Georg Büchner Jahrbuch: Band 13 2013–2015 9783110430745, 9783110439151

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Table of contents :
Inhalt
Siglen und abgekürzt zitierte Literatur
Aufsätze
Georg Büchner und sein Preis
»Von jenem Strahle des Geistes beschienen«. Die Büchners als »Schriftstellerfamilie«
Büchner und Gutzkow: Affinitäten auf den zweiten Blick
Die Bildlichkeit der Revolution. Regime politischer Beobachtung bei Büchner
Die Sehnsucht nach dem System und ihre literarische Preisgabe bei Büchner
»Aber gehn Sie in’s Theater, ich rat’ es Ihnen.« Zu Büchners Kritik an der theatralen Gesellschaft und ihrer Aktualität
Dem Menschen beim Denken zuschauen. Philosophisches in Büchners Theater
Das Wort geht quer. Überlegungen zur praktischen Ideologie des Hessischen Landboten
Büchners Dantons Tod oder die Natur der Macht
Ästhetik des Leidens? Zur antiidealistischen Kunstkonzeption in Georg Büchners Lenz
Ein Fall für die Psychiatrie? Büchners Lenz im Kontext psychiatrischer Aufzeichnungsverfahren
Büchners Sicht auf eine herrschende Klasse: Leonce und Lena
Performing Species. Menschenpolitik und Tiertheorie im Woyzeck (H1,1; H1,2)
Zu einigen Extravaganzen und Überspanntheiten in der Büchnerdeutung
Woyzecks Weg zur Weltliteratur
Woyzeck im Film
Büchners Werke und Schriften in älteren und neueren japanischen Übersetzungen
Anschriften der Autorinnen und Autoren
Recommend Papers

Georg Büchner Jahrbuch: Band 13 2013–2015
 9783110430745, 9783110439151

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Georg Büchner Jahrbuch 13 (2013–2015)

Georg Büchner Jahrbuch 13 (2013–2015) Für die Georg Büchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner – Literatur und Geschichte des Vormärz – am Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Burghard Dedner, Matthias Gröbel und Eva-Maria Vering

Redaktionsadresse: Georg Büchner Jahrbuch c/o Philipps-Universität Marburg Fachbereich 09 – Forschungsstelle Georg Büchner D-35032 Marburg oder: Georg Büchner Gesellschaft e. V. Biegenstr. 36 D-35037 Marburg Redaktion: Eva-Maria Vering Die Einsendung von Publikationen ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band. Fordern Sie bitte unser stylesheet an.

ISBN 978-3-11-043915-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043074-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043083-7 ISSN 0722-3420 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Siglen und abgekürzt zitierte Literatur  |  VII

Aufsätze Heinrich Detering (Göttingen)  Georg Büchner und sein Preis  |  3 Matthias Gröbel (Jugenheim)  »Von jenem Strahle des Geistes beschienen«. Die Büchners als »Schriftstellerfamilie«  |  19 Martina Lauster und David Horrocks (Exeter)  Büchner und Gutzkow: Affinitäten auf den zweiten Blick  |  43 Patrick Fortmann (Chicago)  Die Bildlichkeit der Revolution. Regime politischer Beobachtung bei Büchner  |  63 Arnd Beise (Freiburg im Üechtland)  Die Sehnsucht nach dem System und ihre literarische Preisgabe bei Büchner  |  93 Joachim Franz (Mannheim)  »Aber gehn Sie in’s Theater, ich rat’ es Ihnen.« Zu Büchners Kritik an der theatralen Gesellschaft und ihrer Aktualität  |  103 Nora Eckert (Berlin)  Dem Menschen beim Denken zuschauen. Philosophisches in Büchners Theater  |  129 Gérard Raulet (Paris)  Das Wort geht quer. Überlegungen zur praktischen Ideologie des Hessischen Landboten  |  141 Simonetta Sanna (Sassari)  Büchners Dantons Tod oder die Natur der Macht  |  163

VI | Inhalt

Sebastian Kaufmann (Freiburg im Breisgau)  Ästhetik des Leidens? Zur antiidealistischen Kunstkonzeption in Georg Büchners Lenz  |  177 Yvonne Wübben (Berlin)  Ein Fall für die Psychiatrie? Büchners Lenz im Kontext psychiatrischer Aufzeichnungsverfahren  |  207 Alfons Glück (Marburg)  Büchners Sicht auf eine herrschende Klasse: Leonce und Lena  |  223 Roland Borgards (Würzburg)  Performing Species. Menschenpolitik und Tiertheorie im Woyzeck (H1,1; H1,2)   |  257 Jan-Christoph Hauschild (Düsseldorf)  Zu einigen Extravaganzen und Überspanntheiten in der Büchnerdeutung  |  275 Christian Neuhuber (Graz)  Woyzecks Weg zur Weltliteratur  |  301 Enrico De Angelis (Pisa)  Woyzeck im Film  |  327 Uneme Nakamura (Tokio)  Büchners Werke und Schriften in älteren und neueren japanischen Übersetzungen  |  337 Anschriften der Autorinnen und Autoren  |  350

Siglen und abgekürzt zitierte Literatur Büchner-Handbuch

Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Roland Borgards u. Harald Neumeyer. Stuttgart u. Weimar 2009

Dedner: Einleitungen

Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. Einleitungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1990 (Büchner-Studien, Bd.5)

Dedner / Oesterle

Burghard Dedner u. Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium 1987. Referate. Frankfurt a. M. 1990 (Büchner-Studien, Bd.6)

DHA

Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973ff.

DVjs

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

F

Karl Emil Franzos: Georg Büchner’s Sämmtliche Werke und Handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt a. M. 1879

GB I/II

Georg Büchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 2 1979, 1982 (Sonderband aus der Reihe text + kritik)

GB III

Georg Büchner III. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1981 (Sonderband aus der Reihe text + kritik)

GBJb

Georg Büchner Jahrbuch

Goltschnigg 2001–2004

Dietmar Goltschnigg: Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 1: 1875–1975; Bd. 2: 1945–1980; Bd. 3: 1980–2002. Berlin 2001–2004

Hauschild 1985

Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten BüchnerBriefen. Königstein/Ts. 1985 (Büchner-Studien, Bd.2) 2

Hauschild 1993, 1997

Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. Stuttgart, 2 Weimar 1993, Berlin 1997

Katalog Darmstadt

Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Redaktion: Susanne Lehmann, Stephan Oettermann, Reinhard Pabst, Sibylle Spiegel. Basel, Frankfurt a. M. 1987

MA

Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. München, Wien (desgl. München: dtv) 1988

VIII | Siglen und abgekürzt zitierte Literatur

MBA

Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hrsg. von Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000 ff.

N

Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. [Hrsg. von Ludwig Büchner.] Frankfurt a. M. 1850

Noellner

Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig. Darmstadt 1844

P

Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente. Frankfurt a. M. 1992 u. 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 84 u. 169) 3

Poschmann 1983, 1988

Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und 3 Revolution der Dichtung. Berlin u. Weimar 1983, 1988

Poschmann / Malende

Wege zu Georg Büchner. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften (Berlin-Ost). Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Christine Malende. Frankfurt a. M. [u. a.] 1992

ZfdPh

Zeitschrift für deutsche Philologie

| Aufsätze

Heinrich Detering (Göttingen)

Georg Büchner und sein Preis Rede zur Eröffnung des 3. Internationalen Büchner-Kongresses 2012 Verehrte Damen und Herren, die Geschichte des Georg-Büchner-Preises beginnt im »Volksstaat Hessen« während der Weimarer Republik. Langwierige Streitigkeiten wurden im Darmstädter Landtag vor allem um den passenden Namenspatron für die neu zu schaffende hessische Auszeichnung geführt; die Vorschläge reichten von Büchner bis zum Datterich-Autor Ernst Niebergall. Der gegen zähe Widerstände dann nach Georg Büchner benannte Preis wurde in der NS-Zeit nicht verliehen. Der Versuch seiner Wiederetablierung als hessischer Kulturpreis nach 1945 brachte immerhin noch die Auszeichnung von Elisabeth Langgässer und Anna Seghers zustande, ehe der Preis dann der 1949 gegründeten Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung als Willkommensgeschenk Darmstadts überlassen wurde. Seit 1951 existiert er nun als deren Literaturpreis, und sehr bald schon erwarb er sich seinen Ruf als die höchste literarische Auszeichnung des deutschen Sprachraums.1 Dabei entsprang die Entscheidung für Gottfried Benn als den ersten Preisträger nicht nur dem Wiedergutmachungswillen gegenüber der ästhetischen Moderne, sondern auch dem Ungeist einer vorgeblichen Selbstbehauptung gegen das Exil – namentlich gegen Thomas Mann – und gegen das, was Benn verächtlich das »Vierte Reich« nannte. (In die parallel gegründete Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur wurde Benn bekanntlich nicht aufgenommen, wesentlich auf den Einspruch Alfred Döblins hin.) Die Liberalisierung der Deutschen Akademie und ihres bekanntesten Preises wäre eine Geschichte für sich.2

|| 1 Da der Preis gleich im zweiten Jahr seines Bestehens nicht vergeben wurde, wird die in wenigen Tagen zu haltende Rede Felicitas Hoppes die einundsechzigste sein. Halten wird sie diese Rede übrigens erst als achte Frau neben dreiundfünfzig Männern, seit der Preis 1951 zum Akademiepreis wurde, nach Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann, Christa Wolf, Sarah Kirsch, Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker und Brigitte Kronauer. 2 Nachzulesen im zweibändigen Ausstellungskatalog der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Hrsg. v. Helmut Böttiger, Bernd Busch, Thomas Combrink, unter Mitarbeit von Lutz Dittrich. Göttingen 2009.

4 | Heinrich Detering

Zwar ist dieser Preis keineswegs der einzige, den die Deutsche Akademie vergibt; vier weitere sind nach und nach hinzugekommen: der Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, der Merck-Preis für literarische Kritik und Essay, der Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland und der VoßPreis für Übersetzung. Aber der Büchner-Preis wurde rasch der mit Abstand bekannteste, und er wurde zu einem Lieblingsritual des literarischen Betriebs.3 An keinem Literaturpreis hat die literarische Öffentlichkeit so kontinuierlich Anteil genommen wie an ihm; alljährlich werden die unter Büchners Patronat stehenden und ganz überwiegend auch von ihm handelnden Dankreden der Preisträger in den großen Feuilletons abgedruckt und kommentiert. Denn unter den rituellen Reden der Republik ist die Büchnerpreisrede, wie die Paulskirchenrede zum Friedenspreis, beinahe zu einem eigenen Genre geworden.4 Denn eine Dankrede müssen ja alle Preisträger halten. Und es ist lehrreich zu sehen, wie Grundfiguren der politischen und literarischen Auseinandersetzungen, die in der Weimarer Republik um die Einsetzung des Preises geführt wurden, sich vom Neubeginn an in den Dankreden für seinen Empfang wiederholen. Helmut Heißenbüttel hat das Genre bereits 1969 zum Gegenstand seiner Rede gemacht: »Eine Rede ist eine Rede heißt eine Rede ist eine geredete Rede […] Das Konzept der Rede entwickelt sich aus dem Anlaß der Rede. […] Der Anlaß dieser Rede hängt mit dem deutschen Schriftsteller Georg Büchner zusammen. […] Soll ich über das Werk Büchners reden? Soll ich über die Person Büchners reden? Soll ich über die politischen Überzeugungen Büchners reden? Soll ich über mein persönliches Verhältnis zum Werk Büchners reden?« Außerdem: Welche Analogien lassen sich von der Zeit Büchners zur eigenen herstellen? Welche aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Zustände gilt es anzumahnen? Den Erwartungen, die Heißenbüttel parodiert, bemühen sich tatsächlich die meisten Redner auf die eine oder andere Weise zu entsprechen. Und sehr bald nach seiner Gründung schon beginnt der Preis sich selber historisch zu werden. Bereits 1966 bekennt Wolfgang Hildesheimer, er habe sich auf seine eigene Dankrede zuerst durch die Lektüre der bisherigen vorbereitet – und liefert damit seinerseits eine Vorlage für Heinz Piontek, der zehn Jahre später ebendiesen Satz zitiert und damit eine Art Historisierung in zweiter Potenz erzeugt. Kurz

|| 3 Mehr dazu in Judith S. Ulmers Dissertation zur Geschichte des Georg-Büchner-Preises: Soziologie eines Rituals. Berlin und New York 2006. 4 Zitatgrundlage ist im Folgenden die Dokumentation der Reden auf der Website der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Georg Büchner und sein Preis | 5

zuvor, 1974, verweist Hermann Kesten schon auf die Sammlung der Büchnerpreisreden, erschienen »bei Reclam« unter dem Titel Büchner-Preis-Reden 19511971. So beziehen die Dankreden sich zunehmend wie auf Büchner so auch aufeinander. Wie Erich Fried 1987 seine politische Redeabsicht mit einem Verweis auf Heinrich Bölls zwanzig Jahre zurückliegende Rede legitimiert, so entwickelt Peter Rühmkorf 1993 seine eigenen Überlegungen aus der Rede Enzensbergers von 1963: »Es sind jetzt auf den Schlag dreißig Jahre her, daß mein kritisch verehrter Sangesbruder Hans Magnus Enzensberger an dieser Stelle stand und ein verflixt gebrochenes Deutschland-Deutschland-Lied anstimmte« – das Rühmkorf nun gerade frei nach Heine unter der Überschrift »Deutschland, ein Lügenmärchen« weitersingt. Als Wolfgang Hilbig 2002 mit der Erinnerung an Hans Erich Nossacks Dankrede beginnt, die kurz nach dem Mauerbau gehalten wurde, sind gar schon einundvierzig Jahre vergangen. Und bereits 1978 blickte die Deutsche Akademie selbst zum ersten Mal auf die bisherige Geschichte ihres Lieblingsrituals zurück, in einer mit dem Marbacher Literaturarchiv veranstalteten Ausstellung: Der Georg Büchner-Preis 1951–1975. Zum sechzigjährigen Jubiläum schließlich widmete sie ihm 2011 eine Veranstaltung, in der drei lebende Preisträger (Durs Grünbein, Adolf Muschg und Brigitte Kronauer) Dankreden von vier toten Vorgängern (Paul Celan, Gottfried Benn, Max Frisch und Ernst Jandl) neu lasen und kommentierten. Ihrem Beispiel bin ich gefolgt, indem ich auf Bitten der Veranstalter dieses Kongresses alle Büchnerpreisreden wiedergelesen habe, unter der Leitfrage nach ihrem Umgang mit Person und Werk Georg Büchners. Das sind, schlecht gerechnet, sechshundert Druckseiten; und das hauptsächliche Ziel meines Vortrags ist es, Ihnen deren vollständige Lektüre zu ersparen. Dafür ist eine knappe Stunde eine vorteilhafte Investition. Dafür ist aber leider auch in Kauf zu nehmen, dass es auf eine annotierte Zitatcollage hinausläuft. Wenig Theorie also, viele O-Töne: ein anekdotisches Divertimento, bevor morgen die Wissenschaft beginnt. Sechzig Mal der Büchner-Preis, von 1951 bis 2011: das bedeutet sechzig Dankreden. (Drei Preisträger – Ernst Meister, Peter Weiss, Oskar Pastior – sind kurz vor der Verleihung gestorben; an ihrer Stelle sprachen Freunde oder Angehörige.) Und es bedeutet sechzig Mal die Publikumserwartung eines signifikanten Bezugs auf den Namenspatron. Dabei war dieser Bezug niemals ausdrücklich gefordert. Keine Statuten, weder vor noch nach der NS-Zeit, verlangten, dass eine Büchnerpreisrede von Büchner zu handeln habe. Dennoch bemerkt Karl Krolow bereits 1956, also erst in der fünften Preisrede nach der Neubegründung des Preises: »Es wurde üblich und liegt nahe, sich in der Stunde der Ver-

6 | Heinrich Detering

leihung des Georg-Büchner-Preises mit […] dem Andenken dessen für ein kleines [sic] auseinanderzusetzen, der dieser literarischen Dekoration nicht nur ihren Namen, sondern vor allem […] ihre Tendenz – wenn ich so sagen darf – gab«. Aber welche Tendenz sollte, könnte das sein? Nur wenige Preisträger machen von der Lizenz zum Beschweigen Büchners Gebrauch. So wenig Reiner Kunze und Thomas Bernhard, Sarah Kirsch, Uwe Johnson und Peter Handke gemeinsam haben – dies immerhin verbindet sie. (Kunze gibt seiner Rede über die Repressionen in der DDR und seinen schreibenden Widerstand allerdings eine überraschende und wirkungsvolle Schlusswendung, indem er im letzten Satz fragt: »Habe ich an Büchner vorbeigesprochen?«) Im übrigen aber beziehen sich die meisten Redner mehr oder weniger ausführlich auf den Namenspatron, oder auf Büchner und sein Werk, oder auf Büchners Werk und ausdrücklich nicht auf Büchner. Sie tun das in weit ausgreifenden literarischen, philosophischen, politischen Räsonnements oder in pointierten Aperçus, mit langen Textzitaten und in knappen Nennungen von Namen und Titeln. Aber sie tun es, fast alle. Und sie lesen nicht nur, in der Rangfolge der Nennungen, Dantons Tod, Woyzeck und den Hessischen Landboten, dicht gefolgt von Lenz und Leonce und Lena. Gleich zwei Preisträger, Albert Drach und Tankred Dorst, beschäftigen sich mit einem Stück, von dem nur der Titel überliefert ist – Pietro Aretino. Und sie kommen dabei, was ich noch bemerkenswerter finde, zu durchaus unterschiedlichen Interpretationen. Was bei Dorst insofern einleuchtet, als er sich das Drama zum Titel zunächst selber ausdenkt. Reinhard Jirgl streift die Cato-Rede, Josef Winkler die Gedanken Über den Selbstmord, und für Friedrich Dürrenmatt wie für Durs Grünbein steht die physiologische, die im Wortsinne sarkastische Anthropologie der Vorlesung Über Schädelnerven im Mittelpunkt scharfsinniger Analysen. Eine gewisse perspektivische Begrenzung ergibt sich aus der Redesituation: Da die meisten Redner es als Publikumserwartung empfinden, sich – mit Erich Kästners Formulierung – »als Schüler und Schuldner Büchners« darzustellen, sprechen sie überwiegend vom subjektiven Erlebnis dieses Werks; Ansätze zu einer literatur- oder ideengeschichtlichen Reflexion fallen aus der Reihe und ebendeshalb umso mehr ins Auge. Aber auch innerhalb des derart begrenzten Spektrums der Themen und Zugänge lassen sich erhebliche Unterschiede der Reden beschreiben, im Blick auf die Auffassungen von Büchner wie im Blick auf die Haltungen, aus denen diese Auffassungen hervorgehen, auf rhetorische Strategien und argumentative Bewegungsmuster. Da eine Büchnerpreisrede also gewohnheitsmäßig auch von Büchner handeln soll und da mit ihr überdies ein erheblicher Geldbetrag und ein noch größeres symbolisches Kapital verbunden sind, mögen alle Preisträger Büchner.

Georg Büchner und sein Preis | 7

Fast alle. Die schönste Ausnahme macht Martin Walser, der seine Rede 1981 mit der Bemerkung beginnt: »Bis vor ein paar Wochen kannte ich Büchners Prosastück ›Lenz‹ nur vom rühmenden Hörensagen. Gewohnt, Lektüre der Lebensstrategie zu unterwerfen, schob ich den ›Lenz‹ auf, um, wenn der Büchnerpreis anfiel, ein frisches Leseerlebnis in Gebrauch nehmen zu können.« Glaubt man aber den meisten anderen Rednern, dann hat nicht nur kein anderer Autor so von früh an und so nachhaltig ihr eigenes Schreiben geprägt. Sondern dann gibt es auch keinen anderen Dichter, der ihm an ästhetischem und moralischem Rang und lebensbestimmender Wirkung auf die Redner gleicht. Schon Ernst Kreuder, nach Benn der zweite Preisträger, kann 1953 die Ehrung »nur in Demut und ergriffener Dankbarkeit hinnehmen. Ich bin mir bewußt, diese außerordentliche Auszeichnung besitzt ihre Bedeutung in der unvergeßlichen Größe des deutschen Dichters, dessen Gedächtnis wir hier ehren.« Wolfgang Hildesheimer bekennt 1966, er habe sich »noch niemals vor einem Thema so versagen sehen wie vor diesem«. Wolf Biermanns Rede 1991 übertrifft auch in dieser Hinsicht alle anderen an hyperbolischer Wucht. Er sieht in Büchner das »Jahrtausendgenie«; selbst Brecht bleibt dagegen als »immerhin ein Jahrhundertgenie« chancenlos zurück. Martin Kessel war von Büchner »seit je fasziniert«, Manès Sperber liebt ihn »seit fünfundfünfzig Jahren«. Frühe Büchner-Erlebnisse prägen Hans Erich Nossack (»Etwa 1935 schrieb ich ein Theaterstück ›Der Hessische Landbote‹«) und Hermann Lenz, der in einer Schüleraufführung von Leonce und Lena mitgespielt hat. In einer eindrucksvollen Szene erinnert sich Reinhard Jirgl, wie er, »mit 15 oder 16 Jahren, im Bücherregal der Eltern auch einen schmalen Band entdeckt, auf dessen Rücken stand: ›Georg Büchner. Dichtungen‹. Ich blätterte das Buch aufs Geratewohl auf und las: ›Haben Sie schon gesehn, in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen könnt!‹ Es war diese Stelle im Woyzeck, die mich auf einen Schlag an diesen Dichter fesselte.« Auch Wolfgang Koeppen will in seiner Rede 1962 »von Herzen bekennen: Georg Büchner war mir am deutschen Himmel immer der nächste von allen Sternen.« Dies allerdings erst, nachdem er eher halblaut und zögernd bekannt hat: »Es wird wohl erwartet, daß sich der Empfänger des Preises mit dem Namensgeber in ein gutes Verhältnis setzt. Wie aber konnte ich das! Wie durfte ich mich auch nur einen Augenblick in dieses Licht bringen, […] ohne mich lächerlich zu machen?« Büchner-Bewunderung und Demutsgeste gehen fast überall zusammen. Dabei beziehen nicht wenige Preisträger in das demütige Bekenntnis, der Auszeichnung nicht würdig zu sein, mit umstandsloser Selbstverständlichkeit auch alle übrigen mit ein. Ingeborg Bachmann tut das 1964 mit biblischer Verve:

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»Wie jeder, der hier gestanden ist und es nicht wert war, Büchner das Schuhband zu lösen, habe ich es schwer, den Mund aufzutun«. (Es wird dann aber doch eine der längeren Reden.) Wieder setzt Biermann noch eins drauf: »Gemessen an diesem frühgestorbenen Riesen sind wir alle nur langlebige Zwerge.« Aber was hilft das, so Biermann – »messen muss sich jeder Preisochse in Darmstadt an diesem Büchner. Sowas tut weh.« Dialektischer Peter Rühmkorf 1993: »Daß keiner der in seinem Namen Geehrten an Georg Büchner herangereicht hat, ist eigentlich allen Betroffenen klar gewesen – aber sich in Beziehung setzen darf man doch wohl noch.« Manche Empfänger finden sich nicht nur der Auszeichnung unwürdig, sie leiden geradezu unter dieser Last. Am schönsten und reinsten erscheint diese Variante bei Durs Grünbein, der den Preis am liebsten in andere Hände gelegt sähe: »Ich gebe zu, daß mir die Knie gezittert haben, beim Gedanken eines Tages über ihn sprechen zu müssen […]. [...] Ich danke der Darmstädter Akademie für einen Preis, dem ich schwer widersprechen konnte und den ich doch (soviel liegt noch vor mir) lieber in anderen Händen wüßte, verliehen für ein ganzes, ein Lebenswerk.« Martin Kessel hat allein der Blick auf Büchners »naturhafte Potenz und äußerst geschärfte Geistesart« und seine »wundervolle Methode, der Realität auf den Fersen zu bleiben«, die Zumutung erleichtert (ausdrücklich: »In gewissem Sinn erleichtert mir das die Annahme des Preises«) – dies und der Umstand, »daß mir das Schicksal die Möglichkeit gegönnt hat, von hier aus Zeugnis abzulegen für die beispielhafte und lebensbestimmende sowie für die letzthin unantastbare Größe der Dichtung«. (Einer der vielen Unterschiede zwischen Grünbein und Kessel: Beim Letzteren steht die rhetorische Anstrengung im umgekehrten Verhältnis zum intellektuellen Ertrag.) Manche schöpfen bei soviel demütiger Büchner-Verehrung Verdacht. Wolfdietrich Schnurre staunt 1983 darüber, dass fast alle Büchner-Preisträger offenbar just Georg Büchner bestens kennen und seit jeher besonders schätzen. »Die Zeitläufte«, so sagt er in seiner imaginär an Büchner persönlich gerichteten Ansprache, »sind Ihnen nicht immer so günstig gesonnen gewesen. Und gäbe es diesen, mit Ihrem Namen verbundenen Preis nicht, […] ich fürchte, es wäre heute wesentlich stiller um Sie. Zumindest hätten nicht so erstaunlich viele Schriftsteller büchnerpreisbedacht so urplötzlich ihre Seelenverwandtschaft mit Ihnen oder Sie gar als Leitstern, als Vorbild entdeckt. […] Hat es eigentlich in Deutschland keine anderen politischen, human-revolutionären Schriftsteller gegeben, als immer und immer nur Sie?« Schnurre selbst allerdings geht dann zu dieser Büchner-Verehrung derart selbstgefällig auf Distanz, dass man sich beinahe die weihevollen Töne der Nachkriegsreden zurückwünscht. Im betont schnoddrigen Casinoton rempelt er Büchner an: »Doktor, finden Sie nicht – ?«

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(fast erwartet man Büchners Antwort: ›Lassen Sie den Doktor ruhig weg, Schnurre!‹) und eröffnet ihm: »Daß wir uns richtig verstehen: Ich mag Ihre Schreibe. Ich mag Ihren Ton. Ich mag Ihre Stücke. Ich mag – logischerweise – den ›Lenz‹. Nur: Wer mag den eigentlich nicht? […] Warum muß ich Sie mögen?« Aber Schnurre mag Büchner nicht nur nicht, er blickt überhaupt missbilligend auf seine Schwächen hinab – weil »ich wirklich nicht behaupten kann, daß ich Sie als revolutionären Typ bewundere; Sie sind mir nicht zähe genug.« Der schwächliche Rebell also ist für Schnurre, »wie Sie gewiß schon gemerkt haben, […] kein Verehrungsobjekt, sondern Kollege …«. Dem Kollegen Büchner erzählt der Kollege Schnurre dann überwiegend vom eigenen Werdegang. Denn, wie er augenzwinkernd bemerkt, »ich fahre am besten, wenn ich mich auf mich selber verlasse. Ich wette, Doktor, Ihnen ist es nicht viel anders gegangen.« Um einiges knapper und um vieles subtiler erweisen andere Preisträger Büchner die Ehre der Kritik. Für Hermann Kesten entscheidet sich an deren Möglichkeit geradezu, »wie ernst wir alle den Georg Büchner […] nehmen«. Da er selber schließlich »Mit keinem meiner vielen Freunde unter lebenden und toten Poeten […] in allem einig« gewesen sei, sei er das eben »auch nicht mit Büchner«. So stellt er sich denn angesichts von Büchners Kritik des Jungen Deutschland und Heines auf die Seite Heines – und damit nicht nur gegen Büchner, sondern mehr noch gegen dessen zeitgenössische Aktualisierer (von denen gleich noch die Rede sein wird). Denn: »Was erwartet man vor mir? Aufrührerische Reden wie von Büchner? Pamphlete, die sogar meine Leser gefährden? Daß ich auf die Straße gehe und Aufruhr mache«? Heinz Piontek bemerkt knapp: »Georg Büchner war nicht mein Lehrmeister oder Vorbild.« Und Ernst Jandl entgeht aller Idolatrie, indem er strikt Autor und Werk trennt: »Ich kenne Georg Büchner von ferne«, erklärt er zu Beginn fast beiläufig – und variiert diesen Satz erst einige Minuten später so: »Ich kenne Georg Büchner von ferne, indem ich sein Werk kenne«. Nicht nur gegen Büchner richtet sich gelegentliche Kritik, sondern mehr noch gegen das Auditorium. Wolfgang Koeppen vermutet 1962 (soweit ich sehe als der erste Redner), dass Büchner selbst den Büchner-Preis wohl nie erhalten hätte: Er »wäre nicht unterstützt, nicht geehrt worden, […] die einzige Auszeichnung, die Georg Büchner zuteil geworden, war ein Preis auf seinen Kopf: ich meine den Steckbrief, der hinter dem Flüchtling erlassen wurde. Und, meine Damen und Herren, ich finde das heute noch in Ordnung und ins rechte Maß gerückt.« Dieser Steckbrief wird zu einem kleinen Leitmotiv der diskreten Publikumsbeschimpfung. Ironisch bezieht Wolfgang Hildesheimer es auf das Ri-

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tual, in dessen Zentrum er gerade selber steht: »Die Tradition, alljährlich einen großen Mann zu ehren, der steckbrieflich verfolgt wurde, weil er sich in seinem Land für soziale Gerechtigkeit eingesetzt hatte, der aus der Stadt fliehen mußte, in der wir heute seiner gedenken, erfordert Anerkennung. Man muß der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung dafür dankbar sein.« Das – so beschließt Hildesheimer seine Rede – täte er mit weniger Nachdruck, »wüßte ich nicht, daß hier keiner unter uns ist, der nicht gegen jede Obrigkeit für einen Büchner Partei ergreifen würde.« Die berührendste Geschichte eines ernstlich lebensverändernden BüchnerErlebnisses erzählt 1972 Elias Canetti. Sie ist so schön, dass sie ein etwas längeres Zitat verdient. Es geht um den Augenblick, »als ich zum erstenmal den ›Woyzeck‹ las. Das ganze vorangegangene Jahr hatte ich in der ›Blendung‹ gelebt. Es war ein eingezogenes Leben, eine Art von Fron, […] und ich fand mich leergebrannt und blind in meiner selbstgeschaffenen Wüste. Damals also, in einer Nacht, schlug ich den Büchner auf, und er öffnete sich mir im ›Woyzeck‹, in der Szene Woyzecks mit dem Doktor. Ich war wie vom Donner gerührt, und es kommt mir jämmerlich vor, etwas so Schwaches darüber zu sagen. Ich las alle Szenen des sogenannten Fragments, die sich in jenem Band befanden, und da ich nicht wahrhaben konnte, daß es so etwas gab, da ich es einfach nicht glaubte, las ich sie alle vier-, fünfmal durch. Ich wüßte nicht, was mich in meinem Leben, das an Eindrücken nicht arm war, je so getroffen hätte. […] Das ist meine einzige Legitimation dafür, daß ich heute zu Ihnen über Büchner zu sprechen wage.« Canettis inhaltliche Begründung dieser Lebenserschütterung nimmt dann einen Topos vieler Reden auf und treibt ihn emphatisch auf die Spitze: »Büchner [ist] mit dem ›Woyzeck‹ der vollkommenste Umsturz in der Literatur gelungen: die Entdeckung des Geringen. [...] Der Dichter, der sich mit seinen Gefühlen spreizt, der das Geringe mit seinem Erbarmen öffentlich aufbläst, verunreinigt und zerstört es. Von Stimmen und von den Worten der Anderen ist Woyzeck gehetzt, doch vom Dichter ist er unberührt geblieben. In dieser Keuschheit fürs Geringe ist bis zum heutigen Tage niemand mit Büchner zu vergleichen.« Kritische Distanzierung, das ist die seltenste und darum auffallendste Redehaltung; werkbestimmende Erschütterung – wenn auch nicht immer so suggestiv und glaubhaft wie bei Canetti – die häufigste. Eine dritte Variante scheint gleichsam zu erproben, wie resolut die jeweils eigene Poetik Büchner unterstellt werden kann, ohne sich darin durch die geringste Empirie irre machen zu lassen. Ein Beispiel für diese Kraft der Projektion gibt gleich die erste, die Rede Gottfried Benns 1951, die ausgerechnet Büchner zum Propheten der Benn’schen Poetik macht. Von den Dichtern im allgemeinen heißt es dort: »Tragen sie auch

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nicht alle ihr Werk, wie Büchner seinen Woyzeck, ins Sichere und Reine, […] so nisten sie doch in den Reichen, wo das Unverlöschliche brennt«. Dass Büchner ausgerechnet den Woyzeck ins Reich des »Sicheren und Reinen« getragen habe, ist kein Lapsus, sondern markiert einen zentralen Gedanken von Benns Rede. Ausdrücklich liest er auch dieses Drama (wie jedes Kunstwerk) als »Reflex der Immortalität, der über versunkenen Metropolen und zerfallenen Imperien von einer Vase oder einem geretteten Vers aus der Form sich hebt unantastbar und vollendet.« Der unreine, prosaische, fragmentarische Woyzeck – zeitenfern, unantastbar und vollendet wie eine klassische Vase und wie klassische Verse, und das über den Trümmern eines zerfallenen Imperiums: formuliert von Gottfried Benn sechs Jahre nach dem Kriegsende, tragen diese Sätze Georg Büchner ins ewige Reich der Statischen Gedichte. Davon aber geht keinerlei Beunruhigung mehr aus. Denn mag der schaffende Künstler auch »unter den Fittichen der Dämonen« gelebt haben, in der bewundernden Nachwelt kommt das Werk »zur Ruhe [...] und leuchtet in der Vollendung«. Keine rhetorische Strategie aber bestimmt so viele Reden wie die leitende Frage nach Büchners politischer Aktualität in der jeweiligen bundesrepublikanischen, österreichischen, DDR- oder Schweizer Gegenwart. Und zwar bei Freund wie Feind. Die erste restlos tagespolitische Wendung aller Büchnerpreisredner vollzieht Günter Grass, der 1965, enttäuscht vom noch immer ausbleibenden Sieg Willy Brandts, eine leidenschaftliche Wahlrede für die SPD hält: »Zwar sollte von Georg Büchner hier, heute die Rede sein«, bemerkt er entschuldigend, »aber mein Papier – Sie verzeihen – ist fleckig vom Wahlkampf. […] Unheiliger Büchner, steh mir bei!« Die pointierte Formel für das, was der Beistand des unheiligen Büchner bewirken soll, findet zwei Jahre später, 1967, Heinrich Böll, der seine Rede unter die programmatische Überschrift stellt: Georg Büchners Gegenwärtigkeit. »Mein Dank ist herzlich«, so beginnt er, »meine Rede nicht ohne Bitterkeit, notwendigerweise, weil der Preis den Namen Georg-Büchner-Preis trägt. […] Die Unruhe, die Büchner stiftet, ist von überraschender Gegenwärtigkeit, sie ist da, anwesend hier im Saal. Über fünf Geschlechter hinweg springt sie einem entgegen«. Die Unruhe ist es, von der Böll spricht, als ein gleichsam ansteckender Büchner’scher Habitus, nicht eine These oder ein Text. Und diese Wendung ermöglicht eine Aktualisierung, die sich beim Wiederlesen als ziemlich haltbar erweist, weil sie überraschend klischeearm und selbstkritisch gerät. »Es fällt nicht schwer, Büchners politische und ästhetische Gegenwärtigkeit zu sehen«, also beispielsweise die »Kerker-Torturen des Studenten und Büchnerfreunds Minnigerode« zusammenzusehen »mit jenen […] ungeheuerliche[n] Fälle[n] öffentlichen Mordes durch die Staatsgewalt«, die etwa mit dem Namen Benno Ohne-

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sorgs verbunden sind. In einer höflichen captatio fügt Böll schließlich hinzu: »Der Name Georg Büchner […] verpflichtet mich, meinen Dank auf diese Weise auszudrücken, vom unruhigen Rand der Zeitgenossenschaft, von einem Standpunkt aus, wo Sicherheit bröckelig wird, Selbstsicherheit unmöglich; von wo aus das Kritische als Ärgernis mißverständlich klingen mag; so, als enthielte es nicht das Angebot, sich selbst mit einzubeziehen.« Soweit die geradezu mustergültig abwägende, selbstkritisch reflektierende Büchner-Aktualisierung Heinrich Bölls. Wie sie sich rigoros vereindeutigen und vulgarisieren lässt, zeigt in bestürzender Konsequenz die Rede Erich Frieds, der sich 1987 ja ausdrücklich auf Bölls Worte bezieht. Fried geht einen ganzen Katalog unterschiedlicher Themen der aktuellen politischen Lage mit der Leitfrage durch, was Georg Büchner wohl dazu sagen würde. Die Antwort kennt er jedes Mal ziemlich genau: »Es ist wahrscheinlich, daß dieser Zwanzigjährige sich in unserer Zeit zur ersten Generation der Baader-Meinhof-Gruppe geschlagen hätte«, und zwar ganz gewiss nur zu dieser, nicht mehr zur zweiten oder dritten. »Wie würde er sich zur heutigen Bundesrepublik stellen?«, fragt Fried und weiß auch hier die Antwort: Er hätte in Leonce und Lena »die Kleinstaaterei seines Deutschlands sicher durch das große Supermächtetheater von heute ersetzt«. Auch wäre er »bis aufs Blut gepeinigt« worden durch »die Versuche, Günter Wallraff durch ein Kesseltreiben von Hetze und Verleumdungen zu ruinieren«, und unbestreitbar hätte er »an einem geistreich geschriebenen Teil der heute modernsten französischen Philosophie genausoviel auszusetzen wie an den beschönigenden deutschtümelnden Geschichtsklitterungen der letzten ein, zwei Jahre.« Und so fort; Erich Fried weiß über Büchner eigentlich alles. Bescheid über Büchner weiß auch Botho Strauß 1989, zwei Jahre nach Fried. Nur dass Strauß die radikale Gegenposition zu allem bezieht, was dort so selbstverständlich feststand – nun seinerseits mit derselben Selbstverständlichkeit. Keine Frage, dass »der Dichter« – Strauß wie Büchner und wie überhaupt jeder, der diesen Namen verdient – ganz weit draußen steht, »[a]m Rand der einzigen allgewaltigen Terrapolis«, fern von Gesellschaft und Politik: »Inmitten der Kommunikation bleibt er allein zuständig für das Unvermittelte«. Darüber aber kann er nicht mit den Leuten reden, sondern nur mit seinesgleichen. Ausdrücklich: »Er spricht […] am liebsten zu Entfernten, zu seinesgleichen […]. Sein Volk erstreckt sich von Dante bis Doderer, von Mörike bis Montale, [...] Strahler und Kristallsucher über die Zeiten und Länder hin.« Nicht alle provokationswillig konservative Positionsbestimmungen laufen auf eine solche Büchner-Verkitschung hinaus. Golo Mann etwa stellt seine Rede, im Oktober 1968, unter die Überschrift Georg Büchner und die Revolution, und was er sagt (und wie er es sagt), passt in keinen Leitartikel und auf kein

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Plakat gleich welcher Demonstration. Mit einer zweifachen Differenzierung beginnt er: »Büchner war ein Dichtergenie, ich bin nichts weniger als das. Er war ein Kämpfer, ich bin das nicht.« Dann beginnt die Arbeit einer historischen Positionsbestimmung, die wie bei Böll auch die Lage des Redners selbst nicht aus dem Blick verliert: »›Dantons Tod‹ ist ja nicht eine Verherrlichung der Revolution […] und ist auch keine Verneinung. Es ist ein Drama vom Wirklichen, vom Unvermeidlichen […]. Für Georg Büchner, in der höchsten Angst seiner schon gebrochenen Aufwiegler-Existenz, stellten die Alternativen, revolutionär und konservativ, sich nicht mehr.« Erst von hier aus lassen sich dann Büchners Werke gewissermaßen als Bekenntnisse eines Politischen lesen, der bereut: »Eines aber wage ich zu behaupten: für die Revolution, für die Politik überhaupt war der Dichter von ›Dantons Tod‹ verloren. Wer das ›Volk‹ so sah, […] wer die Handelnden so sah, konnte selbst kein Handelnder mehr sein.« Aber auch damit ist Golo Mann noch nicht am Ende. Denn der Resignierte sei doch kein Renegat geworden; auch als Enttäuschter habe er sich von keiner Reaktion vereinnahmen lassen: Denn »wenn es unter deutschen Dichtern einen gab, der sich nichts vormachen ließ, so war es Büchner.« Auf diese historischen Reflexionen aber folgt eine völlig überraschende Schlusswendung, die die eigenen Folgerungen wieder in Zweifel zieht: »Ich habe erwähnt, daß Büchner nicht an die revolutionäre Macht der Literatur glaubte […]. Die Geschichte der Tschechen und Slowaken in jenen acht denkwürdigen Monaten, Januar bis August 1968, könnte seine Ansicht zu widerlegen scheinen.« So vorsichtig diese Hoffnung formuliert ist, gegen die eigene und die Büchner unterstellte Resignation, und so angefochten sie erscheint, so entschlossen setzt der Redner doch auf sie. Golo Mann stiftet sein Preisgeld zwei tschechoslowakischen Schriftstellern. So verlässt er im Laufe seiner Rede selber den Bannkreis der politischen Dichotomien, die er beschreibt und auf deren ›konservativer‹ Seite er scheinbar eingesetzt hatte. So gehört er schon zur – wenn ich weiter versuchsweise systematisieren darf – vierten Gruppe neben den entschiedenen Kritikern, den lektürefernen Lobrednern und den politischen Aktualisierern, in die Reihe also der erklärtermaßen Angefochtenen, Schwankenden und Zweifelnden. Erich Kästner ist 1957 der erste, dem Büchner als »streitbarer Fatalist« erscheint, als ein lebendes Paradoxon: »was hatte er denn mit dem Optimismus und dem Stil des sogenannten ›Jungen Deutschland‹ zu schaffen? Nichts, gar nichts. Was hielt denn dieser Jüngling, obgleich er ein Rebell war, von Revolutionen? […] Er kämpfte dafür und glaubte nicht daran.« Dieser Blick für Büchners Ambiguitäten nimmt unerwartete Beziehungen wahr: Verglichen mit Angehörigen derselben Generation sei Büchner eigentlich »nur mit Kierkegaard […] verwandt, in der gleichen und gemeinsamen Angst.«

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Wenn Wolfgang Hildesheimer ein Jahrzehnt später, 1966, Leonce und Lena als »eine Tragikomödie des Leerlaufs und der Frustration« liest, dann argumentiert er ähnlich. Schon 1955 hat Marie Luise Kaschnitz von ihren »Zweifel[n] und Selbstanklagen« im Angesicht Büchners gesprochen, und ihre mit Büchner und sich selbst hadernden Erklärungen beglaubigen das in jedem Satz. Angesichts »des Antiklassikers und Revolutionärs« sei ihr klar geworden, »wie ich, im Gegensatz zu Büchner, nie eine ganz bestimmte Vorstellung davon gehabt hatte, wie man die Weltordnung ändern müßte«. Von hier aus fragt sie im Rest ihrer Rede nach der Fremdheit des Werkes, von dem sie ihr eigenes derart in Frage gestellt sieht, und entdeckt im Woyzeck den Zusammenbruch aller »Programme« und den Beginn des »Erbarmen[s]«. Was Kaschnitz beschreibt, das macht Wolfgang Koeppen sieben Jahre später praktisch vor. Im Laufe seiner Rede sägt er vor den Augen seiner Zuhörer den Ast ab, auf dem er mit den ersten Sätzen erst Platz genommen hat; dann bricht die schwärmerische Identifikation des jungen Lesers mit dem heiligen Dichter zusammen in lauter Ungewissheit. »Ich […] sah ihn als Leidenden«, erinnert sich Koeppen, »als Mitleidenden, als Empörer, als Regulativ aller weltlichen Ordnung, ich erkannte ihn als den Sprecher der Armen, als den Anwalt der Unterdrückten, als den Verfechter der Menschenrechte gegen der Menschen Peiniger und selbst zornig gegen die grausame Natur und gegen den gleichgültigen Gott.« Und dann: »Ich hätte mich gern dem Ruf des ›Hessischen Landboten‹ verpflichtet. Aber ich mußte erkennen [...], daß es immer schwieriger wird, die Hütten und die Paläste auseinanderzuhalten. Zuweilen flüchtet die Freiheit in den unterhöhlten Palast, und aus der Hütte tritt der neue Zwingherr.« Ganz ähnlich Brigitte Kronauer 2005 über das Verhältnis zwischen dem Pamphletisten Büchner und dem Dichter gleichen Namens: »Anders als im ›Hessischen Landboten‹ weiß Büchner, wenn er nicht agitiert, also in der Literatur, daß die Welt nicht nur aus Hütten besteht, in denen verborgene Helden wohnen, und aus Palästen, in denen der Satan haust.« Das frappierendste Beispiel für die Produktivität des Selbstzweifels angesichts von Büchners Werk gibt die Rede Christa Wolfs 1980. Sie sagt Sätze, deren bekenntnishafte Selbstaussage vielleicht erst beim Wiederlesen in ihrer ganzen Tragweite erkennbar ist. »Büchners Beispiel vor Augen, beunruhigen mich mehr denn je die untergründigen Verflechtungen von Schreiben und Leben, von Verantwortung und Schuld, welche die Person, die schreibend lebt, lebend schreibt, hervorbringen und im gleichen Arbeitsgang zu zerreißen drohen. Die, glaube ich heute, nicht nur ausgehalten, sondern angenommen werden müssen. Unschuldig und ohne Verantwortung sein – dies mag als Wunschbild in Zeiten der Schwäche aufkommen; es ist ein Fluchtbild.« Auch dies ist

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nicht als ein unverbindliches Räsonnement über Büchner zu verstehen, sondern ausdrücklich auch als Reflexion über sich selbst im Blick auf Büchner: »Büchner wieder lesen«, sagt Christa Wolf, »heißt, die eigne Lage schärfer sehn.« Je weniger die Redenden ihrer Sache und ihrer selbst sicher sind, desto mehr geraten die Reden selbst zu Kunstwerken, bricht der argumentative Diskurs auf in poetische Ausdrucksformen – die fünfte und letzte meiner tentativen Gruppen. Schon die »Atemwende«, die Celans Meridian in hermeneutischen Metaphern zu beschreiben sucht, vollzieht diese Rede in ihrem eigenen Duktus. (Und ist damit, als einzige, selber kanonisch geworden; ihre kritische Edition in der Tübinger Ausgabe umfasst mehr als dreihundert Seiten; im vergangenen Jahr ist sie auch in englischer Übersetzung erschienen: The Meridian: Final Version – Drafts – Materials.5) Heiner Müller antwortet 1985 auf den Woyzeck in einem fünfteiligen, fünfaktigen Prosagedicht über Die Wunde Woyzeck; Friederike Mayröcker kontrastiert 2001 ihre Phantasie über LENZ von Georg Büchner mit dem, was sie Büchners »Kunstleibeserzählung« nennt; Elfriede Jelinek spielt 1998 Büchners Sprachspiele in zweiter Potenz fort. Den vielleicht raffiniertesten, sicher subversivsten Dialog mit Büchner aber führt Hans Magnus Enzensberger, der bis dahin jüngste Preisträger, 1963. Denn er spricht über weite Strecken nicht über, sondern buchstäblich aus Büchners Mund: in Zitaten, die er durch eigene Hinzufügungen ergänzt, gegen den Strich bürstet und unterläuft, gleich vom zweiten Satz an: »Meine Damen und Herren, was haben wir zu feiern? An Georg Büchners hundertundfünfzigstem Geburtstag wird, wer die Wahrheit sagt, im hessischen Lande nicht mehr gehenkt. Dieser oder jener Liberale darf seine Gedanken drucken lassen. […] Das ist gut. Das ist vortrefflich. Doch zu feiern haben wir nichts. Wir nämlich wissen kaum, was das heißen soll: Wir.« So lässt er seine Rede durchdringen von der Sprache Georg Büchners und durchdringt sie mit der seinen, und zwar, darin liegt die Tücke, ganz ohne explizite Zitatmarkierungen: »Die Zerrissenheit ist unsere Identität. […] Wenn aber in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es nicht Gewalt. Das versteht sich. Oh, es versteht sich alles von selbst.« Meine Damen und Herren, es versteht sich alles von selbst: Soviele Redner, so viele Büchners. Infolge der alten Gewohnheit ist vermutlich kein Dichter des deutschen Bildungskanons so kontinuierlich von bedeutenden anderen Autoren erörtert worden wie Büchner. Beinahe erscheint diese Konstellation wie der Ernstfall jener Vision, die Hans Robert Jauß in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung 1967 als ›Provokation der Literaturwissenschaft durch die Literaturge-

|| 5 Translated by Pierre Joris. Stanford, Ca. 2011.

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schichte‹ formuliert hat: dass der virtuelle Sinn eines literarischen Werkes immer nur in der prinzipiell unabschließbaren Summe seiner Lektüren liege – wenn diese sich denn dokumentieren ließen. Für Büchner jedenfalls ist ein nicht unerheblicher Teil der Lektüren dokumentiert, durch eine ansehnliche Reihe von Leserinnen und Lesern und durch jetzt einundsechzig Jahre. Machen wir also das Gedankenexperiment: Wenn alle Texte Büchners aus der Welt verschwunden und nur diese Reden erhalten geblieben wären – was erführen wir daraus über Büchner? Wir erführen, dass er ein Soziologe war und ein Naturwissenschaftler, ein Kristallsucher und Ästhet, ein Geschichtsphilosoph und ein vom Fatalismus der Geschichte zernichteter Verächter der Geschichtsphilosophie, ein Kämpfer und ein unpolitischer Artist, ein verspäteter Stürmer und Dränger (so Kästner) und ein zu früh gekommener Kommunist (so Mosebach), ein Nihilist und ein Gott suchender Metaphysiker (so Martin Walser), der Verkünder der Majestät des Absurden und ein Gegenspieler des Absurden Theaters. Er bejaht die revolutionäre Gewalt, wie Erich Fried weiß; er ist ein Gegner aller Gewalt, wie Manès Sperber versichert. (Und außerdem hat er erstaunlich viel mit Ernst Kreuder gemeinsam, findet Ernst Kreuder, beziehungsweise mit Gottfried Benn, meint Benn.) So sind im Durchgang durch Büchnerpreisreden aus sechzig Jahren, in fünf so und auch ganz anders möglichen Textgruppen, wiederkehrende Images und Ikonographien sichtbar geworden, erwartbar und überraschungsarm. Die Revolutionäre lesen den Landboten, die Zweifler den Woyzeck, die Resignierten und Melancholiker Leonce und Lena. Der Fatalist Büchner hat offenkundig, über die individuellen Wahrnehmungseinstellungen der einzelnen Redner hinaus, drei große kollektive Konjunkturen erlebt: eine in der Nachkriegszeit (»Er kämpfte [für die Revolution] und glaubte nicht daran«, so Kästner 1957), die zweite in der Zeit nach ’68 und die dritte nach der Wende von 1989/90. Nein, »meine Damen und Herren Altlinke und nachgeborene Frühsozialisten«, konstatiert Peter Rühmkorf 1993: »Nein, die Niederlage war schon total«. In dieser Lage seien Büchners »Vergeblichkeitsflöten« nicht mehr zu überhören und sei das Scheitern »auch durch keinen dialektischen Hebebühnentrick mehr auf ein vertretbares Hoffnungsniveau zu bringen.« Übrig bleibe vorerst nur die funkensprühende Sprachkunst, mit der Georg Büchner sich eingetragen habe »in unser postrevolutionäres Poesiealbum«. Hat Max Frisch 1958 noch mit lapidarer Selbstverständlichkeit konstatiert: Büchner war »ein politischer Mensch«, so verschiebt Peter Handke 1973 die Ausgangsfrage »Wie wird man ein politischer Mensch?« im Laufe seiner Rede durch die Frage: »Wie wird man ein poetischer Mensch?« Und zweiunddreißig Jahre später weckt Brigitte Kronauer keinen nennenswerten Widerspruch mehr, wenn sie erklärt, »daß man ihn eher für

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einen an den Beleuchtungswundern der Sprache entzündeten genialen Ästheten halten könnte, als für einen im Gebrauchssinn politischen Kopf.« Dass es also immer wieder der Herren und Damen eigner Geist ist, in dem die vielen Büchners sich bespiegeln, braucht keinen Anlass zum Spott zu geben; schließlich gehört auch diese Selbstreflexion zu den Genreregeln. Und außerdem lassen sich ja auch durchaus unerwartete, mit keinem politischen Zeitgeist so einfach verrechenbare Zusammenhänge erkennen – der Faden zum Beispiel, der Dürrenmatts eigenwillige Lektüre der Vorlesung Über Schädelnerven verbindet mit Grünbeins sezierender Anthropologie, oder die zarte Linie, die von Marie Luise Kaschnitz’ halblaut-zweifelnder Suche nach Büchners »Erbarmen« über Canettis Verwerfung dieser, wie er meint, Zudringlichkeit zu Arnold Stadlers Rede führt, in der Büchner »in diese Welt das Wort ›Erbarmen!‹« hineinruft, und die vorerst in Walter Kappachers leisem und schönem Satz endet: »Gerne stelle ich mir vor, Georg Büchner sei einer, dessen Herz nicht versteinerte.« Aber nicht nur wegen der Quertreiber und Abweichler wäre es billig, in den Widersprüchen der Büchner-Bilder und Selbstinszenierungen6 nur einen weiteren Beleg für Lieschen Müllers Überzeugung von der Gleichgültigkeit aller Deutungen zu sehen, als lese halt jeder etwas anderes und projiziere notwendig doch immer nur sich selbst auf die Texte. Im Gegenteil, die Lektüre aller Reden zeigt durchaus modellhafte Beispiele für unterschiedliche Lektüre-Modi. Nicht auf die jeweilige Tendenz kommt es dabei an, sondern vielmehr auf deren Begründung. Auf die gravierenden Unterschiede zwischen den durch keine Leseerfahrung zu beirrenden Projektionen Benns oder Frieds und den von der eigenen Eitelkeit und den vorgewussten Wahrheiten absehenden, sich selbst und die eigenen Gewissheiten von den fremden Texten in Frage stellen lassenden Lektüren so grundverschiedener Autoren wie Kästner oder Koeppen, Celan oder Golo Mann, Rühmkorf oder Böll. Die Lektüre von sechshundert Seiten dieser Reden ist am Ende auch eine kleine Schule der Hermeneutik, for better or worse, ihres Glanzes und ihrer Grenzen. Aber auch wenn nicht ganz sicher ist, wie viel man aus der Lektüre der gesammelten Preisreden über Büchner erführe – es spielt ohnehin keine Rolle mehr. »Was kann ich Ihnen sonst noch erzählen?« fragt Hermann Lenz 1978 und antwortet: »Nichts Neues, denn über Büchner ist alles bekannt.« Das, meine Damen und Herren, ist ein schlechtes Motto für einen Büchner-Kongress. Aber es ist ein gutes Schlusswort. − Ich danke Ihnen. || 6 Dazu Christoph Jürgensen / Gerhard Kaiser (Hrsg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011.

Matthias Gröbel (Jugenheim)

»Von jenem Strahle des Geistes beschienen«.1 Die Büchners als »Schriftstellerfamilie« 1 Wenn Georg Büchner gefeiert wird, zum Beispiel anlässlich des 175. Jahrestags seines Todes und seines 200. Geburtstag, rückt ebenfalls seine Familie – seine Eltern, vor allem aber seine Geschwister – in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Auch anlässlich früherer Jubiläen wurde ihrer gedacht,2 aber längst nicht in dem Maße, wie das in den Jahren 2012 und 2013 der Fall war. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Dabei kann und soll nicht bestritten werden, dass die Büchners aus Darmstadt, wie wir sie hier etwas vereinfacht nennen wollen, durchaus außergewöhnlich waren und deshalb der Forschung noch immer einen interessanten Gegenstand bieten.3 Es kommt nicht oft vor, dass aus einer Familie so viele prominente Persönlichkeiten hervorgegangen sind. Die Geschwister Georg Büchners waren in ihrer Zeit – vor allem im südhessischen Raum – an exponierter Stelle in Politik, Wissenschaft, Kultur, Industrie und Frauenbewegung tätig und haben bleibende Spuren hinterlassen. Sie nahmen dabei linksliberale, weitgehend auch nationale Standpunkte4 ein und vertraten in diesem Sinne dezidiert bürgerliche Interessen. Trotzdem können wir hier die Behauptung wa-

|| 1 Karl Emil Franzos: Die Familie Büchner. In: F, S. 456–472, hier S. 457. – Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zu Grunde, den der Autor auf dem 3. Internationalen Büchner-Kongress (10. bis 12. Oktober 2012) in Mainz gehalten hat. 2 Thomas Michael Mayer (Hrsg.): Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Marburg 1985, ³1987, S. 35–44; Katalog Darmstadt, S. 376–393. 3 Neuerdings: Matthias Gröbel, Manfred H. W. Köhler, Thomas Lange, Cordelia Scharpf: »Fortschritt der Menschheit in der Entwicklung des Menschen«. Georg Büchners Geschwister in ihrem Jahrhundert. Darmstadt und Marburg 2012. 4 Einzig der in Frankreich lebende Alexander Büchner macht hier eine gewisse Ausnahme, wenngleich auch er sich schon früh zu »demokratische[n] und deutsch-einheitliche[n] Gesinnungen« (Die Familie Büchner [s. Anm. 1], S. 470) bekannte und 1878 neben der »französische[n] Urbanität seiner Sitten [...] die ächt deutsche Unwandelbarkeit seines Charakters« (ebd., S. 472) betonte.

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gen: Ohne ihren Bruder Georg würden die anderen Büchner-Geschwister heute nur wenig Interesse auf sich ziehen. Über Georgs Verhältnis zu seinen Geschwistern wissen wir nicht wirklich viel. Was in dieser Hinsicht durch Quellen belegt werden kann, ist schnell aufgezählt.5 Vor allem fehlen Quellen, wie z. B. Briefe, von Seiten der Geschwister. Das hängt natürlich mit deren Alter zusammen: Luise, Ludwig und Alexander waren zu jung, um in einen eigenen Briefwechsel mit dem als politischer Flüchtling in Frankreich lebenden älteren Bruder einzutreten. Aber auch aus den Jahren zwischen Georgs Tod und der Revolution von 1848 gibt es nur wenige zeitgenössische Hinweise darauf, wie die Geschwister mit dem Tod ihres ältesten Bruders umgegangen sind.6 Erst ab 1850, mit der Herausgabe der Nachgelassenen Schriften, setzt von Seiten der Geschwister ein Gedenken Georgs ein, das stellenweise Züge eines Familienmarketings besitzt. Bevor wir darauf eingehen, noch einige Bemerkungen zu der Frage, ob Georg überhaupt eine öffentliche Feier begrüßt hätte.

2 Vor allem von Carl Vogt wurde verbreitet, dass Georg Büchner in Gießen wegen seiner wenig trink- und feierfreudigen Lebensweise bei vielen Kommilitonen unbeliebt war. Büchner habe, so Vogt in seinen Erinnerungen, gegenüber den kneipenden Studenten »beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn’s donnert« gemacht; man habe seine »Zurückgezogenheit [...] für Hochmut ausgelegt« und ihm deswegen »abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung [...] ein ironisches Vivat«7 zugerufen. Es verwundert nicht, dass Büchner seinerseits diese Studenten, überhaupt diesen Charaktertyp, nicht mochte. Zu erkennen ist das in einem seiner ersten Briefe aus Gießen an seine Eltern. In ihm spottet er über die politische Szene in Gießen, die »loyale[n] Toaste« würden erst dann ein Ende nehmen, wenn man

|| 5 Überliefert sind drei Briefe an den Bruder Wilhelm und ein Brief an den Bruder Ludwig. Siehe dazu: MBA 10.1, S. 72f., 79, 102, 112. 6 Eine bekannte Ausnahmen sind Ludwig Büchners Besuche bei Wilhelmine Jaeglé, als er 1844/45 in Straßburg studierte. Siehe dazu: Hauschild 1985, S. 74f. 7 Carl Vogt: Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke. Hrsg. v. Eva-Maria Felschow und Heiner Schnellig sowie Bernhard Friedmann unter Berücksichtigung der Vorarbeiten von Gerhard Bernbeck. Gießen 1997, S. 128.

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»sich Courage getrunken« habe. »Die Leute« würden »ins Feuer [gehen], wenn’s von einer brennenden Punschbowle kommt«.8 Büchners ablehnendes Verhältnis zu alkoholseligen Feierlichkeiten findet eine gewisse Entsprechung in seiner entschiedenen Haltung in Bezug auf das, was Dichtung in politischer Hinsicht leisten soll und leisten kann. Er lehnte den Vorschlag Karl Gutzkows ab, Erzählungen zur Unterhaltung oder Bildung – Gutzkow spricht von »Wein verhüllt in Novellenstroh« – zu schreiben, um damit »den Schmuggelhandel der Freiheit«9 zu betreiben. Büchner stimmte mit dieser Strategie schon deswegen nicht überein, weil er im Gegensatz zu Gutzkow nicht davon überzeugt war, man könne revolutionäre Veränderungen mit Hilfe der gebildeten Klasse durchsetzen. Jene, die »sich Courage« antrinken, bevor sie das Polenlied anstimmen, und die »ins Feuer [gehen], wenn’s von einer brennenden Punschbowle kommt«, sah Büchner genauso wie die bildungsbürgerlichen Novellenleser im entscheidenden Moment auf der anderen Seite der zerrissenen Gesellschaft stehen: Mit dieser Strategie werde Gutzkow »nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen«.10 Büchner, das haben Forschungen der letzten Jahre gezeigt11, hatte ein genaues Auge für Inszenierungen, für den integrativen Charakter von Öffentlichkeit, für den falschen Zusammenhang. Er ging keineswegs davon aus, dass eine Feier, eine öffentliche Kundgebung dem zu feiernden Gegenstand eine Hilfe sei. Am Ende von Büchners Beschreibung einer Kundgebung der polnischen Freiheitskämpfer in Straßburg am Ende des Jahres 1831 lesen wir: »Vivat! – und die Comödie ist fertig.«12 Und diesen Ausruf kann ich mir auch als Kommentar Büchners zu den ihm zu Ehren gefeierten Jubiläen vorstellen. Trotz dieser nicht unerheblichen Differenzen gehört Karl Gutzkow allerdings das bleibende Verdienst, das schriftstellerische Talent Georg Büchners erkannt zu haben. Darüber hinaus legte er mit einem kleinen Aufsatz 1839 eine erste literarische und biographische Würdigung Büchners vor.

|| 8 MBA 10.1, S. 28 9 Ebd., S. 54. 10 Ebd., S. 93. 11 Siehe dazu: Joachim Franz: Ein Programmzettel zum Theater der Mächtigen. Zur Kritik an herrschaftstragenden Inszenierungen. In: GBJb 12 (2009-2012), S. 25–44 u. ders.: »Aber gehn Sie in’s Theater. Ich rat’ es Ihnen«. Zu Büchners Kritik an der theatralen Gesellschaft und ihrer Aktualität (in diesem Band S. 103−128). 12 MBA 10.1, S. 10. – Öffentliche Ehrungen – z. B. Georg Büchners – stehen damit in einem komplizierten Spannungsverhältnis zwischen Anerkennung einer bestimmten politischen Auffassung und Banalisierung dieser Auffassung.

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Schon für diesen Nachruf hatte Gutzkow »die saubern Abschriften des poetischen Nachlasses Büchners von der Hand seiner Geliebten«13 von ebendieser Frau, also von Wilhelmine Jaeglé, erhalten. Gutzkow entwickelte Pläne für eine umfangreichere Büchner-Edition, die in den Jahren bis 1850 jedoch scheiterten.14

3 Die weitere Geschichte der Edition der Werke Georg Büchners im 19. Jahrhundert ist untrennbar vor allem mit Ludwig Büchner, aber auch mit seinen anderen Geschwistern – mit Luise, Alexander und später auch mit Wilhelm – verbunden. Lediglich Mathilde Büchner bleibt hier, wie so oft in der Familiengeschichte, im Hintergrund. Und damit komme ich zu den Geschwistern Georg Büchners. Ludwig Büchner knüpfte an die gescheiterten Bemühungen Karl Gutzkows an und gab, unter Mitarbeit seiner Geschwister Luise und Alexander Büchner, Ende 1850 die Nachgelassenen Schriften von Georg Büchner15 heraus. »Heute«, so schreibt Ludwig Büchner in der biographischen Einleitung, »wo die Zeit so Vieles aus dem Wege geräumt und einen versöhnenden Schleier über Anderes geworfen hat, hielten wir« – damit sind Ludwig, Luise und Alexander Büchner gemeint – »es für unsere Pflicht, sowohl gegen das Publikum, als gegen die Manen des Verstorbenen, diese Lücke auszufüllen«,16 also das Unternehmen durchzuführen, an dem Karl Gutzkow zuvor gescheitert war. In diesen Nachgelassenen Schriften finden wir Danton’s Tod, Leonce und Lena, den Lenz, eine Zusammenstellung der Briefe »An die Familie« und »An die Braut«; sowie ein Kapitel »Literarischer Nachlaß« mit einem Auszug aus der Zürcher Probevorlesung und einer stark gekürzten und verstümmelten Fassung des Hessischen Landboten. Diese von Ludwig Büchner besorgte Gesamtausgabe war und ist für die Büchner-Rezeption einerseits von unschätzbarem Wert, auch wegen der etwa 50seitigen einleitenden Biographie Georg Büchners, die von Ludwig Büchner

|| 13 Karl Gutzkow: Georg Büchner. In: Ders.: Götter, Helden, Don Quixote. Hamburg 1838, S. 19– 50, hier S. 49. 14 Siehe dazu: Hauschild 1985, S. 54–106, hier bes. S. 70–73. 15 MBA 6, S. 297. Dort heißt es: »Die ›Nachgelassene[n] Schriften Georg Büchners‹ erschienen um den 10.–14. November 1850.« 16 N, S. 49.

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verfasst wurde. Vieles, was wir über Georg wissen, wurde uns von Ludwig dort mitgeteilt. Trotz eines über weite Strecken erkennbaren Bemühens um Aufrichtigkeit und Objektivität ist dennoch festzustellen, dass Ludwig in seiner biographischen Einleitung auch versucht, die Geschichte seines Bruders Georg mit der eigenen Geschichte – und der seiner in der Revolution von 1848 aktiven Geschwister – in Einklang zu bringen. Dabei löst er die sozialen Ansichten seines Bruders aus dem politischen Zusammenhang und reduziert sie auf ihren ethischen Gehalt, wenn er behauptet, »der Landbote« sei »mehr eine Predigt für die Armen und gegen die Reichen, als eine politische Flugschrift«17 gewesen. In politischer Hinsicht habe Georg jedoch – wie Ludwig selbst, wie auch Wilhelm, Luise und Alexander – auf der Seite jener Demokraten gestanden, die die partikulare Interessen vertretenden und damit das revolutionäre Lager spaltenden Ansichten der Liberalen ablehnten. Georg Büchner, so sein Bruder Ludwig 1850, »hätte er das Jahr 1848 erlebt, [würde niemals] auf Seite derjenigen gestanden haben, die durch lächerlichen Eigendünkel und kindische Furcht die Freiheit verrathen haben, die man in ihren Händen für gesichert hielt«.18 Das dürfte richtig sein. Ob Georg Büchner allerdings auf der Seite derjenigen gestanden hätte, zu denen Ludwig und Alexander Büchner, später auch Wilhelm Büchner gehörten, scheint mehr als fraglich. Ludwig Büchner und seine Gießener Gesinnungsgenossen forderten im März 1848, dass die »u n n a t ü r l i c h e Ungleichheit [...] allmälig und [...] auf dem friedlichen Weg der Association und Gesetzgebung [...] durch die n a t ü r l i c h e Ungleichheit«19 zu ersetzen sei. – Es ging Ludwig Büchner im Kern um Chancengleichheit, auf deren Basis er sich eine Wettbewerbsgesellschaft wünschte. Die politischen Veränderungen könnten nur »von dem kleinen, einsichtigen Kern der Bevölkerung«,20 vom Bildungsbürgertum also, durchgeführt werden. Georg Büchner dagegen sprach von der »Bildung« als einer »lächerlichen Aeußerlichkeit« und vertrat die Ansicht, dass »[d]er V e r s t a n d [...] nur eine sehr geringe Seite unsers geistigen Wesens und die Bildung nur eine sehr zufällige Form desselben«21

|| 17 Ebd., S. 48. – Zum politischen Zusammenhang des Hessischen Landboten: Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des ›Hessischen Landboten‹. In: GB I/II, S. 16–298; neuerdings auch: MBA 2.1, S. 53–216. 18 N, S. 48. 19 Was wir haben und was wir wollen. In: Der jüngste Tag. Eine freie Zeitung aus Hessenland. Gießen 1848. Nr. 1 vom 6. März 1848, S. 2. 20 Ludwig Büchner in einer Erklärung in der Darmstädter Zeitung, Nr. 139 vom 19. Mai 1848, S. 790. 21 MBA 10.1, S. 32

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sei. Tatsächlich hatte sich Ludwig Büchner schon 1848 sehr weit von den politischen Vorstellungen seines Bruders Georg entfernt, wenn er sie denn überhaupt jemals geteilt hatte. Vor dem Hintergrund dieser auf das Bildungsbürgertum bezogenen politischen Positionen sind auch die Eingriffe in die Textgestalt zu bewerten, die vor allem von Ludwig, teilweise aber auch von Alexander und Luise, bei der Herausgabe der Nachgelassenen Schriften Georg Büchners vorgenommen wurden. Es wäre verkürzt, diese Vorgehensweise nur mit der seit Ende 1849 allenthalben zunehmenden repressiven Politik zu erklären. Tatsächlich wurde das editorische Vorgehen in den Nachgelassenen Schriften Georg Büchners spätestens seit Bergemann von allen bedeutenden Editoren der Werke Büchners heftig kritisiert.22 Hubert Gersch zum Beispiel, Herausgeber der erstmals 1984 bei Reclam erschienenen Lenz-Studienausgabe, äußert dort die Ansicht, Ludwig Büchner sei bei seinen Eingriffen in die Texte seines Bruders Georg von »Familieninteressen, eine[r] gewisse[n] Verständnislosigkeit für dichterische Eigenheiten und Rücksichtnahme auf die Üblichkeiten des literarischen Marktes« geleitet worden. Sein Ziel sei es gewesen, »den aus dem Rahmen fallenden Bruder als integrierbares Glied der Literaturgesellschaft zu präsentieren«.23

4 Als die Nachgelassenen Schriften Ende 1850 erschienen, war Georg Büchner übrigens in Deutschland nahezu vollständig vergessen. Erstaunlicherweise hatten weder Ludwig noch Alexander Büchner 1848 ihre publizistischen Möglichkeiten genutzt, um ihren Bruder Georg – z. B. als einen Vorkämpfer der 48er-Bewegung – zu ehren. In der schon zitierten Gießener Tageszeitung Der jüngste Tag, sie wurde von August Becker, dem ehemaligen Mitkämpfer Georgs aus Landboten-Zeiten, den Brüdern Ludwig und Alexander Büchner, Rudolf Fendt und anderen herausgegeben, erschienen zwar verschiedene Artikel, die Friedrich Ludwig Weidig und das Gedenken an ihn zum Gegenstand hatten. Georg Büchner dagegen wurde lediglich einmal – und zwar von August Be-

|| 22 Siehe dazu: Hauschild 1985, S. 89, 93–96. 23 »Nachwort«, in: Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe mit Quellenanhang und Nachwort herausgegeben von Hubert Gersch, Stuttgart 1998, S. 64.

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cker – erwähnt, allerdings eher beiläufig und keineswegs mit der Absicht, ihn einer jüngeren Generation in ehrender Weise vorzustellen.24 Und als sich Alexander Büchner 1852 für etwa ein Jahr in Zürich aufhielt, also dort, wo sich das Grab des Bruders befand, nutzte er dies nicht zu einem öffentlichen Gedenken, obwohl Alexander ein Vielschreiber war und fast über alles, auch über die Gabelsberger Kurzschrift, Feuilletons und Aufsätze zu schreiben verstand.25 Die Herausgabe der Nachgelassenen Schriften kann also nicht als Teil einer größeren Kampagne für den ältesten Bruder bezeichnet werden, sondern blieb zunächst Episode. Lediglich Luise Büchner besuchte irgendwann in den 1850er Jahren, vermutlich 1854, als sie eine Reise nach Bern unternahm, auch das Grab ihres Bruders Georg in Zürich; sie hielt diesen Besuch in einem Gedicht fest, das sie 1862 in ihrem Gedichtband Frauenherz26 veröffentlichte. Und Ludwig Büchner widmete sein 1857 veröffentlichtes Buch Natur und Geist seinem Bruder Georg, dem »Verfasser des Trauerspiel’s ›Danton’s Tod‹ etc., geb. 1813, gest. 1837 in Zürich als Lehrer der Philosophie und der physiologischen Naturwissenschaften an der dortigen Universität«.27 Zu diesem Zeitpunkt wurde Ludwig Büchner – im Gegensatz zu dem nur einer kleinen Gemeinde von Literaturspezialisten28 bekannten Georg – zu einem berühmten Mann. 1855 war die erste Auflage seines Aufsehen erregenden Buches Kraft und Stoff erschienen, in dem er, aufbauend auf den Studien und Büchern anderer, eine materialistische Theorie vorstellte, die als Vulgärmaterialismus in die Geschichte eingegangen ist. Vor allem weil er die Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele leugnete, musste er seine Stelle als Privatdo-

|| 24 August Becker rechtfertigt sich in der Nr. 67 der Zeitung Der jüngste Tag, eine freie Zeitung aus Hessenland vom 22. Mai 1848, S. 269, in einer Zurechtweisung gegen Vorwürfe, er sei erst nach 1839 durch Weitling zum Sozialismus bekehrt worden. Er schreibt: »Ich war schon hier in Gießen ein Socialist. Was Clemm über die Tendenz der von Georg Büchner und mir im Jahre 1834 gestifteten Gesellschaft der Menschenrechte ausgesagt hat, ist so unwahr nicht.« Das ist die einzige Erwähnung Georg Büchners in dieser Zeitung. 25 Siehe Thomas Lange: Vaterlandslos in zwei Nationen – Alexander Büchners Weg zwischen Deutschland und Frankreich. In: Gröbel, Köhler, Lange, Scharpf: Fortschritt (s. Anm. 3), S. 413– 541; hier besonders: S. 422–431. 26 Luise Büchner: Frauenherz. Berlin 1862, S. 78ff. 27 Ludwig Büchner: Natur und Geist. Gespräche zweier Freunde über den Materialismus und über die real-philosophischen Fragen der Gegenwart. Frankfurt 1857, S. V. 28 Julian Schmidt z. B. würdigt Büchner als einen der begabtesten Dichter des frühen 19. Jahrhunderts und widmet ihm ein Kapitel in seiner Geschichte der deutschen Literatur im neun2 zehnten Jahrhundert (Leipzig 1853, Bd. 2, S. 213–221; vgl. auch dass. 1855, Bd. 3, S. 54–62 u. ö.; Erstdruck in Die Grenzboten. 10. Jg. [1851], Bd. 1, S. 121–128).

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zent an der Universität Tübingen aufgeben.29 Allerdings wurde Kraft und Stoff zu einem der großen Bestseller in der Wissenschaftspublizistik des 19. Jahrhunderts. Sowohl sein publizistischer Erfolg als auch das gegen ihn ausgesprochene Berufsverbot werden in der Literatur über Ludwig Büchner immer wieder hervorgehoben. Fast völlig verschwiegen wird dagegen das Menschenbild, das Ludwig in dieser Schrift entwickelt. Er klassifizierte die Menschen nicht nur nach Rassen, sondern bewertete sie nach Aussehen, Geruch und Lautäußerungen, bediente sich einer rassistischen Theorie, die den einzelnen Ethnien auch Lebens- und Überlebenschancen bzw. die Berechtigung dazu zuteilte. Daneben ordnete er die Menschheit auch nach sozialen Kriterien und stellte fest, die Hirngröße und damit die Denkfähigkeit entspreche der sozialen Herkunft. Ludwig Büchner behauptete z. B., es sei »eine tägliche Erfahrung der Hutmacher, daß die gebildeten Klassen durchschnittlich ungleich größerer Hüte bedürfen, als die ungebildeten. Ebenso ist es eine ganz alltägliche Beobachtung und Erfahrung, daß man die Stirne und ihre seitlichen Teile bei den u n t e r e n Klassen weniger entwickelt sieht, als bei den höheren«.30 – Das sind Ansichten, die von der Maxime seines Bruders Georg, man solle sich »in das Leben der Geringsten« versenken, nicht weiter entfernt sein können.

5 Auch die anderen Geschwister Georg Büchners wurden nach 1855 zumindest zu regional bedeutenden Persönlichkeiten. Wilhelm Büchner war als einziger in der Familie in einige der geheimen politischen Aktivitäten seines Bruders eingeweiht und verfügte auch nach Georgs Flucht nach Frankreich über enge Kontakte zum Weidig-Kreis, als er in Butzbach ein Praktikum als Apotheker absolvierte. Er machte sich 1842 mit einer chemischen Fabrik selbstständig,31 zog 1845 nach Pfungstadt bei Darmstadt um und war Ende der 1850er Jahre ein erfolgreicher Chemie-Fabrikant, der mit seinem künstlichen Ultramarin schon auf verschiedenen Weltausstellungen und Messen höchste Preise gewonnen hatte. Darüber hinaus war er 1849/50 für die Demokraten in den Darmstädter Landtag

|| 29 Siehe dazu: Matthias Gröbel: Ludwig Büchner – Ein Heilssucher im Industriezeitalter. In: Gröbel, Köhler, Lange, Scharpf: Fortschritt (s. Anm. 3), S. 235–411. Hier insbesondere: S. 252– 268. 4 30 Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Frankfurt 1856, S. 124. 31 Siehe dazu: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt G 42A Nr. 1.

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gewählt worden. Später, 1862, zog er dann für die Fortschrittspartei in den Landtag ein.32 Luise Büchner hatte 1855 ihr Buch Die Frauen und ihr Beruf, außerdem im Cotta’schen Morgenblatt verschiedene Erzählungen und 1862 den schon erwähnten eigenen Gedichtband veröffentlicht. Mit diesen Veröffentlichungen wurde sie immer bekannter, bis sie nach 1865 als Unterstützerin der hessischen Prinzessin Alice in Frauenvereinen mitarbeitete und bis in die führenden Kreise der neuen Frauenbewegung aufstieg.33 Lediglich über Mathilde wurde öffentlich kaum geredet, obwohl auch sie im lokalen Umfeld von Darmstadt in einigen Vereinen, die sich dem Wohl der bürgerlichen Frauen widmeten, mitwirkte.34 – Allerdings konzentrierte sich auch Luise Büchner ganz auf das Bürgertum, besonders auf das Bildungsbürgertum. Zwar unterstützte sie die Mädchenbildung, nach 1865 auch die Erwerbstätigkeit, hier allerdings vor allem der unverheirateten bürgerlichen Frauen, denn die verheiratete Frau sollte ganz für die Familie da sein. Den Frauen gab sie nicht nur eine entscheidende Mitschuld an ihrer Lage, sie verstieg sich sogar zu der These, dass die soziale Frage durch die mangelnde Tüchtigkeit der Frau mitverursacht sei, dass so mancher Mann nur deswegen in die Gaststätte gehe, weil die Frau das Zuhause zu wenig liebevoll pflege.35 Auch Alexander Büchner, er lebte seit 1855 als Lehrer zunächst in Valenciennes, seit 1862 in Caen in der Normandie, hatte inzwischen verschiedene literaturwissenschaftliche und literarische Werke veröffentlicht, war ein viel beschäftigter Publizist und darüber hinaus auf dem Weg zu einer Professur an der Universität von Caen. Obwohl er sich der vergleichenden Literaturwissenschaft widmete, verschiedene Arbeiten, z. B. über Jean Paul, über Heinrich Hei-

|| 32 Zu Wilhelm Büchner siehe Manfred H. W. Köhler: Wilhelm Büchners erstes Reichstags-Mandat. Die Spaltung der Fortschrittspartei in Hessen Anfang 1877. In: Georg Büchner und seine Zeit 1813–1837. Eine Ausstellung des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt und des Stadtarchivs Darmstadt zum 175. Todestag und zum 200. Geburtstag Georg Büchners (2012/2013). Darmstadt o. J. [2012], S. 32–40. 33 Zu Luise Büchner siehe Cordelia Scharpf: A Nineteenth-Century Evolutionary Feminist. Bern 2008. 34 Zu Mathilde Büchner siehe Matthias Gröbel: Mathilde Büchner – Die Schwester. In: Georg Büchner und seine Zeit 1813–1837 (s. Anm. 32), S. 25–31. 35 Siehe dazu: Matthias Gröbel: »Die Rüstung der Pallas Athene«. Luise Büchners Frauenbild und seine Umsetzung in ihren frühen Erzählungen. In: Gröbel, Lange, Köhler, Scharpf: Fortschritt (s. Anm. 3), S. 157–193, hier bes. S. 165–167.

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ne, über La Jeune Allemagne, veröffentlichte, setzte er sich in seinem Leben nie öffentlich mit dem Werk seines Bruders Georg auseinander.36

6 1863 erschien in Unsere Zeit, dem Jahrbuch zum Konversationslexikon von Brockhaus, erstmals ein biographischer Artikel über Ludwig Büchner.37 Dieser übernahm ihn 1867 als Einleitung zur neunten Auflage von Kraft und Stoff38 und autorisierte ihn auf diese Weise. Vermutlich war der Artikel aufgrund der von Ludwig Büchner gegebenen Informationen überhaupt erst entstanden. Damit beginnt ein neuer Abschnitt auch im Gedenken an Georg, vor allem aber in der Würdigung der gesamten Familie Büchner. Man könnte fast sagen: Es beginnt so etwas wie eine familienbezogene Öffentlichkeitsarbeit. Schon im einleitenden Satz wird Ludwig Büchner vorgestellt »als dritter Sohn des großherzoglichen Physikatsarztes und spätern Obermedicinalraths Dr. Ernst Büchner und als jüngerer Bruder des durch sein Trauerspiel ›Danton’s Tod‹ berühmt gewordenen und im dreiundzwanzigsten Lebensjahre als politischer Flüchtling und Privatdocent in Zürich verstorbenen G e o r g B ü c h n e r«.39 Wichtiger noch als die Mutter erscheint nun der Bruder. Er wird sogar gegenüber dem Vater durch Sperrung des Namens besonders hervorgehoben. Es folgen dann neun Seiten mit biographischen Angaben zu Leben und Wirken Ludwigs. Einen besonderen Stellenwert nimmt hier Ludwig Büchners Tätigkeit als Assistenzarzt und Privatdozent an der Universitätsklinik in Tübingen in den Jahren 1852 bis 1855 ein, als Kraft und Stoff entstand. Diese biographische Darstellung wird abgerundet mit Hinweisen auf die »Schwester [...] L u i s e B ü c h n e r« und ihre Werke40 sowie auf den »jüngere[n] Bruder, Professor A l e x a n d e r B ü c h n e r in Caen, früher in Valenciennes«.41 – Auch die Namen von Luise und Alexander Büchner werden durch Sperrung hervorgehoben.

|| 36 Zu Alexander Büchner siehe Thomas Lange: Vaterlandslos (s. Anm. 25). 37 Unsere Zeit. Jahrbuch zum Conversations-Lexikon. Bd. 7 (1863), S. 199–203. 9 38 Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, Leipzig 1867, S. III–X. Der Hinweis auf Unsere Zeit befindet sich am Ende des Artikels auf S. X. 39 Ebd., S. III. 40 Ebd., S. X. Genannt werden: Die Frauen und ihr Beruf, Dichterstimmen, Aus Heimat und Fremde, Frauenherz. 41 Ebd., S. X. Auch hier werden einige seiner Schriften genannt: Er sei »Verfasser der ›Geschichte der englischen Poesie‹, der ›Französischen Litarturbilder‹, der Uebersetzung von

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1867 erschien ebenfalls in der vom Leipziger Verlag Brockhaus herausgegebenen Monatsschrift zum Conversations-Lexikon Unsere Zeit in zwei Folgen eine Geschichte Hessen-Darmstadts in den Jahren 1850–1866.42 Im zweiten Teil wird der »Oppositionslandtag« des Jahres 1862 thematisiert; die damals neu gewählten Abgeordneten der »Fortschrittspartei«, zu denen auch Wilhelm Büchner gehörte, werden im einzelnen porträtiert. Über ihn ist dort zu lesen: »[...] Wilhelm Büchner, Ultramarinfabrikant in Pfungstadt, ältester lebender Sohn der Schriftstellerfamilie, deren Glieder: Georg (›Danton’s Tod‹), Louis (›Kraft und Stoff‹ u.s.w.), Alexander (Professor in Caen, Novellist) und Luise (geschätzte Jugendschriftstellerin), einen seltenen Verein von Talenten und erprobter Gesinnungstreue bilden, ein schlagfertiger manchmal derber Redner mit Kenntnissen und natürlicher Einsicht [...].«43 Der Öffentlichkeit wurden die Büchners als »Schriftstellerfamilie« präsentiert.44 Der Anlass war interessanterweise die politische Tätigkeit Wilhelms, der sich als einziges der genannten Familienmitglieder tatsächlich nie als Schriftsteller versuchte, von Gelegenheitsgedichten einmal abgesehen. Der namentlich nicht genannte Autor des Artikels war Rudolf Fendt, der 1848 in Gießen zusammen mit den Brüdern Ludwig und Alexander Büchner und August Becker die Tageszeitung Der jüngste Tag herausgegeben hatte. Er lebte inzwischen in Darmstadt, wo er nach wie vor mit Ludwig Büchner in Kontakt stand.45 Es ist nicht auszuschließen, dass Rudolf Fendt hier Formulierungen gebrauchte, die letztendlich auf Ludwig Büchner zurückgehen. Wiederum ein Jahr später, 1868, veröffentlicht Karl Gutzkow in der Leipziger Zeitung ein Porträt der Familie Büchner.46 Karl Gutzkow war seit Jahren mit

|| Byron’s ›Childe Harold‹, der Novellen ›Der Wunderknabe von Bristol‹ und ›Lord Byron’s letzte Liebe‹«. 42 Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart. Monatsschrift zum Conversations-Lexikon. Neue Folge. Dritter Jahrgang. Erste Hälfte. Leipzig 1867, S. 1–24, S. 81–104. 43 Ebd., S. 86. 44 Die Büchner-Geschwister wurden allerdings schon 1856 erstmals als »Schriftsteller Familie« bezeichnet. Unter diesem Titel rezensierte Theodor Creizenach Luise Büchners Die Frauen und ihr Beruf in Nr. 6 des Frankfurter Museums vom 9. Februar 1856. Das Frankfurter Museum wurde damals von Theodor Creizenach zusammen mit Otto Müller herausgegeben und veröffentlichte zwischen 1856 und 1858 mehrere Aufsätze und eine Novelle Alexander Büchners. Dieser wiederum stellte Otto Müller als Schriftsteller »auf eine Stufe mit Balzac«. Siehe dazu: Thomas Lange: Vaterlandslos (s. Anm. 25), S. 498. 45 Siehe dazu: Matthias Gröbel: Ludwig Büchner (s. Anm. 29), S. 329. 46 Karl Gutzkow: Die Familie Büchner. In: Leipziger Zeitung, Nr. 102 vom 20.12.1868, S. 442. – Erneut veröffentlicht in: Gerhard K. Friesen: »Wir können alle gar nicht Respect genug vor Ihnen haben.« Der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Luise Büchner 1859−1876. In: Internatio-

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Luise Büchner bekannt, vielleicht sogar befreundet.47 Luise Büchner hatte schon 1844 eine Widmung in das Poesiealbum von Gutzkows erster Frau Amalie eingetragen. Und das freundschaftliche Verhältnis blieb auch nach dem Tod von Amalie und Gutzkows erneuter Eheschließung mit Bertha Meidinger bestehen. Mit Gutzkow selbst stand Luise Büchner spätestens seit 1859 in einem Briefwechsel. Ende 1868 bat Luise Büchner Karl Gutzkow um eine wohlwollende Rezension ihrer Weihnachtsmärchen. Bevor Gutzkow diese Besprechung anfertigte, veröffentlichte er das erwähnte Porträt der Familie Büchner. Und – so schrieb er am 14. Dezember 1868 an Luise Büchner – die »Pointe des kleinen Artikels ist Ihre Person u das betreffende Märchenbuch. Hoffentlich wird der Artikel gebracht u kann vielleicht noch rechtzeitig, vor Weihnachten, von einem hessischen Blatt nachgedruckt werden«.48 Gutzkows Artikel beginnt wie folgt: »Nur in seltenen Fällen spaltet sich der Funke des Prometheus und senkt sich auf eine Familie herab, wo sich Vater und Sohn, Geschwister und nächste Blutsverwandte zu gleicher Zeit als von demselben göttlichen Feuer ergriffen offenbaren. Eine solche Familie ist die des verstorbenen Medicinalraths Büchner in Darmstadt. Der älteste Sohn des selbst als ausgezeichneter Naturforscher anerkannten Arztes war jener von den Kennern der neueren deutschen Literatur wohlgeschätzte Georg Büchner, der nach den Proben eines seltenen poetischen Talentes, die er in einem Drama: ›Danton’s Tod‹ und in Novellenfragmenten gegeben hatte, für die Dichtkunst viel zu früh gestorben ist.«49 Das Bild der genialen Familie, im UZ-Beitrag von 1867 angedeutet, wenn dort von »eine[m] seltenen Verein von Talenten und erprobter Gesinnungstreue«50 die Rede ist – wird hier noch einmal gesteigert: auf die Familie Büchner habe sich »der Funke des Prometheus« herabgesenkt, ein »göttliche[s] Feuer [habe sie] ergriffen«. Gutzkow springt anschließend über seinen Schatten, wenn er nach Georg auch Ludwig lobt. Dessen Kraft und Stoff war von ihm in den Jahren zuvor heftig kritisiert worden, worauf Ludwig Büchner ebenso heftig reagiert hatte.51 Die Beziehung zwischen Gutzkow und Ludwig Büchner war also durchaus ange-

|| nales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Forum für die Erforschung von Romantik und Vormärz. Bd. 8/9, 1996/97, S. 75–138, hier S. 84–86. 47 Ebd., S. 75–84. 48 Ebd., S. 103. 49 Ebd., S. 84. 50 Unsere Zeit (s. Anm. 42), S. 86. 9 51 Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Leipzig 1867, S. XXIII–XXV.

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spannt. Gutzkow äußert sich nun in diesem Familienporträt vergleichsweise milde über Kraft und Stoff. Ludwig Büchner habe dort »die Molleschott’sche Richtung [...] einem größern Publikum verständlich und ihren Wahrheiten wie allerdings auch ihren Irrthümern zugänglich« gemacht. Inzwischen habe Ludwig allerdings mit den »Vorlesungen über die Darwin’sche Theorie (Leipzig, Thomas) [...] ein würdiges Maßhalten, eine mit den Jahren gereiftere Vertiefung in die großen Geheimnisse der Natur« gezeigt.52 Auch wenn sich Gutzkow hier gemäßigt positiv zu den Schriften Ludwig Büchners äußert, so kann aus seinen Formulierungen nicht abgeleitet werden, bei Ludwig Büchner handele es sich für ihn um ein vom »Funke[n] des Prometheus« getroffenes und vom »göttlichen Feuer ergriffen[es]« Genie. Ähnliches gilt auch für die anschließende Würdigung Alexander Büchners, von dem es heißt, ihm seien »schätzenswerthe sprachwissenschaftliche Studien [...], vorzüglich aber [...] biographische Gemälde aus dem Bereich seiner Lehrtätigkeit, die sich auf vergleichende Sprachwissenschaft erstreckt«, gelungen.53 Nach eigenen Angaben verfasste Karl Gutzkow dieses Familienporträt vor allem deshalb, um am Schluss, als »Pointe des kleinen Artikels«, Luise Büchner – »ihre Person und das betreffende Märchenbuch« – zu würdigen. Tatsächlich erhält Luise die umfangreichste Würdigung. Gutzkow stellt fest, Luise Büchner habe »mannichfache Beweise eines reichgebildeten und zur Erkenntniß der Wahrheit aufstrebenden Geistes gegeben«, z. B. mit ihren »wohlgefügte[n] Gedichte[n]«, ihren »spannende[n], vorzugsweise dem Leben der Frauen entnommene[n] Novellen«. Er geht auf Luises schwache Gesundheit ein, vor deren Hintergrund ihr praktisches Engagement in den von Alice von Hessen gegründeten Frauenvereinen und ihre pflegerische Tätigkeit im Krieg von 1866 besonders erwähnenswert seien. Und er lobt am Ende Luises Märchenbuch, in dem »eine liebenswürdige Bewährung nicht nur ihres erzählenden Talentes, sondern auch ihrer vielseitigen Bildung«54 ihren Ausdruck gefunden habe. Wir erkennen auch hier viel Lob, allerdings keinen »Funken des Prometheus«, kein »göttliches Feuer«. Gutzkow gelingt es nicht, den hohen Ton, den er beim anfänglichen Lob der gesamten Familie, vor allem aber Georg Büchners, angeschlagen hat, durchzuhalten und auch bei der Beschreibung der anderen schreibenden Geschwister anzuwenden. Tatsächlich wechselt Gutzkow am Ende seine Porträts das Bild: Nun sieht er in den von Luise Büchner verfassten »Weihnachtsmärchen [...] ein neues beachtenswerthes Zeugniß für die Bega-

|| 52 Gutzkow: Die Familie Büchner (s. Anm. 46), S. 85. 53 Ebd. 54 Ebd.

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bungen eines seltenen vierblättrigen Geschwisterkleeblattes«.55 Diese sprachliche und inhaltliche Inkonsistenz macht deutlich, was endgültig der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Luise Büchner beweist: Dieses Porträt war nicht als eine kritische Bewertung, sondern als ein Freundschaftsdienst Gutzkows gedacht.

7 Das diesem Text Gutzkows zu Grunde liegende sachliche Problem wäre leicht nachzuvollziehen, wenn wir hier die literarischen Arbeiten Georgs und die der Geschwister sowohl inhaltlich als auch ästhetisch genauer miteinander vergleichen würden. Das ist allerdings nicht Gegenstand dieses Aufsatzes. Zur Verdeutlichung sei nur kurz auf Ludwig Büchners Würdigung der naturalistischen Literatur verwiesen, die sich geradezu wie eine direkte Kritik der Arbeiten seines Bruders Georg lesen lässt.56 Ludwig Büchner behauptet hier zum Beispiel, dass jener Künstler, der »an der menschlichen Natur oder der Natur überhaupt nur die häßlichen oder unvollendeten Seiten hervorsucht, [...] Wesen und Aufgabe der Kunst, welche uns über das Gemeine und Alltägliche in höhere Sphären emporheben soll, nicht oder falsch verstanden«57 habe. Er will dagegen die Kunst mit »dem ewig Wahren und Schönen, wie es sich in den Kunstwerken großer Meister offenbart«, verbunden sehen und konkretisiert dies ausgerechnet am Beispiel der »Rafaelsche[n] Madonna«, auf die sich auch Georg Büchners Lenz bei der Verdeutlichung seiner ästhetischen Vorstellungen bezieht. Um zu demonstrieren, dass das »ewig Wahre und Schöne« nicht in der Wirklichkeit zu finden sei, behauptet Ludwig Büchner, »[e]ine Rafaelsche Madonna [sei] doch wahrlich kein schmutziges Proletarierweib mit halbverhungertem Säugling an welker Brust«.58 Georg Büchners Lenz dagegen wendet gegen entsprechende Vorhaltungen Kaufmanns ein, es sei ihm gleichgültig, dass man »in der Wirklichkeit [...] keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna finden würde«, weil er sich nämlich bei der Betrachtung dieser Werke »sehr todt« fühle.59

|| 55 Ebd., S. 86. 56 Ludwig Büchner: Die Litteratur. In: Ders.: Am Sterbelager des Jahrhunderts. Gießen 1900, S. 346–362. 57 Ebd., S. 355f. 58 Ebd., S. 357. 59 MBA 5, S. 38.

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Luise und Alexander Büchner, die beiden anderen Geschwister des »vierblättrige[n] Geschwisterblatt[es]«, vertraten übrigens in ästhetischer Hinsicht eine ähnliche Auffassung wie Ludwig.60

8 Im Sommer 1875 wurde der Zürcher Friedhof, auf dem sich das Grab Georg Büchners befand, aufgelöst. Georg Büchners sterbliche Überreste bekamen nun einen besonderen Ruheplatz auf dem so genannten Germaniahügel – damals außerhalb der Stadt gelegen –, der zugleich in der Art eines öffentlichen Denkmals gestaltet wurde. Zu dieser Gedächtnißfeier erschienen auch, wie die Gartenlaube berichtete, »die in und bei Darmstadt lebenden Geschwister des Gefeierten, Herr Wilhelm Büchner aus Pfungstadt, Abgeordneter, nebst einem aus Stuttgart eingetroffenen Sohne, Herr Dr. Louis Büchner, der bekannte Verfasser von ›Kraft und Stoff‹, und Fräulein Luise Büchner, Verfasserin von ›Die Frauen und ihre Beruf‹ und andern Schriften [...], während der dritte Bruder, Professor Alexander Büchner in Caen in Frankreich, Verfasser einer Geschichte der englischen Poesie, seine Verhinderung meldete«.61 Anzunehmen ist, dass Alexander Büchner – seit knapp fünf Jahren naturalisierter Franzose – schon deswegen nicht gekommen war, weil sich das nach der Niederlage Frankreichs im Krieg von 1870/71 einfach nicht schickte. Der Name Germaniahügel war nämlich im Hinblick auf die Inhalte der Gedächtnißfeier durchaus programmatisch zu verstehen. Von den anschließenden Feierlichkeiten am gleichen Abend heißt es, dass auch »Lieder – unter andern die ›Wacht am Rhein‹« – gesungen wurden, dass in »den verschiedenen Reden [...] in erster Reihe der Gefeierte des Tages, die bahnbrechenden Vorkämpfe jener Zeit, das dankbare Andenken an all unsere treuen Todten aus der Vergangenheit und dem letzten Kriege und die Ermunterung der deutschen Jugend zu Erfüllung ihrer Pflicht gegen das Vaterland«62 zur Sprache kamen. Von Mathilde Büchner, dem zweiten Kind von Ernst und Caroline Büchner, ist übrigens nicht die Rede, und es ist anzunehmen, dass es die Geschwister selbst waren, die sie in den öffentlichen Berichten verschwiegen, weil sie weder eine Schriftstellerin war, noch – wie Wilhelm Büchner als Landtagsabgeordne-

|| 60 Siehe dazu: Thomas Lange: Vaterlandslos (s. Anm. 25), hier besonders S. 494–515; sowie Matthias Gröbel: Die Rüstung der Pallas Athene (s. Anm. 35), hier besonders S. 168f. 61 Die Gartenlaube, Nr. 30, 1875, S. 516. 62 Ebd.

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ter oder Unternehmer – eine öffentliche Bedeutung besaß. Auch in den bisher erwähnten Familienporträts, deren Angaben mehr oder weniger auf die Geschwister Büchner zurückzuführen sind, kommt sie nicht vor.

9 Die Zürcher Gedächtnisfeier zu Ehren Georg Büchners hatte u. a. zur Folge, dass sich Karl Emil Franzos um eine neue Gesamtausgabe der Werke Georg Büchners bemühte. Das alles ist z. B. bei Jan-Christoph Hauschild nachzulesen und soll hier im einzelnen nicht dargestellt werden.63 Lediglich ein Teil dieser nun Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlass genannten Werkausgabe – sie erschien übrigens erst Anfang 1880 – soll hier eingehender vorgestellt werden. Es ist das den Abschluss der Ausgabe bildende Kapitel Die Familie Büchner. Folgt man den tatsächlich nicht immer zuverlässigen Angaben von Karl Emil Franzos,64 dann stammt dieser Text nicht nur nicht von ihm, wie das Kürzel K. E. M. unter dem Kapitel eigentlich nahelegt, vielmehr soll Ludwig Büchner die Aufnahme eines solchen Familienkapitels zur Bedingung für seine Kooperation gemacht haben. Das Kapitel sei im Wesentlichen von Ludwig Büchner bzw. von den porträtierten Geschwistern selbst verfasst worden.65 Es fällt auf, dass dieses Selbstporträt der Familie Büchner ähnlich wie das 1868 erschienene von Karl Gutzkow verfasste Familienbild beginnt. Nun heißt es: »›Wenn der gottbegnadete Strahl des Genius oder hervorragender Geisteskraft‹, bemerkt Ludwig Büchner in einer seiner Schriften, ›sich unter so vielen Tausenden von Durchschnitts-Menschen hier oder da auf ein einzelnes Haupt niederläßt, so bietet ein solches Ereigniß an und für sich Grund des Erstaunens oder der Bewunderung und gibt der großen Mehrzahl der Menschen hinreichenden Anlaß, an eine gewisse Art von ›Wunder‹ zu glauben oder der sehr verbreiteten Meinung zu huldigen, daß die Genies, wie man zu sagen pflegt, ›vom Himmel fallen!‹«66

|| 63 Hauschild 1985, S. 107–157. 64 Es geht hier um drei Aufsätze von Karl Emil Franzos: Georg Büchner. Zum Tage der Enthüllung seines Denkmals auf dem Zürichberge (1875); Die Erstveröffentlichung des ›Wozzeck‹ in der ›Neuen Freien Presse‹ (1875); Über Georg Büchner (1901). Alle sind zu finden in Goltschnigg 2001–2004, Bd. 1. 65 Franzos: Über Georg Büchner (s. Anm. 64), S. 141f. 66 Ders.: Die Familie Büchner (s. Anm. 1), S. 456.

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Hier ist es die Familie Büchner, auf die sich der »Strahl des Genius« niedergelassen hat, nur dass der sich selbst zitierende Ludwig Büchner67 natürlich nicht von einem »gottbegnadeten Strahl« ausgeht, sondern in erster Linie von Vererbung. Gerade die Tatsache, dass »ein genialer Mensch nicht vereinzelt oder unvermittelt mit seiner Umgebung dasteht«68, sei in dieser Beziehung belehrend. Am Genie Georg Büchners zweifelt Ludwig Büchner nicht. Um dieses Genie zu erklären, müsse man »bei Georg’s Eltern nach solchen Bedingungen oder nach hervorragenden Geistes-Eigenschaften« suchen. Tatsächlich sei das »glückliche Erbe« der Eltern »nicht blos dem Erstgeborenen zu Theil geworden. Fast alle Geschwister Georg Büchners sind, wenn auch nicht im gleichen Maaße, so doch mehr oder weniger von jenem Strahle des Geistes beschienen worden, welcher dem Namen ihres erstgeborenen Bruders einen so gerechten Anspruch auf Erhaltung im Gedächtniß der nachgebornen Geschlechter erworben hat. Es sind dies die drei jüngsten Geschwister Georgs.«69 Ludwig Büchner greift hier also das schon von Gutzkow gebrauchte Bild vom »vierblättrigen Geschwisterblatt« auf. Die vier Blätter verweisen auf ihn selbst sowie auf Georg, Luise und Alexander. Allerdings seien auch die beiden hier fehlenden Geschwister »keine Dutzendmenschen. Mathilde [habe] sich durch ihre praktische Thätigkeit um gemeinnützige weibliche Bestrebungen verdient gemacht, Wilhelm als Großindustrieller und auf politischem Gebiete«.70 Erwähnt wird Wilhelms Ultramarinfabrik, seine Tätigkeit als Landtagsabgeordneter und seit 1877 auch als Reichstagsabgeordneter der Fortschrittspartei. Weil er »nur wenige Fachschriften« verfasst habe, bilde er nicht, wie »die drei jüngsten Geschwister [...] in Gemeinschaft mit ihrem verstorbenen Bruder Georg eine S c h r i f t s t e l l e r - F a m i l i e im wahren Sinne des Wortes, wie dies schon Karl Gutzkow in einem vor mehreren Jahren erschienenen Aufsatz mit Recht bemerkt hat«.71 Ludwig Büchner nimmt also sowohl in den Inhalten als

|| 67 In seinen Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie, Leipzig 1868, schreibt Ludwig Büchner: »[...] und auch die Genies fallen nicht, wie Lyell anzunehmen scheint, vom Himmel, sondern sind fast immer das Product bestimmter Naturgesetze und eines besonders günstigen Zusammenwirkens verschiedener Umstände, unter denen die Natur der Eltern oder Erzeuger und eine glückliche Mischung ihrer beiderseitigen Charaktere gewiß eine der hervorragendsten Rollen spielt. Dazu kommen weiter Erziehung, Familie, Stellung, Zeitumstände u.s.w., welche alle zusammenwirken müssen, um einer genialen Natur zum Durchbruch zu verhelfen [...]«. (S. 207f.) 68 Franzos: Die Familie Büchner (s. Anm. 1), S. 457. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 458. 71 Ebd.

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auch mit seinen Bildern und Begriffen direkten Bezug auf das erwähnte Porträt Gutzkows. Im Gegensatz zu Gutzkow werden in diesem Familienporträt allerdings die Geschwister dem Alter nach vorgestellt. Auf Georg, Mathilde und Wilhelm folgt also das Porträt der schon 1877 verstorbenen Luise Büchner. Sie habe ihren Bruder Georg nur als Kind und damit nicht wirklich gekannt, sei aber durch die Familienerzählungen mit dessen Schicksal sehr vertraut gewesen. Ein »Ersatz« für den verlorenen älteren Bruder habe ihr »eine innige Freundschaft mit Karl Gutzkows erster [...] Frau Amalie« gewährt.72 Deren früher Tod habe »sie sehr vereinsamt«73 werden lassen. Mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit habe sie aus dieser Einsamkeit ausbrechen wollen. Ein anderes Tätigkeitsfeld sei der nach 1866 von der Großherzogin Alice gegründeten »gemeinnützige[ ] Frauenverein[ ]« gewesen: Luise Büchner habe sich nicht nur im »Alice-Verein für Frauenbildung und Frauenerwerb«, sondern auch in den Zweigorganisationen, also im »Alice-Bazar«, im »Alice-Lyceum« und in einer »Industrieschule für junge Mädchen« sehr engagiert. Besonders wird auf die nur für Frauen vorgesehenen und auch als Buch veröffentlichten Vorträge über deutsche Geschichte hingewiesen, die Luise Büchner seit 1860 und später dann im »Alice-Lyceum« gehalten hatte. Auf den überregionalen »Frauenverbandstagen« sei Luise Büchners Wirken für die »Frauenfrage« allgemein anerkannt worden.74 »Der bekannteste Sprosse der Büchner’schen Familie ist der fünfte, Dr. L u d w i g Büchner, Verfasser der berühmten Schrift: ›Kraft und Stoff‹.« So beginnt Ludwig Büchners Selbstdarstellung. Schon »als Knabe und Jüngling habe er eine starke geistige Regsamkeit und Schaffenskraft« gezeigt.75 Was in diesem Porträt dann folgt, entspricht teilweise sogar im Wortlaut dem schon 1863 in der Zeitschrift Unsere Zeit veröffentlichten Porträt. Erwähnt werden also Ausbildung, Engagement in der Revolution von 1848, Tätigkeit als Arzt und die mit Kraft und Stoff einsetzende Karriere als Wissenschaftler bzw. als Wissenschaftsschriftsteller. Nicht erwähnt wird Ludwig Büchners Engagement zwischen 1863 und etwa 1869 in den Arbeiterbildungsvereinen und in der Arbeiterbewegung bzw. sein Bemühen, die Spaltung zwischen bürgerlicher Demokratie und Sozialdemokratie zu verhindern. In diesen Zusammenhang gehört seine Begegnung mit Ferdinand Lassalle im Frühjahr 1863 und die von ihm im Zusammenhang mit Ludwig Eckardt 1865 forcierte Gründung der »Volkspartei« als einer Partei,

|| 72 Ebd., S. 459. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 460f. 75 Ebd., S. 461.

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in der die von ihm so genannte »Nationalpartei« ihr Zentrum finden sollte. Und auch nur ansatzweise erfahren wir etwas von Ludwig Büchners Engagement in der Turnbewegung. Seit 1863 war er Vorsitzender der Turngemeinde Darmstadt, wobei er seinen Vorsitz durchaus politisch auffasste. So führte er vor dem Hintergrund der Schleswig-Holstein-Krise in Darmstadt das Wehrturnen ein, um die Turner – als zentrales Element der Nationalpartei76 – als bewaffnete Einheit für den Kampf für die nationale Einheit und Republik zur Verfügung stellen zu können. Allerdings geht Büchner darauf nicht ein, sondern schildert lediglich, dass die Darmstädter Turnerschaft sowohl im Krieg von 1866 als auch 1870 mit einer »Sanitätsmannschaft [...] theils in den Lazarethen, teils auf dem Schlachtfelde thätig war«.77 Genauso wenig wird dargestellt, dass Ludwig Büchner spätestens seit 1868, seit seinen Vorlesungen über die Darwin’sche Theorie, einer der ersten Theoretiker des Sozialdarwinismus war. In dessen Zentrum stand eine durchaus rassistische Vorstellung von der Überlegenheit der weißen und indogermanischen Europäer, die Büchner an der Spitze des Evolutionsprozesses stehen sah und die in die Naturgeschichte eingreifen sollten, um im »Kampf um das Dasein«78 nicht zu unterliegen. Nicht zuletzt diese Gedanken popularisierte Ludwig Büchner in sehr vielen Vorträgen, die er im Winter 1872/73 auch – auf Einladung der deutsch-amerikanischen Turner und Freidenker – in den USA hielt. Auf diese Reise und auch ihre materiellen Folgen wird in diesem Familienporträt dann allerdings hingewiesen. Ludwig Büchner verdiente durch diese USA-Reise – an Honoraren und Buchverkäufen – so viel Geld, dass er anschließend ökonomisch weitgehend unabhängig war und sich in der Zeit nach 1880 bis zu seinem Tod im Jahre 1899 der Freidenkerbewegung widmen konnte.

|| 76 Siehe dazu: Matthias Gröbel: Ludwig Büchner (s. Anm. 29), hier insbesondere S. 273–312. 77 Franzos: Die Familie Büchner (s. Anm. 1), S. 469. 78 Siehe dazu: Ludwig Büchner: Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, 2 Gegenwart und Zukunft. Leipzig 1872, insbesondere S. 174. Dort heißt es: »Auch der Kampf um das Dasein selbst, der ja Anfangs fast nur, wie bei den Thieren, ein Kampf um die äußeren Existenzbedingungen war, hat sich durch den Fortschritt des Menschengeistes in seinem ganzen Wesen verändert und von dem Gebiete des materiellen Lebens mehr auf das geistige, auf das politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Gebiet übertragen. Wenigstens ist dieses bei den s.g. Cultur-Nationen der Fall, während allerdings bei wilden Völkern und an den am ungünstigsten situirten Stellen der Erdoberfläche der Kampf um das Dasein zum Theil noch in seinen rohesten Formen fortwüthet. [...] Alle auf rückständigen Stufen befindlichen Zweige der großen Menschenfamilie werden, mit wenigen Ausnahmen, nach und nach unter dem Andrang des Cultur-Menschen verschwinden [...]«.

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Entsprechend dem Alter steht Alexander Büchner als »[d]er jüngste Sprosse der Büchner’schen Familie« am Schluss des Familienporträts. Vermutlich wurde dieser Teil, das legen Bemerkungen von Karl Emil Franzos nahe, von Alexander Büchner selbst verfasst.79 Der am 25. Oktober 1827 in Darmstadt geborene Alexander studierte demnach in Gießen und Heidelberg Jura, schloss dieses Studium 1848 in Gießen mit der Promotion ab, um anschließend seinen »Acceß an hessischen Gerichten« zu erwerben. Er wurde 1851 aus dem Staatsdienst entlassen, angeblich wegen seines Engagements in der Revolution von 1848. Tatsächlich war Alexander zusammen mit seinem Bruder Ludwig in dieser Zeit in der Tageszeitung Der jüngste Tag aktiv, auch hatte er auf verschiedenen »Volkversammlungen«80 gesprochen. Allerdings wurde ihm dies nicht direkt zum Vorwurf gemacht. Vor Gericht stand er wegen einer anonym veröffentlichten Erzählung über den Tod Ludwig Weidigs, in der er den Untersuchungsrichter Georgi den in Darmstadt inhaftierten Weidig in dessen Zelle ermorden lässt. Das 1849 von Georgi angestrengte Verfahren ging allerdings zu Gunsten von Alexander Büchner aus. Aus dem Staatsdienst entlassen wurde Alexander Büchner, weil er in einem 1851 eingeleiteten und auch in diesem Familienporträt erwähnten Untersuchungsverfahren »das Vorhandensein demokratischer und deutsch-einheitlicher Gesinnungen«81 nicht nur nicht leugnete, sondern auch darauf bestand, dass man solche »Gesinnungen« haben dürfe. Dieses taktisch unkluge Verhalten Alexander Büchners wurde von August Becker im übrigen als unnötig heftig kritisiert.82 Aus dieser Sicht scheint es, Alexander Büchner habe seine Entlassung aus dem Staatsdienst provoziert. Tatsächlich heißt es im Familienporträt dann auch, »Alexander Büchner benützte nun mit Freuden diesen Anlaß, um seinen belletristischen Neigungen ungestört nachzuhängen«.83 Neben autobiographischen Fakten enthalten die Angaben über Alexander Büchner aber auch Legenden, mit denen er seinen Lebenslauf verschleierte. Richtig wird geschildert, dass er sich zunächst nach München, anschließend nach Zürich begab, »wo er sich als Privatdozent an der philosophischen Fakultät habilitirte«. Er verließ Zürich wieder, aber nicht, weil die »Errichtung einer

|| 79 Franzos: Über Georg Büchner (s. Anm. 64), S. 141f. 80 Alexander Büchner in Darmstädter Zeitung, Nr. 141 vom 21. Mai 1848, S. 812. 81 Franzos: Die Familie Büchner (s. Anm. 1), S. 470. 82 Siehe dazu: Eberhard Kickartz: »Der Rote Becker«. Das politisch-publizistische Wirken des Büchner-Freundes August Becker (1812–1871). Darmstadt und Marburg 1997, S. 208. 83 Franzos: Die Familie Büchner (s. Anm. 1), S. 470f.

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eidgenössischen Hochschule« dort scheiterte84 – sie hatte ihn ja habilitiert –, sondern einfach deswegen, weil er zu wenig Hörer hatte. Richtig ist wiederum, dass er anschließend in Stuttgart und Tübingen lebte; allerdings wird verschwiegen, dass sein Habilitierungsverfahren in Tübingen deshalb nicht zu Stande kam, weil man dort an Alexander Büchners wissenschaftlicher Qualifikation zweifelte.85 Tatsächlich war er dann seit 1855 – und nicht erst seit 185786 – im französischen Unterrichtswesen tätig; 1862 wechselte er nach Caen. Der im Familienporträt erweckte Eindruck, er sei seit dieser Zeit an der Universität von Caen »als Professor der ›littérature étrangère‹«87 tätig gewesen, ist ebenfalls nicht ganz richtig. An die Universität wechselte er erst im Jahre 1867. Das weitere Leben Alexander Büchners wird insofern richtig zusammengefasst, als er sich tatsächlich seitdem im Wesentlichen mit »der Schriftstellerei« beschäftigte, allerdings nicht nur in »französischer Sprache«. Seine »zahlreichen Freunde«, so heißt es abschließend, rühmten an ihm »ebenso sehr die französische Urbanität seiner Sitten, wie die ächt deutsche Unwandelbarkeit seines Charakters«.88 Dass er seit 1870 die französische Staatsbürgerschaft besaß, verschweigt das Familienporträt, warum auch immer. Alexander Büchner heiratete 1898, nachdem seine erste Frau schon 1880 gestorben war, die erst 24jährige Martha Balsen aus Hannover. Dort starb Alexander Büchner am 7. März 1904.

10 Nach Ludwig Büchners Tod im Jahre 1899 erschienen noch zwei biographische Darstellungen aus der Feder Alexander Büchners, in denen auch Ansätze eines Familienporträts zu erkennen sind. Sie unterscheiden sich deutlich von den bis dahin unter der Kontrolle von Ludwig Büchner verfassten Familienbildern. Im ersten dieser beiden Texte – er erschien im Jahre 1900 als Vorwort zu einem postum herausgegebenen Band mit Aufsätzen Ludwigs89 – wird in der Hauptsache das Leben Ludwigs vorgestellt. Alexander geht aber auch »auf die innere Entwickelung und das Familienleben« der Büchners ein. Ohne Umschweife

|| 84 Ebd., S. 471. 85 Siehe dazu: Thomas Lange: Vaterlandslos (s. Anm. 25), S. 430ff. 86 Franzos: Die Familie Büchner (s. Anm. 1), S. 471. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 472. 89 Ludwig Büchner: Im Dienste der Wahrheit. Ausgewählte Aufsätze aus Natur und Wissenschaft. Gießen 1900, S. V–XXIX.

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spricht Alexander Büchner davon, dass sein Vater – Ernst Büchner – »in unserem Heimatsorte, Darmstadt, ein ›homo novus‹ [war] d.h. er gehörte keiner der alten eingesessenen Staatsdiener- oder Bürgerfamilien an, welche die Bevölkerung ausmachte«.90 Die Mutter – Caroline Büchner, geborene Reuß – entstammte dagegen als »Tochter eines hochgestellten Bureaukraten« einer höheren Schicht und besaß »verwandtschaftliche Beziehung mit den ersten Familien der Stadt«.91 Vor diesem Hintergrund muss die Familie Büchner, müssen auch die Familienporträts nach 1850 beurteilt werden: Die Büchners waren einerseits vom Vater her eine Aufsteigerfamilie, von der Mutter her dagegen besaßen sie einen familiären Hintergrund, vor dem sich nicht nur der Vater beweisen musste. Alexander Büchner erwähnt in seinem Text auch den »älteste[n] Sohn Georg«, der »noch ganz jung als Dichter durch das Trauerspiel ›Dantons Tod‹ berühmt [wurde], [...] aber frühzeitig als politischer Flüchtling in der Schweiz [starb]«.92 Georgs Schicksal habe »einen trüben Schatten auf das bisher so glückliche Familienleben«93 geworfen und vor allem die Lebensfreude der Mutter beeinträchtigt. Die Reaktionen des Vaters werden dagegen nicht erwähnt. Für Ernst Büchner, den homo novus, stellte das politische Engagement Georgs selbstverständlich ein gewaltiges Risiko dar, weil es seine mühsam aufgebaute Existenz in Darmstadt zerstören konnte. Dagegen entsprachen die wissenschaftlichen Leistungen Georgs genau seiner Lebensstrategie und wurden entsprechend gewürdigt.94 Ebenfalls im Jahre 1900 veröffentlichte Alexander Büchner seine Erinnerungen,95 in denen er auch, allerdings nur sehr kurz, auf seine Geschwister zu sprechen kommt. Er betrachtet sie dort in der Rückschau und aus der Perspektive des letzten noch lebenden Teils dieser Geschwister. In dieser völlig unspektakulären und von der Wehmut des Alters geprägten Darstellung versucht Alexander Büchner den Charakter seiner Geschwister auf den Punkt zu bringen. Keine »Funken des Prometheus« und auch kein »gottbegnadete[r] Strahl des Genius« werden mit den Geschwistern in Verbindung gebracht; statt dessen ist die Rede von der »intuitive[n] Luise«, vom »fidele[n]« und »freigiebige[n]« Wil-

|| 90 Ebd., S. V. 91 Ebd., S. VII. 92 Ebd., S. VIII. 93 Ebd. 94 Siehe dazu den Brief des Vaters an Georg vom 18. Dezember 1836. MBA 10.1, S. 112ff. 95 Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr. Vor während und nach. Von einem der nicht mehr toll ist. Gießen 1900.

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helm, von der »edle[n] aufopfernde[n] Matilde«. Nur Georg erhält ein göttliches Attribut und wird als »apolloartige[r] Denker und Dichter« bezeichnet. Allerdings verschweigt Alexander nicht, dass er sich an ihn »nur noch aus dem Dunkel meiner frühsten Kindheit erinnere«.96 Ludwig dagegen, der bisher die Familienerinnerung organisiert hatte, ist der einzige, der nicht beim Namen genannt wird97 und der eine höchst ambivalente Würdigung erhält: Auf der einen Seite mit »weiche[m] Gemüt«, auf der anderen Seite »spekulativ« und »ideologisch«. Gerade Ludwig, der wie kein anderer der Büchners das Christentum und die Vorstellung vom Wunder bekämpfte, wird als eine Persönlichkeit geschildert, in der »christliche Menschenliebe und spröde Hinnahme der nacktesten Thatsachen so wunderlich zusammenflossen«.98

11 Während die Bemühungen vor allem Wilhelm Liebknechts, Georg Büchner in der Sozialdemokratie zu verankern, vergleichsweise erfolglos blieben,99 setzte nach der 1880 von Karl Emil Franzos herausgegebenen zweiten Gesamtausgabe eine weitgehend unabhängige Rezeption der Werke Georg Büchners ein, für die vor allem Gerhard Hauptmann Impulse lieferte.100 Zwischen 1895 und 1912 wurden alle Bühnenwerke Büchners uraufgeführt.101 Spätestens als 1923 von der Regierung des Volksstaates Hessen erstmals ein Büchner-Preis ausgelobt wurde, hatte Georg Büchner im Bekanntheitsgrad den zumindest im 19. Jahrhundert dominierenden Ludwig Büchner verdrängt. Die Familie Büchner stand nun nicht mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit und wurde weitgehend vergessen.

|| 96 Ebd., S. 373f. 97 Wenn es um Ludwig geht, heißt es: »[...] und schließlich der ›Kraft und Stoff‹ [...]«. (Ebd., S. 374.) 98 Ebd. 99 Siehe dazu: Die Neue Welt. Leipzig, 1. Jg., Heft 2 bis 5, 7 und 8, Januar und Februar 1876, S. 11−14, 19−21, 27−29, 37−39, 55−58, 63−67; außerdem: Dedner: Einleitungen, S. 71ff.; Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe herausgegeben von Gerhard Schaub, Stuttgart 1996, S. 131ff. 100 Siehe dazu: Ariane Martin: Die kranke Jugend. J. M. R. Lenz und Goethes »Werther« in der Rezeption des Sturm und Drang bis zum Naturalismus. Würzburg 2002, S. 530–536. – Allerdings war diese gestiegene Aufmerksamkeit für das Werk lange Zeit keineswegs mit einem Zugewinn an Wissen über Büchners Leben und Wirken verbunden. Erst mit Fritz Bergemann (1922), so Dedner, habe wieder eine quellenorientierte Editionsarbeit stattgefunden. Siehe dazu: Dedner: Einleitungen, S. 45f. 101 Leonce und Lena 1895, Dantons Tod 1902, Woyzeck 1912.

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Das hat sich, darauf wurde einleitend schon hingewiesen, inzwischen wieder etwas verändert, wenngleich Büchnerland ein vorwiegend südhessisches Phänomen ist. Vor einigen Jahren erschien unter dem Titel Die Büchners oder der Wunsch, die Welt zu verändern,102 ein Buch, in dem die Autoren von der These ausgehen, dass es sich bei dem Wirken der Geschwister Büchner »um eine je individuelle, aber ungemein produktive Trauerarbeit«103 im Anschluss an den frühen Tod Georgs gehandelt habe. Damit setzten sie die Tradition der vor allem von Ludwig Büchner bestimmten Familienporträts fort. Dass eine Familie ihrer verstorbenen Mitglieder gedenkt, ist durchaus nicht außergewöhnlich. In welchem Umfang der frühe Tod Georgs die weiteren Lebenswege seiner Geschwister bestimmt hat, ist eine schwierig, vielleicht definitiv gar nicht zu beantwortende Frage. Es wäre aber falsch, Leben und Wirken der Geschwister in der Hauptsache vor diesem Hintergrund zu betrachten. Die Geschwister haben auf die Probleme ihrer Zeit deutlich andere Antworten gefunden als ihr ältester Bruder Georg. Während aber die Antworten der Geschwister heute kaum noch Aktualität besitzen, weil sie entweder überlebt oder aber weitgehend verwirklicht sind, ist das bei den Antworten Georg Büchners anders: Sein Werk wirkt sowohl in ästhetischer als auch in politischer Hinsicht nach wie vor als Provokation.

|| 102 Heiner Boehncke, Peter Brunner, Hans Sarkowicz: Die Büchners oder der Wunsch, die Welt zu verändern. Frankfurt 2008. 103 Ebd., S. 151f.

Martina Lauster und David Horrocks (Exeter)1

Büchner und Gutzkow: Affinitäten auf den zweiten Blick Beim ersten Blick auf das Verhältnis zwischen Georg Büchner und Karl Gutzkow springen die Differenzen ins Auge: der frühkommunistische Materialismus des Sozialrevolutionärs und Naturwissenschaftlers gegen den bildungsbürgerlichen Idealismus des Berufsschriftstellers. Büchner macht diesen Gegensatz in seinem oft zitierten Brief an Gutzkow vom Juni 1836 explizit: Übrigens; um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde scheinen mir nicht grade den klügsten Weg gegangen zu sein. Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell [...]. (P II, S. 440)2

Die Büchner-Forschung stand lange im Bann dieser Kritik, die sich zu einem Vorurteil gegen die jungdeutschen Schriftsteller und ihren Wortführer Gutzkow verfestigt hatte. Damit trübte sich der Blick auf eine der wichtigsten literarischen Beziehungen des Vormärz: die Büchners zu seinem nur zwei Jahre älteren Förderer. Ohne dessen ständige Ermunterung wäre die Erzählung Lenz vielleicht nie entstanden, denn sie wurde für Gutzkows und Wienbargs unterdrückte Deutsche Revue verfasst. Gutzkow, der sich der literaturgeschichtlichen Bedeutung Büchners wie kein anderer Zeitgenosse bewusst war,3 hat nicht nur eine beträchtliche Anzahl von Briefen Büchners an ihn, sondern auch Büchners literarisches Werk, mit Ausnahme des Woyzeck, in seinen Zeitschriften veröffentlicht. Seine Gewissenhaftigkeit als Herausgeber und als Chronist der eigenen Literaturepoche lässt sich z. B. daran erkennen, dass wir unsere Kenntnis von Büchners soeben zitierten kritischen Worten niemand anderem verdanken

|| 1 Dieser Beitrag fußt auf dem Entwurf eines Vortrags, den mein im Februar 2011 verstorbener Mann David Horrocks für die Tagung Gutzkow und seine Zeitgenossen / Gutzkow and His Contemporaries (University of Exeter, September 2010) konzipierte, aber nicht mehr ausarbeiten konnte (M. L.). 2 Ich zitiere Büchner nach der Ausgabe von Henri Poschmann (Sigle: P). 3 Dies bezeugt u. a. seine Rezension von Danton’s Tod. Auf der Grundlage dieses Dramas beurteilt Gutzkow Büchner bereits 1835 als modernen Klassiker: »Es ist Alles ganz, fertig, abgerundet. Staub und Schutt, das Atelier des Geistes sieht man nicht. Ich wüßte nicht, worin anders das Kennzeichen eines literarischen Genies besteht. Als ein solches muß man Georg Büchner mit seiner Ideenfülle, […] mit seinem Witz und Humor begrüßen.« ([Karl Gutzkow]: Danton’s Tod, von Georg Büchner. In: Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland. Frankfurt a. M. Literatur-Blatt, Nr. 27 (11. Juli 1835), S. 645f., hier S. 646).

