebd.) Beeinflussbarkeit: „Zum Namen wird auch das traditionell Abstrakteste, sobald es ins handelnde oder leidende Subjekt transformiert ist“ (ebd., S. 60). Die Überführung der als bedrohlich empfundenen Anonymität einer „Übermacht des Anderen“ in die personifizierende „Metapher des Auch-Ich“ verwickelt „den erfahrenden Menschen in die Geschichte des erfahrenen Anderen“ (ebd., S. 28).  Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 22.

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findet seine narrative Form als Positiv in der Bekannt- und Übergabe des eigenen Namens, in der gegenseitigen Namensgebung. In dieser Szene zeigt sich also die gelingende Überführung von zunächst Namenlosem in Benennbares und damit eine Art Rückeroberung von Agency gegenüber der tendenziell ohnmächtig machenden Weltwirklichkeit, die hier qua Namensgebung in eine handhabbare Realität verwandelt wird. In dieser spezifisch apotropäischen Logik der Hospitalität generiert sich für Lenz ein Raum des Vertrauens und der wohltätigen „Ruhe“, der einerseits analog zur oben beschriebenen beleuchtungsästhetischen Bild- und Formgebung funktioniert, andererseits aber zuverlässiger angesteuert werden kann, da er sich über die Beständigkeit der Figur Oberlin konstituiert: Oberlin war unermüdlich, Lenz fortwährend sein Begleiter, bald in Gespräch, bald tätig am Geschäft, bald in die Natur versunken. Es wirkte alles wohlthätig und beruhigend auf ihn, er mußte Oberlin oft in die Augen sehen, und die mächtige Ruhe, die uns über der ruhenden Natur, im tiefen Wald, in mondhellen schmelzenden Sommernächten überfällt, schien ihm noch näher, in diesem ruhigen Auge, diesem ehrwürdigen ernsten Gesicht. (DKV 1, S. 229)

Auch hier verbinden sich Motive des sanften Lichts und der Beruhigung zu einer Umwelt, mit der Lenz dank einer durch Oberlin vermittelten Stabilität existieren und teils interagieren kann. Aber auch diese Vermittlung erweist sich als poröse Konstruktion, die der zunehmenden Belastung durch Lenz‘ religiöse Melancholie und atheistische Ausbrüche nicht gewachsen ist: Selbst „Oberlin blickte ihn unwillig an“ (DKV 1, S. 244) und „alles was er an Ruhe aus der Nähe Oberlins und aus der Stille des Tals geschöpft hatte, war weg“ (DKV 1, S. 246). So ist der zweite Teil der Erzählung zunehmend beherrscht von Szenen, die nicht mehr eine gelingende Verdinglichung, sondern genau die umgekehrte Bewegung vorführen: Vorläufig gewonnene Formen, seien es Gegenstände oder Gesichter, aber auch Stimmungseindrücke und Wahrnehmungen, erweisen sich als instabil und als zu porös, um eine belastbare Gestalt zu halten. Gegenständliche und atmosphärische Formen korrodieren bei der leichtesten, externen bzw. internen Irritation und beginnen sich derart zu zersetzen, dass sie in einer Gegenbewegung der Defiguration in den dunklen Grund zurücksinken, aus dem sie sich zuvor, unter bestimmten (warmen, lichten, ruhigen) Bedingungen herausgearbeitet hatten: „denn sonst hatte ihn die Helle davor bewahrt.“ (DKV 1, S. 248) Doch Lenz’ Zustand war indessen immer trostloser geworden […]; die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern Riß, er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung, eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hatte Nichts. (DKV 1, S. 246; Hervorh. im Text)

Lenz erfährt ein Numinoses, das ihm als „Abgrund“ (DKV 1, S. 239), als „namenlose Angst“ (DKV 1, S. 226), „Leere“ (DKV 1, S. 226, 246, 247), als Ungeheures (vgl. DKV 1, S. 242, 249) und „Nichts“ (DKV 1, S. 226, 246) immer wieder im Verlauf

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des Textes begegnet, droht, auflauert, ihn ängstigt, verfolgt und anfällt. Das Erhabene, das dem Numinosen ästhetiktheoretisch inhäriert, ist im Lenz allerdings nicht (mehr) das mathematisch Erhabene Kants,18 sondern ein ungeformtes Überwältigungserlebnis, das seinerseits gerade nicht mehr reflexiv bewältigt werden und in ein gestärktes Subjektbewusstsein überführt werden kann. Es bleibt nur noch die Überwältigung, nur noch die Angst, ohne reflexive Distanzierungsmöglichkeit und damit ohne die potentielle Sicherheit einer Selbstvergewisserung im Subjektstatus. Lenz bleibt als Figur das Objekt, dem ein zielgerichtetes, selbstmächtiges Handeln immer wieder versagt ist, dessen Handlungen meist ziellos und erfolglos bleiben. Seine Zustände sind oft entweder die des Zuviel („er wühlte sich in das All hinein“, DKV 1, S. 226; „es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen“, DKV 1, S. 242) oder des Zuwenig („es wurde ihm entsetzlich einsam“, DKV 1, S. 226). Auf der Ebene des Dargestellten wie der Darstellung fehlt so das stabilisierende, abwägend reflektierende Maß einer für die gelingende Außen-Innen-Korrespondenz gewissermaßen nur semipermeablen Mittellage. So wie des Öfteren gezeigt wurde, dass Lenz sein Innen in ein Außen spiegelt – lesbar als durch Lenz’ Psychodynamik gefärbte Wahrnehmung der Natur, des Wetters, der Landschaft19 – lässt sich dieses Verhältnis aber auch in der umgekehrten Richtung lesen, dergestalt dass sich das Außen in (s)ein Innen spiegelt. Die doppelt besetzte, eben auch reziprok mögliche Wirkrichtung der beeinflussten und beeinflussenden Wahrnehmung als möglichen Wechsel der Richtung von Projektionen zu lesen, hieße zunächst nur, dass beide Richtungen Projektionen eines als wahrnehmend erzählten Subjekts (von innen nach außen; von außen nach innen) sind. Eine Pointierung der letzteren Lesart (außen nach innen) akzentuiert allerdings den Umstand, dass für Lenz die Umwelt, Dinge etc. selbst agieren, sie also ihn zum Objekt machen, gerade indem sie einen, nämlich ihren Ein-Druck in der Seele des Protagonisten hinterlassen.

 Dazu vgl. Greiner: Lenz Doppelgesicht, S. 94 f. Zum mathematisch Erhabenen vgl. Immanuel Kant: Analytik des Erhabenen. In: Ders.: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. 10. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974, S. 164–207. Zur Gedankenfigur, dass das Erhabene (nach Kant) nicht nur selber überwältigt, sondern, um (subjekt-)ästhetisch theoretisiert werden zu können und dementsprechend zu wirken, eigentlich immer schon vom Subjekt gedanklich überwältigt worden sein muss, es sich also bei Kants Theorie des Erhabenen gewissermaßen bereits um ein Überwältigen des Erhabenen als Überwältigung handelt, vgl. Wolfgang Denecke: Die Enden der Vernunft. Drei Exkurse zum Erhabenen. Wetzlar 2001, S. 27–75.  Vgl. Greiner: Lenz’ Doppelgesicht, S. 95; Oliver Grill: Wetterlaunen. Büchners Lenz. In: Ders.: Die Wetterseiten der Literatur. Poetologische Konstellationen und meteorologische Kontexte im 19. Jahrhundert. München 2019, S. 73–115.

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So bleibt Lenz in weiten Teilen der Erzählung – einerseits intradiegetisch, andererseits aber auch syntaktisch – stets das Objekt in Bezug auf Handlungen. Diese vollziehen sich, blickt man einmal auf die Grammatik, vielfach eher an ihm als durch ihn: Seine charakteristische, sowohl figurale wie grammatische Position ist oftmals nicht die des Subjekts, sondern vielmehr die des Objekts, genauer des Dativ- oder Akkusativobjekts. Diesbezüglich hat David Horton in einem kurzen Beitrag zur Stilanalyse von Büchners Lenz die Auffälligkeit der „impersonal phrases“ beobachtet.20 Hierzu zählen Sätze wie: „Es war als ginge ihm was nach, […] als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“ (DKV 1, S. 226) – ein gleichfalls narratives Phänomen, das Johannes Lehmann als den „erlebten Vergleich“21 beschrieben hat. Dazu gehören aber auch Sätze wie: „Es war ihm alles so klein“, „es drängte in ihm“ (DKV 1, S. 225, Hervorh. A.E.), „dann zog es weit von ihm“, „riß es ihm in der Brust“ (DKV 1, S. 226, Hervorh. A.E.) oder: „die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, daß es zu spotten schien“ (DKV 1, S. 242, Hervorh. A.E.), aber auch „da trieb es ihn wieder mit unendlicher Gewalt darauf, er zitterte, das Haar sträubte ihm fast, bis er es in der ungeheuersten Anspannung erschöpfte“ (DKV 1, S. 237; Hervorh. A.E.). Hier bleibt jeweils das „es“ grammatikalisch ohne eigentliche Referenz, selbst wenn, wie im letzten Beispiel, doch noch einmal Lenz das Subjekt des temporalen Nebensatzes wird und „er“ grammatikalisch (ebenso wie inhaltlich) angespannt das hier weiterhin numinos bleibende „es“, wohl ebenso wie (bzw. als) sich selbst, „erschöpft[]“. Daneben lässt sich die vielleicht erst auf den zweiten Blick bemerkenswerte Beobachtung machen, dass solche syntaktischen Anordnungen die Passivität der Erfahrung und Wahrnehmung von Lenz sowie sein weitgehend zielloses oder vergebliches Tun betonen. Doch trotz der Tatsache, dass dafür stets ein Agens im Außen, bspw. bei einem „es“ liegt, wird diese Passivität auf Seiten der Figur so gut wie nie über grammatikalische Passiv-Konstruktionen formuliert. Wenn man dieser Auffälligkeit nachgeht, dass also Passivität grammatikalisch gerade nicht im Passiv ausgedrückt wird, wird deutlich, dass dies den Effekt hat, dass Lenz deutlich als Objekt (d. h. Akkusativ- oder Dativ-Objekt) markiert bleibt, an dem oder über den etwas ausagiert wird. Denn in diesen „es“-Sätzen rückt Lenz nicht – wie in Passivkonstruktionen notwendig – an die priorisierte, aufmerksamkeitsgenerierende Erstposition im Satz, so zum Beispiel: „[E]in dunkler Instinkt trieb ihn“ (DKV 1, S. 228). Der Satz würde in der passivischen Transposition heißen: Er wurde von einem dunklen Instinkt getrieben. D. h. durch das Vermeiden  David Horton: Transitivity and Agency in Georg Büchner’s Lenz. A Contribution to a Stylistic Analysis. In: orbis litterarum 45 (1990), S. 236–247, hier S. 239.  Vgl. Johannes Lehmann: „Es war ihm als ob …“. Zur Theorie und Geschichte des erlebten Vergleichs. In: ZfdPh 132 (2013), Heft 4, S. 481–498.

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der Passivkonstruktion wird das Akkusativobjekt ‚Lenz‘ gerade nicht in die Aufmerksamkeit des Satzanfangs gestellt und sein Objektstatus ausgerechnet durch die Aktivformulierung seiner Passivität zementiert. Der Informationsfokus der Syntax bleibt so auf einem Subjekt, das Aktant, aber eben nicht Lenz ist. Es sind die Dinge, ein Außen, anonyme Kräfte, ein „es“, das Lenz, nicht er es kontrolliert: Der Text verlegt die Agency damit ausgerechnet in ein Außerhalb der zentralen Figur, über die gleichwohl der gesamte Text informationslogisch fokalisiert ist. Agency und Fokalität treten so erzählstrategisch auseinander, sowohl grammatikalisch und syntaktisch als auch intradiegetisch und narratologisch, erst recht aber psychofigural.

4 Gelingendes Scheitern Die prinzipielle Spannung zwischen Lenz’ religiöser Melancholie und dem „von materiellen Bedürfnissen gequälte[n] Sein“ (DKV 1, S. 231) markiert das Verhältnis von Dingen und Ding-Welt zum „halb verrückten“ (DKV 2, S. 419) und darin „doppelt[en]“ (DKV 1, S. 248) Bewusstsein der Figur Lenz im Lenz. Der Versuch einer Auflösung dieser Spannung zwischen einem, ja auch den ‚realen‘ Lenz umtreibenden, (französischen) Materialismus und einem christlich gelingenden Leben im bzw. mit Geist und Seele, kennzeichnet den Bezug zwischen Text-Dingen und Text-Wahn, die einerseits sich selbst erst durch die erzählte Figur Lenz konstituieren, zugleich aber andererseits die Figur Lenz selbst konstituieren. Die Porosität im oszillierenden Objekt-Subjekt-Verhältnis, in das die erzählte Welt die Figur und die Dinge zueinander setzt, findet sich einmal intradiegetisch auf der Ebene des Dargestellten: Hierzu gehören das entfaltete Verhältnis von Grund und Form sowie von Numinosem und Namen. Diese Objekt-Subjekt-Ambivalenz zeigt sich zudem als Textur der Darstellung selbst. Dies erscheint wiederum zum einen bspw. im Gebrauch spezifischer Verb- und Satzformen sowie im syntaktischen Modus des vermiedenen Passivs, worüber einem aufmerksamkeitsgenerierenden Stellungstausch von Akkusativobjekt und Subjekt im Satz ausgewichen wird, wobei Agens und Patiens als oszillierend, ja erneut porös markiert werden. Darüber hinaus aber ergibt sich auch auf der Ebene der Prä-, Para- und Intertexte Büchners noch ein weiteres Akteurs-Netzwerk, bestehend aus den gängigen zeitgenössischen Medizindiskursen sowie materialiter aus Oberlins Bericht, Lenz’ Briefen an Johann Daniel Salzmann, den Straßburger Gerichtsaktuar, und aus anderen, von Stöber publizierten Dokumenten, zudem aus Handschriften und Er-

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zählungen noch lebender und von Büchner adressierbarer Zeitzeugen.22 Denn so wie Oberlin Lenz in seinem Bericht zum Gegenstand, um nicht zu sagen: zum Objekt einer spezifischen Form der Darstellung gemacht hatte,23 führt nun Büchner als schreibender Akteur all diese „Punkte“ (DKV 1, S. 228), d. h. diesen Bericht sowie Dokumente und Diskurse mit den Werken von Lenz zusammen und überführt all diese Objekte als Prä- und Intertexte in das neu zu Gestalt kommende Objekt zweiter Ordnung: seine Erzählung Lenz. Auch Büchner lässt so, ganz analog zur Verdinglichungstechnik seines Protagonisten, aus einem ungeformten Grund eine Textform entstehen. Doch spiegeln und generieren die sprachlichen, d. h. grammatikalischen wie metaphorischen und metonymischen Eigenarten dieses neu geformten Dings ‚Erzählung‘ eben auch jene Porosität, durch die wiederum die Erzählung zum Akteur wird und ihrem Gegenstand, ihrem Objekt, ihrem Lenz adäquat begegnen kann. In der prekären Form dieser spezifisch porösen Darstellungsweise formt nicht nur, sondern riskiert Büchner auch stets den Text selbst, dem diese poröse Eigendynamik eingeschrieben ist. Im Poros als Weg und Ausweg zugleich liegt damit hier die Bedingung der Möglichkeit zur Darstellung – nicht die eines gelingenden Scheiterns (denn nichts gibt auf der Ebene der erzählten Figur Lenz Anlass zu dieser Hoffnung), wohl aber ist es die Bedingung der Möglichkeit zur Darstellung selbst: Die Erzählung tritt souverän porös auf als gelingendes Scheitern.

 Hierzu zählt der Vater der Brüder Adolf und August Stöber, die Freunde Büchners in Straßburg waren; deren Vater war Pensionatsschüler bei Oberlin gewesen und schrieb 1831 dessen Biographie; unter den von Stöber senior nicht ausgeschöpften Materialien fand Büchner Oberlins Bericht über Lenz’ Aufenthalt bei ihm im Steintal Anfang 1778; ein weiterer Zeitzeuge ist Johann Jakob Jaeglé, Vater von Büchners späterer Verlobten, der mit Oberlins pietistischem Umfeld im Elsass vertraut war und 1826 auch dessen Grabrede in Waldersbach hielt (vgl. DKV 1, Quellen, S. 809 f.)  Vgl. Roland Borgards: Art. Lenz. In: Büchner Handbuch. Hrsg. v. Roland Borgards u. Harald Neumeyer, Stuttgart 2015, S. 51–70.

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Rede und Requisite Komische Dinge in Büchners Leonce und Lena

1 Requisite Mobile und handhabbare Dinge sind von der Bühne nicht wegzudenken, jedoch werden sie selten zum Gegenstand theoretischer Reflexion.1 Erst im späteren 19. Jahrhundert werden Bühnendinge begrifflich als Requisite gefasst, und erst im 20. Jahrhundert werden sie in gattungspoetische Konzeptionen eingebunden.2 Dabei fällt auf, dass die numerische Zunahme von Dingen auf der Bühne völlig unterschiedlich datiert und ausgewertet wird. Walter Benjamin beschreibt die antike Tragödie als Widerlager zur „profanen Dingwelt“,3 welche erst mit dem barocken Trauerspiel auf die Bühne ge-

 Eine Theorie der Requisite steht bis heute aus. Auffällig ist, dass der Begriff weitgehend pragmatisch und deskriptiv verwendet wird: Es handelt sich schlicht um „sämtliche bei einer Theateraufführung benötigten Gegenstände“, so der knappe und durch die jüngsten Ergänzungsbände nicht erweiterte Eintrag im Deutschen Theater-Lexikon (Art. Requisite. In: Deutsches Theater-Lexikon. Biographisches und Bibliographisches Handbuch. 3. Bd. Basel 1992, S. 1854). Mit Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Bd. 1. Das System der theatralischen Zeichen. 4. Aufl. Tübingen 1998, S. 151, lassen sie sich Requisiten dahingehend von der dinglichen Bühnen- und Figurenausstattung als solche Objekte abheben, „an denen der Schauspieler Handlungen vollzieht“. Neuere theaterwissenschaftliche Ansätze, die dem Begriff ein heuristisches Potenzial beimessen, so die von Andrew Sofer: The Stage Life of Props. Ann Arbor 2003, S. viii, projektierte „propology“, betonen das theorieferne Eigenleben der Requisite. Bei dezidiert theoriegeleiteten Ansätzen wird der Requisitenbegriff durch den bereits durchgearbeiteten Dingbegriff modelliert. Zugleich wird das methodische Problem konstatiert, dass sich für dingliche Aktanten, so Erika Fischer-Lichte: Art. Dinge. In: Dies., Metzler Lexikon Theatertheorie. 2. aktual. u. erw. Aufl. Hrsg. v. Doris Kolesch u. Matthias Warstadt. Stuttgart 2014, S. 73–76, S. 74, „kaum zwischen ihrer Verwendung in künstlerischen Aufführungen und im sozialen Leben unterscheiden“ lässt. Vgl. hierzu auch Kathi Loch: Dinge auf der Bühne. Entwurf und Anwendung einer Ästhetik der unbelebten Objekte im theatralen Raum. Aachen 2009, S. 41‒61.  Walter Benjamins Trauerspiel-Studie von 1928 gilt als Gründungstext zur dramenpoetischen Erschließung der Requisite. Darin übernimmt und entfaltet er den Begriff des „fatale[n] Requisit[s]“, welchen Jacob Minor 1883 in seiner Studie Die Schicksalstragödie in ihren Hauptvertretern eingeführt hatte; vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928]. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt M. 1978, S. 113 f. Dazu Claude Haas: Fatale Requisiten in Tragödie und Trauerspiel. In: Handbuch Literatur und Materielle Kultur. Hrsg. v. Susanne Scholz u. Ulrike Vedder. Berlin u. Boston 2018, S. 197–205.  Benjamin: Trauerspiel, S. 114. Christiane Holm, Halle-Wittenberg https://doi.org/10.1515/9783110796278-007

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langt sei und seitdem die kreatürliche Bedingtheit des Menschen in Szene setze. Volker Klotz hingegen sieht die Requisite in der geschlossenen Form des klassischen Dramas als attribuiertes Zeichen im Dienste der Figurenzeichnung, während in der offenen Form des Dramas, somit verstärkt im 19. Jahrhundert, der taktile Kontakt mit den Dingen die Subjekt-Objekt-Grenzen verwische.4 Anders setzt Hans-Thies Lehmann an, indem er das dramatische Theater über die Dominanz von Leib und Wort verstanden wissen will, um erst im postdramatischen Theater des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine spielbestimmende „Wechselwirkung von menschlichem Körper und Objektwelt“5 zu konstatieren. Allen Entwürfen gemein ist, dass die mobilen Dinge auf der Bühne als Marker für Modernität bzw. Postmodernität gesehen werden. Unter diesen Vorzeichen fällt die Positionierung von Büchners Werk nicht schwer, denn gerade Woyzeck steht bekanntlich für eine Neukonzeption des Nebentextes zwischen Lessing und Brecht und somit auch der Notation einer materiellen Ausstattung des Stückes, welche die kreatürliche und soziale Bedingtheit der Figuren in Szene setzt.6 Die folgenden Überlegungen zu Leonce und Lena jedoch bewegen sich nicht im Windschatten solcher Meistererzählungen, sondern setzen umgekehrt bei den Gründen an, warum die Requisite zur Büchnerzeit nicht theoriefähig werden konnte. Deshalb werden im Folgenden jene Felder aufgesucht, die um 1800 als theatral uninteressant und überholt galten: Alltagsroutinen und Typenkomödien.7 Gerade aus dem Gewöhnlichen und Verbrauchten, so die Arbeitsthese, beziehen die Bühnendinge von Leonce und Lena ein Potenzial, das Büchner ästhetisch zu nutzen wusste.

2 Komische Dinge Dinge auf der Bühne werden besonders dann wahrnehmbar, wenn sie die Figuren nicht attributiv verstärken, sondern von ihnen abgekoppelt zu ihren „Widersa Vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. 8. Aufl. München 1976, S. 48–55, 134–136.  Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. 2. Aufl. Frankfurt M. 1999, S. 384; vgl. hierzu Loch: Dinge auf der Bühne, S. 44–46.  Vgl. Benedikt Jeßing: Dramenanalyse. Eine Einführung. Berlin 2015, S. 31; Ulrich Kittstein: Episches Theater. In: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. v. Peter W. Marx. Stuttgart 2012, S. 296–304, hier S. 296. Zur Entwicklung des Nebentextes zum konstitutiven Bestandteil des Dramas vgl. Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009.  Auf gattungspoetischer Ebene untersucht Arnd Beise: Büchners Leonce und Lena und die „Lustspielfrage“ seiner Zeit. In: GBJb 11 (2005–2008), S. 81–100, S. 83 f., Büchners produktive Auseinandersetzung mit der Typenkomödie, wobei die aufklärerische Form als ästhetisch überholt beiseite gelegt wird zugunsten einer Reformulierung der aristophanischen Form.

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cher[n]“ geraten.8 Dieses antagonistische Potenzial der Requisite beschreibt Volker Klotz in seiner Studie Gegenstand als Gegenspieler, das er vereinzelt in der Tragödie, prominent jedoch in der Komödie findet. Während sich die Tragödie idealtypisch auf das „fatale Requisit“ beschränkt, das über Leben und Tod entscheidet – man denke an Woyzecks Messer – setzt sich die Komödie mit der Breitseite der Dingkultur auseinander.9 Komödiendinge sind austauschbare Nebensachen, die einen Sitz im Alltag behaupten und somit unbemerkt die semantische Wahrnehmungsgrenze passieren können. Ihre Komik ist ihnen nicht anzusehen, sie entfaltet sich erst in ihrer Handhabung. Neben dem exzessiven Ausstellen von Alltagsroutinen bis zum Slapstick können solche Routinen jedoch auch strukturprägend für die Komödienhandlung werden. In diesem Sinne erhalten seit dem 18. Jahrhundert Alltagsobjekte wie Dosen, Fächer oder Uhren den Status von Titelfiguren.10 In der aufklärerischen Typen- und Verlachkomödie spielt die Requisite eine zentrale Rolle bei Figurenzeichnung und Intrigenplot, zugleich jedoch wird sie von den Theoretikern in den Entscheidungsraum der Theatermeister verlegt.11 Nicht zuletzt, weil der Fundus aufgrund der unkalkulierbaren Transport- und Aufführungsbedingungen der Wanderbühnen des 18. Jahrhunderts materiell beschränkt war, setzte sich ein überschaubarer Requisitenbestand durch, der nicht durch Regieanweisungen oder Figurenrede autorisiert sein musste.12 Das gilt insbesondere für die an das Kostüm gebundenen Requisiten wie Fächer oder Schnupftuch, deren permanenter Einsatz als bad practise in der Peripherie der normativen Texte greifbar wird. Dabei wird deutlich, dass Alltagsdinge einerseits durch ihre jeweilige außertheatrale Präsenz ein semantisches Kraftfeld mit sich führen und dass sie andererseits in der innertheatralen Logik einen intermateriellen Verweischarakter zur jeweils aktuellen Bühnenpraxis behaupten.13

 Volker Klotz: Gegenstand als Gegenspieler. Widersacher auf der Bühne: Dinge, Briefe, aber auch Barbiere. Wien 2000, S. 9.  Vgl. Haas: Requisiten, S. 199–201.  Vgl. Klotz: Gegenstand, S. 43 f.  Vgl. Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982, S. 32. Das folgenreiche Ausblenden der Requisite durch die Gottsched-Schule lässt sich poetikgeschichtlich damit erklären, dass – im Sinne des klassizistischen Reinheitsgebotes der Gattung – das Drama vornehmlich über die Figurenrede definiert wurde.  Vgl. Maurer-Schmook: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, S. 34 f.  Solchen intermateriellen Konstellationen lassen sich in aufklärerischen Komödien untersuchen, die sich in der Konstituierungsphase der Konsumkultur positionieren; vgl. Christiane Holm: Bücher, Fächer, Uhren. Zum Spiel der Dinge in Konsum-Komödien des 18. Jahrhunderts. In: Komödie als soziale und ästhetische Praxis im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Dirk Niefanger u. Maurizio Pirro. Hannover, erscheint 2023. Diese Tradition wird im romantischen Lustspiel durchaus weitergeführt, wie Clemens Brentanos Ponce de Leon zeigt, dessen Einfluss auf Büchners Leonce und

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3 Leonce und Lena Dass die Dinge von Leonce und Lena bislang auf wenig literaturwissenschaftliches Interesse stießen, hat mindestens drei Gründe: Erstens, das sei an dieser Stelle wiederholt, ist die Requisite in der Büchnerzeit nicht theoriefähig. Zweitens hat die unhinterfragte Abgrenzung von der aufklärerischen Typen- und Verlachkomödie den Effekt, die offenkundigen Referenzen auf das etablierte Spiel mit den Dingen abzukappen. Drittens führt die Aufmerksamkeit für die Referenzen an das romantische Lustspiel, insbesondere auf die exzessive Intertextualität und Wortspielerei dazu, die materielle Ebene des Spiels auszublenden.14 Im Fokus auf die Radikalität, mit der sich ausgerechnet eine Komödie der Langeweile widmet, wird zumeist übersehen, dass die Figuren in und neben ihren intertextuell überdeterminierten Redeakten häufig mit Dingen befasst sind. Tatsächlich haben sie mit ihrer materiellen Umgebung „alle Hände voll zu tun“, wie Leonce seinen ersten Redeakt eröffnet. (Leonce und Lena I/1, MBA 6, S. 129) Zudem ist permanent die Rede von der leiblichen Aneignung des Naheliegenden, entsprechend sind zahlreiche Hinweise auf Hände und Füße, auf Stirn und Wangen, Augen, Nase und Lippen zu verzeichnen. Einen ähnlichen Befund machte Johannes Lehmann mit Blick auf Dantonʼs Tod und hat dies dramentheoretisch mit einem Wiedereintritt der Leiblichkeit in die romantische Dramentheorie kontextualisiert.15 Im Unterschied zu Dantonʼs Tod jedoch bleibt die Rede vom Handgreiflichen in Leonce und Lena performativ im Raum des Naheliegenden verankert.

Lena außer Frage steht. Hier findet sich ein raffiniertes Spiel mit etablierten Theater-Dingen, nicht allein mit Briefen, Ringen und Schnupftüchern, sondern auch mit dem Theaterschwert, das, war der Galanteriedegen längst aus der Kleidermode verschwunden, noch einen Platz im Kostüm behauptete, wie etwa in den Kupferstichen von Johann Jakob Engels Ideen zur Mimik zu sehen. Der Witz des Theaterdegens von Ponce de Leon besteht nun darin, dass dieses anachronistische Bühnending in die Interaktion eingebunden wird, wenn Valerio ihn zieht wie eine Waffe, um Ordnung herzustellen.  Einschlägige Studien haben gezeigt, wie die verdichteten Intertextualitäten und eruptiven Wortkaskaden der Figurenrede das gattungstypisch Komische generieren. In dieser Sichtweise erscheinen die Figuren weniger als Akteure in einem materiellen Raum, sondern vielmehr als Stimmen. Vgl. hierzu Bernhard Greiner: Abwege des Komischen als Weg zum Theater: Büchner, Leonce und Lena. In: Ders.: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. Zweite, aktualisierte u. ergänzte Aufl. Tübingen u. Basel 2006, S. 282–298, S. 287; Arnd Beise: Leonce und Lena. In: Büchner Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Roland Borgards u. Harald Neumeyer. Stuttgart 2009, S. 75–89, S. 85.  Vgl. Johannes F. Lehmann: Mit Händen und Füßen. Büchner und die romantische Komiktheorie (von Stephan Schütze). In: Georg Büchner und die Romantik. Hrsg. v. Roland Borgards u. Burghard Dedner. Berlin 2020, S. 212–136.

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Gemäß der Gattungskonvention der Komödie entspricht die im Nebentext explizite oder im Haupttext implizite Requisite dem, was ohnehin in jedem Theaterfundus vorhanden ist: ein Ring, ein Schriftstück und jede Menge Schnupftücher, verschiedene Kleidungsstücke, ein Reisesack und Masken. Neben diesen im Kostüm gebundenen Objekten sind Essensdinge – Weinflaschen, Gläser und Bratenstücke – genannt sowie wenige überall verfügbare Naturdinge: Tannenzweige, Pflückblumen und eine Handvoll Sand. Im Folgenden werden drei Requisiten untersucht, die jeweils auf eine Theaterkarriere zurückblicken können und zugleich in eine vitale Alltagspraxis eingebunden sind: Das Schnupftuch, das explizit in den Regieanweisungen verzeichnet ist, die Blume, die implizit in der Figurenrede aufgehoben ist, und die Uhr, die eine schwer fassbare Existenz zwischen Geste und Rede führt.

4 Das Schnupftuch oder Geist und Gefühl Wie Fächer und Galanteriedegen erweiterte auch das Schnupftuch im 18. Jahrhundert seinen Einzugsbereich von der höfischen in die bürgerliche Sphäre.16 Erst im frühen 19. Jahrhundert etabliert es sich als sozial übergreifendes Accessoire eines kultivierten Lebensstils. Im Sinne seiner historischen Semantik wird es in Dantonʼs Tod als eindeutiger Beweis einer nicht proletarischen Herkunft vorgeführt, um einem Schnupftuchbesitzer den Prozess zu machen.17 Die Praktiken, die um 1800 mit dem Schnupftuch notiert und reflektiert werden, beziehen sich – seinem Namen zum Trotz – nicht allein auf die Nase, sondern zunehmend auf Stirn und Auge. Während das Schnupftuch als Nasentuch eine unangenehme Körperlichkeit dezent verbergen muss, soll das Schweißtuch des Redners seine Anstrengung und das Tränentuch des Empfindsamen seine Gefühle ausstellen. Bezeichnenderweise  Vgl. Martin Beutelspacher: Lichter an der Oberlippe. In: Menschen, Nasen, Taschentücher. Ausst.-Kat. Deutsches Textilmuseum Krefeld. Hrsg. v. Gabriele Donder-Langer u. Harry Michael Zwergel. Kassel 1998, S. 19–25, insb. S. 19–23.  Die nur knapp abgewendete Hinrichtung (Danton’s Tod I/2, MBA 3.2, S. 11) zeigt, dass auch ein Schnupftuch das Potenzial zum „fatalen Requisit“ hat. Damit ist eines der berühmtesten TragödienRequisiten aufgerufen: Desdemonas Taschentuch. Beide Trauerspiele verorten das Tuch in der aristokratischen Kultur, wobei das Schnupftuch des namenlosen Adeligen aus Danton’s Tod ein Statussymbol ist, Desdemonas Taschentuch jedoch als unverwechselbare Gabe mit einer eigenen Objektgeschichte seine tragische Dimension erhält (vgl. hierzu Michael Niehaus: Das Buch der wandernden Dinge. München 2009, S. 242–243). Angesichts der gattungspoetischen Markierung der Requisite beziehen beide Fälle ihre Tragik insbesondere daraus, dass sie keine tragödientypischen Tötungswerkzeuge darstellen, sondern vielmehr auf den komödiantischen Kontext verweisen, gerade aber ein solches harmlos-alltägliches Textilobjekt zum Auslöser eines Mordes werden kann.

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etabliert sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts parallel die Bezeichnung des Taschentuchs, welche den Bezug vom Körper in die Kleidung verlagert und das Objekt als textiles Accessoire ausweist. Im Journal des Luxus und der Moden, in dem solche Tücher vorgestellt und als Bestandteil der Garderobe lässig in der Hand gehalten werden,18 debattiert August Böttiger 1798 die Frage: Wo steckten die Griechinnen und Römerinnen ihre Schlüssel und Taschentücher hin?19 Der Aufsatz wurde 1837 in seinen Altertumswissenschaftlichen Schriften erneut gedruckt. Unvorstellbar, so Böttigers Forschungsergebnisse zum antiken Taschentuch, dass Frauen wie Männer von Stand öffentlich die Nase putzten, da Nasensekrete auf schlechte Körperpflege und Krankheit schließen ließen. Sehr wohl aber wurden Schweißtücher bei Männern nicht nur akzeptiert, sondern auch gefordert, sobald sie die Rednerbühne betraten, wie durch Quintilians Rhetorik autorisiert.20 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierte sich das Schnupftuch nicht nur als Alltagsobjekt, sondern verdrängte als geschlechterübergreifendes Accessoire die ehemals höfischen Attribute, den weiblichen Fächer und den männlichen Galanteriedegen sowohl in der Mode als auch auf der Bühne. Böttiger konstatiert Ende des Jahrhunderts ein theatrales Eigenleben des kleinen Tuchs: „Was sollten manche unserer Schauspieler und Schauspielerinnen mit den Händen anfangen, wenn ihnen das Schnupftuch genommen würde?“21 Und im Dienste der Freiheit der  Vgl. Claudia Gottfried: Nur weiß muß es sein. Taschentücher in der Modegrafik des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Taschentücher Menschen, Nasen, Taschentücher. Ausst.-Kat. Deutsches Textilmuseum Krefeld. Hrsg. v. Gabriele Donder-Langer u. Harry Michael Zwergel. Kassel 1998, S. 99–109. So eröffnet das Journal des Luxus und der Moden das junge Jahrhundert 1801 in polemischer Abgrenzung von der höfisch geprägten Mode von 1701 nicht zuletzt durch das Taschentuch als Symbol des „neuen Lebensstils“ (Gottfried: Nur weiß muß es sein, S. 105), da die Kleidung den Körper nicht verunklart, sondern als Naturform ausstellt. So heißt es bei Anon. [Friedrich Justin Bertuch]: Titel-Kupfer. Moden von 1801. In: Journal des Luxus und der Moden (Jan. 1801), S. 60–61, S. 60: „Sie [die Frau der neuen Zeit] ist so ganz von allem Irdischen befreyt, da sie durchaus die schöne Contoure des Halbnackten durch keine angehängte Tasche unterbricht, daß sie gar nichts von den Taschenbedürfnissen der alten Zeit bey sich führt, sondern ihr Schnupftuch beständig in der einen Hand […] trägt.“  August Böttiger: Wo steckten die Griechinnen und Römerinnen ihre Schlüssel und Taschentücher hin? In: Journal des Luxus und der Moden (Nov. 1798), S. 606–621, hier S. 613.  Böttiger: Taschentücher, S. 613. In diesem Sinne wertet auch Angelika Starbatty: Aussehen ist Ansichtssache. Kleidung in der Kommunikation der römischen Antike. München 2010, S. 85, Quintilians Plädoyer für das Schweißtuch aus: „Plinius soll nämlich die Anweisung gegeben haben, das Taschentuch beim Abtrocknen der Schweißperlen von der Stirn so zu verwenden, dass die Haare nicht in Unordnung gerieten“, während sein Kritiker Quintilian ein performatives Ausstellen von „Schweiß und Erschöpfung“ nicht nur als „schicklich“, sondern auch als „effektiv“ einschätzte, da „dies die Leidenschaft der Situation verdeutliche“ und somit die „Überzeugungskraft der Rede“ steigere.  Böttiger: Taschentücher, S. 612. Bemerkenswert ist, dass in der Neuauflage des Textes von 1837 dieser Seitenhieb auf die Bühnenpraxis getilgt ist. Das um 1800 überstrapazierte Schnupftuch war offensichtlich inzwischen weitgehend von der Bühne verschwunden.