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als Gutzkow selbst, der sie in seinem − durch umfangreiche Briefauszüge bereicherten − Nachruf auf Büchner veröffentlichte.4 Bedeutende, vorurteilslose Aufhellung tut dem Verhältnis zwischen ihm und Büchner not, und wichtige Schritte in diese Richtung sind durch Henri Poschmann,5 Takanori Teraoka6 und Ariane Martin7 bereits getan. Daran anknüpfend, soll das Verbindende betrachtet werden, das die beiden Autoren, die einander nie persönlich begegneten, in einer Freundschaft »aus der Ferne«,8 wie Gutzkow es im Nachruf auf Büchner formuliert, zusammenhielt. Dabei wird ihre allmähliche Selbständigkeit als literarisch Schreibende in einer vom Primat der Politik geprägten jungen Generation berücksichtigt – eine Ergänzung der Studie Michael Otts zur »Autorschaft« Büchners, deren innovative, Politik, Literatur und Wissenschaft umspannende Konturen sich gerade im Dialog mit Gutzkow herausbilden.9

|| 4 Gutzkows Nachruf erschien zuerst im Juni 1837, unter dem Titel Ein Kind der neuen Zeit, in dem von ihm selbst redigierten Frankfurter Telegraph. Dabei fielen der Zensur die explizitesten Stellen aus Büchners darin abgedruckten Briefen an Gutzkow zum Opfer, einschließlich der Kritik an der Ideenpolitik der Jungdeutschen. Die vollständige Fassung des Nachrufs konnte erst 1838 innerhalb der Essaysammlung Götter, Helden, Don-Quixote erscheinen. Gutzkow nahm den Nachruf, nun schlicht mit Georg Büchner betitelt, in den Teil Götter auf. Mit einer Ausnahme bildet diese Fassung die Textgrundlage aller überlieferten Briefe Büchners an Gutzkow. 5 Henri Poschmann: Am Scheidepunkt der Vormärzliteratur. Büchner und Gutzkow − eine verhinderte Begegnung. In: Aufbruch in die Bürgerwelt. Lebensbilder aus Vormärz und Biedermeier. Hrsg. v. Helmut Bock u. Renate Plöse. Münster 1994, S. 234−246. 6 Takanori Teraoka: Skepsis und Revolte als Grundzug von Nero und Danton’s Tod. Zur thematisch-motivischen Affinität der Dramen Gutzkows und Büchners. In: GBJb 9 (1995−99), S. 155−172. Ders.: Spuren der Götterdemokratie. Georg Büchners Revolutionsdrama Danton’s Tod im Umfeld von Heines Sensualismus. Bielefeld 2006, bes. S. 81−84, 146−167 u. 189−204. 7 Ariane Martin: Im Dialog mit dem Jungen Deutschland: Büchners Briefe an Gutzkow. In: GBJb 12 (2009−2012), S. 165−177. Siehe auch Martins Publikationen, die wegen ihres späteren Erscheinungsdatums für diesen Beitrag nicht mehr berücksichtigt werden konnten: »Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben«. Karl Gutzkow und ein Topos der BüchnerRezeption. In: Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell. Hrsg. v. Ralf Beil u. Burghard Dedner. Ostfildern 2013, S. 543–555. Dies. (Hrsg.): Georg Büchner 1835 bis 1845. Dokumente zur frühen Wirkungsgeschichte. Bielefeld 2014. 8 K.[arl] G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit. In: Frankfurter Telegraph. (Neue Folge.) Frankfurt a. M., Nr. 42, [12.] Juni 1837, S. 329−332, hier S. 329. 9 Vgl. Michael Ott: »... aufs Parquet.« Georg Büchner und die Autorschaft im 19. Jahrhundert. In: Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Ariane Martin u. Isabelle Stauffer. Bielefeld 2012, S. 143−163.

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1 Politik und Literatur Einige Vorbemerkungen zur Politisierung der beiden Autoren lohnen sich, um Ähnlichkeiten aufzuzeigen, selbst wenn hier Bekanntes präsentiert wird: Was für den Hessen Büchner die prägenden Erfahrungen als Student in Straßburg darstellen, sind für den Preußen Gutzkow seine Lehrjahre als Publizist im konstitutionellen Süden Deutschlands. Zeitlich parallel zueinander, von 1831 bis 1833, erhalten sie ihre politische Schulung im − jeweils von ihrer Heimat aus gesehen – ›fortschrittlicheren‹ Westen. Die Orientierung an Frankreich ist für beide entscheidend; nach Gutzkows Ansicht stellt in den deutschen Staaten der südwestdeutsche Konstitutionalismus die größtmögliche, wenn auch völlig unzureichende Annäherung an das französische Vorbild dar. Während bei ihm das Element der staatsbürgerlichen liberté entschieden den Vorrang hat, gilt Büchners ganze Sympathie jedoch der sozialen égalité. Zurückgekehrt in den beamten- und polizeistaatlichen Absolutismus Berlins bzw. den gegängelten Liberalismus eines großherzoglichen Kleinstaats mit ländlichem Pauperismus, verfallen beide in tiefe Depression. Für Gutzkow bietet die preußische Hauptstadt keine Aussicht auf eine Laufbahn, die mit seinen politischen Erfahrungen und journalistischen Ambitionen vereinbar wäre. Er arbeitet noch eine Zeitlang weiter als Adjutant des Stuttgarter Kritikers Wolfgang Menzel, zieht ruhelos umher und kehrt 1834 seiner Heimatstadt auf lange Zeit den Rücken. Für Büchner gibt es aus dem persönlich-politischen Tief des Gießener Studiums zunächst nur den Weg in den Untergrund, d. h. zur Gründung der »Gesellschaft der Menschenrechte« und der Landboten-Aktion. Als dieses Unternehmen bedrohlich wird, muss er − mit Leonces Worten − die »Flucht i n das Paradies« (P I, S. 127) nach Straßburg und zur Verlobten antreten. Für Gutzkow steht eine Rettung nach Frankreich mehrmals am Horizont; das letzte Mal nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Frühjahr 1836, als Büchner ihm diesen Schritt dringend nahelegt. Gutzkow vermutet von Büchner, dass eine Verwicklung in den Frankfurter Wachensturm ihn zur Flucht getrieben habe. Er selbst ist eines solchen Engagements verdächtigt worden, steht er doch dem badischen Republikanismus nah und hat 1832 in Carl v. Rottecks Allgemeinen Politischen Annalen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch in dessen Freiburger Zeitschrift Der Freisinnige publiziert. Bei seinem Umzug von Heidelberg nach München im April 1833 muss er seine Nichtbeteiligung am Wachensturm nachweisen. Tatsächlich hat er als ein zur ›Tat‹ drängender homo politicus für den verzweifelten Aktionismus dieser Art vollste Sympathie. Anfang Januar 1835 schreibt er − offensichtlich mit Bezug auf die Opfer des Wachensturms − an den Stuttgarter Verleger Liesching:

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[W]ir sollten nicht immer sagen, daß die armen Tirailleurs, welche nicht soviel Einsicht haben, wie wir, und in’s Feuer liefen, um sich unreif todtschießen oder arretiren zu lassen, dumme Teufel gewesen sind, u daß wir die Zeit ganz anders ansehen − dies peinigt.10

Diese Worte klingen wie ein Echo derjenigen Büchners, der im April 1833 auf die Nachricht von den Frankfurter Ereignissen an seine Eltern geschrieben hat, er teile zwar »nicht die Verblendung Derer [...], welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen«, halte aber ebenfalls die Anwendung revolutionärer »Gewalt« für das einzige Mittel, um gegen die gesetzlich sanktionierte Unterdrückung vorzugehen. Er bedaure die Wachenstürmer, unter denen er zu Recht eigene Freunde vermutet, »von Herzen«, da sie den Moment falsch gewählt und für ihren »Irrtum« einen hohen Preis gezahlt hätten. Er betrachte »im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung« (P II, S. 367). Büchner und Gefährten unternehmen in Hessen dann allerdings einen weiteren, ebenfalls erfolglosen revolutionären Versuch, indem sie zur indirekteren Waffe der Propaganda greifen − wohlgemerkt auch dies ein Bestreben, mittels der Macht des gedruckten Wortes politisch zu handeln. Zur Zeit ihrer Kontaktaufnahme im Februar 1835 sehen weder Gutzkow noch Büchner realistische Chancen für eine Revolution der Verhältnisse im Deutschen Bund. Gutzkow hat die ›Rechnung seines Lebens‹ schon seit längerem auf die mühsame Kleinarbeit des literarischen »Schmuggelhandel[s] der Freiheit« abgestellt, wie er im März 1835 an Büchner schreibt (P II, S. 398). Der Begriff des ›Ideenschmuggels‹ muss präzisiert werden. 1835 sieht Gutzkow nämlich in der Literatur weit mehr als ein Vehikel politischer Ideen, obwohl die Formulierung »Wein verhüllt in Novellenstroh« (ebd.) nahelegt, dass er die Literatur instrumentalisiert. Er ist jedoch von dem Einfluss des Goethe-Gegners Menzel abgekommen und schätzt das Sinnlich-Ästhetische. An Liesching schreibt er Anfang Januar 1835: [I]ch glaube, dß die Schriftsteller die Zeit nicht zusammenfassen u über sie räsonniren sollen, sondern sie vereinzeln u ihre Eindrücke, als unvergänglich in die Kunst übertragen. [...] Kann die Literatur nicht h a n d e l n; dann soll sie, um doch etwas P o s i t i v e s zu schaffen, die Fragen der Kunst aufnehmen u sie mit der Zeit versöhnen.11

|| 10 Gutzkow an Samuel Gottlieb Liesching. [Poststempel: Frankfurt 6. Jan. 1835.] In: H. H. Houben: Jungdeutscher Sturm und Drang. Ergebnisse und Studien. Leipzig: Brockhaus, 1911, S. 28f., hier S. 29. 11 Gutzkow an Liesching (s. Anm. 10), S. 29.

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Bei aller Betonung des Zeitbezugs der Literatur greift Gutzkow hier also auf das überzeitliche Kunstverständnis der Klassik und der Romantik zurück. Abzusehen ist, dass er mit seinem Literaturblatt zum Phönix ab Januar 1835 eine von Menzel entschieden unabhängige literaturpolitische Position beziehen wird. Entsprechend nimmt seine eigene literarische Produktion 1835 eine Wendung zum ›Poetischen‹, zur »Seelenstimmung«,12 deren Resultate sich im Drama Nero und im Roman Wally, die Zweiflerin zeigen. Explizit und öffentlich sagt sich Gutzkow am 7. Januar 1835 vom Primat der Kritik und damit von politischer Kriegführung in der Literatur los. Der programmatische Artikel, den er in der ersten Nummer des Phönix-Literaturblatts veröffentlicht, stellt im Gegenzug zu einer Distanzierung von der Kritik sein ›positives‹ Literaturkonzept vor. Die publizistische Folge der Julirevolution in Deutschland sei gewesen, dass die Kritik die ohnehin kraftlos gewordene schöne Literatur der Restaurationszeit bis zur völligen Vernichtung geschlagen habe: Behangen mit den Schädelguirlanden der Erschlagenen, nahm sie [die Kritik] von dem verödeten Felde der Literatur Besitz. Die Kritik wurde eine Integration der Literatur, bekleidete sich mit dem Scheine der Position, die Kritik wollte das ersetzen, was sie weggeräumt hatte.13

Der von dem (hier allerdings nicht genannten) Publizisten Menzel angeführte Feldzug gegen alles bestehende Literarische habe zu einer »Literatur der Negation« geführt, die »Alles auflöst in Reflexion«. Fazit dieser Analyse ist Gutzkows kategorische Aussage: »[D]ie kritische Periode ist vorüber«. Und weiter: »Unsre junge Generation hat die Aufgabe, positiv zu verfahren, selbst zu schaffen«. Aus der Literatur der Negation seit 1830 − die durch das, was sie verneinte, ja letztlich immer noch fremdbestimmt war − werde, so sagt er voraus, eine Literatur der selbstbestimmten ästhetischen Position entstehen, für die es bald »Beweise« geben werde. Dieser neuen Literatur könne die Kritik nur noch den »Weg bahnen«, sie werde sie nicht beherrschen. Die Denkfigur des Umschlagens von

|| 12 Vgl. Gutzkows Schrift Appellation an den gesunden Menschenverstand. Letztes Wort in einer literarischen Streitfrage [1835], in der er das Literarische der Wally gegen die Anklage auf Unsittlichkeit und Irreligiosität verteidigt. In: Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Roman. Studienausgabe mit Dokumenten zum zeitgenössischen Literaturstreit. Hrsg. v. Günter Heintz. Stuttgart 1979, S. 148−162, hier S. 149. 13 Karl Gutzkow: [Programmatisches Vorwort]. In: Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland. Frankfurt a. M. Literatur-Blatt, Nr. 1 (7. Januar 1835), S. 21−24, hier S. 22.

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Negation in Position, von Heteronomie in Autonomie, durchzieht Gutzkows außerordentlich positive Einschätzung Büchners. Während Gutzkow in Frankfurt das Phönix-Literaturblatt so zum Organ einer neu bestimmten Kritik macht, schließt Büchner im nahen Darmstadt sein in kurzer Zeit verfasstes Drama Danton’s Tod ab. Er ›schafft‹ also genau in diesem Augenblick ›positiv‹, ohne je den Weg über die Kritik gegangen zu sein. Büchners Übergang vom politisch motivierten Schreiben des Hessischen Landboten zum primär literarisch motivierten Schaffen vollzieht sich parallel zu Gutzkows Abkehr vom Primat der Kritik, jedoch zeitlich viel gedrängter. Dass Büchner sich von einer literarischen Publikation die Mittel zur Flucht erhofft, scheint kein zureichendes Motiv des Schreibens, zumal er aus Darmstadt abreist, bevor das magere Honorar ihn überhaupt erreicht. Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich jedenfalls annehmen, dass Büchner Gutzkows programmatische Erklärung im Phönix kennt, denn er schickt ihm das Manuskript von Danton’s Tod mit der Bitte, es zum Druck zu empfehlen, und setzt hervorgehoben hinzu, »im Fall Ihnen Ihr Gewissen als Kritiker dies erlauben sollte« (P II, S. 392). Büchner scheint zu ahnen, dass ihm mit seinem Drama ein Wurf gelungen ist, der den Hoffnungen des Kritikers voll entspricht. Gutzkow bezieht sich im Brief an Büchner vom 3. März 1835 denn auch auf seine »Prophezeiung« einer neuen Literatur und sieht die Tatsache, dass in Büchner ein ›verstecktes Genie‹ herangereift sei, als ›Beleg‹. Ihm liegt alles daran, den offensichtlich zur Flucht Bereiten in der Nähe zu halten, damit er weiterhin zum Gedeihen der deutschen Literatur beitragen könne. Unermüdlich fordert Gutzkow Büchner zu weiterem Schaffen auf; wenn nicht als neuartiger, ausschließlich vom Schreiben lebender Berufsschriftsteller wie er selbst,14 dann zumindest als regelmäßiger Beiträger zu seinen Zeitschriften. Dabei legt er nicht ausschließlich Wert auf Belletristisches, sondern erbittet − dem publizistisch erweiterten Literaturverständnis entsprechend, das er vehement vertritt und das sich an der westeuropäischen Sphäre der letters bzw. lettres orientiert15 − ›Spekulatives, Poetisches, Kritisches‹ (vgl. P II, S. 415). Die Korrespondenz der beiden erstreckt sich mit Unterbrechungen über anderthalb Jahre; in Büchners Briefwechsel ist dies der einzige mit einem Schriftstellerkol-

|| 14 Vgl. Poschmann: Am Scheidepunkt der Vormärzliteratur (s. Anm. 5), S. 236; Ott: »... aufs Parquet.« (Siehe Anm. 9), S. 150−156. 15 Zu Gutzkows Vorbild der englischen letters vgl.: Nachwort. In: Karl Gutzkow: Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Hrsg. v. Martina Lauster. Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe. Hrsg. v. Editionsprojekt Karl Gutzkow. Münster 2010, S. 661−700, hier S. 670−671 u. 690−693.

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legen. Dass Büchner nach seiner Kritik an Gutzkow und dem Jungen Deutschland vom Juni 1836 vermutlich nicht wieder an Gutzkow geschrieben hat, ist Anlass zu Spekulationen über einen Abbruch der Beziehung von seiner Seite gewesen. Dem steht eine neue Untersuchung Ariane Martins entgegen: Der Austausch zwischen den Briefpartnern, so befindet sie, zeichne sich durch seinen Dialogcharakter aus und mache ihn unter den Korrespondenzen Büchners zu dem einzigen ›Briefwechsel‹ im emphatischen Sinn.16 Martin vertritt die sehr überzeugende These, dass Büchner Gutzkows Schrift Appellation an den gesunden Menschenverstand, also eine seiner Selbstverteidigungsäußerungen im Wally-Konflikt, gelesen haben muss und daraufhin sein bereits mehrfach erwähntes Verdikt über das schriftstellerische Programm formuliert, das auf gesellschaftliche Änderung durch Ideenzirkulation hinarbeitet. Es verbietet sich somit, diese Kritik als ein letztes Wort zu lesen, nach dem Büchner sich möglicherweise von Gutzkow abkehrt. Büchners Kritik ist vielmehr in ein Zwiegespräch eingebettet, das die Korrespondenzpausen überdauert und dem erst sein Tod ein Ende setzt. Als haltlos erweist es sich also auch, von einem ›Aneinander-Vorbeireden‹ Gutzkows und Büchners zu sprechen, von einer Kluft zwischen unvereinbaren Gegensätzen, aufgrund derer die beiden sich letztlich nichts mehr zu sagen gehabt hätten.17 Im Gegenteil: Büchner hat Gutzkow in seinem vermutlich letzten Brief »Ferkeldramen« in Aussicht gestellt,18 die er, so Poschmanns Vermutung, offenbar zum Kampf gegen Menzel »noch beisteuern könnte«.19 Dies wäre eine praktische Konsequenz der Solidarität gegen Menzel, die Büchner in demselben Brief erklärt, eine bemerkenswerte literaturpolitische Unterstützung Gutzkows nach dem Bundestagsbeschluss vom 10. Dezember 1835 und der zusätzlichen Gefängnisstrafe, als der Autor der Wally sich von vielen ehemaligen Gesinnungsgenossen verlassen sieht.

|| 16 Vgl. Martin: Im Dialog mit dem Jungen Deutschland (s. Anm. 7), S. 166. 17 Vgl. Thomas Michael Mayer: »Wegen mir könnt Ihr ganz ruhig sein...«. Die Argumentationslist in Georg Büchners Briefen an die Eltern. In: GBJb 2 (1982), S. 249−280, hier S. 262. 18 Die Stelle, an der Büchner offenbar im Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836 »Ferkeldramen« erwähnt, ist nicht überliefert, aber Gutzkow bezieht sich in seiner Antwort vom 10. Juni auf diesen Ausdruck: »Von Ihren ›Ferkeldramen‹ erwarte ich mehr als Ferkelhaftes.« (P II, S. 441). 19 Stellenerläuterung in P II, S. 1201. Hier (S. 1202) auch der Hinweis, dass es sich nicht klären lässt, ob mit den »Ferkeldramen« der nie gefundene Pietro Aretino, Woyzeck oder noch ungeschriebene Werke gemeint sein könnten.

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2 Sensualismus Das Stichwort »Ferkeldramen« spricht den Komplex der ›Emanzipation des Fleisches‹ an. Die Vorstellung von einer ›positiven‹ Literatur ist eingebunden in die politisch-ästhetische Strömung des Sensualismus, wie sie von Heine gegen Börne angeführt wurde, und Gutzkow stellt sich in seiner kritischen Mission 1835 ja auch auf die Seite Heines, ohne Börne auszugrenzen. Takanori Teraokas Arbeiten ist es zu verdanken, dass Beziehungen zwischen Danton’s Tod und Gutzkows Nero bzw. Wally sichtbar geworden sind, und zwar auf dem Hintergrund von Heines Kulturtypologie. Demnach fußt Büchners Konzeption von Danton und seinen Anhängern in der Konfrontation mit Robespierre und den Jakobinern auf Heines Dichotomie von Sensualismus und Spiritualismus, und die Zusätze aus Heines soeben erschienenem Salon II, die Büchner in der letzten Bearbeitungsstufe des Danton noch macht, zeigen, wie bedeutungsvoll Heines zum ersten Mal deutlich formulierte »sozialutopische« Dimension des Sensualismus für Büchners Porträt der Dantonisten ist.20 Als Büchners Manuskript am 21. Februar 1835 bei Gutzkow eintrifft, ist dieser wiederum mit der Ausarbeitung seines ersten vollständigen Dramas Nero beschäftigt, das seinerseits unverkennbare Einflüsse von Heines Sensualismus-Idee aufweist. Und ironischerweise scheint dem mit seinem Stoff ringenden Gutzkow die Ankunft des Danton einen entscheidenden kreativen Stoß zu versetzen: Der um Hilfe ersuchte versierte Literaturkritiker erhält als ›positiv Schaffender‹ selber Hilfe durch den Anfänger Büchner. Teraoka hat aufgezeigt, dass Gutzkows Drama möglicherweise durch Büchners Einfluss eine Perspektivenverschiebung erfährt: von dem Tyrannenfeind Julius Vindex, dem ursprünglichen Helden mit dem sprechenden Namen (›Rächer‹), auf den von ihm bekämpften grausamen Sinnenmenschen Nero, der dem Stück schließlich den Titel gibt. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Akzentverlagerung auf die Wirkung von Büchners profunder sensualistischer »Skepsis« zurückzuführen sei.21 Der Sensualismus, mit dem beide

|| 20 Vgl. Teraoka: Spuren der Götterdemokratie (s. Anm. 6), S. 178f. 21 Vgl. ebd., bes. S. 169f. Spuren von Danton’s Tod lassen sich nicht nur in Gutzkows Nero finden, sondern − bisher unentdeckt − auch in seinem 1835 als Dramatische Umrisse veröffentlichten Lesestück Hamlet in Wittenberg. Hier erprobt er im Gegensatz zu dem Versdrama Nero die Prosaform, vermutlich inspiriert durch Büchner, sowie insgesamt die Kunst der Kontrastierung im Rückgriff auf die gemeinsamen Vorbilder Shakespeare und Goethe. Der ideellliterarischen Sphäre, der Hamlet und der ebenfalls im Stück auftretende Faust entspringen, wird die des Materiell-Körperlichen entgegengesetzt. Deutlich scheint Büchners Einfluss besonders an Stellen wie folgender: »EINER. Es war die höchste Zeit: nämlich für Deinen ziemlich abgeriebenen Sammtkittel, Hamlet! ANDERER. Was schaden Löcher! Aber leider sah man durch

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Autoren wegen seiner gottesfeindlichen und lebensbejahenden Stoßrichtung sympathisieren, ist ja nicht per se ein Gegner von Gewalt und Unterdrückung, wie am Lebensstil der Dantonisten und erst recht an den mörderischen Ausschweifungen Neros gezeigt wird. Jedenfalls liefert das Thema transgressiver Sinnlichkeit Büchner sowie Gutzkow ein reizvolles neues Gebiet für das Drama, und Gutzkow entdeckt in Büchner einen kongenialen Geist. Niemals sonst ist seine Reaktion auf die kreative Leistung eines Kollegen so enthusiastisch; niemals sonst ändern sich seine brieflichen Anreden unvermittelt von »Verehrtester!« zu »Liebster!«, um sich schließlich (wohl beiderseits) bei »Mein Lieber!« oder »Mein lieber Freund!« einzuspielen. Die berüchtigte Vorzensur, die Gutzkow an Büchners Stück übt, indem er ihm »die Veneria heraus[treibt]«, kommt, wie er selbst an Büchner schreibt, einer ›Kastration‹ gleich (vgl. P II, S. 394f.). Was weggeschnitten wird – Gutzkow beschreibt dies später −, sind keine Akzidentien, sondern »der beste, nämlich der individuellste, der eigenthümlichste Theil des Ganzen«.22 Wie Teraoka bemerkt, schätzt Gutzkow »die ›pansexuelle‹ Welt« von Danton’s Tod »trotz und gerade wegen der Übertretung des sprachlichen und moralischen Kodex positiv« ein.23 Kein Wunder also, dass er die sensiblen Stellen nicht dem Zensor überlässt, sondern sie lieber selbst behandelt, als das von ihm vorgeschlagene Treffen mit Büchner, bei dem die »Quecksilberblumen« gemeinsam gestrichen oder geändert werden sollen, nicht zustande kommt. Die Entfernung von »Veneria«, also Symptomen von Geschlechtskrankheit, hat der an Syphilis leidende Gutzkow erst im Vorjahr über sich ergehen lassen müssen. Metonymisch wird nun Büchners Drama diese Prozedur erleiden, und Gutzkow spielt widerwillig den Doktor. Dabei soll kein »Metall«, also das damals gebräuchliche Quecksilber bzw. die Zensorschere, angewandt werden, sondern Gutzkow will die venerischen Blüten schonend, sozusagen homöopathisch mittels »Vegetabilien und etwas sentimentale[n] Tisane[n]« beseitigen (P II, S. 395). Damit deutet er an, dass so oft wie möglich von verwässernden Paraphrasen statt Streichungen Gebrauch gemacht werden sollte, um viele erotische Anspielungen wenigstens abgeschwächt zu erhalten. Die augenzwinkernd-witzige Verständigung von || sie durch, wie der Kronprinz von Dänemark kein andres Hemde mehr anzuziehen hatte, als seine eigene Haut.« (Karl Gutzkow: Dramatische Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Anne Friedrich u. Susanne Schütz. Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe. Hrsg. v. Editionsprojekt Karl Gutzkow. Münster 2009, S. 25). 22 G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit. In: Frankfurter Telegraph (s. Anm. 8), Nr. 43, [14.] Juni 1837, S. 337−340, hier S. 338. 23 Teraoka: Spuren der Götterdemokratie (s. Anm. 6), S. 163. Zu Gutzkows Eingriffen vgl. S. 158−167.

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zwei jungen Intellektuellen in Dingen des Sensualismus ist deutlich. Ihre Briefe schöpfen aus derselben subversiven Gedanken- und Metaphernwelt wie ihre literarischen Kreationen. Hier wäre z. B. der Brief Büchners an Gutzkow zu nennen, in dem die blasphemische Äußerung Marions von der Unterschiedslosigkeit des Genießens und des Betens weitergesponnen wird: Der Briefschreiber werde seinen zukünftigen Unterhalt eventuell bei den Jesuiten durch den »Dienst der Maria« oder bei den Saint-Simonisten »für die femme libre« verdienen, anderenfalls mit seiner »Geliebten« sterben (P II, S. 397). Dass Büchner auf Gutzkows Eingriffe in den Text seines Dramas, die das von ihm erwartete Maß überschritten, verärgert reagierte, leuchtet gerade auf dem Hintergrund seiner einvernehmlichen Verständigung mit Gutzkow ein. Um auf das Stichwort der ›femme libre‹ zurückzukommen: Besonders an weiblichen Figuren in Danton und Nero zeigt sich das Doppelgesicht des Sensualismus: genießende Sinnlichkeit einerseits, Grausamkeit andererseits. Marion wird durch ihr ausgelebtes sexuelles Begehren schuldig am Tod eines Geliebten und ihrer Mutter. Die schwangere Poppäa, überkommen vom Gefühl der Einheit von Schmerz und Lust, will die »Wollust der Vernichtung [...] erproben« und erdrosselt ihren Papagei,24 bevor sie selbst von Nero in einem Anflug desselben Affekts erdolcht wird. Weibliche sexuelle Befreiung kann im zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext nur in Form einer ›Prostituierung‹ dargestellt werden. Marion folgt ihrem natürlichen Verlangen, wird dadurch aber unweigerlich zur Prostituierten im Palais Royal. Poppäa, die Frau Neros, muss sich von ihrem Jugendgeliebten Julius Vindex die Bezeichnung »Dirne« gefallen lassen, als sie ihr freies erotisches Credo gibt. Die Liebe werde für Frau und Mann nur unter der Bedingung zum Genuss, dass die Frau nicht sexuell unerfahren in die Beziehung geht: Glaube mir, daß Liebe erst Dann glücklich macht, wenn sie in fremden Armen Den Grad erprobt, zu welchem sie erwarmen, An fremder Lipp’ erlernt den Kuß, Wie er nach Regel gefügt seyn muß!25

Hier spricht Poppäa genau das aus, was Gutzkow in seiner Vorrede zu Schleiermachers Vertrauten Briefen über die Lucinde postuliert, der Publikation, die im Frühjahr 1835 den Auftakt zu dem folgenreichen Wally-Skandal bildet. Gutzkow

|| 24 Karl Gutzkow: Nero. Tragödie. In: Dramatische Werke. Bd. 1 (s. Anm. 21), S. 43−175, hier S. 148. 25 Gutzkow: Nero (s. Anm. 24), S. 67.

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behandelt den Umgang der Geschlechter in der Liebe als eine »soziale Frage unsres Jahrhunderts«.26 Er greift die gesellschaftlich sanktionierte weibliche »Prüderie« an, um den Frauen zu erotischer und letztlich intellektueller Gleichrangigkeit mit den Männern zu verhelfen. Daher attackiert er sowohl die pietistische Moral als auch die kirchlich institutionalisierte Ehe: »Der einzige Priester, der die Herzen traue, sey ein entzückender Augenblick, nicht die Kirche mit ihrer Ceremonie [...]!«27 Den polemischen Höhepunkt der Vorrede bildet der Schluss, in dem der Verfasser seiner eigenen, im pietistischen Elternhaus befangenen Berliner Verlobten Rosalie Scheidemantel einen gemeinsamen Sohn erfindet. Das Kind hat man hinter dem Rücken seines Vaters zur Taufe getragen, worauf dieser ausruft: Komm, Du holder Junge, den sie mir heimlich getauft haben! Sprich: Wer ist Gott? Du weißt es nicht: unschuldiger Atheist! philosophisches Kind! Ach! hätte auch die Welt nie von Gott gewußt, sie würde glücklicher seyn!28

Diese Vorrede ist, wie auch Gutzkows Neupublikation von Schleiermachers Lucinden-Briefen, intendiert als »Rakete«, abgeworfen »in die erstickende Luft der protestantischen [im Klartext: preußischen, M. L.] Theologie«.29 Hier tut sich nun die Schere zwischen Gutzkow und Büchner auf. Als »soziale Frage« erkennt Letzterer ausschließlich das materielle Elend an. In dem Brief an Gutzkow, in dem er »das Verhältnis zwischen Armen und Reichen« als »das einzige revolutionäre Element in der Welt« bezeichnet (P II, S. 400),30 macht er seine materialistische Sicht wie kaum sonst in seiner Korrespondenz klar und antwortet damit möglicherweise auf Gutzkows skeptische Frage vom 17. März: »Glauben Sie denn, daß sich irgend Etwas Positives für Deutschlands Politik tun läßt?« − die dieser aufgrund der bereits erwähnten Vermutung stellte, Büchner habe wegen einer Verwicklung in den missglückten Wachensturm flüchten müssen. »Ich glaube«, sagt Gutzkow, »Sie taugen zu mehr, als zu einer Erbse, welche die offne Wunde der deutschen Revolution in der Eiterung hält.« (P II, S. 398) Als Entgegnung darauf ließe sich Büchners Hinweis lesen, die

|| 26 Karl Gutzkow: Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde. Vorrede. In: Karl Ferdinand Gutzkow: Schriften. 2 Bde. nebst Materialienband. Hrsg. v. Adrian Hummel. Frankfurt a. M. 1998. Bd. 1, S. 527−551, hier S. 535. 27 Ebd., S. 548f. 28 Ebd., S. 551. 29 Ebd., S. 532. 30 Zur umstrittenen Datierung dieses Briefes vgl. Kommentar in P II, S. 1151f.

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»ganze Revolution« habe sich, was die bürgerlichen Fortschrittskräfte betrifft, in »Liberale« (Gemäßigte) und »Absolutisten« (Radikale) gespalten und müsse »von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen« werden (P II, S. 400). Er deutet an, die materielle Lage der Armen sei noch nicht schlimm genug, damit diese zum (für ihn einzig reellen) Träger der Revolution würden. Ein Kampf für sexuelle Befreiung bzw. gegen die christliche Moral und die Macht der Kirche erübrigt sich hiermit. Wenn Büchner am 1. Januar 1836 nach Hause schreibt, er gehöre »keineswegs« zum »Jungen Deutschland« und teile nicht dessen Ansicht von Ehe und Christentum (P II, S. 423), so entspricht dies nicht nur seiner Strategie, besorgte Eltern zu beruhigen,31 sondern auch der Wahrheit. Sittliche und religiöse Einrichtungen hält er definitiv nicht für den Dreh- und Angelpunkt einer fundamentalen Änderung der Gesellschaft.

3 Religionskritik und Empathie Um so bemerkenswerter sind die Parallelen zwischen Büchners und Gutzkows Religionskritik, denn für beide bildet sie das Fundament ihres 1835 gefestigten Selbstverständnisses als Schreibende, die ein Publikum ansprechen. In ihren Werken wird die Idee eines Schöpfergottes auf menschliches »Bedürfnis« zurückgeführt: »Weil wir uns immer regen und schütteln müssen um uns nur immer sagen zu können: wir sind! müssen wir Gott auch dies elende Bedürfnis andichten?« fragt der Atheist Payne in Danton’s Tod (P I, S. 57). Dieselbe Aussage, mit zusätzlicher monarchiekritischer Richtung, lässt sich Wallys Tagebuch entnehmen: »Die Vorstellung eines über uns thronenden Werkmeisters ist ein Bedürfnis, das unsere Phantasie immer geltend machen wird.«32 Büchner und Gutzkow folgen Heine in ihrer Sicht des Christentums als einer Religion, die durch ihr Erlösungsversprechen nicht nur auf das irdische Leiden abgestellt, sondern durch die Figur Christi zu einer Leidensreligion schlechthin geworden sei. In den »Geständnissen über Religion und Christentum«, eingelagert in den fiktionalen Text von Wally, die Zweiflerin, heißt es: »[D]as Christentum ist eine Religion, die auf eines Menschen [Jesu] körperlichen Verrichtungen und Leiden gegründet ist«. In geradezu kannibalischer Weise lebe diese Religion von der Person ihres Gründers, von seinem »Fleisch und Blut«, seiner »Persönlichkeit, die nun immerdar solle gegessen und getrunken werden«. So fixiert sei die

|| 31 Vgl. Martin: Im Dialog mit dem Jungen Deutschland (s. Anm. 7), S. 168f., u. Mayer: »Wegen mir könnt Ihr ganz ruhig sein...« (s. Anm. 17). 32 Gutzkow: Wally, die Zweiflerin (s. Anm. 12), S. 98.

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christliche Dogmatik auf die physische Existenz Jesu, dass sie dessen »Fußtapfen als Paragraphenzeichen nimmt« und »seine Nägelmale als Kapiteleinschnitte«.33 Das Echo von Danton’s Tod ist nicht zu überhören, d. h. von Robespierres Auftritt, in dem von den blutigen »Interpunktionszeichen« der Revolution die Rede ist (P I, S. 55). Gutzkow überträgt diese Metapher aus Büchners Darstellung der Ideologie der terreur in seine Kritik der christlichen Dogmatik. Dies ist folgerichtig, denn in Büchners Stück erscheint Robespierre als ein PseudoChristus. Die von Camille Desmoulins kritisch gegen ihn gewendete Bezeichnung »Blutmessias« wird von Robespierre bekräftigt: Er sieht sich in der Rolle des Erlösers durch Blut, das allerdings nicht von ihm selbst vergossen wird. Zu seinem Bedauern: Während Jesus die »Wollust des Schmerzes« hatte (eine Wollust, die laut Heine den »schauerlichste[n] Reitz« des Christentums ausmacht,34) bleibe ihm, Robespierre, nur »die Qual des Henkers« (P I, S. 37). Diese angeblich notwendige historische Rolle rechtfertigt Robespierre durch seine Perversion der christlichen Dogmatik. Das Christentum als Leidens- und Schmerzensreligion wird von Büchner und Gutzkow angegriffen, aber auch aufgegriffen und sensualistisch umdefiniert. Paynes Worte in Danton’s Tod zeigen, wie der Schmerz, der nach Heine das Christentum begründet, sich in sein genaues Gegenteil verkehrt und zum »Fels des Atheismus« wird: »Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.« (P I, S. 58.) Mag der »Atheismus« auch eine ›felsenfeste‹ Stellung gegenüber der Welt und dem Universum garantieren, bleibt er doch eine verneinende. Aus dieser Negativität führt eine neue Schöpfung, nämlich die der Kunst. Die Existenz des Schmerzes ist für Büchner und Gutzkow Ausgangspunkt einer positiven, diesseitigen Ästhetik. Für Büchner bedeutet diese Ästhetik ein Prinzip der Einsenkung: Der Dramatiker zeige »Menschen von Fleisch und Blut [...], deren Leid und Freude« − man beachte die Reihenfolge − »mich mitempfinden macht«, schreibt er über seinen Danton an die Eltern (P II, S. 411). Im sogenannten Kunstgespräch in Lenz arbeitet er dieses Prinzip später aus: Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen [...] man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu

|| 33 Ebd., S. 114. 34 Die Stelle findet sich in Heines Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland (1833), die 1836 erweitert unter dem Titel Die romantische Schule veröffentlicht wurde (DHA 8.1, S. 126).

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kopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegen schwillt und pocht. (P I, S. 235)

Hier spricht bezeichnenderweise Lenz als Dramatiker, der das innere Leben seiner Bühnengestalten herausfühlt und gewissermaßen ›nachschafft‹ (P II, S. 411), ohne eigene, ›äußere‹ Vorstellungen an sie heranzutragen. Solche vorgefassten Ideen blockieren das ästhetisch-humane Sensorium für das »eigentümliche Wesen«, das »Leben«, die »Muskeln« und den »Puls« auch des ›Geringsten‹. Büchners egalitaristischer Realismus, der nicht nur im Sozialen, sondern auch im Ästhetischen von einem »absoluten Rechtsgrundsatz« ausgeht, steht 1835 fest (Brief an Gutzkow, Anfang Juni 1836, P II, S. 440). Die am meisten Leidenden, die Ausgebeuteten, Ausgegrenzten und Kriminalisierten, werden die höchsten Anforderungen an künstlerische Repräsentation stellen. Diese Menschheitsliebe hat mit sentimentaler Philanthropie nichts zu tun, sondern lässt sich als strikte säkulare Umsetzung des Gebots christlicher Nächstenliebe verstehen. Das egalitäre, wörtlich genommene Ethos der Bibel kommt ja auch gerade an den Stellen in Woyzeck zum Einsatz, wo die in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft ›unmoralische‹ Lebens- und Handlungsweise Woyzecks und Maries dem Zuschauer bzw. Leser als Produkt ihrer sozialen Lage und psychischen Umstände vorgeführt wird. Der Dramatiker appelliert an die Fähigkeit zum Nachempfinden und Verstehen auch im gebildeten Publikum, von dem er ansonsten wenig hält. So wie das dramatische Schaffen den »Riß« zwischen Schöpfer und Geschöpf überwindet, geht es auch gegen den »Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft« an (P II, S. 440). Es ist vielleicht aus dieser Schlüsselstellung des ›positiven‹ literarischen Schaffens zu verstehen, dass Büchner dieses von den Zwängen des Berufsschriftstellertums frei halten und es neben seinem Beruf als Naturforscher und -philosoph, und in wechselseitigem Verhältnis mit diesem, betreiben will. Eine Ästhetik des Mitgefühls zeigt sich auch − man mag angesichts der spröden, unsinnlichen Machart des Romans überrascht sein − in Gutzkows Wally. Allerdings führt die Empathie hier zu einem ganz anderen Realismus, der statt dokumentierter Wirklichkeit das Reich des Möglichen ausschreitet, wie sogleich gezeigt werden soll. Das provokative sensualistische Gebot: »Lebe deinen Nächsten wie dich selbst!«, wird in den ersten Kapiteln ausgesprochen.35 Doch setzt der Sprecher, Cäsar, diese Worte nicht in ihrer vermeintlich altruistischen Bedeutung ein; ganz im Gegenteil: Er hat Wallys moderne Psyche als Zweiflerin bis ins Kleinste durchschaut − in diesem Sinn ›lebt‹ er ihr Inneres − und nimmt

|| 35 Gutzkow: Wally, die Zweiflerin (s. Anm. 12), S. 14.

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diese psychologische Einsicht zur Grundlage seiner Manipulationen von Wallys Verfassung. Er gibt dies sogar zu: Wenn ich mich in die innersten Falten Ihrer Seele [...] versetze, so bin ich gewiß, immer die Wirkungen zu veranlassen, die ich eine Minute vorher schon bestimmen kann.36

Die vorausberechneten »Wirkungen« seiner Empathie mit der Frauenseele sind auf Eroberung angelegt; nicht umsonst heißt der Mann Cäsar. Systematisch reißt er die Wunde der Skepsis in Wally weiter auf, um die äußerlich kalte aristokratische femme fatale zu erobern. Die Äußerung »Lebe deinen Nächsten« bildet bereits den ersten Schritt: Cäsar hat Wally damit laut Erzählerkommentar »innerlichst verletzt«. Der Roman verfolgt die zunehmende emotionale und geistige Abhängigkeit der Frau von ihrem Eroberer − auch, dass sie sich in der berüchtigten Sigunen-Szene nackt vor ihm zeigt, ist Teil dieses Prozesses −, bis sie von ihm schließlich zugunsten einer anderen Frau verlassen wird. Cäsars »Geständnisse über Religion und Christentum«, von der Protagonistin in der Hoffnung gelesen, dass sie ihren Zweifel unter Kontrolle bekommt, brechen ihren Lebenswillen vollends, und sie begeht Selbstmord. Diese feministische Lesart tut dem Roman nicht unrecht, denn Gutzkow schreibt in seiner Verteidigung gegen Menzel, erschienen nach dessen Angriffen vom September 1835, dass dem diskursiven Klartext der »Geständnisse über Religion und Christentum« innerhalb des Romans »eine künstlerische Stellung« zukomme. Er zeige den Verfasser Cäsar nämlich als einen Mann, »der in Wally einen Mord von seiner Hand zu Grabe getragen sieht«.37 Insofern steckt in diesem Werk eine Selbstanalyse und Selbstanklage des maskulinen Intellekts sowie eine Ästhetik der Sensibilisierung. Die seelischen Wunden, die höchst zivilisierte Menschen einander zufügen, erfordern feine geistig-sinnliche Organe in Tätern und Opfern und erst recht in kritischen Lesern, die in der Erkenntnis eine Stufe höher stehen sollen. Sein angesprochener Leserkreis, so macht Gutzkow deutlich, sei keiner der »Durchschnittsintelligenz«.38 Seine Poetik sei darauf abgestellt, »mit den geheimsten Fäden der menschlichen Seele« zu schaffen, sodass seine äs-

|| 36 Ebd. 37 Karl Gutzkow: Verteidigung gegen Menzel und Berichtigung einiger Urteile im Publikum. In: Wally, die Zweiflerin (s. Anm. 12), S. 303−326, hier S. 321. Die Erzählstruktur dieses Romans ist feministisch interpretiert worden von David Horrocks: Maskulines Erzählen und feminine Furcht. Gutzkows Wally, die Zweiflerin. In: Karl Gutzkow. Liberalismus − Europäertum − Modernität. Hrsg. v. Roger Jones u. Martina Lauster. Bielefeld 2000, S. 149−163. 38 Gutzkow: Appellation an den gesunden Menschenverstand (s. Anm. 12), S. 161.

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thetischen Gebilde der Wirklichkeit voraus seien.39 Mit anderen Worten: Exzentrische Salondamen wie Wally, die mit den Schriften der Jungdeutschen vertraut sind (auf ihrem Tisch liegt unter anderem auch Heines Salon II) und die am religiösen Zweifel verzweifeln, sowie ennuyierte Männer wie Cäsar, denen der weibliche Zweifel zum Spielball ihrer Selbstbestätigung wird, sind keine direkt aus der Wirklichkeit gegriffenen, jedoch mögliche Figuren und, so darf man schließen, nur für feinsinnige Zeitgenossen als solche erkennbar. Die Warnung vor den unmenschlichen Folgen einer humanistischen Religionskritik ist für solche Leser klar. So zweifellos ›wahr‹ der Inhalt der religionskritischen Ideen ist, so stellt sich doch die Frage, wie sich diese Kritik ›positiv‹ umsetzen lässt, sodass die Menschen damit leben können. Gutzkows Ästhetik der Einfühlung führt also zu einem dezidiert anderen künstlerischen Weg als dem Büchners. Gutzkow geht es darum, in den menschlichen Empfindungsweisen die Verknüpfung der beiden großen sozialen Bewegungskräfte, der Ideen bzw. Normen auf der einen und der Materie auf der anderen Seite, aufzuspüren und den »Hebel« zur Änderung der Verhältnisse im »Herzen« der gebildeten Zeitgenossen anzusetzen.40 Deren innere Regungen sollen Fäden zu einer künftigen »unsichtbaren Kirche« der Freiheit spinnen.41 Gutzkow will die christliche Nächstenliebe umwandeln zu einer freiheitlichen religio, verstanden im wörtlichen Sinne als Bindung, als ethisch-moralisches Gewebe einer nachkirchlichen Gesellschaft. Hier zeigt sich deutlich seine theologische Schulung, die mit einem lebenslangen soziologisch-zeitgeschichtlichen Interesse verbunden bleibt. Als Berufsschriftsteller, der journalistisch, redaktionell, biographisch, drama-

|| 39 Karl Gutzkow: Wahrheit und Wirklichkeit. In: Wally, die Zweiflerin (s. Anm. 12), S. 128−132, hier S. 130. 40 Vgl. Gutzkows Äußerungen: »Es muß eine Gesinnung erweckt werden, welche die der Mildtätigkeit oder der Ehrfurcht vor der Natur ist. An unsere Gefühle müssen die Hebel der Aufopferung kommen [...].« Wenn Wally, die Zweiflerin eine Tendenz habe, so sei es die, »dem Christentum im 19. Jahrhundert eine neue Wegbereitung in den Gemütern zu geben«, d. h. es durch eine säkulare Ethik zu ersetzen. »Das Gemälde einer traurigen Haltlosigkeit der Seele, für welche unsere egoistische Zeit überall Beispiele liefert, wollte ich geben und ein Ende schildern, dessen Gewaltsamkeit einen warnenden Anknüpfungspunkt für die Prüfung unseres Herzens und für jeden unserer Entschlüsse bilden sollte.« (Appellation an den gesunden Menschenverstand [s. Anm. 12], S. 158f.) Ariane Martin sieht u. a. in diesen Formulierungen, z. B. in dem Begriff »Hebel«, die ›Anknüpfungspunkte‹ für Büchners Kritik an Gutzkows Ideenpolitik im Brief vom Juni 1836 (Im Dialog mit dem Jungen Deutschland [s. Anm. 7], S. 176). 41 Vgl. den Erzählerkommentar zu Wallys Tränen der religiösen Verzweiflung: Sie »flossen aus dem Weihebecken einer unsichtbaren Kirche« (Wally, die Zweiflerin [s. Anm. 12], S. 10), könnten also aufbauend wirken im Sinne einer nur noch durch säkularen Glauben gebundenen Gesellschaft.

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tisch, erzählerisch und lyrisch schafft, hat Gutzkow sehr viele Möglichkeiten, auf gebildete Köpfe einzuwirken.

4 Literaturgeschichte der Gegenwart Abschließend ist noch einmal auf Gutzkows literaturgeschichtliche Leistung für Büchner einzugehen. Gutzkow betreibt selbstbewusst bereits Literatur- oder Kulturgeschichte, wenn er über Zeitgenossen schreibt. Den Weg Büchners zur eigenständigen »bürgerlichen Existenz«, seine Abwendung von revolutionärem Engagement und Hinwendung zum philosophisch-naturwissenschaftlichen Beruf, sieht er sozusagen als Wendung zur ›Positivität‹ im Lebenswandel, als »einen Beitrag zur modernen Culturgeschichte«.42 Dabei betont er, wie zentral die erste literarische Schöpfung als Schritt in die Selbstbestimmung gewesen sei, und fühlt sich, angeregt durch Büchners unerhörten Begleitbrief zum DantonManuskript, geradezu gestisch in die Situation des Schreibenden ein: die »ängstliche« »Hast« des Verfolgten, der »schnell noch etwas abzumachen« hat, seinen revolutionären Stoff und damit seine eigene jüngste Erfahrung eilig in Kunst ›absetzt‹43 und alles »in kurzen scharfen Umrissen schnell, im Fluge, an die Wand« schreibt. Der geistigen Selbstrettung im Drama, bei der die Vision der Gefangenschaft bzw. die »Darmstädtschen Polizeidiener« die »Musen« bilden,44 folgt die körperliche Rettung durch die Flucht. Die Formulierung, dass Büchner mit der Abfassung seines Dramas offenbar »schnell noch etwas abzumachen« habe, könnte auch darauf hindeuten, dass Gutzkow den Danton als eine künstlerische Bewältigung nicht nur des revolutionären Engagements sieht, das den Akteur als Opfer zu verschlingen droht, sondern auch als Bewältigung der fatalistischen Geschichtsauffassung, wie sie durch die von Büchner benutzten Quellen vertreten wurde. An späterer Stelle im Nachruf heißt es, Büchner müsse mit seiner revolutionären Phraseologie auch »seinen Thiers und

|| 42 G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit. In: Frankfurter Telegraph (s. Anm. 8), Nr. 43, [14.] Juni 1837, S. 337 u. S. 339. 43 Dass., Nr. 42, [12.] Juni 1837, S. 329−332, hier S. 332. In diesem Erstdruck des Nachrufs steht fälschlich »abgehetzt« statt »abgesetzt«. Die Korrektur wurde für die Fassung in Götter, Helden, Don-Quixote (s. Anm. 44) vorgenommen. 44 Karl Gutzkow: Georg Büchner. In: Götter, Helden, Don-Quixote. Abstimmungen zur Beurtheilung der literarischen Epoche. Hamburg 1838, S. 19−50, hier S. 41. In der Journalfassung des Nachrufs hieß es »die NN’schen Polizeidiener« (Ders.: Ein Kind der neuen Zeit. In: Frankfurter Telegraph (s. Anm. 8), Nr. 44, [16.] Juni 1837, S. 345).

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Mignet loswerden«.45 Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Gutzkow den Schritt in die Kunst als eine ›Rettung‹ von der Geschichte und von der Politik begreift. Im Gegenteil, erst die Eigengesetzlichkeit, die Individualisierung des ästhetischen Schaffens ermöglicht intensiven und wirkungsvollen Zeitbezug, wie Peter Weiss »die Eigenschaft [der Dichtung]« in der Ästhetik des Widerstands mit Bezug auf Brecht beschreibt, nämlich »ganz in der gegenwärtigen Zeit zu stehn, und zugleich eine völlige Autonomie zur Geltung zu bringen«.46 Gutzkow sieht bei aller Wertschätzung der ästhetischen Autonomie von Danton’s Tod genau, welchen Gehalt das Stück ausstrahlt: »eine wilde Sanscülottenlust«,47 die den politisch-ästhetischen Nerv der bewegten Gegenwart trifft. Es liegt nahe, dass Gutzkow ein solcher politisch-ästhetischer Doppelcharakter vorschwebte, als er sein Konzept von der ›positiven‹ Literatur entwickelte und in Danton’s Tod dessen Einlösung sah. Diese Auffassung von Büchners Kunst motivierte seinen weiteren Einsatz für dessen Werk. Gutzkow plante 1837 mit Hilfe von Minna Jaeglé eine Edition von Büchners Nachlass, und der Nekrolog gibt bereits einen Eindruck, wie er dieses Buch anlegen wollte: Briefe und Werke bzw. Entwürfe sollten im Rahmen eines biographischen Gesamtporträts publiziert werden; Vorbild war Theodor Mundts Buch über Charlotte Stieglitz.48 Aus verschiedenen Gründen (Mangel an Kooperation seitens der BüchnerFamilie, Schwierigkeiten beim Finden eines Verlags) wurde dieses Projekt nicht verwirklicht, und Gutzkow musste sich mit der Veröffentlichung von Leonce und Lena (1838 in Auszügen) und Lenz (1839 vollständig) im Telegraph für Deutschland begnügen. Da er so lautstark als Advokat von Büchners innovativem »Genius« hervorgetreten war, musste ihn eine aus Zitaten montierte romantische Komödie wie Leonce und Lena enttäuschen, obwohl er in ihr sofort durch »Büchners feinen Geist« angesprochen wurde:49 Mit einem solchen Bühnenwerk ließ sich seiner Ansicht nach die Herrschaft des populären Mittelmaßes im Theater nicht stürzen. Ganz anders sah er Lenz, die völlig neuartige Verbindung von schöpferischer Erzählung und faktischem biographischem Bruchstück:

|| 45 G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit. In: Frankfurter Telegraph (s. Anm. 8), Nr. 43, [14.] Juni 1837, S. 339. Diese Stelle, in der vom »wilde[n] Geist in diesem Briefe« die Rede ist, wird erst in der unzensierten Fassung in Götter, Helden, Don-Quixote verständlich (s. Anm. 44, dort S. 35). 46 Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Hrsg. v. Alexander Stephan. Frankfurt a. M. 1983 [dreibändige Ausgabe in einem Band], Bd. 2, S. 169. 47 G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit. In: Frankfurter Telegraph (s. Anm. 8), Nr. 43, [14.] Juni 1837, S. 337. 48 Vgl. Gutzkow an Wilhelmine Jaeglé. 14. September 1837. In: Euphorion. 3. Ergänzungsheft. Leipzig, Wien 1897, S. 191f. 49 Gutzkow an Wilhelmine Jaeglé (s. Anm. 48), S. 191.

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Welche Naturschilderungen; welche Seelenmalerei! Wie weiß der Dichter die feinsten Nervenzustände eines, im Poetischen wenigstens, ihm verwandten Gemüths zu belauschen! Da ist Alles mitempfunden, aller Seelenschmerz mitdurchrungen; wir müssen erstaunen über eine solche Anatomie der Lebens- und Gemüthsstörung.

Die Benennung von Lenz als Reliquie von Georg Büchner im Untertitel scheint in diesem Zusammenhang weniger zur andächtigen Verehrung eines Toten als zur Würdigung einer authentischen, lebendigen Hinterlassenschaft des Autors aufzufordern, der sich in fremdes Leben einzusenken vermag: Gutzkow hebt zusätzlich Büchners charakteristische »r e p r o d u k t i v e P h a n t a s i e« hervor.50 Er scheint den Nagel auf den Kopf zu treffen, was Büchners Einzigartigkeit als einen neu definierten Autor ausmacht: Hinaustreten aus sich selbst in einer Schreibart, die psychologisch hinsieht und zugleich naturwissenschaftlich autopsiert (vgl. zur »Autopsie« seinen Brief an Büchner vom 10. Juni 1836; P II, S. 441). Hiermit ist der Literatur ein Horizont eröffnet, der Wissen(schaft), humanitäres Engagement und kreative Phantasie vereint und Autorschaft nicht mehr als Privileg, sondern als Teilhabe aufscheinen lässt. Hinter Gutzkows Kommentaren zu Büchners ›anatomischem‹ Einfühlungsvermögen steckt sein eigenes Leitbild der biographisch-zeitgeschichtlichen Darstellung, wie er sie wenig später in seiner Börne-Biographie erprobte.51 In der Kunst, sich den »Nervenzuständen« , den Leiden (nicht zuletzt den religiösen Konflikten) einer anderen schöpferischen Existenz zu öffnen, findet sich also eine weitere Affinität zwischen Gutzkow und Büchner. Büchners Einfühlung in J. M. R. Lenz ist literarisch und literaturgeschichtlich fruchtbar geworden. Ohne Gutzkows Empathie mit Büchner hätte dieser Autor vielleicht nie Eingang in die Weltliteratur gefunden.

|| 50 Lenz. Eine Reliquie von Georg Büchner. [Gutzkows redaktionelle Nachbemerkung.] In: Telegraph für Deutschland. Hamburg, Nr. 14, [23.] Januar 1839, S. 110−111. Ich danke Wolfgang Rasch, Berlin, für die Übermittlung. Die Vor- und Nachbemerkung Gutzkows ist vollständig mitgeteilt in der von Ariane Martin herausgegebenen neuen Büchner-Ausgabe: Sämtliche Werke und Briefe. Stuttgart 2012, S. 499−500. 51 Vgl. Karl Gutzkow: Börne’s Leben. Hrsg. v. Martina Lauster. Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe. Hrsg. v. Editionsprojekt Karl Gutzkow. Münster 2004.

Patrick Fortmann (Chicago)

Die Bildlichkeit der Revolution. Regime politischer Beobachtung bei Büchner 1 Einleitung Im Juni 1836 sieht der Publizist und Kritiker Karl Gutzkow, der sich zeitlebens als Mentor Georg Büchners betrachtet hat, Anlass, seinem Protegé ins Gewissen zu reden. Gutzkow hat erfahren, dass der junge Autor sein Medizinstudium aufgeben will, um naturwissenschaftliche Grundlagenforschung zu betreiben. Dabei scheint es ihm, wie er schreibt, gerade das Studium des menschlichen Körpers, die »Arzeneikunst«, zu sein, dem Büchner auch poetisch seine »hauptsächliche Force zu verdanken« habe (P II, S. 441).1 Diese »Force« begründet, so fährt Gutzkow, Büchner direkt ansprechend, fort, »Ihre seltene Unbefangenheit, fast möcht’ ich sagen, Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben« (ebd.). Für Gutzkow steht nicht weniger als der eigentümliche Modus der Beobachtung auf dem Spiel, der Büchners Texte – soweit sie Gutzkow zu diesem Zeitpunkt bekannt sind – zugleich durchdringt und auszeichnet. Die Sorge erweist sich als unbegründet. Denn nicht weniger als die medizinischen Wissenschaften sind es die jungen, sich gerade an den Universitäten etablierenden Disziplinen der vergleichenden Anatomie, der Zoologie und der Physiologie, die in Büchners literarischen Schriften zu einer Verdichtung jenes von Gutzkow mit dem Begriff der »Autopsie« belegten Wahrnehmungsmusters führen. Mit dem Wort vom ›Selbst-Schauen‹ prägt Gutzkow im Hinblick auf Büchners Texte einen eindringlichen und dennoch vielschichtigen Begriff.2 Er hebt zunächst die Schulung der Wahrnehmung hervor, die Büchner durch das Studium der Medizin und der Naturforschung erfährt. Er bezeichnet weiterhin die Übertragung des dort gewonnenen Wissens und der wissenschaftlich erprobten Beobachtungsformen auf die Literatur. Er notiert sodann urteilssicher als Auffälligkeit von Büchners Schreiben, dass es »Autopsie« im Wortsinne involviert. Es greift nämlich stets Vorliegendes auf und nimmt es selbst aufs Neue in den

|| 1 Zitate von Büchner oder seinem Umfeld werden im Haupttext nachgewiesen. Zugrunde liegt die im Deutschen Klassiker Verlag erschienene Ausgabe von Henri Poschmann (P I bzw. II). 2 Vgl. dazu MBA 10.2, S. 337f. u. S. 129.

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Blick.3 Er bringt schließlich, darin späteren Büchner-Entdeckern vorgreifend, das überraschend Eigenständige des schmalen, aber ungewöhnlich entwickelten Werks zum Ausdruck. Eine kurze Notiz, die sich allein aus einem Brief Büchners an seinen Bruder Wilhelm erhalten hat, scheint Gutzkows Grundformel für eine Literatur, die aus dem beständigen, fließenden Austausch mit den Lebenswissenschaften hervorgeht, zu bestätigen. Um die Jahreswende 1836/37 schreibt Büchner aus Zürich: »Ich sitze am Tage mit dem Scalpell und die Nacht mit den Büchern« (P II, S. 460). Über die Entstehung von Danton’s Tod im Winter 1834/35 berichtet der Bruder Ludwig: »Büchner’s Arbeiten geschah im Verborgenen und war mannigfach gestört; während an seinem Arbeitstische die anatomischen Tafeln und Schriften obenauf lagen, zog er furchtsam unter denselben die Papierbogen hervor, auf denen er seine Gedanken [...] niederwarf.«4 Der abrupte Wechsel zwischen den Tätigkeiten des Sezierens und des Lesens oder des Beobachtens und des Schreibens verlangt von dem, der ihn vollzieht, Sprünge in Wahrnehmung und Erfahrung. Daher bleibt es nicht aus, dass es auch zwischen Naturforschung und Dichtung zu Überblendungen und Überschneidungen kommt.5 Im Anschluss an den semantischen und wissenschafts-

|| 3 Damit ist der hinlänglich bekannten Tatsache, dass Büchner Texte nur aus Texten und über Texte verfertigt, das Stichwort gegeben. Die Büchner-Forschung hat sich diesem Aspekt von »Autopsie« mit besonderer Sorgfalt gewidmet. Büchner arbeitet ein: Quellen zur Französischen Revolution im Fall von Danton’s Tod, die verschiedenen Gerichtsgutachten im Fall des Woyzeck, schließlich eine Vielzahl von romantischen Texten und Textfragmenten im Fall von Leonce und Lena – um nur die herausstechenden Quellenvorlagen zu nennen. Sogar die Flugschrift Der Hessische Landbote schöpft aus amtlichen Quellen, nämlich der Finanzstatistik des Großherzogtums Hessen-Darmstadt und dem offiziellen Bericht über die jüngste Fürstenhochzeit. 4 N, S. 21. 5 Die Austauschprozesse zwischen Naturwissenschaft und Literatur bei Büchner sind längst zu einem ungemein produktiven Forschungsfeld geworden. Auf der einen Seite werden die Spuren der Wissenschaft in den literarischen Texten verfolgt: Vgl. Georg Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E.T.A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 1985; Sabine Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. Stuttgart: Metzler 1991; Peter Ludwig: »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«. Naturwissenschaft und Dichtung bei Georg Büchner. St. Ingbert: Röhrig 1998. Auf der anderen Seite steht die Poetisierung der wissenschaftlichen Schriften zur Debatte: Daniel Müller-Nielaba: Die Nerven lesen. Zur LeitFunktion von Georg Büchners Schreiben. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2001; Helmut Müller-Sievers: Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner. Göttingen: Wallstein 2003. Für die umfangreiche weitere Forschung kann hier nur summarisch auf die entsprechenden Artikel im Büchner-Handbuch verwiesen werden sowie auf den Forschungsbericht von Udo Roth u. Gideon Stiening: Gibt es eine Revolution in der Wissenschaft? Zu wissenschafts-

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geschichtlichen Kern des »Autopsie«-Begriffs, der seit Gutzkow längst zu einem Topos der Forschung geworden ist,6 soll es im Folgenden um Regime der Beobachtung bei Büchner gehen. Es soll, genauer gesagt, gezeigt werden, dass Büchner die besondere wissenschaftliche Praxis und das Wissen um die Gegebenheiten der Sinne, die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Naturforschung, insbesondere in der Physiologie, herausbilden, zur Beobachtung der politischen Verhältnisse heranzieht. Der Transfer von Wissensbeständen und Praxismustern läuft auf eine Neuausrichtung des Blicks hinaus.7 Büchner richtet für alle, die, wie er selbst, den Einschränkungen und den Täuschungen der Restauration ausgesetzt sind, eine Seh- und Wahrnehmungsschule ein.8 Seine Autopsie des Politischen schließt nicht allein ein Sichtbarmachen und VorAugen-Stellen ein, sondern darüber hinaus auch die Einübung in die Möglichkeit, die Dinge neu zu sehen und anders aufzufassen. Nach einer wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der Beobachtung (2) geht es im Folgenden um die Entdeckung der Sinne als Quelle politischer Wahrnehmung im Hessischen Landboten (3), um die Erkundung des Körper(-Innenraum)s als Projektionsfläche des Politischen in Danton’s Tod (4) sowie um die verzerrte Wahrnehmung der Restauration in Leonce und Lena (5).

|| und philosophiehistorischen Tendenzen in der neueren Büchner-Forschung. In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 192–215. 6 Vgl. z. B. den motivgeschichtlichen Aufriss von Wulf Wülfing: »Autopsie«. Bemerkungen zum »Selbst-Schauen« in Texten Georg Büchners. In: Poschmann / Malende, S. 45–60. 7 Vgl. zum vieldiskutierten Thema die Handbücher von Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analyse. Berlin u. New York: De Gruyter 2008; Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes u. Yvonne Wübben: Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2013 sowie, bezogen auf Büchner, Gideon Stiening: Literatur und Wissen in Büchners Werk. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin u. New York: De Gruyter (im Druck). 8 Ein Brief an die Familie vom April 1833 artikuliert das Programm mit einer gewissen Nähe zum platonischen Höhlengleichnis: »Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen?« (P II, S. 366).

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2 Die Schulung der Beobachtung durch Medizin und Naturforschung Karl Gutzkow ist nicht der Einzige, der die akademische Prägung von Büchners Wahrnehmungsweisen feststellt. Auch ein Jugendfreund, Georg Zimmermann, bemerkt den »klar und scharf beobachtende[n] Sinn des Naturforschers«.9 Büchners Einübung in die besonderen Beobachtungsformen der wissenschaftlichen Praxis, sei es der praktischen Medizin oder der naturkundlichen Forschung, vollzieht sich in Phasen und deckt sich in etwa mit seinem akademischen Werdegang vom heimatlichen Darmstadt, über die Studienorte Straßburg und Gießen, bis zur Berufung nach Zürich.10 Einer der wenigen Teilnehmer, die sich in Zürich in seine einzige Lehrveranstaltung, das Kolleg »Zootomische Demonstrationen« im Wintersemester 1836/37, verirrt haben, erinnert sich noch Jahrzehnte später, was Büchners Vortrag »wirklich das lebendigste Interesse bei allen Zuhörern« gesichert habe, nämlich »die beständige Hinweisung auf die Bedeutung der Theile [der besprochenen Organe] u. die anschaulichen Demonstrationen an den frischen Präparaten«.11 Die Spannung zwischen Anschauung und Theoriebildung, die Büchners faszinierter Hörer beschreibt und hier dem Geschick des Dozenten zurechnet, ist, wie einer gewissen Selbstverständlichkeit zum Trotz festgestellt werden soll, eine Grundspannung in der Naturforschung. Das Verständnis der Natur in ihren Erscheinungsformen, Prozessen und Veränderungen hatte sich immer schon an einer Praxis des Messens, Beobachtens und Experimentierens zu bewähren. Was die Zeit zu Anfang des 19. Jahrhunderts sowohl von den vorausgegangenen zwei Jahrhunderten, der modernen Naturforschung seit Francis Bacon, als auch von der nachfolgenden Phase seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unterscheidet, ist zum einen die gesteigerte Aufmerksamkeit, die das Zusammenspiel von Sinnen und Verstand im Vorgang der Beobachtung auf sich zieht, und zum anderen das Ausmaß, zu

|| 9 Zit. n. Jan-Christoph Hauschild: Erinnerung an einen »außerordentlichen Menschen«. Zwei unbekannte Rezensionen von Büchners Jugendfreund Georg Zimmermann. In: GBJb 5 (1985), S. 330–346, hier S. 335. 10 Vgl. zu den Stationen im Einzelnen: Hauschild 1993, S. 118f., 139–145, 251–263 u. 575–583 sowie umfassend zu Büchners akademischer Ausbildung im Zusammenhang mit der Arbeit am Mémoire: Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 24–70 und MBA 8, bes. S. 175–191. 11 Hauschild 1985, S. 384. Vgl. zu Büchner als Dozent: Ebd., S. 379–403; Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften (s. Anm. 10), S. 167–173; MBA 8, S. 214–223.

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dem die Grundspannung zwischen Erfahrung und Erkenntnis auch in die Lehre der Naturforschung eingeht.12 Die Ausbildung des Naturforschers wurde spätestens um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer multimedialen Angelegenheit. Studenten hörten Vorlesungen, nahmen an praktischen Übungen teil, führten in diversen Laboratorien selbst Versuche durch, lernten zu sezieren und zu präparieren, suchten anatomische und morphologische Museen auf, durchstreiften botanische Gärten, observierten Kranke in spezialisierten Kliniken und konsultierten stetig wachsende Bibliotheken, die mit beschreibender, reflektierender und illustrierender Fachliteratur gefüllt waren. Im Zuge seiner Studien hat sich Büchner nicht allein mit diversen Disziplinen der Naturforschung vertraut gemacht – in Straßburg soll er Vorlesungen »über Chemie, Physik, Zoologie, Anatomie, Physiologie, materia medica u. s. w.« gehört haben, wie sein Bruder Ludwig berichtet – sondern sich auch im Rahmen der materiellen und visuellen Kultur dieser Disziplinen bewegt.13 Dabei waren die Universitäten von Straßburg, Gießen und Zürich durchaus ungleich ausgestattet. An der erst im Jahre 1833 eingerichteten Züricher Universität mangelte es noch an vielem. So mussten die Professoren auf Privatbibliotheken und eigene Sammlungen zurückgreifen; Büchner selbst hatte die Präparate für sein Kolleg erst noch anzufertigen.14 An der Gießener Ludoviciana waren die Verhältnisse besser; aber sie reichten kaum an die Académie heran. Eine zeitgenössische Begehung der medizinischen Fakultät zu Straßburg nennt die Bibliothek »vortrefflich geordnet«, lobt die Sammlungen »chirurgischer Instrumente« sowie »der materia medica« insgesamt, streift die Chemie, den »physikalischen Apparat« und den botanischen Garten, wendet sich aber eingehend den vorzüglichen Sammlungen in Naturgeschichte und Anatomie zu, deren Einteilung und Ausstattung jeweils auf einer Seite referiert werden.15 Offenbar genügen selbst für außergewöhnlich gut ausgestattete

|| 12 Die Wissenschaftsgeschichte hat sich erst in jüngerer Zeit des Themas der Lehre angenommen. Vgl. z. B. The Educated Eye. Visual Culture and Pedagogy in the Life Sciences. Hrsg. v. Nancy Anderson u. Michael R. Dietrich. Hanover, NH: Dartmouth College Press 2012. 13 N, S. 2. Büchner selbst bestimmt in den ersten Sätzen der Züricher Probevorlesung, dass er sich methodisch »auf dem Gebiete der physiologischen und anatomischen Wissenschaften« bewegt (P II, S. 157), und spricht später davon, dass sich unlängst »die Botanik und Zoologie, die Physiologie und vergleichende Anatomie eines bedeutenden Fortschritts« erfreuten (P II, S. 159). 14 Vgl. Hauschild 1993, bes. S. 579–583. 15 Wilhelm Horn: Reise durch Deutschland, Ungarn, Holland, Italien, Frankreich, Grossbritannien und Irland; in Rücksicht auf medicinische und naturwissenschaftliche Institute, Armenpflege u.s.w. [...]. Bd. 2: Italien, Frankreich. Berlin: Th. Chr. Fr. Enslin 1831, bes. S. 349–354 zu Straß-

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Sammlungen wenige Stichwörter, um den Bestand zu charakterisieren. Einiges entgeht indes einer solchen Beschreibung. Weder werden die konkurrierenden und überlappenden Systeme von Klassifikationen erwähnt, die den Zeitgenossen zur Verfügung standen, noch die Beobachtungsformen, die Lehrmethoden und die Forschungsprogramme, in deren Zusammenhang solche Exponate eingebunden waren. Was allerdings jenseits der Faszination für Sammlungen und Klassifikationen, die hier aus dem 18. Jahrhundert ins 19. ausstrahlt, überdeutlich wird, sind zwei Momente: zum einen die kaum zu unterschätzende Bedeutung der Visualität und zum anderen die ausgeprägte materielle Kultur der Naturforschung. Ob durch Hilfsmittel aufgebessert oder unbewehrt, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts blieb das Auge das zentrale Instrument, durch das sich jeder Forscher der Natur annäherte. Naturforschung war gleichbedeutend mit der vorurteilsfreien Gewinnung und Auswertung sinnlicher, bevorzugt visueller Erfahrungen. Der führende Physiologe seiner Zeit, Johannes Müller, formuliert in seiner Antrittsvorlesung, die Büchner wohl für seine Probevorlesung zu Rate zieht, unumwunden: »Diese anspruchslose schlichte Anschauung der Natur [...] ist der Sinn des Naturforschers.«16 Nahezu jedes Feld der sich rasant vermehrenden und ausdifferenzierenden Naturforschung entwickelt hochkomplexe und spezialisierte Praktiken für die Aufzeichnung und Wiedergabe eben dieser Anschauungen. Dazu werden umfangreiche Kataloge für die angemessene Einrichtung und den Verlauf von Beobachtungen entwickelt. Diese einander ergänzenden Maßnahmen wiederum ermöglichen das Entstehen von Netzwerken, die Forscher und Projekte in allen Ländern Europas und über die engen Grenzen des Kontinents hinaus miteinander verbinden. Durch seine Ausbildung in Straßburg und Gießen hat Büchner zweifellos an diesem Regime der Vor-

|| burg. Büchners Kommilitone Ernst Dieffenbach pflichtet dem bei: Briefe aus dem Straßburger und Zürcher Exil 1833–1836. Eine Flüchtlingskorrespondenz aus dem Umkreis Georg Büchners (Teil 1). Mitgeteilt von Peter Mesenhöller. In: GBJb 8 (1990–94), S. 371–440, hier S. 390: »Das anatomische Cabinet, mag wohl eins der schönsten sein, die existiren. Auch die naturhistorischen Sammlungen sind sehr reichhaltig, dagegen im botanischen Garten wenig Gewächse.« Die wohl ausführlichste Beschreibung der anatomischen Sammlung stammt von ihrem Begründer: Vgl. dazu Eduard Lobstein: Joh. Friedr. Lobstein. Professor der innern Klinik und pathologischen Anatomie. Der Gründer des Anat. Pathol. Museums zu Strassburg. Sein Leben und Wirken. Ein Beitrag zur Säcular-Feier seiner Geburt. Strassburg: Trübner 1878, S. 250–259. 16 Johannes Müller: Von dem Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung. In: Ders.: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick. Leipzig: C. Cnobloch 1826, S. 1–36, hier S. 34.

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schriften teil, das den richtigen Gebrauch des Auges und die angemessene Art und Weise der Beobachtung lehrt.17 Am Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt das Vertrauen in die Beherrschbarkeit der Beobachtung zu schwinden. Das hatte seinen Grund weniger in den optischen Täuschungen und den Fehlinformationen, die die Sinne zweifellos lieferten. Gerade an diesen Umständen hatten sich die Methodenlehren der verschiedenen Disziplinen im 17. und 18. Jahrhundert abgearbeitet. Was die Sicherheit einer fachgerecht ausgeführten, durch Übung angeleiteten und an der Vernunft geprüften Beobachtung erschütterte, war – in mittelbarer Konsequenz von Kants Kritik des Erkenntnisvermögens – die Einsicht in die grundsätzliche Bedingtheit der sinnlichen Wahrnehmung. Die Naturforschung registrierte, dass die Verrichtungen der Sinnesorgane immer auch Umstände hervorbringen, von denen nicht einfach abgesehen werden konnte. Vielmehr prägten und bestimmten diese Begleitumstände die jeweiligen Wahrnehmungen auf so fundamentale Weise, dass sie untrennbar mit ihnen verbunden waren. Selbst eine sorgfältig arrangierte und ausgeführte Beobachtung konnte also zu Fehlern führen, und zwar zu systematischen Fehlern, die sich angesichts der Beschaffenheit der Sinnesorgane und ihrer Verrichtungen weder vermeiden noch korrigieren noch überwinden ließen. Wohl nicht zufällig wurden Fehler dieser Art vornehmlich, aber nicht ausschließlich, in den Disziplinen in Rechnung gestellt, die Sinnesapparaten und Instrumenten sowie deren Koordination besondere Aufmerksamkeit widmeten – Astronomie, Mikroskopie und Sinnesphysiologie.18 In einer rekursiven Schleife, die insbesondere die frühe Sinnesphysiologie reflektiert, sowohl Jan Evangelista Purkinje als auch Johannes Müller spre-

|| 17 Die Fachtraditionen der Abbildung verlängern sich bis in die Illustrationen zum Mémoire sur le système nerveux du barbeau, wie erstmals in MBA 8, S. 290–302 gezeigt wurde. Vgl. zur Operation der Beobachtung: Olaf Breidbach: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung. München: Fink 2005 und Histories of Scientific Observations. Hrsg. v. Lorraine Daston u. Elizabeth Lunbeck. Chicago u. London: University of Chicago Press 2011, insbesondere der Übersichtsartikel von Lorraine Daston: The Empire of Observation, 1600–1800. In: Ebd., S. 81–113. 18 Vgl. die zeitgleich entstandenen Studien von Christoph Hoffmann: Unter Beobachtung. Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate. Göttingen: Wallstein 2006 u. Jutta Schickore: The Microscope and the Eye. A History of Reflections, 1740–1870. Chicago: University of Chicago Press 2007. Während Hoffmann sich eher an der Astronomie orientiert, konzentriert sich Schickore auf die Mikroskopie und die Anatomie des Auges. Beide historisieren und generalisieren zugleich die Kardinalthese von der Entstehung der modernen Modalität der Beobachtung in den 1820er und 1830er Jahren, die Jonathan Crary vertreten hat: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, Mass. [u. a.]: MIT Press 1990.

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chen vom »Eigenleben« der Sinne,19 geraten die Beschaffenheit des Auges und die genauen Abläufe des Sehvorgangs in den Blick – zugleich als Gegenstand der Untersuchung wie als Bedingung ihrer Durchführung.20 Es ist diese zweifache Aufmerksamkeit auf den Sinnesapparat, die Büchner aus der Naturforschung auf die Literatur überträgt und zum Zwecke der Wahrnehmung politischer Vorgänge nutzbar macht.

3 Die Entdeckung und die Mobilisierung der Sinne im Hessischen Landboten Selbst für eine politische Flugschrift ist der von Georg Büchner verfasste und von Friedrich Ludwig Weidig grundlegend überarbeitete Hessische Landbote außerordentlich bildträchtig. Der an der Aktion beteiligte August Becker hat gegenüber den Untersuchungsbehörden nicht nur zu Protokoll gegeben, was Büchner mit der Flugschrift bezweckte, nämlich sich zu »überzeugen, in wie weit das deutsche Volk geneigt sei, an einer Revolution Antheil zu nehmen«, sondern auch ausgesagt, wie jener diesen Zweck zu erreichen suchte: Demnach habe Büchner beabsichtigt, dem Volk »seine nahe liegenden Interessen vor Augen« zu stellen.21 In einer anderen Passage des Protokolls ist von »zeigen und vorrechnen« die Rede.22 Diese Aussagen sind wörtlich zu nehmen. Die Flugschrift ist durchzogen von Aufforderungen, sich der Sinne zu bedienen, sich zu erinnern (»Denkt«, P II, S. 56), die Dinge selbst in Augenschein zu nehmen (»tretet«, »Geht«, ebd., S. 58f.), den Blick aufzurichten (»Hebt die Augen auf«, ebd., S. 65) sowie genau hinzusehen (»Seh(e)t«, ebd., S. 54, 59; vgl. S. 55, 58 u. 64). Volker Klotz hat hier treffend von einem »agitatorischen Imperativ« oder

|| 19 J.[an Evangelista] Purkinje: Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne. Erstes Bändchen. Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht [1819]. Prag: J. G. Calve 1823, S. 7 und Johannes Müller: Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. (Coblenz: Hölscher 1826.) ND Leipzig: Barth 1927, bes. S. 82–92. 20 Vgl. hier noch einmal Schickore: The Microscope and the Eye (s. Anm. 18) sowie zu den Konsequenzen für die Ästhetik Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kunsttheorie, Ästhetik und Literatur in der frühen Moderne. Freiburg i. Br.: Rombach 2005, S. 71–98. 21 Noellner, S. 425; P II, S. 664f. 22 Noellner, S. 421; P II, S. 660.

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einem »Appell ans Auge« gesprochen.23 Diese Anregungen der Sinne und die Bildlichkeit, die sie evozieren, lassen sich nicht allein auf die rhetorische Tradition beziehen.24 Sie stehen außerdem in Bezug zu der Entdeckung der Reflexivität der Sinnlichkeit, die sich in der zeitgenössischen Naturforschung ereignet und fortan ihre Bildkultur und Pädagogik mitprägt. Wie selbstverständlich beginnt noch eines der Standardwerke zur Physiologie um 1830, Friedrich Tiedemanns Physiologie des Menschen, mit einer Methodenlehre, die von den Sinnen ihren Ausgang nimmt. Tiedemann bestimmt in den Einleitungsparagraphen: Die Physiologie ist eine Erfahrungs-Wissenschaft, und sie wird wie die gesammte Naturlehre und alle ihre Zweige durch Beobachtung und Nachdenken begründet. Mittelst der Sinne fassen wir die Erscheinungen des Lebens auf, und erlangen die das Leben betreffenden Thatsachen. Das Nachdenken ist es, welches jene nach ihren Verschiedenheiten trennt, nach ihren Aehnlichkeiten verbindet, das Besondere zum Allgemeinen verknüpft, und die Begriffe über dieselben aufstellt.25

Geführt von einer zielgerichteten Beobachtung, die die Erscheinungen der Natur mit Aufmerksamkeit betrachtet, werden die Sinne, genauer die »SinnesAnschauungen und Wahrnehmungen« zur eigentlichen Quelle der Naturforschung, sofern sie denn der Prüfung durch den Verstand standgehalten haben.26 Tiedemann kann sich an dieser Stelle auf die »Apologie der Sinnlichkeit« berufen, zu der Immanuel Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus dem Jahr 1798 ausholt.27 Allerdings will, wie Tiedemann und zahllose weite-

|| 23 Volker Klotz: Agitationsvorgang und Wirkprozedur in Büchners »Hessischem Landboten«. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Hrsg. v. Helmut Arntzen [u. a.]. Berlin u. New York: De Gruyter 1975, S. 388–405, hier S. 399f. 24 Vgl. zum Kontext der Rhetorik: M. Barrasch: Bild, Bildlichkeit. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. Tübingen: Niemeyer 1994, Bd. 2, Sp. 10–30. Die Sprachbilder und die Rhetorik im Hessischen Landboten sind wiederholt aufgearbeitet worden. Vgl. Klotz (s. Anm. 23); Daniel Müller-Nielaba: Das Loch im Fürstenmantel. Überlegungen zu einer Rhetorik des Bildbruchs im Hessischen Landboten. In: Colloquia Germanica 27 (1994), S. 123–140; Knapp, bes. S. 80, 84f. und Dietmar Till: »Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.« Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten. In: GBJb 12 (2009–2012), S. 3–23. 25 Friedrich Tiedemann: Physiologie des Menschen. Bd. 1: Allgemeine Betrachtungen der organischen Körper. Darmstadt: Carl Wilhelm Leske 1830, S. 9. 26 Ebd., S. 10. 27 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Frankfurt a. M.: Insel 1964, S. 394–690, hier S. 434f.: »Die Sinne gebieten nicht über den Verstand. Sie bieten sich vielmehr nur dem Verstande an, um über ihren

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re Handbücher ebenfalls betonen, das richtige Wahrnehmen und der regelgerechte Gebrauch der Sinne gelernt sein.28 Der Hessische Landbote schöpft nicht nur aus der Quelle der Sinneserfahrung, er will auch zum selbsttätigen Gebrauch der Beobachtung anleiten. Der erste Hinweis auf das Sehen, wenngleich im Konjunktiv, findet sich im Eingang der Flugschrift. Dort leitet er die wuchtige, aber eigenwillige Neuerzählung der biblischen Schöpfungsgeschichte ein: Im Jahr 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. (P II, S. 53)

Diese Schöpfungsgeschichte ist korrumpiert. Die Momentaufnahme aus dem Jahr 1834, der Jetztzeit der Flugschrift, steht im Widerspruch zum Ewigkeitsanspruch der Bibel. Die Anweisung, sich der eignen Sinne zu bedienen und genau zu sehen, enthüllt den Widerspruch. Der Gebrauch der Sinne wird hier in zwei Richtungen entfaltet. Zum einen entwickelt die Flugschrift ein Programm der Reduktion, das darauf hinausläuft, nur das zu sehen, was es tatsächlich zu sehen gibt. Zum anderen bietet sie ein Programm der Sequenzierung an, das verlangt, unterschiedliche Stadien einer zeitlichen Entwicklung im Zusammenhang zu betrachten, mithin etwas zu sehen, was in der Realität niemals zu sehen ist. Das erste Programm eröffnet Bezüge zur zeitgenössischen Abwendung von einer Form der Naturphilosophie, die sich nicht lange mit der Beobachtung aufhält, sondern in Spekulationen ergeht.29 Das zweite Programm steht in Ana-

|| Dienst zu disponieren. […] Die Sinne betrügen nicht […]; und dieses darum, nicht weil sie immer richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen«. 28 Nach Tiedemann sind bei jeder Beobachtung eine ganze Reihe von »Regeln der Vorsicht zu beachten: 1) Vor Allem müssen sich unsere Sinnes-Werkzeuge im gesunden und regelmässigen Zustande befinden […]. 2) Eine weitere Erforderniss eines guten Beobachters ist ruhige, feste und auf das Feld seiner Beobachtungen gerichtete Aufmerksamkeit, um mit Ausdauer und Sicherheit alles wahrzunehmen und nichts zu übersehen. Diese Aufmerksamkeit wird durch Liebe für das Beobachten und durch Uebung gewonnen. 3) Es muss der Beobachter während den Untersuchungen sich aller vorgefassten Meinungen entschlagen […]. 4) Endlich muss der Beobachter und Experimentator von der Liebe zur Wahrheit beseelt seyn.« Ders.: Physiologie des Menschen. Bd. 1 (s. Anm. 25), S. 11. 29 Vgl. Müller: Von dem Bedürfniß der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung (s. Anm. 16), S. 15: »Die falsche Naturphilosophie hat aber den Dünkel einer höheren Erkenntniß, und glaubt sich einer mühsamen Betrachtung und Sonderung des Einzelnen überhoben, der sie auch auf philosophischem (nicht physiologischem) Standpuncte überhoben wäre, wenn sie im Besitze wäre der geforderten Erkenntniß.«

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logie zum Ansatz von Georges Cuvier, der in seinen Fossilienstudien unter skrupulöser Auswertung sämtlicher verfügbarer Fragmente, längst versunkene Welten wiederentstehen lässt.30 In der Flugschrift nehmen beide Strategien die Genesis zur Grundlage. Die biblische Erzählung von der Erschaffung der Welt fokussiert die Aufmerksamkeit. Sie stellt eine eschatologisch fundierte Lehre bereit, die die Natur in bestimmter Weise begreift und einteilt. Die Grundlage der alttestamentarischen Ordnung der Natur ist die Reihenfolge der Schöpfungsakte, wobei die größte heilsgeschichtliche Bedeutsamkeit dem Menschen zukommt, der zuletzt erschaffen wird. Das Programm der Reduktion, das die Flugschrift einsetzt, verlangt, alles zu vernachlässigen, was nicht Teil dieser Ordnung ist. Das betrifft insbesondere die Unterscheidungen des Sozialen, also die Grundlage der Ungleichheit und der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Denn die Schöpfungsgeschichte stellt solche Unterscheidungen nicht bereit. Wenn also die Genesis zur Beobachtung anleitet, dann verlieren die ständischen, die ökonomischen und die herrschaftlichen Einteilungen der sozialen Welt in »Fürsten und Vornehme« auf der einen sowie in »Bauern und Handwerker« bzw. »Bauern und Bürger« auf der anderen Seite ihre fraglose Gültigkeit. Sie erweisen sich als historisch kontingente Zugaben, die den gottgewollten Ausgangszustand revidieren und die heilsgeschichtlich begründete Naturlehre – insbesondere die strikt gezogene Grenze zwischen Mensch und Tier – außer Kraft setzen.31 Die brisante Folgerung, den Ausgangszustand, der gleichfalls ein Endzustand sein soll, wiederherzustellen, und also eine naturgegebene und gottgewollte Gleichheit unter den Menschen zu etablieren, deutet sich an dieser Stelle nur an. Die reduktive Beobachtung, die immer auch auf eine Hervorhebung des ›Natürlichen‹, Kreatürlichen hinausläuft, kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn sich die Flugschrift dem Souverän zuwendet. Im Falle des Hessischen Landboten handelt es sich um den Großherzog von Hessen-Darmstadt. Dabei gewinnt die historisch-konkrete Figur so wenig Profil, dass sie auf das Prinzip souveräner Herrschaft verweist. Der Großherzog, so definiert der Landbote, »heißt: unverletzlich, heilig, souverain, königliche Hoheit.« (P II, S. 58) Die lan-

|| 30 Vgl. G.[eorges] Cuvier: Recherches sur les ossemens fossiles, où l’on rétablit les caractères de plusieurs animaux dont les révolutions du globe ont détruit les espèces. 5 Bde. 2. Aufl. Paris: Chez G. Dufour et E. d’Ocagne 1821–1824. Dazu Martin J. S. Rudwick: Georges Cuvier, Fossil Bones, and Geological Catastrophes. Chicago: University of Chicago Press 1997. Zu Cuviers Katastrophentheorie im Horizont von Danton’s Tod vgl. MBA 3.4, S. 152f. 31 Vgl. zur Mensch-Tier-Grenze: Roland Borgards: Tiere. In: Büchner-Handbuch, S. 218–225, bes. S. 221–223.

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ge Titulatur gesteht dem Herrscher eine Reihe von Eigenschaften zu, die in seinem Reich kein anderer für sich beanspruchen darf. Diese Eigenschaften sind allerdings Teil des Amtes, nicht der Person. Die Person besitzt diese Qualitäten also nicht von sich aus, sondern nur, weil sie ihr zugeschrieben werden.32 Der Souverän ist, wie die Flugschrift betont, einer, »den sie so nennen« (P II, S. 58). Erst die Zirkulation solcher Rede bringt die übermenschlichen Qualitäten hervor, die den Souverän von seinen Untertanen unterscheiden sollen. Mit einem der zahlreichen Imperative lenkt der Landbote die Aufmerksamkeit auf die bemerkenswerte Gegebenheit, dass diejenigen, die den Herrscher sehen, immer mehr sehen, als tatsächlich zu sehen ist. Angesichts dessen fordert die Flugschrift dazu auf, näher zu treten und genauer hinzusehen: »Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel.« (Ebd.) In diesem besonderen Fall scheint der Landbote bereit, den über Jahrhunderte eingeschliffenen Sehgewohnheiten ein Stück weit entgegenzukommen. Denn die Unterscheidung zwischen Person und Dekor, »Menschenkind« und »Fürstenmantel«, die der Text vornimmt, gesteht den unsichtbaren Eigenschaften, der Mystik des Herrschers, eine Materialität zu, die sie im Grunde nicht aufweist. Doch gibt dieselbe Unterscheidung die Mystik als Erscheinung der Oberfläche zu erkennen. Dem Blick, der diese Hülle durchstößt, und der insofern dem medizinischen Blick ähnelt, enthüllt sich ein Körper aus Fleisch und Blut.33 Was die genaue, reduktive Beobachtung ans Licht bringt, ist das biblische »Menschenkind« in seiner Notdurft. Es teilt die Bedürfnisse jedes anderen Menschen, Nahrungsaufnahme und Schlaf; es wird, wie jeder andere, geboren und stirbt auf dieselbe Weise. Im Revolutionsexkurs kann der Landbote daran die Behauptung anschließen, »ein König sei ein Mensch wie ein anderer auch« (P II, S. 60). Hier stößt der angestammte Anspruch derjenigen, die aus »so übermenschlichen Geschlechtern sind« (ebd., S. 58), an seine Grenzen. Mit der Unterscheidung zwischen Körper und Kostüm, Person und Symbolik bewegt sich der Hessische Landbote im Rahmen einer der nachhaltigsten Staatsvorstellungen aus der Epoche der Alleinherrscher. Unter Berufung auf Rechtstexte aus der Tudorzeit hat der Mediävist Ernst Kantorowicz die Lehre rekonstruiert, derzufolge der König »zwei Körper [hat], nämlich den natürlichen (body natural) und den politischen

|| 32 Vgl. hier Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann u. Ethel Matala de Mazza: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002. 33 Vgl. hierzu Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Übers. von Walter Seitter. München: Hanser 1973.

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(body politic).«34 Die Widersprüche und die kontraintuitiven Forderungen, die sich für die Menschen der Moderne aus dieser wirkungsmächtigen Lehre ergeben, macht sich die Flugschrift zunutze. Der Hessische Landbote konfrontiert den politischen Körper mit seinen natürlichen Beschränkungen. Sakralität, Souveränität und Hoheit des Herrschers reduzieren sich bei genauerer Betrachtung auf nackte und hilflose Kreatürlichkeit. In gewisser Weise teilt der Souverän, den der Landbote präsentiert, also das Schicksal seines Volkes. Wie um ein Gegengewicht zum körperlich konzipierten Herrscher zu schaffen, werden auch die Beherrschten als ein Körper vorgestellt, den die Flugschrift gleich zweimal beschwört. Zu Beginn ist vom »Leib des Volkes« (P II, S. 54) die Rede und zum Ende wird mit Emphase erklärt: »Das deutsche Volk ist Ein Leib« (ebd., S. 66). Dazwischen lässt der Landbote diesen Leib sein prekäres Geschick durchleben. Als Kollektivkörper vereinigt er »Bauern und Handwerker« bzw. »Bauern und Bürger« (ebd., S. 53). Die Sammelformeln sind auf Breitenwirkung angelegt. Jeder der Eingeschlossenen kann sich im Schicksal des Volkskörpers wiederfinden, das in einer Vielzahl von vignettenartigen Kurzszenen augenfällig gemacht wird. Hier leitet der Landbote dazu an, mehr zu sehen, als tatsächlich zu sehen ist. So heißt es z. B. gleich zu Beginn: Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag [...]; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele [...]. (Ebd., S. 53f.).

Nur der zweite Satz liefert eine konkrete Beschreibung der ländlichen Lebenswelt, die vom jahreszeitlichen Rhythmus des Pflügens, Säens, Mähens und Erntens bestimmt wird. Die übrigen Sätze nehmen die Ökonomie des Ackerbaus zum Ausgangspunkt und erweitern die Bilder, die sich daraus ergeben, zu eindringlichen Szenenreihen. Durchgängige Fluchtlinie der Erweiterung ist die fundamentale Spaltung des Gemeinwesens in zwei Gruppen, die Vielen und die Wenigen, die Arbeitenden und die Privilegierten. Diese Spaltung zieht die Abweichung von der Normallage nach sich.35 Schon die Zeitverhältnisse befinden sich im Ungleichgewicht. Die Wochentage werden nicht, wie von der Schöp-

|| 34 Ernst Hartwig Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, S. 29. Vgl. dazu auch Müller-Nielaba: Das Loch im Fürstenmantel (s. Anm. 24), S. 130. 35 Vgl. dazu Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1999.

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fungsgeschichte vorgegeben, nach Tätigkeit und Ruhe unterschieden. Vielmehr werden »Werktag« und »Sonntag« innerhalb der Gemeinschaft ungleich aufgeteilt, sodass beide auf eigentümliche Weise gestreckt erscheinen, da die Vielen im Gegensatz zu den Wenigen unentwegt arbeiten.36 Die Spaltung des Gemeinwesens äußert sich außerdem in einer Verschiebung ins Groteske, die beide Seiten durchmachen. Zum einen werden die Arbeitenden, die schließlich Menschen sind, wie Dinge (»Dünger«) oder Tiere (»Ochsen«) behandelt. Die Arbeit, die sie wie das Nutzvieh leisten, ist buchstäblich Zwangsarbeit. Diese Form der Arbeit ist nicht nur erniedrigend, da sie den aufrechten Gang unterbindet, sondern ist auch deformierend, da sie ihre Spuren tief und nachhaltig in den Körper eingräbt (»sein Leib ist eine Schwiele«). Zum anderen werden die Privilegierten, die selbst nicht arbeiten, zu »Pressern«, die die Vielen wortwörtlich zu Boden drücken, zu »Treibern«, die die Mehrheit erbarmungslos zur Arbeit anhalten, zu »Räubern«, die das Volk um die Früchte seiner Arbeit bringen, und zu gefräßigen Essern, die »verzehren« wollen, was sie selbst nicht produziert haben. Zusammengenommen macht die Reihe dieser grotesk zugespitzten Szenen ökonomische, juridische, politische und soziale Prozesse von Ausbeutung deutlich, die aufgrund ihrer Komplexität und Abstraktheit niemals direkt zu beobachten sind. Zu einer Kombination der bislang dargestellten Beobachtungsmuster, des Blicks unter die Oberfläche und der anschaulichen Vergegenwärtigung von langfristigen Prozessen, kommt es in einer weiteren, drastisch verdichteten Szene. Eingeleitet wird sie wiederum durch die Aufforderung, näher zu treten und die Dinge selbst in Augenschein zu nehmen: Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euern hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind; und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt euch auf euren steinichten Äckern, damit eure Kinder auch einmal hingehen können, wenn ein Erbprinz mit einer Erbprinzessin für einen andern Erbprinzen Rat schaffen will, und durch die geöffneten Glastüren das Tischtuch sehen, wovon die Herren speisen und die Lampen riechen, aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert. (P II, S. 59)

|| 36 Vgl. zur Arbeit im Hessischen Landboten: William Bruce Armstrong: »Arbeit« und »Muße« in den Werken Georg Büchners. In: GB III, S. 63–98, bes. S. 65 und Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk. 3. Aufl. Königstein/ Ts.: Athenäum 1979, bes. S. 92f.

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Die Szene ist kontrastiv aufgebaut und topographisch auf den Gegensatz von Residenz und Umland orientiert. Die Asymmetrie im Sozialen wird an Ernährung, Bekleidung und Wohnung als den Grundumständen des Lebens festgemacht, die sich für die privilegierten Wenigen in Darmstadt und die auf dem Land arbeitenden Vielen radikal unterscheiden. Im Einzelnen geht es um die Gegensätze von Hunger und gefüllten »Bäuchen«, von Lumpen und »schönen Kleidern«, von »stattlichen Häusern« und »rauchigen Hütten«. Doch bleibt es nicht bei der Gegenüberstellung dessen, was durch den Blick unter die Oberfläche, der sich hier als Blick hinter die Fassaden des Luxus und des Überflusses darstellt, zum Vorschein kommt. Der Landbote fordert darüber hinaus dazu auf, einen Zusammenhang zwischen den strikt getrennten Gruppen und den räumlich gesonderten Sphären herzustellen. So betrachtet, erweist sich die Not und der Mangel der Vielen geradezu als notwendige Voraussetzung für die Verschwendung und das Wohlleben der Wenigen. Wiederum ist es eine groteske Verschiebung, die den Zusammenhang verdeutlichen soll. Denn die Mehrheit bezahlt für das Wohlleben der Minderheit mit ihrem Körper, dem die Nahrung vorenthalten, die Haut in Streifen geschnitten, das Fett ausgelassen und die Knochen herausgebrochen werden. Für die Vielen steht nicht weniger als das nackte Leben auf dem Spiel, das in seinen Abläufen kontrolliert, in seinen Verrichtungen produktiv gemacht und einschließlich des Körpers und seiner Bestandteile biopolitisch verwertet werden soll.37 Im Schlussfeld der langen Reihe von Imperativen, die im Hessischen Landboten die Sinne aktivieren und zu einer neuen Beobachtung des Politischen anleiten wollen, steht die Aufforderung: »Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser« (P II, S. 65). Der Aufstand der Angesprochenen beginnt auf programmatische Weise mit der Aufrichtung des Blicks.38 Was sich dem nüchternen und unverstellten Blick darbietet, ist nicht allein der Gegensatz zwischen der arbeitenden Mehrheit und der müßigen Minderheit, sondern ein eklatantes Missverhältnis, das genau quantifiziert werden kann: »Ihrer sind vielleicht 10,000 im Großherzogtum und Eurer sind es 700,000« (P II, S. 65). Die bloßen Zahlen, die gleichzeitig reduktiv wie summarisch sind, lassen offen, wie das Ungleichgewicht zu beseitigen ist. Deutlich ist nur, dass die Größen der Gruppen auf ein Machtgefälle hinweisen, das die gängige Wahrnehmung der

|| 37 Diese Erweiterung der Biopolitik Michel Foucaults nimmt prominent vor Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übers. von Hubert Thüring. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 38 Vgl. Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Hrsg. v. Gerhard Schaub. Stuttgart: Reclam 1996, S. 72.

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Verhältnisse auf den Kopf stellt. Die Veranschaulichung der tatsächlichen, nicht der vorgestellten Machtverhältnisse schafft die Voraussetzungen für eine mögliche, in die Zukunft verlegte Revolte.39 Insofern macht der Hessische Landbote einen großen Schritt in die Richtung, die vom Auge zur Aktion führt.

4 Danton’s Tod – Die Erkundung des Körper(-Innenraum)s Büchners Drama der Großen Revolution setzt die Operation der Beobachtung mit beträchtlichem Aufwand in Szene. Schon in der Exposition kommt es zu einer bemerkenswerten Häufung von Momenten visueller Wahrnehmung. Bei genauerer Betrachtung lassen sich im dichten Geschehen der ersten Szene des ersten Akts drei Beobachtungsszenarien unterscheiden. Den Anfang macht die intime Unterredung von Danton mit seiner Frau Julie; dieser folgt ein erregter Wortwechsel über den Terror und die Guillotine im engsten Kreis der Dantonisten; den Abschluss bildet das sogenannte Verfassungsgleichnis, das Camille Desmoulins aufstellt. Den Szenarien ist gemeinsam, dass die Beobachtung jeweils aus einer konkreten Situation erwächst und dass der Beobachter in diese Situation eingebunden ist. Es geht also nicht um eine passive Vergegenwärtigung der umliegenden Welt, vielmehr um eine produktive Wahrnehmung, an der die Sinne des Beobachters maßgeblich beteiligt sind. Eine solche Konstellation ist, wie Jonathan Crary in seiner epochemachenden Studie Techniques of the Observer dargelegt hat, charakteristisch für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts.40 Dieses Regime der Beobachtung, das zu dieser Zeit in der Naturforschung aufkommt, überträgt Danton’s Tod auf die Geschichte.41 Wie deutlich das Drama auf die aktive, geleitete und von den Sinnen getragene Beobachtung ausgerichtet ist, erweist gleich die erste Replik. Danton sucht den Blick seiner Frau Julie auf das Kartenspiel zu lenken, mit dem sich »etwas weiter weg« Hérault-Séchelles und »einige Damen am Spieltisch« unterhalten:

|| 39 Entsprechende Aussagen Büchners referiert August Becker: »Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art ausgeführt werden, so kann und darf das bloß durch die große Masse des Volkes geschehen, durch deren Ueberzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen« (Noellner, S. 421; P II, S. 659). 40 Crary: Techniques of the Observer (s. Anm. 18). 41 Vgl. hier die Parallele zwischen »dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben [...] vorgeht«, die Büchner in einem der Briefe über die Poetik seines Revolutionsdramas zieht (P II, S. 410).

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Sieh die hübsche Dame, wie artig sie die Karten dreht! ja wahrhaftig sie versteht’s, man sagt sie halte ihrem Manne immer das cœur und andern Leuten das carreau hin. Ihr könntet einen noch in die Lüge verliebt machen. (P I, S. 13)

Die Replik beginnt mit der programmatischen Anweisung zu sehen. Allerdings registriert die derartig aktivierte und orientierte Wahrnehmung, die der Mann anstößt und die die Frau nachvollziehen soll, mehrere, einander überkreuzende Spannungen – zwischen anregendem Spiel und tödlichem Ernst, zwischen Wahrhaftigkeit und Täuschung sowie, doppelsinnig über die Kartenfarben cœur und carreau entwickelt, zwischen Gefühl und Geschlecht. Die Spannungen betreffen auf der einen Seite die Paarbeziehung, die hier zur Begegnung der Geschlechter insgesamt stilisiert ist. Auf der anderen Seite beziehen sie sich auf die Politik. Denn die Beschreibung von »Frankreich« als Frau und die Rede von der »Statue der Freiheit« (ebd., S. 15f.) später in der Szene bewegen sich im Horizont der traditionsgesättigten Vorstellung von der weiblichen Allegorie, derer die Gemeinschaft sich bedient, um ihrer selbst angesichtig zu werden. Das sich anschließende Zwiegespräch der Liebenden spitzt die weit ausgreifenden Spannungsverhältnisse der ersten Replik auf die Paarbindung zu. Danton und Julie streiten über die Frage nach der Erkennbarkeit des einen durch den anderen, die die Liebe zugleich einfordert und gewährleisten soll. Für die Frau verbürgt die untrügliche Sicherheit des eigenen Gefühls auch die Unterstellung, dass es vom anderen in der gleichen Weise erwidert wird: »Du kennst mich Danton« (ebd., S. 13). Für den Mann dagegen führt der Weg ins Innere über das Äußere. Genau hier ziehen die Sinne eine unüberwindliche Grenze, die den einen, aller Anstrengungen zum Trotz, vom anderen trennt: »Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab« (ebd.). Ungeachtet des Verlangens nach Nähe und Begegnung bleibt das Gegenüber rätselhaft und unerkennbar. Denn ein Wissen vom anderen könnte nur die Beobachtung gewährleisten. Doch der Beobachtung erschließt sich nur das Außen, die Gesichtszüge und der Klang der Stimme. Selbst wenn diese vertraut sind, selbst wenn der Blick sich auf den anderen richtet und die Stimme diesen liebevoll anspricht, so enthüllt sich allenfalls die Schauseite. Das Innere bleibt verborgen. Es ist dieses Paradox der Intimität, das Danton in drastischer Form zum Ausdruck bringt: Aber er deutet ihr auf Stirn und Augen da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren. (Ebd.)

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Das Phantasma der Schädelspaltung, auf das der Abschnitt der Szene zuläuft, markiert den Nullpunkt der Paarbeziehung. Selbst wenn es Mittel gäbe, über die »Hirnfasern« auf die »Gedanken« zuzugreifen, so wäre ihr Einsatz tödlich. Die Beobachtung des Innersten über das Äußere hinweg vernichtete das, worüber sie sich Klarheit zu verschaffen suchte – die Person des anderen. Zugleich mit der Intimität ist auch die Politik an ihrem Nullpunkt angelangt. Und ähnlich wie jene sieht sich auch diese mit einem Paradox der Beobachtung konfrontiert. Die Beobachtung der Politik zur Hochzeit der Schreckensherrschaft vollzieht sich auf dem Revolutionsplatz. Tag um Tag richten sich die Blicke auf die Guillotine, die dort aufgestellt ist und ebenso gleichmäßig wie unbarmherzig ihre Opfer fordert.42 Die mechanische Vorrichtung verleiht dem Fallbeil eine derartige Geschwindigkeit, dass sich das Schauspiel einer jeden Hinrichtung auf wenige Augenblicke beschränkt. Die Revolutionäre sahen sich aus diesem Grunde genötigt, eine Reihe von Ritualen zu ersinnen, die dem Vorgang zumindest etwas von seinem früheren Charakter als öffentlichem Spektakel und dramatischer Inszenierung zurückgeben sollten. Als besonders effektiv hatte sich in dieser Hinsicht die Bündelung von Verurteilten erwiesen, da die Hinrichtungen auf diese Weise mehrfach wiederholt und somit ausgedehnt werden konnten. Trotzdem stellte das Verlangen, die Exekution einer bestimmten oder besonders prominenten Person zu sehen und in allen Details mitzuverfolgen, das Wahrnehmungsvermögen der Betrachter vor nicht unbeträchtliche Herausforderungen. Die Aufmerksamkeit musste sich notwendigerweise auf den einen flüchtigen Moment konzentrieren, zu dem sich das Fallbeil senkte und den Kopf des jeweiligen Opfers unwiderruflich vom Rumpf trennte. Die Schnelligkeit, mit der das angeschrägte, täglich geschärfte Beil die Hinrichtung bewältigte und den Delinquenten ohne Rücksicht auf seinen sozialen Stand vom Leben in den Tod beförderte, war vor der Einführung der Guillotine als große Geste der Humanisierung gepriesen worden. Für die Zuschauer brachte dies jedoch Überforderung und Frustration mit sich. Denn nicht nur entzog sich die Hinrichtung, die doch vor aller Augen stattfand, letztendlich den Blicken der Menge, sie verlor auch ihren Charakter als Strafschauspiel. Mit der Einführung der Guillotine waren die Zuschauer einer Hinrichtung keine Bürger mehr, die den Vollzug der Gerechtigkeit überwachen und bezeugen, sondern Schaulustige, die den schockierenden, makabren und affektgeladenen Anblick eines zerstückelten Körpers suchen.

|| 42 Vgl. Daniel Arasse: Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988.

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Diese Momente sind gegenwärtig, wenn in Danton’s Tod zum ersten Mal von der Guillotine die Rede ist. Die Dantonisten grüßen einen aus ihrem Kreis, der eben von einer der tagtäglich veranstalteten Massenhinrichtungen zu kommen scheint, mit den Worten: Philippeau, welch trübe Augen! Hast du dir ein Loch in die rote Mütze gerissen, hat der heilige Jakob ein böses Gesicht gemacht, hat es während des Guillotinierens geregnet oder hast du einen schlechten Platz bekommen und nichts sehen können? (P I, S. 14)

Von dem beißenden Spott, der sich hier über die Embleme der Jakobinerzeit, die phrygische Mütze und den Namenspatron des Jakobinerklubs, ergießt, einmal abgesehen, steht die Szene im Zeichen der gestörten Wahrnehmung. Die Augentrübung, die Philippeau stellvertretend für jeden Teilnehmer einer Guillotinierung nachgesagt wird, zeugt von der Melancholie der Begegnung mit dem Tod. Sie macht ganz konkret auf die Überforderung der Wahrnehmung aufmerksam, die von der Geschwindigkeit der Guillotine herrührt. Darüber hinaus bezeichnet sie die phantasmatische Dimension des Terrors. Denn das massenhafte Morden beruht, sobald die Dynamik entfesselt ist, auf der Vorstellung einer Transformation des Sozialen durch die Gewalt. In Büchners Drama arbeiten die großen Reden von Robespierre und St. Just (I,2; I,3; II,7) diese Vorstellung aus. Dagegen entlarvt die Eröffnungsszene den Terror als Phantasma. Es handelt sich nicht nur darum, dass die Transformation nicht wahrgenommen werden kann, dass der Beitrag jeder einzelnen Hinrichtung zur Überwindung des Alten unklar bleibt oder dass die vermeintlichen Feinde des Neuen und ihre Komplotte trotz der immer zahlreicheren und in immer kürzeren Abständen durchgeführten Exekutionen nicht weniger werden. Diese Vorbehalte bringen die Dantonisten zum Ausdruck, wenn sie von den Opfern sprechen, die auf der Guillotine fallen, von Köpfen, die Kindern zum Spielzeug dienen und von Leichen, die bloße Posten in einer nach Hunderten gezählten Rechnung bedeuten. Grundsätzlicher geht es aber darum, ob der Weg zur Neugründung der Gemeinschaft über die Gewalt führt, anders ausgedrückt steht zur Debatte, ob die Gemeinschaft über das Aufbrechen der Körper und das Wühlen in den Eingeweiden zu sich selbst finden kann. Im Drama ist es Camille Desmoulins, der diese Frage aufwirft: wie lange soll die Menschheit im ewigen Hunger ihre eignen Glieder fressen? oder, wie lange sollen wir Schiffbrüchige auf einem Wrack in unlöschbarem Durst einander das Blut aus den Adern saugen? oder, wie lange sollen wir Algebraisten im Fleisch beim Suchen nach dem unbekannten, ewig verweigerten x unsere Rechnungen mit zerfetzten Gliedern schreiben? (P I, S. 39f.)

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Was beschrieben wird, ist gleichsam die Kehrseite des institutionalisierten Mordens. Die Replik zwängt die mit archaischer Angst besetzten Phänomene von Kannibalismus und Vampirismus in einen Satz mit dem Öffnen des Körpers und dem Sichtbarmachen seines Innenlebens zusammen. Doch das Gesuchte entzieht sich hartnäckig. Die Gemeinschaft kann in den erbrochenen und zergliederten Körpern kein Wissen über sich selbst auffinden. In der Frustration der Körperöffnung und im Paradox der Beobachtung, die scheinbar das zerstören muss, worüber sie Aufschluss gewinnen will, gleichen sich Politik und Paarbeziehungen. Das dritte Beobachtungsszenario, das die Eröffnungsszene entwirft, verschränkt Öffentlichkeit und Intimität, die gemeinschaftlichen Angelegenheiten und die privaten Anliegen. Die Sphären berühren sich in dem bezugsreichen Gleichnis, das Camille Desmoulins formuliert, um das Verhältnis eines Volkes zu seiner Verfassung anschaulich zu machen: Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich sein, sie hat einmal das Recht zu sein wie sie ist, wir sind nicht berechtigt ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden. Wir werden den Leuten, welche über die nackten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich den Nonnenschleier werfen wollen, auf die Finger schlagen. (Ebd., S. 15)

Sowohl das Volk als auch die Verfassung nehmen in dem Gleichnis konkrete Formen an. Das Volk ist körperlich gegenwärtig, nämlich als »Leib«, den die Verfassung als »Gewand« zugleich umgeben und bekleiden soll. Die Selbstvergegenwärtigung der Gemeinschaft als Körper kann in der alteuropäischen Geschichte auf eine lange Tradition zurückblicken.43 Die Frage nach dem angemessenen Kleid für die politische Körperschaft ist demgegenüber jüngeren Datums. Schon die Tatsache, dass sich die Form des Body politic offenbar nicht mehr von selbst versteht und durch seine Eigenschaften eingehender bestimmt werden muss, kann als ein Hinweis auf den Epochenbruch der Französischen

|| 43 Vgl. hier die begriffsgeschichtliche Übersicht: Gerhard Dohrn-van Rossum u. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Rainer Kosellek. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, Bd. 4, S. 519–622 sowie die theoriegeschichtliche Auswertung von Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München: Fink 2004.

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Revolution gewertet werden.44 Das Gleichnis jedenfalls weist der Doppelfigur des politischen Körpers und seines Kleides eine Reihe von Merkmalen zu. In Übereinstimmung mit den etablierten Symbolprogrammen für politische Allegorien hat die »Gestalt« ein Geschlecht. Sie ist eine Frau. Aber im Unterschied zum Überkommenen nimmt das Gleichnis die Geschlechtlichkeit ernst. Die »Gestalt« umgibt eine erotische Aura, die entweder durch den »Nonnenschleier« züchtig verleugnet oder durch die »nackten Schultern« offensiv zur Schau getragen werden kann. Ungeachtet dieser Alternativen, die im Drama offensichtlich an den Kampf der politischen Fraktionen um Robespierre und Danton angebunden werden, stehen andere Eigenschaften im Vordergrund. Ebenfalls außer Kraft gesetzt wird die Unterscheidung von »schön oder häßlich«. Weder die Erotik noch die Ästhetik können der Gestalt gerecht werden. Beide müssen einer unvoreingenommenen Bestandsaufnahme der Figur, »wie sie ist«, weichen. Die Kriterien einer solchen Betrachtung liefert die Natur. Es geht mithin um die Lebensprozesse des organischen Körpers und die äußeren Anzeichen dieser inneren Vorgänge. Die Lebensäußerungen, im einzelnen »[j]edes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen«, sollen präzis registriert werden. Genau dies, die Beobachtung der Lebensprozesse am lebendigen Leib, ohne jeden gewaltsamen Eingriff durch einen invasiven Schnitt wie bei der Vivisektion, soll das »durchsichtige Gewand« ermöglichen.45 Ein derartiges Kleidungsstück verdoppelt nicht die Hülle der Haut, sondern macht sie im Gegenteil durchlässig und gibt den Blick frei auf das Innenleben des Körpers. Sie wird zu einer Spiegelfläche der Lebensvorgänge, die jedes Detail genau aufzeichnet. Der Betrachter muss sich nur auf das Ablesen verstehen. Hier zeigt sich der eigentliche Sinn des Gleichnisses, das ein Volk und seine Verfassung auf dem Boden der Naturforschung zusammenführt. Das gleiche Paradox, mit dem sich der Anatom und der Physiologe konfrontiert sehen, soll auch der Verfassungsgeber gewärtigen, nämlich den lebenden Organismus zu

|| 44 Zu den Experimenten mit neuartigen Figuren politischer Körperschaft im Gefolge der Revolution s.: Frank, Koschorke, Lüdemann u. Matala de Mazza: Des Kaisers neue Kleider (s. Anm. 32) und Albrecht Koschorke [u. a.]: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2007, bes. S. 219– 318. 45 Siehe stellvertretend für viele: Tiedemann: Physiologie des Menschen. Bd. 1 (s. Anm. 25), S. 12: »Da wir die Lebens-Aeusserungen der inneren Organe des Menschen nur in seltenen Fällen […] zu beobachten Gelegenheit haben; so müssen wir die Natur durch Versuche an lebenden oder so eben getödteten Thieren befragen.« Vgl. auch den entsprechenden Hinweis bei Nicolas Pethes: Wissenschaftliches und literarisches Experiment. In: Büchner-Handbuch, S. 261–266, hier S. 262.

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beobachten, ohne ihn zu zerstören. Das Gleichnis kopiert somit die lebenswissenschaftliche Beobachtung des Körpers in die politische Selbstbeschreibung hinein. Es handelt sich um eine nicht-invasive, geduldig dem Gegenstand auf der Spur bleibende Beobachtung, die das Eigenrecht der Natur achtet und sich aller Eingriffe in den kollektiven Körper enthält.

5 Die Modulation der Beobachtung in Leonce und Lena Leonce und Lena moduliert die Beobachtung. Sowohl im Eingang als auch im Ausgang des Stücks finden sich Szenarien, die die sinnliche Wahrnehmung perspektivisch brechen. Zu Beginn ist es das unbewehrte Auge, dem eine strapaziöse Beugung des Blicks zugemutet wird, und am Ende ist es das Mikroskop, das einen fokussierenden Zugriff auf die Welt ermöglicht. Unter einer modifizierten Optik, so zeigt sich, verschwimmen nicht nur die Konturen derjenigen, die den Ort der Macht in propria persona einnehmen, auch die Verzerrungen der Repräsentation ihrer Herrschaft werden sinnfällig. Das Zentrum, auf das sich die politische Ordnung der Dinge in der Epoche der Alleinherrscher ausrichtet, erweist sich somit als doppelt prekär – ist es doch zum einen von profillosen Figuren besetzt und zum anderen von illusorisch überdehnten Fassaden umgeben. Leonce und Lena legt es also darauf an, einen Zustand zu zeigen, den Edmund Burke, der vielleicht wortgewaltigste Advokat des monarchischen Prinzips zu seiner Zeit, mit Abscheu ein »void produced in society« nennt.46 Büchners Lustspiel will die Lücke durch eine Veränderung des Blicks sichtbar machen und so die Repräsentation der Restauration und die Inszenierung souveräner Herrschaft bloßstellen. Im ersten Sprechtext des Stücks (I,1) verteidigt der Prinz Leonce das Adelsprivileg des Müßiggangs gegen einen Hofmeister, der sein Amt so devot bis zur Selbstverleugnung versieht, wie es nach dem Muster des Dramas Der Hofmeister (1774) von Jakob Michael Reinhold Lenz zu erwarten ist. Die Rituale des Nichtstuns, die Leonce erfindet, um sich Beschäftigung vorzugaukeln (»Ich habe alle Hände voll zu tun. Ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen«) und die allgegenwärtige Langeweile des Hoflebens zu vertreiben, synchronisieren entweder Körpertätigkeit mit Zeitmessung (»erst habe ich auf den Stein hier dreihundert fünf und sechzig Mal hintereinander zu spucken«) oder treiben unentscheidbare Dichotomien (»Grad oder ungerad?«; gläubig oder »ein Heide?«) der Auflösung

|| 46 Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France. Hrsg. v. J. C. D. Clark. Stanford: Stanford University Press 2001, S. 188.

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zu (P I, S. 95). Bedeutung gewinnt derartiger Zeitvertreib nur dadurch, dass er den privilegierten Gelangweilten von seinem hauptsächlichen Leiden, der Selbstbeobachtung, ablenkt. Mit dem Zwang zur Selbstreflexion gibt sich Leonce in erster Linie als Melancholiker zu erkennen.47 Darüber hinaus führt er aber gleich zu Beginn, somit an kritischer Stelle, die visuelle Wahrnehmung konfliktorientiert ins Stück ein: »Dann – habe ich nachzudenken, wie es wohl angehen mag, daß ich mir einmal auf den Kopf sehe. – O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte!« (P I, S. 95.) Die Selbstbeobachtung mittels Fremdbeobachtung, ohne technische Hilfsmittel, allein durch das unbewehrte Auge, die physiologisch unmöglich ist, wird zuerst in der Möglichkeit anvisiert, um dann im Wunsch des Folgesatzes intensiveren Ausdruck zu gewinnen. Es geht Leonce darum, den Körper durch gezielte Irritation des Sinnesapparates zum Sprechen zu bringen. Zu diesem Zweck arrangiert er eine Beobachtungskonstellation, die mit Notwendigkeit an ihren Paradoxien scheitern muss. Diese Konstellation manipuliert die Beobachterposition durch Introspektion und verbindet damit einen Erkenntnisanspruch. Genauer gesagt, richtet sich die Beobachtung auf die Stellung des Ichs in der Welt, und die Erkenntnis zielt auf das Verhältnis des Ichs zu sich selbst ab. Es ist dieser Doppelbezug von realistisch-präzisem Registrieren der Abläufe in der sozialen Realität bei gleichzeitig regem Interesse an den Bewegungen des Seelenlebens, auf die Büchners Texte immer wieder zusteuern. Zur Erkundung der Konstellation bietet Büchner an dieser Stelle ein Verfahren auf, das sich sowohl naturwissenschaftlichen als auch poetischen Voraussetzungen verdankt. Er schließt damit an ähnliche Unternehmungen an, wie sie etwa bei Jean Paul in Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch (1801) und dem Kampaner Tal (1797) oder in der romantischen Prosa bei E.T.A. Hoffmann im Sandmann (1816), in der Prinzessin Brambilla (1820) und im Meister Floh (1822) zu finden sind.48 Im Gegensatz zu diesen Texten steht die

|| 47 Vgl. zur Melancholie im Stück: Ludwig Völker: Die Sprache der Melancholie in Büchners Leonce und Lena. In: GBJb 3 (1983), S. 118–137; Volker C. Dörr: »Melancholische Schweinsohren« und »schändlichste Verwirrung«. Zu Georg Büchners »Lustspiel« Leonce und Lena. In: DVjs 77 (2003), H. 3, S. 380–406; Patrick Fortmann: Langeweile, Lebenskarriere und Literatur. Zu einer Figur poetischer Produktivität bei Büchner. In: Commitment and Compassion: Essays on Georg Büchner. Hrsg. v. dems. u. Martha B. Helfer. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 81) Amsterdam u. New York: Rodopi 2012, S. 161–178. 48 Vgl. zum Umfeld Gerhard Neumann: Fernrohr, Mikroskop, Luftballon. Wahrnehmungstechnik und Literatur in der Goethezeit. In: Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Hrsg. v. Helmar Schramm et al. Berlin u. New York: De Gruyter 2006, S. 345–377 sowie zur verzerrenden Wahrnehmung ders.: Anamorphose. E.T.A. Hoffmanns Poetik

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Selbstbeobachtung in Leonce und Lena unter den distanzierenden Vorzeichen körperlicher Überdehnung. Leonce überanstrengt die Wahrnehmung, indem er dem Blick eine unmögliche Krümmung zumutet. Seine Introspektion will Weltbeobachtung und Selbsterkenntnis verschränken. Sie muss fehlgehen, weil entweder für die Introspektion die Welt oder für die Fremdbeobachtung das Selbst unerreichbar bleibt. Der Blick, der sich auf das Selbst richtet, und es als Anderen erkennen will, entzweit sich und verwickelt sich so in unentwirrbare Widersprüche. Ebenso wie die Blickspaltung misslingt der Sprung aus der eigenen Haut in die fremde, der übergangslose Wechsel vom Ich zum Du. Leonce reflektiert ihn wiederum im Modus des Wunsches: »O wer einmal jemand Anderes sein könnte! Nur ’ne Minute lang« (P I, S. 96). Der Perspektiventausch oder das simultane Verfügen über zwei Beobachterstandpunkte würde die mit dem Zweifel der Selbsttäuschung behaftete Wahrnehmung stabilisieren und Leonce die Sicherheit des Erkannten qua Intersubjektivität neu verbürgen. Da es indes beim Wunsch bleibt und der fliegende Wechsel zwischen den Perspektiven nicht stattfindet, muss sich der Theaterprinz in der Instabilität einrichten. In beiden Fällen ist die Paradoxie von Leonces Wünschen offenkundig. Der Blick kann sich nicht spalten; das Ich ist im eigenen Körper gefangen. Das Anrennen gegen diese Grenze ist fruchtlos. Erfolgt es dennoch, ergeben sich, wie hier, eine Fülle von Komikeffekten. Vor dem Hintergrund der ausgreifenden Ansprüche der Naturforschung wächst der Selbstbeobachtung zusätzliche Bedeutung zu. In einem kurzen, aber wissenschaftsgeschichtlich folgenreichen Beitrag meldet sich kein Geringerer als Immanuel Kant in der Diskussion um die philosophische Bedeutung hirnanatomischer Erkenntnisse zu Wort. Kant, der von dem transzendentalphilosophisch ambitionierten Anatomen Samuel Thomas Soemmerring um ein Nachwort zu seiner Abhandlung Ueber das Organ der Seele (1796) gebeten worden war, unterzieht die Schrift einer vernichtenden Kritik.49 Kant weist Soemmerrings hauptsächliches Ansinnen, der Seele im Körper einen genau bestimmbaren Ort anzuweisen, mit so großem Nachdruck zurück, dass weder der Lokalisationsansatz noch die Annahme eines Seelenorgans einen ernstzunehmenden || der Defiguration. In: Mimesis und Simulation. Hrsg. v. Andreas Kablitz u. dems. Freiburg i. Br.: Rombach 1998, S. 377–417. 49 Vgl. Immanuel Kant: [Aus Sömmering, über das Organ der Seele.] In: Ders.: Werke. Bd. 6 (s. Anm. 27), S. 255–259. Vgl. die weiterführenden Kommentare von Peter McLaughlin: Soemmerring und Kant. Über das Organ der Seele und den Streit der Fakultäten. In: Samuel Thomas Soemmerring und die Gelehrten der Goethe-Zeit. Hrsg. v. Gunter Mann u. Franz Dumont. Stuttgart u. New York: Fischer 1985, S. 191–201 und Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Berlin: Berlin-Verlag 1997, S. 78–83.

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Nachfolger finden. Ohne auf Einzelheiten des Arguments einzugehen, mit dem sich Kant schwergetan hat, wie die überlieferten Vorstufen und Redaktionen des nur wenige Seiten umfassenden Nachworts eindrucksvoll belegen, genügt in diesem Kontext der Hinweis auf die neuartige Begrifflichkeit. Im Zuge seiner Argumentation führt Kant nämlich nachhaltige terminologische Unterscheidungen ein, die es erlauben, auch die Paradoxien des Theaterprinzen genauer zu bestimmen: Nun kann die Seele sich nur durch den inneren Sinn, den Körper aber (es sei inwendig oder äußerlich) nur durch äußere Sinne wahrnehmen, mithin sich selbst schlechterdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich außer sich selbst versetzen müßte; welches sich widerspricht.50

Dem philosophischen Naturforscher Büchner dürfte Kants Nachwort, zumal es Soemmerrings Abhandlung beigegeben war, nicht unbekannt gewesen sein.51 Was Leonce vorschwebt, ist, von Kant ausgehend formuliert, die Externalisierung des inneren oder die Internalisierung des äußeren Sinns. Beides führt zum Widerspruch. Kant selbst löst den Widerspruch in die disziplinäre Arbeitsteilung auf. Die Philosophie ist für den inneren Sinn zuständig, da sie ihre Erkenntnis a priori gewinnt. Die medizinischen Wissenschaften hingegen, welche auf Empirie angewiesen sind, und also a posteriori verfahren, können nur im Hinblick auf den äußeren Sinn Zuständigkeit beanspruchen. Auf der Strecke bleiben nicht nur Soemmerrings transzendentale Physiologie, sondern vielmehr alle Projekte, die Anatomie und Metaphysik verbinden wollen. Der Traum der Naturforscher, dass die Erkenntnis der Seele im Inneren des Körpers verborgen sein könnte, geht damit zu Ende. Leonces Introspektion endet indes nicht folgenlos im Zustand der Paradoxie. Sie zieht, wie schon angedeutet, den Standpunkt des Betrachters in Mitleidenschaft. Aus der vorgestellten Spaltung des Blicks resultiert eine verzerrte Perspektive, sodass die Wahrnehmung im Wortsinne ›ver-rückt‹ erscheint und aus den Fugen zu geraten droht. Leonce ist die integrative Zentralperspektive mitsamt einer fixierbaren Beobachterposition verlorengegangen. Der Versuch, sie wiederzugewinnen, scheitert am Körper, der vor der verlangten Krümmung versagt. Büchners Bühnenheld nimmt aus unsicherer Lage wahr.52 Die ange-

|| 50 Kant: [Aus Sömmering, über das Organ der Seele] (s. Anm. 49), S. 259. 51 Vgl. Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften (s. Anm. 10), S. 40. 52 Vgl. zur unsicheren Beobachterposition im Stück: Daniel Müller-Nielaba: »Das Auge [...] ruht mit Wohlgefallen auf so schönen Stellen.« Georg Büchners Nerven-Lektüre. In: Weimarer

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strengte Wahrnehmungsbeugung dient in Leonce und Lena weder dem selbsterfüllten Spiel mit wahrnehmungserweiternden und -anregenden Verfahren (die romantische Spielart), noch der Erkenntnis oder Aufhellung der unbekannten Topographie des Inneren (die spätaufklärerische, wissenschaftliche Variante). Büchner entscheidet sich vielmehr dafür, die Beobachtung zum Zweck der Satire zu modulieren.53 Während sich der Prinz in den daraus resultierenden Paradoxien verfängt, wird der Zuschauer in die Lage versetzt, genau das nachzuvollziehen. Als Beobachter von Beobachtungen nimmt der Zuschauer also wahr, dass der Blick des Prinzen auf die Welt gekrümmt ist und dass seine Welt folglich eine verschobene Fantasiewelt sein muss. Der Rahmen, der sich zu Beginn des Stücks mit den Selbstversuchen des Prinzen geöffnet hat, schließt sich am Ende mit den Überlegungen, wie das königliche Paar seine neuerworbene Macht ausüben könnte. Dazu unterbreitet Leonce als gerade installierter Souverän seiner Gemahlin Lena eine Reihe von Vorschlägen: Nun Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen, wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke anziehen und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen, und uns mit dem Mikroskop daneben setzen? Oder hast du Verlangen nach einer Drehorgel, auf der die milchweißen ästhetischen Spitzmäuse herumhuschen? Wollen wir ein Theater bauen? (P I, S. 128)

Für den Souverän ist die Ausübung von Macht ein Spiel. Dementsprechend sind die Formen und die Foren, auf denen es veranstaltet wird, zweitrangig. Zur Wahl stehen die Kinderbühne mit »Puppen und Spielzeug«, die Volksbühne (»Drehorgel«) sowie das stehende »Theater«. Den Blick auf diese Bühnen vermittelt allerdings nicht mehr das unbewehrte Auge, sondern das Mikroskop mit seinen geschliffenen Linsen. Wenn Leonce seiner Lena vorschlägt, »infusorische Politik« zu betreiben, dann meint er damit ganz konkret, Politik mit dem

|| Beiträge 46 (2000), S. 325–345, hier S. 329; Hans-Peter Nowitzki: »Halt, ist der Schluß logisch?« Zu Büchners anamorphotischer Poesiekonzeption. In: Euphorion 92 (1998), H. 3, S. 309–330, hier S. 328 und Müller-Sievers: Desorientierung (s. Anm. 5), bes. S. 132. 53 Nowitzki erläutert zum Ende seiner durchaus kreativen Deutung von Leonce und Lena die Satire aus dem Logikkonzept von Büchners Philosophieprofessor Joseph Hillebrand. Für ihn liegt die Satire in der Auflösung des Identifikationsproblems Figuren-Zuschauer begründet. Dabei ist entscheidend, dass der Zuschauer die Logikschule im Stück durchläuft, damit er am Ende »die pseudo-logischen Schlüsse als solche identifizieren« und, wichtiger noch, »die Differenz von Verstandes- und Vernunftlogik erfassen« kann (Nowitzki [s. Anm. 52], S. 329).

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Mikroskop in Augenschein zu nehmen.54 Das impliziert, dass die Orte, an denen sich das zur Aufführung gebrachte Geschehen abspielt, so kleinformatig sind, dass sie erst unter starker Vergrößerung ins Blickfeld geraten.55 In diesem Sinne definiert der Brockhaus den Zweck des Mikroskops: »Mikroskop oder Vergrößerungsglas ist ein optisches Instrument, welches dazu dient, Gegenstände, die wegen ihrer Kleinheit einem gewöhnlichen Auge ganz verschwindend oder unbedeutend erscheinen, sichtbar und deutlich zu machen.«56 Der zweite Teil der Definition gibt einen weiterführenden Hinweis. Demnach erhält das Mikroskopieren im Rahmen der Beobachtungen des Lustspiels eine politische Funktion. Unter dem Mikroskop betrachtet werden die Verästelungen und Verzerrungen der Kleinstaatenpolitik sichtbar. Einmal beobachtbar gemacht, sind sie dem Studium und der Kritik zugänglich. Da der politische Einsatz des optischen Instruments nur als Verlängerung eines grundlegenden Beobachtungsverfahrens im Lustspiel erscheint, gerät gleichsam alles, was innerhalb des Rahmens von erster und letzter Szene gezeigt wird, unter Beobachtung. Mit dem Einsatz des Mikroskops befindet sich Büchner auf der Höhe des zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurses, hatte doch kein Geringerer als Johannes Müller in seinem Forschungsbericht zu Neuerscheinungen des Jahres 1833 notiert, dass »ein großer Aufschwung der Anatomie [...] durch die Fortschritte der mikroskopischen Beobachtungen« festzustellen sei.57 Zugleich bezieht Büchner mit dem Transfer der naturkundlichen Beobachtungsverfahren in die Literatur eine aus-

|| 54 Vgl. zu dem breit entfalteten Feld der optischen Medien im Stück: Volker Mergenthaler: Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 101–145, bes. S. 144f. mit der folgenden Übersicht: »[Z]ur Sprache kommen neben den Brennspiegeln (129) spiegelnde Quellen, Knöpfe und Augen (101, 113, 125), ein Spiegelzimmer, Prismen (103), Mikroskope (128), Mond- und Sonnenschein (129 u. ö.), eine Blumenuhr (129), Augen (101 u. ö.) und schließlich die Schutzheilige der Augenleidenden«, Odilia. Die Seitenzahlen im Zitat beziehen sich auf die Poschmann-Ausgabe (P I). 55 Zu dieser Deutung vgl. die Kommentare zur Stelle: P I, S. 664; MBA 6, S. 427f. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stehen leistungsstarke Mikroskope zur Verfügung. Seitdem kann die sich stürmisch entwickelnde Naturwissenschaft Infusorien oder Kleinstlebewesen mit großer Präzision studieren. Die Wissensgeschichte der Infusorien vom 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert arbeitet auf Udo Roth: Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners Woyzeck unter besonderer Berücksichtigung von H 2,6. In: GBJb 8 (1990–94), S. 254–278, hier S. 271–277. 56 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexicon.) In zwölf Bänden. 8. Aufl. Leipzig 1833–1837, Bd. 7, S. 358. 57 Zit. n. P II, S. 882. Vgl. zur Geschichte des Mikroskops im frühen 19. Jahrhundert: Schickore: The Microscope and the Eye (s. Anm. 18).

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gesprochen avantgardistische Position, die ihn in eine Reihe mit Jean Paul und E.T.A. Hoffmann stellt. Was sich in Leonce und Lena dem vergrößernden und verzerrenden Blick darbietet, ist zunächst die politische Zoologie eines typischen deutschen Kleinstaats. Am Hof eines solchen Feld-, Wald- und Wiesenreichs tummelt sich eine »Insektenmenagerie«.58 Anzutreffen sind dort »Herr Generalissimus Heupferd«, »Herr Finanzminister Kreuzspinne«, »Hofdame Libelle«, »Gemahlin Bohnenstange« und »Herr Leibmedicus Cantharide« (P I, S. 97), wobei die pompösen Titel das Schädlingswesen ihrer Träger kaum verbergen können. Auch die Territorien, in denen das Geschehen um derartiges Personal angesiedelt ist, die Reiche mit den abjekten Namen Pipi und Popo, sind offenbar weniger Länder als »Ländchen« (ebd., S. 129). Um ihre verschwindend kleinen Ausmaße darzustellen und dem Zuschauer vor Augen zu führen, greift das Lustspiel auf die Theatertechniken von Botenbericht und Mauerschau zurück.59 Im Gegensatz zur Tradition, die diese Techniken gerade für ein Geschehen reserviert hatte, das die Grenzen der Bühne im Hinblick auf das physisch Mögliche oder das moralisch Statthafte überschreitet, ist es in Leonce und Lena das Unterlaufen einer darstellungsfähigen Topographie, die den Bericht erfordert. Als Bote fungiert im zweiten Akt der Spaßmacher Valerio, der in der Szene II,1 zusammen mit dem Prinzen Leonce als Fußreisender auf verschlungenen Pfaden durch die deutsche Kleinstaaterei unterwegs ist: Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstentümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogtümer und durch ein paar Königreiche gelaufen, und das in der größten Übereilung in einem halben Tag [...] Teufel! da sind wir schon wieder auf der Grenze. Das ist ein Land, wie eine Zwiebel, nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts. (P I, S. 111f.)

Das Vergrößerungsverfahren bündelt nicht allein den Blick und pointiert ihn perspektivisch, sondern es schält auch systematisch die Hüllen ab, um das Innere der Betrachtung zugänglich zu machen. In den Kleinstaaten gibt es allerdings wenig zu entdecken. Hinter den Verkleidungen bleibt am Ende »gar nichts« (P I, S. 112). Die Schlussszene (III,3) greift die Beobachtung in der Mauerschau wieder auf. Auf der Suche nach dem Hochzeitspaar, das dem König abhanden gekom-

|| 58 Borgards: Tiere (s. Anm. 31), S. 219, vgl. S. 221. 59 Hugo Keiper: Bühnenrede. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Klaus Weimar [u. a.]. 3 Bde. Berlin u. New York: De Gruyter 1997–2003, Bd. 1, S. 282–285.

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men ist, eröffnet sich der Hofgesellschaft ein panoramatischer Blick in alle vier Himmelsrichtungen: PETER [...] Werden die Grenzen beobachtet? ZEREMONIENMEISTER Ja, Majestät. Die Aussicht von diesem Saale gestattet uns die strengste Aufsicht. Zu dem ersten Bedienten: Was hast du gesehen? ERSTER BEDIENTER Ein Hund, der seinen Herrn sucht, ist durch das Reich gelaufen. ZEREMONIENMEISTER zu einem andern: Und du? ZWEITER BEDIENTER Es geht Jemand auf der Nordgrenze spazieren, aber es ist nicht der Prinz, ich könnte ihn erkennen. ZEREMONIENMEISTER Und du? DRITTER BEDIENTER Sie verzeihen. Nichts. ZEREMONIENMEISTER Das ist sehr wenig. Und du? VIERTER BEDIENTER Auch nichts. ZEREMONIENMEISTER Das ist eben so wenig.« (Ebd., S. 123)

Selbst die wiederholte Umschau führt zu keinem Überblick. Doch fördert sie die Dimensionen des Reiches zutage, in dem sie vorgenommen wird. Es ist somit nicht so, dass es »nichts« zu sehen gäbe. Gerade weil mit Sicherheit gesagt werden kann, dass nichts zu sehen ist, wird deutlich, dass vom Festsaal des königlichen Schlosses alles im Reich gesehen werden kann. Dabei dekuvriert das Lustspiel wie nebenbei auch die territorialpolitischen Bedingungen eines solchen Sehens, nämlich das überschaubare Format des Fantasie-Reiches. Zusammengenommen haben Botenbericht und Mauerschau einen kondensierenden Effekt. Indem sie konsequent eine Strategie der Unterschreitung in Geltung setzen, markieren sie den Status und die Relevanz der Politik, die in den Duodez-Reichen gemacht wird. Indem Leonce und Lena einen schonungslosen Blick auf diese infusorischen Kleinstformen wirft, stellt das Stück gleichsam die Politik der Restauration unter Beobachtung.

Arnd Beise (Freiburg im Üechtland)

Die Sehnsucht nach dem System und ihre literarische Preisgabe bei Büchner »Wie wunderbar Verschiedenes ist doch der einen Quelle fast gleichzeitig entsprungen!« (Wilhelm Schulz: Nachgelassene Schriften von G. Büchner, 1851)

1 »Das ganze Streben der modernen Philosophie war in seinem innersten Wesen ein Faustisches«, schrieb der dänische Theologe Hans Lassen Martensen 1836.1 Er meinte damit die Suche nach dem, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält«,2 jenseits irgendeiner Gottesidee. Bis heute träumen die Naturwissenschaftler von der »Weltformel«, mit der sich die verschiedenen physikalischen Systeme verbinden ließen. Gefunden wurde sie bisher nur fiktiv: nämlich von Johann Wilhelm Möbius, einem der drei Physiker in Dürrenmatts Komödie.3 Der Mensch aber ist ein »Ursachen-Tier«,4 wie ihn Büchners Landsmann Georg Christoph Lichtenberg nannte. »Der Trieb Ursachen zu suchen« sei »dem vernünfftigen Menschen angebohren«.5 Aber nicht nur irgendwelche Ursachen für Geschehnisse suche er, sondern seine nach »Einheit strebende Vernunfft«6 suche letztlich die Ursache von allem, abstrahiere aus der Suche und Beobachtung von Kausalitäten also ein homogenisierendes System. Lichtenberg selbst wartete seinerzeit lange auf die seit 1758 verschiedentlich angekündigte, aber nie ausgearbeitete Theorie der Schwere des Genfer Mathematikers George-Louis Le Sage. Obwohl Lichtenberg zwar kein »unsystemati-

|| 1 [Hans Lassen Martensen:] Über Lenau’s Faust. Stuttgart 1836, S. 12. 2 [Johann Wolfgang von] Goethe: Faust. Eine Tragödie. Erster Theil. Stuttgart 1833, S. 16. 3 Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe in dreißig Bänden. Zürich 1980, Bd. 7, S. 69. 4 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Herausgegeben von Wolfgang Promies. 4 und 2K-Bände. München 1967–1992, Bd. 2, S. 330 (Sudelbuch J 1826). 5 Georg Christoph Lichtenberg: »Ist es ein Traum, so ist es der größte und erhabenste der je geträumt worden…«. Aufzeichnungen über die Theorie der Schwere von George-Louis Le Sage. Herausgegeben und erläutert von Horst Zehe unter Mitarbeit von Wiard Hinrichs. Göttingen 2003, S. 24. 6 Georg Christoph Lichtenberg: Noctes. Ein Notizbuch. Faksimile mit einem Nachwort und Erläuterungen herausgegeben von Ulrich Joost. Göttingen 1993, S. 53.

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scher«, aber »ein antisystematischer Kopf« war,7 der dem Empirismus in Wissenschaft und Literatur gegenüber der theoretischen Spekulation den Vorzug gab, war ihm klar, dass das präferierte Experiment keine Aussagen über das Ganze erlaubte. Träumte man von »einem allgemeinen System der Natur«,8 so musste dieses ab irgendeinem Punkt theoretisch erschlossen werden. Selbst wenn das »allgemeine System der Natur« immer ein Traum bleiben sollte, so sei es doch »der größte und erhabenste der je ist geträumt worden«, meinte Lichtenberg, und er vermöge die »Lücke in unsern Büchern aus[zu]füllen […], die nur durch einen Traum ausgefüllt werden kann«, könne also »die Wahrheit selbst sein oder ihre Stelle vertreten«.9 Auch Büchner träumte von einem »allgemeinen System der Natur«. Immer wenn er von der »Natur« sprach, wurde er schwärmerisch. Anders als die menschliche Gesellschaft ist die Natur in den überlieferten Texten Büchners eine Instanz der »Harmonie« (MBA 8, S. 155). Ernst-Henning Schwedt hat einmal zu Recht gesagt: »Natur wurde von Büchner, lange schon vor seiner Lektüre des Spinoza und nicht more geometrico, pantheistisch als Verkörperung des Absoluten begriffen«.10 In seinen naturwissenschaftlichen Forschungen versuchte Büchner dem zugrundeliegenden »Gesetz« (ebd.) der natürlichen »Harmonie« näher zu kommen. Man sei ihm schon relativ nahe gekommen, meinte er in seiner Habilitationsvorlesung. Zwar sei man noch nicht an der »Quelle«, aber man höre sie schon »rauschen«, zwar sei noch »nichts Ganzes erreicht«, mithin das System noch nicht entschlüsselt, aber große »zusammenhängende« Stücke des Ganzen seien schon sichtbar (ebd.). Speziell für sein eigenes Fach, die »vergleichende Anatomie« konstatierte Büchner ein Streben nach »Einheit« (ebd.), wie es Lichtenberg der aufklärerischen Vernunft überhaupt unterstellt hatte. Den Varietäten der äußeren Natur wohne ein »Urgesetz« inne (ebd.), das die ewige und »perfekte Ordnung der Dinge in der Natur«11 gewährleiste. Die Natur in ihren mannigfachen Einzelheiten zu erforschen, ergebe nur dann Sinn, wenn man

|| 7 Günther Patzig: Über den Philosophen Lichtenberg. In: Text+Kritik, H. 114: Georg Christoph Lichtenberg. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. München 1992, S. 23–26, hier S. 24. 8 Lichtenberg in England. Dokumente einer Begegnung. Herausgegeben und erläutert von Hans Ludwig Gumbert. 2 Bände. Wiesbaden 1977, Bd. 1, S. 182. 9 Lichtenberg (s. Anm. 4), Bd. 2, S. 261 (Sudelbuch J 1416). 10 Ernst-Henning Schwedt: Marginalien zu »Woyzeck«. In: Georg Büchner III. Herausgegeben von Heinz-Ludwig Arnold. München 1981, S. 169–179, hier S. 169. Vgl. Poschmann 1983, ³1988, S. 18: »Die Natur vermittelte ihm den Eindruck einer Harmonie, die er in der von Widersprüchen zerrissenen Gesellschaft schmerzlich vermißte.« 11 Arnd Beise: Einführung in das Werk Georg Büchners. Darmstadt 2010, S. 97.

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nicht bei den konkreten und zahllosen »Thatsachen« stehen bleibe, sondern »philosophisch« nach deren Zusammenhang mit dem »Urgesetz« frage, d.h. im Fall von Büchners Fach, alle »Formen auf den einfachsten primitiven Typus« zurückzuführen suche (ebd.). Otto Döhner hat Büchners »philosophische Methode« (ebd.) nicht zu Unrecht als ästhetisches Verfahren charakterisiert.12 Seit dem 17. Jahrhundert ist es in der experimentellen Naturwissenschaft üblich, auf diese Weise Synthesen zu erzeugen.13 Umgekehrt ist es seit Gutzkow ein Topos der Forschung, dass sich Büchners literarische Verfahrensweisen bzw. deren »hauptsächliche Force« (MBA 10.1, S. 95) seiner naturwissenschaftlichen Praxis verdanke. Man könnte also vermuten, dass in den im engeren Sinn literarischen Werken ähnliche Verfahren zur Anwendung kommen wie in der naturwissenschaftlichen Forschung,14 und dass sich Büchner auch in diesen Texten auf der Suche nach dem »eherne[n] Gesetz« des gesellschaftlichen Lebens befand, von dem es in dem bekannten Brief aus dem Januar 1834 (sogenannter Fatalismusbrief) heißt: »es zu erkennen« sei »das Höchste, es zu beherrschen unmöglich« (MBA 10.1, S. 30). Doch Büchner war sich, so meine These, als literarisch Schreibender bald im Klaren darüber, dass man im Bereich der »menschliche[n] Dinge« (ebd., S. 29) noch weit von einer Erkenntnis irgendeines Systems oder Gesetzes entfernt war; nicht einmal rauschen hörte man hier etwas. Der »Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht« (MBA 7.2, S. 19), eine deutliche Erkenntnis der letzten Ursache ist hier nicht möglich. Aufgrund seiner unbeugsamen, wie man abermals mit Lichtenberg sagen könnte: »Aufrichtigkeit«15 als literarisch sich in die Wirklichkeit versenkender Autor war Büchner nicht willens, die beobachteten menschlichen Deformationen und Verhaltensweisen irgendeiner Weltanschauung zu unterwerfen. Mit

|| 12 Otto Döhner: Neuere Erkenntnisse zu Georg Büchners Naturauffassung und Naturforschung. In: GBJb 2 (1982), S. 126–132, hier S. 128f. 13 Vgl. Arnd Beise: »Ohne Zweifel befindet sich unsere Welt nirgends«. Otto von Guericke und seine »Experimenta de Vacuo Spatio« (1672). In: Literatur in der Stadt. Magdeburg in Mittelalter und Früher Neuzeit. Herausgegeben von Michael Schilling. Heidelberg 2012, S. 287–312, hier bes. S. 296–305. 14 Die »Betrachtungsweise […] der fortschrittlichsten Naturwissenschaften« habe »Büchner auch bei der Untersuchung bestimmter politischer und historischer Vorgänge« angewandt, heißt es zum Beispiel in dem Kompendium: Vormärz 1830–1848. Erläuterungen zur deutschen Literatur. Herausgegeben vom Kollektiv für Literaturgeschichte im Verlag Volk und Wissen unter Leitung von Kurt Böttcher. 10. Aufl. Berlin 1977, S. 47. 15 Lichtenberg (s. Anm. 4), Bd. 1, S. 575 (Sudelbuch F 811).

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seinen literarischen Werken wollte er das »menschliche Leben« (MBA 10.1, S. 67) darstellen, aber nicht interpretieren, wahrscheinlich nicht einmal ändern; vielmehr seinem Publikum die Augen öffnen für den Zustand der Welt und Gesellschaft, »wie sie ist« (ebd.), und zwar ohne Rücksicht darauf, wie man sie vielleicht lieber hätte.

2 Büchner hat bekanntlich den Rat seines Förderers Karl Gutzkow, einen literarischen Ideenschmuggel zu betreiben (vgl. MBA 10.1, S. 54), in den Wind geschlagen. Doch schien er sich eine von Gutzkow ein Jahr später publizierte Maxime zu eigen gemacht zu haben: »Jede Literatur stockt, wenn das System über sie die Autorität hat. Der Gedanke, welcher aus dem Systeme kömmt, ist todt und welk wie die Blume des Herbariums«.16 Mochte das Anlegen eines Herbariums für den Naturforscher sinnvoll sein, der der »Metamorphose der Pflanze« (MBA 8, S. 155) auf der Spur ist, für den Literaten, der die Überzeugung seines Lenz teilte, dass »das einzige Kriterium in Kunstsachen« das »Leben« sei (MBA 5, S. 37), war dies kein gangbarer Weg. Büchners literarische Texte sind Medien der Reflexion über »menschliche Dinge« (MBA 10.1, S. 32). Büchner gab in ihnen die Sehnsucht nach dem System und den distanzierten Blick des Naturforschers auf, dem in Kunstdingen der kalte Klassizismus eines Jacques-Louis David entspreche (vgl. MBA 3.2, S. 37); stattdessen versenkte er sich in seine Gestalten, drang in ihr Wesen ein, ohne aber die Schärfe seiner sezierenden »Autopsie« (MBA 10.1, S. 95) einzubüßen. In ihrer analysierenden Potenz mochten sich literarische und naturwissenschaftliche Verfahren ähneln, auf die die lebendige Individualität negierenden systematisierenden Deduktionen verzichtete der Dichter Büchner allerdings. Seine Texte kann man vielleicht »als Experimente eines Schreibens teilnehmender Beobachtung« bezeichnen, bei dem »permanent Grenzen überschritten werden: Grenzen der herrschenden Ordnung, sei es auf politischem, moralischem oder ästhetischem Gebiet«.17 Sie gehorchen keinerlei Systematik, sie sind keinem einheitlichen Stilprinzip untergeordnet, das Werkganze ist nicht homogen, sondern heterogen zu nennen. Trotzdem opponieren sie nicht prinzipiell gegen herrschende Normen oder ästhetische Systeme, wie es Hegel dem jungen Goethe einmal unterstellte, dessen Produkte angeblich »gegen alles gerichtet wa-

|| 16 Karl Gutzkow: Zur Philosophie der Geschichte. Hamburg 1836, S. 54f. 17 Beise (s. Anm. 11), S. 43.

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ren, was bisher als Regel gegolten hatte«.18 Büchner intendierte durchaus das geschlossene Kunstwerk, nur misslang ihm das wegen der unbedingten Aufrichtigkeit seiner teilnehmenden Beobachtung, die nicht zuließ, dass irgendetwas aus Systemzwang ignoriert oder verfälscht wurde. Büchner wollte um jeden Preis genau sein und »Alles, was existirt, bei seinem Namen [...] nennen« (MBA 10.1, S. 32). Der Dichter sei »kein Lehrer der Moral«, sondern habe »die Welt« so zu »zeigen wie sie ist« (ebd., S. 66f.). Bei Spinoza hatte Büchner gelernt, »daß die Menschen wohl ihrer Handlungen bewußt, aber in Unwissenheit über die Ursachen sind, die sie zum Handeln bestimmen«.19 Was das im Einzelnen heißen mochte, hat Büchner in seinen literarischen Texten untersucht, und zwar sowohl auf dramatische wie erzählerische Weise, sowohl in tragischer wie in komischer Manier. Für seine diesbezüglichen Untersuchungen war die Anomalie aufschlussreicher als der Normalfall, sodass auch ihn, als Kind seiner Zeit zugleich ein Kind der Romantik, Erscheinungen »aus diesem dunklen Gebiet unsrer Natur«20 mehr interessierten als die vermeintlich aufgeklärte »Helle des Tages« (MBA 3.2, S. 14). Um Licht in das Dunkel der menschlichen Psyche zu bringen – und darum scheint es in seinen literarischen Texten primär zu gehen –, musste Büchner sich aber einer Vorgehensweise bedienen, die ausschloss, dass vorgefasste Meinungen oder gängige Ideen das Untersuchungsergebnis verfälschen. Büchner ließ daher seiner »Phantasie« (MBA 10.1, S. 116) keinen freien Lauf. Er wusste ja um die Determiniertheit des eigenen Bewusstseins; wusste, dass die eigenen Ideen nur »zufällige« Produkte der Lebens-»Umstände« waren (ebd., S. 32). Er arbeitete daher im literarischen Bereich streng dokumentengeleitet. Der Forderung seines Lenz, sich in das Leben der Menschen hineinzuversetzen, kam Büchner nach, indem er sich in die überlieferten Dokumente zum Beispiel zu Danton, Lenz oder Woyzeck versenkte, um die wirklichen »Triebfedern des menschlichen Herzens«,21 die wahren »Motive«22 ihres Handelns zu entdecken. Der Vorgang ist im Fall des Lustspiels der gleiche wie in den anderen Texten, nur dass die be-

|| 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Vorlesungen über die Aesthetik. Herausgegeben von H[einrich] G[ustav] Hotho. Erster Band. Berlin 1835 (= Werke. Vollständige Ausgabe. Zehnter Band. Erste Abtheilung), S. 349. 19 Ludwig Andreas Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedict Spinoza. Ansbach 1833, S. 427f. 20 Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden 1808, S. 353. 21 Noellner, S. 95. 22 Vgl. Georg Büchner: Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer. In: MBA 1.2, S. 5–12, hier S. 9; ders.: ›Kato‹-Rede. In: MBA 1.2, S. 15–20, hier S. 15 u. 17.

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fragten Dokumente ihrerseits schon überwiegend literarische Texte im engeren Sinn waren, die Büchner in Hinblick auf den »Mechanismus« (MBA 6, S. 121) des menschlichen Lebens spielerisch befragte. Dieses künstlerische Verfahren war insofern wissenschaftlich, als es eine Methode Descartes’ aufgriff. Wer sich die Aufgabe stelle, Gewissheit über die wirklichen Verhältnisse zu erlangen, müsse »in demselben Augenblick eine Person spielen, die überall noch nichts Gewisses weiß« (MBA 9.2, S. 43). Die gespielte Ignoranz also wird zum heuristischen Prinzip. Sie diente vor allem dazu zu vermeiden, dass die Untersuchung der natürlichen wie der »menschlichen Dinge« (MBA 10.1, S. 32) durch a priori gesetzte »Zwecke« ad absurdum geführt wird. Büchners ›Realismus‹, der tatsächlich wenig gemein hat mit dem sogenannten ›bürgerlichen‹ oder ›poetischen Realismus‹ des Nachmärz, diente vor allem dazu, einen idealistischen »progressus in infinitum« zu vermeiden (MBA 8, S. 153) und als literarischer Autor Opfer irgendeines Systems zu werden.

3 Für jemanden, der mit literarischen Werken oder Figuren Ideenschmuggel betreiben will, sind jene nur Vehikel oder Instrumente. Büchner aber lehnte jede Art von Utilitarismus ab, wenn dieser Begriff hier erlaubt ist. Zweck des Lebens sei ausschließlich es selbst, war schon die Überzeugung des Schülers Büchner.23 Als Erwachsener verteidigte er die Individualität des Einzelnen mit dem »absoluten Rechtsgrundsatz« (MBA 10.1, S. 93) der »Existenzsicherung und Freiheit« (MBA 10.2, S. 333). In höchstem Grade zuwider waren Büchner solche Menschen, die andere Menschen für ihre Zwecke instrumentalisierten. Büchner führte sie in seinen belletristischen Werken vor, als schreckliche, aber auch als lächerliche Figuren: tragisch mit St. Just, komisch mit König Peter, tragikomisch mit dem Doktor aus den Woyzeck-Fragmenten. Die Existenz des Einzelnen ist ein so hohes Gut, dass daran die politischen, philosophischen und wissenschaftlichen Systeme zuschanden werden.24 Schon in Büchners erstem Stück wird die Frage nach der individuellen Existenz als Frage nach der Bedeutung des Leidens Einzelner in Abwägung mit den

|| 23 Vgl. Georg Büchner: Recension. In: MBA 1.1, S. 105–141, hier S. 126 u. 127. 24 Poschmann 1983, ³1988, S. 19, leitete »die unbedingte Hochschätzung des Lebens und die vorurteilsfreie Achtung des Menschen« aus dem »Ethos des Arztberufes« her, »das Büchner früh vertraut war«.

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gesellschaftspolitischen Zielen verhandelt. St. Just hält diese Frage für irrelevant, weil der »Einzelne« und seine Bedürfnisse bzw. »eine geringere oder größere Klasse von Individuen« für die Geschichte der Menschheit so unwichtig seien wie das einzelne Leben für das »große Ganze« der »Natur« (MBA 3.2, S. 46). Robespierre hält angesichts der Priorität »sociale[r]« Fragen (ebd., S. 24) die nach der Befindlichkeit »einige[r] Männer« (ebd., S. 44) für nachrangig. Die Dantonisten aber sind der Meinung, dass jeder Einzelne »seine Natur« ausleben können müsste: »Er mag nun vernünftig oder unvernünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an.« (Ebd., S. 6.) Im höchsten Genuss und im tiefsten Leiden erreiche die Individualität eine Absolutheit, die nicht mehr mit den Ansprüchen der Gesellschaft verrechnet werden könne. Die »Formalitäten« (ebd., S. 53 u. 63) einer sozialen, juristischen oder politischen, jedenfalls aber von den Einzelnen abstrahierenden Behandlung dieses Problems können dem Extrem individueller Leid- und Glückserfahrung nicht gerecht werden. Damit entziehen sich die Ansprüche der Einzelnen aber der von Robespierre und seinen Gesinnungsgenossen geforderten »unbeugsamen Gerechtigkeit« (ebd., S. 15 und 55). Eine abstrakten Prinzipien gehorchende Politik negiert notwendig die einzelne Individualität. Auf diesen Punkt macht eine Figur aufmerksam, die weder zu den Dantonisten noch zu den Robespierristen gehört, nämlich der Schriftsteller Mercier. Er gehörte historisch zu den Mitgliedern der Nationalversammlung, die im Oktober 1793 wegen ihrer Sympathien für die »Girondisten« (ebd., S. 10; vgl. ebd., S. 51: »Blut der zwei und zwanzig«) verhaftet wurden. Für die Aufnahme unter die ›dramatis personæ‹ von Danton’s Tod gibt es keinen historischen Grund,25 sodass die Annahme naheliegt, dass Büchner ihn als nachweislich geschätzten faktographischen Autor und engagierten Zeitgenossen in sein Drama einführte, um eine von außen urteilende Beobachter-Figur zu gewinnen. Provoziert durch die Naivität von Lacroix, der sich überrascht zeigt, dass die Gefängnisse so voll sind, erklärt Mercier: Nicht wahr, Lacroix? Die Gleichheit schwingt ihre Sichel über allen Häuptern, die Lava der Revolution fließt, die Guillotine republicanisirt! Da klatschen die Gallerien und die Römer reiben sich die Hände, aber sie hören nicht, daß jedes dießer Worte das Röcheln eines Opfers ist. Geht einmal Euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden. / Blickt um Euch, das Alles habt Ihr gesprochen, es ist eine mimische Uebersetzung Eurer Worte. Dieße Elenden, ihre Henker und die Guillotine sind Eure lebendig gewordnen Re-

|| 25 Vgl. hierzu die bio-bibliographische Notiz in MBA 3.3, S. 296.

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den. Ihr bautet Eure Systeme, wie Bajazet seine Pyramiden, aus Menschenköpfen. (MBA 3.2, S. 53.)

Danton bestätigt Mercier (»Du hast Recht«) und muss einräumen, dass das Instrument, das er schuf, um »neuen Septembermorden« vorzubeugen (ebd.), das Revolutionstribunal, paradoxerweise erst recht der entindividualisierenden Politik der Revolutionsregierung zugutekam, indem es die Verfahren gegen wirkliche und angebliche Konterrevolutionäre formalisierte. Auf seine Politik, die der Revolution ihre Freiheit sichern sollte, sei er »nicht stolz« (MBA 3.2, S. 55), behauptet Danton vor eben diesem Tribunal, denn inzwischen hat er eingesehen, dass sie der »mechanisch[en]« Tötung (ebd., S. 63) von so vielen »Unschuldigen« (ebd., S. 25 u. 53) Vorschub leistete. Um den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit revolutionärer Politik auszuhalten, muss man entweder ein ideologischer Fanatiker sein wie St. Just, ein unmenschliches Monster wie Dumas oder Zyniker der Macht wie Fouquier, Amar, Vouland, Collot und Billaud – oder man muss ein Gott sein, für den »das Ineinanderschreien und der Zeter, die uns betäuben, ein Strom von Harmonien sind« (ebd., S. 76).26 Der Literat Büchner allerdings war – anders als der Naturforscher – nicht bereit, zu Gunsten irgendeiner Idee wie Gott oder den von St. Just berufenen »Weltgeist« (MBA 3.2, S. 46) über das Leiden des oder der Einzelnen hinwegzusehen, auch wenn er viele politische Ziele der Robespierristen teilte.27 Doch noch »das Leben des Geringsten« sei mehr wert als jedes abstrakte System, sei es politischer oder philosophischer Natur. Der »Idealismus« sei die »schmählichste Verachtung der menschlichen Natur«, meint Lenz (MBA 5, S. 37) und was das heißt, sieht man an dem übers Philosophieren sein Volk vergessenden König Peter in Leonce und Lena oder am den Einzelnen zugunsten des wissenschaftlichen Fortschritts bedenkenlos opfernden Doktor im letzten WoyzeckFragment. Dass Büchner es sich mit der Abfertigung der politischen, philosophischen und wissenschaftlichen Systematiker nicht leicht machte, zeigt seine Anerkennung der Notwendigkeit, die gesellschaftlichen Um- oder besser gesagt: Miss-

|| 26 Die drei vorstehenden Absätze entsprechen den Ausführungen in Arnd Beise: Georg Büchner, Dantons Tod. 2. Aufl. Braunschweig 2015, S. 90–92. 27 Vgl. hierzu u. a. Bodo Morawe: »Bonjour, Citoyen!« Georg Büchner und der französische Republikanismus der 1830er Jahre. In: Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Ariane Martin und Isabell Stauffer. Bielefeld 2012, S. 29–59; Burghard Dedner: »Mehr Socialist als Republikaner«. Politischer und ökonomischer Egalitarismus im »Hessischen Landboten«. In: Ebd., S. 61–81.

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stände mit »Gewalt« zu ändern, wenn denn Aussicht auf Erfolg bestehe. Denn dass die Verhältnisse sich ändern müssen war klar, denn der gegenwärtige Zustand sei ein permanenter »Gewaltzustand«, in dem eine kleine Minderheit »die große Masse der Staatsbürger« verdingliche (MBA 10.1, S. 19), also ihren Zwecken aufopfere. Aber auch die Revolution war keine Idee und kein System, der oder dem Büchner seine empathische Verteidigung des Einzelnen opferte, jedenfalls nicht literarisch. Vielmehr fordern uns Büchners literarische Untersuchungen des menschlichen Lebens auf, einen Begriff und eine Praxis des Politischen zu entwickeln, in der die legitimen Rechte der Einzelnen und die allgemeine Gerechtigkeit miteinander vermittelbar sind. König Peter hält sein System bekanntlich für »ruinirt« (MBA 6, S. 57), weil zwei Knöpfe zu viel zugeknöpft und die Tabaksdose in die falsche Tasche gesteckt wurden, wodurch er gezwungen wird, sein Denken auf die konkreten Dinge zu richten. Auch Büchner ruinierte in seinen Dichtungen alle Systeme, weil er sich auf die konkrete Textur der Wirklichkeit einließ, ja sich dem literarischen Erleben seiner dichterischen Welt schreibend auslieferte. Vielleicht hatte Heiner Müller Recht mit seiner Behauptung, Woyzeck sei (wie die anderen Texte) Büchner gleichsam »passiert«,28 weil er sich aus Aufrichtigkeit den Zumutungen seiner poetischen Welt nicht entziehen konnte.

|| 28 Heiner Müller: Werke 8: Schriften. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2005, S. 282.

Joachim Franz (Mannheim)

»Aber gehn Sie in’s Theater, ich rat’ es Ihnen.« Zu Büchners Kritik an der theatralen Gesellschaft und ihrer Aktualität 1 1. HERR. Ich versichre Sie, eine außerordentliche Entdeckung! Alle technischen Künste bekommen dadurch eine andere Physiognomie. Die Menschheit eilt mit Riesenschritten ihrer hohen Bestimmung entgegen. 2. HERR. Haben Sie das neue Stück gesehen? Ein babylonischer Thurm! Ein Gewirr von Gewölben, Treppchen, Gängen und das Alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt. Man schwindelt bey jedem Tritt. Ein bizarrer Kopf. (er bleibt verlegen stehn.) 1. HERR. Was haben Sie denn? 2. HERR. Ach nichts! Ihre Hand, Herr! die Pfütze, so! Ich danke Ihnen. Kaum kam ich vorbey, das konnte gefährlich werden! 1. HERR. Sie fürchteten doch nicht? 2. HERR. Ja, die Erde ist eine dünne Kruste, ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. Man muß mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen. Aber gehn Sie in’s Theater, ich rath’ es Ihnen! (MBA 3.2, S.36)

Dieses Gespräch zweier Pariser Bürger schließt die 2. Szene des 2. Aktes von Danton’s Tod ab. Man wird weder dieser Unterhaltung noch der gesamten Szene »Eine Promenade«, die in Revue-artiger Abfolge mehrere solcher kurzen Gespräche und Gesprächsfragmente bietet, eine wichtige Funktion für die Handlung des Stücks zuweisen. Fast alle der in der Szene vorüberflanierenden Spaziergänger erscheinen nach ihren kurzen Auftritten kein zweites Mal auf der Bühne. So auch die beiden hier zitierten Herren. Das sollte allerdings nicht dazu verleiten, die Promenaden-Gespräche als belanglose Einschübe abzutun. So verhandelt die Unterhaltung unserer beiden Herren in durchaus hintersinniger Weise einen Blick auf die Welt als Theater, gewissermaßen einen theatralen Wahrnehmungsmodus, der für Büchners Werke gleichermaßen kennzeichnend ist wie für das in ihnen agierende Personal – wobei sich Autor und Figuren nur

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in ihrer Obsession fürs Theaterhafte einig sind, nicht in der Funktion, die diese Schwerpunktsetzung erfüllt.1 Bereits der einleitende bzw. von einem hinter der Bühne zu denkenden, vorausgehenden Gesprächsabschnitt überleitende Redebeitrag des ersten der beiden Gesprächspartner führt zumindest in die Nähe des theatralen Bereichs. Um seinem Lob auf »eine außerordentliche Entdeckung«, deren genauere Natur offen bleiben muss, Nachdruck zu verleihen, bedient sich der Sprecher der Rhetorik der politischen Matadore der Zeit. Das Schlagwort von der Menschheit, die ihrer hohen Bestimmung entgegeneilt, entlehnt er Robespierres berühmtem, am 5. Februar 1794 im Konvent vorgetragenen »Bericht ›über die moralischen Prinzipien, die den Konvent bei der inneren Verwaltung der Republik leiten müssen‹«.2 In dieser Rede, auf deren Worte auch Büchners Robespierre ausgiebig zurückgreift,3 kommt die entsprechende Wendung gleich zweimal zum Einsatz.4 Möglicherweise sind es der pathetische Ton und der Anklang an die öffentliche Politik, die der Bühne – zumal in Danton’s Tod – nicht fern steht, die den zweiten Gesprächspartner den ansonsten unvermittelten Übergang zum Theater

|| 1 Diese Fokussierung aufs Theatrale ist der Büchner-Forschung natürlich nicht verborgen geblieben. Überblicksartig für das Gesamtwerk wird sie etwa von Bernhard Greiner in einem Beitrag für das Büchner-Handbuch dargestellt (Bernhard Greiner: Theater. In: Büchner-Handbuch, S. 267–274). Im vorliegenden Beitrag geht es vor allem darum, von den drei Bezugsebenen, die Greiner dem Reden vom Theater bei Büchner zuweist, die dritte, den »praktischen Bezug zur Welt« (S. 267) zu akzentuieren und deutlich zu machen, dass sich auf dieser Ebene eine deutlich stärker auf Handeln und Eingreifen gerichtete Funktion ergibt als lediglich der von Greiner zugesprochene »Handlungssinn, […] eigene Ohnmacht zu kompensieren« (S. 273). Am häufigsten wurde die Ebene der fortwährenden theatralen Kommentierung und Relativierung des Geschehens in Danton’s Tod untersucht, etwa in Beiträgen von Walter Hinderer (»Wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden«. Die Komödie der Revolution in Büchners ›Dantons Tod‹. In: Ders.: Über deutsche Literatur und Rede. Historische Interpretationen. München 1981, S. 191−199) und Ulrike Dedner (Der relative Zuwachs revolutionärer Wirklichkeit in Georg Büchners Revolutionsdrama »Danton’s Tod«. In: GBJb 10 [2000–2004], S. 103–120), wobei besonders Dedner herausarbeitet, dass dieser Zusammenhang nicht zur »Abschwächung des Wirklichkeitsbezugs« (S. 116), sondern in einer »dialektischen Volte« (S. 117) vielmehr dazu dient, »mit den Mitteln des selbstbezüglichen Spiels« die »Dringlichkeit einer ausstehenden sozialen Revolution« zu akzentuieren (S. 120). Dass die praktischpolitische Potenz des ständigen Theaterbezugs bei Büchner sogar noch weiter reicht, soll im Folgenden gezeigt werden. 2 Jean Massin: Robespierre. 4. Aufl. Berlin 1976, S. 309. Zur Charakterisierung der Rede heißt es dort, dass dieser Bericht »durch sein lyrisches Pathos [...] den begeisternden Elan der 9. Sinfonie Beethovens ankündigt« (S. 318). 3 Vgl. MBA 3.2, S. 95–97 u. MBA 3.3, S. 196–205. 4 Vgl. MBA 3.3, S. 197 u. 199.

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vollziehen lässt: »Haben Sie das neue Stück gesehen?« In der Folge lobt er es auf eine ähnlich überschwängliche und offensichtlich ähnlich unreflektierte Weise wie sein Gesprächspartner die nicht näher bestimmte technische Errungenschaft. Von Inhalt oder Aussage der Aufführung ist dabei allerdings nicht die Rede, es sind ausschließlich die Schauwerte der Inszenierung, die nachhaltigen Eindruck bei dem 2. Herrn hinterlassen haben. Das Urteil über den Urheber einer solchen Theaterkritik ist daher leicht gefällt: Man hat es offensichtlich mit einem eher simpel gestrickten Theaterliebhaber zu tun, für den vor allem der visuelle Eindruck, das kunstvolle Bühnenbild und die aufwändigen special effects, wenn »das Alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt« wird, zählen und der vermutlich intellektuell auch gar nicht in der Lage wäre, tiefer zu dringen und den Gehalt eines Stückes zu analysieren. Darauf deutet jedenfalls sein Umgang mit dem »Schwindel«, der ihn im Theater ergriffen hat: Diesen überträgt er in, wie es scheint, naivster Weise auf die reale Welt und schreckt vor einer Pfütze zurück, unter der sich ein Loch in der Erdkruste verbergen könnte. Kein Wunder, dass sich Camille Desmoulins in der unmittelbar an dieses Gespräch anschließenden Szene über seine Zeitgenossen ereifert, die alles »in hölzernen Copien [...], verzettelt in Theatern, Concerten und Kunstausstellungen« (MBA 3.2, S. 36) verlangen und für die Wirklichkeit keine Augen und Ohren haben, geschweige denn brauchbare Instinkte, sie richtig einzuschätzen. Der wunderliche Herr, der gerne ins Theater geht, aber kaum alltagstauglich scheint und von seinen Theaterbesuchen mangels Befähigung zu kritischer Rezeption noch seltsamere Ansichten und Verhaltensweisen mitbringt, scheint dafür das schönste Beispiel. Und doch sind sein Rat, ins Theater zu gehen, und die Folgerungen, die er selbst aus seinem Theaterbesuch zieht, bei einem zweiten Hinsehen nicht mehr ganz so absurd. Von seinem Theatererlebnis bringt der Zuschauer vor allem das Gefühl eines umfassenden Schwindels mit, das ihn nun auch im Alltag erfasst: »Man schwindelt bey jedem Tritt.« Diese Wirkung ist offensichtlich das exakte Gegenteil eines kathartischen Effekts, wie ihn Dramen in aristotelischer Tradition anstreben. Unabhängig davon, welches der in der Dramengeschichte wechselnden Katharsis-Konzepte man zu Grunde legt, Ziel bleibt, beim Zuschauer einen (lebenspraktisch und/oder moralisch) sichereren Umgang mit der Welt vor der Bühne zu befördern: Er wird nach dem Fallen des Vorhangs trotz der starken Anstrengung, in welche er durch Stunden versetzt war, eine Steigerung seiner Lebenskraft wahrnehmen, das Auge leuchtet, der Schritt ist elastisch, jede Bewegung fest und frei. Auf die Erschütterung ist ein Gefühl von freudiger Sicherheit gefolgt, in den Empfindungen der nächsten Stunde ist ein

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edler Aufschwung, in seiner Wortfügung nachdrückliche Kraft, die gesamte eigene Produktion ist ihm gesteigert.5

Hier jedoch ist das Gegenteil der Fall: Von festen Bewegungen, gar von einer freudigen Sicherheit ist nichts zu spüren. Ausgelöst werden vielmehr nachhaltige Verunsicherung und ernste Schwierigkeiten, sich überhaupt noch in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Der im Theater angesichts des »Gewirr[s] von Gewölben, Treppchen, Gängen« entstandene Schwindel besteht auch in der Alltagsrealität weiter. Er nährt beim 2. Herrn Befürchtungen,6 dass ihm der vermeintlich feste Boden unter den Füßen abhandenkommen könnte: »die Erde ist eine dünne Kruste, ich meine immer ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. Man muß mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen.« Auch in diesen Sätzen bleibt die Diktion des Theaters präsent: Die Rede ist vom Auftreten und Durchfallen. Offensichtlich rückt die aufgrund der Theatererfahrung neu gesehene Realität nun überhaupt in die Nähe einer Schauspielbühne, auf der man seine Auftritte sorgsam vorbereiten und proben sollte, da man sonst Gefahr läuft durchzufallen. Eine solche Lehre in ihren Alltag zu integrieren hätten unsere beiden Gesprächspartner tatsächlich allen Grund. Denn ihr Auftreten ist vor dem historischen Hintergrund von Danton’s Tod durchaus problematisch. Die beiden werden als Herren tituliert, angesichts ihrer Gesprächsthemen wird man sie sich beispielsweise als wohlhabende Kaufleute vorstellen dürfen. Sie siezen einander und ersetzen die unter den Sansculotten übliche Anrede »Bürger« durch das distinguierte »Herr«. Was für ein fataler Misserfolg einem drohen kann, wenn man sich dieser Selbstdarstellung in der falschen Situation und der falschen Gesellschaft bedient, führt bereits die erste Straßenszene des Stücks, die 2. Szene des 1. Aktes, vor Augen. Eine aufgebrachte Menge schleppt darin einen jungen Menschen herbei, um ihn als Aristokraten an der nächsten Laterne aufzuhängen. Ob es sich tatsächlich um einen Adligen handelt und wie er zur Revolution steht, lässt sich dem Text nicht entnehmen. Was ihn in den Augen der Menge zum Aristokraten macht, sind sein Auftreten und insbesondere Kleidung und Accessoires, die er trägt. Denn ausgegeben war die Parole »Todtgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!« (MBA 3.2, S. 10). Das hat der junge Mann tatsächlich nicht, schlimmer noch: er trägt offen ein Schnupftuch zur Schau und

|| 5 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Darmstadt 1965, S. 79. 6 Verstärkt werden die Befürchtungen durch das populärwissenschaftliche Halbwissen, wie es die Zeitschriften der Zeit ihrer bürgerlichen Leserschaft vermitteln – in diesem Fall über die geologische Beschaffenheit der Erde (vgl. MBA 3.4, S. 126).

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»schneuzt sich die Nase nicht mit den Fingern« (ebd., S. 11). Seine Reaktion auf den Vorwurf des Aristokratismus macht die Sache nicht besser: Er appelliert an die hergebrachten menschlichen Umgangsformen – mit der Anredeform des Ancien Régime: »Ach meine Herren!« (ebd., S. 11). Und in einem zweiten Versuch beschwört er mit dem Ausruf »Erbarmen!« (ebd.) christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Beides steht in dieser Situation nicht hoch im Kurs, die Einwürfe werden daher leichthin abgeschmettert. Man kann von einem völlig verpatzten Auftritt reden, der den jungen Mann das Leben zu kosten droht. Kurz bevor es zu spät ist, besinnt sich der vermeintliche Aristokrat aber noch darauf, was gegebenenfalls auf der Bühne ein bereits pochendes Publikum noch besänftigen kann: ein gelungener Einfall, eine witzige Improvisation in der Art eines Hanswursts oder eines Shakespeare’schen Possenreißers, die die Zuschauer zum Lachen reizen. Mit dem Bonmot »Meinetwegen, ihr werdet deßwegen nicht heller sehen!« (ebd.) erringt der junge Mann bei den Umstehenden theatergemäß einige Bravos und erlangt damit so viel Wohlwollen, dass man ihn entwischen lässt. Es kann also durchaus nützlich sein, sich auf Lehren zu besinnen, die das Theater vermittelt. Tatsächlich empfiehlt nicht nur der etwas einfältige Theaterfreund aus dem eingangs zitierten Gespräch: »Aber gehn Sie in’s Theater, ich rath es Ihnen«. Auch der Autor selbst erteilt in seinem Werk wiederholt diesen Ratschlag. Dabei zielt Büchner sicher nicht darauf ab, seine Zuschauer durch Theaterlehren zum adäquaten Auftreten und schlagfertigen Improvisieren für die Auseinandersetzungen im seinerseits theaterhaften Alltag zu ertüchtigen. Und auch dem Theater der französischen Romantik, auf das das Gespräch der beiden Herren verweist7 und das nicht zuletzt auf Überwältigung durch die ganz großen Geschichten, durch Extremsituationen und drastische Effekte setzt, kann Büchner nur wenig abgewinnen.8 Sehr wohl geht es Büchner aber um den Schwindel und das Unsicher-Werden von sicher geglaubtem Boden, die genau dann eintreten, wenn die für unverrückbar gehaltene Realität sich als ebenso gewagte Konstruktion herausstellt wie das auf der Bühne Gesehene, wenn sie – mit einem Wort – als Inszenierung erkennbar wird.

|| 7 Vgl. Herbert Wender: Anspielungen auf das zeitgenössische Kunstgeschehen in »Danton’s Tod«. In: Dedner / Oesterle, S. 223–244. 8 Bei manchen Übereinstimmungen mit den französischen Dramatikern (vgl. dazu Rosmarie Zeller: Büchner und das Drama der französischen Romantik. In: GBJb 6 [1986/87], S. 73–105) ist doch die von Karl Gutzkow in Ansätzen überlieferte grundsätzliche Kritik Büchners an den Dramen nach Art Victor Hugos (vgl. P I, S. 870f.) eine zwingende Folge seiner eigenen Poetik.

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2 Was sich um ihn herum ereignet als Inszenierung aufzuzeigen, ist ein Geschäft, dem sich Georg Büchner unermüdlich unterzieht. In dem ersten von ihm erhaltenen Brief, den er im Dezember 1831 aus Straßburg an seine Familie schreibt, berichtet Büchner vom Einzug des im polnischen Befreiungskampf aktiven Generals Ramorino und von dem begeisterten Empfang, den ihm vornehmlich die Studentenschaft Straßburgs bereitet. Büchner lässt keinen Zweifel daran, dass er selbst zu denjenigen zählt, die dem General entgegenziehen, dafür auch Widerstand gegen die Staatsgewalt ausüben und Ramorino schließlich in einer Parade durch die Straßen geleiten: Die Nationalgarden umgeben den Wagen und ziehen ihn; wir stellen uns mit der Fahne an die Spitze des Zugs, dem ein großes Musikchor vormarschirt. So ziehen wir in die Stadt, begleitet von einer ungeheuren Volksmenge unter Absingung der Marseillaise und der Carmagnole; überall erschallt der Ruf: Vive la liberté! vive Romarino! à bas les ministres! à bas le juste milieu! Die Stadt selbst illuminirt, an den Fenstern schwenken die Damen ihre Tücher, und Romarino wird im Triumph bis zum Gasthof gezogen […] (MBA 10.1, S. 10)

Doch das Fazit fällt ernüchternd aus: »Darauf erscheint Romarino auf dem Balkon, dankt, man ruft Vivat! – und die Comödie ist fertig« (ebd.). Der begeisterte Teilnehmer am Jubelempfang wird schlagartig zum nüchtern analysierenden Beobachter. Und der konstatiert, dass auch die fortschrittlich Gesinnten unter seinen Zeitgenossen – er selbst nicht ausgenommen – dazu neigen, sich von öffentlichen Schauspielen mitreißen zu lassen und in kollektiven Inszenierungen mitzuspielen. Das wirft aber Fragen auf: Wie nachhaltig ist eine solche im Überschwang der eindrucksvollen (Selbst-)Inszenierung gesteigerte Begeisterung? Und wie viel Raum lässt sie für selbstkritische Reflektiertheit und eine nüchterne Einschätzung der historischen Lage? Im Zusammenhang mit einer anderen, etwas späteren kollektiven Inszenierung des liberalen Lagers, einem 1833 in Gießen zu Ehren der liberalen Mitglieder des hessen-darmstädtischen Landtags veranstalteten Festbanketts, beantwortet Büchner diese Fragen eindeutig negativ: Einige loyale Toaste, bis man sich Courage getrunken, und dann das Polenlied, die Marseillaise gesungen und den in Friedberg Verhafteten ein Vivat gebracht! Die Leute gehen in’s Feuer, wenn’s von einer brennenden Punschbowle kommt! (Ebd., S. 28)

Problematisch müssen Büchner solche Gesinnungsschauspiele aber nicht nur wegen der ihnen innewohnenden Gefahr der Selbsttäuschung scheinen. Sie ähneln auch hinsichtlich ihrer Strukturelemente bedenklich den öffentlichen

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Selbstdarstellungen des Ancien Régime und seiner Vertreter: Merkmale wie der Einsatz einfacher, stark suggestiver Symbolakte wie Fahnenschwenken oder kollektives Singen eines festen Liedrepertoires und die Ausrichtung auf die »Paradegäule[ ] und Ecksteher[ ] der Geschichte« (ebd., S. 30) verbinden die Aufführungen der freiheitlich gesinnten Opposition mit denen der Machthaber. Das dämpft die Hoffnungen darauf, dass im Falle eines Erfolgs dieser Opposition tatsächlich eine neue, demokratischere Gesellschaft entstehen kann. Denn die Betörung durch in der Realität aufgeführte Komödien ist ein Phänomen, das Büchner in seinem gesamten Werk als einen zentralen Stützpfeiler der zu überwindenden Herrschaftsverhältnisse ausmacht. Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. (ebd., S. 29)

Das Kernproblem dieser niederdrückenden Beobachtung steckt für Büchner in dem »geduldig«. Seiner Beobachtung zufolge lässt sich die Bevölkerung nicht unwillig vor den Thespis-Karren spannen oder zumindest nicht mit dem Unmut, der angesichts der sozialen Lage zu erwarten wäre. Stattdessen akzeptiert der größte Teil des Volkes die ungerechte Rollenverteilung klaglos, nicht wenige nehmen die ihnen zugewiesenen bescheidenen Plätze im Gesellschaftstheater sogar bereitwillig ein. In Büchners Dramen trifft man immer wieder auf Vertreter der einfachen Bevölkerung, die ihre Statistenrollen in den Schauspielen der Mächtigen nicht nur annehmen, sondern sie mit Eifer und Stolz ausfüllen: Die Angehörigen des Pariser Proletariats in Danton’s Tod überbieten sich bei Auseinandersetzungen auf der Straße darin, es ihren Vorbildern auf der großen politischen Bühne in rhetorisch verbrämten Redefetzen und stilisiertem RömerPathos nachzutun.9 Kein Murren lässt sich aus der Gruppe der Bauern vernehmen, die als lebendes Bühnenbild für den Hochzeitszug des Thronfolgers in Leonce und Lena herhalten müssen. Und der Tambourmajor in Woyzeck, der im Rang kaum über den gemeinen Soldaten steht und lediglich bei Paraden den anderen vorweg marschieren darf, trägt voller Stolz seinen Federbusch und die weißen Handschuhe. Gegen diese unkritische Affirmation staatstragender Inszenierungen, deren Zweck – in den Worten und Zahlen des Hessischen Landboten – nur in der Stabilisierung der ausbeuterischen Herrschaft eines kleinen Häufleins von 10.000 Pressern über ein Volk von 700.000 bestehen kann, setzt

|| 9 Vgl. Hinderer (s. Anm. 1), S. 194f.: »Das Römerspiel auf den oberen Rängen, das seinerseits schon eine unfreiwillige Parodie darstellt, wird auf den unteren nochmals parodiert.«

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Büchner auf eine Schulung zum kritischen Theaterzuschauer, der die Hintergründe einer Inszenierung zu erkennen und ihre Zwecke einzuschätzen vermag. Ganz in diesem Sinne verfolgt bereits der Hessische Landbote die Strategie, seine Rezipienten die Schauspiele der Herrschenden noch einmal sehen zu lassen, ihnen zugleich aber die Augen über die innere Haltlosigkeit dieses DuodezTheaters zu öffnen. Anstelle von »Aber gehn Sie in’s Theater« heißt es da: »Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen« (MBA 2.1, S. 8). Angeleitet durch die Fingerzeige, die ihnen die Flugschrift weist, sollen die Bauern sich das Gebaren der Reichen und Mächtigen und ihre Selbstdarstellung in schönen Kleidern, zierlichen Bändern und stattlichen Häusern noch einmal mit geschärftem Blick ansehen, immer das so offenkundige Missverhältnis zu ihrer eigenen Situation im Hinterkopf. Die Flugschrift lässt sich, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, als subversiver Handkommentar zum Theater der Mächtigen lesen, der dessen Wirkungsabsichten erkennbar macht und in ihr Gegenteil verkehrt.10 Er stattet die öffentlichen Aufführungen mit einem neuen Nebentext aus, der ihnen den Anschein von Natürlichkeit und Bedeutsamkeit nimmt und sie als Possen erkennbar macht – die freilich tragische Konsequenzen nach sich ziehen.

3 Wirkungsästhetisch bleibt die Anleitung zur reflektiert-kritischen Rezeption von Inszenierungen in Form einer Flugschrift allerdings die zweite Wahl. Im Grunde drängt sich für ein solches Programm genau eine Institution auf: das Theater selbst. Mit seiner ihm immer schon inhärenten Selbstbezüglichkeit und dem Ausstellen des Dargebotenen als Spiel ist das Theater der Ort, auch die soziale Realität als Schauspiel bloßzustellen und dessen Strukturen offenzulegen. Es lohnt, Büchners entschiedene Präferenz für das Dramatische vor diesem Hintergrund zu betrachten. Denn diese Vorliebe ist nicht eben selbstverständlich. Wer zu dem Zeitpunkt, da Büchner als Schriftsteller auftritt, mit seinen Produkten eine gewisse Reichweite erzielen und – für Büchner nicht ganz unwichtig – etwas Geld verdienen möchte, sollte auf Texte für die bürgerlichen Literaturzeitschriften setzen. Karl Gutzkow, der Büchner gerade als Dramatiker hoch schätzt und durch

|| 10 Vgl. Joachim Franz: Ein Programmzettel zum Theater der Mächtigen. Zur Kritik an herrschaftstragenden Inszenierungen im »Hessischen Landboten«. In: GBJb 12 (2009–2012), S. 25–44.

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die Lektüre von Danton’s Tod offensichtlich wertvolle Anstöße für seine eigene, zu diesem Zeitpunkt einsetzende Hinwendung zum Drama empfängt,11 rät dennoch nachdrücklich, auch diesen Weg zu gehen. Mit Kritiken und Rezensionen, kurzen Prosatexten, »Wein verhüllt in Novellenstroh« (MBA 10.1, S. 54), Artikeln jeder Art »spekulativ, poetisch, kritisch« (ebd., S. 70) und immer wieder »Lenziana, subjektiv & objektiv«, »Erinnerungen an Lenz« (ebd., S. 74; vgl. auch ebd. S. 60 u. 85) solle Büchner rasch die Liste seiner Veröffentlichungen erweitern und sich einen Namen machen. Dass dagegen »mit dem Absatz dramatischer Sachen bei dem gegenwärtigen Publikum die größte Noth« ist, sich für den Verleger »[k]aum [...] das Papier herausschlägt« (ebd., S. 49), also auch der Autor nur auf geringen Verdienst und wenige Leser rechnen kann, verschweigt Gutzkow nicht. Mitten in die rege Korrespondenz mit Gutzkow über mögliche Beiträge für Zeitschriften erklärt Büchner jedoch seinen Eltern gegenüber: »Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde des Drama’s« (ebd., S. 79). Diese Äußerung steht ohne Zweifel in einem schillernden Kontext. Sie dient zum einen als – etwas fadenscheinige – Camouflage, die den Eltern weismachen soll, die literarischen Arbeiten ihres Sohnes hätten »mit all diesen Streitfragen nichts zu thun« (ebd., S. 79), wie sie in den skandalisierten Texten des Jungen Deutschland debattiert werden. Und sie ist möglicherweise auch nicht unbeeinflusst dadurch, dass sich Büchners Aussichten, seine angeblich schon bereitliegenden Artikel in Zeitschriften unterzubringen, durch die Verhaftung Gutzkows und das Verbot seiner Schriften im Bundestagsbeschluss gegen das Junge Deutschland vom 10. Dezember 1835 deutlich verschlechtert haben. Ob er sich tatsächlich so sicher sein kann, wie er es den Eltern gegenüber behauptet, auch in anderen Zeitschriften veröffentlichen zu können, scheint fraglich. So gesehen mag das explizite Bekenntnis zum Drama auch eine Selbstversicherung sein, überhaupt unter den aktuellen Vorzeichen weiter schriftstellerisch tätig zu bleiben. Im Kontext der im gleichen Brief geäußerten kategorischen Kritik an der jungdeutschen Strategie, durch die »Tagesliteratur« (MBA 10.1, S. 79) – und darunter lässt sich nichts anderes verstehen als die vielfältigen Prosaformen, die die Journale der Zeit prägen – gesellschaftliche Reformen zu bewirken, liegt aber doch nahe, dass hinter diesem Ausspruch noch anderes steckt; nämlich die feste Überzeugung, dass es, wenn schon Literatur, dann solche für das Theater sein muss, um die drängenden Probleme der Zeit anzugehen. Denn das

|| 11 Für diesen Hinweis danke ich Martina Lauster (Exeter). Vgl. dazu auch Takanori Teraoka: Skepsis und Revolte als Grundzug von Nero und Danton's Tod. Zur thematisch-motivischen Affinität der Dramen Gutzkows und Büchners. In: GBJb 9 (1995–1999), S. 155–172.

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Theater ist, wie es August Lewald, der vielleicht maßgebliche Theaterkritiker des Vormärz, formuliert, »wirklich die ganze gesellschaftliche Welt in einer Nuß«.12 Selbst als sich für Büchner im Sommer 1836 ernsthaft die Frage stellt, »wie ich mir in den nächsten 6–8 Wochen Rock und Hosen aus meinen großen weißen Papierbogen, die ich vollschmiren soll, schneiden werde« (MBA 10.1, S. 91), denkt er immer noch nicht als Erstes daran, seine Lenz-Vorarbeiten druckfertig zu machen. Vielmehr setzt er seine Hoffnungen erneut auf Dramen, insbesondere auf sein Lustspiel Leonce und Lena, das für Büchners Kritik der theatralen Gesellschaft besonders aufschlussreich ist. Es verhandelt sie nicht nur inhaltlich; auch die Art und Weise, wie der Autor sein Stück in die Öffentlichkeit zu bringen versucht, lässt sich als gelebte Entsprechung dieser literarischen Kritik betrachten.

4 Büchner sendet Leonce und Lena bekanntermaßen als Wettbewerbsbeitrag zu einem Preisausschreiben der Cotta’schen Buchhandlung ein, bei dem »das beste ein- oder zweiaktige Lustspiel in Prosa oder Versen« (zit. n. MBA 6, S. 246) gesucht wird. Wie es der Hessische Landbote darauf anlegt, als Flugschrift gewissermaßen mitten unter die herrschaftstragenden Selbstinszenierungen des Großherzogs und seiner Umgebung zu flattern und in der Konfrontation mit ihnen seine entlarvende Wirkung auszuüben, so soll nun die dramatisierte Satire des in den deutschen Duodez-Fürstentümern sich abspielenden Gesellschaftstheaters in den etablierten Literaturbetrieb und auf die eine oder andere deutsche Bühne geschmuggelt werden.13 Auf diese Weise würde der Literaturbetrieb selbst dazu genutzt, nicht nur eine wirksame, mit den Mitteln der theatralen Selbstreflexivität arbeitende Kritik an der falsch in Szene gesetzten sozialen Realität zu verbreiten, sondern auch seine eigene Rolle in diesem Inszenierungszusammenhang bloßzustellen. Denn neben der Parodie eines Herrschafts-

|| 12 August Lewald: Theater-Roman. Zit. n.: Veronica Butler: On- and Off-stage theatre. Gutzkow and August Lewald. In: Karl Gutzkow and his Contemporaries. Karl Gutzkow und seine Zeitgenossen. Hrsg. v. Gert Vonhoff. Bielefeld 2011, S. 341–357, hier S. 347. Lewalds Roman wird dort beschrieben als Ausdruck eines »contemporary view of life as a stage upon which everyone is simultaneously actor and spectator, and of the theatre as a metaphor for society« (S. 346f.). Auch den Hinweis auf Lewalds Roman verdanke ich Martina Lauster. 13 Zu den exakten Bedingungen des Wettbewerbs, die für ein solches Manöver günstig schienen, vgl. Hauschild 1993, S. 531f.

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systems ohne festen Grund, das sich auf Inszenierung, Staffage und rein symbolisches Regierungshandeln stützt, legt Leonce und Lena auch die affirmative Funktion der etablierten Literatur als Teil dieses Systems offen. Inwieweit mit der Fassung von Leonce und Lena, die Büchner als Wettbewerbsbeitrag nach Stuttgart sendet und die dort unberücksichtigt bleibt, weil sie zwei Tage nach dem Einsendeschluss eintrifft, tatsächlich eine gewisse Aussicht bestand, dieses Schelmenstück zu realisieren, muss offen bleiben. In der uns bekannten, überarbeiteten Fassung ist der Aspekt der theatralen Sozialkritik so unverhohlen, dass das Stück in dieser Form sicher auch bei rechtzeitiger Einsendung schnell wieder an den Autor zurückgegangen wäre. Zwei Szenen, die für die Handlung des Stücks entbehrlich sind, sind ausschließlich diesem Aspekt des herrschaftlichen Sozialtheaters gewidmet: Da ist zum einen die 2. Szene des 1. Aktes (vgl. MBA 6, S. 102f.), in der König Peter mit seinem Staatsrat das vor Augen führt, was schon der Hessische Landbote deutlich macht: dass sich monarchische Würde aus dem Kleiderschrank holen und anlegen lässt und dass das Regierungshandeln in einem Staat wie dem hier skizzierten am reibungsärmsten alleine im Bereich des Symbolisch-Inszenierten abläuft. Dazu kommt die 2. Szene des 3. Aktes, in der die landeseigenen »Bauern im Sonntagsputz, Tannenzweige haltend« (MBA 6, S. 118) als Bühnenbild für den Vorbeizug des prinzlichen Hochzeitspaares zum Einsatz kommen. Auf beide Szenen ist noch zurückzukommen. Als Fazit aus diesen unmissverständlichen Vorführungen werden in der Schlussszene des Stücks sämtliche politischen Akteure noch einmal als beliebig austauschbare Darsteller sozialer Rollen vorgeführt, die für die Schauseite des Staates nötig sind. Gleichgültig ist dabei, ob die Hochzeit des Thronfolgers von den dafür vorgesehenen Individuen oder von Automaten vollzogen wird. Gleichgültig ist auch, ob dem Gremium eines Staatsrates tatsächlich Regierungsfunktion zugewiesen wird oder es einfach mit dem abgedankten König von der politischen Bühne abtritt. Und gleichgültig ist, welche Lieblingsrollen das neue Herrscherpaar für seine Untertanen in diesem inszenierten Staat vorsieht: Es kann »ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen« (ebd., S. 124), auf dass sie als Soldaten »in den breiten Straßen der Städte herumziehen mit Trommlen und Trompeten« (MBA 2.1, S. 7). Es kann sie als Fracktragende Winkel-Diplomaten in die »infusorische Politik« der deutschen Kleinstaaterei schicken. Oder es lässt sie gleich in einem veritablen Theater als »ästhetische[…] Spitzmäuse herumhuschen« (MBA 6, S. 124). Eine jede dieser Optionen bietet die Möglichkeit, die völlige Substanzlosigkeit des Königreichs Popo mit einem Anschein von staatlicher Bedeutung zu überdecken, ob nun auf dem Gebiet der – vermeintlich wichtigen, angesichts der tatsächlichen Kräfte-

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verhältnisse im Deutschen Bund und in Europa für einen solchen Kleinstaat illusorischen – Landesverteidigung, auf dem Gebiet der – ihrerseits ihre Bedeutung selbst schaffenden – innerdeutschen Diplomatie oder auf dem Gebiet der Kulturförderung. Entscheidend ist bei all dem nur, dass weiter gespielt wird und der – nicht ganz ordnungsgemäß über die Bühne gegangene – Spaß »in aller Ruhe und Gemüthlichkeit [...] noch einmal von vorn« (ebd., S. 123) angefangen wird. Denn ausschließlich durch das ununterbrochene, nicht hinterfragte Spielen stabilisiert sich das absurde System. Und eben zu dem Zweck, diese fraglose Stabilität zu erschüttern, indem auf ihre bodenlose Konstruiertheit, ihr Gründen ausschließlich in Inszenierungspraktiken und Bühnenapparat hingewiesen wird, bemüht sich Büchner, das Ganze anschaulich-konkret auf Bühnenbretter zu stellen. Auf dass sich Schwindel einstelle »bey jedem Tritt« (MBA 3.2, S. 36) auf dem fragilen Boden der deutschen Vormärz-Realität. Zugleich zielt Leonce und Lena auf den Beitrag der zeitgenössischen Literatur zur Stabilisierung des gesellschaftlichen Status quo – und hier vor allem auf die auch Mitte der 1830er Jahre noch verbreiteten Versatzstücke der Romantik sowie auf die Gattungskonventionen der traditionellen Komödie. Die Handlung von Leonce und Lena kommt zu weiten Teilen so altmodisch-konventionell, namentlich so romantisch daher, dass bereits Gutzkow an ihr den »Elfenmährchenton« und das »bühnenwidrige Mondscheinflimmern der Charaktere« (zit. n. MBA 6, S. 35) rügt. In seiner 1929 publizierten Skizze über Georg Büchner fasst Friedrich Gundolf die bis in die jüngere Vergangenheit oft geäußerte Kritik an Leonce und Lena folgendermaßen: »[D]ie sämtlichen Gestalten und Motive sind nicht spontane Einfälle, sondern aufgeputzte Literaturschablonen«.14 Tatsächlich lässt sich da kaum widersprechen. Es vollzieht sich im Stück nicht viel, was nicht gängigen literarischen Stereotypen entspräche, wie Gundolfs weitere Kritik an der »papierne[n] Herkunft des Stücks« auflistet: »die schwärmerische Prinzessin, der romantisch gelangweilte halb ironische, halb empfindsame Prinz, der phantastische Lustigmacher, der Dümmling von König und die Zierlinge und Puppen von Schranzen sind aus zweiter und dritter Hand.«15 Und die Liste der stereotypen Bauelemente des Stücks lässt sich fortsetzen. Zu nennen wären etwa die Landstreicheridyllik und das verklärte Italien-Bild, wie sie von Leonce zu Beginn seines Ausbruchsversuchs gepflegt werden, die anakreontischen Erwartungen von Schäferidyllen und weisen, hilfreichen Eremiten, die Lena und vor allem ihrer Gouvernante im Kopf herumspuken, oder die schwarz-

|| 14 Friedrich Gundolf: Georg Büchner. In: Ders.: Romantiker. Berlin-Wilmersdorf 1930, S. 375– 395, hier S. 391. 15 Ebd.

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romantischen Verschmelzungen von Liebe und Tod, denen sich Leonce und Lena hingeben. Das alles endet im klassischen Hochzeitsschluss, der nach durchstandenen Verwicklungen die Liebenden just in standesgemäßer Konstellation zusammenführt. Dennoch ist Leonce und Lena natürlich nicht in erster Linie der Versuch, durch die Reproduktion einer möglichst großen Zahl beliebter literarischer Klischees die Wettbewerbsjury und in der Folge ein breites Publikum für das Stück zu gewinnen. Von »gewollter und darum unwirksamer Laune«, von »schwitzendem Willen zum beschwingten Witz«16 könnte nur dann die Rede sein, wenn diese Wirkungen intendiert wären und dem Stück die Absicht des Dichters aus Tiecks Der gestiefelte Kater zu Grunde läge: »Ich wollte einen Versuch machen, durch Laune, wenn sie mir gelungen ist, durch Heiterkeit, ja, wenn ich es sagen darf, durch Possen zu belustigen«.17 Eine derartige Bezauberung kann (und soll) Leonce und Lena tatsächlich nicht erreichen – und zwar letztlich aus dem gleichen Grund, aus dem auch der Dichter in Tiecks Meta-Komödie daran scheitert. Was immer an stimmungsvollen, verklärenden oder erheiternden Elementen in das Lustspiel eingeführt wird, wird als Theatererfindung, Literaturkonvention oder effektheischender Gag kommentiert und vorgeführt. Anstelle des Tieckschen Theaterpublikums übernehmen das bei Büchner die Figuren selbst, vornehmlich Leonce und Valerio, die keine der eigenen Verhaltensweisen oder derjenigen des Gegenübers unkommentiert lassen – ob als fuselnden »Heroismus« (MBA 6, S. 109), als »schlechtes Wortspiel« (ebd., S. 108) oder als Bauernweisheit aus dem »ewigen Kalender« (ebd., S. 147). Die Akteure der verschiedenen Selbstinszenierungsmomente sehen sich gegenseitig zu und nehmen sich durch ihre Kommentare jede Möglichkeit, sich in einem der Rollenangebote einzurichten. Der Eindruck von Bemühtheit, der dabei entsteht, entspringt nicht der mangelnden Fähigkeit des Autors, diese Versatzstücke zu einem runden Ganzen zusammenzufügen, sondern der gerade entgegengesetzten Absicht, das Bemühte und Gezwungene einer abgelebten Gesellschaft vor Augen zu führen, die miteinander die Stücke der Vergangenheit aufführt, anstatt das gebotene Neue zu erproben.

|| 16 Ebd., S. 390. Ein aufschlussreicher Aspekt von Gundolfs Kritik ist auch der Vorwurf, Büchner verletze beständig »die zarte Grenze zwischen der überlegenen Heiterkeit des tiefsinnigen Ironikers und dem stumpfen Spaß des Hanswursts« (S. 391). Aber gerade das ist ja entscheidend und der Jahrmarktkomödiant nach Art eines Hanswursts bei Büchner ein potenzieller Aufklärer und Aufwiegler. 17 Ludwig Tieck: Schriften in zwölf Bänden. Bd. 6: Phantasus. Hrsg. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985, S. 497.

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Mancher literarischer Zauberspiegel, in denen sich die »abgelebte moderne Gesellschaft« (MBA 10.1, S. 93) modisch bespiegelt, nimmt sich das Stück etwas ausführlicher an. Sein Italien-Ideal etwa darf Leonce, damit immerhin eine Motivation für seine Flucht übrig bleibt, anfangs noch unwidersprochen ausbreiten: Fühlst du nicht wie der tiefblaue glühende Aether auf und ab wogt, wie das Licht blitzt von dem goldnen, sonnigen Boden, von der heiligen Salzfluth und von den Marmor-Säulen und Leibern? Der große Pan schläft und die ehernen Gestalten träumen im Schatten über den tiefrauschenden Wellen von dem alten Zaubrer Virgil, vom Tarantella und Tambourin und tiefen tollen Nächten voll Masken, Fackeln und Guitarren. (MBA 6, S. 109.)

Dass alleine dieser unvermittelte Ausbruch des bis dahin allen Idealisierungen eher skeptisch begegnenden Leonce in eine Häufung sämtlicher denkbarer Italien-Topoi den so umrissenen Sehnsuchtsort fragwürdig erscheinen lässt, liegt auf der Hand. Als der eigenen Realität gegenüberstehende Utopie bliebe aber möglicherweise auch diesem stereotypen Italien noch ein Rest an Andersheit und Potential der Abweichung von den herrschenden Zuständen. Am Ende des Stückes jedoch wird der Sehnsuchtsort nicht etwa in der Ferne belassen, sondern seine handfeste Rekonstruktion mitten im deutschen Kleinstaat Popo angekündigt: Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, daß es keinen Winter mehr giebt und die uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdestilliren, und wir das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeern stecken. (ebd., S. 124.)

Das Land würde sich damit aber weniger in ein Stück von dem Anderen verwandeln, das im Italien-Ideal stecken mag, als vielmehr in eine überdimensionierte Orangerie, einen südländisch ausstaffierten Schlosspark in Landesgröße, in dem statt der bisherigen Duodez-Komödie Italien-Festpiele aufgeführt würden. An der tristen Lebensrealität, die dahinter steckt, würde sich damit nichts ändern, nur dass zu ihrer Bemäntelung statt der nordischeren Tannenzweige wie in der Bauernszene dann Orangen- und Lorbeerbäume dienten. Der literarische Italien-Topos wird hier in seiner angedeuteten Konkretisierung erkennbar als nur scheinhafte Einführung des Fremden, Anderen in die eigene Welt, die davon im Grunde nicht tangiert wird. Zusammen mit anderen Vorstellungen wie denen von Schäferidylle, balsamisch-rauschhaften Nächten oder irrenden Königssöhnen stillt er damit das Bedürfnis nach Abweichungen von der eng gezurrten Realität in den deutschen Staaten des Vormärz, ohne diese ins Wanken zu bringen.

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Ganz ähnlich verfährt das Stück mit dem beglückenden Hochzeitsschluss, den es gattungsgemäß den Protagonisten bereitet. Bereits die vielfach verwirrte Handlung in Clemens Brentanos Ponce de Leon, dem Prätext von Büchners Lustspiel, führt ihre Helden unweigerlich zur Hochzeit.18 Das Stück endet sogar in einer Doppelhochzeit, die dem Titelhelden eine seinem Stand entsprechende Frau und der ursprünglich von ihm umworbenen Bürgerstochter Valeria überraschend ebenfalls einen Edelmann als Gatten verschafft. Die soziale Erhebung, die Valeria hier unversehens erfährt, hat in Büchners Lustspiel ihre Entsprechung in der Beförderung Valerios von einem Nichts zum Staatsminister. Dabei ist unübersehbar, dass Brentanos Valeria sich dieses unverhoffte Glück gerade dadurch verdient, dass sie die bestehenden sozialen Schranken anerkennt, gewissermaßen als Belohnung für ihren einsichtigen Verzicht auf den adligen Verlobten. Diese Ausnahmesituation stellt die generelle Geltung der sozialen Ausschlussmechanismen ebenso wenig in Frage wie der gleichermaßen exzeptionelle Aufstieg Valerios, der von sich aus versichert, als homo novus die angestammte Ordnung nur desto schärfer zu sichern: »Der arme Teufel Valerio empfiehlt sich seiner Excellenz dem Herrn Staatsminister Valerio von Valeriental. – ›Was will der Kerl? Ich kenne ihn nicht. Fort Schlingel!‹« (MBA 6, S. 118.) Bei Valerios List, die Leonce und Lena zusammenführt, scheint die Lage anfangs etwas komplizierter. Die Spielregeln und Inszenierungswünsche im Operettenkönigreich Popo auszunutzen, um die Heirat des Thronfolgers mit einer ihm genehmen, offensichtlich kaum standesgemäßen Frau anstelle der für ihn vorgesehenen zu legitimieren, wäre unzweifelhaft ein subversiver Anschlag auf die beengende soziale Ordnung. Hier würde tatsächlich etwas gänzlich Anderes in das festgefügte System des absolutistischen Kleinstaats eingefügt. Doch was zunächst als unerhörte Abweichung daherkommt, wird im Ergebnis zur das Staatsgefüge restlos bestätigenden und konservierenden Zeremonie. Valerio liefert König Peter nicht nur die Hochzeit in effigie, die er benötigt, damit sein rein symbolisches Regieren nicht ins Stocken gerät. Er erfüllt sogar inhaltlich exakt den vorgesehenen Spielplan. Die in Leonce und Lena aufgenommenen literarischen Topoi aus zweiter und dritter Hand fügen sich damit zu Konstellationen, die den Blick auf ihre soziale Funktionsweise eröffnen: Sie geben sich den Anschein, als brächten Sie Neues, nicht Alltägliches in die ansonsten starre Lebenswelt und lockerten sie auf. Tatsächlich aber verstellen sie den Blick auf die Möglichkeiten wirklicher Veränderung und befestigen daher letztlich im Grunde

|| 18 Vgl. Clemens Brentano: Ponce de Leon. In: Werke. Vierter Band. München 1966, S. 127–271.

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den Status quo. Auch dieser Zusammenhang sollte mit Büchners Lustspiel dort erscheinen, wo er hingehört, nämlich auf dem Theater.

5 Mit seinem Versuch, das »Kuckucksei«19 Leonce und Lena im Cotta’schen Wettbewerb ausbrüten zu lassen, handelt Büchner in einer Gesellschaft, auf die sich die bekannte Studie des US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman mit dem Titel The Presentation of Self in Everyday Life20 (dt. Wir alle spielen Theater21) beziehen ließe. Und er agiert damit ganz einer speziellen Rolle gemäß, die Goffman in seiner Studie als »informer«22 oder im Deutschen – im Zusammenhang mit Büchner fast eine Zumutung – als Denunzianten bezeichnet:23 Ein Denunziant in unserem Sinne ist einer, der vor den Darstellern vorgibt, Mitglied ihres Ensembles zu sein, dem somit gestattet wird, die Hinterbühne zu betreten und destruktive Informationen zu erwerben, und der dann das Schauspiel offen oder insgeheim an das Publikum verrät.24

Die destruktive Information, die Büchner dem Publikum verraten möchte, ist im Grunde immer aufs Neue, dass die vermeintlich festgefügte, naturgewachsene und von Gottes Gnaden so eingerichtete soziale Ordnung eine kollektive Inszenierungsleistung ist, eine Affenkomödie, die alle miteinander aufführen, von der aber nur die wenigsten profitieren. Um dies an dem dafür prädestinierten Ort, dem Theater tun zu können, muss man tatsächlich erst einmal vorgeben mitzuspielen – eine Vorgabe, die Büchner mit seinem Lustspiel in Ansätzen zu erfüllen versucht. Auch bei einem Erfolg im Wettbewerb hätte Leonce und Lena diese Aufklärungsarbeit allerdings ausschließlich vor bürgerlichem Publikum betreiben können. Die Teile der Bevölkerung, auf die es Büchner vor allem ankommt, wären so nicht zu erreichen. Büchners Dramen kennen aber durchaus Denunziantenfiguren, die andeuten, wie man eine solche Theateraufklärung auch unters Volk bringen könnte. So erschöpft sich die Tätigkeit des Schulmeisters, dem in der vorletzten Szene || 19 Hauschild 1993, S. 531. 20 Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959. 21 Ders.: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 8. Aufl. München, Zürich 2000. 22 Goffman 1959 (s. Anm. 20), S. 145. 23 Vgl. Franz 2012 (s. Anm. 10), S. 43 f. 24 Goffman 2000 (s. Anm. 21), S. 133.

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von Leonce und Lena die Organisation der Spalier stehenden Bauern obliegt, sicher nicht darin, als »Handlanger des Systems«25 zu fungieren. Seine Äußerungen erfüllen vielmehr die von Goffman beschriebene Funktion der »derisive collusion«26 (dt. »herabsetzende Verschwörung«27), zu der die an bestimmten sozialen Schauspielen Beteiligten Zuflucht nehmen, wenn sie zwar genötigt sind mitzuspielen, aber gleichzeitig ihre innere Distanz zu dem Schauspiel und ihre Missachtung derjenigen, die es ernst nehmen, ausdrücken wollen. Sie wählen dann Verhaltensweisen und Formulierungen, die auf den ersten Blick als loyales Befolgen der Spielregeln erscheinen, für einen vertrauten Beobachter jedoch als kritische Distanzierung erkennbar sind. Die Kommentare des Schulmeisters, der sich vor dem regimetreuen Landrat nicht unverstellt aussprechen kann, lassen deutlich genug durchblicken, was er von der angeordneten Inszenierung hält. Sie sind zugleich eine Anleitung zum aufklärenden Denunzieren von Herrschaftsinszenierungen. Die im offiziellen Programm vorgesehenen Elemente der Prinzenhochzeit, wie sie der Landrat buchstabentreu einfordert, sehen eine bruchlos durchinszenierte Feier vor, die der Alltagsrealität gänzlich enthoben ist und demnach auf diese auch nicht eingeht. Die Bemerkungen des Schulmeisters dagegen stellen die Feier ganz gezielt wieder in diesen ausgeblendeten Kontext, in dem sie nur als zynische Missachtung der Lebenswirklichkeit erscheinen kann. Wo der Landrat zum Wohle des reibungslosen Ablaufs die Nüchternheit der Beteiligten einfordert, bezieht der Schulmeister das auf die nüchternen Mägen, die ihn und die Bauern quälen. Wo der Landrat die abstrakten Formulierungen des am Hofe erdachten Programms herunterbetet: »sämmtliche Unterthanen werden von freien Stücken reinlich gekleidet, wohlgenährt, und mit zufriedenen Gesichtern sich längs der Landstraße aufstellen« (MBA 6, S. 118), stellt der Schulmeister klar, was alleine von diesen Forderungen bei der Berührung mit der Lebenswelt seiner Bauern übrig bleiben kann: »Krazt Euch nicht hinter den Ohren und schneuzt Euch die Nasen nicht mit den Fingern, so lang das hohe Paar vorbeifährt« (ebd.). Auch für die gängigen Festelemente der Transparente als Straßen- und Balldekoration und der Kokarden der Besucher und Festord-

|| 25 Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 3., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler 2000, S. 172; ähnlich verkörpert für Alfons Glück der Schulmeister einen »brutalen ›Aristokratismus‹« (s. u. S. 239). 26 Goffman 1959 (s. Anm. 20), S. 187. 27 Goffman 2000 (s. Anm. 21), S. 170.

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ner28 führt der Schulmeister zwiespältige Entsprechungen in der Lebensrealität der einfachen Bevölkerung auf: »Wir geben aber auch heut Abend einen transparenten Ball mittelst der Löcher in unseren Jacken und Hosen, und schlagen uns mit unseren Fäusten Cocarden an die Köpfe« (MBA 6, S. 119). So gelingt es dem Schulmeister ohne explizite Klage über die sozialen Missstände, diese doch als Störelemente in das auf eine harmonische Einheit angelegte Bild einzufügen. Die vermeintliche fürstliche Gnade, die Untertanen am Freudenfest des Hofes teilhaben zu lassen, die der Schulmeister mit den Worten: »Erkennt was man für Euch thut, man hat Euch grade so gestellt, daß der Wind von der Küche über Euch geht und Ihr auch einmal in Eurem Leben einen Braten riecht«, polemisch zuspitzt, entlarvt sich so selbst als Zynismus. Das logische drameninterne Publikum dieser collusions/Kollusionen des Schulmeisters sind die am Straßenrand stehenden Bauern, denen hier gewissermaßen in einer Simultanperformance das kritische Verfahren vorgeführt wird, zu dem der Hessische Landbote anleitet: [U]nd dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt euch auf euren steinichten Aeckern, damit eure Kinder auch einmal hingehen können, wenn ein Erbprinz mit einer Erbprinzessin für einen andern Erbprinzen Rath schaffen will, und durch die geöffneten Glasthüren das Tischtuch sehen, wovon die Herren speisen und die Lampen riechen, aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminirt. (MBA 2.1, S. 13)

Dass das drameninterne Publikum dieser Subversion die Signale gar nicht wahrzunehmen scheint, entspricht der von Büchner geäußerten Verzweiflung, dass das Volk den Karren für die soziale Affenkomödie auch noch geduldig schleppt. So bleiben als eigentliche Adressaten der verschwörerischen Signale die Zuschauer des Stücks – gemäß der Wirkungslogik der Szene wohl weniger das bürgerliche Publikum, das eine Theateraufführung von Leonce und Lena tatsächlich hätte erreichen können, als die Standesgenossen der auf der Bühne schweigenden Bauern. Bei ihnen könnte die Szene den zusätzlichen Stachel hinterlassen, die Vergleiche zwischen Bühnenschauspiel, den Schauspielen in der sozialen Realität und ihrer eigenen Lebenswirklichkeit aufmerksamer, kritischer und aktiver zu vollziehen, als es die Vertreter der Landbevölkerung im Stück tun. Die Bauern-Szene in Büchners Lustspiel ist wirkungsästhetisch die konsequente Fortsetzung der im Landboten nur mit den Mitteln der Argumenta-

|| 28 Vgl. dazu Chronik der Feierlichkeiten, welche auf Veranlassung der hohen Vermählung Seiner Hoheit des Erbgroßherzogs Ludwig von Hessen mit Ihrer Königl. Hoheit der Prinzessin Mathilde von Bayern in Bayern und Hessen Statt fanden. Darmstadt 1834. Auszugsweise in: MBA 6, S. 401–424, hier S. 410 u. 412 f.

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tion möglichen Kritik am Gesellschaftstheater. Eine tatsächliche Einwirkung auf die angepeilten Adressaten scheint dagegen, anders als bei der Flugschrift, aufgrund der Rezeptionsbedingungen eines solchen Bühnenstücks ausgeschlossen.

6 In die real stattfindenden herrschaftlichen Inszenierungen hineinzugehen und ihre Wirkungsabsicht gewissermaßen von innen heraus umzukehren, wie der Schulmeister es vormacht, ist die eine Möglichkeit, das Gesellschaftstheater unmittelbar gegenüber denen zu denunzieren, die es benachteiligt. Die zweite Möglichkeit wäre das Konzept eines Volkstheaters, das etwa in den altbekannten Formen von Jahrmarktsspektakeln, Gaukeleien und Hanswurstiaden den obrigkeitlichen Inszenierungen durch die Wiederholung auf der kleinen, schmutzigen Wanderbühne ihren Nimbus nimmt und ihre Schäbigkeit kenntlich macht. Ein solches Vorgehen ergibt sich in gewisser Weise auch zwangsläufig aus dem für Leonce und Lena skizzierten Problem, dass die entlarvende Gesellschaftskritik im etablierten Theaterbetrieb nicht das relevante Publikum findet. Büchner hat – nach allem, was wir wissen – keine Pläne für eine sozialkritisch-subversive Wanderbühne entworfen. Aber in den Entwürfen für die Jahrmarktsszenen des Woyzeck findet sich durchaus ein Anklang daran. Der darin auftretende Marktschreier preist seinen Zuschauern eine typische KirmesAttraktion an: dressierte Tiere, die Kunststücke vorführen. Es handelt sich im Wortsinn um eine »Affenkomödie«, denn eines der vorgeführten Tiere ist ein als Soldat ausstaffierter Affe. Dass dieses Schauspiel eine zur Kenntlichkeit entstellte Wiederholung der bitteren Posse liefert, die die deutschen Fürsten mit ihren Untertanen aufführen, ist offensichtlich. Der Schausteller lässt seinen Affen trompeten und »Kompliment« (H1,1, MBA 7.2, S. 3) machen, wie der Großherzog von Hessen-Darmstadt in der Darstellung des Hessischen Landboten seine Soldaten trommeln und durch die Straßen paradieren lässt. Auch in diesem Fall freilich verhallt die subversive Botschaft, die angesichts der Provokation mit dem Affen doch zumindest die Soldaten im Publikum zu Reaktionen veranlassen müsste, folgenlos. Die weiteren Schlüsse bleiben den Zuschauern dieses Spiels im Spiel überlassen. Die Jahrmarktszenen des Woyzeck rühren an einen Kernpunkt von Büchners Sozialkritik. In der ersten Entwurfsstufe H1,1 scheint der Schausteller seinen Affen unmittelbar vor den Augen der Zuschauer anzukleiden und damit aus dem Affen einen Soldaten zu machen: »Sehn sie die Kreatur, wie sie Gott ge-

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macht, nix, gar nix. Sehen Sie jezt die Kunst, geht aufrecht hat Rock und Hosen, hat ein Säbel!« (ebd.). Offensichtlich bestehen hier Parallelen zu der Ankleideszene König Peters in Leonce und Lena, in der dieser aus einem Nichts zum König wird. Dabei gilt es zu beachten, wer hier jeweils wen anzieht: Auch König Peter zieht sich nicht selbst an, sondern »wird von zwei Kammerdienern angekleidet« (MBA 6, S. 102). Das entspricht den Gepflogenheiten und dem Zeremoniell an einem Fürstenhof,29 gewinnt im Kontext von Büchners informer-Strategie aber zusätzliche Bedeutung: Der Monarch erhält hier für alle sichtbar erst durch die Handlung seiner Untertanen, vertreten durch die Kammerdiener, die »Attribute, Modifikationen, Affectionen und Accidenzien« (MBA 6, S. 102), die ihn zum König erheben. Die Untertanen sind es, die dem Monarchen den Fürstenmantel umlegen, indem sie die damit verbundene Würde anerkennen. Ohne diese Anerkenntnis bleibt der Fürst nackt, ohne jede über die reine Menschenwürde hinausgehende Auszeichnung. Einmal durch das kollektive Verkennen dieser Machtübertragung legitimiert, kann er jedoch handeln, als hätte er die Macht aus eigener Kraft bzw. von Gottes Gnaden erhalten, und aus dieser Position heraus selbst die sozialen Rollen – nicht selten in der konkreten Form materieller Abzeichen und Kleidungsstücke – verteilen. Dazu schickt sich der frisch inthronisierte Leonce an, wenn er überlegt, ob er seinen Untertanen lieber »Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen« oder »ihnen Fräcke anziehen« (ebd., S.124) soll. Und in der Jahrmarktszene des Woyzeck schlüpft der Schausteller in die Rolle des Monarchen und übernimmt an seinem Affen dessen Amt. Mit der Menschenwürde, die eigentlich jedem »nackt und weich in die Welt« hinauskriechenden »Menschenkinde« (MBA 2.1, S. 8) gleichermaßen zukommt, passiert bei diesem gegenseitigen Einkleiden allerdings Seltsames. Während der von seinen Mitmenschen eingekleidete Monarch ein gewissermaßen übermenschliches Mehr an Würde erhält, büßen die eigentlichen Verleiher dieses Rangs an Menschenwürde ein. Sie stehen dann ihrerseits, wenn sie in der Folge von ihrem Fürsten Säbel angehängt oder Fräcke umgelegt bekommen, kaum mehr über dem Tier und werden allenfalls noch von der von ihnen selbst geschaffenen Herrschaftsinstanz zu Menschen erhoben: »Der Aff’ ist schon ein Soldat, s’ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht!« (H2,3, MBA 7.2, S. 14). Diese Erhebung kann durchaus weit über die »unterst Stuf« hinausreichen, wie das vom Schausteller nach dem Affen vorgeführte Pferd zeigt, das

|| 29 Vgl. Jörg Jochen Berns: Zeremoniellkritik und Prinzensatire. Traditionen der politischen Ästhetik des Lustspiels »Leonce und Lena«. In: Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Burghard Dedner. Frankfurt a. M. 1987, S. 219–274 (v.a. S. 239–244).

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»Mitglied von allen gelehrten Societäten« und »Professor an mehren Universitäten« (H1,2, MBA 7.2, S. 3) ist. Der Mangel, der zum vollen Menschsein fehlt, bleibt aber auch auf dieser Stufe unübersehbar, »als hätte Gott […] die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt« (MBA 2.1, S. 5). Was sich in diesen Akten des gegenseitigen Ankleidens abbildet, ist letztlich nichts anderes als die monarchische Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags: Das Volk als eigentlicher Souverän tritt Macht und Würde an einen Herrscher ab, vergisst daraufhin, dass die Macht ursprünglich von ihm selbst ausgeht und findet sich im Status von zu Gehorsam verpflichteten Untertanen wieder. Für die liberale Staatsrechtstheorie des 19. Jahrhunderts ist dieser Vorgang an sich unproblematisch, insofern nämlich diese [die Angehörigen eines zu gründenden Staates; JF] […] bestimmen müssen, wem die Staatsgewalt zustehen, wie sie ausgeübt werden, wie also die Beherrschung und Regierung […] beschaffen sein solle; insofern sodann auch derjenige, welchem nach dem Willen der Vereinigten das Recht der Staatsgewalt gebühren soll, dieses annehmen […] muß; alle Andern aber dagegen die Verbindlichkeit zu übernehmen haben, ihn als ihren Herrscher anzuerkennen, ihm als solchem zu gehorsamen, und dadurch als Unterthanen die ihm zur Geltendmachung seines Herrscherrechtes nöthige Macht zu bilden.30

Lediglich der Missbrauch der übertragenen Herrschergewalt und die Leugnung des ursprünglichen Vertragscharakters, etwa in der Doktrin vom Gottesgnadentum, werden missbilligt und in ganz ähnlicher Weise wie von Büchner als Erniedrigung der Untertanen zu Tieren kritisiert: Diese Lehre erhebt die Herrscher zu Halbgöttern, zu Wesen anderer Art, als die übrigen Menschen, was sie nicht sind, und erniedriget die Völker zu einer Thierklasse, was diese ebenfalls nicht sind; sie theilt jenen allein die Erde zu, während sie diese in Leibeigene umgestaltet, die nur den Boden ihrer Herren zu deren alleinigem Nuzen und Frommen bebauen […].31

Büchner dagegen lässt keine Erklärung gelten, die diesen grundlegenden Eingriff in die Gleichheit aller Menschen rechtfertigt, und er setzt darauf, ihn als Skandalon bewusst zu machen, indem er ihn auf Akte des Ausstaffierens, Schauspielerns und Inszenierens zurückführt. Die Bühne ist für dieses Vorhaben der angemessene Ort.

|| 30 Sylvester Jordan: Versuche über allgemeines Staatsrecht, in systematischer Ordnung und mit Bezugnahme auf Politik. Marburg 1828, S. 98f. 31 Ebd., S. 275f.

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Abb. 1: G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 (Foto: Bundesregierung/Gebhardt)

7 Büchners Werk umkreist von immer neuen Seiten den Zusammenhang zwischen der fatalen Stabilität der sozialen Machtverhältnisse und ihrem Zug zu theaterhafter Inszenierung. Es reflektiert auf Möglichkeiten, die Literatur, vor allem aber das Theater selbst hat, diesen Zusammenhang offen zu legen und sein Stabilisierungspotential zu hintertreiben. »Aber gehn Sie in’s Theater!«, lautet daher der Ratschlag Büchners an seine Mitmenschen, auf dass sie sich dort den Blick für die Funktionsprinzipien von Inszenierungen holen, wie sie ihnen auch außerhalb des Theaters begegnen und an denen sie sich selbst beteiligen. Um das zu ermöglichen, gilt es, das Theater möglichst nahe an die herrschaftstragenden Inszenierungen heranzubringen und ihnen auf diese Weise unmittelbar den Spiegel vorzuhalten. Die Texte Georg Büchners geben eine Reihe von Hinweisen, wie dieser Weg zu gehen wäre. Die Verfahren einer theatralen Sozialkritik haben auch in der Gegenwart nichts an Aktualität eingebüßt. Viele kritische Bewegungen nutzen in ganz ähnlicher Weise, wie es bei Büchner angedeutet ist, die Mittel des Theaters, um auf eine problematische Inszeniertheit der uns vertrauten Welt zu verweisen.

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Abb. 2: G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 (Foto: Martin Athenstädt dpa)

Große mediale Aufmerksamkeit haben beispielsweise in den letzten Jahren die Formen des kreativen Protests erlangt, wie sie globalisierungskritische Bewegungen am Rande politischer Gipfeltreffen proben. Oft geht es bei diesen Aktionen darum, die intendierten Wirkungsabsichten der offiziellen Bilder zu unterlaufen: den Eindruck der welthistorischen Bedeutung, die dem Treffen der Regierungschefs zukomme, oder die sorgsam gestaltete Atmosphäre eines zwar staatstragend-ernsten, aber entspannten und freundschaftlichen Umgangs der Gipfelteilnehmer miteinander (Abb. 1). Dem werden karnevaleske Gegendarbietungen gegenübergestellt, in denen etwa die politischen Verhandlungen mit karikierenden Masken der beteiligten Politiker nachgespielt werden (Abb. 2). Diese Parodien werden bewusst mitten in das Setting, das für das Hauptereignis vorgesehen ist, eingebettet und lassen so auch dieses im Licht des Aufgesetzten und Übertrieben-Inszenierten erscheinen. In diesen Alternativdarbietungen können dann die Selbstdarstellungsmuster des Events gezielt unterlaufen werden, etwa wenn die Gipfelteilnehmer als inkompetent oder handlungsunfähig zur Lösung der Probleme vorgeführt oder bekannte Differenzen zur Schau gestellt werden, die dem freundschaftlichen Umgang vor den Kameras widersprechen.

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Abb. 3: Rebel Clowning in Heiligendamm 2007 (Foto: Rückblende/Fabian Bimmer dpa)

Abb. 4: Rebel Clowning beim G8-Gipfel 2005 in Gleneagles (Foto: labofii.net)

Auch der Aspekt, dass solche Inszenierungen globaler politischer Macht nicht ohne die Zuschaustellung entsprechender militärischer bzw. polizeilicher Gewalt auskommen, wird reflektiert. Speziell diesem Zweck dient etwa die Aktionsvariante der Rebel Clown Armies, die als clowneske Wiedergänger der be-

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waffneten Kräfte im Umfeld von Gipfeltreffen auftreten und sich unter sie mischen.32 Das hat den doppelten Effekt, teils Aspekte der Veranstaltung ins Blickfeld zu rücken, die die offizielle Regie lieber im Hintergrund halten würde, teils die bisweilen seit Jahrhunderten unveränderte Selbstdarstellung von Polizei und Militär als Verkörperungen männlicher Stärke in Frage zu stellen (Abb. 3 u. 4).33 Daneben kennt natürlich auch das gegenwärtige Theater selbst Spielformen, die inszenierte Wirklichkeit im unmittelbaren Kontakt mit ihr kommentieren und einige Ähnlichkeit zu Konzepten Büchners aufweisen. Ein Beispiel wäre das Stück/Projekt Daimler Hauptversammlung der Theatergruppe Rimini Protokoll aus dem Jahr 2009: Analog zum Verfahren des Hessischen Landboten, der dazu auffordert, sich die Selbstdarstellung des Darmstädter Hofes noch einmal genau und mit der Flugschrift als dekuvrierendem Programmheft anzusehen, entsenden Rimini Protokoll eine Gruppe Theatergänger zur Hauptversammlung des Daimler-Konzerns. Die Teilnehmer werden mit einem umfangreichen Programmheft ausgestattet, in dem die Aktionärsversammlung als »Schauspiel in 5 Akten«34 dargestellt wird und die einzelnen Aufführungselemente detailliert kommentiert werden. Rimini Protokoll bestreiten, dass die Aktion die Hauptversammlung als inszenierte Vortäuschung einer demokratischen Unternehmensstruktur bloßstellen soll: »In unserer Inszenierung geht es nicht darum, die Selbstpräsentation eines Global Players als Show zu denunzieren, sondern um das Theater einer Totalbühne, auf der jeder erklärtermaßen eine Rolle spielt«35. Das showkritische Moment ist aber dennoch sehr präsent. Am Ende des einleitenden Kommentars im Programmheft heißt es: »Mit der Inszenierung ›Hauptversammlung‹ wird die Daimler-Hauptversammlung als Ritual einer Versammlung unterschiedlicher Interessen erfahrbar, deren Vertreter – vielleicht an-

|| 32 Vgl. http://www.clownarmy.org/index.html (17.02.2013). 33 Eine gewissermaßen potenzierte Wirkung können diese mit theatralen Mitteln arbeitenden Protestformen dadurch erreichen, dass sie die Spielregeln der Medien, die sozusagen als dritte Inszenierungsinstanz die Darstellung politischer Großereignisse maßgeblich mitgestalten, berücksichtigen. Wenn es gelingt, ein Bild oder eine Szene zu kreieren, das/die durch die Medien geht, kann der Effekt der Inszenierungskritik weit über die Zuschauer vor Ort hinausreichen. Ein Beispiel dafür ist das hier als Abb. 3 gezeigte Foto vom G8-Gipfel in Heiligendamm, dessen Resonanz u.a. daran abzulesen ist, dass es 2007 den Wettbewerb Rückblende für politische Fotografie und Karikatur gewinnen konnte. 34 Rimini Protokoll: Hauptversammlung. 8. April 2009 / ICC Berlin. [Programmheft]. 2009, S. 4. (http://www.rimini-protokoll.de/website/media/hauptversammlung/HV_Katalog_finish_ definitiv.pdf; 14.02.2013). 35 Ebd., S. 8.

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scheinend, vielleicht scheinbar – miteinander reden, sich demokratisch verhalten und einander zuhören. Jeder in seiner Maske, keiner unbeteiligt.«36 Da rückt der bloße Schein der Inszenierung, mag ihr nun anscheinend oder tatsächlich nur scheinbar irgendein Gehalt zu Grunde liegen, bereits sehr ins Zentrum. Und spätestens wenn die Akteinteilung vorgenommen wird, ist für den theatererfahrenen Beobachter alles klar: Denn da wird das den demokratischen Prozess verkörpernde Element, die Generalaussprache, zum 4. Akt und damit zu einem einzigen retardierenden Moment.37 Das nimmt zwar vom Umfang her monströse Ausmaße an, kann damit aber auch nichts daran ändern, dass hier wie in jedem ordentlichen geschlossenen Drama die Entscheidung bereits im 3. Akt, der Rede des Vorstandsvorsitzenden, gefallen ist und alles auf das unvermeidliche Ende zuläuft – dass nämlich »alle Vorschläge von Vorstand und Aufsichtsrat mit sowjetüblichen Mehrheiten um die 99,9% beschlossen«38 werden. Auch wenn sich ein unmittelbarer Einfluss von Büchners Theater auf die Protestformen von attac und Occupy-Bewegung oder auf das parasitäre Theater39 von Rimini Protokoll vermutlich kaum nachweisen lässt, scheint es angesichts der angedeuteten Parallelen nicht ganz verkehrt, Büchners ungebrochene Aktualität auch an diesem Aspekt festzumachen: Eine Kritik des Theaters, als Kritik durch das Theater an einer als verkehrtes Sozialtheater aufgefassten Realität, hat in der deutschen Literatur in Georg Büchner ihren ersten bedeutenden Vertreter.

|| 36 Ebd. 37 Vgl. ebd., S. 9. 38 Matthias Gaebler: Mein HV-Berater. In: Rimini Protokoll (s. Anm. 34), S. 56–59, hier S. 59. 39 Vgl. Rimini Protokoll (s. Anm. 34), S. 8.

Nora Eckert (Berlin)

Dem Menschen beim Denken zuschauen. Philosophisches in Büchners Theater »Sein heißt in der Klemme sein.« Emile Cioran

Was hält unsere Faszination für Büchner seit mehr als ein Jahrhundert auf Dauerbetrieb? Ist es seine metaphernsatte, gleichwohl unverblümte Sprache, dieser unverwechselbare Büchner-Blues? Und was genau meint Büchners vielbesprochene Aktualität? Worin besteht sie? An den Handlungen der Stücke kann es allein nicht liegen, denn die werden in Inszenierungen bekanntlich als erstes zeitgemäß umdekoriert und so gelegentlich zum Verschwinden gebracht, obschon sich Büchners Themen offenkundig mühelos in unserer Gegenwart wiederfinden lassen. Rückt allerdings seine Sprache ins Zentrum unserer Wahrnehmung, wird jede Aktualisierung hinfällig. Denn wovon sie handelt, berührt unmittelbar, auch ohne Datierung und Verortung in sozialen Milieus und gesellschaftlichen Panoramen. Ihr Sinn ist förmlich zu greifen, weil sichtbar. Wie das? Büchner lässt uns den Menschen beim Denken zuschauen. Genauer gesagt, seine Stücke sagen etwas über das Verhältnis zwischen Denken und Handeln aus. Das geschieht so auffällig, dass wir es fast schon wieder übersehen. Jedes seiner Stücke präsentiert uns Menschen in bestimmten Krisensituationen und in jeweils spezifischen Verhältnissen von Denken und Handeln. Büchner, so kommt es mir vor, versucht mit den Mitteln des Dramas eine Antwort auf die Frage, was es heißt zu denken, und er tut dies so originell, wie wir es von seinen eigentlichen philosophischen Studien kaum kennen. Das Bild beziehungsweise die Figur des Denkers besitzt zudem, was jedem Kunstinteressierten sofort klar ist, eine lange ikonographische Geschichte und hat in der Moderne spätestens mit Rodins Skulptur einen festen Platz in unserer Vorstellungswelt. Rodins Denker sagt gewiss nicht alles, aber vieles, was über das Denken zu sagen wäre. Mit Büchners Figuren, die in ihrer Theatralität einen vergleichbaren physiognomischen und gestischen Kontext herstellen, ergeht es uns genauso.

1 Unverhofft kommt oft, heißt es im Volksmund, und so sitze ich im Theater, sehe diese erfrischend unsentimentale Inszenierung der Geschichten aus dem Wiener Wald von Ödön von Horvath und glaube mich plötzlich bei Büchner und höre

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Danton, der jetzt Oskar heißt und nicht zu Julie, sondern zu Marianne spricht: »Jetzt möcht ich in deinen Kopf hineinsehen können, ich möcht dir mal die Hirnschale herunter und nachkontrollieren, was du da drinnen denkst«.1 Doch Marianne antwortet knapp, das könne er nicht, während Oskars resignative Replik wieder Büchner-Sound enthält wie schon zuvor sein Wunsch nach Gehirninspektion: »Man ist und bleibt allein.«2 Das hat auch ein bedeutender Philosoph festgestellt, als er der Frage nachging: Was heißt denken? Martin Heidegger, ohne dass er die Antwort im Aufklappen von Schädeldecken zu finden vermeinte, äußerte nämlich: »Kein Denker ist je in die Einsamkeit eines anderen eingetreten.«3 Das ist bis heute nicht präziser, allenfalls wortreicher formuliert worden. Dantons Worte lauten in Büchners Revolutionstragödie ein wenig anders als diejenigen Oskars, meinen jedoch dasselbe: »Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.« (MBA 3.2, S. 4.) Hier spricht auch der Anatom und Zergliederer. Interessant wäre Büchners Antwort auf die Wissenschaft von heute, die mit Hingabe an dem Projekt arbeitet, die Gehirntätigkeit am Bildschirm sichtbar zu machen. Sie nennt das Brain Scanning. Belassen wir es bei der Feststellung, dass nicht nur diese Metapher aus Büchners reichem Fundus literarisch erfolgreich war, sondern konzentrieren wir uns auf die im Bild selbst enthaltenen Spuren, die der Autor, da er sie an exponierter Stelle einsetzt, nur absichtsvoll gelegt haben kann. Ich meine eine psychologische Spur, die mir unverhofft bei Horvath wiederbegegnete, und eine philosophische, für die Heidegger bereits eine Einstiegsmöglichkeit lieferte; und der noch sehr hilfreich sein wird. Psychologisch gesehen, haben wir es mit einem Grundproblem der menschlichen Kommunikation zu tun. Wir sehen Menschen, wie sie sich verhalten, nicht aber die zugrundeliegenden Erfahrungen. Das heißt, wir sind ständig auf Interpretation angewiesen und erzeugen so stets aufs Neue Verständnis und eben auch Missverständnisse. Dabei nützt uns die Erfahrung mehr als die Theorie, und zwar in dem Maße, in dem Erfahrung für uns Evidenz besitzt. Deshalb interpretieren wir das Verhalten der anderen meistens richtig. Das Verhalten als

|| 1 Ödon von Horváth: Gesammelte Werke. Bd. 4: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hrsg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt a. M. ²1988, S. 18. 2 Ebd., S. 19. 3 Martin Heidegger: : Was heißt denken? Frankfurt a. M. 2002 (= Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910 – 1976, Bd. 8), S. 174.

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ein Faktum in der menschlichen Kommunikation muss also im richtigen Erfahrungszusammenhang stehen, um deutbar zu werden. Das Problem umriss der Psychologe Ronald D. Laing in seiner Phänomenologie der Erfahrung so: »Selbst Fakten werden zu Fiktionen, wenn ›die Fakten‹ nicht adäquat gesehen werden.«4 Fehlinterpretationen sind in der menschlichen Interaktion eine nicht unbedeutende Quelle für Krisen. Laing hätte Dantons Zweifel über das Kennen eines anderen Menschen nur bekräftigt. Denn niemand kann die Erfahrung eines anderen erfahren. Es ist, als ob die Menschen in dieser Hinsicht füreinander unsichtbar wären, weil eben die »Erfahrung«, so Laing, »die Unsichtbarkeit des Menschen für den Menschen« bedeute.5 Bei Büchner lesen und hören wir ständig über die Unmöglichkeit, in den anderen hineinschauen zu können und über das Nichtverstehen des anderen mit all seinen fatalen Folgen. Und so wenig wir die Erfahrung der anderen erfahren können, so wenig wissen wir über fremdes Selbsterleben. Noch keine wissenschaftliche Beschreibung ist je auf dieses Terrain vorgedrungen. Dantons Tod beginnt mit einer Schlüsselszene, die das Problem rasch auf den Punkt bringt: Dantons Urteilskraft wird unsicher. Was wollen die Menschen um ihn herum? Wohin wollen sie? Was hat das mit ihm zu tun? Bislang war das für den Politiker Danton kein Problem, denn er wusste zu entscheiden, zu führen, er überblickte die Lage, sein Machtinstinkt funktionierte. Er war, was wir einen Macher nennen. Das Stück setzt mit der Krise seiner Urteilsfähigkeit ein. Wie soll er das Verhalten der anderen verstehen? »Warum sagen wir: ‚Ich wußte nicht, was hinter dieser Stirne vorging’, obwohl es uns doch ganz gleichgültig sein kann, was hinter der Stirne eines Menschen vorgeht.«6 Die Frage stellte sich der Philosoph Ludwig Wittgenstein und || 4 Ronald D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung. Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Figge und Waltraud Stein. Frankfurt a. M. 1969, S. 11. 5 Ebd., S. 12. 6 Ludwig Wittgenstein: Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Das Innere und das Äußere 1949 – 1951. Hrsg. v. G. H. von Wright und Heikki Nyman. Frankfurt a. M. 1993, S. 93. Eine Variante des zitierten Satzes finden wir als Paragraph 427 in den »Philosophischen Untersuchungen«: »›Während ich zu ihm sprach, wußte ich nicht, was hinter seiner Stirn vorging.‹ Dabei denkt man nicht an Gehirnvorgänge, sondern an Denkvorgänge. Das Bild ist ernst zu nehmen. Wir möchten wirklich hinter diese Stirne schauen. Und doch meinen wir nur das, was wir auch sonst mit den Worten meinen: Wir möchten wissen, was er denkt. Ich will sagen: Wir haben das lebhafte Bild – und denjenigen Gebrauch, der dem Bild zu widersprechen scheint, und das Psychische ausdrückt.« (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Auf der Grundlage der Kritisch-genetischen Edition neu herausgegeben von Joachim Schulte. Mit einem Nachwort des Herausgebers. Frankfurt 2003, S. 207.) Auffällig an Wittgensteins philosophischem Stil ist, wie er den Leser unmittelbar an Denkprozessen teilhaben lässt.

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verknüpfte sie mit der Vermutung, es bewege uns hierbei weniger eine das Innere betreffende Unsicherheit als vielmehr eine Unsicherheit über Äußeres. Womit wir meines Erachtens exakt Dantons Situation in den Blick bekommen und seine in die Krise geratene Urteilsfähigkeit. Wie ist das bei Wittgenstein zu verstehen? Es geht um die Sichtbarkeit des Inneren eines Menschen, also des Seelischen. Alle Gefühlsregungen kommen aus dem Inneren, aus dem, was wir Seele nennen, und alles Seelische hat »seinen Ausdruck im Körperlichen«, so Wittgenstein.7 Wir nehmen am anderen Menschen Schmerz, Freude und Kummer wahr. Wie kompliziert dabei die Evidenz des Seelischen im Äußeren ist, zeige nicht zuletzt deren Darstellbarkeit: »Daß der Schauspieler den Kummer darstellen kann, zeigt die Unsicherheit der Evidenz, aber daß er den Kummer darstellen kann, auch die Realität der Evidenz.«8 Auf der Bühne bezieht sich die Illusion auf die gesamte Realität, es sei »nicht das alleinige Charakteristikum des Seelischen, daß es sich schauspielern läßt«, so Wittgenstein.9 Doch bei Danton, so ließe sich der Gedankengang mit Büchner fortschreiben, wird diese Unsicherheit Teil der dramatischen Handlung. Wir wissen um Büchners Vorliebe für die Theatermetaphorik gerade in Dantons Tod. Die menschliche Kunst der Verstellung ist ja überhaupt die Voraussetzung für das Erdichten und für das Verstehen des Erdichteten. »Die Fähigkeit sich zu verstellen, liegt also in der Fähigkeit zur Nachahmung oder in der Fähigkeit zu dieser Absicht.«10 Wobei zu ergänzen bliebe, dass darin auch die bewusstseinsfördernde und entmystifizierende Kraft der Bühne liegt. Wie es auch das ureigene Vermögen der Kunst ist, Menschen und Dinge zum Sprechen zu bringen. Herbert Marcuse sah darin ein revolutionäres Potential der Kunst. »Mimesis ist Verfremdung, Subversion des Bewußtseins«, so Marcuse, »[i]n ihr geschieht die Intensivierung der Erfahrung bis zum breaking point: die Welt so erfahren wie Lear und Anthony, wie Berenice, wie Michael Kohlhaas, wie Woyzeck […] So wird die Realität entmystifiziert […].«11 Wer Dramen schreibt, dem

|| Der Autor denkt gewissermaßen vor den Augen des Lesers und wird einbezogen in dieses unablässige und dialogische Spiel der Fragen. Bei aller Transparenz des Denkprozesses ist trotzdem nicht immer klar, wer da eigentlich spricht. An der buchstäblichen Anschaulichkeit des Denkens ändert das jedoch nichts. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 92. 9 Ebd., S. 93. 10 Ebd., S. 79. 11 Herbert Marcuse: Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik. Ein Essay. München 1977, S. 51.

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wird dieser Wirkungszusammenhang wenn nicht bewusst, so doch wohl instinktiv begreifbar sein. Verlassen wir hier die Psychologie des wegweisenden Bildes aus Büchners Revolutionstragödie, worin Danton die Deutbarkeit des Verhaltens der anderen abhanden kommt beziehungsweise in die Krise gerät. Er sieht sich unsicher in der Deutung veräußerlichter Gefühle. Wobei er im Verlaufe des Stückes durchaus wieder Halt gewinnt in seinem Urteil bei gleichzeitig zunehmender Resignation. Ich habe behauptet, in jener Büchnerschen Metapher der Gehirninspektion sei auch das Bild vom Menschen als Denker enthalten und ebenso die Idee, dem Menschen beim Denken zuzuschauen, wodurch es zum dramatischen Gegenstand wird.

2 König Peter aus dem Reiche Popo ist der Philosoph auf dem Throne; er spricht von der Substanz an sich, von Attributen, Modifikationen, Affektionen, Akzidenzien, von Kategorien und vom freien Willen und rekapituliert mal eben die philosophischen Exzerpte seines Erfinders Büchner. Was ihm als System durch den Kopf geistert, übersetzt die Bühne in eine Art Philosophie des Ankleidens, denn Kleider machen bekanntlich Leute und so auch einen König. Im Kleid finde sich die ganze Anthropologie, so der Religionswissenschaftler Gerardus van der Leeuw in seiner Phänomenologie der Religion. Die Kleider des Menschen enthielten von Anfang an die Doppelbedeutung von »Schutz« und »Andeutung«. So diene etwa der Schurz »dem Schutz und der Andeutung der Mächtigkeit der Genitalien. Die Scham ist nichts als das Bewusstsein der Gefährdung dieser Macht, wie ja auch der König und sonstige Machtträger von apotropäischen Tabus umgeben sind.«12 Und mit Blick auf alle kultischen Handlungen: »Wer je im Ornat […] amtiert hat, weiß, daß die Kleider den Mann machen, oder vielmehr einem den Mann ausziehen, so daß nur der Minister, der Diener übrigbleibt.«13 Die erwähnte Lustspielszene erscheint wie die Probe aufs Exempel. Ohne das hier vertiefen zu wollen, soll uns dennoch König Peters vertracktes Lever als komisch verdrehte Schlüsselszene interessieren, enthält sie doch den Erkennungssatz: »Der Mensch muß denken und ich muß für meine Unterthanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht.« (MBA 6, S. 102.) Philosophisch geht es mit Hegels Wissenschaft der Logik weiter: »entweder, oder – Ihr

|| 12 Gerardus van der Leeuw: Phänomenologie der Religion. Tübingen ²1956, S. 230. 13 Ebd., S. 422.