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Hände verbot Johann Wolfgang Goethe das Requisit 1803 in seinen Regeln für Schauspieler: „Der Schauspieler lasse kein Schnupftuch auf dem Theater sehen noch weniger schnaube er die Nase noch weniger spucke er aus es ist schrecklich innerhalb eines Kunstproduktes an diese Natürlichkeiten erinnert zu werden.“22 Auch August Wilhelm Iffland vermerkt das Schnupftuch in seinem Almanach für Schauspieler 1808 als bad practise. Dabei fokussiert er allerdings weniger auf Hände, Stirn oder Nase, sondern auf die Augen, wenn er das Tränentuch im Rührstück als „Nothflagge“ verunglimpft: „so ist auch keine Rettung, es wird geweint vom Anbeginn bis ans Ende, und nicht nur verkündet dieses Unglückszeichen, dass es so ist, sondern es wird oft geweint, blos weil das Tuch noch wehet und nicht eingezogen werden soll.“23 Das Schnupftuch, so der Konsens der Theaterkritik um 1800, bringt nicht nur Körperlichkeit in unangemessener Weise auf die Bühne, sondern es hat innerhalb der Spielpraxis eine Wirkmacht entfaltet, die den Aussagegehalt von Stücken nachhaltig verändert. Das Schnupftuch in Leonce und Lena ist, entsprechend der Alltagskultur des beginnenden 19. Jahrhunderts, kein höfisches und bürgerliches Privileg mehr, sondern es wird ebenso bei den „Bauern im Sonntagsputz“ (III/2, MBA 6, S. 148) vorausgesetzt. In diesem Sinne werden jene vom Schulmeister unterwiesen, „schneuzt Euch die Nasen nicht mit den Fingern“ (III/2, MBA 6, S. 148) und der Zeremonienmeister legt die Anordnung nach: „Denjenigen, welche kein Schnupftuch bei sich haben, ist das Weinen jedoch Anstands halber untersagt.“ (III/3, MBA 6, S. 151) Das Schnupftuch steht also für eine nicht selbstverständliche, jedoch projektierte Kulturstufe aller Stände. Den feinen Unterschied hingegen markieren etwa die Manschettenknöpfe und der Schal, welche die höfischen Automaten als edle, gebildete und moralische Vertreter innerhalb ihres Standes ausweisen (vgl. III/3, MBA 6, S. 152). Darüber hinaus integriert Büchner auch das theatrale Eigenleben dieses Objektes. Der burleske Narr Valerio und der melancholische Narr Leonce24 treten sich erstmals mit einer Erkennungsgeste gegenüber, die in der Folgeszene ebenso prominent von König Peter in seiner Regierungspraxis eingesetzt wird: „legt den Fin Zugleich räumt Johann Wolfgang Goethe: Regeln für Schauspieler. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe). Hrsg. v. Karl Richter. Bd. 6.2. München 1988, S. 703–725, hier S. 704, ein, dass ein Schauspieler nicht gänzlich auf das Tuch verzichten muss, um die unvermeidbaren Einbrüche der „Natürlichkeit“ aufzufangen: „Man halte sich ein kleines Schnupftuch, das ohnedem jetzt Mode ist, um sich damit im Notfall helfen zu können.“  August Wilhelm Iffland: Almanach für Theater und Theaterfreunde auf das Jahr 1807. Berlin 1807, S. 199 f.  Andrea Bartl: Über die Langeweile: Büchners Leonce und Lena. In: Dies.: Die deutsche Komödie. Metamorphosen des Harlekin. Stuttgart 2009, S. 154–166, hier S. 163, hat gezeigt, dass es sich bei Leonce und Valerio um zwei komplementär aufeinander bezogene „Metamorphosen des Harlekin“ handelt.

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ger an die Nase“ (I/1 u. 2 MBA 6, S. 131, 133). Mit dieser in ihrer Konventionalität albernen Bühnengeste des Nachdenkens ist zugleich der Schauplatz des Schnupftuchs exponiert. In diesem Sinne, als Fingerzeig zum Nachdenken, findet König Peter beim Ankleiden einen Knoten in seinem Schnupftuch.25 Nach quälender Ergründung in dialogischen Wiederholungsschleifen mit dem Kammerdiener wird klar, dass der Knoten für das Volk steht. In dem Moment, in dem das Tuch von seiner Merkfunktion entbunden ist, wird es zum zentralen Requisit einer RegierungsChoreographie, die der König seinem Staatsrat anordnet: „Nehmen Sie doch auch Ihre Schnupftücher und wischen Sie sich das Gesicht. Ich bin immer so in Verlegenheit, wenn ich öffentlich sprechen soll.“ (Leonce und Lena I/2, MBA 6, S. 133) Die Regierungsarbeit widmet sich nicht dem Volk, sondern der Rede an das Volk. Da diese Rede nicht in Gang kommt, wird sie von einer rhetorischen Geste ersetzt, welche die Anstrengung des Redenmüssens sichtbar macht. Zudem vervielfältigt der König seine Schnupftuch-Geste durch den Staatsapparat, so dass sie entpersonalisiert wird und somit gänzlich leer läuft. Das Theater-Tuch tritt in Erscheinung, um vorzuführen, dass Gedanken und Gesten sowie Rede und Körper auseinandergefallen sind. Neben der Geistesarbeit werden auch Gefühlsäußerungen durch das Schnupftuch in Szene gesetzt. Als Leonce im hohen Ton anfängt, „mit der Melancholie niederzukommen“ (II/2, MBA 6, S. 145), und somit einen Topos der Literaturproduktion vorführt, äußert Valerio medizinische Bedenken. Er sieht Leonceʼ Narrentum nicht mehr im ästhetischen Welttheater aufgehoben, sondern sich auf das psychiatrische Narrenhaus zubewegen: „Ich sehe ihn schon auf einer breiten Allee dahin, an einem eiskalten Wintertag den Hut unter dem Arm, wie er sich in die langen Schatten unter die kahlen Bäume stellt und mit dem Schnupftuch fächelt. – Er ist ein Narr!“ (II/2, MBA 6, S. 145) Der Hut als bürgerliche Insigne wird vom Schnupftuch flankiert, das theatral wie ein Fächer eingesetzt wird, eine perfekte Aufführung genau jener „Nothflagge“, wie sie Iffland beschrieben hat. In einem Setting winter-

 Die Rede ist freilich nicht von einem Knoten, sondern von einem „Knopf“, den König Peter „in [sein] Schnupftuch zu knüpfen geruhte“ (I/2, MBA 6, S. 132). Ist auch die Wortbedeutung als Knoten kontextuell sowie mundartlich gedeckt (vgl. die Erläuterungen in MBA 6, S. 447), so schwingt doch auch die konventionelle Wortbedeutung des Knopfes mit. Denn im Vollzug der Ankleideszene ist davon die Rede, dass „zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft“ sind (MBA 6, S. 132). Diese Knöpfe moderieren einen semantischen Überschuss an, so dass der dritte „Knopf“ als gänzlich funktionsloses Gebrauchsding metonymisch auf das Ankleiden rückverweist. Genau an diesem Punkt wird die allegorisierende Deutung der Kleidungsstücke als „Entfaltung philosophischer Systeme“ abgebrochen (MBA 6, S. 445). In diesem Sinne argumentiert auch Doerte Bischoff: Büchners Kleider. Vestimentäre Inszenierung und Materialität der Zeichen. In: GBJb 12 (2009–2012), S. 179–203, hier S. 184 f., bei ihrer Lektüre der Ankleideszene, wonach die „schwer zu kontrollierende Dinglichkeit“ sowohl der idealistischen als auch der materialistischen Position, welche durch die allegorische Rede des Machthabers aufgerufen werden, die Grundlage entzieht.

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licher Unbehaustheit macht das ostentative Fächeln viel Wind um Gefühle und kommentiert zugleich die Melancholie-Rede des Prinzen.26 Sowohl die rhetorische Gedankengeste im Staatsrat als auch die affektive Gefühlsgeste vor dem Narrenhaus zeigen das Ende der Rede an, weil sie weder von Regierungsarbeit noch von Kunstproduktion getragen sind. Die Schnupftücher können weder Gedanken noch Gefühle vermitteln, sehr wohl aber Gelächter erzeugen, so dass das diskreditierte Requisit sein Comeback in der Komödie feiern kann.

5 Die Blume oder Reden und Schweigen Nach dem Taschentuch als einem beiden Geschlechtern zugeordneten Requisit werden im Folgenden zwei geschlechtlich codierte Requisiten in den Blick genommen, Lenas Blumen und Leonceʼ Uhren. In den vergleichsweise kurzen Auftritten der weiblichen Titelfigur ergreift diese selten das Wort und verstummt in der letzten Szene vollends.27 Antonia Eder hat darauf hingewiesen, dass Lenas vornehmliche Handlungsform das Abwarten und Abwehren von Kommunikation ist und diese als weibliche Spielart der Müdigkeit reflektiert.28 Dabei zeigt Lena sich keinesfalls statuarisch und verschlossen, vielmehr ist sie permanent mit ihrer vegetabilen Umgebung befasst, oder, nach Goethes griffiger Formel, „in einem Gespräche mit  Antonia Eder: Die Macht der Müdigkeit. Büchners Leonce und Lena. In: Enttäuschung und Engagement. Zur ästhetischen Radikalität Georg Büchners. Hrsg. v. Hans Richard Brittnacher. Bielefeld 2014, S. 131‒151, hier S. 147, verweist auf den Zusammenhang von Melancholie und Schauspielerei, der in der Rede von der Geburt der Melancholie durch den zuvor anzitierten Hamlet-Monolog im Raum steht. Interessant ist zudem der Abgleich mit Leonceʼ erster Selbstbeschreibung als literarisch informierter Melancholiker, dessen ironisches Potenzial sich intertextuell erschließt, wie Martina Wernli: Vorbeiziehende Wolken. Georg Büchner, Melancholie und Romantik. In: Georg Büchner und die Romantik. Hrsg. v. Roland Borgards u. Burghard Dedner. Berlin 2020, S. 183–198, gezeigt hat.  Aus feministischer Perspektive wurde Lenas Sonderstellung in der Personage betont und durch Christa Wolf in ihrer Büchner-Preis-Rede von 1980 dahingehend gewendet, dass Lena in die „weiblichen Opferfiguren“ in Büchners Dramen eingereiht und ihr zugleich der Sonderstatus einer „natürliche[n] Ganzheit“ zugesprochen wurde, eine Interpretation also, welche eine naturgegebene Geschlechterbinarität voraussetzt (vgl. Carola Hilmes: Christa Wolf. In: Büchner Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Roland Borgards u. Harald Neumeyer. Stuttgart 2009, S. 352–353, hier S. 352). Lesarten, welche der Lena-Figur aufgrund ihres Geschlechts eine Sonderstellung einräumen, werden nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass sie anders als ihre Begleitfigur, die Gouvernante, redend wie handelnd keine Komik erzeugt, und somit gar nicht erst in den Blick gattungspoetischer Interpretationen kommt. Vgl. Serena Grazzini: Identität und Komik in Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena. In: GBJb 14 (2016–2019), S. 219–231.  Vgl. Eder: Müdigkeit, S. 140 f.

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den Dingen“.29 Der in der Regieanweisung notierte „Brautschmuck“ des erstens Auftritts wird von der Prinzessin als „Kranz im Haar“ angesprochen, ihrer Gouvernante nach besteht er aus „blitzenden Steinen“, während sie selbst sich als Leiche mit „Rosmarin im Haar“ (I/4, MBA 6, S. 140) imaginiert. Im Zuge dieser Gegenüberstellung von Stein und Pflanze fürchtet Lena entsprechend der reflektierenden Optik der Edelsteine, mit der Hochzeit zu einer „hilflose[n] Quelle“ zu werden, „die jedes Bild, das sich über sie bückt, in ihrem stillen Grund abspiegeln muß“, während sich die Blumen „öffnen und schließen, wie sie wollen“ (I/4, MBA 6, S. 140). Damit beschreibt sie den Identitätsspielraum der höfisch privilegierten Frau vornehmlich in ihrer Funktion als Projektionsfläche, welche die narzisstischen Identitäten der Männer stabilisieren hilft, und setzt die Blumen als selbstbestimmte Existenz dagegen.30 Interessanterweise imaginiert Lena ihre ideale Existenzform nicht außerhalb des sozialen Raums, wenn sie sich in einer „Scherbe“ (II/3, MBA 6, S. 145), also als Topfblume in einem Garten verortet, d. h. nicht in der unberührten, sondern in der eingehegten Natur, und somit im alltäglichen Kontakt mit Menschen. So konventionell die Relation von Frau und Pflanze auf den ersten Blick scheint, so wird hier ein forciertes Muster durchkreuzt: die sogenannte Blumensprache. Diese ist eine seit Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgreiche, an Frauen adressierte Textsorte, in welcher der Mitteilungsgehalt von verschiedenen Blumen in ihrer Einbindung in spezifische Gesten erläutert wird.31 Begründet wird diese dingliche Mitteilungsform als weibliche Camouflage im orientalischen, streng überwachten Harem.32 In der tonangebenden, mehrfach übersetzten und auflagenstarken Blumensprache von Charlotte de Latour wird das Verfahren als ebenso unterhalt-

 Johann Wolfgang Goethe: Reisetagebuch für Frau von Stein. In: Ders.: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe). II. Abt., 3. Bd. Hrsg. v. Karl Eibl. Frankfurt M. 1992, S. 67.  Burghard Dedner, Arnd Beise und Eva-Maria Vering erschließen einen höfischen Kontext für Lenas exponierte Identifikation mit der Pflanzenwelt in der Panegyrik im Zuge der 1834 ausgerichteten Darmstädter Hochzeitsfeier von Großherzog Ludwig III. von Hessen mit Mathilde Karoline von Bayern und betonen die ironische Überzeichnung des „zeitgenössische[n] Muster[s] der Frauenwahrnehmung und des Frauenlobs“. (MBA 6, S. 209) Gideon Stiening: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen politischen und literarischen Werken. Berlin u. Boston 2019, S. 649, interpretiert Lena als „Ideal der romantischen Kindfrau“ mit einer „vegetabile[n] Seele“, was er durch die zeitgenössische Debatte um das Seelenleben der Pflanzen untermauert. So einleuchtend diese wissensgeschichtlichen Beziehungen sind, so werden Passagen wie die oben zitierte Spiegelszene, in der die Figur sich als Objekt reflektiert, nicht einbezogen, sondern generell behauptet, dass „ihr bedeutende Einsichten in den Mund gelegt werden“.  Vgl. Isabel Kranz, Alexander Schwan, Eike Wittrock: Einleitung. In: Floriographie. Die Sprache der Blumen. Hrsg. v. Dies. Paderborn 2016, S. 9–31, hier S. 17–21.  Vgl. Gerhard F. Strasser: „Lettres Muettes“. Zu den frühesten Zeugnissen über die orientalische Blumensprache, Selam genannt. In: Floriographie, S. 37–61.

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same wie widerständige Form an einem von Männern dominierten Ort beschrieben: „Dieser sinnreiche Wortwechsel, wodurch nie ein Geheimnis entschleiert, bringt oft plötzlich Leben, Regsamkeit und Interesse in diesen Aufenthalt der Traurigkeit, wo gewöhnlich nur Gefühllosigkeit und Langeweile ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben.“33 Wenngleich sich die Europäerin auch anders äußern kann, wird die orientalische Blumensprache dennoch als quasi-natürliche Ausdrucksform importiert, mit der Frauen in eine Liebeskommunikation eintreten und somit aktiv an ihren Geschicken mitwirken können, denn „[d]ie Kunst, Liebe einzuflößen, besteht bei den Frauen darin, sich geschickt zurückzuziehen“.34 Ganz in diesem Sinne provoziert Gretchen an einer Sternblume zupfend „Er liebt mich – Nicht – Liebt mich – Nicht – / […] Er liebt mich!“ Fausts Bekenntnis: „Ja mein Kind! Laß dieses Blumenwort / Dir Götter-Ausspruch sein. Er liebt dich!“35 Lena hingegen ist nicht an Mitteilung gelegen, sie behält ihre Blumen für sich. Sie scheint sich in ihrer Ansprache der Pflanzenwelt, neben Rosmarin auch Myrte, Oleander, Fiederblättchen, Kukuksblume und Nachtviole, eher an einer anderen Wissensform mit Lizenzen für weibliche Teilhabe auszurichten, der „Frauenzimmerbotanik“.36 Vor diesem Hintergrund ist Lenas implizite, nur in ihrer Rede manifeste Requisite aussagekräftig: Im heimischen Garten vor der Abreise legt sie einen Ring ab, der umgehend aus dem Blickfeld verschwindet. In der Folgeszene, der ersten Reisestation kurz vor dem Zusammentreffen mit Leonce, betrachtet Lena einige im heimischen Garten gepflückte Blumen, die erst „kaum welk“ (II/1, MBA 6, S. 142) sind. Das Naheliegende bleibt aus: keine Blumen für den Bräutigam. Das dingliche Mitteilungsmedium der Liebesbeziehung schlechthin, die Pflückblume, bleibt in den Händen der weiblichen Hauptfigur, die auch nicht daran denkt, sie in eine Blumenvase für die Zimmerdekoration oder in eine Botanisiertrommel für das Herbarium zu überführen. Gerade in dem Festhalten an der vermeintlich konventionellen Blu-

 Charlotte de Latour: Die Blumensprache oder die Symbolik des Pflanzenreichs. Übersetzt von Karl Müchler. Berlin 1820, S. XI. Das Original Le Langage des fleurs erschien 1818 und wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt.  Ebd., S. XII.  Johann Wolfgang Goethe: Faust. In: Ders.: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe). I. Abt., 7.1. Bd. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1994, S. 136. Zum Goethe’schen Konzept einer symmetrischen Subjekt-Objekt-Beziehung vgl. Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen. Ausst.-Kat. Klassik Stiftung Weimar. Hrsg. v. Sebastian Böhmer u. a. Berlin 2012.  Sophie Ruppel: Botanophilie. Mensch und Pflanze in der aufklärerisch-bürgerlichen Gesellschaft um 1800. Weimar u. a. 2019, S. 242–269, hier S. 242, untersucht die Konjunktur der – keinesfalls nur an Frauen adressierten – Textsorte „Frauenzimmerbotanik“ im Feld der Botanophilie als einer Wissenspraxis, in der die Lizenzen weiblicher Teilhabe an Forschung und Autorschaft beträchtlich erweitert wurden.

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menrequisite, dem Nicht-Eintritt in mögliche Aktionsfelder als Liebende oder Botanikerin behauptet Lena einen Spielraum selbstbestimmten Handelns.

6 Die Uhr oder Leib und Ding Leonce und Lena sind gleichermaßen Konsumverweigerer. Während die anderen Figuren reichlich konsumieren: König Peter Luxuskleidung, die Gouvernante Modeliteratur und Valerio Hofmanns-Kost, befasst sich Lena mit Blumen und Leonce mit sich selbst. Leonce führt sich als virtuoser Selbstdarsteller ein, der sich „zu seiner brillanten Solonummer applaudiert“.37 Er scheint programmatisch frei von Requisiten und ausschließlich mit seinen Händen befasst, wie Robert Wilson es 2003 in seiner Berliner Inszenierung eindrücklich umsetzte. Jedoch gibt es ein dramaturgisch pointiert positioniertes, nämlich im ersten und letzten Redeakt verhandeltes Bezugsobjekt seines Tuns: die Uhr. Die Uhr wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts vom exklusiven Artefakt zum omnipräsenten Gebrauchsobjekt, wobei die sogenannten Leibuhren die zeitliche Orientierung von den öffentlichen Plätzen entkoppelten und individuelle Zeitökonomien ermöglichten.38 Leonce ist intertextuell durch wörtliche Anleihen aus und motivische Anspielungen auf aufklärerische Typenkomödien profiliert, deren zentrales Requisit die Uhr ist: Johann Elias Schlegels Der geschäftige Müßiggänger, Hippels Der Mann nach der Uhr und dessen anonyme Adaption Mit dem Glockenschlag zwölf.39 In allen Stücken tritt die Uhr mit ihren permanenten Zeitansagen als mächtiger Regisseur, mitunter auch als übermächtiger Gegenspieler auf.40 Allen Komödien gemein ist zudem, dass dieses strikte Zeitregime keinesfalls zur Effizienzsteigerung der Arbeit führt, sondern vielmehr zu einer sinnlichen Fixierung auf das Objekt und einer selbstbezüglichen Form von emsiger Zeitverschwendung.41 In den genannten Komödien wie auch anderen zitierten Szenen bei Shakespeare und Sterne

 Rudolf Drux: Die Selbstreflexion des Theaters auf der Bühne. Zur romantischen Ironie in „modernen“ Komödien von L. Tieck, Ch. D. Grabbe und G. Büchner. In: Geist und Literatur. Hrsg. v. Edith Düsing. Würzburg 2008, S. 137–154, hier S. 153.  Vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen. Köln 2007, S. 277–280, 406–414, 440–442.  Vgl. die Erläuterungen in MBA 6, S. 432, 528.  Vgl. Bernhard Jahn: Gebundene Zeit in der Komödie des 18. Jahrhunderts. Einheit der Zeit und Zeitökonomie bei Johann Elias Schlegel und Theodor Gottlieb von Hippel. In: Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. v. Jan Standtke. Heidelberg 2014, S. 91–99.  Vgl. Holm: Bücher, Fächer, Uhren.

Rede und Requisite

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werden die Uhren-Typen im Sinne einer mechanistischen Anthropologie als verdinglichte Menschen gezeichnet.42 Im Anschluss an diese Konzeption wird die Automaten-Hochzeit mit dem technikgeschichtlich korrekten Hinweis auf die Uhrfedern „unter dem Nagel der kleinen Zehe“ anmoderiert (III/3, MBA 6, S. 152). Leonceʼ Neuformulierung des geschäftigen Müßiggangs besteht darin, dass er das Zeitmessen als leibliche Handlung mit Händen und Spucke projektiert: Sehen Sie, erst habe ich auf den Stein hier dreihundert fünf und sechzig Mal hintereinander zu spuken. Haben sie das noch nicht probirt? Thun sie es, es gewährt eine ganz eigne Unterhaltung. – Dann, sehen Sie diese Hand voll Sand? (Er nimmt Sand auf, wirft ihn in die Höhe und fängt ihn mit dem Rücken der Hand wieder auf) – jetzt werfʼ ich sie in die Höhe. Wollen wir wetten? Wieviel Körnchen habʼ ich jetzt auf dem Handrücken? Grad oder ungrad? (I/1, MBA 6, S. 130)

Diese Eingangsszene wurde sowohl als aristokratische „Geste der sozialen Überheblichkeit“43 gedeutet als auch als Demonstration „bürgerliche[n] Arbeitsdenken[s]“ als einer „Tätigkeit um ein leeres Zentrum (das immer vertagte Ziel)“,44 aber auch als philosophisches, „ironisches Weiterspinnen“45 der Pascalʼschen Wette zur Existenz Gottes. Betrachtet man diese Szene als Zeitmess-Performance, dann kommt in den Blick, dass Leonce selbst, ähnlich wie bei Lenas Identifikation mit der Blume, die Rolle des Instruments einnimmt. So entwirft er spuckend zunächst ein kalendarisches Jahresraster von 365 Tagen, um sich dann dem unmittelbar erfahrbaren Zeitverlauf des Hier und Jetzt zuzuwenden, indem er als leibhaftige Sanduhr agiert. So wie die 365 feuchten Flecken auf dem Stein nicht von Dauer sein werden, wird auch das Messen mit der Sanduhr unterlaufen, indem das Material nicht gleichmäßig rieselt, sondern willkürlich geworfen wird, nicht im geschlossenen System des Stundenglases bleibt, sondern sich verstreut. Zudem werden die Sandkörner nicht als Mengenangabe des Mehr oder Weniger, sondern wie eine Schicksalsmünze als Entweder-Oder ausgewertet.46 Nachdem Leonce in seinem ersten Redeakt diese  Alexander Honold: Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel 2013, S. 133–142, entfaltet die Zeitreflexion in den intertextuellen Bezügen zu Shakespeares As you like it, indem er die Melancholie mit einem mechanistischen Menschenbild korreliert. Leonceʼ sarkastische Erwartung der Wanduhr des alten Shandy (I/3, S. 139) zitiert die Koppelung von ehelicher Sexualität und Instrumentenwartung in Laurence Sternesʼ Tristram Shandy.  Leonce, so interpretiert Honold: Zeit schreiben, S. 138, die Szene, „spuckt […] symbolisch auch auf den Lakaien, mit dem er spricht“, demonstriert seine „Standesüberlegenheit“ in ostentativer Zeitverschwendung.  Greiner: Abwege des Komischen, S. 284.  So die Erläuterungen in MBA 6, S. 431.  Die gestische Zitation von zugleich zwei Dingen, einerseits der Sanduhr und anderseits der Münze, lässt sich auch dahingehend deuten, dass hier Zeit und Geld miteinander verkoppelt werden. Somit erfolgt in Leonceʼ Wurfdemonstration die Verdichtung eines der Hauptmotive der

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Christiane Holm

„ganz eigne Unterhaltung“ konzipiert hat, stehen Kalender und Uhr auch im Zentrum seines letzten Redeakts. In seiner – in nonverbaler Absprache mit Lena – vorgebrachten Regierungserklärung wird die kulturpolitische Förderung von Zeitvertreib im Theater verworfen, um eine neue Form der Unterhaltung zu installieren: „Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüthe und Frucht.“ (III/3, MBA 6, S. 154) Uhren und Kalender werden durch Blumen ersetzt, zugleich wird aber die vermeintliche Feminisierung und Naturalisierung diskursiv unterlaufen. Denn die Zeitmessung wird nicht mehr am eigenen Leibe vollzogen, sondern an eine Natur delegiert, die durch „Brennspiegel“ mechanisch manipuliert ist, „daß es keinen Winter mehr giebt […] und wir das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeern stecken.“ (III/3, MBA 6, S. 154) Leonce Requisite ist mit „Sand“ im Nebentext manifest und somit schwerlich als Ding zu bezeichnen, sondern als etwas, was sich der Greifbarkeit entzieht und sich im Bühnenraum verstreut, wie er gestisch demonstriert. Während die intertextuellen Verweise die Uhr als despotischen Agenten profilieren, setzt Büchners Figur ihre eigenen Zeitansagen dagegen. Die Uhr ist somit kein Gegenspieler des Protagonisten, sondern der Protagonist sein eigener Uhrmacher.

7 Resümee In Leonce und Lena interessiert Büchner nur am Rande das „von materiellen Bedürfnißen gequälte Seyn“ (MBA 5, S. 17), wie er es in Lenz nennt und in Woyzeck ausführt. Die sozial privilegierten Titelfiguren könnten aus dem Vollen schöpfen und interessieren sich dennoch wenig für die Möglichkeiten des höfischen Luxus sowie des modernen Konsums. Folglich fehlt die spannungsvolle Grundkonstellation, welche die Dingkultur um 1800 dramengeschichtlich interessant machte. Die Requisite von Büchners einzigem Lustspiel folgt konsequent, geradezu überkonsequent der Gattungslogik der Typenkomödie. Bei Schnupftuch, Blume und Uhr, bei Bratenstück, Ring und Maske finden sich keine fatalen Requisiten, sondern konventionelle Theaterdinge, die in erwartbarer Weise funktionieren und oben genannten aufklärerischen Uhren-Komödien, nämlich die Persiflage auf den Grundsatz ‚Zeit ist Geld‘. Diesen Hinweis verdanke ich Burghard Dedners Diskussionsbeitrag. Folglich ist dieser dramenhistorisch unterlegte Befund ein weiterer Beleg für die von Greiner: Abwege des Komischen, S. 284, vertretene bürgerkritische Deutung der Szene. Mit dieser Lesart arbeitete auch die 2015 von Jürgen Kruse in den Frankfurter Kammerspielen inszenierte Fassung, indem der Sand als „Winterkörnchen“ bezeichnet und somit auf einen tagespolitischen Wirtschaftsskandal verwiesen wurde, ein Hinweis, für den ich Gabriele Rohowski danke.

Rede und Requisite

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dabei die Typik der Figuren profilieren. Jedoch illustrieren sie nicht die Figurenrede, sondern eröffnen eine eigene Ebene des Spiels, die pointiert mit den Redeakten verkoppelt wird. Das Hantieren mit den Schnupftüchern kommt zum Einsatz, wenn die gewichtigen Gedanken und großen Gefühle der Figurenrede ins Leere laufen, sich gewissermaßen in Luft auflösen. Anders wiederum funktioniert Lenas enger Umgang mit den Blumen, welcher die Rede ersetzt, nicht aber im Sinne einer nonverbalen Mitteilungsform, sondern als Widerlager gegen menschliche Interaktion. Und Leonce hantiert anders als seine komödiantischen Vorgänger nicht permanent mit einer Uhr, sondern er agiert unter eigener Regieanweisung selbst als Instrument der Zeitmessung, wodurch er das Stück als Spaßbremse eröffnet. In allen drei Fällen steht weder die Requisite im Dienst der Rede noch steht die Rede im Dienst der Requisite, vielmehr werden Dingpraktiken und Redeweisen entgegen theatraler als auch alltagskultureller Erwartungen miteinander korreliert. Die Dinge von Leonce und Lena werden komisch, wenn sie die theatrale Eigendynamik der Requisite, die sich während des langen 18. Jahrhunderts im theoriefreien Bereich der Bühnenpraxis entwickeln konnte, ausstellen und durchkreuzen.

Peter C. Pohl

Maccheroni in Leonce und Lena Ein kulturwissenschaftlicher Versuch zu einem der letzten Dinge der Komödie Als es Büchner nicht nur nach Ruhm hungerte, hingen sie buchstäblich in der Luft. In den Monaten, in denen der steckbrieflich Gesuchte und frisch Promovierte Leonce und Lena schrieb, um das Preisgeld des Cotta’schen Lustspielwettbewerbs zu erringen, zirkulierten sie sowohl in Diskursen als auch als Waren in wachsender Menge auf dem Gebiet des Deutschen Zollvereins. Und es ist kein Zufall, dass sich die Maccheroni in Büchners Text an entscheidender Stelle finden. Sie gehören zu den letzten Dingen, zur – so könnte man ulken und träfe doch einen Wahrheitskern – Eschatologie des Dramas und finden sich in Valerios imaginiertem Erlass, der Arbeit unter Strafe stellt. Sobald er Staatsminister sei, werde [j]eder der sich rühmt sein Brod im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt […] und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion. (MBA 6, S. 154)

Valerio bittet um sechs Dinge und Phänomene, die sich auf zwei Aufzählungen – Maccheroni, Melonen, Feigen und Kehlen, Leiber, Religion – verteilen. In der zweiten Sequenz gibt es eine stufenartige Steigerung: Valerio kommt vom Partialen zum Absoluten, von einem Körperteil über den Leib zur Religion. Die Religion sticht, weil kein physisches Phänomen, zwar aus der Aufzählung heraus. Sie bildet semantisch, grammatisch und rhetorisch, da im Singular und am Ende der Klimax stehend, den Höhepunkt, wird durch die Reihung an anatomische Phänomene aber degradiert und ihrer Einmaligkeit beraubt. Man kann darin eine materialistische Religionskritik in nuce sehen, wie sie der Religionsphilosoph Ludwig Feuerbach, der Romancier Gottfried Keller oder die Ökonomen Friedrich Engels und Karl Marx ausführen werden. Der eingebildete Ukas Valerios weitet die Kritik an den kollektiven Einbildungen zudem zu einer allgemeinen Kritik am kulturellen Imaginären der Restaurationszeit aus. Denn den verwendeten Substantiven sind Adjektive aus dem Wortspendebereich Kunst („musikalische Kehlen, klassische Leiber“) nebengeordnet. In der Kombination aus Haupt- und Eigenschaftswort werden die immateriellsten und die materiellsten Künste, Musik, Bildhauerei und Tanz, angesprochen. Überdies erscheint durch das Beiwort „kommod“ Religion entweder als fungibles Konsumobjekt (‚commodity‘) oder als reformierbarer und humanisierbaPeter C. Pohl, Innsbruck https://doi.org/10.1515/9783110796278-008

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rer gesellschaftlicher Teilbereich.1 Die Klimax bildet ferner einen syntaktischen Parallelismus mit der vorherigen Aufzählung. Darin dreht sich alles jedoch nur um ein Bedürfnis. Der Hunger, der im Peritext des Mottos dem Drama vorangestellt ist: „Alfieri: ‚e la fama?‘ // Gozzi: ‚e la fame?‘“ (MBA 6, S. 99), steht an dessen Ende an erster Stelle. Dem primären, substantiellsten Bedürfnis folgt zum einen weniger Relevantes – ‚Begehrnisse‘, wie man mit Gernot Böhme sagen kann.2 Zum anderen kommt der Hunger ganz ohne Beiwerk, scheinbar schmucklos daher. Wer Appetit hat, braucht keine Epitheta. Valerios Bitte um Nahrungsmittel ist gleichwohl nicht nur substanziellkreatürlich, sondern auch literarisch-raffiniert. Sie entspricht der komplexen rhetorischen Konstruktion, in der sie sich ausspricht. Denn die Aussage, der simple Wunsch nach Essen, und der Aussagevorgang geraten in komischer Weise überkreuz und drängen den Verdacht auf, dass beides – der kreatürliche Hunger und der kreative Akt, der ihn ausspricht –, mit Musil gesprochen, ungetrennt und dennoch nicht zu vereinen seien.3 Es geht also um das schwierige Verhältnis von materiellen Aspekten einerseits und ideellen und imaginären Wünschen andererseits. Dass das Raffinement der letzten Worte auch intertextueller Art ist, hat Burghard Dedner im Kommentarteil der Marburger Ausgabe erörtert. Dedner weist darauf hin, dass Büchner ein Zitat aus Goethes Italienischer Reise ‚beimengt‘; es ist einer längeren Beschreibung der neapolitanischen Schmausfeste entnommen: [A]lsdann feiert man eine allgemeine Cocagna, wozu sich Fünfhundert Tausend Menschen das Wort gegeben haben. Dann ist aber auch die Straße Toledo und neben ihr mehrere Straßen und Plätze auf das appetitlichste verziert. Die Boutiquen wo grüne Sachen verkauft

 Büchner könnte derart, so der Kommentar, im Stil „der Voraussagen Heines und jungdeutscher Schriftsteller“ (MBA 6, S. 541) auf eine neue, nicht-christliche Ära hingewiesen haben.  In der Einleitung seiner Studie Ästhetischer Kapitalismus entwickelt Gernot Böhme drei Konzepte, ‚ästhetische Arbeit‘, ‚Inszenierungswert‘ und ‚Begehrnis‘, die die Analyse der gegenwärtigen kulturalisierten Wirtschaft erleichtern sollen: „Der Begriff des ästhetischen Arbeiters umfasst […] das ganze Spektrum vom Anstreicher bis zum Künstler, vom Designer über den Bühnenbildner zum Muzakproduzenten, er umfasst alle menschlichen Tätigkeiten, die den Dingen, Menschen und Ensembles jenes ‚Mehr‘ verleihen, […] das über ihre Dinglichkeit und ihre Zweckdienlichkeit hinausgeht.“ Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus. Berlin 2016, S. 26 f. Der Überschuss, den die ästhetische Arbeit erzeugt, ist weder Gebrauchswert noch Mehrwert. Böhme nennt ihn ‚Inszenierungswert‘. Mit ihm werden nicht notwendige Bedürfnisse, ‚Begehrnisse‘, bedient: „Begehrnisse sind solche Bedürfnisse, die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt, sondern gesteigert werden.“ (Ebd. S. 28). Büchners Aufzählung trennt also nach Bedürfnissen und Begehrnissen, nach materiellen und ideellen Komponenten der Kultur.  Vgl. Robert Musil: Gesammelte Werke in 9 Bänden. Hrsg. v. Adolf Frisé. Bd. 4: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1337–1349.