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versteht mich doch? Ein drittes giebt es nicht. Der Mensch muß denken.« (Ebd., S. 103.) In der Revolutionstragödie denken der Wohlfahrtsausschuss und die Jakobiner als Bergpartei für die Untertanen, die dort »Bürger« heißen. Mit der Logik halten es die Genannten wie die Bürger nachgerade hingebungsvoll. Buchstäblich messerscharf sind ihre Explikationen. Beängstigend, wie meisterhaft sich das Volk darauf versteht, wobei Büchner nicht vergisst anzumerken, wie eng die Logik hier verknüpft ist mit einem recht bequemen, weil maßgeschneiderten Legalitätsdenken. Treffsicher spürt er darin die abgründige Absurdität auf, bringt sie lustvoll ins Spiel, um so die zuweilen arg knarrende und holpernde Mechanik dieser Logik als tödliche Konsequenz, als buchstäblich logische Exekution in Gang zu setzen. Nehmen wir jene Volksszene aus dem ersten Akt, wo sich der junge Stutzer durch Schlagfertigkeit rettet, sie mögen ihn aufhängen, doch würden sie deshalb »nicht heller sehen«. (MBA 3.2, S. 11.) Im weiteren Verlauf gibt Büchner einen Schnellkurs in Logik, bei dem Robespierre nicht fehlen darf. Freilich fasst der seine Kurse im Wohlfahrtsausschuss und Konvent in schönere und elegantere Worte. Das Volk argumentiert knapper, um nicht zu sagen brachial: »Im Namen des Gesetzes.« – »Was ist das Gesetz?« – »Der Wille des Volks.« (Ebd., S. 12.) Das Volk wolle kein Gesetz und weil dieser Wille schließlich Gesetz sei, gebe es im Namen des Gesetzes kein Gesetz, ergo dürfe man totschlagen. Womit freilich der Totschlag als Gesetzlosigkeit definiert wird. Die Logik behält im Stück ihre konjunkturelle Rasanz und arbeitet zuverlässig wie die Guillotine. Als Herrschaftslogik ist sie Robespierre und den Seinen zu Diensten, und sie wenden sie am effektivsten an, weshalb Collot d’Herbois auch feststellen kann: »Der Wohlfahrtsausschuß versteht mehr Logik.« (Ebd., S. 14.) Büchners Unmut über all das Zwangsläufige und den nicht nachlassenden Druck der Notwendigkeiten im Leben bricht sich Bahn in seiner vernehmlichen Kritik an der Logik. Der Mensch entkommt ihr nicht, wie er nicht diesem ewigen Muss, dem Verdammungswort der Menschheit, entkommt. Die Dantonisten begreifen sehr wohl, worauf die jakobinische Logik hinausläuft, nur Danton will es (noch) nicht wahrhaben. Auch hat er ja längst die Profession gewechselt, indem er den Politiker gegen den Denker eingetauscht hat. Geht bei Robespierre die omnipotente Logik als absolute Gesetzlichkeit, die er die »strenge und unbeugsame Gerechtigkeit« (Ebd., S. 15) nennt, stets auf Ideologisierung hinaus, die noch den Widerspruch dialektisch für die eigene Sache argumentieren lässt, etwa in dem so entlarvenden Satz, die »Revolutionsregierung« sei »der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei« (Ebd.), so sehen wir bei Danton, der sich auf das buchstäblich weite Feld des Denkens begibt, überall die Gegenbewegung hin zu Entideologisierung. Er will nicht

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länger die Widersprüche logisch hinwegzaubern. Jean Paul, der sowohl in Robespierre als auch in Danton dieselben »Instrumentenmacher« der Revolution14 sah, verlieh Hegel einmal das Etikett »dialektischer Vampyr des innern Menschen«,15 um so seinen Widerwillen gegen dessen Philosophie auszudrücken, doch wie kleidsam erscheint es uns für Robespierre. Für diesen gelten, im Unterschied zu Danton, im Verhältnis von Denken und Handeln vor allem zwei Vorgehensweisen: Ideen gehen der Praxis entweder voraus wie Leitgedanken und Geistesblitze oder sie verhelfen der Praxis nachträglich zu einem Sinn. Bei Danton wird das Denken, wenn man so will, selbst zur Praxis, zur ständigen Intervention, wodurch sich die Praxis in ein höchst unsicheres Terrain verwandelt. Was Büchner szenisch immer wieder unterstreicht. Martin Heidegger hat in seinen Vorlesungen zum Thema Was heißt denken? die Vermutung geäußert, dass der bisherige Mensch zu viel gehandelt und zu wenig gedacht habe. Denken gleiche, um es salopp auszudrücken, einem Abenteuer mit offenem Ausgang, das sich nicht in Begriffen und Systemen verfängt, vielmehr in einem radikalen Sinne unser Wesen in Frage stellt. Wenn wir Büchners Danton genau zuhören, dann nehmen wir immer wieder diese radikale Infragestellung wahr, dieses kontemplative Innehalten und erleben auch die damit einhergehende Handlungsunfähigkeit. Ich hatte von der Krise der Urteilsfähigkeit als dem psychologischen Aspekt in Dantons Wandlung gesprochen, philosophisch betrachtet vollzieht Danton mit dem Denken die Loslösung von dem ewigen Zwang des Muss, diesem »Verdammungswort« der Menschheit, wie es Büchner nannte. »Die Sache des Denkens ist nie anders als bestürzend«, heißt es bei Heidegger, »[s]ie ist um so bestürzender, je vorurteilsfreier wir uns hinhalten. Dazu bedarf es der Bereitwilligkeit zum Hören.«16 Erleben wir nicht Danton als jemanden, der anfing zuzuhören, und zwar so, dass ihn noch die Stimmen der Erinnerung verfolgen, sprich das schlechte Gewissen? Gewiss, auch Robespierre erleben wir in dem brillanten Schlagabtausch mit Danton in der sechsten Szene des ersten Aktes, wie gut er zuhört und welch fatale Wirkung das zeitigt. Auch ihm schauen wir für einen Moment beim Denken zu: »Es ist lächerlich wie meine Gedanken einander beaufsichtigen.« (MBA 3.2, S. 26.) »Warum kann ich den Gedanken nicht los werden?« (Ebd.) »Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt.« (Ebd., S. 27.) Darauf folgt dann Robespierres Refle-

|| 14 Jean Paul: Über Charlotte Corday. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 1. Abt., Bd. 13. Weimar 1935, S. 314–338, hier S. 317. 15 Brief an Max Richter in Heidelberg, 20. Febr. 1821, in: Jean Pauls Sämtliche Werke (s. Anm. 14). 3. Abt., Bd. 8. Berlin 1955, S. 95–97, hier S. 96. 16 Heidegger (s. Anm. 3), S. 15.

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xion, dass der Geist mehr Taten des Gedankens verrichte als es »der träge Organismus unsres Leibes« vermöchte und die Tatwerdung des Gedankens letztlich »Zufall« sei (ebd.). Bei Robespierre drängt alles zur Tat, während Danton das Handeln verweigert und denkend die Frage nach dem Sinn des Lebens umkreist, wobei sein klarer Blick die Resignation noch befördert. Danton hält es wie Heidegger, der die Frage, was uns denken heißt, in eine andere übersetzt, wie nämlich das Bestehende, die Wirklichkeit den Menschen angehe. Wobei Heidegger betont, dass das Denken zu keinem Wissen wie die Wissenschaft führe, keine Lebensweisheit bringe, weder das Welträtsel löse noch unmittelbar Kräfte zum Handeln verleihe. Wohl treffe es Aussagen, aber es komme an kein Ende, lasse sich also nicht erledigen: »Das Denken selber ist ein Weg. Wir entsprechen diesem Weg nur so, daß wir unterwegs bleiben.«17 Es erstaunt, wie schlüssig sich Heideggers Ausführungen als Kommentar zu Dantons Tod lesen lassen. Oder anders gesagt, mit welch prägnanten existenzphilosophischen Fragestellungen Büchner seine Stücke verfasste. Dass ihn die menschliche Existenz nicht nur als Naturwissenschaftler interessierte, als der sprichwörtliche Zergliederer, sondern gerade in einem metaphysischen Sinne, das belegen ja nicht nur seine Stücke. Und sein Interesse am Sein alles Seienden, wie es Heidegger nennen würde, besitzt mindestens auch eine zeitgeistige Komponente. Gerade seine Epoche gewann einen Blick für den Einzelnen. Man braucht nur an den ebenfalls 1813 geborenen Sören Kierkegaard zu erinnern, der das Individuum ins Zentrum der Philosophie rückte. Das abstrakte Systemdenken verabschiedete er ebenso wie den Glauben an allgemeine Erkenntnisse über die menschliche Natur. Büchners Ausruf, man müsse menschliche Ausdrücke für die menschlichen Dinge finden, beinhaltet genau das. Auch er misstraute den Abstraktionen, um stattdessen das Individuelle am Menschen wahrzunehmen. Auch Büchner zweifelte an der Moral, die ohne ein idealisiertes Menschenbild nicht auskommt. Stets erhob die Wirklichkeit Einspruch mit ihren Paradoxien. Immer tat sich ein Riss im Selbstbewusstsein auf. Aber genau dies gab er seinen Dramenfiguren als Lehre mit, die sich allesamt auf die Seite der Subjektivität schlugen und damit auf die Seite der Zerrissenheit. Er verordnete seinen traurigen Helden die Besinnung und gewährte dem Publikum Einblicke in ihr Denken mit der Krise als Initialzündung. Wenn Büchner danach fragt, »was in uns lügt, mordet, stiehlt« (MBA 10.1, S. 31), dann klingt das wie Heideggers Frage, was in uns denken lässt. Was heißt uns denken? Was gibt uns den Anstoß, auf etwas hinzudenken? Gemeint ist nicht der bloße Impuls, so

|| 17 Heidegger (s. Anm. 3), S. 173.

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wenig wie Büchners Frage nur rhetorisch aufzufassen oder physiologisch zu beantworten ist.

3 Wo die Komödie mit ihren Behauptungen besonders dick aufträgt, da liegt für gewöhnlich auch der Hund begraben. So werden die meisten König Peter, den Denker auf dem Thron, gewiss als Karikatur der Schulphilosophie ansehen. Weil aber Büchner beim Schreiben des Lustspiels die Revolutionstragödie in noch frischer Erinnerung gewesen sein wird, ist es vielleicht kein Zufall, dass in beiden die Macht auffällig um die Logik ringt, also um die Rationalisierung des Handelns. Freilich, König Peter lässt keine Köpfe abschlagen, aber seiner Senilität möchte man auch nicht ausgeliefert sein. »Halt, ist der Schluß logisch? Wenn – dann – richtig […]« (MBA 6, S. 120) Gönnen wir ihm seine ihn beglückende Logik, aber wirklich nachgedacht hat nur Leonce, dem die Langeweile als Lebenskrise die Denkanleitung vorgibt, damit er sein lädiertes Selbstbewusstsein immer wieder neu buchstabiere. Als wollte er ein Exempel zu Hegels trefflichem Vergleich liefern: Was für den Strumpf gelte, der geflickt besser sei als zerrissen, gelte eben nicht für das Selbstbewusstsein. Dem fügte Heidegger ergänzend hinzu, um Leonce nachgerade aus der Seele zu sprechen, auf der Seite des geflickten Strumpfes stehe der gesunde und nützliche Menschenverstand, auf der anderen indes die Besinnung. Die Infragestellung der Existenz ist bei Leonce ernster gemeint, als es der kalauernde Wortwitz vermuten lässt. Valerios Bonmot, Leonce sei ein »Buch ohne Buchstaben, mit nichts als Gedankenstrichen« (ebd., S. 108), ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, sofern wir die Gedankenstriche als Wegmarkierung in Leonce’ Denkspur nehmen. Dass er die Liebe findet, steht für das offene Ende seines Denkens, indem sich Glück und Wagnis die Hand reichen. Hier führt die Komödie ganz menschlich zum erfüllten Augenblick höchsten Glückes. Szenenwechsel: Wir wissen nicht, wie Büchner einen fertigen Woyzeck hätte aussehen lassen. Mit der Jahrmarktszene stünde in einer autorisierten Endfassung allerdings relativ am Anfang wiederum eine Szene, in der es um das Denken geht. Mit dem Unterschied freilich, dass wir mit Büchner beim menschlichen Tier und tierischem Menschen angekommen wären. Der Volksmund rät, das Denken den Pferden zu überlassen, da sie den größeren Kopf haben. Der Marktschreier attestiert ihm jedenfalls »viehische Vernünftigkeit« und fordert es auf: »Denk jezt mit der doppelten raison. Was machst du wann du mit der doppelten Räson denkst?« (MBA 7.2, S. 3.) Das erfahren wir so wenig wie das, was tatsächlich in Woyzeck vorgeht, denn der spricht eher kryptisch und visionär.

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Er kommt mit dem Denken nicht von der Stelle, immer stößt er an eine Mauer aus Angst, Wahn, Magie und Dumpfheit. Als Marie, die in H2 noch Louise heißt, ihn darob einen Narren schimpft, antwortet er: »Meinst? Sieh um dich! Alles starr, fest, finster, was regt sich dahinter. Etwas, was wir nicht fassen begreifen still, was uns von Sinnen bringt, aber ich hab’s aus. Ich muß fort!« (Ebd., S. 13.) Am Ende nennt sie ihn »hirnwüthig« (ebd., S. 26). Die Zerrissenheit seiner Existenz hat sich als ein tiefer, unüberwindlicher Riss in sein Gehirn eingegraben. »Ist das nein am ja oder das ja am nein Schuld« (ebd., S. 18), fragt er sich, ohne Aussicht auf eine Antwort. Der Hauptmann hält ihn für grotesk und wundert sich, wie dieser ewig gehetzte Mann zu seinen Gedanken kommt. Zweifellos denke Woyzeck zuviel. Das Chaos der Welt, von dem Danton sprach, tobt in Woyzecks Gehirn. Davon bedroht waren zuvor jener Danton und nach diesem Leonce. Zeichnete man die Denkspur dieser drei traurigen Helden als eine durchgehende Linie, so entstünde daraus eine Abwärtsbewegung, die mit Woyzeck schließlich den freien Fall markiert. Bei Danton führt das Denken noch zu klaren Aussagen von philosophischem Gewicht, die ihn unversehens in Hegels Nähe bringen. Auch wenn Büchner dessen 1807 veröffentlichte Phänomenologie des Geistes nicht gelesen hatte, so bleibt bemerkenswert, wie nahe der Danton des Dramas denkend an Hegels Analyse des Übergangs von absoluter Freiheit in Schrecken heranreicht, und nicht weniger erstaunlich ist hier Hegels politische Konkretheit. Hören wir nicht auch von Danton, dass »[d]as einzige Werk und That der allgemeinen Freyheit« der Tod sei, »der keinen innern Umfang und Erfüllung« habe, denn die Schreckensherrschaft negiere nur den »unerfüllte[n] Punkt des absolutfreyen Selbsts« und das sei »der kälteste und platteste Tod«.18 Zwar hofft Danton, die Jakobiner würden die Tat nicht wagen, aber wie Hegel wusste auch er, dass ihnen das Verdächtigsein ein Synonym für Schuldigsein bedeutete und dass es zu ihrer Politik gehörte, die Verdächtigen »dem trocknen Vertilgen« zu überantworten.19 Wenn die Revolutionsregierung erklärt, der Vollstrecker des allgemeinen Willens zu sein, so vollbringe sie dies unter Ausschluss der übrigen Individuen und konstituiere sich zugleich als Individualität eines bestimmten Willens. Sie sei »Faction«, und nur die »siegende Faction« heiße Regierung, meint Hegel. Doch darin sind sowohl ihre Schuld als auch ihr notwendiger Untergang begründet. Sind das nicht auch Dantons Erkenntnisse?!

|| 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 9: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede. Hamburg 1980, S. 320. 19 Ebd.

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Auch Leonce macht, philosophisch gesehen, eine gute Figur, obschon er sich im wildwuchernden Pessimismus zu verheddern droht, von dem ihn jedoch die Liebe als buchstäbliche Lebensretterin kuriert. Büchners Lustspiel als poetische Erklärung der Wirklichkeit, in Schwingung gehalten von einem satirischen Generalbass, führt uns direktenwegs zur experimentellen Psychologie eines Kierkegaard, der in seinem Essay Die Wiederholung einen Doppelgänger von Leonce auftreten lässt. »Es ist mit meinem Leben zum Äußersten gekommen; das Dasein ekelt mich an, es ist fade, ohne Salz und Sinn. Wenn ich hungriger wäre als Pierrot, hätte ich doch keine Lust, die Erklärung zu schlucken, die die Menschen anbieten. Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt das: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? […] Wer bin ich?«20 Wir meinen, in der Rede Kierkegaards Leonce als Stichwortgeber zu hören, so identisch sind beider Leiden an der Welt und zugleich verdoppelt der Lebensekel und die sich bis in die menschliche Sprache – »die das eine sagt, und etwas anderes meint«21 – fortsetzenden Widersprüche. Mit Woyzeck jedoch wurde das Denken zum Gefängnis. »Wie wir die Welt erfahren, so agieren wir«, meint Ronald D. Laing, »[w]ir führen uns auf im Lichte unserer Ansicht von dem, was vor sich geht und was nicht vor sich geht. Jeder ist also ein mehr oder weniger naiver Ontologe.«22 Kein Ausweg nirgends und nicht einmal im Nichts, das auf sich selbst bezogen bleibt und in sich kreist wie dieser hirnwütige und hilflose Woyzeck. Die Auslöschung der Existenz blieb bei Danton nur ein kalter platter Tod, um noch einmal Hegels Wort zu gebrauchen, und nicht anders im Woyzeck. Die einzige Hintertür, die Büchner in seinem kurzen Leben fand, die hatte er sinnfälligerweise ins Lustspiel eingebaut: die Liebe. Sie verwandelt uns naive Ontologen in hoffnungsvolle Metaphysiker. Aber auch sonst sind wir im Leben, wie Büchner in seinen theatralischen Variationen zur Anschauung bringt, der Metaphysik stets dicht auf den Fersen. Dem entgeht kein Denker. Warum wir das auf der Bühne sehen wollen? Vielleicht weil die oft prekären Verhältnisse zwischen Denken und Handeln sich als so elementar in unserem Leben behaupten, dass wir nicht aufhören, hungrig auf Antwort zu bleiben. Deshalb schauen wir uns immer wieder aufs Neue zu, wie es uns ergeht. Oder, um zum Schluss mit Jean Paul zu sprechen: »Das Leben

|| 20 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. Übersetzt, mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Hans Rochol. Hamburg 2000, S. 69. 21 Ebd., S. 70. 22 Laing (s. Anm. 4), S. 131.

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wird nur angeschaut, nicht begriffen.«23 Das ist nicht viel und doch ein Kosmos, wie uns Büchner lehrt, und kurzweilig dazu.

|| 23 Jean Paul (s. Anm. 14), S. 323.

Gérard Raulet (Paris)

Das Wort geht quer. Überlegungen zur praktischen Ideologie des Hessischen Landboten August Becker, einer der mitangeklagten Verschwörer, die von der Justiz des Großherzogtums Hessen wegen Hochverrats verfolgt wurden, mag durchaus der Faulpelz und Taugenichts gewesen sein, den die Zeugnisse der Zeitgenossen schildern.1 Nichtsdestoweniger sind seine Aussagen vor dem Gericht präzis und glaubwürdig, es fehlt ihnen nicht an politischer Intelligenz, und seine Charakterisierung von Büchners politischen Überzeugungen lässt sich weitgehend durch dessen eigene briefliche Äußerungen bestätigen. Zwar ist er der einzige Augenzeuge, aber, wie Burghard Dedner in seinem letzten einschlägigen Aufsatz geschrieben hat, sieht man nicht recht, »aus welchen taktischen Erwägungen er in seinen Aussagen zur Textverteilung zwischen Büchner und seinem Mitautor, dem Pfarrer Weidig, von der Wahrheit hätte abweichen sollen«.2 Becker betont insbesondere die revolutionären Absichten Büchners. Ihm zufolge war Büchner überzeugt, dass die Bauern sich überhaupt nicht um die Freiheit und Würde des deutschen Vaterlands, geschweige denn um die Menschenrechte scherten, und dass sie nur einen Maßstab kannten: ihr materielles Interesse. Wenn die Fürsten sich nur einfallen ließen, die materiellen Verhältnisse des Volks zu verbessern, dann wäre für Deutschland die Sache der Revolution zu den Akten gelegt.3 Obwohl es ganz unwahrscheinlich ist, dass Becker den Brief kannte, den Büchner 1835 an Gutzkow schickte, entspricht

|| 1 Vgl. unter anderem das Zeugnis des ebenfalls Beschuldigten Fröhlich in: Georg Büchner, Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Briefe, Prozeßakten. Hrsg. v. Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M. 1965, S. 111. 2 Burghard Dedner: Zu den Textanteilen Büchners und Weidigs im Hessischen Landboten. In: GBJb 12 (2009–2012), S. 81. Wie Heinz Wetzel geltend gemacht hat, verhält es sich freilich anders mit Beckers späterer Behauptung, die Gießener »Gesellschaft der Menschenrechte« habe »sich schon vor 11 Jahren zum Prinzip der Gütergemeinschaft bekannt«. Da er sich 1845 als Kommunisten bezeichnet, mag er durchaus geneigt gewesen sein, »die Anfänge der Bewegung in Hessen etwas zu verklären« (Heinz Wetzel: Ein Büchnerbild der siebziger Jahre. Zu Thomas Michael Mayer: »Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie«. In: Text und Kritik. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Sonderband Georg Büchner III. München 1981, S. 247−264, hier S. 251). 3 Vgl. Enzensberger, Hrsg. (s. Anm. 1), S. 119f.

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seine Darstellung von Büchners Position dem Wortlaut dieses Briefes: »Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie«.4 Deshalb hat Beckers Zeugnis in der Büchner-Literatur lange Zeit als fester Angelpunkt gegolten und die Bestimmung des Anteils der beiden Verfasser maßgeblich beeinflusst, wenn nicht gar bedingt. Laut Becker sind »die biblischen Stellen, so wie überhaupt der Schluß, […] von Weidig« (Enzensberger [Hrsg.], S. 122). An derselben Stelle fügt er allerdings hinzu: »Das ursprüngliche Manuskript hätte man allenfalls als eine schwärmerische, mit Beispielen belegte Predigt gegen den Mammon, wo er sich auch finde, betrachten können«.5 Also muss man doch auch annehmen, dass Büchner selbst sich des biblischen Registers bediente. Einige Interpreten, wie zum Beispiel Hans Mayer,6 haben sich lange geweigert, dieses schlichte Faktum wahrzunehmen, obwohl es sich um einen Tatbestand handelt, der alles in allem noch wichtiger ist als die Zuschreibung dieser oder jener Textstelle zu einem der beiden Autoren – oder zu beiden. An diesem Punkt meiner Einleitung möchte ich kurz innehalten, um genauer zu umreißen, worauf ich hier abziele. Denn der Streit um die Textanteile von Büchner und Weidig an der Flugschrift hat, wie Burghard Dedner in Erinnerung gerufen hat, eine sehr lange Geschichte, die auf die Ermittlungen des Prozessverfahrens zurückgeht und an der sich die angesehensten Literaturwissenschaftler beteiligt haben.7 Wer sich vornähme, dieser langen Geschichte auch nur ein Komma hinzuzufügen, der würde Gefahr laufen, entweder Eulen nach Athen zu tragen, oder, um bei der Tiermetaphorik zu bleiben, den Elefanten im Porzellanladen zu spielen. Da ich auf sehr unvorsichtige Weise trotzdem ein Referat zum Hessischen Landboten angekündigt habe, möchte ich zu einem Seitenblick einladen, was wenigstens den Vorteil hat, dass ich weder der Polemik noch der Versuchung des Gegenbeweises um jeden Preis verfallen werde. Denn ich will ja nur die These geltend machen, dass man zum einen sehr aufmerksam die Fortschritte bei der Ermittlung der Textanteile berücksichtigen sollte, dass es zum anderen aber historisch und politisch nicht ganz unnütz ist, den Landboten als Ganzes zu erfassen, so wie er vermutlich auf das Publikum wirkte. Denn es handelt sich dabei ja um die Textgestalt, die an die Öffentlichkeit gelangte, und in dieser Textgestalt bündeln sich historische und diskursive

|| 4 P II, S. 400; vgl. auch Enzensberger, Hrsg. (s. Anm. 1), S. 81. 5 Hervorhebung von mir, G. R. Es handelt sich also um die erste, von Büchner entworfene Fassung. 6 Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M. 1980, S. 181. 7 Vgl. Dedner (s. Anm. 2), S. 79.

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Knoten, die für die Ideologie des Vormärz aufschlussreicher sind als alle sorgfältigen philologischen Differenzierungsversuche. Das ist mit dem Gebrauch des Begriffs der »praktischen Ideologie« gemeint, den ich von dem französischen Philosophen Louis Althusser übernehme.

1 Ohne die Fortschritte zu leugnen, die von Fritz Bergemann bis hin zu Burghard Dedner von so wichtigen Wissenschaftlern wie Thomas Michael Mayer gemacht wurden, muss man sich wohl damit abfinden, dass das philologische Unternehmen, Büchners und Weidigs Anteile mit hundertprozentiger Sicherheit zu identifizieren, so gut wie unvollendbar ist. Zu dieser Vermutung war ich schon in meinem Kommentar zum Hessischen Landboten in der französischen Gesamtausgabe 1988 gelangt.8 Als ich 2002 erneut einen Text über den Hessischen Landboten schrieb,9 auf dem der heutige Vortrag teilweise fußt, bin ich zu demselben Schluss gekommen. Man kann ja z. B. nicht ausschließen, dass Passagen, die das Gepräge Fichtes tragen, von Büchners Hand sind, wiewohl man natürlich lieber Weidig all das zuschreiben möchte, was mehr oder weniger mit der Ideologie der deutschen Liberalen übereinstimmt.10 Diese Vereinfachung wäre das Pendant der Interpretation, die nur eine Alternative gelten lässt: »Spätjakobiner oder Frühkommunist«.11 Aber selbst Thomas Michael Mayer, der wie kein anderer zu diesem Büchner-Bild beigetragen hat, hat auch darauf hingewiesen, dass es zu simpel wäre, nur Büchner die Anklänge an Rousseau oder Robespierre zuschreiben zu wollen: Zum einen hatte Büchner begonnen, sich über das Scheitern der Französischen Revolution Gedanken zu machen (was ihn freilich nicht daran hinderte, im Frühjahr 1834 in Gießen und Darmstadt Sek|| 8 Georg Büchner: Œuvres complètes, inédits et lettres. Sous la direction de Bernard Lortholary. Paris 1988. – Die Arbeit an der neuen deutschen Edition von Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte hat meine Skepsis noch verstärkt. Sie stellen einen vergleichbaren genetischen Komplex dar, obwohl sie von einem einzigen Autor abgefasst wurden. 9 Messager du peuple, messager de Dieu. Remarques sur l’identité discursive du ›Hessischer Landbote‹ de Büchner et Weidig. In: Ecritures de la révolution dans les pays de langue allemande. Hrsg. v. Geoffroy Rémy u. Patricia Desroches-Viallet. Publications de l’Université de Saint-Etienne, S. 173–189. 10 Aber als französischer Herausgeber von Büchners Jugendschriften weiß ich, dass dies nicht der Fall ist. Vgl. Büchner: Œuvres complètes (s. Anm. 8), S. 17. 11 Überschrift des ersten Kapitels von Thomas Michael Mayers Studie Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. In: Text und Kritik. Sonderband Georg Büchner I/II. München 1979, S. 16–298, hier S. 16ff.

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tionen der Gesellschaft der Menschenrechte zu gründen und sich an der Herstellung und Verbreitung des Hessischen Landboten engagiert zu beteiligen12), zum anderen kann man auch in den Predigten von Weidig ähnliche Anklänge feststellen.13 Sobald man genauer hinsieht und sich durch die Oberfläche des Diskurses nicht blenden lässt, erweist sich die Zuschreibung zu einem der beiden Autoren jedenfalls als problematisch. Man kann das sogar an der Substitution von Reichen und Vornehmen zeigen, die bislang als das Beispiel für Weidigs Eingriffe angesehen wurde. Burghard Dedner hat in die Debatte um die Autorschaft strenge Kriterien eingeführt: Einmal müsse man, um einer voreiligen Zuschreibung vorzubeugen, alle Begriffe ausklammern, die entweder topischen Charakter im Diskurs der Zeit haben, oder in beiden Fassungen (Juli und November 1834), d. h. in derjenigen, die von Büchner stammt, und in derjenigen, über die er die Kontrolle verlor, auftauchen. Darüber hinaus solle man mit dem, was man für »büchner-« oder »weidigkonträr« hält, strenger umgehen und dieses Kriterium nur auf Aussagen beziehen, die von Weidig oder Büchner nachweislich befürwortet oder verworfen wurden.14 Die Termini Reiche und Vornehme sind bei genauem Hinsehen ein Paradebeispiel für topische Begriffe. Im Wortgebrauch der Zeit, und namentlich in den Schriften der Vorgänger des Landboten, wie z. B. dem Frag- und Antwortbüchlein von Wilhelm Schulz, sind sie in aller Regel austauschbare Synonyme.15 In seiner ersten Predigt in Ober-Gleen am 7. September 1834, Was uns bleibt, kommentiert Weidig den ersten Korinther-Brief des Paulus, Kap. XIII, Vers 13, auf recht eigentümliche Weise: »Was uns bleibt«, d. h. »Glaube, Hoffnung und Liebe«, wird keineswegs eschatologisch und quietistisch aufgefasst. Indem er mit Nachdruck die Mächtigen und Reichen den Armen und Unterdrückten entgegensetzt, predigt Weidig alles andere als Resignation hienieden und Trost im Jenseits, sondern vielmehr das Engagement für die Verwirklichung des Reichs Gottes auf

|| 12 Der »Fatalismus-Brief«, wie man ihn genannt hat, übt eine derartige Faszination aus, dass man oft dazu tendiert, unter »Fatalismus« eine Absage an die Geschichtsphilosophie und einen Verzicht auf die politische Agitation zu verstehen, während er durchaus mit dem Glauben an eine eherne Gesetzmäßigkeit und mit Büchners Betonung der materiellen Hebel des politischen Kampfes vereinbar ist. Dieser Tendenz entgeht Heinz Wetzel in seiner Polemik gegen Thomas Michael Mayer nicht (Ein Büchnerbild der siebziger Jahre [s. Anm. 2], S. 253ff.). 13 Thomas Michael Mayer: Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie (s. Anm. 11), S. 258f. 14 Dedner (s. Anm. 2), S. 82. 15 Vgl. hierzu Gerhard Schaub (Hrsg.): Georg Büchner. ›Der Hessische Landbote‹. Texte, Materialien, Kommentar. München 1976, S. 75; anders Th. M. Mayer (s. Anm. 11), S. 239f.

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Erden.16 Dieser Ton ist keineswegs erst für die Zeit der Relegation in Ober-Gleen charakteristisch. Er war schon 1819 in der Predigt Vom gemeinen Nutzen, und deutlicher noch in der Osterpredigt von 1823 zu vernehmen, in welchen sich dieselbe Berufung auf den ursprünglichen Kommunismus findet.17 Dann wird Weidig 1834 die Paroles d’un croyant von Lamennais übersetzen: Wie bei Lamennais äußert sich sein christlicher Glaube in einer Mischung aus Theokratismus und radikalem Demokratismus – eine Verbindung, die die Urheberschaft für diesen oder jenen Textteil natürlich noch mehr verwischt. Selbst wenn man davon ausgehen darf, dass die Stellen, in welchen diese beiden Komponenten verbunden sind, a priori Weidig zugeschrieben werden können, muss auch bedacht werden, dass er trotz aller taktischen Erwägungen und Bündnisse mit der liberalen Bewegung nicht minder »anti-mammonistisch« eingestellt war als Büchner. Man könnte die Beispiele häufen. So ließe sich ganz am Anfang des Landboten der Satz »Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker« sowohl als Bezug auf die saint-simonistische Entgegensetzung der »classes improductives« und der »classes productives« interpretieren – dann wäre er eher Büchner zuzuschreiben, der sich in Saint-Simon eingelesen hatte – oder aber mit der Verurteilung des Schabbats bei Jesaja (1,14 f.) oder Amos (5,21 f.) in Zusammenhang bringen. Kurzum: Man gerät zu dem Schluss, dass die Verschmelzung der beiden redaktionellen Ansätze das Wesentliche, ihre Differenzierung dagegen letztendlich nur von zweitrangiger Bedeutung ist, obgleich sie philologisch interessant sein mag und die seit Bergemann gemachten Fortschritte nicht geringgeschätzt werden sollen. Ziehen wir etwa als Beispiel einen jener »Blöcke« heran, die a priori nicht Büchner zugeschrieben werden sollten. Diese deutschen Fürsten sind keine rechtmäßige Obrigkeit, sondern die rechtmäßige Obrigkeit, den deutschen Kaiser, der vormals vom Volke frei gewählt wurde, haben sie seit Jahrhunderten verachtet und endlich gar verrathen. […] Ueber ein Kleines und Deutschland, das jetzt die Fürsten schinden, wird als ein Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit wieder auferstehn. (P II, S. 487)

Diese zentrale Stelle des Landboten ist wahrscheinlich diejenige, in der Weidigs kunstvolle Technik der Interpolation am eklatantesten in die Augen fällt. Sie be-

|| 16 Vgl. hierzu Th. M. Mayer (s. Anm. 11), S. 213–215. 17 Vgl. ebd., S. 198.

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findet sich nämlich unmittelbar vor derjenigen, in der Büchner – wie man wohl annehmen darf – den siegreichen Kampf des französischen Volkes als Vorbild hinstellt: Im Jahr 1789 war das Volk in Frankreich müde, länger die Schindmähre seines Königs zu seyn. Es erhob sich und berief Männer, denen es vertraute […]. Die Männer, die über die Vollziehung der Gesetze wachen sollten, wurden von der Versammlung der Volksvertreter ernannt, sie bildeten die neue Obrigkeit. So waren Regierung und Gesetzgeber vom Volk gewählt und Frankreich war ein Freistaat. (P II, S. 487 u. 489)

In der Bezeichnung Freistaat werden zwei entgegengesetzte politische Modelle verschmolzen: die französische Republik und die freie Kaiserwahl. Obwohl man spontan geneigt ist, die Beschwörung eines Volkskaisertums Weidig zuzuschreiben, ist zu bedenken, dass die Idee des Volkskaisertums ein Topos ist, der auf den Bauernkrieg zurückgeht, dass er bei den Romantikern – nicht nur Görres, sondern auch Novalis und Friedrich Schlegel – wiederauftaucht und dass er Büchner nicht unbekannt sein konnte.18 Fast alle »Revolutionen« in Deutschland und in erster Linie der Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts haben sich auf das »alte Recht« und auf ein noch nicht verdorbenes Kaisertum berufen, das gleichsam dieselbe Funktion wie das rationale Naturrecht in den anderen abendländischen Revolutionen erfüllt und dafür freilich auch an dessen Stelle tritt. Wenn sie auch nicht für Demokratie im modernen Sinn bürgte, so war die Vorstellung der »freien Kaiserwahl« auf jeden Fall außerordentlich lebendig und populär geblieben, was Büchner sicher ebenso wenig ignorierte wie Weidig. Im Wortlaut des Hessischen Landboten tritt sie überdies in Resonanz mit Wörtern, die ebenfalls an die Luthersche Sprache und an den deutschen Bauernkrieg erinnern, wie z. B. »schinden«. Man kann zwar einwenden, dass »schinden« im übrigen Büchnerschen Wortgebrauch unauffindbar ist, während es »für Weidig gut ausgewiesen« ist.19 Wiederum sollte man aber auch bedenken, dass bei Luther »pressen« und »schinden« zusammengehen und dass es sich also in allen diesen Fällen um ein rhetorisches Register handelt, das in erster Linie dazu dient, die Erinnerung an die Bauernkriege heraufzubeschwören und sozusagen eine Legende des deutschen Freiheitsgedankens zu konstruieren, die ein Pendant zur französischen bilden würde. In dieser Hinsicht weist dieser ganze Zusammenhang − wiewohl die einzelnen lexikalischen und semantischen Atome, aus welchen er sich zusammensetzt, im einzelnen nicht strikt »büchner-konform« sind − eine unübersehbare Affinität mit Büchners

|| 18 Vgl. zu dieser Stelle Dedner (s. Anm. 2), S. 99–104. 19 Ebd., S. 133.

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strategischer Option auf, sich vor allem, wenn nicht gar ausschließlich an die Bauern zu wenden,20 während Weidig eher darauf bedacht war, eine möglichst breite Front zu bilden und deshalb nicht nur systematisch den Bauern die Bürger (»Bauern und Bürger«) hinzufügte, sondern ebenso systematisch die Verurteilung der Herrschaft von neuen Reichen gestrichen hat, in welche nach Büchner die Revolution notwendig münden wird, wenn sie nicht von den Allerärmsten gemacht wird.21 Ja, man kann sich sogar Fragen stellen über den Gebrauch des Begriffs Volk. Während er in den Briefen Büchners immer genauere Konturen annimmt, stellen Weidigs Eingriffe ohne Zweifel einen Rückschritt dar, indem sie (und daran lassen sich meines Erachtens die beiden Autoren in erster Linie unterscheiden) die breite Bedeutung wieder einzuführen, die er etwa im Brief an die Familie vom 6. April 1833, dem berühmten Brief über die Gewalt,22 besaß. Dort umfasste er offensichtlich noch die Gesamtheit der Unterdrückten – »die große Masse der Staatsbürger« –, ja die »Nation« als Ganzes, in einem Sinn, der mit der Evokation des Volkskaisertums übereinstimmt. Dann folgt aber wiederum daraus eine synkretistische Mischung aus christlichem Organizismus (»Das deutsche Volk ist Ein Leib, ihr seyd ein Glied dieses Leibes«23), französischer revolutionärer Ideologie und Aspekten der liberalen Ideologie zwischen 1815 und 1830, die auf Fichte – und über ihn hinaus wiederum auf Luther – zurückverweisen. Aus der sorgfältigen Unterscheidung der Textanteile von Büchner und Weidig ist sicherlich viel zu lernen über die ideologischen und praktischen Einzelheiten der damaligen oppositionellen Bewegungen. Doch wäre es sicher ein Fehler, darüber die Frage nach der praktischen Ideologie zu vergessen, über die sie sich alles in allem einigen konnten, und sie einfach so zu entscheiden, dass

|| 20 Vgl. Becker: Verhör vom 1. September 1837, in Enzensberger, Hrsg. (s. Anm. 1), S. 119. 21 Vgl. Becker in ebd., S. 124f.: »Er glaubte nicht, daß durch die constitutionelle landständische Opposition ein wahrhaft freier Zustand in Deutschland herbeigeführt werden könne. Sollte es diesen Leuten gelingen, sagte er oft, die deutschen Regierungen zu stürzen und eine allgemeine Monarchie oder auch Republik einzuführen, so bekommen wir hier einen Geldaristokratismus wie in Frankreich, und lieber soll es bleiben, wie es jetzt ist.« 22 »Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.« (P II, S. 366; Enzensberger, Hrsg. [s. Anm. 1], S. 65.) 23 P II, S. 501; nichtsdestotrotz schreibt Bergemann diese Stelle Büchner zu. Man kann aber nicht ignorieren, dass die Wendung »Leib des Volkes« auch am Anfang des Landboten, in der Passage anzutreffen ist, die Bergemann ebenfalls Büchner zugeschrieben hat, weil sie dessen Auffassung der politischen Legitimität darlegt: »Der Staat also sind Alle; die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Willen Aller hervorgehen sollen.« (P II, S. 475.)

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Büchner der radikalere und ideologisch fortgeschrittenere – ein »verfrühter Vorläufer der sozialistischen Revolution« –, Weidig dagegen ein gemäßigter Liberaler – der »Vertreter der verspäteten bürgerlichen Revolution«24 − gewesen sei. In dieser simplen Form ist die Entgegensetzung in der Büchner-Literatur allerdings nicht sehr verbreitet, und Thomas Michael Mayer hat selber entschieden zu einem positiven Bild des Butzbacher Rektors beigetragen, obwohl man gerade ihm vorgeworfen hat, Büchner zum entschlossenen frühkommunistischen Sozialisten stilisiert zu haben.25 Die Standhaftigkeit, die Weidig vor dem Gericht bewies und die er mit dem Leben bezahlte,26 verbietet es, die Radikalität seiner Überzeugungen zu unterschätzen. Wie Enzensberger ganz zu Recht in Erinnerung gerufen hat, war Weidig derjenige, der die größte politische Erfahrenheit besaß, der aus diesem Grund allenfalls der realistischere war – Enzensberger bemerkt, dass seine Taktik der »großen Koalition« zwischen Bauern und Bürgertum mit einem Vorsprung von zwölf Jahren die Strategie antizipiert, die Engels 1844 empfehlen wird27 –, und er ist der unnachgiebigste und unermüdlichste Verfasser und Verbreiter von Flugschriften aller Art gewesen, auch zur Zeit seiner Relegation im Oktober 1834. Vom kleinen Dorf Ober-Gleen aus, wohin er strafversetzt worden war, schaffte er es, das fünfte und letzte Blatt des Leuchters und Beleuchters für Hessen zu veröffentlichen. Er war, so resümiert Schaub, »auf regionaler Ebene […] der Motor, Animator und Organisator wie auch die alles integrierende Gestalt der dortigen Verschwörerkreise«.28 Weder der großherzogliche Hofgerichtsrat Noellner, der in seiner Dokumentation über Weidigs Prozess29 vor allem diesen belastet, noch Becker, der daran erinnert, dass Büchner seine Flugschrift als einen »Versuch« konzipiert hatte, um »die Stimmung des

|| 24 Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Königstein/Ts.: Athe3 näum, 1979, S. 80. Jancke fasst somit die von Rochus v. Liliencroen 1876 (vgl. Allgemeine Deutsche Biographie. [...] Leipzig 1875–1912, Bd. 3, S. 488–490), bis hin zu Hans Mayer (s. Anm. 6) dominante Interpretation zusammen. 25 Zu diesem Vorwurf s. Heinz Wetzel: Ein Büchnerbild der siebziger Jahre. Zu Thomas Michael Mayer: ›Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie‹ (s. Anm. 2). Ich teile hier die Position von Burghard Dedner (s. Anm. 2), S. 100. 26 Vgl. Enzensberger, Hrsg. (s. Anm. 1), S. 135ff. 27 Ebd., S. 53. 28 Schaub, Hrsg. (s. Anm. 15), S. 122. 29 Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig. Darmstadt: Leske 1844.

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Volks und der deutschen Revolutionärs erforschen«,30 haben dies verkannt oder verschwiegen. Ob nun der Landbote als »Versuch« oder als revolutionärer »Hebel« konzipiert wurde, das ist ein gewaltiger Unterschied. Die Rede von einem »Hebel« stammt von Büchner, wiewohl vieles dafür spricht, dass Weidig derjenige gewesen ist, der sie am ernstesten nahm. An der Ehrlichkeit Büchners ist sicher nicht zu zweifeln, aber es muss auch in Erwägung gezogen werden, dass er in dem Augenblick, in dem er »versuchte«, die Schlagkraft der Sprache und der Schrift zum Äußersten zu treiben, die größten Zweifel an der Wirksamkeit des publizistischen Aktivismus hegte. Aus Straßburg wird er später, Anfang Juni 1836, schreiben: »Übrigens; um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde scheinen mir nicht grade den klügsten Weg gegangen zu sein. Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell […]. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen.« (P II, S. 440; Enzensberger [Hrsg.], S. 85 f.) Sechs Monate früher, am 1. Januar, hatte er schon an seine Familie geschrieben: »Nur ein völliges Mißkennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei.« (P II, S. 423; Enzensberger [Hrsg.], S. 85.) Unter diesem Gesichtspunkt ist der Landbote sozusagen ein »Versuch« gewesen, über das Junge Deutschland hinauszugehen und die publizistischen Mittel, deren sich dieses bediente, zu radikalisieren. Dem entspricht die durchgängige, insbesondere auf lexikalischer und semantischer Ebene feststellbare Radikalisierungsstrategie, nämlich die Wahl eines politischen Wortschatzes, der aus einer Quelle schöpft, von welcher das Junge Deutschland wenig Gebrauch machte: der Religion. Diese bewusste und systematische Überbietung wirft sogar hinsichtlich der Natur und der Absicht der Schrift ein Problem auf, auf welches ich zum Schluss zurückkommen werde: das Problem des Messianismus. Denn zahlreiche Indizien legen die Vermutung nahe, dass Büchner sich über die Möglichkeit, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen, wenig Illusionen || 30 »Mit der von ihm geschriebenen Flugschrift wollte er vor der Hand nur die Stimmung des Volks und der deutschen Revolutionärs erforschen. Als […] er vernahm, daß sich auch die Patrioten gegen seine Flugschrift ausgesprochen, gab er alle seine Hoffnungen in Bezug auf ein Anderswerden auf.« (Enzensberger [Hrsg.], S. 124.) Vgl. den Brief, den Büchner zwischen April und Juli 1835 an seinen Bruder Wilhelm schickte: »[…] ich kenne die Verhältnisse, ich weiß, wie schwach, wie unbedeutend, wie zerstückelt die liberale Partei ist, ich weiß, daß ein zweckmäßiges, übereinstimmendes Handeln unmöglich ist, und daß jeder Versuch auch nicht zum geringsten Resultate führt.« (P II, S. 402; Enzensberger [Hrsg], S. 79.)

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machte. In dem Aufsatz, den er anlässlich der Veröffentlichung von Büchners Nachlass im Jahre 1850 schrieb, legte ihm Wilhelm Schulz, 1819 Autor des Fragund Antwortbüchleins über Allerlei, was im deutschen Vaterlande besonders Not tut und später aktiv an der Revolution von 1848 beteiligt, folgende Worte in den Mund: »Zwar lassen sich Revolutionen nicht machen, am wenigsten durch Flugschriften, selbst wenn diese die Nothzustände noch so treffend schildern«.31 Schon im Dezember 1832 hatte Büchner ja in einem Brief an die Familie seine tiefe Enttäuschung angesichts der politischen Entwicklung in Deutschland ausgedrückt: »Für eine politische Abhandlung habe ich keine Zeit mehr, es wäre auch nicht der Mühe wert, das Ganze ist doch nur eine Komödie. Der König und die Kammern regieren, und das Volk klatscht und bezahlt.« (P II, S. 365.) Vor dem Hintergrund solcher Äußerungen erscheint der Landbote als eine Art von »politischem Intermezzo«, das den fatalen Kurs des Geschichtsverlaufs vorläufig suspendiert – gleichsam das aktivistische Pendant zur Komödie Leonce und Lena, die zwischen Dantons Tod und Woyzeck eine »romantische« Parodie der Ohnmacht der menschlichen Marionetten einfügt.32

2 Aufgrund theoretischer, philosophischer und politisch-taktischer Prämissen, die zweifelsohne verschieden waren – daran muss man festhalten –, haben also Büchner und Weidig zusammen einen revolutionären Text hervorgebracht, dessen revolutionärer Gehalt und dessen Brisanz im damaligen Kontext sich gerade aus der Verschmelzung ihrer Differenzen ergeben hat. Auch dies hat der Hofgerichtsrat Noellner sehr hellsichtig begriffen: In seinem Bericht über das Prozessverfahren bemüht er sich, eine juristische Typologie zu entwerfen, um die Anschuldigung des Hochverrats zu rechtfertigen. Dieser Versuch ist von absolut entscheidender Bedeutung, will man genauer umreißen, was damals als eine revolutionäre Schrift galt. Noellner zitiert ausgiebig aus den Erörterungen des

|| 31 Walter Grab (Hrsg.): Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar. Königstein/Ts. 1985, S. 81. Erstdruck der Rezension in der Deutsche[n] Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben. 2. Jg., 2. H. Bremen (Februar) 1851, S. 210–233. 32 Wobei man die politische Brisanz von Leonce und Lena auf keinen Fall unterschätzen darf; vgl. Raulet: Der König ist nackt. Identitätskrise, Identitätskritik und Ablehnung der Surrogatidentitäten in Georg Büchners »Dantons Tod« und »Leonce und Lena«. In: Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation. Hrsg. v. Cornelia Klinger u. Ruthard Stäblein. Frankfurt a. M. 1989, S. 273–292.

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großherzoglichen Untersuchungsrichters, der sich bezeichnenderweise ebenfalls daran abmüht, die Diskursgattung zu charakterisieren, die als Corpus delicti gelten soll: […] durch Einwirkung auf das Volk mittelst aufregender Schriften eine Revolution gehörig vorzubereiten, die Überzeugung von der Nothwendigkeit einer solchen recht lebendig zu machen und auf diese Weise des gewünschten Erfolgs möglichst sich zu versichern. Zweck der ferneren revolutionären Thätigkeit war es demnach, durch in gemeinfaßlicher, dem Bildungsgrade und der Denkungsweise des Volkes angemessener Sprache und Darstellung abgefaßte Schriften, die Begierden und Leidenschaften der großen Masse aufzuregen, die Hoffnung, ihren Zustand zu verbessern, zu erwecken, alle moralische Scheu vor der bestehenden Gewalt zu vernichten und dem Volke die Aussicht zu eröffnen, eigenmächtig von dem Drucke, unter dem es angeblich schmachte, sich zu befreien und die ihm vermeintlich vorenthaltenen Rechte mit Gewalt sich anzueignen etc. (Enzensberger [Hrsg.], S. 89)

Der Jurist drückt sich dabei vorsichtig aus, wenn es um den »Druck« geht, unter dem das Volk leidet. Ist er doch nicht bezahlt, um über die Realität der Unterdrückung sich zu äußern. Aber er weiß hingegen sehr genau, was ein Text ist und wodurch er sich charakterisiert. Hier bewährt sich die traditionelle Nähe der Jurisprudenz zur Rhetorik: Es geht darum, einen Diskurs zu bestimmen durch seinen Zweck und durch die Angemessenheit der Mittel, die er einsetzt, um diesen Zweck zu erreichen. Noellner, der, wie schon erwähnt, Weidig schwer belastet, erinnert daran, dass dieser sich an dem Vorbild eines Frankfurter sogenannten Männerbunds orientieren konnte, und er schildert die Aktivitäten dieses Vereins auf eine Weise, die durchaus auf den Landboten als Ganzes genommen zutrifft: Unter dem Vorwand, das Erwachen der deutschen Nation zu bewirken, sei nämlich nichts anderes intendiert worden als »die Revolutionirung und Republikanisirung Deutschlands, und als Mittel hierzu sollte besonders die Verbreitung revolutionärer Schriften dienen« (Enzensberger [Hrsg.], S. 90). Dem Untersuchungsrichter weiter folgend listet Noellner eine Reihe von Schriften auf, die ähnlicher Umtriebe beschuldigt werden können: angefangen von den aufeinanderfolgenden Ausgaben des Leuchter und Beleuchter für Hessen bis hin zum Hessischen Landboten, der als letzter erwähnt wird, und zwar nicht aus chronologischen Gründen, sondern durchaus, weil es sich um das Extrem einer Steigerung handelt. Noellner macht vor allem die Sprache dafür verantwortlich – eine Sprache, so schreibt er, »wie man sie selbst niemals zur Zeit des tollsten Jakobinismus vernahm«, »in welche[r] sogar die Religion des Friedens mit der Brandfackel des revolutionären Umsturzes vermengt« wird (Enzensberger [Hrsg.], S. 97 u. 99). Es sind also seine besonderen stilistischen und vor allem sprachlichen Eigenschaf-

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ten, die aus dem Landboten »endlich […] eine hochverrätherische Schrift« machen (ebd., S. 100). Nach diesem Kriterium verdankt also der Landbote seine extreme Radikalität dem Umstand, dass er das Kind zweier Väter ist – die »Synthese« von Büchners erstem Entwurf und von Weidigs Korrekturen und Einfügungen. »Freimüthige Äußerungen über Religionshandlungen« – ich zitiere Noellner weiter – »können natürlich kein Verbrechen sein«,33 es muss noch »das Verbrechen der Majestätsbeleidigung mit demjenigen der Volksaufwiegelung«34 verbunden sein. Erst diese beiden Merkmale machen aus dem Landboten »eine unzweifelhaft revolutionäre Flugschrift«, den »Ausfluß der verwerflichsten Gesinnung, […] das Product des frechsten, zügellosesten Republikanismus«.35 Der Republikanismus bildet zweifelsohne den Kern des Problems. Während Weidigs Angriffe, wie Gerhard Jancke treffend beobachtet hat, Personen (etwa den Minister Du Thil) oder der Regierung gelten, greift Büchner das Prinzip der Legitimität als solches an.36 Das ist bekannt und wird in der Sekundärliteratur immer wieder geltend gemacht. Diesbezüglich hatte Becker wiederum völlig recht, als er in seinem Zeugnis vor dem Gericht betonte, dass »er [Büchner] weder die Fürsten, noch die Staatsdiener, sondern nur das monarchische Prinzip [haßte], welches er für die Ursache alles Elends hielt«.37 Das ist aber nicht das Entscheidende: entscheidend ist vielmehr der Ton, in dem er die Legitimität in Frage stellt, denn allem Anschein nach hat dieser Ton sich mit Weidigs Radikalität zu einem Text vereinigen lassen. Demnach kommt es auf die rhetorischdiskursiven Momente an, die diese Verschmelzung ermöglicht haben. Sowohl auf dem Gebiet der Taktik bzw. Strategie als auch hinsichtlich der zugrundeliegenden ideologischen Prämissen ist der Text des Hessischen Landboten voller Widersprüche, die man weder ignorieren noch vertuschen kann. Trotz dieser inneren Widersprüche bildet er aber als diskursives Konstrukt durchaus ein Ganzes. Diesem Ganzen und den diskursiven Momenten, die es zusammengefügt haben, soll unser Interesse gelten. Nach Treitschke ist der Zement, der die politischen Auffassungen von Büchner und Weidig zusammenhält, der Hass und der Fanatismus: Bereits hatte Weidig seinen ›Leuchter und Beleuchter für Hessen‹ ins Volk geworfen; auch ein irgendwo in Thüringen gedrucktes ›Bauernlexikon‹ war im Umlauf, das den kleinen

|| 33 Enzensberger, Hrsg. (s. Anm. 1), S. 101; Hervorhebung im Original. 34 Ebd., S. 104; Hervorhebung ebenfalls im Original. Vgl. auch ebd., S. 100: »eine volksaufwieglerische Schrift mit Majestätsbeleidigung verbunden«. 35 Ebd., S. 105. 36 Vgl. Jancke (s. Anm. 24), S. 90. 37 Enzensberger, Hrsg. (s. Anm. 1), S. 124.

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Leuten erzählte, wie auf den Ministercongressen gesoffen und gefressen und der Teufelsbund zur Ermordung der Freiheit geschlossen würde. Alle solche Libelle übertraf aber bei Weitem Büchner’s Hessischer Landbote, ein Meisterstück gewissenloser demagogischer Beredsamkeit. So blind war schon die Wuth der Parteien: der Constitutionelle Weidig trug kein Bedenken an diesem wild-radicalen Machwerke mitzuhelfen, der Atheist Büchner ließ sich von seinem gläubigen Freunde Bibelstellen und erbauliche Redewendungen in den Text einflechten.38

So einfach ging es ganz bestimmt nicht vor sich, auch wird Treitschkes Darstellung, wie gesehen, von Becker zum Teil dementiert. Aber dieses parteiische Urteil weist immerhin in die Richtung, in der m. E. die Frage gestellt werden muss: nämlich vom Standpunkt des zustande gekommenen Textganzen aus. Bestätigt wird dies von Heinrich Heine, einem der Vertreter jenes Jungen Deutschlands, mit dem Büchner nichts zu tun haben wollte. Im März 1834, d. h. in dem Augenblick, in dem der Landbote entworfen wird, schreibt Heine: [...] et comme ce livre [la Bible] est dans les mains des classes les plus pauvres, elles n’ont pas besoin de leçons savantes pour s’exprimer dans une forme littéraire. Cette circonstance produira de remarquables effets, s’il arrive jamais qu’une révolution politique éclate parmi nous. Partout la liberté saura parler, et son langage sera biblique.39

Der Zement des Hessischen Landboten ist also jenes biblische Register, das aus den beiden Autoren, ob willentlich oder nicht, einen einzigen gemacht hat. Denn, so meine These, die religiösen Zitate und Anspielungen sind keineswegs allein Weidig zuzuschreiben. Wilhelm Schulz stellte vielmehr ganz hellsichtig fest: Weidig hatte Büchner’s ›Landboten‹ einige biblische Stellen beigefügt. Es war überflüssig. War doch der ganze ›Landbote‹ in einer Sprache gehalten, die an die der Bibel erinnert, aus dem einfach praktischen Grunde, weil sie immer noch die dem Bauer verständliche Sprache ist, wenn ihm andere Dinge, als Haus und Wirthshaus, als Hof, Stall, Vieh und Feld in den Kreis seiner Vorstellungen hineingerückt werden sollen.40

|| 38 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Teil IV. Leipzig 1889, S. 310. 39 »[...] und da dieses Buch [die Bibel] sich in den Händen der ärmsten Klassen befindet, brauchen diese keinen gelehrten Unterricht, um sich literarisch auszudrücken. Dieser Umstand wird bemerkenswerte Folgen haben, falls je eine politische Revolution bei uns ausbricht. Überall wird sich die Freiheit äußern können, und ihre Sprache wird biblisch sein« (Heinrich Heine: De l’Allemagne depuis Luther. Première Partie. In: Revue des Deux Mondes. März 1834, S. 473−505, hier S. 502; meine Übersetzung). 40 W. Schulz, zit. nach Grab, Hrsg. (s. Anm. 31), S. 72.

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Als Beleg sei auch der berühmte Brief Büchners an Gutzkow zitiert, in dem es heißt: »das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt« – ein Postulat, das folgendermaßen erörtert wird: »[...] der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin, und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden.« (An Gutzkow, nach dem 19. März 1835,41 P II, S. 400; Enzensberger [Hrsg.], S. 79–81.) Freilich ist die Art und Weise, wie Büchner die Bibel mobilisiert, eigenartig: Sie wird zugleich als Basis des Konsenses benutzt und säkularisiert. Wie es in Dantons Tod ausdrücklich thematisiert wird, ist die Revolution ein Kampf zwischen Göttern und Weltanschauungen,42 und wenn die Menschen es nötig haben, in einer religiösen Sprache angesprochen zu werden, so muss doch am Ende eine emanzipierte Menschheit aus diesem Kampf hervorgehen, denn es kommt darauf an, eine gründliche »Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen« (P II, S. 423; Enzensberger [Hrsg.], S. 85) zu erreichen. Nichtsdestoweniger spielt die Religion bei Büchner eine entscheidende Rolle, die in einem anderen Brief, demjenigen, den er 1836 aus Straßburg an Gutzkow schickte, unverblümt ausgedrückt wird: »Für die [die große Klasse] gibt es nur zwei Hebel, materielles Elend und religiöser Fanatismus. […] Unsre Zeit braucht Eisen und Brot – und dann ein Kreuz oder sonst so was.« (P II, S. 440; Enzensberger [Hrsg.], S. 86.) Dabei neige ich sogar zu der Ansicht, dass das Einverständnis zwischen Büchner und Weidig auf diesem religiösen Terrain alles andere als ein bloß taktisches Bündnis war. Und dies aus zwei Gründen: Einmal ist im Hessischen Landboten die Sprache, die Zurückforderung der Sprache von den Fürsten Deutschlands – um den Titel von Fichtes Revolutionsschrift zu parodieren – ein explizites Anliegen. Nach Adam Koch, einem ehemaligen Mitglied der Gesellschaft der Menschenrechte, der wegen seiner Zugehörigkeit zu einer anderen geheimen Gesellschaft verhaftet wurde, meinte Büchner, dass man die heiligen Rechte der Menschen »in den einfachen Bildern und Wendungen des Neuen Testaments« erklären soll.43 Es ist nun keineswegs erstaunlich, dass man hinsichtlich der Sprache auf dieselben Zweideutigkeiten stößt wie beim Volksbegriff. Weidigs Predigt Vom gemeinen Nutzen (1819) lag als Kernmotiv eine Stelle aus dem ersten Korintherbrief (12,13) zugrunde, den der Landbote in folgender Form wiederaufnimmt: »der Gott, der ein Volk durch Eine Sprache zu Einem

|| 41 Zur Datierung vgl. MBA 10.2, S. 19f. 42 Vgl. Raulet, »Présentation«, in: Büchner: Œuvres complètes (s. Anm. 8), S. 87–100, bes. S. 100. 43 Zitiert nach Karl Viëtor: Georg Büchner. Bern 1949, S. 45.

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Leibe vereinigte« (P II, S. 495). Der Volksbegriff wird somit durch einen politischen Organizismus unterlaufen, der sich mit Fichteschem Gedankengut verbindet. Wie dem auch sei, geht es in der Wiedereroberung der Sprache zugleich um die Eroberung der Menschenrechte, sei es im Sinn des christlichen Naturrechts, an dem Weidig festzuhalten scheint, oder aber im Sinn des rationalen und revolutionären Naturrechts, das in Büchners Sicht sich damit begnügt, die biblische Sprache als Vermittlung zu benutzen. Diesem Problem begegnen wir gleich am Anfang des Hessischen Landboten, da wo es eben um die Würde geht, die dem Menschen bei der Schöpfung zuteil wurde. Die Vornehmen, so lesen wir, »reden eine eigne Sprache« (P II, S. 474), ihre Justiz besteht aus einem Haufen von Gesetzen »meist geschrieben in einer fremden Sprache« (P II, S. 477) – der Sprache der »Fremden«, deren lügnerisches Sprechen von der Bibel verpönt wird (vgl. u. a. Ps 144). Gegenüber dieser Sprache der Reichen und Mächtigen fordert die Sprache der Armen und Kleinen ihr Recht zurück. Man kann diesbezüglich aus dem Landboten den unterschwelligen Archetyp jener subversiven Bibelhermeneutik machen, deren Organon Ernst Bloch mit seinem Atheismus im Christentum entworfen hat.44 »Ein ganz anderes wäre und war auch schon«, schreibt Bloch am Anfang seines Atheismus im Christentum, »jedem Gebiet, wo es nicht nur Reiche gegeben hat, die nichts haben, sondern Enterbte, die betrogen und zugedeckt wurden, ihre alte eigene Anmeldung neu zu lesen«.45 Wird dies versucht, dann geht das Wort »quer«, es tritt in den Widerstand und stellt die Seufzer, das Murren, die Revolte und die Hoffnung des Volks Gottes in den Dienst der stummen Leiden des Volkes von 1830: Man findet in der Bibel, was in keinem anderen Religionsbuch sich findet: Leiden, das keines bleiben will, bäumendes Erwarten von Auszug und Gutmachen, Anderswerden; nicht bei einigen Demutspsalmen, doch wie sehr bei Hiob und weiter. Zuerst und bis zuletzt kann hier nur der Unruhige fromm sein, auch ist seine Art utopische Treue (die ihn unruhig erhält) auf langhin allein tief.46

|| 44 Vgl. hierzu Raulet: Subversive Hermeneutik des ›Atheismus im Christentum‹. In: Seminar zur Philosophie Ernst Blochs. Hrsg. v. Burghart Schmidt. Frankfurt a. M. 1983, S. 50–74, sowie: ders.: Der dritte Hiob. Zu Ernst Blochs objektiv-realer Hermeneutik. In: Materialien zu Ernst Blochs ›Prinzip Hoffnung‹. Hrsg. v. Burghart Schmidt. Frankfurt a. M. 1977, S. 50–74. 45 Ernst Bloch: Atheismus im Christentum. Frankfurt a. M. 1968 (= Gesamtausgabe, Bd. 14), S. 32. 46 Ebd., S. 54.

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Indem er den obrigkeitlich gefrorenen Text wieder in Bewegung bringt, erhebt sich der subversive Gebrauch der Bibel gegen die verbogene Botschaft derer, für die das Volk die anbefohlene Spur halten soll. Diese subversive Lektüre ist zugleich Bibelkritik und Kritik durch die Bibel und fordert das Recht zum aufrechten Gang für diejenigen, die sich bislang beugen mussten. Den Zusammenhang seiner »Kritik durch die Bibel« mit Georg Büchner hat Bloch selber hergestellt, als er in einem »Gespräch über Ungleichzeitigkeit« erzählte, wie der kommunistische Agitator Bruno von Salomon, ein Bruder des Rathenau-Attentäters, Ende der zwanziger oder Anfang der dreißiger Jahre in Oberhessen aus dem Hessischen Landboten vorgelesen habe – »und die Bauern haben ihn verstanden«, während »die übliche Parteisprache« unter ihnen »keinen Zuhörer, kein Verständnis, keinen Adressaten gefunden« habe.47 Dort wurde erst gestern nach uns gefragt, Sprache als Ansprechen, Anruf wie nirgends hat derart die Bibel populär gehalten. Quer durch so viele Zeiten, Länder hindurch, als wären sie ein Stück von ihr, mit dem Nimrod um die Ecke, mit dem Jesus als Gast. Vermittelt aber jederzeit durch das eigentümlich Einheimische der biblischen Sprache und Bilder, der aus ihrer räumlichen, gar überräumlichen Ferne sich heimholenden. Es gibt davon kein anderes Beispiel, nichts wurde derart eingemeindet, obwohl artfremd. Denn zu wievielen spricht die Schrift sogar, als wäre sie mit ihnen großgeworden.48

Nicht nur spricht diese biblische Sprache das Volk an, sondern sie gibt seinem Kampf Mittel an die Hand gegen die Herrschaft und für eine andere politische Kultur. Dadurch wird zur praktischen Ideologie der Unterdrückten aktiv beigetragen. Die Kritik durch die Bibel knüpft an das Bewusstsein der Unterdrückung an und macht aus dessen Ausdruck, aus der Religion als »Opium des Volks«, eine durchaus subversive Ideologie. Dafür muss man aber die sprachlichen Mechanismen der Entfremdung an der Wurzel packen. Das hatten Büchner und Weidig, beide zusammen, verstanden, bzw. die Herstellung des Hessischen Landboten hat sie das verstehen lassen. Knien doch die Völker vor Herrschern von Gottes Gnaden nieder, genauso wie die Heiden »das Krokodil anbeten« und sich vor Baal beugen (P II, S. 485). Büchners radikale Infragestellung des monarchischen Prinzips erforderte eine Kritik an den Grundlagen der Legitimität, die nicht anders zu leisten war als durch den doppelten, konsensbildenden und säkularisierenden Gebrauch der Bibel. In einem politischen Kontext, in dem der Deutsche Bund durch repressive Maßnahmen für die gottgewollte Ordnung sorgte und in dem der weltliche Arm Gottes mehr denn je seine durch die Unru-

|| 47 Kursbuch, 39/1975, S. 1–9, hier S. 2. 48 Bloch (s. Anm. 45), S. 42.

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hen des Jahres 1830 erschütterte Legitimität restaurieren musste, gehörte der Vers aus dem Matthäus-Evangelium (22,21): »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist«, zu den meistverwendeten Motiven der Predigten. Nicht von ungefähr bildet er auch ein Grundmotiv in der Argumentation des Landboten, die in dieser Hinsicht keineswegs das zufällige Produkt von widersprüchlichen Interpolationen ist. Kurzum: Das Bündnis des Atheisten Büchner mit dem liberalen Christen Weidig erweist sich bei genauem Hinsehen als das Gegenteil einer nur rhetorischen, geschweige denn bloß demagogischen diskursiven Konstruktion, selbst wenn Büchner das Gefühl gehabt und geäußert hat, von Weidig hintergangen worden zu sein. Als Ganzes betrachtet fasst es vielmehr das Problem an der Wurzel, und jenseits aller politischen und ideologischen Divergenzen lässt sich sagen, dass Weidig, falls er »die biblischen Stellen« hinzugefügt oder verstärkt hat, mit seiner bibelfesten Beredsamkeit durchaus Wasser auf Büchners Mühle gebracht hat. Die Untergrabung der etablierten Legitimität setzt im Hessischen Landboten ab ovo, nämlich bei der Schöpfungsgeschichte, an. Gleich am Anfang erweist sich die vermeintlich von Gott geschaffene Ordnung als eine verkehrte Welt, da Menschen über Menschen herrschen, während nach dem 1. Buch Mose am sechsten Tag der Mensch über die Tiere herrscht. Indem also andere Menschen wie oder als Tiere behandelt werden, sieht es so aus, »als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Gethier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt«. Diese Lektüre der Genesis verrät (ein Grundmotiv der Argumentation) die gottgewollte Ordnung. Diejenigen, die sie vertreten, maßen sich an, über einen Teil der Schöpfung zu herrschen, die nur Gott untertan ist. Sicher wird man hierzu bemerken, dass dieser Rekurs auf das christliche Naturrecht zweischneidig ist und dass hier – zumindest prinzipiell (oder aber taktisch?) – eine Spannung zwischen Büchner und Weidig besteht. Damit dieser Bezug nicht nur die Sehnsucht nach der guten alten Ordnung nähre, muss der Arbeiter, ob Bauer oder Handwerker, diese Welt als die seinige erkennen und die Ordnung als das Resultat seiner Hervorbringung von Reichtum ansehen. Im Ganzen genommen ist dies aber genau die Botschaft des Landboten, wenn auch für Büchner kein Zweifel darüber besteht, dass die Umstülpung der verkehrten Welt ohne Revolution nicht bewirkt werden kann. Wenigstens für ihn – aber ich möchte die Frage in den Raum stellen, ob das schließlich nicht auch für Weidig gilt, wenigstens was die Apokalyptik betrifft – tritt der revolutionäre Gedanke das Erbe der apokalyptischen Erwartung an: Auch dieser ist Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Die Spannung zwischen Genesis und Apokalypse ist ja eines der

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tiefsten und ältesten Anliegen der subversiven Bibelkritik – nicht zuletzt in den Predigten von Thomas Münzer. Der Statik, die aus der Selbstzufriedenheit Gottes am siebten Tag resultiert – »Und siehe, es war alles gut« – setzt der subversive Bezug auf die Apokalypse die Aussicht auf eine andere Ordnung entgegen, die wortwörtlich das Wort wieder in Gang bringt und an Themen wieder anknüpft, die bezeichnenderweise im Hessischen Landboten sehr präsent sind, nämlich den Exodus und das gelobte Land. Nach Karl Viëtor resultiert das Scheitern des Landboten aus seiner Maßlosigkeit: die erschreckten Bauern, so erzählte August Becker vor dem Gericht, hätten die Schrift bei der Polizei abgeliefert.49 Treffender kann man nicht das bezeichnen, was die Fusion des Büchnerschen und des Weidigschen Ansatzes ermöglicht hat: den Messianismus. Wie schon erwähnt, machte sich Büchner kaum Illusionen über die Wirksamkeit der Publizistik im Allgemeinen und sogar der Flugschriften im Besonderen. Er war sich der »Apathie« des deutschen Volkes zu bewusst. Ganz offensichtlich dient die apokalyptisch-messianische Gewalt des Hessischen Landboten, die auch gegen den noch allzu lauen Ton des Jungen Deutschlands gerichtet ist, dazu, die deutschen Bürger, angefangen mit den angeschlagensten unter ihnen, aufzurütteln. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es einfach zu schön, wenn man Büchner die statistischen Argumente zuweisen könnte, die an die materiellen Interessen und an die Vernunft appellieren, während Weidig noch die Last des religiösen Erbes schleppen würde. Es verhält sich vielmehr so, dass auch Büchner von vornherein die beiden »Hebel« hat ansetzen wollen, von welchen sein Brief an Gutzkow von 1836 spricht. Und gerade der »zweite Hebel« mag die diskursive Zusammenkunft des Büchnerschen und des Weidigschen Ansatzes ermöglicht und bewirkt haben. Dafür möchte ich ein Indiz anführen: Die Bibelzitate und die Statistiken stellen in der globalen Ökonomie des Textes keine deutlich verschiedenen Register dar. Der Gebrauch von Statistiken, der übrigens damals gang und gäbe war und das Nec plus ultra der Politikwissenschaft darstellte – davon zeugt etwa die Dissertation, mit der Wilhelm Schulz 1831 in Erlangen den Doktortitel erlangte: Über das zeitgemäße Verhältnis der Statistik zur Politik – kann keineswegs als Beweis für eine ökonomisch begründete Auffassung der Gesellschaft interpretiert werden. Gerhard Schaub hat zwar völlig recht, wenn er in den Statistiken »die Propagierung einer Zwei-Klassen-Ideologie, die nur Arme und Reiche, Presser und Gepreßte kennt«,50 erblickt, aber diese Ideologie ist nicht schon deshalb »sozialistisch«. Sie bleibt möglicherweise ganz im Rahmen des biblischen Gegensat|| 49 Viëtor (s. Anm. 43), S. 77f. 50 Schaub (s. Anm. 15), S. 158.

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zes zwischen Armen und Reichen, und dann muss man es in der Tat als ein Meisterstück Weidigs bewerten (wenn er wirklich der Autor dieses Abschnitts ist), die Statistik apokalyptisch genutzt zu haben. Ohne diese Verwertung wäre die Einheit des ganzen Textes unmöglich gewesen. Aus der systematischen Auflistung der biblischen Zitate, die bei genauerem Hinsehen keineswegs fremde Implantate darstellen, sondern vielmehr den Grund der Texteinheit bilden, geht eine – offensichtlich beiden Verfassern gemeinsame – Vorliebe für alle biblischen Texte hervor, die eine messianische oder apokalyptische Botschaft verkünden. Das gilt vom sog. »zweiten Sacharja« – dem der Kapitel 9 bis 14, in denen das Kommen eines armen Königs auf einem Esel prophezeit wird (Sach. 9, 9) und die in der apokalyptischen Vision des Tages Jahwes gipfeln, an dem die Natur umgewälzt und Jerusalem gerettet wird. Das gilt von den messianischen Psalmen – in erster Linie Psalm 72 – sowie von allen Passagen, die im Buch Jesaja, und das heißt bei den drei Jesajas, denen dieses Buch zu verdanken ist, eine soziale oder politische Kritik, eine messianische Prophetie oder gar eine apokalyptische Botschaft enthalten. Das gilt auch von Micha, dem Propheten aus Judäa, der zeitgleich mit Jesaja (zwischen 750 und 700) lehrte, von Hesekiel, der während der babylonischen Gefangenschaft (587) lehrte und von dem der Landbote nicht nur das »Murren« gegen Pharao (Hes. 29,3 u. 32,2) zitiert, sondern auch das Versprechen neuer Ernten, deren Zeiten »nahe« sind und auch die Auferstehung der Toten mit sich bringen werden (Kap. 37). Schließlich gilt es auch für Daniel, den spätesten aller großen Propheten und zugleich den messianischsten, weil er eine Brücke zwischen dem Alten und dem Neuen Testament schlägt: Anklänge an sein Buch finden sich in der Offenbarung Johannis; auch Thomas Münzer beruft sich auf ihn in seiner Fürstenpredigt von 1524 und selbst Luther scheut nicht davor zurück, sich auf ihn zu beziehen, wenn es darum geht, die Kirche vor dem Antichristen in Rom zu warnen.51 Die apokalyptischen Wendungen und Themen sind in demselben Maße in den Passagen zu finden, für welche Weidig die Verantwortung tragen soll, wie in denjenigen, die man in der Regel Büchner zuschreibt. So in der Mitte der Schrift, in der schon erläuterten Passage, in der Weidig (wer sonst?) den Begriff Freistaat unterläuft, um seine Interpolation zu begründen: »Ueber ein Kleines und Deutschland, das jetzt die Fürsten schinden, wird als ein Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit wieder auferstehn.« (P II, S. 487.) Von da an kann das Reich sowohl als das »Alte Reich« deutscher Nation als auch als das Reich || 51 Ich verweise hier auf meine (französische) Ausgabe des Hessischen Landboten (s. Anm. 8), in der ich über Schaub hinaus die biblischen Bezüge systematisch erfasse und kommentiere.

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Gottes verstanden werden, das dem »Reich der Finsternis« ein Ende setzen wird. Aber die Stelle, an welcher die beiden Autoren gemeinsame Apokalyptik am eindringlichsten zum Zuge kommt, ist natürlich die Peroratio des Landboten. Sie besteht aus zwei Abschnitten, deren erster gemeinhin als von Büchners Hand gilt (wiewohl er mit einer von Luther häufig verwendeten Formel anhebt: »Hebt die Augen auf« – und überdies, wie schon bemerkt, eine organizistische Auffassung des Volks enthält), während der zweite aufgrund von Beckers Zeugnis Weidig zugeschrieben wird. Merkwürdigerweise ist es aber der erste, der am deutlichsten apokalyptisch ist: Das deutsche Volk ist Ein Leib, ihr seyd ein Glied dieses Leibes. Es ist einerlei, wo die Scheinleiche zu zucken anfängt. Wann der Herr euch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebt euch und der ganze Leib wird mit euch aufstehen. (P II, S. 501)

Indem sie beide das apokalyptische und messianische Register ziehen, tragen Büchner und Weidig dazu bei, dass das prekäre Gleichgewicht des objektiven und des subjektiven Faktors, auf dem ihr Konstrukt beruht, unvermeidlich auf die subjektive Seite zu kippen droht und dass der Landbote in die Spirale des »millenaristischen Szenarios« hineingerissen wird, das der französische Religionssoziologe und Experte für alle messianischen Bewegungen Henri Desroche idealtypisch charakterisiert hat.52 Mit diesem Szenario teilt der Landbote die Beschwörung der entsprechenden symbolischen Tiere, der Krokodile und der blutsaugenden Tiere, die beide die Auspressung verkörpern. Zugleich behauptet er, dass die Zeit des Widerstands gekommen sei, die Zeit der geheimen Boten, die von der Wahrheit zeugen, der Märtyrer und der Ungeduld, des Ekels angesichts der Korruption und der Feigheit. Die Zeit eines geistigen Exodus, auf den Weidig offensichtlich die Gleichsetzung des idealen deutschen Reiches mit dem Reich Gottes aufgepfropft hat. Und schließlich die Zeit der Befreiung und der Rehabilitierung der Gerechten. Dieses Szenario ist vollständig vorhanden, wohingegen der Landbote sehr arm an konkreten Vorschlägen ist. Alles trägt insofern zu dem Eindruck bei, dass die »Fusion« zwischen den beiden Autoren erst eigentlich auf diesem messianischen Boden zustande kam. Wo der Landbote überhaupt über das politische Programm der Liberalen hinausgeht, geschieht dies nur durch seine messianische und apokalyptische Haltung. Beide Autoren mögen das freilich bedauert haben. Festzuhalten aber ist, dass beider so unterschiedliche Radikalität sich im zeitgenössischen Kontext

|| 52 Henri Desroche: Sociologie de l’espérance. Paris 1973, S. 130f.

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nur in dieser Form verbinden konnte. Der Bote des Volkes hat allem Anschein nach in der Gestalt des Boten Gottes die identitätsstiftende Figur gefunden, in der die Widersprüche zwischen den politischen und ideologischen Prämissen von Büchner und Weidig im Sinne einer »praktischen Ideologie« aufgehoben werden konnten, da selbstverständlich keiner von beiden imstande war, sie anders aufzulösen. Insofern appelliert der Landbote an die Geschichte – an die sich wirklich ereignende Geschichte, die er ganz bestimmt nicht allein und von selbst »machen« kann. Er ist nicht als theoretische, geschweige denn dogmatische Botschaft zu deuten, sondern als eine – wie auch immer verzweifelte – Momentaufnahme jener Umbruchzeit zwischen den vergeblichen Unruhen von 1830 und dem erneuten Scheitern von 1848, das trotzdem den Anbruch einer neuen Epoche der politischen und sozialen Geschichte bedeuten wird. Weder Büchner noch Weidig waren in der Lage, diesen Moment der Entscheidung in der deutschen und europäischen Geschichte ganz zu erfassen und irgendwie theoretisch und politisch auf den Begriff zu bringen. Sie haben aber zusammen ein Dokument des Übergangs produziert, das als solches gewertet werden muss. March bei Freiburg im Juni 2012

Simonetta Sanna (Sassari)

Büchners Dantons Tod oder die Natur der Macht »der Schmerz fragt immer nach der Ursache« (Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft)

Meiner hier wie in der Monographie von 20101 vorgelegten Interpretation zufolge lässt Georg Büchner durch sein komplexes Drama, in dem die Perspektiven der Personen und der Blick auf sie sich fortwährend wandeln, nicht nur wesentliche Divergenzen zwischen Theorie und Praxis der beiden widerstreitenden Fraktionen hervortreten. Vielmehr arbeitet der Autor dank der Poetik des Werkes, die auf der unablässigen Verkehrung der Asymmetrien in Symmetrien beruht, ebenso wesentliche innere Konvergenzen zwischen den Opponenten heraus und verdeutlicht so, in welchem Maße die gegensätzlichen Lager einander gleichen. Bei einem übergeordneten Blick auf die Geschehnisse der Französischen Revolution erscheinen die ideologischen Perspektiven, die »Bannern von verschiedener Farbe« (I.3/14)2 huldigen, aufgelöst. Die radikal antiideologische Konzeption, die Büchner entwickelt, noch ehe sich die Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts überhaupt herauskristallisieren, demaskiert »[a]lle Absurditäten, welche die Geschichte wie ein langes Delirium erscheinen lassen« und welche »in einer einzigen grundlegenden Absurdität« wurzeln: »in der Natur der Macht«. So die Überzeugung von Simone Weil.3 Dazu nun einige Beispiele, die insbesondere die Handlung und die Reflexionen der zwei Parteien betreffen, zudem die Frauenfiguren und ›das große unbekannte X‹ – das verborgene Zentrum des beseelten Ganzen.

|| 1 Simonetta Sanna: Die andere Revolution. »Dantons Tod« von Georg Büchner und die Suche nach friedlicheren Alternativen. München [u. a.] 2010. 2 Die Seitenangaben zu Danton’s Tod beziehen sich auf Bd. 3.2 der Historisch-kritischen Marburger Büchner-Ausgabe (MBA). 3 Simone Weil: Non ricominciamo la guerra di Troia. In: Dies.: Sulla guerra. Scritti 1933–1943. Milano 2005, S. 71. Vgl. auch dies.: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Zürich, Berlin 2009.

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1 Die Handlung Unbestreitbar treffen in Dantons Tod zwei Gegenspieler aufeinander, von denen der eine, Robespierre, die Todesmaschine der Guillotine bedient, während der andere, Danton, »lieber guillotinirt werden« (II.1/31), als andere guillotinieren will. Eine »wahrhaft ästhetische Kritik«, die Büchner sich in einem Brief an seine Eltern vom 28. Juli 1835 (MBA 10.1, S. 67) erhoffte, vermag jedoch aufzuzeigen, dass die Divergenzen zwischen den Gestalten von ebenso grundlegenden Konvergenzen begleitet sind, sodass die prekären Symmetrien der Handlung wesentliche ›Löcher‹ aufweisen.4 Das erste »Loch« in der »dünne[n] Kruste« (II.2/36) des von Robespierre regierten symmetrischen Telos, das auf seine Machterhaltung bzw. die Niederlage seiner Widersacher zielt, zeigt die Handlung selbst: das Geschehen zwischen dem 28. März und dem 5. April 1794, dem Tag, an dem Danton und seine Freunde guillotiniert werden. Die Handlung ist hier einzig der queue de Robespierre anvertraut. Der Unbestechliche erhebt zwar den Anspruch, die »Umstände, Charaktere und Zwecke« (Hegel) der Handlung, den pathetischen Ton und die heroischen Sitten seiner Tribunen zu bestimmen, doch geht seine Rechnung nicht auf: Das symmetrische Telos der Staatshandlung verwandelt sich am Ende in einen »babylonische[n] Thurm« (II.2/36), in ein tückisches Labyrinth, auch weil »das Schwert des Gesetzes« (I.3/15) den Händen von St. Just und den konzentrisch gescharten Figuren sogar zweiten, dritten und vierten Ranges »anvertraut« (I.3/17) ist. Mit deren Handlungen aber verliert das Geschehen jeden Anspruch auf ein »erhabne[s] Drama« (I.3/14).5 Betrachten wir kurz das Robespierresche Personenensemble:

|| 4 Zu Poetik und Ästhetik von Dantons Tod vgl. Sanna: Die andere Revolution (s. Anm. 1), bes. S. 121ff. 5 Darauf spielen u. a. die Porträts an, die die Rollenverteilung und internen Spannungen innerhalb der beiden Fraktionen verdeutlichen. In I.3 hatte Robespierre die Merkmale seiner Gegenspieler skizziert, während die Darstellung der Robespierristen in Le Vieux Cordelier von Camille deren Selbstverständnis Hohn spricht: »Robespierre auf seinem Kalvarienberge zwischen den beyden Schächern Couthon und Collot […]. Die Guillotinenbetschwestern stehen wie Maria und Magdalena unten. St. Just liegt ihm wie Johannes am Herzen« (I.6/28). Zu beachten sind die Fluchtpunkte des Aufbaus: die beiden Ultraradikalen zu seiner Seite – von denen der eine, Couthon, Robespierre auf das Schafott folgen, während der andere ihn verraten wird –, die Furien der Guillotine unten und neben ihm sein treuer Apostel oder, um es mit Gutzkows Worten zu sagen, die »Apokalypse neben dem Evangelium« ([Karl Gutzkow]: Danton’s Tod, von Georg Büchner. In: Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland. Frankfurt a. M. Literatur-Blatt, Nr. 27 (11. Juli 1835), S. 645–646, hier S. 646).

Büchners Dantons Tod oder die Natur der Macht | 165

St. Just, der Apostel, der zu seiner Rechten sitzt, erscheint wie eine »hölzerne Copie« (II.3/36), zwanghafter Vollstrecker der Macht, Spiegel des unpersönlichen Mechanismus eines zweckorientierten, instrumentellen politischen Handelns, das eine düstere teleologische Vision, die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, vorwegzunehmen scheint.6 In seinem einzigen öffentlichen Auftritt in II.7 vermag St. Just, der als Werkzeug des ›Weltgeistes‹ zu fungieren meint, den Nationalkonvent zu überzeugen und dadurch freie Hand zu erhalten, während er in den beiden übrigen Szenen hinter geschlossenen Türen agiert (vgl. I.6/24ff., III.6/58ff.). Das hässliche Gesicht dieser Politik wird vollends sichtbar: hier der fanatische Enthusiasmus, den St. Just in der Öffentlichkeit hervorruft – dort der durchtriebenste Zynismus, in den geheimen Räumen der Institutionen, verbunden mit dem Druck einer bürokratischen Maschinerie. In I.6 besitzt St. Just Hände anstelle des »Meisters« (28), während er in III.6 die Rollen bestimmt, die bei der Inszenierung des Staatsbegräbnisses die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, der Präsident des Revolutionstribunals, die Abgeordneten des Nationalkonvents und der bewaffnete Arm der Exekutive, die politische Polizei, zu übernehmen haben, d. h. die Figuren zweiten Ranges, die jedoch zugleich die Repräsentanten der drei Gewalten, der Exekutive, Rechtsprechung und Legislative, sind. Dank der Komplizenschaft der höchsten Staatsämter verwandelt sich das »große Beispiel« (I.3/17) in ein Verbrechen. Die Macht konzentriert sich in wenigen Händen, der Zwang ist systematisch: »Das ist die Dictatur«, lautet nicht umsonst die politische Anklage, die Danton im Verlauf der zweiten Verhandlung gegen Robespierre richtet, an deren Ende »die Gefangnen […] mit Gewalt hinausgeführt« (III.9/66) werden. Nach dem dritten Akt verschwindet freilich auch St. Just von der Bühne. Fast als täten sich nach und nach die Kulissen auf, lässt die Handlung im Übergang vom Plan zur Ausführung eine zunehmend miserable Wirklichkeit erkennen, während die Figuren niederen Ranges nunmehr dämonische Züge tragen,

|| 6 Dies wurde nicht nur von Seiten der Interpreten festgestellt – vgl. Herbert Lindenberger: Georg Büchner. Carbondale 1964, S. 24; Peter von Becker (Hrsg.): Georg Büchner, »Dantons Tod«. Die Trauerarbeit im Schönen. Ein Theaterlesebuch. Frankfurt a. M. 1980, S. 77; Antimo Negri: Georg Büchner poeta del materialismo. In: Ders.: Trittico materialistico. Georg Büchner, Jakob Moleschott, Ludwig Büchner. Roma 1981, S. 11–56; Werner Frizen: Georg Büchner, »Dantons Tod«. Interpretationen. München 1990, S. 69 –, sondern insbesondere von Autoren wie Wilhelm Herzog, der in Robespierre einen »Bolschewist[en] des 18. Jahrhunderts« erblickte, von Manès Sperber, der Positionen von Koestler, Silone, Malraux und Sinclair teilt, von Rolf Hochhuth sowie in der DDR von Volker Braun. Vgl. dazu Goltschnigg 2001–2004, Bd. 2, S. 208, 87, 432f., 501f., 456f.

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als verdichteten sich in ihnen die Schatten, die Robespierre in »E i n Z i m m e r«, »R o b e s p i e r r e, a l l e i n.« (vgl. I.6/26f.) heimgesucht haben. Die Personen der dritten Reihe machen die politische Bühne zu einem Schmierentheater und tragen folglich zur Undurchsichtigkeit der politischen Praxis bei, indem sie das Wort der Revolution unter dem Volk verbreiten und dessen Willen manipulieren. Sie veranschaulichen die Folgen dessen, was heute unter dem Namen Informationsüberflutung läuft, die nicht selten massiv auf die Techniken der Massenmanipulation zurückgreift. Die drittrangigen Rhetoren der Revolution, die sich auf der Bühne der Politik wie »auf dem Theater« (II.1/32) bewegen, kommen in zwei Varianten vor, einer ernsten und einer parodistischen. Die ernste ist durch den Ersten, Zweiten (und Dritten) Bürger (vgl. I.2/8ff. u. III.10/67), »E i n L y o n e r« und »E i n J a c o b i n e r« (I.3/13), aber auch durch »die Fischweiber und die Lumpensammler« (III.6/58) repräsentiert.7 Die parodistische Version wird durch den Berufs-Souffleur Simon vertreten, der die heroischen Sitten und die Phraseologie von Robespierre auf die Straße trägt, wo er Dienst tut, obwohl auch hier die Demagogie ihr Gesicht nicht ändert – mit der Verstellung als Mittel zum Zweck. Die vierte Reihe führt, gleich Marionetten, mechanisch die niedrigen Handlangerdienste aus. Ihr privates Antlitz zeigt sich dagegen in erster Linie in Obszönitäten, mit denen das Drama bekanntlich nicht spart. Es handelt sich um einen »Gefangenwärter« (III.5/56), einen Schließer und zwei Fuhrleute (IV.4/72), einen »Fuhrmann« (IV.7/79), zwei Henker und die Bürger, die Lucile festnehmen (IV.9/80f.). Der Kampf um die Machterhaltung kennt keinen Abscheu, sondern bedient sich jeglicher Hände. So weit zu der queue de Robespierre. Auf der anderen Seite Danton. Ganz im Gegensatz zu Robespierre handelt er nicht, sondern hat sich ins Privatleben

|| 7 Die Figuren bilden den Kern der politischen Danton-Interpretationen, denen zufolge diese Personen in etwa die Positionen von Gracchus Babeuf, Buonarroti und Blanqui zum Ausdruck bringen sowie die des Hessischen Landboten (vgl. Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen 2 Landboten«. In: GB I/II, S. 16–298; Hauschild 1993, 1997, S. 440), mit dem Danton demzufolge in Verbindung gebracht wird. Nun war Büchner bestenfalls Neobabouvist und zählte nicht zu den Neojakobinern (vgl. MBA 3.2, S. 193), über deren Guillotinomanie sich 1832 auch Heine besorgt äußerte, während Ludwig Büchner seinen Bruder eher als »S o c i a l i s t« denn als »R e p u b l i k a n e r« (N, S. 48) betrachtete. Vor allem aber werden die Positionen der Enragés im Drama sowohl in der Perspektive der Gesamtstrategie als auch vor dem Hintergrund bedeutsamer Details als parteiische Reden relativiert. Vgl. dazu Sanna: Die andere Revolution (s. Anm. 1), S. 34.

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zurückgezogen. Bezüglich der Handlung scheinen also die Differenzen, kurz: die Asymmetrien vorzuherrschen, die die Rollen der beiden Gegenspieler Danton und Robespierre definieren. Doch das zweite »Loch« in den prekären Symmetrien der Handlung, d. h. der Kunstgriff der Rollenverkehrung zwischen den Spitzenvertretern der beiden Fraktionen in den Szenen I.6, III.4 und 9, zeigt, dass selbst dieser Schein trügt. In »E i n Z i m m e r« (I.6/24) gelingt es Danton, Robespierre zu »ärgern«, sodass »er nicht schweigen« (I.5/23f.) kann und sich »empfindlich« (I.6/29) zeigen muss, während im dritten Akt in den öffentlichen Räumen des Justizpalasts auch Danton und die Seinen »nicht schweigen« (III.6/61) können. Danton ist gezwungen, sich zu wandeln und erneut zu »schreien« (ebd.), wie man es von »einem Revolutionär, wie [ihm] erwarte[t]« (III.4/54f.). Durch diese zweifache, wechselseitige Veränderung wird Robespierre dazu gedrängt, Sätze zu sagen, die eher seinem Gegenspieler eignen, wohingegen Danton dazu bewogen wird, eine Ansprache über die Nationalkühnheit als »die verdienstvollste aller Tugenden« zu halten (ebd.). Die Verwandlung der beiden Protagonisten widerspricht jeder psychologischen Wahrscheinlichkeit, doch besteht ihre Funktion darin, die wesentlichen Analogien im Verhalten und in den Prinzipien der beiden Protagonisten und ihrer Anhängerschaft hervorzuheben, welche die Asymmetrien zwischen ihnen bei weitem überwiegen. Betrachten wir die öffentlichen Auftritte Dantons genauer. Obwohl er versichert hatte: »ich will lieber guillotinirt werden, als guillotiniren lassen […]. Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben« (II.1/31), kommt ihm darin die Aufgabe zu, zu zeigen, dass das Gewissen ein »Affe« sei, wie er in I.6 (S. 25) Robespierre gegenüber festgestellt hatte.8 Schon in der Zelle im Luxembourg, in den Händen von Robespierre und seinen Helfern, die ihre Intrigen spinnen (in III.2, 5, 6 u. 8), ändert er seine Strategie.9 Doch vor allem in III.4 lässt er die »garstigen Sünden« der Septembermorde (so in II.5/40) erneut zu einem Verdienst werden, und zwar gerade in Analogie zu St. Just (»Die Revolution […]

|| 8 Barrère wird das Gewissen in III.6/63 als »Hühnchen« bezeichnen. 9 Danton versucht die Maske anzuziehen, auf die Julie zuvor angespielt hatte, indem er sich vor Payne Haltung gibt: »Was Sie für das Wohl Ihres Landes gethan, habe ich für das meinige versucht« (III.1/51) bzw. indem er sich rühmt: »ich wollte neuen Septembermorden zuvorkommen« (III.3/53). Die Funktion des Kontrapunkts übernimmt folglich der Dialog über die großen Themen (die Theodizee in III.1, die instrumentelle Rhetorik der Politik in III.3) bzw. eine Person, die noch gemäßigter ist als Danton, nämlich Mercier, der ihn zunächst daran erinnert: »Das Blut der zwei und zwanzig ersäuft dich« (III.1/51), während er die Sprache der Politik, die Danton erneut hervorzuholen gezwungen ist, im Vorhinein anprangert: »Dieße Elenden, ihre Henker und die Guillotine sind Eure lebendig gewordnen Reden« (III.3/53).

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zerstückt die Menschheit um sie zu verjüngen« [II.7/47]): »Ich habe im September die junge Brut der Revolution mit den zerstückten Leibern der Aristocraten geäzt« (III.4/55). Und ausgerechnet ein Skeptiker wie er schließt kurz und bündig: »Jetzt kennt Ihr Danton« (III.4/56). Desgleichen bei dem zweiten Verhör, in dem Danton nicht zögert, die Karte des hungernden Volkes auszuspielen: »Ihr wollt Brod und sie werfen Euch Köpfe hin. Ihr durstet und sie machen euch das Blut von den Stufen der Guillotine lecken.« (III.9/66) Im Ergebnis ruft das Crescendo der instrumentellen politischen Rhetorik und In-Szene-Setzung wie erwartet »[h]eftige Bewegung unter den Zuhörern, Geschrei des Beyfalls« (ebd.) hervor.10 Fassen wir zusammen. Die ästhetische Perspektive des »babylonische[n] Thurm[s]« und seiner »babylonische[n] Verwirrung« – ein Bild, das Büchner schon in einem Brief an die Eltern vom 31. Dezember 1831 (MBA 10.1, S. 10) verwendet –, macht die zielgerichtete, strenge Kausalität des von Robespierre inszeniertem »erhabne[n] Drama[s]« und seiner Lösung durch die »stete Fortbewegung zur Endkatastrophe« (Hegel) zunichte.11 In dieser Perspektive werden die festgeschriebenen Asymmetrien zwischen den Fraktionen durch den Kunstgriff des Rollenwechsels wieder »leicht und kühn in die Luft gesprengt« (II.2/36), womit sich der Blick auf Personen, Handlungen, Werte und Begriffe wandelt. Im Privaten zeigt sich Robespierre »empfindlich«; wesentlicher ist, dass Danton, dem es nunmehr tief widerstrebt, Andersdenkende zu bekämpfen, im öffentlichen Bereich auf dieselbe instrumentelle Rhetorik und denselben durchtriebenen Zynismus zurückgreift wie seine Antagonisten, denn in den Reihen der Gemäßigten wie in denen der radikalen Revolutionäre entsprechen sich die Muster des politischen Kampfes und die Tarnungsmethoden der Politik, da sie »einer einzigen grundlegenden Absurdität« entspringen: »der Natur der Macht« (S. Weil).12

2 Die Bekenntnisse Wie die Handlungen, so scheinen auch die Wertewelten der zwei Fraktionen im Hinblick auf Individuum und Gemeinschaft gleichsam in unüberwindlicher An-

|| 10 Auch Lacroix, der ihn in II.1/30 ermuntert hatte: »Schreie über die Tyrannei der Decemvirn, sprich von Dolchen, rufe Brutus an, dann wirst du die Tribünen erschrecken«, spendet jetzt Beifall: »Du hast gut geschrien, Danton« (III.7/63). 11 Vgl. Gerhard P. Knapp: Georg Büchner: Dantons Tod. Frankfurt a. M. 1987, S. 53f. 12 Siehe Anm. 3.

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dersheit fixiert zu sein. Zu Dogmen erhoben, liefern ihre asymmetrischen Begriffspaare ein ganzes »Arsenal der Phrasen, die man hüben und drüben zur Kriegsführung« benutzen kann, wie Max Frisch 1958 in seiner Dankrede anlässlich des Büchner-Preises feststellte,13 bis sie den Personen schließlich das Recht verleihen, sich gleich Kannibalen zu benehmen, wie einige wiederholt auftauchende Bilder nahelegen.14 Insbesondere manifestieren sich die asymmetrischen Welten, die im Danton die Handlungen bedingen, in Gegensatzpaaren wie Kollektivität/Individuum, Nicht-Erkennen/Erkenntnis, Laster/Tugend, Zukunft/Vergangenheit, Gegenwart, Augenblick und Ruhe, Geschichte/Natur und Dirigismus/Republik, auf die hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann.15 Jedoch neigt das Sinnuniversum von Dantons Tod nicht nur dazu, jede Lesart der Ereignisse in teleologischem oder ideologischem Sinn zu verwerfen, sondern das Drama zielt darauf ab, die jeweiligen Voraussetzungen des einzelnen Rezipienten anzusprechen. Es konfrontiert ihn nicht mit gleichförmigen Entwicklungen, die allein den Kriterien der Kohärenz entsprechen, sondern mit differenzierten Wechselbeziehungen, die gleichzeitig symmetrisch und asymmetrisch sind, sodass sie den ›Gegensatzpaaren‹ widersprechen, die er gerade assoziiert hat. Zum einen veranschaulicht die Handlung, dass es reicht, »bedeutungslose Worte großzuschreiben, und schon werden die Menschen, kaum dass die Umstände ein wenig in die angezeigte Richtung drängen, Ströme von Blut vergießen […]. Es ist nämlich ein Charakteristikum solcher Wörter, dass sie in Gegensatzpaaren auftreten«, wie Simone Weil 1937 aufzeigte.16 Zum anderen führt Büchner jedoch mittels differenzierter Strategien, die die Spannungen nicht in Form neu errungener Symmetrien auflösen, »die wesentlichen Begriffe

|| 13 Ernst Johann (Hrsg.): Büchner-Preis-Reden 1951–1971. Stuttgart 1972, S. 65. 14 Z. B. »Halsweh« (I.5/22), »sterben an der Mahlzeit« (I.6/29), »pikantes Gericht« (III.2/52), »zur Tafel« (IV.4/73), »fürstliche Tafeln« (IV.5/76), »serviren« u. »klassisches Gastmahl« (IV.7/79). Vgl. Alfred Behrmann u. Joachim Wohlleben: Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenanalyse. Stuttgart 1980, S. 188f. 15 Hedonismus und Epikureertum gegenüber Askese und Stoizismus, Griechen gegenüber Römern, sympatheia gegenüber apatheia (vgl. Ingrid Oesterle: »Zuckungen des Lebens«. Zum Antiklassizismus von Georg Büchners Schmerz-, Schrei- und Todesästhetik. In: Poschmann / Malende, S. 61–84, hier S. 62), Freiheit und Chaos gegenüber Mechanik und System, Natur gegenüber Uniformen, oder um es mit den Worten des Enthusiasten Camille zu sagen, der Diderot, Goethe, Heine und Sappho zitiert: »Wir wollen nackte Götter, Bachantinnen, olympische Spiele und melodische Lippen: ach, die gliederlösende, böse Liebe!« (I.1/7). Vgl. dazu Sanna: Die andere Revolution (s. Anm. 1), bes. S. 47ff. 16 Weil: Non ricominciamo la guerra di Troia (s. Anm. 3), S. 57.

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der Intelligenz, die Begriffe von Grenze, Maß und Grad, von Proportion und Beziehung, Bedingung und notwendiger Verbindung und den Zusammenhang zwischen Mitteln und Resultaten« ein, die »wir in jedem Bereich verloren zu haben scheinen«.17 Bei der Rezeption sieht sich der Zuschauer sowohl mit den Folgen der »großgeschriebenen Wörter« konfrontiert, die Unterschiede und Trennungen setzen, als auch mit den gegensätzlichen Kräften, die getragen sind von wesentlichen Symmetrien, vom Austausch sich überschneidender Denkstrukturen, Verhaltensweisen und Befindlichkeiten. Für Augen und Ohren, die fähig sind, zu »sehen« und zu »hören« und folglich die »dünne Kruste« der Differenzen zu durchdringen, sind also nicht die Asymmetrien handlungsleitend, sondern die Analogien zwischen den Personen. Diese Symmetrien enthüllen sich insbesondere in der Kontinuität zwischen Wort, Handeln und Denken; in der Gewissenslüge, die den Gegnern gemeinsam ist; in der Rhetorik und In-Szene-Setzung, die das politische Handeln beherrschen; in der Körperlichkeit des Schmerzes, das sie verbindet; und schließlich im Bewusstsein des Todes, dessen Verleugnung weitere Tode herbeiführt. Auf diesem Weg wird Danton zum »Trauerspiel der Revolution, das nicht nur Könige, sondern auch Revolutionäre erschrecken müßte«, wie Wolfgang Koeppen es 1962 in seiner Dankrede zum Büchner-Preis ausgedrückt hat.18 Wenn die Antisymmetrien den ideologischen Diskurs begründen, dann ist ihre Widerlegung in Dantons Tod integraler Bestandteil einer radikal antiideologischen Sicht, die um die Natur der Macht kreist – eine Sicht, mit der Büchner in seinem literarischen wie wissenschaftlichen Werk selbst dem Perspektivismus Nietzsches sowie der Erkenntnisse der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts vorausgreift.

3 Die Frauenfiguren Auf friedlichere Alternativen verweist hingegen das dynamische Ganze, das die drei Frauenfiguren bilden und das seinerseits ebenso durch symmetrische und asymmetrische Triebkräfte bestimmt ist. Trotz mancher Interpretationsschwierigkeiten im Hinblick auf Marion, Julie und Lucile stimmen die Deutungen in

|| 17 Ebd., S. 58. 18 Johann (Hrsg.): Büchner-Preis-Reden 1951–1971 (s. Anm. 13), S. 117.

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einem Punkt überein: Dantons Tod weist jede utopische Perspektive zurück.19 Dieses Urteil erstreckt sich unweigerlich auch auf die drei Frauen. Doch Julie und Lucile, die die Räume überschreiten, und Marion mit ihrer existentiellen Marginalität sprechen jenes Gegenwort (P. Celan) der Eintracht, das Büchner bewusst dem Machtkampf der Fraktionen entgegensetzt. Obwohl die Verhältnisse zwischen den Frauengestalten und auch ihr Stil unterschiedlich sind – lyrisch-pathetisch der von Lucile, ein mittelhoher der von Julie und ein minderhoher der Marions – sind sie eins mit sich selbst und teilen eine Raum-Zeit-Dimension, die von derjenigen der Männerfiguren abweicht. Nach dem Tod des »jungen Menschen« (I.2/11), dem »einzige[n] Bruch in [ihrem] Wesen« (I.5/19), lebt Marion in einem erfüllten Augenblick außerhalb jeder Zeit – außerhalb der Vergangenheit der Dantonisten wie der Zukunft von St. Just und Robespierre. Auch der Ort, an dem sie lebt, ein Vergnügungsort im Palais Royal, ist in einer vom Schmerz und vom »Mord durch Arbeit« (I.2/11) beherrschten Realität zwangsläufig dezentriert. Julie und Lucile leben ebenfalls in einer Marginalität des Raumes und der Zeit: beide neigen dazu, »aus der Zeit« zu gehen (vgl. MBA 6, S. 104), aber im Gegensatz zu der grisette Marion sind sie dynamische Personen, die den Handlungsraum auf der Bühne von einem Ende zum andern mit einer x-förmigen, die Figur eines Chiasmus beschreibenden Bewegung durchqueren. Julie, asymmetrisch auch zu Lucile, scheint in Dantons Sozialmilieu integriert. Sie begleitet ihn zu Vergnügungen (vgl. I.1), und sie nimmt in der Szene II.5 seine Verteidigungsstrategie vor dem Revolutionstribunal vorweg, indem sie im Hinblick auf seine öffentliche Rolle sein Gewissen beruhigt. Aber gerade Julie wird in der Privatheit von »E i n Z i m m e r« sterben (vgl. IV.6/77f.), allein mit sich selbst und mit ihrem Traum. Dagegen steht Lucile, ähnlich wie Marion, allen sozialen Räumen fern. Als sie in »E i n Z i m m e r« den Überlegungen von Camille zu Kunst und Politik zuhört, versteht sie kein einziges Wort (vgl. II.3/37). Dennoch ist gerade sie diejenige, die im öffentlichen Raum stirbt, auf dem Revolutionsplatz, gleichsam par excellence. Schritt

|| 19 Vgl. Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. Berlin 1960; Gerhard Baumann: Georg Büchner. Die dramatische Ausdruckswelt. Göttingen 1961; Jan Thorn-Prikker: Revolutionär ohne Revolution. Interpretationen der Werke Georg Büchners. Stuttgart 1978; Behrmann u. Wohlleben: Büchner: Dantons Tod (s. Anm. 14); Hans-Joachim Ruckhäberle: Georg Büchners Dantons Tod – Drama ohne Alternative. In: GBJb 1 (1981), S. 169–176; Cornelie Ueding: »Dantons Tod« – Drama der unmenschlichen Geschichte. In: Walter Hinck (Hrsg.): Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Frankfurt a. M. 1981, S. 210–226; William H. Rey: Georg Büchners »Dantons Tod«. Revolutionstragödie und Mysterienspiel. Bern [u. a.] 1982; Knapp: Georg Büchner: Dantons Tod (s. Anm. 11); Hans-Georg Werner: Büchners aufrührerischer Materialismus. Zur geistigen Struktur von »Dantons Tod«. In: Poschmann / Malende, S. 85–99.

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für Schritt nähert sie sich dem Platz, bis sie auf den Stufen der Guillotine festgenommen wird, mit dem politischen Schlachtruf auf den Lippen, der im markantesten Gegensatz zur Revolutionszeit steht: »Es lebe der König!« (IV.9/81.)20 Die dynamische Ganzheit der drei Protagonistinnen, die auf Symmetrien und Asymmetrien fußt, erweist sich auch an einem zentralen Motiv des Dramas. Wie Danton in I.1 (S. 4) zu Julies Füßen sitzt, so sitzt Marion in I.5 (S. 18) zu Füßen von Danton, während sich Lucile auf den Boden setzt (IV.8/81). Die drei Frauen führen das Grundmotiv des Sitzens auf dreierlei Weise demonstrativ vor, als Gegensatz zu Robespierres Dogma »Keinen Vertrag, keinen Waffenstillstand« (I.3/16), das »[a]lle Absurditäten, welche die Geschichte wie ein langes Delirium erscheinen lassen« (S. Weil),21 vereinigt. Julies Selbstmord ist eine radikale Variation des sich »nebeneinander setzen und Ruhe haben« (II.1/31) und Dantons ›Sich-Nieder-Setzen‹ in »F r e i e s F e l d« (II.4/39); Marion steigert das Motiv durch die abweichende Alternative des »bei einander liegen« (I.5/19), und Lucile variiert mit ihrem »ich will mich auf den Boden setzen und schreien« (IV.8/80) nicht nur das »beieinandersetzen und schreien« von Hérault (IV.5/76), sondern wählt für das Sitzen die nackte Erde, also den denkbar größten Abstand von den Thronen, aber auch von den Podien, Tribünen und Rängen der Revolution, den Symbolen der Machtausübung und Machtentfaltung. Die Frauencharaktere entziehen sich mit anderen Worten den von der Geschichte erzeugten Rissen und Brüchen, denen, die durch sie selbst hindurchgehen, und denen der Geschichte überhaupt. In erster Linie verneinen sie den »Riss« zwischen Erkenntnis und Nicht-Erkennen, der die männlichen Protagonisten charakterisiert und die der »2. H e r r« vor Augen führt, der auf der einen Seite begeistert von dem seltsamen »babylonische[n] Thurm« spricht, auf der anderen aber die erstbeste Pfütze in der »dünne[n] Kruste« der Erde fürchtet, auf die er stößt. Doch, wie erwähnt – die Frauen sind marginal, sodass sie gemäß dem Wirklichkeitsprinzip der Macht keine Erfolgsaussicht haben. Ihre Sehnsucht gilt einem Nicht-Ort und einer Nicht-Zeit, mithin Optionen, die ideell querstehen zur kollektiven Katastrophe, zum Wirklichkeitsprinzip der Machtpolitik, das »sich so breit gemacht [hat], da ist nichts leer, Alles voll Gewimmels«

|| 20 »Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode«, könnte man nicht nur mit Shakespeares Polonius (Hamlet, II.2) zu Lucile sagen, deren Wahn eine tiefere Erkenntnis innewohnt, jenseits der »Existenz von Lotophagen« und vor allem von »Alzheimer als Chance«, mit der indessen Arnd Beise die Gestalt in Verbindung bringt (Arnd Beise: Georg Büchner als Visionär des postideologischen Zeitalters. In: www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15216&ausgabe=201102 (31.01.2011). 21 Siehe Anm. 3.

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(III.7/64). Nicht von ungefähr haben die weiblichen Hauptfiguren des Danton keinerlei Beziehung zu den Quellen. Im Unterschied zu den männlichen Protagonisten kommt in ihnen die Fantasie des Autors zu Wort und nimmt friedlichere Alternativen vorweg, die integraler Bestandteil einer radikal antiideologischen Konzeption sind.

4 Das große unbekannte X Im Sitzmotiv der Frauengestalten legt sich der Konflikt; die Spannung zwischen Vertrag/Waffenstillstand und Kampf/Guillotine, zwischen, in den Worten von Lenz, ›Ruhen‹ und ›Ringen‹ (vgl. MBA 5, S. 39) bzw. zwischen Ruhe und Schlachtfeldern (in einem Gedicht des sechzehnjährigen Büchner)22 ist aufgehoben. Doch das innerste Gefüge des dynamischen Systems von Entsprechungen, das den »Strom des Lebens« (Lucile, IV.8/80) erfassen will, die »Schöpfung«, die um die Personen und in ihnen »glühend, brausend und leuchtend, […] sich jeden Augenblick neu gebiert« (Camille, II.3/37), als Gegensatz zu dem von den Robespierristen verkörperten Wirklichkeitsprinzip, lässt sich zusammenfassen im »Suchen nach dem unbekannten, ewig verweigerten x« (II.1/31), auf das Camille anspielt. Dieses fundamentale Motiv, als solches selbst in der historisch-kritischen Marburger Ausgabe (2000−2012) nicht berücksichtigt, bildet den Kern der Botschaft sowie der Poetik und Ästhetik des Werks. Es ist dessen verborgenes Zentrum. In II.1 wird das Thema von Danton eingeführt, während Camille es in derselben Szene weiterentwickelt. In II.2, der Szene des ›Gassen-Theaters‹, begleitet er Danton auf der Promenade, wobei er kein einziges Wort spricht. Doch in II.3 ist es wiederum Camille, der das Thema weiterentwickelt und dabei die wesentlichen ästhetischen Koordinaten für die Rezeption von Dantons Tod an die Hand gibt. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass die einführende Szene gemäß der klassischen dispositio gegliedert ist, indes die drei Szenen in ihrer Abfolge die léxis, die actio und die mneme der rhetorischen Argumentation nochmals vorführen. Somit ist die Rede vom »Suchen nach dem unbekannten, ewig verweigerten x« der einzige Moment, in dem Handlung, Worte und Gedanken von Dantons Fraktion dazu neigen, aus der zirkulären Zeit hinauszutreten, um in die lineare Zeit überzugehen. Ein symmetrisches Telos, allerdings mit geändertem Vorzeichen.

|| 22 Vgl. MBA 1.1, S. 163ff. bzw. P II, S. 15ff.

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Ich fasse die drei Momente kurz zusammen. In der léxis führt Dantons exordium – »Und wenn es gienge – ich will lieber guillotinirt werden, als guillotiniren lassen. Ich hab es satt, wozu sollen wir Menschen miteinander kämpfen? Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben« – das Motiv ein, welches das Herzstück der Argumentation bildet: das tiefe Streben nach Ruhe, das sich gegenüber Robespierres Forderung: »Keinen Vertrag, keinen Waffenstillstand«, asymmetrisch und antisymmetrisch ausnimmt, sowie das Ergänzungsstück dieses Strebens, nämlich die noluntas und die Akzeptanz des Selbstopfers, die im IV. Akt erworben werden, im Gegensatz zum »Blutmessias« (I.6/28), der die anderen opfert. Sodann beginnt die Argumentation, in der Danton am wenigsten Robespierre ähnelt, am wenigsten schreit: »Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen worden, es fehlt uns was, ich habe keinen Namen dafür, wir werden es uns einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?« (II.1/31.) Danton weiß, dass der »Blutkessel« (II.7/47) nicht weiterwirken darf, weiß aber nicht, wie man anders vorgehen kann: »[W]ozu?« (Ebd.) Die Frage negiert von Grund auf den Zweck, das Telos, von Robespierres Inszenierung und weist auf eine Lösung, die den friedlichen Alternativen der Frauencharaktere am nächsten kommt und zugleich über diese hinausgeht. Camilles Argumentation – das expressive Echo von Dantons Frage, im stilus gravis dargebracht, wie es sich für einen Gegenvorschlag zum Telos des »erhabne[n] Drama[s]« gebührt: »Pathetischer gesagt würde es heißen: wie lange soll die Menschheit im ewigen Hunger ihre eignen Glieder fressen? oder, wie lange sollen wir Schiffbrüchige auf einem Wrack in unlöschbarem Durst einander das Blut aus den Adern saugen? oder, wie lange sollen wir Algebraisten im Fleisch beym Suchen nach dem unbekannten, ewig verweigerten x unsere Rechnungen mit zerfezten Gliedern schreiben?« (II.1/31) Hat Danton sich gefragt, »wozu sollen wir Menschen miteinander kämpfen?«, so stellt Camille die Frage nach dem »wie lange«. Die mehrfach wiederholte Frage bringt nicht nur Vergangenheit und Gegenwart des Blutvergießens zusammen, sondern wirft vor allem das Problem auf, wie und wann man »aus der Zeit« gehen (MBA 6, I.3/104) kann. Wenn die ewige Wiederkehr der Katastrophe mit ihrem »Blutkessel« unabwendbar scheint, so äußern die appellierenden Sätze von Camille eben gerade deshalb den Wunsch zur Überführung des schrecklichen circulus vitiosus in eine neue Linearität: die Suche nach einer anderen, tatsächlich asymmetrischen Zeit, mit einem vielleicht neuen inneren Gleichgewicht. In der zweistimmigen conclusio verweisen Danton und Camilles Rede auf das reale Leben jenseits der Bühne (»wir stehen immer auf dem Theater, wenn

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wir auch zulezt im Ernst erstochen werden« [II.1/32]), doch Camille übertrifft wiederum den Meister: »Nicht wahr, ein Pistolenschuß schallt gleich wie ein Donnerschlag. Desto besser für Dich, du solltest mich immer bey dir haben« (ebd.). Doch enden hier die Überlegungen der Dantonisten, und sie ›schweigen still‹, wie etwa Ajax in Vom Erhabenen des Pseudo-Longinos oder das Unsagbare in den Poetiken der Moderne. Denn Danton hat für das unbekannte X »keinen Namen«, während der Autor aus dem Nicht-Namen ein alexipharmacon, Gift und Heilmittel in einem, macht, das die ästhetischen Spannungen seines ›Gassen-Theaters‹ erschüttert, die in einem »Gewirr von Gewölben, Treppchen, Gängen« (II.2/36) begründet liegen. Wie es in Christa Wolfs Büchner-Preis-Rede heißt: »Wenn einer, muß Büchner das Verlangen gekannt haben, das Unmögliche zu leisten: den blinden Fleck dieser Kultur sichtbar werden zu lassen. Er umkreist ihn mit seinen Figuren, die er bis an die Grenzen des Sagbaren treibt«.23 Auch deshalb wird im Laufe der Handlung, die Symmetrie in ihre Antithese verkehrend, das tertium non datur im negativen Reflex entwickelt: Verweigerung und Verfehlung des Humanen bzw. Löcher, Brüche und Risse in der vermeintlichen Ich-Prägung gemäß dem politischen Lager, in der ewigen Wiederkehr des Schmerzes der gemarterten Körper – aber nun mit der Gegenreaktion darauf: dem Impuls zu neuem Handeln und neuem Denken, wie unbekannt dessen Ergebnis auch sein werde. Nunmehr lassen diese asymmetrischen Bilder die Geschichte indessen nicht nur »wie ein langes Delirium erscheinen« (S. Weil),24 sondern sie werfen die Frage nach der »Ursache« und nach dem »wie lange« des Schmerzes auf.25 Zwischen der ewigen Wiederkehr des Schmerzes und dem von den Frauengestalten, insbesondere von Lucile ausgehenden »Licht der Schönheit« (IV.3/ 69) klafft der Riss, zugleich eine produktive Asymmetrie, die auf die Suche nach »dem unbekannten, ewig verweigerten x« verweist, auf eine entscheidend andere Zeit – die sich ankündigt in Prousts mémoire involontaire, Hofmannsthals Augenblick, Joyces Epiphanie-Begriff, Musils anderem Zustand. Diese Asymme-

|| 23 Büchner-Preis-Reden 1972–1983. Stuttgart 1984, S. 147. 24 Siehe Anm. 3. 25 Dantons Incipit, sein »es fehlt uns was, ich habe keinen Namen dafür« (II.1/31), äußert sich in der endlosen Qual der einzelnen Körper, die ohne ein Wozu ist – so vermittelt es das Drama. Die Körper in Dantons Tod werden mit Händen, Armen und Zähnen zerstückt und vor allem zerrissen – das Präfix zer- ist zumeist mit Verben negativen Tuns verbunden. Weiterhin die häufige Privation bei ent-. Zudem eine Wortverbindung, die den durchgehenden zeitlichen Prozess zweitrangig macht: »heut zu Tag«, wo man auch »Alles in Menschenfleisch [arbeitet]« (III.3/53), »langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt« der Guillotine getötet, »so in allen Formalitäten« (III.7/63).

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trie bildet in der Absicht des Autors die »Boa Constriktor« (MBA 10.1, S. 54), die auch diejenigen, die unfähig sind, zu sehen und zu hören, dazu bewegen soll, innezuhalten. Dantons Tod will nicht die Verstehensvoraussetzungen des Rezipienten bestätigen: das Drama zielt auf die Begegnung mit sich selbst im Medium der Kunst. Das ist Büchners Weise, sein Theater ›auf die Gasse‹ zu bringen und, mit unüblichen Mitteln, etwas für die Souveränität des Individuums zu tun – mithin für eine Kollektivität, die das Menschliche autorisiert, befreit von der Verletzung und Minderung durch Machtstrukturen.

Sebastian Kaufmann (Freiburg im Breisgau)

Ästhetik des Leidens? Zur antiidealistischen Kunstkonzeption in Georg Büchners Lenz Neben der Darstellung des psychischen Leidens wird in der umfangreichen Forschungsliteratur zu Georg Büchners Erzählung Lenz1 (1835) immer wieder auch das sog. Kunstgespräch zwischen Lenz und Kaufmann in den Blick genommen, das ungefähr die Mitte des Textes bildet und ihn wie ein Triptychon unterteilt: Nach der Schilderung von Lenz’ Ankunft bei Oberlin im elsässischen Steintal und seinen Stabilisierungsversuchen markiert das Kunstgespräch gleichsam einen geistigen Ruhepunkt, bevor der dritte und abschließende Teil der Erzählung den endgültigen Zusammenbruch sowie den Abtransport des umnachteten Protagonisten nach Straßburg thematisiert.2 Dabei kristallisieren sich vor allem zwei Probleme heraus, die das Kunstgespräch den Interpreten nach wie vor bereitet; zum einen die Frage nach seiner Bedeutung für den Gesamttext – handelt es sich um einen »Fremdkörper«3 im Handlungsgefüge, oder ist es im Gegenteil »eng mit dem übrigen Ablauf der Erzählung verflochten«?4 – und zum anderen die damit verbundene Frage nach seinem Stellenwert hinsichtlich der ästhetischen Überzeugungen Büchners: Tritt Lenz hier als »Medium eigener An-

|| 1 Zur Lektüre der Erzählung als ›Pathographie‹ vgl. z. B. Walter Hinderer: Pathos oder Passion? Die Leiddarstellung in Büchners »Lenz«. In: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. FS Herman Meyer. Hrsg. v. Alexander von Bormann. Tübingen 1976, S. 474–494; Georg Reuchlein: »… als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm«. Zur Geschichtlichkeit von Georg Büchners Modernität: Eine Archäologie der Darstellung seelischen Leidens im »Lenz«. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 28 (1996), S. 59–111; Benedikt Descouvrières: Der Wahnsinn als Kraftfeld. Eine symptomatische Lektüre zu Georg Büchners Erzählung »Lenz«. In: Weimarer Beiträge 52.2 (2006), S. 203–226. 2 Vgl. hierzu bereits Benno von Wiese: Georg Büchner: Lenz. In: Ders.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. 2 Bde. Düsseldorf 1962. Bd. 2, S. 104–126, hier S. 106f., der die Platzierung des Gesprächs zwischen den zwei »verschiedenen Phasen […] in der Mitte der Dichtung« als »kompositorische[n] Kunstgriff« wertet. 3 So u. a. die These von Bo Ullmann: Zur Form in Georg Büchners Lenz. In: Helmut Müssener und Hans Rossipal (Hrsg.): Impulse. FS Gustav Korlén. Stockholm 1975, S. 161–182, hier S. 171. 4 Hans-Gerd Winter: Georg Büchners Lenz – produktive Aneignung eines Dichters und Darstellung eines Verstörten. In: Peter Petersen und ders. (Hrsg.): Büchner-Opern. Georg Büchner in der Musik des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1997, S. 203–223, hier S. 220.

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sichten«5 seines Autors auf, mittels dessen dieser seine persönliche Kunst- und Dichtungsauffassung artikuliert, oder haben wir es lediglich mit Figurenaussagen zu tun, von denen sich »Büchners Standpunkt unterscheidet«?6 Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen, indem ich das Kunstgespräch einer umfassenden, zugleich textzentrierten und kontextorientierten Analyse unterziehe, d. h. die von Büchners Lenz geäußerten Gedanken sowohl auf ihre argumentationslogische Struktur und Schlüssigkeit hin untersuche als auch auf ihre vielfältigen ästhetikgeschichtlichen Implikationen, ihren Zusammenhang mit dem Rest der Erzählung sowie nicht zuletzt mit der expliziten und impliziten Poetik ihres Autors. Gezeigt werden soll – um das Ergebnis thesenhaft vorwegzunehmen –, dass trotz des partiellen Durchscheinens eigener ästhetisch-poetologischer Ansichten Büchners das Kunstgespräch eine spezifische perspektivische Brechung aufweist, die Lenz’ Zwiespalt zwischen Sinnsuche und Sinnverlust, Idealismus und Anti-Idealismus kennzeichnet und somit auch den aufzuweisenden Grundwiderspruch in seiner Rede deutbar macht: Während seine Kunstauffassung als eine Ästhetik des Hässlichen und des Leidens bereits auf jenen »ungeheuern Riß«7 in der Welt hindeutet, der Lenz im weiteren Gang der Erzählung alle Heilserwartung verwehrt, so hält er doch zugleich noch an der metaphysischen Vorstellung einer perfekten Weltordnung fest und weist der Kunst eine religiöse Funktion zu. Zwar erklärt Lenz einerseits »das Geringste« zum genuinen Gegenstand ästhetischer Gestaltung, da »die Kunst das Höchste nicht mehr auszudrücken vermag«;8 andererseits beharrt er aber in selbstwidersprüchlicher Manier darauf, dass ein gelungenes Kunstwerk die christliche Heilsbotschaft zu vermitteln habe.

|| 5 Hauschild 1993, S. 503; begründet wurde diese Ansicht von Hans Mayer: s. das Kapitel »Kunst und Natur« in Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M. 1972 (Erste Auflage 1959), S. 287–306; vgl. außerdem Alexander L. Dymschitz: Die ästhetischen Anschauungen Georg Büchners. In: Weimarer Beiträge 8 (1962), S. 108–123; Theo Buck: »Man muß die Menschheit lieben«. Zum ästhetischen Programm Georg Büchners. In: Text + Kritik: Georg Büchner III. München 1981, S. 15–34. 6 Mark W. Roche: Die Selbstaufhebung des Antiidealismus in Büchners Lenz. In: ZfdPh 107 (1988). Sonderheft: Studien zur deutschen Literatur von der Romantik bis Heine, S. 136–147, hier S. 140; Roche beruft sich hierzu auf die Studie von Albert Meier: Georg Büchners Ästhetik. München o. J. [1983]. 7 MBA 5, S. 46. Büchners Werke werden im Folgenden nach der Marburger Ausgabe im laufenden Text zitiert. Der Sigle MBA folgt dabei die Angabe der Band- und Seitenzahl. 8 Ingrid Oesterle: »Ach die Kunst« – »ach die erbärmliche Wirklichkeit«. Ästhetische Modellierung des Lebens und ihre Dekomposition in Georg Büchners »Lenz«. In: Bernhard Spies (Hrsg.): Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Würzburg 1995, S. 58–67, hier S. 65.

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1 Das ›Kunstgespräch‹, das eigentlich weitgehend ein monologisches Sprechen der Lenz-Figur über Kunst ist,9 beginnt kurz nach der Schilderung von Oberlins und Lenz’ naturphilosophischen bzw. naturmagischen Gesprächen über Somnambulismus, kosmische Harmonien und Entsprechungen zwischen Farben und Menschen. Diese Abfolge weist bereits auf die Problematik der Beziehung von Kunst und Natur/Leben im Kunstgespräch voraus,10 das durch die Ankunft Kaufmanns bei Oberlin ausgelöst wird. Die Begegnung mit Kaufmann ist Lenz zunächst eher »unangenehm«, denn »er hatte sich so ein Plätzchen zurechtgemacht, das bischen Ruhe war ihm so kostbar und jetzt kam ihm Jemand entgegen, der ihn an so vieles erinnerte, mit dem er sprechen, reden mußte, der seine Verhältnisse kannte.« (MBA 5, S. 36f.) Es handelt sich um jenen ›Stürmer und Dränger‹ Christoph Kaufmann, der den historischen Lenz im November 1777 bei sich in Winterthur aufgenommen hatte, um ihn nach einem ersten psychotischen Anfall zu therapeutischen Zwecken zu dem philanthropischen Pfarrer Johann Friedrich Oberlin in die Vogesen zu schicken. Der damals als »Genieapostel« und »Gottesspürhund« bekannte Kaufmann, der weniger durch Schriften als vielmehr durch sein genialisches Auftreten Aufsehen erregte, kann als der indirekte Namensgeber der Sturm-und-Drang-Zeit gelten, insofern er es war, der Maximilian Klinger empfohlen hatte, sein ursprünglich unter dem Titel Der Wirrwarr stehendes Drama von 1776 besser Sturm und Drang zu nennen, was dann alsbald zur Bezeichnung der gesamten Epoche werden sollte. Kaufmanns Besuch findet sich – neben vielen anderen Elementen des Textes – ebenfalls schon in Oberlins Rechenschaftsbericht11 erwähnt, auf den sich Büchner bei der Konzeption seiner Novelle bekanntlich stützte. Die ästhetischen Reflexionen, die Büchner nun seinem Lenz gegenüber Kaufmann in den Mund legt, haben allerdings keine Grundlage in der Oberlin-Quelle, sondern sind frei erfunden,

|| 9 Zum »heuristisch ergiebig[en]« Forschungsdissens, »ob die Kontroverse zwischen Kaufmann und Oberlin einerseits und Lenz andererseits eher Monolog- denn Dialogcharakter habe«, siehe Jürgen Schwann: Georg Büchners implizite Ästhetik. Rekonstruktion und Situierung im ästhetischen Diskurs. Tübingen 1997, S. 95f. 10 Auch der Kommentar der Frankfurter Ausgabe vermerkt in diesem Sinn, dass sich das »Natur-Gespräch […] als Korrelat und erhellender Hintergrund für das anschließende KunstGespräch« erweist (P I, S. 835). 11 Zu Büchners Quelle vgl. MBA 5, S. 220–228.

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wenngleich sich andererseits auch gewisse Parallelen zu programmatischen Äußerungen des historischen Lenz ziehen lassen.12 Zunächst heitert sich Lenz’ Stimmung nach der anfänglichen Trübung durch Kaufmanns Ankunft in dem Moment wieder auf, als man bei Tisch sogleich auf »Literatur« zu sprechen kommt und Lenz sich »auf seinem Gebiete« fühlt,13 wie der Erzähler betont, der sich gleich darauf – das einzige Mal im Text – als ein auf vergangene Begebenheiten Zurückschauender zu erkennen gibt, wenn er die Gegnerschaft zwischen Lenz und Kaufmann hervorhebt: »die idealistische Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach heftig.« (MBA 5, S. 37, Hervorh. v. Vf.) An dieser Stelle beginnen die Interpretationsprobleme bereits. Was ist hier mit der »damals«, d. h. um 1778 einsetzenden »idealistischen Periode« gemeint, als deren »Anhänger« Kaufmann auftritt und als deren Gegner sich Lenz positioniert? Wie auch immer man diese Frage beantwortet, zeigt sich ein durchaus freier Umgang Büchners mit den (ästhetik)geschichtlichen Fakten. Gegen eine Fokussierung auf den philosophischen (Deutschen) Idealismus14 spricht jedenfalls – wenngleich sich Büchner zur Entstehungszeit des Lenz mit den idealistischen Philosophen Descartes und Spinoza beschäftigt hat – der eindeutige Hinweis auf die Literatur als Gesprächsthema. Aber auch dagegen, dass es sich um die Strömung des Sturm und Drang handeln soll,15 spricht schon die Tatsache, dass der historische Jakob || 12 Zum Vergleich von J. M. R. Lenz’ Dramentheorie mit dem Kunstgespräch vgl. Albert Meier: Georg Büchners Ästhetik (s. Anm. 6), S. 104–111. 13 Zu widersprechen ist daher Georg W. Bertram: Georg Büchners Lenz und die graduellen Unterschiede von Literatur und Philosophie. In: Gerhard Gamm, Alfred Nordmann und Eva Schürmann (Hrsg.): Philosophie im Spiegel der Literatur. Hamburg 2007, S. 27–41, hier S. 29, der merkwürdigerweise behauptet: »Im Gegensatz zu vielen anderen Literaturen handelt es sich [bei Büchners Lenz] nicht um einen Text, der in besonderer Weise über das Verhältnis von Literatur und Sprache und das Verhältnis von Sprache und Welt nachdenkt. […] Büchners Text ist keine ausgesprochen reflexive Literatur, sondern eine Literatur, die eine große Literarizität aufweist.« Das genaue Gegenteil ist der Fall: Büchners Lenz ist – aufgrund des zentralen Kunstgesprächs – in hohem Maße (selbst)reflexive Literatur, was Literarizität ja keineswegs ausschließt. 14 So die Lesart von Dieter Arendt: Georg Büchner über Jakob Michael Reinhold Lenz oder: »die idealistische Periode fing damals an«. In: Dedner / Oesterle, S. 309–332. Insbesondere hebt Arendt unter Hinweis auf den seines Erachtens »wichtigste[n] Satz« der Erzählung: »Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.« (MBA 5, S. 31), auf Fichte und Hegel ab. 15 Diese Ansicht vertritt Gerhard Friedrich: Lenzens und Werthers Leiden. Zur Demontage eines ästhetischen Modells. In: GBJb 10 (2000–04), S. 133–171, hier S. 154: »Und wenn es in diesem Gespräch tatsächlich ausschließlich um den Sturm und Drang ginge? Und Büchner Kaufmann, ohne ihm Gewalt anzutun, ganz einfach als Vertreter der Periode auftreten ließe, der er tat-

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Michael Reinhold Lenz ja selbst ein Vertreter des Sturm und Drang war, dessen Ästhetik und Literatur er entscheidend mitgeprägt hat. Im Vorblick auf die Charakterisierung jener »idealistischen Periode«, die im Folgenden die Kontrastfolie für Lenz’ ästhetisches Bekenntnis zu einer ›nicht mehr (nur) schönen Kunst‹ abgibt, zeigt sich vielmehr, dass Büchner die Kaufmann-Figur in anachronistischer Weise zum Repräsentanten eines ästhetischen Idealismus macht, wie dieser vor allem zur Zeit der Weimarer Klassik im Anschluss an frühklassizistische Positionen der Aufklärung, insbesondere Johann Joachim Winckelmanns, vertreten wurde.16 Die konkreten Kunstwerke aus Antike und Renaissance, die Kaufmann im Kunstgespräch beispielhaft anführt, um sich gegen Lenz zu verteidigen: der »Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna« (MBA 5, S. 38), deuten klar auf diesen Klassizismus hin. So kann man die vom Erzähler des Lenz genannte »idealistische Periode« durchaus mit jener »Kunstperiode« assoziieren, deren »Ende« Heinrich Heine um 1830 ›prophezeit‹ hat und die nach seiner Datierung in der Mitte des 18. Jahrhunderts, nämlich »bey der Wiege Goethes anfing und bey seinem Sarge aufhören« sollte,17 um einer neuen, sozial und politisch engagierten Kunst Platz zu machen.18 Obwohl weder Büchner noch sein Lenz eine kurzerhand mit Heines Konzept zu verrechnende Kunstauffassung vertreten, wird von hier aus im Hinblick auf Büchners eigenes literarisches Schaffen doch schon andeutungsweise sichtbar, dass und wie sich in der Frontstellung gegen den ästhetischen Idealismus zumindest gewisse Übereinstimmungen zwischen Heine, Büchner und dem von ihm literarisierten Lenz abzeichnen. Denn keineswegs verhält es sich so, dass Letzterer pauschal »das Ende der Kunst verkündet«;19 vielmehr

|| sächlich ihren Namen gegeben hat? Und wenn Büchners ›idealistische Periode‹ mit der Verbreitung des Namens ›Sturm und Drang‹ […] begonnen hätte?« 16 Vgl. hierzu auch Henri Poschmann, der im Kommentar der Frankfurter Ausgabe anmerkt, Büchner habe den Beginn der Klassik mithin um ungefähr ein Jahrzehnt vorverlegt, um »die vorgebliche Rekonstruktion des folgenden Kunstgesprächs in dem sonst authentischen Rahmen der Erzählung unterzubringen.« (P I, S. 834.) Siehe ebenfalls den Kommentar zur Münchner Ausgabe (MA, S. 543). 17 Heinrich Heine: Französische Maler. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe. 16 Bde. Bd. 12.1. Bearb. von Jean-René Derré und Christiane Giesen. Hamburg 1980, S. 9–62, hier S. 47. 18 Zu Heines – in sich durchaus widersprüchlichem – Theorem vom »Ende der Kunstperiode« vor dem Hintergrund seines Geschichtsdenkens vgl. Jochen Schmidt: Heines Geschichtskonstruktion, das »Ende der Kunstperiode« und das Ende der Kunst. In: ZfdPh 127 (2008), S. 499– 515. 19 Diese These formuliert Mark W. Roche: Die Selbstaufhebung des Antiidealismus in Büchners Lenz (s. Anm. 6), S. 140, indem er nicht das gesamte Kunstgespräch, sondern nur einen Aus-

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fordert er – zunächst wenigstens – ebenfalls eine andere, neue Kunst, die in bestimmter Weise dem ›wirklichen Leben‹ Rechnung trägt. Bevor dies jedoch präziser gefasst werden soll, ist im Rahmen des Kunstgesprächs die idealistische Gegenposition der »Kunstperiode« noch näher zu charakterisieren.

2 Im ersten Argumentationsschritt exponiert Lenz eine Differenz zwischen solchen Dichtern, welche die Realität wiedergeben wollen, und solchen, die sie auf ein Ideal hin zu übersteigen suchen: »Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seyen sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten.« (MBA 5, S. 37.) An dieser Stelle ist noch nicht allgemein von Kunst, sondern vorerst nur von Literatur die Rede. Lenz unterscheidet hier pauschal zwei Dichtungsarten, bezeichnenderweise jedoch ohne sich zu der einen oder anderen zu bekennen; sein dichterisches Selbstverständnis kommt darin also noch nicht zum Ausdruck. Wer sind dabei die Dichter, von denen gesagt wird, dass sie die Wirklichkeit wiedergeben, von der sie jedoch, wie Lenz meint, keine Ahnung haben? Offensichtlich ist hier an das traditionelle poetologische Konzept der Mimesis gedacht, das auf die Aristotelische Poetik zurückgeht und im 18. Jahrhundert unter dem Schlagwort ›Nachahmung der Natur‹ (imitatio naturae) kursierte. Dieses Poesie-Verständnis, wie es in Deutschland etwa von Gottsched, aber auch noch vom jungen Lessing (»Nachahmung der schönen Natur«) proklamiert wurde,20 weist Büchners Lenz zurück, weil es auf einer Verkennung der nachzuahmenden Natur-Wirklichkeit, nämlich im Sinne einer rational verfassten, gefälligen Ordnung der Dinge beruhe; zugleich aber gibt er ihm – als dem geringeren Übel – immer noch den Vorzug gegenüber einem Verständnis von Poesie, wonach diese die Natur zu übertreffen, zu »verklären« habe. Wie ist Letzteres zu verstehen? Wie schon gesagt, ist damit weniger ein zeitgenössisches Feindbild der Stürmer und Dränger benannt, die sich vor allem gegen die Regelpoetik der älteren französischen Literatur sowie gegen Gottscheds Dichtungstheorie richteten, als vielmehr die zur Handlungszeit der Erzählung noch in der Zukunft liegende Ästhetik der Weimarer Klassik mitsamt

|| schnitt (Lenz’ Schilderung der zwei Mädchen auf dem Stein, vgl. unten) betrachtet, dessen Aussagen er einseitig verabsolutiert. 20 Hierzu vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bde. Heidelberg 32004. Bd. 1, S. 10–95.

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ihren Filiationen. Hierbei ist allerdings nicht in erster Linie speziell an Schillers Konzept der Schaubühne als moralischer Anstalt zu denken, wie Hans Mayer meint,21 sondern eher an den ›klassischen‹ Goethe, der nach seiner Italien-Reise in einer Reihe von kunsttheoretischen Aufsätzen eine von Winckelmann beeinflusste idealistische Ästhetik entfaltete, die anstelle der traditionellen NaturNachahmung eine spezifische Überbietung der Natur durch die Kunst forderte, und zwar zunächst auf dem Gebiet der bildenden Kunst, die dann aber – gemäß der Horazischen Formel ut pictura poesis – das Paradigma auch für die Dichtung abgeben sollte. Entsprechend hatte der von Goethe verehrte Winckelmann bereits in seinen 1755 erschienenen Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst die Mustergültigkeit vor allem der griechischen Plastiken, mittels einer (neu)platonischen Ästhetik begründet, der zufolge diese Kunstwerke nicht als Nachahmungen der Natur zu verstehen seien, sondern als Gestaltungen einer idealischen Schönheit, die alles real Gegebene übersteigt. Zwar seien auch die Griechen von der »schönen Natur« ausgegangen, die sich nach Winckelmann vornehmlich im nackten menschlichen Körper zeigt, zu dessen Betrachtung die griechischen Künstler aufgrund klimatischer und kultureller Bedingungen besondere Gelegenheit gehabt hätten. Doch seien sie von da aus gerade zum »Urbild« einer »geistigen Natur« gelangt, wie Winckelmann im Anschluss an Selbstaussagen des von ihm zum maßgeblichen Renaissance-Künstler erhobenen Raffael ausführt:22 Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur veranlasseten die Griechischen Künstler noch weiter zu gehen: sie fiengen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten […] zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben solten; ihr Urbild war eine blos im Verstande entworfene geistige Natur.23

Während seiner italienischen Reise rezipierte Goethe Winckelmanns Schriften intensiv und schloss sich dessen idealistischer Ästhetik an. Systematisch ausgearbeitet – so weit man davon bei Goethe reden kann – wird diese neue klassi-

|| 21 Vgl. Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit (s. Anm. 5), S. 289: »Ihr [Büchners Ästhetik] eigentlicher Gegner aber und Gegenspieler ist Schiller.« Siehe auch ders.: Georg Büchners ästhetische Anschauungen. In: Ebd., S. 403–442. 22 Vgl. die von Winckelmann wörtlich zitierte Bemerkung Raffaels im Brief an den Grafen Baldassare Castiglione (Rom 1515): »Da die Schönheiten unter dem Frauenzimmer so selten sind, so bediene ich mich einer gewissen Idee in meiner Einbildung.« Zitiert nach: Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. In: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hrsg. v. Helmut Pfotenhauer u. a. Frankfurt a. M. 1995, S. 13–50, hier S. 20. 23 Ebd.

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zistische Ästhetik jedoch erst in den programmatischen Abhandlungen, die nach seiner Rückkehr aus Italien entstanden. Zu nennen sind hier vor allem der Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1789), die Einleitung in die Propyläen (1798), der Dialog Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke (1798), die Kunst-Novelle Der Sammler und die Seinigen (1799), die Rezension zu Diderots Versuch über die Malerei (1799) sowie die Winckelmann-Eloge von 1805. Goethe postuliert in diesen Texten immer wieder, dass der Künstler die Idee in der Erscheinung, das Übersinnliche im Sinnlichen zu gestalten habe, wie besonders sein Stil-Begriff verdeutlicht, wonach »der Styl auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis [beruht], auf dem Wesen der Dinge, in so fern uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.«24 Damit liegt aber gerade keine »einfache Nachahmung der Natur« vor, sondern das, was Büchners fiktiver Lenz ›Verklärung‹ nennt. Nicht von ungefähr hebt Goethe wiederholt die Differenz und Konkurrenz zwischen Kunst und Natur hervor – so etwa, wenn er in der Einleitung in die Propyläen davon spricht, »daß ein Künstler […] wetteifernd mit der Natur, etwas geistisch-organisches hervorzubringen, und seinem Kunstwerk einen solchen Gehalt, eine solche Form zu geben [habe], wodurch es natürlich zugleich und übernatürlich erscheint.«25 Ebenfalls in prinzipieller Übereinstimmung mit Winckelmann bestimmt Goethe die »Form«, die der Künstler seinem Werk geben muss, damit dieses zugleich natürlich und übernatürlich erscheint, d. h. das Wesen der Dinge sinnlich zur Darstellung bringt. Es ist die schöne Form, in der »das höchste Prinzip und der höchste Zweck der Kunst«26 bestehe. Damit erweist sich die Schönheit

|| 24 Johann Wolfgang von Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Bd. 18. Hrsg. v. Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998, S. 225–229, hier S. 227. Hierzu bemerkt Ernst Osterkamp: Goethes Kunsterlebnis in Italien und das klassizistische Kunstprogramm. In: Konrad Scheurmann und Ursula Bongaerts-Schomer (Hrsg.): »… endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!« Goethe in Rom. 2 Bde. Mainz 1997. Bd. 1, S. 140–147, hier, S. 145: »In diesem Aufsatz [Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl], der die Summe seiner ästhetischen Erfahrungen zieht, unterscheidet Goethe von der einfachen Wiedergabe der Wirklichkeit den subjektiven Formwillen des Künstlers (seine Manier) und schließlich den Stil als den ›höchsten Grad‹ der Kunst; die Höhe des Stils sieht Goethe dort erreicht, wo der Künstler auf der Basis eines langen Naturstudiums – ›auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis‹ – dem wahren ›Wesen der Dinge‹ Ausdruck verleiht und so zur Objektivität der Form findet. Mit der Einführung des Stilbegriffs als kunsttheoretischer Leitkategorie hatte der nachitalienische Goethe den äußersten Gegenpol zum Subjektivismus seiner frühen Genieperiode erreicht«. 25 Johann Wolfgang von Goethe: Einleitung in die ›Propyläen‹. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 18 (s. Anm. 24), S. 457–475, hier S. 461f. 26 Ders.: Der Sammler und die Seinigen. In: Ebd., S. 676–738, hier S. 701.

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als das vermittelnde Moment zwischen Natur und Kunst. So notiert Goethe in den Maximen und Reflexionen über das Naturschöne: »Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der größten Freyheit, nach seinen eigensten Bedingungen, bringt das Objectivschöne hervor«;27 ja, er betont sogar: »Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Natur-Gesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben.«28 Der Künstler wiederum habe dieses Schöne, das in der Natur nur verstreut und vorübergehend vorkommt, in konzentrierte, dauerhafte Gestalt zu bringen und damit das allgemeine Gesetz, die platonische Idee quasi in zweiter Potenz anschaulich werden zu lassen. Aus diesem Grund bezeichnet Goethe die idealisch schöne Kunst auch als die »würdigste[ ] Auslegerin«29 der Natur, die deren wahre Intention allererst sichtbar macht. Hierzu lässt Büchner seinen Lenz eine dezidierte Gegenposition beziehen, indem dieser bestreitet, dass die Natur ihre Gesetze nur im Schönen offenbare und daher zumeist hinter ihrer eigentlichen Absicht zurückbleibe, über die uns erst die Kunst als Natur-›Hermeneutin‹ belehre. Im Gegenteil behauptet Lenz: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie seyn soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll seyn, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, das Was geschaffen sey, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sey das einzige Kriterium in Kunstsachen. (MBA 5, S. 37)

Die kindersprachlich-naiv anmutende Formel vom »liebe[n] Gott« darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass zu der hier evozierten Vorstellung einer perfekten Verfassung der Welt (»wie sie sein soll«), die Anklänge an Leibniz’ »beste aller möglichen Welten« weckt,30 ebenfalls das Widrige und Hässliche gehört. Und so könne diese Welt denn auch nicht durch eine ausschließliche Gestaltung des Schönen künstlerisch übertroffen werden; zum obersten ästhetischen Prinzip avanciert dagegen das »Leben«, das vollkommen »gut« sei – selbst dort, wo es hässlich ist. An die Stelle des ästhetischen Idealismus tritt

|| 27 Ders.: Schönheit und Gesetz. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Bd. 13. Hrsg. v. Harald Fricke. Frankfurt a. M. 1993, S. 269f., hier S. 269. 28 Ders.: Aphorismen. In: Ebd., S. 9–107, hier S. 22. 29 Ebd., S. 24. 30 Vgl. auch Albert Meier: Georg Büchners Ästhetik (s. Anm. 6), S. 97; Klaus F. Gille: Zwischen Hundsstall und Holzpuppen. Zum Kunstgespräch in Büchners Lenz. In: Weimarer Beiträge 54.1 (2008), S. 88–102, hier S. 92.

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dergestalt ein radikaler Realismus,31 dessen einziges Kriterium in der ›Daseinsmöglichkeit‹ liegt. Das heißt allerdings nicht, dass hier gegen die Goethesche ›Überbietung‹ der Natur die Rückkehr zu deren ›einfacher Nachahmung‹ gefordert würde; die postulierte Tätigkeit des Künstlers wird stattdessen vielmehr, gemäß der auf Shaftesbury zurückgehenden Auffassung vom künstlerischen Genie als einem alter deus oder second maker, als ein Nachschaffen Gottes gekennzeichnet.32 Entsprechend lautete denn auch schon das – vom historischen Lenz mitgetragene – produktionsästhetische Grundpostulat des Sturm und Drang, der Künstler habe, statt die geschaffene Natur (natura naturata) bloß nachzuahmen, selbst zu schaffen wie die schöpferische Natur (natura naturans). Dass hinter den bisherigen Aussagen der Lenzfigur zugleich eigene ästhetisch-poetologische Ansichten Büchners stehen, zeigt der bekannte Brief an seine Eltern vom 28. Juli 1835 aus Straßburg, in dem er den möglichen Vorwurf des Publikums, sein Drama Danton’s Tod verletze die Moral, antizipiert und entkräftet. Bis in einzelne Formulierungen hinein ergeben sich frappante Übereinstimmungen mit der zuletzt zitierten Lenz-Passage, nur dass Büchner hier nicht auf die ästhetischen Kategorien des Schönen und Hässlichen, sondern auf die (verwandten) ethischen Kategorien des Guten und Bösen abhebt und statt allgemein vom Wirklichkeitsbezug konkret vom Geschichtsbezug der (Dicht) Kunst spricht. So betont er zunächst, der dramatische Dichter habe wie der Historiker die Geschichte zu schildern, stehe »aber ü b e r Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft« (MBA 10.1, S. 66, Kursiv. v. Vf.), um schließlich seinen potentiellen Kritikern entgegenzuhalten:

|| 31 Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 2 (s. Anm. 20), S. 48f., der den von Büchners Lenz vertretenen Realismus dezidiert absetzt von jenem poetischen Realismus, der »von Stifter über Gottfried Keller bis zu Fontane« reicht: Die »radikale Wendung gegen solche Verklärungstendenzen ist demgegenüber als ein gerade nicht ›poetischer‹, d. h. nicht idealisierender oder harmonisierender Realismus zu werten, sondern als ein Fundamentalrealismus.« 32 Für Konrad Kirsch: Vom Autor zum Autosalvator: Georg Büchners Lenz. Saarbrücken 2001, S. 25, liegt hiermit eine »übersteigerte Mimesis« vor: »Kunst soll das Leben nicht nur nachahmen, sondern selbst lebendig sein.« Eine ähnliche – selbst »übersteigert« anmutende – Lesart von Lenz’ ästhetischen Forderungen vertritt auch Gerhard Friedrich: Lenzens und Werthers Leiden (s. Anm. 15), S. 157, der dies als radikalisierende Fortschreibung des (anti-)ästhetischen Lebenspostulats des Sturm und Drang, insbesondere des jungen Goethe begreift: »Büchners Lenz […] vertritt die, beim Worte genommen, letztlich antiästhetische Position des jungen Goethe […] mit radikaler Konsequenz«.

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Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. (MBA 10.1, S. 66)

Was im Kontext des Briefes als ironisch gefärbte Selbstaussage erscheint,33 bleibt im Kontext der Novelle nicht ohne Widerspruch stehen, wodurch wiederum Differenzen zwischen Autor und Figur markiert werden. Die auf Gedankenfiguren der Theodizee zurückgreifende Rechtfertigung der Schöpfung, auf die Lenz’ naturphilosophische Spekulation über die »unaussprechliche Harmonie« »in Allem« verweist, wird durch seine weltschmerzliche Verzweiflung am Leidcharakter allen Lebens im weiteren Handlungsverlauf gerade in Frage gestellt. Doch zur Begründung seiner ästhetischen Reflexionen hält Büchners Lenz zunächst noch an jenem Gedanken vom harmonischen Weltzusammenhang fest, wie ihn einst auch der junge Goethe u. a. im Rückgriff auf hermetische, mystische und neuplatonische Vorstellungen entfaltet und zur Grundlage seiner Kunst- und Dichtungsauffassung gemacht hatte. So heißt es etwa in Goethes Falkonet-Aufsatz von 1776 über den – Gott nachschaffenden – Künstler: überall sieht er die heiligen Schwingungen und leisen Töne, womit die Natur alle Gegenstände verbindet. […] Die Welt liegt vor ihm, möcht ich sagen, wie vor ihrem Schöpfer, der in dem Augenblick, da er sich des Geschaffnen freut, auch alle die Harmonien genießt, durch die er sie hervorbrachte und in denen sie besteht.34

Diesen Gedanken der zumal das Schöne und Hässliche, Gute und Böse umschließenden Weltharmonie fasst das 1783 im Tiefurter Journal abgedruckte sog. Tobler-Fragment zusammen. Darin heißt es über die sämtliche Gegensätze in sich vereinende Natur: »Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen und alles will sich verschlingen. Sie hat alles isolieret um alles zusammen zu ziehen. […] Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schröcklich«. Dabei sei diese Natur

|| 33 Vgl. hierzu Robert C. Holub: The Paradoxes of Realism: An Examination of the ›Kunstgespräch‹ in Büchner’s Lenz. In: DVjs 59 (1985), S. 102–124, hier S. 107, der in Bezug auf Büchners Gottesbegriff festhält, »that almost the only certainty with respect to this disputed issue is that Büchner was at best uncertain about God’s existence and the perfection of His creation. […] In the letter to his parents, I would maintain that He is not much more [than] an ironic rejoinder to hypothetical critics.« 34 Johann Wolfgang von Goethe: Nach Falkonet und über Falkonet. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 18 (s. Anm. 24), S. 175–180, hier S. 176f.; zu den Bezügen zwischen Büchners Lenz und Goethes Falkonet-Aufsatz vgl. auch Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, S. 71–76.

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gerade in ihrer Widersprüchlichkeit vollkommen ›gut‹, weil in letzter Instanz von »Liebe« bestimmt: »Ihre Krone ist die Liebe. […] Sie ist gütig.«35 Vor dem Hintergrund dieser naturphilosophisch-kunsttheoretischen Übereinstimmung wird nun auch deutlich, weshalb Büchner seinen Lenz, trotz dessen Gegenentwurf zu Goethes klassischer Ideal-Ästhetik des Schönen, sagen lassen kann, dass das von ihm geforderte »Leben […] in Shakespeare […] und in den Volksliedern […] ganz, in Göthe manchmal« begegne (MBA 5, S. 37). Auch wenn die positive Wertung Shakespeares und der Volkslieder insofern ›historisch stimmig‹ ist, als diese für den Sturm und Drang eine wichtige Vorbildfunktion erfüllten, bezieht sich die Nennung Goethes an dieser Stelle nicht so sehr auf die historische Tatsache, dass Lenz in mehreren Schriften, so etwa in dem Straßburger Vortrag Über Götz von Berlichingen von 1774, für Goethe Partei ergriff. Vielmehr deutet die einschränkende Formulierung »in Göthe manchmal« darauf hin, dass erneut eine anachronistische Blickweise vorherrscht: Während dem jungen Goethe der Sturm-und-Drang-Periode zugesprochen wird, dem hier verkündeten ästhetischen Kriterium des Lebens, der Daseinsmöglichkeit Genüge zu leisten, erfährt der spätere Goethe ab der Zeit der Weimarer Klassik eine entschiedene Ablehnung; das »manchmal« meint also die Zeit vor der Italienreise (die freilich, vom Standpunkt der erzählten Gegenwart aus gesehen, noch in der Zukunft liegt).36

|| 35 Georg Christoph Tobler / Johann Wolfgang von Goethe: Die Natur. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Bd. 25. Hrsg. v. Wolf von Engelhardt und Manfred Wenzel. Frankfurt a. M. 1989, S. 11–13, hier S. 13; Spuren des Leibnizschen TheodizeeDenkens finden sich beim jungen Goethe übrigens auch in der Rede Zum Shakespears Tag, wo auf »edle Philosophen« hingewiesen wird, die die ontologische Zusammengehörigkeit des Guten und des Bösen erwiesen haben (vgl. ders.: Zum Shakespears Tag. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 18 [s. Anm. 24], S. 9–12, hier S. 12). 36 Im schon zitierten Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835 beruft sich Büchner selbst in ganz ähnlichen Worten wie in der Erzählung Lenz auf Shakespeare und Goethe, die er dort allerdings expressis verbis gegen Schiller ausspielt: »Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller.« (MBA 10.1, S. 67.) Streng genommen müsste Büchner aber – in derselben Weise wie sein Lenz zwischen dem frühen und dem reifen Goethe unterscheiden müsste – zwischen dem jungen, dem Sturm und Drang nahe stehenden Schiller, mit dem es durchaus Übereinstimmungen gibt, und dem späteren ›Klassiker‹ Schiller differenzieren. Entsprechend verweist bereits Hans Mayer: Georg Büchners ästhetische Anschauungen (s. Anm. 21), S. 422, auf die enge Berührung »mit einigen wichtigen Grundprinzipien des jungen Schiller«; zu den »ideologisch-ästhetischen« Gemeinsamkeiten zwischen Büchner und seinem vermeintlichen Erzfeind Schiller vgl. auch Walter Hinderer: Die Philosophie der Ärzte und die Rhetorik der Dichter. Zu Schillers und Büchners ideologisch-ästhetischen Positionen. In: ZfdPh 109 (1990), S. 502–520.

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3 Ausgehend von dem skizzierten Gedanken einer das Schöne und das Hässliche gleichermaßen umfassenden Weltharmonie, der zu Lenz’ »einzigem« ästhetischen Kriterium des Daseins, des Lebens führt, werden im Folgenden anthropologische Konsequenzen gezogen. So verwirft Lenz nicht nur allgemein den ontologischen Idealismus, der allein im Schönen das Wesen der Dinge erblickt, sondern insbesondere auch das idealistische Menschenbild der klassizistischen Ästhetik, das er nicht zuletzt für moralisch verwerflich hält: Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen. Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. (MBA 5, S. 37)

Mit diesen Wendungen lässt Büchner, wie schon öfter bemerkt wurde, seinen Lenz erneut den jungen Goethe gegen den späteren ausspielen:37 Hatte Goethe in seinem bereits erwähnten Falkonet-Aufsatz von 1776 die für den »große[n] Künstler« erfahrbare Harmonie der Natur noch genauso in einem »Stall« wie in der »Antike« gesehen,38 so bestimmt er hingegen in seiner Winckelmann-Gedenkschrift von 1805 mit Blick auf antike Statuen den idealisch schönen Menschen als den höchsten Gegenstand der (bildenden) Kunst – was die Folie für Lenz’ Gegenargumente abgibt. Goethe schreibt: das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur, ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben, und selbst ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im Vollkommnen zu verweilen und dem hervorgebrachten Schönen eine Dauer zu geben. […] Dagegen tritt nun die Kunst ein, […] Ist es [das Kunstwerk] einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, […] so nimmt es alles herrliche, verehrungs- und liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst39.

Weit davon entfernt, diese »idealistischen Gestalten« als beseelt zu empfinden, fühlt sich Büchners Lenz angesichts eines »Apoll[s] von Belvedere« oder einer »Raphaelische[n] Madonna«, so heißt es im weiteren Gesprächsverlauf, »sehr todt« (MBA 5, S. 38). Was für Goethe und andere Klassizisten Beispiele höchster || 37 Auf die »Allianz« zwischen dem jungen Goethe und Mercier und damit auch auf dessen Nähe zu Lenz’ antiidealistischer Kunstkonzeption verweist Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch (s. Anm. 34), S. 69, bes. S. 74–76. 38 Johann Wolfgang Goethe: Nach Falkonet und über Falkonet (s. Anm. 34), S. 176. 39 Ders.: Winkelmann und sein Jahrhundert. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Bd. 19. Hrsg. v. Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998, S. 10–244, hier S. 183f.

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Kunst sind, nimmt Lenz als bloße »Holzpuppen« wahr – im ›Kunstdialog‹ von Danton’s Tod ist analog hierzu von »hölzernen Copien« die Rede (MBA 3.2, S. 36) –,40 und zwar gerade weil ihnen das Leben, die Möglichkeit des Daseins fehle, die Lenz zuvor von aller Kunst forderte. Anstelle von Goethes ästhetischem Humanismus postuliert er umgekehrt eine humane Ästhetik, wie nunmehr die bisher allgemein als ›realistische‹ Ästhetik des ›Lebens‹ umrissene Kunstkonzeption konkretisiert wird. Die von Goethe proklamierte Erhebung des Menschen über sich selbst durch die (bildende) Kunst erscheint in dieser Perspektive als »schmählichste Verachtung der menschlichen Natur«, weil der Mensch, so wie er tatsächlich ›leibt und lebt‹, für sie gar kein darstellungswürdiger Gegenstand ist. Das den real existierenden Menschen übertreffende idealisierte Gegenbild seiner stuft ihn, so die Implikation der Aussage, zu einer minderwertigen Verfehlung herab, vor der man die Nase rümpfen kann. So gesehen bildet dieser Idealismus ein ästhetisches Analogon des »Aristocratismus«, den Büchner in einem Brief an seine Eltern vom Februar 1834 als »die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen« auf sozialem Gebiet bezeichnete (MBA 10.1, S. 33). Abermals wendet Lenz im Folgenden das zuvor über die bildende Kunst Gesagte auf die Literatur an. In diesem Zusammenhang verweist er sogar ausdrücklich auf eigene dichterische Werke seines historischen Vorbilds, deren implizite Poetik er damit in Beziehung zu den hier verkündeten ästhetischen Überlegungen setzt, die dadurch zugleich auch fortgeführt und weiterentwickelt werden. Die künstlerische Aufgabe einer lebendigen Darstellung des wirklich-möglichen Menschen stelle sich insbesondere der (dramatischen) Poesie – eine These, mit der sich Büchners Lenz nicht zuletzt auch gegen ästhetische Positionen von Goethes Klassiker-Kollegen Schiller richtet, wie dieser sie in seinen Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst geäußert hat. Verwirft Schiller hier alles »Gemein[e ...], was nicht zu dem Geiste spricht«, bzw. lässt er es als ästhetischen Gegenstand nur insofern zu, als der

|| 40 Vgl. außerdem die analoge – explizit gegen Schiller gemünzte – Aussage aus dem Rechtfertigungsbrief an die Eltern vom 28. Juli 1835: »Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben« (MBA 10.1, S. 67). – Siehe hierzu Rudolf Drux: »Holzpuppen«. Bemerkungen zu einer poetologischen ›Kampfmetapher‹ bei Büchner und ihrer antiidealistischen Stoßrichtung. In: GBJb 9 (1995–99), S. 237–253; zur ästhetischen Holzpuppen- bzw. Marionetten-Metapher als Gemeinsamkeit zwischen Kleist und Büchner vgl. Peter-André Alt: Der Bruch im Kontinuum der Geschichte. Marionettenmetaphorik und Schönheitsbegriff bei Kleist und Büchner. In: Wirkendes Wort 37.1 (1987), S. 2–24.

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Künstler »es an etwas Geistiges anknüpft«,41 so plädiert Lenz ganz im Gegenteil für ein bedingungsloses Interesse am »geringsten« Menschen als solchem: Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel; er [Lenz selbst] hätte dergleichen versucht im ›Hofmeister‹ und den ›Soldaten‹. Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß. (MBA 5, S. 37)

Diese poetologische Anwendung des allgemeinen ästhetischen Programms analogisiert die zuvor evozierten ästhetischen Kategorien des Schönen und Hässlichen mit den sozialen Kategorien des Hohen und Geringen: Lenz verabschiedet hiermit gewissermaßen die Ständeklausel, an welcher Schiller in der zitierten Schrift hingegen ausdrücklich festhält.42 Denn die – an die Tradition des sermo humilis43 anknüpfende – Hinwendung zum »Leben des Geringsten«, wie Lenz sie hier verlangt, zielt nicht etwa auf das herkömmlich den niederen Ständen zugewiesene Komische ab, sondern gerade auch auf das Tragische, auf die schmerzlichen »Zuckungen« des Leidens.44 Nicht von ungefähr lässt Büchner

|| 41 Friedrich Schiller: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8. Hrsg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M. 1992, S. 452–459, hier S. 452. 42 So führt Schiller – gemäß der überkommenen Regel, nach der das Komische Personen niederen Standes zugewiesen wird – aus: »Die Betrunkenheit eines Menschen von Stande würde, wo sie auch vorkäme, Mißfallen erregen; aber ein betrunkener Postillion, Matrose und Karrenschieber macht uns lachen. Scherze, die uns an einem Menschen von Erziehung unerträglich sein würden, belustigen uns im Mund des Pöbels.« (Ebd., S. 454.) 43 Zum rhetorischen Paradigma des sermo humilis vgl. die Standard-Abhandlung von Erich Auerbach: Sermo humilis. In: Ders.: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern 1958, S. 25–53; Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch (s. Anm. 34), S. 110f., Anm. 34, deutet ebenfalls auf diese Tradition hin, deren Bedeutung für Büchner Paul Requadt: Zu Büchners Kunstanschauung: Das »Niederländische« und das »Groteske«, Jean Paul und Victor Hugo. In: Ders.: Bildlichkeit der Dichtung. Aufsätze zur deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert. München 1974, S. 106–138, hier S. 123f., erstmals betont hat, und hält überzeugend fest: »Dabei geht es nicht darum, Büchner unmittelbar mit der Tradition der augustinischen Stillehre und ihrer Umwertung des biblischen sermo humilis in Beziehung zu setzen. Wohl aber zeigt sich bei Büchner eine Konstellation von moralischen, religiösen, sozialen, stilistischen und ästhetischen Momenten, die auch in diesem Falle zu einer neuen Auffassung des niederen Stils führt […].« 44 Eine umfassende Analyse zur Metapher der »Zuckung« im Kontext der antiklassizistischen Schmerz- und Leid-Ästhetik Büchners unternimmt Ingrid Oesterle: »Zuckungen des Lebens«.

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Lenz an dieser Stelle auf dessen Dramen Der Hofmeister und Die Soldaten hinweisen, welche die dramatischen Gattungen ganz bewusst vermischen, indem sie als ›Tragikomödien‹ konzipiert sind. Für die Tragikfähigkeit, so das zugrunde liegende Argument, bedarf es keiner besonderen Fallhöhe, weil die Menschen sich in emotionaler Hinsicht nicht prinzipiell voneinander unterscheiden, wie schon die metaphorische Rede von der »Gefühlsader« signalisiert, die wie der später genannte »Puls«, der »schwillt und pocht« (MBA 5, S. 38), auf den – allen Menschen gemeinsamen – Bereich des Physiologischen hindeutet. Der einzige Unterschied bestehe darin, dass bei den geringen Menschen die schützende »Hülle [...] weniger dicht« ist, unter der die »Zuckungen« ihrer »Gefühlsader« mithin deutlicher sichtbar sind. Doch welche Voraussetzungen muss der Künstler erfüllen, um sie zu erkennen? »Man muß nur Aug und Ohren dafür haben« (ebd., S. 37), heißt es im Text. Wie dies gemeint ist, erhellt aus dem Gebot der Menschenliebe, das Lenz kurz darauf formuliert: »Man muß die Menschheit lieben, um in das eigenthümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich seyn, erst dann kann man sie verstehen« (ebd., S. 38). Mit diesem Postulat lässt Büchner seinen Lenz über die dramenästhetische Programmatik des historischen Lenz deutlich hinausgehen. Denn dieser teilt zwar mit seinem fiktiven Ebenbild die antiidealistische Grundhaltung, die statt der künstlerisch zu gestaltenden idealischen Schönheit eine möglichst große Realitätsnähe der Kunst fordert. So heißt es etwa bereits in Lenz’ Anmerkungen übers Theater von 1774, dass »zehnmal mehr dazu[gehöre], eine Figur mit eben der Genauigkeit und Wahrheit darzustellen, mit der das Genie sie erkennt, als zehn Jahre an einem Ideal der Schönheit zu zirkeln, das endlich doch nur im Hirn des Künstlers« existiere.45 Beim historischen Lenz gründet diese Forderung nach Wahrhaftigkeit allerdings lediglich in der Vorstellung vom Genie, das der Natur nachzuschaffen habe, ohne sich dabei an irgendwelche überkommene Regeln zu halten. Büchners Lenz hingegen reklamiert die Lebensnähe der Kunst nicht unter den Bedingungen einer genialischen Autonomie-Ästhetik, sondern eben unter denen der Menschenliebe. Dabei verweist diese Liebe zur »Mensch-

|| Zum Antiklassizismus von Georg Büchners Schmerz-, Schrei- und Todesästhetik. In: Poschmann / Malende, S. 61–84. 45 Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater. In: Ders.: Werke und Schriften. Bd. 1. Hrsg. v. Britta Titel und Hellmut Haug. Stuttgart 1966, S. 329–362, hier S. 342. – In die gleiche Richtung einer ›naturgetreuen‹ Darstellung zielt der junge Goethe mit seinem Ausruf angesichts der Shakespeareschen Dramenfiguren: »Natur, Natur! nichts so Natur als Shakespears Menschen!« (Johann Wolfgang von Goethe: Zum Shakespears Tag [s. Anm. 35], S. 11.)

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heit« – worunter im älteren Wortsinn das ›Wesen‹, die ›Natur‹ des Menschen zu verstehen ist – als ästhetisch-poetologisches Prinzip, wie in der Forschung schon mehrfach betont wurde, auf die seit Lessing für die Kunst- und Dichtungstheorie zentrale ethische Kategorie des Mitleids.46 Sind es doch gerade die geringen und hässlichen Menschen, denen solche ›Liebe‹ gelten soll, und zwar gleichsam als den exemplarischen Menschen, deren »Leben« zugleich ein angemessenes Verstehen aller anderen erst ermöglicht. Anders als bei Lessing ist für Büchners Lenz das Mitleid als Menschheitsliebe aber nicht primär eine wirkungs-, sondern eine produktionsästhetische Kategorie: Vor aller Erzeugung des Mitleids beim Rezipienten durch das Kunstwerk gelte es vielmehr schon zuvor für dessen Urheber, Liebe zur Menschheit, d. h. in erster Linie: zu den Geringen, Hässlichen, Leidenden zu empfinden, die er sodann einfühlsam darzustellen habe, damit sein Werk kein abgehobenes Idealgebilde, sondern adäquate Nachschöpfung des Wirklichen sei, in der selbst »Möglichkeit des Daseins« liegt.47 Erst an zweiter Stelle steht – auf dieser Grundlage – dann auch das ›Mitgefühl‹ des Lesers, Zuschauers oder Betrachters von Kunstwerken, das folglich auch hier eine zwar nachgeordnete, aber keineswegs unwesentliche Rolle spielt. Der Menschenliebe des Künstlers, der sich dem wirklichen Leben verpflichtet fühlt, entspricht nämlich auf der Rezipientenseite die empathische Identifikation mit dem Dargestellten. So lässt Büchner seinen Lenz auf Kaufmanns Einwand, »daß er in der Wirklichkeit doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna finden würde«, entgegnen: [...] ich fühle mich dabei sehr todt, wenn ich in mir arbeite, kann ich auch wohl was dabei fühlen, aber ich thue das Beste daran. Der Dichter und Bildende ist mir der Liebste, der mir die Natur am Wirklichsten giebt, so daß ich über seinem Gebild fühle, Alles Übrige stört mich. (MBA 5, S. 38)

|| 46 Vgl. bereits Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit (s. Anm. 5), S. 301: »Dies auch der Grund, warum plötzlich die Ablehnung aller Postulate der Idealdichter in eine Schönheitslehre ausmündet, deren Grundwert kein ästhetischer, sondern ein ethischer ist: das Mitleid.« – Ganz im Kontext der Mitleidsästhetik betrachtet Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch (s. Anm. 34), bes. S. 78–84, den Lenz. 47 Dieser Forderung entspricht umgekehrt auch die Kritik, die Büchners Danton im Kunstgespräch des Dramas an der klassizistischen Malerei Jacques-Louis Davids übt, die von einer moralisch überheblichen, verächtlichen Sicht auf menschliche Schicksale geprägt sei und dergestalt als Paradebeispiel für ›schlechte Kunst‹ gelten könne: »Und die Künstler gehn mit der Natur um wie David, der im September die Gemordeten, wie sie aus der Force auf die Gasse geworfen wurden, kaltblütig zeichnete und sagte: ich erhasche die letzten Zuckungen des Lebens in dießen Bösewichtern.« (MBA 3.2, S. 37.)

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Gemäß der Vorstellung des historischen Lenz, das Ideal der Schönheit existiere letztlich nur im »Hirn des Künstlers«, stellt der fiktive Lenz hier das Denken dem Empfinden gegenüber: Während das Subjekt der Kunstbetrachtung – ebenso wie das der Kunstproduktion – im Fall der idealistischen Kunst auf die intellektuelle Tätigkeit angewiesen bleibt, kommt es dagegen im Fall der von Lenz geforderten ›realistischen‹ Kunst als fühlendes Individuum ins Spiel, das als solches unmittelbar von dem Werk affiziert wird. Dass das dem Leben, der Daseinsmöglichkeit als werkästhetischem Kriterium korrespondierende Gefühl auf der Produktions- und Rezeptionsseite wesentlich Mit-Gefühl, Mitleid mit dem hässlichen, geringen, leidenden Menschen ist, der wiederum als exemplarischer Repräsentant der Menschheit überhaupt gilt, deutet auf eine spezifische Auffassung des Lebens hin, welche dieses grundsätzlich durch Leiden bestimmt sieht. Dies deckt sich denn auch mit dem Selbst- und Weltverhältnis Lenz’ im Kontext der Erzählung. Immer wieder wird hier ja eindrucksvoll das psychische Leiden des Protagonisten thematisiert, der das ganze »All […] in Wunden« sieht und »tiefen unnennbaren Schmerz davon« fühlt (MBA 5, S. 35), dem es »unheimlich […] in der Einsamkeit« (ebd., S. 41) wird, weil ihm »Alles leer und hohl« (ebd., S. 43), in gähnender »Langeweile« (ebd., S. 44) erscheint, für den die »Welt […] einen ungeheuern Riß« hat (ebd., S. 46) und schließlich das »Dasein« nur noch »eine nothwendige Last« ist (ebd., S. 49). Zu Recht haben schon mehrere Interpreten auf die frappanten Parallelen zu Schopenhauers pessimistischer Ontologie hingewiesen,48 nach der alles Leben Leiden bedeutet und entsprechend auch das Mitleid zur ethischen Kardinaltugend avanciert, wie er in seinem 1818, also nur wenige Jahre vor Büchners Novelle erstveröffentlichten Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung darlegt. Der Handlungszusammenhang von Büchners Lenz liefert allerdings eine andere Begründung für den Leid- und Lastcharakter des Daseins, angesichts dessen der Titelheld schließlich völlig zusammenbricht, bzw. daraus ergeben sich andere Konsequenzen: Denn im Unterschied zu Schopenhauer deutet die Erzählung nicht den Weltgrund als heillosen Willen, der durch Askese verneint werden kann, sondern die psychische Krise ist hier vor allem eine des religiösen

|| 48 Vgl. v. a. Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner, die Philosophen und der Pietismus. Umrisse eines neuen Büchnerbildes. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1976, S. 352–419, der in Bezug auf die letzten Bücher der Welt als Wille und Vorstellung festhält: »das muß Büchner gelesen haben« (S. 416); Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch (s. Anm. 34), S. 79–84, hebt vor allem auf die Übereinstimmungen und Differenzen zu Schopenhauers Mitleidslehre ab.

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Bewusstseins, mit der Büchner zugleich eine Diagnose seiner eigenen Zeit gestaltet. Sein Lenz leidet schon unter dem, was Nietzsche gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit seiner Formel vom ›Tod Gottes‹ bezeichnet hat49 und was Georg Lukács dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts als »transzendentale Obdachlosigkeit« des modernen Menschen charakterisierte. Bei Lenz zeigt sich dieser Sinnverlust als Übergangsprozess – zunächst noch in seinem schizophrenen Oszillieren zwischen religiösem Eifer und Atheismus, das dann schließlich in die absolute Sinnleere einmündet. Dabei führt ihn gerade seine Auffassung des Lebens als Leiden zur Infragestellung Gottes, die sich durch keine teleologische Antwort mehr rückgängig machen lässt. Ähnlich wie in Büchners Drama Danton’s Tod, in dem die Frage »warum leide ich?« zum »Fels des Atheismus« wird, da schon »[d]as leiseste Zucken des Schmerzes […] einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten« hinterlässt (MBA 3.2, S. 49), wird auch für Lenz das Leid der Welt zum unauflösbaren Widerspruch zur göttlichen Güte und Allmacht. So äußert er sich gegenüber Oberlin, der »ihm von Gott« spricht: »aber ich, wär’ ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten« (MBA 5, S. 47). Das Leiden in der Welt wird für Lenz, der es anfänglich noch mittels eines pietistischen Liedzitats als »Gottesdienst« (ebd., S. 35) zu deuten sucht, immer mehr zum Argument gegen die Vorstellung eines allgütigen, allmächtigen Gottes, das sich durch keinen Theodizee-Gedanken abweisen lässt; wie dem lebens-müden Danton erscheint ihm zuletzt die »Schöpfung als […] Wunde« des »Nichts«, »die Welt [als] das Grab, worin es fault« (MBA 3.2, S. 64). So leiden Büchners ›Helden‹ bereits an jenem Nihilismus, der später, seit der Wende zum nächsten Jahrhundert, vielfach als Kennzeichen der Moderne diagnostiziert werden sollte. Die mitleidige Versenkung des Künstlers in das Leben der Hässlichen, Geringen, die im Kunstgespräch von Lenz gefordert wird, zielt als ›wirklichste‹ Wiedergabe der Natur durch die Kunst auf die »leidende Natur«50 (des Menschen). Lenz muss sich im Verlauf der Erzählung eingestehen, dass es in letzter Konsequenz keine Rechtfertigung des Welt-Schmerzes, keinen »göttliche[n] Trost« (MBA 5, S. 43) angesichts des Leidens gibt, dass es ohne jeden Sinn und Zweck ist. Mit dieser Erfahrung totaler Sinnlosigkeit des Leidens steht jedoch, wie schon angedeutet, der im Kunstgespräch aufgerufene Gedanke einer har-

|| 49 Siehe auch Manfred Durzak: Die Modernität Georg Büchners. Lenz und die Folgen. In: L’ 80. Heft 45 (März 1988), S. 132–146, hier S. 144–146. 50 Vgl. Walter Hinderer: Die Philosophie der Ärzte und die Rhetorik der Dichter (s. Anm. 36), S. 515.

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monischen Weltordnung im Konflikt, die sowohl das Schöne wie das Hässliche, das Gute wie das Böse umgreift. Das nicht zu rechtfertigende Leiden als »Fels des Atheismus« widerspricht der Vorstellung vom »lieben Gott« als Urheber einer vollkommenen Welt, die genauso ist, »wie sie sein soll«. Im Kunstgespräch, dem als weltanschauliche Prämisse zwar bereits der Leidcharakter des Daseins zugrunde liegt – daher das Postulat künstlerischer Hinwendung zur Realität der schmerzlich zuckenden Gefühlsader –, sucht Lenz allerdings noch das leidvolle Leben zu rechtfertigen. Das zeigt sich nicht zuletzt auch an den konkreten Beispielen, die er anführt, um seine Kunsttheorie zu veranschaulichen.

4 Bei dem ersten Beispiel handelt es sich auffälligerweise gar nicht um ein Kunstwerk, sondern um eine Szene aus dem alltäglichen Leben, die Lenz tags zuvor in projektiver Überformung als eine Art tableau vivant betrachtet hat,51 welches »[d]ie schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule« (MBA 5, S. 37) übertreffe – ein Hinweis auf die generelle Überlegenheit des Lebens über die Kunst, selbst dort, wo diese, wie Lenz zufolge die deutsche Malerei zur Zeit Albrecht Dürers, nicht idealistisch sei, sondern das wirkliche Leben darstelle. Dieser Hinweis will indes nicht recht einleuchten, gibt Lenz hier doch keineswegs das schiere Leben, sondern im Gegenteil seinen subjektiven, selbst schon idealistisch überhöhten Eindruck der Szene wieder. So zeigen bereits seine Formulierungen, »wie der einfache Vorgang […] poetisiert wird«:52 Lenz beschreibt, wie er »auf einem Steine zwei Mädchen sitzen [sah], die eine band ihre Haare auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht und die andre so sorgsam bemüht.« (MBA 5, S. 37.) Die beiden Mädchen, die Lenz dergestalt mit ästhetisierendem Blick wahrnimmt, sollen zwar verdeutlichen, inwiefern nicht etwa idealische Schönheiten, sondern umgekehrt gerade echte Menschen, »die pro-

|| 51 Zur umfassenden Analyse und kulturhistorischen Kontextualisierung dieser Szene siehe Jürgen Schwann: Georg Büchners implizite Ästhetik (s. Anm. 9), S. 101–121. – Dass es sich um eine ästhetische Projektion handelt, steht selbst freilich im Widerspruch zur vorangehenden Ablehnung einer Kunst, die auf das ›In-sich-Arbeiten‹ des betrachtenden Subjekts angewiesen sei – handelt es sich nun doch seinerseits um solch einen idealisierenden Akt intellektueller Selbsttätigkeit und keineswegs um unmittelbares Affiziertwerden durch das Gesehene. 52 Andreas Pilger: Die »idealistische Periode« in ihren Konsequenzen. Georg Büchners kritische Darstellung des Idealismus in der Erzählung Lenz. In: GBJb 8 (1990–94), S. 104–125, hier S. 109.

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saischsten unter der Sonne«, künstlerisch darstellungswürdig sind. Doch auch wenn die von Lenz beobachteten Mädchen in sozialer Hinsicht zu den »Geringen« gehören mögen, so sind sie doch keineswegs zu den »hässlichen« Menschen zu zählen. Allenfalls mag das »ernste[ ] bleiche[ ] Gesicht« des schwarz gekleideten, »doch so jung[en]« Mädchens auf die schmerzlichen »Zuckungen« der »Gefühlsader« hindeuten.53 Besonders überzeugend ist dieses Beispiel für die von Lenz entworfene antiidealistische Ästhetik dennoch nicht. Schon die kurz darauf noch einmal wiederholte Berufung auf die »schönsten Bilder« zeigt, dass Lenz selbst das (angedeutete) Leiden noch in ein harmonisches, also letztlich doch wieder idealistisches Weltbild zu integrieren sucht, indem er es ästhetisiert. Die Spuren des Leidens werden sofort wieder verwischt. Und das Hässliche, für dessen ontologische und ästhetische Valenz er im allgemeinen Teil seiner Rede plädiert, blendet Lenz dort, wo es um konkrete Beispiele geht, sogar völlig aus. Stattdessen beschreibt er hier eine idyllisch geprägte Szene, wie sie typisch für die sog. Genre-Malerei ist,54 auf die er auch mit seinen Beispielen aus der niederländischen Schule rekurriert, von denen noch zu sprechen sein wird. Zunächst aber wirkt irritierend, was Lenz direkt im Anschluss an diese Schilderung des ›lebendigen Bildes‹ ausführt. Die Tendenz der idealistischen Ästhetik zur Verstetigung des in der Natur, wenn überhaupt, nur flüchtig und vorübergehend vorkommenden Schönen charakterisiert Lenz als medusenhafte Versteinerung des Lebendigen, nach der er sich doch selbst »manchmal« sehnt. So ruft er angesichts der Vergänglichkeit der soeben von ihm geschilderten Szene mit den zwei Mädchen aus: »Man möchte manchmal ein Medusenhaupt seyn, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können […]. Sie [die Mädchen] standen auf, die schöne Gruppe war zerstört« (MBA 5, S. 37). Der versteinernde Blick der Medusa fungiert hier gleichsam als Komplementärmetapher zu »Pygmalions Statue«, die im Kunstgespräch von Danton’s Tod genannt wird (MBA 3.2, S. 37). Beide stehen bei Büchner für den Gegensatz von Kunst und Leben: So wird Pygmalions Statue zwar lebendig, vermag »aber keine Kinder [zu] bekom-

|| 53 Vgl. auch Herbert Fellmann: Georg Büchners »Lenz«. In: Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 7 (1963), S. 7–124, hier S. 93, der »die Gegensätze von blondem Haar und schwarzer Tracht, bleichem Gesicht und ›doch so jung‹ als Ausdruck zu früher Leiderfahrung« deutet. 54 Eva Borst: Der Einfluß der niederländischen Genre-Malerei auf Georg Büchners Erzählung »Lenz«. In: Literatur für Leser 1988, S. 98–106, hier S. 99f., definiert die Genre-Malerei wie folgt: »Genre-Malerei meint immer das allgemein Menschliche, das Alltägliche einer Verrichtung, eines Verhaltens oder eines Vorganges […]. Dem klassischen Idealismus ist sie polar entgegengesetzt […]. Zumeist werden alltägliche Szenen aus dem Dasein der unteren Stände gezeigt: Das Leben in Bauernstuben und Wirtshäusern, unter Handwerkern und Soldaten ist Gegenstand der Genre-Malerei.«

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men« (ebd.); sie bleibt letztlich ein lebensfremdes Kunstprodukt – ebenso wie die vom Medusenhaupt des Künstlers konservierte Schönheit, die mit der Vergänglichkeit zugleich ihre Lebendigkeit verliert. So sagt sich Lenz mit einem adversativen »aber« von der auch ihn bisweilen anfallenden Sehnsucht nach Bewahrung der augenblicklichen Schönheit des Lebens los, indem er gerade den Wandel, die Endlichkeit als Prinzip »unendliche[r] Schönheit« anerkennt: aber wie sie [die Mädchen] so hinabstiegen, zwischen den Felsen war es wieder ein anderes Bild. Die schönsten Bilder, die schwellendsten Töne, gruppiren, lösen sich auf. Nur eins bleibt, eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert, man kann sie aber freilich nicht immer festhalten und in Museen stellen und auf Noten ziehen und dann Alt und Jung herbeirufen, und die Buben und Alten darüber radotiren und sich entzücken lassen. (MBA 5, S. 37)

Diese Stelle scheint kaum mehr vereinbar mit den vorangehenden kunsttheoretischen Überlegungen. Zwar steht Lenz’ Gedanke einer »unendlichen Schönheit« des Lebens,55 die das Hohe und Geringe, das im engeren Sinne Schöne und Hässliche umfasst,56 im Einklang mit seinem naturphilosophischen Konzept kosmischer All-Harmonie, wie er es schon vor dem Kunstgespräch entfaltet hat, um es dann auch ihm selbst im Gedanken von der göttlich geschaffenen Welt, die ist, »wie sie seyn soll«, zugrunde zu legen. Doch wie schon diese Vorstellung im Widerspruch zur Einsicht in das nicht zu rechtfertigende Leiden steht, so wird an der vorliegenden Passage darüber hinaus noch deutlich, dass sich das, was eigentlich lediglich gegen die idealistische Kunst ins Feld geführt werden sollte, überhaupt gegen jede Form von Kunst richtet, die »immer Auswahl und nicht ununterbrochenen Verlauf bedeutet, Fixierung und nicht Auflösung, Dauer in Stein oder Schrift, aber nicht ständigen Wechsel.«57 Die von Lenz geüb|| 55 In Büchners medizinischer Probevorlesung Über Schädelnerven ist ebenfalls von einem kosmischen »Gesetz[ ] der Schönheit« die Rede (MBA 8, S. 155); gleichwohl gilt auch hier zu beachten, dass Büchner im Lenz nicht aus der eigenen, sondern aus der Perspektive seiner Figur spricht. In der Erzählung kommt es aber gerade auf den Widerspruch an, in den sich Lenz dergestalt verstrickt. 56 Dies wäre gegen Hans Otto Rößer: Die kritische Perspektive aufs Subjekt in Büchners »Lenz«. In: GBJb 10 (2000–04), S. 173–205, hier S. 175, anzuführen, der meint, dass der vorangehenden »Verabschiedung von ›schön‹ und ›häßlich‹ als ›Kriterium in Kunstsachen‹ widerspricht […], daß Lenz wenige Zeilen später Texte und Bilder als quasi medusenhafte Momentaufnahmen aus einer ›unendliche[n] Schönheit‹ bestimmt«. 57 Mark W. Roche: Die Selbstaufhebung des Antiidealismus in Büchners Lenz (s. Anm. 6), S. 139; Roche sieht darin eine – freilich in sich selbst widersprüchliche – Antizipation eines postmodernen Kunstkonzepts: »Lenzens Kritik an Idealität und Stabilität als den Hauptkatego-

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te Kritik an der idealistischen Kunst, welche die Wirklichkeit zu verklären sucht, statt ihr »nachzuschaffen«, verschiebt sich so unter der Hand zu einer universalen Kritik an der Kunst überhaupt, die ja niemals völlig identisch mit dem Leben sein kann. Seine antiidealistische Ästhetik mutiert somit zu einer regelrechten Anti-Ästhetik oder Kunstfeindschaft, die nicht nur die Unzulänglichkeit der verklärenden, idealisierenden Kunst behauptet, sondern selbst der dem Kriterium des Lebens verpflichteten Kunst, sofern diese niemals das Leben adäquat wiederzugeben vermag. Die künstlerische Nachschöpfung, so die unausgesprochene Konsequenz, verfehlt die göttliche Schöpfung zwangsläufig. Dieser radikalen Absage an jedwede Kunst entspricht zwar auf der Ebene der Erzählung die Tatsache, dass Lenz selbst längst die dichterische Praxis für sich verabschiedet hat und auch nicht von Oberlin nach seinen früher geschriebenen Dramen beurteilt werden möchte (vgl. MBA 5, S. 32). Zugleich steht sie jedoch nicht nur im Widerspruch zum vorangehenden ästhetischen Programm einer positiv gewerteten, lebenshaltigen Kunst, als deren Beispiele Shakespeare, der junge Goethe und die Volkslieder angeführt wurden, sondern auch zu den nachfolgenden Bildbeschreibungen, die abermals auf mustergültige Kunstwerke gemäß den Vorgaben von Lenz’ antiidealistischer Ästhetik abzielen. Sein Bekenntnis zu einer Kunst, welche »die Natur am Wirklichsten gibt«, im Gegensatz zu derjenigen, die sie auf ein rein geistiges Schönheitsideal hin zu übersteigen sucht, konkretisiert er dabei durch die Opposition von niederländischer und italienischer Malerei: »Die Holländischen Maler sind mir lieber, als die Italiänischen, sie sind auch die einzigen faßlichen« (ebd., S. 38). Dieser Gegensatz zwischen den bildkünstlerischen Stilrichtungen des Niederländischen und des Italienischen ist nicht etwa Büchners Erfindung, sondern ein Topos der kunsttheoretischen Tradition, der Mitte des 18. Jahrhunderts von Winckelmann in Deutschland eingeführt und von Lessing und Jean Paul dann auch auf das Gebiet der Literatur übertragen wurde.58 Allerdings lässt Büchner seinen Lenz eine markante Umwertung gegenüber der von Winckelmann und seinen Nachfolgern vertretenen Sichtweise vorneh-

|| rien der Kunst nimmt eine Bewegung in den bildenden Künsten vorweg, die erst in der zweiten Hälfte unseres [des 20.] Jahrhunderts aufgetaucht ist, nämlich die Auffassung der Kunst als Ereignis (a happening).« 58 Hierzu vgl. Hoda Issa: Das »Niederländische« und die »Autopsie«. Die Bedeutung der Vorlage für Georg Büchners Werke. Frankfurt a. M. 1988, S. 48–62. – Dazu, wie Jean Paul mit der »Begründung des niederländischen Kunstgeschmacks in seiner Dichtung« eine »tiefgreifende[ ] Wirkung« auf Büchner ausgeübt habe, vgl. Paul Requadt: Zu Büchners Kunstanschauung (s. Anm. 43), S. 116.

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men, wie sie Lessing im 94. Stück der Hamburgischen Dramaturgie folgendermaßen zum Ausdruck bringt: Dieses letztere [die Orientierung am ›wirklichen Leben‹ statt an der ›allgemeinen Idee‹] ist der allgemeine Tadel, womit die Schule der Niederländischen Maler zu belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirklichen Natur, und nicht, wie die Italienische, von dem geistigen Ideale der Schönheit entlehnet. Jenes aber entspricht einem andern Fehler, den man gleichfalls den Niederländischen Meistern vorwirft […], daß sie lieber die besondere, seltsame und groteske, als die allgemeine und reizende Natur, sich zum Vorbilde wählen.59

Noch abfälliger äußert sich Schiller in seinen bereits zitierten Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst über den niederländischen Stil, den auch er in der Nachfolge Winckelmanns der idealistischen Kunst der Italiener und Griechen entgegensetzt: Einen gemeinen Geschmack haben in der bildenden Kunst die Niederländischen Maler, einen edlen und großen Geschmack die Italiener, noch mehr aber die Griechen bewiesen. Diese gingen immer auf das Ideal, verwarfen jeden gemeinen Zug, und wählten auch keinen gemeinen Stoff.60

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Büchners Lenz umgekehrt Partei für die Niederländer und gegen die Italiener ergreift. Die ästhetische Umwertung, die Lenz hierbei gegenüber Kaufmann und den anderen Anhängern der »idealistischen Periode« vornimmt, indem er den holländischen ›Realismus‹ über den italienischen ›Idealismus‹ stellt, ist freilich nicht vollkommen voraussetzungslos. Als wichtige Vorläufer sind – nach Diderot und dem jungen Goethe, der in seinem Falkonet-Aufsatz Raffael und Rembrandt in einem Atemzug nennt – in zeitlicher Nähe zu Büchner vor allem Hegel und Schopenhauer zu nennen, die ihrerseits schon einen Beitrag zur Rehabilitierung der Niederländer leisteten,61 auch wenn sie (aus verschiedenen Gründen) nach wie vor der Malerei der italienischen Renaissance noch den Vorzug gaben. Mit Büchners Lenz teilen beide aber die Einschätzung, der zufolge die Niederländer die menschliche Natur besonders ›fasslich‹ gestalten. So spricht Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik den niederländischen Malern, die || 59 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6. Hrsg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 1985, S. 181–694, hier S. 647. 60 Friedrich Schiller: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst (s. Anm. 41), S. 452. 61 Zu Rechtfertigung der niederländischen Malerei im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Peter Demetz: Defenses of Dutch Painting and the Theory of Realism. In: Comparative Literature 15 (1963), S. 97–115.

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er mit den deutschen zusammenstellt, zwar die Fähigkeit ab, »die geistig verklärte Schönheit« darzustellen, gesteht ihnen dafür aber einen »Ausdruck für die Tiefe der Empfindung und die subjektive Beschlossenheit des Gemüts« zu,62 beruhend auf einer ausgeprägten »Anschauung« desjenigen, »was überhaupt am Menschen, am menschlichen Geist und Charakter, was der Mensch und was dieser Mensch ist.«63 Und Schopenhauer verteidigt ausdrücklich die »vortrefflichen Maler[ ] der Niederländischen Schule«, denen man »großes Unrecht [tue], wenn man bloß ihre technische Fertigkeit schätzt, im Uebrigen aber verachtend auf sie herabsieht, weil sie meistens Gegenstände aus dem gemeinen Leben darstellten«. Schopenhauer verweist dagegen auf die »innere Bedeutsamkeit« ihrer Bilder, denen auch er eine tiefreichende »Einsicht in die Idee der Menschheit« attestiert.64 An diese Tradition der Rechtfertigung niederländischer Malerei knüpft Büchner an; er radikalisiert sie aber noch deutlich, indem sein Lenz die idealistische Kunst der Italiener völlig entwertet und sie mit ›Tod‹ assoziiert, während den holländischen (und altdeutschen) Bildern der höchste Wert des ›Lebens‹ zugeordnet wird. Auf das allgemeine Votum für die Niederländer und gegen die Italiener folgen nun die Musterbeispiele zweier Gemälde, in deren Beschreibung die antiidealistische Ästhetik des Kunstgesprächs einmündet. Sie sollen aber nicht nur für die holländische Malerei stehen, sondern, insofern diese für Lenz zum Paradigma aller Kunst avanciert, zugleich exemplarisch die gesamte von ihm geforderte ›lebendige‹ Kunst repräsentieren, also nicht zuletzt auch die Dichtung. Dass dies indes nicht sonderlich plausibel erscheint, wurde bereits angedeutet. Bezeichnend ist schon, wie Lenz die beiden Beispielbilder einführt: »ich kenne nur zwei Bilder, und zwar von Niederländern, die mir einen Eindruck gemacht hätten, wie das neue Testament« (MBA 5, S. 38). Plötzlich ist offenbar nicht mehr das Leben, die Möglichkeit des Daseins das entscheidende »Kriterium in Kunstsachen«, sondern das Neue Testament! Was zunächst so innovativ als eine Ästhetik des Lebens, des Hässlichen und des Leidens auftrat, entpuppt sich nun, wenngleich nicht als bewusster religiöser Anspruch, so doch als stimmungshafte Nachwirkung einer religiösen Heilssehnsucht, die gerade aus Lenz’ Gefühl der Heillosigkeit herrührt. Die Ausführungen zu den beiden Bildern verdeutlichen dies auf eigentümliche Weise. Nach Paul Requadt handelt es sich

|| 62 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert von Friedrich Bassenge. 2 Bde. Berlin, Weimar 21965. Bd. 2, S. 253. 63 Ebd., S. 258. 64 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I. In: Ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. Bd. 2, S. 307.

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bei ihnen – Büchners Lenz kennt bzw. nennt die Maler nicht – zum einen um das Gemälde Christus [erscheint den Jüngern] in Emmaus des Rembrandt-Schülers Carel von Savoy (ca. 1621–1665), das zwar nicht der historische Lenz, wohl aber Büchner selbst im Großherzoglichen Museum in Darmstadt gesehen hat und sehr schätzte, und zum anderen um das beliebte Genre-Motiv der lesenden Frau, dem sich allerdings kein konkretes Bild zuordnen lässt, das der Autor aus eigener Anschauung kannte.65 Bei den Ausführungen zum ersten Bild fällt sofort auf, dass Lenz nicht vom Gesehenen, sondern vom Gelesenen ausgeht. Die Bildwahrnehmung erweist sich als präformiert von der Bibellektüre. Entsprechend beginnt Lenz seine vermeintliche Ekphrasis mit den Worten: »Wenn man so liest, wie die Jünger hinausgingen […]« (MBA 5, S. 38), sodass sich das Folgende eher auf die Schilderung des Evangelisten (Lukas) als auf die Darstellung des Malers (Savoy) bezieht. Damit einher geht, dass Lenz – gemäß dem Vorzug, den er dem veränderlichen Leben gegenüber der medusenhaften Kunst gibt – die statische Bildszene imaginativ dynamisiert, den künstlerisch fixierten Augenblick in seiner Einbildungskraft wieder zum unmittelbaren Lebenszusammenhang ›verflüssigt‹.66 Denn wenn er schildert, wie »ein Unbekannter« zu den Jüngern tritt und mit ihnen spricht, wie sie schließlich in ihm den auferstandenen Jesus erkennen und freudvoll erschrecken, dann ist damit ja eine sukzessive Reihe von Ereignissen genannt, also eine zeitliche Dimension, die das Gemälde selbst so natürlich nicht aufweist. Auch die zuvor programmatisch entworfene Ästhetik des (hässlichen und geringen) menschlichen Lebens bzw. des Leidens wird hierdurch nur sehr bedingt exemplifiziert: Zwar ist die Rede von der »einfachmenschliche[n] Art« sowie den »göttlich-leidenden Züge[n]« des Auferstandenen; doch liegt der Schwerpunkt eindeutig auf dem »Unbegreifliche[n]«, dem Wunder der Auferstehung selbst (MBA 5, S. 38) – und damit auf dem religiösen

|| 65 Vgl. Paul Requadt: Zu Büchners Kunstanschauung (s. Anm. 43), S. 108; allerdings weist Requadt auf ein entsprechendes Bild von Pieter Janssens hin, das sich in der Alten Pinakothek in München befand (S. 110). – Gerhard Schaub (Hrsg.): Georg Büchner. Lenz. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1987, S. 34, nennt dagegen ein Gemälde des Holländers Nicolaes Maes als mögliche Vorlage, während Hubert Gersch (vgl. MA, S. 547, Anm. 146) überhaupt nicht von einer Anregung durch ein Bild, sondern durch die Eingangsszene von Ludwig Tiecks Leben und Tod des kleinen Rotkäppchen (1800) ausgeht. 66 Vgl. Konrad Kirsch: Vom Autor zum Autosalvator (s. Anm. 32), S. 29, der zu dieser Beschreibung des Christus-Bildes im Blick auf die zuvor von Lenz beschriebene Szene mit den beiden Mädchen anmerkt: »Wie das Leben die von der Medusa versteinerte Gruppe, erweckt Lenz das Bild zum Leben – der nach-schöpfende Rezipient erlöst die Lazarus-Figuren der Kunst von ihrem Tod.«

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Aspekt. Im Vordergrund steht keineswegs die künstlerische Gestaltung des Niedrigen und Hässlichen, der leidenden menschlichen Natur, sondern im Gegenteil die Hoffnung auf Erlösung von Leid und Tod durch Jesus Christus, in dessen vermeintlicher Nachfolge der wahnsinnige Lenz im weiteren Verlauf der Erzählung versucht, ein totes Kind wieder zum Leben zu erwecken, woran er freilich kläglich scheitert (vgl. ebd., S. 42f.). Büchner liefert hiermit eine psychologische Analyse der Genese religiöser Heilsvorstellungen, bei denen es sich in Lenz’ Fall allerdings nur noch um »religiöse Nachwehen« (Nietzsche) nach dem Zusammenbruch des Idealismus handelt. Ebenfalls religiös codiert ist die Beschreibung des zweiten Bildes; das Genre-Motiv der lesenden Frau erscheint in Lenz’ Rede als Darstellung einer Frau, die am Sonntag nicht in die Kirche gehen kann und daher mit dem »Gebetbuch in der Hand« ihre »Andacht zu Haus [verrichtet]« (MBA 5, S. 38). Dabei verschränkt Lenz sogar in einer ›intermedialen‹ Bildlektüre akustische mit optischen Wahrnehmungen, indem er – wenn auch nur im Modus des Als-ob – die »Glockentöne« evoziert, die »zu dem [offenen] Fenster über die weite ebne Landschaft herein[schweben]«, und den verhallenden »Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche« (ebd.). Hier geht es Lenz genauso wenig um die künstlerische Qualität des Bildes wie beim ersten Beispiel; Eindruck macht auf ihn vielmehr wieder primär bloß das Sujet, das in seiner Beschreibung zum Exempel tiefster Frömmigkeit und inniger Verbundenheit des Einzelnen mit der Gemeinschaft der Gläubigen wird, wie Lenz sie selbst kurz vor der Ankunft Kaufmanns bei seiner sonntäglichen Predigt in der Kirche (erfolglos) zwischen sich und den Gebirgsbewohnern herstellen wollte (vgl. ebd., S. 34f.). Und vorausgesetzt, dass die Frau wegen schwerer Krankheit zu Hause bleiben muss, würde auch diese Bildinterpretation auf eine religiöse Heilserwartung angesichts von Leiden hinauslaufen.67 So erweist sich Lenz in seinen Bildbeschreibungen, die eigentlich die zuvor entwickelte ›realistische‹ Ästhetik des Lebens beispielhaft verdeutlichen sollen, seinerseits in einem bestimmten Sinn als ›Idealist‹: Entgegen seiner vorgeblichen Intention führt er keine exemplarischen Kunstwerke vor, welche aus mitleidsvoller Menschenliebe »die Natur am Wirklichsten« geben, wo einem der »Puls« des Lebens – gerade auch in den geringsten, hässlichsten Gestalten – »entgegen schwillt und pocht« (MBA 5, S. 38), sondern Kunstwerke mit religiösen Motiven, die dazu dienen, den christlichen Glauben an einen transzenden-

|| 67 Hierzu vgl. Jürgen Schwann: Georg Büchners implizite Ästhetik (s. Anm. 9), S. 247f.

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ten Erlöser-Gott zu stärken.68 Was zunächst als ein dezidiert modernes Kunstkonzept erscheint, das bereits »antizipatorisch in das 20. Jahrhundert hinein[reicht]«69, fällt schließlich auf einen idealistischen Standpunkt zurück, der auf den psychisch nicht bewältigten Transzendenzverlust verweist, indem Lenz sich Kunstwerken mit religiösen Motiven aus dem 17. Jahrhundert zuwendet. Dabei bleiben die Widersprüche durchaus bestehen. Lenz’ Ästhetik ist ebenso ambivalent wie seine Weltanschauung: Auf der einen Seite steht die krisenhafte Erfahrung der Entgöttlichung einer säkularisierten Welt, in der das allgegenwärtige Leiden zum »Fels des Atheismus« gerät, weil das Theodizee-Problem unlösbar geworden ist, und in der die Kunst die einzige Aufgabe mitleidiger Versenkung in das leidvolle Menschenleben hat. Auf der anderen Seite steht jedoch der verzweifelte Versuch, weiterhin an der alten Metaphysik festzuhalten, das Leiden der Welt als sinnvoll, weil einbezogen in den göttliche Heilsplan zu erfahren, und entsprechend auch der Kunst eine religiöse Funktion zuzuweisen.70 Diese ›Gespaltenheit‹ ist es, die sich bei Lenz in Form einer schizoiden Psychose manifestiert. Sie treibt ihn schließlich in die »entsetzliche Leere« (MBA 5, S. 49) geistiger Umnachtung.

5 Die Ausführungen im Kunstgespräch der Lenz-Erzählung, so lässt sich abschließend festhalten, sind folglich keineswegs als direkte Wiedergabe von Büchners ästhetischen Anschauungen zu verstehen, wie dies vor allem in der älteren

|| 68 Vgl. ebd., S. 231f.; auch Schwann konstatiert hier die oben begründete »idealistische[ ] Umklammerung […], welche die Bildinhalte implizieren«, ist jedoch der Ansicht, dass »es Lenz gelingt«, diesen idealistischen Implikationen »zu entgehen«, dass mithin also trotz allem die »von Lenz bevorzugte ›Holländische Malerschule‹ […] jedenfalls ein geeignetes Darstellungsmodell« für seine antiidealistische Ästhetik sei (ebd., S. 231). Überzeugende Gründe für diese These bleibt Schwann m. E. jedoch schuldig. 69 Manfred Durzak: Die Modernität Georg Büchners (s. Anm. 49), S. 134. – Dietmar Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. Kronberg/Ts. 1975, S. 154, hebt in diesem Zusammenhang vor allem auf die Poetologie des Naturalismus ab: »Die Naturalisten betrachteten das Kunstgespräch der ›Lenz‹-Novelle als Vorwegnahme des eigenen Dichtungsprogramms.« 70 Zu Recht bemerkt daher Timm Reiner Menke: Lenz-Erzählungen in der deutschen Literatur. Hildesheim, Zürich, New York 1984, S. 45, über die von Lenz beschriebenen beiden Gemälde: »[S]ie sind weniger prägnante Beispiele seiner vorhergehenden theoretischen Ausführungen, sondern geben eher Auskunft über den Zustand des lebendigen Menschen Lenz und dessen Sehnsüchte und Wunschvorstellungen.«

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Forschung behauptet wurde, aber auch in manchen neueren Arbeiten noch zu lesen ist. Die von mir herausgestellten Brüche und Inkohärenzen von Lenz’ Rede verweisen vielmehr darauf, dass es sich um figurenperspektivische Aussagen handelt, die im Kontext der erzählten (Leidens-)Geschichte des Protagonisten zu verstehen sind – als Ausdruck von dessen psycho-mentalem Hinund Hergerissensein angesichts der in der heraufziehenden Moderne zerbrechenden metaphysischen Gewissheiten, die vormals Lebenssinn garantierten. Die sich selbst aufhebende Widersprüchlichkeit von Lenz’ Kunsttheorie zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass dieser gar nicht mehr zu künstlerischer Produktion in der Lage ist71 – im Gegensatz zu Büchner, der ja gerade jene Existenzund Schaffenskrise zum Gegenstand einer Novelle macht.72 Der von Büchner fiktional gestaltete Lenz darf also keineswegs einfach mit seinem Autor gleichgesetzt oder als dessen »Sprachrohr«73 begriffen werden. Gleichwohl heißt das nicht, dass sich überhaupt keine Übereinstimmungen zwischen dem von Lenz Vorgetragenen und Büchners eigener Kunstauffassung feststellen lassen. So sind eindeutige Parallelen nicht nur zur immanenten Ästhetik des Kunst-Dialogs im Danton-Drama, sondern ebenfalls zu den expliziten ästhetisch-poetologischen Selbstreflexionen im Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835 erkennbar, die durchaus dafür sprechen, dass Büchner sich hier zumindest ein Stück weit auch in eigener Sache äußert, was überdies auch die hermeneutisch zu ermittelnde implizite Poetik seiner literarischen Werke bestätigt. Präziser gefasst: Die von Lenz (ähnlich wie ex negativo von Camille und Danton) geforderte Abkehr von der idealisierenden Kunst zugunsten einer mitfühlenden Hinwendung des Künstlers zum wirklichen, d. h. vor allem auch zum hässlichen, leidenden Leben korrespondiert sehr wohl mit Büchners Selbstverständnis. Der Rückfall in die Denkmuster der Theodizee sowie in eine religiös orientierte und damit letztlich wieder spezifisch idealistische Kunstauffassung, wie er sich in Lenz’ ›ästhetischer Theorie‹ vollzieht, ist hingegen allein der psychischen Disposition der fiktiven Figur zuzurechnen. Büchner erscheint in dieser

|| 71 Wenn Peter K. Jansen: The Structural Function of the ›Kunstgespräch‹ in Büchner’s Lenz. In: Monatshefte 67 (1975), S. 145–156, hier S. 147, hingegen meint, »[o]nly in the Kunstgespräch does Büchner’s Lenz speak as an artist«, dann verkennt er also, dass Lenz hier gerade nicht als Künstler, sondern nur als Kunsttheoretiker spricht. 72 Zu widersprechen ist insofern Dieter Sevin: Die existentielle Krise in Büchners Lenz. In: Ders.: Trotzdem schreiben. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hildesheim, Zürich, New York 2010, S. 275–287, hier S. 282, der zwar zu Recht auf Lenz’ »Scheitern als Künstler« hinweist, gerade daraus jedoch »eine starke Affinität Büchners zu seiner Lenzfigur« herleiten will. 73 Klaus F. Gille: Zwischen Hundsstall und Holzpuppen (s. Anm. 30), S. 88.

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Hinsicht viel konsequenter, zukunftsweisender als der von ihm geschaffene Lenz, der die Heraufkunft der ›gottverlassenen‹ Moderne zwar schon antizipiert, sich jedoch zugleich dagegen sträubt und schließlich daran zugrunde geht. Insofern würden denn auch Büchners eigene Werke – etwa der Lenz selbst oder der Woyzeck – weitaus bessere Beispiele für die im Kunstgespräch ansatzweise entworfene innovative Ästhetik des Hässlichen, Geringen und Leidenden abgeben74 als die von Lenz angeführten niederländischen Gemälde. Dass dieser sich auf sie beruft, entspricht jedoch der Grundthematik der Erzählung: der geschichtlichen Dialektik von Heilsverlust und Heilsverlangen.

|| 74 Vgl. auch Hans-Gerd Winter: Georg Büchners Lenz (s. Anm. 4), S. 222f., der ganz in diesem Sinn mit Blick auf den Lenz ausführt: »Die ›Lenz‹-Erzählung ist das Produkt einer intensiven Versenkung in den anderen und von deutlichem Mitgefühl und Sympathie gegenüber dessen Leid- und Schmerzerfahrungen geprägt, also ein Werk, auf das als ganzes die Definitionen im Kunstgespräch zutreffen, die ja mit Einschränkungen durchaus als das ästhetische Credo Büchners genommen werden können.«

Yvonne Wübben (Berlin)

Ein Fall für die Psychiatrie? Büchners Lenz im Kontext psychiatrischer Aufzeichnungsverfahren Bereits 1921 – also gut ein Jahrzehnt nach der Einführung des SchizophrenieKonzeptes durch Eugen Bleuler – empfahl der Tübinger Psychiater Wilhelm Mayer Büchners Lenz als gelungene Darstellung einer schizophrenen Psychose. Er las den Text als Beleg für seine These, dass »gewisse Formen und Zustandsbilder der Schizophrenie dem nachfühlenden Verständnis zugänglich« seien,1 und legte damit eine Lesart vor, die in der Psychiatrie und in der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts Karriere machte.2 Aus der Sicht vieler Literaturund Psychiatriehistoriker sind derartige Zuschreibungen freilich anachronistisch. Sie projizieren ein Krankheitsbild, das erstmals 1908 beschrieben wurde, auf einen rund achtzig Jahre früher entstandenen Text zurück, ohne über die Historizität der Krankheitsbegriffe zu reflektieren. In seiner Monographie Melancholie und Landschaft richtet sich Harald Schmidt daher zu Recht gegen solche Zuschreibungen sowie die damit verbundene retrospektive Diagnostik und plädiert dafür, die für Büchner zeitgenössischen psychiatrischen Kontexte stärker in die Deutung einzubeziehen.3 Obschon Schmidts Kritik an anachronistischen Deutungen, mit denen die Psychiatrie meist nur ihre eigenen Konzepte zu stabilisieren versucht, berechtigt ist, scheint die Anwendung – aktueller wie historischer – psychiatrischer Kategorien auf Büchners Lenz dennoch nahe zu liegen. Oft mobilisieren solche Deutungen nämlich Elemente, die im Text bereits vorhanden sind. Zum einen hat Büchner bei der Ausarbeitung seiner Schriften – auch des Woyzeck-Fragments – nachweislich psychiatrische Quellen benutzt. Er hat diesen Quellen

|| 1 Wilhelm Mayer: Zum Problem des Dichters Lenz. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 62 (1921), S. 889f., hier ebd. 2 Walter Moos: Büchner’s »Lenz«. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 42 (1938), S. 97–114; Walter Jens: Schwermut und Revolte: Georg Büchner. In: Ders.: Von deutscher Rede. München, Zürich 1983 [zuerst 1964], S. 109–132; Gerhard Irle: Der psychiatrische Roman. Stuttgart 1965, S. 73–83; Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Frankfurt a. M. 1977, S. 7; Sabine Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. Stuttgart 1991, S. 120. 3 Harald Schmidt: Melancholie und Landschaft. Die psychotische und ästhetische Struktur der Naturschilderungen in Georg Büchners »Lenz«. Opladen 1994, »Einleitung«, bes. S. 21.

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Sachverhalte und diverse Fachbegriffe, darunter »alienatio mentalis« oder »fixe Idee« (MBA 7.2, H 2,6), entnommen. Darüber hinaus weist der Text – und darauf kommt es hier an – formale Gemeinsamkeiten mit psychiatrischen Fallbeschreibungen und Krankengeschichten auf, die, wie ich im Folgenden zeigen möchte, auf der Ebene des discours zu verorten sind. Der Bezug zwischen Lenz und der Psychiatrie erschließt sich daher nicht primär über Inhalte und Gegenstände, d. h. im Blick auf das, was dargestellt wird. Angemessener erschließt er sich, wenn man die Art der Darstellung, das Wie, mit einbezieht und mit historischen Erzähl- und Notationsformen der Psychiatrie vergleicht. Welche formalen Kriterien und Schreibpraktiken sind es also, die den Text im 20. Jahrhundert als psychiatrischen Fall haben erscheinen lassen? Die Untersuchung formaler Kriterien wird sich besonders auf drei zentrale Aspekte konzentrieren: Erstens auf diarische Aufzeichnungsverfahren, zweitens auf die Verlaufsdarstellung und Verzeitlichung der Krankheit sowie drittens auf die Präsentation von direkter Rede. Als psychiatrische Referenztexte werden Johann Christian Heinroths Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens (1818) sowie Karl Ludwig Kahlbaums Schrift über das Spannungsirresein (1874) herangezogen.4

1 Diarische Aufzeichnungsverfahren Zur Entstehungszeit von Büchners Text war die Psychiatrie weder eine wissenschaftliche Disziplin im modernen Sinn noch ein eigenes medizinisches Fach. Um 1830 existierten kaum Lehrstühle, nur wenige Fachzeitschriften waren gegründet und die meisten von ihnen anthropologisch oder juristisch-staatsrechtlich orientiert. Institutionell dominierten sogenannte Asyle und Privatheilanstalten, deren Leiter oft autokratisch regierten und in denen kaum einheitliche Nosologien entwickelt wurden.5 Die fachwissenschaftliche Diskussion konzentrierte sich vielfach auf Fragen von Anthropologie und Krankheitslehre.6 Die

|| 4 Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Erster oder theoretischer Theil und Zweyter oder praktischer Theil. Leipzig 1818; Karl Ludwig Kahlbaum: Die Katatonie oder das Spannungsirresein. Eine klinische Form psychischer Krankheit. Berlin 1874. 5 Eric J. Engstrom: Clinical Psychiatry in Imperial Germany. Ithaca 2003, S. 1 u. 3. 6 Udo Benzenhöfer: Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hürtgenwald 1993, S. 76–156.

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spezifische Formenlehre bildete zwar einen Teil der vorhandenen Lehrbücher,7 sie war allerdings oft umstritten und kaum standardisiert. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Psychiatrie dagegen zu einer einflussreichen klassifikatorischen Wissenschaft aufgestiegen, die über weite Strecken taxonomisch organisiert ist und das Experiment wie auch die hirnanatomische Sektion als Erkenntnisverfahren der Forschung etabliert hat. Büchners Erzählung steht am Beginn dieses Umbruchs. Einerseits lässt sie sich auf die anthropologisch ausgerichtete Anstaltspsychiatrie beziehen,8 andererseits weist die Erzählung Elemente einer psychiatrischen Nosographie auf, die in Zusammenhang mit der Entwicklung eines standardisierten Klassifikationssystems steht. Dabei kommt der diarischen Notationsweise zunächst eine besondere Rolle zu. Büchners Text ist – wie eine seiner wesentlichen Vorlagen, Oberlins Bericht – zum Teil chronologisch organisiert. Er umfasst einen Zeitraum von wenigen Wochen, der dem Aufenthalt des historischen Lenz im Steinthal entspricht. Bemerkenswert ist, wie dieser Zeitraum innerhalb der Erzählung strukturiert wird. Als Zeiteinheit fungiert meist der Tag, dessen Anbruch auffällig oft notiert wird. Lenz beginnt mit einer Datumsangabe »den 20. ging Lenz« (MBA 5, S. 31), der Zeitabschnitt reicht bis zum Morgen nach der Ankunft und schildert die nächtliche Unruhe sowie die Brunnenepisode. Der zweite Tag wird mit »Den anderen Tag« (ebd., S. 33) eingeleitet. Darauf folgt die diesmal allerdings etwas vagere Zeitangabe »eines Morgens« (ebd., S. 34), erneut gefolgt von den Angaben: »des Morgens« (ebd.), »Der Sonntagmorgen kam« (ebd., S. 35), »am folgenden Morgen« (ebd., S. 36), »Am folgenden Tag« (ebd., S. 39), »Am dritten Hornung«, (ebd., S. 42), »Am vierten« (ebd.), »Am folgenden Tag« (ebd., S. 43), »Einige Tage darauf« (ebd.), »Am folgenden Morgen« (ebd., S. 44), »Den folgenden Morgen« (ebd., S. 46), »Den 8. Morgens« (ebd.), »Am folgenden Morgen« (ebd., S. 49). Insgesamt enthält der Text achtmal die Nennung ›Morgen‹, dreimal ist vom ›folgenden Tag‹ die Rede und an vier weiteren Stellen finden sich mehr oder weniger vollständige Datumsangaben. Während die Nennung ›Morgen‹ und ›am folgenden Tag‹ jeweils den Tag zur Zeiteinheit der Erzählung macht und der Erzähler an jedem neuen Tag auch von Neuem zu erzählen ansetzt, gliedert die Datumsangabe den Gesamttext auf einer übergeordneten Ebene, die einen ka-

|| 7 Eine Einteilung nach Gruppen und Arten liegt bei William Cullen vor, der sich auf Linné bezieht. Philippe Pinel und Johann Christian Reil entwickelten einfache Formenlehren, siehe Benzenhöfer: Psychiatrie und Anthropologie (s. Anm. 6), S. 64. 8 So auch Sabine Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners (s. Anm. 2), S. 120.

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lendarischen Index hat. Den einzelnen Tagen werden wie im Tagebuch oder in der Chronik zudem konkrete Ereignisse zugewiesen. Am ersten Tag findet der gemeinsame Ausritt statt, am zweiten ein Spaziergang, am dritten die Predigt. Es folgen Gespräche über den Somnambulismus und über die Kunst. Einen gewissen Bruch mit der an der Erzähleinheit des Tages ausgerichteten narrativen Ordnung stellt der Hüttenbesuch nach Oberlins Abreise dar, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und neben der Nacht auch den nächsten Morgen einschließt. Die Datumsangaben finden sich dagegen an vier wesentlichen Punkten der Erzählung und sind je nach Textedition mehr oder weniger vollständig. Konkrete Datumsangaben sind für den Tag der Ankunft (»Den 20.«), in der Mitte von Lenz’ Aufenthalt (»Am dritten Hornung«, »Am vierten«) und für den Tag der letzten Selbstverletzung (»Am 8. Morgens«) verzeichnet. Offenbar markieren sie besonders signifikante Ereignisse: Am »20. Januar« kommt Lenz im Steinthal an. »Am vierten« versucht er die Erweckung des toten Kindes. Am »8.« findet die letzte Selbstverletzung statt, danach reist er ab. Die Mehrzahl der Zeit- und Datumsangaben hat Büchner Oberlins Text entnommen, der ebenfalls chronologisch organisiert ist.9 Nur an zwei Stellen weicht er von der Vorlage ab und fügt eigene Angaben hinzu, einmal eine Tagesangabe, einmal die letzte Datumsangabe. Der Vergleich mit der Vorlage legt nahe, dass Büchner unmittelbar aus Oberlins Bericht abgeschrieben, dass er die Formulierungen des Berichts und damit auch die Zeitangaben beim Abfassen des Lenz übernommen hat.10 Die diarische Notationsweise steht zunächst also mit einer konkreten Vorlage, dem Bericht, in Zusammenhang. Darüber hinaus ist die Schreibweise in einem breiteren historischen Kontext situiert. Sie hat Bezüge zum Tagebuch, das als Zeitabschnitt ebenfalls den Tag wählt und als religiöse, biographische oder alltagspraktische Notationsform im 18. Jahrhundert weit verbreitet ist. Ferner liegen Bezüge zur erwähnten Chronik auf der Hand. Zugleich aber, und das ist für den vorliegenden Kontext entscheidender, weist die diarische Schreibweise Parallelen zu medizinischen Nota-

|| 9 Siehe dazu MBA 5, S. 53ff. und S. 230ff. Eine Ausnahme bilden die Angabe »Am folgenden Tag« (ebd, S. 62) sowie die Angabe »Den 8. Morgens« (ebd., S. 72). Zu den Textübereinstimmungen zwischen Oberlins Bericht und Büchners Text vgl. auch Hubert Gersch: Der Text, der (produktive) Unverstand des Abschreibers und die Literaturgeschichte. Johann Friedrich Oberlins Bericht Herr L…. und die Textüberlieferung bis zu Georg Büchners Lenz-Entwurf. Tübingen 1998. 10 Über den Schreibprozess bei Lenz ist wenig bekannt; vgl. aber die Abschnitte zur Werkgenese in MBA 5, Editionsbericht, 2.2 und 2.3. Zu Büchners wissenschaftlichem Schreiben auch Helmut Müller-Sievers: Of Fish and Men: The Importance of Georg Büchner’s Anatomical Writings. In: MLN 118.3 (2003), S. 704–718.

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tionsformen auf, insbesondere zu den sogenannten Krankenjournalen. Darunter versteht man ein Genre, das im 19. Jahrhundert geläufig war und als dessen Zeiteinheit ebenfalls der Tag fungierte. Journale sind sowohl in der ärztlichen Praxis als auch in Hospitälern in Gebrauch. Sie wurden – wie das in einer modernen Edition vorliegende Krankenjournal von Samuel Hahnemann11 – oft in Kladden geführt. Auch die Schreibpraxis lässt sich anhand dieser Edition teilweise rekonstruieren. Nach der Datumsangabe notierte Hahnemann meist den Namen der Patienten, die Krankengeschichte und die Verordnung. Anders als Praxisjournale verzeichnen Hospitaltagebücher die gesamte Krankengeschichte über mehrere Tage. Der Eintrag erfolgt nicht nur am Tag der Konsultation, sondern vielfach in eigens dafür vorgesehenen Spalten. Zudem verzeichnen Krankenhausjournale die Aufnahme und die Entlassung eines Patienten. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts wird diese Notationsform zunehmend formalisiert.12 Die verwendeten Formulare gaben meist die Frequenz der Aufzeichnung vor, indem sie einzelne Spalten für die täglichen Einträge vorsahen. Büchners Tages- und Datumsnennungen strukturieren den Text in einer Weise, die eine grundsätzliche Nähe zu den durch klinische Krankenjournale vorgegebenen Aufzeichnungsverfahren aufweist. Er verzeichnet die Ereignisse tageweise und gibt auch über die Ankunft und die Abreise Auskunft.

2 Die Konturierung des Krankheitsverlaufs Neben der Dauer des Aufenthaltes und der Anordnung von Ereignissen nach der Erzähleinheit des Tages ist ferner die Aufzeichnung des Krankheitsverlaufes relevant. Im Gegensatz zur diarischen Notationsweise, die vielfach durch ein Formular vorgegeben ist und Ereignisse nach der Zeiteinheit ›Tag‹ verzeichnet, geht es bei der Verlaufsnotation meist darum, ein Geschehen in seiner Dynamik zu erfassen. Auch Büchners Erzählung skizziert einen Krankheitsverlauf, indem er die Zu- und Abnahme einzelner Symptome darstellt. Lenz’ wahnhaftes Erleben, die Vorstellung, ein Mörder zu sein, nehmen im Anschluss an die Hüttenepisode eine neue Intensität und Frequenz an. Nach der Begegnung mit dem Kind tritt der Wahnsinn jedenfalls deutlicher zutage, wie sich an der Erwäh-

|| 11 Samuel Hahnemann: Krankenjournal D 2 (1801–1802). Nach der Edition von Heinz Henne, bearbeitet von Arnold Michalowski. Heidelberg 1993. 12 Volker Hess: Formalisierte Beobachtung. Die Genese der modernen Krankenakte am Beispiel der Berliner und Pariser Medizin (1725–1830). In: Medizinhistorisches Journal 45 (2010), S. 293– 340.

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nung neuer Symptome erkennen lässt. Nach der Hüttenepisode folgt z. B. der Verlust bestimmter Sprachfunktionen. Lenz spricht nun in abgebrochenen Sätzen. (»Er sprach später noch oft mit Madame Oberlin davon, aber meist nur in abgebrochenen Sätzen«, MBA 5, S. 42). Zudem wird die Frequenz einzelner Symptome, z. B. der Selbstverletzungen, gesteigert. Büchner versucht den Krankheitsverlauf so als ein dynamisches Geschehen zu konturieren und bedient sich dabei verschiedener rhetorischer und narrativer Mittel. Denn die Hüttenepisode markiert nicht nur einen Wendepunkt in der Krankengeschichte, nach der sich die Symptome intensivieren. Sie wird auch in einem anderen Modus erzählt. Die Erzählung schaltet an dieser Stelle auf eine szenische Erzählweise um, um die Vorgänge im Inneren der Hütte vor Augen zu stellen. Ausführlich werden akustische Eindrücke und die sich verändernden dämmrigen Lichtverhältnisse in der Hütte beschrieben: Lenz schlummerte träumend ein, und dann hörte er im Schlaf, wie die Uhr pickte. Durch das leise Singen des Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte das Sausen des Windes bald näher, bald ferner, und der bald helle, bald verhüllte Mond, warf sein wechselndes Licht traumartig in die Stube. (Ebd., S. 40)

Im Anschluss daran wechselt der Text in einen iterativen Modus (»Des Tags saß er gewöhnlich« [ebd., S. 41]). Der Wendepunkt im Krankheitsverlauf korrespondiert wohl nicht zufällig mit dem Wechsel der Erzählweise, die den Blick auf eine kritische Phase innerhalb des Krankheitsverlaufes richtet. Nach der Hüttenepisode konzentriert sich die Erzählung fast ausschließlich auf den Wahnsinn. Der Zeitraum wird engmaschiger (»Den Nachmittag«, »Beim Nachtessen«, »Um Mitternacht« [ebd., S. 44]), so als würde der bedenkliche Zustand des Kranken eine intensivere Beobachtungs- und Aufzeichnungsfrequenz erfordern. Jedem Tag sind jetzt mehrere Krankheitsereignisse zugeordnet, die meist summarisch oder iterativ präsentiert werden. Büchner erzählt einmal, was sich mehrmals ereignet (»War er allein, oder las er, war’s noch ärger« [ebd., S. 46]; »Die Zufälle des Nachts steigerten sich auf’s Schrecklichste« [ebd., S. 47]). Die sich stetig erhöhende Frequenz der Notate indiziert, dass sich der Krankheitsverlauf dem kritischen Stadium annähert. Nach dem »dritten Hornung« lässt sich ein regelrechtes ›Heraustreten der Gegenstände aus dem Wahnsinn‹ beobachten. Während Lenz schon zuvor oft »sprach«, »sang« und »recitirte« (ebd., S. 34) – meist »Stellen aus Shakespeare« (ebd.) – bestreicht er sich nun »das Gesicht mit Asche« (ebd., S. 42), ruft »den Namen Friederike« (ebd., S. 44), springt häufiger in den Brunnen und wird überhaupt immer unruhiger. Vielfach vollzieht der Text diese Unruhe auf der syntaktischen Ebene, so etwa gleich nach Lenz’ Ankunft im Steinthal:

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er stellte das Licht auf den Tisch, und ging auf und ab, er besann sich wieder auf den Tag […]; eine unnennbare Angst erfaßte ihn, er sprang auf, er lief durchs Zimmer, die Treppe hinunter, vor’s Haus; aber umsonst, Alles finster, nichts, er war sich selbst ein Traum [...]. (Ebd., S. 32f.)

Parallel gebaute Sätze werden parataktisch aneinandergereiht (»er sprang auf«, »er lief durchs Zimmer« [ebd., S. 33]), wodurch der Eindruck der Beschleunigung vermittelt wird. Der Übergang in Ellipsen führt fast bis zur Auflösung der Erzählform. Genau an der Stelle höchster Intensivierung – gegen Ende der Erzählung – schaltet sich der Erzähler mit einem Kommentar ein: »Die halben Versuche zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren nicht ganz Ernst« (ebd., S. 47). Derartige Verlaufskonturierungen – die Darstellung eines Wendepunktes durch den Wechsel des Modus, die Erhöhung der Frequenz sowie parataktische Reihungen kurzer Sätze zur Darstellung von Unruhe – sind keine Besonderheit der Büchner’schen Erzählung. Sie finden sich in ähnlicher Form auch in zeitgenössischen psychiatrischen Texten. Der in Leipzig tätige Psychiater Johann Christian Heinroth stellt in seinem Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens Krankheitsverläufe mit vergleichbaren Mitteln dar. Wie Büchner unterscheidet er Anfang, Mitte und Höhepunkt der Krankheit und verleiht der Seelenstörung damit eine temporale Dimension, die nach dem traditionellen Muster coctio – crisis – lysis organisiert ist.13 Bei der Darstellung des Verlaufs bedient er sich ebenfalls rhetorischer und narrativer Mittel, wie folgende Passage zeigt: Den Anfang (das erste Stadium) macht ein hastiges Treiben, unruhiges Hin- und Herbewegen ohne Zweck und Ziel; fremdes, auffallendes Betragen gegen die bekanntesten Personen; zweckwidrige, widersinnige Fragen, Aeußerungen, Handlungen, die es augenblicklich bemerken lassen, daß der Kranke nicht bey sich ist; endlich: ein ungewöhnliches, auffahrendes, stolzes, oder zärtliches, schwärmerisches, phantastisches Benehmen. Und dieser Zustand dauert wiederum einige Tage. Im zweyten Stadium fängt der Kranke an Alles um sich und an sich als Gegenstände einer andern als der gegenwärtigen Umgebung zu behandeln: er scheint Gegenstände vor sich zu sehen, Töne zu vernehmen, sich mit Personen zu unterhalten, die nicht vorhanden sind [...]. Allmählig rücken die Gegenstände seines Wahnes näher, gedrängter, deutlicher zusammen. Ganz von der Außenwelt abgeschnitten, treten nun die Beziehungen seines Zustandes, die bis jetzt noch wie ver-

|| 13 Zur Krise und zum Krankheitsverlauf siehe allgemein: Georg Ernst Stahl’s Theorie der Heilkunde. Hrsg. v. Karl Wilhelm Ideler. Zweiter Theil. Pathologie. Berlin 1831, S. 274; C. G. Carus: Vorlesungen über Psychologie gehalten in Winter 1829/1830 zu Dresden. Mit einer Einführung und Anmerkungen. Hrsg. v. Edgar Michaelis. Zürich, Leipzig 1931, S. 245f., dort wird Krise als Epoche definiert, in der »die Entwicklung der Krankheit einen Wendepunkt zum Besseren oder Schlechteren findet«.

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deckt und in seinem Innern verborgen gelegen hatten, aus ihm hervor und verrathen sein Inneres: die Empfindung, die Leidenschaft, von der es erfüllt, entzündet ist, und verzehrt wird: er spricht, wie ein Trunkener, ohne Rückhalt das Geheimniß seines Herzens aus. Und dieß ist die Höhe der Krankheit. [...] Man sollte meinen, vermöge dieser Lebendigkeit der Affection hielt jener Zustand nicht lange aus; die Natur ertrüge solche Ueberspannung nur kurze Zeit; und dennoch dehnt er sich nicht selten auf mehrere Wochen, ja Monate aus, nur nicht immer in gleicher Heftigkeit. Doch ohne wahre Intervallen, ohne eigentliche ganz klare Zwischenzeiten. Wenn diese eintreten, dann ist der Kranke auf dem Wege zur Genesung entweder, oder zum Uebergange in eine andere Form von Seelenstörung. Und dieses Eintreten der Intervallen macht das dritte Stadium der Krankheit aus. Die erschöpfte Natur verlangt Ruhe; der Schlaf stellt sich, wenigstens einiger Maßen, wieder ein; der Kranke nimmt wieder mit weniger Widerwillen mehr Nahrung zu sich; seine Träume mischen sich wieder mit Anschauungen der Außenwelt; lebhaft eindringende Sensationen erregen wieder einzelne natürliche Rückwirkungen; die Erinnerung erhält zuweilen ihre Rechte und ein plötzliches Erstaunen, wie beym schnellen Erwachen vom Schlafe, verräth den wiederkehrenden Geist, der aber sehr bald wieder in seine Traumgewebe eingesponnen wird, bis am nächsten Tage (nicht leicht an demselben) oder nach einigen Tagen, wieder ein ähnlicher Augenblick von Klarheit, oder auch eine längere Dauer derselben erscheint.14

Die Passage stammt aus einem Abschnitt von Heinroths Lehrbuch, der sich mit dem Verlauf einer konkreten Seelenstörung, des Wahnsinns, befasst. Heinroth unterscheidet drei Stadien der Krankheit, ein anfängliches Stadium, ein Stadium des Höhepunktes und den Ausklang. Dem mittleren Stadium wird dabei der größte Raum beigemessen. Bezeichnend ist, dass diese Stadien nicht nur beschrieben werden, sondern dass bei der Beschreibung auch jeweils unterschiedliche rhetorische und narrative Mittel zum Einsatz kommen. Während Heinroth einzelne Krankheitssymptome des ersten Stadiums aufzählt und der Abfolge der Symptome dabei keine Relevanz zukommt (»Treiben, unruhiges Hin- und Herbewegen ohne Zweck und Ziel; fremdes, auffallendes Betragen gegen die bekanntesten Personen; zweckwidrige, widersinnige Fragen, Aeußerungen, Handlungen«), wird im zweiten Stadium ein Geschehen skizziert, das sich durch eine definierte Dauer auszeichnet und sich zudem sukzessiv-steigend entfaltet. Auf die bloße Wahnwahrnehmung von nicht vorhandenen Gegenständen folgt deren Intensivierung, die dann in einem gänzlichen Abgeschnittensein von der Außenwelt resultiert. Die Symptome folgen nicht mehr nur einfach aufeinander. Sie entwickeln sich in sich steigernder Reihe auseinander. Darüber hinaus tritt das Erleben des Kranken deutlicher in den Mittelpunkt. Erzählt wird nah am Erleben des Kranken, von dem sich der Beobachter jedoch mit Ausdrücken wie »er scheint Gegenstände vor sich zu sehen« zugleich distanziert, weil er ihn von || 14 Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens. Erster Theil (s. Anm. 4), S. 261–263.

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außen betrachtet und über die tatsächlich vorhandenen, inneren Wahrnehmungen keine Auskünfte zu geben vermag.15 Bei der Beschreibung des dritten Stadiums tritt eine weitere Dimension hinzu: Jetzt wird der Intervallcharakter der Symptome hervorgehoben, der im Sinne einer Regeneration gedeutet werden kann und eine Phase charakterisiert, in der die Gesundheit mit der Krankheit in ein agonales Verhältnis tritt. Die drei Stadien des Wahnsinns werden damit nicht nur durch ihre zeitliche Folge oder ihre Stellung innerhalb einer Serie von Phasen definiert, sondern auch durch die Art der Darstellung voneinander unterschieden. Jeder Phase lässt sich ein jeweils eigener Modus zuordnen, der als Folge, Steigerung und Kampf begriffen werden kann. Darüber hinaus werden in den jeweiligen Stadien unterschiedliche zeitliche Adverbien (»allmähli[ch]«, »wieder«) verwendet, die vom Einsatz weiterer dramatisierender Mittel (»nun«; das nahe Erzählen am Erleben der Figur) flankiert sind. Die Mühe, die Heinroth auf die narrative und rhetorische Konturierung des Krankheitsverlaufes verwendet, wirft zunächst die Frage auf, warum dem Verlauf überhaupt eine so zentrale Stellung innerhalb des Lehrbuches zukommt.16 Zunächst könnte der Einsatz dramatisierender und rhetorischer Verfahren eine Konzession an die Leser sein, die nicht nur belehrt, sondern auch unterhalten werden möchten. Bei Heinroth haben Verlaufsdarstellungen jedoch eine besondere Funktion, die über die Intention, den Leser zu unterhalten, hinausgehen. Die Darstellungsweise hängt mit seinem spezifischen Ansatz zusammen: Heinroth versucht – und das macht ihn entgegen der üblichen Einordnung als Rationalist und Psychiker interessant –, psychische Krankheiten distinkt voneinander zu unterscheiden und eine Formenlehre zu entwickeln, die sich von der Einheitspsychose Griesingers unterscheidet. Im Rahmen dieser Formenlehre kommt dem Krankheitsverlauf eine zentrale Rolle zu. Er wird zu einem distinktiven Aspekt innerhalb der Formenlehre. Denn er gehört zum je »specifische[n] Charakter«17 der jeweiligen Geistesstörung, insofern erst die zeitliche Veränderung der Symptome ermöglicht, einzelne Krankheitsformen distinkt voneinander zu unterscheiden. Nicht die Geisteskrankheit im Allgemeinen hat

|| 15 Im Vergleich zu Büchners Lenz hält Heinroth eine gewisse Distanz zum Kranken aufrecht und schaltet sich öfter mit moralisierenden Kommentaren ein. 16 Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1978, S. 78ff.: »Von der Nosographie zur Krankengeschichte«. Lepenies verwendet das Wort ›Nosographie‹ besonders im Blick auf die Klassen und Ordnungen der Krankheiten und interessiert sich für den Umbruch einer am Klassifikationssystem orientierten Nosographie hin zu einer klinisch nahen Aufzeichnungsform wie der Krankengeschichte. 17 Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens. Erster Theil (s. Anm. 4), S. 260.

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damit einen Verlauf. Jede einzelne Seelenstörung wird durch eine Abfolge von Krankheitszeichen spezifisch definiert und von der anderen unterschieden. Begrifflich ist sie durch ihr proprium charakterisiert, durch ein dominantes Symptom: das des Wahnsinns ist etwa das Traumerleben. Zeitlich ist der Wahnsinn jedoch durch das Stadien-Schema determiniert. Der Verlauf bildet – und das ist eine wichtige Neuerung des Heinroth’schen Systems –eine Grundlage der Formenlehre und den Ausgangspunkt für die spätere Klassifikation.18 Er wird zu einem wesentlichen Pfeiler des taxonomischen Systems. Deshalb misst Heinroths Lehrbuch, wie Büchners Erzählung, dem Verlauf der psychischen Krankheit eine besonderes Augenmerk zu. Die Erzählweise, d. h. der Versuch, die unterschiedlichen Stadien durch die Verwendung einer jeweils anderen Erzählweise zu differenzieren, hat allerdings eine Platzhalterfunktion. Die Erzählstrategie tritt an die Stelle eines empirischen Belegs und einer exakt präzisierten, quantitativen Verlaufsangabe. Erst mit dem Aufkommen empirisch-statistischer Erfassungsmethoden – mit Fragebögen, Datenbanken oder gezielten Katamnese-Studien – wird eine exaktere Verlaufserforschung möglich, und die auf Einzelbeobachtungen basierenden Beschreibungen werden durch statistisch ermittelte Verläufe ersetzt. Bei Heinroth sind die Stadien mit Hilfe von erzählerischen und rhetorischen Mitteln repräsentiert und auf der Ebene des discours moduliert. Dieses Vorgehen ist bis weit ins 19. Jahrhundert nicht unüblich. Viele der modernen psychiatrischen Krankheiten, wie die Schizophrenie oder die Dementia praecox, gewinnen ihre Konturen in literarisch geformten Erzähltexten und damit durch eine spezifische Verknüpfung von Erzählform und Erzählinhalt bzw. durch die Kombination narrativer Darstellungsmittel und -anordnungen mit spezifischen psychopathologischen Aspekten. Das gilt für die Fallerzählungen in Lehrbüchern ebenso wie für die Krankheitsdarstellungen literarischer Pathographien, etwa für Büchners Lenz. Bislang ist dieser Zusammenhang von Erzählung, psychiatrischer Nosographie und Konzeptentwicklung allerdings weder in historischer noch in systematischer Hinsicht angemessen erfasst.

3 Verrückte Rede: Zeigen versus Erzählen Büchners Text lässt sich nicht nur aufgrund seiner diarischen Notationsform und Verlaufskonturierung mit psychiatrischen Schreibweisen vergleichen. Eine

|| 18 Siehe zur Weiterführung des Ansatzes bei Kraepelin die Verfasserin: Verrückte Sprache. Psychiater und Dichter in der Anstalt des 19. Jahrhunderts. Konstanz 2012, S. 63–160.

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weitere Parallele betrifft die Darstellung von verrückter Rede. An verschiedenen Stellen des Textes kommt Lenz selbst zu Wort. Gleich zu Begrüßung sagt er: »Ich bin ein Freund von« (MBA 5, S. 32). Später, als Oberlin ihm den Wunsch des Vaters mitteilt, Lenz solle nach Hause kommen, antwortet er: »Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort?« (ebd., S. 39). Oft steht die direkte Rede im Zusammenhang mit Affekten und Erregungszuständen, später besonders mit einem toten Mädchen, das Lenz hatte retten wollen und das offenbar Erinnerungen an eine frühere Begegnung wachruft. Nach der Hüttenepisode etwa fragt Lenz Frau Oberlin: »Beste Madame Oberlin, können Sie mir nicht sagen, was das Frauenzimmer macht, dessen Schicksal mir so centnerschwer am Herzen liegt?« (ebd., S. 41).

Später sagt er zum Pfarrer: »Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel. Woher wissen Sie das? – Hieroglyphen, Hieroglyphen – und dann zum Himmel geschaut und wieder: ja gestorben – Hieroglyphen« (ebd., S. 46).

Die zweite Passage stellt einen Dialog zwischen Oberlin und Lenz dar, in dem Lenz bereits als Wahnsinniger spricht. Die Rede wird als direkte Figurenrede vor Augen geführt und lässt sich dadurch in ihren formalen Besonderheiten vom Leser unmittelbar erschließen. Ist Lenz’ Sprache schon zuvor von Emotionsausdrücken und überschwänglichen Anreden wie »Beste Madame Oberlin« geprägt, spricht er mit Oberlin danach deutlich nicht mehr nur in einem pathetischen Redemodus. Die Sprache ist keineswegs nur mehr affektiv, sie wird jetzt ferner agrammatisch und unverständlich. Zwar kann sich der Leser erschließen, was mit dem Wort »Engel« gemeint sein könnte. Die Antwort: »Hieroglyphen« (MBA 5, S. 46), ist dagegen weniger leicht zu entschlüsseln. Womöglich spielt Lenz damit auf ein ihm im Traum oder auf anderen Wegen übermitteltes Wissen an.19 Auf den ersten Blick bleibt der Satz: »ja gestorben – Hieroglyphen«, aber unverständlich und elliptisch. An dieser Stelle wird das klassisch-pathetische genus dicendi zum Passepartout des Wahnsinns und die Rede selbst zu einem weiteren Indiz für den offenbar zunehmend kranken Geisteszustand von Lenz. Dass Büchner der direkten Rede des Wahnsinns ein besonderes Augenmerk beimisst, zeigt ferner der Umstand, dass er die Rede an einer zentralen Stelle innerhalb der Handlung platziert.

|| 19 Vgl. MBA 5, S. 471, Erl. zu 71,21.

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Auch in dieser Hinsicht weist Büchners Text Gemeinsamkeiten mit psychiatrischen Krankengeschichten auf. Besonders ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen Wahnsinnige in direkter Rede zu Wort. Die Krankengeschichten wechseln damit vom Modus des Erzählens in den Modus des Zeigens. 1870 untersucht z. B. der Psychiater Karl Ludwig Kahlbaum zusammen mit seinem Kollegen Ewald Hecker in der Görlitzer Irrenanstalt die Sprache der Geisteskrankheiten und versucht, vom Sprechmodus der Patienten auf das Vorliegen einer Krankheit zu schließen.20 Als Materialien für ihre Sprachanalyse verwenden Kahlbaum und Hecker unter anderem Briefauszüge, die das Gesagte vor Augen stellen und die der Rede des kranken Lenz bei Büchner ähneln. Folgende Passage ist Ewald Heckers Schrift über die Hebephrenie entnommen: »Meine liebe gute Mamma! Tausendmal seist Du gegrüßt von Deiner Tochter Karoline mit heissen Tränen und bannen Schmerz bring ich Dir meine herzlichen Glückwunsche dar, Freude blühe Dir auf Deinem schmallen Weg des Lebens ohne Dich such ich vergebens an die fremde Freundschaftskette zu gewöhnen. Doch die Zeit und Stunde wird mir lehren. Die Blumen sind verwelkt die frischen will ich Dir mit offenen Armen und einen freudevollen Kuss mit feichtem Auge küss ich Dir Hand Gesicht lebe recht lange behalte lieb Deine Tochter Karoline E.«21

Es handelt sich um einen Briefauszug, den Hecker in seine Krankengeschichte aufnimmt.22 Die Briefanalyse konzentriert sich auf formale Besonderheiten der Rede. Hecker erwähnt neben anderem die eigentümliche Abweichung vom Satzbau, das agrammatische Sprechen, das er als ›Nachlässigkeit in der Verknüpfung‹ bezeichnet. Ferner moniert er den Wechsel in der »Construction«,23 den er – wie auch die fehlende Interpunktion – als mangelnde Gliederung und Planlosigkeit interpretiert. Diese Besonderheiten sollen, wie bei Lenz, die Geistesverwirrung anzeigen und werden als deutliches Indiz einer Krankheit gewertet, die Hecker »Hebephrenie« nennt.24

|| 20 Yvonne Wübben: Pathos und Pathologie. Ewald Heckers psychiatrische Brieflektüren (1871). In: Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Hrsg. v. Cornelia Zumbusch. Heidelberg 2010, S. 139–152. 21 Ewald Hecker: Die Hebephrenie. Ein Beitrag zur klinischen Psychiatrie. In: Virchows Archiv 52 (1871), S. 394–429, hier S. 408. 22 Vielleicht hatte Büchner sogar vor, aus Lenz’ Briefen zu zitieren, darauf deutet die in die Erzählung eingeschaltete Arbeitsnotiz „Siehe die Briefe“ hin (MBA 5, S. 46; vgl. außerdem Editionsbericht ebd., S. 152). 23 Hecker: Hebephrenie (s. Anm. 21), S. 403f. 24 Ebd., S. 399.

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Auch bei Kahlbaum werden formale Redebesonderheiten, der Zerfall der Satzstruktur und häufige Wiederholungen, zu Zeichen der Krankheit, die sich unmittelbar zeigen. Der Unmittelbarkeitseindruck hängt erneut mit der Präsentationsweise zusammen, damit, dass Wissensobjekte – die verrückte Rede – ohne erzählerische Vermittlung vorgeführt werden. Das unmittelbare Zeigen von Rede gewann im 19. Jahrhundert insgesamt an Geltung und findet sich besonders in Abhandlungen und Krankengeschichten zur Schizophrenie bzw. zu ihrem Vorläuferkonzept, der Dementia praecox. Die 1893 erschienene, vierte Auflage von Emil Kraepelins Lehrbuch der Psychiatrie, in dem die Dementia praecox eingeführt wird, stellt die Rede von Patienten ebenfalls direkt dar.25 Eugen Bleuler folgt dieser Präsentationsweise in seinem eingangs bereits genannten Schizophrenie-Buch. Die Worte des Wahnsinns werden bei Bleuler sogar vom Fließtext abgesetzt und fallen dem Leser unmittelbar ins Auge.26 Was folgt nun aus dem Umstand, dass sich zwischen psychiatrischen Krankengeschichten und Büchners Text einige grundlegende formale Gemeinsamkeiten identifizieren lassen? Was bedeutet es, dass Büchner mit Heinroth die Verlaufskonturierung durch rhetorische und narrative Mittel und mit Kahlbaum, Kraepelin und Bleuler die unmittelbare Präsentationsweise von verrückter Rede teilt? Besonders für die Rezeptionsgeschichte des Textes dürften diese Parallelen eine Rolle gespielt haben und ich komme damit zu meiner Ausgangsfrage zurück. Dass Büchners Text 1921 als Fallstudie einer Schizophrenie gelesen werden konnte, hängt auch mit den formalen Texteigenschaften zusammen. Wie Psychiater konzentriert sich Büchner auf die Beschreibung des Krankheitsverlaufes, der um 1900 zugleich für die Dementia praecox bzw. die Schizophrenie relevant ist und sich schon bei Heinroth nachweisen ließ. Mit der Darstellung direkter Rede weist der Text ein zweites Moment moderner Nosographie auf, das eng mit der Schizophrenie assoziiert ist. Die Parallelen könnten zufällig sein oder auf ein konstitutives Verhältnis von Literatur und Psychiatrie deuten, nämlich darauf, dass zahlreiche psychiatrische Krankheitskonzepte nicht nur an klinischen Krankengeschichten und Aktenmaterialien entwickelt wurden, sondern auch an literarischen Texten, insofern sie – wie sich jedenfalls bei Leopold von Sacher-Masoch und Richard

|| 4 25 Emil Kraepelin: Psychiatrie. Ein kurzes Lehrbuch für Studirende und Aerzte. Leipzig 1893, S. 450f. 26 Eugen Bleuler: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Leipzig und Wien 1911 (= Handbuch der Psychiatrie. Hrsg. v. Gustav Aschaffenburg. Spezieller Teil. 4. Abteilung, 1. Hälfte), S. 15.