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werden, wo Rosinen, Melonen und Feigen aufgesetzt sind, erfreuen das Auge auf das allerangenehmste.4

An diesem Zitat, das mit der Straße Toledo einen Topos deutschsprachiger Neapeldarstellungen aufgreift (s. u.), fällt auf, dass die von Valerio angesprochenen Maccheroni gar nicht erwähnt werden. Sie werden zwar kurz danach von Goethe beschrieben.5 Der Tausch bzw. die verdichtende Zusammenziehung der zwei Belegstellen ist jedoch plausibel. Denn der historische Wert der Fadennudeln ist für Büchners Poetik und die des Vormärz nicht zu gering zu veranschlagen. Man kann die Bedeutung der Maccheroni in zumindest fünf verschiedene Richtung auffasern, die in unterschiedlichem Maße Einfluss auf Büchners Entscheidung ausgeübt haben könnten. In den Maccheroni verdichten sich um 1835 nämlich industrie- und handelsgeschichtliche, mythische und volkskulturelle, sozialgeschichtliche, kultur-, theater- und literaturgeschichtliche sowie philosophische und religiöse Bedeutungen. Das historische Ding hat eine ganz eigene, den Bereich der Kulinarik bei weitem überschreitende Poetik. Sie zu rekonstruieren, verlangt ein kulturwissenschaftliches Vorgehen: Mit ihm werde ich im Folgenden einerseits versuchen, die Textbeobachtung, die das ‚Ungetrennte und Nicht-Vereinte‘ von materialistischer Analyse und kulturell-literarischem Begehrnis konstatiert hat, über Kontextbefunde zu bestätigen und zu differenzieren. Die These lautet, dass von der Ding-Geschichte der Maccheroni zahlreiche Fäden zu Büchners Lustspiel-Ästhetik im Besonderen und der Vormärz-Ästhetik im Allgemeinen führen. Andererseits möchte ich abschließend nach dem philologischen Nutzen und den Grenzen des hier unternommenen Vorgehens fragen.

1 Industrie und Handel Von der Münchner Industrieausstellung im November 1834 berichtet Dinglers Polytechnisches Journal in einem mehr als dreißig Seiten umfassenden Artikel. Es finden sich darin Neuerungen erwähnt, die der deutschen Industrie prinzipiell und insbesondere dem Fabrikstandort Bayern helfen könnten: darunter ein neuer Pan-

 Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe in 21 Bänden. Hrsg. v. Karl Richter, in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder. Bd. 15. Hrsg. v. Andreas Beyer u. Norbert Miller. München 2006 [desgl. München: Hanser], S. 413; vgl. hierzu MBA 6, S. 540.  Vgl. Goethe: Italienische Reise, S. 413.

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tograph, „ein ziemlich großes und gut gearbeitetes Instrument“,6 Schleifapparate und eine „Plombirmaschine“ (S. 402); auch Maschinen zum Krautschneiden, Fleischhacken und Gerben sowie Webe- und Strickmaschinen werden aufgezählt. Unter die Kuriosa dürfte die Erwähnung eines „Modell[s] zur Fortpflanzung kreisförmiger Bewegung“ fallen, dessen „pracktische Brauchbarkeit“ angezweifelt wird. Die Besucher durften zudem ein mechanisches Kinderreitpferd und sogar einen mechanischen „Spazierstok“ (alle Zitate S. 402 f.) bewundern. Aus dem Bereich des mehlverarbeitenden Gewerbes wird „eine ausgezeichnete Musterkarte von Nudeln und Makaroni aus der Fabrik des Hrn. D. Wilhalm zu Lindau“ (S. 425) am Bodensee vermeldet. Wilhalms avancierte Nudelkunde steht folglich im Kontext der Mechanisierung und Industrialisierung. Die Produkte vom Bodensee waren überdies nicht nur im Süden Deutschlands berühmt; vielmehr wurden sie, wie es im Bericht der allerhöchst angeordneten Königlich Bayerischen Ministerial-Commission über die im Jahre 1834 aus den 8 Kreisen des Königreichs Bayern in München stattgehabte Industrie-Ausstellung nicht ohne Stolz heißt, „in großen Quantitäten nach Italien, dem Land der Maccaroni versendet“.7 Es gab überdies zahlreiche Maccheroni-Fabrikationen im deutschsprachigen Raum. Die Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände des Jahres 1835 spricht von Wien, Magdeburg, Halle, Dresden und anderen deutschen Orten als Fertigungsstätten.8 In der Ausstellung des darauffolgenden Jahres treten die Maccheroni nun auch in Deutschland ins Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ein.9 Die mechanischen Apparate erhalten Zuwachs: eine Schneidemaschine für die Röhrennudeln aus dem Hause Stark.10 Die Autoren des Polytechnischen Journals verfolgten in der sprachlichen Inszenierung dieser Neuerungen nationalökonomische und fortschrittstheoretische Ziele: Die eigene und idealerweise maschinelle Fertigung sollte der industriellen Revolution dienen und der eigenen Nation helfen, den Fortschritt anderer Länder aufzuholen oder eigenen

 Ueber die im November 1834 zu München gehaltene Industrieausstellung. In: Polytechnisches Journal. 54 (1834), S. 393–427, hier S. 401, die folgenden Zitate im Fließtext kommen aus dieser Quelle.  Bericht der allerhöchst angeordneten Königlich Bayerischen Ministerial-Commission über die im Jahre 1834 aus den 8 Kreisen des Königreichs Bayern in München stattgehabte IndustrieAusstellung. München 2. Auflage 1836, S. 117.  Vgl. Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. 8. Auflage. 7. Bd. M-Nz. Leipzig 1835, S. 6.  In Frankeich war man schon fortgeschrittener. Bereits ab den 1820er Jahren gab es in der Nudelfabrik Guillaume Louis Ternaux’ ein Verfahren, mit dem die an der Decke hängenden Maccheroni dank eines Luftzugsystems schneller trockneten. Vgl. hierzu Miszellen. In: Polytechnisches Journal 10 (1823), S. 114–128.  Vgl. Ueber die im Oktober 1835 in München gehaltene Industrieausstellung. In: Polytechnisches Journal. 58 (1835), S. 322–356, hier S. 330.

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Progress zu generieren. Im Hinblick auf Spezereien wie Maccheroni bedeutet dies, gut und günstig Waren herzustellen, die man sonst hätte importieren müssen. Die Digitalisate von Anno, dem historischen Zeitungen- und Zeitschriftenportal der österreichischen Staatsbibliothek, helfen den letztgenannten Aspekt (der merkantilen Internationalisierung) genauer zu erfassen. Sie bestätigen die Annahme, dass die Maccheroni in den 1830er Jahren zu ökonomisch auffälligen Dingen wurden. Während es im Zeitraum von 1775 bis 1821 nur 34 Erwähnungen von ‚Maccaroni‘ gibt, steigt die Zahl im Zeitraum von 1822 bis 1869 auf 1143, eine mehr als dreitausenddreihundertprozentige Steigerung. Vergleichbares gilt auch für die anderen germanisierten Schreibweisen (‚Makkaroni‘, ‚Makaroni‘, ‚Macheroni‘). Einzig die italienisch geschriebenen ‚Maccheroni‘ unterliegen keinen Schwankungen – was nicht verwundert, da die Staatsbibliothek zahlreiche italienische ‚Giornali‘ digitalisiert hat, in denen sich die meisten Belegstellen für die italienische Schreibweise finden. In Italien hatten die Nudeln eine konstant große Bedeutung. In den deutschsprachigen Medien, wo die Steigerungsraten liegen, wiegen Annoncen von Kontoren vor. So berichtet man etwa aus dem Oberkofler’schen Kontor in Innsbruck, dass Maccheroni, „Aechte Genueser Güter von bekannter Qualität“,11 eingetroffen seien. Auch in Graz werden in der Specereyhandlung Zum Goldenen Walfisch Maccheroni angekündigt, hier aus Neapel.12 Die Zunahme an Belegstellen verdeutlich, dass die Maccheroni ab 1830 keineswegs mehr ein exotisches Gut waren. Es sind Erzeugnisse moderner Industrie und alltägliche Güter im grenzüberschreitenden Warenverkehr. Im Bereich des deutschen Zollvereins scheint die Tendenz zur Fabrikation vorgeherrscht zu haben, im Bereich des nicht zum Zollverein gehörenden Österreich nimmt der Import größeren Raum ein. Einst ein Luxusprodukt an den nordeuropäischen Höfen, hatten die Nudeln aus Neapel es auf bürgerliche Teller gebracht – und sie waren exemplarische Dinge für die Tendenzen der Mechanisierung, Industrialisierung, Merkantilisierung und Nationalisierung im modernen Europa des 19. Jahrhunderts.

2 Mythos und Volkskultur Die Maccheroni hatten aber mehr als das zu bieten: unter anderem eine mythische und volkskulturelle Komponente. Die Mehlprodukte bilden ein Kernelement in den schlaraffischen Visionen der Romania: In Italien fantasiert man von ‚Cocagna‘ oder ‚Cucagna‘, einem Ort, an dem Vulkane Nudeln speien, über die sich,  Kaiserlich Königlich privilegirter Bothe von und für Tirol und Vorarlberg 48 (16. Juni 1834).  Es gibt diverse Anzeigen in der Grazer Zeitung, so etwa auch am 18. Februar 1833.

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einmal niedergegangen, ein Lavastrom aus Gorgonzola ergießt.13 Im Decamerone erzählt der listige Maso del Saggio in der dritten Novelle des achten Tages dem leichtgläubigen Calandrino vom baskischen Land Bengoni.14 Dort gebe es einen Parmesanberg, von dem in Kapaunbrühe gekochte Maccheroni und Ravioli hinabrollten. Valerio orientiert sich in seiner Replik also an diversen frühneuzeitlichen italienischen Phantasien, aber auch am nordischen Schlaraffenland. Im gleichnamigen Gemälde von Pieter Breughel dem Älteren liegen die Menschen im Schatten, darauf wartend, dass ihnen das Essen in den Mund fliegt. Und in Hans Sachsens Fastnachtsspiel Das Schlaweraffenland heißt es ähnlich wie in Valerios Replik: „Und wer gerne arbeitet mit seiner Hand, / dem verbietet man stracks das Schlaraffenland.“15 Ähnlich kommt, wer in der ‚Cocagna‘ arbeitet, ins Gefängnis, der Schlafende dagegen verdient Geld. Die Schlaraffenland-Visionen erhalten zahlreiche Grobianismen, burleske Ideen und Wendungen vom Typus ‚mundus inversus‘, wie wir sie auch bei Valerio oder in der Volkskultur der Renaissance entdecken.16 Aspekte der Volkskultur haben sich bekanntlich auch im Karneval erhalten, der ja eine ‚umgekehrte Welt‘ temporär zelebriert. Und jene Schmausfeste, die Goethes Interesse in Neapel auf sich ziehen, wurden zunächst im Rahmen des Karnevals abgehalten. Bis 1783 war das „Fastnachts-Spiel Cocagna“17 eine öffentliche Speisung des Volkes, bei der an mehreren Tagen unter anderem ein großes Gerüst mit Fett beschmiert und mit Essen, vornehmlich Würsten, behängt wurde, ehe es bestürmt werden durfte. Erst nach 1783 musste man für die Speisen bezahlen. Es handelte sich bis dahin um ein Volksvergnügen, das eine Heterotopie und Heterochronie darstellt:18 Während der Schmausfeste herrschte in Neapel

 Vgl. hierzu Martin Müller (Hrsg.): Das Schlaraffenland. Der Traum von Faulheit und Müßiggang. Eine Text-Bild-Dokumentation. Wien 1984; Dieter Richter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie. Frankfurt a. M. 1989. Auf den Abbildungen von ‚Cucagna‘ sieht man einen Vulkan, die Legende erklärt: „Montagna grandissima di Cascio grattato, sopra del quale è una Caldara larga un miglio qual sempre bolle et manda fuora Macheroni et Ravioli“. Zit. nach Müller: Schlaraffenland, S. 107.  Ein Auszug von Boccaccios dritter Novelle des achten Tages des Decamerone findet sich ebd. S. 44 f.  Vgl. Hans Sachs: Das Schlaweraffenland. In: Müller: Schlaraffenland, S. 55–58.  Vgl. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1995.  Vgl. das Kapitel Straßen-Geschwirr und Cocagna in: J.J Gering: Reise durch Oestreich und Italien. Frankfurt a. M. 1802, S. 248–250, hier S. 248.  Vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt a. M. 2005, benennt als Grundsätze der Heterotopie: die Abgeschlossenheit, die Veränderbarkeit, die Verbindung zu den Heterochronien und die Funktion, alternative (utopische und dystopische) Möglichkeiten der Gesellschaft aufzuzeigen.

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eine Überfülle, die es sonst nicht gab und die in den Mythen der ‚Cocagna‘ vorgeprägt war. Die Maccheroni während der ‚Cocagna‘ als Fest und in der ‚Cocagna‘ als Mythos haben demnach eine utopische Bedeutung, über die man in deutschen Gefilden seit Goethes Reisebericht, wenngleich unvollständig, unterrichtet war. Allerdings trat die Verbindung von Müßiggang, Völlerei und Maccheroni in den 1830er Jahren nicht nur als kulturelles Kuriosum, sondern auch als soziales Skandalon ins Licht der deutschsprachigen Öffentlichkeit.

3 Sozialgeschichte: Neapel und ‚Lazzaroni‘ Die Maccheroni hatten insbesondere in Verbindung mit den ‚Lazzaroni‘ oder ‚Lazzari‘, der neapolitanischen Unterschicht, wie sie von den herrschenden spanischen Bourbonen pejorativ nach Lazarus, also als Bettlerkaste benannt worden war, auch einen topischen sozialgeschichtlichen Gehalt, der seit der Aufklärung durch Dramen, Reiseberichte und Geografiebücher generiert und stabilisiert wurde. Wilhelm von Lüdemann beschreibt in einem seiner vielgelesenen Reisebücher, dieses dreht sich wenig überraschend um Neapel, wie es ist, eine typische Szene in der Via Toledo, der zentralen Einkaufsstraße Neapels, die auch Ziel der Grand Tour junger Adeliger und (noch) bürgerlicher Schriftsteller (wie Goethe) war. [H]ier wird gekocht, geröstet, an großen Feuern gebraten, gekauft, gehandelt, gestritten, gewechselt; hier werden Kinder gezüchtigt, angekleidet, gekämmt; hier wird gepredigt, gesungen, getanzt, declamirt, gespielt, gezecht, gegessen, gejubelt; hier speißt ein Haufen nackter Lazzaroni mit hochgeschwungenen Armen ellenlange Macaroni, hier schnarrt der Bratspieß eines Garkochs, dort schmort die Pfanne eines Friggitores; hier hält ein öffentlicher Vorleser seinen begeisterten Vortrag, hier fleht ein schmutziger Mönch ‚per la carita di Dio‘ um ein Allmosen für die im Fegfeuer brennenden Seelen; von dort her erschallt der Dudelsack zweier Abbruzischen Hirten, die nach Neapel kommen, um diesem oder jenem Bilde der heiligen Madonna ein Ständchen zu bringen; weiterhin erschallt die monotone Musik der Tarantella, nach der zwey Sicilianerinnen tanzen; hier schreit ein Aquajuolo oder Wasserverkäufer mit einer Stimme, die uns des Gehörs beraubt, nie im Leben habe man schöneres Wasser getrunken, als er es für einen Gran das Quart feil biete.19

Eine Beschreibung der Toledo-Straße findet sich auch in Johann Günther Friedrich Cannabichs Hülfsbuch beim Unterrichte in der Geographie. Cannabich schreibt merklich von Lüdemann ab, und auch er bekräftigt die unzertrennliche Einheit der neapolitanischen Dolce Vita aus Müßiggang und Nudeln, ‚Lazzaroni‘ und Maccheroni:

 Wilhelm von Lüdemann: Neapel, wie es ist. Dresden 1827, S. 16.

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Und welche höchst verschiedene, interessante Gruppen bieten sich auf dieser Straße dem Fremden dar! Hier sieht er Priester in schwarzer, Mönche in weißer oder grauer Tracht, Offiziere in glänzenden Uniformen, Paglietti oder Rechtsgelehrte in ihrer Standeskleidung, ehrbare Bürger in verschiedener Tracht, Weiber theils im alt-Neapolitanischen Mantel, theils nach der französischen Mode gekleidet; hier sitzen öffentliche Schreiber an ihren Pulten, dort predigt ein Mönch, das Kruzifix emporhaltend, während nahe dabei ein Taschenspieler seine Künste macht; dort wird an großen Feuern gekocht und gebraten; dort verzehrt ein Haufen halbnackter Lazzaroni seine Maccaroni oder ein Bettler sein Eiswasser. – Ueberhaupt herrscht auf allen Straßen Neapels ein großes Lärmen, Toben und Bewegen, und selbst kaum des Nachts sind die Straßen leer.20

Das angesprochene moralische Skandalon der ‚Lazzaroni‘ resultiert aus deren historischer ökonomisch-epistemischer Problematik. Denn diese Armen und Müßiggänger wurden ja weder unglücklich, leidend, voller unbefriedigter Bedürfnisse noch untätig repräsentiert. Sie stellten die protestantische Ethik des Nordens demnach vor Rätsel, was an Ludwig Gottfried Blancs Handbuch des Wissenswürdigsten aus der Natur und Geschichte der Erde und ihrer Bewohner aus dem Jahr 1833 deutlich wird. Dort liest man, dass es in Neapel „40 – 50000“ ‚Lazzaroni‘ gebe. Sie sind im Allgemeinen übel berüchtigt, man hält sie gewöhnlich für gänzliche Müßiggänger, die nur vom Rauben, Stehlen und Morden leben; so ist es aber nach den Zeugnissen der zuverlässigsten Reisenden keinesweges. Eine solche phlegmatische Trägheit, wie wohl manche Bewohner des Nordens zeigen, ist dem Südländer fremd, und wenn er gern sich in der Sonne ausstreckt und ruht, so geht er auch eben so gern zu einer lärmenden und oft angestrengten Thätigkeit über. Die Lazzaroni sind nichts anders als der zahlreiche, eigenthumslose Pöbel dieser großen Stadt. Sie haben meist keine Wohnung, nichts als ein Hemd und ein Paar leinene Beinkleider zur Bedeckung, kein andres Besitzthum als was sie jeden Tag erwerben. Aber unthätig sind sie nicht, vielmehr bereit zu jedem Geschäft[,] was sich darbietet; sie sind Fischer, Schiffer, Obst- und Fischkrämer, Lastträger, Mäkler, und dabei meist treu, ja uneigennützig in ihrem Geschäfte. Wer möchte es ihnen verdenken, in diesem Lande, bei diesem Mangel an aller Bildung, daß sie nicht mehr arbeiten als eben nöthig ist, um ihre geringen Bedürfnisse angenehm zu befriedigen? Warum sollten sie mehr arbeiten für Kleider, deren sie nicht bedürfen, für eine dumpfe ungesunde Wohnung, wenn sie gesunder und besser unter den Hallen und Säulen der Kirchen und Palläste schlafen können; für ihre Nahrung, wenn sie das herrlichste Obst, Wein, Makkaroni für wenige Pfennige haben können? Sie leben bei aller Armuth besser als der fleißige Arme in unsern Gegenden.21

 Johann Günther Friedrich Cannabich: Hülfsbuch beim Unterrichte in der Geographie. Bd. 1. Eisleben 1835, S. 441.  Ludwig Gottfried Blanc: Handbuch des Wissenswürdigsten aus der Natur und Geschichte der Erde und ihrer Bewohner. Deutschland, Italien, Griechenland (die europäische Türkei, das König-

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Man kann in der Schilderung der ‚Lazzaroni‘ (wie auch in der topischen Bedeutung der Maccheroni) eine Andeutung jenes Reiches der Freiheit sehen, das Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie skizzieren sollte. Und bekanntlich war Marx auch derjenige, der im ersten Band des Kapitals zwischen den ‚Lazzaroni‘ und dem ‚Lumpenproletariat‘ eine Verbindung schuf, indem er von der „Lazarusschicht der Arbeiterklasse“22 sprach. Jedoch bilden die ‚Lazzaroni‘ einen Gegensatz zu den Miserablen der „industriellen Reservearmee“, was sie für das kulturelle Imaginäre letztlich so interessant gemacht haben dürfte. Denn sie könnten, Blanc deutet es an, vieles tun, „sie sind Fischer, Schiffer, Obstund Fischkrämer, Lastträger, Mäkler“, sie arbeiten aber nur so viel wie nötig. Es sind keine Arbeitslosen, sondern Müßiggänger und Lebenskünstler, deren Beschreibung auf verblüffende Weise jener Utopie der Freizeit ähnelt, die Marx im Maschinenfragment für die Zeit nach der revolutionären gesellschaftlichen Transformation skizziert hat und die vom italienischen Post-Operaismus und Vertretern der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens bis heute aufgegriffen wird.23

reich Griechenland) und die Ionischen Inseln. Teil 2. 2te verbesserte und vermehrte Auflage. Halle 1833, S. 350 f.  „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“ Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. In: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke in 43 Bänden. Hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 23. Berlin 1962, S. 673 f.  „Die wirkliche Ökonomie – Ersparung – besteht in Ersparung von Arbeitszeit; […] diese Ersparung [ist] aber identisch mit Entwicklung der Produktivkraft. Also keineswegs Entsagen vom Genuß, sondern Entwickeln von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten wie der Mittel des Genusses. Die Fähigkeit des Genusses ist Bedingung für denselben, also erstes Mittel desselben, und diese Fähigkeit ist Entwicklung einer individuellen Anlage, Produktivkraft. […]. Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d. h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums[.]“ Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx u. Engels: Werke. Bd. 42, Berlin 1983, S. 590–609, hier S. 607. Vgl. hierzu Antonio Negri: Über das Kapital hinaus [1979]. Berlin 2019, S. 249–263; André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Aus dem Französischen von Jadja Wolf. Frankfurt a. M. 1999; Nick Srnicek u. Alex Williams: Inventing the Future. Postcapitalism and a World Without Work. London u. New York 2016; Gregor Ritschel: Freie Zeit. Eine politische Idee von der Antike bis zur Digitalisierung. Bielefeld 2021.

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Überdies spricht auch die Rolle der ‚Lazzaroni‘ im Masaniello-Aufstand, wie Patrick Eiden-Offen in mehreren Publikationen darlegt,24 gegen ihre Zuordnung zu einem inaktiven Lumpenproletariat. Beim Aufstand des Jahres 1647 erhoben sich die „Lazzaroni, die arbeitslosen oder unterbeschäftigten Armen Neapels“, weil eine Steuer auf Nahrungsmittel erhoben wurde, die Allgemeingut waren, nämlich Obst und Fisch: „Der Aufstand der Lazzaroni unter Masaniello war, wenn nicht die erste, so doch die spektakulärste Revolte gegen die Aneignung der Gemeingüter […]. Der Aufstand war eine ‚rivolta proletaria‘, und genau deshalb muss er als ‚zeitentrennendes Ereignis‘ aufgefasst werden.“25 Büchners Bezug auf die ‚Lazzaroni‘ („Ein Lazzaroni! Valerio! Ein Lazzaroni! Wir gehen nach Italien.“, MBA 6, S. 109) ist somit mehrdeutig: Er dockt sowohl an die eskapistischen Italien-Mythen der Klassik oder auch Jean Pauls an, mit denen der deutsche Reformadel und das Bildungsbürgertum den europäischen Süden als kompensatorische Zone von Müßiggang und Lebenskunst modellierten, als er auch auf Steuerungerechtigkeit, Armut, Hunger und Deklassierung bezogen werden kann.26

4 Theater-, Kultur- und Literaturgeschichte Auch in diesem Bereich lassen sich zahlreiche Fährten verfolgen. Eine naheliegende führt zum neapolitanischen Volkstheater, wo die Maccheroni zu den Insignien des ‚Policinello‘ (auch ‚Pulcinella‘) gehören, der sich auf Darstellungen oder als Porzellanfigur die Fadennudeln in den Mund gleiten lässt und den ‚Arlecchino‘ begleitet.27 Wie beim deutschen Hanswurst, den Gottsched von den Bühnen verbannte, handelt es sich um eine lustige, oft gerissene und faule Figur wie Valerio, die die leiblichen Bedürfnisse des Menschen in den Vordergrund stellt. In der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts ist der ‚Macaroni‘ dagegen ein Modegeck und Vorläufer des Dandy – er erinnert derart eher an Leonce. Man hört einen Anklang an

 Patrick Eiden-Offe: Lazzaroni. Zu einer Poetik der verwischten Spur in Büchners „Leonce und Lena“ und bei Brecht. In: The Brecht Yearbook/Das Brecht-Jahrbuch 39: The Creative Spectator. Hrsg. v. Theodor F. Ippey. Bowling Green 2014, S. 196–217; ders.: Hipster-Biedermeier und Vormärz-Eckensteher (und immer wieder Berlin …). In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 786/11 (2014), S. 980–988; ders.: Soziale Bewegung auf der Bühne. Zur Frage der Gegenwart in Christian Weises „Masaniello“. In: IASL 42/1 (2017), S. 171–190.  Beide Zitate Eiden-Offe: Soziale Bewegung auf der Bühne, S. 175 f.  Die Auseinandersetzung mit der ungerechten oder unverhältnismäßigen Besteuerung steht ja bekanntlich auch im Zentrum des Hessischen Landboten.  Vgl. hierzu den kurzen, aber informativen und reich bebilderten von Artikel Meredith Chilton: The Spaghetti Eaters. In: Metropolitan Museum Journal 37 (2002), S. 223–228.

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den homosexuell codierten ‚Fashion Fool‘ im amerikanischen Folksong Yankee Doodle, der einst ein Spottlied britischer Offiziere war, mit dem man sich über die Nordamerikaner lustig machte. Die Yankees bildeten sich sogar ein, wenn man eine Feder an den Hut steckte, wäre man bereits ein ‚Macaroni‘.28 Dass die Aufnahme der Maccheroni keine ganz zufällige Modifikation des Goethe-Zitats darstellt, macht zudem eine Belegstelle in Heines fragmentarischen Pikaroroman Die Memoiren des Herrn Schnabelewopski (Erstdruck 1831) plausibel. Darin vergleicht der Protagonist und Erzähler die Frauen verschiedener Länder und erörtert landestypische Besonderheiten der Damenwelt anhand der dort prävalenten Speisen: „Von hohem idealischen Standpunkte betrachtet, haben die Weiber überall eine gewisse Ähnlichkeit mit der Küche des Landes.“ In Amsterdam ist Schnabelewopski unglücklich mit beidem; es sehnt ihn, wie alle nordischen Träumer, nach dem Süden: Vorgestern träumte mir: ich befände mich in Italien und sei ein bunter Harlekin und läge, recht faulenzerisch unter einer Trauerweide. Die herabhängenden Zweige dieser Trauerweide waren aber lauter Makkaroni, die mir lang und lieblich bis ins Maul hineinfielen; zwischen diesem Laubwerk von Makkaroni flossen, statt Sonnenstrahlen, lauter gelbe Butterströme, und endlich fiel von oben herab ein weißer Regen von geriebenem Parmesankäse.29

Der Traum erinnert an Leonces Italienvorstellungen und zudem sowohl in formaler wie inhaltlicher Hinsicht an einen emblematischen Text einer frühneuzeitlichen literarischen Strömung, deren Name auf die hier im Raum hängende Nudelsorte zurückgeht: die maccheronische oder makkaronische Dichtung des RenaissancePoeten und Benediktiners Teofilo Folengo. Folengo hat zwei Texte zum ‚Cocagna‘Mythos geschrieben, wo sich Butterströme sowie Nymphen finden, die auf dem Käsberg sitzen und Parmesan regnen lassen.30 Beide Aspekte fehlen bei Boccaccio. Die maccheronische Poesie nutzt zudem eine Mischsprache aus Latein und dialektaler Volkssprache zu parodistischen Zwecken. Ihre Texte prangern individuelle Gebrechen und soziale Missstände an und nehmen den Klerus, die Gelehrten und das einfache Volk aufs Korn. Sie sind Ausdruck einer grenzüberschreitenden Lach-

 Vgl. Text und Erklärung im deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Yankee Doodle, in: (zuletzt abegrufen am 28. September 2022).  Beide Zitate Heinrich Heine: Die Memoiren des Herrn Schnabeleowski. In: Sämtliche Schriften in 7 Bänden. Hrsg. v. Klaus Briegleb. München 1997 (Ausg. ist band- und textidentisch mit der im Carl Hanser Verlag, München, erschienenen Ausgabe, 2. Aufl. 1975). Bd. 1, S. 503–556, hier S. 532 f. Vgl. Ingo Wintermeyer: Die Makkaroni im Nord-Süd-Gefälle – Eine utopische Chiffre und das ‚real existierende‘ Paradies Neapel. In: Kleine Lauben, Arcadien und Schnabelewopski. Festschrift für Klaus Jeziorkowski. Hrsg. v. Ingo Wintermeyer. Würzburg 1995, S. 81–93.  Vgl. Teofilo Folengo: Die Nymphen auf dem Käsberg. In: Schlaraffenland. Hrsg. v. Martin Müller, S. 53 f.

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kultur im Bachtin’schen Sinn.31 Im Deutschen wurden sie berühmt durch Johann Baptist Friedrich Fischart, der Gedichte in ‚Nudelversen‘ (oder ‚Nuttelversen‘) schrieb. Die Schreibweisen erhielten sich in der Burschenschaftskultur, zu der Büchner in Straßburg, genauer in der Eugenia, bekanntlich Zugang hatte und deren Ausdrücke Valerio verwendet: „Ergo bibamus.“ (MBA 6, S. 113)32 Der Einfluss der maccheronischen Dichtung auf den Vormärz ist kaum beforscht, obgleich Friedrich Wilhelm Genthe, ein Freund Karl Immermanns, 1829 eine Geschichte der Macaronischen Poesie und Sammlung ihrer vorzüglichsten Denkmale publizierte.33 Eine solche Untersuchung erscheint jedoch naheliegend. Autoren wie Büchner und Heine teilen mit Folengo oder Rabelais die Konzentration auf das ‚Hier und Jetzt‘ und die Montage aus Gelehrten- und Volkssprache; Gallizismen, Latinismen werden mit dialektalen Ausdrücken zu burlesken und grobianischen Wendungen vermengt. Zur Polyglossie in Heines Lyrik liegt zumindest ein Aufsatz vor, der deren ‚sprachspielerische‘ Qualität unterstreicht. Gallizismen dienten Heine, so Anna Danneck, „zur Erzeugung eines ironischen Tons“ und dazu, „kritisch Beschönigungen und Verschleierungen gesellschaftlicher Missstände auf[zu]decken.“34 Mit Valerios „kommod“ (MBA 6, S. 124), „philobestialisch“ (MBA 6, S. 117) und seinen lateinischen Ausdrücken könnte Büchner in ähnlicher Weise Sprach- als Sozialkritik betreiben. Eine Verbindung der Vormärz-Poetik zur maccheronischen Dichtung liegt formal zumindest insofern vor, als beide Ansätze einen doppelten materiellen Kern haben: Die kreativen frühneuzeitlichen Autoren, die sich grammatikalisch und metrisch korrekt eines hohen lateinischen Vorbildes bedienen, darin aber vulgäre und obszöne volkssprachliche Inhalte aussprechen, weisen nämlich einerseits auf die Grundbedürfnisse des Lebens ‒ Essen, Trinken und Liebe ‒ hin. Andererseits akzentuieren sie mit ihren Wortspielereien das sprachliche Material; sie versetzen, wie beim Kochen der Nudelspeise, feine mit groben Ingredienzen und evozieren ein Nah- und

 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1995.  Die Protokolle der Sitzungen der Eugenia (1831/32) hat Thomas Michael Mayer herausgegeben und mit Erläuterungen versehen (vgl. GBJb 6, S. 356–371). Siehe dazu auch Burghard Dedner: Die Studentenverbindung Eugenia. In: (zuletzt abgerufen am 28. Februar 2022).  Friedrich Wilhelm Genthe: Geschichte der Macaronischen Poesie und Sammlung ihrer vorzüglichsten Denkmale. Halle u. Leipzig 1829.  Alle Zitate Anna Danneck: „Kapabel, miserabel, aimabel“. Funktionen der französischen Sprachelemente in Heinrich Heines Lyrik. In: Komparatistik Online (2014), (zuletzt abgerufen am 28. Februar 2022).

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Austauschverhältnis von Lettern und Leib.35 In Büchners Lustspiel sollen die Lettern jedoch inhaltlich ersetzen, was dem Leib fehlt. So befiehlt man den hungernden Bauern, wie sie zur Hochzeit erscheinen sollen: „sämmtliche Unterthanen werden von freien Stücken reinlich gekleidet, wohlgenährt, und mit zufriedenen Gesichtern sich längs der Landstraße aufstellen.“ (MBA 6, S. 118) Dass die Bauern dabei den Braten der Hochzeitsgesellschaft riechen, ist eine Bösartigkeit, die Büchner maccheronisch verstärkt. Die prassenden Mächtigen entziehen jenen das Leben, die ihnen ein „Vivat!“ aus leeren Leibern und hungrigen Kehlen wünschen sollen.

5 Philosophie und Religion Die Maccheroni beziehen eine zusätzliche Bedeutung aus philosophischen und religiösen Sinnbereichen. Pfeiffers Herkunftswörterbuch verzeichnet zur Etymologie von ‚Makkaroni‘ etwa eine „Herleitung aus griech. makaría (μακαρία) ‚Glückseligkeit‘, spätgriechisch ‚die den Seligen geopferte Gerstensuppe, Totenmahl‘“.36 Zumindest zwei möglichen Bezügen möchte ich Raum geben, da sie in Ingo Wintermeyers Aufsatz zu den Maccheroni bei Heine nicht erwähnt werden.37 Zum einen hat ‚Glückseligkeit‘ (‚makaria‘) eine moralphilosophische Bedeutung. Im 5. Teil von Spinozas Ethik nach geometrischer Methode dargestellt wird die Freiheit der Seele als Glückseligkeit bestimmt und gilt als Voraussetzung dafür, Affekte zu hemmen.38 Zum anderen verweisen die Makkaroni, die Büchner dem Zitat aufpfropft, auf das Leben, das nach antiker Vorstellung die Götter führen. In der Nikomachischen Ethik des Aristoteles wird ‚makaria‘ genutzt, um eine göttliche Glückseligkeit (‚makaria‘) von der humanen (‚eudaimonia‘) zu differenzieren.39 Überdies bedienen die Mac Vgl. zu dieser Grundmaxime der maccheronischen Dichtung wie auch generell zum Verhältnis von Ernährung und Schreiben Mona Körte: Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Literatur der Neuzeit. München 2012, S. 90–97, besonders S. 90–92.  Makkaroni. In: Wolfgang Pfeifer u. a. (Hrsg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte u. von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: (zuletzt abgerufen am 08. Oktober 2021).  Vgl. Wintermeyer: Die Makkaroni im Nord-Süd-Gefälle.  Vgl. Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übers. von Otto Baensch. Hamburg 1994, S. 296. Zum komplexen Verhältnis Büchners zu Spinozas vgl. zusammenfassend Per Röcken: Philosophische Schriften. In: Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Roland Borgards u. Harald Neumeyer. Stuttgart 2009, S. 130–137.  Eine Sacherläuterung findet sich in Aristoteles: Nikomachische Ethik. Erster Halbband. Übers. von Dorothea Frede. Berlin u. Boston 2020, S. 364.