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von Krafft-Ebing zeigen lässt – als Ausgangsbeispiele für bis dahin nicht beschriebene Krankheiten herangezogen wurden. Büchners Text bringt also etwas zur Darstellung, das unter bestimmten Umständen zum Gegenstand des psychiatrischen Wissens avanciert. Die psychiatrische Rezeption verdankt sich damit keineswegs dem Umstand, dass der Autor aufgrund seiner besonderen Beobachtungsgabe oder seiner Kenntnisse der Psychiatrie eine vorhandene, aber noch nicht beschriebene Krankheit angemessen dargestellt und so psychiatrisches Wissen vorwegnimmt.27 Dass Leser wie Wilhelm Mayer in Büchners Erzählung eine Fallgeschichte der Schizophrenie sehen konnten, lässt sich vielmehr auf ihre spezifische Schreibweise – auf die Darstellung des Verlaufs und der Rede – zurückführen. Darüber hinaus wurde diese Lesart sicher auch durch innerwissenschaftliche Voraussetzungen der sogenannten Verstehenden Psychiatrie – die davon ausging, dass psychotisches Erleben dem nachfühlenden Verständnis zugänglich sei – plausibel.28 Die vorliegende Analyse hat sich auf zentrale Aspekte der Nosographie konzentriert und ist der Frage nachgegangen, unter welchen historischen Bedingungen und aufgrund welcher formaler Texteigenschaften Lenz als Fallstudie der Schizophrenie gelesen werden konnte. Die Bedeutung des Textes erschließt sich allerdings keineswegs in der skizzierten, nosographischen Dimension. Die vorliegende Analyse wäre durch eine Vielzahl von wissensgeschichtlichen, ästhetischen wie innerliterarischen Aspekten zu ergänzen. Hier kam es lediglich darauf an zu zeigen, inwiefern Büchners Text, und zwar unabhängig von der Frage, welches Krankheitsbild er darstellt oder was er über die Natur von psychischen Krankheiten im Einzelnen aussagt, als psychiatrische Krankengeschichte rezipiert werden konnte. Die historischen Schreibweisen der Psychiatrie – die Verlaufskonturierung und die Darstellung von Rede – sind wichtige

|| 27 Zuletzt etwa: Yvonne Fauser: Die Vorwegnahme der medizinischen Erkenntnis von manischdepressiven Störungen in der Literatur – dargestellt an Büchners »Lenz« und »Leonce und Lena«. In: GBJb 11 (2005–08), S. 63–80; Weertje Willms: Wissen um Wahn und Schizophrenie bei Nikolaj Gogol und Georg Büchner. Vergleichende Textanalyse von »Zapiski sumassedosego« (»Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen«) und »Lenz«. In: Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien. Hrsg. v. Thomas Klinkert u. Monika Neuhofer. Berlin 2008 (= spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature. Komparatistische Studien / Comparative Studies. Hrsg. v. Angelika Corbineau-Hoffmann, Werner Frick 13), S. 89–109, hier S. 93. 28 Vgl. dazu Yvonne Wübben: Büchners Lenz. Geschichte eines Falls. Konstanz 2016. Weniger zentral ist dagegen die interne Fokalisierung auf das Erleben der Figur, die in der Forschung oft dafür verantwortlich gemacht wurde, dass die Erzählung zu einem Fall der Psychiatrie wird (vgl. etwa Willms: Wissen um Wahn und Schizophrenie, [s. Anm. 27], S. 102).

Büchners Lenz im Kontext psychiatrischer Aufzeichnungsformen | 221

Voraussetzungen für diese Lesart. Erst wenn sie in die Analyse mit einbezogen werden, lassen sich die rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhänge angemessen darstellen, erst dann ergibt sich ein neuer Blick auf die nosographische Dimension des Textes.

Alfons Glück (Marburg)

Büchners Sicht auf eine herrschende Klasse: Leonce und Lena (Mit einem Blick auf den »Doktor« im Woyzeck) I

Die »drahtpuppenartigen«, mechanisierten Vertreter der herrschenden Klasse

II

Eine Ausnahmeerscheinung: Prinz Leonce, ein Individuum

III

Die ›Welt‹ des Staates »Popo«

IV

Die Herrschaftsstruktur, in die das Individuum Leonce eingefügt und in der es stillgestellt wird

V

Die dramatische Struktur, Summe der Bewegungen und Gestikulationen sämtlicher Figuren)

VI

Der Riss in der Kulisse der Hofwelt: die Bauern-Szene

VII Die Perspektiven am Schluss der Komödie: (A) Eine erträumte: Phantasieflug nach »Capri« bzw. in ein neues »Popo« VIII Die Perspektiven am Schluss der Komödie: (B) Die reale Perspektive: Was von einem K ö n i g Leonce zu erwarten ist IX

Die hauptsächlichen Resultate knapp zusammengefasst

X

Über Leonce und Lena als »seidenes Schnürchen« und das Verhältnis von Lachen und Erkenntnis in Komödien verschiedenen Typs

XI

Büchner deutet an, wie es mit Leonce und Lena »gemeint« ist

I Die »drahtpuppenartigen«, mechanisierten Vertreter der herrschenden Klasse Es ist auffallend, dass im Werk Büchners die Angehörigen einer herrschenden Klasse und deren Personal, überhaupt alle, die Macht ausüben, die Bedrücker im Hessischen Landboten, auch Robespierre und Saint-Just in Dantons Tod, der König und seine Höflinge in Leonce und Lena, der Hauptmann und der Doktor im Woyzeck, keine Charaktere im eigentlichen Sinn des Wortes sind, sondern durchgehend Figuren, die aus wenigen funktionsbestimmten ›Eigenschaften‹ zusammengesetzt sind. Sie bleiben gleichsam zweidimensional. Gelegentlich wird so einer Figur noch etwas Menschliches angeheftet, wie dem Hauptmann im Woyzeck, um zu verhindern, dass sie als wandelnde Allegorien (Bildüberset-

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zungen eines Begriffs) die Bühne betreten; der harte Schematismus soll etwas aufgelockert werden. Solche Figuren sind nicht etwas, sondern stellen etwas vor. Sie gehen restlos in ihrer Rolle und Funktion auf. Wenn der Vorhang fällt, haben sie ausgespielt. Ein von der dramatischen Handlung unabhängiges Interesse können sie nicht beanspruchen. Es sind »Charaktermasken«, sie werden »der Doktor«, »der Hauptmann« genannt. Nicht zufällig haben sie keine Namen (wie in der Literatur oft bemerkt wurde). Das zeigt an, dass Büchner sie nicht als Individuen sieht. Er vergleicht sie mit Marionetten.1 Im Hessischen Landboten ist die Rede von der »Drahtpuppe« Minister, die ihrerseits wieder von anderen Puppen bewegt werde (»die fürstliche Puppe [...] und an dem fürstlichen Popanz zieht wieder ein Kammerdiener oder ein Kutscher oder seine Frau und ihr Günstling [...]«), oder er vergleicht sie mit »Automaten« (ähnlich dem Maschinenmenschen La Mettries). Es sind Figuren, die auf je verschiedene Weise ein Herrschafts-System repräsentieren. In diesem Rahmen »funktionieren« sie. »Marionetten« und »Automaten« sind geradezu der Inbegriff des Fremdbestimmten. Es ist kennzeichnend für diese Figuren, auswechselbar zu sein. Ihre Ersetzbarkeit zeigt an, wofür sie einzig und allein da sind. Wer könnte das von einem Individuum sagen? Wer wollte von Woyzeck oder Marie sagen, »wofür« sie da sind? Doch vom »Doktor« können wir das sagen, in klaren Worten. Der »Doktor« im Woyzeck: Er ist eine besonders eindrucksvolle Figur dieses Typus (die interessantesten sind die, denen man ihre Mechanisierung nicht auf den ersten Blick ansieht). Für ihn sollten wir uns besonders auch deshalb interessieren, weil er einen Menschenversuch durchführt! Seine Vorstellungen von Medizin bzw. Physiologie sind rein mechanistische. Sein Denken ist engstirnig, wie eingerastet; Zweifel kennt er nicht und Selbstkritik ist ihm völlig fremd. In seiner Gefühlskälte ist er wie erstarrt. Sein Benehmen ist »blockiert«. Nicht eine einzige menschliche Reaktion ist je an ihm zu beobachten. Etwas wie ein ›Seelenleben‹ kennt er nicht. Er führt an Woyzeck, der ihm durch Armut und Unwissenheit ausgeliefert ist, einen Menschenversuch durch, ein Experiment wie sonst an seinen Versuchstieren: mit katastrophalem Ausgang. Es bereitet ihm sichtlich Genuss, einen Wehrlosen einem solchen Experiment zu unterwerfen und sein Opfer zusätzlich noch ›vorzuführen‹ (wie in H3,1) und zu erniedrigen.

|| 1 Bes. eingehend hat Rudolf Drux diese bei Büchner weit ausgefächerte Metapher untersucht, zuletzt in »Holzpuppen«. Bemerkungen zu einer poetologischen ›Kampfmetapher‹ bei Büchner und ihrer antiidealistischen Stoßrichtung. In: GBJb 9 (1995–99), S. 237–253.

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Mitgefühl, Einfühlung – und damit Erkenntnisse, die nur so erlangt werden – sind ihm völlig fremd. Eine Folge dieser seelischen Blindheit ist seine Blindheit als Diagnostiker: grelle psychotische Symptome wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen sieht er nicht oder fasst sie als »fixe Ideen« auf, nennt sie auch ironisch »philosophieren«, was offenbar ›spinnen‹ in dem harmlosen Sinn des Wortes meint, wie wir es aus der Alltagssprache kennen. Dass er selbst zu einem Maschinenmenschen reduziert ist, ist Voraussetzung dafür, dass er Woyzeck als ein Objekt, wie Material behandeln kann, und ist überhaupt eine Voraussetzung für die Art Wissenschaft, die er im Dienst und im Interesse der Machthaber betreibt, von denen er ja auch sein Avancement (offensichtlich ist er Privatdozent) zu erwarten hat. Diese Behandlung eines Menschen als Objekt im Woyzeck – ich glaube nicht, dass ich zu weit abschweife, wenn ich sage: das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Begriffen, die wir täglich hören, doch kaum mehr »realisieren«, wie z. B. das nur scheinbar harmlose Wort »Arbeitskräfte«. Menschen werden veranschlagt als Arbeitskräfte, englisch »hands«: nur die Arbeit leistenden Glieder bleiben übrig, der Kopf fehlt. (An eine »Seele« zu denken, wäre geradezu sachfremd.) Es gibt Begriffe, die noch weit darüber hinausgehen, die ich jedoch nicht nennen will. Was Büchner durch die Mechanisierung solcher Figuren zum Vorschein bringt. – Dass Büchner die Inhaber der Herrschaft und ihr Personal, die ausführenden Organe, wie »Drahtpuppen« darstellt – sagen wir in heutiger Vorstellung: als Roboter – darin sehe ich einen einzigen Akt der Negation. Und diese Negation ist fundamentaler als jede punktuelle Kritik an der herrschenden Klasse. Durch solche drahtpuppenartige Figuren hindurch sollen wir den Charakter eines Systems erkennen, das von Figuren dieses Typs repräsentiert und getragen wird. Schon durch deren Bau (sagen wir ruhig »Machart«) wird das NichtMenschliche dieses Systems, das Maschinenartige dieser Herrschaft, das Roboterartige dieser Unterdrücker auf der Bühne realisiert, wird Anschauung. Wenn uns auch keineswegs auf den ersten Blick bewusst wird, was es mit Figuren dieses Typs auf sich haben könnte, der Eindruck des Kalten, NichtMenschlichen erreicht uns doch, auch unter der Bewusstseinsschwelle. Das Seelenlose und Unbarmherzige dringt in uns ein und erregt (ansteigend) Empörung und Abscheu. Diese Sichtweise steht in bezeichnendem Gegensatz zu Büchners Sicht auf die Niedergedrückten und Verfolgten (die Opfer dieser Mechaniker). Sie stellt er als Individuen dar, wie Woyzeck, Marie, Andres, die Namen tragen, sogar das kleine Kind, das noch nicht sprechen kann, Christian (etwa ein Jahr alt).

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Ich wüsste keinen Zug im dichterischen Werk Georg Büchners, der tieferen Aufschluss gäbe über den Charakter seiner Phantasie und ihre Perspektive als gerade diese Dichotomie: die mechanisierten Figuren der herrschenden Klasse – die Innensicht der »Geringsten«, der Armen, Deklassierten, seelisch Schwerkranken wie Lenz und Woyzeck. Und das gilt selbst für ›unscheinbare‹ Nebenfiguren wie Andres im Woyzeck.

II Eine Ausnahmeerscheinung: Prinz Leonce, ein Individuum Eine, vielleicht die einzige Ausnahme, dass Büchner ein Mitglied einer herrschenden Klasse als Individuum, als einen lebendigen Menschen darstellt, ist der Prinz in Leonce und Lena. Er ist nicht aus wenigen ›Eigenschaften‹ zusammengesetzt. Hier blicken wir in ein Inneres, in ein Seelenleben. Was Büchner hier aufzeigt, ist der innere Niedergang einer herrschenden Klasse. Mit diesem interessanten Fall wollen wir uns eingehend befassen. Wir werden an diesem Prinzen eine seelische Verdüsterung und auch erste Zeichen eines Abgleitens in Richtung auf das Unlebendige, Mechanisierte beobachten. Nichtstun. – Die Haupttatsache seines Daseins scheint mir, dass dieser Prinz, der demnächst das Regiment übernehmen muss, nichts zu tun vorfindet – als ob er völlig in Untätigkeit eingeschlossen wäre. Dieses Nichtstun muss ihn zermürben, auf die Dauer zerrütten. Es gleicht einer depressiven Hemmung. Ist darin nicht auch ein Moment von Verzweiflung? Gleich in der ersten Szene sehen wir ihn Sand in die Luft werfen – eine förmliche Demonstration des Nichtigen und Leeren. Nichtstun ist ja nicht so heiter, wie man glauben könnte, jedenfalls darf sich das dolce far niente nicht in die Länge ziehen. Nehmen wir einmal an, Robinson Crusoe wäre vor einer Insel gestrandet, auf der er alles in Hülle und Fülle vorgefunden hätte – er wäre verloren gewesen. Dass er aber Tag um Tag arbeiten und vorsorgen musste, um zu überleben, bewahrte ihn vor Depression und Verzweiflung. Dass der Prinz Leonce nicht eine einzige sinnvolle Beschäftigung findet, verwundert mich. Wie kann ein Mensch intelligent und dann ohne Interessen sein? Er müsste doch eine Menge von Gegenständen und Themen vor sich sehen. Wenn ich etwas vorschlagen dürfte: gärtnern! Das ist eine auch für Aristokraten passende Beschäftigung. Ein chinesisches Sprichwort sagt, es mache lebenslang glücklich. Überdies könnte eine solche Beschäftigung den Melancholiker auf gute Gedanken bringen: Damit meine ich eine Tätigkeit, wie sie der schlichte Pfarrer Oberlin im Lenz ausübt. Wie Oberlin den Bauern in den Vogesen, so könnte Leonce den Bauern im Staate »Popo« etwas aufhelfen. Er könnte

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dann erfahren, wozu er auf der Welt ist. Es würde ihn auch aus seiner Langeweile herausreißen. Die ›philosophischen‹ Dialoge, die er mit seinem Lakai Valerio führt, leisten das nicht. Langeweile und Acedia. – Es wundert uns nicht, dass der Nichtstuer unter Langeweile leidet, fast gelähmt wird. Für Büchner ist sie überhaupt der charakteristische Zustand abgelebter herrschender Klassen, ein Vorbote seelischen Absterbens. Dafür nimmt er sie in dem Brief an Gutzkow, Juni 1836; dort erscheint sie als Todessymptom, offensichtlich mit Blick auf Leonce und Lena (siehe unten, S. 254f.). Sehr auffällig ist, wie gering die Lebensfreude dieser Hochprivilegierten ist! Nicht nur Leonce, auch Lena leidet an Lebensüberdruss, der Acedia. Melancholien, depressive Grundstimmung. – Leonce wird von MelancholieAnfällen heimgesucht. Nach kurzen lustigen Einlagen schlägt seine Stimmung wieder um: eine innere Spaltung. Ein extremer Fall ist die Liebesszene II/4, die unversehens in einen Selbstmordversuch mündet! Wie muss es unter der Oberfläche aussehen? Vielleicht geschieht dieser Versuch, sich das Leben zu nehmen, nicht in vollem Ernst (denn was geschähe bei Leonce in vollem Ernst?) Wäre solcher Unernst weniger besorgniserregend? Durch das schnelle Eingreifen des Lakais wird Leonce vor dem Ertrinken bewahrt. Wie zur Langeweile als Stigma herrschender Klassen noch ein Wort zur »Melancholie«. Sie genießt hohes Ansehen. Melancholien muss man sich aber auch leisten können. Wie die edle Langeweile sind sie eine Krankheit Privilegierter. Auch dem Lakai Valerio werden Melancholien nicht fremd gewesen sein. Doch dürfte er sich davon nicht viel anmerken lassen; denn er muss stets bemüht sein, die seines Herrn zu vertreiben, das gehört zu seinen Dienstleistungen. – Von Melancholien der Bauern, Knechte, Mägde, Tagelöhner hat man noch nie gehört. Sie haben ›andere Sorgen‹. Der Boden, aus dem Leonces »unglückliches Bewusstsein« aufsteigt. – Nichtstun, Langeweile, Lebensüberdruss, eine depressive Grundstimmung, Melancholien – was vermag Leonce so zu lähmen und zu verdüstern? Ich vermute: Er hat eine Vorahnung, ein Vorgefühl davon, dass es mit der Welt, der er angehört, zu Ende geht. Das wird der reale Boden sein, aus dem dieses »unglückliche Bewusstsein« aufsteigt. – Amüsement kann da gewiss nichts mehr helfen. Und nicht einmal »Geist« kann noch viel ausrichten. Geistreiches und witziges Reden. – Und was unternimmt Leonce gegen seine Melancholien und dieses bittere Nichtstun und die Acedia? Er führt geistreichwitzige Reden! Seine Reden sind Sprachspiele. Sie sind auf Pointen hin gebaut, und Pointe folgt auf Pointe. »Geist« zu demonstrieren, scheint ihr einziger Zweck; von daher das Ostentative und In-sich-kreisende. Sie gleichen schillern-

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den Seifenblasen, die durch die Luft schweben und zerplatzen. Solche Reden sind also keine Sprechakte, die etwas Reelles vor sich hätten, wie z. B. die Reden Falstaffs oder die sprachlichen Finten des Dorfrichters Adam, die alle einen realen Inhalt bearbeiten, nämlich durch Hakenschlagen sich aus einem großen Schlamassel herauszuwinden. An den Dialogen zwischen Leonce und Valerio beobachten wir, wie sie einander die Bälle zuwerfen und sich gegenseitig zu überbieten trachten. Kaum treffen sie aufeinander, schon legen sie los. Das hat etwas Zwanghaftes, fast Automatisiertes. Von daher, wie von den wiederkehrenden Stereotypen und Figuren in ihren Reden, wie auch von der feststehenden Rollenaufteilung dringen, scheint mir, eigentümlich starre Züge in die Sprechenden ein – unter einer scheinbar sehr bewegten Oberfläche. Bedenken gegen ein fortgesetztes geistreiches Reden. – Von Leonces Worten lässt man sich leicht einfangen (ich spreche aus Erfahrung); dabei sind sie das, woran man sich ›nicht halten‹ kann. Versuchen wir, diesen Reichtum an »Geist« schärfer zu beleuchten: a) Von »geistreich« kann hier nur im Sinn von »gewandt«, »beweglich« die Rede sein, ohne nach einer »Substanz« zu fragen.2 Die Reden dieses Prinzen transportieren keine Inhalte, nirgends stößt man auf eine Sache. Dadurch entsteht der Eindruck, selbst der gescheiteste Vertreter dieser herrschenden Klasse habe eigentlich nichts mehr mitzuteilen, jedenfalls nichts Substantielles. Mag es geistreich klingen – die Bedeutungslosigkeit naht sich. – Ich will den Satz verraten, der mir in dieser Kritik als Leitstern dient: »Das geistreiche Unwesen lebt auf Kosten der Vernunft.« (Vauvenargues.) b) Ein Vergnügen am Geistreichen ›an sich‹ stumpft die Kritik ab und kann verhindern, den politischen Charakter dieses Lustspiels zu erfassen. »Geist«? Ist es denn die einzige Frage, wieviel etwa davon vorhanden sei? Eine andere, sehr gewichtige Frage ist, welchen Gebrauch einer davon macht. Welcher »Geist« kann das sein, den nicht das Leiden anderer in Bewegung bringt? der am Elend ›seiner‹ Bauern vorbeisieht? Im Wortreichtum dieses empfindsamen(?) Melancholikers findet sich darüber nicht ein einziges Wort. c) Wie sehr sich auch immer die geistreichen Reden Leonces (und Valerios) von dem dummen Gerede des alten Königs und seiner Höflinge abheben (›him-

|| 2 Zu »Substanz«: auch nur Inhalte? Hat dieser Geistreiche »Gegenstände«? Wird da etwas bearbeitet? usw. Nirgends ein Satz, der etwas setzt (d. h. einen substantiellen Gedanken enthält). Mit Reden, die zwar geistreich klingen, aber eigentlich nichts transportieren, kann es einem ergehen wie als Kind mit der rosafarbenen Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt: Zuerst dachte man »Wunder was«, und wie schnell hatte man genug davon!

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melweit‹) – in e i n e m kommen sie überein: dass aus den geistreichen so wenig wie aus den geistlosen nie das Geringste folgt. (Ein Punkt, den man leicht übersieht.) Und das ist, meine ich, ein Befund von großem Gewicht. Eine Nachbemerkung zum »Geistreichen« (nicht mehr im Sinn von ›gewandt‹, ›beweglich‹): Goethe nimmt das Wort in einem anderen, eigentlichen Sinn.3 Er schreibt einen Aufsatz mit dem denkwürdigen Titel Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort. Dieses »geistreiche« Wort ist »gegenständlich«. Heinroth (den auch die Büchner-Forschung kennt) hatte mit diesem Wort Goethes Denken charakterisiert. Das »geistreich« in Goethes Dankesbezeugung nähert sich ›erleuchtend‹! Vermutung, was der seelische Boden von Leonces geistreich-witzigen Reden sein könnte. – Was Leonce so alles zum Besten gibt, kommt uns lustig vor, solange wir seine seelische Verfassung verkennen. Diese Reden sind doch nicht ein Ausfluss spontaner Lebensfreude oder des Übermuts! Sie sollen vielmehr seine depressive Grundstimmung kaschieren. Dieses exzessive Reden ist psychologisch verdächtig. Vorübergehend wird es zwar Erleichterung bringen; doch was mag das auf die Dauer bewirken? Auf die Dauer, vermute ich, hat das Unernste und Beliebige etwas Aushöhlendes, Desorganisierendes (es macht »zerfahren«) und verstärkt noch die Melancholie und die Acedia. In den Reden Leonces sehe ich eine Flucht aus der beengten Wirklichkeit des Zwergstaats in sog. höhere Regionen (daher auch ihr ›philosophischer‹ Anstrich). Wenn er sich in seiner Welt noch zu Hause fühlte, würde er nicht in dieser Weise ›abheben‹.

Lena Nach Leonce, in jeder Hinsicht die Hauptfigur, wollen wir uns Lena zuwenden. Sie ist weit weniger als Individuum ausgeformt. Und doch ist, was wir von ihrer seelischen Verfassung erkennen können, von Bedeutung für die Frage, wie Büchner den inneren Zustand dieser herrschenden Klasse sieht. An dieser Prinzessin und Braut kann man keine Regung von Lebensmut und Fröhlichkeit entdecken. Würde diese Jean-Paul-Leserin nicht von einer resoluten Gouvernante begleitet (die einzige handlungsfähige Person in dem Stück), was wäre dann aus ihr geworden? Sie bewegt sich, als ob sie kaum noch über seelische Energien verfügte, wie eine, die sich nicht mehr selbst bewegt,

|| 3 Er kann z. B. sagen: »Der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er bestehe« (gegen pedantische Sprachreiniger); Gegenbegriff ist hier »geistlos« (das sind die, die nichts zu sagen haben, deren Worte inhaltsleer sind).

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sondern bewegt wird. In I/4 wird sie von der Gouvernante »geführt« (Bühnenanweisung am Schluss der Szene: »führt die Prinzessin weg«). Gleicht sie nicht mehr einem »Schatten« als einem lebendig bewegten Menschen? Sie soll dynastisch verheiratet werden. Daraus kann man ihre Niedergeschlagenheit einigermaßen begreifen; die Gouvernante nennt sie ein »Opferlamm« (I/4). Doch auch durch die »Liebe« zu Leonce findet sie nicht aus ihrer tiefen Schwermut heraus. Die Melancholien Leonces werden durch exzessives Reden überdeckt; ihre Depression bleibt unverschleiert. In der Liebesszene (II/4) nennt sie den Tod ihren »seligsten Traum«. Nachdem Leonce die Widerstrebende geküsst hat, redet er sie als »schöne Leiche« an. Eine Braut, die den Tod den »seligsten Traum« nennt, bringt uns dem nahe, was sonst gewiss als ›weit hergeholt‹ bestritten würde. Zunehmend verstummt sie.4 Im Folgenden versuche ich zu ergründen, worauf diese Texttatsache hinweisen könnte. In den Szenen mit der Gouvernante (I/4, II/1, II/3) redet sie noch von sich aus (wenn auch in depressiver Stimmung); von da an sagt sie nur noch wenige Worte. In III/3, der Szene der Eheschließung, sagt sie ihr »Ja«; doch als sich herausstellt, dass ihr Bräutigam der Prinz ist, »Ich bin betrogen!« Auf Leonces Vorschläge hin (siehe unten S. 234f.) schüttelt sie nur noch stumm den Kopf. Das ist ihre letzte Äußerung. Eine Braut, die am Tag vor ihrer Hochzeit und an ihrem Hochzeitstag so in Stillschweigen versinkt, muss uns zu denken geben.5 Ihre Spracharmut, sobald sie nicht mehr mit ihrer Vertrauten spricht, sondern mit ihrem Verlobten bzw. Gatten sprechen soll, wird noch durch den Kontrast zu diesem Virtuosen der Beredsamkeit hervorgehoben. Die Figur dieser Prinzessin und Braut hat etwas Verschlossenes, Verborgenes. Man muss vermuten, dass sie nicht offenbart, was sie im tiefsten Innern bekümmert.

III Die ›Welt‹ des Staates »Popo« A. Nichtstun und Konsumieren. – Man sieht nicht, dass irgendeine dieser Figuren irgendetwas unternehmen würde. Hier wird nichts mehr ›bewegt‹. Das Nichtstun hat geradezu absoluten Charakter angenommen. Als Beschäftigung dienen

|| 4 Vor langer Zeit hat Angela Kalisch mich durch die Frage ›aufgeschreckt‹, ob ich schon bemerkt hätte, dass Lena immer mehr verstumme. 5 Die Psychoanalyse deutet Figuren, die in unseren Träumen stumm bleiben, als Begegnungen mit Toten.

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Zeremonielle und Gerede, dummes und leeres, in einem Fall sogar geistreiches – aus dem ebenfalls nichts erfolgt. Der Prinz, der in wenigen Tagen die Regierung übernimmt, wirft Sand in die Luft und übt sich im Zielspucken. Solche Beschäftigungen sind Symptome: nicht nur des Niedergangs, sondern der Auflösung. Ihre ›Aktivitäten‹ zeigen an, dass dieser König und sein Kronprinz auf dieser Welt nichts mehr zu verrichten haben; diese herrschende Klasse hat jede Funktion,6 ihre Daseinsberechtigung verloren. Was wir vor uns haben sind Parasiten, die nur noch eines betreiben: aufzuzehren, was ›ihre‹ Bauern auf steinigen Äckern erarbeiten. Es sind die fruges consumere nati des Horaz (Epist. I,2) bzw. die »Blutigel« des Hessischen Landboten. B. Das Reich »Popo« – historisch rückverschoben. – Der Flecken »Popo«, auch »Reich« genannt, liegt in der Welt der deutschen Klein- und Kleinststaaten (in der es auch »Reichsdörfer« gab) – Jahrzehnte vor dem Reichsdeputationshauptschluss (1803). Das ist eine Welt, die uns Jean Paul geschildert hat, so im »Reichsmarktflecken Kuhschnappel« im Siebenkäs. In dieser weit zurückliegenden Welt von »Popo« tauchen einige punktuelle Signale auf (man übersieht sie zunächst), die anderen Bezirken, späteren Zeiten angehören, schon nahe an die Gegenwart (1836) heranreichen. Was kann das für einen Zweck haben? Ich vermute, dadurch werde angezeigt, wie weit dieses »Popo« zurückliegt. Die Differenz Zeit 2 – Zeit 1 zeigt die Tiefe der Rückverschiebung an. Durch die Rückverschiebung in eine Zeit 1 erscheint alles, was sich vor unseren Augen auf der Bühne abspielt, als ein Geschehen, das in Wirklichkeit ›der Vergangenheit angehört‹. Ich führe jetzt Signale aus Zeit 2 an: – Unversehens ist in I/3 von einer »Alexanders- und Napoleonsromantik« die Rede. Mit Alexander wird Alexander der Große gemeint sein.7 Ich halte auch für möglich, dass Zar Alexander gemeint ist und die Verbindung Alexander/ Napoleon sich bezieht auf die Begegnung Alexanders I. und Napoleons bei ihrem Friedensschluss in Tilsit 1807 (berühmte Szene ihrer Begegnung auf einem Floß in der Memel; auf vielen Stichen verewigt). – I/2 will sich ein vergesslicher König an sein Volk erinnern: halte ich für eine Anspielung auf den preußischen König Friedrich Wilhelm III. und dessen Aufruf »An mein Volk« vom März 1813. Hieran anknüpfend wird

|| 6 Eine solche Klasse (Stand, état) war z. B. der privilegierte Hofadel in Versailles. Nach seiner Niederlage wurde der hohe Adel von der absoluten Monarchie ›an den Hof gezogen‹; er wurde ausgehalten (ruhiggestellt) und hatte sich von nun an zu ›amüsieren‹, Hofämter zu bekleiden etc. und – darauf kam es an – nichts zu tun. 7 Vgl. MBA 6, S. 471.

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III/3 von einem »königlichen Wort« gesagt, es sei ein »Nichts«. Wieder Friedrich Wilhelm III.: das nie eingelöste Verfassungsversprechen vom Mai 1815. Und ausdrücklich fügt der Präsident noch hinzu, die Majestät von »Popo« möge sich in dieser Hinsicht (Wortbruch) »mit andern Majestäten« trösten.8 Als Büchner Leonce und Lena schrieb, regierte Friedrich Wilhelm III. noch (bis 1840)! Schon wegen dieser Anspielungen auf den regierenden preußischen König wäre Leonce und Lena nie durch die Zensur gekommen.9 III/3 Im Duodezstaat kann man vom Schloss aus die Grenzen sehen (Zeit 1). Auf die Frage des Königs: »Werden die Gränzen beobachtet?«, kann der Zeremonienmeister beruhigen: »Die Aussicht von diesem Saal gestattet uns die strengste Aufsicht.« »Strengste Aufsicht«! Dergleichen wäre uns in Verbindung mit König Peter und seinem Staatsrat nicht in den Sinn gekommen. Plötzlich erscheint das Regime »Popo« in einem anderen Licht. Die Zuschauer im Theater, die unerwartet etwas von »strengster Aufsicht« hören, fühlen sich an ihre Zeit erinnert, die polizeiliche Observierung und Bespitzelung in den Staaten des »Systems Metternich«, Zeit 2.

Durch den Kunstgriff der ›Rückverschiebung‹ lässt Büchner die Welt seines Lustspiels als abgeschiedene erscheinen. Nicht nur wird uns klar, ein solches Regime könne nicht mehr lange überdauern; uns wird insinuiert, es sei schon abgetreten! Nur auf der Bühne geistert es noch vor unsern Augen herum, wie eine Art ›Totentanz‹. Nicht nur: Sie werden aussterben, sondern: Sie haben es bereits hinter sich. – Wie abgestorben diese Welt ist, deckt schon das einzige Wort-Signal »Napoleon« auf!10 Büchner leitet uns darauf hin, in die Welt seines Lustspiels wie in ein Totenreich zu blicken. Figuren wie der alte König und sämtliche Mitglieder seines Hofstaats sind soziale Fossilien.11 Sie gleichen Revenants, das sind Geister von Verstorbenen, die das Grab verlassen haben und ›umgehen‹.

|| 8 Vgl. ebd., S. 527, Erl. zu 151,8-10. 9 Diejenigen, die den politischen Charakter dieser Komödie leugnen (ich spreche nicht von denen, die ihn nicht erkennen), bitte ich vorerst nur um Auskunft in diesem einzigen Punkt: »Anspielungen auf den regierenden preußischen König«. – Wolfgang Menzel hätte solcher Anspielungen nicht bedurft. Schon nach der Szene I/2 (der König wird angekleidet) hätte er Bescheid gewusst und nicht erst in der Bauernszene den Braten gerochen. 10 Was Gespenster bes. schlecht vertragen, ist das Licht des heutigen Tages – hier »Zeit 2«. 11 In einem Brief an die Eltern, Straßburg, Ende März oder Anfang April 1834, spricht Büchner von einem »vermoderten Fürstengeschlecht« (Hessen-Darmstadt ist gemeint). Vgl. dazu meinen Kommentar zu dem Brief an Gutzkow, Juni 1836, S. 253–255.

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IV Die Herrschaftsstruktur, in die das Individuum Leonce eingefügt und in der es stillgestellt wird Leonce ist nicht weniger als sein Vater, dessen Nachfolge er antritt, Exponent der Klasse, die Büchner in diesem Lustspiel bloßstellt. Durch seine rhetorischen Kapriolen entsteht der falsche Schein, als würde er sich von diesem Boden ablösen. Doch ihm muss bewusst bleiben, worauf er steht, wie einem Trampolinspringer bewusst bleibt, wo er nach dem Absprung wieder landen muss.12 Sich klar zu machen (und in allen Konsequenzen festzuhalten), auf welchem Boden diese Figur steht, ist für die Deutung dieses Lustspiels grundlegend. Auch Leonce ist in die Struktur eingeschlossen, in die alle Figuren des Stücks eingebettet sind. Das In-sich-kreisende, der Leerlauf, der das ganze Regime dieses Zwergstaats kennzeichnet, hat auch ihn erfasst: im öden Nichtstun und in Ritualen, denen er sich (wenn auch widerstrebend) fügen muss. Ich meine, erste Züge von Automatisierung an ihm wahrzunehmen, und vor allem glaube ich, unter einer sehr bewegten Oberfläche einen Abschwung der Lebensbewegung zu erkennen. Besonders eindrucksvoll ist dieser innere Abschwung an Lena zu beobachten, wo er sich fast einer Lähmung nähert. Im Folgenden werde ich versuchen, sein Eingefügtwerden in die Struktur des Bestehenden und ein inneres Abgleiten in Richtung auf das Unlebendige (Mechanisierte) aufzudecken. Eingefügt und stillgestellt werden. – Leonce durchbricht nirgends die vorgegebenen Strukturen. Er könnte doch einmal, vielleicht mit einem kleinen Coup, dieses langweilige »Popo« etwas in Bewegung bringen, den ›Alten‹ ein wenig aufstören und die Puppen des Staatsrats tanzen lassen. Dergleichen kommt ihm (dem wir doch ›Einfälle‹ zutrauen) gar nicht in den Sinn. Was wir sehen, ist etwas anderes: Unkompliziert und phrasenlos fügt er sich in das Vorgegebene ein. Das führt uns die Hochzeitsszene (III/3) vor, darin, wie er diese umständliche Zeremonie über sich ergehen lässt, so, als wäre er nichts weiter als das ›Objekt‹ dieser Veranstaltung. Das ist nun das Ende vom Lied, den vielen Einfällen und witzigen Reden! Prinz und Prinzessin werden vom Hofzeremoniell aufeinander zubewegt und kopuliert. Mitten in diesem Akt stellt Valerio Braut und Bräutigam als »zwei Automaten« vor, deren Mechanismus (bei Maschinen »Innenleben« genannt) er detailliert offenlegt (»Walzen«, »Windschläuche«, »Pappendeckel«, »Uhrfedern«). Auch von einem »Mechanismus der Liebe« ist die

|| 12 Von einem König Leonce ist keineswegs eine ›Wende‹ zu erwarten, als sollte es jetzt anders werden in »Popo«. Was tatsächlich von ihm als König zu erwarten ist, werde ich später ausführen und begründen (s. u. S. 244f.).

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Rede. Diese Vorführung des Hochzeitspaares als Automaten geschieht in ausbreitender Rede (mehr als eine Druckseite). Hier soll uns förmlich etwas demonstriert werden. Das in jedem Schritt und jeder Geste feststehende Ritual einer dynastischen Hochzeit, das nach einem »Programm« abläuft (in III/2 erwähnt),13 demonstriert, wie ein lebendiger Mensch wie Leonce und die verstummende Lena in die bestehenden Strukturen eingefügt werden. Und dabei ist dieses Ritual erst das Vorspiel dessen, was die beiden in der starren Welt erwartet, deren Hauptrollen sie am nächsten Tag übernehmen müssen, um sie dann lebenslang fortzuspielen. Sie sind von der Mechanik erfasst worden, in der sie künftig funktionieren müssen. Ich sage nun nicht, Leonce unterliege dem Mechanismus »Popo« nicht weniger als der alte König (der förmlich darin aufgeht); sondern selbst Leonce unterliege dieser Struktur, nicht als »Drahtpuppe«, sondern als ein lebendiger Mensch, dessen Lebendigkeit von Schwermut und Überdruss untergraben wird. Und darüber hinaus vermute ich, in seiner Rolle als König dieses Zwergstaats werde er künftig noch gnadenloser in diese Struktur eingepasst werden; fortschreitend wird er zugerichtet und deformiert werden, sodass zu befürchten ist, der Trampolinspringer werde schon nach wenigen Jahren als regierender Fürst dem alten König ähnlicher sehen, als wir das heute glauben wollen. Ein seltsames Sprachbild. – Ich komme nun im Zusammenhang mit dem Thema »Eine lebendige Person wird automatisiert« (ein aktuelles Thema) zu einem Bild in Leonces letzter Rede (III/3), das mir besonders auffällt. Nach der Hochzeitszeremonie unterbreitet er seiner Gemahlin eine Reihe unsinniger Vorschläge (was sie jetzt, zu Beginn ihrer Regierung, in die Wege leiten könnten). Mich interessiert hier der dritte dieser Vorschläge: Leonce fragt, ob Lena etwa »Verlangen« habe »nach einer Drehorgel auf der milchweiße ästhetische Spitzmäuse herumhuschen?« – Lena »schüttelt den Kopf«.

Ziemlich skurril. – Doch zuerst zu den Realien: »Huschen« ist eine sehr schnelle Bewegung, sodass man Mühe hat, mit den Augen zu folgen. Wenn dieses »Huschen« frei auf dem Deckel der Drehorgel stattfände (auch dann, wenn der Deckel mit einem Rahmen eingefasst wäre), würden diese flinken Tiere blitzschnell entweichen. Ein Sprung hinunter auf den Erdboden machte ihnen nicht

|| 13 Bei diesem »Programm« wird Büchner an die Feiern gedacht haben, welche aus Anlass der Vermählung des Erbgroßherzogs Ludwig von Hessen mit Prinzessin Mathilde von Bayern am 26. Dezember 1833 und ihrer Rückkehr nach Darmstadt im Januar 1834 stattfanden. Er kannte vermutlich die in diesem Zusammenhang verfasste Chronik der Feierlichkeiten (Darmstadt 1834; vgl. MBA 6, S. 199–208, 401–424).

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das Geringste aus. Sie müssen also eingeschlossen sein. Ich vermute: in eine Lauftrommel (die sie durch ihr leichtfüßiges, »huschendes« Rennen drehen).14 Weiße Mäuse in einer Lauftrommel konnte man früher (gelegentlich kann man es vielleicht auch noch heute) hinter Schaufenstern von Tierhandlungen sehen. Waren sie nicht etwas wie ein natürliches Symbol? Die sinnlos rennenden Kreaturen konnte man doch gar nicht ohne ›Gedanken‹ ansehen. Und was mag sich der Emigrant Büchner bei einem Anblick wie diesem gedacht haben? Wenn man sich dieses Bild, die weißen Mäuse in ihrer Lauftrommel, vergegenwärtigt, empfindet man etwas wie eine Aufforderung, nach einem verborgenen Sinn dieses merkwürdigen Bilds zu suchen, es zu deuten (»deuten heißt einen verborgenen Sinn finden«). Worauf könnte es in einer Rede Leonces, die sich an Lena richtet, hindeuten? Ich sehe darin ein Sinn-Zeichen. Die in sich kreisende ausweglose Bewegung dieser Tiere im Laufrad fasse ich als Symbol auf, als eine Bild-Übersetzung des Schicksals, das Leonce und Lena bevorsteht. Auch sie, die aristokratisch weißen, ästhetischen Spitzmäuse werden eingeschlossen in ein Laufrad (namens »Popo«), aus dem es kein Entweichen mehr geben wird. Dass Leonce an seinem Hochzeitstag ein solches Bild in den Sinn kommen kann, zeigt an, welche Furcht ihn ergriffen hat. Es ist sehr begreiflich, dass Lena kein Verlangen nach der Drehorgel mit den weißen Mäusen hat und stumm den Kopf schüttelt. Es wird ihr aber nichts helfen: Noch in ihrem weißen Brautkleid ist sie heute eingefangen worden. Das soll genügen, um den verborgenen Sinn des Bildes zu erkennen. Ich will nicht zu ausführlich sein, sonst müsste ich noch eingehen auf die »Dreh«orgel und darauf, dass durch die Musik den Zuschauern suggeriert wird, die gequälten Tiere würden t a n z e n.

|| 14 Könnte dem Dichter nicht auch ein Käfig vorgeschwebt haben, aus dünnen Drähten geflochten? Auch das wäre möglich. Die Sinnrichtung, die ich aufgedeckt oder doch anvisiert habe, bliebe erhalten: das Eingeschlossensein und die lebenslangen entfremdeten Bewegungen dieser »ästhetischen« Kreaturen. Einem Käfig gegenüber hat die Lauftrommel nach meinem Empfinden merkliche Vorzüge: vor allem in der Plastik der Anschauung, der sinnlos gleichförmigen, zirkulären Bewegung, und (wenn man es so ausdrücken darf) in der Dramatik der Bildvorstellung. – Noch einige Bemerkungen zur Lauftrommel: Grimmsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 334 »Laufrad«, Verweis auf Jacobsson 2,568 = Technologisches Wörterbuch, Berlin 1781–1796. – Bd. 14, Sp. 38: Menschen in einem »Tretrad« (Arbeiter in einem Salzbergwerk), vgl. auch Bd. 22, Sp. 244. – Bd. 22, Sp. 823 ein »Trommelrad«, darin ein Eichhörnchen (G. Chr. Lichtenberg). – Als Metapher ist »Tretrad« oder »Tretmühle« noch heute in der Sprache lebendig: Beweis, wie unvergesslich die Anschauung für die Betrachter war, wie eindrucksvoll sie noch in der Vorstellung ist.

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V Die dramatische Struktur, Summe der Bewegungen und Gestikulationen sämtlicher Figuren Als nächstes wenden wir uns der dramatischen Struktur zu. Wir richten den Blick auf die Gesamtheit der Bewegungen der Figuren, um zu fragen, was eine Untersuchung dieser Struktur für Büchners Sicht auf diese herrschende Klasse erbringe. Eine dramatische Struktur wird uns nicht in gleicher Weise anschaulich wie der Charakter einer Figur oder eine zitierbare Aussage. Sie bleibt in der Regel unter der Bewusstseinsschwelle, dringt aber umso tiefer ein, bestimmt unmerklich und besonders wirkungsvoll unseren Gesamteindruck und lenkt ›unterirdisch‹ unser Urteil. A. »Handlung«? Nichtige Betätigungen. – Grundlegend ist dieser Sachverhalt: Eine »Handlung« im eigentlichen Sinn des Wortes gibt es in dieser Komödie nicht. Das muss man mit Figaro oder mit dem Zerbrochnen Krug vergleichen! Was wir sehen, sind bizarre Situationen, in denen, sozusagen im Stehen, Reden geführt werden, witzige und sehr dumme. Wie diese Figuren agieren, was sie treiben, nirgends stoßen wir auf ein Vorhaben, das irgendeinen Sinn hätte. Die Beratungen des Königs mit seinem Staatsrat bestehen aus nichts als formelhaftem Gerede (I/2, III/2), ein einziger Leerlauf. Und steht es denn in dieser Hinsicht mit Leonce völlig anders? Er führt geistreiche Reden und sorgt sozusagen für unsere Unterhaltung, doch nichts wird in Angriff genommen, nichts ›bewegt‹. In der ersten Szene sehen wir ihn Sand in die Luft werfen, den er mit dem Handrücken auffängt, dann wird nachgezählt. In der letzten Szene soll mittels »Brennspiegeln« in dem Ländchen »Popo« das Klima von Capri eingeführt werden, mit Worten. – So sehen die Projekte dieser herrschenden Klasse aus! B. Zeremonielle, Rituale. – Was man, nur gewohnheitsmäßig, noch »Handlung« nennen könnte, ist sehr geringfügig. Ein Hoffest wird vorbereitet, das ist so ziemlich alles. Und auch dafür ist alles schon vorgegeben. Es wird sich nach einem feststehenden Schema ›ereignen‹ (III/3), vergleichbar der Schrittfolge, den Gestikulationen und »Komplimenten« eines höfischen Tanzes. Alles ist für das Fest, die Hochzeit des Kronprinzen, schon abgemacht (es gibt ein »Programm«), bevor es noch begonnen hat. Nur das Eine, Unvorhergesehene ereignet sich: Der Prinz und die Braut »verlieben« sich – märchenhafterweise – ineinander. Wie in diesem Stück agiert wird, gleicht einem Ritual, das sich über drei Akte erstreckt. Wir sehen Zeremonielle, aus denen jedes Leben entwichen ist und die schon etwas Gespenstisches an sich haben. C. Zirkulär und zwanghaft. – Die Handlung ist zirkulär und zwanghaft. Sie kommt nicht voran, hat keinen ›Zug‹. Ähnliches, ja Immergleiches wiederholt sich. Der alte König und sein Staatsrat ergehen sich im Trott immergleicher und

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gegenstandsloser ›Beratungen‹, und der neue König kündigt an, seine eben stattgefundene Hochzeit werde am folgenden Tag wiederholt! (III/3). Leonce hat sich also schon gut in das Getriebe »Popo« hineingefunden. Das Bild von weißen Mäusen in einer Lauftrommel veranschaulicht prägnant diesen Zug der Struktur, das Zirkuläre, Zwanghafte, Ausweglose. Es ist alles zur Routine erstarrt. Über das einzig »Neue«, was noch bevorstehe, siehe den Brief an Gutzkow, Juni 1836 (unten S. 253–255). D. Stagnation. – Die Lebensbewegung ist abgeflaut. Züge von Stagnation wird man wohl in jeder Szene finden. Eine solche ›Bewegung‹ erinnert an eine Spieluhr, die etwas stockt und gelegentlich ›hängenbleibt‹, sodass man besorgt zu ihr hinblickt. Hinter einer stagnierenden Handlung meint man Stillstände zu bemerken, wie sie einem endgültigen Stillstand vorausgehen. Summe. – Was bringt eine Struktur, wie ich sie eben beschrieben und kommentiert habe, zum Vorschein? Darin bildet sich die Situation und das Schicksal einer absterbenden Klasse ab. Ihre Figuren haben nichts mehr vor und bringen nichts mehr in Gang; es ist, als drehte sich jede im Stehen um sich selbst. Die Gesamtbewegung gleicht einer einzigen ›leeren Drehung‹.15 Wir sehen einen Niedergang, der offensichtlich schon nahe dem Ende ist. In dieser Struktur ist ein Urteil realisiert: Diese ›Spieluhr‹ wird in naher Zukunft ›stehenbleiben‹, die Zeit ist abgelaufen.

VI Der Riss in der Kulisse der Hofwelt: die BauernSzene (III/2) A. Demütigung anlässlich eines höfischen Freudenfestes. – In die Reihe der Hofszenen ist eine Szene mit Bauern eingeschaltet. Sie sind vor dem Schloss aufgestellt worden, um dem hohen Paar, sobald es in der Hochzeitskutsche vorüberrollen wird, mit lautem Vivat-Schreien zu huldigen. So ist es im »Programm« der Hochzeitsfeierlichkeiten festgelegt, worin auch steht, »sämtliche Untertanen« hätten sich »von freien Stücken, reinlich gekleidet, wohlgenährt, und mit zufriedenen Gesichtern [...] längs der Landstraße« aufzustellen. Die hungernden Bauern sind gnädigerweise so aufgestellt worden, dass ihnen der Wind von der Schlossküche her Bratenduft zuweht. Da sie umzusinken drohen, werden sie mit Schnaps aufrecht gehalten. Diese Bauern sind in ihrem Elend wie erstarrt, durch niederträchtige Behandlung auf eine unterste Stufe

|| 15 »Leere Drehung« nicht in einem metaphorischen Sinn, sondern gegenständlich. Ich denke an eine Schraube, deren Gewinde ›überdreht‹ ist und die nicht mehr hält.

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hinabgedrückt, Opfer, in denen (so scheint es) jede Widerstandskraft zertreten ist, wie ohne »Bewusstsein«. – Und welches Licht fällt von diesen Opfern zurück auf ihre Herren, die »Vornehmen«, auf den Hof und auf jene Figuren, die, wie Prinz Leonce, im Theater nahezu unsere ganze Aufmerksamkeit absorbieren? Die Bauernszene in Leonce und Lena ist das Äußerste und Aggressivste, was Büchner je in der Darstellung der Demütigung der »Geringsten« entworfen hat. Die Szene ist das Extrem aller seiner Brandmarkungen des verhassten »Aristokratismus« (davon weiter unten). B. Ein Blick in den »Hessischen Landboten«. – Es liegt nahe, sich angesichts dieser Szene an das zu erinnern, was wir im Hessischen Landboten gelesen haben. Nur zwei Merkzeichen: Der lange Sonntag der »Vornehmen« und der lange Werktag der Bauern, die ein Leben wie Zugtiere führen müssen und angesehen werden, als seien sie »Gethier, das auf Erden kriecht«, nicht am selben Tag erschaffen wie die »Fürsten und Vornehmen«. – »Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen«. Wenn sie in ihre »rauchigen Hütten« »kriechen« und sich auf ihren »steinichten Äckern bücken« (gemeint ist: weiterhin, ohne aufzustehen und Widerstand zu leisten), dann können noch ihre Kinder dorthin ziehen, um mitanzusehen, wie »mit dem Fett der Bauern illuminirt« wird.16 – Solche Erinnerungen könnten auch uns dazu anhalten, unsererseits nach Darmstadt bzw. »Popo« zu gehen, um dort zu »sehen«, die Augen weit zu öffnen – und auf keinen Fall ›romantisch zu gucken‹. C. Ein Schulmeister, Anblick eines brutalen »Aristokratismus«. – Wie den Bauern befohlen wurde, wann und wo sie sich einzufinden haben, so wurde auch dieser Schulmeister herangezogen (»Drahtpuppe«). Ein Landrat kontrolliert, ob er mit den überstellten Bauern auch richtig ausführe, was im »Programm« puncto »Zujubeln« angeordnet ist. – Wie wenig Anlass hätte dieser Schulmeister, sich über die Bauern (deren Kinder er unterrichtet) zu erheben! Seine auf ihre Weise ausladenden Reden enthalten nichts als Variationen der Geringschätzung. Ich führe hier nur den Satz über das »Vivat« an. Er weist den

|| 16 Wenn man, die Szene III/2 vor Augen, den Hessischen Landboten Satz für Satz durchginge, ließen sich gewiß weitere ›Parallelen‹ aufdecken, auch weniger offensichtliche. So finde ich in dem »Vivat«-Schreienlassen eine szenische Umsetzung der »Ermahnung des Volkes zur Knechtschaft«.

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Landrat darauf hin, dieses »Vivat«, das er den Bauern beibringe, sei Latein, was ein Ansteigen der »Intelligenz« (er meint: der Bildung) anzeige.17 In der Hierarchie der Staatsdiener nimmt dieser Schulmeister eine sehr niedere Stelle ein. Doch im »Aristokratismus« hat er es weit gebracht. Sein Überlegenheitsgefühl stützt sich offenbar auf Bildung (worauf auch das »Latein« hindeutet). Daraus ist zu ersehen (was wir schon wussten): Um auf die herabzublicken, welche die schweren Arbeiten verrichten und ohne Bildung sind, kann man selber mit wenig Bildung auskommen. Er sucht sich beim Landrat anzubiedern. Er will ein Einvernehmen herstellen, Anerkennung und Beifall erwerben. Der Landrat redet in einem anderen Ton mit den Bauern: »Gebt Acht, Leute [...]. Macht uns keine Schande!« Das hört sich anders an. Auf die Bemerkungen über das lateinische »Vivat« geht der Landrat mit keinem Wort ein, und nirgends steht, er lache darüber. Von daher fällt zusätzlich ein Licht auf den Schulmeister – ein feiner Zug im Text. Beide sind sie Vertreter der herrschenden Klasse in dieser Szene. Um so mehr wollen wir den versteckten Dissens beachten, der zwischen ihnen besteht und sie nicht ›über einen Kamm scheren‹. Wie dieser Schulmeister auf die vom Elend Niedergedrückten herabsieht und sie verhöhnt, ist abstoßend. Seine groben Zynismen überbieten noch die des Doktors im Woyzeck. (Das gilt nur für die verbale Ebene. In dem, was der Doktor verübt, ist dieser singulär.) Was wir hier vor uns haben, ist ein roher, brutaler »Aristokratismus«, einer, der nicht durch Geist, Rhetorik, feine Ironie usw. ›sublimiert‹ (verschleiert) ist. D. Die dramatische Funktion der Bauern-Szene. – Die abrupte Einschaltung einer Szene mit hungernden Bauern durchbricht das dramatische Kontinuum. Diese Szene ›fällt aus dem Rahmen‹, und das ist noch zu wenig gesagt: sie ›fährt dazwischen‹. Wie durch einen Riss in der höfischen Fassade blicken wir hinaus in die elende Realität dieses Zwergstaates. Die Szene bringt mit einem Schlag ans Licht, wie es hinter den Kulissen aussieht. Uns kommt zu Bewusstsein, was ›unter der Decke gehalten‹ und beschwiegen wird. Dass Büchner diese Szene erst kurz vor Schluss ›einblendet‹, hat Bedeutung: Die dem Schluss nahe Position erhöht noch ihr Gewicht, und die Szene ist uns frisch im Gedächtnis, wenn wir in der folgenden Szene Leonce und Valerio über »Capri« phantasieren hören (vgl. dazu auch S. 241 über »strukturelle Orte«).

|| 17 Dass er Latein kann, ist unwahrscheinlich, darauf kommt es auch nicht an; dass er jedoch – begriffsschwach – Intelligenz mit Bildung verwechselt, hat mehr zu sagen und ist kennzeichnend.

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VII Die Perspektiven am Schluss der Komödie: (A) Eine ›erträumte‹: Phantasie-Flug nach »Capri« bzw. in ein neues »Popo« A. Nichtstun und ein Leben im Überfluss. Nach III/3, der letzten Szene muss Leonce das Regiment des Zwergstaates übernehmen. Unmittelbar bevor der Vorhang fällt, hat er noch einen Einfall: »Popo« solle mit »Brennspiegeln« »umstellt« werden, um es zu einem Klima wie dem von Ischia und Capri »hinaufzudestillieren«. Und sein Echo Valerio (künftig Minister) ergänzt, das Arbeiten solle per Dekret abgeschafft und ein Leben im Überfluss eingeführt werden. Rationale Einwände überspringe ich einfach, wie den: Wo kämen die gepriesenen Makkaroni her? Wer sollte die Melonen anbauen? usw. Schon zu Anfang (I/3) hatte Leonce den Golf von Neapel im Auge, als er träumte, dem Ländchen »Popo« den Rücken zu kehren und gemeinsam mit Valerio nach Neapel zu ziehen, um dort das Leben von Lazzaroni zu führen. Jetzt bleibt man notgedrungen im nördlichen »Popo« – als König ist man angebunden –, das jedoch klimatisch verbessert werden soll. Bezeichnend sind die Klischees in der Lazzaroni- wie in der Capri-Phantasie. Beide sind aus (noch heute gängigen) Stereotypen zusammengesetzt,18 die Brennspiegel ausgenommen, sodass der Fürst den Lakai und der Lakai den Fürsten jeweils aus einem gemeinsamen Reservoir ergänzen kann. In diesen Stereotypen steckt die Langeweile und auch das Zirkuläre, das für diese Komödie so charakteristisch ist. Wie schon als Lazzaroni, so wollen sie sich auch in »Popo«-Capri dem Nichtstun hingeben. Dem Nichtstun sind sie doch schon die ganze Zeit ergeben und sterben fast vor Langeweile. Dieses Phantasie-Ziel hat direkt etwas Hoffnungsloses. Das dolce far niente eignet sich als Tagtraum für schwer Arbeitende und Abgehetzte (und so auch für Büchner, der hier durchaus Elemente eigener Tagträume verarbeitet haben mag), nicht aber für Nichtstuer.19 B. Seelischer Boden. – Die Capri-Phantasie ist die schillerndste von allen Seifenblasen, die Leonce und Valerio im Laufe dieses Stücks fliegen lassen. Uns muss nicht nachgewiesen werden, das Projekt »Brennspiegel« sei irreal. Was mag aber ihr seelischer Boden sein? Bedenken wir die Situation, in der Leonce

|| 18 Die Vorstellung vom unbeschwerten Leben der Lazzaroni hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun, wie man schon aus Goethes Italienischer Reise erfahren kann. 19 Welche Melancholien das dolce far niente aushaucht, wenn es sich in die Länge zieht, konnte niemand besser darstellen als Marcello Mastroianni, allein durch sein Mienenspiel und einen Blick.

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über dieses künstliche, nach Norden verpflanzte Capri ›phantasiert‹. Er weiß, dass ihm anderes bevorsteht, als unter Orangenbäumen zu wandeln. Er sieht den engen und öden Bezirk vor sich, in dem sich er und Lena künftig bewegen müssen. Nicht zufällig kommt ihm in dieser Szene das Bild der weißen Mäuse in der Lauftrommel in den Sinn. Ich habe es psychologisch gedeutet als angstdurchsetztes Gleichnis des sinnleeren Daseins, das er auf sich zukommen sieht. Und aus dieser Bewusstseinsverfassung wirft er einen sehnsüchtigen Blick hinüber in ein jenseitiges Capri. Wenigstens in der Phantasie möchte er noch den Gefilden des Stumpfsinns entfliehen. Das erbringt eine gewisse psychische Entlastung, wenn auch eine schnell vorübergehende. Dass einer, dem sein künftiges Leben unter dem Bild weißer Mäuse in einer Lauftrommel erscheint, per Phantasieflug in südlich-heitere Regionen entflieht, kann ich sehr gut begreifen. Und so komme ich zu dem Schluss: Seine Capri-Phantasie ist nicht eine »Tochter der Luft«, sondern eine Tochter der Beklommenheit. C. Struktureller Ort: Plazierung am Schluss. – Der Phantasieflug nach Capri bzw. in ein neues, italianisiertes »Popo« ist die letzte ›Seifenblase‹, welche die beiden Sprachspieler steigen lassen – Sekunden, bevor der Vorhang sich senkt über sie und das Reich »Popo«, das reale, das nördliche. Büchner hat die CapriPhantasmagorie ganz an den Schluss gesetzt. Dem messe ich große Bedeutung bei. Die Schlußszenen und ganz besonders die letzten Gesten und Worte haben größtes Gewicht. Oftmals sind sie ein Fazit oder gleichen einem Urteilsspruch; nicht selten eröffnen sie eine Perspektive, überschreiten den Horizont, blicken ›hinaus‹, haben etwas ›im Prospekt‹. – Büchner hätte die Capri-Phantasmagorie in eine frühere Szene einbauen können, schon nach I/3 (»Lazzaroni«). Der strukturelle Ort, unmittelbar vor dem Ende, ist ›gesetzt‹. Darin ist ein Moment der Gewichtung. Welche Wirkung auf uns Zuschauer kann Büchner damit anvisiert haben? Die Einspiegelung von »Capri« im letzten Augenblick entlässt uns mit der Erinnerung20 an das ›ganz Andere‹. Durch dieses südliche Gegenlicht wird uns per Kontrast – abschließend und wie endgültig – das ganze Elend der Welt in Leonce und Lena noch einmal zum Bewusstsein gebracht: dort drüben ein befreites, unbeschwertes Dasein (erträumt) – hier der Hof von »Popo«, ein seniler König, ein schwermütiger Nachfolger – und eine Szene wie III/2!21

|| 20 Im Sinn von ›erinnert werden‹, wie an etwas ›gemahnt‹ werden. 21 »Capri« ist nicht etwa eine Einladung an uns Zuschauer, ›romantisch‹ mitzufliegen. Ich denke an Mendelssohns Italienische, ihren Anfang, wo wir, wie durch Thermik emporgehoben, über die Alpen getragen werden. Ganz anders am Schluss von Leonce und Lena: Hier ergeht an uns die Aufforderung, ›hierzubleiben‹ und die schöne Phantasmagorie mit kritischem Blick

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Kritische Durchleuchtung eines südlich-heiteren Phantasiegebildes Was Leonce und Valerio scheinbar spielerisch zusammenphantasieren, ist nicht eine unschuldige Träumerei, mit der es weiter nichts auf sich hätte, sondern eine mit Hintergründen, mit verborgenen Interessen und Tendenzen. Was hier verschleiert sein könnte, versuche ich im Folgenden aufzudecken. A. Strafen. – Mein erstes Bedenken gilt einem verräterischen Zug in diesem südlichen ›Utopia‹: Dort soll es Strafen geben. Valerio kündigt an, ein Dekret werde erlassen gegen solche, die vom Arbeiten nicht lassen können oder rückfällig werden. Sie machen sich strafbar. Die Nichtstuer müssen vor ihnen geschützt werden. (Deshalb werden die wenigen verbliebenen Malocher offenbar in Gefängnisse oder Irrenhäuser gesteckt.) »Dekret«, »unter Kuratel stellen«, »kriminalistisch strafbar«, für »verrückt« oder »gefährlich« erklärt werden... Dass man sich noch in utopischen Bezirken auf Bestrafungen gefasst machen muss, wirkt doch sehr herabstimmend. Und das soll das Klima von Capri sein? Es ist auffällig, wie ausführlich hier Strafandrohungen ausgemalt werden. Bis auf geringe Reste unheilbar Arbeitswütiger sind alle Arbeitenden verschwunden – die Strafjustiz ist dagegen erhalten geblieben. Die einen können angeblich nicht so ganz vom Arbeiten lassen,22 die andern, die Nichtstuer, können es ihrerseits nicht lassen, Vorschriften zu machen, über andere zu bestimmen, zu dekretieren und Zwang auszuüben – selbst nicht in ihren Wunschträumen. Wie anders geht es doch in der Abtei Thelema zu! (Gargantua, 57. Kapitel). Dort gibt es nur eine Vorschrift: »Tu was du willst!« Wunderbar einleuchtend und leicht zu befolgen. B. Erkundigung nach einer größeren Anzahl Verschwundener. Wo sind sie hingekommen? – In »Popo«-Capri soll also nicht mehr gearbeitet werden, wer Schwielen an den Händen hat, wird unter Kuratel gestellt usw. Das klingt nach Erleichterung. – Bauern, Taglöhner, Knechte, Mägde, Dienstboten usw. wird es also nicht mehr geben. Wo mögen sie bleiben? Die Masse derer, die schwer arbeiten, auch ›nur‹ in der Phantasie verschwinden zu lassen, ist mir höchst verdächtig. Ich ahne durchaus, was uns die Psychoanalyse zu solcher »Phantasie-

|| und Sinn für das Wirkliche zu mustern. Burghard Dedner sagt: »Nicht über ferne Orte und Zeiten phantasiert die Komödie, sondern über die Veränderung der hiesigen Realität.« (Burghard Dedner: »Leonce und Lena«. In: Michael Voges, Walter Hinderer u. a.: Georg Büchner. Interpretationen. Stuttgart 1990, S. 119–176, hier S. 169.) Jedem Wort stimme ich zu. Besonders hervorheben möchte ich das antiplatonische »hiesige Realität«. Hiesige Realität könnte ich mir so übersetzen: In Wahrheit liegt dieses »Capri« in Hessen, keine »Brennspiegel« sollen uns blenden. 22 Den Bauern, deren Leben ein langer Werktag ist, würde Nichtstun nicht so schwer fallen, wie die beiden Nichtstuer befürchten.

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arbeit« mitzuteilen hätte. Und so gut wie sicher weiß ich, wie sich derartige Phantasien in den Augen und im Urteil Büchners ausgenommen haben. Wir könnten eine solche Nachfrage ›vergessen‹ – er nicht! Der tief verborgene Sinn dieser Träumereien ist das Verschwindenlassen der Arbeitenden (und Hungernden). Das »Verschwinden«(-müssen) wird vertreten durch ein verschleierndes »gar nicht erst einlassen«;23 schon deutlicher tritt es in der Bestrafung ›gefährlicher‹ Rückfälliger zutage. In einem Wunschtraum der fruges consumere nati dürfen allerdings die »Früchte« nicht ausbleiben. Und hier steckt der Haken. Wo sollen sie jetzt herkommen?24 Deshalb nimmt die Sache den jenseitigen Charakter an: Abflug nach Capri... Es sind Phantasien eines jungen Fürsten und seines künftigen Ministers aus einem Land, in dem Hunger herrscht. So sehen Wunschträume aus, die von denen ersonnen werden, die geboren sind, die Früchte zu verzehren, wenn in ihren Träumen die auftauchen (ihnen ›erscheinen‹), welche dazu geboren sind, diese Früchte zu erarbeiten und anzuliefern; wobei sie sich einer »Ordnung« zu fügen haben, von der Büchner im Hessischen Landboten sagt, »in [dieser] Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden«. C. Ernährung hier und dort. – Der Unterschied zwischen »Popo«-Hessen und »Popo«-Capri wird am Ende doch nur der sein: Hier wird den Hungernden Bratenduft zugeführt, und dort (sofern eingelassen) dürften sie den Duft von Makkaroni einatmen. Die Zuführung von Nahrungsmitteln nimmt ätherische Züge an. Ich erinnere an das Motto,25 an die Konfrontation von »fama« und »fame« darin. An die Stelle des »Ruhms« brauchen wir hier nur die schönen Worte vom Überfluss zu setzen – fame bleibt. – Ein Kommentar zu einer Ernährung mit Worten findet sich in Heines Gedicht Die Wanderratten: Im hungrigen Magen Eingang finden Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,

|| 23 Dass Leonce nie an die denkt, von deren Arbeit er lebt (Inbegriff des »Aristokratismus«) erscheint hier in Bild-Übersetzung. 24 Oder sollte man etwas dergleichen gar nicht fragen (um im »Lustspiel« nicht zu ›stören‹)? – Doch! Die Antwort steht auch im Text: »dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott [da haben wir’s] um Makkaroni, Melonen und Feigen«. Beim »himmlischen Manna« sind wir nun glücklich angekommen. 25 Zu diesem Motto siehe unten S. 252f.

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Nur Argumente von Rinderbraten, Begleitet mit Göttinger Wurstzitaten.26

VIII Die Perspektiven am Schluss der Komödie: (B) Die reale Perspektive: Was von einem K ö n i g Leonce zu erwarten ist Nach dem Phantasieflug nach Capri bzw. in ein erträumtes neues »Popo« müssen wir uns der Wirklichkeit zuwenden (der ohne »Brennspiegel«). Der Vorhang fällt und Leonce übernimmt die Herrschaft. Was haben wir von einem König Leonce zu erwarten? Doch bestimmt Reformen? Lasst uns nicht die witzigen Reden, die er als Kronprinz geführt hat, schon für ein günstiges Vorzeichen ansehen. Wir wollen uns mit einiger Skepsis rüsten. Wenn geistvolle Kronprinzen (ihre ›Liberalität‹ ist sprichwörtlich) das Regiment übernehmen, hat sich schon das Folgende ereignet: Der Kronprinz, ein Aufklärer, schrieb einen »Antimachiavell« – und als König marschierte er in Sachsen ein. Was haben die Bewohner von »Popo« tatsächlich von ihrem neuen König zu erwarten? A. Vorzeichen: Was wir bisher von ihm gesehen haben. – Aus III/2 erfahren wir, auf dem Vorplatz des Schlosses seien Bauern aufgestellt worden, die dem Brautpaar zujubeln sollen. Das wird nicht ohne sein Vorwissen so arrangiert worden sein. Von einem Fenster des Schlosses aus kann der Prinz die Bauern dort draußen stehen sehen. – Leider hören wir nichts davon, er habe Lakaien mit einigen Brotwecken hinausgeschickt, damit diese Hungerleider doch nicht ganz ›auseinanderfallen‹. Das wäre doch das Mindeste. Auch eine Handvoll Münzen könnte er an seinem Hochzeitstag unter das Volk werfen: eine noble Geste, die man schon auf Hochzeiten einfacherer Leute gesehen hat. Vor allen Dingen sollten wir jedoch das E i n e hören: König Leonce habe – einer sehr alten königlichen Sitte folgend – zur Feier seiner Thronbesteigung ›seinen‹ Bauern eine Steuererleichterung verkündet. Und davon hören wir kein Wort.

|| 26 Die Bauern, an die sich der Hessische Landbote wendet, wären mit sehr viel weniger zufrieden gewesen. An Rinderbraten hätten sie gar nicht gedacht. Ein Kreisarzt aus Oberhessen schreibt 1826: »Eins der Hauptnahrungsmittel, das Viele dem Hungertod entzieht, sind die Kartoffeln [...] Neben ihr [der Kartoffel] erscheint das Brod als eine kostbare Sache.« Vgl. auch GBJb 12, S. 50.

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B. Womit wir rechnen müssen. – Man kann voraussehen, was kommen wird, meine ich.27 Der geistreiche neue König wird erheblich mehr Geld benötigen als der dumme alte. – Das ist der springende Punkt! Wie als Prinz, so wird Leonce als König von vielen Einfällen heimgesucht werden. Fêten, Events, Illuminationen etc. etc. müssen arrangiert werden, um die geisttötende Langeweile im Nest »Popo« einigermaßen in Schach zu halten. Und das alles wird Geld kosten, viel Geld.28 Und aus diesem Grund wird es zu S t e u e r e r h ö h u n g e n kommen und die Bedrückung der Bauern wird noch gesteigert werden.29 – So sieht die reale Perspektive am Ende dieses Lustspiels aus!

Nachschrift: Zu Leonces Worten von einer »Liebe« zu dem »Geringsten« unter den Menschen Man könnte denken, Leonce spreche aber doch einmal von (s)einer »Liebe« zu dem »Geringsten unter den Menschen«. Wie steht es damit? Leonce: Weißt du auch, Valerio, daß selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können? (III/1)

Das klingt wie ein Bekenntnis, unterscheidet sich jedenfalls merklich von Leonces sonstigen luftigen Reden. Werden solche Worte durch Taten beglaubigt? – Das eben Ausgeführte spricht eine andere Sprache! Sehen wir noch einmal den Text durch, ob wir nicht doch etwas von einer solchen Liebe zu dem Geringsten entdecken. Ich habe nichts auffinden können. Im Gegenteil! Zwei bezeichnende Vorfälle: In I/3 verabschiedet Leonce seine Mätresse Rosetta (vielleicht müsste man sagen, er entledigt sich ihrer); er begleitet dies mit Reflexionen über eine »Scala der Liebe«, die er »auf und ab singen« müsse, wobei jedes einzelne weibliche Wesen nur einen Ton ausfülle etc. In derselben Szene demütigt er den völlig von

|| 27 Zu »voraussehen«: eine Voraussage im Rahmen des »Realitätsprinzips«, nicht im Geringsten divinatorisch. 28 Dabei schweige ich noch von den Summen, die das neue Personal verschlingen wird. Der alte Staatsrat gleicht, nach langer Dienstzeit, doch eher einem phlegmatischen (vollgesogenen) Blutegel; der neue hingegen, unter einem Minister Valerio, ist noch ausgehungert und saugt sich erst fest. 29 Ich will nicht übertreiben, doch völlig ausgeschlossen ist es nicht, dass die Bauern dereinst noch ihren alten König zurückwünschen. (Das wäre dann eine Fortsetzung der »zirkulären« Struktur dieses Lustspiels, wie ich sie S. 236f. beschrieben habe.)

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seiner Gunst abhängigen Staatsrat, was er so kommentiert: Es stecke nun einmal »ein gewisser Genuss in einer gewissen Gemeinheit«. Noch seltsamer ist, an w e n Leonce denkt, wenn er von »dem Geringsten unter den Menschen« spricht, den man nicht genug »lieben« könne. Er hat – man kann es kaum glauben – Lena im Auge (wie aus der Fortführung des Dialogs eindeutig hervorgeht), eine junge und schöne Frau, die »blitzende Edelsteine« trägt und in jedem Wort und in jeder Geste ihren Adel und ihre hohe Stellung offenbart. Die Quelle der »Geringsten« sind die »Mühseligen und Beladenen« des Neuen Testaments. An die Stelle der Ärmsten der Armen tritt eine edelsteingeschmückte Prinzessin. Jeder Zug zeigt an, wie fremd seiner Hoheit Leonce die »Geringsten« sind (und wie nahe der »Aristokratismus«). Dabei wären die »Geringsten« ganz in seiner Nähe. Sie stehen draußen auf dem Schlossplatz. Man gewinnt nicht den Eindruck, Leonce habe sich je Gedanken über sie gemacht (von »Liebe« ganz zu schweigen). Alles, was wir von ihm sehen, spricht eine andere Sprache. Ich bitte, sich noch einmal zurückzuwenden und durchzusehen, was zur realen Perspektive einer Herrschaft des Königs Leonce und zu deren Vorlauf ausgeführt ist. Das alles ist mehr als genug, um unsere Frage nach der Glaubwürdigkeit der schönen Worte zu entscheiden. Und doch will ich auch den sprachlichen Ausdruck und sodann einen verborgenen Hintergrund dieser Worte und zuletzt ihre absichtsvolle Plazierung im dramatischen Gefüge näher untersuchen. Das geschieht nicht, um das Gewisse noch weiter zu befestigen, sondern einfach deshalb: es steht so ›in den Noten‹. Zur sprachlichen Fassung. – Burghard Dedner nennt diese Worte eine »moralistische, sprachlich wohl bewußt holprige Sentenz«.30 Das trifft gewiss zu. Auch die Logik kommt mir holprig vor, das alleinstehende »lieben« ist nicht stimmig, richtiger wäre »noch viel zu kurz, um ihn genug lieben zu können« oder etwas Ähnliches. Wahrscheinlich wollte Büchner im Medium »Sprache« zum Vorschein bringen, dass die Worte des Prinzen nicht der spontane, natürliche Ausdruck seiner Gesinnung sind, dass sie nicht »echt« sind. (Ich denke an die Freudschen »Fehlleistungen«.) Das »groß«, der »Geringste« sei so »groß« usw. ist unpassend, ein falscher Ton. Die Emphase, ein ganzes Leben reiche nicht hin usw., wirkt stark übertrieben. »Liebe« müsste es gar nicht sein, Zuwendung würde genügen (und an der fehlt es, siehe oben). Überhaupt ist der »Geringste« im Munde des Sprachspielers ein sehr fremdartiger Ausdruck. Je

|| 30 Burghard Dedner: »Leonce und Lena« (s. Anm. 21), S. 171.

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eingehender wir den Satz mustern, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, hier stimme etwas nicht. Was hier nicht stimmt, ist die Gesinnung. Die Folie: ein Satz aus dem »Lenz«. – Leonces Worte von einer Liebe zu dem Geringsten unter den Menschen kommen uns bekannt vor, als hätten wir sie schon einmal gehört. Und so ist es. Sie haben einen Hintergrund: einen der zentralen Sätze im »Kunstgespräch« des Lenz. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel [...].

Das sind Worte, in denen Büchner durch Lenz seine tiefste Überzeugung ausgesprochen hat. An Leonces Worten, ihrer Sprachform, haben wir den Verdacht geschöpft, sie könnten kaum der wahre Ausdruck seiner Gesinnung sein. Jetzt erfahren wir, dass sie als ein (verdrehtes und ›aufgedonnertes‹) Zitat auch nicht sein Eigentum sind. Was mag Büchner bewogen haben, solche Worte dem Prinzen Leonce in den Mund zu legen? Ich vermute, dieses deplazierte Zitat ist ein Textsignal (hat den Charakter eines Zeichens, gleicht einem Wink): Wir sollen an das ›Original‹, den wahren Sinn dieser Worte erinnert werden, an Büchners Konfession, seine Grundhaltung, die unbedingte Parteinahme für die »Geringsten« in seinem Leben und in seiner Dichtung. Und darin verbirgt sich der Maßstab für den, der sich solche Worte ›aneignet‹; die schönen Worte kehren sich gegen ihn, können wie ›unfreiwillige Selbstironie‹ wirken. Wenn wir Büchners Bekenntnis durchscheinen sehen, werden die Worte des Prinzen durch die Konfrontation mit dem originalen Sinn entlarvt: vielleicht nicht als Zynismus, aber doch als Phrase, als schöne Worte, die durch keine Praxis gedeckt sind. Wir sehen nicht, dass er von einer solchen »Liebe« zu dem »Geringsten« irgendetwas verwirklichen würde. Leonce legt eine ganz andere Gesinnung an den Tag: den von Büchner verabscheuten »Aristokratismus«.31 Struktureller Ort. – Den schönen Worten Leonces in III/1 folgt unmittelbar III/2, die Bauern-Szene. In der Hintereinanderschaltung dieser beiden Szenen sehe ich ein bedeutendes strukturelles Zeichen. Meine Ansicht ist: Büchner hat sein Urteil über Leonces angebliche Liebe zu dem Geringsten in die dramatische Struktur eingebaut (»eingebaut« im wörtlichen Sinn). Der gefühlvollen Expektoration folgt (wie ins Wort fallend) der Anblick einer extremen Demütigung der || 31 Wie Büchner den »Aristokratismus« (Arroganz, Massenverachtung) charakterisiert, muss man nachlesen (Brief Febr. 1834). Nur so gewinnt man einen Eindruck von der Schärfe seiner Ablehnung, seiner Empörung (er spricht von »Hass«).

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Geringsten.32 Die schönen Worte sind im dramatischen Gefüge so plaziert, dass der Deklamation die umgehend folgende Realität ›ins Gesicht schlägt‹. Die angesprochenen »Geringsten« treten auf, in persona, und wir sollten erkennen, wie sehr sie »geliebt« sind.

IX Die hauptsächlichen Resultate knapp zusammengefasst Die Figuren der herrschenden Klasse sind aus wenigen ›Eigenschaften‹ zusammengesetzt, wie montiert. Sie gleichen Automaten. In Leonce und Lena ist ihre ›Zentralmonade‹ ein alter geistesschwacher König, unfähig, noch einen Gedanken zu fassen, nahe am Verdämmern. Mit seinem »Staatsrat« hält er ein leerlaufendes, zirkuläres Getriebe in Gang. Wie anders der Nachfolger, Prinz Leonce! Er ist ein Individuum, ist von innen gesehen. Wir blicken in ein Seelenleben: Er ist in Schwermut versunken, in sein Nichtstun eingeschlossen, Überdruss lähmt ihn – was er durch virtuoses Reden zu überspielen sucht. Auf ganz andere Weise als an den Marionettenartigen bringt Büchner durch die seelische Verfinsterung dieses einzig Lebendigen den Niedergang dieser Klasse zum Ausdruck: als ein inneres Abgleiten. Den Prinzen wie seine Braut hat Todessehnsucht ergriffen. Die ›Welt‹ dieser herrschenden Klasse in einem Duodezstaat schildere ich als eine absterbende, eine Art ›Totenreich‹. Von dieser ›Welt‹ wird auch Leonce erfasst und zunehmend den Marionettenartigen angeglichen. Er ist dazu verurteilt, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Darin, wie diese Figuren agieren, dem Nichtstun, einer leerlaufenden, zirkulären ›Handlung‹, dem starren Zeremoniell, der Stagnation, den Stillständen, Hemmungen und ›Melancholien‹, durch die Gesamtheit aller Bewegungen und Gestikulationen bringt Büchner in der dramatischen Struktur die Perspektivlosigkeit dieser Klasse zur Erscheinung. Durch die Bauern-Szene (III/2) wird die abgehobene, in sich kreisende Hofwelt durchbrochen. Diese Szene, die vorletzte des Stücks, eröffnet einen Blick ›hinter die Kulissen‹. Sie bringt die verschwiegene Realität des Staates »Popo« ans Licht, und wir erkennen, nein, wir sehen, auf welchem Boden diese fruges consumere nati stehen: dem Hunger und Elend der arbeitenden Klasse.

|| 32 Dies ist der eklatanteste Fall von ›Entlarvung durch Konfrontation‹, den ich bisher in Büchners Werk aufgefunden habe.

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Leonces – von Valerio begleiteter – Phantasieflug nach »Capri« bzw. in ein neues, utopisches »Popo« (wo nicht mehr gearbeitet und gehungert, sondern im Überfluss gelebt werde), ist nicht etwa ein »heiteres Finale«, sondern der Fluchttraum eines Gefangenen, dem völlig bewusst ist, dass es für ihn aus der Lauftrommel »Popo« kein Entrinnen mehr geben kann. Er ist dazu bestimmt und ausersehen, lebenslang diesem Bezirk des Stumpfsinns als »König« vorzustehen. Aus Texttatsachen und logisch zwingenden Schlüssen geht hervor, dass das ›neue‹ »Popo« dem alten sehr, sehr ähnlich sein wird. An der Situation der hungernden Bauern wird sich auch unter einem König Leonce wenig oder nichts ändern, sowenig wie ihre steinigen Äcker unter der Einwirkung von »Brennspiegeln« sich in ein südliches Blütenland verwandeln werden. Mag schon sein, dass künftig an diesem Hof geistreichere Gespräche geführt werden – bei den Steuern und Abgaben bleibt es, muss es bleiben. (Es ist zu befürchten, dass sie noch erhöht werden.) Die zirkuläre Struktur ist wahrhaft umfassend. – Mit einem Blick hinüber nach »Capri« haben solche Aussichten freilich keinerlei Ähnlichkeit, vielmehr gleichen sie dem Blick vom Schloss hinaus auf den Vorplatz, den ich eingehender beschrieben habe (oben S. 237–239). Von den drahtpuppenartigen Figuren, der inneren Verfinsterung und Lähmung des einzig Lebendigen, einer Hofwelt, die einem historischen Totenreich gleicht, der zyklischen und leerlaufenden dramatischen Struktur, einer fingierten bis hin zur wahren, tatsächlichen Perspektive am Ende dieses merkwürdigen Lustspiels: Alle diese Züge und Elemente haben den Charakter f i n a l e r Z e i c h e n. Man könnte sie Symptome nennen und mit den Zügen eines »hippokratischen Gesichts« vergleichen. Jeder dieser Befunde deutet auf das Eine: Diese herrschende Klasse ist ›reif‹, sie muss abtreten! Das ist der Fluchtpunkt aller Perspektiven. In Leonce und Lena stellt Büchner dieser herrschenden Klasse im Medium Komödie einen Totenschein aus.

X Über Leonce und Lena als »seidenes Schnürchen« und das Verhältnis von Lachen und Erkenntnis in Komödien verschiedenen Typs Der Dichter dieses Lustspiels entlässt uns nicht mit »erfreulichen Aussichten«, der Perspektive am Ende kann man kaum Tröstliches entnehmen (keinen re-

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gressiven Trost).33 Auch in der Komödie könnte für Büchner der Friede für die Hütten nicht aus den Palästen kommen. Es sieht nicht so aus, als sollten wir frohgestimmt und leichten Herzens (und ›unbeschwert‹ von Gedanken) das Theater verlassen. Aktionen und Inszenierungen von Politikern »Komödien« zu nennen, ist ein (längst bedeutungsschwaches) Stereotyp der Alltagsrede: schwankt etwa zwischen mildem Spott und Kritik, vielleicht auch einer Kritik, die nur maskiertes Einverständnis oder Resignation ist. Wenn dagegen Büchner politische Herrschaft mit »Komödie« in Verbindung bringt, auch die »Drahtpuppen«, der ganze Figurentypus A gehören in diesen Kontext, hat das einen anderen Charakter. Im Dezember 1832 nennt er die Regierung Frankreichs »Comödie«: »Der König und die Kammern regieren, und das Volk klatscht und bezahlt«. Von den Regierungen in den deutschen Staaten schreibt er (an August Stöber, 9.12.1833): »Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen.34 Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.« In dem Brief vom März 1835 an Gutzkow ist wieder von diesem »Hanf« die Rede. Der Brief schließt: »Mein Danton ist vorläufig ein seidnes Schnürchen und meine Muse ein verkleideter Samson.«35 Nicht allein in Dantons Tod, auch in Leonce und Lena dürfen wir ein »seidenes Schnürchen« sehen. Dieses feingesponnene und doch haltbare Lustspiel möchte das Seine dazu beitragen, damit jene realen »Komödien« nicht mehr zu

|| 33 Ähnliches gilt für die Bettleroper, den Figaro, den Zerbrochnen Krug. Im Tartuffe muss am Ende ein »Bote des Königs« erscheinen (ein deus ex machina), um die völlig verfahrene Situation noch einzurenken (künstlich, gewaltsam). 34 Hier sind zwei Vorstellungen ineinandergeschoben: a) der »Theaterkarren« und b) die Affen auf den Jahrmärkten. Der »Theaterkarren« bei Horaz (Ars poetica 276) geht auf einen alten Brauch zurück: Spöttereien von einem Wagen herab (noch heute lebendig in den Wagen der Karnevalsumzüge). – Eine »Affenkomödie« hat Büchner in der Jahrmarktszene im Woyzeck dargestellt. (In Bayern ist noch der Ausdruck »Dultaff« geläufig, Dult = Jahrmarkt.) 35 Hanf, seidenes Schnürchen: Kein Galgenstrick aus grobem Hanf, sondern ›nur‹ ein Schnürchen, aus feiner Seide gefertigt, das doch keinem anderen Zweck dient. Ein seidenes Schnürchen ließ der Sultan einem zum Tode Verurteilten überbringen, als Aufforderung, sich erdrosseln zu lassen (vgl. MBA 10.2, S. 242); Samson: Charles-Henry (1739–1806) und Henry (1767– 1840) Samson, Scharfrichter während der Französischen Revolution; vorläufig: sein Drama sei (lediglich) ein Vorbote dessen, was sich in der Wirklichkeit ereignen soll; verkleidet: verhüllt, nicht auf den ersten Blick als der Scharfrichter erkennbar; bezieht sich auf das Medium Dichtung (»meine Muse«), wie man von »dichterischer Einkleidung« spricht, im Unterschied zur »nackten« Wahrheit.

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lange fortgespielt werden. Das »seidene Schnürchen« deutet wie der »Hanf« auf ernste Absichten. Dass Büchner die Politik herrschender Klassen mit »Komödie« in Verbindung bringt, würde uns wahrscheinlich nicht besonders auffallen; dass er aber seine Dichtungen, die gegen Herrschaft gerichtet sind, mit Todesurteilen in Verbindung bringt, muss uns unbedingt auffallen! Dichtung erscheint hier als Instrument der Exekution,36 tritt auf als Scharfrichter. Sie hat einen durch und durch politischen Charakter, auch in einem »Lustspiel«, einem Medium, das »seidenen Schnüren« scheinbar fern ist. Es gibt eben ein Lachen, das etwas ›in petto‹ hat... Lachen ist nicht gleich Lachen. Das Lachen in einer Komödie Nestroys, wie Lumpazivagabundus (1833), ist ein anderes Lachen als das in Leonce und Lena. In dem Lachen Nestroys drücken sich Nachsicht und Verständnis, ja Einverständnis und Zuneigung aus. Wir lachen mit diesen fidelen Gesellen über ihren Leichtsinn und Übermut. Es ist ein ansteckendes Lachen, ein unbeschwertes, das nichts in petto hat, über das man sich Gedanken machen müsste (vielleicht, ob der »Komet« nicht doch symbolische Bedeutung habe). Und das Lachen in Leonce und Lena? Wir lachen über die dummen Reden des alten Königs und die servilen Repliken seiner Höflinge. Wir lachen über sie; sie lachen nicht (auf diesen Unterschied kommt vieles an). Immerhin, könnte man sagen, sind sie wenigstens sorglos. Dieser Eindruck rührt lediglich daher, dass sie nicht einmal ahnen, dass es mit ihnen zu Ende geht; diese Sorglosigkeit ist ein ›Segen‹ der Dummheit. – Und Leonce, der einzige ›zurechnungsfähige‹ Repräsentant dieser Klasse? Er hat gewiss, wie viele Melancholiker, Humor; doch lachen sehen wir ihn nie. Wir lachen und zwar über Pointen, die in seine Reden eingelegt sind, wir honorieren seine Sprachspiele – aber könnte man sagen, wir lachen mit ihm? Oder über ihn? – Und von Lena könnte man sich nicht einmal vorstellen, dass sie einmal lachen könnte. Das Lachen über den Hof von »Popo« ist ein negierendes Lachen, wie das Lachen Heines oder Voltaires:37 Es greift an worüber gelacht wird. Es ist jenes Lachen, von dem gesagt wird, »es tötet«. Es ist ein Medium der Empörung oder, sich aufhellend, erheiternd, einer Haltung, wie man sie gegen eine Sache ein-

|| 36 Das ist eng verwandt, wenn nicht sinngleich mit Schillers »Dolch der Tragödie«! Schiller nannte seinen Don Carlos einen »Dolch«, mit dem er »der Inquisition« »auf die Seele stoßen« wolle, um »die prostituirte Menschheit zu rächen« (Brief an Reinwald, 14.4.1783). 37 Mein Muster für diesen Typ des Lachens ist ein Dialog Voltaires, in dem zwei Geistliche über Fragen diskutieren, die sowohl ihre Religion als auch das Finanzielle betreffen. Voltaire: Dialoge. Hrsg. v. M. Fontius. Berlin 1981, S. 46–53. Ein non plus ultra.

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nimmt, die man (endlich) für ›erledigt‹ hält: Lange Zeit hatte sie Empörung erregt, jetzt ist sie nur noch ›lächerlich‹. Ein solches Lachen zielt auf Erkenntnis im Sinn des ridentem dicere verum des Satirikers Horaz. Das verum ist ein Urteil, hier die Bloßstellung einer »aussterbenden« herrschenden Klasse (gegensätzlich zu Lumpazivagabundus, verwandt mit Figaro oder der Bettleroper).38 Häufig haben Erkenntnisse im Medium des ridentem dicere etwas Unauffälliges, sich nur langsam Eröffnendes.39 Diskrete wie unterschwellige Wirkungen benötigen etwas Zeit, sind jedoch nicht selten besonders nachhaltig, während spektakuläre Effekte, die ›einschlagen‹, das Nachteilige an sich haben, oft genug schnell zu verhallen.

XI Büchner deutet an, wie es mit Leonce und Lena gemeint ist Zum Abschluß werde ich nun auf zwei überaus wichtige Zeugnisse hinweisen, durch die Büchner, wie ich glaube, anzeigt, dass es sich bei Leonce und Lena um eine politische Komödie handelt und nicht etwa um ein heiteres Divertimento. Aus der Schulzeit erinnern wir uns noch an ›Rechnungsproben‹. Für manche komplizierte Rechnung gab es eine Gegenprobe, und wenn die ›aufging‹, ging davon eine überaus beruhigende Wirkung aus. – Eine solche ›Rechnungsprobe‹ für meine Deutung von Leonce und Lena sehe ich in dem Motto, das Büchner seinem Lustspiel vorangestellt hat (und das bisher vielleicht noch nicht richtig verstanden worden ist); eine zweite in einem Brief an Gutzkow vom Juni 1836, wo in Worten über eine »abgelebte« herrschende Klasse so gut wie sicher auf Leonce und Lena angespielt wird. Beide ›Rechnungsproben‹ möchte ich jetzt vorstellen. A. Das Motto auf dem Titelblatt. – Über Leonce und Lena steht ein Motto, wie man es für ein Lustspiel nicht erwarten würde: Alfieri: E la fama? Gozzi: E la fame?

|| 38 Bloßstellung einer herrschenden Klasse, die ›reif‹ ist abzutreten: Beaumarchais’ Figaros Hochzeit (1784), der vielleicht wirkungsvollsten aller modernen politischen Komödien. – Dass Mozart in Wien nicht Fuß fassen konnte und als freier Künstler unterging, hängt damit zusammen, dass er es wagte, einen Figaro zu komponieren (1786), wodurch er sich die Feindschaft der Wiener Aristokratie zuzog. 39 Eine solche Erkenntnis hat kumulativen Charakter – dann ein ›Sprung‹, und plötzlich (scheinbar plötzlich) geht einem ein Licht auf.

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Dem Ruhm (fama) wird der Hunger (fame) entgegengehalten, dem »Aristokratismus« der Vornehmen und Reichen das Elend der Massen.40 Ein Lustspiel, über dem als Motto der Hunger steht! – Dieses Motto ist aufs Engste verwandt mit dem über dem Hessischen Landboten: »Friede den Hütten! Krieg den Pallästen!« Es zeigt uns an, dass Büchner in seinem Lustspiel keine anderen »Grundsätze«, keinen anderen Maßstab zugrunde legt als im Hessischen Landboten, in Dantons Tod, im Lenz, im Woyzeck. Auf die Frage: »Und der Ruhm?« folgt die Gegenfrage: »Und der Hunger?« Die beiden Fragesätze sind nicht von gleichem Gewicht (so daß die Waage ›einstünde‹). Die Gegenfrage gibt den Ausschlag, sie hat etwas Endgültiges und entscheidet die Sache.41 In der Frage nach dem Hunger steckt noch eine zweite, verborgene: Was ist das für ein »Ruhm«, der bestehen kann, wenn gleichzeitig der Hunger herrscht und diese Realität von der ›hohen‹ Literatur verdrängt bzw. ›überflogen‹ wird? Ein Motto ist ein Leitspruch. Der Autor deutet auf das Sinn-Zentrum seines Werkes. Büchner bezeichnet sein Motto zu Leonce und Lena als »Vorrede«: was offenbar das Gewicht dieser sechs Worte noch erhöht. Ein Motto auf dem Titelblatt gleicht den Emblemen und Titelvignetten in Drucken des 17. und 18. Jahrhunderts. Es ist von erstrangiger Bedeutung. Jede Auslegung des Werkes ist zu befragen, ob sie sich damit vereinbaren lasse. Eine Deutung von Leonce und Lena als heiteres Divertimento, mit dem der Autor des Hessischen Landboten und des Woyzeck alle Politik einmal vergessen wollte, lässt sich mit dem Hunger-Motto nicht vereinbaren.42 B. Verborgener Kommentar zu »Leonce und Lena« in einem Brief. – In dem Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836 schreibt Büchner, man müsse die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding, wie dieße, zwischen Himmel und Erde herumlaufen? Das ganze Leben desselben besteht nur

|| 40 Fama: Ruhm, Prestige, die klassizistische Tragödie Alfieris – konfrontiert mit dem Dasein der arbeitenden Klassen, mit der Realität, die in der ›hohen‹ Literatur allenfalls am Rande vorkommt; vgl. die Auseinandersetzung zwischen Kaufmann und Lenz: »der Apoll von Belvedere« – die »Zuckungen« »des Geringsten«. 41 Deshalb könnte man sich die umgekehrte Reihenfolge, »Und der Hunger? – Und der Ruhm?« nicht denken. 42 Würde ich von Anfang an dieses Motto wirklich verstanden haben, hätte ich nicht lange glauben können, Leonce und Lena sei im Gesamtwerk Büchners ein ›Ausreißer‹.

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in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.43

Mit diesen Worten charakterisiert Büchner (mit Blick auf die deutschen Staaten um 1836) eine »aussterbende« herrschende Klasse. Jedes Wort lässt sich, ohne Gewaltsamkeit und ohne etwas zu ›biegen‹, auf Leonce und Lena beziehen: gerade so, als wäre das Drama die ausgefächerte Anschauung dieser Worte. Der Brief ist Anfang Juni 1836 geschrieben. In dieser Zeit, Juni bis Anfang September, schreibt Büchner Leonce und Lena. Wir dürfen die Worte im letzten Abschnitt des Briefes als latenten Kommentar lesen: Sie sagen uns, wie es mit dem Lustspiel ›gemeint‹ ist. Für seinen Dichter ist es eine politische Komödie, soviel steht fest. Der zitierte Brief ist einer der wichtigsten politischen Briefe Büchners überhaupt. Büchner spricht darin von einem »absoluten Rechtsgrundsatz« »in socialen Dingen«, von dem man »ausgehen« müsse; von »zwei Hebeln«, mit denen die »große Klasse« in Bewegung gebracht werden solle (einer dieser Hebel ist der Hunger); von »Eisen und Brod« und von einem »neuen geistigen Leben«, das man »im Volk« suchen müsse. – Wenn ihm in einem solchen Kontext Leonce und Lena in den Sinn kommen kann, ist das eine gewichtige Bestätigung dessen, was oben ausgeführt ist. Eine Auslegung von Leonce und Lena muss daraufhin befragt werden, ob sie mit den Aussagen in diesem Brief zusammenstimme. (Wie ich es auch von dem Motto gesagt habe.) Vermutungen zu einem dunklen Hintergrund dieses Briefes (was nicht weniger das Lustspiel Leonce und Lena überhaupt betrifft): Die eingangs zitierten Worte nehmen sich aus wie eine heiter-distanzierte diagnostische Beschreibung schon »abgelebter« Machthaber. Das ist der Schein. Die Wirklichkeit ist eine ganz andere. Diese Abgelebten, die noch »zwischen Erde und Himmel herumlaufen« (wie ratlos, als wüssten sie nicht mehr ein noch aus) usw., sind noch

|| 43 abgelebte moderne Gesellschaft: ein scheinbarer Widerspruch; »modern« meint hier die zeitgenössische Gesellschaft, und zwar die in den deutschen Staaten (nicht die moderne bürgerliche in Frankreich); abgelebt: als handele es sich um einen biologischen Alterungsprozess; zum Teufel gehen lassen: insinuiert, diese Gesellschaft gehe von selbst zugrunde (»lassen«), als brauchte man ihrem Verfall nur noch zuzusehen. Büchner, Weidig und ihre Mitverschworenen wissen das besser; Ding: natürlich pejorativ, verdient kaum noch eine eigentliche Benennung; zwischen Himmel und Erde herumlaufen: ziellos, ohne Sinn und Verstand, haben auf dieser Welt nichts mehr verloren; entsetzlichste Langeweile: innere Verödung, Leerlauf, das Zirkuläre (vgl. das oben S. 226–238 zu »Langeweile«, »Depression« und zur dramatischen Struktur Ausgeführte); aussterben: wie oben abgelebt; das einzig Neue, was sie noch erleben können: nämlich ihren Tod; sarkastischer Widerspruch, Gegensätze ineinandergeschoben.

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sehr lebendig. Es sind Büchners Verfolger. Von ihnen befürchtete er das Äußerste,44 auch seine Auslieferung (Angstträume, ausgeliefert zu werden, noch auf dem Totenbett). Wir müssen die Situation dessen bedenken, der hier spricht. Der Emigrant, dessen Mitverschworene eingekerkert oder geflohen sind, wird gewusst haben, was Depressionen sind, vielleicht auch, was Verzweiflung ist. Der düstere Hintergrund dieses Lustspiels ist vielleicht noch nicht genügend bedacht worden. Die heiter-überlegenen Worte überblenden das, was nicht ausgesprochen wird. Ich meine also, sie enthalten starke Momente von A u t o s u g g e s t i o n. Ich darf hier nicht schließen, ohne ein Wort über den Empfänger des Briefes zu sagen. Gutzkow hat gewiss die Tapferkeit dieses Briefschreibers bewundert; doch er wird auch die scheinbare Heiterkeit, deren dunklen Grund er nicht verkennen konnte, schmerzlich empfunden haben. Und mit welchen Gefühlen mag er diese Zeilen wieder gelesen haben, als er erfahren musste, Büchner sei neun Monate nach diesem Brief in Zürich gestorben? Büchner ist wenig von außen zuteil geworden. Gutzkow ist eine seltene, rühmenswerte Ausnahme. Das tiefe Verständnis, das er dem jungen Dichter entgegenbrachte, seine Anteilnahme und seine Hilfsbereitschaft, die er von Beginn an und jederzeit bewährt hat, kann ich nicht genug rühmen. Seine Briefe an Büchner zu lesen ist etwas wie ein Trost.

|| 44 Vgl. den ›beruhigenden‹ Brief an die Eltern vom 17.8.1835 zur Gefahr, Prinz Emil von Hessen könnte bei seinem Aufenthalt in Straßburg die Auslieferung der steckbrieflich Verfolgten verlangen: »Die Gegenwart des Prinzen Emil, der eben hier ist, könnte vielleicht nachtheilige Folgen für uns haben, im Fall er von dem Präfecten unsere Ausweisung begehrte; doch halten wir uns für zu unbedeutend, als daß seine Hoheit sich mit uns beschäftigen sollte. Uebrigens[!] sind fast sämmtliche Flüchtlinge in die Schweiz und in das Innere abgereist, und in wenigen Tagen gehen noch Mehrere, so daß höchstens fünf bis sechs hier bleiben werden«. – Das sind Worte, die mit Überlegung und Umsicht gesetzt sind. Sprachlich ist das elegant; doch was sagt man zur Logik in diesen Sätzen?

Roland Borgards (Würzburg)

Performing Species. Menschenpolitik und Tiertheorie im Woyzeck (H1,1; H1,2) »Ob Mensch, ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur die Last vom Rücken genommen ist.« (Walter Benjamin: Franz Kafka)1

Büchners Werk ist geprägt von einer kritischen Haltung gegenüber einer normativen Gesellschaft, die durch sozialen Ausschluss infame Menschen erzeugt. Es wendet sich gegen einen idealistischen Subjektentwurf, der politische Herrschaftsverhältnisse verinnerlicht und damit zugleich stützt. Es verurteilt die Kapitalisierung des Lebens, in deren Zuge Menschen massenhaft bis an den Rand ihrer Existenz aus- und leergeschöpft werden. Angeklagt wird das emanzipierte Bürgertum, das seine historische Kraft nicht in den Dienst der Menschheit stellt, sondern nur zum eigenen Selbsterhalt nutzt. Gleichzeitig finden sich in Büchners Werk überall die Spuren einer naturwissenschaftlichen Haltung, die ihre Objekte durch elaborierte Verfahren der Beobachtung erzeugt. Darin zeigt sich Büchners Affinität zu den modernen Lebenswissenschaften, den Life Sciences, wie sie sich um 1800 zu etablieren beginnen. Im Rahmen dieser Lebenswissenschaften entfaltet auch bei Büchner eine Zoologie ihre Wirkkraft, vor deren epistemischem Anspruch die Differenz von Mensch und Tier an Wert verliert. Man könnte das als einen Konflikt beschreiben: auf der einen Seite ein politisches Engagement, das vom Eigenen des Menschen seinen Ausgang nimmt, von seiner Würde, seiner Humanität; auf der anderen Seite eine wissenschaftliche Arbeit, unter deren Zugriff sich das Eigene des Menschen zugunsten einer alle Lebewesen umfassenden Biologie verliert. Im Folgenden möchte ich einen umgekehrten Weg vorschlagen und zeigen, dass Büchners politische Kritik durch die Schließung des great divide zwischen dem Humanen und dem Animalen und durch die Infragestellung der anthropologischen Differenz nicht etwa an Kraft verliert, sondern vielmehr an Schärfe gewinnt. Diesen Problemzusammenhang werde ich nicht systematisch, sondern exemplarisch entfalten, also nicht in einem umfassenden, Büchners naturwis-

|| 1 Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: Ders.: Gesammelte Schriften II.2. Literarische und ästhetische Essays. Fortsetzung. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 409–438, hier S. 438.

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senschaftliche und literarische Schriften vergleichenden, sondern in einem auf den Woyzeck beschränkten Zugriff. Mit Blick auf den Woyzeck wird es mir zudem vor allem um die – textgenetisch gesprochen – ersten zwei Szenen2 gehen, und hier wiederum eigentlich nur um drei Begriffe, die ich einem historischspekulativen Kommentar3 unterziehe: zunächst den Begriff des »Anfangs«, der auf die politische Theologie des Augustinus verweist; sodann den Begriff der »Person«, der sich von Immanuel Kants pragmatischer Anthropologie her profilieren lässt; und schließlich den Begriff der »Kreatur«, den ich ausgehend von der Rechtsphilosophie Jeremy Benthams lesen werde. Spekulativ bleiben diese Kommentare, insofern sie nicht faktische Einflüsse nachzeichnen, sondern Perspektiven für die Interpretation eröffnen wollen. Die Kommentare erschließen zunächst lediglich das enge Feld zweier von Büchner nur vorläufig skizzierter Szenen. Zugleich aber sind diese Szenen, gerade weil sie den Anfang machen, von paradigmatischer Bedeutung für den Gesamtzusammenhang des ganzen Textes und auch für Büchners implizite Theorie des Politischen. Bei allen drei historisch-spekulativen Kommentaren geht es mir um die Konsequenzen, die sich aus der theoretischen Berücksichtigung der Tiere für die Fragen der Menschenrechte und des Humanismus ergeben. Um es vorweg als These zu formulieren: Die Frage nach dem »Anfang« verweist darauf, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht eine Sache anthropologischer Gegebenheiten, sondern das Ergebnis eines politischen Handelns ist; am Konzept der »Person« zeigt sich der ausschließende – man könnte auch sagen: diskriminierende, spezifizierende4 – Grundzug einer Ethik, die ihren Ausgangspunkt im Ausschluss der Tiere hat; und mit dem Hinweis auf die »Kreatur« wird die Möglichkeit angedeutet, durch den theoretischen Einschluss der Tiere zu

|| 2 Vgl. zu diesen Szenen immer noch vor allem Günter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ›voie physiologique‹ in Georg Büchners Woyzeck. In: GBJb 3 (1983), S. 200–239. 3 Zur Methode des historisch-spekulativen Kommentars vgl. Markus Krajewski, Harun Maye, Bernhard Siegert: Moby-Dick. Ein historisch-spekulativer Kommentar. In: Neue Rundschau 2/123 (2012), S. 7–13; für den weiteren methodischen Kontext der Literary Animal Studies vgl. Roland Borgards (Hrsg.): Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2015. Zu den Tieren bei Büchner und zu Büchners naturwissenschaftlichen Schriften vgl. – mit Hinweisen auf die einschlägige Forschung – die Erläuterungen im Büchner-Handbuch, S. 218–225 u. S. 123–129. Zu den Tier-Begriffen dieser Szenen vgl. auch Dietmar Schmidt: »Viehsionomik«. Repräsentationsformen des Animalischen im 19. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 11 (2003), S. 21– 46. 4 Zum Problem des »Speziesismus« vgl. z. B. Weil Kari: A Report on the Animal Turn. In: Differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 21/2 (2010), S. 1–23.

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einem inklusiven Humanismus, zu umgreifenden Lebensrechten und damit zu einem menschengerechten politischen Handeln zu gelangen.

1 Anfang (Augustinus) Büchners erste Woyzeck-Szene, H1,1, ist in vierfacher Hinsicht mit dem Problem des Anfangs und des Anfangens befasst.5 Erstens markiert diese Szene den Anfang von Büchners Arbeit am Manuskript: Büchner beginnt zu schreiben. Zweitens ist diese Szene im ersten Entwurf zugleich auch der Anfang des dramatischen Geschehens: Die Figuren beginnen zu handeln. Drittens wird dieses theatrale Anfangen in einer mise en abyme, einem Theater im Theater, von einer der handelnden Figuren, dem Ausrufer der Tierschau, selbst thematisiert: »Die rapräsentation anfangen! Man mackt Anfang von Anfang. Es wird sogleich seyn das commencement von commencement.« (MBA 7.2, S. 3) Und viertens schließlich wird die Frage des Anfangs aus der Sphäre der Literatur, des Theaters und der Tierschau auf das Feld der Lebenswissenschaften übertragen und hier genauer auf das Thema der Anthropogenese, auf den Beginn des Menschen: »Meine Herren! Meine Herren! Sehn sie die Kreatur, wie sie Gott gemacht, nix, gar nix. Sehen Sie jetzt die Kunst, geht aufrecht hat Rock und Hosen, hat ein Säbel!« (MBA 7.2, S. 3) So lässt Büchner am Anfang seines Schreibens und am Anfang seines Stückes einen vom Anfangen plappernden Marktschreier den Anfang des Menschen in Szene setzen. In einer Kritik am antiken Konzept vom Kreislauf der Seelen entwirft Augustinus in De Civitate Dei die Umrisse einer theologischen Anthropologie, für die es in einem eigentlichen Sinn der Mensch ist, der den Anfang macht, der den Anfang in die Welt bringt: »[Initium] ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit.«6 In deutscher Übersetzung: »einen Anfang [...] aber hat es in dieser Weise vorher nie gegeben. Er trat ins Dasein mit der Erschaffung eines Menschen, vor dem kein Mensch da war.«7 ›Menschsein‹ und ›Einen-Anfang-machen-können‹ fallen in eins; der Mensch ist der Anfang; nur er fängt etwas an. Der Anfang des Menschen ist aus der Perspektive der christlichen Schöpfungs-

|| 5 Vgl. hierzu auch Michael Ott: »Die rapräsentation anfangen!« Figuren des Anfangs bei Georg Büchner (unveröffentlichter Vortrag; Mainz, 12.10.2012). 6 Aurelius Augustinus: De civitate dei libri XXII. Bd. 1. Lib. I-XIII. Leipzig͒1921, XII 20. 7 Ders.: [Z]weiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übersetzt von Alfred Schröder. Bd. 2 (Buch IX–XVI). Kempten u. München 1914 (= Bibliothek der Kirchenväter. Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus Ausgewählte Schriften [...]. Bd. 2), S. 241.

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geschichte mithin der Anfang des Anfangens selbst. So formuliert es Hannah Arendt im Anschluss an Augustinus in ihrer Vita activa: Dieser Anfang, der der Mensch ist, insofern er Jemand ist, fällt keinesfalls mit der Erschaffung der Welt zusammen; das, was vor dem Menschen war, ist nicht Nichts, sondern Niemand; seine Erschaffung ist [...] das Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist anzufangen: es ist der Anfang des Anfangs oder des Anfangens selbst.8

Es hat also auch seinen theologischen Sinn, wenn der Marktschreier, der ja schon gleich zu Beginn von Gott und seiner Schöpfung spricht, den »Anfang von Anfang, [...] das commencement von commencement« ankündigt: Er zitiert damit den Augenblick der christlichen Schöpfungsgeschichte, in dem der Mensch erscheint, und zwar in einer strikten Differenzierungsgeste zu den Tieren: »creatus est homo, ante quem nullus fuit«. Vor dem Menschen war nichts und vor allem niemand, in den Worten des Marktschreiers: »nix, gar nix«. Eine Kreatur ist noch kein Mensch; mit ihr muss der Anfang erst noch gemacht werden; ihr muss der Anfang erst noch gegeben werden. Die Anthropologie, die Augustinus im Rahmen seiner politischen Theorie formuliert,9 ruht damit auf dem Ausschluss der Tiere aus dem Raum des Humanen, des Handelns, der Freiheit, der Politik. Die marktschreierische Ankündigung der Anthropogenesenperformance spielt nun mit der von Augustinus vorausgesetzten Grenze zwischen Mensch und Tier.10 Es ist nicht Gott, der den Anfang setzt, sondern ein Marktschreier; es ist nicht ein Mensch, der aus dem Nichts mit einem Anfang begabt wird, sondern ein Tier, das mit Rock, Hose und Säbel ausgestattet wird; es ist der Anfang nicht etwas dem Menschen Gegebenes, sondern ein am Tier Gemachtes: »man mackt Anfang von Anfang«. Was der Marktschreier betreibt, ist damit zunächst einmal eine Ironisierung der augustinisch-christlichen Anthropologie. Der Mensch ist keine Gabe Gottes, er ist machbar. Einer ersten Lesart nach deutet diese Szene an, was im Folgenden kritisiert werden soll: die Mechanismen der Herrschaft, die Gewalt der Kultur, die Anima-

|| 8 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2010, S. 166. 9 Vgl. allgemein zur Anthropologie des Augustinus und zu deren differentialistischer, über die ratio des Menschen argumentierender Grundstruktur Christoph Horn: Augustins Anthropologie. Zwischen Dualismus und Hylomorphismus. In: Ludger Jansen, Christoph Jedan (Hrsg.): Philosophische Anthropologie in der Antike. Heusenstamm bei Frankfurt a. M. 2010, S. 381–397, insb. S. 388f. 10 Vgl. zu diesem Zusammenhang mit Blick auf den Hessischen Landboten nochmals den Vortrag von Michael Ott (s. Anm. 5).

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lisierung des Menschen. Wenn die Grenze zwischen Mensch und Tier in Frage gestellt wird, dann führt das offenbar zum einen dazu, dass Menschen wie Tiere behandelt werden (Woyzeck wird zum Versuchstier des Doktors), zum anderen dazu, dass Menschen wie Tiere handeln (Woyzeck ermordet Marie). Aus dieser Perspektive ist das, was der Marktschreier in seiner Tierschau vorführt, der Grund allen Übels: Wo die anthropologische Differenz außer Kraft gesetzt wird, da wird der Mensch zur Bestie. Als Gegenmittel gegen eine solche Animalisierung des Menschen bietet sich ein exklusiver Humanismus an, der die Rechte des Menschen zur Grundlage einer jeden Politik erhebt. Büchner hat für diese Menschenrechte gekämpft. Allerdings führt eine solche Lesart dieser Szene zum einen nicht weit genug und ruht zum anderen auf problematischen Voraussetzungen. Nicht weit genug führt diese Lesart, insofern mit der Experimentalisierung Woyzecks (Woyzeck wird wie ein Tier behandelt) nicht nur dessen ethisch fragwürdige Ausnutzung, sondern die gesamte Logik des Tier- und Menschenexperiments auf dem Spiel steht.11 Auf einer problematischen Voraussetzung ruht diese Lesart, insofern die Animalisierung der Tötung (Woyzeck handelt wie ein Tier) erstens von einem mehr als fragwürdigen Konzept des Tieres als eines gewalttätigen Wesens ausgeht, zweitens die Zuschreibung des Doktors –»So meine Herren, das sind so die Uebergänge zum Esel« (MBA 7.2, S. 20) – bekräftigt und drittens die eigentlich kritisch anvisierte psychiatrische Debatte um die Tat des historischen Woyzeck in ihrer Metaphorik der »Verwilderung«12 und der »thierischen Lüste«13 affirmativ reproduziert. Welche konstitutive Rolle die Rede von der Bestie Mensch für diese Debatte um die Frage der Zurechnungsfähigkeit hat, zeigt sich schon allein darin, dass sie auf beiden Seiten der Debattenfront rhetorisch genutzt wird. Woyzeck, darin sind sich z. B. Johann Christian August Grohmann und Johann Christian August Heinroth noch in der heftigsten Auseinandersetzung unausgesprochen einig, handelt als Bestie, als Tier: »Namentlich läßt er das Thier im Menschen eine große Rolle spielen, und schreibt ihm eine überwiegende Gewalt über die Vernunft zu«, so referiert Heinroth die Position Groh-

|| 11 Vgl. hierzu Nicolas Pethes: »Viehdummes Individuum«, »unsterblichste Experimente«. Elements for a Cultural History of Human Experimentation in Georg Büchner’s Dramatic Case Study »Woyzeck«. In: Monatshefte 98 (2006), S. 68–82; Harald Neumeyer: »Hat er schon seine Erbsen gegessen?« Georg Büchners »Woyzeck« und die Ernährungsexperimente im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. In: DVjs 83 (2009), S. 218–245. 12 So zu finden bei Clarus (MBA 7.2, S. 368), im Leipziger Tageblatt vom 25. August 1824 (ebd., S. 373), bei Heinroth (vgl. ebd., S. 378), Grohmann (ebd., S. 396), Vogel (ebd., S. 424) und Hoffbauer (ebd., S. 439). 13 So im Leipziger Tageblatt vom 25. August 1824 (MBA 7.2, S. 375).

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manns, in dessen Augen es »ungerecht sey, das Thier im Menschen zur Rechenschaft zu ziehen«.14 Und Heinroth fährt, in explizitem Widerspruch und impliziter Übereinstimmung, fort: »Der Mensch kommt nicht als Bestie auf die Welt, und ist auch nicht zur Verthierung [...] bestimmt. Wird der Mensch zur Bestie, ist es seine Schuld.«15 Die gesamte Debatte ruht offenbar auf der unhinterfragten Engführung von psychischer »Abnormität«16 und unbeherrschbarer bzw. unbeherrschter Animalität. Will man diese Engführung in der eigenen Interpretation nicht wiederholen, dann bietet sich eine zweite mögliche Lesart der marktschreierischen Tierperformance an. Denn was passiert, wenn man sie nicht nur als Gegenstand, sondern zugleich auch als Mittel der Kritik betrachtet? Dann macht vielleicht der Marktschreier mit seiner Tierperformance nicht das Falsche, sondern genau das Richtige; dann ist vielleicht in dieser Szene das Entscheidende gar nicht, was er macht, sondern dass er es macht; dann verweist die Aufführung der Anthropogenese nicht auf den Determinismus der Dressur, sondern auf den Spielraum der Performanz;17 dann liegt darin, dass der Mensch ein Gemachter ist, kein Zwang, sondern eine Freiheit;18 und dann besteht das Problem gar nicht darin, dass Menschen wie Tiere behandelt werden oder wie Tiere handeln, sondern darin, dass die Tiere falsch behandelt werden, genauer: dass sie theoretisch nicht berücksichtigt werden, dass sie im klassischen Entwurf der Menschenrechte keine Rolle spielen, dass sie nicht in die Theorie und Praxis einer menschengerechten Politik integriert werden. Als Gegenmittel gegen diesen

|| 14 Johann Christian August Heinroth: System der psychisch-gerichtlichen Medizin, oder theoretisch-praktische Anweisung zur wissenschaftlichen Erkenntniß und gutachtlichen Darstellung der krankhaften persönlichen Zustände, welche vor Gericht in Betracht kommen. Leipzig 1825, hier zitiert nach MBA 7.2, S. 383. 15 Ebd. Vgl. hierzu auch die Formulierung in einer Rezension der Debatte, Woyzeck handele »wie das Thier« (ebd., S. 406), sowie die topische Korrelation von »Thier« und »Trieb« in Henkes Lehrbuch der Medizin (ebd., S. 425). 16 MBA 7.2, S. 383. 17 Performanz hier und im Folgenden nach Judith Butler: Einleitung. Gemeinsam handeln. In: Dies.: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber. Frankfurt a. M. 2009, S. 9–33. Zum Zusammenhang von Performativität und Animalität vgl. demnächst die im Entstehen begriffene und die hier vorgelegten Überlegungen mit inspirierende Dissertation von Esther Köhring: Tiere auf der Bühne. Animalisieren, Theatralisieren, Experimentalisieren. 18 Vgl. Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen (s. Anm. 17), S. 12: »Meine Handlungsfähigkeit besteht nicht darin, diese Bedingung meines Zustandekommens zu leugnen. Falls ich irgendeine Handlungsfähigkeit habe, wird sie durch die Tatsache eröffnet, dass ich durch eine soziale Welt zustande komme, die ich niemals wähle.«

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Ausschluss des Animalischen bietet sich ein inklusiver Humanismus an,19 der das Leben der Kreatur zur Grundlage einer jeden Politik erhebt. Darum geht es in Büchners Werk und insbesondere in den Woyzeck-Fragmenten, und hier schon von Anfang an, beginnend mit dem ironisierenden Zitat der augustinischen Anthropologie: Büchner problematisiert das Anwendungsproblem der Menschenrechte (Wer garantiert, dass die Menschenrechte bei allen Menschen Anwendung finden, und wer regelt die Regeln der Anwendung?);20 und er ergänzt die potentiell exklusiven Menschenrechte um inklusive Lebensrechte. Enggeführt werden auf diese Weise nicht Anormalität und Animalität, sondern Menschenrechte und Lebensrechte. Damit bewegt sich Büchner ganz im Rahmen frühsozialistischer Argumente, wie sie etwa François Noël Babeuf formuliert: »Das Recht zu leben ist das Recht ›par excellence‹.«21 Wer, so kann man nun weiterfragen, ist das Subjekt solcher Lebensrechte? Büchners Woyzeck beantwortet diese Frage mittels einer begrifflichen Differenzierung: Das Recht zu leben, so wird im Folgenden zu zeigen sein, ist bei Büchner nicht das Recht einer Person, sondern das Recht der Kreatur.

2 Person (Kant) Kritisiert wird in der Marktschreier-Sequenz nicht nur der christliche, sondern auch der aufgeklärte Entwurf des Menschen. Denn was sich herstellen lässt, wenn man einem Affen den aufrechten Gang oder einem Pferd das Rechnen beibringt, das ist, so formuliert es der Marktschreier, »kein viehdummes Individuum, das ist eine Person!« (MBA 7.2, S. 3.) Den Begriff der Person nutzt Imma-

|| 19 Zum Konzept des inklusiven Humanismus vgl. Thomas Machos Artikel in der NZZ vom 19.10.2012: Alle sind sterblich. Tiere, Menschen und Maschinen (online abgerufen am 12.12.2012 unter http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/plaedoyer-fuer-einen-inklusiven-humanismus-1.17698753). 20 Zum Anwendungsproblem der Menschenrechte vgl. Giorgio Agamben: Die Menschenrechte und die Biopolitik. In: Ders.: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002, S. 135–144. 21 Zit. nach Bodo Morawe: »Bonjour Citoyen!« Georg Büchner und der französische Republikanismus der 1830er Jahre. In: Ariane Martin, Isabelle Stauffer (Hrsg.): Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 29–59, hier S. 51; dort auch eine Fülle weiterer Belege für das »Recht auf Leben« (z. B. ebd., S. 49) als Kernargument des Frühsozialismus. Zu den problematischen Implikationen einer Verknüpfung des Lebens mit dem Recht vgl. Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann, Hubert Thüring (Hrsg.): Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800. München 2005, hier insbesondere Johannes Lehmann: Energie, Gesetz und Leben um 1800, ebd., S. 41–66.

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nuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, um das Eigene des Menschen in Abgrenzung zu den Tieren zu beschreiben. Dies geschieht an einer programmatischen Stelle des Textes, im ersten Satz des ersten Paragraphen; auch hier handelt es sich – wie bei Büchner, wie bei Augustinus – um einen Anfang, der gemacht wird, um den Anfang der Anthropologie, um den Anfang des Menschen, der sich aus einer Differenzierungsgeste gegenüber den Tieren ergibt: Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person [...], d.i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen.22

Einerseits spricht Kant zwar von einer Gemeinsamkeit zwischen Menschen und Tieren: Beide gehören sie zu den »lebenden Wesen«; gemeinsam sind ihnen ihre Körper, ihre Physis. Kant setzt dabei offenbar voraus, dass es sich nicht nur um eine vage Ähnlichkeit der Körper, sondern um eine physiologische Identität handelt, um das organische Leben als gemeinsame Seinsweise. Aus dieser Gemeinsamkeit des Lebens leitet er jedoch keine gemeinsamen Rechte ab, sondern sieht in ihr vielmehr die Notwendigkeit begründet, einen Unterschied zu machen: Der Mensch ist das Wesen, bei dem ein ›Ich denke‹ alle seine Vorstellungen muss begleiten können; er allein besitzt in einem eigentlichen Sinn ein Inneres, eine Seele, einen Geist.23 Kant betont, dass es sich dabei nicht um einen graduellen, sondern um einen kategorialen Unterschied handelt, ist der Mensch doch »unendlich« über alle anderen Lebewesen erhoben. Gegen die Gemeinsamkeit des Lebens forciert Kant also die Differenz, den unendlichen Unterschied zwischen Person und Sache. Dieser Unterschied ist von ethischer Relevanz: Personen sind diejenigen Lebewesen, mit denen man nicht machen darf, was gegenüber Sachen und Tieren legitim erscheint. Mit Tieren darf »man nach Belieben schalten und walten«, mit Menschen nicht. Das

|| 22 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798/1800). In: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968, Bd. 12, S. 407. Vgl. zu diesem Zusammenhang Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Wien 2010, S. 140–153. 23 Zur begrenzten ethnologischen und historischen Reichweite eines Naturalismus, der Menschen und Tiere in einer gemeinsamen Physikalität vereint, um sie umso strikter hinsichtlich ihrer Interiorität voneinander zu trennen, vgl. Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 2011.

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Gebot, Menschen gut zu behandeln, wird hier aus der Erlaubnis abgeleitet, Tiere schlecht zu behandeln. Dass Tierethiker an solch einem Argument nicht nur Gefallen gefunden haben, liegt auf der Hand. Aber nicht um das tierethische Argument geht es mir hier, sondern darum, welche Konsequenzen dieser theoretische Ausschluss der Tiere für das Anwendungsproblem der Menschenrechte nach sich zieht. Kants Differenzierung zwischen Person und Sache (bzw. zwischen Mensch und Tier) sieht vom Leben als verbindendes Element ab. Indem er auf diese Weise den Begriff des Lebens aus dem Begriff der Person ausschließt, macht er es zugleich unmöglich, so etwas wie »Lebensrechte« zu denken. Oder noch einmal anders formuliert: Menschenrechte können aus dieser Perspektive nur Personenrechte, nicht aber Lebensrechte sein. Indem nun bei Büchner der Marktschreier seine Tiere zu Personen erhebt, passiert mit Kants aufklärerischer Anthropologie etwas Ähnliches wie zuvor schon mit Augustinus’ theologischer Anthropologie: Sie wird zu einem Zitat innerhalb einer ironischen Anthropogenesenperformance, in der es nicht in der Natur der Sache, sondern im Geschick eines dressierenden Artisten liegt, ob ein lebendes Wesen zugleich als Person anzusehen ist oder nicht. Die Person, so führt der Marktschreier vor, ist keine Gegebenheit der Anthropologie, sondern ein Produkt der Kunst. Wie schon mit Blick auf Augustinus, sind auch hier zwei in unterschiedliche Richtungen weisende Lesarten denkbar. Entweder begreift man die Tierschau als unbefugte und gefährliche Anmaßung, die nicht den Tieren Rechte verleiht, sondern den Menschen seiner Rechtssicherheit beraubt, insofern sie die anthropologische Differenz einebnet und damit nicht etwa dazu auffordert, Tiere wie Menschen zu behandeln, sondern dazu ermächtigt, Menschen wie Tiere zu behandeln. Und genau dies geschieht ja in den Versuchen des Doktors: Er behandelt Woyzeck wie »ein vernunftloses Tier«, mit dem »man nach Belieben schalten und walten kann«. Oder aber man kehrt die Perspektive um und liest die Tier-Performance des Marktschreiers als Hinweis darauf, dass sich der Personenstatus eines lebenden Wesens nie von selbst versteht, dass er vielmehr immer gewollt und gesucht werden muss, dass er mithin nicht die Voraussetzung politischen Handelns ist, sondern das erste Objekt der Politik: Politik beginnt dort, wo Rechtssubjekte in einer performativen Geste hergestellt werden, und nicht erst dort, wo ausformulierte Rechte auf vorab konstituierte Subjekte angewendet werden.