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cheroni in ihrer Bedeutung als Opfermahl den im Lustspiel häufig genutzten religösen Jenseits-Topos. Das „Paradies“ (MBA 6, S. 123) wird von Leonce durch die Heirat ‚in effigie‘ angesteuert. Und bekanntlich trägt das jüdisch-christliche Jenseits schlaraffische Züge, der Paradiesbewohner leidet ebensowenig Hunger wie die Individuen, die sich in Marxens ‚Reich der Freiheit‘ ihrem Genuss hingeben. Die soziale Utopie, die volkskulturelle und die literarische Utopie überschneiden sich mit philosophischen und religiösen Vorstellungen in diesem einen Ding, den Maccheroni. Es ist allerdings anzunehmen, dass Ähnliches für andere Dinge und Objekte des Dramas gleichermaßen gilt. Sie materialisieren stets auch Immaterielles und immaterialisieren gewissermaßen die sichtbare Welt auf der Bühne.

6 Cut: Fäden, Fasern, Faseln Wir kommen folglich zum poetologisch-literaturgeschichtlichen Faden zurück, der eingangs ausgesponnen wurde: Wie lassen sich materialistische Sozialkritik und literarischer Anspruch vereinen? Wie finden empirische Aspekte und poetische Elemente, Analyse und Ästhetik zusammen? Es handelt sich um ein, wenn nicht das zentrale Problem des Vormärz; man kennt es insbesondere aus Heinrich Heines Umgang mit Klassik und Romantik, dem Dirk Rose – im Rückgriff auf Arbeiten von Eva Geulen, Hans Robert Jauß, Walter Preisendanz und Ingo Stöckmann – unlängst ein Kapitel seiner lesenswerten Studie zur Polemischen Moderne gewidmet hat: Insbesondere anhand der Romantischen Schule rekonstruiert Rose dort die Ästhetik Heines, die sich „in der radikalen Negation von Traditionsbeständen und einer politisch-sozialen Ausweitung ihrer Schreibweisen“40 begründe. Der literarische Neubeginn, der sich bei Heine als Überschreitung der Kunst zur Realität, als referenzieller Bezug auf Gesellschaft und Politik materialisiert, stellt eine Neujustierung der „Grenze des Ästhetischen“41 dar. Diesen Bezug zur Realität illustriert Rose anhand der Kommunikationsform der Polemik, die ja nur tendenziös gedacht, stets interventionistisch verübt und oft mit namentlichem Bezug auf Personen realisiert wird. Allerdings bleibt der Kontakt zum Außerliterarischen, die politische Tendenz, der literarischen Ausrichtung nachgeordnet: „[A]m Ende rangieren für Heine […] ästhetische vor politischen Belangen.“42 Der Versuch einer kulturwissenschaftlich orien-

 Dirk Rose: Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2020, S. 224.  Hans-Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation 1970, S. 112, zit. nach Rose: Polemische Moderne, S. 224.  Rose: Polemische Moderne, S. 301.

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tierten Analyse eines literarischen Dings, den ich hier vorgelegt habe, sollte zeigen, dass Büchner in Leonce und Lena (und d. h. in einem von Heines Publizistik stark abweichenden Genre und mit vollkommen anderen rhetorischen und literarischen Mitteln) durchaus ähnlich verfährt. Die Maccheroni fungieren als ein Ding, das konkrete historische, nämlich industrielle, merkantile, soziale, kulturelle, theatralische, literarische, philosophische und religiöse Aspekte und Wissensbestände auf sich vereint und so eine Überschreitung der hochkulturellen Sinnebenen, hier insbesondere der klassischen Literatur, zu einer Realität erlaubt, die für wenige Menschen Übermaß, wachsenden Reichtum und Wohlstand, für die Masse dagegen, die Kräfte etwa hinter der Juli-Revolution, Hunger und Armut bereithält. Der Bezug zu historischen Hungerkrisen, wie dem Masaniello-Aufstand, aber auch zu Wunschwelten wie der ‚Cocagna‘, dem Schlaraffenland und dem Paradies nähert überdies die empirischen Gegebenheiten der sozialen Realität und die kulturelle Imagination zwar einander an; aber die letzten Worte Valerios sind eben auch nur Worte, Absichtsbekundungen. Sie hinterlassen den Zuschauer mit Mitteln, die Misere zu begreifen, und mit Zielen, in deren Richtung sie zu überschreiten wäre. Zugegeben, philologisch sauber ist so ein Vorgehen nicht immer. Man kann damit womöglich den phantasmatischen Kern der Maccheroni besser begreifen ‒ dass sie einen unendlichen Nudelfaden bilden, der vom Himmel hinab in die Kehle gleitet und die Leiber kontinuierlich füllt ‒ und mit den ökonomischen und diskursiven Häufigkeiten korrelieren. Kulturwissenschaftlich betrachtet, ist die Differenzierung der Bedeutungsebenen, die Selektion und systematische Analyse bestimmte Phänomenbereiche gerechtfertigt. Hunger und Armut scheinen kompensatorische Völlereiphantasien zu befördern. Aber wie viele dieser Fäden führen tatsächlich zur Belegstelle in Büchners Text? Wie viel von dem hier angedeuteten Wissen ist in Leonce und Lena eingegangen? Die kulturwissenschaftliche Herangehensweise ist zweifelsohne fruchtbar, lässt Assoziationen und Interpretationen gedeihen; sie zieht Fäden aus dem Vorhandenen, denen man weiter folgen, sie weiter ‚zeisen‘ und ‚zausen‘ kann; sie produziert eine vielfältige Sicht auf die Dinge des Dramas, von der hier nur ‚Häppchen‘ gegeben werden konnten. Aber sie kann in ihrer Tendenz zum „allseitigen Dilettantismus“43 nicht angeben, bis wann sie verständig über den literarischen Gegenstand Auskunft gibt. Der kulturwissenschaftliche Versuch hat somit Einiges mit einem gemeinhin pejorativ verwandten Wort, dem Faseln, gemein.44 Aber auch Valerio, dessen Worte nicht frei von Unverstand sind,

 Hartmut Böhme: Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XLII (1998), S. 476–485, hier S. 481 u. 485.  In Grimms Wörterbuch werden drei Wortbedeutungen von ‚Faseln‘ genannt: (1) „subolescere, parere, wurzeln, gedeihen, fruchten: die thiere faseln, pariunt, incrementa capiunt; das körnlein faselt und wurzelt unter sich.“; dann (2) „faseln, vellere, zupfen, zeisen, zausen, fäden ausziehen:

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mitunter kluge Einsichten bereithalten und Assoziationen fruchten lassen, ist ein Fasler (im besten Wortsinn). Und vielleicht kann die Kulturwissenschaft der Philologie ähnliche Dienste leisten wie Valerio seinem Prinzen, indem sie die Philologie zu Überschreitungen anregt und sie dazu bringt, sich den materiellen Kontexten ihrer Existenzgrundlage, den Wörtern, zuzuwenden. Zumindest erlaubten Leonce die räumlichen, ontologischen und persönlichen Überschreitungen, die Valerio initiiert ‒ die Reisen, Verkleidungen als Automat und die Hochzeit mit Lena ‒ die Frage zu stellen, was seine Existenz ausmacht – gestellt wird sie im Lustspiel allerdings nicht, wohl aber durch dieses.

baumwolle, die fein gefaselt ist.“ Sowie (3) „faseln, ineptire, nugari, delirare: ein vergoldeter narr kommt die treppe herauf gefaselt […]; der kranke faselt, redet irre, delirat; der in dessen munterkeit die dazumischung von verstand unmerklich ist, faselt.“ Vgl. den Artikel „FASELN“. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, , (zuletzt abgerufen am 28.02.2022).

Michael Niehaus

Sonne, Mond und Sterne Nahbare Gestirne in Büchners Woyzeck

1 Wer seinen Beitrag in einem Büchners Dingen gewidmeten Jahrbuch den Gestirnen in Woyzeck widmet, provoziert wohl unweigerlich die Frage, ob denn Gestirne überhaupt als Dinge aufgefasst werden können. In welchem Sinne können sie Dinge sein? Und wenn Gestirne womöglich eigentlich keine Dinge sind, was sind sie dann? Und wo könnten sie vielleicht gleichwohl als Dinge gelten, wenn sie für uns keine Dinge sind? Wer Zweifel an der Dinghaftigkeit von Gestirnen anmeldet, kann vor allem zwei Gründe ins Feld führen. Erstens: Sie sind zu groß. Zweitens: Sie sind zu weit weg. Zwar nennen wir im alltäglichen Sprachgebrauch alles Mögliche ‚Ding‘ – darunter auch Immaterielles, Nicht-Objekthaftes, wenn etwa von den ‚letzten Dingen‘ die Rede ist oder davon, dass ‚merkwürdige Dinge‘ im Gange sind –, aber Sonne, Mond und Sterne werden eher nicht als Dinge bezeichnet. Ebenso schiene es uns merkwürdig, die Erde, auf der wir leben, als Ding zu bezeichnen. Bei der Einschätzung von etwas als Ding geht es offensichtlich nicht um das Ding ‚an sich‘, sondern entscheidend ist dessen Relation zu uns: Für uns sind die Gestirne zu groß und zu weit weg, um als Dinge zu angesprochen zu werden. Dinge können wir gewöhnlich in die Hand nehmen und bewegen. Aber das sind keine ‚harten Kriterien‘. Ein Ding ist etwas, was nicht auf den Begriff gebracht werden kann, und es ist eine Verlegenheitslösung, wenn etwa im Handbuch Materielle Kultur einleitend erklärt wird, „‚Sache‘, ‚Ding‘, ‚Objekt‘, ‚Gegenstand‘“ würden „im Allgemeinen und zumeist auch im wissenschaftlichen Sprachverständnis synonym gebraucht“.1 Jedem, der Büchners Woyzeck kennt, wird klar sein, auf welche Passage Bezug genommen werden soll, wenn Sonne, Mond und Sterne aufgerufen werden: auf das sogenannte Märchen, das die „Großmutter“ nach Aufforderung den Kindern erzählt. Die folgenden Überlegungen sind ausschließlich diesem Märchen als einem geschlossenen Text gewidmet. Seine Einbettung in den Zusammenhang des Dramas bleibt weitgehend unberücksichtigt – auch wenn das Drama mit kosmischen Bezügen anhebt („Ein Feuer fährt um den Himmel“, MBA 7.2, S. 22), und auch wenn auf

 Stefanie Samisa, Manfred K.H. Eggert u. Hans Peter Hahn (Hrsg.): Handbuch Materielle Kultur. Stuttgart 2014, S. 1. Michael Niehaus, Hagen https://doi.org/10.1515/9783110796278-009

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die Szene der Märchenerzählung die der Tötung Maries unmittelbar folgt, bei welcher mit dem Mond, der „rot auf geht“ wie ein „blutig Eisen“ (MBA 7.2, S. 9), eines der Gestirne beziehungsvoll noch einmal aufgerufen wird. In der Tat ist dieser Bezug beziehungsvoll: Der Mond ist das Letzte, worauf Marie und Woyzeck in ihren Sprechakten gemeinsam referieren. Der Mond fungiert hier als ein unverfügbarer Referent, der zwar Intensität ausstrahlt, aber zugleich nicht nahbar und daher nur in seiner Zeichenfunktion wirksam ist. Anders verhält es sich nun aber in dem Märchen, das die Großmutter erzählt: Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und keine Mutter war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles todt, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf die Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s eine verwelkte Sonnenblume und wie’s zu den Sternen kam, warens kleine goldne Mücken, die waren angesteckt wie der Neuntödter sie auf die Schlehen steckt und wies wieder auf die Erd wol[l]t, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein. (MBA 7.2, S. 8 f.)

Die Erzählung der Großmutter lässt sich als eine „Kontrafaktur“2 verstehen, die auf bestimmten Märchen der Brüder Grimm beruht – es werden Die Sterntaler (KHM 153), Die sieben Raben (KHM 25) und Das singende, springende Löweneckerchen (KHM 88) genannt (DKV 1, S. 776; MBA 7.2, S. 456).3 Der Verweis auf die Gattung Märchen wird – abgesehen vom Erzählanlass und der Erzählerinnenfigur im Drama – sogleich durch das einleitende „Es war einmal“ hergestellt. Es ist damit aber keineswegs eine Parodie, sondern ein Antimärchen.4 Dieser Begriff geht im Prinzip auf André Jolles zurück, der ihn in seinen Einfachen Formen von 1930 einführt, um deutlich zu machen, dass die mit einer „naive[n] Moral“ verknüpfte märchenhafte „Ethik des Geschehens“ die vollkommen tragische „Welt des naiv Unmoralischen“ als ihre Kehrseite immer schon impliziert.5 Dies aufneh-

 Vgl. etwa Hermann Wiegmann: Die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2005, S. 37.  Das Kürzel „KHM“ bezieht sich auf die inzwischen kanonische Zählung der Kinder- und Hausmärchen; zitiert werden die KHM im Folgenden nach der Ausgabe Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Hrsg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 2003. Es versteht sich, dass Büchner diese Ausgabe letzter Hand aus dem Jahre 1857 nicht kannte, was aber für die vorliegende Argumentation nicht relevant ist.  Stefanie Kreuzer: ‚Märchenhafte Metatexte‘. Formen und Funktionen von märchenhaften Elementen in der Literatur. In: Janine Hauthal, Julijana Nadj, Ansgar Nünning, Henning Peters (Hrsg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Berlin 2007, S. 282–302, hier S. 293.  André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 7. Aufl. Tübingen 1999, S. 240 und S. 242.

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mend, bemerkt etwa Clemens Lugowski, „Märchenroman und Antimärchen“ seien „verschiedene Einstellungen derselben Einstellung zur Wirklichkeit“.6 Jolles selber lanciert in diesem Zusammenhang einen gleichsam reduzierten (oder vielleicht auch gereinigten) Begriff des Tragischen jenseits des Ästhetischen als eines „Gefühlsurteil[s]“: „Tragisch ist der Widerstand zwischen einer naiv unmoralisch empfundenen Welt und unsren naiv ethischen Anforderungen an das Geschehen“ (wobei „naiv“ expressis verbis im Sinne Schillers gemeint ist).7 Ich glaube, dass es sehr schwer ist, wirklich zu erfassen, was ein Antimärchen ist, dass die Frage danach aber das ganze Drama Büchners in gewisser Weise grundiert, weil dieses Drama unser Gefühlsurteil herausfordert. Daher ist es nicht verwunderlich, dass man, wenn man nach der ‚Weltsicht‘ des ‚sozialen Dramas‘ Woyzeck fragt, das Märchen der Großmutter als eine Art Quintessenz dieses Dramas auffasst.8

2 Wenn man – wie es hier geschehen soll – den Blick auf die Bedeutung der Dinge bzw. der Dinghaftigkeit in diesem Märchen richtet, so ist dies mit der Frage nach der ‚Weltsicht‘ unmittelbar verknüpft. Wenn das hervorstechendste Merkmal des Märchens die Abwesenheit anderer Subjekte bzw. Figuren ist, so bleibt gewissermaßen nur noch das ‚Weltgebäude‘ übrig. Außer dem „arm Kind“ kommen in diesem Antimärchen nur Dinge vor. Und wenn man so will, ist ja sogar das „arm

 Clemens Lugowski: Wirklichkeit und Dichtung: Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists. Deutschland. Braunschweig 1936, S. 94. Lugowski bemerkt en passant sehr bedenkenswert, dass die Märchenhandlung den Märchenfiguren, die nicht im Mittelpunkt der Handlung stehen, nicht selten als Antimärchen erscheinen muss (vgl. ebd., S. 95).  Jolles: Einfache Formen, S. 241.  Vgl. etwa Feng Weiping: Märchen und mehr. Eine Untersuchung zur Märchenszene in Georg Büchners „Woyzeck“. In: Literaturstraße 15 (2014), S. 157–169. Die Argumentation dieses Aufsatzes ist allerdings in einem nicht-schillerschen Sinn naiv. Hier ließen sich indes weiterführende Überlegungen zur Gattungszuordnung bzw. Genrezuordnung von Woyzeck anschließen. In der Diskussion um diese Frage spielt ja die Zuordnung „Antimärchen“ keine erkennbare Rolle (vgl. etwa Harald Neumeyer: Woyzeck. In: Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Roland Borgards u. Harald Neumeyer. Stuttgart 2009, S. 98–118, hier S. 103 f.). Bekanntlich gilt Büchner mit Woyzeck als der Begründer des sozialen Dramas, das durch eine „Transposition des bürgerlichen Trauerspiels“ entsteht und die „Armut als Fatum“ vorstellt (Franziska Schößler: Exkurs: Soziales Drama. In: Büchner-Handbuch, S. 118–123, hier S. 119). Insofern liegt dem sozialen Drama strukturell gesehen das Gefühlsurteil einer ungerechten Welt (im Sinne von Jolles) zugrunde, weshalb es genretheoretisch in die Nähe des Antimärchens rückt.

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Kind“ ein ‚junges Ding‘. Hier fängt es gewissermaßen schon an bzw. geht es schon weiter: Anders als grundsätzlich im Märchen (und anders vor allem als im Grimm’schen Sterntaler und erst recht anders als in den sattsam bekannten Illustrationen zu diesem Märchen) ist in Büchners Antimärchen der Protagonist geschlechtlich nicht spezifiziert: Das Geschlecht einer handelnden Figur kann im Märchen jedoch allenfalls dann irrelevant sein, wenn es nur eine Figur gibt. Wenn die interpretierende Analyse eines literarischen Textes theoretisch zurückgeführt werden kann auf die Summe der operativen Entscheidungen, die zu seiner Herstellung nötig waren,9 so bietet sich dieses Vorgehen beim Antimärchen in besonderer Weise an, weil dessen Grundoperation darin besteht, das jeweilige Märchenmerkmal zu identifizieren und zu negieren: Es gibt keine Märchen ohne geschlechtliche Spezifizierung der handelnden Figuren – also wird in diesem Antimärchen die geschlechtliche Spezifizierung negiert; es gibt keine Märchen ohne Interaktion zwischen Figuren – also gibt es im radikalen Antimärchen nur eine Interaktion mit Dingen. Welcher Art sind nun die im Märchen konkret in der Diegese vorkommenden Dinge? Es sind vier Entitäten: die Erde, der Mond, die Sonne und die Sterne. Dabei werden die „Erd“ dreimal, „Mond“ und „Sonn“ zweimal, und die „Sterne“ einmal explizit aufgerufen. Genannt wird also erstens, aus einer geozentrischen Perspektive, das komplette Arsenal der Himmelskörper, und genannt wird zweitens zunächst kein anderer Gegenstand, kein anderes Ding. Man vergleiche das mit dem Beginn des Sterntaler-Märchens: Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. (KHM 153, S. 681)

Zunächst werden hier Dinge aufgerufen, die eigentlich Orte sind und in ihrem Fehlen gewissermaßen die mögliche Leergeräumtheit und Unbewohnbarkeit der Welt schlechthin andeuten („Kämmerchen“, „Bettchen“). Dann werden die beweglichen Dinge genannt, die noch übrig sind: das „Stückchen Brot“ und die „Kleider auf dem Leib“. Im weiteren Verlauf wird das Arsenal Letzterer dadurch weiter angereichert, dass es – das ist ja die Hauptbewegung dieses Grimm’schen Märchens – sukzessive weggegeben wird (nachdem als Erstes das Brot verschenkt worden ist): nämlich „Mütze“, „Leibchen“, „Röcklein“ und „Hemdlein“. Während Büchner mit Hilfe des Allquantors („Alles tot“, „Niemand“) die irdische Bühne leerräumt, muss das Sterntaler-Mädchen noch sein biedermeierliches

 Vgl. Michael Niehaus: Erschöpfendes Interpretieren. Eine exemplarische Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleists „Das Bettelweib von Locarno“. Berlin 2013, S. 228.

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Arsenal loswerden, bis es dann, aber eben im Dunkeln, ganz nackt dasteht. Dass es dann, nachdem die Taler vom Himmel gefallen sind, auf einmal wieder ein neues Hemdlein „vom allerfeinsten Linnen“ (KHM 153, S. 682) anhat, darf man als eine verräterische diegetische, aber den künftigen Illustratoren entgegenkommende Inkonsistenz werten. Die Biedermeierlichkeit ergibt sich übrigens auch daraus, dass die Notate in der handschriftlichen Urfassung der Brüder Grimm von 1810 nur vier Zeilen lang sind.10 Anders also als bei Büchner ist im Sterntaler-Märchen noch einiges an Personal unterwegs und irdische Dinge wechseln den Besitzer. Bei Büchner wissen wir nicht, ob das Kind nackt ist. Aber die Frage stellt sich auch gar nicht. Dafür ist umgekehrt im Sterntaler-Märchen überhaupt nicht von Gestirnen bzw. Himmelskörpern die Rede. Sonne und Mond kommen nicht vor und die Sterne erst in dem Moment, in dem sie zu Talern werden: „Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter blanke Taler.“ (KHM 153, S. 681) Das ist auch der einzige Satz, in dem das Wort „Himmel“ auftaucht. Das Mädchen ist nämlich so mit ihren irdischen guten Taten beschäftigt, dass ein Blick nach oben gar nicht in Frage kommt.

3 Die Himmelskörper in Büchners Antimärchen verdanken sich zwei anderen Grimm’schen Märchen, die beide eine erheblich komplexere Handlungsstruktur aufweisen. Sowohl Die sieben Raben als auch in Das singende, springende Löweneckerchen enthalten unter anderem eine Handlungssequenz, in der sich die weibliche Protagonistin auf eine lange Reise begibt; „bis an der Welt Ende“ (KHM 25, S. 155) geht die Protagonistin in Die sieben Raben, um ihre in Raben verwandelten Brüder zu erlösen; „sieben Jahre“ lang geht die Protagonistin in Das singende, springende Löweneckerchen „in die weite Welt hinein“ (KHM 88, 432), um ihren in eine Taube verwandelten Gemahl zu erlösen. Beide Male wird also die „Welt“ als Referenzsystem aufgerufen. An „der Welt Ende“ kommt das Mädchen in Die sieben Raben „zur Sonne, aber die war zu heiß und fürchterlich und fraß die kleinen Kinder“ (KHM 25, S. 155), der Mond hingegen ist dann „gar zu kalt und auch grausig und bös“, und

 Vgl. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. Hrsg. u. kommentiert von Heinz Rölleke. Stuttgart 2007, S. 20. Der Titel lautet hier nur Armes Mädchen: „Kindermährchen von dem armen Mädchen, ohne Abendbrot, ohne Eltern, ohne Bett, ohne Haube u. ohne Fehler, die aber allemal so oft ein Stern sich putzte unten einen hübschen Taler fand u.s.w“.

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er spricht: „Ich rieche, rieche Menschenfleisch“ (KHM 25, S. 155). Erst bei den Sternen findet das Mädchen Hilfe, „die waren ihm freundlich und gut“, und sie sitzen im Übrigen „jeder […] auf seinem besonderen Stühlchen“ (KHM 25, S. 155). In Das singende, springende Löweneckerchen (KHM 88, S. 429–436) ist das Ende der Welt zwar nicht möbliert, aber dafür avancieren die himmlischen Mächte zu Helfern (im von Vladimir Propp beschriebenen Sinn).11 Die zunächst aufgesuchte Sonne schenkt der Heldin nebst guten Worten ein Kästchen, der danach besuchte Mond schenkt ihr nebst guten Worten ein Ei. Die Himmelskörper fungieren umso mehr als Akteure und nicht als Dinge, als sie ihrerseits zu Schenkern von Dingen werden. Wie sehr die Körperhaftigkeit der Himmelskörper dabei eliminiert wird, zeigt auch die sich anschließende dritte Episode, bei der nämlich die Sterne durch die Winde ersetzt werden (die dem Mädchen nebst guten Worten eine Nuss zukommen lassen). Sowohl in Die sieben Raben als auch in Das singende, springende Löweneckerchen erweisen sich die nahbaren Gestirne als Nicht-Dinge und als nicht-stumm. Weil bei Büchner das Märchen gewissermaßen an jeder Stelle zum Antimärchen werden soll, erweisen sich Sonne, Mond und Sterne als Himmelskörper. Und mit ihnen auch die Erde. Die Opposition Himmel/Erde spielt in den drei Märchen der Brüder Grimm überhaupt keine Rolle, sondern wird eher vorausgesetzt. Das Wort „Erde“, das bei Büchner dreimal vorkommt, taucht in keinem der Märchen auf, und das Wort „Himmel“ findet sich in Das singende, springende Löweneckerchen überhaupt nicht, in Die sieben Raben nur in der Wendung „des Himmels Verhängnis“ (KHM 25, S. 155) ohne Bezug auf Himmelskörper und in Die Sterntaler nur in der Mitteilung, dass die „Sterne vom Himmel“ (KHM 153, S. 681) fallen. Die Grimm’schen Märchenfiguren gehen, wenn sie Sonne, Mond und Sterne aufsuchen oder treffen, gerade nicht wie das „arm Kind“ bei Büchner, in den Himmel, sondern eben ans Ende der „Welt“. Daher muss zunächst einmal festgehalten werden: Weil Sonne, Mond und Sterne in Büchners Antimärchen wirklich als Himmelskörper aufgefasst werden, können sie sich bei ihrer Annäherung als bloße Dinge erweisen. Und folglich erweisen sie sich dann auch als Antimärchen-Dinge. Der Mond erweist sich als ein „Stück faul Holz“, die Sonne als eine „verwelkte Sonnenblume“ und die Sterne als „kleine goldne Mücken die waren angesteckt wie der Neuntödter sie auf die Schlehen steckt“ (MBA 7.2, S. 9). Solche Dinge kommen im Volksmärchen nicht vor. Um sich ihre Unmärchenhaftigkeit vor Augen zu stellen, genügt es, bei Max Lüthi nachzuschlagen, der die

 Vgl. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. München 1972 (die russische Originalausgabe erschien erstmals 1928).

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Eigenart der Märchendinge in seinem Standardwerk Das europäische Volksmärchen in mehreren Anläufen charakterisiert. Die „scharfe Kontur“, die er dem Volksmärchen insgesamt attestiert, komme schon dadurch zustande, dass das Märchen „die einzelnen Dinge nicht schildert, sondern nur nennt“.12 Das „wirkliche Volksmärchen“ verwende kaum bloße Beiworte. Die „Brüder Grimm“ hätten den Pfad des „echten Märchens“ bereits verlassen, wenn sie von den „roten Augen“ oder der „langen Nase“ einer Hexe sprächen.13 Die nähere Bestimmung eines faulen Stücks Holz und einer verwelkten Sonnenblume ist aber darüber hinaus auch deshalb unmärchenhaft, weil die „Dinge“, die das Märchen nennt, in der Regel eine „scharfe Umrißlinie“ besitzen, wie Lüthi sagt: „Ringe, Stäbe, Schwerter, Haare, Nüsse, Eier, Kästchen“14 usw. gehörten zu den Lieblingsdingen im Märchen. Beiworte wie faul und verwelkt sind hingegen dazu angetan, die klaren Umrisslinien zu verwischen. Hinzu kommt die „Neigung des Märchens, Dinge und Lebewesen zu metallisieren und zu mineralisieren“. Nicht nur können ganze Städte aus Eisen und Berge aus Glas bestehen, auch goldene Äpfel, Edelsteine und Perlen gehören zu den „stehenden Märchenrequisiten“.15 Bei der Vorliebe für Gold spielt die Farbqualität vor allem als Index für einen ebenso wertvollen wie unzerstörbaren metallischen Gegenstand eine Rolle. Ansonsten bevorzugt das Märchen die „klare, ultrareine Farbe“ (außer golden und silbern vor allem schwarz, rot und weiß, schon seltener blau, fast nie grün).16 Der Mond als ein „Stück faul Holz“ und die Sonne als „verwelkte Sonnenblume“ ersetzen die unzerstörbar machende Metallisierung und Mineralisierung durch ihr genaues Gegenteil, indem die Verfallszeit in das Ding eingetragen und zum wesentlichen Merkmal erhoben wird. Etwas anders verhält es sich mit den Sternen, deren unmärchenhafte Seinsbestimmung deutlich komplexer ausfällt: „kleine goldne Mücken die waren angesteckt wie der Neuntödter sie auf die Schlehen steckt“ (MBA 7.2, S. 9). Hier widerspricht bereits die Notwendigkeit der Explikation der Logik des Märchens, obwohl andererseits das Mitzuteilende in einem naturnahen Erfahrungswissen und insofern auch im Mündlichen verankert wird. Der Neuntöter ist ein Singvogel, der berühmt ist für sein Beuteverhalten (er ist ein Sperlingsvogel, der zur Familie der Würger gehört). Zwecks Vorratsbildung spießt er die erlegte Beute bei Bedarf an Dornen auf. Allerdings sind das dann keine Mücken, sondern größere Insekten und kleinere Wirbeltiere. Zum einen

    

Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. 5. Aufl. München 1976, S. 25. Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 26. Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 26. Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 27. Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 28.

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passt wohl die spezifische Kleinheit, die in der Vielzahl von Sternen avisiert wird, eher zu Mücken als zu anderen Insekten oder gar Mäusen, zum anderen wird für die Mücken nun das einzige farbliche Beiwort in Büchners Antimärchen verwendet: Dass die Mücken golden sind, mag verwundern, ist aber als Kennzeichnung notwendig, um einen – wenn auch pervertierten – Bezug zum Leuchten der Sterne herzustellen. Die Wortzusammenstellung ‚goldene Mücke‘ ist sehr ungewöhnlich; es kann sein, dass Büchner durch das Wirtshaus Zur goldenen Mücke im alten Straßburg angeregt wurde.17 In jedem Falle ist das Goldene der Mücke lediglich eine farbliche Bestimmung. Es lässt sich mit den Mücken im Sonnenlicht assoziieren, nicht aber mit einer märchenhaften Vergoldung bzw. Metallisierung. Alle drei in Büchners Märchen genannten Himmelskörper müssen sich, um einen Bezug zu ihrem Anschein aus der Ferne herzustellen, als etwas erweisen, was ihr Leuchten oder Scheinen erklärt. Bei den Sternen ist das die goldene Farbe und bei der Sonne die Sonnenblume. Beide Male erscheint die Leuchtfarbe allerdings nicht rein (das eine Mal, weil es sich um Insektenkadaver handelt, das andere Mal, weil die Sonnenblume verwelkt ist). Beim Mond ist dieser Bezug nicht so deutlich. Zunächst einmal ist festzustellen, dass Büchner die kanonische Reihenfolge – ‚Sonne, Mond und Sterne‘ (wie auch im Titel dieses Beitrags) – in ‚Mond, Sonne und Sterne‘ verändert hat. Es ist also der Mond, der das „arm Kind“ dazu verlockt, in den Himmel zu gehen. Diese Lockung ist notwendig oder zumindest folgerichtig. Der Halbsatz „der Mond guckt es so freundlich an“ (MBA 7.2, S. 8) ist die einzige positiv konnotierte Stelle im Text (und mithin eine Stelle, wie sie auch in einem Märchen stehen könnte). Der Mond lockt hier sozusagen mit einem möglichen Akteurs- oder AktantenStatus als Helfer, weswegen der anschließende Desillusionierungsvorgang hier am ausgeprägtesten ist. Wie der Lockungsvorgang konkret – also visuell – beschaffen ist, ist nicht ganz selbstverständlich. Tatsächlich leuchtet ein „Stück faul Holz“ unter bestimmten Umständen, wenn es von bestimmten Pilzsorten befallen ist. Es handelt sich um ein Phänomen der Bioluminiszenz,18 das im Englischen auch als Foxfire oder shining wood bezeichnet wird, bereits Aristoteles bekannt war, von Plinius erwähnt wird und von Francis Bacon als Faszinosum eines kalten Lichts namhaft gemacht wird. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die sogenannte ‚Lichtfäule‘ in Deutschland wissenschaftlich untersucht. Büchner hat dieses Phänomen möglicherweise im Schulunterricht bei Ernst Theodor Pistorius ken N. N.: Strassburger Gassen- und Häusernamen im Mittelalter. Straßburg 1871, S. 61.  Vgl. zum Phänomen ausführlich Vladimir S. Bondara, Osamu Shimomura u. Josef I. Gitelsona: Luminescence of Higher Mushrooms. In: Journal of Siberian Federal University. Biology 4 (2012/5), S. 331–351.

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nengelernt, in dessen Lehrbuch der Naturwissenschaft für die Jugend es erwähnt wird (vgl. MBA 7.2, S. 457).19 Es ist offenbar dieses seiner Aussageabsicht sehr entgegenkommende Phänomen des kalten Lichts als einer Verfallserscheinung, das Büchner dazu bewogen hat, den Mond und nicht die Sonne an die erste Stelle der Himmelsreise des Kindes zu setzen.20

4 Weil die Gestirne in Büchners Antimärchen als Himmelskörper aufgefasst werden, ist es möglich, sich ihnen zu nähern und sie im Prinzip auch zu berühren. Dadurch werden sie zu Dingen. Und damit werden verschiedene Eigenschaften ins Spiel gebracht. Die Gestirne sind nur als Naturerscheinungen zugänglich; sie bewegen sich zyklisch in alle Ewigkeit nach ihren eigenen Gesetzen und sind nicht von Menschen verrückbar oder beeinflussbar, der daher mit ihrer Hilfe die Zeit einteilen kann. Die zu nahbaren Dingen gewordenen Himmelskörper hingegen werden in Büchners Antimärchen zwar ebenfalls mit Naturvorgängen assoziiert, aber eben in der Zeitlichkeit eines materiellen Zersetzungsprozesses. Dies verbindet sich mit einer extremen Verkleinerung. Die Himmelskörper bleiben sozusagen von Nahem so klein, wie sie von der Ferne aus erschienen sind. Märchenhaft ist zudem, dass sie alle gleich weit voneinander entfernt, also gewissermaßen auf einer Fläche angeordnet sind. „Das Märchen saugt alles Räumliche von den Dingen und Phänomenen ab und zeigt sie uns als Figuren und figurale Vorgänge auf einer hell beleuchteten Fläche“,21 heißt es bei Lüthi. Helle Beleuchtung herrscht in Büchners Antimärchen nun gerade nicht. Vielmehr ist es ziemlich schwarz. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass die Welt dieses Märchens ein weiteres Ding enthält, das zwar nicht genannt, wohl aber impliziert ist. An was sind denn die Sterne wie die „kleine goldne Mücken […] angesteckt“? Das kann nur der Himmel selbst sein, der dadurch zum flächenhaften Material wird, zu einem nachtschwarzen Stoff. Und weil der Himmel zum Ding wird, kann es auch die Erde werden, die sich schließlich als „umgestürzter Hafen“ (MBA 7.2, S. 9) erweist, also als ein Artefakt, dessen Umgestürztheit eine menschengemachte

 Vgl. ausführlich Helmut Brandl: Die ‚Lichtfäule‘ in Gruben und Bergwerken – ein historischer Rückblick. In: Minaria Helvetica 27b (2007), S. 41–48.  Man muss allerdings hinzufügen, dass das Licht der Lichtfäule stark grünlich und insofern dem Mondlicht recht unähnlich ist.  Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 24.