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Dies öffnet den Blick auf die Performativität eines jeden Redens über die Tiere und die Menschen.24 Denn die Species Performance, die der Marktschreier bei Büchner betreibt, ist lesbar als Element einer übergreifenden Performativität der Arten, in der Menschen, Grottenolme25 und Amöben26 ihre Form und ihre Materialität gewinnen.27 Büchners Woyzeck macht mit der Tier-Vorführung des Marktschreiers mithin deutlich, dass nicht nur sie selbst, sondern im Rückschluss auch Kants erster Paragraph der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und Augustinus’ anthropologischer Abschnitt aus De Civitate Dei genuin politische Akte sind, die nicht allein für die Tiere, sondern auch für die Menschen von eminenter Bedeutung sind. Im Reden über die Tiere betreiben Augustinus, Kant und der Marktschreier Anthropopolitik.

3 Kreatur (Bentham) Jeremy Benthams utilitaristische Ethik28 formuliert als Ziel menschlichen Handelns die Erzeugung einer möglichst großen Menge Glück. Zur allgemeinen Glücksvermehrung kann man beitragen, indem man das eigene Glück oder indem man das Glück von anderen fördert. Wer, so fragt Bentham 1789 in seiner Introduction to the Principles of Morals and Legislation, können diese anderen sein? What other agents then are there, which, at the same time that they are under the influence of man’s direction, are susceptible of happiness? They are of two sorts: 1. Other human beings who are styled persons. 2. Other animals, which on account of their interests

|| 24 Man muss nur den redenden Marktschreier und den handelnden Affen in einer Figur zusammenfassen, um bei Franz Kafkas Bericht für eine Akademie anzukommen und mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert zu sein; vgl. hierzu Gerhard Neumann: Franz Kafka. Experte der Macht. München 2012, S. 192, der mit Blick auf Kafka formuliert: »Es ist also der Sprechakt, nicht als konstatives, sondern als performatives Ereignis aufgefasst, der das Tier zum Menschen macht«. 25 Vgl. MBA 7.2, S. 16: »Wenn es noch ein Proteus wäre, der einem krepirt!« 26 Vgl. ebd.: »Stoß er mir nicht an’s Mikroskop, ich hab eben den linken Backzahn von einem Infusionsthier darunter.« 27 Vgl. zu Performativität und Materialisierung nochmals Judith Butler, vor allem dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a. M. 1995, S. 24ff. 28 Zu Büchners grundsätzlicher Distanz zu utilitaristischen Argumenten, insofern für ihn das Leben stets sein eigener Zweck ist, vgl. den Beitrag von Arnd Beise in diesem Band (S. 93–101).

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having been neglected by the insensibility of the ancient jurists, stand degraded into the class of things.29

Zwei »sorts of agents« gibt es also: »human beings« und »animals«. Beide Kategorien werden von Bentham mit weiteren Bestimmungen versehen. Hinsichtlich der Menschen wirkt die genauere Definition – »who are styled persons« – zugleich als eine Einschränkung, wie sie auch Kant formuliert: Menschen kommen für eine Ethik in Betracht, insofern sie als Personen konfiguiert sind. Damit wird auch bei Bentham eine riskante Logik der Ausnahme in Gang gesetzt, die unmittelbar in das Anwendungsproblem der Menschenrechte führt – ohne dass dies indes von Bentham weiter erörtert würde. Hinsichtlich der Tiere bietet Benthams historische Erzählung (»having been neglected by the insensibility of the ancient jurists«) eine Kritik der Philosophiegeschichte (»neglected«, »insensibiltiy«), die zugleich eine Aufwertung der Tiere impliziert, die man eben nicht – wie das Kant in seiner Anthropologie vorschlägt – gefühllos missachten, sondern einfühlend beachten soll. Das philosophiegeschichtliche Missverhältnis, das die Tiere als Sachen adressiert, kommentiert Bentham dann mit einer berühmt gewordenen Fußnote, die zunächst auf die kulturellen Unterschiede im Umgang mit den Tieren hinweist, dann die europäische Tiernutzung mit dem politischen Begriff der »tyranny«30 diskreditiert und schließlich gegen die anthropologische Differenzierung mittels Sprache (z. B. bei Aristoteles) oder mittels der Vernunft (z. B. bei Descartes) die philosophische Frage nach dem Tier neu ausrichtet: What else is it that should trace the insuperable line? Is it the faculty of reason, or, perhaps, the faculty of discourse? But a full-grown horse or dog, is beyond comparison a more rational, as well as a more conversible animal, than an infant of a day, or a week, or even a month, old. But suppose the case were otherwise, what would it avail? the question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?31

Dass Tierethiker an diesem Argument großen Gefallen gefunden haben, liegt auf der Hand. Doch wie schon mit Blick auf Kant geht es mir auch hier nicht um eine tierethische Argumentation, sondern darum, welche Konsequenzen der theoretische Einschluss der Tiere für das Anwendungsproblem der Menschenrechte nach sich zieht: Wie lässt sich garantieren, dass die Menschenrechte

|| 29 Jeremy Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789). Bd. 2. London 1823, S. 234f. 30 Ebd., S. 235. 31 Ebd., S. 236.

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überhaupt angewendet werden und dass sie auf alle Menschen angewendet werden; und welchen Beitrag hierfür können die Tiere leisten? Die ephemeren Effekte des argumentativen Einschlusses der Tiere in die Ethik des Humanen lassen sich schon bei Bentham selbst finden. Um diese Effekte zu beschreiben, ist es zunächst nötig, den Ort zu beachten, an dem Bentham seine kurze und revolutionäre Geschichte der abendländischen Tiertheorie erzählt: in einer Fußnote, unter dem Strich, im Nebentext. Über die Tiere spricht Bentham am Rand; diese periphere Stellung der Tiere in einem der Zentraldokumente der europäischen Tierethik ist beachtlich. Denn im Haupttext werden die Tiere zwar erwähnt, als die »other animals«, die neben den »human beings« auch empfänglich für Glück sind (»susceptible of happiness«); aber sie werden dann in der weiteren Argumentation nicht berücksichtigt. Zur Debatte steht im Folgenden wieder ausschließlich das Glück der Menschen. Doch ist mit diesen Menschen, von denen nun die Rede ist, begrifflich etwas geschehen: Vor der Animal-Suffering-Fußnote ist im Haupttext von »human beings« die Rede; in der Fußnote selbst und im Absatz nach der Tier-Fußnote sind aus den »human beings« »human creatures«32 geworden: Hier wird der Mensch nicht als ein eigentümliches und von anderen Wesen prinzipiell unterschiedenes Sein, sondern als eine Kreatur unter Kreaturen, als ein Lebewesen unter Lebewesen begriffen. Zurück nun zu Büchner, zum ersten Satz der ersten Szene der ersten Handschrift: »Meine Herren! Meine Herren! Sehn Sie die Kreatur«. Adelungs Grammatisch-Kritisches Wörterbuch unterscheidet für den Begriff »Kreatur« vier Bedeutungsdimensionen, von denen hier die ersten drei von Interesse sind. Eine Kreatur ist in weitester Bedeutung »ein jedes geschaffenes Ding«;33 sie ist nichts Gegebenes, sondern etwas Gemachtes. Wenn Büchner also von der »Kreatur« spricht, dann ist damit zunächst einmal angedeutet, dass es im Folgenden um Geschöpfe, um Geschaffenes, um Gemachtes, um Produkte geht, wobei zudem sehr schnell klargestellt wird, dass es sich – beim Affen der Tierschau wie beim Woyzeck des Dramas – nicht um Naturprodukte handelt, sondern um Produkte der Kunst, um Kulturprodukte. Als »Kreatur« werden bei Adelung sodann »[i]n engerer Bedeutung [...] die lebendigen Geschöpfe« genannt;34 es handelt sich also um einen integrativen,

|| 32 Ebd. 33 Johann Christoph Adelung:͒Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten.͒Rev. und berichtiget von Franz Xaver Schönberger.͒Wien 1808, Bd. 2, Sp. 1764. 34 Ebd.

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Menschen und Tiere umfassenden Begriff des Lebewesens. Und im »engsten Verstande« ist die Kreatur schließlich »ein Mensch, doch allemahl mit einem verächtlichen Nebenbegriffe«;35 wer einen Menschen als Kreatur bezeichnet, verweist auf dessen Gemeinsamkeit mit den Tieren, und genau daraus begründet sich der abwertende Nebenklang. Den Menschen als eine Kreatur, als ein Lebewesen zu begreifen, kann deshalb zwei unterschiedliche argumentative Bewegungen auslösen: eine offensive Bewegung wie bei Bentham, der gegen die unterschiedliche ethische Behandlung von Menschen und Tieren auf die Gemeinsamkeit des Lebens setzt, oder eine defensive Bewegung wie bei Kant, der gegen die Gemeinsamkeit des Lebens auf die Unterscheidung von Person und Sache setzt. In diesem Sinne ist selbst der Begriff der Kreatur ein politischer Begriff. Büchners erste Woyzeck-Szenen zitieren mithin nicht nur die augustinische Anthropologie herbei, die im Ausschluss der Tiere den Menschen als den Anfang des Anfangs entwirft, und nicht nur die Anthropologie Kants, die im Ausschluss der Tiere den Menschen als Person begreift, sondern auch die Ethik Benthams, die im Einschluss der Tiere den Menschen als Kreatur kenntlich macht. Für diese Kreatur – für jede Kreatur – lautet Benthams Frage nicht: Kann sie denken? und auch nicht: Kann sie reden? sondern: kann sie leiden? Nimmt man auch nur für einen Augenblick an, dass Büchners Woyzeck-Fragmente von dieser Fragenserie ihren Ausgang nehmen, dann lassen sich daraus drei interpretatorische Konsequenzen ziehen. Erstens verweist Benthams neue Frage – können sie leiden? – auf eine widersprüchliche Passivität.36 Das »Können« des Leidens, das den Tieren zugesprochen wird, ist offenbar ein ganz anderes als das »Können« des Redens, das den Menschen auszeichnen soll. Es ist ein passives, kein aktives Können. Und genau ein solches passives Können, das zugleich ein Nicht-Können, ein NichtMehr-Können ist, kann auch Büchners Woyzeck. In dieser leidenden Passivität – man kann sogar sagen: dank dieser leidenden Passivität – wird er herausgesprengt aus der modernen Koalition zwischen den im frühen 19. Jahrhundert neu entstehenden Lebenswissenschaften und einer sich zeitgleich vollziehenden Umstellung der Ökonomie, die das Leben verfügbar macht, es formt, fördert, mehrt, es in Biokapital übersetzt und als Ressource verwertet. Büchners Woyzeck kann nicht mehr; und das heißt zugleich: Sein letztes Können ist ein Leiden-Können. Und dieses teilt er mit den Tieren.

|| 35 Ebd. 36 Vgl. Derrida: Das Tier, das ich also bin (s. Anm. 22), S. 52f.

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Zweitens wird es – wenn schon am Anfang tatsächlich nicht die Frage nach der Vernunfts-, sondern nach der Leidensfähigkeit Woyzecks steht – möglich, das ganze große Thema der Zurechnungsfähigkeit, die das Stück beherrscht, für die Interpretation zunächst zurückzustellen. Ob Woyzeck nun ein rationales Subjekt ist, das autonom handelt, oder ein irrationaler Irrer, der heteronom getrieben wird, ob man ihm die Tat in einem juristischen oder moralischen Sinn zurechnen kann oder nicht, all das ist zunächst nicht von Belang angesichts der Tatsache, dass er schlicht und ergreifend ein Lebewesen ist, das leiden kann, weil es – wie andere Tiere auch – glücksfähig ist: »susceptible of happiness«. Nicht in Woyzecks Tat liegt demnach die Herausforderung des Stückes, sondern in seinem aktuellen Leiden vor dem Hintergrund seiner grundsätzlichen Glücksfähigkeit. Hierin liegt das Skandalon des Stückes: Woyzeck ist, wie auch Marie, ein Lebewesen, das glücklich sein könnte. Drittens schließlich lässt sich von Benthams Fragen her deshalb alles, was zur Mitleidspoetik des Stückes in der Forschung schon gesagt wurde,37 bestätigen und zugleich radikalisieren. Mitleid, das ist in Büchners Woyzeck nicht etwas, was ein Bürger für einen anderen Bürger zu empfinden einüben soll; Mitleid, das ist auch nicht etwas, was den Menschen als Menschen auszeichnet; Mitleid ist vielmehr etwas, das Lebewesen miteinander verbinden kann, weil sie und insofern sie ihre Sterblichkeit, ihre Endlichkeit miteinander teilen.38 Man könnte versucht sein, das bisher Gesagte auf eine bündige Schlussformel zu bringen, auf ein modernes fabula docet: Wer die Tiere richtig zu denken vermag, dem sind die Voraussetzungen gegeben, die Menschen richtig zu behandeln. Denn wer das Leben als absoluten Rechtsgrundsatz anerkennt, der quält keine Kreatur, nicht Mensch, nicht Tier. Nun ist es zwar einerseits naheliegend, Benthams Tier-Fußnote zum Orientierungspunkt einer tiertheoretischen Lektüre von Büchners Tier- und Eröffnungsszene des Woyzeck zu erheben, hat diese Fußnote doch in der Geschichte der Tiertheorie Epoche gemacht und wurde sie zudem kürzlich in Jacques Derridas L’animal que donc je suis noch einmal zum positiven Referenzpunkt eines auch heute zeitgemäßen Tierdenkens erhoben.39 Andererseits jedoch ist Bentham als Referenz sowohl für Büchner als auch für eine Tiertheorie alles andere als unproblematisch. Zunächst einmal von Büchner her gedacht: Bentham als Referenz? Utilitarismus und Liberalismus als Bezugspunkt für ein revolutionäres, frühsozialisti-

|| 37 Vgl. hierzu immer noch vor allem Hans-Jürgen Schings: Der mitleidige Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980. 38 Vgl. Derrida: Das Tier, das ich also bin (s. Anm. 22), S. 53. 39 Vgl. ebd.

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sches, linkes Denken und Handeln? Büchner Hand in Hand mit dem Erfinder des Panoptismus? Michel Foucault hat in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität darauf hingewiesen,40 dass sich um 1800 zwei alternative (sich wechselseitig vielfach durchdringende) Begründungen für die Begrenzung eines jeden Regierungshandelns etabliert haben: zum einen der revolutionäre (und historisch betrachtet: französische) Weg, der unter Berufung auf die Menschenrechte im politischen Subjekt eine unantastbare Zone reklamiert, einen Bereich, auf den keine Regierung zuzugreifen berechtigt ist; zum anderen der radikale (und historisch betrachtet: britische) Weg, der unter Berufung auf die Nützlichkeit eine nicht anzutastende Zone definiert, in der sich alle gesellschaftlichen Kräfte unberührt von jedem Regierungseingriff ungehemmt entfalten sollen. Bentham gehört zu diesem zweiten Weg, zum Weg des Liberalismus. Entscheidend für Foucault ist es nun, beide Formen – das »System der Menschenrechte und das System der Unabhängigkeit der Regierten«41 – als gouvernementale Techniken, als Techniken der Steuerung, der Intervention, der sozialen, kulturellen und ökonomischen Produktion zu verstehen: Menschenrechte / Revolution und Utilitarismus / Liberalismus stehen sich nicht gegenüber wie Zugriff und Zurückhaltung, sondern sind gleichermaßen regulierende, das moderne Regierungshandeln seither bestimmende politische Praktiken. Es lohnt sich, Benthams Tierschutz-Fußnote vor diesem Hintergrund zu situieren. Es ist zwar richtig, dass Bentham die Tiere vor der »hand of tyranny«42 bewahren möchte. Es ist aber auch richtig, dass Bentham die Tiere – wie die Menschen – dem »principle of utility« als der zeitgemäßen »art of gouvernment«43 unterwirft. Bentham setzt die Tiere nicht in Freiheit; er löst sie nicht aus den Fängen menschlicher Kultur, menschlicher Politik, menschlicher Ökonomie. Vielmehr versetzt er sie schlicht aus einem Regierungsparadigma – dem alten Paradigma der Souveränität, dem Ancien Régime de l’Animal – in ein neues, modernes Regierungsparadigma: dem der liberalistischen Gouvernementalität. Damit wäre von Foucault her eine kritische Perspektive auf Benthams Ethik der leidenden Kreatur skizziert:44 Dort, wo sie das Mitleiden für die Kreatur einer

|| 40 Vgl. zum Folgenden Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France. 1978–1979. Frankfurt a. M. 2004, S. 65–80. 41 Ebd., S. 69. 42 Bentham: An Introduction to the principles of morals and legislation (s. Anm. 29), S. 235. 43 Ebd., S. 236. 44 Benthams Tierschutzfußnote und die sich darauf immer wieder beziehende Tierschutzbewegung lässt sich nicht nur aus der Perspektive Foucaults kritisieren, sondern auch aus so unterschiedlichen Positionen wie derjenigen von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Mensch und Tier. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1987 [=

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utilitaristischen Nützlichkeitserwägung unterordnet, kann sie Büchners Sache kaum sein. Sodann auch von Derrida und der aktuellen Tiertheorie her argumentiert: Bentham als Referenz? Derrida übersieht in seiner – zum Erstaunen affirmativen – Lektüre der zur Debatte stehenden Bentham-Passage nicht nur deren historischen Ort in einer Geschichte liberaler Regierungskunst, sondern er bedenkt auch in keiner Weise den Stellenwert dieser Passage innerhalb von Benthams Text: in einer Fußnote, an der Peripherie, am Rand, unter dem Strich, an der Grenze. Dass Derrida diese Randstellung in seiner Lektüre nicht berücksichtigt, ist schon allein deshalb überraschend, weil sich in ihr der Einsatzpunkt für ein genuin dekonstruktives Argument eröffnet, denn an ihr zeigt sich die eigentümliche Spannung, der disruptive Bruch, die supplementäre Drift zwischen dem Haupttext, der die Tiere marginalisiert, und dem Subtext, der die Tiere ins Zentrum zu stellen versucht. Bentham formuliert zwar ein Argument, das durch und nach ihm Karriere gemacht hat; der Text selbst aber stellt die Wirkungslosigkeit oder doch zumindest die beschränkte Reichweite des Arguments aus: Er redet vom Menschen und seiner Moral, er streift kurz die Frage des Tieres, und dann redet er weiter vom Menschen und seiner Moral, als sei nichts geschehen. Wenn man Benthams Can they suffer? zum Ausgangspunkt einer Tiertheorie erhebt, dann argumentiert man also nicht nur mit, sondern auch gegen Bentham. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für den vergleichenden Blick auf Büchner. Zwar ist Büchners Rede von der Kreatur einerseits genauso ironisch gebrochen wie die Rede vom Anfang (Augustinus) und die Rede von der Person (Kant). Markiert wird dadurch eine Distanz zu Benthams Frage nach der leidenden Kreatur. Andererseits jedoch ist das, was bei Bentham eine vorübergehende Randerscheinung bleibt, bei Büchner der Ausgangspunkt für ein ganzes Dramenprojekt: »Sehen Sie die Kreatur!« Am Anfang war die Kreatur, das leidensfähige und glücksfähige Lebewesen. In Benthams langem Text wird der leidenden Kreatur in einer einzigen Fußnote gedacht. In Büchners Dramenfragmenten gibt es keine Szene, die nicht bis in die letzten Winkel vom Leiden einer glücksfähigen Kreatur durchdrungen wäre. Dadurch, dass die Anrufung der Kreatur einem Artisten, einem Schausteller, einem Performer in den Mund gelegt wird, macht Büchner aber deutlich, dass auch dies – das Lebensrecht der leidenden Kreatur – keine Frage der Ontologie, sondern der Performanz ist: Die Begrün-

|| Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 5], S. 277–287, oder Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Aus dem Französischen von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Ronald Voullié. München 1982, S. 263ff.

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dung des Politischen aus der Integration der Tiere liegt nicht in der Natur der Sache; sie ist der Effekt einer Entscheidung.

4 Büchners Politik Die historisch-spekulativen Kommentare zum »Anfang«, zur »Person« und zur »Kreatur« bewegen sich im engen Textraum zweier Szenen, eröffnen aber zugleich eine Perspektive auf das Politische bei Büchner, die über diese Szenen und über den Woyzeck hinausweisen kann, gerade weil es sich um so prominente, um Anfangs-Szenen handelt. Büchners politische Kritik wird von der zoologischen Perspektive, die den Menschen als Tier unter Tieren begreift, nicht relativiert, sondern forciert. Im ironischen Zitat des Augustinus, der den Menschen als gottgegebenen Anfang des Anfangs versteht, macht Büchner deutlich, dass der Anfang immer eine Frage der Politik ist,45 dass der Anfang – und mit ihm eine menschengerechte Politik – immer gemacht werden muss. Am Tier, an der Affen-Performance, zeigt Büchner, dass, um es mit Judith Butler zu formulieren, auch »das Menschliche verschiedenartig erzeugt wird.«46 In größter Allgemeinheit formuliert: Am Tier wird sichtbar, dass der Mensch nicht die Referenz der Politik ist, sondern ein Element ihrer Performanz. Das ironische Zitat von Kants Personenbegriff verweist darauf, dass sich das Anwendungsproblem der Menschenrechte (wer ist Mensch, wer ist es nicht?) genau dann stellt, wenn man die Tiere und mit ihnen den Begriff des Lebens aus dem der Person ausschließt. Als Alternative zu einem solchen exklusiven Humanismus erscheinen dann die inklusiven Lebensrechte. Bei Büchner wie bei Bentham sind diese inklusiven Lebensrechte, dank der theoretischen Berücksichtigung der Tiere, verbunden mit dem Begriff der Kreatur, bei Bentham am äußersten Rand der Argumentation, bei Büchner am Quellpunkt des dramatischen Projekts, bei Bentham mit ontologisch-metaphysischer Beiläufigkeit, bei Büchner als performativ-reflektierte Entscheidung. Im Zentrum der politischen Theorie steht bei Büchner nicht die Vernunft des Menschen, sondern die Leidens- und Glücksfähigkeit des Lebewesens.

|| 45 Vgl. zum Status der Politik im Werk Büchners auch den Beitrag von Arnd Beise in diesem Band (S. 93–101) sowie Burghard Dedner: »Auf die Einheit kommt alles an«? Büchner als Politiker, Wissenschaftler und Dichter (unveröffentlichter Vortrag; Mainz, 12.10.2012). 46 Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen (s. Anm. 17), S. 11.

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Wenn man von der Aktualität Büchners in unserem biotechnologischen Zeitalter sprechen will, dann liegt sie vielleicht genau hier: Nicht, weil wir Menschen sind, machen wir Politik. Sondern weil wir Tiere sind, ist all unser Handeln immer schon politisch.

Jan-Christoph Hauschild (Düsseldorf)

Zu einigen Extravaganzen und Überspanntheiten in der Büchnerdeutung Als Mischung aus »Revolutionär und Pessimist«,1 als »Nihilist«,2 »Frühkommunist«,3 berauschter »Utopist und Menschenverächter«4 als »Jahrtausendgenie«,5 jüngst erst als Fürsprech des Massenmords6 wurde Georg Büchner nacheinander in den letzten sieben Jahrzehnten gedeutet. Geht es, ist man versucht zu fragen, nicht auch billiger? Das Etikett als Barrikade, hinter der sich Gleichgesinnte verschanzen. Angesichts des in diesem Fall von niemandem bestrittenen, vielmehr auf ganzer Linie anerkannten, außerordentlich komplexen Gesamtzusammenhangs von Politik, Wissenschaft und Literatur gehen solche Vereinseitigungen zwangsläufig mit der Reduktion eines Lebenswerks auf eine einzige, zudem fragwürdige Perspektive einher. Wem ist damit gedient, mit Ausnahme vielleicht von Schlagzeilenkonstrukteuren? Daß Verlage, sie mögen Reclam heißen oder Rowohlt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft oder Hoffmann und Campe, mit reißerischen oder weihevollen Formulierungen um besondere Beachtung für ihre Bücher buhlen, ist verbreitete Praxis. Selten dürfte die professionelle Übertreibung mit einer schlüssigen Vereinfachung komplexer Zusammenhänge einhergehen; in der Regel führt sie

|| 1 Ludwig Büttner: Georg Büchner. Revolutionär und Pessimist. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des XIX. Jahrhunderts. Nürnberg 1948. 2 Robert Mühlher: Georg Büchner und die Mythologie des Nihilismus. In: Ders.: Dichtung und Krise. Mythos und Psychologie in der Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts. Wien 1951, S. 97– 145. 3 Thomas Michael Mayer: Umschlagporträt. Statt eines Vorworts. In: GB I/II, S. 5–15, hier S. 5; ders.: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des Hessischen Landboten. In: Ebd., S. 16–298, hier S. 25f. 4 Werner R. Lehmann: Nachwort. In: Georg Büchner: Werke und Briefe (Münchner Ausgabe). Darmstadt 1980, S. 536. Mit den Rauschzuständen waren sowohl solche gemeint, die sich aus »fiebrigen Aktivitäten« ergeben, als auch solche aufgrund von Drogenmißbrauch (S. 562f.). Auch für einen »Asket und Dandy« (S. 535) hielt Lehmann Büchner. 5 Wolf Biermann, zit. nach Goltschnigg 2001–2004, Bd. 3, S. 510. 6 Martin Mosebach: Ultima ratio regis. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. München 2007; Vorabdruck in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.2007, Nr. 252, S. 33; Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner. Rückblick und Einblick. (= Über deutsche Dichtungen. Bd. 4.) Frankfurt a. M. u. a. 2009. Für Wittkowski »rückt« Büchner »in den Gutzkow-Briefen [...] unmißverständlich klar heraus mit seinem rabiaten Rigorismus, mit seiner Bereitschaft, das Ärgernis der Revolution, des politischen Massenmordens auf sich zu nehmen« (S. 128).

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lediglich zur Bildung bzw. Festigung von unqualifizierten Pauschalurteilen. Aber nur Obsessionisten und Exzentrikern würde es in den Sinn kommen, solche Übertreibungen, wie sie sich in nahezu allen Klappen- oder Werbetexten auf den Verlags-Websites finden, polemisch gegen die Autorinnen und Autoren zu wenden, werden diese doch, wenigstens meiner Erfahrung nach, von ihren Auftraggebern gar nicht mehr um Mitwirkung gebeten, weil sie nämlich in der Regel viel zu skrupulös, schlicht und unspektakulär formulieren, gänzlich unbrauchbar also für das Marketing. Wenn ich im folgenden auf einige originell daherkommende, Aufmerksamkeit heischende, bei näherem Hinsehen jedoch seifenblasenartig zerplatzende und insofern von kurzer Verfallszeit bestimmte Extravaganzen und Übertreibungen in der Büchnerdeutung eingehe, dann sind darunter keine, die dem Genre der »Schmonze« zuzurechen wären, wie im Hause Rowohlt traditionell derlei Zweckprosa benannt wird.7 Die nachfolgend analysierten Versuche, Büchner auf einen schlag- bzw. zugkräftigen Nenner zu bringen, sind ausschließlich autorisierten Texten entnommen: Aufsätzen, Monographien, auch öffentlichen Reden. Mitunter allerdings tragen auch wissenschaftliche Abhandlungen verwirrende Charakterzüge der »Schmonze«. Zum Beispiel die Einleitung zu Henri Poschmanns einbändiger Büchner-Ausgabe aus dem Jahr 1964 im AufbauVerlag, die es bis 1984 auf sechs Auflagen brachte. Sie beginnt mit dem dreigliedrigen Satz: »Von Beruf war Georg Büchner Anatom, die erste Schrift, in der sein Name gedruckt wurde, war sein Steckbrief, die Erinnerung an ihn wurde zunächst durch die Geschichte der revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts wachgehalten.«8 Der Dreischritt erinnert an den Dreiklang, mit dem Karl Viëtor fünfzehn Jahre zuvor seine »abschließende«9 Büchner-Biographie untertitelte: Politik Dichtung Wissenschaft. Die Thesen allerdings finden sich bei Viëtor nicht, seine Ausführungen widersprechen sogar zumindest zweien davon. Welcher Teufel also ritt den Weimarer Wissenschaftler, falsche Fakten in die Welt zu setzen? Offenbar lautet der Subtext seines Satzes: Aufgepaßt, wir haben es hier nicht mit einem Allerweltsdichter zu tun, bei Büchner ist alles anders; Leser, lies weiter! Erster Paukenschlag: ein Schriftsteller, aber nicht von Berufs wegen; ein Anatom, ein Menschenzergliederer war er. Was ja noch scho-

|| 7 Die Zeit, 13.10.1967, Nr. 41; s. http://www.zeit.de/1967/41/klappentexte-und-schielende-loewen. 8 Büchners Werke in einem Band. Ausgewählt und eingeleitet von Henri Poschmann. Berlin und Weimar. 5. Aufl. 1980, S. V. 9 So der Klappentext (Bern 1949).

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ckierender ist als der Beruf eines Arztes oder Mediziners, der sich ebenfalls angeboten hätte (und auch falsch gewesen wäre10). Zweiter Paukenschlag: Es wurde steckbrieflich nach ihm gefahndet. Es gibt ja nicht viele deutsche Dichter, denen solches widerfuhr. Ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Schließlich als dritter Paukenschlag der Hinweis, daß sich der literarische Ruhm erst im Schlepptau der politischen Rezeption eingestellt habe: Revolutionshistoriker trugen Sorge, daß sein Name nicht in Vergessenheit geriet, die Öffentlichkeit kannte den Revolutionär, bevor sie den Dichter schätzen lernte. Alle drei Behauptungen sind unzutreffend. Den Beruf des Anatomen hat Büchner nie ausgeübt; tatsächlich war er Naturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet der niederen Wirbeltierarten und Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich. Daß er, wie Roland Borgards im BüchnerHandbuch meint, »beruflich auf dem Weg zum Zoologen« gewesen sei,11 bleibt spekulativ, wenn man bedenkt, daß Büchner vorbereitet auf zwei Lehrkurse, den einen über Vergleichende Anatomie, den anderen über Philosophie, nach Zürich kam, wobei seine eigene Neigung letzterem sogar den Vorzug gab – nicht zuletzt, weil er eine große Hörerzahl und damit gute Einkünfte versprach. Es war der Dekan der Philosophischen Fakultät, der klassische Philologe Johann Georg Baiter, der Büchner überzeugte, über Vergleichende Anatomie Vorlesungen zu halten.12 Erstmals gedruckt zu lesen war sein Name in der Frankfurter Literaturzeitschrift Phönix vom 26. März 1835,13 und zwar gleich auf der Titelseite; der Steckbrief kam drei Monate später heraus.14 (Nehmen wir es ganz genau, stand Büchners Name zwölf Jahre zuvor schon im Einladungsprogramm einer Darmstädter Privatschule.15) Und bekannt, ja fast berühmt war Büchner seit dem Erscheinen seines Dramas Danton’s Tod als Dichter der Französischen Revolution; als solcher stand er in den Lexika seiner Zeit seit 1838 und bald auch in den Literatur-

|| 10 Walter Hinderer in seinem Aufsatz Die Philosophie der Ärzte und die Rhetorik der Dichter. Zu Schillers und Büchners ideologisch-ästhetischen Positionen (in: ZfdPh 109 [1990], H. 4, S. 502– 520) zählt Büchner irrtümlich zu den »philosophischen Ärzten«. 11 Roland Borgards: Tiere. In: Büchner-Handbuch, S. 218–225, hier S. 218. 12 Siehe unten Text zu Anm. 78. 13 Vgl. Fritz Bergemann: Georg Büchners sämtliche Werke und Briefe. Leipzig 11922, S. 666. 14 Vgl. ebd., S. 640f. 15 Siehe Nachricht über die hier neu gegründete Privat-Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt für Knaben, womit zu der auf den 24. und 25. März festgesetzten ersten öffentlichen Prüfung der Zöglinge die verehrlichen Aeltern, und die Freunde der Jugend-Bildung höflichst eingeladen werden von dem Vorsteher der genannten Anstalt Dr. Carl Weitershausen [...]. Darmstadt 1823, S. 13; vgl. Max Zobel von Zabeltitz: Georg Büchner [,] sein Leben und sein Schaffen. Berlin 1915, S. 13.

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geschichten.16 Seine Beteiligung an »revolutionären Umtrieben« in Hessen wurde dem literarischen Publikum erst später verdeutlicht.17 Konsequenzen hatte Poschmanns irrige Trias nicht,18 vielmehr verschwand sie, ohne Aufsehen zu erregen, in der Erinnerungslosigkeit. Es handelte sich ja auch um kein stimmiges Fazit der eigenen Mutmaßungen, sondern lediglich um eine Art journalistischen Aufreißer, einen Weckruf ohne Weiterungen. Bedeutend wirkungsmächtiger war das Büchnerbild,19 das anderthalb Jahrzehnte später Thomas Michael Mayer entwarf, spiritus rector der jüngeren Büchnerforschung. Mayers »Schmonze« war das Umschlagporträt, das er dem überwiegend von ihm bestrittenen Sammelband Georg Büchner I/II voranstellte.20 Büchner erscheint hier als »locker«, »verschmitzt« und »lustig«, einfach »bezaubernd«,21 ein Mann zum Verlieben. Mayers vor allem gegen Werner R. Lehmann22 und Ger-

|| 16 Hauschild 1985, S. 193f. 17 Vgl. ebd., S. 177f. und ders.: Das Bild Georg Büchners in der frühen deutschen Arbeiterbewegung. In: Poschmann / Malende, S. 234–251, bes. S. 234–237. 18 Uwe Wittstocks Feststellung von 2005, Büchner sei »promovierter Anatom« gewesen, muß sich nicht unbedingt von Poschmann herleiten: Verborgene Verwandtschaft: Was Mediziner und Schriftsteller miteinander verbindet. In: Die Welt, 12.3.2005; s. http://www.welt.de/kultur/ article557579/Was-Aerzte-und-Schriftsteller-verbindet.html; unter dem Titel Feine Verwandtschaft. Was Ärzte und Schriftsteller verbindet auch in Wittstocks Blog vom 23. April 2012; s. http://blog.uwe-wittstock.de/?p=253). Büchner »war promovierter Anatom« heißt es gleichfalls in einem Trainingsheft schriftliches Abitur Deutsch zu Georg Büchner ‚Woyzeck’ (basierend auf einem Schülervortrag), s. http://www.fo-net.de/Trainingsheft_schriftliches_Abitur_DEU_SH_ BG_B%FCchner_Woyzeck_TK_1.pdf (Seite 48). Ob Wittstocks Formulierung dorthin abgewandert ist oder umgekehrt dem entstieg, vermochte ich nicht zu klären. (Alle drei Links wurden am 14.5.2012 aufgerufen.) 19 Vgl. die Literaturangaben zu diesem Thema bei Carolina Kapraun und Per Röcken: Weltanschauung und Interpretation – Versuch einer systematischen Rekonstruktion mit Blick auf Deutungen der »Woyzeck«-Entwürfe Georg Büchners. In: GBJb 12 (2009–2012), S. 239–273, hier S. 239f. 20 Thomas Michael Mayer: Umschlagporträt (s. Anm. 3), S. 5–15. Zu Mayers Büchner-Porträt, das alle wesentlichen Züge kritikloser Heldenverehrung trägt und bisweilen den Kitsch streift, habe ich 1997 Stellung genommen: Büchner-Bilder. In: Peter Petersen, Hans Gerd Winter (Hrsg.): Büchner-Opern. Georg Büchner in der Musik des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 33–40, hier S. 35–38. 21 GB I/II, S. 11. 22 Insbesondere setzte sich Mayer mit dessen Vortrag »Geht einmal euren Phrasen nach…« – Revolutionsideologie und Ideologiekritik bei Georg Büchner (Darmstadt 1969) auseinander, genierte sich aber auch nicht, obendrein einen Wahlaufruf Lehmanns zugunsten der CDU (Flensburger Tageblatt, 22.4.1971), den ihm dessen Assistent zugänglich gemacht hatte, auszuschlachten; s. GB I/II, S. 284, Anm. 446. Im Begehen von Irrtümern und Produzieren von Fehlern unterschied sich Mayer nicht wesentlich von seinen Gegnern (Lehmann, Jancke, Knapp,

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hard Jancke23, nicht zuletzt auch gegen eigene Ausführungen von 197124 gerichteter Befund, Büchner sei – unter anderem – »libertärer Frühkommunist« und »Erotiker« gewesen,25 löste nach Ansicht der Frankfurter Neuen Presse in der Zunft »ein mittelschweres germanistisches Erdbeben« aus. Rolf Michaelis in der Zeit meinte gar, daß dadurch »Tausende von Seiten der bisherigen BüchnerForschung« über Nacht »zu Makulatur« geworden seien; »[o]hne Kenntnis« von Mayers Aufsätzen dürfe sich fortan »niemand mehr über Büchner äußern«.26 Ja, das Feuilleton konnte damals ganz schön rigide sein; es fehlte eigentlich nur noch der Zusatz: Dies ist ein Befehl. Kern von Mayers »Frühkommunismus«-These ist die (seither durch weitere Zeugnisse gesicherte) Erkenntnis, daß sich die neunköpfige Gießener »Gesellschaft der Menschenrechte« »zum Prinzip der Gütergemeinschaft« bekannte.27 Insbesondere stützte sich Mayer auf eine Aussage des Kronzeugen Gustav

|| Wetzel; Hauschild, Poschmann, Wender; Dedner); anders als sie suchte er lediglich rücksichtslos polemisch daraus Kapital zu schlagen. 23 »Büchner [kommt] zu keiner Analyse der Produktivkräfte und nicht einmal der Produktionsverhältnisse im strengen Sinne [...]; daher spielt auch die Frage des Eigentums nicht die entscheidende Rolle in seinen Anschauungen; es ist daher ebensowenig möglich, Büchner im strengen Sinne einen Sozialisten oder Vorläufer des Sozialismus zu nennen« (Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk. Kronberg/ Ts. 1975, S. 286f.); »sein Ideal war eine brüderliche und egalitäre Gemeinschaft von arbeitenden Menschen, die sich durch das gleiche Maß an Arbeit und durch das gleiche Maß an Bedürfnissen als tätige und insofern ‚tugendhafte’ Mitglieder der Gesellschaft erwiesen. Daß eine solche Gesellschaft ohne vergesellschaftete Produktionsweise auf einem niedrigen Niveau der Produktionskräfte und damit auf einem niedrigen Niveau der Bedürfnisse stagnieren müßte, ist klar. Für Büchner gibt es aber so etwas wie ein natürliches Niveau der Bedürfnisse. Damit scheint zunächst einmal die Differenz der Positionen Genuß und Askese gegeben [...]. Büchner ist durchaus kein Anhänger des atheistischen und epikureischen Libertinismus [...]« (ebd., S. 207f.). 24 Siehe Anm. 32. 25 GB I/II, S. 5. 26 Die Zeit, Nr. 29, 13.7.1979. 27 August Becker: »Eine (deutsche) Gesellschaft der Menschenrechte bekannte sich schon vor 11 Jahren zum Princip der Gütergemeinschaft« (Die Fröhliche Botschaft von der religiösen und socialen Bewegung, Nr. 6, Lausanne, September 1845, S. 14; vgl. Werner Kowalski [Hrsg.]: Vom kleinbürgerlichen Demokratismus zum Kommunismus. Zeitschriften aus der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung (1834–1847). Berlin 1967, S. 390). Weitere Zeugnisse: GB I/II, S. 51, 47 u. 53 (Eichelberg); Erich Zimmermann: Erinnerungen Minnigerodes an die »Gesellschaft der Menschenrechte«. Aus einer amerikanischen Gedenkschrift von 1895. In: GBJb 5 (1985), S. 292– 296, hier S. 293f.; Thomas Michael Mayer: Die »Gesellschaft der Menschenrechte« und der »Hessische Landbote«. In: Katalog Darmstadt, S. 168–186, hier S. 174; zusammenfassend Hauschild 1993, S. 346–348. Vgl. auch Anm. 36 (A. Becker).

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Clemm. In seinem Gnadengesuch an den Großherzog vom 22. Mai 1835 nannte dieser einige besonders spektakuläre Bestandteile der von der »gefährliche[n] Partei, welche Moral, Religion, Recht, ja selbst die Möglichkeit des Staates überhaupt, aufzuheben trachtet«, entwickelten »Theorie einer öffentlichen Moral und Staatseinrichtung überhaupt«: »Die Revolution sollte darnach eröffnet werden mit einem Kriege gegen die Reichen. ›Alles Vermögen ist Gemeingut,‹ wurde docirt etc. Ein falscher Eid wurde in vorkommenden Fällen für eine der heiligsten Pflichten erklärt etc.«28 Von diesem Zeugnis, das auf die Gießener »Gesellschaft der Menschenrechte« zu beziehen ist, behauptete Mayer 1979, es sei »seit genau 134 Jahren gedruckt zugänglich«, aber »vermutlich mit Gründen nie zitiert« worden, womit er die Brisanz und besondere Bedeutung dieser Quelle und die langanhaltende Ignoranz der historischen Forschung in einen Verantwortungszusammenhang brachte. Wahr ist, daß diese Aussage bereits von der frühen Büchnerforschung bis 1922 mindestens dreimal zitiert wurde,29 zuletzt 1975 von Hans-Joachim Ruckhäberle30 und 1976 von Renato Saviane31. Ganz besonders aufschlußreich ist allerdings, daß er selbst, Mayer, Clemms Aussage bereits 1971 zitiert, sie damals jedoch als »apokryph« und damit wertlos abgetan hatte.32 Acht Jahre später wurde sie dann zum Kern seiner Frühkommunismusthese. Das Unheimliche an dieser bemerkenswerten Karriere vom Apokryphon zum Evangelium ist, daß nicht etwa die historische Quelle die wissenschaftliche Erkenntnis prägt, sondern das damit einhergehende Büchnerbild willkürlich-spielerisch

|| 28 Noellner, S. 223f. 29 Eduard David: »Der hessische Landbote«. Von Georg Büchner. Sowie Des Verfassers Leben und politisches Wirken. München 2. Auflage 1896, S. 48; Karl Hoppe: Georg Büchner als sozialpolitischer Denker. Phil. Diss. Leipzig 1922, S. 55 (s. Jancke [Anm. 23], S. 81); Georg Honigmann: Die sozialen und politischen Ideen im Weltbild Georg Büchners. Phil. Diss. Gießen 1922, S. 11 (s. Jancke [Anm. 23], S. 84). 30 Flugschriftenliteratur im historischen Umkreis Georg Büchners. Kronberg/Ts. 1975, S. 231. 31 Saviane, Renato: Libertà e necessità. »Der Hessische Landbote« di Georg Büchner. In: AION. Quaderni degli Annali dell’Istituto Universitario Orientale. Sezione Germanica. Studi Tedeschi, 19 (1976), Heft 2, S. 7–119, hier S. 89f. 32 »Büchner stellt einen extremen, ärmlichen Egalitarismus in den Dienst der antifeudalen Revolution; es gibt nur eine einzige, apokryphe Äußerung aus dem Kreis der sogenannten oberhessischen Verschwörung, eine Formulierung des Studenten Clemm, der angab, es sei doziert worden: ›Alles Vermögen ist Gemeingut.‹« ([Thomas Michael Mayer]: Heine, Börne und Büchner im Kampf gegen die deutsche Misere. In: Autorenkollektiv sozialistischer Literaturwissenschaftler Westberlin: Zum Verhältnis von Ökonomie, Politik und Literatur im Klassenkampf. Grundlagen einer materialistischen Literaturwissenschaft. Berlin 1971, 2. Aufl. 1972, S. 36–45, hier S. 44.) Zur Autorschaft bekannte sich Mayer in GB I/II, S. 139, Anm. 14.

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über Wert oder Unwert der Quelle entscheidet. Das historische Dokument, der Träger der Information, wird nach Gusto entweder als unbrauchbar oder als überragend bedeutungsvoll erklärt, in jedem Fall aber für die eigene Durchsetzungsstrategie instrumentalisiert. Das Bild vom Frühkommunisten Georg Büchner war zwar konsensfähiger als das vom Neojakobiner; gleichwohl blieben teils heftige Reaktionen nicht aus.33 Eine besonders bizarre Art des Umgangs mit Mayers Frühkommunismusthese ist es, sie aufzugreifen und der eigenen, völlig gegenläufigen Interpretation gefügig zu machen. In seiner Dankrede für den Büchnerpreis des Jahres 2007 bezeichnete der Dichter Martin Mosebach, der Don Quixote der Gegenaufklärung, Büchner als »Früh-Kommunist«, der »keinen Augenblick seines Lebens aufhörte, dem Großherzog von Hessen den Tod an der Laterne zu wünschen« und »sich von der politischen Arbeit nur distanziert« habe, »weil er die Zeit noch nicht gekommen sah, [...] um alle Feinde aufhängen zu können«. Mosebachs Ausführungen gipfelten in einem originellen Einfall:34 »Wenn wir« den Ausführungen St. Justs am Schluß des zweiten Akts von Danton’s Tod (»Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt?«) nämlich »das Halbsätzchen einfügten, ›dies erkannt zu haben, und dabei anständig geblieben zu sein‹«, befänden wir uns »unversehens einhundertfünfzig Jahre später, und nicht mehr in Paris, sondern in Po-

|| 33 Gideon Stiening dehnt die Vorbehalte neuerdings auf alle entsprechenden Sekundärbelege aus dem Kreis der Mitverschworenen aus: Es sei »nicht eine einzige Zeile aus den überlieferten Primärquellen zu entdecken, die auf eine derartige politökonomische Position Büchners hinwiese« (Gideon Stiening: »Man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen«. Recht und Gesetz nach Büchner. In: Patrick Fortmann, Martha B. Helfer [Hrsg.]: Commitment and Compassion. Essays on Georg Büchner. Festschrift for Gerhard P. Knapp. Amsterdam/New York 2012, S. 21–45, hier S. 40, Anm. 79). In Verbindung mit Stienings Gegenthese, wonach »Büchners Briefe und Texte [...] ihn als einen Revolutionsbefürworter aus[weisen], der von der Einrichtung der Rechtstaatlichkeit die Klärung der sozialen Frage erwartete« (ebd.), könnten übelmeinende Leser darin den Versuch sehen, Büchner eine honorige rechtsphilosophische Position zu bescheinigen und als wackeren Streiter für den Rechtsstaat konsensfähig, quasi briefmarkentauglich zu machen. 34 Lorenz Jäger (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10.2007), Tobias Lehmkuhl (Süddeutsche Zeitung), Ina Hartwig (Frankfurter Rundschau), Joachim Güntner (Neue Zürcher Zeitung), HansDieter Schütt (Neues Deutschland; alle 29.10.2007), Sven Felix Kellerhoff (Die Welt, 2.11.2007), Tilman Krause (ebd., 3.11.2007) konnten dem viel abgewinnen; Heinrich August Winkler und Burghard Dedner (Deutschlandfunk-Interview, 30. bzw. 31.10.2007), Christian Semler (die tageszeitung, 1.11.2007), Clemens Heni (Welt-online, 3.11.2007), Richard Herzinger (Die Welt, 18.11.2007) und Rolf Schneider (ebd., 27.11.2007) widersprachen.

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sen«, bei Heinrich Himmler also und seiner berüchtigten Rede vor SS-Führern.35 Dem ist gar nicht zu widersprechen. Mit Hilfe willkürlicher Zitateinfügungen kann man, gefahrlos und gratis, allerlei literarische Zeitreisen unternehmen, »wer mag es hindern« (Jes. 43, 13). Auch Mosebachs Darmstädter Rede kann man durch Einfügung des einen oder anderen »Halbsätzchens« nicht bloß um »einhundertfünfzig«, sondern um zweihundertzwanzig, ja sogar um fabelhafte elfhundert Jahre altern lassen, was zur Folge hat, daß man sich – »unversehens« – statt in Darmstadt, in einem überparfümierten Boudoir am Hofe Ludwigs XVI., danach in der düsteren Klosterzelle von Bruder Notker I. Balbulus wiederfindet, dem Stammler. Daß, wie es weiland Mosebach widerfuhr, ein bedeutender Teil des deutschsprachigen Feuilletons diese epochale Entdeckung in schier unglaublicher Einhelligkeit hymnisch feiern wird, scheint gleichwohl ausgeschlossen. Wer wie Mosebach schlußfolgert, Büchners Apologie der revolutionären Justiz führe geradewegs zum Rassenmassenmord der Nationalsozialisten, parallelisiert Robespierres Tugendterror, die Perversion aufklärerischer Ideen im Namen der Menschenrechte,36 zu Unrecht mit der rassisch motivierten, millionenfachen Vernichtung von Menschenleben, die in der Leugnung der universellen Menschenrechte einem dezidiert gegenaufklärerischen Impuls folgt. Die Gemeinsamkeit liegt allein im Gewaltprinzip, das aber zur Menschheitsgeschichte gehört.37 Und das Übel besteht in seiner ungerechten Anwendung.

|| 35 Martin Mosebach: Ultima ratio regis. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises, München 2007; Vorabdruck in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.2007, Nr. 252, S. 33. 36 August Becker formulierte 1844: »Robespierre mag die besten Absichten gehabt haben, wie die Republikaner behaupten, – meinetwegen! Aber es war brutal von ihm, seine Mitmenschen so hinzuschlachten, wie das liebe Vieh. Mit dem zehnten Theil des vergossenen Bluts hätte er, meiner kommunistischen Meinung nach, Frankreich, die Republik, die Menschheit retten können, wenn er mehr Vernunft gehabt hätte. Daran aber fehlte es dem armen Mann. Er konnte nicht hinaus über die Widersprüche der Konstitution von 1793; er konnte das Privateigenthum nicht begreifen; es war ihm heilig.« (Was wollen die Kommunisten? Eine Rede, im Auszug vorgetragen [...] von August Becker. Lausanne 1844, S. 52.) 37 In ganz ähnlichen Worten rechtfertigte 1835 der Klavierbauer und Linksrepublikaner Wolfgang Strähl, zeitlich ungefähr parallel zum Erscheinen von Danton’s Tod, die jakobinische »terreur«: »[W]enn sich Robespierre und Saint-Just hinreißen ließen und den Beispielen, die so alt sind wie die Welt, Blut zu vergießen, folgten, so fand doch hier wenigstens ein Unterschied statt, nemlich man glaubte, es bedürfe des Blutes, um die Rechte des Volkes und Freiheit und Gleichheit herzustellen, während Monarchen zur Unterdrückung dieser und zu ihrem Interesse hinmordeten« (Wolfgang Strähl: Briefe eines Schweizers aus Paris 1835–1836. Neue Dokumente zur Geschichte der frühproletarischen Kultur und Bewegung, hrsg. v. Jacques Grandjonc, Waltraud Seidel-Höppner und Michael Werner. Berlin 1988, S. 188.

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Büchners Freund Wilhelm Schulz, weder Neojakobiner noch Gleichheitskommunist, sondern überzeugter Anhänger der Marktwirtschaft und insofern dem Dichter Mosebach näher als seinem Darmstädter Landsmann, zitierte Büchner mit den Worten, bei der Tötung von Revolutionsgegnern während der Französischen Revolution habe es sich um einen Akt der revolutionären »Notwehr gegen innere [...] Feinde« gehandelt; im »Sturmleben der Revolution« komme dies der »chirurgische[n] Operation des resoluten Abschneidens der tödtlich angesteckten Glieder« gleich. Schulz pflichtete dem sogar ausdrücklich bei: Eine solche Auffassung bewahre »vor jener krankhaften Sentimentalität, vor jener ›verdammungswürdigen Gutmüthigkeit‹, wie sie einmal Büchner einem seiner Freunde scherzend vorwarf, welche noch im Entscheidungskampfe, durch grausame Schonung gegen Einzelne, die Rechte, das Glück und die Hoffnungen ganzer Völker und künftiger Generationen Preis gibt.«38 Büchner, so Schulz weiter, unterscheide sich damit zugleich von »den Fantasten der Dampfguillotine«, die, »wenn sie Einfluß gewännen, am allerersten die Revolution selbst unter die Guillotine brächten, da sie die eine große That der Befreiung in hunderterlei Thaten der persönlichen Rachsucht zersplittern würden.« Vielmehr sei Büchners Auffassung eine »wahrhaft humane; da sie, mit all’ ihren Consequenzen in Kopf und Herz aufgenommen, gegen jede unnütze Grausamkeit das Maaß in sich selbst« trage.39 Von diesem Zeugnis ließe sich mit weitaus mehr Berechtigung sagen, daß es der Forschung seit über 150 Jahren gedruckt zugänglich ist, vermutlich aber mit Gründen zwar nicht nie, aber doch höchst selten zitiert wird.40 Zu Mayers Büchnerbild-Angebot von 1979 gehörte auch der »Erotiker« Georg Büchner. Wieder stützte er sich dabei auf Dokumente, im hier zu untersu|| 38 Walter Grab (Hrsg.): Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar. Königstein/Ts. 1985, S. 77. Vgl. »Eure Barmherzigkeit mordet die Revolution«; Danton’s Tod, I/3. 39 Grab (Hrsg.) 1985, S. 78 40 Gleiches geschieht mit August Beckers wiederentdeckter Selbstaussage von 1845, wonach in Gießen Robespierre und Saint-Just zu seinen »Heilige[n]« zählten ([August Becker (Redeauszug)], in: Die Fröhliche Botschaft von der religiösen und socialen Bewegung, Nr. 4, Lausanne, Juli 1845, S. 5). Die Nrn. 3–5 der Zeitschrift galten als verschollen, ehe ich die ersten vier Hefte aufgrund eines Zitats aus Heft 4 in Hans Gustav Kellers Dissertation Die politischen Verlagsanstalten und Druckereien in der Schweiz 1840–1848. Ihre Bedeutung für die Vorgeschichte der Deutschen Revolution von 1848. Bern u. Leipzig 1935, S. 154, im Staatsarchiv Bern entdeckte; s. Herbert Wender: Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von »Danton’s Tod«. Frankfurt a. M. 1988, S. 157 und Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 49. Beckers wichtiges Bekenntnis wird in MBA 3.2, S. 199 aus durchsichtigen Gründen kleingeredet.

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chenden Fall auf den nur durch Karl Emil Franzos überlieferten Bericht eines Jugendfreundes. Der bis heute nicht identifizierte Gewährsmann erinnerte sich an eine Begegnung mit Büchner vor dem Darmstädter Jägertor an einem Sommerabend des Jahres 1831: »Er sah sehr ermüdet aus, aber seine Augen glänzten. Auf meine Frage, wo er gewesen, flüsterte er mir in’s Ohr: ›Ich will’s dir verrathen: den ganzen Tag am Herzen der Geliebten!‹ ›Unmöglich!‹ rief ich. ›Doch‹, lachte er, ›vom Morgen bis zum Abend in Einsiedel und dann in der Fasanerie!‹«41 Hundert Jahre lang war niemand auf die Idee gekommen, in dieser »Geliebten« etwas anderes zu vermuten als die Personifikation der Natur.42 Schließlich waren die Wälder rund um das Forsthaus Einsiedel und die großherzogliche Fasanerie bei Kranichstein bevorzugte Ausflugsziele der Darmstädter, nur rund eine Fußstunde vom Zentrum entfernt. Doch seit 1972 war der Bericht eines weiteren Freundes bekannt, dem Büchner im Sommer 1833 seine schwärmerische Verehrung für eine engelgleiche »fille perdue« anvertraute,43 ein gefallenes Mädchen. Wer damit gemeint gewesen sein könnte, blieb rätselhaft, bis Mayer als Kandidatin für den gefallenen Engel ein Fräulein Lottchen Cellarius ins Spiel brachte.44 Sie galt bis dahin als unbescholten – genauer gesagt, wußte man von ihr nur, daß Büchner weitere zweieinhalb Jahre später diese Klavierlehrerin seines Bruders Ludwig in einem Brief verstohlen grüßen ließ. Doch für Mayer paßte all dies zusammen: Einsiedel und Kranichstein als »amourös-verschwiegene« Tatorte,45 der geschändete gute Ruf einer Unbekannten und die ledige Lehrerin – drei Indizien, die anscheinend als handfester Beweis für die »frühe Libertinage«46 des Dichters taugten. Nachdem ihn Kollegen freundlich auf den Unterschied von Naturliebe und natürlicher Liebe hingewiesen hatten, räumte Mayer etwas gewunden ein, »im engen Kontext eines besonders hervorgehobenen, unbescholtenen ›sittlichen Wandels‹ und statt dessen ›mit Schwärmerei‹ geliebter, spaziergangsweise geradezu angebeteter Natur« werde man jene Geliebte »doch auf diese letztere

|| 41 F, S. XXXV. 42 Gerade erst hatte Gerhard Jancke erwähnt, daß Büchner »die Natur als seine Geliebte [bezeichnete]« ([s. Anm. 23], S. 30). 43 Heinz Fischer: Georg Büchner. Untersuchungen und Marginalien. Bonn 1972, S. 81 u. ders.: Georg Büchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Büchner-Fund. München 1987, Nr. 249. 44 Thomas Michael Mayer: Umschlagporträt (s. Anm. 3), S. 12. 45 Ders.: Büchner-Chronik. In: GB I/II, S. 357–425, hier S. 365. 46 Ders.: Lottchen Cellarius. In: GBJb 1/1981, S. 191–194, hier S. 192.

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beziehen müssen und nicht auf ein Techtelmechtel« des Siebzehnjährigen.47 »Amouröse Abenteuer« des Heranwachsenden »im damaligen Darmstadt« seien jedoch keineswegs auszuschließen:48 Er halte Büchner jedenfalls für keinen bloßen Texterotiker; die von »Reinhold Grimm im Werk so glänzend nachgezeichnet[e]« »Skala der Liebe« mache ihm »keinen papiernen Eindruck«.49 Grimm nämlich hatte in einem Aufsatz Über die Liebe bei Georg Büchner mit alliterierender Suggestivkraft50 darauf hingewiesen, daß es in Büchners Stücken »von Hingebung und Huren, Liebenden und Libertins, schonendster Zärtlichkeit und rücksichtlosester Geilheit« nur so »wimmelt«.51 Grimm bezeichnete die »Sachlage« als »eindeutig«:52 »Büchner war Erotiker und Revolutionär, war erotischer Revolutionär und revolutionärer Erotiker«, »ein Mensch vom Schlage Dantons«.53 In seinem eifernden Überschwang plädierte er dafür zu »erwägen«, und zwar – wie er einräumte – »ohne jede Kenntnis der Handschriften«,54 Woyzecks ihn »sonderbar« und »sinnlos« anmutendes »Wort ›Zickwölfin‹ (für Marie)« als »Fickwölfin« zu lesen, »zumal die Wölfin ja seit alters als Symbol der Geilheit« gelte55 – »stich, stich die Zickwolfin todt«, skandiert der von Mordphantasien geplagte Woyzeck in H3,12 (Poschmanns Zählung), als Echo auf seine akustischen Halluzinationen. Nun sind eine Z- und eine F-Versalie selbst in Büchners flüchtiger Kurrentschrift nicht zu verwechseln. Zudem übersah Grimm, daß es sich bei »Zickwolf« um einen alten Sippennamen (ursprünglich »Sigiwolf«) handelt, der in Deutschland, besonders in Baden und der Südpfalz, bis auf den heutigen Tag verbreitet ist, derzeit durch ungefähr zweihundert Namensträger. Es ist daher nicht mehr aber auch nicht weniger festzuhalten, als daß Woyzecks Lebensgefährtin, die Mutter seines Sohnes, im Drama Marie Zickwolf heißt. Für Grimm

|| 47 Ebd. 48 So der Standpunkt von Erich Zimmermann: Grüße an Fräulein Lottchen. Eine Darmstädter Jugendliebe Büchners? In: Darmstädter Echo, 9.5.1981. 49 Mayer 1981 (s. Anm. 46), S. 194, Anm. 17. 50 Die einprägsame Klangfigur hatte Büchner vorgegeben: »Sieh die hübsche Dame, wie artig sie die Karten dreht! ja wahrhaftig sie versteht’s, man sagt sie halte ihrem Manne immer das Cœur und andern Leuten das Carreau hin« (Danton’s Tod, I/1). 51 Reinhold Grimm: Cœur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner. In: GB I/II, S. 299– 326, hier S. 299. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 318. 54 Ebd., S. 322. 55 Ebd., S. 325, Anm. 78.

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indes war »Fickwölfin« ein Übername mit laszivem Hintersinn und fügte sich wunderbar ins Gesamtbild vom großen Erotiker. »Als außenseiterischer Revolutionär mußte Büchner konsequenterweise auch außenseiterischer Erotiker sein«,56 pflichtete 1986 Theo Buck bei; »[n]aturhafte Liebe und freie Partnerwahl nach antiken Mustern bildeten seine Orientierungsgrundlage«,57 »[s]innliche Lust ohne Maske gehörte zu seinem Programm«.58 Denn werde nicht in Danton’s Tod »programmatisch verkündet«: »Der göttliche Epicur und die Venus mit dem schönen Hintern müssen [statt der Heiligen Marat und Chalier] die Thürsteher der Republik werden«?59 Büchners Dichtungen legten für Buck nahe, daß er nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis ein Apostel hedonistisch-laxer Liebes- und Sexualmoral war, ein Libertin des Geistes und der Sitten und »alles andere als ein Verteidiger des abendländisch-christlichen Ehedogmas«.60 »Hinsichtlich der sinnlich-erotischen Intensität« dürften wir »getrost von einer völligen Übereinstimmung« zwischen der Prostituierten Marion (in Danton’s Tod) »und ihrem libertinistischen Schöpfer ausgehen«,61 in ihr habe Büchner »einen wesentlichen Teil seines erotischen Wunschpotentials verlebendigt«.62 Was hier geschieht, ist die Aufhebung der kategorialen Grenze zwischen Fiktion und Realität bzw. zwischen Kunst und Lebenspraxis.63 Die dramatische Dichtung wird quasi zum Sekundärtext herabgestuft, der den Primärtext, das Leben, mangels Masse mit Inhalt füllen soll.64 Es ist, um einen Büchnerpreisträger zu zitieren, der »verzeihliche, wenn auch absolut unliterarische Wunsch, Werk und Autor möchten wie zwei Sandwichhälften konturgleich aufeinander-

|| 56 Theo Buck: Grammatik einer neuen Liebe. Anmerkungen zu Georg Büchners Marion-Figur. Aachen 1986, S. 28. 57 Ebd., S. 14. 58 Ebd., S. 26. 59 Ebd., S. 14. 60 Ebd., S. 13. 61 Ebd., S. 28. 62 Ebd., S. 29. 63 Obgleich Lehmann (Nachwort [s. Anm. 4], S. 536f.) vor dem »Rückschluß vom Werk auf den Autor« warnte, beging er selbst diesen kardinalen Fehler, als er »extreme Widersprüche« konstatierte, die »Büchners Persönlichkeits- und Charakterbild« bestimmten und dabei zwischen Figurenrede und Briefaussagen nicht unterschied. 64 Vgl. auch hierzu bereits Herbert Wender: Büchnerbilder der Literaturwissenschaft. In: Petersen / Winter (Hrsg.): Büchner-Opern (s. Anm. 20), S. 41–56, bes. S. 41–45. Arnd Beise (Einführung in das Werk Georg Büchners. Darmstadt 2010, S. 60) erliegt ebenfalls der Versuchung, Büchners Position in Danton’s Tod dadurch bestimmen zu wollen, daß er – begründungslos – das Programm der Dantonisten mit Büchners »persönlichen Ansichten« identifiziert.

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passen«.65 In Wahrheit wissen wir über das Gefühlsleben von Büchner wenig, über seine Privatmoral und seine erotische Praxis überhaupt nichts. Gegenüber der Sache, der er sich verschworen hatte, war er zu großen Leidenschaften und Gemütsbewegungen fähig; unter Freunden gab er sich heiter, sogar ausgelassen:66 ein munterer Unterhalter, witzig und erfindungsreich.67 In fremder Gesellschaft, aber auch im Kreis alter Bekannter konnte er ablehnend spröde,68 schroff,69 spöttisch70 und hochmütig71 auftreten. Nicht zu dementieren ist auch seine durch Schulz überlieferte »etwas« vornehme und aristokratische, beinahe prinzliche Erscheinung,72 ebensowenig sein ausgeprägtes, ja fast übertrieben anmutendes Bewußtsein für vornehme Schicklichkeit:73 Sein Bruder Wilhelm stellte ihn sich Ende 1831 in Straßburg als einen »sehr eleganten Herrn« vor, wegen der Kurzsichtigkeit mit einem Augenglas an der Weste, »den Hut unter dem Arm, eine Cravatte bis über die Ohren, Sporen an den Stiefeln«.74 Der mit

|| 65 Wolfdietrich Schnurre, Büchnerpreisrede 1983, zit. nach Goltschnigg 2001–2004, Bd. 3, S. 264. Aber auch das umgekehrte Verfahren kam zur Anwendung, die Zurückweisung widersprechender Lebenszeugnisse (in diesem Fall von Briefaussagen), um die eigene Exegese widerspruchsfrei präsentieren zu können: Wolfgang Martens, der quasi-religiöse Fragen als »eigentliche Mitte«, als »gedankliches Zentrum« von Danton’s Tod ausgemacht hatte, Fragen »nach dem Sinn des Seins und nach der Weltordnung«, plädierte deshalb nicht bloß für die Befreiung »vom Stofflichen, von den Vorgängen im Vordergrund«, sondern räumte zugleich ein, daß »einige briefliche Äußerungen Büchners geeignet« seien, »uns auf die falsche Fährte zu setzen« (Wolfgang Martens: Ideologie und Verzweiflung. Religiöse Motive in Büchners Revolutionsdrama. In: Euphorion 54 [1960], S. 63–108, hier S. 83f.) Daß die Kunst der Auslegung vielfach zu triftigeren und verläßlicheren Ergebnissen führt als der Verweis auf reine Faktizität, sei unbestritten; daß aber Lebenszeugnisse aus erster Hand, die eine extravagante Interpretation geradezu dementieren, sich eben dadurch als unbrauchbar erweisen, bedürfte ausführlicher Begründung. 66 Fischer 1987 (s. Anm. 43), Nr. 249 (Muston). 67 Grab (Hrsg.) 1985 (s. Anm. 38), S. 65 (Wilhelm Schulz), ebd. S. 137 (Caroline Schulz). 68 Hauschild 1985, S. 326 (Edouard Reuss). 69 Carl Vogt: Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke. Stuttgart 1896, S. 121. 70 Nachweise für spöttisches Verhalten in MBA 10.2, S. 194. 71 Aus »Haß [...] gegen die, welche verachten«, habe er »Hochmuth gegen Hochmuth, Spott gegen Spott« gekehrt, räumt Büchner im Brief an die Familie vom Februar 1834 selbst ein (Georg Büchner: Briefwechsel. Kritische Studienausgabe von Jan-Christoph Hauschild. Basel u. Frankfurt a. M. 1994, S. 36). 72 So Wilhelm Schulz 1851 (Grab [Hrsg.] 1985 [s. Anm. 38], S. 66). 73 Lehmann (Nachwort [s. Anm. 4], S. 536) hat daraus (zu Unrecht) eine »hochmütige, ungeduldige, süffisante Exklusivität« abgeleitet. 74 Die Marburger Ausgabe hält diese Imagination für »ironisch« (MBA 10.2, S. 105). Ich kann in dem gesamten Brief keine Spur von Ironie entdecken. Eine übertreibende Darstellung ist allerdings nicht auszuschließen.

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Plattlitzen und Zierquasten (»Was der Mensch Quasten hat«75) besetzte Polenrock aus blaugefärbtem Tuch samt Zylinderhut, den er in Gießen (und sogar auf seinen konspirativen Botengängen) trug,76 war ja auch nicht gerade eine unauffällige Garderobe: Ludwig Rosenstiel veranlaßte sie zu der Bemerkung, Büchner sei »wie ein Hanswurst verkleidet in geheimen Aufträgen zu Offenbach« gewesen.77 Und zu seiner ersten Station in Zürich und damit zu seiner Postadresse für die offizielle Kontaktaufnahme mit dem Dekan der Philosophischen Fakultät erkor er das vornehme Hotel »Schwert«, eines der ersten am Platze.78 Professor Baiter sollte offenbar gleich wissen, mit wem er es zu tun hatte; mit keinem hergelaufenen Flüchtling jedenfalls. Die Sehnsucht nach Gleichheit verbindet sich bei Büchner augenscheinlich mit einem ausgeprägten Sinn für Distinktion. In seinen Dichtungen setzte er sich über manches Tabu hinweg; außerhalb seiner Dichtungen verriet Büchner mehr als einmal Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Normen und Werten, Sensibilität gegenüber herkömmlicher Sitte und Moral und schamhafte Rücksichtnahme auf das sogenannte schwache Geschlecht. Im Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835 räumte Büchner ein, daß sich Danton’s Tod aufgrund seiner überbordenden bildhaften Sexualität als »Lectüre für junge Frauenzimmer« nicht eigne,79 der Medizinerfreund Boeckel wurde mit Brief vom 1. Juni 1836 darüber belehrt, daß er seine Briefe, die ein »Frau[en]zimmer« gynäkologischer Details wegen nicht lesen sollte, auch nicht an ein Frauenzimmer hätte adressieren und ihm also »schicklichkeitsha[l]b[er]«

|| 75 Woyzeck, H1,1. 76 Als Büchner sich nach der Verhaftung Minnigerodes am Abend des 1. August 1834 auf den Weg machte, um die Verbündeten zu warnen, trug er laut »Signalement des stud. med. Georg Büchner von Darmstadt« vom 4. August einen »blautüchner[n] [Rock], eine Art Polonaise mit Schnüren auf Brust und Rücken, sog. [P]lattlitzen« (Hauschild 1993, S. 378; im Steckbrief steht irrtümlich »Blattlitzen«, ein offenbarer Hörfehler), und dazu einen »[r]unde[n] schwarze[n] Hut« (Hauschild 1993, S. 378). Carl Vogt (Aus meinem Leben [s. Anm. 69], S. 121) spricht explizit vom »hohen Cylinderhut«, den Büchner getragen habe und »der ihm immer tief unten im Nacken saß«. 77 Wilhelm Rehmann: Gießener Studentenbriefe aus dem Jahre 1834. In: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 21 (1952), S. 143–154, hier S. 149; vgl. Thomas Michael Mayer: Unbekannte Briefe aus der ›Gesellschaft der Menschenrechte‹ (Herbst 1834). In: GBJb 1 (1981), S. 275–286, hier S. 283. 78 Hauschild 21997, S. 709 und Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg 22011, S. 151. Büchner meldet die Unterredung mit Baiter im Brief an die Eltern vom 25. Oktober 1836; s. die Antwort der Mutter vom 30. Oktober (Georg Büchner: Briefwechsel [s. Anm. 71], S. 119). 79 Georg Büchner: Briefwechsel [s. Anm. 71], S. 74.

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nur unter Kuvert hätte zukommen lassen dürfen,80 und die dubiose Gefährtin des österreichischen Spions Aldinger, nach damaliger Aktenlage ein ungarisches »Freudenmädchen«, bezeichnete der Schöpfer von Rosetta und Rosalie, Adelaide und Marion Anfang Juni 1836 in einem Brief an die Familie, anstatt in ihr »einen wesentlichen Teil seines erotischen Wunschpotentials« zu »verlebendig[en]«, wenig einfühlsam als »liederliche Person«.81 Was insbesondere seine Einstellung zum »abendländisch-christlichen Ehedogma« angeht, hat Büchner sich in einem Brief an die Familie klar gegen seine Abschaffung ausgesprochen.82 Wir müssen mit solchen Widersprüchen zwischen Figurenreden und Autorbekundungen leben. Schon deshalb, weil wir es mit einem jungen Mann des frühen neunzehnten Jahrhunderts mit vielseitigen Interessen zu tun haben, nicht mit einem strikt auf Außenwirkung bedachten Politfunktionär der jüngeren Vergangenheit. Wer unter Berufung auf das Etikett des Frühkommunisten und Sensualisten konsequentes Verhalten in allen Lebensäußerungen behauptet, muß doch staunen, daß Büchner mit der Tochter eines Pfarrers verlobt, nicht mit der eines Berufsrevolutionärs locker liiert war, in einem harmlosen Straßburger Studentenkränzchen wortreich für die Republik warb83 und nicht Vorträge in Arbeiterbildungsvereinen hielt, mit Theologenfreunden anstatt mit Frühsozialisten die Vogesen durchstreifte,84 das Straßburger »Casino théologique et littéraire« im Café Kamm besuchte85 und nicht die republikanische Kasinogesellschaft, die »Société patriotique«, die im Café Faudel zusammenkam,86 zu Sauerländer und Gutzkow anstatt zu Campe und Börne bzw. Heine Kontakt aufnahm, sich an Cottas Komödienkonkurrenz beteiligte anstatt einen Solidaritätsfonds für die in Darmstadt Verhafteten einzurichten, in die von der Geldaristokratie beherrschte Schweiz übersiedelte anstatt mitten im vorrevolutionären Paris unterzutauchen und in Zürich »jeden Abend« für »eine oder zwei Stunden« ins nahegelegene »Casino« der aristokratisch dominierten Assemblée-

|| 80 Ebd., S. 101f. 81 Ebd., S. 105. Einschließlich sämtlicher Varianten findet sich das vorwurfsvolle Wort in Büchners Briefen nicht weniger als siebenmal. 82 Ebd., S. 87f. Die Abgrenzung Büchners von den moralischen Anschauungen des Jungen Deutschland und der privilegierten Klasse überhaupt nimmt schon Jancke vor ([s. Anm. 23], S. 118 und 208). 83 Vgl. Hauschild 1993, S. 185–192. 84 Ebd., S. 212–215. 85 Ebd., S. 130f. 86 Ebd., S. 155f.

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Gesellschaft am Hirschengraben ging, anstatt ins liberale »Café littéraire« im Haus zum Roten Turm.87 Möglich, daß jemand selbst diesen (von mir demonstrativ polarisierten) Entscheidungen Büchners eine esoterische Lesart abzugewinnen vermag – mir scheint es naheliegender, das Bild, das wir uns von Büchner machen, an diesen Entscheidungen zu orientieren, ohne sie als Vorwurf gegen ihn zu wenden. Auch auf die Gefahr hin, daß Büchner dadurch »auf das Niveau des Du-und-ichVerstehenkönnens herunter« gebracht wird, wie einer seiner exzentrischsten Bewunderer 1993 beanstandete.88 Das Erotikthema spielt in der Büchner-Interpretation heutzutage kaum noch eine Rolle; ganz zurückdrängen läßt es sich aber auch nicht, wie zwei Beispiele aus neuerer Zeit belegen. Ariane Martin89 glaubt in der Ankleideszene von Leonce und Lena die »als sexueller Witz inszenierte Anspielung auf ein körperliches Phänomen« entdeckt zu haben, eine »Erektion«. So jedenfalls liest sie König Peters Feststellung: »Halt, pfui! der freie Wille steht davorn ganz offen«; gewissermaßen mit Betonung auf dem »steht« und einem Komma hinter »davorn«. Sie hat keinen Zweifel, »das[s] in der Hose ›davorn‹ etwas offen ›steht‹«. Ich hatte die Selbstdiagnose bis dahin anders verstanden, im Sinne von: das Hosentürl steht offen. Allein schon deshalb, weil Peter ja zuvor von zwei Kammerdienern (entweder nicht sehr sorgfältig oder bewußt unvollständig) angekleidet worden ist, kein ganz unsportlicher Vorgang, und weil der alte Herr obendrein vor seiner »Feststellung« ein paar Runden im Zimmer gedreht hat, was wohl auch mit einem gewissen Spannungsverlust einhergehen dürfte. Rein menschliche Erfahrung sagt mir bereits an diesem Punkt meiner Überlegung, daß Martin und die Bearbeiter von MBA 6 sich in punkto Erektion auf dem Holzweg befinden. Aber auch ihrer Deutung des »pfui« als verräterisches, »den Tabubereich des Sexuellen üblicherweise sanktionierendes« Signal mag ich nicht zustimmen. Das »Pfui« richtet sich ja – damals wie heute – keineswegs nur gegen sexuelle Provokation, das Bedeutungsspektrum reichte und reicht von kulinarischem Abscheu und Ekel über allgemeinen Widerwillen bis zu politischer Mißbilligung und Empörung. Nicht, daß Büchner die Zote nicht zuzutrauen wäre – Danton’s Tod ist voll von »ganz grellen und nur auf Eines bezüg-

|| 87 Ebd., S. 587. 88 Thomas Michael Mayer; s. Darmstädter Echo, 15.10.1993. 89 Ariane Martin: Absolut komisch. König Peter und die Philosophie in Büchners »Leonce und Lena«, in: Ariane Martin, Isabelle Stauffer (Hrsg.): Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 183–198, hier S. 187f; ähnlich bereits im Band Leonce und Lena der Marburger Ausgabe (vgl. MBA 6, S. 446).

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lichen Eindeutigkeiten«,90 was ihm bekanntlich 1837 sogar den Tadel eines Gesinnungsfreundes eingebracht hat.91 Aufreizen wollte er damit nicht; es war vielmehr ein politisches Interesse, das den Detailreichtum der obszönen Passagen des Dramas motiviert hat.92 Leonce und Lena ist in dieser Hinsicht subtiler angelegt. Man kann Valerio durchaus nachsagen, daß er ein frivoler Schelm ist, weil er sich eine spöttisch-unverschämte Bemerkung über das luftige Kleid der Gouvernante erlaubt, und diese selbst, die Gouvernante mit ihrem großzügigen, lebkuchenherzförmigen Dekolleteé, scheint sich einen natürlichen Sinn für Sexualität bewahrt zu haben. Kein Zweifel auch, Leonce ist ein selbstsüchtiger Genußsucher und seines bisherigen Luxuslebens einschließlich der sexuellen Versorgung durch seine Mätresse überdrüssig. Seine rhetorische Frage »Mein Gott, wieviel Weiber hat man nöthig, um die Scala der Liebe auf und ab zu singen? Kaum daß Eine einen Ton ausfüllt« (I/3), ist ein Plädoyer für sexuelle Polyphonie. Ferner gibt es Anspielungen auf erotische Literaturstellen und den einen oder anderen kecken Studentenspruch.93 Aber derbe Zoten wird man in Leonce und Lena vergeblich suchen. So stünde denn Peters Erektion ziemlich allein auf weiter Flur. Weshalb ich sie, aus den genannten Gründen, zur Vision erkläre. Leonces eben zitierte »Scala der Liebe« hat Arnd Beise unlängst in assoziativen Zusammenhang mit einer erotischen Kreidelithographie des Pariser Künstlers Eugène Lepoittevin gebracht, entstanden um 1835. Beise druckt sie in seiner sehr schätzenswerten Einführung ab, weil Leonces »zynische Bemerkung« darin »ihre Parallele« habe.94 Hat sie das wirklich? Das pikante Bildchen zeigt einen Virtuosen, der auf einer aus acht unterleibsnackten Frauen gebildeten Orgel spielt; sein Manual sind die Vulven. Ob der Musikus auch noch zusätzlich mit seinem membrum virile orgelt, ist glücklicherweise nicht genau erkennbar. Jedenfalls aber singt er nicht, schon gar keine Tonleiter, wie sogar das nur flüchtig angedeutete Notenheft belegt. Die Assoziation ist also, für meinen Geschmack, etwas weit hergeholt. Der Verlag sah das aber offenbar anders und hat dem Bildvergnügen immerhin doppelt soviel Platz eingeräumt wie den abgebildeten Büchnerporträts, um des »grotesken Effects« willen, möchte ich behaupten. Im

|| 90 Georg Büchner: Briefwechsel [s. Anm. 71], S. 56. 91 »[D]ie Dantonisten waren lasciv, sie waren liederlich, aber sie waren, besonders Damen gegenüber, keine gemeine Zotenreißer« (Karl Buchner); s. Hauschild 1993, S. 447. 92 Vgl. ebd., S. 446f. 93 Leonce und Lena, III/3: »horizontales Verhalten« (möglicherweise abgemildert aus ursprünglich »horizontales Handwerk«). 94 Beise 2010 (s. Anm. 64), S. 106.

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drastischen Ergebnis werden Mayer, Grimm und Buck somit noch übertroffen; allerdings wird bei Beise wie auch bei Martin erfreulicherweise nicht der Versuch unternommen, biographische Schlußfolgerungen zu ziehen. Ein anderes Mißverständnis, das sich zur Übertreibung ausgewachsen hat, betrifft Büchners literarhistorische Einordnung und Gesamtwürdigung. »Die vor des Lebens Reife ihr Schicksal hinweggerafft, sind von einem wehmütigen Reiz des Unfertigen, Ahndungsvollen umgeben, der auf die Trümmer, die sie hinterließen, verklärend zurückstrahlt«, schrieb Paul Landau 1909 in der biographischen Einleitung seiner zweibändigen Büchner-Ausgabe, und auch, daß Büchner »nichts« habe »abrunden können zur Reife und Vollendung«.95 »Reiz des Unfertigen«, Verklärung der »Trümmer«, keine »Vollendung« – damit war alles Wesentliche in wünschenswerter Klarheit formuliert. Dennoch gilt bis heute selbst in Fachkreisen als selbstverständlich, daß Büchner »ein außergewöhnlich frühvollendeter Dichter«96 gewesen sei; vom »Werk eines Frühvollendeten« spricht 1994 Jens-Fietje Dwars.97 Rudolf Lochs Jugendbuch von 1988 trägt die Einschätzung sogar im Titel: Georg Büchner. Das Leben eines Frühvollendeten.98 Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft wirbt für Arnd Beises aktuelle Einführung in das Werk Georg Büchners mit dem Köder vom »frühvollendete[n] Genie«,99 und der Reclam-Verlag bewirbt die von Ariane Martin soeben neu herausgegebenen Sämtlichen Werke und Briefe gleichfalls mit dem Hinweis, es handle sich um »eine Gesamtausgabe der Werke des früh verstorbenen – und vielleicht des einzigen frühvollendeten – deutschen Klassikers«.100 Das Attribut hat eine lange Tradition: In seinem Nachruf von 1837 bezeichnete Karl Gutzkow Büchner als einen »früh vollendeten jungen deutschen Dichter«; angesprochen war damit, daß er seine Lebensbahn früh vollendete, früh verstarb. Mit den Jahren verschwand die Bedeutung von »vollenden« als Synonym für »sterben« aus dem alltäglichen Sprachgebrauch – als Attribut aber blieb es an Büchner haften, das ihn zu einem früh zur Meisterschaft Gelangten

|| 95 Georg Büchners Gesammelte Schriften. In zwei Bänden. Hrsg. v. Paul Landau. Berlin 1909, Bd. 1, S. 7 und 9. 96 So das Begleitheft einer Wozzeck-Einspielung durch die Pariser Oper unter Pierre Boulez aus dem Jahr 1971; CBS 79251. 97 Jens-Fietje Dwars (Hrsg.): Georg Büchner. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Berlin 1994, S. 22. 98 Berlin: Verlag Neues Leben. 99 http://www.wbg-wissenverbindet.de/shop/de/wbg/einf%C3%BChrung-in-das-werk-georgb%C3%BCchners (aufgerufen am 7.5.2012). Im Buch selbst konzediert Beise lediglich, daß »die Rede vom ›Frühvollendeten‹« auf Büchner »passt« ([s. Anm. 64], S. 16). 100 Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Ariane Martin, Stuttgart 2012, s. http://www.reclam.de/detail/978-3-15-010820-8 (aufgerufen am 7.5.2012).

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erklärte. Über die Zeitläufte hinweg sahen sich die Anhänger der Frühvollendung durch die grenzüberschreitende künstlerische Form seiner Dichtungen bestätigt, die Büchner aufregend modern erscheinen ließ, ihn beinahe zu einem Zeitgenossen machte. Längst weiß man, daß diese Modernität im wesentlichen Ergebnis eines Zufalls ist – des zufälligen Todes des Dichters, und insofern ein Irrtum, genauer: eine Fehleinschätzung. Am 19. Februar 1837 hat ein Bakterium namens Salmonella typhi den Menschen Georg Büchner tragischerweise getötet, die teils unfertige Gestalt seiner Dichtungen aber glücklicherweise bewahrt. Das eine wäre wohl ohne das andere nicht zu haben gewesen. Das Typhusbakterium hat Büchners unveröffentlichte Manuskripte gewissermaßen schockgefroren. Zwei seiner Dichtungen, Lenz und Woyzeck, blieben auf diese Weise Fragment. Ihnen fehlt jeder Schliff, jede Abrundung, wodurch immer auch die Genialität des ersten Entwurfs wegpoliert wird. Ihnen fehlt sogar noch mehr: ein gründliches Lektorat und erst recht die Vollendung. Ich sage damit nichts Neues. All das ist seit mindestens hundert Jahren bekannt. Dennoch wird bis heute das flüchtig Montierte in Danton’s Tod, das philologisch Korrupte, Skizzenhafte und Fragmentarische in Lenz und Woyzeck ahistorisch als genialer Vorklang der Moderne gedeutet. Das ist so, als würde man Palettenabdrücke von Dürer oder Tizian in Unkenntnis ihrer zufälligen Entstehung als abstrakte Meisterwerke feiern. Henri Poschmann beispielsweise stilisiert die Woyzeck-Fragmente mit heutigen ästhetischen Maßstäben zum vollendeten Drama, wenn er ausführt: »Der Fragmentstatus des Werks hält sich in bestimmteren Grenzen als bislang noch vermutet. Annähernd lückenlos [...] liegen die ausgearbeiteten Bestandteile eines vollständigen Dramas vor. Es war nur noch eine abschließende, das Ganze vereinende Reinschrift herzustellen.«101 Den von Büchner zuletzt erreichten Arbeitsstand hält er für den verbindlich gewollten, die Handschriften 1 bis 3 (in seiner Zählung) für die unmittelbare Grundlage einer verlorenen Druckvorlage,102 mindestens aber einer durch den Tod des Dichters knapp verhinderten Reinschrift, H4 für einen ebenfalls drucktauglichen Nachzügler, der das Mundum komplettieren sollte und von Büchner, vermutlich zum Zwecke des Briefversands an einen unbekannten Verlag, gefaltet worden sei.103 Ja, die beiden auf H4 flüchtig skizzierten Szenen sind Poschmann sogar Beweis dafür, daß Büchner seinen Text kaum für verbesserungsbe-

|| 101 P I, S. 695. 102 Vgl. ebd., S. 696. 103 Vgl. ebd.

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dürftig hielt, daß es dafür nur dieser beiden Szenen bedurfte.104 Autorintention und Überlieferungslage werden hier stillschweigend gleichgesetzt bzw. schlicht verwechselt. Daß die Fragmente titellos geblieben sind, auch die sogenannte vorläufige Reinschrift H3 zunehmend Entwurfscharakter annimmt und in H4 die Sprecherbezeichnungen nur angedeutet sind, vermag Poschmann nicht zu erschüttern. Der gleiche Vorbehalt gegenüber der Einschätzung des Textstatus’ gilt für das Prosafragment. »Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. […] Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.« Wenn Arnold Zweig in seinem Versuch über Büchner aus dem Jahr 1923 feststellt, daß »mit diesem Satz [...] die moderne europäische Prosa [beginnt]«, dann ist dies eine persönliche Wertung, die als solche nicht zu kritisieren ist. Zugleich aber darf festgestellt werden, daß mit diesem Satz nicht Büchners Lenz-Erzählung hätte beginnen sollen, was Zweigs Hymnus dann doch beträchtlich relativiert. Büchner hat wohl kaum beabsichtigt, seinen Protagonisten nur mit dem Familiennamen und ohne jede weitere Information in die Erzählung einzuführen und dabei zwar den Tag, aber nicht Jahr und Monat zu nennen. Keines der Dokumente zur Entstehung des Textes deutet darauf hin, daß Büchner sein Schreibvorhaben auf die Darstellung des knapp dreiwöchigen Aufenthalts bei Oberlin im Steintal hat beschränken wollen. Paul Landau mutmaßte, daß Büchner die »Oberlin-Episode« für einen Abdruck in der Deutschen Revue vorgesehen hatte und »eine künstlerische Ausgestaltung und Abrundung des Stoffes sich für später aufsparte. Doch auch dieser eine Teil des ganzen Werkes ist nicht fertig geworden, er setzt mitten in der Erzählung ein und bricht jäh ab«.105 Mit Herbert Wender ist anzunehmen, daß die von Büchner geplante »Novelle«106 »den Bogen von der Ankunft des Livländers in Straßburg 1771 über die Sesenheim-Besuche des Folgejahrs und seine Tätigkeit als Schriftführer in der Straßburger Deutschen Gesellschaft 1774 und 1775 bis zur Verbringung aus dem Elsass im Februar 1778 spannen sollte«.107 Darauf deuten jedenfalls seine brieflichen Bemerkungen über das Projekt und – soweit bekannt – die ihm vorliegen-

|| 104 Büchner hat »nur noch an zwei entscheidenden Stellen wichtige Akzente gesetzt« (ebd., S. 695). 105 Georg Büchners Gesammelte Schriften (s. Anm. 95), Bd. 2, S. 90. 106 Siehe Gutzkows Brief an Büchner vom 6. Februar 1836. 107 Herbert Wender: An den Grenzen der Konjekturalphilologie. Zu einigen offenen Fragen der Büchneredition. In: Fortmann / Helfer (Hrsg.): Commitment and Compassion (s. Anm. 33), S. 303–324, hier S. 313. Vgl. auch Wenders Beitrag »Müdigkeit spürte er keine…« – Wie ein saarländischer Lehrfilm Büchners Lenz auf den Kopf stellt, in: Saarbrücker Hefte 106 (Winter 2011/12), S. 103–110.

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de Stoffsammlung hin. Der scheinbare Anfang stammt also aus dem Schlußteil, die verbreitete Auffassung, wonach es sich um den Beginn von Büchners LenzFragment handelt, resultiert lediglich aus der Herausgeberentscheidung, dies nicht kenntlich zu machen, und die angebliche Modernität ist nicht Ergebnis einer Kunstanstrengung, sondern im wesentlichen dem Fragmentcharakter geschuldet. Leonce und Lena, dieser eklektizistische Geniestreich, will gerade durch seine Geläufigkeit bestechen, durch Signale, deren Erkennen für den Literaturfreund nicht ohne Unterhaltungswert ist. Aber auch an Danton’s Tod und Woyzeck, denen fraglos kühne Neuerungen zu bescheinigen sind, kann man zeigen, daß Büchner auf Bewährtes zurückgreift. Damit ist zunächst keine Mißbilligung verbunden, wie Mayer108 und ich109 sie – von unterschiedlichen Standpunkten aus – vorgenommen haben, was jüngst Bodo Morawe fälschlich als Beleg dafür galt, »dass in der ›Danton‹-Forschung insgesamt etwas nicht stimmig ist.«110 Meine kritische Anmerkung, es handle sich bei Danton’s Tod um ein (zum Teil der Eile geschuldetes) Anfängerstück,111 wird aber nicht dadurch entkräftet, daß Morawe die faktische Kennzeichnung mit dem hinzuerfundenen Vorwurf des Dilettantismus verbindet und das Drama nun umgekehrt zum »Juwel der Weltliteratur« stilisiert, was denn doch ein bißchen an Karl Viëtors Lobpreis der »ewigen« Dichtung erinnert.112 Das ist zwar allemal erfreulicher als die seinerzeitige Stigmatisierung zum »Brandmal für deutsche Literatur« durch Felix Frei anno 1835,113 doch liegt auch hier das Idealbild des vollendeten Genies zugrunde, dessen Werk außerhalb jeder Kritik steht. Das scheint mir dann doch die

|| 108 Siehe GB I/II, S. 134. 109 Hauschild 1993, S. 438 (s. auch unten Anm. 111). 110 Bodo Morawe: Citoyen Heine. Das Pariser Werk, Bd. 1: Der republikanische Schriftsteller, Bielefeld 2010, S. 300, Anm. 35; wiederholt in: ders.: Faszinosum Saint-Just, Bielefeld 2012, S. 87. 111 »Problematisch an ›Danton’s Tod‹ bleibt, daß es beides sein will: realistisches Geschichtsdrama und dramatisierte Geschichte, kunstfertiges Schauspiel und beweiskräftiges historisches Szenario. Das ist selten gutgegangen und funktioniert auch in diesem Anfängerstück nicht, bei dem sich Büchner zu sehr als Rhetor und zu wenig als Architekt betätigte, den Stoff mehr schlecht als recht organisierte. Zwar fehlt es den beiden ersten Akten nicht an Handlung, doch vermißt man den notwendigen Akzent am Schluß des II. Akts, wo noch einmal eine ›Raketenstufe‹ hätte ›gezündet‹ werden müssen, die das verbleibende Drittel des Stücks voranbrächte« (Hauschild 1993, S. 438). 112 Karl Viëtor: Die Tragödie des heldischen Pessimismus. Über Büchners Drama »Dantons Tod«. In: DVjs 12 (1934), S. 174–209, hier S. 174. 113 Vgl. Hauschild 1985, S. 185–189.

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Anwendung des monarchischen Prinzips auf die Literatur.114 Muß noch daran erinnert werden, daß Büchner selbst sein »Werk keineswegs für vollkommen« hielt und versprach, »jede wahrhaft ästhetische Kritik« – um keine andere handelt es sich hier – »mit Dank annehmen«115 zu wollen? Dem Titel von Henri Poschmanns Monographie Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung liegt die Auffassung zugrunde, daß Büchner in seinem Revolutionsdrama »die Revolutionierung der dramatischen Form und der ästhetischen Auffassungen« betrieben habe.116 Ich glaube nicht, daß dies zutrifft; der Titel, der obendrein an Reinhold Grimms dialektische Schlagwortwolke vom »erotischen Revolutionär und revolutionären Erotiker« erinnert, scheint mir vielmehr der Suche nach einem prägnanten Slogan geschuldet. Der Sachverhalt, Büchners Beitrag zur Entwicklung des modernen Dramas, wurde zugunsten des dialektischen Wortspiels übertrieben, wo nicht verfälscht. Man muß ja nicht so weit gehen wie Gottfried Keller, der in Büchners »Frechheit«, den »Unmöglichkeiten« in Danton’s Tod und der Zola überbietenden »Art von Realistik« in Woyzeck das einzige sichere Genie-Symptom erkannte, »das übrige« sei ja »fast alles nur Reminiszenz oder Nachahmung«. Mir scheint, daß jede der vier Dichtungen für den Verfasser, bei aller Rückversicherung in der Tradition, auch – hierin dem Hessischen Landboten ähnlich – eine mutige Probe auf die Praxis war, ein Experiment, ein Gang ins Ungewisse. Wiederum Paul Landau hat es vor bald 100 Jahren schlüssig zusammengefaßt: In jeder dieser Arbeiten flammt etwas Neues auf, erkennen wir etwas Zukunftsvolles, an das die moderne Literatur angeknüpft hat. Keine seiner Schöpfungen wiederholt die andere, sondern eine jede spinnt Fäden in weite Fernen, streckt ihre Fühler aus nach einem Neuland, das damals noch der Entdeckung harrte. Und zugleich sind sie alle, diese Werke, keine Hybriden, außerhalb der Entwicklung liegenden Schöpfungen; vielmehr stehen sie auf dem Boden der Tradition, wachsen organisch hervor aus den literarischen Voraussetzungen ihrer Zeit.117

Es ist ja nicht zwingend, daß in einem Stück über die Fraktionskämpfe unter den Jakobinern Anfang des Jahres 1794, das mit dem Anspruch von geschichtlicher Treue daherkommt, die Ehefrauen von Danton und Camille Desmoulins

|| 114 Republikanischer erscheint mir das Lessingsche Diktum: »mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd gegen den Meister«; s. Briefe, antiquarischen Inhalts, 57. Brief. In: Gotthold Ephraim Lessing’s sämmtliche Schriften. Berlin und Stettin 1828, Bd. 32, S. 171. 115 Georg Büchner: Briefwechsel (s. Anm. 71), S. 75. 116 Poschmann 1983, ³1988, S. 92. 117 Paul Landau: Georg Büchner und die Gegenwart. In: Berliner Börsen-Courier, 17.10.1913; vgl. Goltschnigg 2001–2004, Bd. 1, S. 193.

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den einsamen Liebestod sterben. Ganz im Unterschied zu ihren jeweiligen Gatten, deren Tod als Konsequenz ihres Handelns erscheint, als politischer Tod. Henry J. Schmidt hat es so formuliert: »Ein guter Mann stirbt für seine Ideale, was tragisch ist, eine gute Frau hingegen stirbt für ihren Mann, was schön ist.«118 Solch ein männlich-heroischer Tod wird Lucile und Julie von Büchner versagt; stattdessen läßt er sie einen bürgerlichen Liebes- und weiblichen Märtyrertod wählen. Hätte Büchner gewußt, daß Sebastienne-Louise Gély, verheiratete Danton, aus einer royalistisch gesinnten Bürgerfamilie stammte und drei Jahre nach dem Tod ihres Gatten ein zweites Mal heiratete – vielleicht wäre er dann nicht auf den seltsamen Gedanken verfallen, Madame Danton sich nach bloß zehnmonatiger Ehe, unmittelbar vor der Hinrichtung ihres Gatten, umbringen zu lassen. Tatsächlich starb sie erst 1858 im Alter von 81 Jahren. Sogar den Dichter von Danton’s Tod überlebte sie damit um mehr als zwei Jahrzehnte. Und auch wenn Ariane Martin jüngst eine literarische Tradition für Luciles suizidale Selbstbezichtigung nachweisen konnte,119 war Büchner aus seinen Quellen genau bekannt, daß Anne-Lucile-Philippe Desmoulins gerade nicht zu den todessehnsüchtigen Frauen gehörte, die sich aus purem Liebesschmerz öffentlich des Royalismus bezichtigten, sondern daß sie im Gegenteil erhebliche Anstrengungen unternahm, um Camille freizubekommen.120 Verurteilt wurde sie nicht wegen ihrer selbstmörderischen Provokation, sondern aufgrund des politischen Vorwurfs, sie habe die Befreiung ihres Mannes geplant. Infolgedessen wurde sie am 4. April 1794, also noch vor der Liquidierung ihres Mannes, inhaftiert und am 13. April, acht Tage nach ihm, hingerichtet. Ganz anders also als bei Büchner. Was er mit Louise/Julie und Lucile anstellt, läuft auf eine Bestechung der Zuschauergefühle hinaus; die Suizidmonologe, mit denen Julie und Lucile ihrem Tod entgegengehen, sind gleichsam Todesarien ohne Musik; im Finale

|| 118 Henry J. Schmidt: Frauen, Tod und Revolution in den Schlußszenen von Büchners »Danton’s Tod«. In: Dedner / Oesterle, S. 286–305, hier S. 291. 119 Ariane Martin: Miszellen zu Büchners Quellen. In: Martin / Stauffer (Hrsg.): Georg Büchner und das 19. Jahrhundert (s. Anm. 89), S. 291–306, hier S. 293f. 120 Büchner erwähnt die Denunziation Alexandre de Laflottes in III/6. Zu Luciles Bemühungen vgl. Die Geschichte Unserer Zeit, bearbeitet von Carl Strahlheim, ehemaligem Officiere der kaiserlich französischen Armee. Zwölfter Band, Stuttgart 1828, S. 152; Karl Friedrich Beckers Weltgeschichte. Sechste Ausgabe, neu bearbeitet von Johann Wilhelm Loebell. Mit den Fortsetzungen von J. G. Woltmann und K. A. Menzel. Dreizehnter Theil. Geschichte unserer Zeit, von K. A. Menzel. II. Berlin 1829, S. 58; Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber (Hrsg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. 1. Section, 24. Theil. Leipzig 1833, Artikel Desmoulins, Camille, S. 272.

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einer Oper, wo das Glück der Zuschauer ja aus dem Unglück der Figuren entsteht, wären ihre Sterbewünsche besser aufgehoben. Aber, wie der Dichter sagt: wer liebt, hat Recht, und das Drama gewinnt dadurch bedeutend an Tragik, die ihm sonst nicht so einfach zukäme. Daß »Danton und d[ie] Banditen der Revolution« den Bühnentod erleiden, ist ja nicht tragisch, jedenfalls nicht für Büchner, der sein Stück bewußt nicht als Trauerspiel, sondern als »Drama« bezeichnet hat. Auch wenn man dem mit Renitenz widersprochen hat: Gattungspoetologisch impliziert das Drama, im Unterschied zum Trauerspiel, die »glückliche Katastrophe«, den erfreulichen »Vollendungspunkt«.121 In diesem Sinne konnte der liberale Historiker Wilhelm Wachsmuth 1832 über Danton resümieren: »[S]ein Tod war ein Glück für Frankreich«; freilich mit dem Zusatz: »er öffnete den Abgrund für Robespierre«.122 Und warum eigentlich macht Büchner aus Woyzecks Opfer – den Quellen zufolge eine 46jährige Witwe in gesicherten Verhältnissen – eine junge ledige Mutter, warum verlegt er Woyzecks Wirkungskreis ins Soldatenmilieu und verwandelt den ledigen Obdachlosen in einen fleißigen, erwerbstätigen, lesekundigen und bibelfesten Familienvater im »Quasi-Ehestand«? Weil auch das wieder die Gefühle des Publikums auf das heftigste zu bewegen vermag. Denn daß ein vagabundierender »alter Kerl« aus »Eifersucht« »ein altes Weib« ersticht, wie Christian Dietrich Grabbe, von 1820–1822 Jurastudent in Leipzig, die Tat seinerzeit in einem Brief an seine Eltern lakonisch beschrieb, wäre selbst für ihn ungleich schwieriger zu dramatisieren gewesen. Im Gegensatz zu Danton, der durch seine Kühnheit und Verderbtheit zu beeindrucken vermag, und zu Lenz, dem ein durch Krankheit übersteigertes Künstlernaturell eignet, ist der Proletarier Woyzeck als Einzelmensch nicht sonderlich interessant. Am Rande sei vermerkt, daß die Dialoge nicht ganz frei von Soziallarmoyanz sind und daher gelegentlich an sentimentale Trivialprosa erinnern,123 mit

|| 121 Hauschild 1992 [s. Anm. 40], S. 71 und 1993, S. 460 mit Anm. S. 640. Martin Selge hat gezeigt, daß im Drama – abweichend von Büchners Quellen, denen zufolge in diesem Moment eine »dumpfe Stille« herrschte – bei der Hinrichtung der Dantonisten »eine Art Volksfeststimmung« aufkommt (Martin Selge: Marseillaise oder Carmagnole? Zwei französische Revolutionslieder in »Danton’s Tod«. In: Katalog Darmstadt, S. 235–240, hier S. 236). Anstatt umgehend seinen Duzfreund Selge für seine Interpretation zu tadeln, polemisierte Mayer 1993 gegen mein zustimmendes Selge-Zitat, freilich mit Unterschlagung des ursprünglichen Autors. 122 Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber (Hrsg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. 1. Section, 23. Theil. Leipzig 1832, Artikel Danton, Georg Jacob, S. 84. 123 Reinhold Grimm warf nebenbei die Frage auf, ob der Tod von Marions Mutter, ein »Tod aus ›Gram‹«, nicht »geradewegs aus dem Melodrama« stamme (Grimm [s. Anm. 51], S. 311).

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der Büchner im übrigen nichts gemein hat: »Ich bin ein armer Kerl«, »ich bin ein armer Teufel«, »ich bin nur ein arm Weibsbild«, und vor allem das zweimalige »wir armen Leute« / »Wir arme Leut«. Alban Berg in seiner Oper hat das Motiv denn auch gleich mit drei, im Orchester-Epilog sogar mit dem zornigen Pathos von vier Posaunen ausgerüstet. Nein, wenn Büchner den Status eines Ewigheutigen beanspruchen kann, dann nicht wegen der vermeintlichen Modernität seines Werks, das scheinbar literarische Moden des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt, sondern vor allem wegen jener einzigartigen Synthese, zu der sich der ergebnisoffene Forschungsund Untersuchungsdrang des Wissenschaftlers, der produktive Kunstsinn des Dichters und die eingreifende Solidarität des citoyen miteinander verbinden. Stets war es das Wirkliche, das ihn interessierte. Als Dichter wandte er sich gegen eine Verfälschung der Wirklichkeit im Sinne des Kunstschönen, als Wissenschaftler ging er dem Wahrheitsgehalt von Theorien auf den Grund und trug durch eigene Forschungen zum Wissenszuwachs bei, als politischer Agitator orientierte er sich an der Realität der sozialen Verhältnisse, war auf empirische Erkenntnisse aus und suchte über deren Ermittlung die Bewußtseinsbildung und Mobilisierung voranzutreiben. Die Zukunft war auch für ihn unsichtbar. Aber er spürte Verantwortung und entwarf Pläne, die über sein berufliches Fortkommen hinausgingen und auf das Glück auch der Deklassierten und Entrechteten zielten, der »Geringsten«,124 wie es bei ihm (und schon in Luthers Bibelübersetzung) heißt, verfolgte diese Pläne mit Intensität und Hartnäckigkeit, weil er, um ein letztes Mal Wilhelm Schulz zu zitieren, voller »Thatkraft«125 war. Es fiel ihm nicht ein, Teil der irrenden Mehrheit zu werden, die sich mit dem gesellschaftlichen status quo abfand. Bis zuletzt hat er sich seine Hoffnung auf Gerechtigkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen bewahrt, und nichts berechtigt zu der Annahme, daß ihm, hätte er länger gelebt, sein radikaler Gerechtigkeitssinn abhanden gekommen wäre.

|| 124 Lenz; Leonce und Lena III/1. 125 Wilhelm Schulz: Nekrolog, zit. nach Grab (Hrsg.) 1985 (s. Anm. 38), S. 140.

Christian Neuhuber (Graz)

Woyzecks Weg zur Weltliteratur Anmerkungen zur aktuellen Bühnenrezeption Mit einem Verzeichnis der Aufführungen 2012 Bei den Feierlichkeiten zu den Gedenkjahren 1988 und 1989 ließ sich die Inthronisation Büchners am deutschen Dichterolymp, die ein Dreivierteljahrhundert zuvor mit den ersten Inszenierungen seiner dramatischen Arbeiten begonnen hatte, getrost als abgeschlossen bezeichnen. Sein Status als ›Klassiker‹ war institutionalisiert durch den bedeutendsten deutschen Literaturpreis, er war festgeschrieben durch seine Etablierung in Anthologien, Literaturgeschichten oder auch Schullektürekanons und er bewies sich eindrucksvoll in der angeregten künstlerischen Rezeption im deutschsprachigen Raum. International gesehen aber war der hessische Dichterrevolutionär nach wie vor allenfalls ein Geheimtipp. 25 Jahre später ist Büchners Werk nun endlich auch in der Weltliteratur angekommen. Neben dem geradezu inflationär adaptierten Lenz ist es vor allem sein Woyzeck, der wie kaum ein anderes Werk des 19. Jahrhunderts international wahrgenommen wird. Superlative zur Bedeutung des Werks für das moderne Drama sind kurz vor dem hundertjährigen Bühnenjubiläum in Ankündigungen und Besprechungen durchaus die Regel. Tatsächlich ist Woyzeck heute wohl das weltweit meistgespielte, mit Sicherheit aber das meistadaptierte und einflussreichste deutsche Theaterstück, mit Hundertschaften an Inszenierungen, die kaum noch überschaubar sind. Ein Vergleich der internationalen Bühnenrezeption für das Kalenderjahr 2012 mit jener vor einem Vierteljahrhundert soll diesen veränderten Status des Stücks verdeutlichen. Folgt man Marion Poppenborgs Aufführungsverzeichnis für die Spielzeiten 1985/86 bis 1988/89,1 ist der Woyzeck in diesen vier Jahren in den beiden deutschen Staaten auf 25 Bühnen, in Österreich auf drei und in zehn weiteren Ländern jeweils an einem Theater gespielt worden. Zwar konnte (nicht zuletzt durch deutsche Kulturaustauschprojekte) der Aktionsradius verglichen mit der ersten Jahrzehnthälfte (1980/81–1984/85: 42 Bühnen in 9 Ländern)2 etwas er-

|| 1 Vgl. Marion Poppenborg: Georg Büchner auf dem Theater 1985/86–1988/89. Verzeichnis der Aufführungen und Kritiken. In: GBJb 7 (1988/89), S. 438–466. 2 Vgl. Marion Poppenborg: Georg Büchner auf dem Theater 1981–1988/89. Verzeichnis der Aufführungen und Kritiken. In: GBJb 5 (1985), S. 372–399.

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weitert werden; der weitaus überwiegende Teil der Aufführungen aber fand nach wie vor im deutschsprachigen Raum statt. 2012 sieht die Lage gänzlich anders aus: Auf zumindest 270 Bühnen in 44 Ländern war der Woyzeck in diesem einzigen Jahr zu finden. Deutschland liegt zwar noch immer klar in Führung mit seinen 77 mit Woyzeck-Bearbeitungen bespielten Bühnen. Doch mehr als zwei Drittel aller Inszenierungen 2012 gehen nun auf das Konto fremdsprachiger Produktionen. Frankreich weist bereits 32 Spielorte auf, Italien 15, Griechenland, Großbritannien und Portugal folgen mit acht; sogar auf den FäröerInseln hat das Stück es auf die Bühne geschafft. Und auch außerhalb Europas hat das Interesse an Büchners Drama stark zugenommen. In den USA stand es in 22 Theatern auf dem Programm (darunter 18 Premieren!), Mittel- und Südamerika ist mit mehreren Ländern stark vertreten; auch im südostasiatischen Raum ist das Stück im Vormarsch, wie die Inszenierungen in Korea, China, Taiwan und Indonesien zeigen.

Abb. 2: Woyzeck 2012: auf 270 Bühnen in 44 Ländern

Will man die Verbreitung und Gegenwärtigkeit eines Theaterwerks in einem Kalenderjahr adäquat erfassen, kann man sich nicht auf dessen Neuinszenierungen beschränken. Berücksichtigt sind in dieser Graphik dementsprechend auch Aufführungen der Spielzeit 2011/12, die noch in den ersten Monaten des

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Jahres 2012 auf dem Spielplan standen, ebenso Wiederaufnahmen älterer Inszenierungen für Festivals, Gastspiele in kleineren Orten, Tourneestationen etc. Weit über die Hälfte aller erfassten Inszenierungen feierte jedoch 2012 ihre Premiere; sie sind Eigenproduktionen oder zumindest selbstständige Bearbeitungen zugkräftiger Dramatisierungskonzepte wie Robert Wilsons Musicalfassung mit den suggestiven Liedern von Tom Waits zu Texten Kathleen Brennans, die 2000 am Betty Nansen Theater in Kopenhagen uraufgeführt worden war und sich seitdem erstaunlicher Beliebtheit erfreut. So waren 2012 allein in Deutschland elf verschiedene Abkömmlinge dieser Musicaladaption zu sehen.3 Nicht berücksichtigt in dieser Auflistung wurden dagegen Interpretationen von Alban Bergs epochaler Oper Wozzeck, die einen eigenen mächtigen Rezeptionsstrang aufweist und in den letzten Jahren eine kleine Renaissance erlebt.4 Auch die Dutzenden Schulinszenierungen, die inzwischen auch außerhalb des deutschsprachigen Raums zahlreich zu finden sind,5 wurden nicht aufgenommen, um das Bild nicht mit Amateurtheater zu verfälschen. Lediglich semi-professionelle (ab Akademieebene) und professionelle Inszenierungen sollten Berücksichtigung finden und möglichst lückenlos erfasst werden. Freilich ist dieser Anspruch auf Vollständigkeit kaum einlösbar, muss doch eine derartige Dokumentation der Rezeptionslandschaft angesichts von Datenmenge (weit über zwei Millionen Einträge zu Woyzeck, Wozzeck u.a.), Sprachbarrieren und unzuverlässiger Quellenlage unweigerlich an ihre Grenzen stoßen. Doch schon diese wohl lückenhafte Auflistung belegt im Vergleich mit der Aufführungssituation vor einem Vierteljahrhundert einen grundlegend geänderten Status des Stücks, das sich nun endgültig auf der Weltbühne etablieren konnte. Denn auch wenn 2013 einen weiteren Boom in den internationalen Spielplänen erwarten lässt, ist das heutige Interesse nicht mehr allein mit dem Gedenkjahreffekt zu erklären. Schon in den Jahren zuvor nahm die Rezeption stetig zu; für 2011 etwa stehen

|| 3 Vgl. die Inszenierungen in Aachen, Bamberg, Berlin, Darmstadt, Dresden, Halle, Hamburg, Hannover, Ingolstadt, Minden und Oberhausen, wo diese zurzeit etwas überstrapazierte Musicalversion 2008 das erste Mal in deutscher Sprache (mit englischen Gesangseinlagen) realisiert worden war. International gesehen fand 2012 die hymnisch rezensierte Umsetzung der ›Shotgun Players‹ in Berkeley wohl die meiste Beachtung. 4 Eine Ausnahme bilden Kombinationsstücke wie Woyzeck-Wozzeck, eine Inszenierung der Münchener Kammerspiele unter der Regie von Barbara Wysocka, die Bergs Oper wieder mit Büchners Drama kurzschloss. 5 Als Beispiele seien die Produktionen der Bedales School (Steep, Hampshire), Godolphin School (Salisbury), Wells Cathedral School, des St. John Rigby College (Wigan), des City of Bristol College, der Yigal Alon High School und Ironi Alef High School (Tel Aviv) oder auch der Canberra Grammar School genannt.

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nicht viel weniger Inszenierungen von Büchners Werk oder Woyzeck-Adaptionen zu Buche als für 2012.6 Sieht man sich die europäische Woyzeck-Rezeption des Jahres 2012 im Detail an, fällt auf, wie breit mancherorts das Angebot ausfällt:

Abb. 3: Woyzeck-Aufführungen 2012

Je zwei verschiedene Inszenierungen gab es etwa in Lissabon, Madrid, Marseille, Moskau oder Thessaloniki zu sehen, drei in Rom, Mailand, Paris und Straßburg, vier wiesen London, München und Wien auf, Hamburg konnte sogar

|| 6 In den Vereinigten Staaten übertrifft die Zahl der Inszenierungen 2011 die des Folgejahrs sogar deutlich. Allein in Chicago entstanden für das ›Franz Fest‹, ein Woyzeck-Performanceprojekt der Theatertruppe ›Collaboraction‹ (6./7. Mai), zwölf Adaptionen: Toyzeck (Jason Adams, Erin Carr), Buchner’s Woyzeck (Andy Grigg), Wozzeck: A Technopera (Amy Stebbins, Richard Whaling), Three Brief but Incredibly Plausible Endings to Georg Buchner’s Woyzeck (Andy Grigg), The Rape and Murder of Marie (Nathanael Card), The Goal Of This Study Is... (Mike Steele), Das Woyzeck Experiment (›The Harlotry & Necromancy Appreciation Society‹), The Woyzettes (Sarah Pickering, Jenn Romero), Who Does Know? (Ian Randall), Small Ugly Heart (Kendra Miller, Paul Scudder), (Re)surfacing (›Sour Mash Theatre‹), Lost in the World (›The Zocadero‹).

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fünf verbuchen. Europäische Spitzenreiter aber waren – und das wirkt in Zeiten der Krise durchaus symptomatisch – Berlin und Athen, wo Woyzeck-Bearbeitungen auf sechs Bühnen gespielt wurden, darunter mit Ellie Papakonstantinous Κουαρτέτο Βόυτσεκ auch eine deutsch-griechische Koproduktion. In etlichen Ländern fehlen dagegen aktuelle Nachweise für Woyzeck-Inszenierungen. Das ist etwa bei Polen mit seiner langen Spieltradition, das im selben Jahr immerhin Danton’s Tod- und Leonce-und-Lena-Inszenierungen anzubieten hatte, ebenso dem Zufall geschuldet wie bei Norwegen, wo im Herbst 2011 an der Osloer Oper die erfolgreiche Ballettproduktion Christian Spucks Premiere feierte. Letztlich gibt die Karte lediglich eine Momentaufnahme wieder; nimmt man auch die vorhergehenden Jahre in den Untersuchungszeitraum, so findet sich kaum ein europäisches Land, in dem Büchners Proletariertragödie nicht auf der Bühne zu sehen war. Diese ungleich flächendeckendere Theaterrezeption, an der die heutige Popularität des Woyzeck abzulesen ist, beruht auf dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren, allgemein theatraler ebenso wie werkspezifischer und rezeptionsdynamischer. Generell sind Inszenierungen nun merklich mobiler als dies noch in den 1980ern der Fall war: durch Gastspiele, Austauschprojekte und Tourneen, mit denen man die limitierten Aufführungstermine zuhause ergänzt und auch weniger urbane Bühnen im In- und Ausland erreicht, durch Kooperationen mehrerer Schauspielinstitutionen, die mit einer gemeinsamen Produktion ihre Stammhäuser bespielen,7 und nicht zuletzt durch Präsentationen auf Festivals. Eine Woyzeck-Inszenierung scheint inzwischen beinahe eine Pflichtübung für ambitioniertere Regisseure zu sein, so etwas wie ein Nachweis überregionaler Bühnenreife; wer das Stück vor fachkundigem Publikum spielt, rechnet damit, mit anderen Interpretationen desselben Werks verglichen und an diesen gemessen zu werden. Und die Konkurrenz ist durchaus ansehnlich angesichts so bedeutender internationaler Produktionen wie Woyzeck on the Highveld der südafrikanischen Handspring Puppet Company, die nun schon seit 20 Jahren mit ihrer Figurenspielfassung durch die Welt tourt, oder der Inszenierung des südkoreanischen Sadari Movement Laboratory, das mit seinem Körpertheater seit 2005 unterwegs ist; auf beide Produktionen wird später noch näher einzugehen sein. Dazu kommen Schauspielprojekte, die von vornherein auf die stabilitas loci verzichten wie die Woyzeck-Inszenierung der Wandertheatertruppen ›Théâtre des Deux Mains‹ und ›Oiseaux de Passage‹ oder auch die Volksbildungsiniti-

|| 7 Vgl. etwa die Tanzperformance Woyzeck überschreiben, die unter der Regie von Sebastian Blasius von i-camp/Neues Theater München, Theaterdiscounter Berlin und Orangerie-Theater Köln gemeinsam produziert wurde.

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ative ›Teatro Para Todos los Venezolanos‹, die mit Gratisvorstellungen von Woyzeck, una mirada urbana Kultur in die verschiedenen Landesteile tragen wollte. Dass Woyzeck-Produktionen heute eine deutlich größere Reichweite aufweisen, entspricht also nicht zuletzt den Entwicklungen des Theaters selbst. Bemerkenswert aber ist: In den 1980ern dominierte noch der Kulturtransfer aus den beiden deutschen Staaten.8 Nun aber kommen in einer Gegenbewegung Produktionen aus allen Teilen der Welt mit einem deutschen Stück nach Europa, um neue künstlerische Akzente zu setzen. Auf den internationalen Theaterfestivals und Tourneebühnen herrscht so reger Austausch zwischen den heterogenen theatralischen Ansätzen und Traditionen, dass es kaum noch verwundert, wenn in einer armenischen Woyzeck-Musicaladaption (Regie: Arthur Makaryan) auch südkoreanische und nordamerikanische Einflüsse zu finden sind. Auch die direkte Zusammenarbeit von Theatermachern über die Kontinente hinweg beginnt sich zu etablieren, wie wir bei der in Kooperation mit dem Madrider ›Globo Teatro‹ entwickelten venezolanischen Bildungsinitiative ebenso sehen können wie bei der chinesisch-französischen Woyzeck-Inszenierung unter Franck Dimech, der englisch-südkoreanischen Zusammenarbeit für The Ruby Necklace9 oder auch an der Pekingoper-Performance in den Frankfurter Landungsbrücken, in der der Schauspieler Wang Lu die Charaktere aus Büchners Drama fernab jeglicher »Chinoiserie ohne Belang«10 mit den stark stilisierten und codierten Elementen chinesischer Theatertradition verkörperte. Diese Tendenz zur inszenatorischen Hybridität hinterlässt ihre Spuren auch im Spielprogramm. Es gibt wohl kein anderes Theaterstück, das in den letzten Jahren so vielfältige, beinahe alle Facetten des Theatralen umfassende Ausdeutungen erfahren hat wie der Woyzeck: Allein im Jahr 2012 finden wir u. a. Pantomimen (wie Woyzeck – Un lamento en el silencio der kolumbianischen Gruppe ›Casa del silencio‹), Ballette (wie Woyzeck – ricavato dal vuoto des Mailänder ›Balletto Civile‹), Schattentheater (wie die preisgekrönte argentinische Inszenierung der Truppe ›Pájaro negro‹), Tanzperformances (wie Woyzeckmaterial des finnischen Viirus-Theaters), Puppenspiele (wie Der Fall von Franz und Marie des ›Theaters Kuckucksheim‹), Monodramen (wie John Brittons Echo chamber),

|| 8 So gab es eine Aufführung in Nikosia im Rahmen des Kulturaustauschs DDR–Zypern sowie ein Gastspiel einer bundesdeutschen Produktion unter der Regie von Jürgen Flimm in Peking, vgl. Poppenborg (s. Anm. 1), S. 454. 9 Vorerst noch als szenische Lesung und Schauspiel-Workshop mit Originalmusik realisiert, soll die endgültige Musical Produktion 2013 im Londoner Charing Cross Theatre über die Bühne gehen. 10 Marcus Hladek: Experimentelle Peking-Oper. In: Frankfurter Allgemeine (21. Nov. 2012).

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transdisziplinäre Kunstprojekte (wie jenes des internationalen Künstlerkollektivs ›Cercle‹), clowneskes Theater (wie La ballata di Woizzecco von ›AstorriTintinelli‹), Experimentaltheaterworkshops (wie Woyzeck encuentra Marat unter der Leitung von Bernardo Rey) oder auch das Publikum einbindendes Aktionstheater (wie Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust der Wiener Off-Theatertruppe ›God’s Entertainment‹). Originalmusikstücke, Klang- und Lärmkunst spielen fast in allen diesen Arbeiten eine wichtige Rolle; zusätzliche Gesangseinlagen bieten Musicals, die in verschiedenen Geschmacksrichtungen angeboten werden. Mit Tom Waits / Kathleen Brennan (2000) und Nick Cave / Warren Ellis (2005 für Gísli Örn Garðarssons spektakuläre Island-Produktion) haben sich bereits ausgewiesene Größen des Alternative Rock höchst erfolgreich mit dem Stück auseinandergesetzt; auch die Adaption der ›Tiger Lillies‹ (2011 für das Wiener Museumsquartier) könnte Kultstatus erreichen. 2012 hatte u. a. Woyzeck Musical Deathmetal von Christopher Carter Sanderson in New York Premiere, das nicht nur die titelgebende Musikrichtung, sondern auch Folk und Rockelemente integriert. Während man im April mit Frédéric Künzes Woyzeck 1313 eine Punkoper in Dijon miterleben konnte, wurde im selben Monat an der Wiener Kammeroper ein Musikdrama klassischen Zuschnitts uraufgeführt: Markus Lehmann-Horns Oper Woyzeck 2.0 – Traumfalle, die auf Michael Schneiders Novelle Suchbild Woyzeck basiert und von einer jungen Schauspielerin handelt, die gerade im Woyzeck auf der Bühne steht und sich im realen Leben in einen inhaftierten Frauenmörder verliebt. Dieser kurze Auszug aus der Formenvielfalt belegt eindrucksvoll, wie sehr Woyzeck inzwischen zum ausgesprochenen Liebkind des internationalen Regieund Projekttheaters avanciert ist. Ist es aber überhaupt noch Büchners Werk, das man auf den Bühnen zu sehen bekommt? In vielen Bearbeitungen drohen die Anliegen und Vorstellungen des Autors immer mehr verloren zu gehen; ebenso oft aber erfahren sie auch ganz neue, überraschende Aktualisierungen. Überspitzt, doch nicht ganz zu Unrecht meinte deshalb der amerikanische Kritiker Bill Rodriguez vor einigen Jahren in einer Rezension: »Woyzeck isn’t a play, it’s a Rorschach inkblot test for directors and theater companies.«11 Tatsächlich sagt die Inszenierung oft weitaus mehr über die Theatermacher und ihre künstlerischen Ansätze aus als über das zugrundeliegende Stück. Ausschlaggebend für die vielen Eingriffe, zuweilen auch Übergriffe, wie sie kein anderes Drama der Weltliteratur in dieser Radikalität erfährt, ist ein mehr oder weniger bewusstes Missverstehen der überlieferten Form des Werks. Die angebliche ›Offenheit‹

|| 11 Bill Rodriguez: Fears and Rages. In: The Portland Phoenix (16. Dez. 2009).

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der Zeitstruktur, der Schauplätze und Szenenfolge, die Fetzentechnik der Szenengestaltung, die dem Zuschauer einiges an Vorstellungsaufwand abverlangt, und der vielzitierte Fragmentcharakter im Allgemeinen werden nur zu oft als Einladung, ja Aufforderung zur beliebigen Bearbeitung und Umgestaltung des vorhandenen Materials verstanden. Verstärkt wird dieser Hang zur Dekonstruktion der Vorlage noch durch etliche bis heute nachwirkende Fehlentscheidungen der ersten Editoren wie Karl Emil Franzos und Fritz Bergemann, die sich gerade in fremdsprachigen Inszenierungen auf Basis selbsterstellter oder veralteter Übersetzungen hartnäckig halten und potenzieren. Dass Büchner selbst sein Werk kurz vor seinem Tod als weitgehend abgeschlossen betrachtete, wird ebenso negiert wie der sorgfältig durchkomponierte Zeit- und Handlungsverlauf, der zudem von einem dichten motivisch-metaphorischen Netz zusammengehalten wird. Büchners Werk ist uns zwar fragmentarisch überliefert, doch stellt sich die Szenenabfolge weitaus weniger erratisch dar, als man glauben machen möchte.12 Dennoch wird das Fehlen einer autorisierten Fassung nur zu oft als Freibrief für alle möglichen Zutaten und Weglassungen verstanden, sodass auch eine nachvollziehbare Differenzierung zwischen werktreuer Inszenierung, szenischer Bearbeitung, künstlerischer Adaption des Stücks oder eigener vom Original inspirierter Schöpfung ungleich schwerer fällt als bei vergleichbaren Werken des Welttheaters.13 Vor diesem Hintergrund ist der jetzige Usus zu hinterfragen, den WoyzeckWerkausgaben keine Lese- bzw. Bühnenfassungen mehr beizugeben, sondern nur noch die Szenenfolge der drei Handschriften, könnte dies doch einen allzu eigenmächtigen Zugriff der Theaterverantwortlichen in gewisser Weise wissenschaftlich legitimieren. Schon jetzt hört man in den premierebegleitenden Interviews mit den Regisseuren beinah programmatisch, sie kämen ja nicht umhin, die Szenen neu anzuordnen und mit neuem Material anzureichern, weil eben Büchners Ideen nur in Fragmenten überliefert seien. Der überlieferte Text läuft unter diesen Prämissen freilich Gefahr, zum bloßen Spielmaterial zu verkommen, das beliebig gestrichen oder ergänzt, umgestellt und umverteilt werden kann. Nachvollziehbar ist dies durchaus dort, wo mit Vor- und Rückblen-

|| 12 Zu den Problemen, die mit dem Arrangement des Textmaterials zu einer Bühnenfassung verbunden sind, vgl. meine Ausführungen in Christian Neuhuber: Georg Büchner. Das literarische Werk. Berlin 2009 (= Klassiker-Lektüren. 11), S. 161–163; zur Positionierung von H3,1 vgl. auch S. 153f. 13 Die Angaben der Theatermacher sind hier oft nur als Orientierung zu verstehen. So kann ein ›von Büchners Woyzeck inspiriertes‹ Stück unter anderem Namen zuweilen dem Original näher stehen als so manche ›konventionelle‹ Woyzeck-Inszenierung.