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Verfehlung bei der Einrichtung der Dinge dieser Welt metaphorisiert. So ist denn nunmehr alles Ding, mit dem „arm Kind“ in der Mitte. Das Antimärchen präsentiert uns also eine verkehrte Welt. Das sagt man so und meint damit, dass es in der Welt – etwa in der Welt der Dramenfigur Woyzeck – ungerecht zugeht.22 Aber was ist eine verkehrte Welt, beim Wort genommen? Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass diese Welt unbewohnbar ist. Die Dinge sind nicht dort, wo sie die Welt bewohnbar machen, weil der Mensch von ihnen umgeben ist und mit ihnen umgeht, stattdessen sind Himmel und Erde selbst zu einer Art von Dingen geworden. Nähe und Ferne haben gewissermaßen den Platz getauscht, und insofern könnte man sagen, dass sich die Konstellation verkehrt hat (wenn man das Wort Konstellation überhaupt verwenden darf, da es ja mit den Sternen schon eine partielle Region voraussetzt), oder dass sie auf die verkehrte Weise eingerichtet ist. Unbewohnbarkeit heißt demzufolge nicht nur, dass die Welt gleichsam leergeräumt ist, dass die Menschen die Dinge nicht mehr in ihrer Nähe haben, sondern ebenso, dass es die Ferne nicht mehr gibt.23 Mit der Ferne verschwindet nicht zuletzt die Unverfügbarkeit von Abläufen bzw. Bewegungen, mit welcher Zeit überhaupt bemessen werden kann. Ohne die Gestirne gibt es nichts, was in der Zeit wiederkehrt. Wie kann es nach diesem Abschreiten der Gestirne noch Tag und Nacht geben? Für das „arm Kind“ vergeht die Zeit nicht, deshalb sitzt es der Erzählerin zufolge noch immer da. Insofern unterscheidet sich die verkehrte Welt dieses Antimärchens grundsätzlich von der berühmten (geträumten) Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei in Jean Pauls Siebenkäs, die von der Büchnerforschung verschiedentlich vergleichsweise ins Feld geführt worden ist (vgl. DKV 1, S. 777). In dieser Rede spricht Christus davon, dass er „in die Sonnen“ gestiegen, „mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels“ geflogen sei und festgestellt habe: „es ist kein Gott“: „Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?‘ aber ich höre nur den ewigen Sturm, den

 Vgl. etwa resümierend Michael Hofmann, Julian Kanning: Georg Büchner. Epoche – Werk – Wirkung. München 2013, S. 166: „In Woyzeck spiegelt sich eine verkehrte Welt, in der die Dummen und Gerissenen oben stehen und die Geringen leiden und verzweifeln.“  Man kann feststellen, dass das sprachliche Verwandeln der Gestirne in etwas Nahbares ein rekurrentes Merkmal bei Büchner ist, vor allem in Leonce und Lena. Dort heißt es etwa: „Ist es denn wahr, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne seine Dornenkrone und die Sterne die Nägel und Speere in seinen Füßen und Lenden?“ (MBA 6, S. 110) Oder: „Der Mond ist wie ein schlafendes Kind“ (MBA 6, S. 116), und die Rede ist vom „schwarzen Bahrtuch der Nacht“ (MBA 6, S. 116) Oder: „Die Sonne sieht aus wie ein Wirthshausschild und die feurigen Wolken darüber, wie die Aufschrift: Wirthshaus zur goldnen Sonne. Die Erde und das Wasser da unten sind wie ein Tisch auf dem Wein verschüttet ist und wir liegen darauf wie Spielkarten“ (MBA 6, S. 114).

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niemand regiert“.24 Bei Jean Paul gibt es also ein Sprechen, das in einer bestimmten (apokalyptischen) Situation einen Abgrund auftut und eingebunden ist in einen Dialog zwischen Christus und den „gestorbenen Kinder[n], die im Gottesacker erwacht“ sind. Als Christus auf deren Frage: „Jesus! haben wir keinen Vater?“, eine bestätigende Antwort gibt, kreischen die „Mißtöne“, die „zitternden Tempelmauern“ versinken mitsamt den Kindern, „und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermesslichkeit vor uns vorbei“.25 Was vom „durchbrochne[n] Weltgebäude“ übrig bleibt, ist „gleichsam“ das „in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen“.26 Hier wird der Zusammenbruch des Weltgebäudes als ein kosmologisches (und erhabenes) Geschehen inszeniert. Er erfolgt auf die Mitteilung hin, dass es keine Instanz gibt, auf die sich das Weltgebäude gründen könnte.27 Es gibt keine Einrichtung (keine institutionelle Ordnung) der Welt. Daher der (dramatische) Abgrund: eine ‚Entgründung‘.28 In Büchners Antimärchen gibt es – wenn man so sagen darf – die Abwesenheit dieser Instanz nicht (oder genauer: ihre Abwesenheit ist abwesend). Die Folge davon ist, dass die Frage nach der Einrichtung der Welt auf ihrer (nicht erhabenen) ‚dinglichen Beschaffenheit‘ beharrt.

5 Um verstehen zu können, was es mit diesem Verharren auf sich hat, ist es geboten, Büchners Antimärchen zu Martin Heideggers Denken über das Ding in Beziehung zu setzen, das insbesondere in seinem Vortrag Das Ding von 1950 entfaltet wird. Das Ding ist für Heidegger (unter anderem unter Verweis auf das englische Wort thing und das altdeutsche, einen Versammlungsort bezeichnende Wort Thing) das Versammelnde. Das, was das Ding, indem es dingt, versammelt, nennt

 Jean Paul: Siebenkäs. In: Jean Paul: Werke. Hrsg. v. Norbert Miller. Bd. II, München u. Wien 4 1987, S. 272.  Paul: Siebenkäs, S. 273.  Paul: Siebenkäs, S. 273.  Vgl. Pierre Legendre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Freiburg 1998, S. 29. Legendre zitiert diese Stelle bei Jean Paul, um darzulegen, „daß gerade die Idee dessen, was wir Vater nennen, in den institutionellen Systemen einen genau umrissenen Platz einnimmt“.  Vgl. zu diesem Begriff Michael Niehaus: Entgründung. Auch ein Kommentar zu Kafkas „Urteil“. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 48/3 (2002), S. 344–364.

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Heidegger das Geviert – nämlich das Geviert aus Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen. Und nur nach Maßgabe dieses Gevierts gibt es die Welt: „Wir nennen das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen die Welt. Die Welt west, indem sie weltet. Dies sagt, das Welten von Welt ist weder durch anderes erklärbar noch aus anderem begründbar.“29 Die Dinge, könnte man sagen, richten die Welt ein. Aber sie tun es eben nicht, indem sie die zuvor gleichsam als Leerraum gedachte Welt einfach ‚möblieren‘, sondern indem sie das Geviert versammeln. Heideggers paradigmatisches Beispiel ist der Krug, dessen Boden und Wandung gemacht ist aus Tonerde und der eine Leere umfasst, welche das ‚Geschenk des Gusses‘ bedingt: „Im Geschenk des Gusses weilen zumal Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen.“30 „Die Erde ist“, so Heidegger, „die bauend Tragende, die nährend Fruchtende“, der Himmel hingegen „der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres. Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht“.31 Die Göttlichen umschreibt Heidegger als die „winkenden Boten der Gottheit“, die das ist, was „jedem Vergleich mit dem Anwesenden“ entzogen ist. Und schließlich sind die Sterblichen die Menschen, „die den Tod als Tod vermögen“.32 Man mag mit dieser Sprechweise hadern und sie für obsolet halten, auf die verkehrte Welt von Büchners Antimärchen passt sie sehr genau. Dass die Erde hier nicht als „die bauend Tragende, die nährend Fruchtende“ in Erscheinung tritt, versteht sich von selbst. Der Himmel wird gewissermaßen dadurch kassiert, dass er nicht mehr unnahbar ist. Weil die Gestirne selbst zu Dingen geworden sind, können die Dinge nicht mehr etwas sein, was den Himmel in seiner Unnahbarkeit versammelt. Das Antimärchen vollzieht dies in einer Dekonstruktionsbewegung noch einmal nach. Denn zu Anfang (nachdem ja auch noch märchenkonform Vater und Mutter genannt worden sind) heißt es noch, dass das Kind „Tag und Nacht“ (MBA 7.2, S. 8) weint, bzw. „gerrt“. Nachdem es den Himmel sozusagen durch die Begehung abgeschafft hat, kann es Tag und Nacht jedoch nicht mehr geben, und das Kind setzt sich hin „und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein“ (MBA 7.2, S. 9). Weil mit der Verwandlung der Gestirne in Dinge auch das Vergehen der Zeit abgeschafft ist, kann das „arm Kind“ nicht mehr zu den Sterblichen gehören, die „den Tod als Tod vermögen“. Insofern hat es den Platz der Göttlichen eingenommen und eliminiert, denn deren Wesen hätte darin zu bestehen, nicht anwesend zu sein.

 Martin Heidegger: Das Ding. In: Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954, S. 163–186, hier S. 181.  Heidegger: Das Ding, S. 175.  Heidegger: Das Ding, S. 179 f.  Heidegger: Das Ding, S. 180.

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Man kann sagen, dass es Heidegger darum geht, die menschlichen Raumverhältnisse zu analysieren. Daher gibt es eine enge Verwandtschaft zwischen der Frage nach dem Ding und der Frage nach dem Wohnen, nach der Welt als einem bewohnbaren Ort. Die verkehrte Welt ist eben ein nicht-bewohnbarer Ort. Die menschlichen Raumverhältnisse bedürfen sozusagen einer Regulierung des Verhältnisses von Nähe und Ferne, von Unnahbarkeit und Anfassbarkeit. Das ist auch der Einsatzpunkt von Heideggers Vortrag über das Ding, der mit dem Satz beginnt: „Alle Entfernungen in der Zeit und im Raum schrumpfen ein.“33 Das ist nun allerdings wie auf das „arm Kind“ in Büchners Woyzeck gemünzt, das ohne Weiteres Mond, Sonne und Sternen einen Besuch abstatten kann. Die Verwandlung des Himmels in Dinge macht den Himmel eben nahbar oder genauer abstandslos und verkehrt damit nicht nur die Welt, sondern verwehrt den Dingen das Dingen. Heidegger erläutert das menschliche Raumverhältnis von Nähe und Ferne wiederum am Beispiel des Kruges: Heute ist alles Anwesende gleich nah und gleich fern. Das Abstandslose herrscht. Alles verkürzen und Beseitigen der Entfernung bringt jedoch keine Nähe. Was ist Nähe? Um das Wesen der Nähe zu finden, bedachten wir den Krug in der Nähe. Wir suchten das Wesen der Nähe und fanden das Wesen des Kruges als Ding. Aber in diesem Fund gewahren wir zugleich das Wesen der Nähe. Das Ding dingt. Dingend verweilt es Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen; verweilend bringt das Ding die Vier in ihren Fernen einander nahe. Dieses Nahebringen ist das Nähern. Nähern ist das Wesen der Nähe. Nähe nähert das Ferne und zwar als das Ferne. Nähe wahrt die Ferne.34

In Büchners Antimärchen ist die Welt verkehrt, weil die Nähe die Ferne nicht wahrt. Und im Grunde ist es genau das, was jeder und jede empfindet, wenn er oder sie dieses Antimärchen liest oder hört. Und schließlich: Der Krug, das Paradigma des Dings, das uns Heidegger vorstellt, hat eine große Ähnlichkeit mit dem Hafen in Büchners Antimärchen. Ein ‚Hafen‘ ist im Althochdeutschen erst einmal einfach ein irdenes Gefäß.35 Etwas, das etwas fasst. Auch der Krug besteht, wie Heidegger mitteilt, „aus Wand und Boden“. Sonst eignete ihm nicht das „Geschenk des Gusses“, in dem – um es noch einmal zu wiederholen – „zumal Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen“ weilen.36 Heidegger sagt auch: „Durch das, woraus der Krug besteht, steht

 Heidegger: Das Ding, S. 167.  Heidegger: Das Ding, S. 179.  Hafen. In: Wolfgang Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993). Digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, (zuletzt abgerufen am 09.10.2021).  Heidegger: Das Ding, S. 175.

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er. Was wäre ein Krug, der nicht stünde?“37 In Büchners Antimärchen ist der Hafen, der die Erde ist, jedoch umgestürzt. Fragt sich, wohin sich das „Geschenk des Gusses“ dann eigentlich ergossen haben kann. Darauf lässt sich durchaus eine Antwort geben: auf den Bühnenboden. Denn wo sonst sind die Gestirne nahbar als dort, wo sie Requisiten sind? Und solche Requisiten sind Undinge.

 Heidegger: Das Ding, S. 171.

Agnes Hoffmann

Unter der Schädeldecke Büchners Präparate zwischen Pathologie und Poetik

1 Einleitung Präparate sind eigenwillige Dinge. Sie bringen die Koordinaten der Wirklichkeit ins Oszillieren: Sie sind zugleich organischer Körper(teil) und dessen künstliche Darstellung im Artefakt, type und token, tote Materie und Anschauungsobjekt des Lebendigen.1 Dies gilt, bei allen Unterschieden in Herstellungs- und Beobachtungsverfahren, für ein Schädelpräparat oder die Nervenspindeln der Flussbarben zu Büchners Zeiten genauso wie für ein heutiges molekularbiologisches Präparat einer DNASequenz.2 Das frühe 19. Jahrhundert widmete sich disziplinübergreifend ihrer Erkundung – nicht nur waren Präparate aus Studium, Lehre und Forschung der Naturwissenschaften, z. B. der vergleichenden Anatomie nicht mehr wegzudenken, sondern sie fanden auch das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit, wurden zu Schaustücken in öffentlichen und privaten Sammlungen, zum Thema von Journaldebatten und nicht zuletzt zum Gegenstand der Literatur, die z. B. mit Jean Pauls Dr. Katzenbergers Badereise (1809) und Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821) eine handfeste Auseinandersetzung mit der Herstellung von Präparaten und ihrer irritierenden epistemischen Mehrdeutigkeit in den literarischen Höhenkamm und das kulturelle Gedächtnis der Epoche einschleuste. Dass Präparate gerade in Büchners Werk einen gewichtigen Stellenwert beanspruchen, wundert vor diesem Hintergrund wenig. Im Zentrum des vorliegenden Artikels steht die Präsenz der zeitgenössischen Präparatkultur in seinen literari-

 Vgl. die grundlegenden Ausführungen bei Hans-Jörg Rheinberger: Epistemologica: Präparate. In: Ding-Welten. Das Museum als Erkenntnisort. Hrsg. v. Anke Te Heesen u. Petra Lutz. Köln, Weimar u. Wien 2005 (= Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Bd. 4), sowie das Editoral der Hrsg. in: Bildwelten des Wissens: Präparate. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 9.1. Hrsg. v. Claudia Blümle, Horst Bredekamp, Matthias Bruhn u. Katja Müller-Helle. Berlin 2012, S. 5 f.  Zu mikrobiologischen Präparaten im Kontext einer allgemeinen Geschichte des Präparats vgl. Rheinberger in: Ders.: Epistemologica: Präparate. A. a. O., S. 73 f.; zur Geschichte der Präparate im 18. und frühen 19. Jahrhundert allgemein siehe: Rüdiger Göbbel, Luminita Schultka: Präparationstechniken und Präparate im 18. und frühen 19. Jahrhundert, dargestellt an Beispielen aus den anatomischen Sammlungen zu Halle (Saale). In: Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Jürgen Helm u. Karin Stukenbrock. Stuttgart 2003, S. 49‒80. Agnes Hoffmann, Basel https://doi.org/10.1515/9783110796278-010

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schen Texten: die Schädel, Skelette, mikroskopischen Präparate und Referenzen auf Sezier- und Konservierungstechniken, die in seinem dramatischen Werk omnipräsent sind, bisher aber keinen ausgewiesenen Forschungsgegenstand bildeten. Die engen Verbindungen, die seine Texte auch jenseits der Schriften zur Naturforschung zum anatomischen Praxiswissen seiner Zeit unterhalten, wurden schon von Zeitgenossen bemerkt3 und von der Forschung seither regelmäßig aufgegriffen.4 Einige Studien fokussierten in diesem Zusammenhang auf das Verhältnis von Dispositiven des Wissens und der Wahrnehmung: Büchners literarische Texte vollziehen demnach eine Übertragung von Beobachtungsformen aus dem Feld der Naturwissenschaften, namentlich der Anatomie, auf die soziale und politische Welt der Epoche – mit dem Effekt einer zugleich epistemischen wie ästhetischen Modellierung der in den Texten zur Darstellung gebrachten Sicht auf die zeitgenössischen Verhältnisse. Eine Perspektivierung, die z. B. als ein über Inhalt und Form realisierter „szientifischer Blick“,5 als textlich realisierte „Seh- und Wahrnehmungsschule“,6 oder als eine kritisch zur Darstellung gelangende „naturwissenschaftliche[] Blickweise“7 im Rahmen eines auf die Physiologie von Figuren und Verhältnissen gerichteten Interesses beschrieben wurde. Die Frage nach Büchners (literarischen) Präparaten dreht diese Blickrichtung um: Statt Wahrnehmungsweisen stellt sie deren Objekte ins Zentrum, die Praktiken ihrer Herstellung und die Kontexte ihres Gebrauchs. Im Gegensatz zu seinen naturwissenschaftlichen Schriften, in denen präparierte Objekte – z. B. die unzähligen Frischpräparate von Nervenfasern der Flussbarben, die er im Zusammenhang seiner Dissertationsschrift anfertigte8 – fraglos dem Verständnis der Anatomie und  Beispielsweise hoben Ludwig Büchner und Karl Gutzkow beide die Nähe seines Denkens und Schreibens zur Autopsie hervor; dargestellt bei Patrick Fortmann: Autopsie von Revolution und Restauration. Georg Büchner und die politische Imagination. Freiburg i. Br. 2003, S. 40 f.  Exemplarisch tun dies u. a. die Studien von Gideon Stiening: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin u. Boston 2019; Daniel Müller Nielaba: Die Nerven lesen. Zur Leit-Funktion von Georg Büchners Schreiben. Würzburg 2001; Henning Müller-Sievers: Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner. Göttingen 2003; Fortmann: Autopsie von Revolution und Restauration, sowie die unzähligen in der Marburger Büchner-Ausgabe aufgearbeiteten Einzelbezüge.  Stiening: Literatur und Wissen, S. 426–432.  Patrick Fortmann: Die Bildlichkeit der Revolution. Regime politischer Beobachtung bei Georg Büchner. In: GBJb 13 (2013–2015), S. 63–91, S. 65.  Günter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophieund gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ‚voie physiologique‘ in Georg Büchners ‚Woyzeck‘. In: GBJb 3 (1983), S. 200‒239, hier S. 207.  Paradigmatisch in seiner Dissertationsschrift Mémoire sur le système nerveux du barbeau (Cyprinus barbus L.), der sich in MBA 8 einsehen lässt. Einen systematischen Überblick über Büchners wissenschaftliche Arbeitsweise in Bezug auf seinen Forschungsgegenstand gibt Udo Roth:

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Biologie menschlicher oder tierischer Organismen dienen, umfassen seine literarischen Präparate neben Menschen und Tieren auch abstrakte Gegenstände wie Staatswesen oder Kommunikationsprozesse. Über die Topik des Präparats und die in den jeweiligen Dramen damit verbundenen Imaginationen gelangen so neben den naturwissenschaftlichen Paradigmen der Epoche auch gesellschaftliche und politische Verhältnisse in erstaunlicher Breite und Vielfalt zur Darstellung. Nach einigen kurzen Schlaglichtern auf die Präparatkultur des frühen 19. Jahrhunderts sollen im Folgenden am Beispiel von Leonce und Lena, Woyzeck und Danton’s Tod die Art und Weise dieser Darstellung ebenso wie ihre kritischen und ästhetischen Konsequenzen anschaulich gemacht werden.

2 Präparate im frühen 19. Jahrhundert Ein Eintrag aus der Allgemeinen deutschen Realencyklopädie für die gebildeten Stände von 1828 gibt einen Eindruck davon, welches Wissen über Präparate zu dieser Zeit in populären Nachschlagewerken zirkulierte: Anatomische Präparate: Thierische Körper und Körpertheile, welche nach der verlorenen Vitalität sich zu neuen Verbindungen aus ihrem jetzigen Zustande aufzulösen streben, können durch die menschliche Kunst substantiell erhalten werden. Für den Arzt ist es wichtig, die durch Krankheit verletzten Organisationen zur Festsetzung der ärztlichen Behandlung in ähnlichen Fällen, in ihrem krankhaft beschädigten Zustande, und zum Gegenstück das nämliche Organ in unbeschädigtem Zustande sich zu erhalten; ebenso dienen die anatomischen Präparate von gesunden Körpertheilen zum anatomischen Unterricht. Man bewahrt die anatomischen Präparate entweder durch Austrocknung, wie beim Skelett, oder in Flüssigkeiten, z. B. in Weingeist, Terpentinöl u. s. w. auf, wie bei Eingeweiden und den übrigen weichen Theilen des Körpers, oder endlich durch Injection (Einspritzung). […] Die so behandelten Präparate stellt man auf einen festen Körper oder in einen Rahmen. Die Aufbewahrung der Präparate in Flüssigkeiten geschieht gemeiniglich in hellen Gläsern, luftdicht verschlossen, soweit die menschliche Kunst dies treiben kann.9

Der Eintrag verweist auf verschiedene Gebrauchskontexte von Präparaten (Diagnose, Lehre bzw. Studium) sowie Verfahren ihrer Herstellung, Aufbewahrung und Darbietung. Der Beginn des Beitrags scheint dabei auf regelrecht metaphysische Dimensionen seines Objekts abzuzielen, wenn er das oben beschriebene generische

Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004 (= Büchner-Studien, 9), bes. S. 70–78.  Brockhaus: Allgemeine deutsche Realencyclopädie für die gebildeten Stände. Conversations = Lexicon in zwölf Bänden. Bd. 1. Leipzig 1828 [7. Auflage], S. 276.

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Oszillieren von Präparaten zwischen lebendigem Organismus, toter Materie und Artefakt betont: Ihre Herstellung wird als eine schöpferische Kunst bezeichnet, mit der die natürliche Degeneration eines organischen Körpers nach dem Tod (d. h. die „Auflösung“ zu „neuen Verbindungen“ nach dem Verlust seiner „Vitalität“) aufgehalten werden kann. Die Charakterisierung des Präparierens als „menschliche Kunst“ ist in diesem Zusammenhang mehrdeutig. Einerseits entspricht sie der klassischen Bestimmung von Medizin als spezifisches Können im Sinne von ars oder téchnē;10 zugleich zielt die Präparationskunst im Gegensatz zur Medizin ja gerade nicht auf den lebendigen Körper selbst, sondern vielmehr auf eine anschauliche, möglichst ‚naturgetreue‘ Vergegenwärtigung seiner Morphologie für potenzielle Betrachter:innen,11 die durch geeignete Darstellungspraktiken – der Artikel nennt die Fixierung „auf eine[m] festen Körper oder in eine[m] Rahmen“ und die Präsentation in Gläsern – in die Lage versetzt werden, die präparierten Objekte zu studieren. Der „substantiell[e]“ Erhalt von Körpern, von dem der Artikel spricht, dient, in diesem Sinn nicht unähnlich einem Kunstwerk, der Herstellung sinnlicher, d. i. ästhetischer Anschaulichkeit. Präparate mögen zwar nicht in einem biologischen Sinn lebendig sein, aber sie führen vormals lebendige Materie – indem sie diese konservieren und in Anschauungsobjekte und Lehrmaterial für die Erforschung des Lebens verwandeln – gleichsam einer neuen, ästhetisch vermittelten Lebendigkeit zu. Die fundamentale Bedeutung für medizinische Diagnostik und Unterweisung, die Präparaten in dem Artikel zugesprochen wird, spiegelt ihre Rolle in der akademischen Welt des frühen 19. Jahrhunderts. Verbunden mit dem Aufschwung der vergleichenden Anatomie zur Leitdisziplin der Biologie standen anatomische Präparate zu Büchners Zeit im Zentrum des zeitgenössischen Lehrbetriebs und der Forschung. Ihre Herstellung, die technisches Know-How erforderte und oftmals unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen erfolgte,12 war bereits seit dem mittleren 18. Jahrhundert an vielen Universitäten Europas Teil des akademischen Curriculums,13 erlebte nun aber zusehends eine Standardisierung und

 Angelehnt an die hippokratische Bestimmung der Medizin als téchnē resp. ars.  Frauen wurden zum Medizinstudium (wie auch zu allen anderen Fächern) im deutschsprachigen Raum erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (Schweiz) bzw. seinem Ende zugelassen. (Vgl. Marianne Kriszio: Frauen im Studium. In: Handbuch zur Frauenbildung. Hrsg. v. Wiltrud Gieseke. Opladen 2001, S. 293–304; hier S. 293 f.). Dennoch ist davon auszugehen, dass der allgemeine Kult um Präparate und ihre Zurschaustellung im öffentlichen Raum oder in gebildeten Kreisen (beispielsweise in Weimar oder Halle) dazu führte, dass auch viele Frauen v. a. aus Adel und höherem Bürgertum Zugang zu präparierten Objekten hatten.  Vgl. für einen Überblick die ‚Allgemeinen Regeln beim Zergliedern‘ in Ernest-Alexandre Lauths Neue[m] Handbuch der praktischen Anatomie (1835) (frz. Nouveau manuel de l’anatomiste [1829]). Stuttgart u. Leipzig 1835, S. 7–11.  Vgl. Rüdiger Göbbel, Luminita Schultka: Präparationstechniken und Präparate, S. 50.

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Professionalisierung: Methoden und Konservierungstechniken wurden detailliert in Handbüchern dargelegt, und insbesondere die weite Verbreitung des Mikroskops eröffnete neue Möglichkeiten (und Notwendigkeiten) für die genaue Beobachtung organischer Strukturen.14 Für Büchner selbst bildeten Präparate einen tragenden Pfeiler seiner Forschungen; angefangen von seiner Studienzeit in Gießen15 und Straßburg – wo er u. a. engen Kontakt mit dem dort lehrenden Professor Ernest Alexandre Lauth (1803‒1837) pflegte, einem der bekanntesten Anatomen seiner Zeit und Verfasser des einschlägigen Nouveau manuel de l’anatomiste (1829)16 – bis zur Arbeit an seiner Dissertation und der Probevorlesung für seine Dozentur in Zürich. Jenseits ihres praktischen Nutzens spricht aus dem Eintrag der Realencyclopedie auch eine erhebliche Faszination, die ihren Ort in der weiteren zeitgenössischen Kultur hat. Zu Büchners Lebzeiten konnten präparierte Objekte in eigens dafür bestimmten Hörsälen und den anatomischen Sammlungen der Universitäten studiert oder auch in privaten Sammlungen oder Studierstuben betrachtet werden. Parallel zum akademischen Aufschwung der vergleichenden Anatomie gewann in diesem Zusammenhang eine breitere Öffentlichkeit ein Interesse an Präparaten, die sich in öffentlich zugänglichen Sammlungen leibhaft bestaunen17 oder medial vermittelt in populären Nachschlagewerken wie dem zitierten, aber auch in Journalbeiträgen18 erkunden ließen. Die prekäre Stellung von Präparaten zwischen ‚echten‘ Körpern und künstlichen Objekten, individuellem Organismus und exem-

 Göbbel, Schultka: Präparationstechnicken, S. 51 f. Büchner selbst arbeitete in Straßburg und Zürich zur selben Zeit noch ohne Mikroskop (vgl. Stiening: Literatur und Wissen, S. 258).  Zu den zeitgenössischen Präparatsammlungen in Büchners Gießener Umfeld siehe die materialreiche Studie von Rolf Haaser: 1836 – Skizze einer medizinischen Topographie Gießens von Julius Wilbrand (1811‒1894) und Johann Jakob Sachs (1804‒1846): Prolegomena zu einem ‚GeorgBüchner-Handbuch Gießen‘. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen 98 (2013), S. 23–80.  Lauth und Büchner standen sich auch privat nah. Berichten seines Umfelds zufolge war Lauth zusammen mit Georges-Louis Duvernoy (Straßburg) der einflussreichste Lehrer Büchners im Feld der Anatomie; vgl. Stiening: Literatur und Wissen, S. 213.  Im frühen 19. Jahrhundert wurden viele vormals private oder universitäre anatomische Sammlungen ganz oder teilweise für Außenstehende zugänglich; die Albert Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. öffnete beispielsweise im Wintersemester 1827/1828 ihre anatomische Sammlung für ein interessiertes Publikum.  Neben aktuellen Meldungen aus der Medizin und ihren Institutionen beispielsweise in satirischen Schilderungen des (Medizin-)Studentenlebens wie der 1840 im Unterhaltungsblatt Der Sammler erschienenen, aus dem Französischen übersetzten Erzählung Die Pariser Studenten der Medicin. Nach Alfred Donné, in der das anatomische Studium an Präparaten und die Seziertätigkeit als ‚gräßliche‘ Tätigkeit ins Lächerliche gezogen werden. Vgl. Der Sammler. Ein Unterhaltungsblatt für alle Stände. 32:207 (18. Dezember 1840), S. 825 ff.

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plarischem Gegenstand fand ihren Nachhall dabei insbesondere in literarischen Texten der Zeit: Hier wurden – wie in Jean Pauls Beschreibung des schrulligen Anatomieprofessors und seiner fanatischen Leidenschaft für das Sammeln von Präparaten anatomischer Missbildungen – neben den neuesten Erkenntnissen der Teratologie auch zeitgenössische Praktiken einer Kategorisierung des anatomisch Normalen bzw. Abnormen kritisch zur Anschauung gebracht.19 Andere Werke nahmen satirisch die europaweite Konjunktur der phrenologischen Schädellehre Franz Joseph Galls (1748–1828) aufs Korn20 oder führten – wie Goethes Darstellung der präparatorischen Ausbildung des angehenden Wundarztes Wilhelm Meister – eine Auseinandersetzung mit den ethischen, ästhetischen und ökonomischen Dimensionen des Präparierens: Der Roman diskutiert am Beispiel des Arms einer schönen Frauen(-Wasser)leiche die Vorteile einer Ersetzung der herkömmlichen Präparationskunst durch Modelle aus Wachs, d. h. die seit der Renaissance geläufige Technik der anatomia plastica, die im frühen 19. Jahrhundert angesichts eines europaweiten Mangels an sezierbaren Leichnamen sowie der günstigen industriellen Herstellung von Materialien wie Papier- oder Steinmaché hitzig debattiert wurde.21 Georg Büchners literarische Texte greifen in dieser Weise Fragen auf, die den zeitgenössischen Präparatdiskurs umtrieben. Sehr viel bestimmter als in den bisher angeführten Beispielen werden diese jedoch in seinen Texten an soziale und politische Problemhorizonte ihrer Zeit zurückgebunden und so als Objekte des Wissens, der Ästhetik und der historischen Praktiken, aus denen sie hervorgehen, anschaulich und der ‚pathologischen‘ Analyse zugänglich gemacht.

 Jean Paul tut dies unter explizitem Bezug auf zeitgenössische Diskurse der Anatomie – erwähnt werden im Text u. a. Samuel Thomas Soemmerrings Abbildungen und Beschreibungen einiger Missgeburten (1791), Albrecht von Hallers Nervenlehre sowie aktuelle Standardwerke zur Physiologie – die das Werk satirisch verarbeitet. Ein Unterfangen, das keinen Geringeren als den prominenten Anatomen Johann Friedrich Meckel d. J. (1781–1833) dazu veranlasste, dem Werk seine Schrift De duplicitate monstrosa (1815) zu widmen. Vgl. Jadwiga Keta-Huber: Der (un) menschliche Wissenschaftler. Jean Pauls ‚Dr. Katzenbergers Badereise‘ (1809) und die Frage nach dem Menschen. In: Studia Germanica Gedanensia 40 (2019), S. 207–217.  Z. B. Brentano und Görres in: Wunderbare Geschichte von Bogs dem Uhrmacher (1807) oder E.T.A. Hoffmann in: Lebensansichten des Katers Murr (1822); weitere literarische Beispiele s. u. im Teilkapitel 4.  Einer der prominentesten intellektuellen Verfechter der künstlichen Modelle war Goethe selbst, der sich in verschiedenen Beiträgen und Amtsschriften für diese Alternative aussprach. Vgl. Ulrike Enke, Manfred Wenzel: Wißbegierde contra Menschlichkeit. Goethes ambivalentes Verhältnis zur Anatomie in seiner Dichtung und Biographie. In: Goethe Jahrbuch 115 (1998), S. 155‒170, bes. S. 97 ff. Aber die Debatte wurde weit breiter geführt, vgl. die Ausführungen zur günstigen Herstellung anatomischer Präparate aus Gips oder Steinmaché in Amtlicher Bericht über die allgemeine Deutsche Gewerbe = Ausstellung in Berlin 1844, Teil 3. Berlin 1845, S. 190 f.

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3 Staubfäden, Infusionstierchen und der unklare Abstand zwischen Adel und Welt (Leonce & Lena) Grundsätzlich ist das Verhältnis zwischen präparierten Objekten und den Subjekten, die sie betrachten, bei Büchner in ständiger Bewegung. Dies gilt zunächst ganz konkret für seine wissenschaftliche Praxis, wie jüngst z. B. Martin Bartelmus und Sergej Rickenbacher gezeigt haben.22 Ihre luziden Ausführungen zu den Studienobjekten seiner Forschung und ihrer Verschriftlichung machen deutlich, dass die Konstitution des empirischen Objekts ‚Barbe‘ in seinen Studien zu den Nervenfasern der Flussbarbe als ein Produkt vielfältiger Informationen verstanden werden muss, die Büchner aus der Zurichtung und Beobachtung einer Vielzahl von Präparaten erschloss: Er gewann sie über frisch hergestellte Fischpräparate – neben Barben gehörten dazu übrigens auch Hechte und Karpfen –, aber auch durch das Hinzuziehen bereits vorhandener Präparate, die ihm in Straßburger Sammlungen zugänglich waren,23 sowie dem Abgleich seiner Befunde mit diskursiven Quellen. Seine Beschreibungen des Bearbeitungsprozesses geben in diesem Zusammenhang auch Aufschluss darüber, dass er die Nasspräparate mechanisch stimulierte und als Beobachter verschiedene Positionen zu ihnen einnahm, um multiple Ansichten der untersuchten Anatomie und ihrer Funktionen zu gewinnen.24 Die Untersuchung seiner Präparate verlief also dynamisch und mehrdimensional über verschiedene körperliche und auch mediale Perspektivierungen, die sie in ihrer Gesamtheit erst als Gegenstände des Wissens konstituierten – bzw. als Objekte, die repräsentieren, was man zum Zeitpunkt ihrer Beobachtung über sie wissen kann. Während die Präparate in Büchners Mémoire und der Probevorlesung in dieser Weise als erkenntnisleitende Gegenstände fixiert werden,25 interessieren sich seine literarischen Texte im Gegenteil für die Verzerrungen und Phantasmen, die im Verhältnis zwischen Präparaten und ihren Betrachter:innen nisten können. In

 Martin Bartelmus u. Sergej Rickenbacher: Fische und Fiktionen. Die Spuren der Flussbarbe in Georg Büchners ‚Mémoire‘, ‚Lenz‘ und ‚ Woyzeck‘. In: PhiN 91 (2021), S. 1–17.  Laut Bartelmus und Rickenbacher waren diese „häufig unbrauchbar, weil sie unvollständig [waren] oder die Konservierungsflüssigkeit diese verfärbt [hatte].“ Bartelmus, Rickenbacher: Fische und Fiktionen, hier S. 5. Zu Büchners Verwendung vorhandener Präparate allgemein vgl. Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 75.  So Bartelmus und Rickenbacher unter Berufung auf die Mémoire und weitere Zeugnisse: „Büchner schneidet […] nicht nur, sondern er bläst auch – wie er schreibt – in das Präparat […], wirft mittels Linsen konzentriertes Licht in die Pupille des Auges […], reizt während der Vivisektion gezielt Fischnerven […], seziert meistens unter Wasser“ (Bartelmus, Rickenbacher: Fische und Fiktionen, S. 5).  Bartelmus, Rickenbacher: Fische und Fiktionen, bes. S. 5 f.

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Leonce und Lena gehört z. B. das Examinieren von Schädeln, toten Objekten und mikroskopischen Präparaten von Beginn an zum figurativen Repertoire, mit dem die Figuren ihr Verhältnis zueinander und zur Welt beschreiben. Über Präparate eröffnet sich damit in verschiedenen Szenen der Blick auf soziale und politische Tiefenschichten der dargestellten Lebenswelt. Ausgerechnet ihre paradoxale Dinglichkeit – d. h. ihre konstitutive Artifizialität, die sie zu Repräsentanten des Lebendigen macht – trägt der Komödie, die sich von Beginn an mit lächerlichen,26 grotesken27 oder auch tragikomischen28 Effekten einer Topik des Unernsten bedient, somit recht ernsthafte Fragen zu. Gleich in einem der ersten Auftritte (I/3) fasst Leonce den Laufpass, den er seiner Mätresse Rosetta gibt, z. B. in die morbide Phantasie seines zur Krypta ihrer Liebe gewordenen Schädels: Leonce. Gib Acht! Mein Kopf! Ich habe unsere Liebe darin beigesetzt. Sieh zu den Fenstern meiner Augen hinein! Siehst du, wie schön todt das arme Ding ist? Siehst du die zwei weißen Rosen auf seinen Wangen und die zwei rothen auf seiner Brust? Stoß mich nicht, daß ihm kein Aermchen abbricht, es wäre Schade. Ich muß meinen Kopf gerade auf den Schultern tragen, wie die Todtenfrau den Kindersarg. (MBA 6, S. 105)

Die Rede von Schädel, Augenhöhlen und dem ‚schön toten‘ Leichnam steht mit der heraufbeschworenen physischen Materialität in scharfem Kontrast zur von Leonce vollzogenen radikalen Ästhetisierung einer Trennung, die der Text ansonsten wenig mehr erklärt, als dass er sie als Konsequenz von Leonces Selbstüberdruss und ennui darstellt.29 Die Passage gibt insofern nicht so sehr Aufschluss über einen realen Gegenstand – in diesem Fall die Liebschaft zwischen Prinz und Mätresse und ihr Ende –, als vielmehr über die Wahrnehmung derselben durch den Prinzen, dessen schaurige Vorstellung der im eigenen Schädel aufgebahrten und konservierten ‚schönen Leiche‘ geradezu plakativ dem psychoanalytischen Modell der Abwehr von Trauer durch imaginäre Inkorporation des zu betrauernden Objekts entspricht,

 Arnd Beise: Georg Büchner und die ‚Lustspielfrage‘ seiner Zeit. In: GBJb 11 (2005–2008), S. 81–100.  Marc Arelvalo Sanchez: Georg Büchners ‚Leonce und Lena‘ und ‚Woyzeck‘. Zur Rolle des Grotesken bei der Schilderung gesellschaftlicher Verhältnisse. In: Anuari de filologia. Literatures contemporànies 10 (2020), S. 17‒147, hier S. 123–134.  Peter M. Musolf: Parallelism in Büchner’s ‚Leonce und Lena‘. A Tragicomedy of Tautology. In: The German Quarterly 59:2 (Spring 1986), S. 216‒227.  Vgl. III, 3: „Leonce. […] [I]ch habe Langeweile, weil ich dich liebe. Aber ich liebe meine Langeweile wie dich. Ihr seid eins.“ (MBA 6, S. 104) Stiening interpretiert seine herablassende und wortgewandte Demütigung Rosettas im o. g. Zitat vor diesem Hintergrund als Versuch, aus ihr den rein selbstbezüglichen Gewinn eines Selbstgefallens an der eigenen Raffinesse zu ziehen; vgl. Stiening: Literatur und Wissen, S. 643 f.

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wie es von Nicolas Abraham und Marie Torok formuliert wurde.30 Die Trauer des Prinzen ist gewissermaßen in ein textförmiges Präparat eingewandert – in ein martialisches Sprachbild, auf das er zurückverweisen kann, um sein Urteil über die Beziehung zu bekräftigen. Über den Bezug auf Praktiken des Präparierens werden auch an anderer Stelle die Affektlagen des Prinzen in Szene gesetzt, während zugleich deren Scheinhaftigkeit und Selbstbezüglichkeit vor Augen geführt wird – wie in Leonces folgender Beschreibung des Sezierens von Insekten und Pflanzen: Leonce (aufspringend). Komm Valerio, wir müssen was treiben, was treiben. Wir wollen uns mit tiefen Gedanken abgeben; wir wollen untersuchen wie es kommt, daß der Stuhl auf drei Beinen steht und nicht auf zwei […]. Komm, wir wollen Ameisen zergliedern, Staubfäden zählen; ich werde es doch noch zu irgend einer fürstlichen Liebhaberei bringen. (MBA 6, S. 113)

Mit dem Wunsch nach „irgendeiner fürstlichen Liebhaberei“ rechnet Leonce sein Interesse an naturwissenschaftlichen Tätigkeiten hier dem adligen Dilettantismus zu – ‚Liebhaber‘ war die gängige Übersetzung des italienischen dilettante,31 und die ‚dilettantische‘ Beschäftigung mit der Erforschung von Natur bzw. der Klassifizierung und Sammlung ihrer Objekte hatte in Adelskreisen eine lange Tradition.32 Vor dem Hintergrund der Professionalisierung der Naturforschung waren adlige Dilettanten im Verlauf des 18. Jahrhunderts allerdings europaweit zum Gegenstand von Spott und Satire geworden.33 Zwar schließt die von Goethe, Schiller und Heinrich Meyer um 1800 formulierte Kritik des künstlerischen Dilettantismus aufgrund ihres Bezugsgegenstands keine explizite Ablehnung des adligen Naturstu-

 Nicolas Abraham u. Marie Torok: Deuil ou mélancholie. Introjecter – incorporer. In: Nouvelle revue de psychanalyse 6 (1972), S. 111–122. Zentral für das Modell von Abraham, Torok ist die Vorstellung einer innerpsychischen ‚Krypta‘, in der das nicht betrauerte Objekt ‚beerdigt‘ ist und welche die Hemmung des Sprechens oder Denkens darüber dauerhaft ins psychische System integriert; Abraham, Torok: Deuil ou mélancholie, S. 111–122, bes. S. 116 ff.  Z. B. bei Adelung, Art. Liebhaber. In: Ders.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Leipzig 1796, Sp. 2060 f., hier Sp. 2061; zitiert in: Simone Leistner: Art. Dilettantismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Hrsg. v. Karlheinz Barck u. a., Stuttgart u. Weimar 2010, Bd. 2, S. 63–87, hier S. 69.  Vgl. Elisabeth Strauß: Zwischen Originalität und Trivialität. Zur Rolle der virtuosi für das Wissenschaftsprogramm der Royal Society. In: Dilettanten und Wissenschaft. Zur Geschichte und Aktualität eines wechselvollen Verhältnisses. Hrsg. v. ders., Amsterdam u. Atlanta 1996, S. 69–81, hier S. 75 f. Der gesellschaftlichen Oberschicht wurde Naturforschung im 17. Jahrhundert sogar explizit zur Bekämpfung des zu Melancholie führenden Müßiggangs empfohlen (vgl. Strauß: Originalität und Trivialität, S. 69–81, hier S. 75 f); auch hier stellt sich Leonce also in eine etablierte Tradition.  Zu satirischen Darstellungen des adligen Dilettantismus im 18. Jahrhundert am Beispiel der britischen Wissenschaftskultur vgl. Strauß: Originalität und Trivialität, S. 69–81, hier S. 80 f.

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diums ein,34 doch ist Leonces Suche nach einer „fürstlichen Liebhaberei“ nichtsdestotrotz negativ besetzt; zumal die unrühmliche Aufkündigung der vorherigen Liebschaft an der Nachhaltigkeit seiner ‚Liebhabereien‘ grundlegend zweifeln lässt. Dass die Passage am Beginn der Szene steht, die mit seiner ersten Begegnung mit Lena enden wird, macht es nicht besser; vielmehr deutet sich hier die nahtlose Übertragung einer durch Herkunft und Habitus geprägten affektiven Disposition auf ein neues Objekt des Begehrens an – und damit eine nahtlose Fortsetzung der vorherigen selbstbezüglichen Liebhabereien. Andererseits ist die Reproduktion des längst Vorhandenen in Leonce und Lena auf inhaltlicher und figurativer Ebene ein zentrales Strukturprinzip und damit sicher kein Vorzeichen einer drohenden Tragödie. Leonces Zitieren aller möglichen literarischen Liebestexte und -topoi am Beginn des Kennenlernens35 folgt diesem Prinzip ebenso wie sein gleichförmiger Alltag, in dem er sich „jeden Tag vier und zwanzigmal herum[stülpt], wie einen Handschuh“ (MBA 6, S. 106), oder die unzähligen Wortwiederholungen und intertextuellen Anspielungen im Stück oder auch das vorgefertigte Protokoll des Hochzeitstages inklusive eines minutiösen Skripts für das Verhalten (und den Gefühlsausdruck) der Bevölkerung. Und auch die Erfüllung der väterlichen Heiratspläne durch Prinz und Prinzessin, zu der es nach dem versuchsweisen Ausbruch aus ihren adligen Rollenvorgaben scheinbar unweigerlich kommen musste, reproduziert letztlich nur, was längst beschlossen war. Vor dem Hintergrund dieser auf Dauer gestellten Wiederholung ist es nur passend, dass Leonces Vision der zukünftigen Regentschaft am Ende die eines perpetuierten Spektakels ist, in dem das Königspaar als Zuschauer einem aus vorgefundenen Utensilien bestehenden absurden Theater beiwohnt: Leonce. Nun, Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen, wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke anziehen, und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen und uns mit dem Mikroskop daneben setzen? Oder hast Du Verlangen nach einer Drehorgel auf der milchweiße ästhetische Spitzmäuse herumhuschen? Wollen wir ein Theater bauen? (MBA 6, S. 124)

 Vgl. Simone Leistner: Dilettantismus, S. 77 ff. Vor dem Hintergrund von Goethes eigenen Naturforschungen wäre eine Abwertung dilettantischer Wissenspraktiken auch ein schwerlich zu übersehender Selbstwiderspruch.  Eine ausführliche Aufschlüsselung der Intertexte gibt Burghard Dedner: Bildsysteme und Gattungsunterschiede in ‚Leonce und Lena‘, ‚Dantons Tod‘ und ‚Lenz‘. In: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. dems., Beiträge zu Text und Quellen hrsg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt a. M. 1987 (= Büchner-Studien 3), S. 157–218, zum intertextuellen „Zitat-Furioso“ (S. 170) der betreffenden Szene vgl. S. 170–177.

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Statt Regierungsgeschäften stehen ihm demnach „Taschen […] voll Puppen und Spielzeug“ vor Augen, drollig verkleidete Politiker, eine Drehorgel und weiße Mäuse – seine Vorstellung absolutistischer Regentschaft ist die eines zweckfreien Spektakels, das in ästhetischer Distanz zu allen tatsächlichen politischen Geschäften bleibt.36 Interessanterweise werden gerade diese Geschäfte über die Metapher eines Mikroskops in Szene gesetzt, durch das die „infusorische Politik und Diplomatie“ der als Staatsdiener verkleideten Puppen beobachtet werden soll. Die Wendung wird gemeinhin als Verweis auf die deutsche Kleinstaaterei interpretiert, d. h. auf eine politische Ordnung, die – analog zu einem infusorischen Aufguss, in dem sich Kleinstlebewesen beobachten lassen – eine Vielzahl kleiner und kleinster Regierungsgebiete beinhaltet.37 Als Bildspenderin dient Büchner dafür die mikroskopische Beobachtung von Infusorien, die bereits im 17. Jahrhundert von Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) entdeckt worden waren und um 1800, dank verbesserter optischer Technologien und einem empirisch gestützten Interesse an Mikroorganismen und ihrer Biologie, neue Aufmerksamkeit auf sich zogen.38 Waren die sogenannten Infusionstierchen im Rahmen von Linnés Klassifikation zunächst dem Genus Chaos zugeordnet gewesen, d. h. einem gestaltlosen, „wandelbare[n] Reich vielfältiger Formen“,39 hatte man im ausgehenden 18. Jahrhundert begonnen, sie als biologisch eigenständige Organismen zu betrachten.40 Umso besser eigneten sie sich zu Büchners Zeit als Analogie für die Vielzahl politischer Territorien, aus denen das Gebiet des Deutschen Bundes um 1836 bestand, bzw. für eine Politik, die ein solches Stückwerk beförderte. Patrick Fortmann betont vor diesem Hintergrund den „politische[n] Einsatz“41 des Blicks durchs Mikroskop in der zitierten Szene: „Unter dem Mikroskop  Henri Poschmann deutet die Stelle in diesem Sinn als Anspielung auf die Krönungszeremonie von Ludwig XIV., dem ebenfalls die totale Verfügungsgewalt über sein Königreich zugesagt wurde; vgl. ders.: Kommentar zu Leonce und Lena, in: DKV 1, S. 664.  Vgl. MBA 6, S. 537.  Marc J. Ratcliff: Infusoria and Microscopical Experiments. The True Invisible Objects 1760s‒1800s. In: Ders.: The Quest for the Invisible. Microscopy in the Enlightenment. Farnham 2009, S. 149–244.  Mathias Grote: „Aus dem Kleinen bauen sich die Welten“ – Christian Gottfried Ehrenbergs ökologische Mikrobiologie avant la lettre. In: HiN: Alexander von Humboldt im Netz. Hrsg. v. Ottmar Ette, Eberhard Knobloch u. Ulrich Päßler. XXII (2021) 42. Potsdam 2021 (), S. 19–32, hier S. 21.  Einen prominenten Beitrag zum neuen Interesse an den Infusionstierchen leistete u. a. Goethe, der 1786 eine Reihe von Infusorien ansetzte und die Entwicklung der Organismen beobachtete. Vgl. dazu Roland Borgards: Meer Tier Mensch. Anthropogenetisches Nicht-Wissen in Okens ‚Entstehung des ersten Menschen‘ und Goethes ‚Faust II‘. In: Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730–1930. Hrsg. v. Michael Bies u. Michael Gamper. Zürich 2012, S. 149–167, hier S. 153 ff.  Fortmann: Die Bildlichkeit der Revolution, S. 89.

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betrachtet werden die Verästelungen und Verzerrungen der Kleinstaatenpolitik sichtbar. Einmal beobachtbar gemacht, sind sie dem Studium und der Kritik zugänglich.“42 Im Rahmen seiner übergeordneten These – die von einem hier und in anderen Stücken Büchners reflektierten naturwissenschaftlichen Wahrnehmungsdispositiv ausgeht, das eine kritische Beobachtung der politischen und epistemischen Verhältnisse während des Vormärz ermöglicht – ist diese Deutung der mikroskopischen Perspektive nur folgerichtig. Keineswegs so deutlich lässt die zitierte Passage jedoch den Wunsch nach einer kritischen Anamnese der politischen Verhältnisse erkennen. Eher erscheint die mikroskopische Beobachtung als integraler Teil jener theatralen Apparatur und des ästhetischen Vergnügens, das diese beinhaltet. Mit dieser Rahmung verortet das Stück die Beschreibung zugleich noch einmal nachdrücklich in der Wissenskultur der Epoche, wie ein Blick auf die zeitgenössische Konjunktur mikroskopischer Vorführungen in geselliger Runde und die dabei zum Tragen kommenden Praktiken theatraler Darstellung des Lebendigen zeigt.43 Das mikroskopische Lebendpräparat führt in das absurde Theater dennoch einen wichtigen Aspekt ein: Während Puppen, Drehorgel etc. einerseits von einer Infantilisierung und Ästhetisierung der Regierungsgeschäfte zeugen, aus denen sich das Königspaar offenbar genüsslich zurückzuziehen beabsichtigt, behält die Beobachtung von Infusorien – oder ‚infusorischer Politik‘ – bei aller Kontrolle über das mikroskopische Dispositiv zugleich einen experimentellen Charakter. Die Puppenhirne und offiziellen Livrées der Staatsbeamten mögen keine Überraschung bereithalten, genau wie die Prognose der politischen Praktiken, die sie verfolgen. Doch ist die Betrachtung eines Lebendpräparats letztlich nicht vorhersehbar; sie muss ja nicht gleich existenziellen Horror auslösen, wie E.T.A. Hoffmann es in seiner Erzählung Meister Floh unter Bezug auf die zeitgenössische Mode von Infusorienbetrachtungen unterm Sonnenmikroskop witzig beschreibt,44 aber sie mag bei den Beobachtenden in jedem Fall nicht nur wissenschaftliche oder ästhetische Attraktion hervorrufen, sondern Fragen provozieren, zuvor Gewusstes in Zweifel ziehen und blinde Flecken ansichtig machen. Im Rahmen einer Welt totaler Selbstreferenz, die jede Konfrontation mit ihrem Außerhalb – z. B. den Untertanen des Landes Popo oder staatlichen Organen wie dem Militär und den Staatsbediensteten – durch vorgefertigte Protokolle ersetzt und jeglicher Form tatsächlicher ge-

 Fortmann: Blindheit der Revolution, S. 89.  Siehe dazu den Artikel von Janina Wellmann: Bewegung an der Wand. Zur Aufführung von Organismen mit dem Sonnenmikroskop. In: Belebungskünste. Praktiken lebendiger Darstellung in Literatur, Kunst und Wissenschaft um 1800. Hrsg. v. Nicola Gess, Agnes Hoffmann u. Annette Kappeler. Paderborn 2019 (Reihe eikones), S. 227‒243.  Vgl. Wellmann: Bewegung an der Wand, S. 235.

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sellschaftlicher und politischer Agency dadurch von vornherein den Boden entzieht, werden Präparate in Leonce und Lena so zu Objekten, an denen die Instabilität von Subjekt- und Herrschaftsverhältnissen in diesem Kosmos beispielhaft ansichtig wird. Während das zukünftige Königspaar keine Neuordnung der Verhältnisse, gar deren Revolution in Aussicht stellt, manifestiert sich hierin ein deutlicher Nachhall einer soziopolitischen Umbruchszeit, in der der Adel europaweit an Macht einbüßte und die noch manches politische Experiment mit unklarem Ausgang bereithielt.

4 Anatomisches Theater: Erkenntnisdinge und ihr Publikum (Woyzeck) Die Einbettung von Präparaten in ästhetisch-theatrale Praktiken ihrer Darstellung und Vorführung ist auch in Woyzeck ein zentrales Thema. Die Transformation von Subjekten in Anschauungsobjekte vollzieht sich auf Handlungsebene zwar maßgeblich durch den in Beschreibungen und Anweisungen geäußerten ‚ärztlichen Blick‘ des Doktors, der die Hauptfigur im Rahmen seiner medizinischen Forschung zum Studienobjekt degradiert und seine Mitwelt auch sonst aufgrund seiner ans Surreale grenzenden déformation professionnelle als Präparat(e) wahrzunehmen scheint.45 Doch finden sich auch in diesem Zusammenhang theatrale Rahmungen, wie z. B. die Vorführung von Woyzeck vor dem Publikum der Studierenden oder die autoritäre Anwesenheit eines Professors bei einer solchen Präsentation (in H 3.1, MBA 7.2, S. 20), der von einem Dachfenster wie von einer Loge aus die Szene begutachtet. Und auch in ganz anderen Konstellationen zeigt sich die beschriebene Verdinglichung von Menschen oder Tieren zu Anschauungsgegenständen als tief verankert im dargestellten Sozialgefüge und seinen Institutionen. Büchners aufmerksame Darstellung der Sozial- und Machtverhältnisse, die sich im Rahmen medizinischer Praktiken und anderer Gelegenheiten gesellschaftlicher Zurschaustellung in die Figuren des Stückes einschreiben, wurde von der Forschung gründlich herausgearbeitet.46 Ausgehend hiervon lässt sich nun danach fragen, welche Rolle die (buchstäblichen) Produkte solcher Einschreibungen bei

 Vgl. H 2.6: „Doctor. […] Hat er mir Frösch gefangen? Hat er Laich? Keinen Süßwasserpolypen, keine Hydra, Veretillen, Cristatellen? Stoß er mir nicht an’s Mikroskop, ich hab eben den linken Backzahn von einem Infusionsthier darunter. Ich sprenge sie in die Luft, alle miteinander. Woyzeck, keine Spinneneier, keine Kröten?“ MBA 7.2, S. 16.  So z. B. Stiening: Literatur und Wissen; a. a. O., S. 661–696, bes. S. 682 f., S. 695 f.; Roland Borgards: Hühnerlaus. Ein Kommentar zu Georg Büchners ‚Woyzeck‘, H3,1. In: DVjs 94/2 (2020),

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Büchner spielen, d. h. die Präparate und ihre sprachliche und dramatische Darstellung: „[S]ie giebt ein interessantes Präparat“ (MBA 7.2, S. 17), kommentiert z. B. der Doktor an einer Stelle den Gesundheitszustand einer Patientin. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um ein junges Mädchen,47 das er im weit fortgeschrittenen Stadium eines Wangenbrands, auch Stoma oder Wasserkrebs (cancer aquaticus) genannt, untersucht hat und dessen baldigen Tod er prognostiziert. Das Interesse, das Büchner dem Doktor in den Mund legt, hat einen präzise bestimmbaren historischen Ort: Der Wangenbrand, der besonders in den armen sozialen Schichten stark verbreitet war, wurde in den 1820er und 1830er Jahren erstmals systematisch beforscht,48 wobei bis in die 1840er einzelne Kupferstiche die Standardreferenz in Forschungsarbeiten zum Thema bildeten.49 Gut bedient war also, wer zu Forschungszwecken auf ein eigenes, am Objekt gewonnenes Präparat zurückgreifen konnte. Die stillschweigende Gleichsetzung von lebender Patientin und anatomischem Präparat durch den Doktor, genau wie die Betonung des ‚interessanten‘ Reizes des Anschauungsgegenstands im Kontrast zur lebensbedrohlichen Diagnose, lassen allerdings Zweifel aufkommen, wie sich Dienst an der Wissenschaft und die Degradierung einer Patientin zum bloßen Materialreservoir für die medizinische Beobachtung hier zueinander verhalten – eine Frage, die das Stück leitmotivisch durchzieht und die sich exemplarisch in den Experimenten des Doktors mit Woyzeck selbst manifestiert. Ein weiteres medizinisches ‚Anschauungsobjekt‘ ist der Barbier, von dem es (in H 1, 10) heißt, dass er sich als lebendes Präparat in den Dienst der Wissenschaft gestellt habe. Genauer verdient er sich mit einer physiognomischen Anomalie ein Zubrot: Er bekommt „alle Woche einen halben Gulden“ (MBA 7.2, S. 6), weil er seine deformierte Wirbelsäule als Studienobjekt ausstellt – „Ich bin ein

S. 39–68; Johannes Lehmann: Erfinden, was der Fall ist. Fallgeschichte und Rahmen bei Schiller, Büchner und Musil. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 2 (2009), S. 361–380, hier S. 370 ff.  Statistisch gesehen trat der Wasserkrebs hauptsächlich bei Kindern auf: „Der Wasserkrebs […] kömmt besonders zwischen dem zweiten und siebenten Lebensjahre, seltener früher, vielleicht gar nicht bey Säuglingen, vor, sucht nur sehr selten Erwachsene heim und ist bey diesen meist weit gelinder, als im kindlichen Alter, wo er, zumal wenn schon andere schwächende Einflüsse vorausgingen, gewöhnlich in einem hohen Grade von Bösartigkeit angetroffen wird“; vgl. Ignaz Wiegand: Der Wasserkrebs. Eine Monographie. Erlangen 1830, S. 122. Dass die Patientin des Doktors in den Rahmen der Statistik fällt, zeigt seine Äußerung, er habe „schon 20 solche Patienten gehabt“ (MBA 7.2, S. 17).  Vgl. den Forschungsüberblick in Adolph Leopold Richter: Beiträge zur Lehre vom Wasserkrebs. Ein Nachtrag zu der Monographie dieser Krankheit. Berlin 1832, S. 38 f.  Verwiesen wird in der zeitgenössischen Literatur verschiedentlich auf eine Abbildung bei Robert Froriep: Chirurgische Kupfertafeln. Eine auserlesene Sammlung zum Gebrauch für praktische Chirurgen. 91. Heft, 1844, Tafel 458 und 459, ohne Paginierung.

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spinosa pericyclyda; ich hab einen lateinischen Rücken. Ich bin ein lebendiges Skelett, die ganze Menschheit studirt an mir.“ (MBA 7.2, S. 6) Büchners Barbier profitiert unmittelbar von der zeitgenössischen Nachfrage nach anatomischen Studienobjekten. Als Referenz für das ‚lebendige Skelett‘, das er nach eigener Aussage verkörpert, führt die Marburger Ausgabe eine zeitgenössische Straßburger Attraktion an, Claude-Ambroise Seurat, der dort im Sommer 1835 seinen bis auf die Knochen abgemagerten Körper öffentlich ausstellte und zahlreichen Medizinern als Studienobjekt diente.50 Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an andere anatomische Schaustücke, etwa an eine zeitgleich berühmte Sammlung von Gipsabgüssen fehlwüchsiger Wirbelsäulen, angelegt von dem Pariser Anatomen Jules Guérin, die in Form von Beschreibungen Eingang in anatomische Fachpublikationen der Zeit fand.51 Beiden, dem anatomischen Einzelfall in Straßburg und der Pariser Sammlung, die von einem interessierten Fachpublikum besucht werden konnte (und wurde), ist gemeinsam, dass die öffentliche Wahrnehmung menschlicher Physiognomien über Formen der spektakulären Zurschaustellung gesteuert wird, die ihre Herkunft nicht im medizinischen Kontext, sondern zumindest teilweise in Jahrmarkt und Museum haben.52 Über die praktischen Umstände, in denen der Barbier in Woyzeck seine Wirbelsäule präsentiert, erfahren wir zwar nichts, doch sind auch sie im Stück strukturell mit einer Schaustellerszene verknüpft, die der zitierten Passage auf derselben Entwurfsstufe als Eröffnungsszene vorausgeht. In der betreffenden Doppelszene (H1,1 und 1,2) präsentiert ein Marktschreier seinem Publikum – u. a. Marie und dem Hauptmann53 – dressierte Kanarienvögel und ein Pferd, das angeblich rechnen kann. Dass ein Tier kognitive Fähigkeiten hat, macht es zu einer unerhörten

 Vgl. MBA 7.2, S. 451.  In anatomischen Journalen des 19. Jahrhunderts finden sich verschiedentlich Verweise auf Besuche in Guérins Sammlung, vgl. Sachs medizinischer Almanach für das Jahr 1843, 8. Folge. Berlin 1843, S. 494; Johannes Wildberger: Streiflichter und Schlagschatten auf dem Gebiet der Orthopädie. I. Die Scoliose. Erlangen 1861, S. 47.  Bei dem in der Marburger Ausgabe zitierten Straßburger ‚Fall‘ handelte es sich ganz offensichtlich um eine solche Jahrmarktsattraktion, aber auch die museale Präsentation der Wirbelsäulen in Guérins Sammlung ließ manche Besucher vermuten, dass hier der medizinische Nutzen hinter dem Ausstellungswert (Benjamin) der Objekte verschwand: Die Guérin’schen Abgüsse seien „nur dazu bestimmt, um den die Anstalt Besuchenden etwas zum Anschauen zu geben […]. Die Besuchenden schauen die systematisch geordneten Gypsgüsse, bewundern sie und – entfernen sich wieder. Mehr Nutzen hätte es sicher gewährt, statt der Gypsabgüsse Abbildungen von den Scoliotischen zu nehmen und in Kupfer stechen zu lassen, so kämen sie doch in die Hände der Aerzte, die wirklich eine Belehrung für sich und eine Erhebung der Wissenschaft suchen.“ Zitiert nach Wildberger: Streiflichter und Schlagschatten auf dem Gebiet der Orthopädie, S. 47.  Auf dieser Entwurfsstufe noch „Margreth“ und ein „Unterofficier“.

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Attraktion, so befindet jedenfalls sein Besitzer: Als Naturwesen („Sehn sie das Vieh ist noch Natur unverdorbne Natur!“, MBA 7.2, S. 3) habe es menschliche Verhaltensweisen adaptiert und sei zugleich in der Lage, über die anwesenden Menschen zu urteilen („Ist unter der gelehrten société da ein Esel? [der Gaul schüttelt den Kopf]“, MBA 7.2, S. 3). Das generische Zwitterwesen („ein thierischer Mensch und doch ein Vieh“; ebd.)54 soll von den Anwesenden für seine animalische Vernunft – eine „viehische Vernünftigkeit“ oder „Viehsionomik“ (MBA 7.2, S. 3) – bewundert werden, ja sogar als Maßstab dienen, um das Menschsein selbst zu definieren: Lernen Sie bey ihm. Fragen Sie den Arzt es ist höchst schädlich. Das hat geheißen Mensch sey natürlich, du bist geschaffen Staub, Sand, Dreck Willst Du mehr seyn, als Staub, Sand, Dreck? Sehn sie was Vernunft, es kann rechnen und kann doch nit an den Fingern herzählen, warum? Kann sich nur nit ausdrücken, nur nit expliciren, ist ein verwandter Mensch! (MBA 7.2, S. 3)55

Die theatralische Rede des Marktschreiers, der hier sein rechnendes Pferd erneut als Attraktion bewirbt, während er die menschliche Natur auf „Staub, Sand, Dreck“ als ihre ‚natürliche‘ Grundlage reduziert, hallt in der Barbier-Szene wortwörtlich nach: Dieser bestimmt dort die menschliche Existenz als rein materiell und geistlos und setzt sie darin der Natur gleich („Was ist der Mensch? Knochen! Staub, Sand, Dreck. Was ist die Natur? Staub, Sand, Dreck.“ [MBA 7.2, S. 6]).56 Ähnlich wie in der Budenszene handelt es sich auch hier um ein nicht zuletzt rhetorisches Manöver, durch das der ‚Mehrwert‘ einer Zurschaustellung, in diesem Fall seiner selbst, hervorgehoben werden soll – im Folgenden beschreibt der Barbier jedenfalls seinen Einsatz als Studienobjekt als nichts weniger denn die Vorausset-

 Mit ihrer Vorstellung eines zwischen Tier und Mensch angesiedelten ‚Mischwesens‘ korrespondiert die Szene der Charakterisierung Woyzecks durch den Doktor, der diesen gegenüber seinen Studenten als einen Menschen mit tierischen Eigenschaften bezeichnet – eine „Bestie“, die „Uebergänge zum Esel“ zeige (MBA 7.2, S. 20). Zur Verschränkung des ‚Falls‘ Woyzeck und der Vorführung des rechnenden Pferdes vgl. Johannes Lehmann: Erfinden, was der Fall ist. Fallgeschichte und Rahmen bei Schiller, Büchner und Musil. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 2 (2009), S. 361–380, hier S. 371 f.  Günter Oesterle interpretiert die Szene als Konfrontation verschiedener philosophischer Bestimmungen des ‚natürlichen‘ Menschen: Der Rosseau’schen Idealisierung des Menschen im ‚Naturzustand‘ wird demnach die Vorstellung einer materialistischen Basis menschlicher Existenz gegenübergestellt, nach der Menschen inklusive ihrer höheren Fakultäten (Vernunft, Willen) auf einer physischen Grundlage beruhen. Nach dieser Konzeption, die Oesterle auf La Mettrie zurückführt, unterscheiden sich Mensch und Tier nur graduell. Vgl. Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie, S. 212.  Vgl. Gernot Wimmer: Aus der Weltsicht eines ‚Viehsionomen‘. Georg Büchners Sezierung des Homo Sapiens. In: Georg Büchner und die Aufklärung. Hrsg. v. dems. Wien, Köln u. Weimar 2015, S. 141–172, hier S. 168.

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zung einer Wissenschaft von Natur, gar ihre transzendentale Bedingung: „Wenn ich keine Courage hätte gäb es keine Wissenschaft, keine Natur, keine amputation, exarticulation“ (MBA 7.2, S. 6), d. h. keine Erkenntnis, die ein Verständnis der menschlichen „Natur“ und medizinische Eingriffe in dieselbe überhaupt ermöglichte. Zum Studienobjekt zu werden meint für ihn insofern einen nicht nur ökonomischen Mehrwert; das ärztliche Interesse, das sich im Zusammenhang mit dem cancer aquaticus der jungen Patientin als zweischneidige Zuwendung entpuppt, verschafft ihm neben dem finanziellen auch einen klaren symbolischen Gewinn. Während die fragmentarische Unfertigkeit des Dramas seine Aufführung über lange Zeit unmöglich scheinen ließ – bis sie schließlich 1913 im Residenztheater München stattfand –, enthält Woyzeck in der wiederholten Hervorhebung von Szenen der Zurschaustellung und des Spektakels geradezu demonstrative Verweise auf theatrale Aufführungs- und Rezeptionspraktiken. Das ‚Spiel im Spiel‘ lässt sich in seinen unterschiedlichen Variationen insofern nicht nur als Sichtbarmachen einer Verwandtschaftsbeziehung von Wissensproduktion und populärem Spektakel sehen, sondern auch als gezielte Reflexion auf die realweltliche Rolle des Theaters. Am Ende eines Theaterabends werden die Zuschauenden schließlich dem Experiment ‚Woyzeck‘ beigewohnt, es zum Präparat, d. i. zum Anschauungsobjekt einer Umbruchszeit erklärt oder es als Spektakel goutiert haben. Aus heutiger Sicht zeugen die Asymmetrien von sozialem Status und gesellschaftlicher Macht, die den Szenarien der Vorführung im Stück durchweg unterliegen, in jedem Fall von einem hohen Grad an kritischer Selbstreflexion gegenüber den Möglichkeiten und gesellschaftlichen Verpflichtungen des Theaters. Ob Büchner im bürgerlichen Theater seiner Zeit den Ort sah, um solche Selbstreflexion zu verwirklichen, darf hingegen bezweifelt werden; eher weist die radikale Kopplung von Gesellschafts-, Diskurs- und Institutionenkritik – wie so vieles an Inhalt und Ästhetik gerade dieses Stücks – weit über den historischen Kontext seiner Entstehung hinaus.

5 Volkskörper und andere Untote in Danton’s Tod Zergliederte Körper, geöffnete Hirnschalen, Überlegungen zur Extraktion von Nervengewebe am lebenden Objekt und Referenzen auf die zeitgenössische Phrenologie – das topische Reservoir von Danton’s Tod gleicht stellenweise einer anatomischen Präparierstube. Die ostentative Präsenz von leidenden, deformierten oder spektakelhaft zur Schau gestellten toten Körpern erscheint im Stück vor der „Todeskulisse“57 der Französischen Revolution anno 1794, also zum Zeitpunkt  Hubert Thüring: Leben. In: Büchner-Handbuch, S. 176–181, hier S. 214.

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ihres Umschlagens in die jakobinische Terreur, in gewisser Weise nur folgerichtig. Angesichts massenweiser Guillotinierungen und einer zunehmenden Verelendung der Bevölkerung spricht das Drama selbst vom „Strom der Revolution“, der „bey jedem Absatz bey jeder neuen Krümmung seine Leichen ausstößt“ (MBA 3.2, S. 46). Die Rede von den Körpern geht hier allerdings weit über eine Beschreibung der Revolutionsopfer hinaus: Indem Danton’s Tod die Körperlichkeit der Revolution auf der Ebene der Handlung und der sprachbildlichen Reflexion in aller Drastik in Szene setzt, vollzieht das Drama vielmehr einen radikalen Umbau des absolutistischen Repräsentationsparadigmas.58 Mit der Revolution hatte sich die vormals in den ‚zwei Körpern‘ des Königs59 repräsentierte Staatsgewalt theoretisch auf die Macht der Vielen übertragen bzw. auf einen Volkskörper, dessen konkrete Morphologie nach 1789 im Einzelnen erst noch zu bestimmen war. Anders als die Künste der Revolutionszeit, die auf diese repräsentationslogische Leerstelle mit der Erfindung neuer Ikonografien – wie z. B. der populären Darstellung der Marianne mit Phrygischer Mütze – reagierten,60 entwirft Büchners Drama allerdings kein Sinnbild eines siegreichen (oder auch eines gescheiterten) neuen Leviathan.61 Seine facettenreiche Körperbildlichkeit rückt vielmehr den corpus morale et politicum62 einer Nation im Umbruch in den Blick: die tragische, konflikthafte und in ihren diversen Forderungen und Erwartungen in vieler Hinsicht widersprüchliche Gestalt des revolutionären Volkskörpers, dessen Zukunft um 1794 ungewiss war.63 Die leitmotivische Präsenz von toten Körpern und Tö-

 Vgl. zur Transformation der Zweikörperlehre um/nach 1789 Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank u. Ethel Matala de Mazza (Hrsg.): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt a. M. 2007, v. a. Kapitel IV. 4, S. 241–249. Unter Bezug auf Büchner: Eva Horn: Der nackte Leib des Volkes. Volkskörper, Gesetz und Leben in Georg Büchners ‚Dantons Tod‘. In: Bilder und Gemeinschaften: Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie. Hrsg. v. Beate Fricke u. a. Paderborn 2011, S. 237‒ 272, bes. 237–246, sowie Nicholas Fenech: Transfusions of Sovereignity. Büchner’s ‚Danton’s Tod‘, Political Theology, and the Afterlife of Language. In: The German Quarterly. 91:1 (Winter 2018), Sonderh. The Politics of German Literature, S. 34‒48.  Ernst H. Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Thought. Princeton 1957.  Vgl. Horn: Der nackte Leib des Volkes, S. 243–246.  Horn: Der nackte Leib des Volkes, S. 237–241.  Ernst Kantorowicz: Pro Patria Mori in Medieval Political Thought. In: The American Historical Review 56:3 (1951), S. 472–492, hier S. 487; zitiert bei Fenech: Transfusions of Sovereignity S. 37.  Auch wenn von den verschiedenen Parteiungen eine Reihe solcher Versuche gemacht wird – u. a. das Bild der Republik als Staatsform, die sich dem (post)revolutionären Volkskörper wie „ein durchsichtiges Gewand“ (MBA 3.2, S. 6, s. u.) anschmiegt, d. h. ihm keine Form vorgibt, sondern ähnlich wie eine Haut oder eine medizinische Moulage eine rein äußerliche, den Konturen des Körpers folgende Hülle bildet; oder die Vorstellung von der Revolution als vom Auflaufen

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tungsarten dient insofern, paradoxerweise, der lebendigen Vergegenwärtigung des politischen und sozialen Wandels nach 1789 und der ihm inhärenten Spannungen, die das Drama eine Generation später – unter dem Eindruck der gescheiterten Julirevolution von 1830 und vor dem Hintergrund aufflammender revolutionärer Bestrebungen in verschiedenen deutschen Gebieten – wieder aufleben lässt. Büchner beleiht den zeitgenössischen Präparatdiskurs, um die Revolution in einem uneindeutig zwischen Vitalität und Degeneration oszillierenden Zustand zur Darstellung zu bringen. Dass ein Bezug auf Präparate und das Präparieren dem Autor bei seiner Arbeit am Stoff nicht fernlag, bezeugt nicht nur die zeitliche Nähe zu seiner Dissertationsschrift, sondern exemplarisch auch eine im Verlauf des Entstehungsprozesses getilgte Passage (im folgenden Zitat in spitzen Klammern) aus der Eröffnungsszene. Die ursprüngliche Fassung spielte demnach direkt auf die – in den 1790er Jahren erstmals veröffentlichte und ab 1809 europaweit popularisierte – Schädellehre Franz Joseph Galls (1758–1828) an: Danton. Sieh die hübsche Dame, wie artig sie die Karten < hält, w > dreht! ja wahrhaftig sie versteht’s, man sagt sie halte ihrem Mann immer das coeur und andren Leuten das carreau hin. Ihr könntet einem noch in die Lüge verliebt machen. (MBA 3.2, S. 86)

Die in der Marburger Ausgabe überlieferte Fassung bezieht sich auf Galls phrenologisches Deutungsmodell der Schädelphysiognomie, das Erhebungen auf beiden Seiten der Stirn als äußerliches Anzeichen für Humor bzw. ein ausgeprägtes ‚Organ des Witzes‘ interpretierte.64 Bei Büchner wird Galls Behauptung für die spöttische Anamnese einer Paarbeziehung in den Dienst genommen: Eine der anwesenden Kartenspielerinnen gilt aufgrund ihrer Doppelrolle als Ehefrau und Prostituierte („man sagt sie halte ihrem Mann immer das coeur und den andren Leuten das carreau hin“) als eine ‚gefallene Frau‘ („sie […] fällt leicht“). Dass sie ihrem Mann damit die sprichwörtlichen ‚Hörner aufsetzt‘, nimmt dieser offenbar mit Humor, insofern er die davongetragenen „Beulen“ als „Witzhöcker“ im Sinne Galls reinterpretiert. Neben ihrem Sprachwitz enthält die Szene ein unübersehbar parodistisches Moment – Galls phrenologisches Modell war zwischen Goethezeit und Vormärz zu einem regelrechten Gesellschaftsspiel avanciert, d. h. wurde nicht nur in akademischen Kreisen diskutiert, sondern das Betasten von Schädeln

bedrohtes Schiff, die von Robespierre geäußert wird (MBA 3.2, S. 26) –, die jedoch keiner synthetisierenden Perspektive zugeführt werden und in ihrer Vielheit widersprüchlich bleiben.  Darauf hat bereits Sigrid Oehler-Klein hingewiesen, s. dies.: Der Sinn des „Tiegers“. Zur Rezeption der Hirn- und Schädellehre Franz Joseph Galls im Werk Georg Büchners, in: GBJb 5 (1985), S. 18–51, zur zitierten Szene vgl. S. 18 ff.

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und die Klassifizierung ihrer morphologischen Merkmale wurde in den Salons von Paris bis Weimar zur allgemeinen Unterhaltung praktiziert. Der Kult um Galls nicht unumstrittene physiognomische Theorie machte diese bald zum Gegenstand von Karikaturen in Bild- und Textform.65 Insbesondere im deutschsprachigen Theater entstand zu Beginn des Jahrhunderts eine ganze Reihe von Komödien, welche die verkürzte Gleichsetzung von Personen und Schädelform ins Zentrum mehr oder weniger scharfsinniger Verwechslungs- und Intrigenplots stellten.66 Eine Tradition, in die sich auch Büchners komische Überblendung von gesellschaftlicher Realität und phrenologischem (Nicht-)Wissen in der frühen Textfassung einschreibt. Die Referenz auf Gall wurde zwar vor der Veröffentlichung gestrichen; der Bezug auf den anatomischen Diskurs der Zeit hallte im weiteren Verlauf der Szene aber auch davon unabhängig fort. Auch Dantons nachfolgender Wortwechsel mit seiner Frau Julie gewinnt z. B. unter Bezug auf anatomisches Fachwissen an Prägnanz: Julie. Du kennst mich Danton. Danton. Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieb Georg. Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren. (MBA 3.2, S. 4)

Dantons Skepsis gegenüber der Möglichkeit, innerhalb sozialer Beziehungen zu einem wirklichen Verstehen anderer zu gelangen, wird mit einem martialischen Bild illustriert. Die vielzitierte Metapher der gewaltsam geöffneten Schädel und daraus extrahierten Nervenstränge beschreibt ein triebhaftes Begehren nach dem Eindringen unter die physiognomische Oberfläche des Gegenübers – eine direkte Gegenfigur zu der Lektüre von Wesenszügen anhand äußerlicher Merkmale, die

 Zu Karikaturen in Bildform s. Peter-Christian Wegner: Franz Joseph Gall in der zeitgenössischen französischen Karikatur. In: Medizinhistorisches Journal, 23:1/2 (1988), S. 106‒122; zu satirischen Texten s. o. und im Folgenden; zu nennen ist hier auch Hegels beißende Satire Galls in der Phänomenologie des Geistes (Bd. 3 der Theorie-Werkausgabe in 20 Bden. Frankfurt a. M. 1970, S. 223–262). Weitere literarische Beispiele gibt Sigrid Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts. Zur Rezeptionsgeschichte einer medizinischbiologisch begründeten Theorie der Physiognomik und Psychologie. Stuttgart u. New York 1990 (= Soemmerring-Forschungen VIII).  Zu den satirischen Theaterstücken gehörten August von Kotzebue: Die Organe des Gehirns (1806), H. Sievers: Lessings Schädel (1808) sowie Johann Jacob Willemer: Der Schädelkenner (1803, nicht veröffentlicht, nachdem Goethe zur Publikation vorgeschlagen und von diesem aufs Schärfste zurückgewiesen).

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das phrenologische Selbst(miss)verständnis des betrogenen Ehemanns auszeichnete. Die Anspielung auf die Lehren der Schädel- und Hirnanatomie um 1800 ist hier wie dort deutlich, wobei Büchners Darstellung einer materialistischen Anthropologie, die menschliches Sein und Denken vorschnell auf morphologische oder physiologische Ursachen zurückführt, mit seiner scharfen Überzeichnung eine klare Absage erteilt.67 Die entworfene anatomische Hermeneutik wird dabei im ersten Fall zum Witz; im zweiten Fall ruft die Phrase mit der Fragmentierung der Körper und der Vorstellung von einer gewaltsamen Ausstülpung ihres Inneren das Bildspektrum des Grotesken auf.68 Sie folgt damit der antiromantischen Konfrontationslogik des Grotesken, die Serena Grazzini an verschiedenen Punkten des Stücks in Äußerungen Dantons aufgezeigt hat. Dessen „Schwanken zwischen dem Bewusstsein der lächerlich-grotesken Lebensdimension und der Zugehörigkeit zu ihr“69 mündet demnach auch an anderer Stelle immer wieder in Wendungen, die jeder melancholischen Weltflucht vor „der (entfremdeten) Welt“70 grundsätzlich einen Riegel vorschieben: „Gegen den melancholischen Schwärmer bringt der [groteske] Witz die Realität auf eine Art wieder ins Spiel, die dem Subjekt keinerlei Zuflucht mehr ermöglicht, auch wenn man aus dieser Realität eigentlich nur flüchten kann.“71 Die zitierte Passage lässt sich in diesem Sinn als groteske Hyperbel einer Szene des anatomischen Präparierens verstehen, die hier – martialisch und zugleich im Konjunktiv – Dantons hilflose Konfrontation mit seinem Wunsch nach einer Überwindung der „grobe[n] Sinne“ und gesellschaftlicher Entfremdung in Szene setzt.72 Eine Lektüre, die nicht nur durch das zentrale Thema der Vertrauens-

 Vgl. zum Materialismus des Körpers in Danton’s Tod im Kontext seiner naturphilosophischen Schriften Burghard Dedner: Producing ‚thoughts by means of the body‘. Büchner and the enigma of consciousness. In: Georg Büchner. Contemporary Perspectives. Hrsg. v. Robert Gillett, Ernest Schonfield u. Daniel Steuer. Leiden u. Boston 2017 (= Amsterdamer Beiträge zur Germanistik, 89), S. 31–48, bes. S. 41 ff.  Vgl. exemplarisch zu Hyperbolik, Ausstülpungen und allgemein der Zerstörung des klassizistischen Ganzheitsideals des Körpers als Merkmale grotesker Bildsprache: Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1995 [1987], S. 356 ff.  Serena Grazzini: Mimetischer Realismus, ästhetische Evidenz, poetologische Reflexion. Über den Witz in Georg Büchners Drama ‚Dantons Tod‘. In: Witz und Wirklichkeit. Komik als Form ästhetischer Weltaneignung. Hrsg. v. Carsten Jacobi u. Christine Waldschmidt. Bielefeld 2015, S. 185–209, hier S. 200.  Grazzini: Mimetischer Realismus, S. 202.  Grazzini: Mimetischer Realismus, S. 202.  In jedem Fall greift es zu kurz, das Bild der brachial geöffneten Schädel schlechterdings als Ausdruck eines radikalen Nihilismus Dantons oder gar Büchners gegenüber der Möglichkeit gelingender Kommunikation, Gemeinschaft und Erkenntnis zu lesen, wie dies in der Forschung teilweise vorgeschlagen wurde; vgl. Eva Horn: „Die Leiber […] sind die Grenzen aller Gemeinschaft und aller Kommunikation, von Liebe ganz zu schweigen. Die Physis ist das Undurchdringliche

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krise gestützt wird, die im Drama die Verhältnisse zwischen vielen ehemals politisch Verbündeten prägt, sondern auch durch weitere Textstellen, an denen eine primitive, gewaltsame, aber durchaus positiv konnotierte Lust an der Zerstörung von Schädeln von Danton und anderen mit einem vitalen Lebenstrieb gleichgesetzt und als Waffe gegen gesellschaftliche Entfremdung ins Spiel gebracht wird.73 In einer letzten Variation geschieht dies am Ende des Dramas, wo Danton das Einschlagen von Schädeln zum Sinnbild für das Erbe der gegenwärtigen Revolution und die überhistorische Fortdauer ihrer Kämpfe erhebt: „Die Sündfluth der Revolution mag unsere Leichen absetzen wo sie will, mit unsern fossilen Knochen wird man noch immer allen Königen die Schädel einschlagen können.“ (MBA 3.2, S. 75) Der eigene, zu diesem Zeitpunkt bereits zum Tode verurteilte Körper oszilliert in solchen Formulierungen zwischen Vergänglichkeit und postmortaler Dauer, individuellem Leib und kollektivem Nutzen – eine Konstellation, die in ihrer Transgression von Zeit- und Körpergrenzen erneut groteske Züge trägt, zugleich jedoch aus der Semantik des Präparats bestens vertraut ist. Von der Eröffnungsszene an bildet die zeitgenössische Präparatkultur damit eine Folie, vor der das Drama eine Pathologie der französischen Gesellschaft um 1794 vorführt, indem es die Strukturen sozialer und politischer Entfremdung ebenso ansichtig macht wie die Frustration und Gewalt, die sie evozieren. In einer idealen Gesellschaft wäre das triebhafte ‚Aufbrechen von Schädeln‘, so suggeriert das Drama, mutmaßlich überflüssig – dies entspricht auch der über die Hauptfigur und ihr Schicksal zentral aufgeworfenen Frage nach der Notwendigkeit weiterer (Guillotinen-)Gewalt an diesem Zeitpunkt der Französischen Revolution: Gewalt kann, so Danton, auf Dauer nicht als politisches Instrument, sondern letztlich nur als

der Personen, man kann sie zwar zerstören, aber gerade nicht durchschauen.“ (Eva Horn: Der nackte Leib des Volkes, S. 247); ähnlich Hubert Thüring: „Programmatisch wirkt Dantons erkenntnis- und sprachskeptischer Einwand gegen Julies Forderung […]. Dieser […] betrifft nicht nur die (erotische, sexuelle) ‚Erkenntnis‘, sondern die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt und erst recht die Übertragung und Umsetzung philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse in politische Programme und Aktionen […].“ (Ders.: Leben, S. 214).  So sagt Danton z. B. über das Volk, es sei „wie ein Kind, es muß Alles zerbrechen, um zu sehen was darin steckt“ (MBA 3.2, S. 23); auch von Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses wird an einer Stelle das Einschlagen von Schädeln als Mittel der Befreiung von gesellschaftlicher Entfremdung, Unterdrückung und Bevormundung beschworen: „Billaud. Das Volk hat einen Instinct sich treten zu lassen und wäre es nur mit Blicken, dergleichen insolente Physiognomien gefallen ihm. Solche Stirnen sind ärger als ein adliges Wappen, die feine Aristocratie der Menschenverachtung sitzt auf ihnen. Es sollte sie jeder einschlagen helfen, den es verdrießt einen Blick von oben herunter zu erhalten.“ (MBA 3.2, S. 59, Hervorh. A.H.). Der zerstörerische Akt soll sich in diesem Fall gegen einzelne ‚Revolutionsverräter‘ richten, deren Schädel Herrschaftsverhältnisse reproduzieren, solange sie nicht gewaltsam in bloße Dinge verwandelt werden, von denen keine ‚Blicke von oben‘ mehr ausgehen.

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„Nothwehr“ zur Bekämpfung unhaltbarer Zustände dienen.74 Auf der Handlungsebene steht die Überführung der Revolution in eine republikanische Verfassung und einen postrevolutionären, gewaltfreien Zustand im Stück allerdings nur als Forderung vor Augen.75 Für den Moment bleibt die mechanische ‚Zerstückung‘76 von Körpern durch die Guillotine ein zentrales Moment des Dramas.77 Auch wenn die Zergliederung lebendiger Körper durch die Guillotine von ihrer präparatorischen Konservierung post mortem in Absicht und Ausführung denkbar weit entfernt ist, sind beide kulturhistorisch eng mit der Vorstellung einer phantasmatischen, postmortalen Lebendigkeit verbunden.78 Zahlreiche Legenden, literarische Texte und eine breit geführte medizinische Debatte thematisieren in diesem Sinn das Nachleben von Guillotine-Toten, die Wiederauferstehung präparierter Leichname oder das unheimliche Eigenleben amputierter Gliedmaßen, denen die handwerkliche oder mechanische Abtrennung vom übergeordneten Organismus offenbar nichts anhaben konnte.79 Und auch im Drama überschneiden sich in den

 Vgl. Danton: „Wo die Nothwehr aufhört fängt der Mord an, ich sehe keinen Grund, der uns länger zum Tödten zwänge.“ MBA 3.2, S. 24; zitiert bei Gideon Stiening (Ders.: Literatur und Wissen, S. 471), der die Begründung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele im Stück anhand der Positionen von Danton und Robespierre diskutiert (Stiening: Literatur und Wissen, 468–473).  Z. B. in der von Camille Desmoulins geäußerten Vision einer republikanischen Verfassung, die sich wie „ein durchsichtiges Gewand […] dicht an den Leib des Volkes schmiegt“ (MBA 3.2, S. 6), oder Hérault-Séchelles’ Forderung nach der Überführung der Revolution in eine Republik („Die Revolution muß aufhören und die Republik muß anfangen“, ebd.).  Die Wendung der ‚Zerstückung‘ durch die Guillotine wird im Stück häufig wiederholt, vgl. u. a. MBA 3.2, S. 28, Z. 2; S. 47, Z. 7; S. 55, Z. 32 f.  Harro Müller bezeichnet die Guillotine sogar als ‚Held[in]‘ des Stücks: Ders.: Die Guillotine als Held. Büchners ‚Danton’s Tod‘. Kap. aus ders.: Gegengifte. Essays zur Literatur und Theorie der Moderne, Bielefeld 2009, S. 198–204.  Dies zeigt z. B. Petra Bolte-Picker am Beispiel von Körperphantasmen im Kontext der Geschichte der Anatomie sowie der Guillotine; siehe dies.: Theater der Physiologie. Körper/Teilung, Körper/ Dichte und der politisierte kopflose Rest. In: Welt – Bild – Theater. Bildästhetik im Bühnenraum. Hrsg. v. Kati Röttger. Tübingen 2012 (= Forum modernes Theater, 38), S. 193‒206, bes. 201–203.  Vgl. die Beispiele bei Bolte-Picker: Theater der Physiologie, bes. zu den Guillotinen-Phantasmen ebd., S. 202. Exemplarisch für anatomische Horror-Phantasmen in der Literatur ist z. B. Alfred de Mussets umfangreich ergänzte Übersetzung von De Quinceys Confessions of an English Opium Eater (1821), erschienen 1829 als L’anglais mangeur d’opium traduit et augmenté par A. D. M. Die literarische Konjunktur des phantasmatischen Nachlebens toter Körper steht im Kontext einer seit der frühen Neuzeit in verschiedenen Feldern – etwa der Pathologie, Anatomie, aber auch Gerichtsmedizin – geführten medizinischen Debatte. Eine umfangreiche Aufarbeitung wissensgeschichtlicher Quellen zum phantasmatischen Nachleben der Körper nach ihrer Tötung durch die Guillotine findet sich z. B. bei Roland Borgards: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner. München 2007, S. 341–392.

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Techniken, welche die organische Ganzheit menschlicher Körper bewusst fragmentieren, punktuell Phantasmen, die Präparatkunst und Guillotine verkoppeln.80 Abschließend möchte ich noch einmal auf das oben beschriebene Repräsentationsproblem der Revolution zurückkommen, auf das Büchners ostentative Bezugnahme auf Körper und ihre Versehrungen zu antworten scheint. Inwieweit eröffnet die Logik des Präparats in diesem Zusammenhang neue Perspektiven auf das Drama? Einen wichtigen Aspekt hat hier Martin Wagner hervorgehoben: In seiner Gegenüberstellung von Danton’s Tod mit Zeitzeugnissen und historiographischen Darstellungen sowie dem Film Danton von Andrzej Wajda (FR, 1983) zeigt Wagner, dass die guillotinierten Körper bei Büchner, obschon viel von der Guillotine und ihren Opfern die Rede ist, auf der Bühne auffällig abwesend sind. Wagner deutet dies als eine von mehreren Strategien Büchners, bei der Darstellung der Ereignisse dramatische Hoch- und Tiefpunkte der Handlung zu vermeiden und den Stoff der Französischen Revolution auf diese Weise für nachfolgende Generationen als unabgeschlossenes, fortdauerndes Projekt zu vermitteln81 – in der Metaphorik des Dramas gesprochen, die ‚fossilen Knochen‘ der vergangenen Ereignisse zu nutzen, um die Kämpfe der Revolution in den 1830ern voranzutreiben. Auch Textstrategien wie die Arbeit mit historischen Quellen, die Büchner der späteren Darstellung an vielen Stellen als wörtliche Zitate inkorporiert hat, lassen

 Wenn Büchners Danton z. B. kurz vor seinem Tod die technisch automatisierte Durchführung des Prozesses als mechanische Dekomposition des menschlichen Körpers beschreibt, erinnert dies an den zeitgenössischen Topos der mechanischen Zergliederungskunst, der vom Autor und seinen Zeitgenossen im Zuge der Professionalisierung der Herstellung anatomischer Präparate häufig bedient wurde. Vgl. Danton nach seiner Verurteilung: „Wär’ es ein Kampf, daß die Arme und Zähne einander packten! aber es ist mir, als wäre ich in ein Mühlwerk gefallen und die Glieder würden mir langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht: So mechanisch getödtet zu werden!“ (MBA 3.2, S. 63). Zur „mechanische[n] Beschäftigung des Präparirens“ (Büchner im Brief an Wilhelmine Jaeglé, 13.01.1837; MBA 10.1, S. 116) vgl. z. B. Johann Christian Rosenmüller: Handbuch der Anatomie. Pesth 1811, S. 9; Anton Römer: Handbuch zur Anatomie des menschlichen Körpers, Bd. 1. Wien 1831, S. 1. Auch der Vorbehalt gegenüber der Zergliederung der organischen Einheit des Körpers durch die Guillotine, den Robespierre und St. Just im Zusammenhang möglicher öffentlicher Reaktionen auf die Verurteilung Dantons diskutieren und auf dessen christliche Wurzeln sie anspielen (Vgl. St. Just: „Wir müssen die große Leiche mit Anstand begraben, wie Priester, nicht wie Mörder. Wir dürfen sie nicht zerstücken, all ihre Glieder müssen mit hinunter.“ MBA 3.2, S. 28), begleitet die Geschichte der anatomischen Sektion und ihre Darstellung in zeitgenössischen Lehrbüchern; vgl. exemplarisch Otto von Boltenstern: Die neuere Geschichte der Medicin. Leipzig 1802; S. 44–47; Carl Ernst Bock: Handbuch der Anatomie des Menschen, mit Berücksichtigung der Physiologie und chirurgischen Anatomie, Bd. 1. Leipzig 1838, S. 4 f.  Martin Wagner: Why Danton Doesn’t Die. In: Georg Büchner. Contemporary Perspectives, S. 173–191.

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sich im Sinne dieser Tradierung deuten. So betont etwa Durs Grünbein über 150 Jahre nach der Entstehung des Stücks in seiner Büchner-Preisrede: Die originalen Zitate aus den Standardwerken zur Revolution werden wie Transplantate dem eigenen Dramentext einverleibt. An den Geweberändern will das Blut nicht gerinnen. Wie abgehackte Glieder zucken die Phrasen der toten Helden weiter im Bühnenstaub.82

Die Preisrede legt einen Schwerpunkt auf Büchners anatomische Tätigkeit, die in der Würdigung seines Werks u. a. als Modell für sein analytisches Arbeiten und das zentrale Interesse am Menschen und seinen existenziellen Bedürfnissen dienen. Grünbeins Bestimmung der Zitate als ‚Transplantate‘ kann dabei als Reminiszenz an ihre Charakterisierung als ‚Fremdkörper‘ gelesen werden, die Paul Celan 1960 in seiner eigenen Dankesrede zum Büchner-Preis formulierte.83 Hier wird sie nun in eine Körperlogik übersetzt, welche die Spannung zwischen organischer Integration und Abstoßung ins Zentrum stellt – im Bild des unheimlichen Weiterlebens der historischen Relikte als untote Fragmente auf der Bühne, was der oben skizzierten kulturellen Phantasmatik im Zusammenhang mit Präparat und Guillotine entspricht. Die Metaphorik erfasst überzeugend die verstörende Unruhe und z. T. unbequemen Einsichten, die Büchners Drama bis in die Gegenwart provoziert. Zugleich bleibt die Vorstellung eines ‚untoten Weiterlebens‘ des historischen Stoffs durch das Stück notgedrungen unpräzise, zumal im Hinblick auf den Entstehungskontext in den 1830er Jahren. Zwar setzte sich in genau dieser Zeit europaweit die Vorstellung von der Französischen Revolution als unabgeschlossenem, fortdauerndem Ereignis durch.84 Zugleich herrschte quer über die (revolutionär gesinnten) politischen Lager Einigkeit darüber, dass sich die Ereignisse und Strategien von 1789 nicht bruchlos auf die Gegenwart übertragen ließen – z. B. wurde deutlich gesehen, dass eine politische Revolution die Probleme der Gegenwart nicht allein lösen könne, sondern es dafür notwendig einer sozialen Revolution bedürfe.85 In diesem Sinn wäre auch Büchners Umgang mit dem historischen Stoff der Revolution weniger als Versuch zu verstehen, das Geschehen der Gegenwart ‚einzuverleiben‘ (Grünbein), sondern als „komplexe Reflexion auf die Frage einer Aktualisierbarkeit der politischen Konzeption der Großen Revolution“,86 die

 Durs Grünbein: Den Körper zerbrechen. Rede zur Entgegennahme des Büchner-Preises in Darmstadt am 21.10.1995. Quelle: [zuletzt aufgerufen am 15.07.2022].  Fenech: Transfusions of Sovereignity, S. 43.  Wagner: Why Danton Doesn’t Die, S. 185 f.  Stiening: Literatur und Wissen, S. 402, 493 ff.  Stiening: Literatur und Wissen, S. 493.

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ihre einer Heroisierung über weite Teile des Dramas entsagenden Held:innen als Akteure „in den eng vernetzten Bedingungsgefügen des späten 18. Jahrhunderts [zeigt], die nicht bruchlos in die 1830er Jahre zu übertragen sind.“87 Der konflikthafte, versehrte Volkskörper der Revolution erweist sich zu Büchners Lebzeiten als ‚untot‘ also nicht allein deswegen, weil er die Gegenwart phantasmatisch heimsucht, sondern auch im Sinne eines präparierten Gegenstands, über den ungelöste Fragen und offene Enden eines historischen Geschehens zur Anschauung gelangen, in ihren gewaltsamen Konsequenzen – insofern diese im Stück ansichtig und der Erfahrung zugänglich werden – betrauert, oder in neue politische Imaginationen übersetzt werden können. Wie die vorangehenden Überlegungen gezeigt haben, trägt die Logik des Präparats in dieser Weise an vielen Stellen von Büchners Werk dazu bei, gesellschaftliche Prozesse und die ihnen inhärenten Spannungen oder Paradoxien buchstäblich zum Gegenstand zu machen. Sie tun dies einerseits mittels der sehr spezifischen Dinglichkeit von Präparaten, die untrennbar von Praktiken der Herstellung und des Gebrauchs sowie den sie konstituierenden Repräsentations- und Erkenntnisabsichten ist. Bei Büchner stehen die textgewordenen Anschauungsdinge andererseits klar im Kontext der Wissens- und Dingkultur des frühen 19. Jahrhunderts, deren ‚Entdeckung‘ von Präparaten als spektakuläre Objekte ästhetischer Wahrnehmung und Darstellung in seinen Stücken als beständige Verknüpfung präparierter Gegenstände mit Verfahren ihrer Ästhetisierung, theatralen Vorführung und Rezeption widerhallt. Büchners spezifische Perspektive artikuliert sich dabei in einer konsequenten Rückbindung an die gesellschaftlichen – historischen, psychosozialen und politischen – Bedingungen ihrer Hervorbringung, die im Rahmen seiner Stücke anschaulich und einer kritischen Analyse zugänglich werden.

 Stiening: Literatur und Wissen, S. 495.

Essays

Alfons Glück

Über Dinge in Georg Büchners Woyzeck ‚Dinge‘ in einer Dichtung sind nicht nur ‚Objekte‘, sie haben uns über ihre materielle Existenz hinaus etwas mitzuteilen.1 Eine Atmosphäre umgibt sie, sie üben eine Anziehungskraft aus. Wir betrachten sie mit Aufmerksamkeit und Interesse und fragen uns, was es mit ihnen auf sich haben könnte. Es geht etwas von ihnen aus, sie geben uns etwas zu verstehen, was uns vielleicht nur ‚gegenständlich‘ bewusst gemacht werden kann. Einige sind durchscheinend für einen verborgenen Sinn. In einer Dichtung besteht zwischen den Menschen und den Dingen in ihrem Bereich eine merkliche, nicht selten eine intensive Beziehung; besonders innerhalb eines dramatischen Vorgangs können Dinge wie unterschwellig mitwirkend erscheinen: wie stumme Mitspieler. Im ‚Kunstgespräch‘ sagt Lenz (sagt Büchner mit Blick auf seine eigene Dichtung und gerade auf Woyzeck): „Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel […] es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich seyn, erst dann kann man sie verstehen“. (MBA 5, S. 37 u. 38) Und was er über ein Sichversenken in das Leben des Geringsten sagt, dürfen wir übertragen auf das Geringste und also auch auf die Dinge, die mit diesen Geringsten auf das engste verbunden sind. Im Folgenden werden wir fünf Dinge im Woyzeck näher betrachten und fragen, was darin zum Ausdruck kommen könnte: die Ohrringe und ein „Stückchen Spiegel“ (beides in der Szene H4,4), das Messer, das Woyzeck in einem Kramladen ersteht (H4,15), das „Kamisol“, das er seinem Kameraden Andres hinterlassen will (H4,17) und zuletzt ein Ding ganz anderer Art, ein seltsames und rätselhaftes: die „Schwämme“, die „Figuren“, die Pilzkolonien bilden, und über die Woyzeck spekuliert, ob sie nicht „Zeichen“ sein könnten (H4,8, MBA 7.2, S. 27).

 Nicht anders in Werken der bildenden Kunst. Ein Beispiel aus einer unübersehbaren Zahl: die Sanduhr in Dürers Kupferstich Melancholie ist nicht nur ein Gerät, das der Zeitmessung dient. Alfons Glück, Marburg https://doi.org/10.1515/9783110796278-011

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1 Die Ohrringe Von den Ohrringen, die sie von dem Tambourmajor als Geschenk angenommen hat, meint Marie, sie werden gewiss aus Gold sein. Das ist denkbar unwahrscheinlich, eher werden sie Messing sein. Und die „Steine“ (MBA 7.2, S. 23), die glänzen: geschliffenes Glas, buntes und farbloses (‚Strass‘). Diese Ohrringe werden nicht „geschenkt“, dafür wird etwas erwartet. Sie gleichen einem Köder, in dem sich ein Widerhaken verbirgt, die ‚Beschenkte‘ soll sich daran verfangen. Dieses Schmuckstück ist ein Ding, in dem sich großes Unheil verbirgt (darauf werde ich noch zurückkommen).

2 Ein „Stückchen Spiegel“ Mit diesen Ohrringen besieht sich Marie nicht in einem Spiegel, sondern in einem „Stückchen Spiegel“ (MBA 7.2, S. 23). Dieses „Stückchen“ hat uns etwas mitzuteilen, und zwar in welcher Armut diese junge Frau leben muss. Also nur so knapp kann Woyzeck sie und das Kind über Wasser halten, dass es noch nicht einmal zu einem kleinen Handspiegel gereicht hat (den er ihr gewiss sehr gerne schenken würde). Was wir hier erkennen sollten, sagt sie uns auch selbst: „Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel“ und „ich bin nur ein arm Weibsbild“ (MBA 7.2, S. 24). Ihr „Stückchen Spiegel“ vergleicht sie mit den Spiegeln „von oben bis unten“ der „großen Madamen“ (MBA 7.2, S. 24), also mit hohen Wandspiegeln. Das könnte von der Empfindung begleitet sein, dass ihrer natürlichen Schönheit etwas Besseres zustünde als ein Stück Spiegel. Dass sie ihr „Stückchen“ mit den hohen Wandspiegeln konfrontiert, darin scheint mir doch ein Moment von ‚Bewusstsein‘ zu liegen, eine erste Vorahnung von dem „Riss“ (MBA 10.1, S. 93), der durch die Gesellschaft geht. Dafür ein sprachliches Indiz: Der Ausdruck „die großen Madamen“ scheint mir nicht von Einverständnis geprägt. Dass ihr die hohen Spiegel der „Madamen“ in den Sinn kommen, bringt mich auf eine Vermutung, woher ihr „Stückchen“ stammen könnte. Vielleicht ist es ein Stück von einem solchen Wandspiegel, der zu Bruch gegangen ist, und Marie hat es im Kehricht vor dem Haus einer dieser „Madamen“ aufgelesen. In dem Wort „Stückchen“ Spiegel ist ein Moment von gemüthafter Verschleierung. Wir müssen dieses „Stückchen“ richtig benennen und überhaupt näher ins Auge fassen! Es handelt sich um eine Spiegelscherbe. Eine Spiegelscherbe weist sehr scharfe Schneiden auf (3 oder mehr). Damit zu hantieren bringt nicht geringe Gefahren mit sich und große Gefahren für das kleine Kind, wie eben jetzt, als Marie sich mit ihrem Schmuck in dieser Spiegelscherbe besieht und das Kind, in ihrem Schoß liegend, sich aufrichtet, um der Mutter dabei zuzusehen. Auch von dieser Spiegelscherbe muss ich sagen, es ist ein Ding, in dem sich Unglück verbirgt.

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3 Ein „Schlafengelchen“, das ein Kind bedroht Marie will nicht, dass ihr das Kind bei der Anprobe der Ohrringe des Tambourmajors, diesem Verrat an Woyzeck, zusieht. In strengem Ton ermahnt sie: „Schlaf Bub! Drück die Auge zu, fest […], still oder er holt dich“ MBA 7.2, S. 23 f.). Sie blinkt mit dem Glas und lässt den Lichtschein als „Schlafengelchen“ an der Wand laufen, „die Auge zu, oder es sieht dir hinein, daß du blind wirst.“ (MBA 7.2, S. 23 u. 24) Eine liebevolle Zuwendung ist das nicht. Denn für dieses „Schlafengelchen“ findet sich die wie ich glaube zutreffende Erklärung im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens:2 Es ist ein Kinderschreck, der ein Kind „holt“, wenn es den Weisungen der Erwachsenen nicht folgt. Und ein anderer Kinderschreck blendet das Kind, wenn es etwas Unerlaubtes erblickt und nicht sofort die Augen schließt und sich abwendet! Was ein solcher unerlaubter Anblick sein könnte, das könnten wir von der Psychoanalyse erfahren. Die Anprobe der Ohrringe des Tambourmajors, der das Kind Christian nicht zusehen soll, ist damit verwandt. Hier wird aus dem Schutzengel, zu dem Kinder vor dem Einschlafen beten (‚zwei zu meiner Rechten/ zwei zu meiner Linken‘) eine Bedrohung, aus dem guten Geist ein Dämon, der das Kind „holt“ – holt wohin? In das Totenreich, ist zu vermuten. Oder einer, der dem Kind in die Augen hineinsieht, dass es blind wird! Wohin hat sich diese Mutter durch ihren Verrat an Woyzeck gegen ihr Kind verirrt? Die Erwachsenen sollen den erschreckten Kindern nur ja nicht erzählen, das sei nicht ernst gewesen. Ein dunkles Zeichen: Die strenge Aufforderung, sich nicht zu rühren, still zu werden, die Augen zu schließen und die Bedrohung mit Geblendetwerden bringe ich mit dem Tod dieses Kindes in Verbindung, das nach der Ermordung seiner Mutter und der Hinrichtung seines Vaters völlig hilflos zurückbleiben wird und tatsächlich kaum Chancen hat, die ersten Jahre zu überleben (bedenkt man den Zustand der Waisenhäuser in dieser Zeit). Je tiefer man in den Text des Woyzeck eindringt und sich Schritt für Schritt die Wirklichkeit vor Augen bringt, die sich darin abzeichnet, desto hintergründiger wird er. Maries letztes Wort in dieser Szene H4,4, „Ach! Was Welt? Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib“ (MBA 7.2, S. 24),3 und was dem folgt, die Szene H4,6 (Marie und der Tambourmajor, MBA 7.2., S. 26)4 – das ist der Anfang dieser Tragödie, der ihren, der Woyzecks und der des Kindes.

 Vgl. hierzu den Kommentar in MBA 7,2, S. 500.  Nachdem Woyzeck, der ihr eben noch seinen Sold übergeben hat, sie und das Kind wieder verlassen musste.  Ihr Schlusswort in dieser Szene nimmt das von H,4,4 wieder auf: „Meinetwegen. Es ist alles eins.“ (MBA 7.2, S. 26).

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4 Das Messer Seit Woyzeck völlige Gewissheit hat, dass Marie ihn mit dem Tambourmajor hintergeht, seit der Tanz-Szene H4,11, seit Maries „immer zu, immer zu“ (MBA 7.2, S. 29) in den Armen des Tambourmajors, hört Woyzeck „Stimmen“: in H4,12 aus dem Erdboden (MBA 7.2, S. 30), in H4,13 aus einer Wand (MBA 7.2, S. 30). Ihre stakkatoartigen, immer wiederholten „stich, stich“, „stich […] todt, stich […] todt“ (MBA 7.2, S. 30), und das „immer zu, immer zu“ (MBA 7.2, S. 30) hämmern ihm ein, treiben ihn an – schubartig (psychotisch) – Marie zu erstechen. Seit ihn die „Stimmen“ verfolgen, denkt er daran, sich eine Waffe zu besorgen (offensichtlich zunächst an ein Messer). Woyzeck betritt einen Kramladen (H4,15) und sieht dort eine Pistole liegen. Die würde er nehmen, doch sie ist für ihn unerschwinglich. Es reicht nur für ein billiges Messer, von dem der Verkäufer empfehlend hervorhebt: es ist „gar, grad“ (MBA 7.2, S. 31). Das verstehe ich so: Die Klinge ist „grad“, also nicht verbogen, und „gar“: Das Ding ist noch komplett, auch der Griff ist noch dran. Aber was muss das für ein schäbiges Ding sein, wenn man dergleichen extra erwähnen muss! Die Klinge wird Stahl sein, der Griff wahrscheinlich aus Holz. Scharf geschliffen ist es, wie aus Woyzecks Worten hervorgeht „Das kann mehr als Brod schneiden“ (MBA 7.2, S. 31). Dafür ist dieses schäbige Messer billig: Es kostet „Zwei Groschen“ (MBA 7.2, S. 31), und die kann der Käufer aufbringen. In diesem Messer steckt Armut, das liegt auf der Hand, ist aber nicht alles: Es steckt darin ein unterirdischer Bezug zu diesem ärmlichen Käufer. Ich halte den Preis für ein Zeichen. „Zwei Groschen“ sind nämlich der Betrag – und daran müssen wir uns jetzt erinnern –, den der Doktor täglich an Woyzeck auszahlt dafür, dass dieser Tag für Tag nichts als Erbsen hinunterwürgt (und seinen Urin für chemische Analysen abliefert): „Und doch zwei Groschen täglich“ (MBA 7.2, S. 26).5 In den zwei Groschen für das Messer steckt also eine untergründige Beziehung zu dem Menschenversuch, der an dem Käufer durchgeführt wurde und der ihn (nach 90 Tagen) physisch und psychisch ruiniert hat. Als letztes müssen wir bedenken, welche Folgen es hatte, dass Woyzeck nicht die Pistole, sondern nur ein Messer für zwei Groschen erstehen konnte. Diese Folgen sind furchtbar und bestimmen das Ende: Wir haben sie in der Mord-Szene H1,15 vor Augen, die Messerstiche und was wir H1,19 über Maries Leiche erfahren müssen, die „rothe Schnur“ (MBA 7.2, S. 11) um den Hals, ihre „wild“ (MBA 7.2, S. 11) hängenden Haare (sie hat sich verzweifelt gewehrt). Ich wage es in diesen Tagen nicht recht,

 So in H4,8; in der früheren Entwurfsstufe H2,6 sind es noch „alle Tag 3 Groschen und Kost“ (MBA 7.2, S. 16).

Über Dinge in Georg Büchners Woyzeck

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näher darauf einzugehen. Wer die Szene H1,15 aufschlägt, wird es sich vor Augen bringen.6

5 Das Kamisol H4,17 zeigt Woyzeck mit Andres in der Kaserne. Woyzeck hat mit dem Leben abgeschlossen. Von einem militärischen Legitimationspapier liest er ab, was es gewesen ist und von dem auch darin verzeichneten Tag seiner Geburt, wie lange es währte: „30 Jahre 7 Monate und 12 Tage“ (MBA 7.2, S. 32). Das hat er genau nachgerechnet. Und was zeigt uns das an? Dass es damit vorbei ist. Woyzeck „kramt in seinen Sachen“ und wendet sich an Andres: „Das Kamisolche Andres, ist nit zur Montour, du kannst’s brauchen Andres.“ (MBA 7.2, S. 32) Dieses „Kamisol“ ist eine Unterjacke mit Knöpfen, bayrisch ein ‚Leiberl‘, heute am ehesten zu vergleichen mit einem warmen Unterhemd. Woyzeck setzt hinzu, es gehöre nicht zu der vom Militär gestellten Montur, das besagt: Es gehört ihm, er hat es sich abgespart für kalte Tage. Aus den Sachen, in denen er kramt, geht hervor, dass dieses „Kamisol“ praktisch das Einzige ist, was er in Jahren erwerben konnte. Seinen Sold und was der Abgehetzte mit Arbeiten außerhalb der Dienstzeit verdienen konnte, musste er restlos dafür aufwenden, Marie und das Kind durchzubringen (was auch aus der Szene H4,4 hervorgeht). Wenn er seinem Kameraden Andres dieses Kamisol mit dem Bemerken hinterlässt, „du kannst’s brauchen“ (MBA 7.2, S. 32), zeigt uns das an, wie es in dieser Hinsicht auch um seinen Kameraden bestellt ist. Andres begreift nicht, was das alles zu bedeuten hat, ahnt nicht, was hier im Hintergrund steht. „Andres (ganz starr, sagt zu Allem: ja wohl)“ (MBA 7.2, S. 32). In seine Ratlosigkeit schleicht sich das ‚Jawohl‘ ein, das Stereotyp der Militärsprache, automatisierte Reaktion auf Anweisungen, die man zu befolgen hat, auch ohne sie zu verstehen. Dann aber rafft er sich auf: „Franz, du kommst in’s Lazareth, Armer du mußt Schnaps trinken und Pulver drin das tödt das Fieber“ (MBA 7.2, S. 32). Andres legt sich das Unbegreifliche, das er in dieser Szene an Woyzeck erlebt, so zurecht: Der Arme sei schwer erkrankt, er müsse ins Lazarett, dort werde man sich um ihn küm-

 Eine andere Folge der „Zwei Groschen“ übergehe ich. In der Szene H4,14 schlägt der Tambourmajor Woyzeck zusammen. Von dem Gedemütigten hören wir noch diese Worte: „Eins nach dem andern“ (MBA 7.2, S. 31). Ihr drohender Sinn richtet sich auf den Tambourmajor und auf Marie. Gegen den Tambourmajor, der ihm körperlich weit überlegen ist, hätte Woyzeck mit einem Messer keine Chance: anders mit einer Pistole! Dass dann der Tambourmajor ‚ungeschoren‘ davonkommt, darüber können wir – nach einer Szene wie H1,15 – hinweggehen.

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mern. Jetzt, fürs Erste, solle er Schnaps trinken mit etwas Chinin darin, das senke schon einmal das hohe Fieber. Nachdem Woyzeck von „Hobelspänen“ (MBA 7.2, S. 32) gesprochen hat (auf denen im Sarg die Toten liegen)7, und niemand wisse, „wer sein Kopf drauf legen wird“ (MBA 7.2, S. 32),8 nimmt Andres an, Woyzeck fürchte, dass er diese Krankheit nicht überstehen werde. Dieses „Kamisol“ ist ein ärmliches Ding, wie die anderen Dinge im Woyzeck – und doch bin ich der Ansicht, es hebe sich heraus. Das liegt nicht in dem Ding selbst, sondern in dem, was sich mit diesem Ding ereignet und etwas zu tun hat mit Begegnung, Gesinnung, Ethos. Ich will versuchen klarzumachen, was ich im Blick habe. Ein seelisch Schwerverstörter, der von „Stimmen“ getrieben wird, ein Verzweifelter, der mit dem Leben abgeschlossen hat, ist noch im Stande, an einen Anderen zu denken, ist besorgt, das wenige, was er hat, einem Leidensgenossen zukommen zu lassen. Was wir darin erkennen können, ist ein Akt der Brüderlichkeit, und das an der Todesgrenze. Armselig ist dieses Geschenk, nicht armselig ist die Gesinnung, in der es hinterlassen wird. Von Brüderlichkeit dürfen wir auch bei Andres sprechen, der dieses Geschenk empfängt und gar nicht begreift, was sich hier ereignet. Der Zustand seines Kameraden geht ihm nahe, er sucht ihn zu beraten und aufzurichten. Jedes seiner Worte ist ein Zeugnis seines Mitgefühls und einer Menschlichkeit, die in ihrer Spracharmut und dem ‚Erstarren‘ einen tiefen Eindruck hinterlassen kann. Begegnung, Gesinnung, Ethos: Das, was nicht materiell ist, wird bildhaft ausgedrückt. Dieses „Kamisol“ ist von Armut durchtränkt, aber es wird eingehüllt von guter Gesinnung, es ist darin ein Vorschein aus einem anderen Bezirk als dem der Ausbeutung und Unterdrückung, in dem (wie es in Danton’s Tod, I/2, heißt) Menschen wie Woyzeck und Andres „am Strick“ „hängen“ (MBA 3.2, S. 11). Je mehr man sich in die Szene mit dem „Kamisol“ hineindenkt, desto mehr empfängt man den Eindruck als ginge von diesem unscheinbaren Ding eine Wirkung aus, auf die man sozusagen gar nicht gefasst ist.

 Die Redewendung, „einer liegt auf den Hobelspänen“ (wie schon in H4,1) ist zur Zeit Büchners und noch lange danach Wirklichkeit. Es handelt sich um die Späne, die beim Hobeln der Sargbretter anfallen. Mit solchen Spänen wird der Sargboden bedeckt. Und auf diesen Spänen liegen dann die Toten wie auf einem Leichentuch. Auch in diesen Dingen steckt Armut.  Den Kopf auf die Hobelspäne legen, das heißt wahrscheinlich: auf ein Kissen, gefüllt mit Hobelspänen. Ich vermute, das geschieht bereits im offenen Sarg, um den Kopf des Toten etwas anzuheben: Die an die Bahre herantreten, um von dem Toten Abschied zu nehmen, sollen ihm ins Gesicht sehen können, ohne sich weit vorbeugen zu müssen. Man bleibt, wie noch heute, am Fußende des Sarges stehen. In dieser Lage wird dann der Tote verbleiben, wenn der Sarg geschlossen wird. Bald darauf wird er „mit den Füßen voran“ hinausgetragen. Auch davon ist im Woyzeck die Rede: H1,11.

Über Dinge in Georg Büchners Woyzeck

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6 Die ärmlichen Dinge, worauf sie hindeuten Die ‚geschenkten‘ Ohrringe (aus Messing), eine Spiegelscherbe, ein Messer für zwei Groschen, ein „Kamisol“ – jedes dieser Dinge wirft ein Licht hinunter auf den Grund: auf die extreme Armut, in der diese Menschen leben müssen, die unausgesetzt gegenwärtig ist und so auch in den Dingen, in denen sie sich spiegelt. Dieser Grund, auf den der Blick nach unten trifft, ist das Fundament des Woyzeck. Das ‚Schicksal‘, das in der griechischen Tragödie von der Moira oder einem Götterspruch ‚von oben‘ verhängt wird, hier steigt es von unten auf, aus den elenden Lebensbedingungen, unter denen diese Menschen existieren. Ihre Armut und Verlassenheit liefert sie aus und bestimmt ihr Schicksal, sie ist es, was diese Tragödie in Gang setzt und in Gang hält: bis zu einem Ende, das wie vorbestimmt wirken kann. Öfter habe ich von Thomas Michael Mayer gehört: „Der Woyzeck ist exterritorial“.9 Ohne die unbedingte Hinwendung zu den „Geringsten“ (MBA 5, S. 37) hätte Büchner keinen Woyzeck schreiben können, keine Szene wie diese letzte, wo einer, der das Äußerste getan hat, seine Frau und das Kind durchzubringen („hab sonst nichts – auf der Welt“ (MBA 7.2, S. 18), als einzigen Besitz ein „Kamisol“ hinterlässt.

7 Die „Schwämme“, ihre „Figuren“ Das ‚Ding‘, das ich jetzt anvisiere, unterscheidet sich wesentlich von so massiven Dingen wie Ohrringe, einem Stück Spiegel, von Messer, Kamisol und auch von einem Lichtschein, der eine Wand hinaufläuft. Es sind „Figuren“ (MBA 7.2, S. 27) von Pilzkolonien, die Woyzeck in der Szene H4,8 beschäftigen und aufregen. Er wendet sich mit der Frage an den Doktor, ob ihm, dem Gelehrten, etwas von Zeichen in der Natur bekannt sei: „Herr Doctor haben sie schon was von der doppelten Natur gesehn? Wenn die Sonn in Mittag steht und es ist als ging die Welt im Feuer auf hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!“ (MBA 7.2, S. 27) Und dann: „Die Schwämme Herr Doctor. Da, da steckts. Haben Sie schon gesehn in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen. Wer das lesen könnt“ (MBA 7.2, S. 27): „da steckts“, nämlich ein geheimer Sinn, und „wer das lesen könnt“: Der würde die Botschaft verstehen, die da an uns gerichtet ist. Woyzeck fragt sich, ob die Ringe, Bögen, Figuren, die Schwämme auf dem Waldboden bilden, Zeichen sind, durch die uns (ihm) etwas mitgeteilt werden soll. Da er nirgends eine Erklärung finden kann für den physischen und seelischen Zustand, in dem er sich befindet (nach einem 90tägigen Menschenversuch),  Vielleicht nicht nur in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts?

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denkt er daran (so versuche ich das zu deuten), ob nicht in der Natur Hinweise für ihn verborgen sein könnten. Für die Idee, in die Natur könnten Zeichen eingeschrieben sein, sind die „Figuren“ von Pilzkolonien kein ungeeigneter Bezug; man könnte sagen, entfernt sehen sie wie Zeichen aus. Und Zeichen be-deuten, teilen uns etwas mit – und daran kann sich die Wahnidee andocken, diese „Figuren“ könnten an uns gerichtete Botschaften enthalten. Was will Woyzeck in Erfahrung bringen? Was ihm hier durch den Kopf geht, ist keine abstrakte Spekulation, sondern ist ganz und gar auf seinen Zustand bezogen, hat einen gegenständlich-praktischen Sinn: Er möchte in Erfahrung bringen, ob nicht in der einen oder anderen Naturerscheinung etwas „steckt“, was ihn über seinen Zustand aufklären könnte, vielleicht zu Hilfe kommen könnte. Ein Wort zu seinem Zustand, auf den sich seine Wahnidee von Naturzeichen bezieht: Nach dem 90tägigen ernährungsphysiologischen Experiment ist er nicht mehr weit von der Katastrophe entfernt. Er hört „Stimmen“, wird von „Erscheinungen“ (u. a. MBA 7.2, S. 27 u. 30) – Visionen und Halluzinationen – heimgesucht, solchen, die auf sein Ende vorausdeuten. Schon in H4,1 bzw. H2,1 (die ‚Stöckeschneider‘) haben wir mitangesehen, wie der Schwerverstörte in der Natur Zeichen sah: In den Blitzen eines heraufziehenden Gewitters Vorzeichen des Weltbrandes, und im Donner hörte er die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Und jetzt wieder, in H4,8, ist ihm, wenn die Sonne in Mittag steht, als ginge die Welt in Feuer auf. Weiter berichtet er dem Doktor, „eine fürchterliche Stimme habe schon zu ihm geredet“ (MBA 7.2, S. 27). Sie wird ihm durch Mark und Bein gegangen sein. Diese Erscheinungen sind ‚Projektionen‘ seiner tiefsten Ängste, des Vorgefühls, was auf ihn zukommt, was ihm bevorstehen wird. Die „fürchterliche Stimme“, die ihn direkt anredet, kommt nicht von außen oder von oben, sie kommt aus seinem Innern. Das Weltende, das sich am Himmel ereignet, ist sein eigenes Ende: übersetzt in die Bild-Sprache einer Psychose. Und wie reagiert der Doktor auf Woyzecks Bericht von dessen ‚Visionen‘ und den „Stimmen“ und auf die Frage, ob er etwas wisse von Zeichen in Naturerscheinungen? Er befindet, Woyzeck „philosophirt wieder.“ (MBA 7.2, S. 27) Was hier vorliege, sei eine „aberratio, mentalis partialis der zweiten Species, sehr schön ausgeprägt […] fixe Idee, mit allgemein vernünftigem Zustand.“ (MBA 7.2, S. 27) Und im selben Atemzug befragt er seinen Versuchsmenschen nach dem, was für ihn, den Experimentator, einzig von Belang ist: Ob der Erbsenesser „noch Alles [tue] wie sonst, rasirt seinen Hauptmann!“ „Ißt seine Erbsen?“ „Thut seinen Dienst,“ Was mit „Ja wohl“ bejaht wird (MBA 7.2, S. 27). Daraufhin erklärt ihn der Doktor für einen „interessante[n] casus“, verheißt ihm (wenn er sich „brav“ halte) eine Zulage und misst ihm den Puls (MBA 7.2, S. 27). Nach einer solchen Befragung kommt der Doktor zu diesem ‚diagnostischen‘ Befund, dass er noch einige Zeit mit dem Menschenversuch fortfahren könne, das

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„Subject Woyzeck“ (MBA 7.2, S. 27) werde in nächster Zeit nicht durchdrehen. Und an diesem Resultat ist er interessiert. Das also ist aus der „vertraulich“ (MBA 7.2, S. 27)10 gestellten Frage geworden, ob es Zeichen gebe in der Natur! Wie wir von den Ohrringen, dem Stück Spiegel, dem Messer, dem Kamisol einen Blick werfen konnten auf die Armut, in der Marie und das Kind, Woyzeck und Andres leben, so können wir jetzt von den „Figuren“ der Schwämme, in denen eine Botschaft enthalten sein soll für einen unmenschlich Ausgenutzten, einen Blick werfen auf die völlige Desorientierung und Wahnbildung eines seelisch Schwerverstörten, der offensichtlich an einer letzten Grenze angekommen ist. In seiner Ratlosigkeit hat er die Figuren von Pilzkolonien ins Auge gefasst. Dieses Zeugnis extremer Desorientierung ist schon für sich genommen eine Tragödie: Vor diesem Opfer steht sein Peiniger, und der Blick des Ahnungslosen richtet sich auf den Waldboden.

 So sagt es die Bühnenanweisung, gemeint ist „vertrauensvoll“.

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Schmuck für Arme Maries Ohrringe in Georg Büchners Woyzeck

1 Funktionalität des Schmucks Teure Schmuckstücke stehen für den sozialen Status ihrer Besitzer. Eine Funktion von Preziosen besteht darin, einen Menschen ein schöneres Aussehen zu verleihen. Dies kann als lebensfern empfunden werden: Für Menschen, die ihr tägliches Brot unter erbärmlichen Umständen verdienen müssen oder sogar Not und Hunger leiden, sind Preziosen lediglich Luxuswaren, zumal die Kostbarkeiten weder essbar noch verbrauchbar sind. In diesem Zusammenhang liegt die Frage nahe, ob Schönheit und Armut zueinander im Kontrast stehen. Ökonomische Schwäche lässt keine Luxusgüter zu. Das gilt auch im achtzehnten Jahrhundert. Europaweit gab es Missstände und eine Ausbeutung der hungernden Mehrheit. Schmuck ist kein Artikel des Grundbedarfs. An die Verschönerung des eigenen Images denkt man erst, wenn das menschliche Überleben gesichert ist. Aus diesem Grund werden die Preziosen von denen angelegt, die sich diese leisten können. Funktionalitäten dieser teuren Produkte richten sich nach dem Effekt aus, ihrem Besitzer mehr Geltung zu verschaffen. Es mag aber sein, dass Schmuckstücke zu Trägern eines inneren Wertes werden, der nicht nur auf ihren Marktpreis zurückzuführen ist. Häufig kann der Besitzer seinen Juwelen eine verinnerlichte, vielleicht sentimentale Bedeutung zuweisen. Petra Ahde-Deal analysiert dieses Phänomen in Bezug auf ihre Interviews mit Frauen des westlichen Kulturkreises.1 Hierbei zeigt sich eine stark subjektive Erfahrung der einzelnen Gesprächspartnerinnen als entscheidend. Preziosen verkörpern ihre eigenen Erinnerungen an Ereignisse, die vorwiegend mit der Lebensgeschichte in einen Zusammenhang gebracht werden können: When pieces of jewelry become personal possessions they may end up as subjectively valuable items. The subjective value is often built on special occasions and relationships in one’s personal history that includes the piece of jewelry. Often, jewelry plays an important role in meaningful moments in one’s lifetime. In western cultures, it is often part of celebrations of

 Vgl. Petra Ahde-Deal: Women and Jewelry. A Social Approach to Wearing and Possessing Jewelry. (26.02.2022). Magdalena Maria Idzi, Kraków https://doi.org/10.1515/9783110796278-012

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achievement, religion, love, friendship, and inheritance. These personal moments related to jewelry make them subjectively significant.2

Ahde-Deal kommt in ihrer Synthese zum Schluss, dass der einem Schmuckstück subjektiv beigemessene Wichtigkeitsgrad mit dem tatsächlichen Geldwert nicht gleichzustellen sei. Zahlreiche Ereignisse, bestimmte Lebenserfahrungen, öfters auch der Mut, den eigenen Weg zu gehen, werden aus der von Ahde-Deal ausgeloteten Frauenperspektive entsprechend gewürdigt oder auch feierlich begangen. Mit einem physischen Gegenstand ein feierliches Gefühl zu verbinden, ist den von Ahde-Deal interviewten Frauen sehr wichtig. Ihr emotionales Verhältnis zu jeweiligen Schmuckstücken zeugt nicht nur von dem Wert des Juwels selbst, sondern auch von ihrem eigenen. Sie ist diejenige, die sich der eigentlichen, auch wenn ‚nur‘ subjektiven Bedeutung von Preziosen bewusst ist.

2 Ausweglose Armut Woyzecks Geliebte und Mutter seines Kindes kann von einer würdigen Existenz nur träumen. Die Möglichkeit, besondere Momente mit Schmuck zu verbinden, hat Marie nicht. Luxusgüter bekommt sie nie, sie ist auch außerstande, sich welche zu besorgen, da sie über kein reales wirtschaftliches Einkommen verfügt. Sie ist gezwungen, mit dem notdürftigen Unterhalt ihres Lebensgefährten auszukommen. Bei Woyzeck zu Hause wird gedarbt, und aus der folgenschweren Armut resultiert die Perspektivlosigkeit aller Hausbewohner. Eine feste Lebensgrundlage für die ganze Familie fehlt. Woyzeck ist ein Pauper, bei dem der Arbeitsaufwand stets deutlich höher als das Einkommen ist. Harald Neumayer erläutert diesen sozioökonomischen Mechanismus, indem er die Bedeutung des Pauperismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in seiner Skala erfasst, folgendermaßen: „Aus Armut sind breite Schichten der Bevölkerung zur ununterbrochenen Arbeit genötigt, ohne dadurch ihre Armut mindern zu können.“3 Woyzeck ist folglich „dem Determinationszusammenhang von Armut und Arbeit restlos unterworfen“.4 Er muss mehreren unterschiedlichen Beschäftigungen nachgehen. Außer dem Verrichten seines Wachdiensts „schneidet er Stöcke, rasiert seinen Hauptmann, für

 Ahde-Deal: Women and Jewelry.  Harald Neumeyer: Armut und Arbeit. In: Büchner-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Hrsg. v. Roland Borgards u. Harald Neumeyer. Stuttgart u. Weimar 2015, S. 108.  Neumeyer: Armut und Arbeit, S. 108.

Schmuck für Arme

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den er zudem Wein holt, und verpflichtet sich dem Doktor, für den er überdies Versuchstiere sammelt, vertraglich als Experimentobjekt.“5

3 Ledige Mutter Marie Woyzeck unterhält seine Geliebte Marie und ihr gemeinsames Kind. Alle drei Figuren sind in Bezug auf ihr Elend stigmatisiert. Der Fall von Marie, die als Frau eine schwächere gesellschaftliche Position hat, ist besonders hart. Das zeigt sich deutlich z. B. in H4,2. Selbst die Mutterschaft Maries wird hier vom Hauptmann negativ beurteilt, weil das Kind aus einer nicht ehelichen Beziehung stammt (vgl. MBA 7.2, S. 23). Auch den Umstand, dass sich das Paar eine Eheschließung aus sozial-finanziellen Gründen nicht leisten kann, stellt der Hauptmann nicht in Rechnung. Ohne Woyzecks Unterstützung kann Marie sich und das Kind nicht einmal ernähren. So ist Marie auf die Gnade Woyzecks angewiesen, da sie sich als ledige Mutter auf keinen gesellschaftlichen Schutz verlassen kann. Annette Graczyk hebt in ihrem Beitrag Sprengkraft Sexualität. Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners „Woyzeck“ die schwierige Lage der weiblichen Figur hervor und fasst die materielle Verunsicherung ihrer Existenz folgendermaßen zusammen: „Als ledige Mutter hat sie nicht den Status einer gesetzlich geschützten Ehefrau. Ihre materiellen Verhältnisse sind mehr als drückend, da Woyzeck sie und das Kind nur notdürftig unterhalten kann und Marie nicht einmal die Gewähr hat, daß das auf Dauer so bleiben wird.“6 Dies gilt es gegen eine Tendenz der Forschung hervorzuheben. Denn wie Graczyk feststellt, „haben sich Forschung und Kritik einseitig auf das ausgebeutete männliche Subjekt zentriert, das sich – wenn auch mit falschen Mitteln – mit seiner Untat gegen seine Unterdrückung wehrt.“7 Weil der Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Studien auf der Figur Woyzeck lag, „trat der Mord an der Frau in den Hintergrund. In Einzelfällen wurde der Fokus sogar von Woyzecks Mord an Marie zum Mord der Gesellschaft an Woyzeck verschoben.“8 Deshalb gilt es, die patriarchalischen Machtverhältnisse im Kontext von Büchners Woyzeck möglichst genau zu betrachten. Darum soll es im Folgenden mit Blick auf Maries Ohrringe gehen.

 Neumeyer: Armut und Arbeit, S. 108.  Annette Graczyk: Sprengkraft Sexualität. Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners „Woyzeck“. In: GBJb 11 (2005‒2008), S. 101‒121, hier S. 108.  Graczyk: Sprengkraft Sexualität, S. 102.  Graczyk: Sprengkraft Sexualität, S. 102.

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4 Maries Ohrringe Arme kann man mit Schmuck beschenken – eher als von ihnen zu erwarten, sich selbst derartige Artikel zu verschaffen. Ob man mit einem solchen Geschenk jemanden auf Dauer beglückt, bleibt offen. Bestimmt kompliziert sich der Umstand des Beschenkens, wenn eine gesellschaftliche Ungleichheit ins Spiel kommt. Im Fall der in Woyzeck beschenkten Marie ergibt sich eine zumindest doppelte Ungerechtigkeit: Marie ist erstens arm und zweitens weiblich. So ist ihre Lage noch schlechter und determinierter als die ihres Gefährten. Die im Drama geschilderten erbärmlichen Lebensumstände der niedrigsten sozialen Schicht muss sie dementsprechend schwerer verspüren. Marie wird in Woyzeck als ein sexuelles Objekt begehrt, gekauft und ermordet. Welche Umstände führen zu ihrem Tod? Marie wird von einem reichen oder reicheren Mann, dem Tambourmajor, beschenkt: ein nicht kodifiziertes, aber eindeutiges Werbeverhalten des Mannes. Auf Marie wird Druck ausgeübt, den sie nicht abwehren kann. Sie akzeptiert die verschenkten Ohrringe und besiegelt ihr Schicksal. Da sie materiell nur Elend kennt, ist sie auch nicht imstande, den moralischen Vorstellungen der Gesellschaft zu entsprechen. Woyzeck weist im Gespräch mit dem Hauptmann selbst darauf hin, dass Armut und Moral nur schwer miteinander zu verbinden sind. Ein weiteres aus der Armut resultierendes Problem berührt die Frage nach der Marie zugeschriebenen Lasterhaftigkeit oder auch Schuld. Inwiefern ihre Untreue wirklich unrecht ist, könnte unter Berücksichtigung der hoffnungslosen Situation der Frau noch einmal diskutiert werden. Denn die Arme hat schließlich nichts, worüber sie mindestens theoretisch verfügen könnte, außer ihren Körper. Die am Rande der Gesellschaft lebende ledige Mutter kann von einem Schmuckstück nur träumen. Eine Besserung ihrer Lage ist auch nicht in Sicht: Sie wurde arm geboren und wird ebenso arm sterben. Das Schwärmen von einer Welt der großen „Madamen“ lässt sich als ein Anzeichen für die Sehnsüchte der Figur lesen (MBA 7.2, S. 24). Marie würde auch gerne eine der Schönen und Reichen sein. Andererseits spiegelt sich in diesen Worten noch ein neidisches Gefühl wider. Ihre Armut begreift Marie vielleicht nicht in ihrer ganzen Komplexität. Doch sie kann die sozioökonomische Diskrepanz als ungerecht erkennen, indem sie zwischen sich selbst und den „Madamen“ keine körperlichen Unterschiede sieht. In einem übertragenen Sinne fällt Marie ihren Fantasien zum Opfer. In ihrer aussichtslosen Situation scheint es, als wäre das Geschenk des Tambourmajors einer der wenigen glücklichen Momente ihres Lebens. Die Gabe nimmt sie mit Lust an, gleichzeitig aber auch mit einem inneren Zögern (vgl. MBA 7.2, S. 31). Sie ist sich ihrer Schönheit bewusst, zweifelt aber an ihrer menschlichen Würde. Die Frau nimmt das Geschenk an, was dem Werber auch zusichert, dass sie ihn akzeptieren wird. Zugleich ist der verschenkte Gegen-

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stand auch ein dinglicher Ausdruck von Unterwürfigkeit der sozial unterlegenen Marie. Die Annahme der Ohrringe stellt sich als ein folgenschwerer Wendepunkt der Handlung heraus. Im Resultat ist die Gabe ein Zeichen für gesellschaftliche Abhängigkeit und tatsächlich keine Würdigung, sondern vielmehr eine Herabsetzung. Das erniedrigende Werbeverhalten kann mit einem Kaufvertrag verglichen werden, aus dem sich die Ungleichheit der Parteien ergibt. Ohne Woyzecks Wissen schließen Marie und der Tambourmajor einen Kaufvertrag, bei dem Maries Körper für den Preis des Schmuckstückes verhandelt wird. Physisch kommt es erst nachher zum Betrug. Die Ohrringe vom Tambourmajor legt Marie ungeachtet der Anwesenheit Woyzecks bereits in der Szene H4,4 an (vgl. MBA 7.2, S. 23). Marie scheint vom Glanz des Schmucks berauscht und, wie verzaubert, unbewusst zu handeln. So betritt sie das Reich der Dinge. Hier herrschen für sie weder transparente noch gerechte Regeln. Indem Marie die Ohrringe als ihren Preis akzeptiert, nimmt sie ihre Erniedrigung an und besiegelt ihr Schicksal. Gleichzeitig gibt es aber auch, darauf hat Graczyk hingewiesen, ein bewusstes Element in Maries Benehmen, das sich auch als gezielte Selbstverteidigung deuten lässt.9 Doch die Analogie mit dem Ködern von Fischen liegt nahe: Die Ohrringe sind so wirksam wie ein Angelhacken. Vielleicht ist ein solcher Vergleich gewagt; doch er erscheint im Kontext Büchners wissenschaftlicher Aktivität im ichthyologischen Feld einigermaßen legitim. Marie entscheidet sich, das Geschenk des Tambourmajors, die Ohrringe, anzunehmen. Dabei sind noch Fragen denkbar, die den subjektiven Wert des verschenkten Schmuckstücks berücksichtigen. Wäre Maries emotionales Verhältnis zu den Ohrringen in einen Zusammenhang mit ihrer Ermordung zu bringen? Könnte vielleicht ihr Tod zumindest zeitlich verschoben werden, wenn sie sich von dem Geschenk distanzierte? Diese Überlegungen wirken auf den ersten Blick spekulativ. Sie geben jedoch einen weiteren Ausgangspunkt zur Erläuterung der mit der weiblichen Figur im Drama zusammenhängenden materiellen Aspekte. Dadurch dass Marie die Ohrringe akzeptiert, ordnet sie sich einem patriarchalischen Machtverhältnis unter. Ohne ihr Wissen oder doch bewusst setzt sie sich ab diesem Zeitpunkt einer unabwendbaren Gefahr aus. Vielleicht will sie sich dadurch der Macht Woyzecks entziehen. Doch mit der Entscheidung, den Schmuck anzunehmen, wird sie tatsächlich das schwächste Element im Konkurrenzspiel zwischen Woyzeck und dem Tambourmajor.

 Graczyk: Sprengkraft Sexualität, S. 102.

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5 Aggressive Konkurrenz Ein Mann, der sich eine von einem ärmeren Mann abhängige Frau wünscht, triumphiert. Der stärkere Tambourmajor gewinnt die Frau für sich und besiegt den Rivalen, hauptsächlich weil er wohlhabender ist als sein Konkurrent und sich die Frau ‚leisten‘ kann. Der sozialökonomische Aspekt ist in der ungleichen Konkurrenz ausschlaggebend. Darüber hinaus zeichnen sich die männlichen Figuren im Drama durch eine Aggressivität aus. Die Bilder einer gewaltbereiten und gewalttätigen Männlichkeit kommen auch im militärischen Bereich zum Vorschein und können auf die unter den Soldaten herrschende Hierarchie zurückgeführt werden. Auf dem Schlachtfeld gewinnt der Stärkere, was auch in der Prügelei Woyzecks mit dem Tambourmajor veranschaulicht wird (vgl. MBA 7.2, S. 31). Woyzeck wird in der militärischen Ordnung vielfach herabgesetzt, er steht ganz unten in der Hierarchie. Zudem gerät er immer stärker in den Modus einer ausweglosen Armut. Seine Lage wird immer hoffnungsloser, drückender und führt bald in eine Gewaltspirale.

6 Keine solidarische Weiblichkeit Die im Drama vorgeführten weiblichen Qualitäten bilden zur männlichen Aggression nur scheinbar einen Kontrast. Einerseits kümmern sich Marie und andere Frauen zwar um ihre Kinder und widmen sich den Hauspflichten. Sie zeigen sich gerne in einem kleinbürgerlichen Korsett ‚anständig geschnürt‘, was sie die Nachbarinnen merken lassen (vgl. MBA 7.2, S. 22). Doch andererseits bleiben sie aufeinander neidisch und verhalten sich alles andere als solidarisch. Jede weibliche Figur ist auf sich selbst konzentriert und will die Perspektive einer anderen Frau nicht wahrnehmen. Inwiefern Männer an der ausbleibenden Verständigung unter Frauen ihren Anteil hatten, könnte eine weitere Beschäftigung mit dem Problem der männlichen Dominanz aufzeigen. Es ist wohl möglich, dass den Frauen, die von den Männern weder zur Ausbildung noch zum Beruf zugelassen wurden, ein Solidaritätsgefühl verwehrt geblieben ist. Eine gleichberechtigte Stellung des ‚schwachen Geschlechts‘ lag bestimmt nicht in männlichem Interesse. Tatsache ist, dass auch weibliche Figuren in Woyzeck an der Festigung hierarchischer Strukturen beteiligt sind. Für Marie ergibt sich daraus eine kaum zu ertragende soziale Schwäche.

Verzeichnis der Siglen MBA (Marburger Büchner Ausgabe) Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hrsg. v. Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000–2013. DKV (Deutscher Klassiker Verlag) Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente. Frankfurt a. M. 1992 u. 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 84 u. 169). GBJb Georg Büchner Jahrbuch

https://doi.org/10.1515/9783110796278-013