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den heutige cineastische Sehgewohnheiten bedient werden. Problematischer wird es, wenn das intendierte Telos des Stücks unterwandert wird: In Audra Lords Bearbeitung für das ›The New Theatre Project‹ in Ypsilanti wird dem Publikum selbst die Entscheidung überlassen, wie das Stück enden soll. In anderen Fassungen wird Woyzeck vom Tambourmajor erschossen (›Die Katakombe‹) oder guillotiniert (›Acting like mad‹) oder er ermordet seine Peiniger (›Die Immoralisten‹). Das mag alles noch angehen, um Verzweiflung und Ausgeliefertsein des Menschen in Büchners Sinne in Szene zu setzen, auch wenn auf diese Weise der Diskurs zur Schuldfähigkeit psychisch kranker bzw. krank gemachter Verbrecher ins Hintertreffen zu geraten droht. Schlichtweg bedenklich werden diese Ausdeutungen aber, wenn es zur Umkehrung von Schuldverhältnissen kommt und Woyzeck vorgeworfen wird, durch Passivität selbst schuld an seinem Schicksal zu sein.14 Hier ist die Forschung mehr denn je in der Pflicht, ihr Wissen auch auf die Bühne zu bringen, um dramaturgische Entscheidungen zumindest nicht auf Missverständnissen hinsichtlich der überlieferten Textgestalt gründen zu lassen. Aber nicht allein das Unfertige des Texts inspiriert die Theaterschaffenden; seine eigentliche Kraft liegt noch immer im Thematischen. Woyzeck kann uns ja deshalb noch heute erschüttern, weil Büchner trotz der verschiedenen darin verarbeiteten Vorlagen den leidenden Menschen nicht als singulären historischen Fall zeigt, sondern im Einzelschicksal allgemeinere Strukturen der Abhängigkeiten und Determinationen sichtbar machen wollte. Woyzeck leidet nicht an einer konkreten Zeitsituation, sondern an Konstellationen, die überall und jederzeit anzutreffen sind und sich spielend adaptieren lassen. Ansatzpunkte für Aktualisierungen finden sich unter den verschiedenen Themenkomplexen wie Armut, Unterdrückung, Ausbeutung, Krankheit, Vertrauensbruch oder Schuld zur Genüge. So wird Woyzecks psychische Störung etwa in Eric Henry Sanders Reservoir als posttraumatische Belastungsstörung eines aus Nahost zurückgekehrten Soldaten interpretiert oder – wie in Elizabeth Chaneys Dark Hollow – als religiöser Wahn während der Great Depression. Bleibt in diesen Stücken das militärische Ambiente gewahrt, so werden gesellschaftliche Missstände zunehmend auch an anderen Randgruppen und Unterprivilegierten festgemacht; Woyzeck begegnet uns als Faktotum im Rotlichtmilieu (Landestheater Neuss), als abgehalfterter Schnulzensänger (›The Chicago Mammals‹) oder als lebendes Skelett im Schaustellergewerbe (›Pantagleize Theater‹). Auch

|| 14 Dies insinuierte etwa die Inszenierung des Landestheaters Neuss (vgl. die entsprechenden Ausführungen im Programmheft sowie u. a. die Polemik von Franz Anger: Abiturspensum. Die Neusser Woyzeck-Inszenierung. In: Terz. Düsseldorf. Nr. 04.12. [4. Apr. 2012]).

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von einer Frau kann die Titelrolle verkörpert werden, um Unterdrückungsmuster nachdrücklich in Szene zu setzen und das Leiden als allgemeinmenschliches, nicht geschlechtsspezifisches Schicksal zu vergegenwärtigen. 2012 finden wir dieses zurzeit recht beliebte ›Cross-Gendering‹ etwa in Inszenierungen der ›Illyrian Players‹ aus Hollywood und der Londoner ›Oneohone Theatre Company‹ oder auch in der Erlanger Bearbeitung durch das Universitätstheaterensemble, in der sogar sämtliche Rollen weiblich besetzt sind. Ob die Einbindung von Sträflingen und Haftentlassenen in die Aufführung, wie beim bereits angesprochenen Messer-Mord von ›God’s Entertainment‹, bei Anke Hartmanns Inszenierung mit dem ›Gefangenentheater der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben‹ oder auch in Cantiere Woyzeck, einem Theaterprojekt in Ferrara, über einen therapeutischen Effekt hinaus tatsächlich auch Authentizität vermitteln kann, bleibt dahingestellt. Wird hier der Bühnencharakter mit dem individuellen Schicksal des Schauspielers überlagert, versuchen andere Produktionen, das Allgemeintypische herauszuarbeiten. Sebastian Rex etwa reduziert in seiner Bearbeitung für das Londoner ›Diorama Theatre‹ die dramatis personae auf vier archetypische Figuren, ›The Drunk‹, ›The Lover‹, ›The Oppressor‹ und – titelgebend – ›The Woyzeck‹. Näher am Original ist die Szenerie in der vielleicht poetischsten Adaption der beiden letzten Jahrzehnte, im bereits erwähnten Puppenspiel Woyzeck on the Highveld, das 1992 als erste Zusammenarbeit der südafrikanischen Handspring Puppet Company mit dem Zeichner und Medienkünstler William Kentridge entstand. Kentridge, der zu den einflussreichsten bildenden Künstler unserer Zeit zählt, führte Regie und schuf für die Hintergrundszenerie ausdrucksstarke animierte Kohlegraphikserien, die nicht nur eine düstere, industriell entstellte Landschaft entfalten, sondern auch das Seelenleben des Protagonisten zum Ausdruck bringen. Sein Woyzeck ist ein ausgebeuteter schwarzer Minengastarbeiter im apartheiddominierten Südafrika der 1950er Jahre, als beinah lebensgroße Puppe bedrückend einfühlsam in Szene gesetzt durch Adrian Kohler und seine Mit-Puppenspieler, die bei ihren feinfühligen Manipulationen sichtbar bleiben. Das Zusammenspiel von Video, Projektionen und Bühnenbild, Puppen- und Körperspiel, Requisiten und verschiedenen Spielebenen, Lichtinszenierung und südafrikanisch inspirierten Musikeinlagen war vor zwanzig Jahren ein Faszinosum mit großer Ausstrahlungskraft auf das zeitgenössische Theaterspiel.15 Auch wenn das Innovative der Darbietung inzwischen

|| 15 Die ›Abhängigkeit‹ und ›Manipulation‹ des Menschen im Woyzeck mit Marionetten und Puppen aus dem Metaphorischen ins Theatrale rückzuführen, ist freilich kein originärer Einfall von Kentridge. Schon 1974 haben Jean Herbiet und der Puppenspieler Felix Mirbt in Ottawa

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weniger stark zur Geltung kommt, hat die 2008 generalüberholte Produktion ihre Wirkung auf den Zuschauer bis heute nicht verloren. Während also Woyzeck on the Highveld multimedial realisiert wird und die breite Palette theatraler Gestaltung ausschöpft, besticht eine zweite prägende Produktion der letzten Jahre durch ihre Reduktion auf elementarste Formen des physischen Spiels, das die Ansätze Jacques Lecoqs mit traditionellen koreanischen Tanzelementen verbindet. Die Adaption der Tanztheaterformation ›Sadari Movement Laboratory‹ unter der Regie ihres Gründers Do-Wan Im beschränkt sich – neben einer geschickten Lichtdramaturgie und den Tangorhythmen Astor Piazollas – auf die Körper der zehn Schauspieler, die jeweils über einen Stuhl verfügen. Diese Stühle, in erstaunlichem Tempo im Dunkeln während der Szenenpausen zu neuen Ausgangsformationen arrangiert oder als Spielobjekte in die Handlung integriert, können zu Grabsteinen, zu einem Käfig oder auch zu fragilen Skulpturen werden, in denen Woyzecks Psyche zum Ausdruck kommt. Inhaltlich bleibt die Show trotz dieser Konzentration nahe an Büchners Vorlage, die zwar in koreanischer Sprache, trotzdem vergleichsweise verständlich und werkgetreu umgesetzt wird. Darin unterscheidet sie sich von etlichen anderen Inszenierungen, die 2012 auf den Bühnen zu sehen waren. Denn die verstörende Kreatürlichkeit des Woyzeck, die kompromisslose Thematisierung von psychischer Deformation und menschlicher Triebhaftigkeit, die das Stück so lange als unaufführbar erscheinen ließ, verführen auch heute noch, Grenzen des Zeig- und Spielbaren auszuloten. Nach Meinung vieler Regisseure kann und darf dem Publikum das unerträgliche Leid des Protagonisten nicht allzu erträglich serviert werden, sondern muss verstören; sei es durch Gewaltexzesse in Splatter-Ästhetik, sei es durch ausgiebig zelebrierte Sexszenen und Obszönitäten. Freilich nützt sich so manche theatrale Provokation auch vergleichsweise rasch wieder ab. Im deutschen Regietheater sind Urinier-, Onanier- und Vergewaltigungsszenen mittlerweile schon so zu Spielroutinen geworden, dass es schon ungewöhnlicherer Konstellationen bedarf, um noch Aufsehen zu erregen. In Heike Götzes Hannoveraner Umsetzung der Wilson/Waits-Musicalfassung lässt denn auch der Tambourmajor nicht nur im Balzritual mit Marie sein Geschlechtsteil ausgiebig baumeln, sondern vergewaltigt en passant auch noch Woyzeck. Nacktheit ist auch die zentrale Theatermetapher in der Nürnberger Inszenierung Christoph Mehlers, die es immerhin zu einem kleineren Skandal schaffte mit einem völlig entblößten Woyzeck, der während des gesamten Stücks im Kreis hetzt. So überzeugend || eine vielbeachtete Version kreiert, in der Woyzeck in einem ›Spiel im Spiel‹ von den Schauspielern mit Puppen in Szene gesetzt wird.

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dies auch die unmenschliche Demütigung des Protagonisten ins Bild setzt, drängen derart drastische schauspielerische Mittel nicht selten subtilere Darstellungsformen, die der Vielschichtigkeit des Texts gerechter werden würden, in den Hintergrund. Doch allein schon die Intensität und Schonungslosigkeit der Darstellung in diesem generell sehr physischen Theater ringt dem Betrachter oft genug Bewunderung ab, so etwa, wenn sich die Akteure wie in Kay Voges’ Dortmunder Inszenierung im (echten!) Schnee wälzen oder wie in Jette Steckels Hamburger Regiearbeit sich durch ein riesiges Netz hangeln müssen. Aber zurück zur Frage der heutigen Popularität: Auch die Woyzeck-Begeisterung funktioniert nach dem Matthäus-Effekt, mit dem in der Soziologie in Anlehnung an das Bibelwort ›Wer da hat, dem wird gegeben‹ das Phänomen der positiven Rückkoppelung beschrieben wird: Ein bekanntes Werk wird häufiger zitiert oder – wie in unserem Fall – künstlerisch rezipiert werden als weniger bekannte und dadurch noch populärer werden. Die berühmtesten früheren Multiplikatoren des Woyzeck sind Bergs Wozzeck (1925) und Werner Herzogs Film (1979), deren künstlerischer Eigenwert außer Diskussion steht, die bedauerlicherweise aber auch frühere Fehllesungen und Romantisierungen weitergeben. Man sollte kaum glauben, wie viele Inszenierungen heute noch mit der Rasierszene beginnen und Woyzeck ertrinken lassen.16 In jüngerer Zeit machten auch Tom Waits’ Songs, veröffentlicht auf seinen Alben Blood Money (2002) und Orphans (2006), ein theaterferneres Publikum mit Büchners Werk bekannt. Noch folgenreicher für die Woyzeck-Rezeption als Oper, Film und Populärmusik ist im deutschsprachigen Raum jedoch seine Verankerung im Schullektürekanon. Wie kein anderes Drama wird Woyzeck in den Klassenzimmern nach Schuld und Moral, nach gesellschaftlicher Verantwortung und Fremdbestimmtheit abgeklopft. So sehr gilt das Stück inzwischen als Paradetext des Literaturunterrichts, dass es – wie in Isabel Prahls gelungener Abschlussarbeit Ausreichend (2011) – auch als textuelle Folie eines Lehrerproblemfilms dienen kann. Fixer Bestandteil des Zentralabiturs ist es ohnehin; nicht zufällig sitzen so viele Schülerinnen und Schüler mehr oder minder freiwillig in den Theatern, die wiederum in ihrer Programmierung das potentielle jugendliche Publikum einplanen. Diese Interessensspirale schulischer Vermittlung und gesteigerter Büh-

|| 16 Wie wirkungsmächtig auch das ikonische Material ist, das Herzogs Film bereitstellt, zeigt sich nicht zuletzt in der bildenden und darstellenden Kunst. Unmissverständlich von Klaus Kinskis Interpretation der Rolle inspiriert sind u. a. die Zeichnungen Gerry Joe Weises (1982), Ralf Tarnowskis (1997), Bernhard Heisigs (für die Neuausgabe der Insel-Bücherei von 2004) oder Sergio Aquindos (2012). Sogar die Puppen von Adrian Kohler (Woyzeck on the Highveld) und Gigio Brunello (Der Fall von Franz und Marie) können ihre Herkunft nicht verleugnen.

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nenpräsenz hat Vor- wie Nachteile: Der Aha-Effekt ist garantiert, wenn man den in der Klasse erarbeiteten Text in einer zeitgemäßen professionellen Inszenierung erleben kann; vielen Jugendlichen erschließt sich erst in der Bühnenrealisierung die Brisanz des Stücks und die Faszination des Theaters im Allgemeinen. Doch auch die Hemmschwelle ist nun sehr niedrig geworden, erste künstlerische Gehversuche an Büchners Werk zu erproben, das zum Ausbildungsstück schlechthin geworden ist. In nicht mehr überschaubarem Ausmaß ist Woyzeck heute Probierfeld von schulischen und akademischen Leistungskursen im literarischen, bildnerischen und inszenatorischen Bereich,17 ist Vorlage für Bühnen-, Film- und Musikprojekte, für Workshops, praktische Fachbereichsarbeiten und Lehrerfortbildungen, für Arbeitslosen- und Resozialisierungsprogramme etc. Die nicht selten rührend dilettantischen Ergebnisse landen schließlich im Netz, Seite an Seite mit professionellen Arbeiten. Laufen wir nicht Gefahr, dass das Stück durch diese beinahe inflationäre Rezeption nach den Gedenkjahren ähnlich abgespielt ist wie Anfang der 1930erJahre, als nach gut 70 Inszenierungen im Jahrzehnt zuvor der Woyzeck wieder weitgehend von der Bühne verschwand, nämlich noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten?18 Wenig spricht im Moment dafür. Sollte das Interesse auf deutschsprachigen Bühnen auch für einige Zeit schwinden, ist doch die Internationalisierung der Rezeption noch lange nicht ausgereizt; im asiatischen Raum etwa scheinen wir erst den Beginn einer Inszenierungswelle mitzuerleben. Vor allem aber werden sich auch in Zukunft die künstlerischen Verfahrensweisen weiter ausdifferenzieren und dem Woyzeck immer neue Facetten abgewinnen. Zwei Beispiele sollen dies abschließend illustrieren: In ihrer Augmented Reality Performance an der York University Toronto setzte Rebecca Rouse 2007 neueste Technologien ein, die im Moment noch zu kostspielig für den allgemeinen Einsatz sind, auf längere Sicht aber das Verhältnis zwischen Präsentation und Rezeption neu definieren werden. Der Zuschauer verwendete bei dieser Performance ein Headset, mit dem er projizierte Szenen und Musik sehen und hören konnte, die von bestimmten Punkten in einem abgedunkelten Raum ausgelöst wurden. So wie er sich bewegte und Objekte berührte, erlebte || 17 Auch der modische Competition-Gedanke hat hier bereits Einzug gehalten. So erarbeitete etwa Carlos Avilez seine Inszenierung 2012 mit drei Hauptdarstellern und drei verschiedenen Ensembles der Escola Profissional de Teatro de Cascais, deren Darbietungen als Abschlussarbeit von einer Jury bewertet wurden. 18 Vgl. Wolfram Viehweg: »Woyzeck« auf der Bühne. Zu einer Inszenierungsgeschichte des »Woyzeck«. Begründung, Ergebnisse und Planung. In: GBJb 10 (2000–2004), S. 241–258, hier S. 257 und ders.: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 2. Tl. 1918– 1945. Norderstedt 2008.

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er sein eigenes interaktives Musical, gestaltete es mit und formulierte es neu.19 Beteiligung einer ganz anderen Art forderte Sebastian Blasius in seiner metainszenatorischen Tanzperformance Woyzeck überschreiben ein, die 2012 am Theaterdiscounter Berlin Premiere feierte und die intensive Rezeptionspraxis des Stücks selbst zum Thema machte. Denn vier Tänzerinnen und Tänzer rekonstruierten die Bewegungen und Sprechweisen von Schauspielern, die in früheren Inszenierungen Woyzeck-Personal verkörperten, um auf Basis dieser neuen Choreographie Sehgewohnheiten, Theaterkonventionen und Funktionsweisen des kulturellen Gedächtnisses zu hinterfragen. Ob diesem hohen Anspruch auch nur annähernd Genüge getan werden kann, ist zumindest in Frage zu stellen. Allein die Idee aber zeigt, wie sehr Woyzeck in seinen vielfältigen Umsetzungen beim Theaterpublikum bereits als allgemeines Bildungsgut vorausgesetzt wird. Dass sich eine ähnliche Erwartungshaltung dereinst auch außerhalb Deutschlands etablieren kann, ist angesichts des stetig steigenden weltweiten Interesses an Büchners Werk durchaus vorstellbar.

Anhang: Woyzeck-Aufführungen 2012 Argentinien Mendoza, T: W, R: Gustavo Cano, E: Pájaro negro, B: La Nave Cultural, A: 27.1. Rosario, T: W, R: Gustavo Cano, E: Pájaro negro, B: CEC/Nave 5, A: 19.7. (F) Rafaela, T: W, R: Gustavo Cano, E: Pájaro negro, B: Sala Sociedad Italiana, 22.7. (F)

Armenien Jerewan, T: W, R: Arthur Makarya, E: Epsidon, B: Staatliches Puppentheater, A: 16.4.

Australien Wollongong, T: W, R: Chris Ryan, E: FCA Performance Students, B: FCA Performance Space, P: 16.5.

Belgien Brussel, T: Woyzeck Serdi Faki, R: Gökhan Girginol, B: tussentruimte verdieping 4,5, Bottelarij, P: 26.3. Bruxelles-Schaerbeek, T: W, R: Thibaut Wenger, E: l’Océan Nord, B: Théâtre Océan Nord, P: 8.6. Genk, T: WOWZEG , R: Gökhan Girginol, B: C-Mine Mijn Waterschei, P: 3.7.

Brasilien Ouro Preto, T: O Projeto Woyzeck, E: Departamento de Artes Cenicas da UFOP, B: DEART UFOP, P: 15.12.

|| 19 Vgl. Rebecca Rouse: Augmented Reality Performance Installation and Masters Project. Toronto, York University, MA Project Paper [Manuskript].

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Ribeirão Preto, T: W, R: Carlos Canhameiro, B: Centro Universitário Barão de Mauá, P: 1.3.

Chile Lautaro, T: W, R: Gustavo Cano, E: Pájaro negro, B: Teatro Municipal, A: 8.6. Santiago, T: W, R: Felipe Rubio, E: La Máquina del Arte, B: Teatro Sidarte, P: 17.12. Temuco, T: W, R: Gustavo Cano, E: Pájaro negro, B: Teatro Municipal, A: 10.6. Valparaíso, T: W, R: Gustavo Cano, E: Pájaro negro, B: Teatro del Títere y el Payso, A: 7.9.

China Peking, T: W, R: Franck Dimech, E: Théâtre de Ajmer / Cie Body Phase Studio / Guling Theater, B: Penghao-Theater, A: 6.12. Peking, T: Woyzech, R: Catlin Seavey, E: The People In The Dark, B: Zajia Lab, Doufuchi Hutong, P: 11.8. Peking, T: W, R: Manfred Beilharz, E: Hessisches Staatstheater Wiesbaden, B: Nationaltheater, A: 30.10. (F) Shanghai, T: W, R: Wang Jingguo, B: Xia He Mi Cang-Theater, A: 13.2. (?)

Costa Rica Heredia, T: W, R: Carlos Paniagua, E: Una Compañía Teatral, B: Teatro Atahualpa del Cioppo, P: 24.2. San José, T: W, R: Carlos Salazar, E: Teatro Universitario, B: Teatro Universitario, P: 27.9. San José, T: ¡Qué roja está la luna! Como un hierro sangriento, R: Elvia Amador, B: Teatro Universitario, P: 1.11.

Dänemark Kopenhagen, T: W, R: Kasper Sejersen, E: Statens Teaterskole, B: P6, P: 8.3. Randers, T: W, R: Tine Eiby, Randers Egnsteater Teaterhold, Egnsteater, P: 29.3.

Deutschland Aachen, T: W, R: Bernadette Sonnenbichler, B: Theater Großes Haus, A: 26.9. Arnstadt, T: W, R: Anke Hartmann, E: Gefangenentheater der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben, B: Vogtlandhalle, A: 24.2. Augsburg, T: W, R: Christoph Mehler, Staatstheater Nürnberg, B: Theater Augsburg Großes Haus, A: 22.5. (F) Bad Berleburg, T: W, R: Thilo Voggenreiter, E: Westfälisches Landestheater, B: Bürgerhaus, A: 11.9. Bamberg, T: W, R: Axel Stöcker, E: E. T. A.-Hoffmann-Theater, Studio im Großen Haus, P: 17.3. Berlin, T: Anatomie Woyzeck, E: Departure, B: Die Weiße Rose, A: 6.1. Berlin, T: W, R: Paul Schwesig, E: Theater im Keller, B: tik süd, P: 2.3. Berlin, T: Woyzeck – Die Passion, R: Raphael Dlugajczyk, E: Kulturschlund, B: Danziger 50, P: 11.5. Berlin, T: W, R: Jorinde Dröse, B: Kammerspiele des Deutschen Theaters, A: 30.10. Berlin, T: Woyzeck überschreiben, R: Sebastian Blasius, B: Theaterdiscounter, P: 23.3. Berlin, T: W, R: Nick Hartnagel, E: HfS Ernst Busch, B: Studiotheater der HfS, A: 1.9. Bielefeld, T: Subjekt Woyzeck, R: Thomas Behrend, E: Theaterlabor im Tor 6, B: Theaterlabor Probebühne 2, P: 16.3. Castrop-Rauxel, T: W, R: Thilo Voggenreiter, E: Westfälisches Landestheater, B: Westfälisches Landestheater, A: 22.11.

316 | Christian Neuhuber

Chemnitz, T: W, R: Enrico Lübbe, B: Schauspielhaus, A: 19.1. Cottbus, T: Woyzeck & Marie, R: Mario Holetzeck, B: Staatstheater, A: 15.2. Darmstadt, T: W, R: Malte Kreutzfeldt, B: Kleines Haus des Staatstheaters, P: 3.2. Darmstadt, T: Immer zu! Immer zu! Szenen zu Woyzeck und Leonce und Lena, R: Werner Wölbern, B: Staatstheater, P: 1.6. Detmold, T: Woyzeck Reloaded, R: Swentja Krumscheidt, E: Landestheater, B: Grabbe-Haus, P: 23.11. Dormagen, T: W, R: Alexander Marusch, E: Rheinisches Landestheater Neuss, B: Aula des Gymnasiums, A: 1.2. Dortmund, T: W, R: Kay Voges, B: Schauspielhaus, A: 2.3. Dresden, T: W, R: Peter Wagner, E: bühne e. V. – Theater der TU Dresden, B: die Bühne, P: 12.4. Dresden, T: W, R: Sara Strunz, E: Schauspielhaus, B: Kleines Haus, A: 24.1. Düsseldorf, T: Büchner (Textcollage), A/R: Falk Richter, E: Schauspielhaus, B: Großes Haus, P: 20.10. Erfurt, T: Subjekt. Woyzeck, R: Stephan Mahn, E: Theater die Schotte, B: die Schotte, A: 16.11. Erlangen, T: W, R: Julian Schuppe, B: AMV Fridericiana-Theater, P: 29.11. Fellbach, T: W, R: Peter Fasshuber, E: THEO Studiobühne Oberzeiring, B: Theater im Polygon, A: 31.3. Frankfurt/Main, T: W, R: Marcel Schilb, E: Die Katakombe, B: Die Katakombe, A: 14.3. Frankfurt/Main, T: Woyzeck und Marie, R: Alexander Brill, E: Theaterperipherie e. V., B: Titania, A: 25.1. Frankfurt/Main, T: Woyzecks Körper, R: Anna Peschke, E: National Beijing Opera Company, B: Landungsbrücken, P: 8.10. Freiburg, T: W, R: Manuel Kreitmeier, E: Die Immoralisten, B: Theater der Immoralisten, P: 8.11. Friedrichshafen, T: Woyzeck & Marie, R: Mario Holetzeck, E: Staatstheater Cottbus, B: GrafZeppelin-Haus, A: 10.4. Görlitz, T: W, R: Enrico Lübbe, E: Theater Chemnitz, B: Theater Görlitz, A: 7.5. (F) Greifswald, T: W, R: Ralf Dörnen, E: Theater Vorpommern, B: Großes Haus, P: 24.3. Greiz, T: W, R: Anke Hartmann, E: Gefangenentheater der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben, B: Vogtlandhalle, A: 14.3. Gummersbach, T: W, R: Holger Hennig/Sabrina Schultheis, B: Bruno Goller-Haus, P: 12.5. Halle (Saale), T: W, R: Matthias Brenner, B: Neues Theater, A: 24.1. Hamburg, T: Büchner – Fatalist, Revolutionär, Asylant (W + LuL), R: Liudmyla Vasylieva, E: Tournee Theater Hamburg, B: Hamburger Sprechwerk, P: 3.11. (F) Hamburg, T: W, R: Nick Hartnagel, E: HfS Ernst Busch, B: Theaterakademie Zeisehallen, P: 8.7. (F) Hamburg, T: W, R: Rainer Homann, E: Theaterwerkstatt Soziale Arbeit, B: HAW, Theaterwerkstatt, P: 21.9. Hamburg, T: W, R: Jette Steckel, B: Thalia Theater, A: 4.1. Hamburg, T: Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust, E: God’s Entertainment, B: Kampnagel, P: 21.11. Hannover, T: W, R: Heike M. Götze, B: Schauspielhaus, P: 18.2. Hanau, T: Woyzeck und Marie, R: Alexander Brill, E: Theaterperipherie Frankfurt, B: Comödienhaus Wilhelmsbad, A: 22.6. Hilchenbach-Dahlbruch, T: W, R: Thilo Voggenreiter, E: Westfälisches Landestheater, B: Gebrüder-Busch-Theater, A: 25.10. Ingolstadt, T: W, R: Matthias Bauerkamp, E: Stadttheater Ingolstadt, B: Stadttheater, A: 6.1.

Woyzecks Weg zur Weltliteratur | 317

Isernhagen, T: W, R: Liudmyla Vasylieva, E: Tournee Theater Hamburg, B: Gymnasiumbühne, A: 6.11. Kassel, T: W, R: Markus Dietz, E: Schauspielhaus Kassel, B: Schauspielhaus, A: 12.1. Kleve, T: W, R: Thilo Voggenreiter, E: Westfälisches Landestheater, B: Stadthalle, A: 10.1. Köln, T: W, R: Wolf Zimmermann, E: Tiefrot, B: Theater Tiefrot, A: 1.2. Köln, T: Woyzeck überschreiben, R: Sebastian Blasius, B: Barnes Crossing, A: 5.12. Krefeld, T: W, R: Franz Mestre, E: Kresch-Theater, B: Studiobühne I Fabrik Heeder, A: 29.2. Mainz, T: W, R: Boris Nikitin, P: Malte Scholz, B: KUZ, A: 8.9. (F) Marburg, T: W, R: Boris Nikitin, P: Malte Scholz, B: Theater Marburg, A: 5.11. Marl, T: W, R: David Bösch, E: Bochumer Schauspielhaus, B: Theater Marl, A: 31.1. Meppen, T: W, R: Alexander Marusch, E: Rheinisches Landestheater Neuss, B: Theater Meppen, A: 6.2. Minden, T: W, R: Michael Heicks, E: Stadttheater Bielefeld, B: Stadttheater, A: 7.3. Moers, T: Der Fall von Franz und Marie, R: Stefan Kügel, E: Theater Kuckucksheim, B: Schlosstheater Moers, A: 20.6. Monheim, T: W, R: Thilo Voggenreiter, E: Westfälisches Landestheater, B: Aula am Berliner Ring, A: 21.1. Mülheim an der Ruhr, T: Woyzeck ein musikalischer Fall, R: Roberto Ciulli, B: Theater an der Ruhr, P: 19.9. München, T: Woyzeck überschreiben, R: Sebastian Blasius, B: i-camp, A: 20.4. München, T: Woyzeck/Wozzeck, R: Barbara Wysocka, E: Kammerspiele, B: Werkraum, P: 30.6. München, T: Der Fall von Franz und Marie, R: Stefan Kügel, E: Theater Kuckucksheim, B: Figurentheaterforum, A: 24.11. München, T: W, R: Hwmueller, E: Werkstatt-Bühne, B: Haus der Kleinen Künste, P: 28.9. Neuss, T: W, R: Alexander Marusch, E: Rheinisches Landestheater, B: Landestheater, A: 10.2. Nürnberg, T: W, R: Christoph Mehler, E: Nürnberger Schauspielhaus, B: Schauspielhaus, A: 21.1. Norderstedt, T: W, R: Liudmyla Vasylieva, E: Tournee Theater Hamburg, B: Kirchengemeinde Vicelin-Schalom, A: 9.11. Oberhausen, T: W, R: Joan Anton Rechi, B: Theater Oberhausen, A: 30.10. Potsdam, T: W, R: Peter Wagner, E: bühne e. V. – Theater der TU Dresden, B: Hans Otto Theater, A: 27.10. Regensburg, T: W, R: Witalij Schmidt, C: Elisabeth Herrmann, E: MUT, B: Theater der Universität Regensburg, P: 20.6. Riedstadt, T: Woyzeck – ein Abschied in einem Akt, Pe: Christian Suhr, B: Spielstätte Ehem. Feuerwehrhaus, A: 13.1. Rostock, T: W, E: Studierende der HMT Rostock, P: 16.2. Schweinfurt, T: Der Fall von Franz und Marie, R: Stefan Kügel, E: Theater Kuckucksheim, B: Studio auf der Bühne, A: 3.3. Schwerte, T: Woyzeck – eine szenische Collage, R: Lars Blömer, E: Theater am Fluss, B: Rohrmeisterei Halle 4, P: 28.9. Siegen, T: W, R: David Bösch, E: Bochumer Schauspielhaus, B: Apollotheater, A: 19.1. Stralsund, T: W, R: Ralf Dörnen, E: Theater Vorpommern, B: Großes Haus, P: 28.1. Wiesbaden, T: W, R: Manfred Beilharz, E: Hessisches Staatstheater, B: Staatstheater, A: 19.1. Wiesbaden, T: Der Fall von Franz und Marie, R: Stefan Kügel, E: Theater Kuckucksheim, B: Kinderhaus Elsässer, A: 10.11. (F)

318 | Christian Neuhuber

Färöer Inseln Tórshavn, T: W, R: Öllegård Groundstroem, E: Det Ferösche Compagnie, B: Tjóðpallur, P: 4.6.

Finnland Helsinki, T: Woyzeckmaterial, R: Teemu Mäki, C: Arja Tiili, E: Arja Tiili Company, B: Teater Viirus, P: 12.10. Pargas, T: Woyzeck – Ett våldsamt vackert drama, R: Göran Sjöholm, E: Teaterboulage, B: PIUG Kultursal, P: 2.10.

Frankreich Aix en Provence, T: W, R: Franck Dimech, E: Théâtre de Ajmer / Guling Theater, Body Phase Studio / Linc2, B: Théâtre Antoine Vitez, A: 1.2. Albi, T: W, R: Sébastien Lange, E: Comète Acide, CUFR Champollion, B: Frigo d’Actal, P: 15.6. Avignon, T: W/GB84, Au/R: Jean François Matignon, E: Compagnie Fraction, B: Tinel de la Chartreuse, A: 10.7. (F) Bessancourt, T: W, R: Daniel Amar, E: Théâtre des Embruns, B: Salle Paul Bonneville, P: 13.10. Briare, T: Sujet Woyzeck, R: Günther Leschnik, E: Le Théâtre du Corbeau Blanc, B: Théâtre de l’Escabeau, P: 17.5. Bouxwiller, T: W, R: Thibaut Wenger, E: l’Océan Nord, B: Théâtre du Marché aux Grains, A: 20.11 Dijon, T: Woyzeck 1313, K/R: Frédéric Künze, B: Le Théâtre Dijon Bourgogne, La Vapeur, A: 20.4. Grenoble, T: W, R: Jacques Osinski, E: Centre Dramatique National des Alpes, B: MC2, A: 20.1. Husseren-Wesserling, T: W, R: Thibaut Wenger, E: l’Océan Nord, B: Friche Wesserling, A: 24.8. (F) Limoges, T: W, R: François Parmentier, E: Les Aphoristes, B: Théâtre de l’union, A: 23.10. Marseille, T: W, R: Franck Dimech, E: Théâtre de Ajmer / Guling Theater, Body Phase Studio / Linc2, B: Théâtre de la Minoterie, P: 24.1. (rein mandarin-chinesische Fassung aus Taipeh) Marseille, T: W, R: Franck Dimech, E: Théâtre de Ajmer, B: Friche la Belle de Mai, P: 18.4. (französische Fassung) Mende, T: W, R: Marie Lamachère, E: Compagnie Interstices, B: l’Espace des Anges, A: 4.4. Mulhouse, T: W, R: Thibaut Wenger, E: l’Océan Nord, B: Friche DMC, A: 27.7. (F) Pau, T: W, R: Marie Lamachère, E: Compagnie Interstices, B: Théâtre Espaces Pluriels, A: 8.12. Paris, T: Le Cas Woyzeck, R: Sarah Gerber, E: Collectif TDM, B: Théâtre de Verre, A: 23.6. Paris, T: W, R: Pascal Villmen, E: La Compagnie Gwenaël Morin, B: Théâtre de la Bastille, A: 29.6. Paris, T: Sujet Woyzeck, R: Günther Leschnik, E: Le Théâtre du Corbeau Blanc, B: Lavoir Moderne Parisien, A: 25.9. Quimper, T: W, R: Julie Henry, E: Conservatoire de Musique et d'Art Dramatique, B: Théâtre Max-Jacob, P: 29.4. Reims, T: Intégrale Büchner (Collage W, LuL und DT), R: Ludovic Lagarde, E: Comédie de Reims, B: Scène nationale, A: 11.1. Saint-Denis, T: Le Cas Woyzeck, R: Sarah Gerber, E: Collectif TDM, B: 6B, P: 16.3. Saint-Jean-des-Ollières, T: W, R: Günther Leschnik, E: Le Théâtre du Corbeau Blanc, B: Le Centre d’Ailleurs, A: 29.4. (F) Strasbourg, T: W, R: Jacques Osinski, E: Centre Dramatique National des Alpes, B: Théâtre National, A: 7.2.

Woyzecks Weg zur Weltliteratur | 319

Strasbourg, T: W (Collage mit LuL und DT), R: Ludovic Lagarde, E: Comédie de Reims TNS - Salle Koltès, A: 11.2. Strasbourg, T: W/GB84 (Collage mit Roman von David Peace), Au/R: Jean François Matignon, E: Compagnie Fraction, B: TJP Grande Scène, P: 15.2. Tarbes, T: W/LuL, R: Ludovic Lagarde, E: Comédie de Reims, B: Théâtre Le Parvis Scène, A: 14.12. Thonon-les-Bains, T: Woyzeck ou l’Ébauche du vertige, C: Josef Nadj, B: Théâtre Maurice Novarina, A: 19.10. Toulouse, T: W, R: Marie Lamachère, E: Compagnie Interstices / Le Théâtre de la Valse, B: Théâtre Garonne, A: 13.11. Toulouse, T: W, E: STUNT, B: Salle Le CAP, P: 13.11. (F) Tourcoing, T: W, R: Eva Vallejo, K: Bruno Soulier, E: École Professionnelle Supérieure d’Art Dramatique du Nord-Pas-de-Calais, B: Théâtre du Nord, P: 12.1. Tours, T: W, R: Marie Lamachère, E: Compagnie Interstices, B: Centre Dramatique Régional, A: 17. 4. Villeneuve-sur-Lot, T: W, R: Fausto Olivares, E: Théâtre des Deux Mains/Oiseaux de Passage, A: 13.6. (F)

Griechenland Athen, T: W, R: Charis Frangoulis, E: KURSK, B: APLO Théatro, P: 28.3. Athen, T: W, R: Magdalene Savvidou, E: Boy Oh!, B: Théatro Arti, P: 8.4. Athen, T: Kouartéto Woyzeck, R: Ellie Papakonstantinou, E: Synchrono Kouartéto Enoménes Európes, B: Peiraios 260, P: 12.7. (F) Athen, T: W, R: Ellie Papakonstantinou, E: ODC, B: Vyrsodepseio, A: angekündigt für Oktober ( ?) Athen, T: Echo Chamber, Pe: John Britton, B: Théatro Rabbithole, A: 7.4. Athen, T: W, E: Maro Naku, B: Erechteion, Kinitiras Studio, P: 20.10. (F) Thessaloniki, T: Echo Chamber, Pe: John Britton, B: Studio Vis Motrix, A: 27.4. Thessaloniki, T: W, E: Facta non verba, B: Theater Facta non verba, A: 12.06. (F)

Großbritannien Birmingham, T: W, R: Amy Taylor, E: BMAPA / Empty Stage Theatre, B: Matthew Boulton Hall, P: 30.3. Kent, T: Woyzeck: A Re-Imagining, E: 3rd Year scenography exhibition, B: Jarman Foyer, P: 3.12. Liverpool, T: W, E: Liverpool University Drama Society, B: The Stanley Theatre, A: 1.5. London, T: The Ruby Necklace, R: Yun Ho-jin, E: Acom international, B: Charing Cross Theatre, P: 29.6. London, T: The Woyzeck, R: Sebastian Rex, E: Acting Like Mad, B: The New Diorama Theatre, P: 25.9. London, T: W, R: Asia Osborne, E: Oneohone Theatre Co., B: Chancery Lane, crypt of St. Andrew’s Church, P: 14.8. London, T: W, R: Shaban Arifi, E: Theatre Collection, B: Lord Stanley Theatre, P: 21.4. Nottingham, T: W, R: Sarah Stephenson, E: Nottingham Playhouse Youth Theatre, B: Nottingham Playhouse, P: 12.4.

320 | Christian Neuhuber

Indien Chennai, T: W, C/R: Do-Wan Im, E: Sadari Movement Laboratory, B: Sir Mutha Venkatasubba Rao Concert Hall, A: 16.8. (F) Bangalore, T: W, C/R: Do-Wan Im, E: Sadari Movement Laboratory, B: Chowdiah Memorial Hall, A: 23.8. (F) New Delhi, T: Waseem, Au/R: Sharmistha Saha, E: Jawaharlal Nehru University, B: School of Arts and Aesthetics, JNU, P: 21.1.

Indonesien Jakarta, T: Kopral Woyzeck, R: Joind Bayuwinanda, E: Teater AmoebaTeater Amoeba, B: Teater Kecil, P: 10.12. (F) Yogyakarta, T: W, R: Eko B. Saputro, E: Pea Theatre, B: State University, P: 25.5.

Iran Teheran, T: W, R: Reza Servati, B: Hafez Hall, P: angekündigt für Dezember (?)

Israel Tel Aviv, T: W, R: Itay Tiran, E: Cameri Theater, B: Cameri, A: 21.1.

Italien Castiglioncello, T: W, R: Federico Tiezzi, E: Il Teatro Laboratorio, B: Castello Pasquini, P: 28.10. Castiglioncello, T: Ombre Wozzeck, Pe/R: Claudio Morganti, E: CRT, B: Castello Pasquini, A: 29.6. (F) Ferrara, T: Cantiere Woyzeck, R: Horacio Czertok, E: Teatro Nucleo nella Casa Circondariale di Ferrara, B: Teatro Comunale, P: 11.10. Genua, T: Una lettura del Woyzeck, Pe: Claudio Morganti, B: Teatro Akropolis, A: 22.3. Majano, T: Il caso Wojzeck, R: R. Michelutti, B: Auditorium comunale, P: 30.6. Massa, T: Wojzeck, R: Francesco Marchesi, B: Compagnia Armata Brancaleone, B: Armata Brancaleone, A: 27.4. Milano, T: Ombre Wozzeck, Pe/R: Claudio Morganti, E: CRT / Teatro Dimora di Mondaino, B: Teatro CRT, P: 19.1. Milano, T: Woyzeck – ricavato dal vuoto, R/C: Michela Lucenti, E: Fondazione Teatro Due / Balletto Civile, B: Teatro Elfo Puccini, A: 5.6. Milano, T: La ballata di Woizzecco, Pe: Alberto Astorri / Paola Tintinelli, B: Teatro I, A: 11.4. Prato, Ombre Wozzeck, Pe/R: Claudio Morganti, E: CRT / Teatro Dimora di Mondaino, B: Teatro Frabbricone, A: 16.3. Ravenna, T: Woyzeck – ricavato dal vuoto, R/C: Michela Lucenti, E: Fondazione Teatro Due / Balletto Civile, B: Teatro Rasi, A: 9.3. Roma, T: Una lettura del Woyzeck, Pe: Claudio Morganti, B: Teatro India, A: 8.9. (F) Roma, T: Woyzeck – ricavato dal vuoto, R/C: Michela Lucenti, E: Fondazione Teatro Due / Balletto Civile, B: Angelo Mai, A: 28.3. Roma, T: Woyzeck – performance multimediale site-specific, E: CERCLE, B: Museo Manzú, P: 6.10. Napoli, T: Woyzeck Lab, R: Souphiène Amia, E: Collettivo CERCLE, B: Galleria Toledo, A: work in progress ab Oktober

Kanada Halifax, T: W, Au/R: Eric Benson (szenische Lesung), B: DaPoPo Theater, A: 17.10.

Woyzecks Weg zur Weltliteratur | 321

Kolumbien Bogota, T: Un Tal Franz Woyzeck, R: Javier Londoño, E: El Teatro Independiente de Bogotá / La Fundación Gestión Escénica, B: Teatro Varasanta, A: 27.9. Bogota, T: Woyzeck – Un lamento en el silencio, R: Juan Carlos Agudelo, E: La Casa del Silencio, B: Teatro Jorge Eliécer Gaitán, A: 26.5. Bogota, T: Woyzeck – Un lamento en el silencio, R: Juan Carlos Agudelo, E: La Casa del Silencio, B: Teatro Mayor Julio Mario Santo Domingo, A: 21.9. Bogota, T: W, R: Laura Jätin, E: Teatteri Avoimet Ovet, B: Teatro La Candelaria, A: 6.4. (F) Bogota, T: Un Tal Franz Woyzeck, R: Javier Londoño, E: El Teatro Independiente de Bogotá, B: Teatro La Candelaria, A: 28.6. Bogota, T: Un Tal Franz Woyzeck, R: Javier Londoño, E: El Teatro Independiente de Bogotá / La Fundación Gestión Escénica, B: Teatro la Libelula dorada, A: 9.8.

Kuba Havanna, T: W, Au/R: William Ruiz, B: Teatro El ciervo encantado, P: 24.10. (F)

Lettland Riga, T: Voiceks, R: Kirill Serebrennikov, B: Latvijas Nacionālais teātris, P: 10.4.

Mexiko Campeche, T: W, R: Sandra Muñoz, E: Compañía de Teatro del Metro, B: Instituto Campechano, A: 9.12. Guanajuato, T: W, C/R: Do-Wan Im, E: Sadari Movement Laboratory, B: Teatro Cervantes, A: 9.10. (F) México D.F., T: W, R: Paulina Adame, E: Compañía Ako Teatro, B: Juan Ruíz de Alarcón, P: 10.10. (F) Pachuca de Soto, T: W, R: Francisco Arrieta, E: Compañía de Teatro de la Universidad Autónoma del Estado de Hidalgo, B: Auditorio del Club Universitario Real del Monte, P: 24.9. San Luis Potosi, T: W, R: Sandra Muñoz, E: Compañía Nacional del ECM Tamaulipas, B: Centro Cultural Universitario Bicentenario, A: 17.11. (F) Tampico, T: W, R: Sandra Muñoz, E: Compañía de Teatro del Metro, B: Teatro Metropolitano, P: 2.2. Tampico, T: W, R: Sandra Muñoz, E: Compañía de Teatro del Metro, B: Teatro Rafael Solana, A: 20.8. (F)

Makedonien Skopje, T: W, R: Andriy Zholdak, E: Svoboda Zholdak Theatre, B: Universal hall, A: 23.9. (F)

Niederlande Eindhoven, T: W, E: Carte Blanche, B: Werkruimte Carte Blanche, A: 21.12. (Try-out) Rotterdam, T: De mens W., R: Francien Schraal, E: Theaterschool, B: Rotterdam Centrum, Theaterzaal, A: 3.6.

Österreich Straden, T: W, R: Peter Fasshuber, E: THEO Oberzeiring, B: Weinkeller Neumeister, A: 7.6. (F) Wien, T: Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust, E: God’s Entertainment, B: Brut Wien, A: 30.3. Wien, T: W, R: Helene Ewert, B: Schuberttheater, A: 14.10.

322 | Christian Neuhuber

Wien, T: Woyzeck 2.0 – Traumfalle, K: Markus Lehmann-Horn, R: Alexander Medem, E: amadeus ensemble, B: Kammeroper, P: 17.4. Wien, T: W, R: Geirun Tino, E: Pygmalion Theater, B: Pygmalion Theater, A. 18.4.

Portugal Alcácer do Sal, T: Woyzeck – Un lamento en el silencio, R: Juan Carlos Agudelo, E: La Casa del Silencio, B: Auditório Municipal, A: 1.6. Cascais, T: W, R: Carlos Avilez, E: Teatro Experimental de Cascais, B: Teatro Mirita Casimiro, A: 20.7. Castro Verde, T: Woyzeck – Un lamento en el silencio, R: Juan Carlos Agudelo, E: La Casa del Silencio, B: Camera Municipal, A: 3.6. Lissabon, T: W, R: Jorge Fraga, E: Teatro da Academia de Viseu, B: Teatro da Politécnica, A: 13.5. (F) Lissabon, T: W, R: Carlos Avilez, E: Teatro Experimental de Cascais, B: Teatro Nacional D. Maria II, A: 13.11. Tondela, T: W, R: Jorge Fraga, E: Teatro da Academia de Viseu, B: ACERT, A: 8.6. Santo André, T: Woyzeck – Un lamento en el silencio, R: Juan Carlos Agudelo, E: La Casa del Silencio, B: ESPAM, A: 2.6. (F) Viseu, T: W, R: Jorge Fraga, E: Teatro da Academia de Viseu, B: Teatro Viriato, P: 10.5.

Rumänien Gheorgheni, T: Woyzeck avagy a szédület karcolata, C/R: Josef Nadj, E: Nagy József JEL Színháza, B: Figura Stúdió Színház, A: 16.9. (F) Gheorgheni, T: W, R: Dézsi Szilárd, E: Figura Stúdió Színház, B: Bocsárdi Angi Gabriella Stúdióterem, A: 22.3. Sibiu, T: W, C/R: Do-Wan Im, E: Sadari Movement Laboratory, B: Colegiul Naţional Octavian Goga, A: 25.5. (F) Târgu Mureş, T: W, C/R: Do-Wan Im, E: Sadari Movement Laboratory, B: La Teatrul Naţional, A: 29.5. (F)

Russland Moskau, T: W, R: Alexander Kovshun, E: Shevchenko-Theater Charkiv, B: Na Strastnoy, A: 14.3. (F) Moskau, T: W, R: Kirill Serebrennikov, E: Latvijas Nacionālais teātris, B: Teatr Nacij, A: 14.10. (F)

Schweiz Basel, T: The Revolution of Woyzeck, R: Patrick Gusset, E: Jugendensemble, B: Theater Basel, P. 13.12. Bern, T: W, R: Matthias Kaschig, E: Stadttheater Bern, B: Stadttheater, A: 12.5. Zürich, T: W, R: Yannis Houvardas, E: Theater Neumarkt, B: Theater Neumarkt, P: 9.3. Winterthur, T: W, R: David Bösch, E: Bochumer Schauspielhaus, B: Theater Winterthur, A: 27.3. Winterthur, T: Der Fall von Franz und Marie, R: Stefan Kügel, E: Theater Kuckucksheim, B: Theater im Waaghaus, A: 4.10.

Serbien Subotica, T: Vojcek ili skica vrtoglavie, C: Josef Nadj, E: Jel Theatre, B: Desiré Central Station, A: 28.11. (F)

Woyzecks Weg zur Weltliteratur | 323

Slowakei Bratislava, T: W, R: Pavol Száz, B: Divadlo Lab DF VŠMU, P: 27.2. Bratislava, T: W, R: Pavol Száz, B: Ticho a spol., A: 27.6. (F)

Spanien Madrid, T: W, R: Gerardo Vera, E: Centro Dramático Nacional, B: Teatro María Guerrero, A: 16.1. Madrid, T: Woyzeck encuentra Marat, R: Bernardo Rey / Nube Sandoval, B: Salón Espada de Madera, P: 21.4. Talavera de la Reina, T: La noche más larga del fiel barbero Woyzeck, E: Escuela de Teatro Joaquin Benito de Lucas, B: Centro Cultural Rafael Morales, A: 29.12. Toledo, T: La noche del fiel barbero Woyzeck, E: Escuela de Teatro Joaquin Benito de Lucas, B: Teatro Victoria, P: 7.6. Toledo, T: Woyzeck Product, R: Nouaman Aouraghe, E: Grupo Nedjma, B: Iglesia de San Vicente, P: 27.5. (F)

Südafrika Grahamstown, T: Woyzeck on the Highveld, B: Blue Lecture Theatre, A: 29.6. (F) Johannisburg, T: W, R: Boris Nikitin, Pe: Malte Scholz, B: Market Theatre Laboratory, A: 27.11. Kapstadt, T: W, R: Boris Nikitin, Pe: Malte Scholz, B: Playroom, A: 2.12. (F)

Südkorea Busan, T: W, R: Kim Man, B: Suyounggu namcheondong, P: 31.1. Seoul, T: Boy Check, C/R: Kim Sung Han, E: Second Nature Contemporary Dance Company, B: Daehangno Arts Theatre, P: 2.3. Seoul, T: W, C/R: Do-Wan Im, E: Sadari Movement Laboratory, B: Baekryunsa-kil Seodaemungu, A: 23.7.

Taiwan Taipeh, T: W, R: Michael Foster, E: Hong Kong Academy of Performing Arts, B: Theatre Department 106, P: 1.9.

Tschechien Brno, T: Vojcek, R: Petr Ondrůj, B: Bytové Galerie+420, P: 22.6. Praha, T: W, E: Blood, Love and Rhetoric Theater, B: Studio Alt, A: 28.9.

Türkei Izmir, T: W, E: Duvara Karşı Tiyatro, B: Selahattin Akçiçek Kültür ve Sanat Merkezi, P: 2.11. Istanbul, T: W, R: Onur Dogan, E: theARTre, B: Yunus Emre Kültür Merkezi, P: 23.5.

Ukraine Charkiw, T: W, R: Alexander Kovshun, E: Shevchenko-Theater Charkiv, B: Shevchenko-Theater, A: 16.10. Kiew, T: W, Karnaval Ploti, R: Dmitry Bogomazov, E: Teatr Drami i Komedii, P: 14.9.

Ungarn Budapest, T: W, R: Tamás Ascher, B: Katona József Színház, A: 9.1. Jászberény, T: Woyzeck avagy a szédület karcolata, C/R: Joszef Nagy, B: Jel Színház, A: 12.10. Veszprém, T: Wojcek monodráma, R: Sára Oláh-Horváth, B: Veszprémi Petöfi Szinház, P: 2.2.

324 | Christian Neuhuber

Eger, T: W, R: Dézsi Szilárd, E: Figura Studio Színhás (Gheorgeni), B: EKMK Forrás Gyermek és Ifjúsági Ház, A: 26.3. (F)

USA Austin, T: 23{WOYZECK}23, R: Diego Medellin, B: UT Lab Theatre, P: 9.10. Blacksburg, T: W, Au: Neil LaBute, R: Bob McGrath, E: Departement of Theatre and Cinema, Virginia Tech, B: Squires Studio Theatre, P: 1.11. Berkeley, T: W, R: Mark Jackson, E: Shotgun Players, B: The Ashby Stage, P: 29.11. Chicago, T: Woyzeck on the Highveld, R: William Kentridge, B: Museum of Contemporary Art, A: 27.9. Chicago, T: Don’t give that Beast a name, R: Randall Colburn / Bob Fisher, E: The Chicago Mammals, B: Zoo Studios, P: 22.9. Columbia, T: W, R: Don Russell, E: MFA Theatre, University of South Carolina, B: Benson Theatre, P: 1.11. Columbus, T: Reservoir, Au: Eric Henry Sanders, R: Sean Reid, E: Raconteur Theatre, B: MadLab Theatre, A: 8.6. Dallas, T: W, R: Kami Rogers, E: Pantagleize, B: Pantagleize Theatre, P: 21.6. Hanover, T: Woyzeck on the Highveld, R: William Kentridge, B: Dartmouth College, B: The Moore Theatre, A: 21.9. Los Angeles, T: W, R: Jaymie Bellous, E: The Illyrian Players Theatre Co. Hollywood, B: The Lounge Theatre, P: 2.11. New York, T: W, R: Zach Stasz / Elliott Pruitt, E: Stasz/Pruitt Productions, B: Space on White, P: 26.1. New York, T: W or The Endless Cycle, R: William Lewis, E: Tin Lily, B: The Secret Theatre, P: 7.11. New York, T: Dark Hollow: An Appalachian Woyzeck, R: Alkis Papoutsis, E: BMCC/Tribeca, B: Theatre 80 St. Marks, A: 10.8. (F) New York, T: W, R: Sarah Wansley, E: Aporia Theater, B: Access Theater Broadway, P: 17.5. New York, T: Woyzeck musical deathmetal, K/R: Christopher Carter Sanderson, E: Gorilla repertory theater, P: 16.1. (F) Oklahoma, T: W, E: Oklahoma City University, School of Theatre, B: Black Box Theatre, P: 15.11. Philadelphia, T: W, R: Michael Silverstein, E: Intuitons, B: Rodin Underground, P: 19.4. Port Townsend, T: W, R: Sarah E. R. Grosman, B: Key City Public Theatre, P: 4.10. Portland, T: Georg Büchner’s Woyzeck, R: Ben Roberts, E: Ominous Horse, B: The Headwaters Theatre, P: 2.3. Princeton, T: W, R: Cara Tucker, E: Lewis Center for the Arts, Princeton University, B: Berlind Theatre, P: 9.3. San Jose, T: Woyzeck – A Staged Reading, R: Peter Juarez, E: Spotlite Stage Company, B: Hugh Gillis Hall, P: 19.3. Ypsilanti, T: W, R: Audra Lord, E: The New Theatre Project (TNTP) / Brendalinda Performance Collection, B: Mix Studio, P: 18.10.

Venezuela Caracas, T: Woyzeck, una mirada urbana, R: Luis Garván, E: Compañía Nacional de Teatro y la Fundación La Brecha de Monagas, B: Teatro Municipal, A: 10.11. (F) Maracay, T: Woyzeck, una mirada urbana, R: Luis Garván, E: Compañía Nacional de Teatro y la Fundación La Brecha de Monagas, B: Teatro Ateneo Maracay, P: 9.6.

Woyzecks Weg zur Weltliteratur | 325

Maturin, T: Woyzeck, una mirada urbana, R: Luis Garván, E: Compañía Nacional de Teatro y la Fundación La Brecha de Monagas / El Globo Teatro de Madrid, B: Casa de la cultura Profa. Inícita Aceituno, A: 18.6. Maturin, T: Woyzeck, una mirada urbana, R: Luis Garván, E: Compañía Nacional de Teatro y la Fundación La Brecha de Monagas / El Globo Teatro de Madrid, B: Casa de la Cultura Inìcita Aceituno de Maturín, A: 27.8. San Felipe T: Woyzeck, una mirada urbana, R: Luis Garván, E: Compañía Nacional de Teatro y la Fundación La Brecha de Monagas, B: Yaracuy, Teatro Jacobo Ramírez, A: 13.6. San Tomé, T: Woyzeck, una mirada urbana, R: Luis Garván, E: Compañía Nacional de Teatro y la Fundación La Brecha de Monagas, B: Anzoátegui, Campo Sur de PDVSA, A: 21.6. Puerto La Cruz, T: Woyzeck, una mirada urbana, R: Luis Garván, E: Compañía Nacional de Teatro y la Fundación La Brecha de Monagas, B: Anzoátegui, Sala Ricardo Lombardi de PuertoTeatro, A: 8.9. (F)

Abkürzungsverzeichnis A: frühester (recherchierter) Aufführungstermin auf dieser Bühne 2012 Au: Autor/in B: Bühne C: Choreographie DT: Danton’s Tod E: Ensemble F: Festival K: Komponist/in LuL: Leonce und Lena P: Premiere Pe: Performance R: Regie T: Titel W: Woyzeck

Enrico De Angelis (Pisa)

Woyzeck im Film Von den gar nicht wenigen Woyzeck-Filmen (s. weiter unten Filmografie) konnte ich mehrere − doch nicht alle − sehen. Es handelt sich um vier deutsche Verfilmungen (Regisseure: Georg Klaren 1947, Bohumil Herlischka 1962, Rudolf Noelte 1966, Werner Herzog 1979), zwei italienische (Giancarlo Cobelli 1973, Giorgio Pressburger 1983), eine französiche (Marcel Bluwal 1964), eine iranische (Dariush Mehrjui 1973) und eine ungarische (Jánosz Szász 1993).1 Von diesen werde ich kurze Filmanalysen liefern und dabei die folgenden Punkte behandeln: 1. Textvorlagen, 2. Ausstattung (namentlich in welchem Milieu die einzelnen Filme spielen), 3. Stilmerkmale.

Textvorlagen Textbezogen gesehen, macht jedes dieser Werke sein Bestes aus dem Vorgehen der Kontaminierung. Mag auch der Philologe darüber die Nase rümpfen, so setzen die Filmemacher offenbar vor allem auf die Filmdramaturgie, also letzten Endes auf die Wirksamkeit der Bilderfahrung. Kontaminierung erfolgt nicht nur in dem Sinne, dass jeweils Szenen aus den verschiedenen vorliegenden Handschriften verwendet werden, sondern insbesondere auch dadurch, dass sich in einzelnen Szenen Sätze aus mehr als einer Handschrift eingebaut finden. Auch werden Szenen nicht unbedingt kontinuierlich dargestellt, sondern nach Bedarf umgestellt und neu aufgeteilt. So zeigen alle den Mord an Marie, die meisten auch die Wirtshausszene danach – beides aus der ersten Handschrift. Bis auf zwei Ausnahmen (Mehrjui, Szász) zeigen alle die Jahrmarkt-Szene, alle (allerdings mit einer Ausnahme, Szász) die Szene mit dem Doktor, den Studenten und den Katzen- und OhrenEpisoden (von diesen mindestens eine), alle (evtl. verschiedentlich gekürzt oder || 1 Nach der Sitzung in Mainz konnte ich noch drei Woyzeck-Filme ansehen. Francis Annan (2010) hat den ersten englischen Woyzeck gedreht, aus dem sie versuchte, etwas mehr als eine Übung des Xaverian Roman Catholic College in Manchester City Center zu machen. – Guy Marignane (1992) lässt das Drama Woyzeck vor dem (in diesem Film) etwa sechsjährigen Kind Maries spielen; eine Ansagerin stellt die Handlungspersonen vor. Der Regisseur hat Gespräche oder auch Monologe hinzugeschrieben, in denen Träume von einem besseren Leben Ausdruck finden. – Lothar Bellag (1965) gelang eine streckenweise sehr gute Fernsehbearbeitung, in deren Zentrum er den Komplex Gewalt − Sex − Unterdrückung stellte. Dabei ging er sehr frei mit der Zuweisung von Einsätzen um.

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auch stark verändert) die Begegnung Hauptmann − Doktor auf der Straße, mit dem darauf folgenden Ankommen Woyzecks, in drei Fällen (Klaren, Herlischka, Noelte) auch die Szene Idiot − Kind − Woyzeck. Zwei Filme (Klaren, Bluwal) folgen auch der Umdeutung der Kinderszene gegen Ende durch Karl Franzos’ (spielende Kinder informieren Maries ahnungslosen Sohn über den Tod der Mutter). Drei dagegen (Bluwal, Noelte, Herzog, noch einmal Franzos zufolge) lassen Woyzeck in den Teich verschwinden. Von den einzelnen Szenen wird mit Vorliebe der Streit zwischen Woyzeck und Marie kontaminiert: sie beginnt nach der letzten Handschrift, endet aber nach der früheren Niederschrift. Mit der Aufeinanderfolge der Szenen geht am freiesten (der Sonderfall Mehrjui einmal bei Seite gelassen) Szász um; sein Eingriff zielt auf eine (soweit es geht) lückenlose und zwingende Begründung des Geschehens. Änderungen und Hinzufügungen gibt es ebenfalls in Menge. Auffallend ist dabei auch, wie in mehreren Fällen das in Büchners Drama nur Erzählte direkt gezeigt wird. So lassen mehrere Regisseure nicht nur den Doktor melden, Woyzeck habe »an die Wand gepißt wie ein Hund«, sondern zeigen es auch, besonders nachdrücklich Cobelli, bei dem allerdings das Didaktische hinter einer erbarmungslosen, beinah sadistischen Auseinandersetzung zwischen Woyzeck und dem Narren zurücktritt. Einige (Noelte, Pressburger, Szász) machen aus der Begegnung Marie − Tambourmajor eine regelrecht erotische Szene, am ausführlichsten Szász, wobei jedoch nicht so klar zum Ausdruck kommt, dass Maries Liebe nicht ihm, dem Tambourmajor, sondern einem sehnsüchtig erspähten, vergebens gesuchten besseren Leben gilt. Klaren zeichnet sich dadurch aus, dass er Büchner selbst als handelnde Person einführt: Der Dichter als Student spricht Woyzeck (der aber bei Klaren Wozzeck heißt) an und kommentiert des Öfteren das Geschehen. Woyzecks Leiche wird durch denselben Doktor seziert, der ihn die ganze Filmhandlung hindurch peinigt. Woyzeck muss »durch den Strang« sterben, Büchner steht auf dem Weg zur Richtstätte und schaut dem dorthin geführten Woyzeck zu. Auch bei Pressburger wird Woyzecks Leiche ähnlich seziert, worauf das Bild Büchners selbst auf dem Totenbett folgt. Cobelli lässt Woyzeck in einer eindrucksvollen Szene an die Wand stellen und erschießen, Herlischka lässt ihn Marie erstechen und sie gleichzeitig im Teich ertränken, bei Szász lässt sich der Hauptmann die Gurgel von Woyzeck durchschneiden, sogar auf eigene Aufforderung hin.

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Ausstattung In den untersuchten Filmen wird das Milieu allgemein beibehalten (Woyzeck ist und bleibt Soldat), doch mit zwei Ausnahmen: Mehrjui und Szász versetzen die Handlung an andere Orte und in andere Milieus, wobei allerdings die Konstellation die gleiche bleibt. Auf historischer Ebene spielt das Drama im 19. Jahrhundert, nicht so aber bei Mehrjui, Cobelli und Szász, bei denen sich alles in unserer Zeit ereignet; nur sehr schwach angedeutet ist die historische Einbettung bei Bluwal. Cobelli, dem eine der interessantesten Filmumsetzungen zu verdanken ist, lässt das Drama in einer desperaten Unterwelt spielen, in der die Menschen hungern und Armut in den materiellen, aber ebenso sehr in den seelischen Verhältnissen herrscht, sodass der Tod wie eine Erlösung auf die Bühne tritt und Marie sich willig, erleichtert, lächelnd Woyzecks Messer ausliefert. Die Zeit ist die unsrige, aber nur, um dem Historischen auszuweichen; das Geschehen ist so gut wie zeitlos. Der Ort lässt sich an einer Stelle mit Ortschaften in Süditalien identifizieren, ist aber im Grunde bezugslos. Abstraktion nicht weniger als nackte Armut bedingen die extreme Sparsamkeit der Requisiten. Szász wählt als Spielort einen Bahnhof als den Ort der alles überrollenden Maschinerie. Aus der Ferne, über Lautsprecher, verfolgt der Bahnhofsvorsteher sein Opfer (dies ist Szászs persönliche Interpretation der Straßenszene): Die Ferne ist kein Schutz, niemand entgeht seinem Los, mag auch der Bahnwärter Woyzeck seine armselige Diensthütte auf dem Rücken irgendwohin versetzen. Peiniger und Gepeinigter können umstandslos ihre Rollen vertauschen. Der Dampf der Lokomotive hüllt alle in neblige Undurchsichtigkeit ein. In Mehrjuis Welt ist Woyzeck das nicht mehr richtig arbeitende Rad einer sich in blinder Bewegung befindlichen Gesellschaft, die ziellos und u. U. mit konfusem, halbherzigem Widerstand neuen Verhältnissen entgegengeht, die sie aus ihrem Unglück nicht retten werden. Woyzeck macht mit, ist dabei aber physisch impotent und von vornherein der Verlierer. Mehrjui ist entschieden die beste Verfilmung dieses Stoffes gelungen. Er hat sich von Büchners Drama inspirieren lassen, man kann bei ihm eher von einer Umdeutung als von einer Umsetzung reden.

Stilfragen Herlischka (1962) und Bluwal (1964) drehten ihre Woyzeck-Filme vollständig, Noelte (1966) den seinen weitgehend in den Fernsehstudios, wie sie in den sechziger Jahren ausgestattet waren. Aus der Not der engen und künstlich wir-

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kenden Räumlichkeiten wussten sie eine Tugend zu machen. Die durch die Umstände nahegelegten, wenn nicht sogar erzwungenen Großaufnahmen wurden sinnvoll mit den dramatischen Gesichtsausdrücken verbunden, die Räumlichkeiten wirkten nicht einfach eng, sondern wie albträumerische Gefängnisse. Noelte erreicht dabei sein Bestes in der Liebeszene Marie − Tambourmajor, der er einen pointierten erotischen Anschlag verleiht, welcher an sich wenig überzeugend wirken würde − denn ausgerechnet die Liebe fehlt dabei; Prahlerei auf der einen Seite, verzweifeltem, von Anfang an bewusst verfehltem Glücksverlangen ausweichend – wäre da nicht eben diese Engräumlichkeit, in der sich die beiden wie in Ketten umarmen. Und die Großaufnahmen bei Eintritt in das Zirkuszelt vermitteln den Eindruck, die Menschen selbst begäben sich in einen Käfig. Den bestgelungenen dieser Versuche sehe ich in dem Streit Woyzeck − Marie. Die Unglücklichen können nicht einmal richtig streiten: sie bewegen sich eher resigniert in ihrem Gefängnis. Dagegen wirkt Noelte eher befangen, wenn er im Freien dreht. Herlischka, dem sehr schöne Licht- und Schatteneffekte gelingen, war im Aufnahmestudio eine Straße gebaut worden, mit der heute kein Ausstatter zufrieden wäre. Doch das Ausspähen jedes durch jeden, der Mangel an Intimität, an sinnvoller Einkehr, hat Herlischka eben auf diese Weise beschworen. Und Woyzeck, der bei seinem ersten Erscheinen bei Marie sich durch eine Luke zwängend hinunterschaut, verfehlt nicht die Wirkung. Bluwals Bilder zeigen kaum Requisiten. Die künstliche Architektur nimmt bei ihm durch eine streng geometrische Linienführung eine Prägung an, die an die Klassiker des Expressionismus erinnert – freilich auf viel kleinerer Skala. In dem kahlen, fast leeren Doktorraum wird dazu die Szene Woyzeck − Doktor so grotesk gespielt wie sonst in keinem anderen Woyzeck-Film. Klaren, der den ersten Woyzeck-Film überhaupt drehte, ist sehr realistisch. In den Jahrmarktszenen zeigt er seine Fähigkeit, die Massen zu bewegen. Dafür stehen die Szenen, in denen Woyzeck von Gesichten heimgesucht wird, nicht auf demselben Niveau; auch behilft sich Klaren mit dem in diesem Fall eher schwachen Mittel der Überblendungen. Woyzecks verstörte Welt wird durch schiefe Einstellungen gezeigt, die nur in den seltenen, kurzdauernden Fällen, in denen er sich Illusionen des Gleichgewichts hingeben zu können glaubt, wieder gerade gerückt werden. Pressburger bettet das Ganze in eine Welt des Nebels und der Nässe ein. Woyzeck, der Doktor, der Hauptmann, der Tambourmajor selbst erscheinen darin wie Gespenster. Die Wohnräumlichkeit der Marie ist bei ihm, wie übrigens auch bei Herzog, nicht so armselig wie bei anderen; bei Pressburger ist sie sogar gut bürgerlich; es geht bei ihm um die seelische Armut.

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Von Szászs Bahnhof war eingangs schon die Rede. Marie schiebt den Kinderwagen über die Gleise, der Doktor übt seine Praxis in einem Waggon aus. Ein Bahnhofsvorsteher übernimmt die Rolle des Hauptmanns, ein gewalttätiger Polizist diejenige des Tambourmajors. Supertotale und totale Einstellungen mit fast ausbleibenden Kameraschwenken oder -fahrten betonen die Verlassenheit der Menschen und die Unabänderlichkeit ihres Seins. Nur die Maschinen bewegen sich ungehemmt und ungeniert. Cobellis Film mutet beim ersten Anschauen durch sein düsteres SchwarzWeiß und die ausdrucksvollen Gesichts- und Menschentypen als der reinste Neorealismus an. Ein genaueres Hinsehen führt zu anderen Schlussfolgerungen: Hunger als Zeichen des menschlichen Daseins, erstarrte Menschen, denen man unmöglich Bewegungsmöglichkeit zuschreiben kann, drängen sich dem Zuschauer auf, den eine verfremdete Vortragsart durchweg irritieren soll. Das rasche Wechseln der Situationen, Groß- und Detailaufnahmen, die ihn nie zur Ruhe kommen lassen, alles zielt darauf ab, aus diesem Film einen Albtraum zu machen. Marie empfängt den Sergeanten (er steht hier für den Tambourmajor) während des Vorbeizugs einer Prozession. Das könnte neorealistisch erscheinen und ist es auch, weil hier ausnahmsweise Ort und Verhältnisse zu erkennen sind. Aber diese Prozession heilt keine Seelen, die schwingenden Engel sind weinende, schmutzige Bengel, noch unglücklicher als die zuschauenden alten Leute. Nur diese Seite wird von der Prozession gezeigt; Massen und kirchliche Zeichen sind nirgendwo zu sehen. Und im Hintergrund singt ein Chor, von dem der Zuschauer zuvor erfahren hat, dass er unter Peitschenhieben geschult wurde. Dazu noch die Groteske am Ende: Dem zur Hinrichtung förmlich getragenen Woyzeck wird von einem neben ihm trottenden Zimmermann der Sarg auf den Leib gemessen; er war ja schon zeitlebens eine Leiche, sein Leben war dasjenige einer Marionette, der der Jahrmarktschreier das Messer in die Hand drückt. Eine die allerletzte Supertotale beherrschende weiße Wand ist sowohl Abprallmauer für die Erschießung als auch Kinowand für die Projektion. Anders, ganz anders hat Herzog das Verhältnis zur Realität verstanden. Woyzecks Städtchen ist idyllisch, die grünende Natur ist voll von Leben und Versprechen, sogar unmittelbar vor der Mordszene. Nur eins stört dabei: Woyzecks Gesichts- und Körperausdruck. Diese haben die ganze Last des Tragischen zu tragen, sind sogar das einzige Mittel dazu. Sobald aber Klaus Kinski, dessen Leistung allgemeine Anerkennung erntete, auf dem Bild fehlt, droht das Idyllische wieder die Oberhand zu gewinnen. Es mutet eigenartig an, dass bei der Straßenszene Doktor − Hauptmann vor dem Auftreten Woyzecks im Vordergrund die Ersteren ihr surreales Gespräch führen, während im Hintergrund die Idylle ungestört weitergeht. Und es verwundert, dass sich Marie und die Nach-

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barin vehement streiten, um sich dann friedlich an denselben Tisch zu setzen. Bewundernswert ist aber, mit wie wenigen Einstellungen Herzog auskommt; wo es ihm nur gelingt – und das gar nicht selten –, erledigt er eine Szene mit einer einzigen Einstellung mit minimalen Kameraschwenken, wenn überhaupt: ein Mittel zur Verdichtung des Dramatischen, das er souverän beherrscht; man kann von auf den Kern gebrachten Plansequenzen reden. Und da sind die großen, breiten, tiefen, am liebsten menschenleeren Schauplätze, Herzogs untrügliches Siegel. Mehrjuis Film ist die Konsequenz selbst. Versetzt in den Iran der damaligen Zeit, ist die Konstellation die gleiche wie bei Büchner, doch eben nicht dieselbe. Ein aus eigener Schuld kurz vor der Pleite stehender Schafzüchter, sein genusssüchtiger Neffe, der alle Dinge zugunsten seiner Vorstellungen von Fortschritt biegen und auch brechen will, der träumerische, schwache, impotente Briefträger Taqi und dessen Frau Monir entsprechen respektive dem Hauptmann, dem Tambourmajor, Woyzeck und Marie. Nur der Doktor bleibt Doktor. Dieser schwärmt für die Natur, will die Lehren Avicennas ohne weiteres fortsetzen, will auch Tierarzt sein. Den Polizisten, die seine Quacksalbertätigkeit unterbinden wollen, redet er ein, er behandle Taqi absichtlich umsonst, um nach Avicenna zu beweisen, dass die Natur durch die Natur selbst zu beherrschen ist; auf diese Weise seien seelische Krankheiten sowie auch die Impotenz zu heilen, Taqi beherrsche sich schon so gut, dass er mit den Ohren wackeln könne. Also weiter mit den Hanfkernen (hier anstatt der Erbsen), mit dem Verzicht auf Nahrung, die nach allgemeiner Meinung Kraft verleiht, Fleisch und ähnliches. Womit der Doktor das Vieh impft, bleibt unerforscht, anrüchig scheint es allemal zu sein. Taqi ist von Schulden geplagt. Er will des Wohlstands teilhaftig werden, dafür vernachlässigt er seine Arbeit, die ein Geselle (der für Andres steht) gegen ein geringes Entgelt für ihn besorgt, gibt sein Geld für Lotterielose aus – regelmäßige Nieten, wie sich von selbst versteht –, wird, wie seine schöne Frau ihm vorwirft, zum entwürdigten Gehilfen anderer, und zwar des mit ihm experimentierenden Doktors wie des kupplerischen Schafzüchters. Betrogenes, entwürdigtes, nur auf sich selbst gestelltes Versuchskaninchen, verfällt Taqi einem zuerst noch milden Wahnsinn. Nachdem er vergebens versucht hat, sich an dem Schafzüchter und dessen Neffen zu rächen (zum eigenen Hohn mit einem dem Züchter gehörenden, ungeladenen Gewehr), verlässt Taqi sein Haus, um auf einem Baum und abwechselnd in dessen halbausgehöhltem Stamm zu leben. Wie Monir ihn aufsucht, ersticht er sie. Spuren des italienischen Neorealismus sind bei Mehrjui erkennbar, doch meistens durch eine Resignation gemildert, die Aufnahmen der freien Natur Platz macht, und durch eine Zurückhaltung, die die Gewaltszenen nur in der Ferne abspielen lässt. Nah wird wieder der ver-

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liebte Taqi aufgenommen, der über Monirs Leiche wacht und ihr die Fliegen vom Gesicht wegfächert. Taqi ist zwar Opfer des lüsternen Züchterneffen, aber noch eher des von ihm mit einer ganzen Gesellschaft geteilten Wahns eines bald greifbaren Reichtums – lässt sich nur das richtige Los ziehen. Daran denkt der nunmehr Wahnsinnige noch auf der Fahrt ins Gefängnis. Es liegt also auf der Hand, dass die Filmemacher das Woyzeck-Drama als Rohmaterial aufgefasst haben. Der Stand der Handschriften lässt diese Lösung verstehen. Offen bleibt dabei allerdings die Frage, ob ein philologisch korrekter Umgang mit diesen Texten zu filmisch akzeptablen oder sogar besseren Ergebnissen führen könnte. Vor allen Dingen aber wäre zu entscheiden, ob und, wenn ja, mit welchen Mitteln diese Filme den Besonderheiten von Büchners Sprache und Dramaturgie entsprochen haben. Die Filmtheoretiker debattieren schon lange über die geeignetsten Mittel, einem literarischen Werk filmisch nahezukommen; die Ergebnisse bleiben offen, weil das Feld selbst Versuchen jeder Sorte gegenüber offen bleibt. Die entscheidende Frage wäre, inwieweit die genannten Filmemacher Mittel verwendeten, die ihrer Vorlage entsprachen – wohlgemerkt: die Rede ist von entsprechen, nicht von gehorchen, denn Filme und Literatur bedienen sich sowieso anderer Mittel, weshalb sie anderes aussagen. Dieser Frage, einer denkbar wichtigen, bin ich in meinem Referat nicht nachgegangen. Mein Ziel war Information mit ersten Ansätzen zu einer Analyse.

Filmografie Schulübungen und fragmentarische Versuche sind nicht mitgerechnet. Das gleiche gilt für fernsehtechnisch verfilmte Theateraufführungen. Spezifisch für das Fernsehen gedachte Produktionen werden unter b) gesondert aufgelistet. Da der Titel mit wenigen Ausnahmen immer Woyzeck ist, wird dieser nicht jedes Mal genannt. Die Auflistung erfolgt chronologisch; angegeben werden Regisseur, Produktionsjahr und -land. a) Georg Klaren 1947, Deutschland (Titel: Wozzeck) Rudolf Noelte 1966, Deutschland Giancarlo Cobelli 1973, Italien Dariush Mehrjui 1973, Iran (Titel: Postchi – Der Briefträger) Werner Herzog 1979, Deutschland Giorgio Pressburger 1983, Italien

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Oliver Herbrich 1984, Deutschland (Titel: Wodzeck)2 Guy Marignane 1992, Frankreich Jánosz Szász 1993, Ungarn Enrico De Angelis 2008, Italien Francis Annan 2010, England b) Bohumil Herlischka 1962, Deutschland Marcel Bluwal 1964, Frankreich Lothar Bellag 1965, Deutschland (DDR) Ralf Långbacka 1965, Finnland**3 Roger Justafré, 1976, Spanien** Rolf Alexandersson 1966, Schweden***4 Kaspar Rostrup 1968, Dänemark***

|| 2 Jeder Versuch, an diesen Film heranzukommen, schlug fehl. Im Internet findet man aber mehrere Hinweise auf Wodzeck, darunter folgende: http://ftvdb.bfi.org.uk/sift/title/400627 (Stand: 16.01.2013): »Loosely based on the novel ›Woyzeck‹ by Georg Buchner. Wodzech a factory worker on an assembly line becomes embittered and frustrated by his job. When his girlfriend goes with another man his pent-up emotions break free and he kills her.« http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z1995/0493/pdf/dps.pdf Philipp Sanke: Der bundesdeutsche Kinofilm der 80er Jahre. Unter besonderer Berücksichtigung seines thematischen, topographischen und chronikalischen Realitätsverhältnisses. Diss. Marburg 1994 (PDF-Version 2006). In der »Filmographie« (Anhang E, S. 186) ist zu lesen: »Wodzeck[.] Oliver Herbrich 1983/84[:] / Moderne Fassung des Büchnerschen Wozzeck, im Ruhrgebiet spielend: Wodzeck, ein junger Fabrikarbeiter, wohnt in einem Wohnheim und verzweifelt an seiner stumpfsinnigen Arbeit. Einsam und von mysteriösen ›Stimmen‹ gequält verliebt er sich in die Kaufhausverkäuferin Maleen, die für ihn ein neues Leben bedeuten würde. Maleen jedoch kann mit dem schwermütigen und vor allem äußerst eifersüchtigen Wodzeck auf die Dauer nicht allzu viel anfangen. Wodzeck, wahnsinnig vor Eifersucht, ersticht die Frau, die er heiraten wollte, und landet in der Psychiatrie... / Kritiken und Bemerkungen: / ›manches [ist] zu steif, zu akademisch geraten, zu schlicht auch. Die Starrheit in Kügows Gesicht wirkt auf Dauer nur noch als Mangel an Ausdrucksfähigkeit, die Arbeitswelt ist geprägt von den alten Klischees, die Farben sind kalt, um die Kälte um Wodzeck zu signalisieren − und kalt läßt der Film den Zuschauer‹ (Fischer [Film Almanach] 86 S. 229); ›der Film [...] müßte rabiater, aufrührerischer in seiner Form sein. Wenn Herbrich so weiter macht, wird er nur ein braver Fernsehregisseur‹ (Wilhelm Roth nach Zender [, Martina: Das Filmjahr 1986. München: Filmland Presse 1986], S. 293)[.]« 3 ** = Nicht mehr vorhanden. Die Regisseure besitzen keine Kopie, und das jeweilige Fernsehen (das finnische, das katalanische sowie das niederländische) hat keine aufbewahrt. 4 *** = Es konnte kein Kontakt mit den Regisseuren hergestellt werden. Das Dreh-Jahr der Filme lässt aber vermuten, dass auch diese Filme, ebenso wie die mit zwei ** versehenen, nicht mehr vorhanden sind.

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Annemarie Prins 1972, Niederlande** Bozkurt Kuruç 1976, Türkei*** Die Webseite www.imdb.com führt (oder hat) unter dem Stichwort »Woyzeck« noch folgende Titel (geführt), die aus den oben genannten Gründen nicht berücksichtigt wurden: − Johannes Rosenberger, 1989, Österreich (Dokumentarfilm einer Theatervorstellung; Titel: Woyzeckproben) − Catharina Roland, 1995, Österreich (Fragment; von der Autorin nicht zur Verfügung gestellt, weil technisch nicht mehr spielbar) − Georg Wübbolt, 1999, Deutschland (Fernsehsendung einer Theatervorstellung unter der Theaterregie von Stéphane Braunschweig) − Thomas Ostermeier, 2004, Deutschland (Videoaufzeichnung einer Theatervorstellung in Avignon) − Álvaro Olavarría, 2004, Spanien (Videoaufzeichnung einer Theatervorstellung auf Katalanisch; auf der Webseite http://www.cineclubutiye. com/ www/index.php?option=com_content&view=article&id=191&Itemid=73 [Stand: 16.01.2013] folgendermaßen beschrieben: »Realització, animació i muntatge de la vídeo creació de l’espectacle teatral WOYZECK. Adaptació de Juan Ramón Conchillo. Coproducció d’auditori de Torrent, Curucucú Teatre, La comedie de Bhétune i Miviment Teatre 2004«) − Rui Pedro Sousa, 2010, Portugal (Kurzfilm) − Craig Elperding, The Woyzeck Project (»A futuristic game of cat and mouse«), 2011, USA (Kurzfilm) − Max Rohland, Minona von Vietinghoff, 2012, Deutschland (Kurzfilm)

Uneme Nakamura (Tokio)

Büchners Werke und Schriften in älteren und neueren japanischen Übersetzungen Einen Text aufs Neue übersetzen heißt ihn aktualisieren. Der folgende Überblick über die älteren und neueren in japanischer Sprache vorliegenden Übersetzungen wird diese Aussage bestätigen. Im Mittelpunkt steht im Folgenden die Geschichte der Editionen in japanischer Sprache. Soweit nachweisbar, tauchte der Name des Dichters Georg Büchner ca. 50 Jahre nach seinem Tode zum ersten Mal in einem japanischen Schriftwerk auf. Im Jahre 1887, knapp 20 Jahre nach der Meiji-Restauration von 1868, bei der eine Umbenennung der Stadt Edo in Tokio erfolgte, wurde ein kleines Buch mit dem Titel Doitsu-gikyoku-taii (Abriss der deutschen Dramatik1) im Tokioter Hakubun-sha-Verlag herausgegeben.2 An einer einzigen Stelle findet dort der Name des Dramatikers Erwähnung, und zwar transkribiert als Buhuneru. Zusammen mit Gutsuko (also Gutzkow) wurde der Name Buhuneru mit der neueren Strömung der deutschen Dramatik in Verbindung gebracht. Nach Meinung dieser Dramatiker – so heißt es dort – solle ein Drama nicht nur lesetauglich sein, sondern es müsse für die Bühne geschrieben sein.3 Der Autor des Buches, Teikō Hisamatsu (1857−1913), hatte von 1874 bis 1882 in Deutschland Philosophie studiert und war seit 1883 Beamter im japanischen Innenministerium. Im Vorwort zu seinem Buch schreibt er, aus welchem Motiv er es verfasste: In Japan herrsche bedauerlicherweise die Tendenz vor, die europäische Kultur blind nachzuahmen, ohne deren Wesen richtig zu verstehen. Er wolle mit dem nun vorgelegten Buch seine in Deutschland angefertigten Aufzeichnungen – vor allem wohl von Vorlesungen – in Form einer Zusammenfassung vorstellen und damit einen Beitrag zur Etablierung einer neuen japanischen Theaterkultur

|| 1 Übersetzung hier und im Folgenden Uneme Nakamura. 2 Dies war 30 Jahre nach Abschluss der ungleichen Verträge mit den USA (1854 und 1858), welche Japan mit ihrer Kriegsmarine gezwungen hatten, das Land zu öffnen. Es folgten sodann die Verträge mit England und Frankreich. Japan als Agrarstaat hatte seit dem 17. Jahrhundert ähnlich wie andere ostasiatische Länder eine strikte Abschließungspolitik betrieben, die jeglichen Verkehr und Handel mit dem Ausland – China und die Niederländische Ostindien-Kompanie ausgenommen – verbot. 3 Teikō Hisamatsu: Doitsu-gikyoku-taii. In: Geinō (Bühnenkunst). Hrsg. und kommentiert von Yoshihiro Kurata. Tokio: Iwanami-shoten-Verlag 1988, S. 84.

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leisten.4 Einmal abgesehen von der Frage, ob die vom Autor vertretene Ansicht über die neuere Strömung auch auf Büchner zutraf, können wir hier feststellen, dass Büchner auf diese Weise nun auch dem japanischen Publikum nahegebracht wurde. Der Grund, warum Hisamatsu an dieser Stelle Büchner genannt hat, ist leider unbekannt. Es sollte eine ganze Weile dauern, bis Büchners Name ein zweites Mal Erwähnung fand: Und zwar in Zeitschriften der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, meist in der transkribierten Form Byuhineru. In den Bühnenberichten aus Deutschland war nämlich der Name Büchner häufig zu finden, ein Beleg auch für die Präsenz seiner Dramen Dantons Tod oder Woyzeck auf den deutschen Bühnen. 1922 z. B. bezeichnete der Germanist Junsuke Suita (1883−1963) in seinem Bericht Bühnenwelt in Berlin für die Zeitschrift Shisō (Ideen), Nr. 10 Büchner als Befürworter des Materialismus und Verfechter des Realismus.5

1 Als erste Übersetzung erschien 1927 Danton no shi, also Dantons Tod in Tokio (Daiichi-shobō-Verlag). Das Drama bildete das erste Stück des 6. Bandes in der 43-bändigen Dramen-Anthologie Kindaigeki-zenshū (Gesammelte Werke moderner Dramen). Henrik Ibsens Hundertjahrfeier bildete den Anlass zu dieser Ausgabe. Die Herausgabe dieses Werkes war ohne Zweifel ein epochemachendes Ereignis in der Rezeptionsgeschichte europäischer Theaterstücke in Japan. Vor allem die wachsende Anzahl von Lesern, die anspruchsvolle und repräsentative literarische Bücher besitzen wollten, ermöglichte die Publikation solch umfangreicher Bände in schöner und prächtiger Ausstattung. Zu der Zeit, also kurz vor und während der weltweiten Wirtschaftskrise im Jahre 1929, erschienen in Japan im großen Umfang noch weitere gesammelte Werke sowohl der japanischen als auch der Weltliteratur. Dies hing offensichtlich mit der politisch libe-

|| 4 Hisamatsu sprach in den späteren Kapiteln des Buches von der Notwendigkeit, die Schauspieler und die Theater staatlicher Aufsicht zu unterstellen und zu fördern. Auch in Deutschland, wo die Wissenschaften und Künste so hoch entwickelt seien, gebe es in dieser Hinsicht noch Mängel. Er betonte weiterhin auch die Wichtigkeit des Urheberrechts für Dramatiker. Sein Vorschlag einer Förderungspolitik für das neue Theater in Japan setzte sich allerdings nicht durch. 5 Im vorliegenden Beitrag beschränke ich mich auf die nicht-wissenschaftliche BüchnerRezeption in Japan. Siehe zur Analyse der wissenschaftlichen etwa Shinichirō Morikawa: Zur Büchner-Rezeption in Japan. In: Poschmann / Malende, S. 305−310.

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ralen und kulturell offenen Stimmung in der japanischen Gesellschaft zusammen, die seit Ende der 1910er Jahre zu bemerken war. Der Band mit Büchners Dantons Tod war zugleich der zweite der insgesamt neun für deutsche Dramen bestimmten Bände. Aufgenommen finden sich darin noch drei weitere deutsche Theaterstücke, nämlich Die Ehre von Hermann Sudermann (1857−1928), Jugend von Max Halbe (1865−1944) und Alt-Heidelberg von Wilhelm Meyer-Förster (1862−1934). Uraufgeführt wurde Die Ehre 1889, Jugend 1893 und Alt-Heidelberg 1901. Dantons Tod wurde dem japanischen Publikum zusammen mit den drei besagten Stücken als ein noch immer aktuelles Bühnenwerk vorgestellt. Als Vorlage für die erste Übersetzung von Dantons Tod diente der von Fritz Bergemann herausgegebene Text (Sämtliche Werke und Briefe, 1922 oder wahrscheinlicher noch Werke und Briefe, 1926). Wie bei den auf Deutsch verfassten literarischen Werken üblich, wurde auch dieses Stück von einem Germanisten übersetzt, nämlich von Ryōzo Niizeki. Jeder Akt war mit einer Zeichnung versehen; angefertigt wurden diese Bilder von Tomoyoshi Murayama.6 Im Kommentar zu der Übersetzung wurde Büchner als Wegbereiter des modernen Theaters hervorgehoben. Auch Büchners Leben und die Editionsgeschichte seiner Werke wurden dort behandelt. Der Verfasser betont darin, Büchners Werke sollten nicht anhand seines politischen Engagements vor Beginn seines literarischen Schaffens interpretiert werden; sie seien nicht tendenziös.

|| 6 Tomoyoshi Murayama (1901ʬ1977) war Maler, Graphiker, Tänzer, Schriftsteller, Dramatiker und Regisseur; kurz, ein vielseitig wirkender Künstler. Im Januar 1929 inszenierte er in Tokio zusammen mit Seki Sano (1905ʬ1966) A. Tolstois Bearbeitung von Dantons Tod. Bei der Uraufführung durch das Sayoku-gekijō (Linkes Theater) fungierte Murayama auch als Bühnen- und Kostümbildner. In der Zeitschrift Senki (Kampffahne) von März 1929 ist eine Besprechungsrunde zu dieser Aufführung zu lesen. Auch Murayama nahm an dieser Gesprächsrunde teil und sagte dort, dass Büchner in Danton einen Nihilisten gezeichnet habe, was auch bei Tolstois Bearbeitung zu einem Fiasko geführt habe. In der Beilage zu Bd. 6 mit Büchners Dantons Tod findet sich ein kürzerer Aufsatz von Murayama mit dem Titel Zwei Dantons, in dem er Büchners Danton mit dem Helden in Romain Rollands Drama Danton vergleicht. Der Verfasser sieht hier in Büchner genauso wie in Danton einen Nihilisten. Im Jahr 2012 fand eine Ausstellung über Murayama in Kyoto, Takamatsu und Tokio statt, betitelt Murayama Tomoyoshi no uchū. Subete no boku ga futtō suru (Der Kosmos von Tomoyoshi Murayama. Mein ganzes Ich brodelt). Dort wurde auch Bd. 6 der Kindaigeki-zenshū mit Murayamas Zeichnungen für Büchners Dantons Tod ausgestellt. (Als Signatur benutzte Murayama hier »tom«.) Die Orginale der vier Abbildungen »Eine Gasse« (1. Akt), »Eine Promenade« (2. Akt), »Der Wohlfahrtsausschuß« (3. Akt), »Der Revolutionsplatz« (4. Akt) sind nicht erhalten.

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Bereits ein Jahr später, 1928, folgten die erste Übersetzung von Woyzeck und eine weitere von Dantons Tod (Tokio, Kindai-sha-Verlag). Der japanische Titel des Stückes Woyzeck lautete Uotsekku (Wozzeck), worin sich bereits andeutet, dass der japanische Text nicht dem neuesten Stand der damaligen BüchnerForschung entsprach. Als Vorlage für die beiden Dramen benutzte der Übersetzer Reiji Kuroda7 wohl den Text entweder der Landau’schen (1909) oder der Hausenstein’schen Ausgabe (1916), der auf der Edition von Karl Emil Franzos basierte. Der Held Uotzekku musste also in der Doktor-Szene noch seine Zunge zeigen wie in Alban Bergs Oper Wozzeck, und nicht sich den Puls fühlen lassen, wie es eigentlich sein sollte. Die Übersetzung von Dantons Tod ist nicht in vier, sondern in drei Akte unterteilt. Dem Buch ist eine Notiz von Kihachi Kitamura8 mit dem Titel Georuku byuhineru no shōgai to gikyoku (Georg Büchners Leben und Dramen) beigegeben. Darin findet sich der Hinweis, dass es für den Namen des Titelhelden noch eine andere Lesart gebe, nämlich Uoitzekku. Der Verfasser bemerkt, Büchner sei ein »klassischer Schriftsteller« und »mit dem Aufstieg des Expressionismus wieder auferstanden«. Kitamura, der damals Dramaturg an einem japanischen Theater war, bezeichnet ihn als den Wegbereiter des Expressionismus. Auch über die komplizierte Überlieferungssituation des Woyzeck wird hier ausführlich berichtet, was sich, wie bereits erwähnt, im übersetzten Text jedoch nicht niederschlägt. Zudem ist auf der Titelseite vor dem Dramentext, wo sich in japanischer Schrift Uotsekku zusammen mit der Gattungsbezeichnung higeki (Tragödie) in Klammern abgedruckt findet, auf widersprüchliche Weise Woyzeck in lateinischer Schrift dargestellt. Der Name Büchner wurde hier als Byuhinaa transkribiert. (Im Inhaltsverzeichnis steht außerdem hinter dem Titel Uotsekku in Klammern der Zusatz danpen [Fragment], was mit der Gattungsbezeichnung higeki, also Tragödie, ohne Erklärung des Überlieferungshintergrunds wiederum im

|| 7 Der Name des Übersetzers soll ein aus zwei russischen Familiennamen zusammengesetztes Pseudonym sein, nämlich aus Kropotkin (Pjotr Alexejewitsch) für den Familiennamen Kuroda und Lenin (Wladimir Iljitsch) für den Vornamen Reiji. Kuroda (eigentlich Morimichi Okanoe, 1890−1943) hatte sich seit 1920 in Deutschland aufgehalten und war hauptberuflich als Journalist und auch als Übersetzer tätig. Als Korrespondent interviewte er 1931 Adolf Hitler. Sein Artikel über dieses Interview fand sich in der Zeitung Asahi im Dezember des gleichen Jahres in großer Länge und an prominenter Stelle abgedruckt. Kuroda schrieb damals für verschiedene weitere Zeitschriften zahlreiche Artikel, in denen er die nationalsozialistische Strömung in Deutschland verherrlichte, und trug auf diesem Wege zur Verbreitung dieses Gedankenguts in Japan bei. 8 Kihachi Kitamura (1898−1960) war Regisseur, Dramatiker und Übersetzer.

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Widerspruch steht). Die Übersetzungen von Kuroda weisen außerdem Auslassungen auf, die vermutlich auf Nachlässigkeit beruhen. Außerdem finden sich im Rollentext für Marion auch mit Blockaden unkenntlich gemachte Textstellen. Die beiden Dramen sind im 13. Band der insgesamt 40-bändigen Sammelausgabe Sekai-gikyoku-zenshū (Gesammelte Theaterstücke aus aller Welt) enthalten. Ziel dieser Ausgabe war es, dem japanischen Publikum die internationale Dramenliteratur von der Antike bis zur Gegenwart vorzustellen. Außer den beiden Büchner’schen Dramen enthielt der Band auch Prinz Friedrich von Homburg von Heinrich von Kleist (1777−1811), Der Erbförster von Otto Ludwig (1813−1865) und drei Werke von Friedrich Hebbel (1813−1863), nämlich Judith, Maria Magdalena sowie Gyges und sein Ring. Der Band konzentrierte sich auf deutsche Dramenklassiker und bildete den dritten von insgesamt elf Bänden, die deutsche und österreichische Dramen vorstellten. Büchners Werke befinden sich in diesem Band hinter Ludwig und Kleist und vor Hebbel.9 1941, kurz vor dem Ausbruch des Pazifischen Krieges im Dezember desselben Jahres, erschien die erste Sammelausgabe von Büchners Werken in Tokio (Shinchō-sha-Verlag). Der Titel des Bandes lautete Danton no shi und enthielt außer Dantons Tod auch Lenz, Leonce und Lena sowie Woyzeck. Erwähnt sei hier, dass dies die erste Veröffentlichung von Leonce und Lena in Japan war. Der Übersetzer Shigetaka Aoki, ein Germanist, merkt in seinem Vorwort an, dass der Lenz unvollendet geblieben sei. Auf die Überlieferungssituation der Woyzeck-Fragmente geht er allerdings nicht ein. Er betont jedoch, dass Büchner erst in jüngster Zeit unter »nationalen Gesichtspunkten« überprüft worden sei und seine literarischen Werke auch in dieser Hinsicht erneut Hochschätzung gefunden hätten. Er zitiert in diesem Zusammenhang den deutschen Germanisten Walther Linden und sein Buch Die Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart (1937).10 Die meisten namhaften japanischen Germanisten standen übrigens zu dieser Zeit der vorherrschenden nationalistischen Strömung in Japan durchaus positiv gegenüber.

|| 9 Der Band enthielt eine Abbildung mit der Bildunterschrift »Uoitsekku. Chekko no hofumansōchi« (»Woyzeck. Bühnenausstattung von Hoffmann aus der Tschechoslowakei«) und ein Szenenfoto betitelt als »Danton no shi (Rainharuto-enshutsu)« (»Dantons Tod. [Inszenierung von Rheinhardt]«). 10 Linden stand dem Nationalsozialismus nahe und attestierte Büchner, den »Gedanke[n] vom unmittelbaren, triebhaft-unbewußten Leben, der nun von allen idealistischen Formulierungen befreit ist«, bis zur »abgründigste[n] Tiefe« weitergeführt zu haben (Walther Linden: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig 1937, S. 370).

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Bei Aokis Übersetzung sind alle Werke mit Anmerkungen versehen. Angehängt findet sich auch eine Chronik mit Daten über Büchners Leben, zeitgenössische Schriftsteller und die politisch-sozialen Verhältnisse in Europa zu Büchners Lebzeiten. Als Vorlagen für die Übersetzung hatten hauptsächlich die Texte aus Bergemanns neuerer Ausgabe Werke und Briefe, 1926 oder 1940 gedient. Für den Woyzeck wurde der von Ernst Hardt edierte Text Woyzeck. Eine Tragödie (InselBücherei, Nr. 92) herangezogen. Als Grund für diese Entscheidung gab Aoki an, dass dort die Regieanweisungen konkreter und die Szenenanordnung plausibler seien. Hier zeigt sich, dass beim Edieren noch keineswegs historisch-kritisch vorgegangen wurde. Im Nachwort des Übersetzers findet sich auch der Hinweis, dass einige Stellen in der Übersetzung von Dantons Tod und Woyzeck ausgelassen worden waren, weil sie ihm als zu anzüglich erschienen. Die nächste Übersetzung entstand 1949, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das im Taschenbuchformat in Tokio (Nihon-hyōron-sha-Verlag) erschienene Buch in der Serie Sekai-koten-bunko (Bücherei der Klassik der Welt, Nr. 107) enthielt Der Hessische Landbote, Dantons Tod und Woyzeck. Der Hessische Landbote wurde mit dieser Übersetzung zum ersten Mal dem japanischen Publikum zugänglich gemacht. In der Nachkriegszeit erschienen in Japan zahlreiche Publikationen, darunter auch Übersetzungen literarischer Werke und politischer Schriften aus aller Welt, die vor bzw. in der Kriegszeit wegen ihrer abweichenden Gesinnung nicht veröffentlicht werden durften. Der Übersetzer, der Germanist Etsuji Ikumi, beschreibt Büchner in seinem Vorwort als einen revolutionären Schriftsteller, der, wenngleich kein Sozialist, durchaus ein ernsthafter Materialist gewesen sei. Auch als revolutionärer Demokrat wurde der Dichter dargestellt, wobei zur Bekräftigung dieser Aussage Georg Lukács (1885−1971) zitiert wurde. Die Werke sind sämtlich mit Anmerkungen versehen. Der Kommentar enthält auch Zitate aus Büchners Briefen. Die Vorgehensweise bei der Edition folgt derjenigen des Übersetzers der vorangehenden Ausgabe, allerdings ohne die seinerzeit vorgenommenen zensierenden Eingriffe. Ikumi weist darauf hin, dass sein Vorgänger Aoki diese Streichungen vorgenommen habe, weil die entsprechenden Stellen für die damalige Zeit nicht passend waren. Die Auslassungen seien nach seiner Meinung jedoch ein wenig übertrieben gewesen. Sowohl die ersten Übersetzungen in den 20er Jahren als auch die beiden in den 40er Jahren sind der Gruppe der älteren Übersetzungen zuzuordnen. Sie erlebten weder eine zweite Auflage noch führten sie zu einer Aufführung auf der Bühne.

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2 In den 50er Jahren war keines von Büchners Werken im Buchhandel erhältlich. Erst 1964 wurde eine neue Übersetzung des Lenz veröffentlicht. Sie findet sich in einem Band der 17-bändigen Sammelausgabe Sekai-tanpenbungaku-zenshū (Gesammelte Novellen der Welt). Bei dieser Übersetzung des Germanisten Tomio Tezuka wurde der Lenz zu Kurutte yuku Rentsu (Lenz, der verrückt wird). Die Vorlage bildete wahrscheinlich der Text in Bergemanns neuerer Edition nach 1949. Diese Novellenausgabe wurde und wird noch heute in geänderter Form nachgedruckt. 1970 erschien die Ausgabe Georuku-byūhinā-zenshū (Georg Büchners gesammelte Werke in einem Band) in Tokio (Kawade-shobō-shinsha-Verlag). Der Band wurde von den beiden Germanisten Tomio Tezuka und Tatsuji Iwabuchi sowie dem Schauspieler und Regisseur Koreya Senda11 herausgegeben. Das Buch besteht aus sieben Teilen: 1. Dramen und Erzählungen: Dantons Tod, Leonce und Lena, Woyzeck und Lenz (jeweils mit Paralipomena), 2. Politische Schriften (Der Hessische Landbote und Dokumente), 3. Gedichte, Essays, Aufsätze, Reden, 4. Briefe (von und an Büchner), 5. Naturwissenschaftliche Schriften, 6. Erinnerungen an Büchner, 7. Büchner und die Gegenwart. Bei der Anfertigung der einzelnen Übersetzungen waren neben dem Regisseur elf Germanisten und auch ein Anatom beteiligt; denn Büchners Doktorarbeit über das Nervensystem der Barben war ebenfalls aufgenommen worden. Teil sieben enthält Hans Mayers Aufsatz Georg Büchners ästhetische Anschauungen, und auch die Dankreden von sechs Georg-Büchner-Preisträgern sind dort zu lesen: Es sind dies Paul Celan, Hans Erich Nossack, Walter Jens, Wolfgang Hildesheimer, Golo Mann und Siegfried Melchinger. Zahlreiche Anmerkungen, eine längere Erläuterung zu Büchners Werken, eine Kurzbiographie, eine Chronik und auch eine Bibliographie wurden angehängt. Mit diesem Band wurden

|| 11 Koreya Senda (auch Korenari Senda, eigentlich Kunio Itō, 1904−1994) hielt sich von 1927 bis 1931 in Deutschland auf. Nach seiner Rückkehr brachte er als Schauspieler und Regisseur verschiedene deutsche Theaterstücke auf die japanische Bühne. Er war 1964 auch für die Uraufführung des Woyzeck in Tokio verantwortlich. Bei dieser Auffürung spielte Shōichi Ozawa (1929−2012) den Titelhelden.

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Büchner und seine Werke dem japanischen Lesepublikum zum ersten Mal in vollem Umfang vorgestellt. Der Übersetzung lagen verschiedene deutsche Ausgaben zugrunde, darunter auch die von Werner R. Lehmann 1967 herausgegebene. Bei Lenz handelte es sich allerdings um die verbesserte Wiederaufnahme des Textes aus der oben genannten Novellenanthologie von 1964. Die Ausgabe betonte die Aktualität und die Gegenwartsbezogenheit der Büchner’schen Werke. Sie führte zu einigen Theateraufführungen von Woyzeck12 in den 70er und 80er Jahren sowie später auch von Leonce und Lena13 und galt lange Zeit als Standardübersetzung. Die Büchner-Forschung der 70er und 80er Jahre lieferte jedoch zahlreiche neue Ergebnisse, sodass die Texte und Kommentare der Gesamtausgabe bald nicht mehr als wissenschaftlich fundiert betrachtet werden konnten. Nach der zweiten, leicht korrigierten Auflage von 1986 erfolgte kein Nachdruck. 2006 wurde dann eine neu ausgestattete Neuauflage mit einem neuen Nachwort herausgegeben.

|| 12 Unter den Woyzeck-Aufführungen in Japan sei hier exemplarisch auf die von Makoto Satō inszenierten hingewiesen. Der Regisseur Satō inszenierte das Drama 1977 für das Marionettentheater Yūki-za in Tokio und auch ab 1984 mehrere Male mit der Theatergruppe 68/71 Kurotento (68/71 Schwarzes Zelt; der Name Kurotento leitet sich von dem großen schwarzen Zelt ab, das der Theatergruppe als mobiles Theater für ihre Aufführungen diente und mit dem sie durch ganz Japan zog. 1990 wurde die Gruppe, zu deren Gründern auch Satō gehörte, zu Kurotento umbenannt.) Satō benutzte als Vorlage für die Bühnenfassung zuerst die Übersetzung des Germanisten Keiichi Uchigaki in der Gesamtausgabe von 1970 und dann ab 1984 den von dem Germanisten Toshiaki Asano übersetzten Text nach der Ausgabe von Lothar Bornscheuer (1972). Auch die von Büchner gestrichenen Szenen aus den Erläuterungen und Dokumenten Bornscheuers sollten nach Asanos Aussage bei Inszenierungen berücksichtigt und zum Teil in die Handlung einbezogen werden.) 13 Leonce und Lena wurde 2005 in Kitakyūshū von der damals dort ansässigen Theatergruppe Uzume-gekijō uraufgeführt. Die Aufführung fand auch in Tokio statt. Inszeniert wurde die Komödie von Tomo Fujisawa und Peter Gößner. Die Bühnenfassung wurde von Fujisawa und Gößner verfasst, wobei die Übersetzungen von Iwabuchi (Gesamtausgabe 1970) und dem Germanisten Mitsuo Iiyoshi auch herangezogen wurden. Hierzu vgl. Kenji Sanada: Uzume-gekijoTōkyō-kōen (Aufführung des Uzume-Theaters in Tokio) auf der Homepage der japanischen Gesellschaft für Germanistik (http://www.jgg.jp/modules/kolumne/details.php?bid=10). Bei Iiyoshis Übersetzung handelt es sich vermutlich um die in einem Literatur-Sonderheft der Monatsschrift Chūō-kōron (1990, Nr. 9, S. 10−37) veröffentlichte. Der Kommentar des Übersetzers ist dort ebenfalls abgedruckt. Er merkt darin an, dass er bei der Übersetzung von Leonce und Lena besonders darauf geachtet habe, den Text einzig vom Hören her gut verständlich zu gestalten (ebd., S. 117). In diesem Sonderband wird Büchner auch als Wegweiser der Gegenwartsliteratur hervorgehoben. Die Übersetzungen von Dantons Tod und Lenz sind hier ebenfalls enthalten. Die Vorlagen zu den Übersetzungen sind allerdings nicht angegeben.

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Ich kehre nun noch einmal zum Anfang der 70er Jahre zurück. Gleich nach der Gesamtausgabe erschien 1971 die Übersetzung der von Enzensberger kommentierten Ausgabe des Hessischen Landboten (Büchner / Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Briefe, Prozessakten. Kommentiert von Hans Magnus Enzensberger, 1965). Das von Mitsuaki Mori übersetzte Buch lautet auf Japanisch Kakumei no tsūshin – Hessen no kyūshi (Nachrichten über die Revolution. Der Hessische Landbote). Ludwig Weidig wird in Japan hier zum ersten Mal als Mitautor der Schrift genannt. Auch die November-Fassung des Hessischen Landboten findet sich hier erstmalig in japanischer Übersetzung. In seinem Kommentar weist der Übersetzer auf die Bedeutung Büchners und seiner Schriften aus politisch-sozialer Sicht hin. Eine neue Übersetzung von Dantons Tod erschien 2000 in einer Dramen-Anthologie mit dem Titel Besuto Pureizu (Best Plays). Der Untertitel lautet, wörtlich übersetzt, Zwölf ausgewählte europäisch-klassische Dramen. Herausgeber war eine Unterorganisation der Japanischen Gesellschaft für Theater-Forschung. Das Buch war gedacht als Lehr- bzw. Lesebuch für Studierende der Theaterwissenschaft. Es enthält weder Anmerkungen noch Kommentare. Der Germanist Iwabuchi merkte hierzu im Nachwort zu seiner späteren Sammelausgabe (siehe weiter unten) an, dass er den Versuch, den Text ohne Anmerkungen anzubieten, durchaus interessant finde, da ein Bühnentext streng genommen ja nicht mit Anmerkungen versehen sein könne. Dantons Tod stand in dieser Anthologie stellvertretend für die deutsche Dramatik, und zwar zusammen mit Schillers Räubern. Das Buch erlebte mehrere Nachdrucke und wurde 2011 als verbesserte und um kurze Erläuterungen zu den Verfassern und Werken sowie eine Chronik erweiterte Ausgabe neu aufgelegt. In der Erläuterung zu Dantons Tod beleuchtet der Übersetzer Yoshiteru Yamashita das Drama und seine Mischung aus Übernahmen und Fiktion aus theaterwissenschaftlicher Sicht. Nun kehren wir wieder in das Jahr 2006 zurück. In demselben Jahr wie die Neuauflage der Gesamtausgabe erschien eine neue Taschenbuchausgabe mit dem Titel Voitsekku, Danton no shi, Rentsu (Woyzeck, Dantons Tod, Lenz)14 in Tokio (Iwanami-shoten-Verlag). Die Anmerkungen und auch der Kommentar des Übersetzers Tatsuji Iwabuchi spiegeln seine Erfahrungen als außerordentlich engagierter Germanist und leidenschaftlicher Theatermensch wider und

|| 14 Diese Ausgabe erschien im Rahmen der Iwanami-bunko (Iwanami-Bibliothek), der ältesten Bücherserie im kleinen Taschenbuchformat in Japan, die 1927 nach dem Vorbild der UniversalBibliothek des Reclam-Verlags gegründet wurde.

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stellen somit eine wichtige Quelle für die Editions- und die Rezeptionsgeschichte Büchners in Japan dar. Iwabuchi gibt hier auch seinem Bedauern Ausdruck, dass Dantons Tod bis dato in Japan nie auf die Bühne gebracht wurde. Er betonte dabei, dass es falsch wäre zu glauben, Dantons Tod sei nicht mehr zeitgemäß. Es sei kein Revolutionsdrama, sondern ein Drama über die Fatalität der Geschichte und als solches noch immer aktuell, wie dies ja auch die immer wieder unternommenen Neuinszenierungen in Deutschland bezeugten. Er sei sich jedoch zu seinem Bedauern auch sicher, dass Dantons Tod in Japan wohl nie zur Aufführung kommen würde.15 Im November 2011 erschien die derzeit neueste Büchner-Ausgabe, Georuku Byūhinā-zenshū. An der zweibändigen Gesamtausgabe arbeiteten insgesamt 12 Mitglieder der Georg Büchner Gesellschaft Japan mit. Diese neueste japanische Ausgabe mit ihren zahlreichen Erläuterungen und Dokumenten verdankt der Marburger Ausgabe sehr viel. Büchners literarische Werke wurden von Kōji Taniguchi übersetzt.16 Die Erläuterungsteile dazu stammen ebenfalls von ihm. Für in der Marburger Ausgabe noch nicht vorliegende Dokumente wurde entweder die Münchner oder die Poschmann’sche Ausgabe herangezogen. Bei der Quellensammlung zu Dantons Tod fügt Taniguchi den bisherigen Untersuchungen vier weitere Quellen hinzu: Friedrich Schillers Räuber, Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation und Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution sowie Denis Diderots Correspondance.17

|| 15 Im ergänzenden Nachwort für die zweite Auflage seiner Taschenbuchausgabe erwähnt Iwabuchi 2008 ein von M. Satō inszeniertes Bühnenstück Über Dantons Tod, das einige Monate zuvor im gleichen Jahr von dessen Theatergruppe Kamome-za aufgeführt wurde. (Bei der Erstellung des Bühnentextes durch den Regisseur Satō wirkte der Germanist Hiroaki Nakajima mit.) Ob diese Aufführung mit namenlosen Personen (drei als 1, 2, und 3 bezeichnete Männer, eine Frau, eine als Maus/Ratte verkleidete Person und die auf Kassette aufgezeichneten Stimmen von drei Männern und einer Frau) als die japanische Uraufführung eines Büchnerschen Dramas betrachtet werden kann, mag zu bezweifeln sein. Der originale Text war stark reduziert, während Zitate aus Walter Benjamins und Heiner Müllers Schriften sowie vom Regisseur selbst verfasste Texte hinzugefügt wurden. Iwabuchi räumte zwar ein, es sei wohl durchaus eine Aufführung von Dantons Tod, betonte aber gleichzeitig, dass diese Inszenierung Büchner keinesfalls gerecht werde. 16 Zu Woyzeck schlägt Taniguchi eine eigene mögliche Endfassung vor, bei der als Basis die Münchner Ausgabe dient und auch einige Szenen der Poschmann’schen Version mit einbezogen sind. Die zwei letzten Szenen sind z. B. danach geordnet. Der Übersetzer übernimmt dabei die Lesarten und die Szenenbezeichnungen der Marburger Ausgabe. 17 Bei den von Taniguchi hinzugefügten vier Quellen zu Dantons Tod handelt es sich um:

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In dem von Hiroshi Kaneda verfassten Kommentar zu den Briefen von und an Büchner findet sich der Hinweis, dass als Ausgangspunkt grundsätzlich die Münchner und die Poschmann’sche Edition benutzt wurden, gelegentlich aber auch die Hauschild’sche Briefausgabe. Von den Mitarbeitern der Marburger Forschungsstelle Georg Büchner habe man hinsichtlich der Datierungen, Lesarten und Interpretation viele wichtige Hinweise erhalten, und zwar noch vor der eigentlichen Publikation des betreffenden Bandes. Die Briefe seien nach ihrer Datierung geordnet. So sind nun Büchners Werke und Schriften, dem derzeitigen Stand der Büchner-Forschung entsprechend, auch dem japanischen Lesepublikum zugänglich. Die Voraussetzungen sind nun erfüllt, damit die Leser ihr eigenes Urteil über Büchner und seine Werke bilden können. Wie der nun wieder aktualisierte Büchner in Japan aufgenommen wird, bleibt abzuwarten. Aber ein Zitat aus einer Rezension weist vielleicht in eine neue Richtung. Dort heißt es: »Wenn wir auf solche Worte (d. i. die im Hessi-

|| 1. I/5 Fichtes Einfluss auf die Figur Marion (MBA 3.2, S. 18−20, Repl. 117) 1.1 Johann Gottlieb Fichtes sämtliche Werke. Berlin 1845−46. Bd. 7: Reden an die deutsche Nation, S. 302: »So lange der Mensch fortfährt also sich zu verstehen, so lange muss er selbstsüchtig handeln, und kann nicht anders; und diese Selbstsucht ist das einige Beharrende, sich Gleichbleibende und sicher zu Erwartende in dem unaufhörlichen Wandel seines Lebens.« 1.2 ebd., Bd. 6. Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution, S. 89: »Ohne die Ausübung des ersteren [d. i. der Sinnlichkeit] könnte er auch nicht einmal wollen; seine Handlungen würden durch Antriebe ausser ihm, wie sie auf seine Sinnlichkeit wirken, bestimmt; er wäre ein Instrument, das zum Einklange in das grosse Concert der Sinnenwelt gespielt würde, und jedesmal den Ton angäbe, den das blinde Fatum auf ihm griffe.« 2. I/5, Text zu Lacroix (MBA 3.2, S. 20, Repl. 127) Friedrich Schiller: Räuber. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1988, S. 70f.: II/3 Spiegelberg. [...] Wir gehen weiter von Zelle zu Zelle, [... ] und meine Kerls haben ihnen ein Andenken hinterlassen, sie werden ihre neun Monate dran zu schleppen haben. 3. III/7, Text zu Danton (MBA 3.2, S. 64, Repl. 517) Diderots Brief an die Geliebte Sophie Volland vom 15.10.1759, in: Denis Diderot: Correspondance. Tome 2. Paris 1956, S. 284: »O ma Sophie, il me resteroit donc un espoir de vous toucher, de vous sentir, de vous aimer, de vous chercher, de m’unir, de me confondre avec vous, quand nous ne serons plus! S’il y avoit dans nos principes une loi d’affinité; s’il nous étoit réservé de composer un être commun, si je devois dans la suite des siècles refaire un tout avec vous, si les molécules de votre amant dissous venoient à s’agiter, à se mouvoir et à rechercher les vôtres éparses dans la nature! Laissez-moi cette chimère; elle m’est douce; elle m’assureroit l’éternité en vous et avec vous.« Vgl. Kōji Taniguchi: Danton no shi Tenkyo-shū (Quellensammlung zu Dantons Tod). In: GeorukuByūhinā-zenshū. Nagano (Chōei-sha-Verlag) 2011, Bd. I, S. 319, 323, 334.

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schen Landboten geübte Kritik am Beamtentum) stoßen, werden wir Japaner auch noch nach 200 Jahren gezwungenermaßen verlegen lächeln müssen.«18 Also eine ganz direkte Bezugnahme auf Japan. Von den Japanern, die durch ihre Erfahrungen nach der Dreifachkatastrophe im März 2011 etwas klüger geworden sein dürften, wäre zu erwarten, dass sie die Verhältnisse der unterdrückten Bauern im Großherzogtum Hessen-Darmstadt etwas besser verstehen als früher. Die Zeiten sind heute selbstverständlich ganz anders; Japan hat sein feudales System längst aufgegeben, aber dass Daten, die sich für die Regierung ungünstig auswirken, verheimlicht werden können und letztlich auch tatsächlich verheimlicht wurden, wissen sie nun − zwar nicht alle, aber eine nicht mehr zu übersehende Zahl von ihnen. Sie fühlen sich von der Regierung und der Presse hinters Licht geführt, da sie über die Gefahren der radioaktiven Verseuchung nicht richtig informiert wurden. Dieser Zustand hält, wie sich herausgestellt hat, bis heute an. So gesehen könnte die Rezeption von Büchner und seinen Werken in Japan gerade jetzt einen neuen Anfang finden. Zuletzt sei noch gezeigt, dass einige Textstellen aus älteren Übersetzungen in ihrer ursprünglichen Form fortleben. Dies trifft unter anderem auf Gedichte zu. Ich möchte Ihnen hier ein japanisches Gedicht vorstellen, das von einem Dichter in freien Versen verfasst wurde. Einige Zeilen geben eine Textstelle von Leonce und Lena wieder. Weißt du auch ... heißt das Gedicht. Hiroshi Osada (*1939): Weißt Du auch ... Sich über das Leben Gedanken machen, bringt doch nichts. Höchstens nur Dreck, sonst nichts. Ins Ohr von einem, der nichts hören wollte, gelangen die Worte, die in mildem Ton hervorgebracht waren, jetzt endlich, nach langen 30 Jahren; am Tag der Trauerfeier meines alten Lehrers. Jene an grünen Tagen im Klassenraum der Uni in sanftem Ton vermittelten harten Worte. Die Worte des im Alter von nur 23 Jahren dahingegangenen Darmstädter Dichters, daß selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben des Menschen noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können.19

|| 18 Mainichi-Zeitung v. 19. 8. 2012. Rezensiert von Takao Tomioka (Anglist). 19 Das Gedicht wurde zuerst 1994 mit dem Titel Kyūshi no shi (Der Tod des alten Lehrers) in Osadas Gedichtsammlung Sekai wa issatsu no hon (Die Welt ist ein Buch). definitive edition in

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Als Quelle für dieses Gedicht hat Osada in seinem Kommentar die Gesamtausgabe von 1970 angegeben. Die Zeilen der sechsten und siebten Strophe sind allerdings nicht wörtlich aus der angegebenen Quelle zitiert. Der Dichter veränderte den Wortlaut der Übersetzung leicht – und ist dabei sogar originalgetreuer. Vergleicht man als Muttersprachler die vier vorgelegten japanischen Versionen mit Osadas Text, so gewinnt man den Eindruck, dass seine Sätze mit ihrem prägnanten rhythmischen Stil deutlich geeigneter für ein Rezipieren sind. Iwabuchis Annahme (2006) – vorausgesetzt, sie trifft zu −, dass Dantons Tod in Japan womöglich nicht mehr als zeitgemäß angesehen wird, dürfte nicht der alleinige Grund dafür sein, dass das Stück in Japan noch nicht auf die Bühne gelangt ist. Was eine Aufführung schwierig macht, ist meines Erachtens nicht nur die in dem Stück behandelte Problematik, sondern auch die Sprache, die auf der Bühne gesprochen und als Gesprochenes vernommen werden sollte. Ist nämlich eine Aufführung auf der Bühne geplant, sollte sich der Übersetzer mit einem Dramaturgen oder Dramatiker zusammentun, um den übersetzten Text bewusst als Bühnensprache zu gestalten. Eine solche Zusammenarbeit ist bei Theateraufführungen keineswegs ungewöhnlich. Ich selbst hoffe und wünsche mir sehr, dass die nach langen Vorbereitungen endlich erschienene neue Ausgabe zu einer solchen Zusammenarbeit auch bei Dantons Tod führen wird.

|| Tokio (Shōbun-sha-Verlag, S. 21ff.) veröffentlicht. 2010 kam die zweite veränderte Fassung in der revidierten Ausgabe (Tokio, Misuzu-shobō-Verlag, S. 30f.) heraus. Der Dichter Hiroshi Osada studierte Germanistk bei Hideo Nakamura, der zu den Übersetzern der Gesamtausgabe von 1970 gehörte. Sein Tod im Jahre 1988 veranlasste Osada, das zitierte Gedicht zu verfassen. – Das Zitat stammt aus Leonce und Lena, III/1: »Weißt Du auch, Valerio, daß selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können?«

Anschriften der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Arnd Beise, Departement für Sprachen und Literaturen, Germanistik, av. de l’Europe 20, 1700 Fribourg, SCHWEIZ Prof. Dr. Roland Borgards, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg Prof. Dr. Enrico De Angelis, Univ. degli Studi di Pisa, Dip. di Linguistica »Tristano Bolelli«, Fac. di Lingue e Lett. Straniere, Via Santa Maria, 85, 56126 Pisa, ITALIEN Prof. Dr. Heinrich Detering, Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Deutsche Philologie, Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen Nora Eckert, Barbarastr. 26, 12249 Berlin Prof. Patrick Fortmann (PhD), Department of Germanic Studies, University of Illinois at Chicago, 601 South Morgan Street (MC 315), 1722 University Hall Chicago, IL 60607, USA Joachim Franz (M.A.), Seminar für deutsche Philologie der Universität Mannheim, 68131 Mannheim Prof. Dr. Alfons Glück, Alte Höhle 23, 35083 Wetter Matthias Gröbel, Gutenbergstr. 6, 64342 Seeheim-Jugenheim Dr. Jan-Christoph Hauschild, Alter Eistreff 24, 44789 Bochum Dr. Sebastian Kaufmann, Forschungsstelle »Nietzsche-Kommentar«, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg i. Br. Prof. Dr. Martina Lauster, Department of German, University of Exeter, Queen’s Building, The Queen’s Drive, Exeter, EX4, 4QH, GROSSBRITANNIEN Prof. Uneme Nakamura, Waseda University, Faculty of Creative Science and Engineering, Division of Socio-Cultural Studies, 3-4-1 Okubo, Shinjuku-ku, Tokyo, 169-8555, JAPAN Priv.-Doz. Mag. Dr. Christian Neuhuber, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Germanistik, Mozartgasse 8, 8010 Graz, ÖSTERREICH Gérard Raulet, Professeur à l'Université Paris-Sorbonne, Centre universitaire Malesherbes, 108, boulevard Malesherbes, 75017 Paris, FRANKREICH Prof. Dr. Simonetta Sanna, Univ. degli Studi di Sassari, Dip. di Scienze dei Linguaggi, Fac. di Lingue e Lett. Straniere, Via Roma, 151, 07100 Sassari, ITALIEN Prof. Dr. Dr. Yvonne Wübben, Freie Universität Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin