Genre, Gender und Lustmord: Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa [1. Aufl.] 9783839416051

Obwohl er in Kriminalpsychiatrie und Kriminologie als analytische Kategorie längst diskreditiert ist, wird der Lustmord

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German Pages 380 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Methoden
LUSTMORDDISKURS
Überblick
Definition und Diskurse
Theoretische Diskurse
Ästhetische Diskurse
Definitionsversuch
LEKTÜRENTEIL
LUSTMORD UND KUNST
Lustmord und androgyner Künstler
Die Geschichte eines olfaktorischen Lustmörders
Forschungsstand
Roman-Pastiche, Täter und Lustmord
Das Subjekt der Macht
Parfum als Kunst- und Kulturmanufaktur
Parfumproduktion als Werdegang des Männlichen
Parfum als Phallus
Fazit
Kunstproduktion jenseits der Geschlechterdifferenz
Die Geschichte eines Körpers
Forschungsstand
Novelle, Opfer und Lustmord
Die Sprache und ihr Subjekt
Heilige Mutter und mechanische Frau
Das ‚Reale‘ als Theater
Lustmord als Voraussetzung der Kunst
Fazit
Lustmord und männliche Subjektivität
Vorspiel
Novelle, männliche Identität und Lustmord
Konventionelle und alternative Geschlechterordnungen
Das Präödipale als Produkt des Ödipalen
Fazit
Die Lustmörderin als Produkt männlicher Kunst
„Wenn die Frauen zu sehr morden …“
Forschungsstand
Psychothriller, Täterin und Lustmord
Intertexte und Lustmordinversionen
Kulturschaffende Männer
Mörderische Frauen
Fazit
LUSTMORD UND ÖKONOMIE
Lustmord und Konsumgesellschaft
„Wahrscheinlich wäre ich ein Lustmörder“
Forschungsstand
Trivialmythen
Subversive Affirmation
Dekonstruktion des Unterhaltungsromans
Begehren als zerstörerische Konsumgier
Ökonomie der Geschlechterordnung
Fazit
Lustmord und Korruption
Korrupte Exekutive
Kriminalroman, männliche Identität und Lustmord
Das Unheimliche als narrative Struktur
Das versehrte männliche Subjekt
Der symbolische Vater als Lustmörder
Die Protagonisten als Lustmörder
Fazit
LUSTMORD UND GESCHICHTSAUFARBEITUNG
Lustmord und Nationalsozialismus
„Der alltägliche Schrecken“
Forschungsstand
Dokumentarischer Kriminalroman, Vielfalt der Gender-Perspektiven und Lustmord
Die Geschlechterrhetoriken des Erinnerungsdiskurses
Weiblichkeit als Verkörperung des Volkes
Täter als Leerstelle
Lustmord als entstellte Erinnerung
Fazit
Lustmord, Justiz und Ost-West-Teilung
Lustmord im anatomischen Theater Hettches
Forschungsstand
Metakriminalroman, binäre Geschlechtermatrix und Lustmord
Das Panoptikum als Organisationsform des Romans
Diskursivierung der Geschlechterdifferenz
Fazit
RESÜMEE
Kulturhistorische Entwicklung
Genre und Lustmord
Gender und Lustmord
Funktion des Lustmordes im literarischen Text
Bibliografie
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Filme
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Genre, Gender und Lustmord: Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa [1. Aufl.]
 9783839416051

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Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord

Lettre

Irina Gradinari (Dr. phil.) lehrt Germanistik und Slavistik an der Universität Trier. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gender Studies, der Psychoanalyse, den Erinnerungstheorien und der komparatistischen Literaturanalyse. Ihr besonderes Interesse gilt den Kultur- und Filmwissenschaften.

Irina Gradinari

Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa

Die vorliegende Arbeit wurde 2009 als Dissertation im Fachbereich II der Universität Trier vorgelegt und im Jahr 2010 verteidigt. Der Abschluss der Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium (2006-2008) des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Silvia Pontes Satz: Dr. Andreas Heuer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1605-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Die Gewalt rundweg abzulehnen, sie als „böse“ zu verdammen, ist eine ideologische Operation und Mystifizierung, die dazu dient, die fundamentalen Formen der gesellschaftlichen Gewalt unsichtbar zu machen. SLAVOJ ŽIŽEK/GEWALT – SECHS ABSEITIGE REFLEXIONEN, S. 179.

Danksagung

Diese Arbeit ist allen Personen gewidmet, die mich auf meinem bisherigen Weg ermutigt und unterstützt haben. An erster Stelle möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Franziska Schößler für die gute wissenschaftliche Betreuung meiner Dissertation bedanken. Mein Dank gebührt ihr für die produktiven Kolloquien, die vielen fruchtbaren Anmerkungen und Korrekturen sowie die große Unterstützung im Endstadium meines Dissertationsprojektes. In diesem Kontext bedanke ich mich auch bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kolloquien für die kritischen Auseinandersetzungen mit meinem Thema. Des Weiteren gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Herbert Uerlings für die inhaltlich sehr hilfreiche Veranstaltung Literatur und Verbrechen und für die wissenschaftliche Diskussion der in meiner Dissertation untersuchten Prosawerke. Ein großes Dankeschön geht an alle an meinem Dissertationsprojekt Beteiligten für ihre Bereitschaft, mir über die aus meiner russischen Muttersprache erwachsene Sprachbarriere, hinwegzuhelfen, besonders an Herrn Dr. Frank Meyer und Frau Agnes Schindler aus dem Graduiertenzentrum der Universität Trier, die mich mit freundlichen Ratschlägen und der Bereitstellung von Korrekturhilfen unterstützt haben. Herzlichen Dank möchte ich auch allen meinen Korrektorinnen und Korrektoren, von denen ich besonders Silvia Pontes, Franziska Bergmann und Dr. Christoph Groß für ihr großes Engagement herausheben möchte, aussprechen, die meiner Arbeit stilistische und grammatikalische, zuweilen auch inhaltliche Verbesserungen angedeihen lassen haben. Ohne das Stipendium der DAAD, das mir den Abschluss der Arbeit finanziert hat, wäre die Fertigstellung dieser Dissertation weiter verzögert worden – deshalb einen herzlichen Dank an den DAAD und Frau Gretlies Haungs.

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Für den in Anbetracht der Thematik meiner Arbeit notwendigen medizinischen und psychologischen Sachverstand, die philosophischen Diskussionen sowie die kritische Lektüre meiner Texte möchte ich mich herzlich bei Frau Dr. Eva Maria Phieler bedanken. Ein herzlicher Dank geht im Weiteren auch an alle, mit denen ich die kriminologischen und historischen Aspekte meiner Arbeit besprechen konnte. Abschließend bin ich auch Herrn Dr. Andreas Heuer für die unermüdliche, aufopferungsvolle und motivierende Unterstützung zu großem Dank verpflichtet.

Inhalt Einleitung | 13 Methoden | 23

LUSTMORDDISKURS Überblick | 29

Definition und Diskurse | 31 Theoretische Diskurse | 37 Ästhetische Diskurse | 69 Definitionsversuch | 98

LEKTÜRENTEIL LUSTMORD UND KUNST Lustmord und androgyner Künstler | 105

Die Geschichte eines olfaktorischen Lustmörders | 105 Forschungsstand | 107 Roman-Pastiche, Täter und Lustmord | 111 Das Subjekt der Macht | 114 Parfum als Kunst- und Kulturmanufaktur | 122 Parfumproduktion als Werdegang des Männlichen | 125 Parfum als Phallus | 129 Fazit | 132 Kunstproduktion jenseits der Geschlechterdifferenz | 135 Die Geschichte eines Körpers | 135 Forschungsstand | 137 Novelle, Opfer und Lustmord | 139 Die Sprache und ihr Subjekt | 142 Heilige Mutter und mechanische Frau | 150 Das ‚Reale‘ als Theater | 152 Lustmord als Voraussetzung der Kunst | 157 Fazit | 160

Lustmord und männliche Subjektivität | 163 Vorspiel | 163 Novelle, männliche Identität und Lustmord | 165

Konventionelle und alternative Geschlechterordnungen | 168 Das Präödipale als Produkt des Ödipalen | 180 Fazit | 184 Die Lustmörderin als Produkt männlicher Kunst | 185 „Wenn die Frauen zu sehr morden …“ | 185 Forschungsstand | 187 Psychothriller, Täterin und Lustmord | 188 Intertexte und Lustmordinversionen | 194 Kulturschaffende Männer | 198 Mörderische Frauen | 202 Fazit | 213

LUSTMORD UND ÖKONOMIE Lustmord und Konsumgesellschaft | 219 „Wahrscheinlich wäre ich ein Lustmörder“ | 219 Forschungsstand | 221 Trivialmythen | 224 Subversive Affirmation | 225 Dekonstruktion des Unterhaltungsromans | 228 Begehren als zerstörerische Konsumgier | 233 Ökonomie der Geschlechterordnung | 236 Fazit | 253 Lustmord und Korruption | 257 Korrupte Exekutive | 257

Kriminalroman, männliche Identität und Lustmord | 259 Das Unheimliche als narrative Struktur | 264 Das versehrte männliche Subjekt | 267 Der symbolische Vater als Lustmörder | 276 Die Protagonisten als Lustmörder | 277 Fazit | 279

LUSTMORD UND GESCHICHTSAUFARBEITUNG Lustmord und Nationalsozialismus | 283 „Der alltägliche Schrecken“ | 283 Forschungsstand | 285

Dokumentarischer Kriminalroman, Vielfalt der Gender-Perspektiven und Lustmord | 287 Die Geschlechterrhetoriken des Erinnerungsdiskurses | 290

Weiblichkeit als Verkörperung des Volkes | 298 Täter als Leerstelle | 304 Lustmord als entstellte Erinnerung | 310 Fazit | 312 Lustmord, Justiz und Ost-West-Teilung | 315 Lustmord im anatomischen Theater Hettches | 315 Forschungsstand | 317

Metakriminalroman, binäre Geschlechtermatrix und Lustmord | 319 Das Panoptikum als Organisationsform des Romans | 329 Diskursivierung der Geschlechterdifferenz | 332 Fazit | 343

RESÜMEE Kulturhistorische Entwicklung | 347 Genre und Lustmord | 350 Gender und Lustmord | 352

Funktion des Lustmordes im literarischen Text | 356 Bibliografie | 359

Primärliteratur | 359 Sekundärliteratur | 359 Filme | 374

Einleitung

„Eines Tages werden die Menschen sagen, ich habe das 20. Jahrhundert geboren“, so wird im Film From Hell (2001) von Albert und Allen Hughes aus einem Brief von Jack the Ripper zitiert, von dem Jack the Ripper, der am Anfang der Geschichte des Lustmordes steht. Dieses ‚Zitat‘ ist selbstverständlich ebenso eine Erfindung, wie es der Mythos Jack the Ripper selbst ist. Die Morde, die ihm zugeschrieben werden, üben auf die Massenmedien,1 die Literatur und vor allem den Film an der Wende zum 20. Jahrhundert eine starke Faszination aus. So wird die Figur Jack the Ripper durch die verschiedenen Medien in der Form, die wir kennen, geboren und im Laufe des Jahrhunderts erfolgreich weiterentwickelt. Die Äußerung von Jack the Ripper legt dezidiert die Grundstrukturen des ästhetischen Repräsentationssystems frei: Filme, Literatur und Kunst profitieren auf besondere Weise von der Verbindung von Grausamkeit und Erotik, mit der sie Gewaltfantasien popularisieren. Gewalt avanciert zum „ubiquitären Bestandteil sexueller Phantasie“2 und Zerstörung als Hintergrund der Lust wird konsequenterweise zum gegenwärtigen kulturellen Paradigma. Der Lustmord als ästhetisches Sujet versinnbildlicht in besonderer Weise die Entwicklung von Kultur und Kunst aus dem „Kampf zwischen Eros und Tod“,3 wie Sigmund Freud in seiner kulturkritischen Studie Das Unbehagen in der Kultur aufzeigt. Der Lustmord symbolisiert diesen Kampf in seiner intensivsten Form; verdrängte Triebe und die Destruktion dienen als fruchtbare Quelle für Kultur- und Kunstproduktion.

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Vgl. Komfort-Hein, Susanne/Scholz, Susanne (Hg.): Lustmord. Medialisierungen eines kulturellen Phantasmas um 1900, Königstein im Taunus 2007. Azoulay, Isabelle: Die süßen Schläge – der andere Schmerz. Zur Ehrung von Sacher-Masoch. Graz 2003, in: Weibel, Peter (Hg.): Phantom der Lust. Visionen des Masochismus in der Kunst, München 2003, Bd. I, S. 76-86, hier: S. 84. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 14 (1925–1931), S. 419-506, hier: S. 481.

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An der Produktion des Lustmorddiskurses sind zwar unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen wie Kriminologie, Kriminalpsychologie und -medizin beteiligt, jedoch lässt sich der Lustmord auch als ein mediales Phantasma erkennen, wie der Sammelband zum Thema Lustmord von Susanne Komfort-Hein und Susanne Scholz4 deutlich macht. Die Aufsätze des Sammelbandes zeigen die diskursive Entstehung und Entwicklung des Lustmordes in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch in Literatur, Kunst und Film auf und weisen nach, dass die ‚klassische‘ Form des Lustmordes nicht zuletzt der literarischen, filmischen und bildkünstlichen Ästhetik zu verdanken ist. Fällt die Diskrepanz zwischen ‚realen‘ Lustmorden und ihren künstlerischen Repräsentationen schon beim frühen Auftreten des Begriffes Lustmord auf, so wird diese im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlicher und kulminiert schließlich in der Eliminierung des Begriffs aus der kriminologischen Fachliteratur, die im drastischen Gegensatz zur Zunahme der ästhetischen Präsenz des Lustmordes in den Medien steht. In der Tat findet sich im deutschen Strafrecht und in der deutschen Kriminologie der Begriff Lustmord nicht, wodurch die (Nicht-)Existenz des Lustmordes in der Vergangenheit oder der Gegenwart weder bewiesen noch widerlegt wird. Die Ausgangsthese dieser Dissertation lautet daher, dass der Lustmorddiskurs ein ästhetisches Projekt des 20. Jahrhunderts ist, woraus folgt, dass dieser auf seine ästhetischen und narrativen Semantisierungen hin überprüft werden kann. Der Fokus liegt dabei auf der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die in den letzten Jahrzehnten das Lustmordsujet aufs Neue als ästhetisches Motiv entdeckt hat und damit seine Popularität sichert. In der westlichen Kultur gibt es eine regelrechte Tradition, Sexualität mit Gewalt zu verschmelzen. Michel Foucault führt diese Tradition auf das Christentum zurück, das seit seiner Entstehung und Verbreitung die „Lust in den Bereich des Todes und Bösen verwies.“5 Eros und Thanatos bilden also jene altbekannte Allianz, die sich in Kunst und Literatur als erfolgreiches Sujet durchgesetzt hat.6 Lindhoff spricht davon, dass „die Literatur- und Kulturgeschichte der letzten 200 Jahre als ein gigantischer ‚Mordschauplatz‘ (Bachmann)“7 erscheint. Die Darstellung des Lustmordes und die Rezeption der Lust-Gewalt-Thematik in der Gesellschaft sowie ihre Reflexion in der 4 5 6

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Vgl. S. Komfort-Hein/S. Susanne: Lustmord. Foucault, Michel: Gebrauch der Lüste und Techniken des Selbst, in: ders.: Schriften, Frankfurt am Main 2005, Bd. IV, S. 658-686, hier: S. 671. Vgl. Gorsen, Peter: Psychopathia sexualis und Kunst. Die Phantasmen der sadomasochistischen Lust, in: P. Weibel, Phantom der Lust, Bd. I, S. 200-220, hier: S. 200. In seinem Essay analysiert Gorsen die sadomasochistischen Darstellungen in der Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart und demonstriert, wie die Ideen der Konstellation von Sexualität und Gewalt im Märtyrertum wurzeln und wie sie durch Epochen hindurch transformiert werden. Vgl. Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie, Stuttgart; Weimar 2003, S. 25.

E INLEITUNG

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Kunst und Literatur unterliegen einem kulturellen Wandel, denn im Laufe der Zeit haben sich die Grenzen dessen verschoben, was als sexuelle ‚Normalität‘ betrachtet wird. Im 18. Jahrhundert wird lustvolle Gewalt als Sünde und Verbrechen betrachtet, im 19. Jahrhundert sowie am Anfang des 20. Jahrhunderts als Krankheit. Heute dagegen gehören lustvolle Vernichtungsfantasien als Transzendenz des Körpers, als Medium neuer Identität und als Erweiterung des Bewusstseins mittels Körpermanipulationen8 zu den Normen unserer Kultur. Die Kombination von Lust und Gewalt erlebt in den letzten Jahrzehnten in den kulturellen Repräsentationen wie auch in den kulturtheoretischen Diskussionen eine neue Entwicklung: Die sadistischen Tendenzen9 der 1950er Jahre als extremer Sieg des geistigen Ichs transformieren sich – so hält die Forschung fest – in den kulturellen Masochismus der Selbstunterwerfung. Dieser Paradigmenwechsel findet hauptsächlich über die Verschiebung des kulturellen Akzentes vom Geist, dem Inneren und der Seele auf den Körper, das Äußere und das Physische statt: Auch der Körper wird als geschlechtlicher Körper, dessen austauschbare Geschlechtsidentität als Effekt von Performanz10 betrachtet wird, ins Zentrum der wissenschaftlichen Forschung gestellt. Die Grenzen des Körpers werden überschritten und auf neue Art und Weise durch Bodybuilding, Piercing, plastische Chirurgie, Diäten, Schönheitsstudios, S/M-Praktiken, De- und Rematerialisierung mittels Computerisierung und Digitalisierung etc. transzendiert. Unsere Epoche wird so durch die „Metaphysik des Fleisches“11 geprägt, wobei eine Tendenz feststellbar ist, gesellschaftliche Prozesse wie zum Beispiel die Industrialisierung oder die Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse als masochistisch wahrzunehmen. In diesem Kontext spricht Gilles Deleuze schon Ende der 1960er Jahre vom Triumph des masochistischen Ichs.12 Im Hinblick auf diese historischen Tendenzen in der Darstellung der Lust-Gewalt-Thematik lässt sich folgendes Gesamtziel für das Dissertationsprojekt formulieren: Auf der Grundlage der Gender Studies soll untersucht werden, wie sich die Literatur in den modernen Diskurs der zerstörenden Lust einschreibt, welche Repräsentationsstrategien entwickelt werden und wie die literarischen Repräsentationen des Lustmordes durch die intensive Verbreitung der Lust-Gewalt-Thematik und die Variabilität der sexuellen ‚Normalität‘ beeinflusst werden. 8

Vgl. Heitmüller, Elke: Kybernetische Sinnlichkeit. SM-Körper-AuthentizitätDigitalisierung, in: Ästhetik und Kommunikation 87 (1994), S. 14-22. 9 Vgl. Burch, Noel: Gegen die Sade’sche Ästhetik, in: P. Weibel, Phantom der Lust, Bd. I, S. 296-324. 10 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 2003. 11 Zitiert bei N. Burch: Gegen die Sade’sche Ästhetik, in: P. Weibel, Phantom der Lust, S. 306. 12 Deleuze, Gilles: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: Sacher-Masoch, Leopold von: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, Frankfurt am Main 1980, S. 275.

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Zum Lustmord existiert bereits eine Reihe von Forschungsarbeiten, die zumeist versuchen, die folgenden Fragen zu beantworten: Was macht einen Lustmord aus? Was verursacht die Lust am Vernichten? Warum sind Lustmord-Repräsentationen so populär? Der Stand der Forschung auf diesem Gebiet kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die meisten Forschungen zielen in ihrer Blickrichtung auf reale Lustmorde, nicht auf deren kulturelle Repräsentation ab. Es gibt kriminologische,13 psychologische/ psychiatrische14 und kulturwissenschaftliche15 Forschungen, wobei die kriminologischen Auseinandersetzungen mit dem Lustmord hauptsächlich am Anfang des 20. Jahrhunderts stattfanden. Die meisten Arbeiten, selbst wenn sie aus der Kriminologie stammen, betrachten die Lustmorde aus psychopathologischer Sicht. In der Gegenwart findet sich der Lustmord allein in der populärwissenschaftlichen Kriminalliteratur, die jedoch den Lustmord vorwiegend in den Fallgeschichten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts situiert. Der Lustmord wird oft als Fortsetzung sadomasochistischer Handlungen verstanden, weswegen es eine Vielzahl analytischer Arbeiten über Sadismus und Masochismus gibt, denen nur eine geringe Anzahl von Arbeiten zum

13 Zum Beispiel: Wulffen, Erich: Der Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte, Berlin 1920; Rahser, Josef: Scheinbarer Lustmord, Düsseldorf 1936; Berg, Steffen: Das Sexualverbrechen. Erscheinungsformen und Kriminalistik der Sittlichkeitsdelikte, Hamburg 1963; Schaeffer, Max Pierre: Der Triebtäter: Lustmörder vor Gericht. Von Haarmann bis Bartsch, München 1970; Füllgrabe, Uwe: Sadistische Mörder, in: Dinges, Hannspeter/Füllgrabe, Uwe (Hg.): Gewalttätige Sexualtäter und Verbalerotiker, Bremen 1992; Harbort, Stephan: Das Hannibal-Syndrom, Leipzig 2001; Schaser, Christiane/Stierle, Claudia: Nachbetreuung entlassender Sexualtäter – Eine Befragung Betroffener, Institut für kriminologische Sozialforschung. Universität Hamburg, Aachen 2005. 14 Zum Beispiel: Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis, München 1984; Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Frankfurt am Main 1977–1978; Hirschfeld, Magnus: Sexualität und Kriminalität: Überblick über das Verbrechen geschlechtlichen Ursprungs, Wien u.a. 1924; River, Joseph Paul de: Der Sexualverbrecher: Eine psychoanalytische Studie, Heidelberg 1951; Pfäfflin, Friedemann: Lust am Lustmord, in: Der Nervenarzt 53 (1982); Berner, Wolfgang/ Karlick-Bolten, Edda: Verlaufsformen der Sexualkriminalität, Stuttgart 1986; Schorsch, Eberhard/Becker, Nikolaus: Angst, Lust, Zerstörung – Sadismus als soziales und kriminelles Handeln. Zur Psychodynamik sexueller Tötungen. Beiträge zur Sexualforschung, Gießen 1977; Gödtel, Reiner: Sexualität und Gewalt, Hamburg 2002; Marneros, Andreas: Sexualmörder… Sexualtäter… Sexualopfer… Eine erklärende Erzählung, Bonn 2007. 15 Cameron, Deborah/Frazer, Elisabeth: Lust am Töten, Berlin 1990.

E INLEITUNG

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Lustmord selbst gegenübersteht.16 Im literaturwissenschaftlichen Bereich existieren einige Arbeiten zum Lustmord, die sich in ihren Analysen auf den Anfang des 20. Jahrhunderts beschränken.17 Das sind kulturkritische Studien, die den Lustmord in verschiedenen Medien analysieren.18 Im Hinblick auf den Forschungsstand ist also die Untersuchung des Themas Lustmord in der Gegenwart angemessen, da in diesem Bereich noch keine Forschungsarbeiten vorhanden sind. Diese Arbeit ist zwar kulturwissenschaftlich orientiert, konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf die Analyse der literarischen Gegenwartsprosa. Die Ziele dieser Dissertation können wie folgt formuliert werden: Die erste Zielsetzung ist der Versuch, den Lustmord zu definieren und ein historisches Diskurs-Panorama zum Lustmord zu entwerfen, um eine diskurstheoretische Grundlage für die Analyse der literarischen Texte zu schaffen. Erklärungsmuster, Konzepte und herrschende Themen aus dem Lustmorddiskurs vom Anfang des 20. Jahrhunderts sollen als theoretischer Ausgangspunkt und diskursiver Rahmen für die weitere Lektüre dienen, um die Änderungen und Verschiebungen im Diskurs über den Lustmord nachzuvollziehen. In diesem Zusammenhang werden kriminologische und psychologische Konzepte mit ihrer Auswirkung in Literatur, bildender Kunst und im Film 16 Um exemplarisch nur einige Studien zu erwähnen: Deleuze, Gilles: SacherMasoch und der Masochismus, in: Sacher-Masoch, Leopold von: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, Frankfurt am Main 1980; Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Juliette oder Aufklärung und Moral, in: ders.: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988; Lacan, Jacques: Kant mit Sade, in: ders.: Schriften II, Olten; Freiburg im Breisgau 1975; Žižek, Slavoj: Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999; Weibel, Peter (Hg.): Phantom der Lust. Visionen des Masochismus in der Kunst, München 2003, 2 Bde. 17 Lindner, Martin: Der Mythos ‚Lustmord‘: Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932, in: Lindner, Joachim (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien: Konstellation in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999; Robertz, Frank J./Thomas, Alexandra (Hg.): Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens, München 2004; Siebenpfeiffer, Hanja: „Böse Lust“. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Köln; Weimar; Wien 2005. 18 Tatar, Maria: Lustmord. Sexual murder in Weimar Germany, Princeton 1995; Büsser, Martin: Lustmord – Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im 20. Jahrhundert, Mainz 2000; Robertz, Frank J./Thomas, Alexandra (Hg.): Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens, München 2004; Komfort-Hein, Susanne/Scholz, Susanne (Hg.): Lustmord. Medialisierungen eines kulturellen Phantasmas um 1900, Königstein im Taunus 2007.

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des 20. Jahrhunderts vorgestellt, um die Ausdifferenzierung des Lustmorddiskurses deutlich zu machen. Wird der Lustmorddiskurs als ein ästhetisches Projekt betrachtet, so bildet die konstitutive Wechselwirkung von Gender und Genre sowie die gegenseitige ästhetische Bedingtheit zwischen Genre, Gender und dem Thema Lustmord den zweiten Schwerpunkt, um die literarischen Darstellungsstrategien des Lustmordes und des Täter-Opfer-Schemas als Genrebedingung aufzuzeigen. Der Wechselbezug von Genre und Gender als explizites Forschungsinteresse ist insbesondere in der Filmwissenschaft ein beliebter Untersuchungsgegenstand. Claudia Liebrand und Ines Steiner weisen in dem von ihnen herausgegeben Sammelband Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film auf die etymologische Verwandtschaft beider Termini hin: „‚Genre‘ und ‚Gender‘ leiten sich aus dem lateinischen Begriff ‚genus‘ (Gattung, Geschlecht) her.“19 Sie verstehen beide Konzepte als wandelbare und vor allem einander gegenseitig bestimmende Kategorien, die jeder Film neu konzeptualisiert. In Anlehnung an diese These wird auch in dieser Dissertation davon ausgegangen, dass jeder literarische Text die Genrekonventionen im Wechselspiel mit Gender-Konfigurationen aufs Neue bestimmt und beide die Darstellung des Lustmordes beeinflussen. Der Begriff der Genre-Hybridisierung wird jedoch nicht übernommen, weil es weder eine statische Definition der Gattung noch ‚reine‘ Genreformen geben kann. Bereits 1927 spricht der Theoretiker des Russischen Formalismus Juri Tynjanov von der literarischen Evolution oder von „beweglichen, evolutionierenden historischen Reihe[n]“ innerhalb des Genres, die zwar einer Automatisierung beziehungsweise einer gewissen Verharrung unterliegen, jedoch im Kampf mit den jüngeren Formen erneuert oder gar verworfen werden.20 Unter Genres werden hier eher historisch ausgebildete tradierte Formen verstanden, die aus pragmatischer Sicht differenziert für die Analyse verwendet werden, um die prozessualen Gattungsentwicklungen und -merkmale beschreiben zu können.21

19 Liebrand, Claudia/Steiner, Ines (Hg.): Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg 2004, S. 7. 20 Vgl. Tynjanov, Juri: Das literarische Faktum, in: ders. Poetik. Ausgewählte Essays, Leipzig; Weimar 1982, S. 9-13; Tynjanov, Juri: Über die literarische Evolution, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Essays, Leipzig; Weimar 1982, S. 37-38. 21 Vgl. Schweinitz, Jörg: Von Filmgenres, Hybridformen und goldenen Nägeln, in: Sellmer, Jan/Wulff, Hans J. (Hg.): Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase? Marburg 2002, S. 79-92, hier: S. 84. Er versteht unter viel diskutierte Film-Genres die „dargestellte Prozessualität und die intergenerischen Überschreitungen“, die die Stereotypisierung und Konventionalisierung bestimmter Formen und Motive verursachen, ohne jedoch zu erstarren: „Die Stereotype verbinden sich innerhalb der Genres für eine Zeit zu dichten – aber niemals starren oder abgeschlossenen – Geflechten und erleben ihre lustvolle Performanz bevor

E INLEITUNG

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Dabei findet die Gender-Analyse Anwendung, da das Thema Lustmord das Forschungsinteresse der Gender Studies widerspiegelt. Beim Lustmord in der Literatur geht es traditionellerweise um eine Mann-Frau-Konstellation, die durch eine extreme Machtausübung gekennzeichnet ist, sowie um die Thematisierung von Geschlechtsidentität, Geschlechterordnung und Machtinstitutionen, die die binäre Geschlechtermatrix legitimieren. Mit eben diesen Themen setzen sich die Gender Studies auseinander: Sie betrachten Männlichkeit und Weiblichkeit als kulturelle Konstrukte und streben danach, die Machtstrukturen, die die asymmetrische, hierarchische Geschlechterordnung hervorbringen, sichtbar zu machen. Dementsprechend ist die Gender-Analyse des Täter-Opfer-Schemas das dritte Ziel. Insgesamt geht es darum, der Funktion des Lustmordes im literarischen Text nachzugehen. Aus diesen Zielsetzungen ergibt sich folgende Struktur: Die Arbeit beginnt mit einem Kapitel über den Lustmord, das einen kurzen Überblick über die herrschenden Themen und Konzepte in Bezug auf den Lustmord liefert. Es folgen Lektüren von literarischen Texten, bei deren Auswahl darauf Wert gelegt wurde, sowohl Werke von Autoren und Autorinnen zu präsentieren als auch literarische Texte mit vielfältigen Geschlechterkonfigurationen vorzuführen. Es wurden Romane ausgewählt, die nicht nur traditionelle Konstruktionen von Männlichkeit (der Mann als Täter) und Weiblichkeit (die Frau als Opfer) beinhalten, sondern auch Täterinnen und männliche Opfer. Ein weiteres Kriterium für die Auswahl war die Intention, die aktuellen Strömungen und Genrevarianten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu berücksichtigen. Die herangezogenen Werke stehen für Körperliteratur22 (Kleeberg, Hettche), Avantgarde (Jelinek), postkoloniale Debatte (Hettche) und Mainstream (Bosetzky, Süskind, Dorn, Eckert, Krausser). Die ausgewählten Texte decken eine breite Palette von Genres ab: Sie repräsentieren verschiedenartige Ausformungen des kriminellen Genres (historische, dokumentarische, fantastische, parodistische Kriminalliteratur), den Psychothriller, die Novelle und den Entwicklungsroman, können aber alle eher als ‚vermischte‘ Genres begriffen werden, die jeweils Elemente von mehreren Gattungen einbeziehen. Mit der Wahl der genannten Genres wird die Grenze zwischen Hoch- und Popkultur dezidiert aufgelöst, was den aktuellen Tendenzen der Kulturwissenschaften entspricht. Die Analyse der literarischen Werke ist in drei Kapitel gegliedert, für deren Strukturierung die mit dem Lustmord verbundenen Themen den Ausschlag gaben. Der Lustmord als Sujet birgt kritisches beziehungsweise dystopisches Potenzial, wenn bestimmte Strukturen oder Phänomene – Gesetz, sie (wie auch die deutlich labileren Geflechte) der durchgreifenden Wandlung unterliegen.“ 22 Magenau, Jörg: Der Körper als Schnittfläche. Bemerkungen zur Literatur der neuesten „Neuen Innerlichkeit“, in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder 102 (1996), S. 12-20.

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kapitalistische Ökonomie oder historische Ereignisse – durch den Lustmord einer Kritik unterzogen werden, aber auch utopisches Potenzial, wenn über den Lustmord die Überschreitung der engen Geschlechtergrenzen in Szene gesetzt wird. Dieses Potenzial wird in den Werken durchgehend im Rahmen der selbstreflexiven Kunstproduktion, der Reflexion der gesellschaftlichen Strukturen und der schweren, ja traumatischen historischen Ereignisse Deutschlands verhandelt. Der analytische Teil gliedert sich daher in Lustmord und Kunst, Lustmord und Ökonomie und Lustmord und Geschichtsaufarbeitung. Diese Trennung soll einen besseren Überblick über die Diskurse ermöglichen, die in der Gegenwartsliteratur mit dem Lustmord in Verbindung gesetzt werden; in den meisten analysierten Werken überschneiden sich jedoch die genannten Themen. Jedes der ausgewählten literarischen Werke wird für die Analyse in eines dieser drei Kapitel eingeordnet. Da der Lustmord meist als eine Entwicklungsgeschichte präsentiert wird, zu der eine Motivationserklärung und eine Entwicklungspsychologie des Täters gehören, werden die Texte jeweils geschlossen untersucht, um die narrative Dynamik zu verfolgen. Für den Vergleich von Lustmordrepräsentationen aus genrebedingten, geschlechtsspezifischen und funktionalen Perspektiven werden die Lektüren einheitlich strukturiert: Jedes Unterkapitel beginnt mit einer kurzen Inhaltsangabe des analysierten Werkes und einleitenden Thesen. Anschließend wird der Forschungsstand zum jeweiligen Werk vorgestellt. Danach folgen Abschnitte zur Wechselwirkung von Genre, Gender und dem Thema Lustmord und zur Analyse der Geschlechterrepräsentationen. Im Kapitel Lustmord und Kunst werden Texte analysiert, die mithilfe des Lustmordmotivs die Möglichkeit einer alternativen Geschlechtsidentität eruieren. Diese Romane behandeln Schöpfungsmythen und die Interferenzen zwischen Kunst- und Identitätsproduktion. Alle ausgewählten Texte machen deutlich, dass die Geschlechtsidentität eine Gewaltkonstruktion ist, die auf einem Lustmord beruht und durch den Lustmord überschritten werden kann. Das Parfum (1985) von Patrick Süskind stellt einen „olfaktorischen Transvestiten“ dar, der seine Macht durch Lustmorde an Jungfrauen gewinnt.23 Überlagert werden dabei Fantasien von Macht- und Kunstproduktion, die den Schöpfungsprozess auf den Lustmord zurückführen. Barfuß (1997) von Michael Kleeberg thematisiert ebenfalls die Produktion von Literatur als Gewaltprozess und lässt den Mann als Opfer des Lustmordes auftreten. Dieses neue Paradigma überlagert die Tradition, die den Künstler der idealistisch-bürgerlichen Kunstauffassung entsprechend als androgynen Schöpfer darstellt. Während sich Süskind und ferner Kleeberg in den Traditionen des Lustmorddiskurses bewegen, indem sie den Lustmörder als Mann darstellen, eröffnen die Schmerznovelle (2001) von Helmut Krausser und Die Hirnkö23 Liebrand, Claudia: Frauenmord für die Kunst. Eine feministische Lesart [Zu Süskinds „Parfum“], in: Der Deutschunterricht 48/3 (1996), S. 22-25.

E INLEITUNG

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nigin (1999) von Thea Dorn eine neue Perspektive: Die Frau wird zur Lustmörderin – eine Rolle, die der Lustmorddiskurs der Frau grundsätzlich abspricht. Die Schmerznovelle von Helmut Krausser unterzieht die patriarchalische Ordnung einer massiven Kritik. Die Lustmörderin macht die Gewaltstrukturen des Patriarchats und vor allem die Grausamkeit der patriarchalischen Kunst sichtbar, da sie selbst Produkt einer künstlerischen Männerfantasie ist. Der Roman Die Hirnkönigin von Thea Dorn überprüft ebenfalls die männlichen Schöpfungsmythen wie die Zeus-Athene- und Pygmalion-Mythen, die die Frau als Kunstwerk des Mannes imaginieren. So tritt die Lustmörderin nicht als Überschreitung der Normen auf, sondern als wortwörtliche Verwirklichung der literarischen und künstlerischen männlichen Fantasien, also als normierende Weiblichkeitskonstruktion, die die Abwehr und Negation des Weiblichen zur Schau stellt. Das zweite Kapitel der literarischen Analyse vereinigt unter dem Titel Lustmord und Ökonomie zwei Romane, die durch den Lustmord Kritik am Kapitalismus üben, indem sie den zerstörerischen Charakter des kapitalistischen Systems durch den Lustmord versinnbildlichen. Im Roman Gier (2000) entlarvt Elfriede Jelinek die Konsumgier als Begehren der männlichen, infantilen Subjekte, für die die Konsumbefriedigung mit der Vernichtung von Frauen einhergeht. Die Frauenfiguren stehen daher in einer Reihe mit Waren. Die Autorin verbindet zudem Gesetz und Lustmord, indem sie das gesellschaftliche System als Legitimationsrahmen für das Phänomen Lustmord enthüllt. Als Lustmörder erscheint ein Gendarm, der in seiner unersättlichen Konsumgier buchstäblich über Frauenleichen geht. Der Roman Finstere Seelen (1999) von Horst Eckert, der sich im Gegensatz zu Jelineks aufklärerischem Gestus eines misogynen Motiv- und Bilderrepertoires bedient, entlarvt jedoch das Staatssystem, insbesondere die Exekutive, als lustmörderisch. Der Lustmord symbolisiert Korruption und Reichtum, da die Lustmorde in diesem Roman von korrupten Polizisten begangen und vertuscht werden. Das dritte Kapitel ordnet zwei weitere Romane, die den Lustmord ebenso zum Signifikanten der gesetzlichen und staatlichen Gewalt werden lassen, unter dem Thema Lustmord und Geschichtsaufarbeitung ein. Die Werke fokussieren dabei bestimmte historische Ereignisse und die daraus resultierende kollektive Erfahrung, die sie an der Biografie eines Lustmörders exemplifizieren. Beiden analysierten Texten liegen ‚authentische‘ Fallgeschichten von realen Lustmördern zugrunde – eine Tradition24, die bereits in der Kriminalanthropologie für die Begründung der Motivation praktiziert und von den populärwissenschaftlichen Studien übernommen und weiter24 Vgl. Höcker, Arne: „Lust am Text“. Lustmord und Lustmord-Motiv, in: S. Komfort-Hein/S. Scholz, Lustmord, S. 37-51, hier: 39. Das Motiv zum Lustmord, so Höcker, ist in den Fallgeschichten mit dem Lustmordmotiv identisch, denn die Materialselektion und sein logischer Aufbau erscheinen als Produkt ästhetischer Entscheidungen.

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entwickelt wurde. Beide Romane machen dabei den Lustmörder zum Signifikanten einer traumatischen kollektiven Erfahrung: Im dokumentarischen Roman Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder (1999) von Horst Bosetzky entfaltet sich durch den Lustmord ein gesellschaftliches Panorama der NSDiktatur am Anfang des Zweiten Weltkrieges, das durch Angst und Vernichtung geprägt ist. Die Ermittlungen zum Lustmord ermöglichen die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Formation im Dritten Reich, den Fragen nach der männlichen Sozialisation und dem Einfluss des sozialen Kontextes auf das Individuum. Der Kriminalroman Der Fall Arbogast (2001) von Thomas Hettche verbindet ein Echo des Zweiten Weltkrieges und die Ost-West-Teilung Deutschlands mit dem Lustmord. Dieses Werk könnte auch in das Kapitel Lustmord und Kunst eingeordnet werden, denn Hettche setzt nach allen Regeln der Kunst bekannte Topoi und Motive ein, um selbstreflexiv die Grenzen der literarischen Repräsentationen aufzuzeigen. Der Körper wird aber zugleich zum Medium der diskursiven Einschreibungen. Der Roman setzt Foucaults Machttheorien um, um die Diskursivierung des Verbrechens und der Normalitätsgenese mithilfe des Lustmordes, der als Phantasma die Diskontinuität im Strafrecht deutlich macht, zu verfolgen. Im Zusammenhang mit dem Lustmord erweist sich die Grenze zwischen Gesetz und Verbrechen als porös, da die Texte den Ursprung des Lustmordes in den Normalisierungsprozessen, im staatlichen Strafsystem und in der Gesellschaftsform lokalisieren. Dieses Textkorpus veranschaulicht die Aktualität des Themas Lustmord in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Nicht nur das 20. Jahrhundert ist durch Jack the Ripper ‚geboren‘ worden, auch der Anfang des 21. Jahrhunderts steht im Zeichen des Lustmordes, zumindest eines imaginären.

Methoden

Die Dissertation ist so angelegt, dass die angewandten theoretischen Konzepte bei der Analyse der literarischen Texte jeweils nach Bedarf erörtert werden, um die Argumentation nachvollziehbar zu gestalten. Aus diesem Grund wird hier nur ein kurzer Überblick über die relevanten Theorien gegeben, die den theoretischen Rahmen bieten. Zentral für diese Arbeit sind die Methoden der Gender Studies, da diese den Hauptfragen des Lustmorddiskurses wie Geschlechterordnung und Machtkonfiguration nachgehen. Die Gender Studies stellen sich als ein Konglomerat verschiedener analytischer Methoden und Konzepte dar, weshalb hier ausschließlich diejenigen erwähnt werden, die sich in Folge der Analyse als anwendbar erwiesen haben. Der Lustmorddiskurs entsteht um die Wende zum 20. Jahrhundert, die auch als Geburtszeit der Psychoanalyse und der modernen Identitätskonzepte gilt. Dementsprechend sind die psychoanalytischen Ansätze für die Lektüre zentral. Alle untersuchten Texte (mit Ausnahme von Der Fall Arbogast und Die Hirnkönigin) setzen den Ödipuskomplex als Grundlage für die männliche Identitätsbildung ein. Selbst die Werke, die eine Kapitalismuskritik üben, verknüpfen die Ökonomie mit den ödipalen Begehrensstrukturen des männlichen Subjektes. Der Ödipuskomplex wird im Laufe des 20. Jahrhunderts, so wird die Analyse des wissenschaftlichen Lustmorddiskurses feststellen, in den verschiedenen Medien zu einem festen Bestandteil der Darstellungsstrategien des Lustmordes. In diesem Zusammenhang erweisen sich die Studien von Sigmund Freud Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie1 (1905), Der Untergang des Ödipuskomplexes2 (1924) und Abriss der Psychoanalyse3 (1938) als fruchtbare Analyseinstrumente für die männlichen Identitätskon1 2 3

Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt am Main; Hamburg 1964. Freud, Sigmund: Der Untergang des Ödipuskomplexes, in: ders: Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 13 (1920–1924), S. 393-402. Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Einführende Darstellung mit Einleitung von F.-W. Eickhoff, Frankfurt am Main 1998.

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struktionen in den literarischen Texten. Zusätzlich werden je nach Bedarf auch anderen Arbeiten von Sigmund Freud wie Jenseits des Lustprinzips4 (1920) oder Das Unheimliche5 (1919) herangezogen. Diese setzen sich unter anderem mit den Strukturen des Unbewussten auseinander, die für den Diskurs über Lustmord entscheidend sind, da die Erklärungen der Motivation unter anderem auf dem Ausbruch des Unbewussten und der (fehlentwickelten) Triebstruktur beruhen. Eine weitere wichtige Studie von Sigmund Freud, sein kulturkritischer Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur6 (1930), unterstützt die zentrale These dieser Dissertation – die Verquickung von Zerstörung mit Kultur- und Kunstproduktion. Einige der analysierten Werke schließen sich der poststrukturalistischen Kritik an der abendländischen Sprache und Logik an, wie sie etwa Jacques Lacan in seinen Studien über die symbolische Organisation der Geschlechtsidentität und der Geschlechterordnung sowie über die phallische Ökonomie des Begehrens entwickelt. So werden für die Analyse der literarischen Texte Lacans Vortrag Ich-Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse (1953),7 der die Spaltung des Subjektes und die Konstruktion des Imaginären erarbeitet, und seine Arbeit Die Bedeutung des Phallus8 (1973), in der die Geschlechterdifferenz in Bezug auf die Sprache ergründet wird, eingesetzt. Ein weiterer Aspekt des Lustmorddiskurses ist die historisch bedingte Auseinandersetzung mit Legislative und Exekutive, die besonders in der Debatte über die Schuldfähigkeit und Bestrafung des Täters sichtbar wird. Die Autorinnen und Autoren thematisieren nicht nur das Strafsystem, sondern verschieben den Fokus der kriminologischen Diskussion vom Gesetz auf den Körper des Täters. Dargestellt wird die Formbarkeit des Körpers durch die Macht, weshalb Michel Foucaults Studie Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (1976)9 für die Analyse relevant ist. Foucault zeigt die Machtmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft auf, die Individuen durch die Disziplinierung ihrer Körper und die Reglementierung ihrer 4 5 6 7

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Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips, in: ders.: Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 13 (1920–1924), S. 1-69. Freud, Sigmund: Das Unheimliche, in: ders.: Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 12 (1917–1920), S. 227-268. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 14 (1925–1931), S. 419-506. Lacan, Jacques: Ich-Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse (Bericht auf dem Kongress in Rom am 26. und 27. September 1953 im Instituto di Psicologia della Università di Roma), in: ders.: Schriften I, Olten; Freiburg im Breisgau 1986, S. 71-171. Lacan, Jacques: Die Bedeutung des Phallus, in: ders.: Schriften II, Olten; Freiburg im Breisgau 1975, S. 119-132. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1983.

M ETHODEN

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Sexualität (selbst-)kontrollierbar machen. Eine weitere für diese Dissertation relevante Studie ist Michel Foucaults Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975)10, die die Konstitution der Subjekte durch Institutionen ergründet. Darüber hinaus wird Judith Butlers Analyse des Subjektes als Effekt von Diskursivierungsprozesssen, wie sie sie in Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (1997)11 entwickelt, herangezogen. Weil alle analysierten Werke den performativen Charakter der Geschlechtsidentität offenlegen, wird für die Untersuchung der Geschlechterrepräsentationen ebenfalls Butlers Performativitätskonzept aus Das Unbehagen der Geschlechter (1990)12 berücksichtigt. Für die Analyse der literarischen Motive und Topoi, auf die die Weiblichkeitsdarstellungen verweisen, sind besonders die Studie von Elisabeth Bronfen Nur über ihre Leiche (1992)13 sowie die immer noch aktuelle Untersuchung von Silvia Bovenschen Die imaginierte Weiblichkeit (1979)14 von Bedeutung. Den misogynen Traditionen entsprechend werden die weiblichen Figuren in den analysierten Texten entweder als Opfer oder als Material der männlichen Fantasie dargestellt. Bei der Analyse von Männlichkeit stützt sich die Dissertation auf die Studie Männerphantasien (1977–1978)15 von Klaus Theweleit, die das männliche Subjekt als Körperpanzer definiert, sowie auf den Sammelband Männlichkeit als Maskerade (2003),16 herausgegeben von Claudia Benthien und Inge Stephan, der die pluralisierten Männlichkeitsbilder in Literatur und Film der Gegenwart untersucht. In der Regel stellen die hier analysierten Romane den Lustmörder als faschistischen Körperpanzer dar, dessen konstitutive Seite als Zerstörung der Anderen – Frauen und Fremde – enthüllt wird. Zugleich entlarven fast alle Werke aus dem Textkorpus Männlichkeit als Maskerade – als Signifikant für Defizienz. Neben den genderorientierten Theorien erweisen sich für diese Analyse auch andere Ansätze als fruchtbar. So ist für die Untersuchung des Romans Gier von Elfriede Jelinek das poststrukturalistische Konzept von Roland 10 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994. 11 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001. 12 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 2003. 13 Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994. 14 Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main 1986. 15 Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Frankfurt am Main 1977–1978, 2. Bde. 16 Benthien, Claudia/Stephan, Inge (Hg.): Männlichkeit als Maskerade: Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln; Weimar; Wien 2003.

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Barthes Mythen des Alltags (1957)17 von Bedeutung. Horst Bosetzky bezieht sich mit dem Thema Lustmord auf die aktuellen Erinnerungsdiskurse über den Zweiten Weltkrieg, wie sie Aleida Assmann in ihrer Studie zur Erinnerungspolitik18 ausarbeitet. Intertextualität zeichnet alle analysierten Werke aus und wird mit dem Konzept von Ulrich Broich und Manfred Pfister untersucht, das die Intertextualität als einen engen Begriff formuliert und sie mithin für die Textanalyse anwendbar macht.19

17 Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1992. 18 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 19 Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985.

Lustmorddiskurs

Überblick

Die verschiedenen Formen von sexueller Begierde und Praxis, ebenso wie die unterschiedlichen Formen von Gewalt und Verbrechen hängen eng mit den Formen der gesamten Kultur zusammen – mit dem, was die Gesellschaft glaubt, wie sie Dinge definiert. DEBORAH CAMERON UND ELISABETH FRAZER/LUST AM TÖTEN, S. 44.

In diesem kulturwissenschaftlich orientierten Überblick wird der Lustmord als Produkt komplexer kultureller Diskursivierung betrachtet. Die folgenden Ausführungen schließen sich damit an die von Susanne Komfort-Hein und Susanne Scholz1 herausgegebenen Studien zum Lustmord an, in denen Diskursivierungsstrategien in Massenmedien, Literatur, Film und Malerei aufgespürt werden. Die Semantik des Lustmordes, so stellen die Aufsätze des Sammelbandes fest, ist nicht zuletzt durch Repräsentationssysteme und strategien der jeweiligen Medien bedingt. Diese These fungiert hier als Ausgangspunkt und wird durch die zusammengestellte Übersicht bestätigt. Bei der Betrachtung theoretischer und ästhetischer Diskurse über den Lustmord werden jedoch andere Ziele verfolgt, denn die Zielsetzung dieser Arbeit ist, den Lustmorddiskurs mit seinen Konzepten, Mustern und Denkfiguren zu präzisieren, um eine diskursive Grundlage für die Analyse der literarischen Darstellungen des Lustmordes zu erarbeiten. Der Überblick beansprucht daher nicht, alle existierenden Studien zum Thema Lustmord zusammenzustellen, sondern skizziert eher diejenigen Themen und Konstruktionen des Lustmordes, die Eingang in Literatur, bildende Kunst und Film gefunden haben und bis heute die kulturellen Repräsentationen des Lustmordes prägen. Dieser Überblick stützt sich auf die Diskurstheorie von Michel Foucault,2 die die Ausdifferenzierung des Diskurses über Lustmord sowie die 1 2

S. Komfort-Hein/S. Scholz: Lustmord. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, München 1974.

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Verhandlungen verschiedener Konzepte im Diskurs zu untersuchen erlaubt. Die Ausdifferenzierung des Lustmorddiskurses, die Foucault zu einem der immanenten Mechanismen der Diskursentwicklung und -regelung zählt, folgt unter anderem dem „Willen zur Wahrheit“. Darüber hinaus überschneidet sich mein Forschungsinteresse mit Foucaults Machttheorie, die von der engen Verknüpfung von Macht, Sexualität und Körper in der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht. In Anlehnung an Michel Foucault kann die Hypothese vertreten werden, dass das Phänomen Lustmord nicht zuletzt ein Nebenprodukt der bürgerlichen Machtstrukturen und der Herausbildung des bürgerlichen Subjektes ist, das um die Wende zum 20. Jahrhundert im Kontext bestimmter historischer, politischer, wissenschaftlicher und überdies ästhetischer Diskurse entsteht. Der Lustmord wird also als Effekt komplexer Machtkonstellationen oder, mit Foucaults Begriffen gefasst, als Effekt des Machtdispositivs betrachtet, ohne ihm einen universellen Charakter zukommen zu lassen. So besteht darüber hinaus eine weitere Verknüpfung zu Ideen Foucaults, da die Debatten über den Lustmord immer auch eine Diskussion über ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘ auslösen, die Foucaults Überlegungen zur Form der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft bestätigt. Foucault definiert die moderne westliche Gesellschaft nicht als eine Rechtsgesellschaft, sondern als eine Normierungsgesellschaft: „Die juristische Gesellschaft war die monarchische. […] In den Gesellschaften, die sich seit dem 19. Jahrhundert mit ihren Parlamenten, Gesetzgebungsverfahren, Gesetzbüchern und Gerichten als Gesellschaften des Rechts darstellten, setzte sich in Wirklichkeit ein ganz anderer Machtmechanismus durch, der nicht rechtlichen Formen gehorchte. Dessen Grundprinzip ist nicht das Gesetz, sondern die Norm, und als Instrumente dienen ihm nicht mehr die Gerichte, das Recht und der Justizapparat, sondern Medizin, soziale Kontrolle, Psychiatrie und Psychologie. Wir sind hier also in einer Welt der Disziplin, in einer Welt der Regulierung.“3 In erster Linie geht es beim Lustmord in Anlehnung an Foucault um die Abweichung von der Norm, die erfasst und normalisiert werden soll. Daher werden die Lustmörder bis heute und wahrscheinlich auch in Zukunft in den theoretischen Debatten als ‚Kranke‘ definiert, die zugleich die von Foucault beschriebenen Macht- und Reglementierungsmechanismen der modernen Gesellschaft sichtbar machen. Um die diversen Lustmordkonstruktionen darzustellen, werden in diesem Kapitel ihre Entstehung und ihr Wandel aus verschiedenen Perspektiven skizziert: Zuerst werden die theoretischen Diskurse über den Lustmord von der Entstehung des Begriffs bis zur Gegenwart rekonstruiert. Da der Lustmord eine interdisziplinäre Erscheinung ist, werden die psychologischen, psychiatrischen, soziologischen, anatomisch-medizinischen und kriminologischen Perspektiven innerhalb der wissenschaftlichen Diskurse auf3

Foucault, Michel: Die Maschen der Macht, in: ders: Schriften, Frankfurt am Main 2005, Bd. 4, S.224-244, hier: S. 241-242.

Ü BERBLICK

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gezeigt. Darauf folgt ein Überblick über die ästhetischen Diskurse zum Lustmord, der auch Abschnitte über den Lustmord in der deutschsprachigen Literatur sowie in der bildenden Kunst und dem Film beinhaltet. Während die wissenschaftlichen Diskurse und die Darstellungen des Lustmordes in der Kunst das gesamte 20. Jahrhundert umfassen, wird zur deutschsprachigen Literatur vorwiegend Forschungsmaterial zum Anfang des 20. Jahrhunderts dargelegt, da sich die meisten Studien auf diese Zeitspanne konzentrieren. Die Repräsentation des Lustmordes im Film hat ihren Schwerpunkt dagegen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Abgeschlossen wird der Überblick mit dem Versuch einer Definition des Lustmordes, die als Grundlage für die Analyse der literarischen Werke dient.

D EFINITION

UND

D ISKURSE

Der Begriff Lustmord entsteht in der deutschen Sprache am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Verbindung von Grausamkeit und Lust stellt sich dabei nicht als neues kulturelles Phänomen dar, wenn man an die Werke des Marquis de Sade aus dem 18. Jahrhundert,4 die Schriften Der Mord als schöne Kunst betrachtet (1827) von Thomas de Quincey oder Die Methode der Komposition (1846) von Edgar Allan Poe aus dem 19. Jahrhundert denkt, die Mord und Tod mit (ästhetischer) Lust verbinden. Sexuell konnotierte Morde wurden auch in früheren Zeiten und nicht nur in Deutschland begangen,5 doch seit der Entstehung des Begriffs Lustmord erfreut sich dieses Phänomen großer Aufmerksamkeit. Um die Jahrhundertwende entwickelt sich in Wissenschaften, Öffentlichkeit, Kunst und Literatur ein lustmörderischer ‚Boom‘. Zu dieser Zeit werden die Morde begangen, die als Definition für den Lustmord fungieren: Vinzenz Verzeni (1873) in Italien, Jack the Ripper (1888) in London, Fritz Haarmann (1925), bezeichnet als „Vampir“ oder „Werwolf aus Hannover“, und Peter Kürten (1931), genannt 4

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Vgl. Bohnengel, Julia: Sade in Deutschland. Eine Spurensuche im 18. und 19. Jahrhundert. Mit einer Dokumentation deutschsprachiger Rezeptionszeugnisse zu Sade 1768–1899, St. Ingbert 2003. Laut der Untersuchung von Julia Bohnengel fällt die neue Phase der Rezeption der Schriften von de Sade in Deutschland signifikant auf das Ende des 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Phase wird durch die Ausgabe Geschichte der Juliette oder Die Wonnen des Lasters vom Marquis de Sade von einem unbekannten Herausgeber im Jahr 1892 eingeleitet und entwickelt sich zu einer breiten Auseinandersetzung mit den Schriften von de Sade, im Gegensatz zur spärlichen Rezeption am Anfang des 19. Jahrhunderts. Vgl. D. Cameron/E. Frazer: Lust am Töten, S. 44. Die Autorinnen demonstrieren, dass der Lustmord ein modernes Phänomen ist. Die historischen Verbrechen, die sexuellen Charakter besitzen, als Lustmord einzuordnen wäre ein Anachronismus.

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„Vampir von Düsseldorf“, sind die Namen der Protagonisten, die in der Fachliteratur und in den ästhetischen Diskursen zum Inbegriff des lustmörderischen Begehrens geworden sind. Mörder, Wissenschaftler und Künstler schöpfen auch heute noch ihre Inspiration aus diesen mythologisch gewordenen Figuren aus der Zeit um die Jahrhundertwende. In der Gegenwart werden laut der Studie von Cameron und Frazer nach wie vor Morde à la Jack the Ripper6 begangen. Als besonders populär erweist sich seine Figur jedoch in der bildenden Kunst, der Literatur und im Film: Jack the Ripper ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil der abendländischen Kultur geworden. Zu ihm erscheinen zahlreiche Bücher, Filme, Hörbücher, Musicals, Theaterstücke und Comics. Haarmann und Kürten inspirierten die deutsche literarische Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Lustmordsujet wird für die künstlerische Bohème, die sich für das Verdrängte, den Tod und sadomasochistische Praktiken interessiert, zum Ausdruck einer antibürgerlichen Rebellion. Daher finden sich besonders bei Expressionisten und Surrealisten zahlreiche Lustmord- und andere Gewaltdarstellungen. Der Diskurs über Lustmord verdankt seine Verbreitung nicht nur der Kunst und der Literatur, sondern auch dem großen Interesse der Wissenschaften. Kriminalanthropologie, Sexualpathologie und Psychoanalyse liefern unterschiedliche Modelle des Lustmordes, verstehen aber zugleich alle das Verbrechen als Regression in einen vorzivilisatorischen, primitiven Zustand. Am Anfang des 20. Jahrhunderts sucht die Kriminalanthropologie die Erklärung für den Lustmord in einem ‚verbrecherischen‘ Körper; die Psychoanalyse versucht, im Lustmord die Geheimnisse des Unbewussten und des verdrängten Begehrens zu entziffern; die Sexualpathologie, Vorläufer der Sexualwissenschaften, versucht den Lustmord durch die (Fehl-) Funktion von Geschlechtsorganen zu begründen, aber auch in Anlehnung an die damals als progressiv betrachtete Kriminalanthropologie als Folge einer Degeneration oder einer Epilepsie zu begreifen. Die Attraktivität des Lustmordes als ästhetisches Sujet und seine Diskreditierung in den wissenschaftlichen Diskursen im Laufe des 20. Jahrhunderts ist durch den paradoxen, ja spekulativen Charakter des Begriffs Lustmord bedingt. Soll Lust immer als sexuelle Lust verstanden werden oder geht es um die Lust an der Macht? Wie kann ein Mord Lust bereiten? Die Schwierigkeit der Definition von Lustmord bringt auch juristische Probleme mit sich. So definieren der aktuelle Brockhaus und der aus den 1990er Jahren, aus denen die meisten der hier analysierten literarischen Werke stammen, den Lustmord wie folgt: „Lustmord, die vorsätzl. Tötung eines Menschen zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, soweit der Täter in der Tö-

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Zitiert nach D. Cameron und E. Frazer: Sie nennen als Beispiel den Verehrer und Imitator von Jack the Ripper, den Mörder Peter Sutcliffe, genannt „Yorkshire Ripper“ (1981).

Ü BERBLICK

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tungshandlung selbst sexuelle Befriedigung sucht.“7 Diese Definition ist von § 211 des StGB abgeleitet, der verschiedene Definitionen für Mord vorgibt, ohne den Begriff Lustmord zu verwenden. Laut Cameron und Frazer8, die sich in ihrer brillanten feministischen Studie Lust am Töten (1990) mit verschiedenen Definitionen für Lustmord auseinandergesetzt haben, wird unter dem Begriff Lustmord gewöhnlich ein Mord verstanden, der mit unmittelbaren sexuellen Handlungen verbunden ist, beispielsweise der Mord nach und während der Vergewaltigung oder die Vergewaltigung nach dem Mord. Wie Deborah Cameron und Elisabeth Frazer zeigen, fällt mit dieser Formulierung eine Reihe von Morden durch das Raster, die keine Vergewaltigung enthalten, aber trotzdem einen sexuellen Charakter aufweisen. Deswegen schlagen die beiden Autorinnen vor, die Sexualisierung des Tötungsprozesses an und für sich als Lustmord zu definieren. Diese Definition erscheint nicht nur genauso schwer fassbar wie die des Brockhauses, sondern entspricht sogar der von ihnen verworfenen ‚klassischen‘ Auslegung des Lustmordes durch Richard von Krafft-Ebing, der den Lustmord als Äquivalent des Geschlechtsaktes (für den Mann) versteht.9 Cameron und Frazer kritisieren zu Recht das geschlechtsspezifische Moment des Lustmordes, das in den Debatten über Lustmord sonst kaum hinterfragt wird, bleiben jedoch selbst in den traditionellen Erklärungsmustern des Lustmorddiskurses gefangen. Die dargelegten Schwierigkeiten bei der Definition des Lustmordes machen die Stilisierung und die Auratisierung einiger weniger Lustmörder verständlich, die im Diskurs über den Lustmord zu einem Legitimationsinstrumentarium avancieren. Die Namen der deutschen Lustmörder Haarmann und Kürten tauchen im Verlauf des letzten Jahrhunderts immer wieder in verschiedenen kriminologischen Berichten und psychologischen Studien auf. In einem Bericht aus der Zeitschrift Kriminalistik von 1957 werden beispielsweise zwei Sexualmörder mit Kürten verglichen;10 1963 analysiert der Kriminalist Steffen Berg11 den Fall Kürten. 1970 rekonstruiert der Kriminalist Schaeffer12 neben anderen Mördern die Taten von Haarmann und Kürten. 1992 spricht der Psychotherapeut Gödtel13 in seinem Werk Sexualität und Gewalt über die Lustmörder Haarmann und Kürten. Der Kriminalmedi7 8 9 10 11 12 13

Brockhaus, Leipzig; Mannheim 1990, Bd. 13, S. 628; Brockhaus, Leipzig; Mannheim 2006, Bd. 17, S. 295. D. Cameron/E. Frazer: Lust am Töten. Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis, München 1984, S. 80. Hentig, Hans von: Zwei Morde auf kannibalistischer Grundlage, in: Kriminalistik 11 (1957), S. 10-12. Berg, Steffen: Das Sexualverbrechen. Erscheinungsformen und Kriminalistik der Sittlichkeitsdelikte, Hamburg 1963. Schaeffer, Max Pierre: Der Triebtäter: Lustmörder vor Gericht. Von Haarmann bis Bartsch, München 1970. Gödtel, Reiner: Sexualität und Gewalt, Hamburg 2002, S. 207-219.

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ziner Riße14 umrahmt 2007 seine Darstellung über den skandalumwitterten „Kannibalen von Rottenburg“ Armin Meiwes mit Geschichten über berühmte Lustmörder, einschließlich Haarmanns und Kürtens. Die ewig gleichen Namen in der Fachliteratur deuten nicht auf eine geringere Anzahl Lustmörder zu Beginn des 20. Jahrhunderts hin, sondern auf den Diskursivierungsprozess, der den Figuren Haarmann und Kürten die Funktion exemplarischer Lustmörder zukommen und sie zum festen Bestandteil des Lustmorddiskurses werden lässt. Da die Kriminologie mit Fallgeschichten argumentiert, braucht sie prägnante ‚wahre‘ Bespiele und ‚authentische‘ Protagonisten, um ihre Argumentation zu legitimieren. Die definitorische Unmöglichkeit des Lustmordes wird durch die Exemplifizierung der ‚wahren‘ Taten und ‚echten‘ Täter gelöst. Haarmann und Kürten erlauben es, einen Mord als Lustmord zu klassifizieren, indem die Ähnlichkeiten und Analogien zu ihren Verbrechen betrachtet werden.15 Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist ein Rückgang von Auseinandersetzungen mit den Deutungsmustern des Lustmordes in der kriminalistischen und psychologischen Fachliteratur zu beobachten. Der Begriff Lustmord findet in der kriminologischen, psychologischen und psychiatrischen Fachliteratur noch in den 1950er bis 1970er Jahren Anwendung, wird jedoch im Laufe der letzten Jahrzehnte als Fachbegriff disqualifiziert.16 Mit der Reduktion der ‚realen‘ Lustmorde in der Fachliteratur verlagert sich der Lustmord allmählich vom wissenschaftlichen Diskurs in die Welt der Literatur, der Kunst und des Sensationsjournalismus. Der Fokus der Wissenschaften verschiebt sich hingegen auf ein weiter gefasstes Interessengebiet – auf die sexuelle Kriminalität und die Devianz. Das Lustmordthema taucht heute hauptsächlich in populärwissenschaftlichen Studien auf, die den Begriff Lustmord jedoch im Zusammenhang mit den Morden am Anfang des 20. Jahrhunderts verwenden. Diese eindeutige zeitliche Positionierung des Lustmordes macht ihn nicht nur als historisches Phänomen sichtbar, sondern verdeutlicht seine ästhetisch-narrative Funktion. Der Lustmord wird oft zum Spielfeld skandalöser Inhalte und Spekulationen, um Interesse bei einer breiten Leserschaft zu wecken, wie beispielsweise bei dem populistischspekulativen Werk Bestie Mensch (2004) des führenden österreichischen Kriminalpsychologen Thomas Müller. Müller integriert die Lust- beziehungsweise Sexualmorde in die Darstellung seiner professionellen Laufbahn 14 Riße, Manfred: Abendmahl des Mörders: Kannibalen – Mythos und Wirklichkeit, Leipzig 2007. 15 Vgl. Siebenpfeiffer, Hania: „Böse Lust“. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Köln; Weimar; Wien 2005, S. 333. Sie listet in der Endnote 30 weitere exemplarische Lustmörder vom Anfang des 20. Jahrhunderts auf, jedoch ist keiner von ihnen über das ganze Jahrhundert hinweg so berühmt wie Peter Kürten oder Fritz Haarmann. 16 Vgl. Pfäfflin, Friedemann: Lust am Lustmord, in: Der Nervenarzt 53 (1982), S. 549-551.

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und funktionalisiert sie als Reflexionsmedium für seine ‚besonderen‘ beruflichen und persönlichen Fähigkeiten. Der Lustmord wird buchstäblich zur Projektionsfläche für das Ego des Autors. Derzeit sind in Hinsicht auf den Lustmord zwei entgegengesetzte Positionen zu konstatieren: Die Studien von Cameron und Frazer vertreten die Meinung, dass der Lustmord nicht nur existiert, sondern dass bei weitem nicht alle Morde, die aus Lust begangen werden, auch als Lustmorde erfasst werden. Beispielsweise legen sie eine Analyse der Morde an Ehegattinnen in Großbritannien vor, die nie als Lustmorde betrachtet wurden, denen jedoch in vielen Fällen eine Motivationserklärung fehlt und die gleichzeitig den Verdacht der Lust an der Zerstörung wecken. Die meisten Studien qualifizieren dagegen den Lustmord als Begriff völlig ab und ersetzen ihn durch den Begriff des Sexual- oder Serienmordes. Beim Sexualmord geht es in Anlehnung an die Kriminalstatistik um einen Mord im Zusammenhang mit einer sexuellen Handlung, das heißt der Mord wird nicht unbedingt als Selbstzweck betrachtet.17 Beim Serienmord, der als Begriff in den letzten Jahrzehnten in den Massenmedien und der Populärkultur Verbreitung gefunden hat, wird der Akzent nicht auf die vermutliche Motivation Lust, sondern auf die Erscheinung des Mordes in Serie gelegt. Jedoch verstehen US-amerikanische Profiler den Serienmord als sexuell motivierten Mord, was Stephan Harbort,18 Deutschlands renommierter Serienmörderexperte, kritisiert, da er im Gegensatz zu seinen Kollegen aus den Vereinigten Staaten auch mehrfache Raubmorde zu Serienmorden zählt. Mit der Verbreitung des Begriffes Serienmord kann ein weiterer Paradigmenwechsel festgestellt werden. Ist der Lustmord ein Phänomen in der deutschen Kultur um 1900 – die Erklärungs- und Deutungsmuster stammen meistens aus Deutschland –, so verdankt der Begriff Serienmord seine Verbreitung und seine Erklärungsmodelle dem US-amerikanischen FBI-Agenten Robert K. Ressler am Anfang der 1990er Jahre.19 Gehört der Lustmord explizit zum Männlichkeitsdiskurs, so schließt der Serienmord ausdrücklich auch Mörderinnen ein. Obwohl die Mehrzahl der Serienmörder Männer sind, lassen sich auch weibliche Serienmörder nachweisen,20 weil der Serienmord sowohl Raubmord als auch serielle Kindestötung erfasst. Doch 17 Wie zum Beispiel Mord als Vertuschung der sexuellen Gewalt. 18 Harbort, Stephan: Das Hannibal-Syndrom, Leipzig 2001. 19 Der Begriff Serienmord wird laut Robertz sowohl in Deutschland in den 1930er Jahren als auch in den 1950er Jahren in Frankreich verwendet, findet aber seine Verbreitung erst durch den US-amerikanischen FBI-Agenten Robert K. Ressler. Vgl. Robertz, Frank J.: Serienmord als Gegenstand der Kriminologie: Grundlagen einer Spurensuche auf den Wegen mörderischer Phantasien, in: F. J. Robertz/A. Thomas, Serienmord, S. 15-50, hier: S. 16. 20 Bammann, Kai: Zwischen Realität, Fiktion und Konstruktion: Auf der Suche nach dem weiblichen Serienkiller, in: F.J. Robertz/A. Thomas, Serienmord. S. 143-155.

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sind die Grenzen zwischen Serienmord und Lustmord unscharf, da die Diskursmuster des Lustmordes im Sexual- und Serienmord weiterleben: Die problematische Biologisierung und Pathologisierung der Sexual- und Serienmorde sind ein Erbe des Lustmordes, das in der Zeit der Kriminalanthropologie entstanden ist. Der Fachmann für Serienmorde Stephan Harbort bewegt sich beispielsweise mit seinen Darstellungskonzepten, Erklärungsmustern und seinem Vokabular in der Tradition des Lustmorddiskurses, obwohl er die Lust als Motivation für den Mord kritisch hinterfragt: Er definiert Serienmörder ganz in der Tradition von Lombroso als eine „besondere Spezies“.21 Als Ursache der Psychopathie nennt er „hirnregressive Anomalien“ und frühkindliche Hirnschädigungen.22 Diese Argumentationslinie leitet sich aus der Kriminalanthropologie her, die den Verbrecher als eine andere, nicht zur Menschheit gehörende Spezies ausgrenzt. Heutzutage ist schwer festzustellen, ob überhaupt noch „Lustmorde“ begangen werden. Das Bundeskriminalamt macht darüber keine hilfreichen Aussagen, da in seiner Statistik bis 2001 der Begriff Sexualmord verwendet wurde und seit 2001 derartige Verbrechen als Morde im Zusammenhang mit Sexualdelikten erfasst werden. Anfang des 20. Jahrhunderts fehlte sogar diese Definition in den Statistiken. Die Kriminalstatistik für 191523 enthält Angaben über zwei Fälle der Notzucht mit Verursachung des Todes und berichtet 192024 von sechs Fällen. Ob es um Lustmord, Sexualmord oder Totschlag geht, ist wegen der in der Statistik fehlenden Kommentare nicht festzustellen. Stephan Harbort spricht in seinem Buch zum Serienmord Das HannibalSyndrom über die ansteigende Tendenz der Serientaten.25 Von 1986 bis 1995 gibt er 1855 Sexual- und Raubmorde an, von denen 8,2% Serientätern zugeschrieben werden.26 Die offiziellen Statistiken machen zwar keine Aussage über die Zahl der Serientaten, berichten dafür aber über eine Verminderungstendenz bei der Anzahl von Sexualmorden und Morden im Zusammenhang mit Sexualdelikten. Laut statistischer Angaben ist eine Reduktion von 72 Sexualmorden im Jahr 1977 auf 28 im Jahr 2005 zu beobachten. Im Jahr 1986 dokumentiert das Bundeskriminalamt 56 Morde, 1997 liegt die Zahl bei 19. 2006 beträgt die Anzahl der Morde im Zusammenhang mit Sexualdelikten nur 4% von der Gesamtanzahl aller begangenen Morde: 23. Die einzige statistische Größe, die nur geringfügige Variationen aufweist, ist das Geschlecht von Tätern und Opfern. Der männliche Täteranteil liegt beständig im Bereich von 96% bis 100%. Dem gegenüber steht ein Anteil an 21 22 23 24 25

S. Harbort: Das Hannibal-Syndrom, S. 15 Ebd.: S. 70. Statistik des Deutschen Reiches, Neue Folge, Bd. 297, Osnabrück 1977. Kriminalstatistik des Deutschen Reiches, Neue Folge, Bd. 346, Osnabrück1978. S. Harbort: Das Hannibal-Syndrom, S. 16. Er stellt am Anfang fest: „Die Tendenz hierzulande: steigend.“ 26 Ebd.: S. 22.

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weiblichen Opfern von 83% bis 100%, wobei sich unter den Opfern 10% bis 30% Kinder befinden. Der Sexualmord beziehungsweise der Mord im Zusammenhang mit Sexualdelikten bleibt wie ehemals der Lustmord eine männliche Domäne. Es wäre aber auch möglich, dass die Verbrechen männlicher Täter eher als Sexualverbrechen qualifiziert werden.

T HEORETISCHE D ISKURSE Entstehung der wissenschaftlichen Diskurse über Lustmord 1885 taucht im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm das Wort Lustmord mit Artikeln aus dem Leipziger Tageblatt vom 5. November 1880 und dem Berliner Tageblatt vom 13. April 1881 als Belegstellen auf. Der Lustmord wird als ein „erst neuerdings aufgekommenes Wort“, als „Mord aus Wollust, nach vollbrachter Notzucht“ beschrieben.27 Mit der Ausbildung des Begriffes Lustmord entstehen auch die Erklärungsmuster, die die kulturellen Repräsentationssysteme bis heute prägen. Die wissenschaftliche Diskussion kreist hauptsächlich um ererbtes oder erworbenes Verbrechenspotenzial. Der Lustmord wird zu einem ausgegrenzten Phänomen der Kultur und des Bewusstseins, das jenseits des Normalen, Zivilisierten und Gesunden liegt. Da heutzutage der Lustmord als ein Machtphänomen betrachtet wird, muss der Ursprung des Lustmordes in Anlehnung an Michel Foucault in der Modifikation der Machtstrukturen gesucht werden. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bringt laut Foucault neue soziale und machtbesetzte Strukturen hervor. Die Änderung beziehungsweise Verfeinerung der Machttechniken bedingen seit dem 17. Jahrhundert zwei miteinander konstitutiv verbundene Phänomene: die Entstehung der Individualität und die Herausbildung des Sexualitätsdispositivs. Der Prozess der Individualisierung geht laut Foucault mit der Entstehung der bürgerlichen Machtstrukturen einher, die die Individuen herstellen und hierarchisieren. Diese Entwicklung verläuft unter dem Zwang der Normierungsmacht,28 die das Pathologische vom Nichtpathologischen trennt und das Pathologische beschreibt, studiert und klassifiziert: „In einem Disziplinarsystem wird das Kind mehr individualisiert als der Erwachsene, der Kranke mehr als der Gesunde, der Wahnsin27 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1885, Bd. 6, S. 1348. 28 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 139. „Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.“ In dieser Gesellschaft wird die Sexualität zum „Dynamometer“, das „sowohl ihre politische Energie wie ihre biologische Kraft anzeigt.“ „Die Mechanismen der Macht zielen auf den Körper, auf das Leben und seine Expansion, auf die Entfaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung oder Nutzbarmachung der ganzen Art ab.“ (S. 141)

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nige und der Delinquent mehr als der Normale.“29 So gehen nach Foucault alle „Psychologien, -graphien, -metrien, -analysen, -hygienen, -techniken und -therapien“30 von historischen Individualisierungsprozessen aus. Individualisierungsprozesse haben das Eindringen von Machtstrukturen in den Körper jedes Individuums zum Zweck seiner (Selbst-)Kontrolle zur Folge. Sexualität dient dabei als ein „Scharnier“ zwischen der Macht und dem Körper, das einerseits den Zugang zum Körper jedes Individuums ermöglicht, andererseits das Leben des gesamten Gesellschaftskörpers im Sinne der Biopolitik organisiert.31 „Der Sex ist das spekulativste, das idealste, das innerlichste Element in einem Sexualitätsdispositiv, das die Macht in ihren Zugriffen auf die Körper, ihre Materialität, ihre Kräfte, ihre Energien, ihre Empfindungen, ihre Lüste organisiert.“32 Das Begehren wird nicht nur durch die Macht organisiert und reglementiert, sondern erst durch sie hervorgebracht: „Das Machtverhältnis ist immer schon da, wo das Begehren ist.“33 Diese neue Spezifizierung der Individuen fördert laut Foucault eine Internalisierung der Perversionen, die die Machtbesetzung des Körpers und daher seine Reglementierung ermöglichen. Zugleich hat diese neue Machtorganisation eine Intensivierung der Perversionen durch die Macht zur Folge: „Die Einpflanzung von Perversionen ist ein Instrument-Effekt: durch die Isolierung, Intensivierung und Verfestigung der peripheren Sexualitäten verästeln und vermehren sich die Beziehungen der Macht zum Sex und zur Lust, durchmessen den Körper und durchdringen das Verhalten.“34 Die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist nach Foucault eine „Gesellschaft der blühenden Perversionen.“35 Diese Modifizierung der Machtstrategien bewirkt eine antagonistische Beziehungskonstellation des (männlichen) Subjektes zum (weiblichen) Anderen: Einerseits erschwert die Individualisierung den Zugang zum Körper des Anderen und den sexuellen Kontakt mit dem Anderen. Genauer gesagt, das Andere wird erst durch diesen Abgrenzungsprozess konstituiert und als ein bedrohender Fremder erfahren. Andererseits werden durch veränderte Machtpraktiken die gesellschaftlichen Strukturen sowie die Beziehungen zum Anderen sexualisiert und daher begehrenswert gemacht. Neben der Entstehung und Entwicklung von Machtverhältnissen muss die bürgerliche Geschlechterordnung berücksichtigt werden. Diese zeichnet sich durch die Biologisierung der Geschlechter, die Ausdifferenzierung der 29 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 248. 30 Ebd.: S. 249. 31 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 140. „Er [der Sex, Anm. d. Ver.] bildet das Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens.“ 32 Ebd.: S. 149. 33 Ebd.: S. 83. 34 Ebd.: S. 52. 35 Ebd.: S. 51.

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sozialen Sphären (Öffentlichkeit/Privates) sowie die asymmetrische Polarisierung der Geschlechter aus. Im 19. Jahrhundert steigern sich in der patriarchalischen Gesellschaft frauenfeindliche Tendenzen, die um die Jahrhundertwende zu einer gewalttätigen Abwehr von Weiblichkeit führen. Nach Klaus Theweleit36 setzen die Herausbildung der modernen Machtstrukturen und die Verbürgerlichung der Gesellschaft eine spezifische Geschlechterordnung voraus, bei der die Frau zur Repräsentation der männlichen Macht funktionalisiert wird. Die männliche Machtkonstitution wird einerseits auf Kosten der Frauen durchgeführt, andererseits werden Frauen als potenzielle Bedrohung dieser Macht wahrgenommen. So konzeptualisiert die bürgerliche Gesellschaft männliche Subjektivität als einen festen Körperpanzer, der sich in Abgrenzung zu weiblich codierten Fluten und Strömen konstituiert. Die lustmörderischen Fantasien, die Theweleit anhand der Romane von Freikorpssoldaten analysiert, spiegeln die paradoxe Konstitution des männlichen Körperpanzers wider: Einerseits möchte sich der Mann von allem Weiblichen entfernen, da es seine männliche Identität gefährdet, andererseits begehrt er das Weibliche und strebt danach, es zu penetrieren. Der Lustmord erfüllt in diesem Fall genau diese Funktion: Der Mörder dringt mit der Waffe als Phallus in den weiblichen Körper ein und vernichtet ihn zugleich.37 Darüber hinaus versinnbildlicht der Lustmord laut Theweleit die Faschismusstruktur, die sich in Deutschland schon Anfang des 20. Jahrhunderts vor der Ergreifung der Macht durch die Nationalsozialisten manifestiert. Der Faschismus erscheint nicht als ein bestimmtes politisches Staatssystem, sondern als eine Form der Realitätsproduktion, die der bürgerlichen Gesellschaft innewohnt und die unter bestimmten Umständen (nicht ohne politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einfluss) möglich ist. Besonders die faschistische Sprache bringt diese spezifische Realitätsproduktion, der die spezifischen Geschlechterkonstellationen – die Abwehr als Vernichtung der Weiblichkeit – zugrunde liegen, zum Ausdruck. In Anlehnung an Theweleit lässt sich zusammenfassen, dass der Lustmord als Charakteristikum sowohl der bürgerlichen als auch der faschistischen Realitätskonstruktion erscheint. Um die Wende zum 20. Jahrhundert ist eine Kulturkrise, ausgelöst durch den Modernisierungsschock, zu diagnostizieren, die die Identitätskrise des (männlichen) Subjektes und einen Bewusstseinswandel zur Folge hat. Im „Siegeszug der Naturwissenschaft“, der durch eine „Explosion des Wissens“ und den technischen Fortschritt charakterisiert ist, werden verschiedene Phänomene erzeugt: die „Ausdifferenzierung der Wissenschaften“,38 die steigende Alphabetisierung, eine Beschleunigung des Lebensstiles, die um36 Vgl. K. Theweleit: Männerphantasien, 2 Bde. 37 Ebd.: Bd. 1, S. 243. 38 Thomé, Horst: Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und Fin de siècle, in: Mix, York-Gothart (Hg.): Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus 1890–1918, München; Wien 2000, S. 15-27, hier: S. 18.

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fassende Technisierung, Mechanisierung und Industrialisierung, die Pluralisierung von Stilen, Programmen, politischen Strömungen, Meinungen und Kulturen und die Entstehung der Subkulturen. Körper, Psyche und Geschlechterordnung – sie sind durch die Biologisierung der Geschlechter eng miteinander verknüpft – werden zum Feld der Krisenbewältigung, indem die unkontrollierbaren kulturellen Phänomene dort verhandelt werden. Mit der Entstehung der Kriminalanthropologie am Anfang des 20. Jahrhunderts vollzieht sich ein Paradigmenwechsel von der moralisch-sittlichen Definition des Verbrechens zu einem biologisch-evolutionistischen Paradigma, so dass zum einen die Kulturkrise in den Körper verlagert wird und fast das ganze Jahrhundert hindurch nach physischen Beweisen für die zerstörerische Lust im Körper gesucht wird. Die Psychoanalyse bewirkt zum anderen die Verlagerung der Kulturkrise in die Psyche des Individuums. Sexualität wird dank der Psychoanalyse zur Grundlage des psychischen Lebens und der Geschlechtsidentität des Subjektes im 20. Jahrhundert. Das führt dazu, dass kulturelle Phänomene geschlechtlich semantisiert39 und auf die Geschlechter übertragen werden, um sie im Geschlechterkampf zu bewältigen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg werden soziale, ökonomische und kulturelle Konflikte mit Vorliebe in der Begrifflichkeit des (Geschlechter-)Kampfes erfasst.40 Im Kontext der gewalttätigen Erfahrung der Modernisierung, des Interesses an ‚pathologischer‘ Sexualität und Geschlechtsidentität, des Eindringens der Machtstrukturen in den Körper, der Verknüpfung von Macht und Sexualität wird der Lustmord zu einer Denkfigur der Jahrhundertwende, die diese Prozesse versinnbildlicht. Im Lustmord manifestieren sich die genannten kulturellen Prozesse und Konstellationen: eine Verknüpfung von Sexualität und Macht, Quintessenz der pathologischen Sexualität, und eine gewalttätige misogyne Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern. Der Lustmord spiegelt auch das zu dieser Zeit entstandene, von Horst Thomé beschriebene Sinnstiftungsdefizit wider. Durch die Explosion des Wissens veralten die wissenschaftlichen Resultate so rasch, dass die Wissenschaft die Sinnkonstitution nicht aufrechterhalten kann. Der Lustmord wird selbst zum Ausdruck des Sinndefizits, indem er, mit Lindner gesprochen, durch die pa-

39 In der Kunst und der Literatur werden zum Beispiel Impressionismus und Naturalismus als weibliche Stilrichtungen definiert. Vgl. Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus, Stuttgart; Weimar 2002. Gilmer zeigt, dass rassistische Zuschreibungen oft geschlechtlich codiert werden. So werden Juden in der öffentlichen antisemitischen Diskussion um die Jahrhundertwende oft als verweiblicht dargestellt. Vgl. Gilman, Sander L.: Rasse, Sexualität und Seuche: Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Hamburg 1992. 40 T. Anz: Literatur des Expressionismus.

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radoxe Verbindung von Gewalt und Lust als eine Art Anti-Text fungiert, der eine Lücke im kulturellen Sinngeflecht aufreißt.41 Kriminalanthropologie und Sexualpathologie des Lustmordes Der Begründer der Kriminalanthropologie Cesare Lombroso (1836–1909), Psychiater, Gerichtsmediziner und Kriminologe, setzt sich nicht direkt mit dem Lustmord auseinander, sondern richtet seinen Fokus auf Verbrechen im Allgemeinen. Nach Mario Portigliatti Barbos42 wendet Lombroso die ihm zur Verfügung stehenden Methoden der Naturwissenschaft, die klinischen Beobachtungen und das wissenschaftliche Experiment, in der Kriminologie an. Er fusioniert in seinen Studien Anthropologie, Atavismus-Theorie, Phrenologie, die Entwicklungslehre Darwins und Lamarcks, die Lehre vom Pauperismus (Destutt de Tracy, Le Trosne, Cherbuliez, Vidocq) und Pathologismus sowie die Theorie der Degeneration (Morel) und des Epileptismus (Maudsley).43 Lombroso entwickelt mit der Untersuchung von Schädelanomalien und Physiognomie eine angeblich von der Natur determinierte Verbrechertypologie: den homo delinquens. Verbrecher werden auf atavistische Kennzeichen und Degenerationsmerkmale hin überprüft. So demonstriert beispielsweise der Fall von Vinzenz Verzeni die kriminalanthropologische Argumentationslinie. Dieses Beispiel ist auch deswegen interessant, weil Vinzenz Verzeni von Richard von Krafft-Ebing in seiner Psychopathia Sexualis im Vergleich zu den weiteren Fallgeschichten Lombrosos wie der von Phillipe, Grassi oder Grujo am ausführlichsten besprochen und zum prototypischen Lustmörder qualifiziert wird.44 Dem Fall Verzeni widmet später auch Dr. Ritter in seiner populärmedizinischen Studie zum Lustmord aus dem Jahr 1890 große Aufmerksamkeit. Verzeni, geboren 1849, begeht zahlreiche Morde an Frauen, deren Leichen er verstümmelt und aufschlitzt. Seinem Geständnis nach verschaffen die Morde ihm ein „unbeschreibliches wollüstiges Gefühl“, Erektion und Ejakulation. Bei der Analyse dieses Falls schließt Lombroso aufgrund einer physiologischen und physiognomischen Untersuchung, dass Verzeni Degenerationsmerkmale wie beispielsweise einen asymmetrischen Schädel und asymmetrische Ohren, eine enorme Entwicklung des Jochbeins, des Unterkiefers und des Penis aufweist. Verzenis Degenerationszeichen ließen sich auf das elterliche Erbe zurückführen:

41 M. Lindner: Der Mythos ‚Lustmord‘, in: J. Lindner, Verbrechen – Justiz – Medien, S. 272-305, hier: S. 282. 42 Vgl. Portigliatti Barbos, Mario: Cesare Lombrosos delinquenter Mensch, in: Clair, Jean/Pichler, Cathrin/Pircher, Wolfgang (Hg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, S. 587-591. 43 Vgl. ebd.: S. 587-591. 44 R. von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 76-82.

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Zwei seiner Onkel diagnostiziert Lombroso als Cretins, den dritten als mikrocephal, der Vater zeigt Spuren pellagröser Entartung.45 Die Degenerationsmerkmale grenzen nach Lombroso den Verbrecher als ‚Tier‘ aus der Kultur aus. Der ‚natürliche‘, geborene Verbrecher sei ein Einbruch der bestialischen Natur in die Kultur. Dass die Ideen von Cesare Lombroso progressive Ideen seiner Zeit sind und eine große Verbreitung auch in Deutschland finden, demonstriert beispielsweise die Aussage von Abraham Baer (1834–1894), Arzt, Strafanstaltsarzt und Sanitätsrat, der in seiner Studie Das Verbrechen in anthropologischer Beziehung (1893) schreibt: „Der Verbrecher in diesem Sinne ist ein Anachronismus, ein Wilder im zivilisierten Lande, eine Art Monstrum, einem Thier vergleichbar, das vom häuslichen, gewohnheitsmäßig zur Arbeit angehalten Thiere geboren, plötzlich in tollste Wildheit ausbricht […].“46 Aus diesem Betrachtungswinkel erscheint auch der Lustmörder als ein Wilder, ein Fremder und zugleich als ein atavistisches Monstrum: „Denn der geborene Verbrecher wurde als Vertreter einer dämonisierten Natur und als Inbegriff aller Defizite gesehen, die der Prozeß der Zivilisation an den kultivierten Menschen beseitigt hatte.“47 Richard von Krafft-Ebing (1840–1902), Psychiater, Rechtsmediziner und Begründer der modernen Sexualwissenschaft, überträgt die anthropologischen Ideen – er bezieht sich häufig auf Lombroso – auf die Ursache des Lustmordes. Die Theorie Lombrosos erscheint für die Sexualpathologie als besonders fruchtbar, da Lombroso von der gegenseitigen Beziehung von Geschlechtstrieb und Verbrechen ausgeht.48 Krafft-Ebings Definition markiert jegliche Abweichung von den damals herrschenden, männlichen Sexualnormen: gesteigerte Potenz und Impotenz, oft in Zusammenhag mit den Perversionen, unter die Sadismus, Masochismus, Homosexualität, Fetischismus und Pädophilie fallen. Die Erklärungen werden dabei nie allein aus der Homosexualität hergeleitet, sondern enthalten immer schon eine vielseitige Ätiologie. In Krafft-Ebings Studien Psychopathia sexualis (1886) wird der Lustmord in zweierlei Hinsicht definiert. Der Lustmord wird einerseits zu einem „Ersatz für den Koitus“.49 Diese Art des Lustmordes wird später auf die Impotenz zurückgeführt.50 So erklärt die populärwissenschaft-

45 Zitiert nach R. von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 76-82. 46 Baer, Abraham Adolf: Das Verbrechen in anthropologischer Beziehung, Leipzig 1893, S. 338. 47 Becker, Peter: Das Verbrechen als „monströser Typus“: Zur kriminologischen Semiotik der Jahrhundertwende, in: Hagner, Michael (Hg.): Der falsche Körper: Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995, S. 147-173, hier: S. 151. 48 Zitiert nach R. von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 76. 49 Ebd.: S. 80. 50 Vgl. Wulffen, Erich: Der Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte, Berlin 1920, S. 377.

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liche Studie von Felix Ritter51 (1885–1957), die kurz nach der Veröffentlichung von Psychopathia sexualis erschien, die Ätiologie des Lustmordes: „Zu perverser Geschlechtsempfindung sind namentlich diejenigen prädisponirt, bei denen sich übergrosser geschlechtlicher Drang mit Schwäche des Genitalapparates paart.“52 Als Beispiel für diese Erklärung des Lustmordes nennt Krafft-Ebing signifikanterweise Jack the Ripper53, damals bekannt unter dem Namen Jack, der Aufschlitzer.54 Sein Profil nimmt bei KrafftEbing wegen seiner fehlenden Identifizierung wenig Platz ein im Vergleich mit den im weiteren Laufe des Jahrhunderts zunehmenden ästhetischen Imaginationen über ihn. Allen Fallgeschichten, die Krafft-Ebing unter dem Kapitel Lustmord zusammenstellt, ist die Verstümmelung der Genitalien der Opfer gemeinsam, die in der Folge geradezu zu einem Lustmord-Skript wird. Auf der anderen Seite wird der Lustmord als Signifikant der Überpotenz zur Folge einer gewalttätigen Steigerung des (oft sadistischen) sexuellen Handelns, in den Begriffen von Krafft-Ebing als „Hyperaesthesia in Verbindung mit Paraesthesia sexualis“55. Nach seiner Klassifikation bezeichnet Hyperästhesie einen krankhaft gesteigerten Geschlechtstrieb und Parästhesie eine Perversion – die Erregbarkeit durch inadäquate Reize. Hierunter versteht er Sadismus, Masochismus, Fetischismus und Homosexualität. Beide Phänomene, Hyperästhesie und Parästhesie, führt Krafft-Ebing auf eine physiologische Ätiologie, das heißt auf zerebral bedingte Neurosen zurück. In jedem Fall von Lustmord überprüft er das Vorhandensein von angeborenen Geisteskrankheiten oder genealogische Voraussetzungen sowie psychologische/psychische Pathologien wie Degenerationsmerkmale, Erkrankung an Epilepsie und Schädelanomalien. Krafft-Ebing unterscheidet dabei in Anlehnung an Lombroso „geborene“ Verbrecher von „gewöhnlichen Verbrechern“, die keine Geistesstörung aufweisen, sondern aus moralischem und sittlichem Verfall antisozial geworden sind.56 Obwohl die Rolle des Umwelteinflusses bei „gewöhnlichen Verbrechern“ doch zu berücksichtigen sei, befindet sich dennoch für KrafftEbing das verbrecherische Potenzial, wie für Lombroso, im Individuum, das 51 Ritter, Felix Otto Eberhard: Der Lustmord und ihm verwandte Erscheinungen perverser Geschlechtsempfindungen. Populär-medizinische Studie, Niemegk 1890, S. 7. In seiner Studie zitiert er hauptsächlich die von Krafft-Ebing vorgeführten Beispiele zum Lustmord, einschließlich der Fälle von Verzeni und Jack, dem Aufschlitzer. 52 Ebd.: S. 7. 53 R. von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 44. Krafft-Ebing definiert die Taten von Jack the Ripper als Substitut für den sexuellen Akt, da die Opfer auf seine „viehische Wollust“ hindeuten. 54 Ebd.: S. 77. 55 Ebd.: S. 76. 56 Ebd.: S. 79.

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nicht rechtzeitig von der Gesellschaft kultiviert wurde, beziehungsweise dessen Triebe nicht ausreichend abgedämpft wurden. So lautet der emotionale Kommentar Krafft-Ebings zu einem „gewöhnlichen“ Lustmörder: „Seine Verbrechen sind die eines antisozialen, sadistischen, blutdürstigen Menschen, der auf Grund früheren Irrsinns und nicht erfolgter Bestrafung einen Freibrief für die Begehung seiner scheusslichen Taten zu besitzen glaubte. Er ist ein gewöhnlicher Verbrecher und seine Verantwortlichkeit erfährt kaum eine Minderung durch die vorausgegangene Geistesstörung.“ 57 Für den Lustmord ist zudem der Affektzustand, der Geschlechtsrausch, auf den die verstümmelten Opfer und ihre herausgerissenen Organe hindeuten, charakteristisch. Laut Magnus Hirschfeld (1868–1935), einem der bedeutendsten deutschen Sexualforscher Anfang des 20. Jahrhunderts und Begründer der ersten Homosexuellen-Bewegung, ist der Lustmord eine der „fruchtbarsten Formen gesteigerter Sexualität. […] Unter einem echten Lustmord können wir nur einen verstehen, der im Geschlechtsrausch vorgenommen zur Entspannung der Geschlechtslust dient.“58 Laut Hirschfeld geht die Verbindung zwischen der kriminellen Handlung und der Sexualität auf die Tätigkeit der Drüsen zurück: Die „bestimmte Konstitutions- und Drüsenformel“ des Menschen erscheint als „Keim und Kern, Ursprung und Ursache seiner Individualität“,59 deren Fehlfunktion eine ‚pathologische‘ Sexualität wie zum Beispiel den psychosexuellen Infantilismus verursacht.60 Die Kriminologie ergänzt diese Charakteristika des Lustmörders mit schwer fassbaren Kategorien, wie der schlechten Erinnerung an die Tat – da sich der ‚echte‘ Lustmörder wegen des Affektes und Rausches nicht genau entsinnen kann – und der fehlenden Reue.61 Kriminologie des Lustmordes Das Lustmordsujet wandert von der Sexualpathologie über die Medizin in die Kriminologie, wobei jede der wissenschaftlichen Disziplinen den Lustmorddiskurs erweitert und ihn je nach den fachspezifischen Anforderungen ausdifferenziert. Während sich die Sexualpathologie für die Physiologie und den Geschlechtstrieb des Mörders interessiert, ist für die Kriminologie eine genauere Definition des Lustmordes von Bedeutung, um seine gesetzliche Einordnung, die entsprechende Strafe und die präventiven Maßnahmen zu bestimmen. Die kriminologischen Studien Der Sexualverbrecher (1910), herausgegeben von dem Richter Dr. Erich Wulffen (1862–1936), machen die weitere Ausdifferenzierung des Lustmorddiskurses deutlich. Im Gegen57 Ebd. 58 Hirschfeld, Magnus: Sexualität und Kriminalität: Überblick über das Verbrechen geschlechtlichen Ursprungs, Wien u.a. 1924, S. 62-63. 59 Ebd.: S. 7. 60 Ebd.: S. 13. 61 Vgl. E. Wulffen: Der Sexualverbrecher; J. Rahser: Scheinbarer Lustmord.

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satz zur schönen Literatur dieser Zeitperiode, in der der Lustmord überwiegend post factum rekonstruiert wird, um seine Darstellung zu vermeiden,62 enthalten die Studien eine unerwartete Vielzahl skandalöser Fotografien von aufgeschlitzten Opfern. Abgesehen vom sensationsheischenden Charakter dieser Fotografien, die nicht zuletzt die Lesenden zu Voyeuren machen, haben die Fotografien eine bestimmte Funktion im Diskurs. Die Abgrenzung des Lustmordes von anderen Morden ist ein aufwändiges Verfahren, das in jedem neuen Fall aufs Neue bestimmen muss, ob es sich um einen Lustmord handelt. Wulffen bezeichnet den Lustmord nach wie vor als einen Mord, der ein Äquivalent für den sexuellen Akt darstellt oder aus dem Affekt und zur Steigerung des sexuellen Reizes durchgeführt wird. So müssen die Fotografien als ‚Fakten‘, die den Lustmord ‚sichtbar‘ machen, die Form des Lustmordes, mit Foucault gesprochen, „fixieren“, indem sie dem Nicht-Erfassten und dem Ungeformten eine Form verleihen.63 Während Michel Foucault über die „Schriftmacht“ spricht, die das Individuum zu seinem Fall macht und es fixiert, kann hier von einer Macht der Fotografie gesprochen werden, die in der Kriminologie zur Sicherung der ‚Fakten‘ instrumentalisiert wird. Da die Kriminologie die realitätsformende Macht besitzt, Wahrheit zu definieren, wird der Lustmord erst durch die Fotografie als Lustmord konstituiert. Die Fotografie legt seine Form fest. Signifikant erscheint in Wulffens Studie auch die Unterscheidung zwischen „echten“, „scheinbaren“ und „vorgetäuschten“ Lustmorden, für die die Fotografie eine entscheidende Differenzierungsfunktion einnimmt. Nicht jeder Mord vor, während und nach einer Vergewaltigung ist nach der Definition Wulffens ein „echter“ Lustmord.64 Während Männer neben „echten“ auch „scheinbare“ Lustmorde verüben, die nur zufällig wie Lustmorde aussehen, aber laut Wulffen aus anderen Motiven (Totschlag oder Beseitigung des Opfers als Zeugin) begangen werden, können Frauen Lustmorde bewusst vortäuschen, wie im Fall der „Arbeiterehefrau U.“.65 Die Unterschei62 Vgl. M. Lindner: Der Mythos ‚Lustmord‘, in: J. Lindner, Verbrechen – Justiz – Medien, S. 272-305. Lindner spricht über die Tabuisierung der Darstellung des Lustmordes in der Literatur zu dieser Zeit. 63 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 243. Bei Foucault geht es um die Individualisierungsverfahren, in denen Individuen durch die Disziplinarmacht „sichtbar“ gemacht werden: Die Individuen werden klassifiziert, kategorisiert und hierarchisiert, also als Individuen mit bestimmten Eigenschaften „fixiert“. Diese Individualisierungsverfahren reproduzieren auch einige Diskursivierungsprozesse anderer Phänomene, indem etwas Unformbarem eine Form verliehen wird, die durch die Sichtbarmachung und die schriftliche, hier fotografische Fixierung erfolgt. 64 H. Siebenpfeiffer: „Böse Lust“, S. 192. Hania Siebenpfeiffer unterscheidet in Referenz auf die Definition von Peter Gast aus seiner Studie Die Mörder (1930) drei Lustmorde: Der Mord während, nach oder vor dem Geschlechtsverkehr. 65 E. Wulffen: Der Sexualverbrecher, S. 473.

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dung wird erst durch die herrschende Geschlechterordnung legitimiert, da der Lustmorddiskurs der Frau grundsätzlich die Lust am Töten abspricht. Während die Unterscheidung zwischen den „vorgetäuschten“ und den anderen Lustmorden durch die Geschlechternormen getroffen wird, sollen die Fotografien helfen, die „echten“ und „scheinbaren“ Lustmorde, beide von Männern begangen, zu differenzieren, indem sie den „echten“ Lustmord zur Schau stellen, um eine Unterscheidung durch den visuellen Vergleich zu ermöglichen. Zu bemerken ist, dass die Trennung zwischen „echtem“, „scheinbarem“ und „vorgetäuschten“ Lustmord erst die ‚Echtheit‘ eines Lustmordes zu behaupten ermöglicht; zugleich unterwandert sie den Lustmord als ‚natürliches‘ Phänomen, da seine ‚Echtheit‘ reproduzierbar erscheint. Durch die schwierige Definition des Lustmordes wird der Lustmorddiskurs zum kulturkritischen Reflexionsmedium über das Strafsystem, die Definition des ‚Normalen‘ und die Form der Gesellschaft. Die Kriminologen treten dabei als progressive Kritiker des Justizapparates auf, da der Lustmord dessen Rückstand verdeutlicht. Legislative und Exekutive erscheinen außerstande, den Lustmord zu definieren und adäquat damit umzugehen. Darüber hinaus ermöglicht die Strafdiskussion, den gesellschaftlich-rechtlichen Wandel zu einer Normalisierungsgesellschaft im Sinne Foucaults nachzuvollziehen, bei der die Disziplin und die Normalisierungstechniken eine zentrale Rolle im Strafsystem einnehmen. Bereits die Studie von Felix Ritter weist die Lustmörder in die Irrenanstalt ein: „Solche Individuen [Leichenschänder, Lustmörder und Menschenfresser, Anm. d. Verf.] sollte man, anstatt in’s Gefängniss zu sperren, wie es heute noch öfters geschieht, einer Irrenanstalt überweisen.“66 Der „echte“ Lustmord, selbst wenn er vorsätzlich begangen wird, wird bei Rahser (1935) als Mord „ohne Überlegung“ nicht gemäß § 211 StGB als vorsätzlicher Mord, sondern gemäß § 212 StGB als Totschlag eingestuft: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Totschlages mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.“67 Jedoch werden bis 1949 in Deutschland Lustmörder mit der Todesstrafe und danach mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft.68 Darüber hinaus macht die Strafgesetzgebung bis 66 F.O.E. Ritter: Der Lustmord, S. 5. 67 Zitiert nach J. Rahser: Scheinbarer Lustmord, S. 6. Die Unterordnung des Lustmordes unter Totschlag findet man schon bei Wulffen 1910. Leider sind keine statistischen Angaben vorhanden, wie Lustmörder tatsächlich bestraft wurden. In der Beschreibung bei Wulffen kommen oft Hinrichtungen der Täter vor. Wenn man aber bedenkt, dass Rahser während des Dritten Reiches für die Anwendung des § 212 StGB auf Lustmörder plädierte, bekommt die Debatte eine andere politische Dimension. 68 Vgl. Schaeffer, Max Pierre: Der Triebtäter: Lustmörder vor Gericht. Von Haarmann bis Bartsch, München 1970. Nach Schaeffer nimmt Wilhelm Wundt (1832–1920), deutscher Philosoph und Psychologe, Einfluss darauf, die Trieb-

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1941 keinen Unterschied zwischen Lustmord und Raubmord, und das Urteil beruht auf dem Nachweis niedriger und heimtückischer Beweggründe.69 Erst 1941 wird das Tatbestandsmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebes“ in den § 211 StGB eingefügt, woraus jedoch in der Kriminalistik keine tiefer gehenden Auseinandersetzungen erwachsen.70 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Lustmord wegen seiner schwer fassbaren Definition eine Lücke in der Gesetzgebung und im Strafapparat aufdeckt, so dass der Lustmorddiskurs zum Medium der Auseinandersetzung mit Exekutive und Legislative wird. Die Debatten über ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘, Gesetzesgrenzen und die angemessene Strafe sowie die Zurechnungsfähigkeit des Lustmörders werden im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich in den (auch ästhetischen) Lustmorddiskurs integriert. Die Lustmörderin Die Debatten über die ‚typisch weiblichen‘ und ‚typisch männlichen‘ Verbrechen zu Beginn des 20. Jahrhunderts veranschaulichen den diskursiven Charakter des Lustmordes und erklären, warum der Lustmord als spezifisch männliches Vergehen betrachtet wird. Diese geschlechtsspezifische Definition des Deliktes macht um die Wende zum 20. Jahrhundert herrschende Gender-Diskurse und mithin die Diskursivierungsstrategien des Verbrechens deutlich, die über die Geschlechternormen vollzogen werden. Der Lustmord steht in einem konstitutiven Wechselbezug mit der heterosexuellen Geschlechtermatrix: Er hilft alles als pathologisch auszugrenzen, was nicht zu den Normvorstellungen von den Geschlechtern dieser Zeitperiode gehört. Zugleich erfüllt die binäre heterosexuelle Geschlechtermatrix eine sinnstiftende Funktion für den Lustmord, der durch den Trieb des Täters beziehungsweise durch die Vorstellung von der ‚normalen‘ männlichen (Hetero-)Sexualität definiert wird. Dieser geschlechtspezifische Aspekt des Lustmordes kann anhand der Debatten über weibliche Sexualverbrecherinnen aufgezeigt werden, in denen männliche Taten in Abgrenzung zu den spezifihandlung als Willenshandlung zu betrachten. Diese Vorstellung wird im deutschen Rechtssystem bis zur Rechtsreform in den 1970er Jahren aufrechterhalten, was bei mehreren Kriminalisten massive Kritik hervorruft. 69 Vgl. ebd. 70 Vgl. Schetsche, Michael: Der Wille, der Trieb und das Deutungsmuster vom Lustmord, in: F.J. Robertz/A. Thomas, Serienmord, S. 346-364, hier: S. 357. Für Schetsche ist das Jahr 1941 als Zeitpunkt für die gesetzliche Ausdifferenzierung des Lustmordes beziehungsweise Sexualmordes symptomatisch, da die definitorische Festlegung des Lustmordes die „staatlichen Lustmorde“ im Nationalsozialismus mit „hochstehenden“ gegenüber „niedrigen Beweggründen“ sanktioniert und legitimiert, um die „Grenzen zwischen staatlich erwünschtem und unerwünschtem Verstümmeln, Töten und Ausweiden neu zu bestimmen.“

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schen weiblichen Delikten bestimmt werden. Um die Jahrhundertwende kann einerseits eine Pathologisierung der sexualisierten Frau festgestellt werden, wie der zur dieser Zeit entstandene Hysteriediskurs demonstriert. Andererseits postulieren Sexualforschung,71 Kriminalanthropologie72 und psychologie73 eine sexuelle Grundlage für jegliches von Frauen begangene Vergehen und erarbeiten ‚typisch weibliche‘ Verbrechen, die in Übereinstimmung mit der herrschenden Geschlechterordnung stehen. Während der Lustmörder paradigmatisch für die Diskursivierung des männlichen Gewaltverbrechers ist, kommt der Giftmörderin und der kindstötenden Frau laut Hanja Siebenpfeiffer exemplarische Aussagekraft für die Diskursivierungen der weiblichen Gewaltverbrecherin zu.74 Die Giftmischerin scheint nicht nur den spezifisch ‚weiblichen‘ Eigenschaften wie physische Schwäche, List und Passivität zu entsprechen, sondern wird laut Karsten Uhl75 am Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren kriminologischen und sexualwissenschaftlichen Studien als weibliche Lustmörderin betrachtet. Als exemplarisch kann die Studie von Erich Wulffen Das Weib als Sexualverbrecherin aus dem Jahr 1923 gelten.76 Diese führt nicht nur einige Fälle der untypischen ‚weiblichen‘ Lustmorde an, sondern macht die geschlechtsspezifische Diskursivierung dieser Zeit deutlich. Wulffen rekapituliert die aktuellen Konzepte von Weiblichkeit aus der Kriminalanthropologie, -psychologie, Gynäkologie und Literatur (!), um die weibliche Neigung zum Verbrechen zu erklären. Die Legitimation, typisch ‚weibliche‘ Verbrechen zu definieren, bezieht Wulffen hauptsächlich aus Beispielen aus literarischen Werken, mit denen er seine Argumentation zu bekräftigen sucht. Mit seiner Vorgehensweise reiht Wulffen sich in die damals herrschende Argumentationstaktik ein. So scheint sich belegen zu lassen, dass seit der Antike Schriftsteller den Versuch unternommen haben, das kriminelle „Ewig-Weibliche“ zu enthüllen: „Das Bild, welches wir von der Verbrecherin zeichnen, ist ihr Urbild aus den ältesten Zeiten und wird sich nicht verändern, solange die Erde steht.“77 Das Kapitel Giftmischerinnen wird beispielsweise mit einer Reihe von berühmten Texten über Giftmischerinnen aus der „Urzeit“ – Wulffen nennt antike Mythen und spätere literarische Werke über Giftmörderinnen – eröffnet: Medea von Euripides, Cymbeline von William Shakes71 Vgl. M. Hirschfeld: Sexualität und Kriminalität. 72 Lombroso, Cesare/Ferrero, Guglielmo: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes, Hamburg 1884. 73 Groß, Hans: Kriminalpsychologie, Leipzig 1905. 74 H. Siebenpfeiffer: „Böse Lust“, S. 92. 75 Uhl, Karsten: Die „Sexualverbrecherin“. Weiblichkeit, Sexualität und serieller Giftmord in der Kriminologie, 1870–1930, in: S. Komfort-Hein/S. Scholz, Lustmord, S. 133-148. 76 Vgl. Wulffen, Erich: Das Weib als Sexualverbrecherin, Berlin 1923. 77 Ebd.: S. 57.

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peares, Die Macht der Finsternis von Leo Tolstoi, Absolvo te von Klara Viebig und Schneewittchen von den Gebrüdern Grimm. Die Widersprüche in seiner Argumentation lassen die diskursiven Grenzen des durch das Geschlecht begründeten Verbrechens erkennen. Auf der einen Seite konfiguriert Wulffen seiner misogynen Zeit entsprechend die Frau als ein im Vergleich zum Mann „niedrigeres“, „primitiveres“, „unterentwickelteres“ und „instinkthafteres“ Wesen, das schneller zu „tierischen“ Ausbrüchen und Verbrechen tendiert. Die Frau wird mit einer verbrecherischen ‚Natur‘ versehen, die sie laut Kriminalanthropologie krimineller als den Mann macht: „Da das Weib ursprünglicher mit der Natur zusammenhängt als der Mann, da es primitiver organisiert ist als er, und die Instinkte in der weiblichen Natur freier spielen, so ist der Instinkt der Grausamkeit, im Tierreiche vorgebildet, leichter und heftiger geweckt als beim Manne.“78 Auf der anderen Seite führt Wulffen die Statistik für die Jahre 1911 bis 1913 an, die Frauen nur in der Kindstötung eine führende Position zuweist. Die Verhältnisse zwischen weiblichen und männlichen Verbrechen variieren von 1 bis 20 Verbrecherinnen auf 100 Verbrecher. Im Gegensatz zur Gifmischerin und Kindsmörderin als typisch ‚weiblicher‘ Verbrecherin bei Wulffen vertreten Cesare Lombroso und Guglielmo Ferrero beispielsweise die These, dass Prostitution ein Merkmal ‚weiblicher‘ Natur und daher eine Folge der weiblichen Degeneration sind. Laut Lombroso und Ferrero findet männliche Kriminalität findet ihr Äquivalent in weiblicher Prostitution.79 Ein weiterer Widerspruch bezieht sich unmittelbar auf den sexuellen Charakter des weiblichen Verbrechens. Auf der einen Seite glaubt Wulffen, den „sexuellen Schlüssel zur weiblichen Kriminalität“ gefunden zu haben.80 Die Wurzel jeglicher Verbrechen liegt laut Wulffen im sexuellen und das heißt dem pathologischen Geschlechtstrieb der Frau, der sie dem männlichen Geschlechtstrieb annähert: „Daß sich bei vielen Verbrecherinnen andererseits ein Übermaß von Sexualität findet, die sie bis zur männlichen Aktivität und darüber hinaus aufpeitschen kann, ist allgemein bemerkte Tatsache. Namentlich große Verbrecherinnen nähern sich oft dem männlichen Typus.“81 Auf der anderen Seite kann die Frau nie eine Lustmörderin wer78 Ebd.: S. 29. 79 C. Lombroso/G. Ferrero: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, S. 413. Die Verbrecherin ist laut dieser Studie doppelt „monströs“, da sie als eine doppelte Ausnahme gilt: Der männliche Verbrecher stellt sich als eine Ausnahme in der Gesellschaft dar, die weibliche Verbrecherin ist die Ausnahme unter den männlichen Verbrechern. „Als doppelte Ausnahme muss die Verbrecherin also doppelt monströs sein.“ Während die Prostituierte eine frigide, also nach Lombroso und Ferrero eine ‚normale‘ Frau ist, die aufgrund ihrer Degeneration zur Prostituierten wird, verfügt die Verbrecherin über einen gesteigerten Geschlechtstrieb, der sie dem männlichen Typus annähert. 80 E. Wulffen: Das Weib als Sexualverbrecherin, S. 26. 81 Ebd.: S. 27.

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den, da die Definition des Lustmordes als Ersatz für den Koitus (KrafftEbing) spezifisch ‚männliche‘ Eigenschaften verlangt: „Unter den Vampiren, Lustmördern, Nekrophilen und Kannibalen findet sich eine Reihe Impotente, die beim Weibe unfähig sind und nur unter Verübung ihrer verbrecherischen Handlung zu einer Ejakulation gelangen. […] Auch deshalb, weil das Weib einen solchen Zustand nicht kennt oder wenigstens nicht als Qual empfindet, liegen ihm die genannten Verbrechen fern. Selbst bei Nymphomanen ist der Geschlechtstrieb nicht derartig monströs, daß er zu Lustmord, Nekrophilie und Kannibalismus gelangt. Aber im Märchen von Schneewittchen gelangt die Königin und Giftmischerin zu Anthropophagie, indem sie die inneren Teile der verhaßten schönen Stieftochter zu verzehren wünscht.“82 Der Lustmord wird deswegen als ein spezifisch männliches Verbrechen definiert, weil er an die Vorstellung von männlicher Sexualität und der männlichen Rolle während des Geschlechtsverkehrs geknüpft wird. Wie die Textpassage deutlich macht, kann die Frau laut literarischer Quellen, die Wulffen als Beweis für die weibliche lustmörderische Veranlagung vorführt, nur als Giftmischerin auftreten. Später jedoch führt Wulffen einige Beispiele für weibliche Lustmorde an, die genau dann als Lustmorde definiert werden, wenn sie nicht den herrschenden Geschlechternormen entsprechen. Sobald das Verbrechen eine Irritation in der herrschenden Geschlechterordnung auslöst, werden die von Frauen begangenen Morde als Lustmorde bezeichnet.83 So definiert Wulffen den lesbischen Mord,84 den Mord einer Herrin an ihrem Sklaven85 oder den Mord an einer anderen Frau mit „politischem Einschlag“,86 bei dem Wulffen eine homosexuelle Grundlage vermutet, als Lustmord. Bei Gerichtsmediziner Julius Kratter87 kann auch ein Fall einer homosexuellen Lustmörderin gefunden werden. In dieser Form des Mordes nimmt die Frau entweder aufgrund von Homosexualität eine ‚männliche‘ Geschlechtsposition ein (die Anfang des 20. Jahrhundert sowohl als entartet gesehen als auch kriminalisiert wird), oder ihr wird eine ‚männliche‘ Machtposition zugeschrieben. An diesen Beispielen wird deutlich, dass der Lustmord geschlechtsspezifisch für die Stabilisierung der herrschenden Gender-Diskurse eingesetzt wird. Ist der männliche Lustmord aus dem männlichen Begehren heraus abzuleiten, dient hingegen der weibliche Lustmord der Hervorhebung von ‚untypischen weiblichen‘ Begehrensfor82 Ebd.: S. 377. 83 K. Uhl: Die „Sexualverbrecherin“, in: S. Komfort-Hein/S. Scholz, Lustmord, S. 133-148. In seinem Aufsatz zeigt Karsten Uhl, dass die von den Frauen begangenen Verbrechen, die durch herrschende Geschlechternormen nicht erklärt werden konnten, als Lustmord definiert wurden. 84 E. Wulffen: Das Weib als Sexualverbrecherin, S. 391. 85 Ebd.: S. 274. 86 Ebd.: S. 275. 87 Kratter, Julius: Gerichtsärztliche Praxis. Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Bd. 2, Stuttgart 1919.

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men. Das konforme Begehren des Mannes wird durch den Lustmörder reproduziert beziehungsweise verdoppelt, denn der Lustmord weist auf das Vorhandensein des ‚natürlichen‘ männlichen Triebes hin, wohingegen die Frau als Lustmörderin ihre abnorme Machtposition oder ihre Homosexualität, also die Aneignung des ‚männlichen‘ Begehrens, signalisiert. Um die misogynen Diskurse der Jahrhundertwende zu relativieren, kann die Untersuchung von Kathrin Kompisch88 herangezogen werden, die den Mythos des ‚typisch weiblichen‘ Verbrechens, den Giftmord, zerstört. Laut ihrer Untersuchung ist das bevorzugte Tatwerkzeug der Frauen nicht Gift, sondern das Messer, in den meisten Fällen das Küchenmesser. Ein Fünftel tötet mit den Händen durch Schläge, Drosseln oder Würgen. Ein weiteres Fünftel mordet mit einer Schusswaffe. Auf jeden Fall stellt Kompisch fest, dass „Frauen nicht aufgrund ihres Geschlechts anders morden als Männer, sondern die Unterschiede [sind] in ihrem kriminellen Verhalten mit den verschiedenen existenten Rollenbildern und Lebenswelten erklärbar. Männer töten beispielsweise ihre Kinder seltener, dafür verlassen sie öfter ihre Familie und verweigern den Unterhalt.“89 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Diskussion über den Lustmord zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Männlichkeitsdiskurs verhandelt. Da zu dieser Zeit eine Krise der Männlichkeit zu diagnostizieren ist,90 liegt der Konstruktion des Lustmörders die Fantasie der ‚Urmännlichkeit‘ zugrunde. Der sadistische Geschlechtstrieb wird als Überbleibsel der ‚Natur‘ beziehungsweise als ein tierisches Erbe im Mann gesehen, das einerseits gezähmt werden muss, andererseits ein Ventil benötigt. Der Lustmörder ist nichts anderes als ein ‚Urmann‘, der seine Urtriebe nicht beherrschen kann. So wird die männliche Gewalt als ein von ‚Natur‘ aus vorhandener und schwer beherrschbarer Geschlechtstrieb legitimiert. Psychologie des Lustmordes Erst in den 1950er Jahren setzt sich die Psychoanalyse, später auch die Entwicklungspsychologie und die Psychiatrie im Lustmorddiskurs durch und verdrängt langsam die kriminalanthropologischen Konzepte, obwohl die psychoanalytischen Ansätze zur Blütezeit der Kriminalanthropologie entstanden sind. Dieser Zeitrahmen ist nur bedingt als fix zu sehen, da kein Schnitt im Paradigmenwechsel stattgefunden hat, sondern anthropologische, psychoanalytische und psychiatrische Ansätze seit den 1930er Jahren bis zum Anfang der 1970er Jahre miteinander konkurrieren oder ergänzend für

88 Kompisch, Kathrin: Furchtbar feminin: Berüchtigte Mörderinnen des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2006. 89 Ebd.: S. 191. 90 Dahlke, Birgit: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900, Köln; Weimar; Wien 2006.

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die Erklärung eingesetzt werden.91 Hans Giese definiert beispielweise im Jahr 1952 den Lustmord noch in den Traditionen von Krafft-Ebing und Hirschfeld als einen Mord aus sexuellen Motiven und im sexuellen Affekt, der meist in Verbindung mit Notzucht als besondere Form des Sadismus und Vampirismus auftritt.92 In den früheren kriminologischen Schriften wird teilweise schon die Psychoanalyse angewendet, allerdings nicht zur Erklärung des Lustmordes. Die 1950er Jahre als Zeitangabe für den Paradigmenwechsel hängen mit der Veröffentlichung der psychoanalytischen Studie des US-amerikanischen Kriminalpsychologen Joseph de River Der Sexualverbrecher93 zusammen, die 1949 erschien (auf Deutsch 1951). Im Film wurde bereits seit den 1930er Jahren mit (trivial-)psychoanalytischen Ansätzen für den Lust- und Sexualmord gearbeitet.94 Man kann die These aufstellen, dass gerade der Film die Psychoanalyse für die Kriminologie als Erklärung des Lustmordes attraktiv machte. Die Psychoanalyse entwickelte verschiedene Perversionstheorien, die zur Erklärung des Lustmordes bis heute in populärwissenschaftlichen Schriften und in ästhetischen Repräsentationen verwendet werden. In seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1904–1905) geht Sigmund Freud von einer polymorph-perversen Anlage kindlicher Sexualität aus, die durch Ekel, Scham und Moral später eingedämmt und in das dem Primat der Genitalien unterworfene Sexualleben des Erwachsenen integriert werden muss. Freud unterscheidet in der prägenitalen Phase der Sexualorganisation kannibalisch-orale und sadistisch-anale Stadien sowie die Partialtriebe, die in diesen Stadien herrschen.95 Perversionen werden ebenso wie Hysterie und Zwangsneurose („die Neurose [ist] gleichsam ein Negativ der Perversion“96) 91 Vgl. Berner, Wolfgang/Karlick-Bolten, Edda: Verlaufsformen der Sexualkriminalität, Stuttgart 1986. 92 Giese, Hans: Wörterbuch der Sexualwissenschaft, Bonn 1952. 93 River, Joseph Paul de: Der Sexualverbrecher: Eine psychoanalytische Studie, Heidelberg 1951. 94 Vgl. Höltgen, Stefan: Schnittstellen – Serienmord im Film, Marburg 2010, S. 7487. Laut Höltgen ist der psychoanalytische Diskurs für die Erklärung der Triebund Sexualmorde schon in den 1930er in Filmen nachweisbar, wie beispielsweise in Doctor X (USA 1932, R: Michael Curitz), Supernatural (USA 1933; R: Viktor Halperine) und Pièges (F 1939; R: Robert Siodmak). 95 Freud, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: ders.: Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 10 (1913–1917), S. 323-357, hier: S. 333. Die „primitiven Regungen“ beziehungsweise eigensüchtigen Triebe, die durch die Kultur in soziale beziehungsweise „gute“ Triebe umgewandelt werden sollen, gehören zu der „elementaren Natur“ jedes Individuums: „Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, daß er denselben Triebverzicht leiste.“ Freud war sich der repressiven Strukturen von Kultur bewusst, er verwendet auch das Wort „gute“ in Anführungszeichen. 96 S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 99.

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als Verdrängungsprodukt oder als Resultat von Regression aufgefasst. Neben ausgefallenen Erziehungsmaßnahmen sieht Freud die Ursache für Perversionen in Ödipus- und Kastrationskomplexen. In späteren Studien erarbeitet Freud die zwei Grundtriebe Eros und Thanatos, deren Antagonismus das Triebleben jedes Individuums strukturiert.97 Das Streben nach Lustgewinn und Selbst- und Arterhaltung als Funktion des Liebestriebs wirkt dem Streben nach der Rückkehr zu einem früheren, unorganischen Zustand als Funktion des Todestriebes entgegen. Die Balanceverschiebung zwischen Eros und Thanatos kann sowohl zum Lustmord als auch zur Impotenz führen: „Veränderungen im Mischungsverhältnis der Triebe haben die greifbarsten Folgen. Ein stärkerer Zusatz zur sexuellen Aggression führt vom Liebhaber zum Lustmörder, eine starke Herabsetzung des aggressiven Faktors macht ihn scheu und impotent.“98 Den Lustmord versteht Freud gemäß der zu seiner Zeit herrschenden Definition von Krafft-Ebing, selbst wenn dem Freud’schen Begriff ein anderes Konzept der Sexualpathologie zugrunde liegt. Der Lustmord ist Folge einer durch Aggression verstärkten sexuellen Energie, die den Liebesakt zum Lustmord steigert oder ihn durch den Lustmord ersetzt. Die Trieblehre findet aber im Vergleich zur Lehre über die Entwicklung der Sexualorganisation sowie der Ödipus- und Kastrationskomplexe, die im Verlauf des Jahrhunderts zur wichtigsten Denkfigur und zum wichtigsten Erklärungsmuster des Lustmordes, später des Sexual- und Serienmordes avanciert, keine große Verbreitung im Lustmorddiskurs. Als Erinnerung an die Freud’sche Triebtheorie kann der Begriff „Triebtäter“ gelesen werden, der in den 1970er Jahren als Synonym für Lustmörder verwendet wird.99 Mit der Vereineinahmung der Psychoanalyse für die Ätiologie der pathologischen Lust verläuft die Argumentation nicht mehr anhand der Sammlung von Krankheitserscheinungen, deren Beweise am Körper zu sehen sind, sondern die Psyche wird zum Zentrum der analytischen Auseinandersetzungen. Wird die Pathologie in der Psyche lokalisiert, so wird sie im Unterschied zu den kriminalanthropologischen Schriften unsichtbar, was zur Folge hat, dass die ganze Biografie des Lustmörders zur Erklärung des Deliktes funktionalisiert wird. Dies ist auch an den Fallgeschichten zu sehen, die länger und ausführlicher werden. Zur Ursache wird die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit, wobei die Beziehung zur Mutter oder zum Geschlechtspartner in den Vordergrund rückt. In diesem Kontext steigt in den kriminologischen Schriften auch die Konjunktur der homosexuellen oder transsexuellen Täter.100 Daher sind die später so populär gewordenen 97 98 99 100

S. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 1-69. S. Freud: Abriß der Psychoanalyse, S. 44-47, hier: S. 45-46. Vgl. M.P. Schaeffer: Der Triebtäter. Ein Fall bei dem deutschen Obermedizinalarzt Steffen Berg beschreibt einen Transvestiten, der Frauen umbringt, um selbst zur Frau zu werden: um ihre Kleidung anzuziehen oder aus ihren Haaren eine Perücke zu machen. Vgl.

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Schlüsselerlebnisse oder Traumata in der Biografie des Lustmörders als Folge der analytischen Leistung der Kriminologen zu betrachten, die zur Ätiologie des Mordes bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit hervorgehoben und als solche interpretiert haben.101 Die Erklärungen dazu sind sehr unterschiedlich, wie zum Beispiel das Scheitern des Ödipuskomplexes, der Konflikt aus der Diskrepanz zwischen den physiologischen Bedürfnissen und der normativ eingeengten Möglichkeit zur Triebverwirklichung oder das Scheitern bei der Herstellung der ersten sexuellen Beziehung mit dem/der Partner/in, um nur einige wenige zu nennen. Die Fallgeschichten und die Gutachten beschränken sich dabei in der Regel nicht auf eine Erklärung. Das 1949 erschienene Werk des US-amerikanischen Kriminalpsychiaters und Sexologen Joseph Paul de River Der Sexualverbrecher: Eine psychoanalytische Studie,102 dessen Titel bereits die neue psychoanalytische Perspektive deutlich macht, erklärt den Lustmord mithilfe Freud’scher Psychoanalyse und Krafft-Ebings anthropologisch geprägter Sexualpathologie. In seiner Aussage wendet de River sich von der anthropologischen Ätiologie des Lustmordes ab: „Er [ein perverser Mensch; Anm. d. Ver.] bildet eher ein psychiatrisches und psychologisches als ein chirurgisches oder endokrinologisches Problem.“103 Die vorgestellten Fallgeschichten enthalten jedoch Informationen über familiäre Geisteskrankheiten, die Beschreibung von Körper und Geschlechtsorganen (in der Tradition von Krafft-Ebing), aber auch Familienkonstellationen wie den Ödipuskomplex oder inzestuöses Verlangen (in der Tradition Freuds), die in den Werken der früheren 1920er Jahre noch nicht zu finden sind. Ist die Beziehung zur Mutter beziehungsweise der Verzicht auf das inzestuöse Begehren der Mutter in der Psychoanalyse für die Entwicklung des den bürgerlichen Normen konformen Mann-Seins zentral, so wird auch die gescheiterte oder inzestuös-pathologische Beziehung zur Mutter im Lustmorddiskurs zur Erklärung herangezogen. Der Destruktionstrieb wird also nicht mehr als ‚natürlich‘ angesehen, sondern als Folge einer bestimmten Entwicklung. In diesem Zusammenhang gerät die geschlechtsspezifische Festlegung der Opfer in den Fokus der Erklärungsargumentationen zur männlichen Zerstörungslust: Warum töten Lustmörder Frauen? Denn mit der Auflösung des ‚natürlichen‘ männlichen Triebes kann die Erklärung des Berg, Steffen: Das Sexualverbrechen. Erscheinungsformen und Kriminalistik der Sittlichkeitsdelikte, Hamburg 1963, S. 187. 101 Vgl. A. Höcker: „Die Lust am Text“, in: S. Komfort-Hein/S. Scholz, Lustmord, S. 37-51. Laut der aufschlussreichen Analyse von Arne Höcker ist der Lustmord in den Fallgeschichten als Effekt von narratologischen und ästhetischen Enscheidungen literarischer Praktiken zu betrachten, die den Lustmord als eine sinnvolle und logische Konstruktion darstellen und ihn zugleich dadurch erklären. 102 J.P. de River: Der Sexualverbrecher. 103 Ebd.: S. XIII.

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Tötungsdrangs nicht mehr aus der heterosexuellen Matrix hergeleitet werden. In seiner Studie versucht de River mithilfe der Freud’schen Psychoanalyse die Antwort auf diese Frage zu finden. Lustmörder töten Frauen – so stellt de River in einem Fall fest – aus Rache an der Mutter, deren Stellvertreterinnen die Opfer sind. Als Beispiel kann der Fall K. angeführt werden,104 bei dem de River die Opfer des Lustmörders zu symbolischen Vertreterinnen seiner Mutter erklärt, die ihm wenig Liebe zuteil werden ließ: „Viele Jahre hindurch hat er sein unbewußtes Haßgefühl gegen Frauen anwachsen lassen. Mit der Ermordung seiner Opfer, die ohne Zweifel Symbole für seine Mutter waren, tötete er das Wesen, das er am meisten liebte, das ihm jedoch versagt geblieben war. Diese ihm versagt gebliebene Liebe hatte sich in Haß umgewandelt.“105 Der scheinbar emanzipatorische Ansatz entpuppt sich als Verschiebung der Verantwortung für den Lustmord vom ‚atavistischen‘ Sohn auf die ‚böse‘ Mutter – eine Konstruktion, die um die Wende zum 20. Jahrhundert noch nicht zu finden ist. Vor allem macht dieses Erklärungsmuster die Angst vor der Verweiblichung des Mannes in der Kultur deutlich. Obwohl K. auch von seinem Vater und seinen Geschwistern keine Zuneigung erhielt, manifestiert sich die Pathologie des Sohnes als Hass gegen die Mutter. In seiner Beurteilung bezieht sich de River nicht nur auf die psychoanalytischen Konzepte, sondern erscheint als Vorläufer der so genannten Profiler, die an den Opfern das Krankheitsbild des Mörders abzulesen versuchen. Aufgrund der Art und Weise der Ermordung stellt de River fest, dass K. unter einem sadomasochistischen und einem Inzest-Komplex leidet sowie eine kannibalische Neigung aufweist.106 Ein anderes Beispiel weist in der einige Jahre später erschienenen Studie von Steffen Berg auf die Mutter hin, deren promiske Sexualität zur sexuellen Pathologie des Sohnes wird. So lautet eine Passage zum Mörderprofil: „M. entstammte als das Produkt mütterlichen Ehebruchs einer geschiedenen Ehe. Er wurde zunächst in einem Kinderheim aufgezogen; die Mutter führte besonders in den Nachkriegsjahren einen liederlichen Lebenswandel und war meist außer Haus, so daß M. schon in den ersten Schuljahren kaum beaufsichtigt wurde.“107 Dass die Mutter in der Nachkriegszeit eventuell viel arbeiten muss oder die Gewalthandlungen nach dem Krieg ansteigen, werden als mögliche kulturelle 104 Ebd.: S. 142-164. 105 Ebd.: S. 161-162. 106 Ebd.: S. 163. Zur kannibalischen Neigung führt de River die Erklärung im Freud’schen Sinne an: „In diesem Stadium [sadistisch-bukkal, Anm. d. Verf.] findet das Kind Vergnügen und Befriedigung am Beißen und Saugen.“ 107 S. Berg: Das Sexualverbrechen, S. 142. Der Fall 44 steht im Kapitel 2 Unbeabsichtigte Tötung im Rahmen von Sexualdelikten (S. 137-151) und kann nicht zum ‚echten‘ Lustmord gezählt werden. Nichtsdestotrotz werden auch in diesem Kapitel die Erklärungsmuster des Lustmordes wie die biografische Fundierung der Tat oder die pathologische Beziehung zur Mutter als Ursache herangezogen.

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Faktoren nicht angesprochen. Allein die mütterliche Sexualität initiiert die Pathologiebildung des Sohnes. Diese Erklärungsmuster erfreuen sich bis heute in den ästhetischen Diskursen großer Popularität. Der Film Psycho (USA 1960, R: Alfred Hitchcock) kann hier als ein Beispiel genannt werden, das mittlerweile zum Klassiker der filmischen Lustmorddarstellungen geworden ist. Die Bindung an Mutter ist so gewaltig, dass am Ende des Filmes der Protagonist Norman Bates (Anthony Perkins) vollkommen zur Mutter wird, in die er sich vor jedem Mord ‚verwandelt‘. Eine weitere Ausdifferenzierung in der Definition des Lustmordes ist in den 1950er Jahren festzustellen. De River unterscheidet einen sadistischen Mord von einem Lustmord dadurch, dass „beim Lustmord Verstümmelung der Geschlechtsorgane vorliegt, während der sadistische Mord den Ausdruck einer etwas milderen Form des verbrecherischen Sadismus darstellt.“108 Der Lustmord soll also den Bezug zur Sexualität oder zumindest zu den Genitalien bewahren. Diese Definition des Lustmordes unterscheidet sich von der des sadistischen Mordes nur graduell. Weil in vielen Fällen eine Unterscheidung de facto kaum möglich ist, zieht auch de River in Analogie zu Wulffens Argumentationsverfahren Fotografien der Opfer heran, um seine vage Definition durch ‚Fakten‘ zu bekräftigen. Auffällig ist dennoch, dass de River die Taten von Homosexuellen und Frauen unter den sadistischen Morden subsummiert, während der Lustmord hauptsächlich innerhalb einer heterosexuellen Beziehung geschieht. Darüber hinaus existieren zu dieser Zeit außerdem Vorstellungen über Lustmord als Mord aus dem Affekt und als vorsätzlicher Mord. Bei de River findet man beide Definitionen des Lustmordes. An einer Stelle bezeichnet er den Lustmörder als leidenschaftlichen Mörder: „Der wahre Lustmörder verharrt in der Hitze der Leidenschaft.“109 An anderer Stelle definiert de River den Lustmord als geplanten Mord: „Sein Verbrechen ist, wie beim sadistischen Mord, gewöhnlich vorsätzlich. Es wird begangen, um die sexuelle Spannung zu lösen. Der Lustmörder erzielt nur dadurch eine Befriedigung, dass er sein Opfer physisch verletzt oder quält.“110 Die Serialität verdrängt den Affekt beziehungsweise den Geschlechtsrausch, die um 1900 als wichtigstes Merkmal gelten, aber dann sukzessiv verschwinden. Die Serialität bildet sich, so meine These, erst im Laufe des letzten Jahrhunderts im Film heraus, aufgrund der genrebedingten Anforderung des Spannungsaufbaus.111 Nur in einigen wenigen literarischen Werken und kriminologischen Schriften um die Jahrhundertwende gehört die Serialität zum Lustmordnarrativ, während im Film von Anfang an die Wiederholung zum Bestandteil des Lustmordnarrativs geworden ist. Die serielle Tat kristallisiert sich zu einem Ritual heraus, das seit der Verbreitung der Psychoanalyse im Lustmorddis108 109 110 111

J.P. de River: Der Sexualverbrecher, S. 114. Ebd.: S. 114. Ebd. Zum Serienmörder-Motivkomplex vgl. S. Höltgen: Schnittstellen.

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kurs zur Reproduktion der traumatischen Urszene (meistens durch die Mutter verursacht) wird. 1963 erscheint in der Kriminalistik das Buch Das Sexualverbrechen von Steffen Berg,112 Oberregierungsmedizinalrat und Leiter der kriminalwissenschaftlichen Abteilung des Bayerischen Landeskriminalamtes. Berg unterscheidet im Gegensatz zu de River schon sechs Typen des Sexualmordes; die letzten beiden Definitionen nehmen Bezug auf den Lustmord: „Tötung als sadistischer Höhepunkt eines Sexualaktes“ und „Tötung als sexuelles Äquivalent“.113 Die letztere Definition entspricht dem Lustmord in seiner „reinen“ Form, die nach Berg äußerst selten vorkommt: „Ohne Zweifel stellt der Lustmord i. e. S. nur den Endpunkt in der Entwicklung einer sadistischen Täterpersönlichkeit dar, deren Triebstruktur als integrierendes Merkmal die Gewaltanwendung, das Überwinden von Widerstand, das Zufügen von Verletzungen und Schmerzen beinhaltet.“114 In einer Polemik gegen Hirschfeld, der die untersuchten Lustmörder als „schwer degeneriert, hauptsächlich Epileptiker und hochgradig Verblödete“115 schildert, vertritt Berg die Meinung, dass Lustmörder unter einer (Sexual-)Psychopathie leiden, die aber keine entscheidende Rolle für die Willensfreiheit hat und dementsprechend die Zurechnungsfähigkeit des Täters nicht beeinträchtigt. Der Lustmord wird nicht mehr als Mord im Affekt, sondern als Auslebung lang gehegter sadistischer Fantasien betrachtet. Anzumerken ist, dass Berg die geschlechtsspezifische Definition des Lustmordes vergeblich aufzulösen versucht, indem er auch eine Lustmörderin anführt. Die Kriminologie strebt eine Verallgemeinerung von Merkmalen an, die die lustmörderische Ätiologie ausmachen können, weist jedoch selbst immer wieder auf die Unmöglichkeit einer solchen geschlechtsspezifischen Unifizierung der Erklärungskonzepte hin, während in der Literatur und im Film der Lustmord zum Inbegriff der männlichen ‚Natur‘ wird. Der Psychopath wird zur Denkfigur des veranschaulichten Paradigmenwechsels, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Lustmorddiskurs stattfindet. Die Definition der Psychopathie war durchaus problematisch, was letztendlich zur Diskreditierung dieses Begriffes geführt hat. Das Konzept der Psychopathie ist stark kritisiert worden, da die Abnormalität laut dem Lexikon für Psychiatrie, Psychotherapie und Medizinische Psychologie (2001) hauptsächlich in charakterologischen Abweichungen (der Affektivität, der Willensbildung) ihren Ausdruck findet, die sich störend auf das soziale Leben auswirken: „Die Abnormalität bezieht sich nicht auf einem Krankheitsvorgang, sondern bezieht sich auf ‚Abweichungen von einer uns vorschwe-

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S. Berg: Das Sexualverbrechen. Ebd.: S. 132. Ebd.: S. 131. Ebd.: S. 133.

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benden Durchschnittsbreite von Persönlichkeiten‘ (K. Schneider).“116 Die US-amerikanische Psychiatrie definiert den Psychopathen als „Persönlichkeit mit antisozialem Verhalten, die als Individuum gegen soziale Normen verstößt und dabei andere und sich selbst leiden lässt.“117 Die Kategorie Psychopathie beschreibt also eine psychische Abnormalität, die sich vornehmlich in sozialer Unangepasstheit zeigt, ohne dass sie als ‚Krankheit‘ klassifiziert wird. So kritisieren beispielsweise Cameron und Frazer zu Recht, dass es sich um einen unpräzisen Begriff handelt, der immer dann gebraucht wird, wenn Definitionsschwierigkeiten auftauchen: „Das Problem ist ein endloser Kreislauf: Psychopathen werden als Menschen definiert, die entsetzliche sadistische Verbrechen begehen, und der Grund, warum sie diese Verbrechen begehen ist, daß sie Psychopathen sind.“118 Die Diskussion führte dazu, dass das Konzept der Psychopathie und der Begriff der Psychopathie seit 1980 als eine diagnostische Einheit vermieden werden.119 Die Debatten um Psychopathie sind jedoch deswegen von Bedeutung, weil sie den Diskurswandel von kriminalanthropologischen Ansätzen120 zu psychiatrischen und (sozial-)psychologischen Theorien deutlich machen und überhaupt erst ermöglichen. Bei dieser Diskurskonkurrenz wird das Psychopath-Modell zur Denkfigur an der Schnittstelle beider Diskurse.121 Richard 116 Peters, Uwe Henrik: Lexikon. Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie, München; Jena 2007, S. 439. 117 Ebd. 118 D. Cameron/E. Frazer: Lust am Töten, S. 119-123. Martin Lindner definiert den Psychopathen als „blinden Fleck“. 119 Vgl. U.H. Peters: Lexikon, S. 439. 120 Battegay, Raymond et al. (Hg.): Handwörterbuch der Psychiatrie, Stuttgart 1992, S. 492-496. Die herkömmliche Lehre zur anthropologisch geprägten Psychopathie geht laut dem Handwörterbuch im Wesentlichen auf Koch, Kraepelin, Kahn und K. Schneider und die sozialpsychologischen Theorien auf die Studien von Aichorn, Bennet, McCord, Spitz, Bowly, A. Freud und Fenichel zurück. 121 Der Diskurswandel kann als Zusammenführung von verschiedenen Konzepten betrachtet werden, die sich durch die Neuformierung des Diskurses so stark verdichten, dass sie sich gegenseitig stören. Widersprüche entstehen in der Frage nach dem bewussten beziehungsweise affektgeleiteten Handeln sowie nach der Zurechnungsfähigkeit der Psychopathen. Der Psychopath erscheint durch diese Verdichtung der Diskurse als eine ambivalente Konstruktion des Lustmörders, die ihm einerseits eine psychische Pathologie zuschreibt, andererseits einen freien Willen und Verantwortung zuspricht. In der Einleitung zu den Studien von de River heißt es: „Dabei ist Dr. de River zu der Schlußfolgerung gelangt, daß perverse Personen meist nicht Produkte erbbedingter Belastung oder gestörter Drüsentätigkeit, sondern Opfer ihrer Umwelt oder ihres Umganges sind. Er vertritt also die für einen Psychiater recht ungewöhnliche Ansicht, daß ebenso wie andere so auch pervers veranlagte Menschen einen freien Willen

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von Krafft-Ebing nennt seine Studie zur Sexualpathologie Psychopathia Sexualis (1886) und verwendet den Begriff Psychopath auch im Fall eines Lustmordes. In seiner Beobachtung 16 ist nachzulesen: „Er war ein psychopathischer Mensch, hatte zeitweise Depressionszustände mit Taedium vitae.“122 In der französischen Psychiatrie wird der Begriff im 19. Jahrhundert für alle psychischen Auffälligkeiten verwendet.123 Der Streitpunkt entsteht mit der Anwendung der sozialpsychologischen Theorien.124 Der psychoanalytische und der sozialpsychologische Ansatz betrachten Psychopathie als Folge eines kindlichen Traumas oder spezifischer Sozialisationsbedingungen. Der Streit entwickelt sich dahingehend, inwieweit eine „gegebene Persönlichkeitsstruktur etwas anlagemäßig Gegebenes (Psychopathie) oder etwas lebensgeschichtlich Gewordenes (Neurose)“125 darstellt. Das psychoanalytisch-psychologische Paradigma ist zweifelsohne ein Fortschritt im Lustmorddiskurs, da es familiäre Strukturen in Frage stellt und die Ursachen nicht mehr als ‚natürlichen‘ Ausdruck des Triebes liest. Die Studien von de River und Berg belegen den Paradigmenwechsel im Lustmord, dessen Motivationserklärung sich von ‚natürlichen‘ Ursachen zur Problematisierung der gescheiterten Sozialisation wandelt. Die Psychoanalyse und später die Entwicklungspsychologie entwickeln aber keine einheitliche Theorie der Perversionen, die die Ätiologie des Lustmordes erklären könnte, was die Individualisierung des Täters und auch letztendlich die Diskreditierung des Lustmordes zur Folge hat. Die gesamte Biografie rückt in den Vordergrund und der Täter wird zum Geheimnis, dessen Motivation bei jedem Fall aufs Neue aus der Biografie rekonstruiert werden muss. Diese Unerklärbarkeit und vor allem die Unsichtbarkeit der Pathologie sind am viel kritisierten Begriff der Psychopathie erkenntlich.126 Das Modell des Psychopathen kann aber nicht nur als spekulatives Konzept, sondern sogar als progressives Paradigma verstanden werden, das dem ‚Natürlichen‘ im

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und daher auch die Möglichkeit haben, darüber zu entscheiden, ob sie gewisse gesetzwidrige perverse Handlungen vornehmen wollen oder nicht. Sie sind daher für ihr Verhalten dem Gesetz gegenüber als verantwortlich anzusehen.“ Vgl. J.P. de River: Der Sexualverbrecher, S. XVII. R. von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 77. U.H. Peters: Lexikon, S. 439. Der Begriff Psychopath wird bereits 1952 in offiziellen psychiatrischen Nomenklaturen durch das Wort „soziopathische Persönlichkeit“ und später „dissoziale“ oder „antisoziale Persönlichkeit“ ersetzt. In: Mayer, Karl C.: Neurologie, Psychiatrie, Psychologie, Psychoanalyse. Glossar. vom 06.01.2009. U.H. Peters: Lexikon, S. 439. Vgl. D. Cameron/E. Frazer: Lust am Töten, S. 119. „Das Problem ist ein endloser Kreislauf: Psychopathen werden als Menschen definiert, die entsetzliche sadistische Verbrechen begehen, und der Grund, warum sie diese Verbrechen begehen ist, daß sie Psychopathen sind.“

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Destruktionstrieb eine Absage erteilt. Der Lustmörder wird letztendlich weder als ein geborenes ‚Monstrum‘ konzipiert noch liegt dem Lustmord ein physiologisch bedingtes Bedürfnis zu Grunde, Menschen zu töten. Stattdessen erscheint der Psychopath primär als Produkt schwieriger Familienkonstellationen und einer problematisch verlaufenen Sexualitätsentwicklung; als Beispiel wäre hier ein nicht bewältigter Ödipuskomplex zu nennen. Dieses Paradigma entwirft die Geschlechter im Lustmorddiskurs neu. Der Lustmörder wird in der Kriminalpsychiatrie und -psychologie dank neuer Erklärungsmuster von einem ‚Urmann‘ zu einem ‚unfertigen‘, in der Regel effeminierten Mann.127 Darüber hinaus privatisiert das neue Paradigma im Unterschied zum universalistischen Gestus der Kriminalanthropologie (alle Männer verfügen über den Destruktionstrieb von Natur aus, unabhängig von der kulturellen Formation) die Pathologie und macht sie dadurch zur Ausnahme in der Kultur, zu einer privaten Angelegenheit. Verlust des Interesses am Lustmord In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfährt die Forschung zur sexuellen Kriminalität einen enormen Aufschwung. In der Psychologie, Psychiatrie und neuroanatomischen Forschung ist eine Erweiterung der wissenschaftlichen Perspektiven auszumachen, wobei im Zentrum des Forschungsinteresses die sexuelle Devianz steht. Die sexuellen Tötungsdelikte scheinen zunehmend irrelevant zu werden, so dass in den 1980er Jahren, beispielsweise in den psychiatrisch-psychologischen Studien zur Sexualkriminalität von Berner und Karlick-Bolten, kein Material für Deutschland und Österreich mehr angegeben wird. Die Autoren berichten über Auswertungen zum Sexualmord von Deming (1983) für Florida in den Jahren 1959 bis 1970, wobei durchschnittliche Jahresrate bei 0,1 pro 100.000 Einwohner lag. Mit der Verschiebung des Fokus vom Lustmord auf die sexuelle Devianz wird der ‚abweichenden‘ Geschlechtsidentität wie der Homo- und Transsexualität besondere Aufmerksamkeit geschenkt.128 Zu beachten ist, dass zur dieser Zeit die Homo- und Transsexualität noch nicht entkriminalisiert sind und deswegen als mögliche Voraussetzung der sexuellen Gewalt betrachtet werden.

127 Vgl. Schorsch, Eberhard/Becker, Nikolaus: Angst, Lust, Zerstörung – Sadismus als soziales und kriminelles Handeln. Zur Psychodynamik sexueller Tötungen, Gießen 1977. Ihre Studie führt den Fall von Manfred W. (1968/69) vor, den sie als Selbststabilisierung durch Mord deuten. Der Täter gehört nach ihrer Definition zur Gruppe der unmännlichen Täter. 128 Homosexualität und Transsexualität werden am Anfang des Jahrhunderts ebenfalls kriminell betrachtet; Homosexualität wird unter anderen Ursache auch zur Erklärung für Lustmord angegeben. Das Forschungsinteresse bleibt also dennoch eher beim Lustmord, als bei der Homo- und Transsexualität.

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Sowohl der Lustmorddiskurs als auch die sexuelle Kriminalität sind hauptsächlich Gegenstand des Interesses der kriminologischen Psychiatrie, Psychologie und Medizin, die auf naturwissenschaftlichen Theoremen beruhen. Dafür spricht beispielsweise die Teilnahme der medizinischen/psychiatrischen Gutachter bei Gericht oder deren Arbeit im Gefängnis. Entsprechend der modifizierten Forschungsbefunde werden neue Therapiemethoden entwickelt und der gesetzlichen Basis angepasst. Die Diskussion fokussiert sich auf die Zurechnungsfähigkeit der Sexualverbrecher und die Frage nach ihrer Bestrafung oder möglichen Heilung. Einige Hypothesen werden im Laufe der Zeit widerlegt, andere sind aus Mangel an Beweisen noch nicht belegt und werden bis heute diskutiert. Die Soziologie interessiert sich zwar auch für Verbrechen und Gewalt, wird jedoch am Anfang des letzten Jahrhunderts wenig in die Diskussion über sexuelle Kriminalität einbezogen. In seiner 1895 entwickelten Anomietheorie bezeichnet Émile Durkheim129 kriminelles Verhalten als ein egoistisches, denn das Individuum stellt seine persönlichen Interessen in gewaltsamer Weise vor die Interessen der Gesellschaft. Das kollektive Bewusstsein des Verbrechers ist enorm abgeschwächt. Diese Theorie versucht zum Beispiel, Wirtschaftskriminalität zu erklären. In den letzten Jahrzehnten erscheinen zunehmend sozialpsychologische und soziologische Studien zu sexueller Gewalt. Der erneute Paradigmenwechsel kann auch im Gefängnis nachgewiesen werden, in dem an den Resozialisierungsprozessen der Insassen neben Psychologen in letzter Zeit auch Sozialarbeiter teilnehmen. Beide Forschungsrichtungen existieren gegenwärtig parallel und überschneiden sich stellenweise, ohne einander völlig zu verdrängen. Als besonders problematisch erweisen sich die zahlreichen Versuche, die eine physiologische Ätiologie der Kriminalität begründen wollen. Aus der biologisch-anthropologischen Perspektive, die aus der Tradition von Lombroso hervorgeht, wird die sexuelle Pathologie auf den Gebieten der Neuroanatomie, Neurobiochemie und Neuroendokrinologie überprüft. Die neue ‚Biologisierungswende‘ in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts steht offensichtlich im Zusammenhang mit einer neuen Entwicklung der medizinischen Technik, die die alten Theorien, einschließlich der kriminalanthropologischen Ansätze vom Anfang des 20. Jahrhunderts, aufs Neue überprüft. Die hier kurz skizzierten theoretischen Ansätze und empirischen Forschungen stammen meist aus den 1950er bis 1990er Jahren.130 Aufgrund der großen Anzahl von Forschungen ist es kaum möglich, diese zu klassifizieren. Deswegen sollen hier nur einige wenige Ansätze vorgestellt werden, um einen groben Überblick über die zahlreichen Erklärungskonzepte zu ver129 Durkheim, Émile: Der Selbstmord. Mit einer Einleitung von Klaus Dörner und einem Nachwort von René König, Berlin 1973. 130 Die Skizzierung der theoretischen Ansätze ist dem folgenden Werk entnommen: W. Berner/E. Karlick-Bolten: Verlaufsformen der Sexualkriminalität.

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schaffen. Diese erfahren in der Literatur und im Film eine Reduktion, die den gesamten wissenschaftlichen Sachverhalt auf eine dramatische Pointe hin gestaltet. Unter körperlich-physiologischen Bedingungen sexuellen Handels werden die heute nicht mehr haltbaren Theorien der Vererbung von Kriminalität sowie von Krankheiten als Voraussetzungen für kriminelles Handeln falsifiziert. Die Genforschung beschäftigt sich mit den genealogischen Konstellationen in der Familie,131 um die Vererbung von Kriminalität nachzuweisen, bei der die Zwillingsforschung ein besonders wichtiges Instrument darstellt. Die umstrittene chromosomale Forschung glaubt, deviante Sexualität in den Geschlechtschromosomen entdeckt zu haben. Die Hypothese lautet, dass die XYY-Störung (Supermales) zu Störungen in der Geschlechtsidentität beziehungsweise zu ‚übermännlichem‘, aggressivem Verhalten führt. Später wird jedoch festgestellt, dass in Gefängnispopulationen oft auch eine XXYStörung (Klinefelter-Syndrom) zu beobachten ist, das heißt, dass diese ähnliche Symptome wie die XYY-Störung aufweist, aber kein ‚überweibliches‘ Verhalten hervorruft. Größer angelegte Studien stellen keinerlei Korrelation zwischen Chromosomenanomalien und asozialem Verhalten fest. Es wird vermutet, dass chromosomale Abnormalitäten in 90% der Fälle unentdeckt bleiben, da die Betroffenen ein sozial unauffälliges Verhalten zeigen.132 Die neuroanatomische Forschung spekuliert über Ursachen sexueller Abweichungen auf Basis der Gehirnforschung; so wird unter anderem vermutet, dass Gehirntumore mit spezifischen Sexualstörungen im Zusammenhang stehen. Die lokale Schädigung des Gehirns, die für sexuelle Delinquenz verantwortlich gemacht wird, ist nach Berner und Karlick-Bolten133 nur bei unter 1% der Versuchspersonen zu finden. Spekulative Studien zu den hormonellen Bedingungen der sexuellen Kriminalität behaupten, dass einerseits der Plasmatestosteronspiegel und die Testosteronproduktion mit der zu beobachtenden Aggressivität zusammenhängen und andererseits die hormonelle Prägung der Embryonalzeit bei Erwachsenen zu Homosexualität und Transsexualität führt. Forschungen zur Erkrankung der Genitalorgane geben ebenfalls keine Hinweise auf eine erhöhte Neigung zu deviantem Sexualverhalten. Die Stimulus-Response-Theorie (1957) versucht, „trieb- beziehungsweise instinkthaftes Verhalten als Antwort auf äußere Reize zu verstehen und so den Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und Außenwelt

131 Ich beziehe mich auf die Angaben von W. Berner und E. Karlick-Bolten aus der Jahren 1952 bis 1983. 132 In der Chromomenforschung ist auch die H-Y-Antigen-Forschung zu erwähnen. Die zweifelhafte H-Y-Antigen-Forschung, die das Eiweiß der Y-Chromosomen untersucht, behauptet, dass die Nichtübereinstimmung des Eiweißes mit dem Y-Chromosom Transsexualität und andere sexuelle ‚Störungen‘ bedingt. 133 W. Berner/E. Karlick-Bolten: Verlaufsformen der Sexualkriminalität, S. 24.

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zu systematisieren“134. Sie wird auch als Provokationstheorie bezeichnet, da sie den Opfern wegen ihres „sexuell aufreizenden Verhaltens“135 die Verantwortung für die sexuelle Gewalt, die ihnen angetan wird, zuschreibt, und erfreut sich auch heute noch einer besonderen Popularität. Bei vielen Untersuchungen wurde zum einen jedoch bei Messungen der Körperfunktionen (zum Beispiel Erektions-, Puls-, Atemfrequenzmessung, galvanischer Hautwiderstand, Muskelbewegungen, EEG-Veränderungen usw.)136 als Reaktion auf bestimmte Stimuli kein Unterschied zwischen Vergewaltigungstätern und Tätern, die nicht vergewaltigen, gefunden. Zum anderen wurde bewiesen, dass die Probanden ihre Reaktion steuern, das heißt ihre Erregung steigern oder mindern können. Die gegenwärtigen Untersuchungen legen nahe, dass das Begehen einer Vergewaltigung oder eines Sexualmordes eine Verwirklichung schon lange vorherrschender Fantasien ist und nicht als spontane Reaktion auf äußere Reize erfolgt.137 Zwischen der forensischen Psychiatrie und der forensischen Psychologie bestehen mehrere Überschneidungspunkte; beide sind in vielerlei Hinsicht auf einander angewiesen, jedoch vertritt die psychiatrische Forschung eher eine biologisch-anthropologische Sichtweise.138 Als Ursache von psychischen Abweichungen werden frühkindliche Hirnschäden vermutet. Die Annahme von psychischen Erkrankungen als Ursache für Sexualkriminalität wird wegen Klassifikationsschwierigkeiten und Differenzen in den Versuchs- und Forschungsmethoden jedoch hinterfragt. Keinesfalls lassen sich laut Berner und Karlick-Bolten Zusammenhänge zwischen Psychose, Schizophrenie, Epilepsie und sexueller Gewalt nachweisen. Ein Zusammenhang besteht zwischen (chronischem) Alkoholismus und Sexualdelinquenz, jedoch ist auch diese Koinzidenz viel seltener als erwartet.139 Bei Berner und Karlick-Bolten tritt als Voraussetzung für sexuelle Gewalt am häufigsten 134 135 136 137

Ebd. Ebd. Ebd.: S. 24-26. Vgl. Füllgrabe, Uwe: Sadistische Mörder, in: Dinges, Hannspeter/Füllgrabe, Uwe (Hg.): Gewalttätige Sexualtäter und Verbalerotiker, Bremen 1992, S. 125156. 138 Im Gegensatz zu der problematischen Biologisierung der Sexualtäter kommen Psychologie und soziale Konzepte m. E. dem Ursprung des kriminellen Handelns näher. Die Psyche des Individuums und daher die Kriminalität ist Folge einer kulturellen Prägung. Das Scheitern einiger Konzepte beweist eher, dass ohne Änderung der gesellschaftlichen Strukturen auch die Psyche nicht zu ändern ist. Die Täter kehren in das gleiche soziale Umfeld zurück, das sie zu Kriminellen gemacht hat. 139 W. Berner/E. Karlick-Bolten: Verlaufsformen der Sexualkriminalität, S. 23. In Anlehnung an die Ergebnisse Schorschs (1971) findet sich der chronische Alkoholismus bei „reinen“ Sexualdelinquenten seltener (4,3%), als bei Personen, die neben Sexualdelikten auch andere Straftaten begangen haben (13,2%).

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eine Persönlichkeitsstörung140 (20% aller Probanden) auf, die die AutorInnen auf die Frühsozialisation und Beziehungsstörungen zurückführen. Unter mehreren Typen der Persönlichkeitsstörungen ist beispielsweise die dissoziale Persönlichkeitsstörung zu erwähnen, die die frühere, problematische Kategorie der Psychopathie ersetzt und die Pathologien in Bezug auf Umwelteinflüsse hin präzisiert. Die psychologische Perspektive auf die Sexualkriminalität ergänzt die psychiatrische in der Erforschung der Persönlichkeitsstörungen, indem sie die spezifischen Persönlichkeitsdimensionen in verschiedenen Untersuchungen herausstellt: Intelligenz, Unreife, emotionale Labilität, Extraversion, Aggressivität und Frustrationstoleranz.141 Die laut Wilfried Rasch wichtigsten psychologischen Ansätze in Bezug auf Kriminalität sind das Frustrations-Aggressionskonzept, die Auswirkungen einer defizitären Sozialisation und die Bedeutung des Selbstkonzepts.142 Das erste Konzept beschreibt die (inadäquaten) aggressiven Reaktionen, die durch erlittene Frustrationen verursacht werden. Doch werden zahlreiche Einwände gegen diesen Ansatz erhoben, da viele Personen im Fall einer Frustration nicht zur Aggression, sondern zur Depression und zum Rückzug neigen. Die Theorie der defizitären Sozialisation, die teilweise auf Theorien der Entwicklungspsychologie beruht, tritt besonders in Zusammenhang mit Sexualtätern auf. Laut psychoanalytischer (Entwicklungs-)Theorien, die sich auf die Entstehung individueller Eigenschaften und Motivationen durch eine besonders sensible Entwicklungsphase bis zum fünften Lebensjahr beziehen, hat die Sexualkriminalität ihre Wurzeln in Kastrationsängsten, der gestörten Mutterbeziehung und der oft gleichzeitig fehlenden Identifikationsmöglichkeit mit der Vaterfigur. Schorschs und Beckers Analyse (1977) realer Lustmörder konstatiert „eine hoch komplexe individuelle Psychopathologie“, deren Gründe in der Familie, in der so genannten „primären Sozialisation“, wurzeln.143 Die Selbstkonzepttheorie, die an einem quantitativen Mangel an Forschungsergebnissen leidet, stellt als Ursache für kriminelles Handeln ein negatives Selbstkonzept fest, das sich in dem Gefühl ausdrückt, ein Versager zu sein und keine Chancen in der Gesellschaft zu haben. Diese Theorie 140 Marneros, Andreas: Sexualmörder… Sexualtäter… Sexualopfer… Eine erklärende Erzählung, Bonn 2007, S. 100. Es gibt in verschiedenen psychologischen Nomenklaturen über 200 Bezeichnungen der Persönlichkeitsstörungen; heutzutage beschränkt man sich auf 11-16 Kategorien. Marneros nennt neben der dissozialen (antisozialen) auch schizoide, emotional-instabile (BorderlinePersönlichkeitsstörung), narzisstische, histrionische, selbstunsichere und ängstliche Persönlichkeitsstörungen. 141 Vgl. Rasch, Wilfried: Forensische Psychiatrie, Stuttgart; Berlin; Köln 1999, S. 139. 142 Ebd. 143 E. Schorsch/N. Becker: Angst, Lust, Zerstörung, S. 20.

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weist eine unmittelbare Verbindung zur Etikettierungstheorie (LabelingApproach) auf, bei der sich die Kennzeichnung des Kriminellen aus einer komplexen Interaktion zwischen Täter und Instanzen sozialer Kontrolle ergibt: „Die von den Instanzen sozialer Kontrolle vorgenommene Etikettierung und Stigmatisierung werden Teil des Selbstkonzepts, d.h. das aus der Abstempelung resultierende Selbstverständnis, ein Krimineller zu sein, wird zur Basis weiteren kriminellen Tuns.“144 Die sozialpsychologisch-soziologische Perspektive fußt vorwiegend auf Verhaltenstheorien, die sowohl die frühkindliche Erziehung als auch kulturelle Einflüsse berücksichtigen. Die Subkulturtheorie (1961–1968) hat beispielsweise heute aufgrund der Multikulturalität Deutschlands eine große Bedeutung, da nach Rasch (1999) das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen als Ursache von Wertkonflikten in Deutschland vielfältig belegt ist.145 Cameron und Frazer kritisieren diese Theorie in Bezug auf den Lustmord, da sie die auch in den Subkulturen überwiegend männliche Gewalt gegen Frauen übersieht.146 Diskreditierung des Lustmordes Im Laufe des 20. Jahrhunderts bleibt in der Kriminalpsychologie und psychiatrie das Interesse am Lustmord und sadistischen Sexualmord bestehen, obwohl ein starker Rückgang der Forschung zum Lustmord zu beobachten ist. Die Zeitschrift Kriminalistik enthält beispielsweise eine Rubrik zu sexuellen Tötungsdelikten, so dass jede Ausgabe zwangsläufig über mindestens einen Sexualmord oder Lustmord berichtet. Die verwendeten Begrifflichkeiten werden im Laufe des letzten Jahrhunderts jedoch neutraler: In Bezug auf sexuelle Kriminalität werden öfter die Bezeichnungen Sexualdelinquenz, Sexualstraftat, Sexualmord, Sexualdelikte und Delinquenten sowie Sexualstraftäter gebraucht, im Gegensatz zum Sexualmörder oder Lustmörder. Die Versuche, den Lust- beziehungsweise Sexualmord und sexuelle ‚Abweichungen‘ nur durch psychische und biologische Gegebenheiten ohne Rücksicht auf kulturelle Bedingungen wie soziale, politische und ökonomische Strukturen zu erklären, scheitern permanent. Die Heilung der Triebtäter durch Kastration, anti-hormonelle Behandlung („medikamentös-reversible Kastration“147) und stereotaktische Operationen (diese wurden nur in Deutschland Ende der 1970er Jahre durchgeführt) brachten keine positiven Ergebnisse. In der Epoche euphorischer Resozialisierungsgedanken und 144 W. Rasch: Forensische Psychiatrie, S. 141. 145 Ebd.: S. 143. 146 D. Cameron/E. Frazer: Lust am Töten, S. 146-149. Nach Cameron und Frazer gehört der Lustmörder offensichtlich nicht zu einer speziellen Gruppe, Kultur oder Nation, das heißt er kann mit der Subkulturtheorie nicht erklärt werden. 147 W. Berner/E. Karlick-Bolten: Verlaufsformen der Sexualkriminalität, S. 54.

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Rechtsreformen spricht Martinson 1974 seine Resignation in Hinsicht auf die psychotherapeutische Behandlung klar aus: „nothing works“148. Anfang der 1980er Jahren wird der Begriff Lustmord als höchst ideologische und für die Psychiatrie untaugliche Definition entlarvt: „Nicht nur die Lustmörder werden damals [Anfang des 20. Jahrhunderts; Anm. d. Ver.] erfunden, sondern auch die Zwangskranken, die Psychopathen und viele andere Kreaturen, die ihr Dasein und Sosein der Psychiatrie verdanken, Kreaturen, die es vorher nicht gab oder die vorher namenlos waren.“149 Anfang der 1990er Jahre wird die gesetzliche Definition des Lustmordes als ein Mord zur „Befriedigung des Geschlechtstriebes“ kritisiert. Eberhard Schorsch (1935–1991), Arzt, Psychiater und Sexualforscher, weist darauf hin, dass durch diese Bezeichnung eine gefährliche Reduktion des komplexen psychischen, sexuellen und sozialen Sachverhaltes vollzogen wird. Zu dieser Zeit der Kritik am Begriff des Lustmordes, der die Tatausführung auf Lust oder auf das „Triebhafte“ zu reduzieren versucht, entmythisiert Füllgrabe, ein Kriminalpsychologie, den Lustmord noch weitergehend. In Anlehnung an die Angaben des „National Center for the Analysis of Violent Crime“ (USA) widerlegt Füllgrabe den Mythos, dass der Lustmord eine Steigerung des sexuellen Triebes voraussetzt: Die meisten untersuchten Sexualmörder weisen einen Mangel an sexueller Fähigkeit (69%) auf.150 Auch der Mythos der niedrigen Intelligenz der Mörder – die meisten haben ein durchschnittliches Intelligenzniveau – ebenso wie der des Lustmordes als Mord aus dem Affekt und im Rausch werden widerlegt, da sich der Mord in den meisten Fällen als eine lange geplante und fantasierte Tat entpuppt. Letztendlich zeigt Füllgrabe auf, dass die Motivation nicht in der sexuellen Lust, sondern in der Vernichtung als Machtmanifestation liegt, zu der auch Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung gehören: „Der sadistische Mord ist also keineswegs sexuell motiviert, sondern durch Aggressivität, Haß und durch das Bedürfnis der Macht über ein Opfer.“151 Er bezeichnet dieses Machtgefühl signifikanterweise mit dem Begriff „thrill“, der auf den Thriller zurückführt – genau das Genre, das, so meine These, aufgrund seiner strukturellen Besonderheit die Verbreitung der lustmörderischen Fantasien voraussetzt. Die Ursache der Entstehung dieses Bedürfnisses liegt Füllgrabes Meinung nach in zerrütteten Familienverhältnissen wie auch in der In148 Zitiert nach Schaser, Christiane/Stierle, Claudia: Nachbetreuung entlassender Sexualtäter – Eine Befragung Betroffener, Institut für kriminologische Sozialforschung. Universität Hamburg, Aachen 2005, S. 24. 149 F. Pfäfflin: Lust am Lustmord, S. 550. 150 Die neuen Erkenntnisse zum Sexualmord sind insofern wichtig, weil sie den Diskurswandel anhand dieser Transformation der Argumentation deutlich machen. Es geht nicht mehr um die männliche Sexualität im eigentlichen Sinne, sondern um das Machtgefühl. 151 U. Füllgrabe: Sadistische Mörder, in: H. Dinges/U. Füllgrabe, Gewalttätige Sexualtäter, S. 125.

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stabilität des Wohnumfeldes. Leider äußert sich Füllgrabe nicht zu den Machtstrukturen der Gesellschaft, die die Familie und das Umfeld strukturieren und ein Gefühl der Ohnmacht und Frustration vermitteln können. Die Kritik am Lustmord und ein neuer Umgang mit Sexualverbrechern deuten allerdings auf eine neue „sozialpädagogische“ Wende hin, die auch sozialpsychologische und soziologische Theorien (z.B. die Theorie der differentiellen Assoziationen) berücksichtigt. Dieses neue Verständnis des Lust- beziehungsweise Sexualmordes setzt Lernkonzepte – kognitiv-behaviorale Methoden als Therapie der Sexualdelinquenten – durch, die auch in Kombination mit der Psychotherapie verwendet werden, jedoch anders orientiert sind. Im Gegensatz zu psychodynamischen Therapiekonzepten, die einerseits auf die Persönlichkeit und andererseits auf die Behandlung in der Tiefe liegender seelischer Störungen abheben, zielt die Sozialtherapie auf die Delikte und auf das soziale Verhalten, das die Gesellschaft im Individuum prägt, ab. Nach dem Motto „no cure, but control“152 werden Sexualstraftäter nicht mehr als Kranke betrachtet, sondern als soziale Wesen, deren soziales Verhalten erlernt wurde und jetzt korrigiert werden kann. Besonders verbreitet ist derzeit das Relapse-Prevention-Modell, das als „ein Selbstkontrollprogramm zur Aufrechterhaltung einer erreichten Verhaltensänderung“153 definiert wird. Dieses Programm schließt die Strafrestaussetzung, Nachbeutreuung und den Aufbau von „informierten Netzwerken“154 ein, die Sexualstraftätern helfen, das „korrigierte“ Verhalten aufrechtzuerhalten. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der Begriff Lustmord in den theoretischen Diskursen völlig diskreditiert ist, selbst in den Diskursen zur biologischen Veranlagung der sexuellen Devianz,155 da seine Form und sein Darstellungsschema, so lautet die These, die neuen wissenschaftlichen Befunde kaum integrieren kann. Dem Lustmord liegen bestimmte narrative Darstellungsschemata zugrunde, die auf wissenschaftliche Diskurse um die Wende zum 20. Jahrhundert zurückgehen. Diese strukturieren auch die 152 Kröger, U.: „No cure, but control“ Die Behandlung von Sexualstraftäter in einer forensisch-psychiatrischen Klinik, in: Zeitschrift für Sexualforschung 10/2 (1997), S. 138-146, hier: S. 138. 153 C. Schaser/C. Stierle: Nachbetreuung entlassender Sexualtäter, S. 43. 154 Ebd.: S. 44. 155 Mergen, Armand: Die Sexualität des Geschlechts, in: Schuh, Jörg/Killias, Martin (Hg.): Sexualdelinquenz, Zürich 1991, S. 207-215, hier: S. 212-214. Der problematische Diskurs der Biologisierung der Sexualtäter existiert weiter. Nicht selten können Thesen (1991) gefunden werden wie „Menschliches Triebverhalten ist dem animalischen Instinktverhalten verwandt“ oder noch spekulativer: „Jede Handlung wächst aus und auf einem biologischen Substrat, zu dem die Triebe und Instinkte gehören.“ Dieses Statement beruht auf der Idee, dass chromosomale Geschlechtsunterschiede XX und XY die Unterschiede in den Triebtendenzen und damit die Aggressivität des Mannes erklärt.

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Wahrnehmung des Phänomens im Sinne ebendieser Diskurse. Mit der Disqualifizierung der Diskurse verschwindet folgerichtig die wissenschaftliche Kategorie des Lustmordes. Anzumerken ist, dass die Geschlechtsfrage des Täters und des Opfers unreflektiert bleibt. Sie wird in der wissenschaftlichen Diskussion sowohl in Bezug auf Lustmord als auch auf Sexualmord und Serienmord wenig berücksichtigt. Die männliche Konnotation des Lust-, Sexual- oder Serienmörders sowie die weibliche Konnotation des Opfers sind weiterhin, wie bereits um die vorletzte Jahrhundertwende, unmarkiert, da sie den herrschenden Geschlechternormen entsprechen. Die Diskussion über Sexualtäter wirft im Übrigen weitere unbeantwortete Fragen auf: So erweist sich beispielsweise die Behauptung, dass die Sexualmörder selbst Opfer von in der Kindheit erlebter Gewalt sind, als problematisch. Wenn die Statistiken zeigen, dass die meisten Opfer sexueller Gewalt Mädchen sind, warum sind dann die erwachsenen Täter vorwiegend männlich? Haben die Menschen, die nicht zum Lust-, Sexual- oder Serienmörder geworden sind, prinzipiell ein anderes kulturelles und Familienumfeld als die Mörder?156 Die dargestellten Ursachen für das Lust-, Sexual- oder Serienmordpotenzial können daher allenfalls als notwendige Voraussetzung betrachtet werden. Hinreichende Kriterien sind sie jedoch keinesfalls. Keppel beispielsweise vertritt die Ansicht, dass eine große Anzahl von Menschen mit voll ausgebildeten sadistisch-sexuellen Mordfantasien lebt, ohne je einen Mord zu begehen.157 Nach Andreas Marneros, einem renommierten deutschen Spezialisten für klinische Psychiatrie, hat jeder das Potenzial zum (Lust-)Mord: „Man wird zum Sexualmörder wegen einer Perversion, eines Impulsdurchbruchs, einer Persönlichkeitsstörung, einer neurotischen Entwicklung, einer Hirnschädigung, einer Minderbegabung, seltener wegen einer Psychose. Aber auch das: Man kann töten wegen irgendwelcher Zufälle, irgendwelcher Umstände: Das ist dann das Drama im Drama.“158 Diese Aussage ist als ein Selbstbekenntnis der Psychiatrie zu ihrer theoretischen Schwäche zu lesen, das am Ende eines Buches voller detailliert dargestellter Fallgeschichten, die für die Erklärung dienen müssten, hervorgehoben wird.

156 Diese Problematik existiert auch in Bezug auf die Deutungsmuster zum Serienmord. Vgl. F.J. Robertz: Serienmord als Gegenstand der Kriminologie, in: F.J. Robertz/A. Thomas, Serienmord, S. 15-50, hier: S. 31. 157 Ebd. 158 A. Marneros: Sexualmörder, S. 381.

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ÄSTHETISCHE D ISKURSE Lustmord als Sujet der literarischen Avantgarde Um 1900 wird der Lustmord in der deutschen literarischen und künstlerischen Avantgarde zu einem populären Sujet. Festzuhalten ist, dass die literarischen, künstlerischen und filmischen Repräsentationen den Lustmord ganz ‚vermännlichen‘, obwohl die Kriminalanthropologie um 1900 (Wulffen, Kratter) und auch in den 1960ern (Berg) einige weibliche Lustmörderinnen diskutiert und generell die Morde von Frauen ebenfalls auf eine sexuelle Ätiologie zurückgeführt werden. Sogar im Fall von Jack the Ripper wurde in Scotland Yard unter den vielen Verdächtigen auch eine Frau als Täterin vermutet. Wie kommt es dazu, dass sich der männliche Lustmörder in den kulturellen Repräsentationen durchsetzt? Die ‚Vermännlichung‘ des Lustmordes wird durch die Organisation des ästhetischen Darstellungssystems bedingt, das traditionellerweise den männlichen Helden zum Protagonisten macht.159 Denn die eindeutige geschlechtsspezifische Einordnung des Verbrechens (egal, ob es um einen hetero- oder homosexuellen Täter geht) erfolgt hauptsächlich in der bildenden Kunst, in der Literatur und im Film.160 In der Literatur und Kunst um 1900 sind keine Werke bekannt, die eine Frau als Lustmörderin darstellen. Die deutsche Gegenwartsliteratur führt also ein neues Paradigma in den Lustmorddiskurs ein, wenn sie der Frau eine sexuell motivierte Destruktion der Männer zuschreibt. Im Hollywood-Film ist zu dieser Zeit nur ein Film mit einer Serienmörderin bekannt.161 1933 erscheint in den USA der Film Supernatural von Viktor Halperin. Dieser Film etabliert, so Höltgen162, das Motiv der Nachahmung im Serienmördernarrativ. Die Nachahmung als Mordmotiv bespricht beispielweise der Kriminologe Erich Wulffen im Fall der Arbeiterfrau U., die den Lustmord „vorgetäuscht“

159 Einige Beispiel dazu: Lulu (1892/1913) von Frank Wedekind, Mörder, Hoffnung der Frauen (1907/1910) von Oskar Kokoschka, Die Ermordung einer Butterblume (1913) von Alexander Döblin sowie die Bilder von Otto Dix, Georgs Grosz und Heinrich Maria Davringhausen. Die Filme Das Wachsfigurenkabinett (D 1924, R: Paul Leni), The Lodger (GB 1927, R: Alfred Hitchcock), Die Büchse der Pandora (D 1929, R: Georg Wilhelm Pabst), M – eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931, R: Fritz Lang). 160 Weitere Werke findet man bei Siebenpfeiffer, Lindner und Höltgen. 161 Im Kapitel Lustmord im Film wird ein weiterer Film mit einer Lustmörderin, Basic Instinct (USA 1992, R: Paul Verhoeven) besprochen. Zu erwähnen ist die Verfilmung der Biografie der in den USA berühmten Männermörderin Aileen Wuornos, in der die Rache in die Lust am Töten umschlägt: Monster (USA 2003, R: Patty Jenkins). 162 S. Höltgen: Schnittstellen, S. 79-81.

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hat.163 Im Film Halperins wird eine ‚unschu uldige‘ Frau, die als Hysteriefall behandelt wird, vom Geist einer hingerich hteten Serienmörderin besessen. Laut der Interpretation Höltgens geht es jed doch im Film um eine medial gesteuerte Massenhysterie (durch die Zeitungeen), die zur Berühmtheit der Serienmörderin beiträgt und die Nachahmung g als Mordmotiv daraus begründet. Der Film macht also die konstitutive Rolle der Medien für die kuld Serienmord sichtbar, zu deren turellen Fantasien zum Lust-, Sexual- und Verbreitung und Popularisierung die Literaatur, die bildende Kunst und der Film ebenso viel beisteuern. Als Beispiel ist die Fotografie des Mordes an einer Prostituierten (Abbildung 1, S.70) au us dem Buch von Erich Wulffen Der Sexualverbrecher (1910) zu erwähnen n, die laut Siebenpfeiffer höchstwahrscheinlich als Inspirationsquelle für f Rudolf Schlichters Bild (Abbildung 2, S. 72) diente. Während Wullffen diesen Mord als Raubmord definiert, nennt Rudolf Schlichter sein Bild Der Lustmord (1924). In Anlehpos wird der Mord an der Prostinung an den populären Jack the Ripper-Top tuierten als Lustmord imaginiert. Abbildung 1. Raubmord. Tötung einerr Prostituierten in Wien. Der Täter hat die Prostituierte nach dem d Geschlechtsakt erstochen. Erkennungsdienst Wien (eventuell 191 10).

Quelle: E. Wulffen: Der Sexualverbrecher, S. 464.

Ab Ende des 19. Jahrhunderts entstehen besonders b im deutschsprachigen Raum zahlreiche literarische Texte sowie Werke W der bildenden Kunst, die sich mit diesem Thema befassen. Lulu. Errdgeist/Die Büchse der Pandora (1895–1904) von Frank Wedekind, Die Ermordung einer Butterblume (1913) von Alfred Döblin, Der Mann ohne Eigenschaften (1930–1932) von uen (1907–1910) von Oskar KoRobert Musil, Mörder, Hoffnung der Frau

163 Vgl. E. Wulffen: Der Sexualverbrecher, S. 473. Siehe das Kapitel Kriminologie des Lustmordes.

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koschka können exemplarisch für die zahlreichen literarischen Bearbeitungen genannt werden.164 Zum Lustmord als ästhetisches Sujet der deutschen Avantgarde liegt eine exzellente Studie von Martin Lindner165 vor, deren Thesen hier vorgestellt werden. Das Thema Lustmord erweist sich für die Literatur und Kunst der deutschen Avantgarde laut Lindner deshalb als fruchtbar, weil die schockierenden Inhalte die zeitgenössische Gesellschaftskrise zum Ausdruck bringen und zugleich als Instrument für den Angriff auf das bürgerliche Selbstbewusstsein funktionalisiert werden. Die Literatur schöpft ihr Material über den Lustmord aus der Kriminalanthropologie, der Psychoanalyse und der Sexualpathologie. Nach Lindner bezieht sich die literarische Lustmorddarstellung auch deshalb auf reale Fälle. Als besonders beliebt erweist sich der real existierende Mörder Fritz Haarmann, der die Vorlage für mehrere literarische Texte wie zum Beispiel Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfes (1925) von Theodor Lessing bietet.166 Literatur steht also in einer besonders intensiven Wechselwirkung mit den wissenschaftlichen Diskursen, die sie integriert, zugleich beeinflusst und erweitert. Die literarischen Texte zum Lustmord versuchen die realitätsbezogene Psychodynamik des Motivs auszuarbeiten – Lindner spricht in diesem Zusammenhang sogar von „literarischen Gutachten“ zum Thema Lustmord, die er im Vergleich mit der wissenschaftlichen Diskussion als differenzierter und überlegener bewertet.167 Einerseits werden die literarischen Lustmorde unter dem Druck des Geschlechtstriebes aus einem Affekt und Impuls heraus begangen – der wissenschaftlichen Theorie entsprechend –, andererseits weist Lindner auf die „philosophische Differenziertheit“ und „metaphysische Deutung“ 168 der Taten in der Literatur hin. Die wissenschaftlichen Deutungsmuster reichen offensichtlich nicht aus, so dass die Autoren zu einer „vitalistischen Metaphysik“169 neigen, um die durch den Lustmord erzeugten Lücken in der Sinnstiftung zu überbrücken. Martin Lindner hebt dabei die Doppelcodierung des Lustmörders in den ästhetischen Imaginationen der Weimarer Republik hervor, die mit der Ästhetik des jeweiligen Stils zusammenhängt. Während der Geschlechtsrausch beziehungsweise Kontrollverlust in den kriminologischen Schriften eines der zentralen Merkmale des ‚echten‘ Lustmordes ist, findet in Literatur und Kunst eine binäre Polarisierung der Lustmörderfigur statt. Die expressionis164 Bei Lindner, Siebenpfeiffer und im Sammelband von Komfort-Heim und Scholz finden sich weitere zahlreiche literarische Beispiele zum Thema Lustmord. 165 M. Lindner: Der Mythos ‚Lustmord‘, in: J. Lindner, Verbrechen – Justiz – Medien, S. 272-305. 166 Mehr darüber bei Martin Lindner. 167 Ebd.: S. 298. 168 Ebd.: S. 289-290. 169 Ebd.: S. 298.

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tische Ästhetik wertet den Lustmörder als Helden H beziehungsweise als Rebellen auf, der im Rausch die wilhelminisch he Ordnung sprengt, und die neusachliche Ästhetik wertet ihn als einen an ngepassten, verklemmten Bürger ab, der kalkuliert tötet. Abbildung 2. Rudolf Schlichter: Der Lustmord L (1924). Aquarell und schwarze Kreide, 69 x 53 cm.

Quelle: Götz, Adriani (Hg.): Rudolf Schlicchter. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, München 1997, S. 136.

Die Themen, die im Zusammenhang mit deem Lustmord sowohl in der Literatur als auch in der Kunst bearbeitet werdeen, sind die Kritik an der bürgerlichen beziehungsweise wilhelminischen Gesellschaft, G die von Gewalt geprägten Erfahrungen von Großstadt und Krrieg und die daraus resultierende Männlichkeits- und Subjektivitätskrise. Im Lustmord L manifestiert sich dabei das Begehren nach einer Entgrenzung dess Bewusstseins beziehungsweise einer Befreiung des Unbewussten und nacch einer Sprengung der Grenzen der wilhelminischen Gesellschaft und der bürgerlichen b Kultur. Die literarischen Lustmörder werden somit durch weiitere Ambivalenz charakterisiert. Einerseits sind sie in Bezug auf Freuds Theorie Opfer der bürgerlichen Verann ohne Eigenschaften (Musil), drängung: In Haarmann (Lessing), Der Ma Christian Wahnschaffe (Wassermann, 19 919), Pastor Ephraim Magnus (Jahnn, 1919) und Hodin (Weiss, 1923) ersccheint der „Lustmörder als Opfer der kollektiven Verdrängung, und seine lusstvoll-spontane Tat wird in Kontrast gesetzt zum eiskalten ‚Justizmord‘, miit dem die wahrhaft perverse Gesellschaft sich ihrer eigenen Schuld entledig ge.“170 Andererseits repräsentiert der Lustmörder ein „atavistisches Krankheeitssyndrom der Zivilisation“,171 170 Ebd.: S. 285. 171 Ebd.: S. 282.

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das aber durchaus positiv konnotiert ist. Lindner spricht über den „Menschstolz“ und die Souveränität der Lustmörder, mit denen sie ihre Tat aus freiem Wunsch und nicht aus Zwang begehen (Schwarzer Vorhang, Der Mann ohne Eigenschaften, Pastor Ephraim Magnus, Hodin, Haarmann).172 Mithilfe ihrer tierischen, ‚natürlichen‘ Vitalität versuchen die Täter aus Kultur und Bewusstsein herauszutreten. Dadurch exponiert der Lustmord die Trennung von Kultur und Natur, die zugleich die Fantasien einer alternativen ‚natürlichen‘ Ordnung jenseits des Bewusstseins und der Kultur zu begründen versucht. Der männliche Täter wird daher zur Identifikationsfigur, seine Perspektive ist sowohl in literarischen Texten als auch in Gemälden zumeist dominant. Die (weiblichen) Opfer werden hingegen passiv und schweigend in der Peripherie der Handlung situiert, für deren Entwicklung sie aufgeopfert werden. Die „schönen Leichen“173 haben die Funktion, das männliche Begehren zum Ausdruck zu bringen, dessen Intensität an ihrer Körperverstümmelung ablesbar wird. Nicht die Frauen werden begehrt, sondern die Transgression der Kultur- und Bewusstseinsgrenzen. Da die Frauen jenseits der existierenden Ordnung als Naturwesen (Die Ermordung einer Butterblume – die Frau als Blume) oder als Verkörperung der Sinnlichkeit, die die Ökonomie der bürgerlichen Ordnung unterläuft (Lulu), oder als dem Matriarchat (Mörder, Hoffnung der Frauen) angehörend dargestellt werden, wird die Auflösung der Weiblichkeit zum Sinnbild der Überschreitung aller Grenzen. Wedekinds Lulu (1895–1904) ist unter den Lustmord-Texten ein ungewöhnliches Werk, weil in dessen Zentrum eine weibliche Protagonistin steht. Wird die Geschlechterperspektive in der Lustmordkonstellation gewechselt und das weibliche Opfer zur Hauptfigur, tritt auch der Lustmord in einer anderen Funktion auf. Lulu stellt sich als ein „Container“ männlicher Weiblichkeitsmythen dar, die ihr die Männer durch Kulturation beziehungsweise Domestikation aufzwingen.174 Lulu ist die Verkörperung der aus der bürgerlichen Kultur verdrängten Sinnlichkeit, die Chaos und Unordnung in der bürgerlichen Gesellschaft stiftet. Die Büchse der Pandora – Symbol der weiblichen Geschlechtsorgane – bringt in Analogie zum gleichnamigen Mythos Übel und Mühe in die bürgerliche männliche Weltordnung. Alle Beziehungen sind in der wilhelminischen Ordnung eine Art von Prostitution, weil die Männer „das Geld heiraten“175 und die Frauen sich verkaufen. Als einzig mögliche soziale Karriere für Frauen existiert die Prostitution oder die Ehe, die bei Wedekind als Synonym für Prostitution steht. Durch Lulus Promis172 Ebd.: S. 298. 173 Vgl. E. Bronfen: Nur über ihre Leiche. 174 Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent: Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin; Heidelberg 1991, S. 109. 175 Wedekind, Frank: Lulu: Erdgeist. Die Büchse der Pandora, hg. von Erhard Weidl, Stuttgart 2006, S. 49. Dr. Schön wiederholt gegenüber dem Maler Schwarz im Bezug auf Lulu mehrmals: „Du hast eine halbe Million geheiratet“.

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kuität und Untreue erkennen die Ehemänner ihre Ohnmacht vor dieser ‚natürlichen‘ Urenergie, die sich jeder Kontrolle und bürgerlichen Ökonomie (der Geschlechter) entzieht. Das Scheitern der Männlichkeit und der wilhelminischen Ordnung macht insbesondere der Maler Schwarz, der zweite Ehemann Lulus, deutlich, indem er sich die Kehle durchschneidet, sich also durch eine symbolische (Selbst-)Kastration umbringt. Die wilhelminische Ordnung ist bei Wedekind selbst in toto ein Lustmörder, indem sie sich durch die Tötung der Sinnlichkeit und Weiblichkeit konstituiert. Mit der Ermordung Lulus, bezeichnenderweise durch Jack the Ripper, wird das Chaos aufgehoben und die bürgerliche Ordnung wieder hergestellt. Es stellt sich die Frage, warum die Auflösung der Grenzen beziehungsweise die Konstitution und Stabilisierung der Ordnung sowie der Beweis vitaler Energie nur durch die Zerstörung der Frau möglich ist. Bronfen rekonstruiert die ästhetische Tradition, die das Übel der Welt, die Entpersonalisierung durch den Kapitalismus, die Gewalterfahrung durch die Modernisierung, Tod und Krieg auf Frauen projiziert und durch ihre Zerstörung den Sieg über die unkontrollierbaren Phänomene erkämpft. Nach Tatar und Büsser,176 die Klaus Theweleits177 Ideen aus seiner mittlerweile anerkannten Studie Männerphantasien aufnehmen, geht es besonders in der bildenden Kunst einerseits um die Angst, die männliche Identität zu verlieren, da Männer im Krieg selbst zu Opfern des Vaterlandes geworden sind. Andererseits fungiert die Zerstörung des weiblichen Körpers als Vergeltung an den von der Front und Vernichtung verschonten Frauen.178 Lindner sieht im literarischen Lustmord eine Vorahnung der faschistischen Ideologie: „Der ‚Lustmord‘ der Weininger-Leser Jahnn, Musil und Döblin ähnelt in seiner Struktur fatal dem Blutrausch des Kriegers im Kampf gegen die seit schon Le Bon ‚weibliche Masse‘ (bestehend aus Kleinbürgern, Juden und Slawen).“179 Nach Lindner verschwindet das Sujet des Lustmordes im Laufe der nächsten Jahrzehnte nach dem Avantgarde-Boom aus der deutschen Literatur; die semantischen Muster des Lustmörders werden jedoch zur Darstellung des jeweiligen Gegners funktionalisiert. Die antifaschistische Literatur überträgt die physiologischen und psychologischen Merkmale der Lustmörder auf den „typischen ‚kleinbürgerlichen‘ (d.h. eben infantilen, verklemmten, sadistischen) Nazi“; die faschistische Literatur zum Beispiel von Arnolt

176 Büsser, Martin: Lustmord Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im 20. Jahrhundert, Mainz 2000. 177 K. Theweleit: Männerphantasien. 178 Vgl. Tatar, Maria: Lustmord. Sexual murder in Weimar Germany. Princeton 1995. 179 M. Lindner: Der Mythos ‚Lustmord‘, in: J. Lindner, Verbrechen – Justiz – Medien, S. 292.

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Bronnen projiziert sexuelle Triebhaftigkeit und Perversität auf die „proletarische Masse, die Juden und die Slawen“.180 In der Forschung zur Literatur nach 1945 wird der Lustmord als literarisches Sujet allem voran im Zusammenhang mit dem Kriminalroman Das Versprechen (1958) von Friedrich Dürrenmatt thematisiert. Die Literatur eignet sich psychoanalytische und psychologische Theorien an, die sich zu dieser Zeit großer Popularität erfreuen, und transformiert sie durch ihre ästhetische Verarbeitung. Den modifizierten wissenschaftlichen Diskursen entsprechend weist der Täter bei Dürrenmatt die aktuellen Charakteristika des Sexualmörders auf, die in der Beziehung zur mutterähnlichen Ehefrau (Hinweis auf die ödipale Situation) zum Ausdruck kommen.181 Der Täter ist hier kein vitalistischer Lustmörder-Rebell mehr wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern wird als Lustmörder zur stilisierten Figur des Bösen mit Referenz auf das Märchen Rotkäppchen. Der Lustmord, der durch die paradoxe Lust-Gewalt-Verbindung die binäre Logik suspendiert, illustriert das Versagen der Logik des rationalen Subjekts. Ähnlich wie im Expressionismus ist der Lustmörder ein Kranker; die positive Konnotation des Lustmordes in der Literatur verschwindet. Lustmord in der bildenden Kunst Um die Jahrhundertwende verbreitet sich das Sujet des Lustmordes auch in der bildenden Kunst: Surrealismus, Kubismus und Expressionismus greifen den Lustmord und vor allem die Dekomposition des weiblichen Körpers auf. Das Motiv des Lustmörders oder des sexuell konnotierten Frauenmordes taucht bei Ernst Ludwig Kirchner in seiner Lithographie Der Mörder 180 Ebd.: S. 301. Exemplarisch ist der spektakuläre Fall Bruno Lüdke zu nennen, der 1943 wegen mehreren Frauenmorden angeklagt wurde. Die Propaganda des nationalsozialistischen Regimes bereitete den Fall aufgrund der AtavismusTheorie als ein Beispiel der rassischen Degeneration auf, aber wegen des fortschreitenden Kriegs wurde der Prozess gegen Lüdke abgebrochen. In den 1950er Jahren wurde der Fall Lüdke als stellvertretend für die Gewalt des NaziRegimes in den Medien (Film und in Der Spiegel) rekonstruiert. Vgl. Regener, Susanne: Mediale Codierung: Die Figur des Serienmörders Bruno Lüdke, in: F.J. Robertz/A. Thomas, Serienmord, S. 442-460. 181 Vgl. Dürrenmatt, Friedrich: Das Versprechen. Ein Requiem auf den Kriminalroman, München 1986, S. 69. Dürrenmatt charakterisiert den Lustmörder mit den Begriffen Schwachsinnigkeit und Primitivität, Imbezilität und Debilität sowie als jemanden der Frauen Minderwertigkeitskomplexe oder Impotenz entgegenbringt. Die Figurenkonstellation erweist den Mörder als einen inzestuösen Häftling seiner Mutter. In Das Versprechen ist der Mörder mit der viel älteren Frau verheiratet, die seine Morde verheimlicht. Die Wendung in der literarischen Darstellung des Lustmörders als Opfer seiner Mutter ist bis zur Gegenwart in einigen Filmen und literarischen Werken zu beobachten.

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(1914), im Bild Der Lustmörder (1917) von n Heinrich Maria Davringhausen sowie in zahlreichen Zeichnungen und Bildern B von Otto Dix, Rudolf Schlichter und Georg Grosz auf. Die Darsteellung des Lustmordes nimmt in Grosz’ Werk seit 1913 einen großen Raum ein und gewinnt zwischen 1916 und 1918 ein besonderes Gewicht. Abbildung 3. Max Beckmann: Martyriium (1919). Blatt 3 des Zyklus Die Hölle, Lithografie 1919 9, 61,5 x 85 cm.

Quelle: Schulz-Hoffmann, Carla/Weiss, Ju udith C. (Hg.): Max Beckmann. Retrospektive, München 1984, S. 343.

Die spärliche Forschung zum Thema Lustm mord in der bildenden Kunst besteht vorwiegend aus medienübergreifenden n Studien zu Literatur, Kunst und Film. Diese liefern zwar kulturkritische Anaalysen, jedoch kaum eine Analyse des Lustmordes in der bildenden Kunst aus ästhetischer Sicht unter Berücksichtigung der Kunsttraditionen. Generell vereint der Lustmord in der bildenden Kunst die traumatische Erfahrung der Moderne und des Ersten Welltkrieges, der eine politische und soziale Krise auslöst. So wird der Lustmord d zum Ausdruck antibürgerlicher Rebellion und zum Medium der Konstitutio on einer antibürgerlichen Künstlersubjektivität. Zugleich markiert der Lusstmord auch die Auflösung des künstlerischen Subjektes, denn Weiblichkeiit wird hier zum Material künstlerischer Fantasien und fungiert als Teil des weiblichen Ichs des Künstlers. nstlerische Umformung der Welt Hinzu kommt, dass die Avantgarde die kün zum Programm hat: „Die Realität muß von n uns geschaffen werden. […] Er [der Künstler, Anm. d. Ver.] sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erä Edschmid (1918) in seiner lebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet“,182 äußert Schrift zum Expressionismus. Die „künstlerisch aktive Konstruktion der Wirklichkeit“183 findet ihren Ausdruck in deer Dekomposition des weiblichen

182 Zitiert nach T. Anz: Literatur des Expressio onismus, S. 7. 183 Ebd.

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Körpers als Symbol für Natur, die in der künstlerischen Umgestaltung (Vernichtung) eine neue Welt entstehen lässt. Abbildung 4. Otto Dix: Lustmörder (S Selbstdarstellung) (1920). Öl auf Leinwand.

Quelle: Karcher, Eva: Eros und Tod im Werk W von Otto Dix. Studien zur Geschichte des Körpers in den zwanzigen Jaahren, München 1984, S. 54. Größenangabe nicht verfügbar.

Der Lustmörder ist daher nicht nur Identifik kationsfigur für den Betrachter, sondern er wird zum Künstler184 wie zum Beispiel B in den Selbstbildnissen von Otto Dix als Lustmörder. Kathrin Hoffmann-Curtius hat eine exzelllente Analyse zum Martyrium (1919) von Max Beckmann (Abbildung 3; S. 76) vorgelegt, der die Ermordung Rosa Luxemburgs als Lustmord darsteellt. Die Kunsthistorikerin liest „Bilder mit Bildern“185 und weist dadurch au uf komplexe Bezüge zu anderen Kunsttraditionen hin. Das Bild interpretiert Hoffmann-Curtius H als Viktimisierung der deutschen Nation. Martyrium ko ombiniert Elemente der Kriegspropaganda mit christlicher Ikonografie un nd Trauerrhetorik (Kreuzigung Christi). Darüber hinaus allegorisiert das Bild d durch den weiblichen Körper die Nation als Germania, die sich durch die Figur F der Rosa Luxemburg auch auf die als feindlich propagierte „Heimatfron nt“ und die benachteiligten Be-

184 In der Literatur ist der Kriminalroman Derr Frauenmörder (1922) von Hugo Bettauer zu nennen. Der Roman setzt sich kritisch k mit dem Thema Lustmord als Sensation und dem daraus resultierenden n Einfluss auf die Popularität von Kunstwerken auseinander. 185 Hoffmann-Curtius, Kathrin: Frauenmord als Spektakel. Max Beckmanns „Martyrium“ der Rosa Luxemburg, in: S. Komforrt-Hein/S. Scholz, Lustmord, S. 91114, hier: S. 102.

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völkerungsgruppen wie Pazifisten, Komm munisten, Juden und Frauen bezieht.186 Abbildung 5. Georg Grosz: John, der Frauenmörder (1918). Öl auf Leinwand, 86,5 x 81 cm.

Quelle: Schuster, Peter-Klaus (Hg.): Georg g Grosz: Berlin – New York, Berlin 1994, S. 331.

Die Gleichstellung von Künstler und Lustm mörder bei Otto Dix (Abbildung 4, S. 77) und Georg Grosz liest Hoffmann n-Curtius als Konstruktion einer virilen Männlichkeit, die sich als heroiscche Verbrecherfigur (Nietzsche) „gegen obsolet gewordene Idealvorstellungeen im eigenen Lande“ und gegen „bürgerliche Totalitätskonzepte“ des Subjek kts und Künstlers wendet, indem Weiblichkeit als Symbol für „Vollkommen nheit, Einheit und Ganzheit“ zerstört wird.187 Darüber hinaus können die Ölb bilder von Grosz und Dix mit der Darstellung der Lustmorde an Frauenfiguren als „De- und Konstruktion des eigenen Schaffensprozesses interpretiert weerden; sie malten dessen strukturelle Gewalt in Opposition zur akademischeen Tradition des idealen, ganzen Aktbildes.“188 Die Künstler thematisieren seelbstreflexiv die „Martialität des zeichnerischen Tuns“,189 die bis 1945 zum Thema T mehrerer Maler wird. In ihrem früheren Aufsatz zu Grosz’ Lustmordwerken L liest HoffmannCurtius seine kubistisch-futuristischen Ölgeemälde John, der Frauenmörder (1918) (Abbildung 5, S. 78) und Derr kleine Frauenmörder (1918) (Abbildung 6, S. 79) als Auseinandersetzun ng mit dem damals neuen Medium Film, da die Bilder den für die Filmproduktion spezifischen „Vorgang des Zerlegens, Zerstückelns und Zusammenfügens“ reproduzieren.190 186 187 188 189 190

Ebd.: S. 104. Ebd.: S. 106-107. Ebd.: S. 107. Ebd. Hoffmann-Curtius, Kathrin: „Wenn Blickee töten könnten.“ Oder: Der Künstler als Lustmörder, in: Lindner, Ines et al. (H Hg.): Blick-Wechsel. Konstruktionen

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Der weibliche Akt steht dabei paradigmattisch für die Formungskraft des Künstlers, der „mit seiner rationalisierten Einteilung E der Umwelt mittels Rastertechnik das (weibliche) Leben zu fasssen sucht.“191 Stark betont sind darüber hinaus die sexuellen Momente des Lustmordes, L die den Betrachter zum Voyeur machen: Nackte weibliche Körrper, Waffen (meist Messer) in den Händen des Lustmörders als Phallussymb bol, das sowohl auf die männliche Macht als auch auf die männliche Sexuaalität hindeutet, und ekstatische Gesichter des Lustmörders finden sich bei Dix x und Grosz. F (1918). Abbildung 6. Georg Grosz: Der kleine Frauenmörder Öl auf Leinwand, 66 x 66 cm.

Quelle: P.-K. Schuster (Hg.): Georg Grosz, S. S 330.

Die Kunsthistorikerin weist auf die weitreicheende Bedeutung des voyeuristischen Blickes im Werk von Georg Grosz hin n und versteht die Lustmordbilder mit Lacan als Entdeckung der bedrohlicch wie der Tod erscheinenden Kastration durch den männlichen Voyeur. Letztendlich L zeigt sie die kritische Funktion von Grosz’ Bildern auf, die nach n dem Ersten Weltkrieg entstehen und die von Klaus Theweleit beschrriebenen Abwehrmechanismen gegen die Masse, das Volk und die Revolu ution sichtbar machen: „Grosz konnte so die äußerste Aggressivität des verrunsicherten soldatischen Mannes, der er auch selber gewesen war, wiederrgeben. Zugleich analysierte er diese Angriffslust als Verdrängung und Verrschiebung männlichen Begehrens.“192 G Grosz und Otto Dix als Maria Tatar betrachtet die Werke von Georg Korrelation von traumatischen Erfahrungen n der Moderne, die durch die

von Männlichkeit und Weiblichkeit in Ku unst und Kunstgeschichte, Berlin 1989, S. 369-394, hier: S. 374. 191 Ebd.: S. 385. 192 Ebd.: S. 388.

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Großstadt, die politische Krise und besondeers den Ersten Weltkrieg hervorgerufen werden. Beide Maler sind Kriegsv veteranen, beide haben mehrere Gemälde geschaffen, die das Kriegstraumaa zum Ausdruck bringen. Tatar sieht eine gewisse Kontinuität zwischen ihren Kriegs- und Lustmorddarstellungen, die die kulturelle Krise der Nachk kriegszeit und die Transzendenz der künstlerischen Erfahrung ‚auf‘ dem weeiblichen Körper verhandeln. Paradoxerweise wird die männliche Subjektiv vität, die im Krieg geopfert wird, durch die Zerstörung der von der Front verrschonten weiblichen Körper stabilisiert.193 Abbildung 7. Otto Dix: Lustmord (19 922).

Quelle: E. Karcher: Eros und Tod im Weerk von Otto Dix, S. 49. Größenangabe nicht verfügbar.

Darüber hinaus interpretiert Tatar den Lustm mord im Rahmen der in der Wiemar Republik herrschenden Rebellion gegeen autoritäre Familienstrukturen als Eliminierung der Maternität und der mütterlichen m Kreation durch die Söhne. Der Vatermord wird zum Ausdruck k der Rebellion gegen die Vaterordnung, während der Lustmord den Hass gegen g die Mutter zum Ausdruck bringt.194 Das Gemälde Lustmord (1922) vo on Otto Dix (Abbildung 7, S. 80) demonstriert laut Tatar eine biologische Un n-Ordnung,195 die paradigmatisch 193 M. Tatar: Lustmord, S. 176-178. 194 Ebd.: S. 10. 195 M. Tatar: Lustmord, S. 14-15. „The evisccerated corpse, the gash in the wall, and the overturned chair form a triangular space that contrasts sharply with the elaboration of a bourgeois social space marked by the hanging lamp, the table, and the window into a world of architecturaal order. Woman is marked here as a figure of biological dis-order and social disrruption.“

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ein weibliches Opfer im Inneren des Zimmers präsentiert und in Kontrast zu der bürgerlichen Ordnung (Lampe, Stuhl, Tissch, Fenster und strenge Architektonik) steht. Der gleiche architektonischee Kontrast findet sich in dem zurzeit als verschollen geltenden Selbstporträät von Otto Dix als Lustmörder (1920) (Abbildung 4, S. 77). Wird die Thesee Tatars weiterentwickelt, kann auch das Zimmer als architektonische Darsteellung der bürgerlichen männlichen Künstleridentität gelesen werden, die du urch ihre Triebhaftigkeit im Inneren die Ordnung zu sprengen versucht. Daas Gemälde Lustmord kann als Opferung der Weiblichkeit des Malers – Sym mbol für Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit – interpretiert werden, die zugunssten der bürgerlichen Ordnung zerstört werden soll. Abbildung 8. Heinrich Maria Davringha ausen: Der Lustmörder (1917). Öl auf Leinwand, 119,5 x 148,5 cm.

Quelle: W.-D. Dube: „Der Lustmörder“ von Heinrich Maria Davringhausen, S. 185.

Die Kulturarbeit, die, mit Freud gesprochen n, eine Triebsublimierung verlangt, wird von Otto Dix als Sinnlichkeitsvern nichtung entlarvt. Das Bild von George Grosz John, der Frrauenmörder (1918) liest Tatar mit Laura Mulvey196 als Demonstration der Ambiguität A des Blickes, ausgedrückt durch den weiblichen Körper, der ein nerseits Fülle und Einheit verspricht, andererseits durch den Schnitt verseh hrt wird. Diese Ambiguität zwischen Fülle und Leere manifestiert sich im Gemälde als Zusammenfallen eines fetischisierten/skopophilischen Blicks mit einem sadistischen/voyeua Frauenverehrer und -mörder ristischen Blick, der die Figur des Mörders als zum Ausdruck bringt.197 196 Mulvey, Laura: Visual Pleasure and Narrativ ve Cinema, Screen 16 (1975), S. 618. 197 M. Tatar: Lustmord, S. 126. „This double encoding e of the feminine image as marked by plenitude and emptiness turns the female body into the target of what Laura Mulvey, in a seminal article of feeminist criticism, has called the fe-

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Abbildung 9. Hans Bellmer: Puppe (1931-1945). ( Bewegliches Objekt, bemaltes Holz, Papiermasch hee, verschiedene Materialien, 61 x 170 x 51cm.

Quelle: Semff, Michael/Spira, Anthony (Hg.): ( Hans Bellmer, Ostfildern 2006, S. 106.

Nach Beate Herrmann-Antes sind Otto Dix D und Georg Grosz die ersten Künstler, die den Lustmord als Motiv in diee Kunstgeschichte einführen. Der Lustmord hat also als künstlerisches Sujet keine Tradition in der Kunstgente ästhetische Motive: Die Sexuschichte, jedoch stützt er sich auf altbekann alisierung des weiblichen Körpers sowie Geewaltakte an Frauengestalten sind bekannte künstlerische Sujets, die laut Herrrmann-Antes von den Zerstückelungsfantasien der ägyptischen Sage von Osiris O und dem griechischen Mythos von Dionysos über die Hexenverfolgung bis hin zu den Kriegsdarstellungen (zum Beispiel bei Goya) reichen.198 Beate Herrmann-Antes weist unter anderem in Anlehnung auf Wolf-Dieeter Dubes Analyse auf das Gemälde Der Lustmörder (1917) von Heinrich H Maria Davringhausen (Abbildung 8, S. 81) hin, das von Grosz’ Darstellungen D beeinflusst wird.199 Wolf-Dieter Dube liest dieses Gemälde eineerseits in Bezug auf den kulturellen Kontext, der in der Nachkriegskrise deen Menschen desillusioniert zum „Vieh“ (Grosz) degradiert. Die „schillerndee Farbigkeit […] signalisiert Unheil.“200 Andererseits liest Dube das Bild in Hinsicht auf die Traditionen der

tishistic/scopophilic gaze and the sadistic/voyeuristic gaze. While the two ‚gazes’ may not be completely separate an nd distinct, rarely are they so clearly coupled as in Grosz’s John, the Lady-Killeer, whose title already traffics in ambiguity by presenting the central male figu ure as a man who both courts the favor of women (note the presence of a bouqu uet) and slays them. 198 Herrmann-Antes, Beate: George Grosz: Die Lustmorddarstellungen, Berlin 1992, S. 35-40. 199 B. Herrmann-Antes: Georg Grosz, S. 69-72 2. 200 W.-D. Dube: „Der Lustmörder“ von Hein nrich Maria Davringhausen, in: Pantheon. Internationale Zeitschrift für Kunsst, Jahrgang XXXI, April/Mai/Juni (1973), S. 181-185, hier: S. 181.

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Kunstgeschichte. Dieses Bild schreibt durch den Motivbezug die Liebesgeschichte in eine Lustmordgeschichte um. Das Bild zitiert nach Dube Tintorettos Gemälde Vulkan überrascht Venus und Mars (1515) und Tizians Venus und Amor. Dube versteht das Gemälde, das den Expressionismus mit der „Idee einer neuen, harten, präzisen Gegenständlichkeit“ paart, als Vorläufer der „Neuen Sachlichkeit“. Sein Gemälde ist daher als ein „aufschlußreiches Beispiel für Bedingungen und Notwendigkeit der Umformung der Ausdrucksmittel vom Expressionismus hin zur ‚Neuen Gegenständlichkeit‘“ zu sehen.201 In den 1930er Jahren entstehen die nach dem anagrammatischen Prinzip demontierten weiblichen Puppen des Surrealisten Hans Bellmer (Abbildung 9, S. 82), der nach Birgit Käufer202 Weiblichkeit zu einem vollkommenen Fetischobjekt macht – besonders in ihrer Stellvertreterrolle werden die Puppen zu einem kastrierten Objekt. Darüber hinaus wird Weiblichkeit und Fotografie als fantasiertes künstlerisches Jenseits des Bürgerlichen funktionalisiert. Durch die Verbindung von Fotografie als Verdoppelung des ‚Wirklichen‘ und der Puppe als Doppelgängerin der Frau versucht Bellmer nach eigenen Aussagen eine „dritte Wirklichkeit“ zu erschaffen, die aus der Gegenüberstellung zwischen reellen und fiktionalen „Erregungsherden“ resultiert und zu einem performativen Raum des mobilisierten „bildgewordenen Systems der Differenzen“ wird.203 Die seit den 1950er Jahren beginnende Vervielfältigung der wissenschaftlichen Diskurse zur sexuellen Devianz geht mit einer Verschiebung des künstlerischen Interesses einher. Der Lustmord als Sujet verschwindet aus der Malerei; dafür entsteht reichhaltiges Material zum Sadismus und Masochismus. In den 1950er Jahren entwickelt sich in Europa ein Kult um den Marquis de Sade. Georges Bataille, Roland Barthes, Maurice Blanchot, Pierre Klossowski, Jean Paulhan, Simone der Beauvoir, Theodor Adorno und Max Horkheimer veröffentlichen bemerkenswerte Essays zu de Sade.204 Nach Burch ist die de Sade’sche Ästhetik in den 1950er und 1960er Jahren deswegen so populär, weil sie auf einem bekannten Syllogismus beruht: „‚mörderische Libertinage‘=‚Befreiung‘=‚Freiheit, Transgression der Grenzen‘=‚Revolution‘“.205 201 Ebd.: S. 185. 202 Vgl. Käufer, Birgit: Die Obsession der Puppe in der Fotografie. Hans Bellmer, Pierre Molinier, Cindy Sherman, Bielefeld 2006, S. 52-55. 203 Ebd.: S. 88-92. Für Käufer stellt Bellmers Verbindung zwischen der Fotografie und der dekomponierten Puppe den Raum der mobilisierten Differenzen her, so dass auch die Performativität des Geschlechtes deutlich wird. 204 Vgl. N. Burch: Gegen die Sade’sche Ästhetik, in: P. Weibel, Phantom der Lust, S. 301. Burch spricht über den Kult um de Sade in Frankreich, der durch Kulturtheoretiker, Philosophen und Künstler in ganz Europa Verbreitung zu finden scheint. 205 Ebd.: S. 305.

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Doch die Erfahrung der sexuellen Revolution und der Emanzipationsbewegung Ende der 1960er Jahre weicht Anfang der 1970er Jahre einer Erfahrung von Ohnmacht und Enttäuschung. Diese Phänomene spiegeln den Paradigmenwechsel in der Lustempfindung und der kulturellen Lustpräsentation wider. Pfäfflin206 zeigt, dass sich mit der Entstehung des Begriffes Lustmord auch die Bedeutung des Lustbegriffs wandelt. Nach seiner Analyse trifft man Lust in psychoanalytischen Arbeiten hauptsächlich in Zusammenhang mit Schmerz und Zerstörung an. Weiterhin erfährt die sadistische Lust nach ihrer Popularität in den 1950er und 1960er Jahren eine Transformation zum Masochismus. In den 1960er Jahren erscheint von Deleuze207 eine Studie über den Masochismus, die Masochismus und Sadismus als unterschiedliche Sprach- und Begehrensphänomene voneinander trennt und vom Triumph des masochistischen Ichs spricht.208 Bemerkenswert ist, dass auch in der oben vorgestellten Forschung von Steffen Berg (1963) in dem Kapitel zur Sexualtötung als erster Fall eine „Erstickung bei erotischer Betätigung“209 beschrieben wird, das heißt ein zufälliger Selbstmord bei der Ausübung einer masochistischen Sexualpraxis. Peter Weibel210 diagnostiziert in dem Werk Phantom der Lust. Visionen des Masochismus (2002), in dem er den in den letzten Jahrzehnten weit verbreiteten kulturellen Masochismus in Form von Essays, Texten, Bildern, Fotografien, Performances und Filmen vorstellt, die Gegenwartskultur als masochistisch: „Die entfesselte masochistische Ästhetik der Mode entspringt einem entfesselten Masochismus der Gesellschaft. Der Masochismus löst den Sadismus als kulminierende soziale Struktur, welche die Formation und Konstitution der Subjekte dominiert, ab.“211 Im Rahmen der Lustmordpräsentation bewirkt die masochistische Ästhetik in den 1990er Jahren die Genese eines masochistischen

206 F. Pfäfflin: Lust am Lustmord, S. 550. 207 G. Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: L. von Sacher-Masoch, Venus im Pelz. Deleuze charakterisiert den männlichen Masochismus als eine Fiktion, in der der Masochist seinen Henker entsprechend seinen Wünschen erzieht und funktionalisiert. Die Fiktion wird besonders im Vertrag zwischen weiblichem Henker und männlichem Opfer widergespiegelt, der den Ablauf des Spiels regelt. 208 Ebd.: S. 275. 209 S. Berg: Das Sexualverbrechen, S. 133. 210 Das von Peter Weibel herausgegebene Buch über die Ausstellung „Phantom der Lust. Visionen des Masochismus“ in der Neuen Galerie Graz am Landesmuseum Johanneum, die vom 26.04.03 bis zum 24.08.03 stattgefunden hat, demonstriert die Aktualität des Masochismussujets in der Kultur. Das Werk enthält über 500 Beispiele aus der Malerei, Fotokunst und Bildhauerei vom Ende des 19. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts sowie Texte und Essays. 211 Weibel, Peter: Masochismus als post-phallisches Mandat, in: ders., Phantom der Lust, Bd. 2, S. 18-47, hier: S. 44.

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Täters sowie die Thematisierung der Opferperspektive in der bildenden Kunst, in der Fotografie, im Film und in der Literatur. Als seltenes Beispiel für das Thema Lustmord in der Gegenwart kann Jenny Holzers Zyklus Lustmord zum jugoslawischen Krieg genannt werden, in dem sie den Paradigmenwechsel der künstlerischen Darstellung deutlich macht. Das Lustmord-Projekt beginnt 1993 mit dem Bilderzyklus DA WO FRAUEN STERBEN BIN ICH HELLWACH im Künstlermagazin der Süddeutschen Zeitung212, gewidmet dem letzten jugoslawischen Krieg; der Titel wird sogar mit zur Druckfarbe beigefügtem Blut von jugoslawischen Frauen ausgedruckt. Später stellt Holzer die Installation Lustmord in einem ehemaligen Kloster, Kunstmuseum des Kantons Thurgau, vom 22. September 1996 bis 27. April 1997 aus. Zur Exposition gehören eine Sammlung von Resten menschlicher Skelette, Bänke, in die Gemeinplätze eingeritzt sind, und Fotografien von menschlichen Körperteilen mit beschrifteten, schablonenartigen Sprüchen, Truismen, die die Gewalt des Krieges am Körper offenbaren. Jeder Mord ist für Jenny Holzer ein Lustmord: „Mord hat seine sexuelle Seite.“213 Als Lustmord erscheinen sowohl der Massenmord im Krieg als auch die Gewalt gegen einzelne Menschen. Dargestellt wird der Lustmord vor allem als Gewalt gegen Frauen – eine verbreitete und selten thematisierte Art der Eroberung des fremden Landes in Form des weiblichen Körpers: „Ich will sie zu Tode ficken, weil mich ihr Loch bedroht, und dafür muss sie büssen…“214 oder: „Sie schmeckt nach nichts mehr, das macht es mir leichter.“215 Nichts wird dem voyeuristischen Blick des Zuschauers angeboten: Der Lustmord offenbart sich in den gewalttätigen Sprüchen, mit denen hauptsächlich die Haut der Frauen beschriftet ist. Die Opfer bleiben zwar anonym, jedoch zeigen sie mit einer masochistischen Ästhetik am eigenen Körper die Gewaltspuren des Täters/des Krieges auf. Diese masochistische Opferästhetik bringt den Täter zum Verschwinden, der sich bei Holzer nur als gewalttätige Sprache manifestiert. Der Lustmord wird also zum Effekt struktureller Gewalt, die nicht mehr in der ‚Natur‘, sondern in der Staatspolitik wurzelt, die sowohl die Massenvernichtung als auch individuelle Tötungsakte initiiert und legitimiert. Lustmord im Film Die heute verbreiteten Bilder und Vorstellungen über den Lustmord werden vorrangig durch Filme vermittelt, die die Literatur als Leitmedium verdrängt haben. Im Gegensatz zur Literatur nimmt im Laufe des 20. Jahrhunderts das 212 Süddeutsche Zeitung vom 19.11.1993. 213 Ruf, Beatrix/Landert, Markus (Hg.): Holzer, Jenny: Lustmord [anlässlich der Ausstellung: Jenny Holzer, Lustmord, Kunstmuseum des Kantons Thurgau, 22. September 1996 bis 27. April 1997], Ittigen; Stuttgart 1996, S. 25. 214 Ebd.: S. 44. 215 Ebd.: S. 48.

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Interesse am Lust-, Sexual- und Serienmord in der Kinoindustrie zu. Die ersten Serienmörder-216, Vampire-217 oder Jack the Ripper-Filme, die sich mehr oder weniger des Lustmorddiskurses bedienen, existieren bereits um 1900. Eine begriffliche Unpräzision des Lustmordes ist in Zusammenhang mit dem Film nicht zu vermeiden, weil kein Lustmörderfilm als eigene Genrespezifikation existiert. Das Lustmordsujet kann jedoch innerhalb einiger Genres oder einzelner Filmen festgestellt werden, die die Formen und Funktionen des Lustmordes entsprechend den gattungsspezifischen oder dramaturgischen Anforderungen modifizieren. Mit der Adaptation des Lustmordmotivs im Film kann wiederum die Entstehung neuer Genres konstatiert werden. Aus diesem konstitutiven Wechselbezug gehen beispielweise Thriller, Serienmörderfilm und verschiedene Horror-Subgenres wie Splatter oder Slasher hervor. In unmittelbarer Nähe zum ‚klassischen‘ Lustmord, der zurzeit in den theoretischen Debatten als Serienmord weiterlebt, befindet sich der Serienmörderfilm, der die Serialität und das Ritual des Mordes, einen Detektiv beziehungsweise Polizisten oder einen Psychologen als Kontrahenten (sie verkörpern die Norm der bestehenden Ordnung) sowie generell die psychotraumatische Ätiologie der Tat und die Psychoanalyse als Instrument der Erklärung und Ermittlung begründet.218 Im Zusammenhang mit dem 216 Laut Höltgens Angaben erscheint der erste Serienmörderfilm The Life of a London Bobby (GB 1903, R: George A. Smith) bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts, der den Fall von Jack the Ripper ästhetisch aufbereitet. Vgl. S. Höltgen: Schnittstellen, S. 60. 217 Vgl. M. Tatar: Lustmord, S. 57-64. Sie analysiert unter anderen filmischen Beispielen des Lustmordes auch den Film Nosferatu – eine Symphonie des Grauens (D 1922, R: Wilhelm Murnau). Tatar leitet die diskursive Kontinuität des Vampirmotivs und des Lustmörders aus dem Fall von Peter Kürten her, der in der Öffentlichkeit als „Vampir aus Düsseldorf“ bezeichnet wurde. Darüber hinaus stellt Lessing bei Fritz Haarmann auch Krankheitssymptome des Vampirismus fest. In dieser Analyse werden die Vampirfilme, deren Verhältnis zum Lustmordmotiv noch zu untersuchen ist, beiseite gelassen. 218 Es ist in der Eigenart des filmischen Genres begründet, dass es auf die Reproduktion gewisser Strukturen angewiesen ist, um die Zuschauererwartungen zu erfüllen und der Geschichte einen dramaturgischen Ablauf zu ermöglichen. Zugleich generiert jeder Film über die Durchbrechung und Hybridisierung der Genres Suspense. Höltgen untersucht zwar Serienmörderfilme als exemplarische Beispiele, weist aber darauf hin, dass das Serienmörder-Motiv innerhalb anderer Genres wie Musical, Komödie oder Melodram auftreten kann. Die erste frühere Phase unter dem Titel „Die nahen Ereignisse“ umfasst die Filme aus den Jahren 1895 bis 1945. In dieser Phase werden die wichtigsten Motive filmisch erprobt und begründet, die auch bis heute zu den festen Bestandteilen des Serienmörderfilms zählen, wie Nebel, Messer, Schattenspiel, Großaufnahmen, Treppen sowie die Figur des Psychoanalytikers beziehungsweise Detektivs. Die zweite klassische Phase, genannt „Exil und Politik“, folgt von 1945

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Lustmord in der Kinokultur219 der Weimarer Republik wird am häufigsten der Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931, R: Fritz Lang) diskutiert, der auf dem Fall von Peter Kürten basiert. Tatar spricht ähnlich wie Lindner über die polarisierte Doppelcodierung des Lustmörders in den ästhetischen Fantasien der Weimarer Repräsentationen, die den Mörder sowohl als ein Monster als auch als eine sich selbst opfernde Unschuld darstellen.220 Im Film von Lang stellt Tatar neben der Viktimisierung die Infantilisierung und Feminisierung des Lustmörders fest.221 Der Film weist dazu schon Versatzstücke der psychologischen Expertise und der Figur des Detektivs auf. Im Gegensatz zu literarischen Lustmorddarstellungen thematisieren die Filme recht früh die konstitutive Rolle der Medien für die Wahrnehmung dieser Verbrechen.222 Darüber hinaus funktionalisieren visuelle Repräsentationen den Lustmord bereits seit den 1960er Jahren als kritisches

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bis 1959. In dieser Periode, zu der vorwiegend deutsche Exilregisseure beitragen, wird der Serienmord mit anderen, vor allem politischen Themen wie beispielsweise der Kritik am Nationalsozialismus oder an der kapitalistischen Ökonomie verbunden. In der dritten, modernen Phase von 1960 bis 1989 kommt es zur Intensivierung von „Schock und Gewalt“. Die Serienmörderfilme werden darüber hinaus zunehmend selbstreflexiv. Die meisten Werke führen Gewalt und Blick sowie Gewalt und Kamera zusammen. In der vierten, postmodernen Phase von 1990 bis 2004 wird die Tendenz zur strukturellen und motivischen „Grenzüberschreitung“ deutlich, der sich die Filme über Mehrfachcodierung und bis zum Exzess gesteigerte Selbstreflexivität und Hyperrealität aussetzen. Vgl. S. Höltgen: Schnittstellen, S. 60-93. Im Zusammenhang mit der Herausbildung des filmischen Serienmörder-Motivkomplexes analysiert Höltgen die deutschen Filme Das Wachsfigurenkabinett (D 1924, R: Paul Leni), Die Büchse der Pandora (D 1929, R: Georg Wilhelm Pabst) und M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931, R: Fritz Lang), die US-amerikanischen Filme Doktor X (USA 1932, R: Michael Curtiz), Supernatural (USA 1933, R: Victor Halperin) und Arsenic and Old Lace (USA 1944, R: Frank Capra), die französischen Filme L’Assassin Habite (F 1939, R: Henri-Georges Clouzot) und Pièges (F 1939, R: Robert Siodmak) sowie den damals in Großbritannien produzierte Film The Lodger (GB 1927, R: Alfred Hitchcock). M. Tatar: Lustmord, S. 172. „Weimar’s criminals led a strange double life that allowed them to occupy the extreme positions of murderous monster and selfsacrificing innocent – the two roles that Ywan Goll saw exemplified in the figures of the serial killer Fritz Haarmann and the classical poet Friedrich Hölderlin.“ Ebd.: S. 160-161. Tatar zeigt außerdem, wie die nationalsozialistische Ideologie diesen Film mit dem jüdischen Schauspieler Peter Lorre als Lustmörder für ihre nationalsozialistische Propaganda missbrauchte. Vgl. S. Höltgen: Schnittstellen, S. 74. „In M – Eine Stadt sucht einen Mörder sind die Medien als ‚Multiplikatoren des Grauens‘ stets gegenwärtig.“

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Reflexionsmedium visueller Gewalt, das heißt die Filme machen die Genese der sexuellen Gewalt als durch die Kamera konstruierte Blickkonstellation sichtbar, die die Zuschauerinnen und Zuschauer in Voyeure verwandelt und diese Sexualisierung von Gewalt genießen lässt.223 In Anbetracht der Anzahl der Filme ist eine hinreichende diachrone oder synchrone Klassifizierung kaum möglich und würde den Rahmen dieses Überblickes sprengen. Es geht eher um eine Skizze aktueller Tendenzen, die Ähnlichkeiten mit den Diskursen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aufweisen. Die filmischen Repräsentationen des Lustmordes dominieren beziehungsweise bestimmen heute den ästhetischen Lustmorddiskurs. Um einen Überblick darüber zu erhalten, wird der Lustmorddiskurs als Klassifikationsmerkmal genutzt. Die Auswahl der Filme ergibt sich durch den Bezug des dargestellten Mordes zum Sexualakt oder zur Sexualität des Mörders getroffen. Als analytische Kategorien können dabei die Umsetzung des Lustmorddiskurses sowie die Akzentuierung bestimmter Aspekte betrachtet werden: Täter-Opfer-Schema, Ödipuskomplex und Rekonstruktion des Traumas sowie die Auseinandersetzung mit dem Gesetz sind die Kategorien, die im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die Wechselwirkung von wissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen auch im cineastischen Lustmorddiskurs vereinigt werden. Dank der zahlreichen Verfilmungen des Sujets Jack the Ripper bildet sich ein unabhängiges „Jack the Ripper-Genre“ heraus, das mit Elementen des Thrillers, des Horror- und des Kriminalgenres arbeitet. Dass Jack the Ripper nicht zuletzt eine filmische Erfindung ist, beweist die Reduktion der Anzahl der ihm dort zugeschriebenen Opfer. Sein Zeitgenosse Richard von Krafft-Ebing spricht von elf Opfern,224 die im Film zu fünf werden. Die reduzierte Anzahl der Opfer hängt mit der Ökonomie des Genres zusammen, die dadurch einen effektiveren Spannungsaufbau erreicht. Zum Figurenset gehören Polizei oder Privatdetektive, Prostituierte und der Lustmörder aus der gesellschaftlichen Oberschicht. Der Lustmörder ist in der Regel ein Arzt, der ganz im Sinne der Kriminalanthropologie an Wahnsinn, an einer Persönlichkeitsspaltung oder einer anderen psychischen Krankheit leidet. Interessanterweise erweist sich die Lustmord-Geschichte in den Jack the Ripper-Filmen als Leerstelle, die immer aufs Neue durch Mythen gefüllt werden muss. Daher variieren die Lustmordmotive, die gemäß der Tradition des Lustmorddiskurses aus der Biografie und der Herkunft des Mörders hergeleitet werden. Der Lustmörder wird als Adliger wie in dem Film A Study In Terror (USA 1965, R: James Hill), als Leibarzt der Königsfamilie wie in 223 Als Pioniere der kritischen medialen Selbstreflexion sind Psycho (USA 1960, R: Alfred Hitchcock) und Peeping Tom (GB 1960, R: Michael Powell) zu nennen. Seit der Erscheinung dieser Filme gehört laut der Studie Höltgens auch die Medienreflexion zur Ausstattung des filmischen Lust-, Sexual- und Serienmordes. 224 Vgl. R. von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis.

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Jack the Ripper (GB 1988, R: David Wickes) oder als Arzt und Freimaurer wie in dem Film From Hell (USA 2001, R: Albert und Allen Hughes) dargestellt. Allerdings dokumentieren die Genredramaturgie und die Figurenkonstellation dieser Filme vornehmlich die herrschenden Diskurse um die Wende zum 20. Jahrhundert, denn sie übersetzen das aufkeimende Interesse an Biologie und Anatomie kombiniert mit dem Interesse an Pathologie in die lustmörderischen Szenen. Ein weiteres nennenswertes Genre ist ein Subgenre des Horrorfilmes, das den Lustmord auf seine ‚reine‘ Form – mit oder ohne Rekonstruktion der Motive – reduziert. Es sind die so genannten Splatter- oder Slashermovies, die einen signifikanten historischen Bezug zum Lustmord aufweisen. Der Anfang des Splatter-Genres kann in den surrealistischen Avantgarde-Filmen gesehen werden, da der Surrealismus das Lustmordthema und SM-Praktiken als ästhetisches Sujet entdeckt. Der Kurzfilm Un Chien Andalou (F 1929, R: Luis Buñuel) kann mit seiner berühmten Szene, in der ein Augapfel durchschnitten wird, als der Anfangspunkt der Splatter-Tradition betrachtet werden.225 Splatter-Filme wie John Carpenter’s Halloween (USA 1978, R: John Carpenter), The Texas Chain Saw Massacre (USA 1974, R: Tobe Hooper), Scream (USA 1996, R: Wes Craven) und Saw (USA 2004, R: James Wan), um nur einige zu erwähnen, präsentieren den Tötungsakt in seiner klassischen Definition als Ersatz für den Koitus,226 bei dem ein maskierter Mörder seine weiblichen Opfer mit einem Messer zerstückelt und ausweidet. Robin Wood227 sieht im Monster der Splatter-Filme eine Symbolisierung der struk225 Brauerhoch, Annette: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror, Marburg 1996, S. 151. Brauerhoch leitet die Anfangstradition der Splatter-movies von Hitchcocks Psycho ab und liest die Morde als Kampf um Individuierung und sexuelle Identität, bei dem das maskierte Monster als „Repräsentanz einer fürchterlichen, vernichtenden und verschlingenden Mutter“ ‚kastriert‘ werden muss, um die Symbiose mit der Mutter zu unterbrechen und eine eigene Identität zu gewinnen. 226 Mehrere Forscher sind sich darin einig, dass Splatter-movies einen sexuellen Charakter haben. Robin Wood liest die Morde beispielsweise als Verknüpfung von sexueller Lust mit Strafe (Gegenstand der Strafe sind Weiblichkeit und Promiskuität) und Carol Clover zieht aufgrund der Monotonie und der Ritualität eine Parallele zwischen Splatter und Pornofilm. Vgl. Wood, Robin: Beauty bests the Beast, in: American Film 9 (1983), S. 63-65. Clover, Carol J.: Her Body, Himself: Gender in the Slasher Film, in: Donald, James (Hg.): Fantasy and the Cinema, British Film Institute 1989, S. 91-133. 227 Wood, Robin: An Introduction to the American Horror Film, in: Grant, Barry Keith (Hg.): Planks of Reason. Essays on the Horror Film, Metuchen, New Jersey; London 1984, S. 164-200. Wood sieht in den Slasher-Filmen eine Funktionsverschiebung des Monsters gegenüber den älteren Horrorfilmen, in denen das Monster, das dem „Es“ entsprang, die Wiederkehr des Verdrängten symbo-

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turellen Gewalt und eine Art der Über-Ich-Figur, deren Attacke das Publikum in eine masochistische Position versetzt, da die angebotenen Identifikationsfiguren allesamt als weibliche Opfer erscheinen. Der Lustmord wird hier zur filmischen Handlung und steht mit den formalen Strukturen des Filmes in Zusammenhang. Die mechanische Ausführung und die serienhafte Wiederholung des Lustmordes manifestieren sich sowohl in dem Inhalt des Filmes als auch im Prinzip der Serie mit ihren zahlreichen Folgen und Fortsetzungen. Die Rekonstruktion der Biografie des Mörders als Motivationserklärung für die Tat gehört zur Tradition der literarischen und filmischen Lustmorddarstellungen und schließt die durch den Lustmord aufklaffenden sinnstiftenden Strukturen. Als weiteres eigenständiges Genre kann daher die Verfilmung der Biografie bekannter Serienmörder oder (Lust-)Mörder gelten. Ein Beispiel ist die Verfilmung des Lebens des US-amerikanischen Serienmörders Henry Lee Lucas (1936–2001) Henry: Portrait of a Serial Killer (USA 1986, R: John McNaughton). Der Lustmord erscheint als Folge der sexuellen Gewalt in der Kindheit – Henry ist von seiner Mutter missbraucht worden – und tritt in kompensatorischer Funktion auf. Eine andere analytische Perspektive bietet die Entwicklung und Modifizierung des Lustmordsujets durch Genres, die sich nicht nur auf dieses Thema konzentrieren. Ein beliebtes filmisches Genre, das dem Lustmorddiskurs Raum zur Entfaltung gibt, ist der Thriller beziehungsweise der Psychothriller. Eine genauere Genreeinordnung ist bei vielen Filmen jedoch kaum möglich.228 Abgesehen von der Definitionsschwierigkeit verschiedener Formen des Thrillers ist sich die Forschung einig, dass alle Thrillersubgenres auf der Erotisierung von Gewalt basieren.229 So erscheint für den Thriller der Lustmord mit seiner paradoxen Lust-Gewalt-Konstellation und mit seinem Geheimnis des gewalttätig gewordenen Begehrens als ein fruchtbares Motiv, das seine Verbreitung und Popularität im Film sichert. Neben Suspense, Grausamkeit, Erotik und Gewalt ist insbesondere die Darstellung der psychopathologischen Entfaltung oder Entwicklung des Täters (seiner lisiert. Er liest Slasher-Filme als Reaktion und Abwehr der durch die Studenten- und Frauenbewegung eingeleiteten sexuellen Befreiung. 228 Manthey, Dirk/Altendorf, Jörg (Hg.): Thriller. Ein Filmbuch von cinema, Hamburg 1991. Das Genre Thriller zeichnet sich durch die Definitionsvielfalt aus. Beispielsweise unterscheiden die Autoren Manthey und Altendorf 14 verschiedene Kategorien wie Erotik-, Horror-, Nacht-Thriller usw. Unter Psychothriller verstehen sie eine Gattung, deren Dramaturgie sich „durch das sozial abweichende Verhalten seiner Figuren definiert.“ S. 10. Georg Seeßlen unternimmt die Kategorisierung nach Täterfiguren wie Psychopathen, Serienkiller, mörderische Frauen usw. In: Seeßlen, Georg: Thriller: Kino der Angst, Marburg 1995. 229 G. Seeßlen: Thriller; Golde, Inga: Der Blick in den Psychopathen. Struktur und Wandel im Hollywood-Psychothriller, Kiel 2002.

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Identitätskrise, seiner Persönlichkeitsspaltung, seines Gedächtnisverlustes usw.)230 zentraler Bestandteil der Dramaturgie des (Psycho-)Thrillers, wobei der Thriller den Lustmorddiskurs modifiziert. Während die Sexualpathologie den Lustmord als Täterdiskurs ausarbeitet, was auch in der Literatur und der Kunst der deutschen Avantgarde zum Ausdruck kommt, erschafft der Thriller eine Opferperspektive. Nach der Definition Seeßlens231 wird im Thriller das Opfer mit der Gewalt in seinem Alltag konfrontiert. Darüber hinaus entfallen im Psychothriller oft die Auseinandersetzungen mit dem Gesetz, da der Psychothriller entweder den Lustmord privatisiert oder genregemäß die Überführung des Mörders ausspart.232 Als Klassiker zum Thema Lustmord gilt der Thriller Psycho (USA 1960, R: Alfred Hitchcock). Der Film Hitchcocks ist in vielerlei Hinsicht interessant, da er den Paradigmenwechsel, der durch die Adaptation der Psychoanalyse im Lustmorddiskurs entsteht, deutlich macht. Er etabliert eine filmische Tradition für den Lustmord, so dass Inga Golde in ihrer Untersuchung zum Psychothriller mit dem Film Psycho den Anfangspunkt eines speziellen Subgenres setzt.233 Hitchcocks Filme verwenden generell die Psychoanalyse als ästhetisches Sujet und fördern somit ihre Popularisierung. Die Integration der Psychoanalyse in den Lustmorddiskurs hat in der Kriminalpsychologie die Thematisierung der ‚bösen‘ Mutter zur Folge. So wird die Mutter auch bei Hitchcock zur Urheberin der Pathologie des Sohnes234, die seine Verweiblichung markiert. Die kulturellen Ängste vor der Feminisierung des Mannes und der Dominanz der Frau werden somit deutlich. Der ‚Urmann‘ der Avantgarde wird zu einem ‚unfertigen‘, das heißt verweiblichten Mann, der mit dem Lustmord seinen Männlichkeitsmangel zu kompensieren versucht. Der Sohn bleibt in der präsymbolischen Welt des inzestuösen Begehrens nach seiner monströsen, phallischen Mutter gefangen. Dies führt zur Auflösung des männlichen Selbst und dem endgültigen Triumph der Mutter. Dabei wird das ‚klassische‘ Lustmordkonzept eingesetzt, das den sexuellen Akt durch den Mord verwirklicht.235 230 231 232 233

D. Manthey/J. Altendorf: Thriller, S. 10. G. Seeßlen: Thriller, S. 13. Die Absage an das Happy End gehört nach Seeßlen zur Thrillerdramaturgie. I. Golde: Der Blick in den Psychopathen, S. 22. „Diesen Film als Anfangspunkt eines speziellen Subgenres zu setzen, rechtfertigt sich allein schon damit, daß in den folgenden Jahren eine Fülle von Variationen des Stoffes und seiner Handlungsstruktur in den Kinos zu sehen war.“ 234 Mehr darüber bei M. Tatar: Lustmord, S. 20-40. 235 In der Forschung wird die Szene sowohl als Rache der Mutter an der Rivalin als auch als symbolische Vergewaltigung betrachtet. Greed liest dagegen die Szene als den Kastrationsakt der Mutter, die kastriert, anstatt selbst kastriert zu werden. Elisabeth Bronfen liest die Szene als eine Situation der Entnabelung, die sie vor dem Ödipuskomplex als eine Art von Kastration – das Trennen von der Mutter – versteht. Die Szene kann laut Bronfen nicht einfach als ein Fanta-

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Im Zusammenhang mit der Feminisierung des Täters wird ein weiterer Paradigmenwechsel deutlich: die Thematisierung der Geschlechtsidentität. Der Lustmord wird schon um die Wende zum 20. Jahrhundert als eine Überwindung der Krise der männlichen Subjektivität konzeptualisiert, jedoch finden sich noch keine Entgrenzungsfantasien der binären Geschlechtermatrix. Psycho, ein Film, der seiner Zeit voraus war, funktionalisiert den Lustmord als ein Überschreitungsmedium – eine Tradition, die sich erst in den Filmen der 1980er bis 1990er Jahre etabliert. In Hitchcocks Film leidet der Lustmörder unter einer Persönlichkeitsspaltung, die den Kampf zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit im Mutter-Sohn-Konflikt offenbart. Die Unbestimmtheit der männlichen Identität (weder Mann noch Frau, weder Mutter noch Sohn oder beide zugleich) ist die Voraussetzung für den Lustmord. Der Film Psycho kann auch als Beispiel für die Etablierung der Opferperspektive im Lustmorddiskurs dienen. Sie wird zu einer neuen Tradition des Thrillers, die auch die Genrekonventionen entsprechend modifiziert. Die Protagonistin Marion Crane (Janet Leigh) fungiert nicht nur als Identifikationsfigur, sondern sie und Norman Bates werden laut Bronfen auch zusammengeführt: „In Norman Bates tritt Marion einem symptomartigen Doppelgänger gegenüber, der wie sie selbst den Vater schon früh verloren hat, damit der ‚symbolischen Kastration‘ nur unvollständig unterworfen war und nun zwischen Unterstützung und Überschreitung der Autorität des väterlichen Gesetzes hin und her schwankt.“236 Der Protagonistin Marion Crane wird nach Bronfen durch Norman vorgeführt, dass für sie Glück (eine glückliche Ehe) mit dem gestohlenen Geld (oder auch ohne) unerreichbar ist. Als ein weiteres Beispiel, in dem der Lustmord zum Medium der Stabilisierung, der Auflösung oder des Wechsels der Geschlechtsidentität wird, kann der Kultfilm The Silence of the Lambs (USA 1990, R: Jonathan Demme) genannt werden.237 In diesem Film ist die Verschiebung vom Lustmordsieszenarium der sexuellen Penetration gedeutet werden, sondern muss auch als eine „Rückkehr zu der traumatischen Erschütterung durch einen früheren Schnitt“ – die Entnabelung – gelesen werden. Die Norman-Mutter macht das Durchtrennen der Nabelschnur rückgängig und fordert den Körper zurückt, den sie zur Welt gebracht hat. In: Bronfen, Elisabeth: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin 1998, S. 60-62. 236 Ebd.: S. 58. 237 Vgl. I. Golde: Der Blick in den Psychopathen. Was in diesem Überblick nicht thematisiert wird, ist die Entwicklung des Psychothrillers, die die Darstellungen des Lustmordes beeinflusst. Inga Golde stellt folgende Entwicklung des Genres fest: Während in den 1950er und 1960er Jahren die Trivialpsychoanalyse im Psychothriller vorherrscht, verlagert sich der psychische Konflikt in den 1970er Jahren von der Psyche des Täters auf die sozialkritischen Kontexte. In 1980er und 1990er Jahren nimmt die sozialkritische Tendenz ab und die Handlung fokussiert unmittelbar die Gewalthandlung. Durch die Aussparung der Vergangenheit des Täters entsteht im Film laut Golde ein Motivationsvakuum. Para-

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sujet auf das Begehren nach einer anderen Identität zu beobachten. In der Tradition des Thrillers, dem ein binäres Schema zugrunde liegt, streben die Protagonistin, die FBI-Agentin Clarice Starling (Jodie Foster), und der Antagonist, in den Medien „Bufallo Bill“ (Ted Levine) genannt, danach, sich eine neue Identität anzueignen. Beide suchen den Zugang zu und die Anerkennung in den jeweils anderen kulturellen Sphären, die ihnen aufgrund ihres ‚biologischen‘ Geschlechts verwehrt bleiben. Der Mörder möchte eine Frau werden. Nach Absagen verschiedener Kliniken, chirurgisch sein Geschlecht zu ändern, häutet er Frauen, um sich aus ihrer Haut seine Weiblichkeit zu nähen und diese ‚anzuziehen‘. Die FBI-Agentin möchte im männlichen Bereich Anerkennung finden, die sie letztendlich erst durch den Mord an Buffalo Bill erfährt. Der Film demonstriert die Zementiertheit der binären Geschlechtermatrix und der gesellschaftlichen Räume, die durch die Polarisierung der Geschlechter hervorgebracht wird. Sie kann nur durch den Mord überschritten werden. Der Film konstruiert zwar einen traumatisierten und ‚feminisierten‘ Lustmörder, zentral wird jedoch das kindliche Trauma der FBI-Agentin, das sie mithilfe eines anderen strafgefangenen Lustmörders, dem Psychiater Hannibal Lecter (Anthony Hopkins), heilen kann. Lecter wird zur symbolischen Vaterfigur, die sowohl das kindliche Trauma heilt als auch Clarice die bis dahin fehlende Integration in die Gesellschaft ermöglicht. Allerdings etabliert der Film auch die Verknüpfung vom Gesetz des Vaters und verbrecherischer Gewalt. Das Lustmord-Set bleibt somit zwar vorhanden, wird aber auf verschiedene Figuren verteilt. Daher dient die Kriminalermittlung nicht der Rekonstruktion der Biografie des Mörders, sondern der Therapie des kindlichen Traumas der Agentin. Eine Modifikation erfährt auch die Konstruktion des Lustmörders als Psychopath,238 dem die visuelle Ästhetik eine neue Form verleiht. Im Film macht das Konzept Psychopathie aus dem ‚wahnsinnigen‘ und ‚traumatisierten‘ Lustmörder, den beispielsweise die Jack the Ripper-Filme inszenieren, einen intelligenten, begabten Mörder, der nicht nur der Kriminalermittlung digmatisch stellt der analysierte Thriller Dressed to kill (USA 1980, R: Brian DePalma) die Geschlechtsumwandlung dar (S. 28-29). In den 1990er Jahren rücken die individuellen Bedürfnisse in den Vordergrund des Psychothrillers, dementsprechend bleibt das Interesse der Gesellschaft im Hintergrund. Die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung sind im Begriff sich aufzulösen. Mehr noch: Nur durch den Normenverstoß erleben die Figuren laut Golde eine positive Erfahrung (S. 192). 238 Wulff, Hans Jürgen: Psychiatrie im Film, Münster 1995. Laut Wulffs Untersuchung tritt der Psychopath in den klassischen Gangsterfilmen auf, in denen er unter einem Mutterkomplex leidet. Ende der 1950er Jahre entwickelt sich die Figur des Psychopathen zu einem existentialistischen Helden, der die bestehenden, engen gesellschaftlichen Grenzen aufzulösen begehrt. Mitte der 1970er werden die sozioökonomischen, sozialen und historischen Handlungsrahmen für den Psychopathen etabliert.

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einen Schritt voraus ist, sondern oft sogar mit dem Detektiv spielt. Dem Lustmord kommt also eine Distinktionsfunktion zu. So lockt beispielsweise der Lustmörder Robert Rusk (Barry Foster) aus Frenzy (GB 1972, R: Alfred Hitchcock), der von einem Fachmann als Psychopath klassifiziert wird, die Polizei auf eine falsche Fährte. Gegenwärtig zeichnet sich eine Tendenz der Aufhebung des Psychopathie-Konzeptes ab.239 Der Protagonist (Malcolm McDowell) im Film The Barber (CAN/GB 2001, R: Michael Bafaro) ist sich seiner Psychopathie bewusst. Diese reflektiert er im Film intellektuell und setzt sie geschickt gegen die Polizeiermittlung ein. Die Psychopathie des Mörders wird zu einer bewussten Handlungsstrategie, die die Annahme der Unberechenbarkeit und des Kontrollverlusts unterwandert. Das gesteigerte theoretische und ästhetische Interesse an Sadismus und Masochismus seit dem Ende der 1950er Jahre bedingt eine weitere Modifikation des Lustmörders im Film: Sadistische und masochistische Mörderprofile bilden sich heraus. Das sadistische Profil des Täters ist als eine durch das Fehlen des Vaters bedingte pathologische Bindung an die Mutter gekennzeichnet, von der der Täter nicht loslassen kann oder von der er missbraucht wird. Zu dieser Kategorie gehört die größte Anzahl von Filmen, unter denen Psycho von Alfred Hitchcock oder From Hell von Albert und Allen Hughes (in letzterem steht hinter allen Morden letztendlich die Königin) bekannte Beispiele sind. Ein Novum ist, dass durch den Lustmord die väterliche Gewalt problematisiert wird. Beim masochistischen Täterprofil, das ein ganz neues Paradigma im Lustmorddiskurs darstellt, ist der Täter das Opfer väterlicher Gewalt. Der Film The Cell (USA/D 2000, R: Tarsem Singh) kann als ein Repräsentant genannt werden, der nicht nur die väterliche Gewalt, sondern auch die patriarchalische, christliche Ordnung in Frage stellt. Die masochistische Unterwerfung des Sohnes (Vincent D’Onofrio) – die bewusste Forcierung seiner Opferrolle – kann in Anlehnung an Gilles Deleuze als ein Versuch interpretiert werden, die Ordnung des Vaters zu unterlaufen. Während sich der Lustmord in seiner Entstehung und Entwicklung als eine explizit ‚männliche‘ Tat etabliert, die mit der Negation des Weiblichen dazu beiträgt, Männlichkeit herauszubilden, wird er nun durch den masochistischen Täter zum Medium der Kritik am Patriarchat und an patriarchalischer Männlichkeit. Der masochistische Mörder deckt die Identifikation mit dem Vater als eine Gewaltaktion auf, die die ‚normierende‘ Männlichkeit als Folge traumatischer Ereignisse etabliert. Das masochistische Täterprofil bewirkt das neue Paradigma der Erweiterung der Opferperspektive im Film bis hin zum männlichen Opfer, das aber als Protagonist des Filmes fungiert und dem Publikum als Identifikationsfigur angeboten wird. Durch die Entfaltung der männlichen Opferperspektive wird die Marginalisierung des Täters eingebüßt. So verschwindet die biogra239 I. Golde: Der Blick in den Psychopathen, S. 34. Golde stellt in ihrer Untersuchung über den gegenwärtigen Psychothriller eine abnehmende Tendenz zur Psychopathologisierung als Motivationshintergrund fest.

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fische Rekonstruktion der Mordmotive oder sie wird auf ein Minimum reduziert. Es wird nunmehr die ödipale Konstellation fokussiert, das heißt der Ödipuskomplex macht die Handlung des Filmes aus und entfaltet sich zwischen dem männlichen Lustmörder und seinem männlichen Opfer. Die Filme arbeiten mit der Allegorisierung der Figuren, indem der Lustmord zur Projektionsfläche für andere Themen wird. So verortet der Film The Brave (USA 1997, R: Johnny Depp) im Lustmord einen ethnischen Konflikt zwischen einem indianischen US-Bürger (Johnny Depp) und einem US-Bürger europäischer Herkunft (Marlon Brando). Der Film Hostel (USA 2005, R: Eli Roth) setzt die Interaktion zwischen einem US-Bürger (Jay Hernandez) und einem Europäer (Jan Vlasák) als ödipale Konstellation in Szene. Darüber hinaus macht dieser Film den Lustmord zum Medium der Kritik am Kapitalismus. Hinsichtlich der Gender-Konstellationen bleibt der Lustmord im Film aufgrund des männlichen Lustmörders mit wenigen Ausnahmen eine männliche Domäne. In diesem Überblick wird deutlich, dass das weibliche Opfer kaum Berücksichtigung findet und der Lustmorddiskurs hauptsächlich ein Medium zur Verhandlung von Männlichkeit ist. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Kultfilm Basic Instinct (USA 1992, R: Paul Verhoeven), der eine Frau zur Lustmörderin macht. Der Film steht in der Tradition der Noir-Filme, das heißt die Emanzipation der Frau zur Lustmörderin ist nicht zuletzt durch das Noir-Genre bedingt. Die Lustmörderin wird zur klassischen Femme fatale,240 die für den männlichen Protagonisten als eine Projektionsfläche für (Kastrations-)Ängste und das Begehren nach einem anomischen Raum dient. Die Lustmörderin (Sharon Stone) erscheint daher als symptomatische Doppelgängerin des Polizisten (Michael Douglas),241 die seine Machtfantasien zu verwirklichen vermag. Der Kultroman American Psycho (1991) von Bret Easton Ellis etabliert ein neues kulturelles Paradigma: Die Kehrseite des Luxuslebens ist die totale Zerstörung. In Anlehnung an Theweleit242 liegt der Lustmord-LuxusVerknüpfung ein narzisstischer Körper zugrunde, dessen Produktion nur auf Kosten des Anderen möglich ist. In der Konsumgesellschaft in American Psycho bildet sich ein männlicher Körperpanzer als eine phallische Ganzheit mit perfekter Oberfläche heraus, der sich auf der Grundlage der totalen Zerstörung von den Körpern der Anderen – bei Ellis: der Frauen und Afroame240 Es ist bemerkenswert, dass einige Forschungen neue Noir-Filme als eine emanzipatorische Geste verstehen, z.B. die Studien von Elisabeth Bronfen zu NeoNoir, von Slavoj Žižek zu David Lynch oder von Yvonne Tasker zu Working Girls. 241 I. Golde: Der Blick in den Psychopathen, S. 147-165. Golde macht in ihrer Analyse zum Film Basic Instinct die Parallele zwischen dem Polizisten Nick Curran (Michael Douglas) und der Lustmörderin Catherine Tramell (Sharon Stone) deutlich. 242 K. Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1.

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rikaner – konstituiert. Wird der Luxus zum Medium der phallischen Fetischisierung des Körpers, so wird der Lustmord zum Medium der Partialisierungs- und Zerstückelungsfantasien. Ellis zeigt deutlich, dass diese konstitutive Verbindung zwischen Lustmord und Luxus keine individuelle Psychose, sondern die strukturelle Grundlage des entwickelten Kapitalismus ist. Diese Zusammengehörigkeit von Lustmord und Luxus als narzisstischdestruktive Subjekt-Objekt-Beziehung zeigt sich in mehreren MainstreamFilmen, die seit den 1990er Jahren erschienen sind. Der Lustmord wird in diesen Filmen zum Zeichen der unbegrenzten Macht und zum Symbol des ökonomischen Privilegs. Nicht finanzieller Reichtum wird zur Manifestation der Macht und zum Beweis der propagierten ökonomischen und Rechtsfreiheit, sondern der Lustmord wird zum Ausdruck des anomischen Raums: Basic Instinct (USA 1992, R: Paul Verhoeven), 8MM (USA 1999, R: Joel Schumacher) oder Hostel (USA 2005, R: Eli Roth) sind hier als Beispiele zu nennen. Neben dem Thriller muss ein weiteres Genre erwähnt werden, das den Lustmord nicht in seiner ‚klassischen‘ Form einsetzt. Männlichkeit und Gesetz werden über den Lustmord in den Actionfilmen der Reagan-Ära verhandelt. Seit den 1980er Jahren werden Männlichkeitsdarstellungen unter dem Einfluss des politischen Diskurses der „Reagan Revolution“ als „hard bodies“243 initiiert. Die Actionfilme reduzieren den Lustmorddiskurs auf das Medium der Auseinandersetzung zwischen dem Gesetz und der Gesetzlosigkeit, wobei sich beide Sphären durch den Lustmord konstitutiv aufeinander beziehen. Während im ersten Fall der Lustmord zur Bewältigung der Gesetzlosigkeit eingesetzt wird, wird der Lustmord im zweiten Fall zum Signifikanten des verbrecherischen Raums. Der ‚notwendige‘ Lustmord wird nicht nur zum Medium der Herausbildung einer unbesiegbaren, übermenschlichen und muskulösen Maskulinität, sondern paradoxerweise auch zum Zeichen der ‚Gerechtigkeit‘. Als Beispiele können die Filme Cobra (USA 1986, R: George P. Cosmatos) und Running Man (USA 1987, R: Paul Michael Glaser) genannt werden. Während der Polizist Cobra (Silvester Stallone) den Lustmörder bis hin zum triumphalen Sieg jagt, wird der Protagonist Ben Richard (Arnold Schwarzenegger) in Running Man zur Vergnügung des Publikums in der gleichnamigen Show gejagt. Der Lustmord stellt in beiden Filmen aber keine direkte Verbindung zum sexuellen Akt dar, sondern kann als Lust am Töten definiert werden, an der auch das Publikum durch die Identifikation mit den Helden teilnimmt. In Running Man wird selbstreflexiv die Produktion der zerstörerischen Lust mit der Medialisierung der Wirklichkeit und der Lust am Voyeurismus zusammengeführt. Der Lustmord manifestiert darüber hinaus das Begehren nach einer ‚echten‘ Männlichkeit, die die Kontrolle über die Umwelt gewinnt. Die Filme legen also nicht nur den verbrecherischen, sondern auch den mangelhaften Cha243 Vgl. Jeffords, Susan: Hard Bodies. Hollywood Masculinity in the Reagan Era, New Brunswick 1993.

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rakter der Legislative und Exekutive, aber auch der Männlichkeitskonstruktion frei, die nur durch den Lustmord zu stabilisieren ist. Es lässt sich feststellen, dass der Lustmord sich als fruchtbares Sujet in der Filmproduktion etabliert hat und als paradoxes Phänomen zu einer Projektionsfläche für die Verhandlung aktueller Diskurse geworden ist, die jedoch eine historisch bedingte Verknüpfung zum Lustmorddiskurs aufweisen: der männliche Täter, die Psychologisierung der Handlung und der durch die Sexualität bedingte Mord. Die filmische Ästhetik und die Genrekonventionen bewirken ihrerseits eine Vervielfältigung der Formen des Lustmordes und seine Popularisierung. Das Lustmordsujet ist gegenwärtig nicht nur als eine Modeerscheinung zu betrachten; vielmehr avanciert es zu einem wichtigen Bestandteil des ästhetischen Repräsentationssystems des zeitgenössischen Hollywood-Kinos. Im Gegensatz zur deutschen literarischen und künstlerischen Avantgarde wird der Lustmord im Film zu einer pessimistischen Konstruktion, die zwar die Grenzen sprengt, jedoch keine Befreiung mehr verspricht. Die durch den Lustmord entstandenen gesetzesfreien Räume werden als Produkte des bestehenden Gesetzes oder der Staatstrukturen entlarvt. Die Filme verabschieden das ‚natürliche‘ Paradigma kriminalanthropologischer Provenienz, indem der Lustmord zur Machtmanifestation und zum Machtinstrument wird. Die filmischen Lustmordrepräsentationen dienen einigen Werken der deutschen Gegenwartsliteratur als Vorlage. Beispielweise referiert der Roman Finstere Seelen von Horst Eckert auf den Film Das Schweigen der Lämmer und setzt das Ripper-Narrativ ein. Die Hirnkönigin von Thea Dorn bezieht sich auf die Horrorfilm-Reihe A Nightmare on Elm Street (USA 1984–1994, R: Wes Craven, Jack Sholder, Chuck Russel, Renny Harlin et. al.). Diese Romane imitieren hinzu die Visualität, indem sie einerseits Morddetails und viel Action in Szene setzen und andererseits mit Parallelsujetlinien und Montageverfahren arbeiten. Darüber hinaus können im Film einige Diskurse identifiziert werden, die ähnlich wie in der deutschen Gegenwartliteratur über den Lustmord thematisiert werden: Männlichkeit, Gesetz, Ökonomie und die Reflexion des eigenen Ausdrucksmediums. Während die Filme den Lustmord selbstreflexiv auf das visuelle Medium zurückführen – die Kamera bringt also die Lust am Töten und die Lust am Schauen hervor –, wird der Lustmord in der deutschen Gegenwartsliteratur zur Reflexion der spezifisch literarischen Kunstproduktion funktionalisiert. Beiden gemeinsam ist die selbstreflexive Problematisierung der Lustmorddarstellungen, die die mediumsspezifischen Formen sowie die ästhetischen Traditionen, auf die sie mit dem Lustmordmotiv referieren, in Frage stellen. Nicht zuletzt unter dem Einfluss filmischer Repräsentationen des Lust- und Sexualmordes erscheint auch in der Literatur die zunehmende Opferperspektive als neues Paradigma. Da sich diese Themen ebenfalls in dem hier analysierten Textkorpus finden, können sie als aktuelle Paradigmen des Lustmorddiskurses begriffen werden. Dem Lustmord kommt im Film in Analogie zur literarischen Darstellung ebenfalls eine Distinktions- und Entgrenzungs-

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funktion zu: Entweder er produziert geschlechtliche, ethnische und klassenspezifische Differenzen oder er löst sie auf.

D EFINITIONSVERSUCH Der kurze Überblick über theoretische und ästhetische Diskurse macht deutlich, dass der Lustmord zu einem populären ästhetischen Sujet wird, wohingegen die theoretischen Diskurse ihn als ein untaugliches, anachronistisches Konzept verwerfen. Seine große Attraktivität liegt in der Paradoxie des Phänomens Lustmord, die diesen zur Leerstelle und damit zur Projektionsfläche macht. Selbst in den theoretischen Diskursen erweist sich der Lustmord als eine fundamentale Leerkategorie, in die jede Epoche ihre Theorien und Fantasien projiziert und damit ihre Ängste und Begehren verrät, die mit dem Lustmord abgespalten und aus der Kultur ausgegrenzt werden. Wird der Lustmord als ästhetisches Sujet betrachtet, so kann er über seine narrativen Strukturen definiert werden. Der Lustmord ist als ein Konglomerat ästhetischer und narrativer Strategien zu verstehen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts durch wissenschaftliche Diskurse sowie Literatur, Kunst und Film entwickelt worden sind: Zu den zentralen Aspekten des Lustmordes gehört die Beziehung des Mordaktes zum Geschlechtsakt oder den Genitalien. Geht es um die Sexualität, so bleibt der genderspezifische Bezugsrahmen für das Täter-Opfer-Schema meist die heterosexuelle Matrix, die mit dem Lustmord entweder stabilisiert oder überschritten wird. Der Täter erscheint entsprechend diesen binären geschlechtsspezifischen Zuschreibungen (Aktivität, Aggressivität, Kraft) als Mann oder wird mit ‚männlichen‘ Eigenschaften ausgestattet. Das Opfer wird als Frau präsentiert oder ‚feminisiert‘. Die narrative Entwicklung des Lustmordsets setzt in der Regel die Identitätsprobleme des Täters einerseits und andererseits die Auseinandersetzung mit den Normen, mit denen sich die Identität in Konflikt befindet oder denen sie nicht entspricht, voraus. Die Problematisierung der defizitären, ‚feminisierten‘ Geschlechtsidentität des männlichen Täters und die Manifestation des Begehrens nach einer (machtvollen) Identität durch den Mord sind das Mordmotiv. Daher sind die Taten schwer zu erklären, was entsprechend die Täterermittlung erschwert. Die Ermittlung wird zur Rekonstruktion des Traumas oder des gesamten Sozialisationsprozesses, dessen Scheitern den Lustmord zur Folge hat. Selbst wenn der Begriff Lustmord immer weniger gebraucht wird, kann der Diskurs erkannt werden anhand der Entdeckung der Täterbiografie als Motivationserklärung für die Morde, der Thematisierung der Familie und der gescheiterten Sozialisation im Rahmen der ödipalen Konstellationen, die das die Pathologie bedingende Schlüsselerlebnis oder Trauma rekonstruiert. Die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Strukturen, die als Norm gegenüber der ‚abweichenden‘ Identität fungieren, wird an der Opposition von dem Täter und einer das Gesetz verkörpernden Figur – Polizist, Detektiv, Psychoanalytiker, Psy-

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chologe oder (auch symbolischer) Vater – festgemacht, die wie die Serialität und das Ritual dank der filmischen Karriere des Lustmordes auch in der Literatur zum Bestandteil des Lustmorddiskurses geworden sind. Die Literatur personifiziert und konkretisiert somit die in den Fallgeschichten oder kriminologischen Berichten oft unmarkierte, ja unsichtbare gesetzgebende und sinnstiftende Instanz, was ihre Relativierung oder kritische Reflexion möglich macht. Zu den weiteren Merkmalen des Narrativs können ebenso Referenzen auf die historischen Lustmorde, besonders auf die Figuren Jack the Ripper, Fritz Haarmann oder Peter Kürten gehören, die in Darstellungen von Sexual- und Serienmorden mehr oder weniger weiter aufrechterhalten werden. Darüber hinaus müssen die semantischen Strategien berücksichtigt werden, die für die Täterdarstellung oft ein kriminalanthropologisches Vokabular verwenden. Dieses Lustmordset zeichnet sich dabei in der Regel durch die Dominanz des Täterdiskurses aus, bei dem die Opfer als Signifikanten des Begehrens des Täters fungieren. Die Darstellung des Lustmordes wird in der Regel mit einem geheimnisvollen Mord initiiert, dessen Aufklärung zur Rekonstruktion der Psyche des Täters führt. Daher kann eine Dominanz des psychoanalytischen Diskurses im Lustmordsujet festgestellt werden, die narrativ durch die GenreMixtur von Kriminalroman und Entwicklungsroman zum Ausdruck gebracht wird. Für Literatur und Film war und bleibt das reduktionistische psychoanalytische Modell von Eberhard Schorsch und Nikolaus Becker (1977) attraktiv, das seine Vorläufer subsumiert und ein umfassendes Konzept des Lustmörders bildet. Das Modell geht vor allem auf die Ansätze von Sigmund Freud zurück. Ob es um Sexual- oder Lustmord geht, die Ursachen werden vor allem in präödipalen Störungen in der Trieb- und Ich-Entwicklung gesehen. Auch die nicht abgeschlossene oder gescheiterte Entwicklung in den frühen oralen und analen Sexualitätsphasen kann nach diesem Modell zum Lustmord führen. In der Familienkonstellation wird die nicht erfolgte Ablösung von der Mutter, die auch die Nichtdifferenzierung zwischen dem Selbst und dem Objekt bedingt, als pathologisch gesehen; die Vaterfigur übernimmt die Rolle des Erlösers. Fällt der Vater als Identifikationsfigur aus, bleibt die pathologische Beziehung zur Mutter bestehen. Ausschlaggebend für die lustmörderische Charakterbildung ist die gewalttätige und dramatische Erfahrung mit der Mutter: „Die Psychoanalyse nimmt an, daß die unerträglichen inneren Spannungen aus tiefen oralen Hassgefühlen gegenüber der Mutter stammen.“ Psychodynamisch wird das Täterbild als „narzißtischer Rückzug bis hin zu einer Verleugnung der Welt der Objekte“244 charakterisiert. Dieser These zu Folge sind die Aggressivität und Destruktivität der Mörder nicht therapierbar. Dieses Modell mit seinen Variationen ist dasjenige, das sich sowohl in der Gegenwartsliteratur als auch in Mainstream-Filmen am Ende des 244 E. Schorsch/N. Becker: Angst, Lust, Zerstörung, S. 74-80.

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20. Jahrhunderts mit Erfolg etabliert hat und bildet die diskursiv-analytische Grundlage für die folgende Lektüre. Die Problematisierung der (männlichen) Identität einerseits und der Gesellschaft, die diese Identität hervorbringt, andererseits kann als zentrales Thema in allen analysierten Werken identifiziert werden, das die entsprechende (oft binäre) Struktur als Konflikt zweier Antagonisten bedingt. Daher sind die Kapitel nach weiteren Themen strukturiert, die in den Lustmord hineinprojiziert werden: die Kunstproduktion, die Ökonomie und die historische Reflexion Deutschlands. Im Kapitel Lustmord und Kunst werden Das Parfum von Patrick Süskind, Barfuß von Michael Kleeberg, Schmerznovelle von Helmut Krausser und Die Hirnkönigin von Thea Dorn mit dem Fokus auf Identitätsbildung und die mit ihr korrelierte Kunstproduktion analysiert. Der Lustmord als Instrument der Kunstproduktion wird zugleich zum Medium der androgynen Fantasien. Das zweite Analysekapitel betrachtet die Verbindung von Lustmord und Ökonomie anhand von Elfriede Jelineks Gier und Horst Eckerts Finstere Seelen, die den Lustmord zur Projektionsfläche kapitalistischer Prozesse machen, was als ein neues Paradigma im Lustmorddiskurs zu betrachten ist. Die männliche Identität wird in der Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen Strukturen herausgebildet, wobei Jelinek die ganze Gesellschaft kritisch in Augenschein nimmt. Das dritte Kapitel Lustmord und Geschichtsaufarbeitung geht mit den Werken Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder von Horst Bosetzky und Der Fall Arbogast von Thomas Hettche auf die traumatischen kollektiven Erfahrungen aus der Vergangenheit ein, die mit dem Lustmord zum Ausdruck gebracht werden: Nationalsozialismus und Ost-West-Teilung Deutschlands. Auch in diesen Werken werden die männlichen Identitäten in einer konstitutiven Wechselbeziehung mit der Gesellschaft verhandelt. Der Lustmord wird bei Bosetzky zur Metapher und Metonymie des Nationalsozialismus. Hettches Roman inszeniert die Ost-West-Teilung als Lustmord, wobei er generell die interagierenden, diskursiven Mechanismen der Legislative, Judikative, politischen Konjunktur und Ästhetik zentral behandelt. Diese Struktur ist nur bedingt streng anzusehen, denn die Themen überschneiden sich in den meisten Werken. Nichtsdestotrotz können damit die zentralen literarischen Paradigmen des modernen Lustmorddiskurses umgerissen werden.

Lektürenteil

Lustmord und Kunst

Lustmord und androgyner Künstler Das Parfum von Patrick Süskind

D IE G ESCHICHTE L USTMÖRDERS

EINES OLFAKTORISCHEN

Ein auktorialer Erzähler – die „‚gute Nase‘ des Lesers“1 – nimmt die Leser und Leserinnen bei der Hand und führt sie in die stinkende und duftende Welt des Frankreichs des 18. Jahrhunderts. Das bildhafte Erzählen übersetzt die ‚Realität‘ in Gerüche und Düfte: In unserer Zeit, in der „‚sämtliche Gerüche zum Schweigen gebracht wurden‘ (Corbin), hat Süskind die irdischen Elemente Gestank, Schmutz, Schweiß und Scheiße wieder zum Dampfen gebracht. Sein Buch ist eine Reise zurück zu den animalischen Instinkten und eine Stänkerei gegen die moderne Deo-Zeit.“2 Die chronologisch erzählte Geschichte ist die Geschichte des genialen „Geruchskünstlers und Duftschmiedes“3 Jean-Baptiste Grenouille geht nicht allein um der Kunst willen „über die Jungfrauenleichen“4: „Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und über wirkliche Menschen. Und er wusste, daß dies in seiner Macht stand […]. Wer die Gerüche beherrschte, der beherrschte die Herzen der Menschen.“ (S. 198) Mit Grenouille im Zentrum der Geschichte werden alle anderen Figuren um ihn herum gruppiert beziehungsweise funktionalisiert, um seinen inneren und äußeren Werdegang zu präsentieren. Sein „Lebenskreis, der vom Beginn an auch gleichsam ein Todeskreis war“,5 wird in fünf Etappen erzählt: Nach der Geburt wird seine Abgrenzung von einer ökonomisch und olfaktorisch determinierten Objektwelt geschildert. In dieser Etappe wird 1 2 3 4 5

Hallet, Wolfgang: Das Genie als Mörder. Über Patrick Süskinds „Das Parfum“, in: Literatur für Leser 3/4 (1989), S. 275-288, hier S. 276. Fischer, Michael: Ein Stänkerer gegen die Deo-Zeit, in: Der Spiegel 10 (04.03.1985). W. Hallet: Das Genie als Mörder, S. 284. Liebrand, Claudia: Eine feministische Lesart [Zu Süskinds „Parfum“], in: Der Deutschunterricht 48/3 (1996), S. 22-25, hier: S. 22. W. Hallet: Das Genie als Mörder, S. 275

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Grenouille zusammen mit seiner Mutter, einer Kindermörderin, gezeigt; danach begleiten die Amme Jeanne Bussie und Pater Terrier seine Entwicklung, bis sie ihn aufgrund seiner Geruchlosigkeit an Madame Galliard übergeben, bei der er aufwächst. Später, als er beim Handwerker Grimal arbeitet, hat Grenouille sein zentrales Schlüsselerlebnis des absolut Schönen in der Gestalt einer jungen Frau – sein erstes Opfer. Die dritte Etappe zeigt die Lehrjahre Grenouilles und die Konfliktphase ‚Künstler‘ vs. ‚Bürger‘ bei Baldini, seinem Lehrmeister. Im weiteren Verlauf des Romans wird die Bewusstwerdung des Subjekts in der Eremitage persifliert, das anschließend zum „leidenschaftlichen Jäger und Sammler von Gerüchen“6 wird. Diese Periode verbringt er bei Marquis de la Taillade-Espinasse und anschließend bei Madame Arnulfi. Zu Grenouilles bester Schöpfung gehört sein Duftdiadem aus 25 schönen Jungfrauen, deren konservierte Duftessenzen ihm Macht über die menschlichen Sexualtriebe geben und eine Massenorgie auslösen. Sein Machtduft wird von der schönsten aller Jungfrauen, Laura, gekrönt. Die orgiastische Manipulation wird für Grenouille, dessen Ziel es ist, Liebe für sich zu erwecken, zur Enttäuschung. Nicht ihn liebt die Masse, sondern die konzentrierte Macht, die der Duft der Jungfrauen versinnbildlicht. So legt der Massenwahnsinn Versuch und Scheitern seiner künstlerischen Berufung frei. So wie alle Figuren im Lauf der Handlung im Nichts verschwinden, endet auch der Roman mit dem Verschwinden Grenouilles im kannibalischen Akt der Hingabe – die letzte Wirkung des mächtigen Parfums. Dieser Entwicklung folgend kann Das Parfum als Bildungsroman bezeichnet werden. Die Darstellung des Lustmordes im Bildungsroman ändert zwar die geschlechtsspezifische Besetzung des Täter-Opfer-Schemas nicht, aber sie zeigt, dass das narrative Schema der Entwicklung des männlichen Protagonisten zum Humanismus zur Anti-Entwicklung geeignet ist. Der Roman parodiert den Bildungsroman und stellt damit seine genrespezifische Ausstattung in Frage. In Das Parfum steht der Werdegang des Protagonisten im Mittelpunkt, daher lautet die Hauptthese, dass der Roman Süskinds das Subjekt der Macht durch Lustmorde zu konstituieren versucht. Da das Werk durch Mehrfachcodierung und intertextuelles Spiel charakterisiert ist, stellt sich dieser Konstituierungsprozess aus verschiedenen Strategien zusammen, die einander überlagern und Sinnvielfalt, aber auch Paradoxien erzeugen. Allem voran bestimmt der Ödipuskomplex, der durch den Lustmorddiskurs bedingt ist, die psychodynamischen Prozesse Grenouilles in seiner Anti-Entwicklung. Alle Nebenfiguren sagen etwas über Grenouilles Subjektwerdung und Evolution aus, da seine Perspektive in Das Parfum zentral ist. Dementsprechend verkörpern die weiblichen Figuren seinen Tod (Mütter) und seine Triebhaftigkeit (Jungfrauen), die abgespalten und auf die Frauenfiguren projiziert werden. Grenouille triumphiert mittels der Lustmorde über die all6

Ebd.: S. 277.

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mächtige Natur, den Tod und die Mutter, indem er sich durch die Ermordung von Jungfrauen mit einem faschistischen Körperpanzer im Sinne Theweleits wappnet. Die männlichen Figuren stellen dagegen seinen Werdegang etappenweise dar und illustrieren wichtige Kategorien der Kultur- und Kunstproduktion Grenouilles. Die Herstellung des Parfums konkretisiert dabei die Kulturmanufaktur, die Errichtungen der Machtstrukturen, die Herausbildung der Identität und das Kunstschaffen. So überkreuzen sich Sigmund Freuds Konzepte von Kultur als Triebsublimierung und vom melancholischen Subjekt mit Michel Foucaults Aussagen zur Machtstruktur der bürgerlichen Gesellschaft. Allen diesen Konzepten liegt bei Süskind der Lustmord zugrunde, der die bürgerliche Kultur, ihre Kunst und Subjektkonstruktion als gewaltsam freilegt. In Bezug auf die Kunstproduktion reproduziert der Roman eine seit der Aufklärung herrschende Vorstellung von der Bändigung beziehungsweise Vernichtung der Weiblichkeit/Natur als Notwendigkeit für das Entstehen eines Kunstwerkes. Am Ende begießt sich Grenouille mit dem Duft von 25 Jungfrauen und wird aufgrund des dadurch erweckten unstillbaren Begehrens von Bettlern in Stücke zerrissen und verzehrt. Der von ihm initiierte (Selbst-)Lustmord kann als Rezeptionsakt des Kunstwerkes gelesen werden, der den Akt des Konsumierens als destruktiv auffasst. Darüber hinaus definiert Süskinds Roman als Hauptdifferenz kulturelle Geschlechterunterschiede, deren Auflösung dem Protagonisten große Macht verleiht. Das Subjekt der Macht ist ein androgynes Subjekt. Um diese Mechanismen und Strategien der Subjektivierung7 und Geschlechtwerdung8 in Das Parfum aufzuzeigen, werden theoretische Ansätze von Judith Butler herangezogen. Das Gewaltmoment der Differenzauflösung enthüllt die binäre Geschlechterordnung als ein zementiertes Konstrukt, das nur durch den Lustmord zu überschreiten ist. Um die Bedeutung der olfaktorischen Welt für die Selbstschöpfung Grenouilles freizulegen, zieht die Studie Lacans Überlegungen zur symbolischen Ordnung der Sprache heran. Das Parfum ist wie der erste Signifikant bei Lacan der Phallus, also Differenz. So erfährt das Subjekt der Macht in seinem Triumph seine Ohnmacht und den phantasmatischen Charakter der phallischen Macht.

F ORSCHUNGSSTAND Der Roman Das Parfum rangiert nicht nur seit Jahren auf den Bestsellerlisten, sondern erfreut sich auch großer Aufmerksamkeit von Literaturwissenschaftlern und -kritikern. Da die Forschungslage zum Roman dementsprechend umfangreich ist, werden hier nur einige ausgewählte Interpretationen skizziert. Der Roman Süskinds spielt virtuos mit literarischen Motiven, To7 8

J. Butler: Psyche der Macht. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter.

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poi und Genres und rekurriert auf zahlreiche Prätexte sowie literarische Traditionen. Süskind schreibt nach Stadelmaier wie „Fontane-Keller-MannLenz-Grass-Böll-Hebel-Musil-Grimmelshausen-Dickens-usw.“9 So entsteht eine Überbietungskonstellation, durch die sich der Roman einer präzisen Einordnung entzieht und viele Lesarten ermöglicht: „Die Methode des DuftMörders Grenouille, sich den odor feminae zu destillieren, ist auch ein wenig die Methode des Erzählers Süskind. Grenouille plündert tote Häute, Süskind tote Dichter.“10 Nach Fritzen und Spancken gehört Das Parfum zur Literatur des Poststrukturalismus. Denn im Roman wird ein „metasprachliches Spiel“11 (Eco) betrieben, das sie mit dem „neuen Schreiben“ Jacques Derridas verbinden – ein Schreiben, „das mehrere Sprachen zugleich spricht und mehrere Texte zugleich hervorbringt“12. Der Roman wird zum paradigmatischen postmodernen und postrukturalistischen Werk erklärt, das Künstler-, Subjekt- und Textbegriffe in Frage stellt und die Trennung zwischen Trivial- und Hochliteratur auflöst. Nach Lützeler handelt es sich bei Süskinds Roman nicht um „[…] ein konventionelles Kunstwerk, sondern um eines der Schlüsselwerke der deutschsprachigen postmodernen Literatur“,13 da es wie mit einem „Skalpell“ die „Schichten der Mehrfachkodierung“ bloßlegt und den „Leser die parodistischen Seitenhiebe auf die kanonischen Werke der romantischen und symbolischen Literaturtradition erkennen“ lässt.14 Auch nach Delseit und Drost15 charakterisieren die Begriffe Selbstreferentialität und intertextuelle Mehrfachcodierung Süskinds Verfahren, so dass Das Parfum als ein intertextuelles Hybrid definiert werden kann.16 Die inszenierte Stilimitation macht den Roman nach Judith Ryan17 zur blanken Parodie, zum Pastiche. Judith Ryan beschreibt in ihrem Aufsatz Pastiche und Postmoderne Süskinds Roman als kulturkritischen Text, der den My9 10 11 12 13 14 15 16

17

Stadelmaier, Gerhard: Lebens-Riechlauf eines Duftmörders, in: Die Zeit vom 15.3.1985, S.55. Ebd. Fritzen, Werner/Spancken, Marilies: Patrick Süskind, Das Parfum, München 1996, S. 22. Ebd. Lützeler, Paul Michael (Hg.): Spätmoderne und Postmoderne. Beträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt am Main 1991, S. 17. Ebd. Vgl. Delseit, Wolfgang/Drost, Ralf: Erläuterungen und Dokumente. Patrik Süskind Das Parfum, Stuttgart 2000, S. 69-73. Vgl. Freudenthal, David: Zeichen der Einsamkeit: Sinnstiftung und Sinnverweigerung im Erzählen von Patrick Süskind, Hamburg 2005, S. 51-55. In seiner Arbeit werden zahlreiche Hypotexte aufgelistet. Insgesamt werden 17 Werke verschiedener deutscher und französischer Autoren erwähnt. Rayn, Judith: Pastiche und Postmoderne. Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“, in: P.M. Lützeler, Spätmoderne und Postmoderne, S. 91-103.

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thos Genie auflöst und den Künstler zum Kriminellen macht: „[...] Süskind [...] stellt bekannte Talismane unserer Kultur in Frage.“18 Auch Liebrand verweist in ihrer feministischen Lesart auf die zahlreichen intertextuellen Bezüge des Romans: „Die Episode ist auf virtuose Weise mehrfach codiert, kann gelesen werden als Bibeltravestie (der KünstlerGott opfert sich eucharistisch seiner Gemeinde), als Rekurs auf den Orpheus-Mythos (in dem der Sänger schließlich von thraktischen Mänaden zerrissen wird), als (und natürlich ist das nur eine der zahlreichen ausgeschriebenen Metaphern, mit denen der Roman operiert) ‚Literarisierung‘ des Zum-Fressen-Gern-Habens, die Süskind Kleists „Penthesilea“ nachschreibt, als Allegorie des Rezeptionsprozesses, der Kunstdistribution und des Kunst‚Verzehrs‘ im Publikum.“19 Die Kunstproblematik ist nach Meinung vieler Literaturwissenschaftler und -kritiker eines der zentralen Themen in Das Parfum. So schreibt Liebrand: „Der Roman greift nicht nur die zentralen romantischen Kunstdogmen auf, sondern spielt quasi ‚zeitgerafft‘ die wichtigsten ästhetischen Axiome der bürgerlichen Moderne durch: vom Ursprünglichkeits- und Originalitätsparadigma des Sturm und Drang, über Nietzsches Kunst- und Machtphilosophie, Fragen des Ästhetizismus bis hin zu Baudrillardischen Simulationsthesen – um nur eine Auswahl dessen anzuführen, was der Roman in Bezug auf das Kunstthema allusiv ‚abdeckt‘.“20 Das Parfum stellt laut Liebrand in Anlehnung an Bronfens Studie Nur über ihre Leiche die Entstehung des Kunstwerkes aus einer buchstäblichen Abtötung des Lebens dar, die durch den wohlbekannten literarischen Topos der „schönen Leiche“ realisiert wird. So reproduziert Süskinds Roman die Verknüpfung von Frauenmord und Kunstproduktion und erklärt die weibliche Leiche zum zentralen Paradigma der kulturellen Repräsentationssysteme: „Männer machen Kunst nur über Frauenleichen.“21 Das parasitäre Wesen des „Zecks“ (S. 9) Grenouille funktionalisiert die Frau zum Instrument seiner Selbstschöpfung und verwandelt sich dadurch in einen olfaktorischen „Transvestiten“, indem er sich das Weibliche aneignet und auslöscht.22 Heinz Dörfler23 liest Das Parfum als Anti-Messias-Roman, da er religiöse Aspekte und Andeutungen auf Jesus aufweist. Nach Dörfler zeigt der Roman eine Parallele zwischen dem Aufenthalt von Jesus in der Wüste und 18 Ebd.: S. 103. 19 C. Liebrand: Frauenmord für die Kunst, S. 25. 20 Ebd.: S. 23. In ihrem Aufsatz weist Claudia Liebrand zudem auf Bezüge des Romans Das Parfum auf Adornos und Horkheimers Ästhetische Theorie und Kritik der instrumentellen Vernunft in der Dialektik der Aufklärung hin. 21 Ebd.: S. 22 22 Ebd.: S. 23. 23 Dörfler, Heinz: Das Feature-Model. Zur Erschließung von Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“, in: ders.: Moderne Romane im Unterricht, Frankfurt am Main 1988, S. 107-130.

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Grenouille in der Höhle Plomb du Cantal. Anspielungen auf den christlichen Gott prägen auch die Fantasien Grenouilles, einem omnipotenten Gott zu gleichen, der als „ein Schöpfer in seinem Reich [...] Samen sät“.24 Ebenso bezieht sich der Akt des Kannibalismus am Ende des Romans laut Dörfler auf das letzte Abendmahl Jesu: „Der Kannibalismus des Kretins erinnert an ein atavistisches Kultmahl oder an eine Kontrafaktur des letzten Mahles Jesus mit seinen Jüngern. Die Massensuggestion weist auch auf einen religiösen Hintergrund hin [...]. Manifest ist der religiöse Bezug in einem latenten Engels- beziehungsweise Reliquienkult. Vieles deutet darauf hin, daß der Opfertod Grenouilles einen Gegenentwurf zum Opfertod darstellt, allerdings ohne Transzendenz.“25 Wolfgang Hallet stellt in seiner Lektüre die Frage nach dem Verhältnis von Masse und Individuum, genauer nach dem Scheitern des autonomen Individuums in der Masse: „[…] So bringt das Ende des Romans (auch das Grenouilles) eine Macht ins Spiel, die sich erst in unserem Jahrhundert [im 20. Jahrhundert, Anm. d. Verf.] sozusagen vollends zu einem historischen Subjekt ausgebildet hat: die Masse. [...] Erst mit der Erfahrung der Französischen und vieler nachfolgender Revolutionen und der Moderne im Kopf kann die Masse so agieren wie bei Süskind [...]. Für uns Heutige kann die faszinierende Unternehmung des autonomen, fast autarken Individuums, das die Welt aus den Angeln heben möchte, nur noch Schreckenversion sein, das vorgebliche Genie ist nur noch im Scheitern vorstellbar.“26 Karl-Heinz Götze27 betrachtet politische Aspekte des Romans und liest die letzte Szene in Das Parfum nicht einfach als eine Massenorgie, sondern als einen „Hauch faschistischen Massenwahns und faschistischer Massenmanipulationen“.28 David Freudenthal29 weist in seiner Studie auf die Anspielung auf Hitler30 und auf Thomas Manns Essay „Bruder Hitler“31 hin. Dieser kurz gefasste Überblick zeigt, dass, obwohl es zahlreiche Interpretationen zum Roman Das Parfum gibt, die Geschlechterkonstruktionen und das Thema Lustmord kaum analysiert wurden. Eine Ausnahme stellt Claudia Liebrands Aufsatz dar, der auf Gender-Kategorien in Süskinds Ro24 25 26 27 28 29 30

31

Ebd.: S. 121. Ebd.: S. 122. W. Hallet: Das Genie als Mörder, S. 287-288. Götze, Karl-Heinz: Mörderischer Wohlgeruch. Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“, in: Deutsche Volkszeitung vom 30.08.1985, S. 2. Ebd. D. Freudenthal: Zeichen der Einsamkeit. Ebd.: S. 67. In seiner Analyse zeigt Freudenthal, dass sich die Phrase „größter Parfumeur aller Zeiten“ (S. 58) auf Goebbels Funkrede vom 19.04.1941 zu Hitlers Geburtstag bezieht. Mann, Thomas: Bruder Hitler, in: ders.: Achtung, Europa! Essays 1933–1938, Frankfurt am Main 1995. Zitiert nach D. Freudenthal: Zeichen der Einsamkeit, S. 70.

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man eingeht und den Mord an einer schönen Frau zum Gegenstand seiner kritischen Betrachtung macht.

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Neben der Hybridität der literarischen Motive und Traditionen weist Patrick Süskinds Das Parfum die oben erwähnte Genre-Vermischung auf, die auch die Geschlechterkonstruktionen und den Lustmord beeinflussen. Die zahlreichen Analysen weisen entsprechend auf klischeehafte Elemente des Fantasy-, Horror- und Kriminalgenres sowie auf Elemente des Bildungs- beziehungsweise Künstlerromans hin, die im Folgenden in ihrer gegenseitigen Bestimmung und Modifikation betrachtet werden. Steht das Thema der Subjektbildung im Zentrum des Romans Das Parfum, so weist er die Grundstruktur des deutschen Bildungsromans auf, der nicht nur als Hintergrund für die Adaptation anderer Genreelemente dient, sondern diese auch dominiert. Der Bildungsroman ist ein charakteristisch ‚männliches‘ Genre, das die Evolution eines männlichen Protagonisten in der Konfrontation mit der ‚realen‘ Welt bis zu seiner Mannwerdung verfolgt.32 Die Hauptmerkmale des Bildungsromans nach Mayer sind die Zentrierung des Geschehens um einen Helden, die chronologische Schilderung der Biografie und die Suche beziehungsweise die Bildung der Ich-Identität: „Im Zentrum steht ein männlicher Protagonist, der in einer dreiphasigen Entwicklungsgeschichte zur Selbstfindung gelangt und dadurch den ‚Männerstatus‘ erreicht; in ihm werden also eine männliche Geschlechtsidentität – insbesondere die des Künstlers – verhandelt und die Werte dargelegt, die als Messlatte der allgemein menschlichen Vollkommenheit dienen.“33 Die Geschichte von Grenouille entspricht diesen Grundstrukturen, sie ist eine chronologisch erzählte Lebensgeschichte, deren Ziel die Identitätsbildung ist. Grenouille ist auf der Suche nach seiner Männlichkeit. Bildungs- und Künstlerroman, die sich in Das Parfum stilistisch überlagern, werden durch den Lustmord transformiert. Der klassische Bildungsroman schildert eine Entwicklung zur Humanität, 34 während in Das Parfum dieses Genre durch die Funktionalisierung des Lustmordes zum Mittel der Bildung wird beziehungsweise die Entwicklung des Protagonisten eine Anti-Entwicklung und Anti-Bildung schildert. Im Rahmen des Künstlerromans reproduziert Das Parfum durch die Lustmorde an schönen Frauen jedoch die paradigmatischen misogynen Kunststrategien der abendländischen Kultur, die die Kunst (im Roman fungiert die Kunstproduktion als Metapher der

32 Vgl. Mayer, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman: von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992. 33 Ebd.: S. 195. 34 Ebd.: S. 12-14.

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Kulturproduktion) durch „schöne Leichen“ entstehen lässt.35 Nicht die Schöpfung wird zur Kunst erklärt, sondern die Zerstörung, die dem Akt der künstlichen Selbstkreation Grenouilles zugrunde liegt. Durch die veränderten Genrekonventionen, Anti-Bildung und AntiSchöpfung, verändern sich auch die Geschlechterkonstruktionen, und zwar insbesondere die männliche Identität von Grenouille. Liegt der Identitätsbildung des Protagonisten die Destruktion zugrunde, so ist sein Scheitern im Prozess des Mannwerdens vorprogrammiert: Grenouille wird nie richtig in die Gesellschaft integriert und bleibt ausgestoßen. Durch die Regeln des Bildungsromans wird aber auch der Lustmord als Motiv transformiert. Wenn der Lustmord zum Grundprinzip der Bildung männlicher Identität wird, so wird das Schema des ‚traditionellen‘ Lustmordes umgekehrt. Seit der Entstehung des Jack the Ripper-Mythos Ende des 19. Jahrhunderts erscheint der Lustmörder als männlicher Täter mit einem hohen sozialen Status, der die Straße von ‚niederen‘ Frauen – Prostituierten – ‚reinigt‘. Das klischeehafte Schema des Lustmordes, Mann als Täter und Frau als Opfer, bestimmt zwar die Geschlechterkonstruktionen bei Süskind, doch werden diese durch den Bildungsroman umgedreht. Das Weibliche wird als das höchste ästhetische Prinzip eingesetzt, das dem niedrig positionierten, animalischen Männlichen den sozialen Aufstieg ermöglicht. Durch den Lustmord transformiert sich der Bildungsroman nicht nur, sondern er nimmt zusätzlich Elemente des Kriminalromans auf, was der Untertitel Die Geschichte eines Mörders signalisiert. Entsprechend des Genres des Kriminal- beziehungsweise Detektivromans werden die Figuren und Ereignisse dargestellt: Lustmorde als Verbrechen, Grenouille als Täter, seine weiblichen Opfer, Richis als Detektiv, der Gerichtsprozess und die Hinrichtung des (unschuldigen) Druot. Durch die Dominanz des Bildungsromans erfährt der Lustmord eine neue Positionierung, die im Gegensatz zum kriminellen Genre steht: Der Lustmord initiiert nicht die Handlung, sondern er wird zum Instrument der Entwicklung sowohl des Protagonisten als auch der Handlung sowie zur Kulmination von Grenouilles Entwicklung. Das klassische Schema „Mord – Ermittlung – Auflösung“36 des Kriminalromans wird formal wiederholt, aber zugleich aufgelöst. Nicht der Mörder Grenouille wird hingerichtet, sondern ein Unschuldiger (Druot). Dadurch wird die existierende Ordnung nicht wiederhergestellt, wie dies gewöhnlich im Kriminalroman der Fall ist. Vielmehr regiert die lustmörderische Ökonomie der Kulturordnung wie selbstverständlich weiter und die Erinnerung an die Lustmorde wird aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis ver-

35 Vgl. C. Liebrand: Frauenmord für die Kunst, S. 22-25. Liebrand macht auf die paradigmatische Verknüpfung von Frauenmord und Kunstproduktion in Das Parfum aufmerksam. 36 Nusser, Peter: Der Kriminalroman, Stuttgart 2003.

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drängt.37 Auch Willems38 ordnet den Roman der „Verbrechensliteratur“ zu und in Anlehnung an Dürrenmatt dem „Anti-Kriminalroman“, denn der Charakter der Morde bringt die Auflösung des klassischen Kriminalschemas mit sich. Das Sammlermotiv, das bei vielen Serien- beziehungsweise Lustmorden auftritt, führt zum einen Horrorelemente in Das Parfum ein, zum anderen wird der Kriminalroman durch die Lustmorde zu einem Thriller: Das Geheimnis der Lustmorde, das Fehlen einer nachvollziehbaren Motivation, schafft den Thrill, der nach Seeßlen39 fast immer mit Erotik verbunden ist. Der Thriller handelt von „Leidenschaft, von Sex und von Verbrechen, allgemeiner: von Grenzverletzungen innerhalb der gesellschaftlichen Regelungen.“40 Dabei steht das Verbrechen im Zentrum des Thrillers, nicht seine Aufklärung. Dieser Definition des Thrillers, die oft weder ein Happy End noch die Wiederherstellung der ‚heilen‘ Welt beinhaltet, entspricht das Ende von Das Parfum, das von keiner Bestrafung des Mörders Grenouille erzählt. Die originelle Übersetzung der ‚Realität‘ in eine Duftwirklichkeit integriert darüber hinaus Genreelemente des fantastischen Romans in Das Parfum, die wiederum zur Modifikation des Lustmordes und der Geschlechterkonstruktionen beitragen. Die männliche Hauptfigur wird animalisiert und als grotesk dargestellt. Die Nase41 wird zum Phallus, das Riechen zu einem erotischen Erlebnis und gleichzeitig zum Ausdruck des ‚Animalischen‘, das 37 „Die Stadt hatte ihn [den Fall; Anm. d. Ver.] ohnehin schon vergessen, dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen und sich beiläufig nach dem berüchtigten Grasser Mädchenmörder erkundigten, nicht einen einzigen vernünftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft hätte erteilen können. […] Und bald hatte sich das Leben gänzlich normalisiert. […] Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen“ (S. 314). Nach Claudia Liebrad sind die Morde nicht gerächt, sondern potenziert. Vgl. C. Liebrand: Frauenmord für die Kunst, S. 23. 38 Vgl. Willems, Gottfried: Die postmoderne Rekonstruktion des Erzählens und der Kriminalroman. Über den Darstellungsstil von Patrick Süskind Das Parfum, in: Düsing, Wolfgang (Hg.): Experimente mit dem Kriminalroman: ein Erzählmodell in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main; Berlin 1993, S. 223-244, hier: S. 233. Laut Willems suspendiert der Roman Das Parfum das Authentizitätspostulat, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Anforderung an die deutsche Kriminalliteratur etabliert hat, durch das Verfahren der Remimetisierung und Reepisierung und überschreitet dadurch die Genrekonventionen. 39 G. Seeßlen: Thriller. 40 Ebd.: S. 22. Seeßlen definiert den Thriller als Verbrechens-Rätsel, das im Alltag passiert, Angst vor dem Nächsten hervorruft und die heilige Welt am Ende nicht wiederherstellt. Dabei wird der Thriller durch die Verbindung von Angst und Erotik charakterisiert. 41 Bachtin, Michail: Literatur und Karneval: Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1985, S. 15. „Die Nase vertritt nämlich stets den Phallus“ im grotesken Leib.

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als Synonym für Triebhaftigkeit steht. Die weiblichen Opfer werden dieser Allegorisierung des männlichen Täters entsprechend durch eine „traditionelle Blüten- und Blumenmetaphorik“42 dargestellt. Durch das „Blumen-Riechen“, das den sexuellen Akt substituiert, setzt der Roman wortwörtlich den Prozess der Defloration, die „Entblütung“, in die Enflourage um, eine der Methoden der Duftgewinnung im Roman.43 In einem „absurden Liebesakt“44 „welkriecht“ (S. 56) Grenouille seine weiblichen Blumenopfer, doch enflouriert beziehungsweise defloriert er die Jungfrauen nicht nur, sondern er konserviert das Weibliche auch.

D AS S UBJEKT

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Die dargestellten Genrestrukturen des Entwicklungs- und Künstlerromans bilden in Verbindung mit dem Kriminalgenre den Hintergrund für die Entstehung und Entwicklung des männlichen Subjekts, des Subjekts der Macht und des Künstlers. Zu Beginn der Handlung stellt sich der Protagonist ohne jegliche Identität dar, als tabula rasa, was durch seine Geruchlosigkeit zum Ausdruck gebracht wird: Keinen Körpergeruch zu besitzen bedeutet in Das Parfum über keine Identität zu verfügen. Nicht „gerochen werden zu können“ heißt nicht von der Gesellschaft anerkannt zu werden und für sie unsichtbar zu bleiben. Dieser geruchslose beziehungsweise identitätslose Zustand macht Grenouille zum Außenseiter und verwehrt ihm die Integration in die soziale Gemeinschaft. Die symbolische Identität, über die Grenouille nicht verfügt, umfasst auch die Geschlechtsidentität. Er ist durch seinen „Zwitterzustand“ (S. 232) charakterisiert, der als ein geschlechtlich undifferenzierter, mitunter sogar als körperloser Zustand beschrieben wird: „Der Mörder schien unfaßbar, körperlos, wie ein Geist zu sein.“ (S. 250) Zwar bemüht sich der Roman um eine geschlechtlich neutrale Darstellung Grenouilles, jedoch gehört das „Geist sein“ zu der geschlechtsspezifischen Zuschreibung des Männlichen. Der Roman reiht sich dadurch in die patriarchalische, bürgerliche Tradition ein, die den Künstler als Genie sieht und ihn als schöpferischen Geist konstituiert. Dem bürgerlichen Geniediskurs entsprechend stellt sich der Künstler als Sonderling und Außenseiter in der Gesellschaft dar: Grenouille gehört zu den „genialsten und abscheulichsten Gestalten“ (S. 5) seiner Epoche. Um sich sichtbar beziehungsweise ‚normal‘ zu machen, erschafft sich Grenouille eine künstliche Identität, die „einzig und allein“ durch die „paar Kleider, de[n] Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade“ (S. 186) hervorgebracht wird sowie durch die Imita42 C. Liebrand: Frauenmord für die Kunst, S. 23. 43 Die folgende Textpassage demonstriert beispielsweise die Analogisierung der Defloration und Enflourage: „Eine verheiratete Frau, defloriert und womöglich schon geschwängert, passte nicht mehr in seine exklusive Galerie.“ (S. 265-266) 44 W. Fritzen/M. Spancken: Patrick Süskind, S. 24.

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tion von Druots Identität, der als Geselle bei Madam Arnulfi arbeitet und später anstelle von Grenouille hingerichtet wird. Druot kann als Doppelgänger von Grenouille gelesen werden, der die unüberwindliche „Ich-Verdoppelung“, „Ich-Teilung“ und „Ich-Vertauschung“ von Grenouilles Identität zum Ausdruck bringt.45 In Analogie zur Weiblichkeit als Maskerade46 stellt sich auch Männlichkeit als eine Kopie ohne Original heraus, die immer aufs Neue erfunden werden muss, was auch die aktuelle Forschung als eine allgemeine Tendenz in den ästhetischen Männlichkeitsrepräsentationen festhält.47 Bei Süskind heißt es: „Er wollte sich, und wenn es vorläufig auch nur ein schlechtes Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht besaß. Freilich den Geruch der Menschen gab es nicht, genauso wenig wie es das menschliche Antlitz gab.“ (S. 190) Jegliche essentialistische Grundlage sowie die traditionsreichen Originalitäts- und Ursprungsgedanken der Identitätskonstruktion werden im Zusammenhang mit dem männlichen Subjekt als illusorisch entlarvt, aber zugleich durch das Weibliche reproduziert. Denn die Jungfrauen besitzen bei Süskind von ‚Natur‘ aus eine ‚weibliche‘ Identität, die als tradierte literarische Vorstellung von der Jungfrau als Sinnbild für Sinnlichkeit konzipiert wird. In Hinsicht auf das männliche Subjekt legt Süskind parodistisch nicht nur den performativen, sondern auch den imaginären Charakter des Mannseins frei. Die bürgerliche Männlichkeit besteht aus frischem Katzendreck, ein paar Tropfen Essig, altem Käse, Partikeln aus dem Deckel der Sardinentonne, einem faulen Ei, „Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Horn und angesengter Schweineschwarte“ (S. 192). Die hergestellte Identität wird als ‚verwesende‘ Kompostkonstruktion gezeigt, die sich zugleich als ein schlechtes Surrogat erweist – der Lustmord kompensiert diesen Identitätsmangel. Vor allem das Gewaltmoment der Schöpfung und Aneignung der (männlichen) Identität legt deren gewaltsamen Charakter frei. Die Entwicklung des Protagonisten besteht in der Selbstfabrikation seines eigenen Geruchs, seiner eigenen Geschlechtsidentität, mit der er nicht nur eine Eintrittskarte in die Gesellschaft erwerben möchte, sondern die ihm eine omnipotente Machtposition und grenzenlose Herrschaft über diese Gesellschaft ermöglicht. Die Szene in der Höhle Plomb du Cantal veranschaulicht sein Begehren nach der Macht, die sich zunächst in seiner Fantasie entfaltet: „Das war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! […] Hier galt nichts als sein Wille, der Wille des großen herrlichen, einzigartigen Grenouille. […] Und er ging mit mächtigen Schritten über die brachen Fluren und säte Duft der verschiedensten Sorten, verschwenderisch hier, sparsam dort, in endlos weiten Plantagen und kleinen intimen Rabatten, den Samen faustweise verschleudernd oder einzeln an eigens ausgewählten Plät45 Vgl. S. Freud: Das Unheimliche, 227-268, hier: S. 246. 46 Vgl. Riviere, Joan: Weiblichkeit als Maskerade, in: Weisberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt am Main 1994, S. 34-47. 47 C. Benthien/I. Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade.

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zen versenkend.“ (S. 161) Danach möchte Grenouille auch in der ‚Wirklichkeit‘ die Welt beherrschen: „Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und über wirkliche Menschen.“ (S. 198) In dieser Bibeltravestie wird Grenouille dem christlichen Gott gleich, was ihn zum Schöpfer beziehungsweise Künstler macht. So legt sein Werdegang verschiedene Aspekte der Kunstschöpfung dar. „Gott des Duftes“ (S. 198) zu sein bedeutet, den christlichen Gott, der als ein „stinkender Gott“ (S. 199) entlarvt wird, an Potenz zu übersteigen. Die Metapher „die Samen säen“ weist dabei auf den phallischen Charakter seiner Fantasien hin. Die defizitäre Männlichkeit soll also nicht aufgelöst, sondern verstärkt werden, indem eine potente beziehungsweise mächtige Männlichkeit in den Traditionen des patriarchalischen abendländischen Männlichkeitsdiskurses und des Phallogozentrismus kreiert wird. Der Roman wiederholt die traditionellen Strukturen der Identitätsbildung, um sie gleichzeitig zu forcieren, zu erweitern oder umzuschreiben. Um das Subjekt der Macht hervorzubringen, das in der Verschmelzung mit der Macht imaginiert wird, spitzt der Roman die misogynen patriarchalischen Traditionen zu und produziert eine in mehrfacher Hinsicht phallische Männlichkeit. So wird die Selbstschöpfung von Grenouille durch die psychodynamischen und symbolischen Prozesse, die das bürgerliche männliche Subjekt ermöglichen, vollzogen: durch Ödipuskomplex und Subjektivierung durch die Sprache. Dabei kann Grenouille als Subjekt der Unterwerfung im Sinne Butlers definiert werden: „‚Subjektivation‘ bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung.“48 Die Sprache spielt dabei, so Butler, eine entscheidende Rolle: Die Identität wird durch die Kategorie Geschlecht (sex/gender) und durch Sexualität abgesichert,49 deren diskursive Grenzen in der Sprache und durch die Sprache festgelegt werden.50 Der Prozess der Subjektivierung durch die Unterwerfung wird für Grenouille im Roman Das Parfum wortwörtlich inszeniert. Das Mannsein bedeutet in Das Parfum die Unterwerfung unter Vaterfiguren,51 die drei Machtinstanzen – das Vatergesetz als Methode der Parfümerie, als ökonomische Ausbeutung sowie als Sprache der Parfümerie – 48 J. Butler: Psyche der Macht, S. 8. 49 Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 37-49. 50 Ebd.: S. 27. „Diese Grenzen wurden stets nach Maßgabe eines hegemonialen kulturellen Diskurses festgelegt, der auf binäre Strukturen gegründet ist, die als Sprache der universellen, allgemeingültigen Vernunft erscheinen. Somit ist die zwanghafte Einschränkung gleichsam eingebaut, was von der Sprache als Vorstellungshorizont möglicher Geschlechtsidentität festgelegt wird.“ 51 Vgl. Lacan, Jacques: Seminar XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten; Freiburg im Breisgau 1978. Nach Lacan fallen diese drei Begriffe zusammen und werden als Vatergesetz definiert, das sowohl die symbolische Ordnung der Sprache als auch die gesellschaftlichen Strukturen verkörpert.

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in sich vereinigen. Der Lustmord wird dabei zur Aneignung des Anderen als Aneignung des Phallus und zur Akkumulation der Macht instrumentalisiert. In Bezug auf die Kunstproduktion werden die genannten Strategien zum Sublimierungsprozess der infantilen Triebe im Sinne Freuds. Der Lustmord legt dabei den Sublimierungsakt um der Kunst willen als totale Zerstörung frei. Anzumerken ist, dass der psychoanalytische Diskurs jedoch keinen psychologischen Roman erschafft, denn die Psyche und die Handlungen des Protagonisten erscheinen als ein verdichtetes Konglomerat von Zitaten, Motiven und Topoi, die das Psychologische auflösen. Die ödipalen Konstellationen dienen eher als ein Handlungsrahmen, der die abstrakten Machtstrukturen darzustellen ermöglicht, indem sie in familiären Beziehungen konkretisiert werden. Präödipale Fantasien Der Roman Das Parfum inszeniert den ödipalen Komplex, indem er jeweils nach zentralen Entwicklungsphasen des Protagonisten bestimmte Figuren ins Spiel bringt. Laut Freud liegt der männlichen heterosexuellen Geschlechtsidentität der Ödipuskomplex zugrunde, der durch die Unterwerfung unter den Vater und die Identifikation mit dem Vater die Integration in die kulturelle Gemeinschaft ermöglicht. So muss der Sohn aus Kastrationsangst vor dem Vater auf das inzestuöse Begehren seiner Mutter verzichten und sich mit dem Vater identifizieren. Mit der erfolgreichen Überwindung des ödipalen Komplexes und der erfolgten Identifikation mit dem Vater wird die Heterosexualität des Sohnes herausgebildet, die den Hintergrund für das Mannsein bildet. Während bei Freud der Mann durch die Überwindung des ödipalen Komplexes zum Subjekt der Unterwerfung (dem Vater beziehungsweise den Normen gegenüber) wird, versucht der Roman das Subjekt der Macht durch die Nichtüberwindung beziehungsweise Verweigerung des ödipalen Komplexes zu schaffen. So reproduziert der Roman zunächst die formalen Strukturen des ödipalen Komplexes, indem die meisten Figuren um Grenouille zu Mutter- und Vaterfiguren funktionalisiert werden: Zuerst tritt als Mutter Grenouilles seine leibliche Mutter auf, danach treten die Amme Jeanne Bussie in der Rolle der Mutter und der Pater Terrier in der Rolle des Vaters in Erscheinung. Anschließend wird Madame Gaillard zur Mutter und Grimal zum Vater, ebenso wie die Ehefrau Baldinis, Teresa, und Baldini selbst. Weiterhin versucht der Marquis de la Taillade-Espinasse als Vaterfigur Grenouille nach dem Aufenthalt in der Höhle Plomb du Cantal von der „Mutter Erde“ zu befreien. Das letzte Paar ist Madame Arnulfi als Mutter und Antoine Richis als Vater. In jeder triangulären Konstellation wird aufs Neue Grenouilles Verlassen der Mutter zugunsten des Vaters inszeniert. Doch jedes Mal verweigert Grenouille die Identifikation mit dem Vater, so dass die Integration in und die Anerkennung durch die Gesellschaft (außer in der Szene der Massenorgie) nie erfolgt.

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Während die Väter die Kultur schaffen, wird Weiblichkeit mit Natur – ein bekannter Topos – gleichgesetzt, gleichgültig ob es um Mutterfiguren oder um Jungfrauen geht. Die Jungfrauen werden mit Blumen und Früchten assoziiert, und ihre Ermordung gleicht einer Blumenernte. Die Höhle Plomb du Cantal mit ihren engen Tunneln, der Dunkelheit, der Totenstille und der feuchten, salzigen Kühle wird zum Sinnbild des Mutterschoßes, in dem sich Grenouille noch sicherer fühlte als „im Bauch seiner Mutter“ (S. 156). Grenouille verbleibt damit im präödipalen, sogar pränatalen, mütterlichen Bereich. Er hat mit dem Vater „mit Gott nicht das geringste im Sinn.“ (S. 158) Nicht der Vater-Gott, sondern die Mutter-Natur besitzt bei Süskind eine phantasmatische Macht über Leben und Tod: Das „Lebensgeschenk der Mutter [ist] zugleich auch Gabe des Todes“,52 so dass die Mutter-Natur in Das Parfum zugleich mit dem Tod assoziiert wird.53 Die Mütter erscheinen bei Süskind einem traditionsreichen Sinnbild54 gemäß als „Schoß-Grab“, wortwörtlich als Grab, wie es die Höhle Plomb du Cantal darstellt. Die leibliche Mutter Grenouilles ist eine fünffache Kindsmörderin, die sofort nach Grenouilles Geburt hingerichtet wird. Madame Gaillard sieht wie die „Mu52 E. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 101. 53 In der Forschung wird die Figur Madame Arnulfi als die Verkörperung des verstärkten Feminismus, die die Verunsicherung der Männer durch die Emanzipation der Frauen zum Ausdruck bringt, gesehen. Die Figur der Madame Arnulfi als Mutterimago, „eine Frau von gesundem Wohlstand und gesundem Geschäftsinn“ (S. 220), versinnbildlicht das inzestuöse Begehren Grenouilles ebenfalls, also sein Verhaftetsein im Präödipalen. Während seiner Zeit bei Madame Arnulfi ist Grenouille nicht mehr unsichtbar, er simuliert die traditionelle Männlichkeit und entwirft ein männliches „Duftkleid für alle Tage“ (S. 231). Unter anderem imitiert er die „Aura seminalis“ (S. 232) des jüngeren Gesellen und Liebhabers von Madame Arnulfi, Druot, der ein kultureller Doppelgänger von Grenouille ist. Darüber hinaus macht die Figur der Arnulfi die Männlichkeitskrise deutlich. Madame Arnulfi ist erfolgreicher und höher in der sozialen Hierarchie positioniert als mehrere männliche Figuren. Das Männliche stellt sich generell in diesem Roman als etwas Parasitäres dar, da das Männliche vom Weiblichen abhängig ist (Grenouille) und sexuelle Dienste gegen finanzielle Unterstützung tauscht (Druot). 54 Kamper, Dietmar: Die Usurpation der Fruchtbarkeit. Anmerkungen zu einer männlichen Universalstrategie, in: Schaeffer-Hegel, Barbara/Wartmann, Brigitte (Hg.): Mythos Frau: Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat, Berlin 1984, S. 100-103, hier: S. 102. „An der Kehrseite der ‚Geburt‘ des Menschen, des Mannes finden sich lauter Schreckenmasken. Ganze Maskenfamilien variieren hier ein unendlich Verheimlichtes: die schreckliche Mutter (Hekate, Gorgo, Medusa…), die das geschenkte Leben zurücknimmt, bevor es gelebt werden kann. So wäre der tiefste Schrecken der Tod unter Ausschluß des Lebens, diametral analog zum höchsten Glück, das das Leben unter Einschluß des Todes bedeutet.“

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mie eines Mädchens [aus]; innerlich aber war sie längst tot“ (S. 25). Geburts- und Todesort Grenouilles sind mit der Mutter und dem Tod verbunden. Grenouille wird geboren und stirbt auf dem Friedhof Cimetiére des Innocents. In seiner olfaktorischen Welt erscheint das Mutterimago als Leichengestank55 des Friedhofs, der Grenouille in der Höhle Plomb du Cantal, im Mutterschoß, an „das ledrig verdorrte Odeur ihrer Hände [von Madame Gaillard; Anm. d. Verf.]; [...] den hysterischen, heißen mütterlichen Schweiß der Amme Bussie; den Leichengestank des Cimetiére des Innocents; den Mördergeruch seiner Mutter“ (S. 158) erinnert. Bleibt Grenouille im Mutterbereich, so eignet er sich eine ‚mütterliche‘ Macht über Leben und Tod an, über die andere Männerfiguren nicht verfügen. Er wird in seinem eigenen Duftreich mächtiger als der patriarchalische Gott. Daher lernt er die Enflourage-Methode nicht vom Vater, sondern von der Mutterfigur Madam Arnulfi. Das Präödipale, das noch keine Geschlechterdifferenzen kennt und durch die Herrschaft der nicht gebändigten Triebe charakterisiert ist, wird bei Süskind zu einer Alternative zum Patriarchat. Mit der Konkurrenz Grenouilles mit der Mutter-Natur in Hinsicht auf die Schöpfung verrät der Roman jedoch den männlichen Gebärneid. Deswegen erscheint der Schöpfungsprozess als Vernichtung der Natur durch das geistige Subjekt, das seit der Aufklärung als Herrscher über die Natur, die Frau und den Körper konstituiert wird. Der Lustmord und das Andere Das ausschlaggebende Erlebnis, das die Schöpfung der Identität Grenouilles in Gang setzt, ist die Erkenntnis des Anderen beziehungsweise die Abhängigkeit des Subjekts in seinem Konstitutionsprozess vom Anderen. Das Andere erscheint im Roman entsprechend einer traditionsreichen Bildlichkeit als Weiblichkeit, die gemäß dem westlichen bürgerlichen Subjektdiskurs eine notwendige Voraussetzung zur Herausbildung des heterosexuellen Subjekts ist.56 Bei Süskind ist darüber hinaus das Subjekt durch eine hegelianische Herr-Knecht-Beziehung mit dem Anderen verbunden. Das Subjekt ist zwar Herr über das Andere, jedoch wird es nur durch die Anerkennung des weiblichen Anderen zum Herrn. Ohne den Knecht, das Andere, gibt es keinen Herrn, das Subjekt. Der Moment der Erkenntnis des Anderen, die zugleich die Abhängigkeit des Subjektes von ihm deutlich macht, wird zur Wendung im Lebenslauf Grenouilles, der ohne das weibliche Andere nicht 55 Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft: Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984, S. 34. Corbin zeigt, dass es zwischen dem Gestank und den „Abgründen der Hölle“ sowie der „Nähe des Teuflischen“ eine Korrelation gibt. „Die Geruchlosigkeit legt nicht nur den Miasmen das Handwerk, sondern sie leugnet den Lauf des Lebens, das Kommen und Gehen der Generationen. Sie hilft, die Todesangst zu ertragen.“ (S. 122) 56 Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter.

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imstande ist, sich als Subjekt zu konstituieren. Nachdem die Weiblichkeit/ das Andere, das erste Opfer Grenouilles (das „Mirabellen-Mädchen“), tot ist, stellt Grenouille fest, dass er ohne sie keinen Geruch, das heißt keine Identität hat: „Kein Licht, keinen Geruch, kein Garnichts – nur noch diesen entsetzlichen Nebel, innen, außen, überall …“ (S. 172) Durch die gewaltsame Aneignung und Akkumulation des Weiblichen löst Grenouille seine Abhängigkeit vom Anderen auf, weil er das Andere zum Bestandteil seiner Identität macht. Der Lustmord wird dabei für die Inbesitznahme des weiblichen Anderen instrumentalisiert. Zum einen steht der Lustmord als „Ersatz für den Koitus“57 nach der Definition von Richard von Krafft-Ebing, als Ersatz für die Penetration als Form der Aneignung, der Herrschaft und des Besitzes.58 Zum anderen ist der Mord Ausdruck radikaler Macht und Herrschaft über das Andere. Durch diese Aneignung und gleichzeitige Auslöschung des Weiblichen entsteht eine paradoxe Konstruktion: Grenouille wird einerseits zu einem androgynen Subjekt beziehungsweise Künstler und andererseits zu einem faschistischen Körperpanzer, der sich in der Abwehr gegen die weiblich codierten Fluten durch eine feste Identitätsgrenze und die Ausgrenzung von Weiblichkeit behauptet. Grenouilles Androgynie manifestiert sich in der Szene der Massenorgie: „Den Nonnen erschien er als Heiland in Person, den Satansgläubigen als strahlender Herr der Finsternis, den Aufgeklärten als das Höchste Wesen, den jungen Mädchen als ein Märchenprinz, den Männern als ein ideales Abbild ihrer selbst.“ (S. 303) Die Frauen sehen in ihm den idealen Mann, er ist also männlich; die Männer sehen in ihm das ideale Abbild ihrer selbst, er ist also gleichzeitig weiblich, da Weiblichkeit als ein Screen oder ein Spiegel für das Männliche fungiert. Der Roman reproduziert also die bürgerlich-idealistische Kunstauffassung, die den Mann als autonom-androgynen Schöpfer auffasst. Walter Benjamins59 Denkbild Nach der Vollendung entwickelt eine solche männliche Kunstfantasie, die den androgynen Dichter aus der Vereinigung der weiblichen und männlichen Gegensätze sowie von Subjekt und Objekt hervorbringt. Lena Lindhoff fasst Benjamins Thesen wie folgt zusammen: „Der wahre Künstler ist den modernen Kreativitätskonzepten zufolge ein Androgyn: männlich und weiblich zugleich, vermag er aus sich heraus die Welt neu zu gebären.“60 Die Kunstproduktion besteht nach Benjamin aus der ‚Empfängnis‘ des Weiblichen durch 57 R. von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 80. 58 Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main 2005, S. 38. „Sexuell besitzen, wie ‚baiser‘ im Französischen oder ‚to fuck‘ im Englischen, heißt beherrschen, im Sinne von seiner Macht unterwerfen, aber auch von anführen, ausnützen oder ‚hereinlegen‘, wie die Franzosen sagen […].“ 59 Vgl. Benjamin, Walter: Denkbilder, in: ders.: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1989, Bd. 10, S. 305-438. 60 L. Lindhoff: Einführung, S. 22. Die Fantasien über Künstler als androgyne Wesen entstehen laut Lindhoff im 18. Jahrhundert und sind bis heute populär.

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den Künstler. Die Vernichtung des Weiblichen ist Voraussetzung für die Vollendung des Kunstwerkes.61 Diesen Prozess der Vereinigung mit dem Weiblichen und seiner Auslöschung nachvollziehend wird Grenouille zum Subjekt der Macht: „Er war noch größer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß.“ (S. 304) Grenouille eröffnet sich durch den Lustmord einen androgynen Raum und verwischt damit Klassen-, Geschlechter-, Alters-, politische und religiöse Differenzen, indem er beide Geschlechtspole, Weiblichkeit und Männlichkeit, zusammenführt. Alle kopulieren „in unmöglichster Stellung und Paarung, Greis mit Jungfrau, Taglöhner mit Advokatengattin, Lehrbub mit Nonne, Jesuit mit Freimaurerin, alles durcheinander, wie’s gerade kam.“ (S. 303) Mit der Auflösung jeglicher Differenz durch die Zusammenführung von Weiblichkeit und Männlichkeit wird deutlich, dass der binären Geschlechtermatrix eine konstitutive Bedeutung für die bestehende Kultur zukommt und dass mit deren Auflösung Chaos in der Kultur ausbricht. Damit werden die alternativen Geschlechtsidentitäten pathologisiert und abgewehrt. Der Lustmord als Medium der Geschlechtsüberschreitung und -vereinigung signalisiert die Zementiertheit und Starre der heterosexuellen Matrix, die nur durch massive Gewalt zu sprengen ist. Folgendes lässt sich zusammenfassen: Die Kunstproduktion durch die Aneignung des Weiblichen geht bei Süskind mit der Auslöschung der Frau einher. So schafft sich Grenouille einen „Duftpanzer“ (S. 308), der den faschistischen Körperpanzer reproduziert. Die soldatischen Männer werden laut Klaus Theweleit62 durch die Ausgrenzung oder sogar Vernichtung des Weiblichen mit einem Körperpanzer ausgestattet, um die Grenzen der männlichen Identität zu festigen. In Analogie zu diesen Männern in den Männerphantasien63 hat Grenouille Angst, von der Masse überflutet zu werden und durch die Masse zu „zerplatzen“ und zu „explodieren“ (S. 308). Entweder muss die Masse zerstört werden, oder die Masse löst Grenouille auf: „Er hätte sie jetzt am liebsten alle vom Erdboden vertilgt, die stupiden, stinkenden, erotisierten Menschen, genauso wie er damals im Land seiner 61 Ebd.: S. 21. So fasst Lena Lindhoff Benjamins Schrift zusammen: „Benjamin zeigt, wie diese Kunstauffassung den Künstler als doppelgeschlechtlich vorstellt: ein ‚Weibliches‘ in ihm ‚empfängt‘ die Idee zum Kunstwerk, während eine ‚männliche‘ Meisterschaft, die den ‚wahren‘ Künstler ausmacht, das Empfangene zum Werk vollendet. Der Produktionsprozeß gipfelt in einer Vernichtung des ‚Weiblichen‘ im Künstler.“ 62 K. Theweleit: Männerphantasien. 63 Ebd.: Bd. 2, S. 9. Er schreibt in seiner Analyse zu den Freikorpsromanen: „Das öffentliche Erscheinen revolutionärer Massen ist eine Folge von Dammbrüchen; es bedroht auch die eigenen Dämme, als bräche die Körpergrenze der Männer durch den ‚Einfluß‘ der äußeren Massen zusammen; die eigene innere Masse ‚zerfließt‘ in die äußere – die äußere wird zur Verkörperung des ausgebrochenen eigenen Inneren. Der Mann wird ‚überschwemmt‘.“

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rabenschwarzen Seele die fremden Gerüche vertilgt hatte. Und er wünschte sich, daß sie merkten, wie sehr er sie haßte, und daß sie ihn darum, um dieses seines einzigen jemals wahrhaft empfundenen Gefühls willen wiederhaßten und ihn ihrerseits vertilgten, wie sie es ja ursprünglich vorgehabt hatten.“ (S. 306) Wie die Masse in den Romanen der Freikorpssoldaten wird diese zur Verkörperung seines Unbewussten, da sein Körperpanzer während der Massenorgie expandiert: „Er wollte sich ein Mal im Leben entäußern.“ (S. 306) Auf diese Weise macht der Roman Süskinds die misogynen und faschistischen Tendenzen in der bürgerlichen Kunstproduktion sichtbar, die jedoch im Roman unhinterfragt bleiben.64

P ARFUM

ALS

K UNST -

UND

K ULTURMANUFAKTUR

Die Manipulation mit Düften und die Herstellung von Parfum stehen im Roman unter anderem für die Kultur- und Kunstproduktion und die Herausbildung der männlichen Identität im Sinne Freuds sowie der Machstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne Foucaults. In Analogie zum künstlichen Kreieren des Duftes wird die Kultur als ein künstliches/künstlerisches ‚Tun‘, als ‚doing culture‘, aufgefasst. Sowohl das Parfum als auch die Kultur erscheinen als Mixturen verschiedener Komponenten, deren Strukturen sich sowohl materiell als auch abstrakt beschreiben lassen. Der Kunst- und Kulturproduktion liegt die Umwandlung von lebendiger Materie in eine unbelebte Form zugrunde, d.h. die Abstraktion beziehungsweise der Symbolisierungsprozess, auf dem Spracherwerb, Kunst- und Literaturproduktion basieren, setzt die Abwesenheit des Gegenstandes voraus. Im von Grenouille produzierten Parfum werden jedoch die Gewaltstrategien, die Abtötung der lebendigen Materie, die traditionsreich als Ermordung der Jungfrau, Paradigma der ‚rohen‘ und ‚unberührten‘ Natur, vorgeführt wird, durch den schönen Duft verdrängt und verschleiert. Die Kunst- und Kulturproduktion erfolgen durch einen Sublimierungsakt, der die Aufopferung der Triebe verlangt. Nach Freud besteht der Sublimationsprozess aus der Umwandlung der libidinösen Energien in eine für die Kultur positive und produktive Tätigkeit, die den Aufschub der sexuellen Befriedigung verlangt. Wie Kultur und Kunst produziert auch das Parfum bei Süskind sexuelle Fantasien, schränkt sie aber zugleich ein, weil aufgrund seiner flüchtigen Wirkung die Befriedigung versagt bleibt. Kultur und Kunst versprechen zwar Befriedigung, realisieren diese aber nie, um die Kunst- und Kulturproduktion weiter zu potenzieren. Auch das Parfum verspricht Befriedigung, jedoch bleibt diese allein als Fantasie präsent. Die Szene mit Baldini veranschaulicht die magische erotische Wirkung des Parfums, die der Duft „Amor und Psyche“ hervorruft: „[…] er hörte ein Ichliebdich und spürte, wie sich ihm vor Wonne die Haare sträubten, jetzt!“ (S. 64 Vgl. C. Liebrand: Frauenmord für die Kunst, S. 23-25.

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111) Doch die erotischen Fantasien verschwinden mit dem Verschwinden des Duftes. Auch der Name „Amor und Psyche“, der auf den Mythos der Entjungferung von Psyche durch Amor referiert, thematisiert die Wirkung des Duftes auf das sexuelle Begehren, das nie Erfüllung findet. In Bezug auf die Kulturproduktion sichert der Sublimierungsprozess gleichzeitig die stabile heterosexuelle Identität.65 In diesem Prozess werden die Jungfrauen, die Grenouilles Triebhaftigkeit verkörpern, zu Projektionsfiguren für das männliche Subjekt. Die Ermordung der Jungfrauen und die weitere Verarbeitung des Weiblichen im Parfum als Kunst- und Kulturproduktion setzen den Sublimierungsakt um, da die Sexualität als in der Kultur verbotener Trieb nicht in einem Sexualakt ausgelebt, sondern sublimiert wird, indem sie zu einem artifiziellen Produkt transformiert wird. Ist nach Freud das Kind durch bisexuelle, polymorph-perverse Sexualität charakterisiert, so symbolisieren bei Süskind die Lustmorde an den Jungfrauen sowohl die Abtötung der infantilen Triebe Grenouilles als auch die Auslöschung der Weiblichkeit im Manne zugunsten der heterosexuellen Identität. Die Methoden Grenouilles werden in Das Parfum als etwas der Gesellschaft Vertrautes dargestellt. Alle „ernten Blumen“, Rosen, Jasmin und Narzissen; alle bewundern die schöne tote Frau, die in dem Rosenfeld aufgefunden wird: „Sie gehörte jenem schwerblütigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und süß und ungeheuer klebrig; die mit einer zähflüssigen Geste, einem Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewußt, mit der sie Sehnsüchte und Seelen von Männern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen.“ (S. 247) Der Tod einer jungfräulichen Frau ist Voraussetzung für die Entstehung des kulturellen (männlichen) Subjekts. Dieser Zusammenhang erscheint als altbekannte, aber verdrängte und daher unbewusste Tatsache, die sich als Sehnsucht nach einem verworfenen Objekt, das paradigmatisch als Weiblichkeit dargestellt wird, manifestiert. Süskinds Romans reproduziert das melancholische Subjekt, dessen Ich eine Identifizierung mit dem aufgegebenen, hier ermordeten und verinnerlichten, buchstäblich konservierten Objekt herstellt.66 Neben dem Gedanken der Kunstproduktion bringt die Parfumkonsistenz auch die Machtstruktur der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck, die laut Foucault durch ein neues Regime der Diskurse organisiert wird, bei dem sich alles unaufhörlich um Sex dreht:67 „Der Sex ist zum Einsatz, zum öffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum geworden; ein ganzer Strang von Diskursen, von Wissen, Analysen und Geboten hat ihn be-

65 Vgl. S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 419-506. 66 Vgl. Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, in: ders.: Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 10 (1913–1917), S. 427-446. 67 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 33.

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setzt.“68 Die Machtstruktur der bürgerlichen Gesellschaft ist durch die Verknüpfung von Begehren und Macht charakterisiert: Durch die Reglementierung der Sexualität sind die Machttechniken unsichtbar geworden, da sie in den Körper jedes Individuums verlagert werden; gleichzeitig hat die Macht durch die Sexualität Zugang zum Körper des Individuums. Diese Eigenschaft kommt in Das Parfum dem Duft zu. Der Duft/Geruch verweist traditionsgemäß durch das „innige Verhältnis von Geruch und Sexualität“69, auf das Körperliche und Sinnliche,70 auf die „dionysische Funktion des Körpers“71. Im Roman ermöglicht der Duft den Zugriff auf den Körper des Individuums und die Manipulation seines Begehrens. Das Parfum reproduziert bei Süskind die der bürgerlichen Kultur innewohnenden Machttechniken, die verfeinert und unsichtbar geworden sind, wie die ätherischen Eigenschaften des Duftes. Dies erinnert auch an die von Deleuze als „gasförmig“ beschriebenen Unterwerfungsstrategien der Kontrollgesellschaft, die die Subjekte durchdringen.72 Wirkt die Macht auf den Körper jedes Individuums, indem sie das Begehren reglementiert und kontrolliert, so wirkt bei Süskind das Parfum ganz ähnlich auf den Körper, indem es das Begehren erweckt und seine Intensität steuert.

68 Ebd.: S. 32. 69 Vgl. Ebberfeld, Ingelore: Botenstoffe der Liebe. Über das innige Verhältnis von Geruch und Sexualität, Frankfurt 1998. Ebberfeld erstellt eine fruchtbare Analyse der Rolle der Geruchswahrnehmung in der Tierwelt, der Bestandteile von Parfums wie Ambra, Moschus usw. und der medialen Werbung berühmter Parfummarken, die die Verbindung von Geruch und Sexualität visualisiert und propagiert. Der Parfumeur P. Jellinek betont, dass „der moderne Mensch“ von einem Parfum in erster Linie „Sexappeal, einen erogenen, stimulierenden Effekt“ (S. 51) verlangt. 70 Vgl. Le Guérer, Annik: Die Macht der Gerüche: Eine Philosophie der Nase, Stuttgart 1992. 71 A. Corbin: Pesthauch und Blütenduft, S. 283. Er referiert auf Alain Faure (1977): „Classe malpropre, classe dangereuse?“ In: Recherches. L’haleine des faubourgs, Paris, 1977. 72 Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt am Main 1993, S. 254-262, hier: S. 254. Nach Deleuze ist die von Foucault beschriebene Disziplinargesellschaft überholt und an ihre Stelle hat sich die Kontrollgesellschaft gesetzt, deren Unterwerfungsmechanismen flexibler geworden sind. Für die Analyse des Romans Das Parfum ist diese Unterscheidung nicht von prinzipieller Bedeutung.

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P ARFUMPRODUKTION DES M ÄNNLICHEN

ALS

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W ERDEGANG

Gesteht Freud dem Mann die Kulturarbeit als Folge des Sublimationsaktes zu, so haben die Männerfiguren bei Süskind an der Kunst- und Kulturarbeit einen größeren Anteil als die Frauenfiguren. Dieser Tradition folgend agieren die männlichen Figuren des Romans als Kulturschaffende, die in allen Klassen und Schichten zu finden sind. Sie sind eng mit der Kulturproduktion und dem -wandel verbunden und versinnbildlichen den Werdegang Grenouilles:73 Pater Terrier vertritt die Institution der Kirche und des Glaubens; der Handwerker Grimal stellt die untere Schicht der Gesellschaft, die Arbeiterklasse dar; der Parfumeur Baldini gehört als feudaler Handwerker zur Mittelschicht; der Wissenschaftler Marquis de la Taillade-Espinasse gehört zum Adel und vertritt die Wissenschaft der Aufklärung; Druot ist der Liebhaber Madame Arnulfis und Helfer in ihrem Unternehmen; der Adlige und zweite Konsul Richis steht für die Oberschicht. Alle männlichen Figuren (außer Druot) sind pluralisierte Vater-Imagines, die Grenouille in seiner Entwicklung das Kulturschaffen beibringen und gleichzeitig verschiedene Männlichkeitsentwürfe für die Identitätsbildung Grenouilles bereitstellen. In Bezug auf die Kunstproduktion sind mit den Vaterfiguren verschiedene Stadien der Entwicklung des Künstlers verbunden, aber auch der Produktionsprozess selbst, dessen Methoden Grenouille von seinen symbolischen Vätern übernimmt. So lernt er einerseits von ihnen viel über Kultur- und Kunstmanufaktur, andererseits lehnt er sie jedoch als Versager ab. Durch die dargestellten Männerentwürfe wird die Evolution des Kulturschaffens in der bürgerlichen Gesellschaft vom primitiven, gewalttätigen Häuten (Grimal) über die handwerkliche Verfeinerung (Baldini, aber auch Arnulfi) bis hin zur Verwissenschaftlichung (Marquis de la Taillade) gezeigt. Die Figur Richis wird weniger als Lehrender, sondern eher als mächtiger, konkurrenzfähiger Vater geschildert. In Hinsicht auf die Kunstproduktion können diese als Stadien der ersten primitiven Verarbeitung der natürlichen Ressourcen zum Künstlichen (Grimal), der Verfeinerung und Erreichung gewisser Abstraktionsniveaus (Baldini und Arnulfi) und der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien und der Geschlechterordnung (Marquis de la Taillade) gelesen werden. Zur Kulturmanufaktur gehört zumindest seit dem Anbeginn der christlichen Kultur die Unterwerfung unter die Institution des Glaubens beziehungsweise eine autoritäre Gottfigur. In Analogie dazu fängt der Werdegang Grenouilles mit der Begegnung mit einem Kirchenvater an. Der Pater Terrier, der die Figur des Vaters mit der des christlichen Gottes vereint, eröffnet

73 Vgl. Erhart, Walter/Herrmann, Britta: Der erforschte Mann? in: dies. (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart; Weimar 1997, S. 3-31.

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die Galerie der Vater-Imagines. Er lehnt Grenouille jedoch schnell als Sohn ab: „Terrier schaudert. Er ekelte sich. […] Er wollte das Ding [Säugling Grenouille; Anm. v. Ver.] loshaben, möglichst schnell, möglichst gleich, möglichst sofort.“ (S. 23-24) Danach verwirft Grenouille bewusst den Gott/ Vater, indem er selbst danach strebt, Gott zu werden, wie es in der Szene in der Höhle Plomb du Cantal beschrieben wird. In seinen Fantasien gleicht er dem Gott und übersteigt ihn zugleich. Die patriarchalische Vaterfigur liefert das Koordinatensystem für seine Kunstproduktion, also die Strategien des patriarchalischen Repräsentationssystems, in dem sich Grenouille bewegt. Er erschafft dementsprechend ein patriarchalisches Kunstwerk, das paradigmatisch auf Frauenleichen, auf dem Topos der schönen Leiche, aufgebaut ist.74 Auf die Inkarnation des Patriarchats, die Figur Gottes, folgt Grimal, dessen Figur eine primitive, robuste und brutale Männlichkeit repräsentiert. Die Kultur- und Kunstproduktion, die Grimal versinnbildlicht, ist die Verwertung lebendigen Materials, „der rohen, fleischigen Häute und der Gerbbrühen.“ (S. 159) Die Gewaltstrategien der Kulturarbeit werden noch nicht verschleiert und ihre Unterwerfungs- und Repressionsstrategien werden als offene physische Gewalt in Analogie zu einer vorbürgerlichen Gesellschaft charakterisiert. In der feudalen Gesellschaft herrscht nach Foucault75 ein anderes Machtsystem, auf dem Willen des Souveräns gründend, der sich theatralisch durch das Übermaß an Gewaltsamkeit und das Zeremoniell, wie beispielweise in den öffentlichen Hinrichtungen, manifestiert. Bei seinem ersten „Atemzug“ in Grimals „Geruchsaura“ wusste Grenouille, „daß dieser Mann imstande war, ihn bei der geringsten Unbotmäßigkeit zu Tode zu prügeln.“ (S. 41) Mit der nächsten Vaterfigur, Baldini, ist die Zeit des primitiven Kulturund Kunstschaffens für Grenouille vorbei. Der Parfumeur Giuseppe Baldini, ein unbegabter Imitator, thematisiert Männlichkeit im Kontext der verfeinerten kulturellen Manufaktur und der neuen Machttechniken, durch die die bürgerliche Gesellschaft charakterisiert ist. Da es sich bei der imitierenden Parfumherstellung um eine neue Technologie handelt, wird zumeist schlechtes Parfum produziert. Die Problematik der Imitation verweist dabei auch auf die ästhetischen Fragen nach Ursprung und Mimesis des Kunstwerkes und bezieht die Debatten über das Verhältnis der Kunst zu einer außerkünstlerischen Wirklichkeit ein, das seit Aristoteles’ Poetik diskutiert wird. Süskinds Roman macht am Beispiel des Parfums deutlich, dass der Kunstproduktion Gewalt und Aneignung der Natur zugrunde liegt. Die Gewaltstrategien, durch die das Parfum entsteht, sind auf dieser Etappe aber raffinierter und feiner geworden als dessen Wirkung, die es latent auf Körper und Begehren ausübt. Baldini lehrt Grenouille die Methode der Destillierung ‚lebendigen‘ Materials. Diese Periode gleicht in der Entwicklung Grenouilles 74 Vgl. E. Bronfen: Nur über ihre Leiche. 75 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 44-92.

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dem Symbolisierungsprozess beziehungsweise Spracherwerb in der Entwicklung des Kindes, wenn sich Signifikant und Signifikat trennen und die Materie durch die Abstraktion und Abwesenheit des Dinges getötet wird. Der Roman versucht am Anfang der Handlung zwar, die Sprache dem Duft entgegenzustellen, jedoch ist die Macht über den Duft nur durch seine Semantisierung und Signifizierung zu erlangen. Grenouille lernt, Düfte und Gerüche in abstrakte Formeln zu übersetzen – die Sprache der Parfümerie, durch die er später Macht erhält. Die Experimente mit Geruchs- und Duftherstellung können als Grenouilles erste Kunstwerke betrachtet werden, die jedoch noch nichts Originäres, sondern eher die Imitation anderer Künstler darstellen. Die Zeit der Destillierung/Imitation wird von Grenouille ebenfalls überwunden, und Baldini erscheint als ein Plagiator, der am Kulturschaffen scheitert. Der Marquis de la Taillade-Espinasse, „Lehensherr der Stadt und Mitglied des Parlaments“ (S. 177), versinnbildlicht die Verwissenschaftlichung der bürgerlichen Gesellschaft und verkörpert die Wissenschaft als neue Machtstrategie der Kultur. Der Marquis ist der letzte Vater in der Sozialisationsgeschichte Grenouilles, der ihm die Differenz der Geschlechterordnung und die damit verbundene Macht vermittelt. Die Verwissenschaftlichung der bürgerlichen Gesellschaft ist eine der wichtigsten Perioden für die modernen Machtstrukturen, da sie nach Foucault das Machtdispositiv entstehen lässt, das auf der Verknüpfung von Wissen und Sexualität und dem Durchdringen des Körpers des Individuums durch die Macht beruht.76 Dieser Prozess führt zur Formierung der Sexualität und vor allem der sexuellen Normen, die durch die Verwissenschaftlichung der Sexualität und die Festlegung von Perversionen erreicht wird. Die Verwissenschaftlichung der bürgerlichen Kultur markiert im Roman Das Parfum einige der wichtigsten Machtfelder77, die sowohl für die bürgerliche Kultur und das bürgerliche Subjekt als auch für die Entwicklung des Protagonisten Grenouille relevant sind. Der Marquis de la Taillade-Espinasse widmet sich der Beschäftigung mit der Pädagogik, der Nationalökonomie und der Geschlechterordnung, die im Roman als eine „experimentelle Landwirtschaft“ (S. 178) bezeichnet wird. Die Nationalökonomie ist im Kontext des ganzen Romans wichtig, weil die Figuren Profit- und Nutzungsinteressen unterliegen. Darüber hinaus erscheint die kapitalistische Ökonomie als einer der zentralen ‚Hebel‘ der bürgerlichen Kultur. Die Pädagogik spielt bei der Herausbildung des bürgerlichen Subjektes und der mit ihm verbundenen Stabilisierung der heterosexuellen Geschlechterordnung eine entscheidende Rolle, zumal die Pädagogik selbst 76 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 76. 77 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 249. In Anlehnung an Foucault entstehen Pädagogik, Psychoanalyse, Psychiatrie, Sozialwissenschaften mit der Entstehung des bürgerlichen Subjektes: „Alle Psychologien, -graphien, -metrien, -analysen, -hygienen, -techniken und -therapien gehen von dieser historischen Wende der Individualisierungsprozeduren aus.“

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im Zusammenhang mit dem bürgerlichen Subjekt zustande kommt – beide befinden sich in einem konstitutiven Wechselbezug. So bringt der Marquis de la Taillade-Espinasse Grenouille die bürgerliche Geschlechterordnung bei, die die Grundlage der bürgerlichen Kultur ausmacht. Die Sozialisation Grenouilles bei dem Marquis beziehungsweise seine Heilung von schädlichen Miasmen der Erde besteht in dem Einatmen gereinigter Luft. Die Erdnähe beziehungsweise Mutternähe schwächt die „Vitalkräfte“ des Männlichen durch das „fluidum letale“ (S. 179) ab und bedingt dessen Verwesung. Das Einatmen der gereinigten Luft ohne jegliche Kontamination, die als Miasmen der Mutter-Erde, als Verunreinigung durch Weiblichkeit, gelesen werden kann, veranschaulicht den Sozialisationsprozess als einen vollkommen Ausschluss des Weiblichen aus der Identitätskonstruktion des bürgerlichen Subjektes: „Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht.“ (S. 184) Gleichzeitig bringt der Marquis Grenouille bei, dass die Zusammenführung von Weiblichkeit und Männlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft ein enormes Machtpotenzial enthält. Der Marquis führt zahlreiche Experimente durch, um Geschlechter zu verknüpfen, indem er die „Euterblume“, die ein „animalo-vegetabiles Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung“ durch die „Übertragung von Stiersamen auf verschiedene Grasssorten“ darstellt, zu produzieren versucht (S 178). Der Logik des Romans Das Parfum zufolge gehört Weiblichkeit zum Pflanzenreich und Männlichkeit zum Animalischen: Grenouille wird als „Frosch“ und „Zeck“ bezeichnet, seine Opfer als Blumen. Durch die Vereinigung von Weiblichkeit/ Pflanze und Männlichkeit/Tier kann ein großes Machtpotenzial gewonnen werden, die Trennung der Geschlechter hingegen stabilisiert die bürgerliche Ordnung und schafft regierbare Subjekte. In der Sozialisation des Subjekts zielt die Wissenschaft daher auf die polare Trennung von Weiblichkeit und Männlichkeit, die für die Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft charakteristisch ist. Nicht zufällig produziert Grenouille in dieser Periode, in der ihm die Regeln der Geschlechterdifferenz beigebracht werden, erste Imitate der männlichen Identität. In Analogie zu den anderen Vater-Imagines wird die Figur des Marquis pejorativ dargestellt: als impotent und todesnah. Der Gestank des Marquis ist „die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das Hämorrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn“ (S. 189). So scheitert der Marquis wie auch seine Vorläufer bei seinen Experimenten. Die Methoden des Kultur- und Kunstschaffens von Grimal, Baldini und dem Marquis de la Taillade-Espinasse werden zur Parodie: Ihre Zeit ist vorbei. Alle geschilderten Männlichkeitsentwürfe sind Subjekte der Unterwerfung: „Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker.“ (S. 199) Die Vaterfiguren verschwinden in den Annalen des Kultur- und Kunstschaffens, wie ein Parfum sich verflüchtigt, doch nicht spurlos. Von jedem seiner Väter übernimmt Grenouille Erfahrungen und Methoden der Kultur- und Kunstmanufaktur und vervollkommnet sie: Er verbessert das Parfum „Amor und Psyche“ (S. 109) und defloriert die Jungfrauen nicht nur besser als Amor, sondern konserviert

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sogar ihre Jungfräulichkeit. In Analogie zum Mythos, in dem sich ein unsichtbarer Amor Psyche nähert, um sie zu deflorieren, nähert sich Grenouille schönen Jungfrauen, um ihre ‚Blüte‘, ihren Duft, zu rauben.78 Er häutet Mädchen besser als Grimal; er komponiert den Duft besser als Baldini; er verbindet das Männliche mit dem Weiblichen in einem Parfum besser als der Marquis; er lebt sein Begehren, die Lust an der Macht stärker aus als Druot; er ist mächtiger als sein besiegter symbolischer Vater Richis. Indem Grenouille sich die kulturellen Methoden seiner Väter einverleibt und durch diese der Lustmord zustande kommt, wird offensichtlich, dass der Lustmord ein Produkt der bürgerlichen Kultur ist.

P ARFUM

ALS

P HALLUS

Mit Augenmerk auf die Macht werden die Analogien zwischen dem Duft und der Machtstruktur der bürgerlichen Gesellschaft sowie zwischen Duft und Kultur analysiert. Süskind entwirft eine Welt von Gerüchen und Düften, die sich durch Ambivalenz auszeichnen: Sie lassen sich durch Nutzlosigkeit und Flüchtigkeit charakterisieren – Eigenschaften, die der Roman der herrschenden kapitalistischen Ökonomie und der Profitorientierung der Figuren entgegensetzt. Bei Süskind grenzt sich damit die Kunst der Duftkomposition aus dem ökonomischen Bereich aus, so dass sich der ‚wahre‘ Künstler weder am Profit orientiert noch mit seinem Werk Gewinn erzielt. Der Protagonist Grenouille interessiert sich nicht für Geld, sondern ist von der Obsession besessen, einen perfekten und mächtigen Duft zu erschaffen. Der Roman Das Parfum reproduziert die idealistisch-bürgerliche Kunstauffassung, die die ökonomische Dimension der Kunst verleugnet und sie als einen autonomen Bereich betrachtet.79 Zugleich hat der künstliche Duft einen luxuriösen Charakter und bringt die Machtposition seines Besitzers oder seiner Besitzerin zum Ausdruck. Der Duft erscheint als Phallus, der Macht verleiht und als Generator von Differenzen fungiert. Düfte/Gerüche markieren bei Süskind Geschlechter-, Alters-, und Klassendifferenzen. Der Roman reproduziert auf diese Weise die Differenzgenese der bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entstehung der

78 Neumann, Erich: Amor und Psyche. Deutung eines Märchens: Ein Beitrag zur seelischen Entwicklung des Weiblichen, Olten 1979, S. 157. Hier wird eine in diesem Werk dargestellte Interpretation des Mythos „Amor und Psyche“ referiert: Der Mythos „Amor und Psyche“ erzählt laut Neumann vom Werdegang einer Frau, die durch den Eros-Drachen als Mädchen getötet werden muss, um als Frau wiedergeboren zu werden. 79 Signifikant erscheint in diesem Kontext der Fakt, dass Patrick Süskind mit diesem Werk genau das Gegenteil seiner im Roman dargestellten Genievorstellungen erreichte – einen äußerst umfangreichen Profit.

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bürgerlichen Gesellschaft etabliert sich laut Alain Corbin80 ein neues Hygieneregime, das gegenüber dem städtischen Schmutz und Gestank eine neue Empfindsamkeit entwickelt. Diese neue Empfindsamkeit wird zur Unterscheidung zwischen der ‚anständigen‘ bürgerlichen Frau und der Prostituierten, zwischen dem Bürgertum und der Unterklasse, die sich allmählich zum Proletariat herausbildet, genutzt. Darüber hinaus dient der Geruch auch der ethnischen Stigmatisierung und wird mit der Entwicklung des Nationalstaates zu einem der Ausgrenzungskriterien für Fremde, vor allem für Juden. Bei Süskind markiert der Duft die gesellschaftliche Position der Figuren. Die unteren Klassen riechen streng und stärker als höher positionierte Klassen, die über künstliche, teurere Düfte verfügen. Die nicht mehr jungen Menschen riechen nach „altem Käse und nach sauerer Milch und nach Geschwulstkrankheiten.“ (S. 6) Die Hauptdifferenz liegt aber bei den Geschlechtern. Alle Figuren außer den Jungfrauen „stinken“, sogar der mächtigste Mann der Gesellschaft, der König, wird im Roman als stinkend dargestellt, was auf seine Ohnmacht hinweist: „[…] ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er […].“ (S. 6) Die Jungfrauen sind durch ihren angenehmen Duft, entsprechend der phallischen Ökonomie Lacans, in der paradoxen Position des „Phallus sein“, die Judith Butler wie folgt zusammenfasst: „Der ‚Phallus sein‘ heißt: das Objekt, der/die Andere eines (heterosexualisierten) männlichen Begehrens zu sein und zugleich dieses Begehren zu repräsentieren und zu reflektieren.“81 So werden die Jungfrauen zu Phalloi, deren Aneignung es dem Protagonisten ermöglicht, mächtiger als sein symbolischer Vater zu werden. Laura, die als mächtigster Phallus fungiert, symbolisiert den Phallus ihres reichen Vaters. Richis betrachtet sie als das „Kostbarste“ (S. 254) seines Vermögens. Außerdem erinnert der Klang ihres Namens an das französische Wort l’or, das Gold, und die Schreibweise an den Begriff der Duftaura (Laura=Aura). Laura ist Ausdruck des Reichtums ihres Vaters, dessen phallische Position in der Kultur sie markiert, und deswegen stellt sie zugleich den symbolischen Phallus Grenouilles dar. Daher wird Grenouille durch die Aneignung von Lauras Duft nicht nur von der symbolischen Ordnung anerkannt, sondern auch mächtiger als sein symbolischer Vater. Richis, der sich Grenouille in der Hinrichtungsszene mit einem Dolch nähert, unterwirft sich seinem Sohn, anstelle ihn zu ‚kastrieren‘: „Vergib mir, mein Sohn, mein lieber Sohn, vergib mir!“ (S. 308) Die Kunstproduktion verrät bei Süskind ihre Ausschluss- und Vernichtungsmechanismen und macht zugleich den exkludierenden Charakter der Differenzgenese deutlich. Die Herstellung des Parfums entspricht also der Beherrschung der Machttechniken oder zumindest dem Versuch, sich die Macht des Phallus anzueignen. Die Wirkung von Grenouilles Parfum wird in der Szene der Massenorgie prägnant dargestellt: „Er hielt sie in der Hand. Die Macht, die 80 A. Corbin: Pesthauch und Blütenduft. 81 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 75.

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stärker war als die Macht des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes: die unüberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflößen.“ (S. 316) Die Macht erscheint als Herrschaft über das Begehren. Im Zentrum der Macht offenbart sich aber eine Ohnmacht, die die Macht des Phallus als unzugänglich und phantasmatisch entlarvt. An der Spitze der Macht stehend erkennt Grenouille: „Nur eines konnte diese Macht nicht: sie ihn nicht vor sich selber riechen machen.“ (S. 316) Das Subjekt kann nicht mit der Macht verschmelzen und seine Identität bleibt eine weitere Maske, die den illusorischen Charakter des (männlichen) Subjektes sichtbar macht. Der Duft als Identität ist auch ein Phallus, d.h. die Identität erweist sich immer nur als eine Differenz zum Anderen, die in der Interaktion entsteht und durch die Macht strukturiert wird. Zwischen Grenouille und der weiblich codierten Masse bildet sich wieder die Differenz heraus, die das mächtige Subjekt erst durch die Anerkennung der Masse konstituiert und seine Abhängigkeit vom Anderen deutlich macht. Seit Le Bon82 ist die Masse weiblich codiert und so wird in der Hinrichtungsszene eine Voraussetzung zur Entstehung des Subjektes der Macht geschaffen, die aber die Strukturen des heterosexuellen männlichen Subjektes reproduziert: „Nicht anders erging es den zehntausend Männern und Frauen und Kindern und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine Mädchen, die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es überkam sie ein mächtiges Gefühl von Zuneigung, von Zärtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit, ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Mördermann, und sie konnten, sie wollten nichts dagegen tun.“ (S. 300) Jedoch geht mit dem Machtgewinn gleichzeitig ein Machtverlust einher, da Grenouille zum begehrten Phallus für die Masse wird und dadurch die weibliche Position des „Phallus sein“ einnimmt. Die Masse begehrt die Macht, die Grenouille verkörpert: „Die Menschen aber glaubten, sie begehrten mich, und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis.“ (S. 317) Grenouille selbst bleibt weiterhin für die Masse unsichtbar, also identitätslos, da er als Spiegel der Masse fungiert – eine Position, die Lacan der Weiblichkeit zugesteht. In der Szene der Massenorgie wiederholt sich die Höhlenszene, während derer Grenouille seine Identitätslosigkeit und seine Abhängigkeit vom Anderen erkennt: „Wie damals in der Höhle im Traum im Schlaf im Herzen in seiner Fantasie stiegen mit einem Mal die Nebel auf, die entsetzlichen Nebel seines eigenen Geruchs, den er nicht riechen konnte, weil er geruchlos war.“ (S. 307) Die Verschmelzung mit der Macht beziehungsweise die Aneignung der Macht scheitert. Kann Grenouille mit der Macht nicht verschmelzen, so kann er sich zumindest in der Macht beziehungsweise in seinem Parfum auflösen. Ist das Andere nicht einzuverleiben, so kann er durch die Masse als das Andere einverleibt werden. Nach der infantilen oralen Erotik des Romans, die die Objekte des Begehrens als Früchte präsentiert, beispielsweise als „MirabellenMädchen“, als Aprikosen- und Mandelblüten, wird der sexuelle Akt auf den 82 Vgl. Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen, Stuttgart 1968.

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infantilen Akt des Einverleibens projiziert. Nach Sigmund Freud gehört die orale Erotik zu den ersten kindlichen sexuellen Erlebnissen, die zur oralen Phase gezählt werden. In dieser Phase findet das Kind nach Freud beim Essen beziehungsweise Saugen Befriedigung: „So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objekts mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung.“83 Damit wird das Einverleiben im Roman Das Parfum zur Metapher der sexuellen Befriedigung. Die letzte Szene, in der sich die Kannibalen Grenouille aus Liebe und Begehren einverleiben, stellt einen Lustmord an Grenouille dar, der auf seinem Begehren nach Macht beharrt und lustvoll symbolisch mit der Macht verschmilzt, selbst wenn der Preis dafür seine Selbstauflösung ist. Die Massenorgie und die Selbstauflösung von Grenouille können aber auch als Rezeptionsakt seines Kunstwerkes und als ekstatische Auflösung des Autors in seinem Werk – als Tod des Autors im Sinne Roland Barthes’84 – gelesen werden. Nicht nur der Künstler wird androgyn, sondern auch sein Kunstwerk, dessen Rezeption dem Leser einen androgynen Fantasieraum eröffnet. Das Kunstwerk verwirklicht Ideale und verwischt die Differenzen, gleichzeitig fungiert es als Screen für das Begehren des Publikums. Der Rezeptionsakt wird daher zum wortwörtlichen Befriedigungsakt jenseits aller kulturellen Normen. Das Begehren zu erwecken und verschiedene Grenzen zu überschreiten begreift der Roman als die große Macht der Kunst. Der Rezeptionsakt löst dabei den Autor wortwörtlich in seinem Werk auf, der mit seinem Kunstwerk nach dessen ‚Verzehr‘ schnell ins Vergessen gerät. So zeigt Süskinds Roman nicht nur den Schöpfungsakt als Lustmord, sondern auch der Rezeptionsakt wird zum Lustmord, indem das Publikum das Kunstwerk für seine Fantasie missbraucht und es sich ekstatisch ‚einverleibt‘. Dem Autor wird die Macht über sein eigenes Werk entzogen. Der Roman Süskinds verabschiedet sich dabei von der bürgerlichen Auffassung der ‚ewigen‘ Kunst, die Zeit und Tod überwindet und dem Autor durch seine Kunstwerke Unsterblichkeit sichert.

F AZIT Die Struktur des Bildungs- und Entwicklungsromans positioniert das Thema Lustmord im Zentrum der Handlung von Das Parfum. In diesem Zusammenhang erscheint der Lustmord nicht als Ergebnis einer gescheiterten Sozialisation, wie es im Lustmorddiskurs Tradition ist, sondern als Instrument der Entwicklung des Protagonisten. Dadurch wird der Lustmord im Roman ubiquitär. Das Thema Lustmord sorgt gleichzeitig für die Transformation

83 S. Freud: Abriß der Psychoanalyse, S. 45. 84 Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Jannidis, Fotis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 183-193.

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des Textes, der Elemente des Horrors, des Kriminalromans, des Thrillers und der Fantasy-Erzählung vereinigt. In Das Parfum reproduzieren die Lustmorde an Jungfrauen ein stereotypes Täter-Opfer-Schema, bei dem nur die Täterperspektive zentral ist und die Opfer als austauschbar präsentiert werden. Die dargestellten Lustmorde lassen die kriminalanthropologischen und psychoanalytischen Diskurse vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts anklingen. Wie die Kriminalanthropologie Ende des 19. Jahrhunderts behauptet, ist auch bei Süskind der Lustmord als „Ersatz für Koitus“85 zu verstehen. Der Lustmord ist das Produkt einer ungebändigten Natur, die gewalttätige männliche Sexualität als animalischen Trieb und als Ausdruck des ‚Natürlichen‘ beinhaltet. Grenouille wird in diesem Zusammenhang zum Produkt der ‚natürlichen‘ Triebe, die von der Kultur gebändigt werden können. Der Lustmörder als unterentwickelte Persönlichkeit führt auf Lombrosos Atavismus-Theorie zurück, die den Verbrecher als Rückfall in die früheren Stadien der Menschheit betrachtet. Das Weibliche steht für das präödipale beziehungsweise vorkulturelle Begehren Grenouilles. Das ‚Natürliche‘ wird sowohl unterminiert als auch revidiert, denn der Roman verdichtet verschiedene Diskurse, die einander auf paradoxe Weise stören. Der Lustmord wird als Instrument der Kultur- und Kunstmanufaktur eingesetzt, das sich durch die im Roman reinszenierte historische Entwicklung herausbildet. Die Funktionalisierung der Lustmorde und die Vernichtung von Weiblichkeit zugunsten der Kultur- und Kunstproduktion sagen viel über den Charakter beider Prozesse aus. Sowohl das Kultur- als auch Kunstschaffen beruhen auf massiver Gewalt und misogynen Traditionen, die Kunst und Kultur über die Auslöschung des Weiblichen realisieren. Darüber hinaus reproduziert der Roman die misogynen Traditionen der bürgerlichen Kunst im Sinne von Walter Benjamin, der den Künstler als Genie, als Geist und als androgyn sieht und die Kunstproduktion als Absterben des Weiblichen im Künstler imaginiert. Allerdings entpuppt sich der Lustmord als Folge und daher als Produkt der bürgerlichen Kultur und Machtstruktur, die Süskinds Roman in ihren Aporien vorführt. Zugleich hält der Roman an einer ‚natürlichen‘ Identitätsgrundlage fest, die in Analogie zum Körpergeruch weder artifiziell herstellbar noch reproduzierbar wäre. Die Jungfrauen repräsentieren ‚natürliche‘ Weiblichkeit, die zwar extrahiert, aber nicht verinnerlicht werden kann. Dieser essentialistische Gestus kann sowohl Produkt des Lustmorddiskurses sein, der mit dem ‚animalischen‘ Vokabular und den ‚natürlichen‘ Trieben arbeitet, aber auch als Effekt der Romandramaturgie erscheinen, die die ganze Handlung auf das Scheitern des Kunstund Identitätswerks Grenouilles hin steuert. Hinsichtlich der Geschlechtsidentität lässt der Lustmord den gewalttätigen und starren Charakter der binären Geschlechterordnung erkennen: Das Gewaltmoment der Entgrenzungsfantasie weist auf die Zementiertheit der 85 R. von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 80.

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heterosexuellen Normen hin. Gleichzeitig pathologisiert der Lustmord die alternative, androgyne Geschlechtsidentität, so dass die binäre Geschlechterordnung als einzig mögliche konstituiert wird.

Kunstproduktion jenseits der Geschlechterdifferenz Barfuß von Michael Kleeberg

D IE G ESCHICHTE

EINES

K ÖRPERS

Kleebergs Novelle schildert die Geschichte von Arthur K., dessen Name Anspielungen auf die Begriffe Künstler und Körper, auf Kafka, Josef K. aus Kafkas Der Prozess und auf den Namen des Autors Kleeberg zum Ausdruck bringt. Der Körper wird hier zum „Widerlager der Vernunft“,1 zur „letzten Ausflucht“2 des Subjektes, und zwar als ein Körper, der gequält und gemartert wird, da „man den Körper nur noch spürt, wenn er wehtut.“3 Der Protagonist, Arthur K., Teilinhaber einer Pariser Werbeagentur, stellt einen erfolgreichen 30-jährigen Mann dar, der sich im gleichen Alter wie Kafkas Figur Josef K. befindet. Eine blitzschnelle und mühelose Karriere, Ehe und erwarteter Familienzuwachs – allesamt in der bürgerlichen Gesellschaft erwünschte Errungenschaften – rufen bei Arthur K. kein Glücksgefühl hervor. Verantwortungsdruck in Kombination mit Ohnmacht, verursacht durch Unzufriedenheit mit seiner Existenz, Einflusslosigkeit und Bedeutungslosigkeit in der Gesellschaft überschatten K.s Dasein. Mittels des kultivierten Sadisten Daniel findet er eine paradoxe Erfüllung seiner Erlösungsfantasien in der Welt des Sadomasochismus, in welcher die gesellschaftlichen Konventionen, durch die er sich gefangen fühlt, ungültig werden. Diesen individuellen Freiraum innerhalb der bürgerlichen Existenz entdeckt K. in seinem eigenen Körper, in der masochistischen Unterwerfung, deren Ziel die lustvolle Zerstörung der eigenen Identität und die Auslöschung seiner selbst als geschlechtlich markiertes Subjekt ist. Vier Schlüsselwörter, die in der Novelle in Großbuchstaben geschrieben werden, enthalten in Kurzform das Pro-

1 2 3

Schößler, Franziska: Mythos als Kritik – zu Thomas Hettches Wenderoman Nox, in: Literatur für Leser 3 (1999), S. 171-182, hier: S. 171. J. Magenau: Der Körper als Schnittfläche, S. 19. Nibbrig, Christiaan L. Hart: Die Auferstehung des Körpers im Text, Frankfurt am Main 1995, S. 14.

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gramm der Geschichte: ER ist ein männliches Subjekt, das BARFUß, also körperlich, verletzbar und ausgeliefert, mit SADO auf der Suche nach SEIN ist, das heißt durch die körperliche Transzendenz auf der Suche nach einer authentischen Existenz. Nach Jörg Magenau geht es in der Novelle Barfuß „nicht um Sado-Maso-Spielchen als Ausgleichssport und Freizeitvergnügen, sondern um eine existentielle Erfahrung, die schließlich ihre Erlösung in der lustvoll erlebten eigenen Hinrichtung findet“,4 dem selbst komponierten Lustmord. Die Darstellung des Lustmordes in einer Novelle ist ein Novum und modifiziert den Lustmord auf radikale Weise. Der Lustmord wird zum erwünschten Selbstmord, bei dem der Akzent auf das Opfer gesetzt wird. Der männliche Protagonist wird zum Opfer, der Täter wird zum Verschwinden gebracht und die Hinführung auf die Enthüllung des Lustmordes ist der post factum rekonstruierenden Erklärung entgegengesetzt. Im Zentrum der folgenden Gender-Analyse steht daher die bürgerliche männliche Identität des Protagonisten, die er im Laufe der Handlung zerstört. Auch bei Kleeberg wird männliche Identität ähnlich wie in Das Parfum in der Gestalt des Künstlers verhandelt, der wie bei Süskind in einer patriarchalischen kapitalistischen Gesellschaft ein Kunstwerk über den Lustmord als Abtötung der Materie hervorbringt. Während Das Parfum noch an einem schaffenden Subjekt festhält, löst sich der Künstler bei Kleeberg in seinem eigenen Kunstwerk vollkommen auf. Inszeniert wird buchstäblich der Tod des Autors (Kafka, Barthes), denn die ‚Realität‘ seiner Novelle stellt eine Sprachordnung dar und die Materie, die zugunsten künstlerischer Abstraktion destruiert wird, seinen eigenen Körper. Das Kunstwerk entsteht jenseits symbolischer Ordnung, das heißt jenseits der Geschlechterdifferenzen – an einem imaginären Ort, der als das ‚Reale‘ im Sinne Lacans beschrieben werden kann, das als das Vorsymbolische dem Kunstwerk in der Novelle vorausgeht und es voraussetzt. Die These lautet, dass die gesamte Geschichte den künstlerischen Vorgang der literarischen Produktion als Körpererfahrung schildert und den Lustmord am Körper zur Voraussetzung der ‚Geburt‘ eines literarischen Textes macht. Die Novelle organisiert ebenfalls in Analogie zu Das Parfum die Figurenkonstellationen um K. ödipal, um die Problematisierung seiner Identität zu ermöglichen. Jedoch verdichtet Kleeberg weiterhin die Passion Christi, den Ödipusmythos und den Ödipuskomplex und lässt so die Untauglichkeit der bürgerlich-christlichen Männlichkeitsideale erkennen, die laut Freud durch den Untergang des Ödipuskomplexes zustande kommen. Neben der Re-Inszenierung der Mythen über Männlichkeit wird das Theater als eine subversive Strategie eingesetzt, das das Spiel mit Identitäten zulässt und das männliche Subjekt von seiner starren, bürgerlichen Männlichkeit befreit. Entwirft Das Parfum das Subjekt der Macht, so schreibt die Novelle Kleebergs die Unterwerfungsstrategien fort und forciert sie zugleich. Der Maso4

J. Magenau: Der Körper als Schnittfläche, S. 19.

K UNSTPRODUKTION

JENSEITS DER

GESCHLECHTERDIFFERENZ

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chismus des Künstlers wird zu einer weiteren Subversionsstrategie, zumal er laut Slavoj Žižek höchst theatralisch ist. Beiden Texten sind androgyne Fantasien der Kunstproduktion gemein, die jedoch nur über die Zerstörung des Anderen (Süskind) oder der eigenen Identität (Kleeberg) möglich werden.

F ORSCHUNGSSTAND Das Werk von Michael Kleeberg und insbesondere seine Novelle Barfuß wurden bislang relativ wenig erforscht. Die Novelle Barfuß gehört laut Jörg Magenau zur zeitgenössischen „Körperliteratur“, die er eine Literatur der „neuesten ‚Neuen Innerlichkeit‘“5 nennt, da sie das „Öffnen des Körpers für schockierend und das Wühlen in den Eingeweiden für tiefgründig hält.“6 Die Körperliteratur, die in den 1990er Jahren entsteht, findet neue Ausdrucksformen und Themen mit dem und am Körper: „Die Bilder der menschlichen Organe sind rätselhaft wie fremde Kontinente oder unbekannte Inseln und insofern unbedingt ein Gegenstand der Literatur.“7 Die literarischen „Anatomen“ der „neuen Innerlichkeit“ untersuchen nach Magenau den Körper mit „pathologischem Eifer“ und schneiden „anatomische Texte mit dem Skalpell“8 zu: „Sie [die Körperliteratur; Anm. d. Verf.] ist ein berechtigter Einspruch gegen die Missachtung des Körpers in der Epoche der Aufklärung, gegen die Unterdrückung der Sinnlichkeit durch das Primat der Vernunft, gegen die Unterwerfung von Individuen unter das Diktat von Ideen. Sie ist reaktionär, wo sie masochistische Selbstunterwerfung predigt und den Körper zum Rückzugsraum des machtlosen Subjekts verklärt.“9 Laut Magenaus Analyse beschreibt die Novelle Barfuß einen Mann, dessen Erlösungsfantasien den Wunsch nach einem authentischen Leben im Körper ausdrücken. Im Versuch, seine eigene Geschichte durch Narben und Wunden zu „schreiben“, erweist sich der Körper zwar „als Feld der Desartikulation von Gesellschaftskritik“,10 jedoch wirft Magenau der Novelle Kleebergs die Produktion eines faschistischen Körpers vor, der „die Gleichheit eines glatten Idealbildes“ zum Ausdruck bringt: „Blut und Boden, Mutterkult und Frauenfeindlichkeit sind die Elemente, aus der diese Novelle gestrickt ist.“11 Dieser Faschismusvorwurf wird in der nachfolgenden Lektüre widerlegt, da es nach der hier vorgeführten Leseart in der Novelle Barfuß um die Kritik an dem bürgerlichen Subjekt und an der bürgerlichen Gesellschaft geht, die dieses Subjekt hervorbringt, es unterwirft und ausbeutet. Im Vergleich zum 5 6 7 8 9 10 11

Ebd.: S. 12. Ebd. Ebd.: S. 20. Ebd.: S. 12. Ebd.: S. 20. Ebd. Ebd.: S. 19.

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faschistischen Körperpanzer von Klaus Theweleit wird in der Novelle das Individuum aufgelöst. Als Begründung hierfür können die androgynen sowie pränatalen Fantasien des Protagonisten dienen: Erstere überwinden die bestehenden Differenzen der Geschlechter, letztere weisen auf die Undifferenziertheit hin. Darüber hinaus unterzieht die Novelle Kleebergs die Sprache und die binäre abendländische Logik einer Kritik. Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld bezeichnet Michael Kleeberg als „Realisten“, dessen „erzählerisches Talent der deutschen Gegenwartsliteratur neue Impulse zu geben vermag.“12 Als „profunder Kenner“ der gesellschaftlichen Verhältnisse setzt er sich mit Individuum, Gesellschaft und Geschichte auseinander, schildert die Orientierungslosigkeit der neuen Generationen und den Verlust der persönlichen Lebensziele. Doch ist Michael Kleeberg in den Augen der Kritiker nicht nur „Literat der Single-Generation“ und „düsterer Prophet“13 (P. Körte), sondern avanciert mit seinem Roman Ein Garten im Norden (1998) auch zum Humanisten. Er schafft ein „faszinierendes Stück historischer Fiktion“, indem er „fabulierend die Geschichte Deutschlands umschreibt und dadurch ein humaneres, neues Deutschland vorstellbar werden lässt.“14 Die kürzlich erschienene Studie von Branka Schaller-Fornoff betrachtet die Novelle Barfuß unter anderem als Pastiche, das als „Krankheitsgeschichte, als Transformationsprozess, als die Geschichte einer Neurose, einer gescheiterten Triebsublimierung, als S/M- und Fetischdichtung, als (scheiternde) Künstlernovelle oder auch als invertierte Heiligengeschichte und blasphemisch gewendete Christusallegorie“ zu lesen ist.15 Diese Genres analysiert Schaller-Fornoff mit den Theorien von Foucault, Turner, Girard und Bataille und unterscheidet bei Kleeberg vier textuelle Verfahren: Die implementierten literarischen Stoffe und Motive werden durch Inversion, Subversion, Transgression und Kontamination neu gestaltet. In Anlehnung an Bataille ist einer der zentralen Subtexte der Novelle die Ansteckung mit AIDS, die auch als „Genremechanismus“ zu verstehen ist.16 Die Erregung als emotionaler und medizinischer Begriff wird zum Schlüsselbergriff, der die Themen der Novelle mit der inneren „Spannung/Erregung des Novellenhelden“ und der „immanenten Spannung/Erregung der Gattung“ korreliert.17 Schaller-Fornoff versteht Barfuß als Schlüsselwerk in Kleebergs Oeuvre, das auf den Implikationen von „Angstlust“ basiert. 12 Zentrum für interdisziplinäre Forschung. Universität Bielefeld. Weitere Informationen vgl. vom 17.11.2005. 13 Körte, Peter, in: vom 17.11.2005. 14 Ebd. 15 Schaller-Fornoff, Branka: Novelle und Erregung. Zur Neuperspektivierung der Gattung am Beispiel von Michael Kleebergs „Barfuß“, Hildesheim; Zürich; New York 2008, S. 11. 16 Ebd.: S. 166. 17 Ebd.

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Der Novelle, deren Bezeichnung auf das italienische Wort novella (für Neuigkeit) zurückzuführen ist, liegt gemeinhin ein unerwartetes und außergewöhnliches Ereignis zugrunde. Goethe definiert die Novelle als die Darstellung „einer sich ereigneten unerhörten Begebenheit.“18 Die Novelle wird als kürzere, in sich geschlossene epische Prosaerzählung betrachtet und durch eine strenge Struktur charakterisiert: „Sie ist grundsätzlich straff geformt, gibt epischen Exkursen selten Raum, lässt das Geschehen in der wirklichen (oder in einer fiktiven wirklichen) Welt spielen und führt meist recht geradlinig auf den Schluß, den Ausgang des Geschehens zu.“19 Der Aufbau von Barfuß entspricht dieser Struktur: Die Handlung besteht aus einer chronologischen Reihe mit einem Anfang, der das frühere Geschehen, die so genannte „aufbauende Rückwendung“20 einblendet, dem Höhepunkt und dem Ende. Das Thema Lustmord als schockierendes und skandalöses Ereignis hat die Funktion der außergewöhnlichen Begebenheit, die aber – durch das Genre der Novelle bedingt – nicht zu Beginn erzählt wird. In der Regel eröffnet der Lustmord die Handlung und seine Aufklärung liefert die Geschichte einer Fehlentwicklung sowie eine versuchte Erklärung zum Geschehen. In der Novelle Barfuß wird der Lustmord dagegen erst am Ende der Handlung geschildert; daher begleiten den Lustmorddiskurs keine Elemente des Kriminalgenres, die im Verlauf der Narration die Hintergründe des Lustmordes rekonstruieren. In der Novelle Kleebergs fehlen sowohl das Geheimnis des Lustmordes, das die Handlung initiiert, als auch der Detektiv, der die Ermittlung einleitet und den Lustmord erklärt. Das Genre Novelle ändert also die Erklärungsmuster des Lustmordes, indem er durch eine hinführende Erklärung begleitet wird. Modifiziert werden also sowohl die narrative Funktion dieses Motivs als auch die Narration selbst. Der Lustmord bleibt zwar als ein Narrationsantrieb bestehen, der aber das Geschehen nicht auslöst, sondern zu seinem zu Ende gedachten Höhepunkt wird. Bei Kleeberg lebt die Handlung von der Steigerung beziehungsweise Intensivierung von K.s S/MErlebnissen, die in seiner völligen (Selbst-)Destruktion enden. Diese Erzählweise hebt das dramatische Moment der Novelle hervor, denn die Novelle steht unter den Prosagattungen dem Drama am nächsten. Daher überrascht der Lustmord am Ende nicht; er erschüttert genau durch diese zu Ende gedachten und schon am Anfang erahnten Konsequenzen des angedeuteten Konfliktes – Ausweglosigkeit und Zwang zur Selbstzerstörung.

18 Gespräch vom 25. [29.] Januar 1827, zitiert nach Rath, Wolfgang: Die Novelle. Konzept und Geschichte, Göttingen 2008, S. 105. 19 Gutzen, Dieter/Oellers, Norbert/Petersen, Jürgen H.: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch, Berlin 1976, S. 45. 20 Vogt, Jochen: Grundlagen narrativer Texte, in: Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 2003, S. 298.

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Weitere Modifikationen der Novelle werden daher durch den männlichen Protagonisten und durch seine Rolle als Opfer bedingt. Ihre Handlung verfolgt im Allgemeinen zwar die Destabilisierung der männlichen Identität, es werden jedoch in der Regel am Ende Normalisierungsprozesse in Gang gesetzt, so dass die Hauptfigur, selbst wenn sie keine stabile Identität gewinnt, am Ende in ihren gewöhnlichen Alltag zurückkehrt. Der Rahmenerzähler, der wesentliches Element der Novelle ist, deutet auf die Stabilisierung beziehungsweise das Überleben des Protagonisten hin, da er in einem Rückblick erzählt und dadurch den geschlossenen Rahmen der erzählten Geschichte sichert.21 Da jedoch der Protagonist K. in Barfuß am Ende der Handlung ausgelöscht wird, kennt diese Novelle keinen Rahmenerzähler und keine Rahmenerzählung. Darüber hinaus wird die Handlung zwar abgeschlossen, jedoch leitet das Finale keine Normalisierung oder Stabilisierung der Identität K.s ein. Ein solches Ende ist in den meisten Fällen mit den weiblichen Figuren verbunden, die mit ihrem Tod entweder die Handlung der Novelle initiieren oder abschließen.22 Dadurch, dass in dieser Novelle ‚männliche‘ Genrekonventionen nicht erfüllt werden, wird Männlichkeit auch auf der Erzählebene dekonstruiert. Die „unerhörte Begebenheit“ der Novelle stellt sich also nicht nur als erwünschter (Selbst-)Lustmord dar, sondern auch als Ablehnung der traditionellen Narration des Mannseins, das auch durch die Absage an bestimmte männlich codierte Genre-Konventionen destruiert wird. Im Zusammenhang mit dem Thema Lustmord wird gemeinhin das männliche Subjekt thematisiert, da der Lustmord in den ästhetischen Repräsentationen sowohl den Mangel männlicher Identität markiert als auch für die Behebung dieses Mangels funktionalisiert wird. So integriert auch die Novelle Kleebergs Elemente des ‚männlichen‘ Genres Entwicklungsroman.23 Die Überlagerung von Entwicklungsroman, der hier die Darstellung 21 Die Tradition der Rahmenerzählung in der Novelle führt auf das Hauptwerk Giovanni Boccaccios, Decameron, zurück, in der sich zehn vor der Pest geflüchtete junge Leute in einem Landhaus mit Geschichten unterhalten, die sie als Sammlung von hundert Novellen präsentieren. 22 Als Beispiel können sowohl die meisten Novellen von Arthur Schnitzler und Stefan Zweig dienen, die für weibliche Frauenfiguren den Tod und für die männlichen Figuren die Normalisierung der Situation oder mindestens eine Position des Beobachters einräumen. 23 Erll, Astrid/Seibel, Klaudia: Gattungen, Formationen und kulturelles Gedächtnis, in: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart 2004, S. 180-208, hier: S. 195. Die Autorinnen charakterisieren aus der Gender-Perspektive den Bildungsroman, auf dessen Traditionen sich der Entwicklungsroman stützt. In der Konfrontation mit der Welt entwickelt sich der männliche Protagonist im Bildungsroman zu einem den herrschenden Normvorstellungen über Männlichkeit entsprechenden Mann, der zudem zum Träger der humanistischen Ideale wird: „Im Zentrum steht ein männlicher Protagonist, der

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einer Anti-Entwicklung des Protagonisten ermöglicht, und Novelle, die das Außergewöhnliche hervorhebt und dies an den Protagonisten bindet, erlaubt es, den Helden in einer ambivalenten Position zu zeigen: Arthur K. ist ein Opfer, das seine Opferrolle selbst bestimmt und dadurch seine Position als Subjekt beibehält, die sowohl für die Novelle als auch für den Entwicklungsroman charakteristisch ist. Während der Lustmorddiskurs auf keine Tradition zurückblicken kann, die die Opferperspektive repräsentiert, werden in Kleebergs Novelle die ödipalen Figurenkonstellationen neu konfiguriert: Einerseits eignen sich diese, um die Fehlentwicklung des männlichen Protagonisten zu schildern, andererseits werden sie durch mehrere narrative Strategien unterwandert. Die ödipale Konstellation gehört dabei eng zum Lustmorddiskurs, in dem die Identifikation des männlichen Protagonisten mit der Vaterfigur scheitert. In der Novelle Barfuß scheitert die Identifikation mit dem Vater nicht, sondern sie wiederholt genau umgekehrt die ödipalen Strukturen buchstäblich und denkt sie zu Ende, indem sich der Sohn dem Vater unterwirft und sich von ihm töten lässt. Der Ödipuskomplex wird zugespitzt und bestätigt, so dass seine Absurdität und Untauglichkeit als Identitätsgrundlage des Männlichen offengelegt wird. Wenn sich der Sohn seinem Vater unterwirft, wie es die patriarchalische Gesellschaft fordert, so wird er durch ihn ausgelöscht. Die Novelle erteilt dadurch dem Ödipuskomplex und -mythos sowie der bürgerlichen männlichen Identität eine Absage. Der Lustmorddiskurs, der um die Wende zum 20. Jahrhundert nur die Täterperspektive kennt, wird durch die Opferperspektive modifiziert, die in einer paradoxen Wendung auch als Täterschaft erscheint. In Anlehnung an Slavoj Žižek weisen der Lustmord und das masochistische Begehren theatralische Strukturen auf, da das Opfer die Regeln seines Lustmordes festlegt. So beschreibt die Novelle den Sadisten Daniel vor dem Lustmord, den er an K. durchführen wird, wie folgt: „Daniel zögerte, die weiteren Utensilien aus dem Rucksack zu ziehen. Bist du sicher … fragte er, aber ein Blick auf K.s Gesicht, das schon nicht mehr gegenwärtig schien, und auf die Erregung des Leibes überzeugte ihn.“ (S. 145) Der Ausschnitt lässt deutlich erkennen, dass K., mit Žižek gesprochen, Regisseur seines Mordes ist. Der Lustmord wird dadurch nicht mehr als ein Phänomen der ‚naturhaften‘ Triebe aufgefasst, wie der Diskurs behauptet, sondern er trägt einen artifiziellen und vor allem spielerischen, künstlerischen Charakter. Die Novelle macht also den Lustmord zu einem ästhetischen Projekt, das in Analogie zum Theater inszeniert und gespielt werden kann. Der Lustmörder wird dabei zu einem Instrument des Opfers, das nicht primär aus Lust tötet, sondern eher mechanisch dem Begehren des Opfers – dem ‚echten‘ Lustmörder in der Novelle,

in einer dreiphasigen Entwicklungsgeschichte zur Selbstfindung gelangt und dadurch den ‚Männerstatus‘ erreicht […].“

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wie K. sich nennt (S. 104)24 – nachgeht. Das Opfer als männliches Subjekt zu thematisieren, hat in der Novelle die Eliminierung des Täter-OpferSchemas zur Folge, da Täter und Opfer zusammenfallen. Fungieren die Opfer im Lustmorddiskurs als Zeichen des Täterbegehrens, so dreht die Novelle Barfuß diese Konstellation um. Mit der Kategorie des Täters verschwinden auch andere Elemente des Lustmorddiskurses wie die Psyche des Täters, die sonst üblicherweise in der Tradition des Entwicklungsromans erzählerisch entfaltet wird, das Verbrechen und seine Ermittlung sowie die Auseinandersetzung mit dem Gesetz (mit dem Detektiv) und die Kategorien der ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘, die die Struktur des Kriminalromans bedingen. Mit dem Verschwinden der Täterperspektive gehen nahezu alle Repräsentationselemente des literarischen Lustmordes in der Novelle verloren.

D IE S PRACHE

UND IHR

S UBJEKT

Das Subjekt der Unterwerfung Die ‚Realität‘ der Novelle Barfuß wird selbstreflexiv als sprachlich konstituierte Sphäre dargestellt, die die poststrukturalistische Kritik an der Sprache und an dem sprachlich konstituierten Subjekt einbezieht. Der Protagonist K. erscheint als ein Sprachsubjekt, das in der Sprache lebt, mit Sprache arbeitet und mit Sprache seinen Unterhalt verdient. K. nennt sich „word-addict“ (S. 103); er ist als erfolgreicher Werbetexter tätig, träumt in der Jugend davon, ein Schriftsteller zu werden und arbeitet zunächst als Journalist und Theaterkritiker. Alles im Leben von K. ist ein „Luftschloß aus Sprache“ (S. 103): Seine Ehe erkennt er als „Kettenreaktion einer erotisch aufgeladenen Wortspielerei.“ (S. 103) K. führt eine Statistik seiner Liebesaffären, genauer gesagt frönt er einem „statistischen Fetischismus“ seiner sexuellen Kontakte und übersetzt aus „Ordnungsliebe“ (S. 38), die auch als Liebe zur symbolischen Ordnung beziehungsweise zur Sprache verstanden werden kann, seine Liebhaberinnen in starre Zeichen und Zahlen. Auch andere Figuren in der Novelle haben eine Verbindung zur Sprache: Der Sadist Daniel, Universitätsprofessor der Philosophie, schreibt Essays und philosophische Aufsätze; die Domina Madeleine, die den Namen einer bekannten Modemarke trägt, ist Chefredakteurin eines Frauenmagazins. Mit anderen Figuren steht Arthur

24 „Er [K., Anm. d. Verf.] flüchtete sich ins Minitel, stürzte sich darauf, ein Verdurstender, ein Lustmörder, ein Sünder, in den Pfuhl des Unaussprechlichen, im Hinterkopf immer noch die Gewißheit, die Mechanik, die ihn antrieb, verstanden zu haben, zu beherrschen und anhalten zu können, wann immer er wollte.“ (S. 104)

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K. im Briefwechsel,25 das heißt, er ist mit den Figuren durch einen Signifikantenfluss und -austausch verbunden, der gleichzeitig das Begehren von K. zum Ausdruck bringt. Mit seiner Ex-Geliebten Ophelia pflegt K. einen ausgedehnten Briefwechsel, in dem er seine Freiheitsfantasien artikuliert. Von seiner Frau erwartet K. dringend Hilfe durch ihre Briefe. Die Sprache setzt die Existenz des männlichen Subjektes voraus und vollzieht seine Subjektwerdung durch Unterwerfung, wie Judith Butler in ihrer Studie Psyche der Macht ausarbeitet.26 Butler definiert diesen Prozess, der die Subjektwerdung auf die Unterwerfung (engl. to subject – sich unterwerfen) zurückführt, als Subjektivation. Der Protagonist Arthur K. wird durch diese Paradoxie der Subjektwerdung gekennzeichnet. K ist ein Sprachsubjekt: „Und in den Wörtern hatte K. sich stets zu Hause gefühlt.“ (S. 19) Gleichzeitig fühlt er sich in der Sprache ohnmächtig, da sich die Taten jenseits der Sprache vollziehen, so dass K. keinen Einfluss auf sie hat. Sein Dasein in der Sprache erkennt K. als „tote, stille, unbewegliche Konservenzeit in Gesellschaft der Wörter“ (S. 19). Seine Position als Subjekt und als Objekt der Sprache spiegelt sich in der Er-Form des Erzählens wider, die ihn einerseits als Protagonisten ins Zentrum stellt, ihn andererseits in die Objektposition zurückweist. Die Novelle Barfuß verabschiedet außerdem das handelnde, autonome Subjekt, indem sie das Handeln in der Sprache als illusorisch aufdeckt: „Sie [die Wörter, Anm. d. Verf.] waren ihm nie etwas Reales gewesen, hatten nichts mit der Wirklichkeit zu tun, die aus Handlungen bestand.“ (S. 19) Diese Kritik an der Sprache geht auf Lacans Ideen zur Sprache zurück, die Gerda Pagel wie folgt zusammenfasst: „In der Sprache ist der Mensch eingeschlossen, mit der Sprache kann er sich scheinbar über seine Existenzform hinwegsetzen. Mit der Sprache kann er überreden, ohne zu wissen, daß er dabei selbst getäuscht wird, da die Sprache ihn unter-redet. In der Sprache können Interaktion und Kommunikation gelingen, aber mit ihr kann ebenso die menschliche Praxis ideologisch verdunkelt oder verfälscht werden. Derjenige, der wähnt, Wahrheit, Einheit und Ganzheit im ‚wahrsten Sinne des Wortes‘ festhalten zu können, ahnt oft nicht, daß er mit leeren Worthülsen um sich wirft.“27 Die Sprache stellt sich bei Kleeberg in Analogie zu Lacan als ein „Puffer“ (S. 104) zwischen Individuum und ‚Reales‘, das Lacan als die unsignifizierbare, vor-sprachliche ‚Realität‘ bezeichnet. Diese Distanz zwischen der symbolischen Ordnung und dem ‚Realen‘ lässt keine Einheit, Ganzheit und Autonomie des Subjektes zu, die durch die Sprache verschleiert werden. Die Subjektwerdung beschreibt Jacques Lacan als Prozess des 25 B. Schaller-Fornoff: Novelle und Erregung, S. 52. Laut Schaller-Fornoff implementiert die Novelle Kleebergs mit den Briefen ästhetische und stilistische Traditionen der Literatur des 18. Jahrhunderts, die bei Kleeberg als Kommunikationsmedium unzugänglich geworden sind. 26 J. Butler: Psyche der Macht. 27 Pagel, Gerda: Lacan zur Einführung, Hamburg 1991, S. 55-56.

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Verfehlens, der den Spracherwerb und die Existenz in der Sprache voraussetzt. Die einheitliche und unabhängige Ich-Identität ist ein imaginäres Produkt der Sprache, da sie „auf dem Trugbild“28 des Signifikaten beruht, während sie lediglich ein Effekt der Signifikanten ist. Alle sprachlichen Begriffe erscheinen als Substitut des Phallus, der am Anfang des Spracherwerbs selbst als ein Phantasma konstituiert wird, um den Mangel am Sein, der durch den Symbolisierungsprozess entsteht, zu füllen: „Jede symbolische Identität, die ich mir erwerbe, ist letztendlich nichts als ein supplementäres Merkmal, dessen Funktion darin besteht, diese Leere auszufüllen.“29 Diese Leere der Sprache wird mehrmals in der Novelle zum Ausdruck gebracht: „Was immer er tat oder ihm zustieß, kam aus Worten und endete in Worten, Angst, Lust, Trauer, Leidenschaft.“ (S. 103) Die Sprache domestiziert das Subjekt, wie die Metapher des „Pawlowschen Hundes“ zum Ausdruck bringt: „Schließlich war er ein Pawlowscher Hund geworden, der nicht auf Nahrung, sondern auf Worte reagierte.“ (S. 103) Kleeberg greift außerdem das zum Topos gewordene Bild des Dichters als Hund seiner Zeit auf,30 das auch andere Autoren der Körperliteratur zum Thema machen. In Durs Grünbeins31 Sammlung Schädelbasislektion (1991) findet man einen Gedichtzyklus unter dem Titel Portrait des Künstlers als junger Grenzhund, den der Autor dem Andenken an Pawlow und alle Versuchshunde widmet; in dem Roman Nox (1995) von Thomas Hettche wird ein Grenzhund zum Erzähler von Urmythen. Der Dichter als Hund spürt in Barfuß nicht historische Ereignisse oder Mythen wie bei Hettche auf, sondern bleibt in der symbolischen Ordnung verfangen und legt dadurch die Selbstreferenzialität der symbolischen Strukturen frei: „Das Leben in Wörtern spielte sich auf einer Vorbühne ab, vor einem Gazevorhang, dahinter kochten die Taten, eine ungleich blutigere, grausamere Szene, die nichts mit der vorderen gemein hatte. Ein Wort war ein Zeichen, man reagierte darauf mit anderen Zeichen, und je ziviler die Konversation, desto weniger bedeuteten diese Zeichen außer sich selbst.“ (S. 20) Der Humanismus ist nach Kleeberg – so verdeutlicht dieses Zitat – lediglich in der symbolischen Ordnung und in abstrakten Kommunikationssystemen angesiedelt und daher eine Illusion, jenseits derer Zerstörung und Gewalt herrschen.

28 Ebd.: S. 51. 29 Žižek, Slavoj: Otto Weininger oder „die Frau existiert nicht“, in: ders.: Metastasen des Genießens. Sechs erotisch-politische Versuche, Wien 1996, S. 61-94, hier: S. 69. 30 F. Schößler: Mythos als Kritik, S. 179. Franziska Schößler weist darauf hin, dass das Motiv des Dichters als Hund eine Tradition hat, die sie am Beispiel von Elias Canettis Überlegungen über den Dichter zeigt. 31 Grünbein, Durs: Schädelbasislektion, Frankfurt am Main 1996.

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Ökonomisierung der Sprache Die Sprache produziert bei Kleeberg auf der einen Seite den schönen Schein, der dem Subjekt Glück, Erfolg, Liebe und vor allem eine sichere Existenz verspricht. Auf der anderen Seite enthüllt die Novelle die bürgerliche Gesellschaft als eine rassistische und ungerechte Ordnung. An jenem Vormittag, an dem er sich für eine alternative Existenz entscheidet, erlebt K. den alltäglichen Rassismus und die erniedrigende Armut, erfährt die Diskontinuität der symbolischen Ordnung als körperliches Trauma. Erst wird K. ein Zeuge der ungerechten Beschimpfung eines arabisch aussehenden Paars im Café. Später in der U-Bahn wird er mit der Hilflosigkeit des Subjektes in der kapitalistischen Ökonomie und den Ungleichheiten der symbolischen Ordnung konfrontiert. Er beobachtet eine ganze Familie, dann einen arbeitsfähigen Mann, Mitte 30, beim Betteln (S. 96). Die hierarchische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft wird bei Kleeberg durch die Verquickung von Sprache und kapitalistischer Ökonomie aufgebaut, so dass alles, was die Sprache hervorbringt, sich entweder als Ware oder als Gewinn entpuppt. Die Sprache sichert allen Figuren, die mit der Sprache arbeiten, eine solide Existenz. Selbstreflexiv beschreibt die Novelle die Sprache mithilfe eines ökonomischen Vokabulars, so dass K.s Sprachrealität eng mit der kapitalistischen Ökonomie verbunden erscheint: „[…] sie [die Wörter; Anm. d. Verf.] waren Scheinwährung, Papiergeld; es war elegant, in Wörtern zu leben, praktisch und ungefährlich.“ (S. 20) Es wird eine Analogie zwischen Sprache und Ökonomie hergestellt, beides abstrakte Systeme, die die zwischenmenschliche Kommunikation als Tauschprozess regulieren. Die Wörter werden „Papiergeld“ genannt, als „Scheinwährung“ abgewertet, sie zirkulieren analog zum Geld, fungieren jedoch immer nur als ein Substitut der ‚realen‘ Ware beziehungsweise der ‚realen‘ Arbeit und Taten. Das männliche Subjekt wird in dieser ökonomischen Sprachwelt nicht nur eingeschlossen, sondern nimmt an der kapitalistischen Ökonomie aktiv teil, da es als handelndes Subjekt die Verquickung von Sprache und Ökonomie fortschreibt. Arthur K. erfüllt entsprechend die Gebote des bürgerlichen Leistungsethos. Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft wird der Körper laut Michel Foucault32 durch feine Machttechniken domestiziert und diszipliniert, um einen effizienten und brauchbaren Arbeitskörper zu erschaffen. Das Leistungsethos gehört zu den zentralen Merkmalen einer bürgerlichen Männlichkeit, so dass K. durch Arbeit zu einem ‚wahren‘ Mann und disziplinierten Bürger wird: „Heute war es Disziplin“ (S. 93). K. versteht unter dieser Disziplin den Sport – eine zivilisatorische Domestikations- und Perfektionsstrategie des Körpers –, mit dessen Hilfe er der masochistischen Versuchung Widerstand leisten kann. Durch seine Arbeitsleistung sichert sich K. einen hohen sozialen Status in der Gesellschaft und die 32 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 176-177.

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damit verbundenen materiellen Vorteile. Sein bürgerliches Mannsein besteht aus Wohnungsschlüssel, Ausweis, Kreditkarten und Schuhen (S. 130). Dennoch stellt die Novelle ihren Protagonisten im System der kapitalistischen Ökonomie, in dem er doch erfolgreich ist, weder als Schöpfer noch als Künstler dar. Seinen Traum, Schriftsteller zu werden, verwirklicht K. nicht; die ökonomische Ordnung schränkt dieses Begehren ein, da er seiner „Brotarbeit“ (S. 31), dem Job in der Agentur, nachgeht. Stattdessen wird er ein erfolgreicher Werbetexter, der die Sprache für ökonomische Interessen einsetzt und die Ökonomisierung der Sprache vorantreibt. So stellt sich K. seine Zukunft als „Erfolgsmensch, Ehemann, Vater, Großvater, Hausbesitzer, Kapitalist, im Maßanzug, mit Chauffeur, mit Landhaus, mit Reden […]“ (S. 99) vor. Diese Reihe von bürgerlichen Männlichkeitsentwürfen sieht kein Künstlertum vor, das symbolische Ordnung modifizieren könnte. Was K. an seiner Arbeitsstelle verrichtet, ist zwar eine künstlerische Tätigkeit, jedoch hat seine Kreativität einen parasitären Charakter, die die Sprache zugunsten des ökonomischen Profits ‚korrumpiert‘. Diese Prozedur wird als ein „Entwurzeln“, „Umpflanzen“ und „Begießen“ der Bedeutungen auf ökonomischem Boden bezeichnet (S. 62). Die Begriffe beziehen sich zwar auf die biblische Schöpfungsgeschichte, da der Garten Eden als erster göttlicher Ort der Menschheit und Gott als ‚Gärtner‘ fungiert, jedoch schafft K. nichts Neues, sondern stellt semantische Beziehungen zwischen Liebe, Körper und der geschäftlichen Welt der Unternehmen, Banken und Waren her (S. 62-63). Auf diese Weise wird bei Kleeberg alles, was die Sprache ausmacht, zur Ware. Das Sprachsubjekt, das die Kontinuität der bürgerlichen, profitorientierten Ordnung sicherstellt, ist nur ein „Kapitalist“ und „Geschäftsmann“. Zugleich erlaubt die Überlagerung von kapitalistischer Ökonomie und Sprache, die ‚Verhaftung‘ des Subjektes in der Sprache zu demonstrieren, die hauptsächlich als ‚Gefangenschaft‘ in der ökonomischen und bürgerlichen Existenz versinnbildlicht wird. Am prägnantesten ist die Szene, in der ein Versicherungsagent die 9000 „abzusitzende[n] Gefängnistage“ (S. 99) – so werden die Arbeitstage genannt – bis zur Rente von Arthur K. zählt, die diesem, falls er die Versicherung abschließt, im Alter 1,6 Millionen Francs sichert. K.s ‚Verhaftet-Sein‘ demonstriert Daniel in einer weiteren Szene, in der er K. ohne die Symbole der männlichen Identität – Schlüssel, Geld, Kreditkarten und Schuhe – in seiner eigenen Wohnung einsperrt, ohne ihn einzuschließen, Ausdruck seiner freiwilligen Verhaftung in der bürgerlichen Existenz. Diese Szene bezieht sich auf den Anfang des Romans Der Prozess von Franz Kafka. Während der Protagonist Josef K. bei Kafka in seinem eigenen Zimmer von zwei Herren verhaftet wird, manifestiert sich K.s Verhaftung bei Kleeberg als Abhängigkeit von der Ökonomie. K. wird als „gefangen in der Wohnung“ (S. 131) dargestellt, da er diese ohne Schlüssel und Schuhe nicht verlassen und sich ohne Geld kein Essen besorgen kann. Die Szene demonstriert bei Kleeberg die Abhängigkeit des Subjektes vom bürgerlichen Besitztum; gleichzeitig wird die Ohnmacht des Subjektes gegen-

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über der Sprache freigelegt, da die Wohnung K.s als räumliches Sinnbild für seine sprachliche Identität gelesen werden kann.33 K. besitzt die Wohnung nicht, das heißt seine Sprachidentität erscheint als eine ihm nicht gehörende und ‚entliehene‘ Konstruktion. Mythisierung des männlichen Subjektes Das männliche Sprachsubjekt erscheint bei Kleeberg buchstäblich als ein literarisches Produkt, das aus dem Spiel mit Traditionen, Motiven und Mythen hervorgeht und durch sie zerstört werden kann. Die Novelle Barfuß mobilisiert Mythen und literarische Topoi des Männlichen, um K.s Identität zu unterminieren. Dabei wird der Mythos als Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und der Sprache eingesetzt – eine Strategie, die auch bei anderen Literaten zu beobachten ist. Nach Franziska Schößler kann der „‚Mythisierung‘ erzählerischer Stoffe kritisches Potenzial zukommen“, wenn sie „zeitgenössische gesellschaftspolitische Entwicklungen einer Kritik unterzieht.“34 Im Namen des Mythos kann insbesondere eine „Absage an das autonome Subjekt aufklärerischer Provenienz, an Vernunft und Geist“ formuliert werden,35 die auch das zentrale Thema der Novelle Barfuß darstellt. Arthur K. rebelliert gegen die bestehende Sprachordnung: „Es galt, ganz einfach von vorn zu beginnen, die Welt von der Sprache zu trennen, einen Stein von dem Wort, das ihn bezeichnete, unterscheiden zu lernen, gegen ihn zu treten, um im unliterarischen Schmerz die Realität zu spüren.“ (S. 103) K.s Ziel ist das „Durchstoßen zum Realen“ (S. 103), das sich „jenseits der Konventionen“ (S. 57) befindet. Nach Lacan liegt das ‚Reale‘ jenseits semiotischer, imaginärer oder symbolischer Kategorien: Es ist „das, was ist – minus dessen Repräsentanz, Beschreibung oder Interpretation.“36 Die Erfahrung des ‚Realen‘, die nach Slavoj Žižek37 durch bestimmte Strategien erreichbar ist, ermöglicht den Aufbau einer Distanz zum symbolischen Universum beziehungsweise das Herausfallen aus dem symbolischen Netzwerk.

33 Vgl. Würzbach, Natascha: Raumdarstellung, in: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart; Weimar 2004, S. 49-71, hier: S. 55-58. 34 F. Schößler: Mythos als Kritik, S. 171. 35 Ebd. 36 Zitiert nach E. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 81. 37 Žižek, Slavoj: Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln 1993. Žižek zeichnet bei der Analyse des literarischen Schreibens, der politischen Praxis und auch der Filme nach, wie durch bestimmte Akte der „‚normale‘, von der performativen Autorität des Namens-des-Vaters garantierte intersubjektive Raum“ unterminiert und dadurch die ‚unmögliche‘ Freiheit im ‚Realen‘ erreicht werden kann.

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Die Novelle Kleebergs sucht das ‚Reale‘ am und im Körper, indem sie die Symbolisierungsprozesse als „Ermordung des Körpers“ nachahmt.38 Da die symbolische Ordnung traditionell eine patriarchalische Ordnung ist, reproduziert die Novelle den Ödipusmythos und macht ihn zugleich rückgängig, um das ‚Reale‘ zu erreichen. In Analogie zu Franz Kafka, der in seinen Texten nach Deleuze und Guattari39 das ödipale Dreieck vervielfältigt, schildert die Novelle Barfuß die durch Sprache und Ökonomie organisierten Macht- und Identitätsstrukturen als ödipale. Sowohl das Pseudonym von K., „Barfuß“, als auch seine Passion, barfuß zu gehen, verweisen auf den Namen Ödipus, der unter anderem mit „Schwellfuß“ übersetzt wird. Zum Schluss der Novelle werden K.s Füße, analog zum Mythos, durchstochen, was in der antiken Erzählung gleich zu Beginn geschieht. Wie im Ödipusmythos wird bei Kleeberg Arthur K.s Ehefrau zu seiner Mutter: Zum einen hat K. Fantasien, das Kind seiner Ehefrau zu sein, was auf inzestuöses Begehren hindeutet: „Manchmal überraschte er sich dabei, zu wünschen, er sei das geborgene Kind in ihrem Schoß […].“ (S. 85) Die Geschichte erstreckt sich dementsprechend von der Empfängnis eines gemeinsamen Kindes bis zu dessen Geburt; diese Zeit der Schwangerschaft, der Entwicklung/ Entstehung seines Kindes, wird zur Zeit der Anti-Entwicklung beziehungsweise Auflösung von K. Zum anderen lässt sich die Beziehung zwischen K. und seiner Frau als Herr-Knecht-Verhältnis beschreiben, das nach Lacan auch die Mutter-Kind-Dyade im Spiegelstadium charakterisiert.40 K. dominiert seine Frau, so dass sie durch ihn definiert wird: Seine Frau hat in der Novelle keinen eigenen Namen, keine Identität und keinen sozialen Status; sie wird als Besitz von K., als „seine Frau“ bezeichnet. Zugleich zeigt er eine gewisse Abhängigkeit von ihr, indem er von ihr Rettung vor der Verführung erwartet: Für K. „[…] wurde seine Frau zu einer Macht.“ (S. 85) Der Sadist Daniel wird zum symbolischen Vater, der in Analogie zu Laios seinem Sohn die Füße durchsticht und in Analogie zum christlichen Gott seinen Sohn persönlich kreuzigt. Daniel ist durch sein Alter für die Rolle als K.s Vater geeignet. Er befiehlt K., ihn „Herr“ zu nennen (S. 130), was sowohl die Machtposition Daniels zum Ausdruck bringt als auch auf den christlichen Gott referiert. Im Hebräischen heißt der Name des biblischen Propheten Daniel „Der Richter ist Gott“, so dass seine Figur bei 38 E. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 52. In Anlehnung an Lacan fundiert Bronfen, „daß der Ursprung der Sprache und Subjektivität auf Verlust gründet, auf der sinnbildlichen ‚Ermordung‘ des Körpers, des Soma, des Dings, des Realen; denn Repräsentation gründet auf der Abwesenheit eines Referenzobjekts.“ 39 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt am Main 1976. 40 Lacan betont, dass die Beziehung zwischen Mann und Frau völlig vom Imaginären beherrscht ist, das die Beziehung zwischen Kind und Mutter im Spiegelstadium prägt. Einerseits ist das Kind omnipotent, andererseits ist es von der Mutter, die auch für das Kind Spiegel ist, abhängig und braucht ihre Anerkennung.

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Kleeberg zur Verkörperung der strafenden Vater- und Gottfigur wird, die als Richter das Gesetz vollzieht. In Bezug auf Arthur K. wird nur einmal dessen leiblicher Vater erwähnt. Die Figuren sind in der Novelle generell mutterlos. Darauf, dass Daniel das symbolische Vatergesetz verkörpert, weist auch seine Funktion als Sadist hin. Er steht für das Über-Ich, das nach Gilles Deleuze41 beim Sadisten stark ausgeprägt ist. Als Professor für Philosophie setzt er sich kritisch mit Immanuel Kants Ethik und mit dem Existentialismus auseinander. Beide philosophischen Ansätze fordern ein ‚autonomes‘ Subjekt und lassen sich mit der Philosophie Donatien Alphonse François Marquis de Sades in Zusammenhang bringen – einige Theoretiker des 20. Jahrhunderts setzen den Marquis de Sade und Kants Philosophie miteinander in Verbindung, da Kants moralischer Imperativ als Negation des Anderen interpretiert werden kann.42 Die Novelle schließt offensichtlich mit der Figur Daniel, der gemäß den postrukturalistischen Ideen das Subjekt der Unterwerfung buchstäblich hervorbringt, an diese Kritik der Aufklärung an. So schreibt Daniel seine Aufsätze zu Kant, um zu zeigen, dass die Aufklärung „konsequent in eine bewußte Inhumanität münde.“ (S. 138) Existentialisten – die Novelle erwähnt die Namen Sartre und Camus – propagieren die Freiheit des Subjektes und rezipieren Werke von de Sade, da sie die Freiheit auch in der Überschreitung der Normen sehen. Die Figur Daniel ist also einerseits der aus dem Werk von de Sade entsprungene Sadist, da sich nach Slavoj Žižek der Sadesche Held als ein „blasser, kaltblütiger, der echten Fleischeslust entfremdeter Intellektueller, ein Sklave des amor intellectualis diaboli“ darstellt, der die „rationale Zivilisation“ und die „Konsequenzen ihrer Logik zu Ende denkt und austrägt.“43 Andererseits erscheint Daniel als etwas Mechanisches und Entindividualisiertes, da er in der Novelle kaum konkretisiert wird. Arthur K. „dachte nicht: Jemand tut etwas mit mir, sondern: Es geschieht mir etwas. Er lebte im ausschließlichen selbstbezogenen Passiv. Daß ein zusätzliches Element, Mensch oder Vehikel, vonnöten war 41 G. Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: L. von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, S. 163-281. 42 Die These geht zurück auf Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Juliette oder Aufklärung und Moral, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, S. 93. Vgl. Lacan, Jacques: Kant mit Sade, in: ders.: Schriften II, Olten; Freiburg im Breisgau 1975, S. 133-163. Lacan kehrt das Verhältnis zwischen Kant und de Sade um, wie Slavoj Žižek festhält: „Nicht Kant ist ein heimlicher Sadist, sondern Sade ist ein heimlicher Kantianer!“ (S. 30) Slavoj Žižek widerlegt aber zum Schluss seiner Überlegungen die Thesen von Horkheimer/Adorno und Lacan: „In radikalsten Ausprägung ist die Kantsche Ethik also nicht ‚sadistisch‘, sondern im Gegenteil genau das, was uns verbietet, die Position des sadistischen Henkers einzunehmen.“ Vgl. Žižek, Slavoj: Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, S. 51. 43 S. Žižek: Liebe deinen Nächsten? S. 28.

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für den mechanischen Ablauf dieser Erfahrung, war Nebensache.“ (S. 58) Daniel erscheint als Instrument für K.; er verkörpert die Idee der Unterwerfung oder gar die strukturelle Gewalt der symbolischen Ordnung, die mit der Vaterfigur oder mit der Über-Ich-Instanz assoziiert wird.

H EILIGE M UTTER

UND MECHANISCHE

F RAU

Während Daniel die symbolische Ordnung als Idee, als Struktur repräsentiert, verkörpern die Frauenfiguren in der Novelle traditionellen Weiblichkeitszuschreibungen entsprechend Wünsche und Ängste von K., die auf das Weibliche projiziert und abgespalten werden: „Die Frau repräsentiert schließlich die Grenzen, die Ränder oder Extreme der Norm – das extrem Gute, Reine und Hilflose oder das extrem Gefährliche, Chaotische und Verführerische.“44 Die Frauenfiguren vergegenwärtigen für K. ein heiliges Mutterbild (K.s Ehefrau), den Freiheitswunsch (Ophelia) oder die repressive Kulturordnung (die Tante von K.s Ehefrau und Madeleine). Die Sprache wird zwar von Männern produziert und stellt sich als eine männliche Domäne dar, wird jedoch durch das Weibliche zum Ausdruck gebracht. Die Novelle Barfuß stellt die Produktion der symbolischen Ordnung als männlich codierte, mechanische, leere, profitorientierte Ordnung der weiblichen biologischen Reproduktionsfunktion gegenüber. Daher werden die Frauenfiguren, die keine Kinder haben, also die ‚natürliche‘ Reproduktionsfunktion nicht erfüllen können, dem Topos entsprechend als Sprechmaschinen dargestellt, die Sprachmonotonie produzieren. Die Tante von K.s Ehefrau wird zu einer solchen Maschine, die das leere, mechanische Sprechen – dem misogynen Bildrepertoire des Weiblichen analog – versinnbildlicht: „Jedes bedrohende Vakuum füllte sie mit ihren Worten, die keiner Antwort bedürften, höchstens einiger eingestreuter Stichworte; ein So? ein Aha genügten, die Maschine, wenn sie ins Stocken geriet, wieder anzuwerfen.“ (S. 119) Dieses Bild der Frau lässt sich auf den Anfang des 20. Jahrhundert zurückführen, als mit dem technischen Fortschritt und der Industrialisierung die Frau als Maschine in der Kunst und Literatur imaginiert wird.45 Diese mechanische symbolische Ordnung ist bei Kleeberg eine kastrierende Ordnung, wie die Figur Madeleine zum Ausdruck bringt. Madeleine inszeniert die symbolische Kastration von K. (S. 139), die nach Lacan den Spracherwerb voraussetzt, da der Symbolisierungsprozess den Verzicht auf die Materialität beziehungsweise auf den Mutterkörper erzwingt. So verbindet die Sadistin Madeleine sexuelle Macht mit der kulturellen und vor allem 44 E. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 263. 45 P. Weibel: Masochismus, in: ders., Phantom der Lust, Bd. 2, S. 18-47. Peter Weibel führt mehrere Beispiele aus Film, bildender Kunst und Literatur vor, die eine „maschinisierte, technoide Frau“ (S. 18) repräsentieren.

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symbolischen Macht. Madeleine ist die Chefredakteurin eines Frauenmagazins. Darüber hinaus versinnbildlicht sie mit ihrem Namen, der auf eine bekannte Modemarke referiert, die Maskerade der Sprache und deren trügerischen, illusorischen Charakter. Als Chefredakteurin eines Frauenmagazins verkörpert sie die profitorientierte, ökonomische Sprache, die sich als konstitutiv für die bestehenden Geschlechterdifferenzen erweist, da das Frauenmagazin als Produktionsmedium leitender kultureller Weiblichkeitsbilder fungiert. K. wird bei Madeleine, die ihn von Daniel ‚ausleiht‘, zur mechanischen Puppe: Sie „bediente sich seiner wie einer Puppe, eines mechanischen Spielzeugs, eines Instrumentes […].“ (S. 140) Das Subjekt, das mit der symbolischen Ordnung konform ist, wird zu einem mechanischen Automaten ohne freien Willen, was an der Figur des alten Nachbarn Emil deutlich wird. Er verbringt sein Leben als ohnmächtiges Subjekt, das die Industrie, Symbol für urbane und technisierte Zivilisation, zu einer zu einer hilflosen, leeren Figur degradiert. Er wird zur Zukunftsvision für K. Der alte Emil hat zusammen mit seiner Frau sein ganzes Leben lang in einer Fabrik am Fließband gearbeitet, ohne sich eine Änderung zu wünschen. Er verweist darüber hinaus auf den Protagonisten Emil der Novelle Ginevra (1890) von Ferdinand von Saar, auf die im Übrigen auch der Name des am Ende der Novelle geborenen Kindes von K. hinweist. In Ginevra verweigert Emil wegen seiner „Schwäche“ – so die Novelle Saars46 – die bürgerlichen Konventionen wie beispielsweise die bürgerliche Ehe, da er in seinem Begehren nicht nachlässt: Er hat sein ganzes Leben hindurch ein Verhältnis mit einer verheirateten, etwas älteren Frau – einer Imagination der phallischen Frau. Die Novelle Barfuß entwirft für Emil ein glückliches Ende als verheirateter, bürgerlicher Mann, der aber durch die industrielle Produktion mechanisiert und ausgehöhlt wird. Während die Novelle Ginevra dem ‚schwachen‘ Mann das Glück versagt, lässt die Novelle Barfuß umgekehrt das bürgerliche Glück insofern als ‚Schwäche‘ erkennen, als dass die bürgerliche Existenz für den Mann ein monotones und statisches Leben bedeutet. Die ‚Natur‘, die K.s Ehefrau verkörpert, wird dieser mechanischen, kapitalistischen Ordnung – Madeleine – gegenübergestellt. Die kulturelle Produktion erzielt einen ökonomischen Gewinn, während die ‚biologische‘, weibliche Produktion eine Verausgabung ist, die von der symbolischen Ökonomie nicht erfasst werden kann. K.s Ehefrau hat keine Verbindung zur Sprache, da sie im Gegensatz zu den anderen Figuren weder mit Sprache arbeitet noch Geld damit verdient. Sie hat daher keinen Platz in der Sprachordnung, ist nicht intelligibel, insofern sie keinen Namen hat. Kleebergs Novelle bedient sich dabei des bekannten Topos Weiblichkeit/Natur: K.s Ehefrau befindet sich die meiste Zeit in der ‚Natur‘, auf dem Lande und entfernt von der Zivilisation. Am Ende der Novelle wird die Ehefrau durch den 46 Saar, Ferdinand von (1890): Ginevra, Wien 1985, S. 130. Emil meint sich selbst, wenn er sagt: „Unglücklich sind allein die Schwachen.“

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Mutterstatus geheiligt: Der Taxifahrer, der K.s Ehefrau zum Krankenhaus fährt, wird von „Bewunderung“, „Anziehung“ und sogar einer Art des „Neides“ auf K.s Ehefrau ergriffen (S. 147). Die Novelle thematisiert hier analog zu Süskinds Das Parfum den männlichen Gebärneid auf die weibliche Reproduktionsfähigkeit, ohne jedoch die Frau beziehungsweise die Natur um der Kunstproduktion willen zu vernichten.47

D AS ‚R EALE ‘

ALS

T HEATER

Durch die Mythisierung des Geschehens wird der Körper zum Sinnbild für die nicht-sprachliche ‚Wirklichkeit‘ und für das ‚Reale‘ jenseits des Signifizierungsprozesses. Das ‚Reale‘ und die ‚Wirklichkeit‘ entpuppen sich jedoch letztendlich als literarische Urmythen des Männlichen – wenn ein Mythos abgelehnt wird, folgt anstelle des alten Mythos ein neuer. Auch in den Studien von Slavoj Žižek ist das Erreichen des ‚Realen‘ nur als künstlerische oder literarische Fantasie möglich, da er die Erfahrung des ‚Realen‘ in Filmen, Literatur und philosophischen Texten findet. Die subversiven Strategien des Sadismus und des Masochismus, die es bei Kleeberg ermöglichen, das ‚Reale‘ zu erreichen, erscheinen ebenfalls als literarisches Produkt; beide Begriffe stammen aus den literarischen Werken der Schriftsteller Marquis de Sade und Leopold von Sacher-Masoch und werden erst von dem Sexualpathologen Richard von Krafft-Ebing in seiner Studie Psychopathia Sexualis (1886) als Fachbegriffe verwendet. Die ‚Realität‘ erscheint bei Kleeberg darüber hinaus nicht einfach literarisch, sondern auch theatralisch. Darauf weisen das Genre Novelle, dessen Struktur dem Drama ähnelt, sowie die Inszenierung der Urmythen und des Masochismus hin. Letztendlich lassen Sprache und ‚Realität‘ schon in der folgenden Passage etwas Theatralisches erkennen: „Das Leben in Wörtern spielte sich auf einer Vorbühne ab, vor einem Gazevorhang, dahinter kochten die Taten, eine ungleich blutigere, grausamere Szene, die nichts mit der vorderen gemein hatte.“ (S. 20) Die symbolische Ordnung erscheint als eine „Vorbühne“ zur ‚richtigen Realität‘, die ein Theater, also eine Hauptbühne, ist. Die Novelle unterwandert durch die theatralische Semantik K.s Streben nach dem ‚Realen‘ jenseits der symbolischen Ordnung. Ophelia, die in der Novelle für Tod und die Freiheitsidee steht, ist eine Figur aus dem Theater, 47 Im Zusammenhang mit der Ehefrau von K. werden immer wieder Katzen erwähnt, die in der ägyptischen Mythologie als Fruchtbarkeitsgöttinnen und Beschützerinnen der Schwangerschaft verehrt werden. Des Weiteren werden die Katzen in der Novelle mit Triebhaftigkeit assoziiert (S. 77-79), die ebenfalls mit Weiblichkeit als etwas ‚Natürliches‘ und ‚Instinkthaftes‘ in Verbindung gesetzt wird. Die Katzen sterben in der Novelle Barfuß aber meistens, was als Signifikant der Abtötung der ‚biologischen‘ Reproduktion und Materialität zugunsten des Symbolisierungsprozesses und der Kulturproduktion gelesen werden kann.

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so dass das Streben nach Freiheit und einem authentischen Dasein jenseits der Sprache als Fiktion erscheint. Ophelia wird zwar zum Zeichen für die Diskontinuität und die Bruchstellen der symbolischen Ordnung, jedoch legt sie die Totalität der symbolischen Ordnung frei, in der Freiheit nur als Theaterspiel möglich ist. Selbst der Lustmord, der nach Martin Lindner48 als Anti-Text fungiert, da er die Diskontinuität des kulturellen Sinngeflechts erfahrbar macht und daher bei Kleeberg als Repräsentant des ‚Realen‘ verstanden werden kann, stellt sich in der Novelle Barfuß höchst theatralisch dar. Die Konstruktion des Lustmordes erscheint durch intertextuelle Referenzen zu biblischen und antiken Mythen und zu Kafkas Der Prozess als ein literarisches Konstrukt. Bei Kleeberg begegnen „Daniels Augen einem Ausdruck der Verzückung [im Blick K.s; Anm. d. Verf.], der jenem das Signal gibt: Er holt aus und bohrt das Messer unter der linken Brustwarze tief in den blutverschmierten gemarterten Körper […].“ (S. 146) Bei Kafka heißt es: „Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte.“49 Die Novelle Barfuß stellt die Freiheitsidee, den Tod und den Lustmord als ein Konglomerat aus literarischen Intertexten dar. Es lässt sich also feststellen, dass das Vatergesetz beziehungsweise die Sprache nicht nur totalitär ist, sondern das Jenseits der Sprache, das so genannte unsignifizierbare ‚Reale‘, entpuppt sich als eine literarische und künstlerische Fantasie. Die einzige subversive Strategie gegenüber der bürgerlichen, starren Sprachexistenz, erscheint bei Kleeberg als theatralische Re-Inszenierung und Subversion von Mythen und Taten. Das Theatralische ermöglicht das von K. ersehnte Handeln: Das Theater überführt die Worte ins Körperliche; der literarische Text auf der Bühne wird buchstäblich verkörpert, indem das Wort wie in der Bibel zu ‚Fleisch‘ und zur Tat wird. Dieser Zeugungsprozess beginnt mit einem „Sich-gehen-Lassen“ (S. 13), währenddessen sich das Subjekt auf das Spiel der Signifikanten einlässt, auf alles Sichere und Fixe verzichtet und sich im Spielerischen und Theatralischen auflöst. So schildert die Novelle das Spiel mit den Identitäten im Chat des Minitels (ein dem Telefon ähnlicher Apparat für die Kommunikation über Textnachrichten): „Es war die Freiheit der Könige: absolute Mißachtung der existierenden Menschen hinter den aufblinkenden Worten. Und das Erotische: daß man selbst ein Nichts war, ein Dreck, angesprochen und begutachtet wurde, verworfen. Jeder für sich, die gesunde höchst moderne Atomisierung der Menschheit. Niemand besaß einen Wert, ein spezifisches Gewicht, jeder war der abstrakte Erfüllungsgehilfe der anderen. Jeder benutzte jeden für seine private, autistische erotische Phantasie.“ (S. 104) Die 48 M. Lindner: Der Mythos ‚Lustmord‘, in: J. Lindner, Verbrechen – Justiz – Medien, S. 272. 49 Kafka, Franz: Der Prozess, Berlin 1965, S. 272. In Der Prozess findet der Mord an Josef K. mit seinem Einverständnis statt wie bei Arthur K.

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Illusion des autonomen Subjektes wird im Signifikantenfluss und -austausch überschritten. Darüber hinaus leugnet das Subjekt nicht mehr seine Unterwerfung durch die Sprache. Daraus folgt, dass die Novelle Barfuß nicht die Existenz des Subjektes jenseits der symbolischen Ordnung darstellt, sondern die Auflösung seiner starren Identität in der Sprache. Als Mittel dafür dienen die subversiven Strategien der Maskerade und des Masochismus. Männlichkeit als Maskerade Das Theater und das Theatralische werden in der Novelle Barfuß zur Überschreitung der patriarchalischen, symbolischen Ordnung funktionalisiert, also um männliche Identität aufzulösen. Das Theater eignet sich für diese Identitätsauflösung in besonderem Maße, denn es suspendiert die bestehenden Normen und ist nach Foucault50 neben „anderen Räumen“ heterotopisch, befindet sich zwar innerhalb einer Kultur, macht jedoch ihre Konventionen, Regeln und Vorstellungen ungültig. Die Entfernung aus der bürgerlichen Existenz beginnt für K. mit einer virtuellen Realität im Chat, das ein „Maskenball“ genannt wird, weil allen Teilnehmern eine „Verkleidungspflicht“ auferlegt ist (S. 18). Die virtuelle Realität suspendiert die festen Identitäten, indem sie diese auf ihre Funktion als Signifikanten reduziert. Die Namen und Identitäten im Chat sind austauschbare Zeichen wie Masken, die für das Theater charakteristisch sind, und diese Medien lösen in Kleebergs Novelle die bürgerliche männliche Identität auf,51 indem sie als substanzlos und nicht einheitlich enthüllt wird. Darüber hinaus ist die Schauspielkunst traditionell weiblich konnotiert, so dass laut Christine Künzel auch männliche Schauspieler abwertend verweiblicht werden: „So stellt der Schauspieler – mindestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – ein Gegenbild zum traditionellen Konzept von Männlichkeit dar. Der Beruf des Schauspielers repräsentiert das ‚Widermännliche‘. Männer, die diesen Beruf ergreifen, werden als ‚verweiblicht‘ dargestellt – oft die verkappte Unterstellung einer homosexuellen Neigung.“52 K. eignet sich zudem das Pseudonym „Barfuß“ an, das auf seine Ex-Geliebte Ophelia zurückgeht. Über diese Referenz wird seine Männlichkeit mit dem Theater und Weiblichkeit verknüpft. Die Schauspielerin Ophelia spielt ihre 50 M. Foucault: Die Maschen der Macht, in: ders., Schriften, Bd. 4, S. 224-244. 51 Vgl. C. Benthien/I. Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. 52 Künzel, Christine: „Die Kunst der Schauspielerin ist sublimierte Geschlechtlichkeit“: Anmerkungen zum Geschlecht der Schauspielkunst, in: Pailer, Gaby/ Schößler, Franziska (Hg.): GeschlechterSpielRäume, Amsterdam 2011, S. 241254. Christine Künzel hebt mehrere Aussagen von männlichen Philosophen, Denkern und Literaten über den „weiblichen“ Charakter der Schauspielkunst im 19. und 20. Jahrhundert hervor, die der Frau einen „schauspielerischen Instinkt“ (Nietzsche) zuschreiben. Besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Schauspielkunst als spezifisch weiblich gefeiert.

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Rolle der Ophelia in Shakespeares Hamlet barfuß, um ihre Opferposition von Anfang an sichtbar zu machen. Gleichzeitig ist Ophelia in der Novelle aber auch ‚Zigeunerin‘. „Die fatale Freiheit ihrer Zigeunersitten“ (S. 24), die Ophelia bei Kleeberg zugeschrieben wird, deutet auf die Mannigfaltigkeit ihrer Identitäten hin. Ophelia als Schauspielerin und sogenannte ‚Zigeunerin‘ versinnbildlicht Weiblichkeit als Maskerade – ein Topos, der der Frau Ende des 19. Jahrhunderts eine feste Identität und einen fixen inneren Kern abspricht. Der literarische Topos der Zigeunerin impliziert darüber hinaus, frei von zivilisatorischen Zwängen zu sein, so dass sie, mit Lacan gesprochen, der phallischen Ökonomie des Begehrens nicht völlig unterworfen ist. Ophelias Promiskuität macht sie in Analogie zu der bekannten ‚Zigeunerin‘ Carmen zu einem Symbol der Freiheit, das die Illusion der Ganzheit des männlichen Subjektes durch den Wechsel der Liebhaber zerstört.53 „Er [Arthur K., Anm. d. Verf.] hörte dann schnell, […] dass Ophelia sich mehr oder minder wahllos hingebe […]“ (S. 22). Das Weibliche wird, einem klassischen Topos entsprechend, als „Theatralisches und Nicht-Identisches“ gefasst, das auf das männliche Subjekt mit dem Pseudonym „Barfuß“ übertragen wird und ein Cross-Dressing der Identitäten ermöglicht.54 Gleichzeitig erscheint Ophelia als Projektion von K.s Freiheitswünschen, gegen die sie sich wehrt: „Er schuf sie sich, barfüßig, fragil und einzigartig, und sie wehrte sich gegen ein Bild, in dem sie sich nicht erkennen konnte noch wollte. […] heute wusste er, dass er ihr nie zugehört hatte, nie zuhören wollte: Die fatalen Zigeunersitten waren eine Projektion gewesen […].“ (S. 23-24) Als schöne Leiche erscheint Ophelia als das radikale Andere des männlichen Subjekts, dessen ‚Autonomie‘ und ‚Ganzheit‘ durch die Abspaltung unkontrollierbarer Prozesse und Störfaktoren wie Tod oder Verwundbarkeit gesichert wird. Die Subversion des bürgerlichen Subjektes bei Kleeberg besteht darin, diese Abspaltungsprozesse rückgängig zu machen, indem er den Namen und die Opferrolle Ophelias auf den männlichen Protagonisten überträgt. „[…] wäre er kein Mann, hätte er vielleicht sie SEIN können […].“ (S. 24) K. wünscht sich, in diesem Sinne weiblich zu sein, das heißt, er wünscht sich, sich das anzueignen, was er auf Ophelia projiziert. Mit der Aneignung des Pseudonyms „Barfuß“ und mit der Passion, barfuß zu gehen, invertiert K. die Abspaltungsprozesse. Seine nackten Füße, die auch als Fetisch fungieren, exponieren die Verletzbarkeit und die Versehrtheit des Subjektes. K. offenbart den Ort der Macht als Ort der Ohnmacht, indem er die Fragilität des Phallus und das Phantasma des einheitlichen Subjektes sichtbar macht.

53 Vgl. E. Bronfen zu Carmen in: Nur über ihre Leiche. 54 Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Tübingen 2006, S. 115.

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Sieg durch Niederlage Die zweite Subversion der männlichen Identität wird durch den Masochismus erreicht.55 Zum einen ermöglicht der Masochismus, den Körper als Absage an das geistige Subjekt der Aufklärung und als unsignifizierbares Feld des ‚Realen‘ zu thematisieren. Zum anderen ermöglicht der Masochismus Männlichkeit zu destruieren, da er traditionell weiblich codiert wird. Freud beschreibt neben anderen Typen des Masochismus einen femininen, den er auf die Passivität der Frau zurückführt. In Kleebergs Novelle heißt es: „Er [K.; Anm. d. Verf.] dachte nicht: Jemand tut etwas mit mir, sondern: Es geschieht mir etwas. Er lebte im ausschließlichen selbstbezogenen Passiv.“ (S. 58) Allerdings ist diese Passivität auch Aktivität, denn nach Slavoj Žižek ist der „zuinnerst theatralische“ Masochismus ein Paradox,56 dessen Logik in der Fiktion liegt: „So wie im masochistischen Theater die Passivität des Masochisten seine Aktivität verbirgt – er ist der Regisseur, der die Szene arrangiert und der Domina befiehlt, was sie mit ihm machen soll –, verbirgt sein moralischer Schmerz kaum seine aktive Lust an dem moralischen Sieg, der den/die andere(n) erniedrigt.“57 Die Subversion liegt also darin, dass durch die Inszenierung der Unterwerfung der Sieg K.s über das Vatergesetz erreicht wird. Nach Deleuze58 suspendiert der Masochist die symbolische Ordnung, indem er die Vaterordnung durch die phallische, präödipale Frau negiert. Genauer gesagt hebt K. das Vatergesetz nicht auf, sondern er trium55 G. Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: L. von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Die Novelle Barfuß erzählt, obwohl der Begriff „Sadomasochismus“ mehrfach Erwähnung findet, keine Sadomasochismus-Geschichte, sondern über den Masochismus. Die Dialektik von Sadismus und Masochismus, deren Bezeichnungen in der Literatur entstanden sind (Sadismus abgeleitet vom Namen des Marquis de Sade und Masochismus von Leopold von Sacher-Masoch), versucht schon Gilles Deleuze als komplementäre Phänomene in seiner Studie über den Masochismus aufzulösen. Deleuze weist bei beiden Phänomenen auf die Unterschiede bezüglich der Sprache, Gesetze und der im Sadismus und Masochismus involvierten Personen hin. Der Masochismus wird von Deleuze als eine vom Sadismus separate Erscheinung beschrieben, da sich die Ziele von Sadismus und Masochismus unterscheiden. 56 S. Žižek: Die Metastasen des Genießens, S. 49. 57 S. Žižek, Slavoj: Liebe deinen Nächsten?, S. 53. 58 G. Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: L. von Sacher-Masoch: Venus im Pelz, S. 269-275. Der Masochist ist nach Deleuze eine Annullierung des patriarchalischen Gesetzes, da er in sich die väterliche Instanz des Über-Ichs schlägt und somit den imaginären mütterlichen Phallus bestätigt. Der Masochismus befreit nach Deleuze das Ich vom Druck des Über-Ichs durch die Annullierung des Vaters und die Absage an die genitale Sexualität. Der sprachliche Vorgang wird im Gegensatz zur Negation im Sadismus durch die Form der fetischistischen Verneinung durchgeführt, dass der Mutter der Phallus nicht fehlt.

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phiert über den symbolischen Vater, indem er das Spiel der Signifikanten erkennt und die Regeln dieses Spiels selbst festlegt. Sein Triumph bewirkt auch die Auflösung der Geschlechterdifferenz, die zur fundamentalen Grundlage der symbolischen Ordnung gehört. Arthur K. wird zu einem Androgyn: „Was K. erregte, war, sich selbst zu sehen […], der wie ein autarkes, selbstreproduzierendes zweigeschlechtliches Wesen, verantwortungslos, rechenschaftslos in Räume einer autoerotischen absolut passiven Ekstase getrieben wurde […].“ (S. 58) Die Erzählform verdoppelt seine Androgynie auf der narrativen Ebene: K. erlebt und beobachtet sich zugleich, was auf die Eliminierung der Spaltung zwischen dem Subjekt und dem Anderen hindeutet. Wird K. zu einem Androgyn, kann er sich selbst reproduzieren, so dass er den Vater als Schöpfer ersetzt.59

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ALS

V ORAUSSETZUNG DER K UNST

Da die Novelle Barfuß auf die Sprache verweist und die ästhetischen Darstellungsstrategien selbstreflexiv thematisiert, stellt sie über die Körperbilder und durch die Mythisierung des Geschehens wie in Das Parfum die Entstehung eines Kunstwerkes beziehungsweise eines literarischen Textes als Gewaltexzess dar. Die Novelle Kleebergs setzt mit der Referenz zu Kafkas Der Prozess, in dem die gerichtlich angeordnete Hinrichtung unter anderem als Entstehung des literarischen Werkes geschildert wird, den künstlerischen „Prozess“ des Schreibens als erwünschten Lustmord um. Darüber hinaus bedient Kleeberg ähnlich wie Süskind ein bereits behandeltes Paradigma der Kunstproduktion, das Walter Benjamin in seinem Denkbild Nach der Vollendung als eine geschlechtlich codierte Interaktion schildert.60 Paradigmatisch beginnt die Kunstproduktion bei Kleeberg mit der Erfahrung der Leere beziehungsweise der Diskontinuität der symbolischen Ordnung, die mit dem literarischen Werk gefüllt, mit dem Text ‚geflickt‘ werden soll. Traditionell symbolisiert der Tod die Leere. So empfindet K. den Tod seines Lieblingskaters als „Wunde“ (S. 13) seiner symbolischen Identität. Diese „Wunde“ wird durch Ophelia ersetzt, und damit beginnt der schöpferische Prozess mit der „schönen Leiche“ Ophelia, die fiktiv bleibt und nur eine literarische Idee der die Narration vorantreibenden Leere repräsentiert. Die Novelle reproduziert dabei selbstreflexiv die literarischen und künstlerischen Traditionen der männlichen Schöpfung. Arthur K. erscheint als Schriftsteller, der sich mit der ‚Natur‘ beziehungsweise mit seiner Ehefrau vereinigt. Sie ist sowohl eine tabula rasa – es ist die Rede von ihrer 59 Ebd.: S. 272. 60 L. Lindhoff: Einführung, S. 21. Diese Auffassung, die als „Vereinigung und Eliminierung von Gegensätzen wie weiblich und männlich, Subjekt und Objekt, Empfangen und (Sich- )Schöpfen in einem männlichen Subjekt gedacht ist“, bezeugt eine männliche Schöpfungs- und Machtfantasie.

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Klarheit und Reinheit (S. 85)61 – als auch ein „wertvolles Gefäß“ (S. 84). Dass es um die Empfängnis eines Kunstwerkes geht, beweisen K.s Gespräche mit seiner Frau über seinen Wunsch, einen Roman zu schreiben. Die Vereinigung zwischen dem Schriftsteller und der ‚Natur‘ führt zur ‚Schwangerschaft‘ mit einer Idee, die in der Novelle neun Monate bis zur ihrer Geburt als Kunstwerk reift und wächst. Die Schwangerschaft der Frau wird aber zur Periode der Auseinandersetzung zwischen dem Autor und der Sprache, die sich von der ‚Natur‘ wortwörtlich trennt, um den Text als ein Kunstwerk hervorzubringen. K. verlässt seine Frau und lässt sich vom symbolischen Vater, der philosophische und literarische Traditionen vertritt, und von der phallischen Mutter Madeleine, die die ökonomische Sprache und die Sprache des Mainstreams repräsentiert, züchtigen. Dieser Prozess spiegelt die Entstehung des Textes wider, die einerseits ein Spiel zwischen dem Autor und der Sprache darstellt, andererseits auf einer Unterdrückung, Einschränkung und Destruktion beruht, die dem Autor Genuss bereitet. Schaller-Fornoff liest ebenfalls K.s Flagellation als Allegorie des Schreibakts, da der Schreibprozess im Gegensatz zum Denkakt ohne die Form der materiellen Übertragung nicht möglich ist. Die Flagellation ermöglicht es daher als materielles Verfahren, „Zeichen in die Haut einzuschreiben“62 und den ästhetischen Produktionsprozess in Körperbildern darzustellen: „Die Rute als Stift, die Haut als Papier, das Blut als Tinte – sie funktionieren als Sinnbilder […].“63 Dieses Verfahren, das das Schreiben mit der Strafe verschränkt, bezieht sich auf Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1914), in der das Urteil durch eine speziell dafür entwickelte Maschine in die Haut des Verurteilten eingeprägt wird. Die Sprache gibt auch bei Kleeberg ihre Regeln vor und kanalisiert damit das Begehren des Schriftstellers. Bei der Sadistin Madeleine lernt K., zwischen seinem Ich und seinem Körper zu unterscheiden (S. 141) – ein Prozess, dem die Symbolisierungsprozesse als Abtrennung von Materialität beziehungsweise vom Körper folgen. Der Schriftsteller wird jedoch zum Schöpfer, da er die Regeln seiner Einschränkung selbst festlegt. Je weiter der Textkorpus beziehungsweise die 61 „Sie [seine Frau, Anm. d. Verf.] strahlte eine, sich nur beiläufig äußernde, innerliche Klarheit aus, als hätten verwirrte Muster unter dem Einfluß magnetischer Kraft sich zu einer reinen und geraden Linie geordnet.“ Weiterhin stellt die Novelle die „Unreinheiten der Stadt“ K.s Frau gegenüber, die sich auf dem Lande befindet (S. 85). 62 B. Schaller-Fornoff: Novelle und Erregung, S. 100. „Die Flagellation als Allegorie des Schreibakts zu sehen, findet sich als Denkfigur und als produktionsästhetisches Prinzip daher bei vielen Autoren der letzten beiden Jahrhunderte wieder. Kleebergs Text gehört somit aus in eine Filiationslinie, die gebildet wird von den von Rousseau, Flaubert, Baudelaire und Proust, von Wilde und Joyce entworfenen einschlägigen und in den literarischen Kanon transferierten Bildern der Geißelung.“ 63 Ebd.

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Schwangerschaft seiner Frau reift, desto mehr wird der Körper des Schriftstellers zerstört, bis er sich schließlich vollkommen in den symbolischen Strukturen der Sprache und seinem Text auflöst. Der Körper wird wie bei Kafka wortwörtlich in die Narration umgesetzt. So findet der Lustmord in einer verlassenen Fabrikhalle statt, die nur noch ein Gerüst – „Stahlskelett“ (S. 144) – ist, das zum Sinnbild der Körperlichkeit und Identität von K. wird. Diese Auflösung des Körpers, der Materialität und des Autors in seinem eigenen Text stellt die Novelle als erwünschten Lustmord durch die Sprache dar, der in der ‚Geburt‘ des Kunstwerkes gipfelt. Franz Kafka, auf dessen Werke die Novelle Kleebergs referiert, vergleicht in seinen Tagebüchern seine Schaffenstätigkeit ebenfalls mit der Geburt eines Kindes.64 In der Nacht des Lustmordes bringt K.s Ehefrau bei Kleeberg entsprechend ein Kind zur Welt, das den Namen Ginevra Charlotte trägt und so auf seinen fiktiven und literarischen Charakter hinweist. Der erste Name weist auf die Novelle Ginevra (1890) von Ferdinand von Saar hin, der zweite Name stellt nicht nur Assoziationen zu Lotte aus Goethes Leiden des jungen Werthers und zur britischen Schriftstellerin Charlotte Brontё her, er verweist auch auf das Althochdeutsche, in dem „Charlotte“ als androgyner Name mit „weibliches Karlchen“ übersetzt wird. Der Name Charlotte setzt sich aus zwei Elementen zusammen: Das erste geht auf die romantisierte Schreibweise „Karl“ des althochdeutschen Wortes „karal“ zurück, das „der Tüchtige“, „der Freie“, „der Ehemann“ und „Mann“ bedeutet. Das zweite Wort ist „Lotte“ beziehungsweise „otte“, das unter anderem im Niederdeutschen ein Kind (Lütte) bezeichnet. Darüber hinaus heißt in der Novelle auch die Katze Charlotte, die die bereits schwangere Ehefrau nach Hause mitbringt. Aus Versehen wird sie als vermeintlicher Kater erst Charlie genannt und dann in Charlotte umbenannt. Die Katzen, die am Anfang der Handlung, in der Mitte und am Ende auftauchen, also den Produktionsprozess initiieren, begleiten und abschließen – am Ende beschützt die groß gewordene Katze Charlotte das geborene Kind (S. 149) –, deuten auf die Androgynie und die Cross-Dressing-Strategien der Kunstschöpfung hin und etablieren eine Verbindung zwischen K. und seinem Kind-Kunstwerk. Die Darstellung des Produktionsprozesses kehrt die Geschlechterkonstruktionen der Benjaminschen Kunstauffassung um und erlaubt es, die Kunstproduktion mit dem Tod des Autors im Sinne des Poststrukturalismus aufzufassen. Roland Barthes führt in seiner Studie Der Tod des Autors 64 Kafka, Franz: Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch/Michael Müller/Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990, Siebentes Heft, S. 491. In der Tagebuchnotiz vom 11.11.1913 steht folgendes: „Anläßlich der Korrektur des ‚Urteils‘ schreibe ich alle Beziehungen auf, die mir in der Geschichte klar geworden sind, soweit ich sie gegenwärtig habe. Es ist dies notwendig, denn die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen und nur ich habe die Hand, die bis zum Körper dringen kann und Lust dazu: […].“

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(1968) über die Auflösung jeglichen Ursprungs in der Schrift aus: „[…] stirbt der Autor, beginnt die Schrift.“65 Der Autor stirbt bei Kleeberg in seinem Kunstwerk, löst sich in den Signifikantenfluss auf; gleichzeitig lebt er in seinem ‚leiblichen‘ Kind weiter. „Der Autor ernährt vermeintlich das Buch, das heißt, er existiert vorher, denkt, leidet, lebt für sein Buch. Er geht seinem Werk zeitlich voraus wie ein Vater seinem Kind.“66 Kleebergs Novelle setzt Barthes’ Ideen in ihrer Narration um. Zugleich beschreibt sie die Kunst- beziehungsweise Literaturproduktion als explizit männliche Tätigkeit, die die Frau als Medium nutzt und die Kunstschöpfung jenseits der kapitalistischen Ökonomie verortet.

F AZIT Die Novelle Barfuß problematisiert die männliche Identität, die die Überlagerung von Sprache und kapitalistischer Ökonomie generiert. Mit der Absage an die bürgerliche männliche Identität, die durch die Re-Inszenierung verschiedener Mythen des Männlichen erfolgt, enthüllt die Novelle die binäre Geschlechterordnung als sprachliche und ökonomische Effekte. Durch den Lustmord befreit sich K. auf radikale Weise sowohl von der Sprache als auch von den ökonomischen Zwängen. Mit dieser Befreiung löst sich zugleich seine Geschlechtsidentität auf. Kann die männliche, bürgerliche Identität nur durch den lustmörderischen Selbstmord transgrediert werden, so wird auch in diesem Text ähnlich wie in Das Parfum die bestehende Geschlechterordnung als eine auf Gewalt beruhende Konstruktion freigelegt. Obwohl Novelle und Entwicklungsroman strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen, realisieren die Werke von Süskind und Kleeberg ganz unterschiedliche Lustmordschemata. Während sich Das Parfum einer trivialen Täter-Opfer-Konstellation bedient, führt Barfuß ein männliches Opfer vor und bringt den Täter zum Verschwinden, der letztendlich zu einem bloßen Instrument seines Opfers wird. Mit der Eröffnung einer Opferperspektive, die im Lustmorddiskurs keine Tradition hat, gehen nahezu alle Elemente des Diskurses verloren. In der Novelle zeichnet sich der Lustmord beispielweise durch Theatralität aus, denn das Geschehen bei Kleeberg stellt sich als eine theatralische Performanz dar, so dass das lustmörderische Begehren nicht mehr als ‚natürliches‘ Begehren dargestellt werden kann wie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Lustmord bezieht sich auf literarische und mythologische Traditionen, die für die Entstehung des literarischen Textes reinszeniert werden. Ein Novum im Gender-Kontext ist der männliche Protagonist als Opfer, das im Gegensatz zu den klassischen weiblichen Opfern einen Sieg über das 65 R. Barthes: Der Tod des Autors, in: F. Jannidis et al., Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 183-193, hier: S. 183. 66 Ebd.: S. 189.

K UNSTPRODUKTION

JENSEITS DER

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Vatergesetz erringt: K. wird zum Schöpfer. Die Novelle überschreitet zwar die binäre Geschlechtermatrix – K. wird androgyn –, bedient sich jedoch sowohl stereotyper Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen als auch einer idealistisch-bürgerlichen Kunstauffassung, die die Verbindung der Kunst zur Ökonomie leugnet. Der Weiblichkeit/Natur als Material steht die schöpfende Männlichkeit/Kultur gegenüber, in der sich der männliche Schöpfer durch ästhetische Wiedergeburtsfantasien zu verewigen versucht. Zugleich setzt die Novelle die poststrukturalistische Idee des Todes des Autors ästhetisch um, indem sie nicht die Frau, sondern den Schöpfer für die Entstehung des Kunstwerkes opfert. Bei Kleeberg geht das Schreiben mit der Auslöschung des Körpers einher, so dass die Kunst als Zerstörungsakt enthüllt wird. Zusammenfassend löst sich der Lustmord von der binären Matrix und somit von den Naturalisierungsfantasien.

Lustmord und männliche Subjektivität Schmerznovelle von Helmut Krausser

V ORSPIEL Ein Psychiater, ein „führender Spezialist auf dem Gebiet sexueller Aberration“ (S. 11), dessen Name ungenannt bleibt und aus dessen Ich-Perspektive die Geschichte erzählt wird, besucht seinen ehemaligen Doktorvater, Fritz Kappler, in einem österreichischen Alpendorf. Das Ziel seines Besuches ist „profan“ (S. 8), wie er es bezeichnet: Der Protagonist hat schon seit längerer Zeit eine sexuelle Affäre mit der 30 Jahre jüngeren Ehefrau Kapplers, Sylvia. Am ersten Abend beim Hauskonzert der lokalen Honoratioren, einer Familie Kaltenbrunner, hört er von einem geheimnisvollem Ehepaar Palm. Da Sylvia zu dieser Zeit nicht da ist, beginnt der Psychiater, halb aus professioneller Neugier und halb aus Langweile, sich für das Ehepaar Palm zu interessieren. Er lernt die Ehefrau Johanna Maria Palm kennen, mit der er eine Affäre beginnt und die er gerne therapieren würde. Erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass Johannas Ehemann Ralf Palm vor vielen Jahren Selbstmord beging (der sich später doch als Mord Johannas an ihrem Ehemann entpuppt) und sie seitdem von Zeit zu Zeit zu Ralf „wird“. Früher war sie als Schauspielerin im SM-Theater ihres exzentrischen Künstler-Ehemanns tätig gewesen, dessen zerstörerische Lust bei ihr offensichtlich eine Persönlichkeitsspaltung zur Folge hatte. Der Psychiater verliebt sich im Laufe der Geschichte in Johanna und vernachlässigt infolgedessen die Beziehung zu Kappler und Sylvia. Durch die sadomasochistische Dynamik des sexuellen Verhältnisses zu Johanna verliert der Protagonist seinen Realitätsbezug. In diesem orientierungslosen Zustand stellt er die patriarchalische Ordnung und vor allem die durch das Patriarchat bestimmte Männlichkeit in Frage. Beendet wird diese Realitätsverwirrung auf eine tragische Weise durch den Selbstmord Johannas. Der Lustmord steht auch in der Schmerznovelle in einer konstitutiven Verbindung mit der Kunstproduktion. Der Künstler wird mit einer ‚Lustmörderbiografie‘ versehen. Im Gegensatz zu Süskind und Kleeberg tritt hier jedoch die Frau als Lustmörderin auf. Sie ist ein Kunstwerk ihres Geliebten – Produkt männlicher künstlerischer Destruktionsfantasien. Mit dem Lust-

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mord werden ebenfalls androgyne Fantasien realisiert, weil die Lustmörderin nur dann künstlerisch tätig sein kann, wenn sie sich in ihren Ehemann ‚verwandelt‘. Dennoch hat die Kunst-Lustmord-Verbindung bei Krausser eher eine periphere Bedeutung, weil die gesamten Figurenkonstellationen funktionalisiert werden, um das Mannsein des Protagonisten zu problematisieren und ihm einen Raum anzubieten, neue Identitäten auszuprobieren. Daher bilden die Figuren in dieser Novelle in Analogie zu Das Parfum und Barfuß eine ödipale Konstellation um den Psychiater, die eine Absage an die bürgerliche Männlichkeit ermöglicht. Im Gegensatz zu Barfuß wird der Lustmord nicht durch eine hinführende Erklärung eingeleitet, obwohl auch hier das Verbrechen am Ende der Handlung steht. Die Erklärung wird ähnlich wie im Kriminalroman post factum aus einer fragmentarischen Darstellung rekonstruiert. Nichtsdestotrotz fällt das Täter-Opfer-Schema auch bei Krausser in sich zusammen, denn wie bei Kleeberg fehlt der Täter. Die Frau wird sowohl zur Lustmörderin – eine Position, die ihr der Lustmorddiskurs grundsätzlich abspricht – als auch zum Opfer des (Selbst-)Lustmordes. Der Lustmord erfüllt mithin eine genregemäße Funktion, indem er die Rahmenhandlung von der Binnenhandlung trennt, aber die beiden sind nicht traditionell aufgeteilt. Die Polizeibefragungen gehören zur Rahmenhandlung, die die Binnenhandlung begleiten und diese unterbrechen. Mithin erscheint die Liebesgeschichte des Protagonisten in der Binnenhandlung als verbrecherisch, sie steht außerhalb des Gesetzes und der ‚normalen‘ Ordnung. Die irreale, ‚anormale‘ Welt der Binnenhandlung entsteht – so wird aus der Rekonstruktion von Johannas Vergangenheit deutlich – durch ihren Lustmord an ihrem Ehemann. So hat der Lustmord die Funktion der Entgrenzung und Wiederherstellung: Mit dem Lustmord an einem Mann, begangen durch eine Frau, entsteht ein heterotopischer Raum (Foucault), in dem das Spiel mit Identitäten und die Maskerade vorherrschen. Der (Selbst-)Lustmord (an) der Frau stellt die bürgerliche Ordnung wieder her. Allerdings macht dieses Gewaltmoment der Auflösung die Starrheit der bürgerlichen Ordnung deutlich. Darüber hinaus kommt der heterosexuellen Geschlechtermatrix eine realitätsstiftende Rolle zu. Der Rahmenerzähler fungiert in der Schmerznovelle als Verbindungsglied zwischen zwei ‚Realitäten‘, deren Differenz dazu dient, die Vaterordnung in Frage zu stellen. Darauf verweisen die Referenzen zur Freud’schen Psychoanalyse (Kastrationskomplex) und zur Traumnovelle (1926) von Arthur Schnitzler sowie ein intermedialer Bezug zu Salvador Dalís Gemälde Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen (1944). Diese intertextuellen Bezüge decken das ‚Jenseits‘ der bürgerlichen Ordnung als deren Produkt auf, durch das sich die Ordnung stabilisiert. Denn die ‚Normalität‘ wird durch den Ausschluss des verbotenen Begehrens hergestellt. Auch die gespaltene Frau als Signifikant einer alternativen Ordnung erscheint als Kunstwerk ihres Ehe-

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manns. Die Schmerznovelle führt somit unheilvoll die Unvergänglichkeit der bestehenden Vaterordnung vor.

N OVELLE ,

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In Analogie zur Novelle Barfuß von Michael Kleeberg wird in der Schmerznovelle der Lustmord als die „unerhörte Begebenheit“ inszeniert, so dass er Höhepunkt der Novelle und gleichzeitig ihr Ende ist. Während in Barfuß das Ungewöhnliche in der Absage an die bürgerliche Männlichkeit mittels der Selbstdestruktion des männlichen Protagonisten besteht, folgt Krausser eher traditionellen Novellennarrativen. Dank der historischen Entwicklung der Novelle wird die Neuigkeit zum Auslöser der Entfaltung des (männlichen) Ichs in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft – eine Tradition, die seit ihrer Geburt in der Epoche der Renaissance über die Romantik bis hin zur Gegenwart weiter besteht.1 Die Schmerznovelle stellt ebenfalls die männliche Identität des Ich-Erzählers dar, dessen Identitätskrise die Binnenhandlung ausmacht. Laut Goethe schildert die Novelle, die sich im Schema „Aufbruch – Prüfung – Rückkehr“2 beschreiben lässt, die Selbstüberwindung des Protagonisten. Für die Novelle ist daher der Rahmenerzähler charakteristisch, der einerseits die Lesenden in seine innere Welt und seine seelischen Konflikte einweiht, andererseits diesen Ausnahmezustand überlebt und in die Gesellschaft zurückkehrt, was es ihm ermöglicht, seine Geschichte zu erzählen. Wolfgang Rath definiert die Novelle deshalb als „Erzählererzählung“.3 Der männliche Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive das Geschehen post factum rekonstruiert wird, eröffnet bei Krausser die Handlung, bricht aus der ‚Normalität‘ aus, kehrt nach einer Katastrophe zur ‚Normalität‘ zurück und schließt die Handlung ab. Der Ich-Erzähler und sein psychologischer Konflikt bekommen genregemäß in der Schmerznovelle eine dominante Position. Wird der Protagonist zum Rahmenerzähler, so ist er zwar vom traumatischen oder erschütternden Ereignis betroffen, bleibt jedoch Beobachter. Er kann nicht als Täter auftreten, da mit der Täterfigur eine Kriminalermittlung und dementsprechend die Elemente des Kriminalgenres verbunden wären. Er kann ebenfalls nicht zum Opfer werden, da er als Ich-Erzähler am Ende den geschlossenen Rahmen für die Novelle sichert. So wird er zum Zeugen, der als Überlebender der Polizei Bericht erstatten muss. Das Lustmordschema wird also vollkommen realisiert, ohne jedoch zum Kriminalroman zu werden: Es gibt einen Täter, ein Opfer, eine Polizeiermittlung und eine Darstellung der Psyche sowohl des Täters als auch des Protagonisten – eine 1 2 3

Vgl. W. Rath: Die Novelle, S. 117-137. Nicht zufällig entsteht die Novelle in der Renaissance, die auch als Geburtsepoche des Individuums gilt. Ebd.: S. 103. Ebd.: S. 15.

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Überschneidung, die seit dem Film Das Schweigen der Lämmer zur Tradition geworden ist. Zugleich nimmt die Novelle Transformationen des Lustmordschemas vor: Die Rollen des Lustmorddiskurses werden anders verteilt, beispielweise wird das Opfer zugleich zum Täter. Dieses Zusammenfallen des Täter-Opfer-Schemas mit der Eliminierung des Täters fordert bei Krausser vor allem die Struktur der Novelle, die, um das Genre aufrechtzuerhalten, einerseits das Erzählen an den Protagonisten bindet, ihn andererseits aber nicht als Täter positionieren kann. Der Tradition des Lustmorddiskurses folgend wird Ralf, der ‚Lustmörder‘ in Kraussers Novelle, durch ein infantiles, inzestuöses Begehren nach seiner Mutter charakterisiert, und er leidet unter einem Kastrationskomplex. Die Novelle verlangt jedoch seine Absenz: Ralf ist im Moment des (Selbst-)Mordes an Johanna schon seit vielen Jahren tot. So lenkt Krausser die Aufmerksamkeit der Lesenden nicht auf die Ermittlung des Täters, sondern auf den Lustmord als Höhepunkt der Novelle. Der Lustmord wird zum Selbstlustmord; dadurch werden die Strukturen der Novelle aufrechterhalten, deren unerhörte Begebenheit die besondere Form dieses Lustmordes ist. Das binäre Lustmordschema wird also über das Gender-Crossing realisiert, denn das weibliche Opfer ‚verwandelt‘ sich in ihren verstorbenen Ehemann, der die Frau, also sich selbst umbringt. Einen Lustmord können laut dem Kriminologen Erich Wulffen aufgrund anatomischer Konstitution nur Männer begehen.4 Deshalb muss die Frau – so die Fortschreibung dieser Konvention bei Krausser – zum Mann werden, um sich lustmörderische Triebe anzueignen, die ihr der Diskurs grundsätzlich abspricht. Die Persönlichkeitsspaltung der Frau sichert und überschreitet zugleich den von der Novelle und dem Lustmorddiskurs vorgegebenen Rahmen. Weiblichkeit wird zum Medium der Geschlechterüberschreitung, jedoch im Rahmen der Novellenstruktur. Die Figurenkonstellationen erscheinen in der Novelle gemeinhin als Dreieck: Nach Heike Gfrereis löst das Novellengeschehen ein zum Gegensatzpaar – Mann/Frau, Vater/Tochter usw. – hinzukommender Dritter aus. Ein beliebtes Motiv, das die Schmerznovelle reproduziert, ist das der Frau zwischen zwei Männern.5 Allerdings wird dieses Dreieck bei Krausser aufgrund des Gender-Crossing ermöglicht. Die Liebesaffäre des Ich-Erzählers zur wahnsinnigen Frau Johanna wird durch deren verstorbenen Ehemann Paul gestört. Das binäre Lustmordschema wird ebenfalls aufrechterhalten, jedoch bekommt es einen theatralischen Moment, zumal bei Krausser das Gender-Crossing als eine Performanz realisiert wird. Die Rollen des Täters und des Opfers erscheinen als austauschbar und sind nicht mehr an die ‚Anatomie‘ des Täters gebunden. Die konventionelle Struktur der Novelle sowie die binäre heterosexuelle Geschlechtermatrix etablieren in der Schmerznovelle eine realitätsbezogene 4 5

E. Wulffen: Der Sexualverbrecher, S. 377. Gfrereis, Heike (Hg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1999, S. 138.

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‚Wirklichkeit‘, die in der Rahmenhandlung angesiedelt ist. Wird die Novelle eher als ein männlich definiertes Genre aufgefasst, das in der Tradition von Arthur Schnitzler und Stephan Zweig die für den männlichen Protagonisten erschütternden Ereignisse darstellt, so dient die männliche Erzählperspektive bei Krausser ebenfalls als Ausgangspunkt für die Handlung und rekonstruiert die existierende patriarchalische Ordnung. Die Liebesaffäre mit Johanna wird zum Eintritt in eine alternative Ordnung. Der Lustmord am Ehemann Paul durch Johanna suspendiert die patriarchalische Ordnung als Auflösung der binären Geschlechtermatrix und damit der ‚Realität‘. Wird die Frau androgyn, so schwindet auch die ‚Realität‘ in der Schmerznovelle. In diesem Zusammenhang erfahren auch die Elemente des Kriminalgenres, die im Laufe der Handlung immer wieder auftauchen (insgesamt finden fünf Polizeibefragungen statt), eine funktionale Änderung. Die Polizisten überführen nicht den Täter, sondern werden zum Nachweis eingesetzt, dass einige wenige Ereignisse ‚real‘ sind. Denn die Androgynie als Schizophrenie6 löst die Uneindeutigkeit aus, die die Schmerznovelle traditionsreich mit der Maskerade, die als ‚essentiell weiblich‘ definiert ist, in Verbindung bringt. In Jacques Derridas NietzscheLektüre7 Die Sporen. Die Stile Nietzsches gehört die „unentscheidbare Äquivalenz“ zum Weiblichen, das zwischen „sich geben/sich-geben-als, geben/ nehmen sowie nehmen lassen/sich aneignen“ oszilliert.8 Derrida macht deutlich, dass bei Nietzsche die Frau die Opposition von Wahrheit und Lüge unterläuft, da sie die Maskerade mit der Wahrheit zusammenfallen lässt. Die schizophrene Frau ist bei Krausser gemäß den tradierten Vorstellungen von Weiblichkeit eine Schauspielerin, der der Identitätskern durch Maskerade und Schauspiel abgesprochen wird. Ihre Aussagen werden weder bestätigt noch widerlegt. Dieses Unterlaufen der Logik wird durch die widersprüchliche Erzählweise unterstützt: „Lieben Sie Ihren Mann?“, fragt der Erzähler Johanna. „Nein, er ist ein Monstrum. Ja, ich liebe ihn, selbstverständlich.“ (S. 38) Die Wirklichkeit wird zu einer Mischung aus Fantasie und Fakten. Charakteristisch für diese schizophrene Ordnung ist das Fehlen jeglicher Objektivität, auf die nicht nur die männliche Ordnung, sondern auch die Wissenschaft Anspruch erhebt: „Diese Frau brachte mich durcheinander. 6

7 8

Aus medizinischer Sicht würde man anstelle von Schizophrenie von gespaltener Persönlichkeit sprechen. Weil sich der Begriff Schizophrenie in der Literatur und im Film für diese Bedeutung etabliert hat, findet er auch in dieser Arbeit Verwendung. Derrida, Jacques: Sporen. Die Stile Nietzsches, in: Hamacher, Werner (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt am Main; Berlin 1986, S. 129-168. Ebd.: S. 157. „Die Gabe – jenes wesentliche Prädikat der Frau – die in der unentscheidbaren Oszillation zwischen sich geben/sich-geben-als, geben/nehmen sowie nehmen lassen/sich aneignen sichtbar wurde, hat den Stellenwert oder den Preis des Gifts. Den Preis des Pharmakon.“ Die Schmerznovelle verwendet auch den Begriff Pharmakon im Zusammenhang mit Johanna in der Teeszene (S. 20).

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Meinem Blick fehlte jede Objektivität.“ (S. 33) Die Realität wird dadurch als konstruierbar enthüllt: „Realität ist nur die nächstliegende Fiktion.“ (S. 108) Die Novelle endet mit der Stabilisierung der normierenden Ordnung in Anlehnung an die Traumnovelle Schnitzlers; die Geschlechtermetamorphosen verschwinden mithin. Das Ende bei Krausser erscheint nicht zuletzt als ein strukturell aufgezwungenes novellistisches Finale, das eine Wirklichkeit bestätigt, in der Androgynie nicht existiert. Die Handlung schließt sowohl bei Schnitzler als auch bei Krausser mit der „schönen Leiche“ als Zeichen der Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung ab: Geschlechterirritation und -metamorphose werden durch den Tod beziehungsweise (Selbst-)Mord an der schönen Frau aufgehoben und durch ihren Tod wird die männliche Identität des Ich-Erzählers stabilisiert.

K ONVENTIONELLE UND ALTERNATIVE G ESCHLECHTERORDNUNGEN Die Schmerznovelle setzt sich mit verschiedenen heterosexuellen Beziehungen auseinander. Es geht dabei um diverse Formen der Ehe und Liebe, die sich gegenseitig bedingen. Grob klassifiziert gibt es zu Beginn zwei Entwürfe der Geschlechterordnung, einen konventionellen und einen alternativen, die in der Novelle auch eine strukturelle Funktion haben. Ein vollständiges, ‚normales‘ Liebesdreieck dient als Rahmen für ein zweites phantasmatisches, schizophrenes Dreieck, das die Darstellung einer alternativen Geschlechterordnung als Differenz zur ‚Normalität‘ ermöglicht. Dabei wird ‚normales‘ Dreieck deswegen in Anführungszeichen gesetzt, weil eine Geschlechterbeziehung als Dreierbeziehung die herrschenden Vorstellungen von der bürgerlichen Ehe, die Monogamie, Liebe und Treue beinhaltet, unterläuft. Das ‚normale‘ Dreieck zeichnet sich durch die Impotenz der Männer aus. Fritz Kappler, der Doktorvater des Erzählers, und seine wesentlich jüngere Ehefrau Sylvia führen eine bürgerliche Ehe, die in dieser Konstellation als ein vorteilhaftes Geschäft – zumindest für die männliche Partie – erscheint. Der sozial erfolgreiche Mann ‚erkauft‘ sich durch sein Prestige und seinen Status eine jüngere Frau. Den möglichen Vorteil einer solchen Ehe für die Frau thematisiert die Schmerznovelle nicht. Die Frau ist in dieser Beziehung ein Bestandteil des Renommees ihres Ehemanns, da sie neben seinem hohen sozialen Status seine Potenz auf sexuellem Gebiet beweist. Genauer gesagt verschleiert Sylvia die Impotenz Fritz Kapplers. Er ist sogar damit einverstanden, dass sein Protegé, der Ich-Erzähler, mit seiner Ehefrau eine sexuelle Beziehung eingeht, um seinen Potenzmythos aufrechtzuerhalten: „Fritz wagte mir kaum in die Augen zu sehen. Er hatte sich in Stimmung bringen müssen. Ich solle Sylvia befriedigen, das wäre schon in Ord-

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nung, er selbst habe ja kaum noch Verkehr mit ihr.“ (S. 79) Die Beziehungen zwischen dem Ich-Erzähler und Sylvia sowie zwischen Kappler und Sylvia werden parallelisiert. In dem Maße, in dem sich im Laufe der Handlung das Verhältnis zwischen Sylvia und dem Protagonisten verschlechtert, verschlechtert sich auch das Verhältnis zwischen Fritz und Sylvia. Als der Ich-Erzähler Sylvia verlässt, verlässt auch Sylvia ihren Ehemann Fritz Kappler. Somit scheint die traditionelle bürgerliche Ehe nicht nur auf Betrug und Profitorientierung zu basieren, sondern ihre Existenz wird durch die Überschreitung der ‚Normen‘ aufrechterhalten. Die Liebesaffäre zwischen dem Ich-Erzähler und Sylvia Kappler, die zu Beginn Leidenschaft verspricht, funktioniert ebenfalls nicht. Der IchErzähler nutzt diese Situation aus, um mit Sylvia eine sexuelle Affäre ohne jegliche Verantwortung einzugehen. Er wird darüber hinaus als impotent gezeigt (S. 44). Die Beziehung zwischen den beiden Männern stellt sich damit als zynisches Zuhältertum dar, dem eine Ökonomie des Nutzens zugrunde liegt: „Bestimmt hätten wir sogar, in der Art zweier welterfahrener Zuhälter, über Sylvia reden können, würde die Kluft mehrerer Generationen nicht immer ein Grenzland schaffen, in dem manche Themen höflich ausgeschwiegen werden, ohne daß sich genau sagen ließe, warum das so sein muß.“ (S. 8) Die Novelle schafft also eine homosoziale Beziehung zwischen den beiden Männern und zwischen zwei Generationen, die durch das Medium Frau in Kontakt treten.9 Eine Alternative zu diesem Liebesdreieck bildet die Liebesaffäre zwischen dem Ich-Erzähler und Johanna Palm. In diese Beziehung wird die Ehegeschichte von Johanna und Ralf Palm eingeflochten, so dass diese ebenfalls im Rahmen eines Dreiecks stattfindet, obwohl Ralf nur als Persönlichkeitsspaltung Johannas erscheint. Das zentrale Thema dieser Beziehungsverflechtung ist die Suche nach ‚echter‘ Liebe. Der Ich-Erzähler versucht, mit Johanna eine Zweisamkeit zu erreichen, ohne den/die Partner/in zu negieren oder mit ihm/ihr zu verschmelzen. Die ‚echte‘ Liebe soll ein Heilmittel gegen den Schmerz, zugefügt durch die patriarchalische Ordnung, werden, „wenn man dem anderen nicht mehr, nie mehr – wehtun will.“ (S. 132) Während die Geschlechterbeziehungen innerhalb der normierenden Ordnung durch Impotenz charakterisiert werden, stellt Krausser die alternative Ordnung durch das Verhältnis zum Tod dar. Die sexuellen Kontakte zwischen dem Ich-Erzähler und Johanna spielen sich immer in einer Atmosphäre der Todesnähe ab und eskalieren schließlich im (Selbst-)Mord. Die erste sexuelle Annährung zwischen dem Ich-Erzähler und Johanna findet statt, nachdem Johanna ihm die Instrumente und Anlagen für sadomasochistische Praktiken zeigt, die im SM-Theater ihres Ehemanns eingesetzt wurden (S. 74). Der erste Geschlechtsverkehr zwischen dem Ich-Erzähler und Johanna 9

Vgl. Sedgwick Kosofsky, Eve: Between Men: English Literature und Male Homosocial Desire, New York 1985.

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ereignet sich auf dem frischen Grab von Ralfs Mutter (S. 90-95). Beim nächsten sexuellen Kontakt bringt sich Johanna um. Die Liebe wird zu einer Art „merkwürdiger Zwischenform von Existenz“, die sich sogar als das „stärkste menschliche Aufbäumen gegen den Tod“ (S. 66) darstellt. Entwickelt wird die Fantasie einer ewigen Liebe, die alle Hindernisse und sogar den Tod überwinden kann. Die Schmerznovelle macht aber zugleich deutlich, dass eine solche Liebe nicht nur in der bürgerlichen Geschlechterordnung oder jenseits dieser unmöglich ist, sondern dass sie nur durch den Tod des Partners beziehungsweise den Mord am Partner realisiert werden kann. Die Liebe ist nur in der Form der Nekrophilie denkbar, als Liebe zu einem toten Partner, als Petrifizierung des Liebesobjektes. Deswegen schafft es die alternative Geschlechterbeziehung auch nicht, ein ‚echtes‘ Liebesgefühl zwischen Mann und Frau zu entwickeln: Der Partner muss sterben, um ‚echte‘ Liebe zu ermöglichen. Nach Luhmanns Definition stellt die Liebe in Analogie zu Geld und Macht ein Steuerungsmedium dar, das die unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher macht.10 Die Trennung zwischen Liebe, Geld und Macht wird in der Schmerznovelle aufgelöst. Alle Liebesbeziehungen werden letztendlich als Verflechtung von Geld- und Machtinteressen entlarvt. Die Grundlage der Liebesaffäre des Protagonisten mit Johanna bildet das Arzt-Patienten-Verhältnis, das per se die Macht des Arztes (Mannes) über die Patientin (Frau) darstellt. In der bürgerlichen Ordnung wird die Androgynität der Frau als Persönlichkeitsspaltung pathologisiert, und der männliche Ich-Erzähler als Vertreter der patriarchalischen Normen versucht, die Kontrolle über die weibliche Psyche zu gewinnen, um das Weibliche in einem ‚Normalisierungsprozess‘ in eine patriarchalisch fantasierte Weiblichkeitskonstruktion zu bannen. „Du bist der Mann. Du bist da, um mich zu heilen“ (S. 75), erklärt Johanna dem Protagonisten. Das Wort „infizieren“ weist die alternative Ordnung als Krankheit oder Pathologie aus: „Ich fühlte mich von Johanna infiziert, begab mich nach und nach auf eine Ebene mit ihr.“ (S. 56) Die Psychiatrie wird also zu einem Stabilisierungsmedium der patriarchalischen Ordnung, indem der Erzähler die pathologische Weiblichkeit heilen beziehungsweise innerhalb der Normen der bürgerlichen Männerordnung einschränken möchte. Die Novelle schildert Johannas Verhältnis zum Ich-Erzähler auch als eine Art Kampf zwischen den Geschlechtern: „Der Patient ist immer auch Partisan.“ (S. 15). Die beiden üben gegenseitig Gewalt aus, versuchen die Kontrolle über einander zu gewinnen und treiben Machtspiele. Dazu kommt, dass diese alternative Geschlechterbeziehung innerhalb eines anderen Liebesdreiecks beziehungsweise der Ehe zwischen Ralf und Johanna Palm stattfindet. Diese Ehe wird zunächst als eine Ehe aus Liebe und motiviert durch das gemeinsame künstlerische Interesse dargestellt. Im Laufe der 10 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 2003.

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Handlung stellt sich jedoch heraus, dass Ralf Johanna finanziell ausgenutzt hat. Diese Beziehung basiert ebenfalls auf Gewaltexzessen. Ralf ist ein narzisstischer Mann, der nur eine destruktive Beziehung zum (weiblichen) Anderen herstellen kann: „Er hat sich nur in dir ausgetobt, hat sich an deiner Liebe aufgegeilt. […] Er wollte dich tot sehen. Wollte um dich trauern.“ (S. 128) In Analogie zu Das Parfum entsteht die Kunst bei Krausser durch die Zerstörung des weiblichen Körpers.11 Die Beziehungen zwischen dem Ich-Erzähler und Johanna und zwischen Johanna und Ralf bedingen sich ebenfalls wechselseitig. Johanna ist für den Ich-Erzähler attraktiv, da Ralf in Johanna und entsprechend in ihrer Beziehung zum Erzähler weiterlebt, und dieses Verhältnis nur solange dauert, wie Ralf es Johanna erlaubt. Dieses Liebesdreieck ist eine persiflierte Wiederholung der bürgerlichen Geschlechterordnung, in der die Weiblichkeit eine Interaktion zwischen zwei männlichen Protagonisten ermöglicht und als Differenz zwischen ihnen fungiert. „Eine Frau, die nicht da ist“ Die Schmerznovelle konstituiert die homosozialen Beziehungen zwischen Männern, um die Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit der Vaterordnung und der Ordnung, in der der symbolische Vater suspendiert wird, zu ermöglichen. Das erste Liebesdreieck zwischen dem männlichen Protagonisten, seinem Doktorvater Fritz Kappler und dessen Ehefrau Sylvia präsentiert zum einen traditionelle patriarchalische Geschlechterkonstruktionen, zum anderen überlagert es sich mit einer ödipalen Situation. In diesem Dreieck wird der Doktorvater zur symbolischen Vaterfigur für den Protagonisten, weil er nicht nur einen hohen sozialen Status innehat, sondern die Integration in die Wissenschaft, das heißt in ein Gebiet traditionell männlicher Tätigkeit, ermöglicht. Sylvia wird als symbolische Mutterfigur positioniert, die der Erzähler nicht nur begehrt, sondern mit der er auch eine Liebesaffäre hat. Die erste Szene der Novelle schildert ein Hauskonzert bei einem der lokalen Honoratioren, Herrn Kaltenbrunner, das die patriarchalische Geschlechterordnung verdeutlicht. Die Gesellschaft besteht vorwiegend aus Männern, die Frauen besitzen für die Männer eine Objekt- und Unterhaltungsfunktion. Die bürgerliche Geschlechterordnung beruht auf einer asymmetrischen Hierarchie der Geschlechter, die der Männlichkeit eine dominante Rolle zuweist. Männer dominieren in der Öffentlichkeit und besitzen in der Schmerznovelle hohe soziale Positionen als Professor (Kappler), Arzt (Protagonist) und lokale Elite (Kaltenbrunner). Die weiblichen Figuren definieren sich dagegen über ihre sexuellen Dienstleistungen für die Männer – sowohl Sylvia als auch Johanna sind Liebhaberinnen des Ich-Erzählers.

11 Vgl. E. Bronfen: Nur über ihre Leiche.

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Weiblichkeit wird in der patriarchalischen Ordnung zur Leerstelle, da ihr die öffentliche Präsenz entzogen wird. Als der Erzähler Kappler besucht, ist Sylvia bezeichnenderweise abwesend: „Eine Frau, die nicht da ist“ (S. 7). Zugleich stellt sich Sylvia als die männliche Vorstellung von Urweiblichkeit dar. Der Bezug zur biblischen Urszene verdeutlicht die Rolle der Frau im Patriarchat: „Sylvia stellte mich abends im Garten der Villa zur Rede. Unter dem Apfelbaum.“ (S. 76) Nicht die Erkenntnis ihrer Sexualität oder das gegenseitige Begehren wird jedoch in Szene gesetzt, sondern die Unmöglichkeit dieser Beziehung, genauer gesagt die Unmöglichkeit des weiblichen Begehrens unter dem Vaterblick als patriarchalisches Machtregime: „Welches Spiel ich hier spiele, wohin das führen solle? Ihr Leben sei durcheinander geraten, Fritz benehme sich sonderbar, aufgekratzt, mache Anspielungen… Ach, ja? Du aufgekaufte Fotze. Du leeres Versprechen.“ (S. 76) Die männliche Ordnung definiert die Frau als Prostituierte und leeres VerSprechen, das heißt die gesellschaftliche Ordnung räumt der Frau keinen Platz in den Sprach- und Begehrensstrukturen ein. Die obige Äußerung des Protagonisten reduziert die Frau auf ihre Genitalien und grenzt sie zugleich durch die obszöne, ja pornografische Bezeichnung aus der symbolischen Ordnung aus. Die andere weibliche Figur, Johanna Palm, existiert ebenfalls nicht innerhalb der bürgerlichen Ordnung. Als Ausdruck pathologischer Weiblichkeit wird sie als Wahnsinnige aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Frau wird jedoch nicht nur durch die bürgerliche Ordnung zur Abwesenheit verurteilt, sondern bestätigt die Leugnung des Weiblichen ihrerseits durch die Selbstvernichtung, da sie als „schöne Leiche“ die Anerkennung in der männlichen Ordnung zu erhalten erhofft. Im Kapitel Eva (S. 99-100) erfährt der Ich-Erzähler während eines Internet-Chats, dass sich eine junge Frau umbringen möchte, weil sie ihr Freund wegen ihrer sexuellen Freizügigkeit verlassen hat. Die Frauenfiguren sind also Mittäterinnen, die sich selbst auszulöschen streben und mithin ihre strukturelle Exklusion aufrechterhalten. Diese traditionelle, ödipale Figurenkonstellation offenbart gleichzeitig die Krise sowohl der existierenden Vaterordnung als auch der Männlichkeit, die sich als Krise des Ich-Erzählers – als Midlife-Crisis (S. 59) – darstellt. Der ‚Vater‘ Fritz Kappler scheitert auf dem Gebiet der Psychiatrie mit dem Fall Johanna Palm und in der sexuellen Beziehung zu Sylvia. An Johanna Palm zu versagen, bedeutet gleichzeitig die Kapitulation des Mannes vor der Frau: „An Johanna Palm versagt zu haben, steckte ihm noch schwer im Kreuz, und je länger er salbaderte, umso kleiner und häßlicher kam er mir vor.“ (S. 107) Wird die Vaterfigur zum Versager, so lehnt der Protagonist die Identifikation mit dem ‚Vater‘ ab, indem er die Wissenschaft und ihre Methoden in Frage stellt und sich dann buchstäblich dem ‚Vater‘ verweigert. Im Kapitel Hybris (S. 79-80), das in Anlehnung an die griechische Mythologie die menschliche Selbstüberhebung gegenüber den Göttern aufruft, wird diese Absage an die Vaterordnung inszeniert. Der Erzähler verwirft im Streit Fritz Kapplers Meinung und zieht aus dessen Wohnung aus; parallel

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geht er eine Liebesaffäre mit der schizophrenen Frau ein. Der Ich-Erzähler versucht damit, die patriarchalischen Strukturen der Geschlechterordnung sowie die durch den Ödipuskomplex vorgegebene traditionelle Männlichkeitsidentität zu durchbrechen. „Ein Mann, der nicht da ist“ Das zweite Liebesdreieck, das zum Hauptthema der Schmerznovelle wird, spielt sich zwischen dem Ich-Erzähler, Johanna Maria Palm und ihrem Ehemann Ralf Palm ab. Das Prinzip der alternativen Ordnung ist die Maskerade oder ein (Schau-)Spiel mit Geschlechterdifferenzen und literarischen Motiven. Die Schmerznovelle verweist dabei auch inhaltlich auf das Spielmotiv: Der Protagonist wohnt nach dem Streit mit Kappler im Casino-Hotel und definiert sein Verhältnis zu Johanna als Glücksspiel: „Wie ein Spieler am Roulettetisch legte ich meine Summe fest, die verspielt werden kann oder sogar soll.“ (S. 23) Auf die Suspendierung der patriarchalischen Ordnung deutet auch das Schweigen hin, das mit dem Spielmotiv verklammert wird: „Es hatte was von einem Spiel, in dem der, der sich zuerst äußert, verliert.“ (S. 14) Die Frauenfigur Johanna wird zum Medium einer alternativen Ordnung, die als Imitation und Maskerade der tradierten Geschlechterzuschreibungen erscheint, indem sich stereotype Weiblichkeits- und Männlichkeitsimagines synkretistisch überlagern. Johanna selbst stellt sich als ein leerer Raum dar, als ein „Container“,12 der mit Weiblichkeit und mit Männlichkeit gefüllt wird. Es entsteht ein heterotopischer Raum, der sowohl die Psychiatrie als auch das Theater integriert. Nach Foucault gehören unter anderem das Theater und psychiatrische Anstalten zu den ‚anderen‘ Räumen, die die bestehenden Konventionen und Regeln suspendieren.13 Johannas Haus steht für diese variable (Geschlechts-)Identität, die in der Novelle als Fehlen von Individualität zum Ausdruck gebracht wird: „Das Wohnzimmer war alles andere als gemütlich, trug kaum eine Spur individueller Bewohntheit.“ (S. 18) Weiblichkeit als Nicht-Identität kann zugleich beliebig angeeignet werden – bei Krausser heißt es: „Das Haus machte den Eindruck, als stünde es zur Besichtigung frei.“ (S. 13) Diese Tradition, Weiblichkeit mit einem Haus zu setzen, geht auf die Traumdeutung Freuds zurück, die Räume, Häuser und Zimmer14 sowie Objekte mit einem Hohlraum wie Schächte, Gruben, Gefäße, Flaschen, Büchsen usw. im Traum als die weiblichen Genitalien entziffert. Entsprechend stellt der Text Kraussers 12 Terminus aus Ch. Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent. 13 M. Foucault: Von anderen Räumen, in: ders.: Schriften, Frankfurt am Main 2005, Bd. 4, S. 931-942. 14 Freud, Sigmund: Der Traum, in: ders: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 11 (1916–1917), S. 79-246, hier: S. 157.

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eine assoziative Verbindung Johannas mit einer „Schatulle“ (S. 113-120) her. Die Frau erscheint als ein Mangel – ein leerer Raum, der sich nach „ErFüllung“15 sehnt, zugleich wird Weiblichkeit auf ihre Geschlechtsorgane reduziert. Eine Frau zu sein bedeutet in der Schmerznovelle, weibliche Genitalien zu besitzen. Darüber hinaus ist Johanna in Analogie zur Freud’schen16 Charakterisierung ein „Rätsel“ (S. 31), da sie vor ihrem Leben mit Ralf nicht zu existieren scheint: „Über Johanna war weiter nichts herauszufinden gewesen.“ (S. 31) Sie ist „das beste Geschöpf auf dieser Erde“ (S. 82), schreibt Ralf in einem Brief an seine Mutter. Damit wird Weiblichkeit zu einem „Rohstoff“, dem erst die Ideen und Fantasien des Künstlers Gestalt verschaffen; sie wird durch den Mann geformt – eine seit der Antike bestehende Tradition,17 die die Frau als männliches Kunstwerk imaginiert. Johanna wird in Kraussers Novelle in Analogie zum Pygmalion-Mythos als Geschöpf der männlichen künstlerischen Fantasien dargestellt, indem sie als Signifikant des männlichen Begehrens im Begehrenstheater ihres Ehemannes entsteht. Johanna materialisiert dabei als Schauspielerin und Masochistin allem voran männliche Fantasien über Weiblichkeit. Die Frau wird, mit Lacan gesprochen, auf die Maskerade festgelegt, um „Phallus zu sein“, Signifikant des Begehrens des Anderen. In dieser Position reflektiert sie die männliche Macht (in ihrem Masochismus und ihrem Unterworfensein); gleichzeitig generiert sie als das Andere die illusorische Autonomie des Subjektes.18 Johanna ist gemäß ihrer Objektposition Masochistin, eine seit Freud etablierte stereotype männliche Vorstellung über die weibliche Sexualität.19 Johanna war im SM-Theater 15 Thürmer-Rohr, Christina: Vagabundinnen: feministische Essays, Berlin 1987, S. 85. „Diese Ich-Leerräume werden von der Frau – einer patriarchalischen Frauenmoral gemäß – er-füllt: gefüllt mit Er. Die Werthaftigkeit des Männlichen und die Bereitstellung ihrer ‚Wohnung‘ für den Mann gebunden; denn die Füllung mit dem Mann, durch den Mann, bedarf ja eines Raumes, der darauf wartet, von ihm bewohnt und beinhaltet zu werden, von ihm bebildert.“ 16 Freud, Sigmund: Die Weiblichkeit, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 1: Vorlesung zur Einführung der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1969, S. 544-565. 17 S. Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. 18 Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 75-93, hier: S. 75. In einer kritischen Auseinandersetzung mit Lacan verdeutlicht Butler seine Position zur Weiblichkeit als Maskerade, die für Lacan der Phallus ist im Gegensatz zur männlichen Position, den Phallus zu haben: „Der Phallus ‚sein‘, bedeutet also für die Frauen, daß sie die Macht des Phallus widerspiegeln, diese Macht kennzeichnen, den Phallus verkörpern, den Ort stellen, an dem der Phallus eindringt, und den Phallus gerade dadurch bezeichnen, daß sie sein Anderes, sein Fehlen, die dialektische Bestätigung seiner Identität ‚sind‘“. 19 Vgl. Mitchell, Juliet: Psychoanalyse und Feminismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbewegung, Frankfurt am Main 1976, S. 140-142, hier: S. 142. Freud unterscheidet drei Typen des Masochismus: den erogenen, den femininen und

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ihres Ehemanns tätig, in dem die Vorstellungen aus der sexuellen Hingabe Johannas bestanden, und Johanna ist auch für den Ich-Erzähler eine Schauspielerin: „Sie spielte gern. In dem Sinne, wie eine Schauspielerin gerne auf der Bühne steht und ihr Können überprüft.“ (S. 124) Johanna wird insbesondere dann zum radikalen Anderen, das Weiblichkeit und Tod verbindet, wenn sie im Theater ihres Ehemannes Desdemona, eine prominente, männlich fantasierte „schöne Leiche“ beziehungsweise ein geborenes Opfer spielt (S. 73). Ausgerechnet die Maskerade und das Schauspiel sind es jedoch, die die binäre Geschlechterordnung unterlaufen, denn Johanna imitiert Männlichkeit durch Gestik, Kunst und Schrift. Gilt Weiblichkeit nach Freud als unfähig zur Sublimierung, also zum Kunst- und Kulturschaffen, so kann Johanna Kunst und Kultur nur dann produzieren, wenn sie zu ihrem Ehemann wird, oder umgekehrt: Die Kunst wird zu einem Beweis für die Existenz von Ralf in Johanna. Allem voran wird dabei das Schreiben zur männlichen Domäne erklärt. Johanna schickt ihre Briefe an Ralfs Mutter, als ob Ralf sie geschrieben hätte. Die graphologische Expertise im Kapitel Ostinato (S. 101) stellt eine 90-prozentige Übereinstimmung zwischen Johannas und Ralfs Schrift fest.20 Darüber hinaus gleicht sich Johanna durch ihre Performanz dem Ehemann an: Die Imitation der Gesten, der Körperhaltung und der Stimme Ralfs suggerieren dem Protagonisten die Präsenz des Mannes: „Wie er über das Zeichnen als Annäherung an das Wesentliche, immanent Theomantische sprach, fachkundig, inbrünstig, oder über die freie Liebe in den von ihm gegründeten Kommunen – wer mir zuvor gesagt hätte, eine Frau könne sich derart in zutiefst maskuline Position hineindenken, ohne mit irgendeinem Nebenton unstimmig zu wirken, den hätte ich für, für –“ den moralischen Masochismus, dabei kann er bei beiden Geschlechtern auftreten. „[...] im Phantasieleben von Mann und Frau steht die weibliche Situation der ‚Kastration‘, des passiven Geschlechtsverkehrs mit einem aggressiven Vater (oder dessen Ersatz) und des Gebärens für das Prinzip der Schmerzlust. Masochismus ist ‚feminin‘ – gleichgültig, bei welchem Geschlecht er auftritt.“ 20 Das Kapitel Ostinato (S. 101) – ein wiederkehrendes Musikmotiv – wird in der Schmerznovelle zum Unheimlichen im Sinne Freuds. Nach dem Ergebnis der graphologischen Expertise wird dem Protagonisten unheimlich, da die Expertise zu 90% die Übereinstimmung mit der Schrift Ralfs bestätigt, doch der Protagonist weiß genau, dass die Briefe, die das narzisstische Begehren Ralfs offenbaren, von einer Frau stammen: „Jeden elektrischen Impuls, der vom Nacken aus in die Muskeln zuckte, vermeinte ich wahrzunehmen, verlangsamt, vergrößert.“ (S. 101) Die Briefe von Ralf-Johanna lassen in der Schmerznovelle erkennen, was der Protagonist zu verdrängen versucht: „Ich ist ein Anderer“. Das männliche Begehren ist wortwörtlich der Diskurs des weiblichen Anderen. In den Briefen werden die Abhängigkeit des Subjektes und seine Spaltung im Präödipalen freigelegt, die auf Kosten der Anderen durch seine Zerstörung zu leugnen versucht wird.

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(S. 67). Die Position des Mannes einzunehmen, heißt „fachkundig“ und sachlich, im Gegensatz zur unterstellten femininen Emotionalität, zu sprechen. Wird Weiblichkeit bei Krausser hauptsächlich über die weiblichen Genitalien definiert, so wird Männlichkeit durch Rationalität und Schöpfungskraft bestimmt. Diese Imitation von Männlichkeit legt das performative Fundament der Geschlechtsidentität frei, wie es Judith Butler entwickelt. Die Geschlechtsidentität wird laut Butler performativ hervorgebracht, das heißt durch imitatorische Akte, Gesten und Inszenierungen, die die Illusion eines inneren, originalen Kerns der Geschlechtsidentität produzieren.21 Butler weist darauf hin, dass die „Struktur der Imitation einen der zentralen Mechanismen der Fabrikation/Erfindung offenbart, durch die sich die gesellschaftliche Konstruktion der Geschlechtsidentität vollzieht.“22 Das Äußere, wie Sprechen und Körperhaltung, produziert in der Schmerznovelle ganz in diesem Sinne das ‚maskuline‘ Innere, so dass Männlichkeit als Effekt performativer Akte freigelegt wird: Dadurch erscheint auch Männlichkeit bei Krausser als Maske.23 Das Aneignen der Männlichkeit durch Maskerade bezieht sich auch auf das intertextuelle Spiel mit bekannten literarischen Motiven. Von der Ermordung Ralfs durch Johanna erfährt man im Kapitel Fidelio, das auf Beethovens gleichnamige Oper referiert. In Analogie zur Oper, in der eine als Mann maskierte Frau ihren Geliebten aus dem Gefängnis rettet, wird Johanna zu Ralf und befreit ihn auf radikale Weise, durch die Tötung, von seinen Schmerzen (S. 124-129). Die Konstruktion des Weiblichen, das die Schmerznovelle jenseits der bürgerlichen Ordnung positioniert, stellt insgesamt keinen neuen Entwurf dar. Vielmehr entsteht Androgynie durch das Zusammenführen tradierter weiblicher und männlicher Geschlechterzuschreibungen, von Masochismus, Maskerade, Ohnmacht und Opferrolle auf der einen Seite und Macht, Kunst und Täterrolle auf der anderen Seite. Durch diese Überlagerung erscheinen beide Geschlechterkonstruktionen jedoch als artifizielle Konstrukte und als Effekt von Imitationen und performativen Akten. Die Androgynie besitzt in der Schmerznovelle mithin eine die existierende Ordnung sprengende Macht, die durch die Figur der phallischen Frau versinnbildlicht wird,24 wie sie die männliche Kunst und Literatur imaginiert, um das verbotene Begehren oder die Ängste mit der Frau abzuspalten. Als phallische Frau bedroht Johanna den Protagonisten mit der Kastration in der Tradition der Femme fatale: Judith und Salomé. Im Kapitel Furcht (S. 40-41) flieht der Ich21 22 23 24

Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 200. Ebd.: S. 201. C. Benthien/I. Claudia (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. J. Lacan: Die Bedeutung des Phallus, S. 119-132. Es ist zu erwähnen, dass die Positionen, den Phallus zu haben und der Phallus zu sein, in Lacans Theorie eine Verfehlung darstellen, die trotzdem notwendig ist, um diese Unmöglichkeit zu artikulieren.

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Erzähler vor Johanna, die mit einem Messer bewaffnet ist. Das Essen und Brotschneiden mit einem gewaltigen Messer „stellte eine kaum verborgene sexuelle Handlung dar, eine stellvertretende Zärtlichkeit […].“ (S. 40) In dieser Szene ereignet sich vor dem Hintergrund von Freuds Traumsymbolik ein symbolischer sexueller Akt, da die Bedrohung mit Waffen laut Freud25 stellvertretend für den Geschlechtsverkehr steht. Zwischen Traum und Realität Die Schmerznovelle bezieht sich in Handlung und Inhalt intertextuell auf die Traumnovelle von Arthur Schnitzler. In beiden Novellen findet die Handlung in Österreich statt; die Erzählperspektive in beiden Novellen ist die Perspektive eines Arztes; beide hinterfragen die bürgerliche Geschlechterordnung. Die Erlebnisse des Arztes in der Traumnovelle bleiben ungeklärt und auch die Schmerznovelle arbeitet mit Unentscheidbarkeiten. Beide stellen die bürgerliche ‚Normalität‘ über den Tod einer schönen Frau her. Dabei folgt das intertextuelle Verhältnis zwischen Schnitzlers und Kraussers Text selbst der Freud’schen Psychoanalyse, denn zur Traumarbeit nach Freud gehört unter anderem die Verdichtung und Verschiebung,26 die in der Schmerznovelle zur Referenzstrategie wird, die einen Bezug zu den weiblichen Figuren der Traumnovelle herstellt. In der Traumnovelle trifft der Arzt Fridolin, enttäuscht von seiner Ehefrau Albertine, nachts die in ihn verliebte Frau Marianne, die bald einen von ihr nicht geliebten Mann, einen künftigen Professor, heiraten soll, außerdem die junge Prostituierte Mizzi, eine im Kostüm Pierrots maskierte Wahnsinnige, Tochter des Kostümverleihers Gibiser, und eine maskierte nackte Adlige, die sich vermutlich in den höheren Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft prostituiert. In der Schmerznovelle wird Marianne durch eine Verschiebung zu Sylvia: Diese liebt in Analogie zu Marianne den Ich-Erzähler, ist aber mit einem von ihr ungeliebten Professor verheiratet. Die anderen weiblichen Figuren werden in Johanna verdichtet: Sie maskiert sich und leidet unter einer Persönlichkeitsspaltung in Analogie zur wahnsinnigen Tochter Gibisers in der Traumnovelle. Bei Schnitzler ist die Rolle des Vaters der Wahnsinnigen unklar, jedoch sexuell konnotiert. Gibisers Tochter ist entweder wegen sexuellen Missbrauchs wahnsinnig geworden oder wird aufgrund ihres Wahnsinns sexuell von ihrem Vater missbraucht.27 In der Schmerznovelle ist Johannas Persönlichkeitsspaltung vermutlich das Ergebnis des sexuell destruktiven Verhaltens ihres Ehemannes. Die Prostituierte Mizzi und die maskierte unbekannte Frau in der Orgienszene der Traumnovelle werden in der Schmerznovelle ebenfalls von Johanna verkörpert, die sich ihren eigenen Angaben zufolge 25 S. Freud: Der Traum, S. 158. 26 Ebd.: S. 173-186. 27 Vgl. Perlmann, Michaela L.: Der Traum in der literarischen Moderne. Zum Werk Arthur Schnitzlers, München 1987, S. 180-201.

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für/bei Honoratioren prostituiert. Die Frau uenfiguren in der Traumnovelle werden als ausgebeutet, unterdrückt und masochistisch m (opferbereit) dargestellt28, genauso wie die unterdrückte und ausgenutzte a Figur Johanna in der Schmerznovelle als Masochistin präsentiert wird. w Abbildung 10. Salvador Dalí: Traum m, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatap pfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen (1944). Öl auf dem Leinwand, L 51 x 41 cm.

Quelle: A. Dawn (Hg.): Dalí, S. 335.

Diese Referenz zur Traumnovelle legt nahe,, die Analyse der Schmerznovelle mithilfe der Freud’schen29 Traumdeutung zu z erweitern und das Verhältnis zwischen Realität und Traum sowie zwisch hen Bewusstem und Unbewusstem zu hinterfragen. Der psychoanalytischee Diskurs dient in beiden Novellen dazu, die Grenzen der bürgerlichen Orrdnung und des Bewusstseins zu überschreiten: In der Schmerznovelle wird die Figur Johanna zum Medium Realität‘. Sie verwirklicht den der Erscheinung einer surrealistischen ‚R Traum Albertines, die in der Traumnovelle die patriarchalische Ordnung durch den Mord an ihrem Ehemann ungültig macht, um ein unterdrücktes Begehren auszuleben, und sie reproduziert das Opfer der nächtlichen Orgie S Sehnsucht nach einer der hohen Gesellschaft. Hat Fridolin bei Schnitzler Unbekannten, die ihr Leben für ihn opfert, so s bekommt der Ich-Erzähler bei Krausser die Chance, die unbekannte Frau näher n kennenzulernen.

28 Vgl. ebd.: S. 180-201. 29 S. Freud: Der Traum, S. 79-246.

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Welches Verhältnis zwischen Traum und ‚Realität‘ in der Schmerznovelle besteht, präzisiert darüber hinaus die intermediale Referenz zu Dalís Werk Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen (1944, Abbildung 10, S. 178). Die Fantasien der schizophrenen Johanna scheinen sich mit den surrealistischen Imagines Dalís zu überschneiden. Die Schmerznovelle nimmt auf Dalís Gemälde zum einen durch eine Hummel Bezug, die die schizophrene Johanna malt, zum anderen durch die Thematisierung der Traumsymbolik und Traumdeutung von Sigmund Freud, die sowohl Dalí als auch Krausser umfunktionalisieren. Mit seinem Gemälde thematisiert Dalí das Verhältnis zwischen ‚Realität‘ und Traum, indem sich die Realität, hier die Bedrohung durch einen möglichen Bienenstich, im Traum zu einer Manifestation des Unbewussten, also zur Wunscherfüllung im Sinne Freuds, verwandelt. Während die kleine Biene im Vordergrund um einen unversehrten Granatapfel kreist, springen im Traum aus einem riesigen geöffneten Granatapfel im Hintergrund ein Fisch, zwei Tiger und ein Gewehr, das die nackte, schwebende Ehefrau Dalís, Gala, mit dem Bajonett zu penetrieren droht. Der auf die Realität bezogene Granatapfel ist noch nicht angebissen, der Traum deutet jedoch mit der geöffneten Frucht die Wunscherfüllung nach Freud an. Durch die Referenzen zum Mythos der Persephone30 und zum Triptychon Die Versuchung des Heiligen Antonius von Hieronymus Bosch31 in Verknüpfung mit der Freud’schen Traumsymbolik (nach der die Waffe das männliche Genital repräsentiert) manifestiert der Traum eine Wunschambiguität: die Angst vor dem Verlust der Jungfräulichkeit und gleichzeitig den Wunsch nach der Penetration. Einerseits bietet sich der nackte weibliche Körper Galas zur Penetration an; sowohl die Nacktheit als auch ihre Pose deuten die Erwartung und den Wunsch an. Andererseits hat die Penetration einen bedrohlichen und zerstörerischen Charakter, da der Phallus einer Waffe oder einem Bienenstachel gleicht, also Schmerzen und Verletzungen mit sich bringt. Aus der Wollust des Granatapfels entspringen daher verdrängte Ängste. Die Schmerznovelle kehrt dieses Verhältnis zwischen ‚Wirklichkeit‘ und Irrealität um, indem eine ‚reale‘ Biene aus einem surrealistischen Traum 30 Persephone ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Toten, der Unterwelt und der Fruchtbarkeit, für die sich vier gegessene Granatapfelkerne als verhängnisvoll entpuppen. Da sie vier Granatkerne gegessen hat, muss sie vier Monate in der Unterwelt verbringen, und die Erde bleibt während dieser Zeit unfruchtbar. 31 Die Kunsthistoriker weisen auf die gleichen Elemente in Dalís Bild und Hieronymus Boschs linkem Flügel des Triptychons Die Versuchung des Heiligen Antonius ca. 1501 hin. Bei Bosch isst ein größerer Fisch einen kleineren Fisch. Vgl. Taylor, Michael R.: Dream Caused by the Flight of a Bee around a Pomegranate, One second before Awaking, 1944, in: Dawn, Ades (Hg.): Dalí. Die JahrhundertRetrospektive. Englische Originalausgabe, München 2004, S. 334.

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von Dalí zu einer irrealen Hummel in einer surrealistischen Wirklichkeit wird. Das Gekritzel von Johanna auf dem Gemälde scheint als Sinnbild für Chaos der Wirklichkeit anzugehören. Die gut ausgemalte Hummel als Sinnbild für die phallische Ordnung in Anlehnung an Dalí erscheint irreal, da sie laut Johanna von ihrem toten Ehemann geschaffen wurde. Die Hummel ruft bei Krausser aber keine Penetrationsfantasien und -ängste hervor, sondern versinkt einsam in das sie umgebende weibliche Gekritzel – eine Manifestation von Ohnmacht. Männlichkeit fungiert bei Krausser anstelle von Weiblichkeit als „schöne Leiche“, die das Geheimnis der Novelle repräsentiert. Dies zeigt sich unter anderem in einer Anspielung auf die religiöse Sekte Opus Dei: Ralf Palm hat zu Lebzeiten eine als „Orkus Dei“ bezeichnete Gruppe gegründet, die den Namen der Unterwelt in der römischen Mythologie trägt. Johanna wird damit zu Persephone, die dem Diesseits und dem Jenseits angehört und sich auf der Grenze zwischen Tod und Leben, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit bewegt. Das chaotische Ralf-JohannaGemälde wird zu einem Kennzeichen dieser Geschlechtsirritationen beziehungsweise der Entgrenzung der Geschlechtsidentität.

D AS P RÄÖDIPALE

ALS

P RODUKT

DES

Ö DIPALEN

Ralf wird zu einem Doppelgänger des Protagonisten, der die Konsequenzen aus der Ablehnung des Vaters vorführt. Johanna weist ausdrücklich auf die Ähnlichkeit des Erzählers mit Ralf hin: „Daß du glaubst, niemand könne dir was tun. Ralf war genauso.“ (S. 119) Mit seiner Verweigerung der Identifizierung mit dem Vater und seinen sexuell konnotierten Vernichtungsfantasien entspricht Ralf dem Profil eines Lustmörders. Aus Ralfs Briefen und seinen Gemälden und später aus den Briefen Johannas, die sie als Ralf schreibt, wird deutlich, dass der Ödipuskomplex nicht überwunden und die Identifikation mit dem Vater gescheitert ist. Es findet eine gegenseitige Nicht-Anerkennung zwischen Ralf und der patriarchalischen Ordnung statt. Darauf weist das Spiel hin, bei dem der Vater seinen Sohn Ralf sucht und nicht finden kann. „Du weißt, als er fragte, wo Ralf denn sei, und ich sagte: hier, hier bin ich doch, und er sah in die Luft und fragte, wo denn Ralf bloß ist, und ich klammerte mich an seine Hosenbeine, schrie: hier bin ich doch, hier […].“ (S. 82) Ralf-Johannas Brief32 beschreibt noch ein anderes Spiel mit dem Vater, bei dem Ralf nie gewinnt: „Vati hat mich nie gewinnen lassen, und wenn ich schummelte, gab er mir eine Ohrfeige.“ (S. 86) Nicht nur im Spiel wird Ralf die soziale Anerkennung entzogen: Er verbringt das ganze Leben in finanzieller Not und wird zwei Mal zu Haftstrafen verurteilt, das erste Mal wegen „Verstößen gegen das Rauschmittelgesetz“ und das zweite Mal wegen „angeblicher sexueller Nötigung Minderjähriger“ (S. 30).

32 Hier sind die Briefe gemeint, die Johanna schreibt, als ob sie Ralf wäre.

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Seine Kunstprojekte – Bühnenentwürfe und Zeichnungen – finden ebenfalls keine Bestätigung. Ralf bleibt aus der Vaterordnung ausgeschlossen. Aus einem Ralf-Johanna-Brief geht hervor, dass die Vaterordnung Gewalt und Ungerechtigkeit mit sich bringt. Der Vater ohrfeigt im CampingUrlaub in Italien einen unbekannten Hippie-Jungen, der um Geld gebettelt hat, um nach Deutschland zurückkehren zu können. Der Junge steht sowohl für die gegen die autoritäre Vaterordnung rebellierende Jugendgeneration der 1960er Jahre als auch stellvertretend für Ralf, der später radikalen österreichischen Künstlerkreisen angehört: „Er gab ihm eine Ohrfeige statt mir.“ (S. 87) Ralf verweigert daher die Identifizierung mit seinem Vater: „Ich schäme mich für meinen sich schämenden Vater. [...] Das raubte ihm in meinen Augen jeden Nimbus.“ (S. 87) Er verbleibt daher in einer narzisstischen präödipalen Phase, wie der intertextuelle Bezug zu Octave Mirbeaus33 Roman Der Garten der Qualen (S. 31) bestätigt. Zu diesem Roman soll Ralf 1979 Illustrationen verfertigt haben. Bei Mirbeau wird ein männlicher Protagonist in einer Identitätskrise beziehungsweise als in der politischen Karriere gescheitert dargestellt. Er folgt einer jungen Engländerin nach China, wo sich Clara als monströs-lüstern entpuppt und ihn in den „Garten der Qualen“ einführt. Dieser imaginäre Ort des verbotenen Begehrens wird durch einen Lustmord pathologisiert und durch das ethnische Andere (China) und durch Weiblichkeit (Clara) codiert, um Störfaktoren aus dem eurozentrischen Männlichkeitsdiskurs auszugrenzen. Diese intertextuelle Referenz zu Mirbeau deutet bei Krausser auch auf die Verweigerung der Vaterordnung hin, deren Jenseits durch die narzisstisch-sadistische, ja lustmörderische Beziehung zwischen den Geschlechtern charakterisiert ist. Für diese Entwicklungsphase sind nach Lacan Zerstückelungsfantasien charakteristisch, die sich auch in der Beziehung mit dem weiblichen Anderen manifestieren. Sie deuten sowohl auf die Negation der Ich-Spaltung als auch auf den Kastrationskomplex34 hin. Die Kastrations- und Zerstückelungsfantasien werden in Ralfs Kunst zum Hauptthema, wie aus den Titeln seiner Zeichnungen hervorgeht.35 Die vom Ich-Erzähler betrachteten Zyklen von Zeichnungen heißen „Schnittstellen mit organischer Umgebung“ und „Verlustangst“ (S. 36) und zeigen partialisierte Körperglieder (Bein, Ohr, Knie), die durch Messerstiche, eine Form der symbolischen Kastration, verwundet sind. Männlichkeit stellt sich einerseits dar in ihrer Angst, durch die Vaterordnung kastriert zu werden, andererseits ist die Kastration unvermeidlich: „In meinen Augen war Palms Intention gewesen, Körper und Wunde als etwas selbstverständlich Zusammengehörendes zu 33 Mirbeau, Octave (1899): Der Garten der Qualen, Köln 1992. 34 Vgl. S. Freud: Das Unheimliche, S. 257. In Anlehnung an Freud deuten die abgetrennten Körperglieder in Kunst, Literatur und Traum auf den Kastrationskomplex hin. 35 Dies könnte auch auf eine intermediale Referenz auf das Werk von Hieronymus Bosch (1460–1516) hindeuten.

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zeigen, der Wunde ihre Exzeptionalität zu rauben und den Körper drum herum zu plazieren, als der Wunde natürliche Behausung.“ (S. 36) Die lustmörderischen Fantasien werden zur Kompensation des Mangels, der auf das weibliche Andere projiziert wird, zumal das Weibliche als „Metapher der Auflösung, der Fragmentierung [fungiert] und […] die Männlichkeitsentwürfe als Mangelkonstruktion“36 ausweist. In den Briefen von Ralf-Johanna imaginiert Ralf einen sexualisierten Mord an seiner Mutter, und er zeichnet sie nackt und tot. Johanna wird von ihrem Ehemann sadistisch missbraucht. Letztendlich wird Johanna zur Männermörderin – die Imagination der phallischen Frau, die ebenfalls für das Präödipale charakteristisch ist.37 Das heißt, die alternative Ordnung bei Krausser, der sich in den Traditionen der Psychoanalyse bewegt, basiert auf der Vernichtung des weiblichen Anderen und stellt daher keine Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft dar, denn beide Ordnungen nähern sich in dem Ausmaß der Gewalt, die zwischen den Geschlechtern herrscht, an. Die Novelle kehrt hinzu das Verhältnis zwischen Ödipalem und Präödipalem um. Da Johanna, die die Geschlechterverwirrung stiftet, ein Geschöpf des männlichen Künstlers ist, erscheint das Präödipale als Produkt der künstlerischen Männerfantasien. Darauf weisen die Anhäufung von stereotypen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit hin, die Johannas Identität charakterisieren, aber auch die Mythen und intertextuellen sowie intermedialen Referenzen. Das heißt, das Präödipale ist ein Produkt der patriarchalischen Ordnung, die es für seine eigene Aufrechterhaltung und Stabilisierung braucht. Slavoj Žižek formuliert in Anlehnung an Lacan, dass das „Traumatische die Kehrseite des Gesetzes selbst ist, das Gesetz als der unfaßbare, sinnwidrige, verrückte Befehl, der den Genuß nicht verbietet, sondern geradezu gebietet. Man könnte also sagen, daß sich das Gesetz notwendig in sich spaltet, verdoppelt: In das versöhnende Gesetz und das verrückte Gesetz; der Gegensatz von Gesetz und Übertretung wiederholt sich in gewissem Sinne innerhalb des Gesetzes selbst [Hervorhebung im Original].“38 Die Schmerznovelle macht ebenfalls deutlich, dass erst ein gesetzloser Ort geschaffen werden muss, bevor die bürgerliche ‚Normalität‘ produziert werden kann. Johanna wird deshalb nicht nur für ihren Ehemann die Möglichkeit zum Ausleben der verbotenen Triebe. Nach Ralfs Tod wird Johanna von einer „verschworene[n] Clique fettwanstiger Honoratioren“ (S. 97) sadistisch missbraucht, um die Mietzahlung zu begleichen. Die maskierten Männer mit einem hohen sozialen Status, die diese Ambivalenz des Gesetzes zum Ausdruck bringen, vergewalti36 F. Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 114. 37 J. Lacan: Die Bedeutung des Phallus, S. 119-132. Für die präödipale Phase erscheint die Mutter für beide Geschlechter mit dem Phallus ausgestattet, führt Lacan in Anlehnung auf Freud vor. 38 Žižek, Slavoj: Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Wien; Berlin 1992, S. 52.

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gen Johanna, was auf die Traumnovelle verweist. Sie haben die Macht, das Gesetz zu bestätigen beziehungsweise festzulegen und zugleich Verbrechen zu begehen. Die Traumnovelle und die Schmerznovelle bringen damit die Unvergänglichkeit des Vatergesetzes zum Ausdruck. Aus dieser konstitutiven Wechselwirkung von Nachödipalem und Präödipalem entsteht für Männlichkeit bei Krausser eine ausweglose Situation: Beide sind weder für Mannbildung noch für gerechte Geschlechterverhältnisse tauglich. Akzeptiert der Protagonist die patriarchalische Ordnung, wird er als ohnmächtig beschrieben, wie beispielsweise beim Konzert am Anfang der Novelle: „Ich blieb in Kapplers korpulentem Schatten, lavierte mich so durch. Niemand wollte wissen, wer ich war.“ (S. 10) Der ‚Sohn‘ ist dem Vater unterworfen, der jedoch selbst ein Versager ist, so dass die Vaterordnung zum Ort des Scheiterns von Männlichkeit wird. Der Ich-Erzähler wird durch die Identifizierung mit dem Vater zum Versager des Versagers verurteilt. Verweigert der Ich-Erzähler die Vaterordnung, so verweilt er in einem nicht weniger monströsen Bereich, der sich zudem aus dem Patriarchat ableitet. Die anti-bürgerliche Ordnung wird also nicht als alternative Ordnung zum Patriarchat dargestellt, sondern als sein Produkt, weil dort männliche Ängste und ein Begehren herrschen, das die Geschlechterkonstruktionen auf gegenseitige Vernichtung gründet: Entweder wird die phallische Frau den Mann ‚kastrieren‘ oder der Mann eignet sich ihren Phallus an, indem er die phallische Frau symbolisch ‚kastriert‘. Auf dem Höhepunkt der Novelle kommt es zu dieser mörderischen Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern (S. 131-139), die mit der (Selbst-)Kastration der phallischen Frau endet und die bürgerliche ‚Normalität‘ herstellt. Der Mann (Ralf) entmachtet die Frau, indem er ihr eine Kastrationswunde, einen Halsstich, zufügt. Das Weibliche wird wortwörtlich ‚kastriert‘, um dem Protagonisten die Rückkehr in die patriarchalische Ordnung zu ermöglichen. In der Referenz zur Traumnovelle kann aber die Mordszene auch als eine Wunscherfüllung des männlichen Protagonisten gelesen werden, die sein symptomatischer Doppelgänger Ralf vollzieht. Denn die Fantasien von einer Geschlechterordnung mit Zweisamkeit, Einverständnis und Liebe sind weder in der patriarchalischen Ordnung noch in den (männlich fantasierten) matriarchalischen Ordnungen möglich: „Ich wollte Johanna, kein Spiegelwesen, wollte nicht schauspielern, um ihr zu gefallen […]. Sie aber sah weg wie eine schlechte Nutte, bot alle Fremdheit auf, zu der sie fähig war.“ (S. 132) Diese ‚matriarchalische‘ Ordnung bietet dem Protagonisten keine Alternative, außer der Erkenntnis seiner Ohnmacht und der Unmöglichkeit der Zweierbeziehung. So kehrt der Mann durch die wiederholte Inszenierung des Ödipuskomplexes in die männliche Ordnung zurück. Sylvia verlässt ihn, das inzestuöse Verlangen wird unterbrochen. Der Ich-Erzähler kehrt zu seinem Doktorvater zurück als ein symbolisches Zeichen für die Identifizierung mit der Vaterfigur. Mit Bronfen39 gesprochen wird die „schöne Leiche“ zum Ort der 39 Vgl. E. Bronfen: Nur über ihre Leiche.

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Verhandlung und Wiederherstellung von patriarchalischen Werten und Normen.

F AZIT Das Genre Novelle ermöglicht eine neue Repräsentation des Lustmordes. In Analogie zu Barfuß von Michael Kleeberg wird die Darstellung des Lustmordes bei Krausser ebenfalls am Ende der Handlung geschildert. Die Erklärung wird aber post factum wie in einem Kriminalroman rekonstruiert, während bei Kleeberg eine hinführende Erklärung eingesetzt wird, die über die Intensivierung der Zerstörung zum Lustmord führt. Da es in Kraussers Novelle um die Auflösung des Rätsels geht, wie genau und aus welchen Gründen sich Johanna umgebracht hat, wird die Spannung durch die Fragmentarisierung des Geschehens aufgebaut, die es möglich macht, das Rätsel bis zum Ende der Handlung aufrechtzuerhalten. Beiden Novellen ist das Verschwinden des Täters gemeinsam, obwohl sie sich unterschiedlicher Erzählweisen bedienen. In beiden Novellen wird der Lustmord zum lustmörderischen Selbstmord, wobei Krausser im Gegensatz zu Kleeberg den Lustmorddiskurs eher fortschreibt. Beide Novellen inszenieren beispielweise den Ödipuskomplex. Während Kleeberg ihn eher strukturell einsetzt, um den Rahmen für die Übertretung zu schaffen, bedient sich die Schmerznovelle des psychoanalytischen Diskurses mit dem Ergebnis, dass sie jede gegenüber dem Patriarchat alternativ positionierte Ordnung pathologisiert und somit abwehrt. Zugleich verrät die Novelle Kraussers die konstitutive Beziehung zwischen der bürgerlichen ‚Normalität‘ und dem sadistischen Präödipalen, das als Produkt der patriarchalischen Ordnung erscheint, da die ‚Norm‘ für ihr Funktionieren einen anomischen Ort benötigt. Außerdem ist der eigentliche Lustmörder in der Novelle eine Frau, die jedoch durch den männlichen Künstler geschaffen wird. Der Lustmord ist Produkt der bürgerlichen Gesellschaft und der männlichen Kunst. Als Novum erscheint die geschlechtsspezifische Funktion des Lustmordes: Ihm kommt sowohl eine zerstörerische als auch eine stabilisierende Funktion zu. Der weibliche Lustmord am Mann fungiert als Destabilisierung und Überschreitung der existierenden Ordnung, während der männliche Lustmord an der Frau die patriarchalische Ordnung wiederherstellt. Um diese geschlechtsspezifische Ausdifferenzierung möglich zu machen, schreibt Krausser das tradierte binäre Gender-Schema fort und dekonstruiert es zugleich. Die Frau ‚verwandelt‘ sich immer in den Mann, bevor sie tötet – eine traditionelle Repräsentation. Die Frau wird dabei zum Androgyn – eine Überschreitung der engen Geschlechtergrenzen. Die Funktionalisierung des Mordes für die Entstehung der Androgynie macht wiederholt die Zementiertheit der binären Geschlechtermatrix kenntlich.

Die Lustmörderin als Produkt männlicher Kunst Die Hirnkönigin von Thea Dorn

„W ENN

DIE

F RAUEN

ZU SEHR MORDEN

…“

Der Roman Die Hirnkönigin von Thea Dorn erzählt von Frauen. Die Frauen bringen um, ermitteln, kämpfen, konkurrieren mit Männern und sterben. In der Tradition des Thrillers werden zwei Protagonistinnen einander gegenübergestellt: Die energische Journalistin Kyra von der Zeitung Berliner Morgen, die auf der Suche nach einer „wirklich gewalttätigen“ Frau ist (S. 22), und die „wirklich gewalttätige“ Frau, Nike, die nicht aus Rache oder Verzweiflung tötet, sondern aus reiner Lust. Reife Männer mit Glatze und Bart, die den Gestalten der griechischen Götter ähneln – sie alle stammen aus der Kulturszene, die zum Ort des Kampfes der Geschlechter wird –, fallen ihr zum Opfer. Erst tötet sie den Chefredakteur Robert Konrad, danach den pensionierten Bibliothekar Kurt Homberg, schließlich den Bildhauer Gustav Eisenrath. Die Polizei tappt im Dunkeln, da auch die Mordweise geschlechtlich codiert ist: „[…] solche kranken Sex-Dinger machen Frauen nicht“ (S. 192). Die Protagonistin Kyra findet durch ihre privaten Ermittlungen die Lustmörderin, die sich als eine Verkörperung der patriarchalischen Fantasien und gleichzeitig als ein Hybrid aus literarischen und kulturellen Männerfantasien von der Antike bis zur Gegenwart darstellt: Sie ist eine notorische Femme fatale. Durch die intertextuelle Dichte und die Allusion auf tradierte literarische Motive und Mythen imaginiert der Roman Nike als Athene, Salomé, Judith und Elektra, also eine präödipale, „phallische Frau“1, die die Männer verführt und sie im Rausch des ritualisierten Blutbades enthauptet beziehungsweise symbolisch kastriert. Nach dem Mord an Franz Pawlak, dem Kollegen und besten Freund von Kyra, fällt auch die Emanze Kyra der Lustmörderin zum Opfer, das heißt, die feministische

1

Vgl. Jacobus, Maria: Judith, Holofernes und die phallische Frau, in: Vinken, Barbara (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt am Main 1992, S. 62-89.

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Emanzipation, die Kyra verkörpert, scheitert am lustmörderischen Patriarchat, dessen ‚Kunstwerk‘ Nike ist. Der Lustmord wird im Roman zur Kritik an den Normen, die ihn hervorbringen. Die Mörderin schlägt das Patriarchat mit seinen eigenen ‚Waffen‘ – durch die Umsetzung seiner eigenen Fantasien. Sie ist nichts anderes als ein Produkt männlicher Kultur, das tradierte Männerfantasien über Weiblichkeit verwirklicht. Diese Bestätigung der Normen wird zugleich zu deren Überschreitung, da eine als Lustmörderin dargestellte Frau gegen die bürgerlichen Geschlechternormen verstößt, die in der gegenwärtigen ‚Realität‘ des Romans herrschen. Dorns Roman unterwandert dadurch die stereotypen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, da der Lustmorddiskurs Lustmord dem männlichen Begehren und dem männlichen Verbrechen zuordnet. Ähnlich wie bei Krausser führt die Frau als Täterin zu Irritationen der tradierten Geschlechterordnung und macht den konstruktiven, ja gewalttätigen Charakter der Geschlechtsidentität sichtbar. Dorn lässt ebenso wie Krausser die männliche mörderische Kunst am Ende des Romans siegen. Während die Schmerznovelle jedoch unter dem Diktat der stereotypen Geschlechterbilder steht und somit eher der Tradition verpflichtet erscheint, kann der Roman Die Hirnkönigin als kulturkritischer Text gelesen werden, der stereotype geschlechtspezifische Weiblichkeitsund Männlichkeitstypologien in Literatur und Kunst in Frage stellt. Bezüglich des Romans Die Hirnkönigin lässt sich die folgende These formulieren: Die Genre-Transformation sowie die intertextuellen Referenzen zu den mythologischen Geschlechterbildern machen die Geschlechterpolitik transparent. Die Intertextualität der mythologischen Geschlechterbilder dient als Prisma, das durch ästhetische Geschlechterfantasien der Antike einen reflektierten und aufgefächerten Blick auf die gegenwärtige Geschlechterordnung ermöglicht. Zentral erscheint dabei der männliche Zeugungsmythos, der die weibliche Reproduktion zugunsten männlicher Schöpfungsfantasien usurpiert. Die Ära des Patriarchats beginnt mit der Leugnung der weiblichen Reproduktionskraft, die den Mann als Schöpfer und Künstler konstituiert. Die bei Dorn referierten Passagen und Mythen aus der Bibel und der Antike evozieren das tradierte Bild des Mannes, ähnlich wie in den beiden analysierten Novellen, als Schöpfer der Frau. Während Kleeberg die Frau als ungeformte Natur und als Medium der Kunstschöpfung denkt,2 setzen die Schmerznovelle und noch expliziter Die Hirnkönigin buchstäblich männliche Geburtsfantasien wie den Pygmalion- oder den Zeus-AtheneMythos in Szene. Der Unterschied liegt im Reflexionsgrad beider Werke. Krausser bedient sich unreflektiert der Mythen, Dorn reinszeniert sie, um das abendländische Repräsentationssystem kritisch zu hinterfragen. Zumindest reflektiert die Autorin mit der Figur der Lustmörderin ihr eigenes ästhetisches Verfahren. Auf einem Foto stilisiert sich die Autorin als Mörderin mit einem Gehirn auf einem Tablett. Sie profitiert vom ‚männlichen‘ Schöp2

S. Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 38. „[E]s [das Weibliche – Anm. d. Ver.] wird zum Rohstoff der männlichen Phantasien.“

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fungsgeist, indem sie die männlichen Mythen und Topoi für diesen Roman ausbeutet, sie teilweise zerstört, aber zugleich auch fortschreibt. Gemäß diesen Mythen erscheinen die Männerfiguren bei Dorn im Zusammenhang mit der Kulturproduktion, also als Kulturschaffende, und die Frauen als ihre Kunstwerke, deren gegenwärtiger Genese der Roman buchstäblich nachgeht. Drei verschiedene Familienmodelle und diverse daraus resultierende Weiblichkeitskonstruktionen werden überprüft. Analysiert werden daher eine ‚vorbildliche‘ bürgerliche Familie sowie zwei ‚unvollständige‘ Familienmodelle mit einer alleinerziehenden Mutter und einem alleinerziehenden Vater. In der ‚vollständigen‘ Familie wird die Tochter zur Lesbe. Mit ihrer Absage an die heteronormative Sexualität übt der Roman Kritik an der patriarchalischen Familie. Die alleinerziehende Mutter erzieht eine gewaltbereite und bisexuelle Tochter. Sie wird zu einer ‚weiblich‘ imaginierten Emanze, für deren Darstellung Dorn jegliche männliche Fantasien über weibliche Emanzipation verwirft und eine Alternative dazu entwickelt. Ihre Heldin nimmt an der Kulturproduktion teil und tritt konkurrenzfähig mit den Männerfiguren auf. Ihr gegenüber steht die ‚männlich‘ gedachte emanzipierte Frau. Der alleinerziehende Vater erschafft mit ihr eine Lustmörderin. Sie stellt sich als die ‚männlich‘ imaginierte Weiblichkeitskonstruktion dar, der allein der Roman am Ende die Existenz im Patriarchat zugesteht – sie überlebt die anderen Frauenfiguren. Die Lustmörderin lässt patriarchalische Schöpfungsfantasien ‚wahr‘ werden und dient dabei als Verkörperung der männlichen Ängste und Wünsche. So erscheint der Lustmord im Roman Die Hirnkönigin als Kultur- und vor allem als Kunstprodukt, das ein Ergebnis der seit der Antike vorherrschenden ästhetischen und patriarchalischen Traditionen ist.

F ORSCHUNGSSTAND Das Werk Thea Dorns wird kontrovers rezensiert, findet bislang aber wenig Beachtung in der Literaturwissenschaft. Einige Rezensenten preisen die Autorin als die beste junge Kriminalautorin, deren Markenzeichen die Verbindung von Intelligenz, Witz und Unterhaltung ist, andere nennen sie „Deutschlands brutalste Schreiberin“3, die „die Spezies Mensch – mit den Augen einer Misanthropin betrachtet.“4 So wirft Ulrike Bremer Thea Dorn vor: „Selbstinszenierung und die Gefahr der Selbsttäuschung, das ist auch ein wiederkehrendes Motiv in ihren Romanen. Nur endet es da meist in subtilem Horror.“5 Christine Illy bezeichnet in ihrer Rezension die Sprache des 3 4 5

Hägele, Anja: Meine Lehrjahre: Thea Dorn, Krimiautorin. „Lyrische Ausstrahlung“, in: Die Zeit vom 03.06.2006. Bremer, Ulrike: Thea Dorn. Verbrecherische Gegenwelten (02.04.2004), in: vom 03.06.2006. Ebd.

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Romans als „schnoddrig“, das Ende als „zu profan“: „Alles in allem ein knapp überdurchschnittlicher Serienkillerroman mit einer ordentlichen Portion Blut und Sex und der Besonderheit, daß er von einer ‚deutschen Autorin‘ ist. Warum dieser Roman den Deutschen Krimipreis 2000 erhielt? Vielleicht war es kein so gutes Jahr für den deutschen Krimi?“6 Die Autorin erklärt darauf, dass es für sie viel spannender ist zu beobachten, „was […] die Leute in ihrer Irrationalität“ machen und was sie dabei benutzen, „um dann doch zu erklären, es ist ganz vernünftig, was ich mache, obwohl es in Wirklichkeit Wahnsinn ist.“7 Thea Dorn interessiert sich auf einer Metaebene für das Zusammenspiel von Perversionen, Wahnsinn und Vernunft. Waltraud Sterling8 ordnet den Roman Die Hirnkönigin den Psychokrimis von Frauen zu, deren Genremerkmal eine radikale Enttabuisierung – nach Sterling ein Effekt der auf die Massen ausgerichteten Kulturindustrie – darstellt. Die Flut von visualisierten Gewaltbildern verursacht die „sich verschärfende Suche nach ‚authentischer‘ Erfahrung und unverbrauchten Bildern“ und den Gebrauch von Maximen wie schneller, höher und intensiver sowie mehr: „mehr Ekel Erregendes, mehr Perversion, mehr Sadismus, mehr Bestialität, mehr Blut…“9

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In den Cultural Studies wurde die Kriminalliteratur als feinfühliger Indikator der Kultur aufgewertet, der auf jede ihrer Änderungen und Tendenzen schnell reagiert und sich mit ihnen auseinandersetzt. Damit wurde der Kriminalroman in den Olymp der intellektuellen und anspruchsvollen populären Kunst aufgenommen:10 Es handelt sich um „ein Genre, in dessen Wandlungen sich deutlicher als in anderen gesellschaftliche Veränderungen spiegeln […].“11 Die Kriminalliteratur avancierte zum wichtigsten Literaturgenre, das im letzten Jahrhundert so viele Bücher, Hörbücher, Verfilmungen

6

Illy, Christine: Thea Dorn: Die Hirnkönigin, in: vom 03.06.2006. 7 U. Bremer: Thea Dorn. 8 Sterling, Waltraud: Deutschsprachige Psychokrimis von Frauen, in: Informationen zur Deutschdidaktik 28/2 (2004), S. 35-45. 9 Ebd.: S. 44. 10 Stuart Hall, ein Vertreter der von Raymond Williams gegründeten Birmingham School of Cultural Studies, hat in seiner Studie (1964) The Popular Arts den Popular Culture-Begriff aufgewertet und die Kriminalromane von Chandler und Hammett als anspruchsvolle, originär populäre Kunst anerkannt. 11 Wintersteiner, Werner: Moderne Märchen, in: Information zur Deutschdidaktik 2 (2004): Krimi, S. 5.

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und Drehbücher wie kein anderes Genre hervorgebracht hat.12 Die Kriminalromane werden zum „Medium für gesellschaftliche Debatte[n]“13 und als „moderne Märchen“14 anerkannt, die „doch die ganze Bitterkeit und Problematik des Lebens in sich einschließen.“15 Innerhalb dieses Aufwertungsprozesses sind Frauenkrimis laut Gabriele Dietze jedoch zu ‚niederer‘ Populärkultur im Vergleich zu den männlichen Popular Arts zu zählen.16 So löst sich die Grenze zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur im Roman Dorns auf, da der Frauenkrimi als ‚weiblich‘ abgewertete Trivialliteratur mit den ‚männlichen‘ Sujets und Mythen der kanonisierten Texte sowie mit ‚männlichen‘ Genreelementen vermischt wird. Das Thema Lustmord, die Wechselwirkung von Genre und Gender, aber auch die intertextuelle Dichte, die bekannte Motive umschreibt sowie neue Genre- und Gender-Konstruktionen hervorbringt, forcieren die Transformation des Romans Die Hirnkönigin. Er amalgamiert Elemente des Psychothrillers, der HardboiledLiteratur, des Film Noir sowie des Horrorgenres beziehungsweise Splatterfilms. Durch diese Vermischung von Genres werden die Gender-Konstruktionen als Effekt bestimmter Gattungsstrategien kenntlich. Die filmischen Horror- und Splatter-Elemente17 finden ihren Eingang in den Roman Die Hirnkönigin durch die Visualisierung der Lustmordszenen. Der Roman ahmt inhaltlich, konzeptuell und strukturell die filmische Darstellung nach: „Krimis sind außerdem transmediale Phänomene. Viele Helden finden sich in Romanen genauso wie in Comics oder in Kino- und Fern12 Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf: Eine Geschichte des Kriminalromans, München 1990, S. 269. Leonhardt zitiert das Börsenblatt des deutschen Buchhandels aus dem Frühjahr 1988: „Kein anderes Literaturgenre hat so viele Bücher, Filme, Hörspiele und Fernsehserien hervorgebracht wie die Kriminalliteratur. Kein anderes ist weltweit mehr verbreitet. Selbst in real-sozialistischen Staaten, wo ja nach marxistischer Lehre weder Kriminalität noch ein sich damit auseinandersetzendes Literaturgenre erfolgreich existieren dürfte, erfreut sich der Krimi wachsender Beliebtheit. Es scheint, wie Apologeten der Gattung schon lange behaupten, tatsächlich so zu sein: Die Kriminalliteratur ist die wichtigste Literatur dieses Jahrhunderts.“ 13 Ebd. 14 W. Wintersteiner: Moderne Märchen, S. 7. 15 Ebd. 16 Vgl. Dietze, Gabriele: Hardboiled woman: Geschlechterkrieg im amerikanischen Kriminalroman, Hamburg 1997, S. 256-260. Anzumerken ist, dass die geschlechtsspezifische Trennlinie zwischen der Trivial- und der Hochliteratur seit 1800 gilt. 17 Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors: Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt am Main 1994, S. 7-14. Die Ästhetik des Horrors changiert nach Hans Richard Brittnacher zwischen den bizarren Metaphern von Gewalt und Ekstase, Blut und Ekel, Sex und Tod, was ebenfalls der Darstellung des Lustmordes entspricht.

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sehfilmen.“18 Kurze Abschnitte, Dialogisierung, häufiges Wechseln der Szenen und Räume dynamisieren die Handlung des Romans, was als eine allgemeine zeitgenössische Tendenz im Kriminalgenre betrachtet wird. Georg Seeßlen stellt fest: „Insgesamt ist eine Angleichung der Erzählweise an die Konventionen der filmischen Darstellung des Genres festzustellen. (Die schnelle Schnittfolge der Serienkrimis findet sich in knapper werdenden Absätzen wieder; die Anzahl der handelnden Personen wird beschränkt; Szenen voller Action werden bevorzugt etc.).“19 Dorns Roman weist nicht nur diese Merkmale auf, sondern bringt Action und Dynamik durch das Narrative zum Ausdruck. Die Kapitel enden abrupt, wohingegen oft Sätze in einer Szene beginnen und auf die folgende, nicht damit verbundene Szene übergreifen und dort enden. Dieses rhetorische Mittel führt nicht nur zu einem drastischen Übergang von einem Kapitel zu einem anderen, sondern schafft den Eindruck, dass die Szenen in der Handlung gleichzeitig wie bei der filmischen Parallelmontage verlaufen. Anhand seiner Bestandteile, seiner Struktur und der Entwicklung der Handlung kann der Roman Dorns als Psychothriller definiert werden.20 Die bipolare Figurenkonstellation von ‚Gut‘ und ‚Böse‘, die durch die entgegengesetzten Protagonistinnen repräsentiert wird, geht auf das Thrillerschema zurück.21 Lustmord, Serienkillermotiv, die biografische Fundierung der Psyche der Täterin, das Scheitern der Aufklärung und der Tod der Protagonistin (Kyra) sind weitere charakteristische Elemente des Thrillers. Darüber hinaus weist der Roman typische Elemente des filmischen Psychothrillers in Analogie zum US-amerikanischen Filmthriller gegen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre auf, wie sie Inga Golde22 in ihrer Studie beschreibt: Neben den Analysekategorien Beziehung und Erotik macht die Identität der Täter- und Nichttäterfiguren das Psychothriller-Genre aus. Dorns Roman wird auf diese Weise nicht nur strukturiert, sondern er stattet außerdem die Protagonistinnen mit den ‚männlichen‘ Eigenschaften der Täter und der Nicht-Täterfiguren aus. Kyra ist zwar in der Rolle der Amateurdetektivin, die oft die weiblichen Protagonistinnen charakterisiert; diese Darstellung 18 W. Wintersteiner: Moderne Märchen, S. 6. 19 Seeßlen, Georg: Detektive: Mord im Kino, Marburg 1998, S. 28. Aufgrund dessen sowie aufgrund des Mangels an literaturwissenschaftlichen Arbeiten im Bereich des Horror-, Thriller- und Noir-Genres im Vergleich zu den Filmstudien, die die genannten Genres ins Zentrum vieler Forschungen gestellt haben, werden bei der Analyse von Die Hirnkönigin auch die Arbeiten zur Filmanalyse berücksichtigt. 20 In der Rezension Thea Dorn: Die Hirnkönigin von Christine Illy wird der Roman Die Hirnkönigin als Psychothriller klassifiziert. Waltraud Sterling bezeichnet den Roman Die Hirnkönigin in dem bereits zitierten Aufsatz Deutschsprachige Psychokrimis von Frauen als Psychokriminalroman. 21 Vgl. P. Nusser: Der Kriminalroman, S. 54. 22 I. Golde: Der Blick in den Psychopathen, S. 19.

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lässt jedoch eher die Eigenschaften der ‚männlichen‘ Hardboiled-Detektive erkennen. Das Hardboiled-Konzept ist ein „maskulinistischer“ oder sogar „hypermaskuline[r]“23 Diskurs,24 der seit den 1980er Jahren als Emanzipationsfantasie25 von Kriminalautorinnen übernommen und funktionalisiert wird: „Marlowes ausgekochte deutsche Töchter“, die Detektivinnen in den deutschen Kriminalromanen der Gegenwart, klären Verbrechen auf, „die letzten Endes durch das Patriarchat und seine Mechanismen motiviert sind.“26 Der Roman Die Hirnkönigin steht in dieser Tradition, jedoch realisiert die Figur Kyra Elemente des Hardboiled-Detektivs fast buchstäblich. Kyra agiert in den traditionellen männlichen Sphären der „Tough Guys“: Gewalt, Ehre, Selbstjustiz und Dominanz sind ihr eigen: Als einer ihrer Kollegen sie beschimpft, schlägt sie ihn gekränkt fast zu Tode (S. 28-30). Die Tough Guy-Helden definieren sich über ihre Sexualität, die durch Promiskuität und Heterosexualität charakterisiert ist, im Gegensatz zu den keuschen Detektivinnen in Hardboiled-Romanen, die sich nur über ihren Beruf bestimmen.27 Die Protagonistin Kyra definiert sich sowohl über ihre promiskuitive ‚freie‘ Sexualität, die sie dominant auslebt, als auch über ihren Beruf, den sie äußerst hart, zielbewusst, konkurrenzfähig und auf ‚männliche‘ Art gewalttätig ausübt. Im Vergleich zu den rationalen Helden wird in Frauenkriminalromanen eine besondere Art der weiblichen Ermittlung, „femini-

23 G. Dietze: Hardboiled woman, S. 9. 24 Das „Melodrama heimgesuchter Männlichkeit“ (Baym) konzentriert sich auf die ‚maskulinen‘ Felder von Gewalt, Ehre, Moral und Gerechtigkeit, die in der Forschung als eine Kompensation des durch die Modernisierung und Urbanisierung bedingten Verlusts von männlicher Souveränität und Selbstbestimmung betrachtet werden. Die Hardboiled-Kriminalliteratur wird durch spezifische ‚maskuline‘ Gender-Konfigurationen charakterisiert: Neben dem hypermaskulinen Helden gehört die Femme fatale zum konstitutiven Bestandteil des Genres. 25 Zu diesem Thema vgl. die ausführliche Analyse von Gabriele Dietze in: Hardboiled woman. Genre und Gender: Mainstreaming feminism im weiblichen hardboiled Code, in: Birkle, Carmen/Matter-Seibel, Sabina/Plummer, Patricia (Hg.): Frauen auf der Spur: Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA, Tübingen 2001, S. 39-77. 26 W. Sterling: Deutschsprachige Psychokrimis, S. 36. Die Männer werden in den Frauenkrimis in Analogie zu männlichen Hardboiled-Kriminalromanen spiegelbildlich negiert: Es sind ausschließlich die Frauen, deren Subjektivität und Individualität im Zentrum stehen, und die Opferrolle wird per se durch das (männliche) Geschlecht definiert. 27 Keitel, Evelyne: Kriminalromane von Frauen für Frauen: Unterhaltungsliteratur aus Amerika, Darmstadt 1998, S. 55. „Die Helden der hard-boileds definieren sich über ihre Sexualität, die Detektivinnen des Neuen Goldenen Zeitalters über ihren Beruf.“

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ne intuition“,28 entwickelt. Die Protagonistin Kyra agiert jedoch auch in diesem Sinne ‚männlich‘: Sie stützt sich auf Fakten und Rationalität. Die Lustmörderin offenbart mit ihrem Begehren eine männliche Täterfigur. Die Lustmorde, die Nike ausübt, gehören ebenfalls zur männlichen Domäne. Die weiblichen Protagonistinnen werden im filmischen Thriller meist als rächende Inzest- oder Vergewaltigungsopfer dargestellt.29 Der einzige Film, in dem eine Frau ihre Sexualität durch Gewalt manifestiert, ist Basic Instinct (1992) von Paul Verhoeven, auf den auch Die Hirnkönigin referiert. Jedoch gewinnt die Lustmörderin bei Dorn ihre Lust nicht aus dem unmittelbaren Geschlechtsverkehr, im Gegensatz zum erwähnten Film, sondern durch dessen Substitut, was bis dato nur den männlichen Lustmörder charakterisierte.30 In Analogie zu amerikanischen Thrillern wird die Identität der Täterin und Nichttäterin im Roman Die Hirnkönigin „zu einem Defizit […] konstruiert“.31 Der Identitätsmangel wird nach Inga Golde in einer Verlusterfahrung verankert, so dass die Biografien der Täterin und der Nichttäterin dargestellt werden müssen. Beide Protagonistinnen haben entweder ihre Mutter nicht gekannt (Nike) oder sie früh verloren (Kyra). Der Identitätsmangel beider Figuren wird dabei als Paradoxon konstruiert. Die Nichttäterin Kyra weist einen Mangel an stereotypen kulturellen weiblichen Eigenschaften auf und ist dafür in männlichen Tätigkeitsbereichen aktiv. Das Defizit an ‚Weiblichkeit‘ wird zur Voraussetzung für Kyras Präsenz in der Öffentlichkeit. Die Täterin Nike erscheint dagegen als eine ‚perfekte‘ Frau, da ihre Identität den idealen patriarchalischen Vorstellungen über das Weibliche entspricht. Eben diese ‚perfekte‘ Identität entpuppt sich als ein massives Defizit, das Nike identitätslos werden lässt und sie aus der Öffentlichkeit ausgrenzt. Die Fülle von weiblichen Imagines entpuppt sich als Leere beziehungsweise als Identitätslosigkeit, die im Maskerademotiv und in Nikes sozialer Nicht-Präsenz deutlich wird. Nike wird zu einem Sammelsurium bekannter weiblicher mythologischer Figuren, die in ihr verdichtet und daher absurd erscheinen. Sie kann sich aufgrund des literarisch-imaginären Charakters mit keinem von diesen Weiblichkeitsbildern identifizieren, die für spezifische Texte entwickelt worden sind und daher nur eine funktionsbestimmte Eigenschaft besitzen. 28 Ebd.: S. 62. Keitels Schlussfolgerungen offerieren, dass die Detektivinnen mit ihrem auf „feminine intuition“ beruhenden Ermittlungsverfahren dem männlichen gegenüberstehen und damit auf die ersten Detektivin Miss Marple referieren. 29 I. Golde: Der Blick in den Psychopathen, S. 51-57. 30 Vgl. R. von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 76-82. Richard von KrafftEbing definiert den Lustmord als Effekt des sowohl gesteigerten als auch gesunkenen sexuellen Triebes. Im ersten Fall wird der Lustmord zur Kulmination des Sexualaktes, im zweiten zu seinem Ersatz. 31 I. Golde: Der Blick in den Psychopathen, S. 31-32.

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Die mangelhaften Identitätskonstruktionen zwingen beide Figuren, gegen die bestehenden Normen zu verstoßen: „[…] Täter und Nicht-Täterfigur zeichnen sich beide durch einen Normverstoß aus und überschneiden sich daher in ihren eigentlich entgegengesetzten Wertesystemen.“32 Beide Protagonistinnen verletzen heteronormative Grenzen. Kyra verletzt die Normen des Weiblichen in der patriarchalischen Kultur: Sie kann sich verteidigen und löst Konflikte oft mit Gewalt; sie dominiert Männer in Sexualität und Beruf, sie nutzt Männer als Objekte ihres Begehrens aus. So missbraucht Kyra beispielsweise einen jungen Praktikanten der Zeitung sexuell. Auch das Verhältnis mit ihrem Kollegen Franz Pawlak ist durch eine Cross-Dressing-Position charakterisiert, da Kyra das Geständnis ihrer Gefühle für eine Schwäche hält, er dagegen mit ‚weiblichen‘ Eigenschaften ausgestattet wird. Kyra wird den ‚männlichen‘ Zuschreibungen entsprechend aus dem emotionalen Bereich ausgegrenzt. Franz stellt sich dagegen als schüchtern, unsportlich, schwach und sensibel dar. Darüber hinaus überschreitet Kyra heterosexuelle Normen – sie ist bisexuell. Die Lustmörderin ist zwar eine ‚perfekte‘ Frau, überschreitet mit dem Lustmord jedoch die patriarchalischen Normen des weiblichen Begehrens, wie der Roman festhält: „[…] solche kranken Sex-Dinger machen Frauen nicht“ (S. 192). Die Lustmörderin wird also zum Subjekt der destruktiven Lust, die die patriarchalische Ordnung der Frau abspricht. Nike verletzt die Normen des Begehrens doppelt, indem sie ein aktives ‚männliches‘ Begehren auslebt und Männer in einer passiven, weiblich konnotierten Opferrolle degradiert. Außerdem versucht sie, die festgelegten binären Weiblichkeitskonstruktionen durch Lustmorde zu entgrenzen, indem sie sich buchstäblich ‚männliche‘ Eigenschaften, die den Frauen scheinbar ‚fehlen‘, wie Vernunft, Rationalität und schöpferischen Geist, aneignet: Sie sammelt die Gehirne ihrer männlichen Opfer. Auf diese Weise führt die Mörderin das Defizitäre der patriarchalischen Weiblichkeitskonstruktionen vor. Durch die intertextuelle Dichte werden die Protagonistinnen Kyra und Nike darüber hinaus mit den der Femme fatale zugeschriebenen Eigenschaften versehen, die genregemäß Noir-Elemente in den Roman Die Hirnkönigin integrieren. Die Figur der Femme fatale figuriert im Noir-Szenario immer in einem Dreieck.33 Auf der einen Seite wird der Detektiv im klassischen Film Noir durch eine sexuell attraktive, verführerische Frau, eine Femme fatale, angezogen, die ihn manipuliert und in Lebensgefahr bringt: „Sie verkörpert einerseits die männlichen Sehnsüchte, aber andererseits auch Ängste.“34 Auf der anderen Seite steht entweder eine mütterlich be32 Ebd.: S. 50. 33 Vgl. Bronfen, Elisabeth: „You’ve got a great big dollar sign where most women have a heart“. Refiguration der Femme fatale im Film Noir der 1980er- und 1990er-Jahre, in: C. Liebrand/I. Steiner, Genre und Gender, S. 91-135. 34 Sellmann, Michael: Hollywoods moderner film noir. Tendenzen, Motive, Ästhetik, Würzburg 2001, S. 98.

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schützende Frau, die die traditionellen Familiennormen vertritt und dem Helden Hoffnung gibt, der Korruption zu entkommen, oder eine selbstbewusste Frau, die dem „Mann als Kumpel zur Seite steht und ihm durch die Loyalität die Reintegration in eine häusliche Existenz ermöglicht.“35 Der Film stabilisiert mit der Bestrafung der Femme fatale am Ende die patriarchalischen Normen und das männliche Subjekt, so dass laut Elisabeth Bronfen die weibliche Sexualität wieder der Reproduktion untergeordnet wird. Der Roman Die Hirnkönigin schreibt dieses Noir-Szenario um. Beide Protagonistinnen werden nicht nur zusammengeführt, sondern sie sind beide Femmes fatales, die Männer verführen und sexuell ausnutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Assoziation Kyras mit einer „Schlangenfrau“ (S. 13) gehört ebenfalls zu dem Konnotationsfeld der Femme fatale.36 Beide verweigern den Männerfiguren die Reintegration in die häusliche Existenz und die traditionelle Familie. Keine von beiden übt Sexualität im Rahmen der heterosexuellen Reproduktion aus. Da die Forschung die Entstehung des NoirSkriptes unter anderem als Abwehrreaktion gegen den Feminismus liest, verkörpert Kyra als Femme fatale traditionsgemäß die Ängste der Männer vor der Emanzipation der Frauen. Das Noir-Skript des Romans Die Hirnkönigin wird wegen des Wechsels der Perspektive auf weibliche Protagonistinnen und der Thematisierung der Femme fatale als Heldin transformiert, so dass das Noir-Schema nur formal wiederholt wird. Die Männerfiguren als Opfer werden dagegen verweiblicht. Dies manifestiert sich nicht nur in ihrer Opferposition, sondern auch darin, dass sie zu einem Medium zwischen zwei Protagonistinnen werden – traditionell erfüllen diese Funktion weibliche Figuren. Deshalb verschiebt sich der Fokus von den patriarchalischen beziehungsweise männlichen Familiennormen auf die Weiblichkeitskonstruktion selbst. Das Noir-Skript wird zu einer Dekoration, zu einer Kulisse, die die männliche Welt beziehungsweise die patriarchalische Kultur zum Ausdruck bringt und als Hintergrund für die Rivalität zweier Weiblichkeitsentwürfe dient. Es wird zum Ort des Ringens zwischen der weiblich imaginierten Figur Kyra und der männlich imaginierten Figur Nike, also zwischen zwei konkurrierenden Weiblichkeitsentwürfen und zwei rivalisierenden künstlerischen Konzepten des Weiblichen.

I NTERTEXTE

UND

L USTMORDINVERSIONEN

Die Frau als Lustmörderin darzustellen hat im Lustmorddiskurs keine Tradition; der Roman Die Hirnkönigin führt jedoch das männliche Täterprofil 35 E. Bronfen: „You’ve got a great big dollar sign where most women have a heart“, in: C. Liebrand/I. Steiner, Genre und Gender, S. 93. 36 Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid: Themen und Motive in der Literatur, Tübingen 1987, S. 138.

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und das männliche Genre Bildungsroman – es geht bei der Lustmörderin um eine klassische Erziehung und Bildung – am Beispiel einer Frau vor, um Psyche und Motivationserklärung aus der Biografie herzuleiten. Tötet der Lustmörder die Frauen, die seiner Mutter ähneln, so ermordet die Lustmörderin die Männer, die sie an ihren Vater erinnern. Beim männlichen Täter lässt sich feststellen, dass er kein ‚fertiger‘ Mann ist. Durch Fehlsozialisation oder ein Trauma kann der Lustmörder den Ödipuskomplex nicht überwinden, so dass er sich nicht mit der Vaterfigur identifiziert und keine stabile männliche Identität ausbildet. Er bleibt in der präödipalen Phase beziehungsweise im infantilen, destruktiven Begehren verhaftet. Für die weibliche Lustmörderin nutzt der Roman Die Hirnkönigin die tradierten Darstellungsstrategien des Lustmorddiskurses, schreibt sie aber zugleich um. Die ödipalen Konstellationen werden im Roman zum Elektrakomplex. Laut Carl Gustav Jung können auch kleine Mädchen „den Ödipuskomplex beherbergen“37, aber in der Form des Elektrakomplexes als weibliche Analogie zum Ödipuskomplex, der durch die überstarke Bindung einer weiblichen Person an den Vater bei gleichzeitiger Feindseligkeit gegenüber der Mutter gekennzeichnet ist. Auf den Elektrakomplex deuten im Roman zahlreiche intertextuelle Hinweise hin, die die literarische Figur Elektra aus Sophokles’ Tragödie, aus dem Drama von Hugo von Hofmannsthal und aus der Oper von Richard Strauss aufrufen (S. 13, 22, 23, 24). Durch die intertextuellen Referenzen wird der psychoanalytische Elektrakomplex jedoch unterminiert, denn allein diese Auflistung der männlichen Autoren, die Elektramythos, -tragödie, -theaterstück, -oper und -komplex geschaffen haben, verdeutlicht, dass Elektra keine gewaltige Frau, sondern nur eine „gewaltige Männerfantasie“ (S. 22) ist. Die Lustmörderin im Roman Die Hirnkönigin hat weder eine Fehlsozialisation erfahren – sie ist nicht in der präödipalen Phase geblieben – noch ein Trauma wie Inzest oder Vergewaltigung erlebt. Nach Freud bedingt die Überwindung des Ödipuskomplexes den Werdegang eines Jungen zum Mann über den Verzicht auf das Begehren der Mutter und die darauffolgende Identifikation mit dem Vater. Diese männliche Identitätsherausbildung ist laut dem Elektrakomplex nach Jung für die Frau pathologisch, da sie sich dadurch ein männliches Begehren aneignet. Nach Jung muss sich die Frau mit der Mutter identifizieren, um als Objekt der männlichen Fantasien und 37 Jung, Carl Gustav: Der Ödipuskomplex, in: ders.: Freud und die Psychoanalyse. Gesammelte Werke, Olten 1971, Bd. 4, S. 176-182, hier: S. 180-181. Jung plädiert wie Freud dafür, dass die infantile Sexualität bisexuell ist und die Libido zunächst einen geschlechtlich undifferenzierten Charakter darstellt. Zuerst trägt die Mutter die Bedeutung eines schützenden und ernährenden Wesens. Der Name für den Elektrakomplex leitet sich von der griechischen Sagengestalt Elektra ab, die den Mord an ihrem Vater Agamemnon rächen wollte und ihren Bruder Orest zum Mord an ihrer Mutter Klytämnestra und ihrem Stiefvater Aigisthos anstiftete.

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Ängste und des männlichen Begehrens festgelegt zu werden. Diese Form der Sozialisation des Weiblichen entspricht den männlichen künstlerischen Fantasien, die die Frau in den binären Weiblichkeitskonstruktionen der Femme fatale und der Femme fragile bannen. Auch der Bildungsroman, dessen Genreelemente in Die Hirnkönigin für Nikes Entwicklung adaptiert werden, kennt meistens diese binären Weiblichkeitskonstruktionen und setzt dem humanistischen Werdegang des Mannes die Trennung von der Mutter voraus. Die Mörderin Nike kennt keine Mutter. Sie genießt eine perfekte klassische Erziehung, ohne jegliche Kontamination durch das Weibliche, in Analogie zum männlichen Protagonisten im Bildungsroman. So wird eine paradoxe Identität geschaffen, die die Sozialisation von Nike zum Ausdruck bringt. Einerseits identifiziert Nike sich wegen der fehlenden Mutter mit dem Vater – eine ‚vorbildliche‘ Identitätsbildung für ein männliches Subjekt. Andererseits bekommt Nike durch die klassische Bildung patriarchalische, ja misogyne binäre Weiblichkeitskonstruktionen als Identifikationsvorlage vermittelt. Die klassische Bildung, repräsentiert im Roman durch den Kanon der Antike, und die Konventionen des Bildungsromans, die die Entwicklung und Identitätsbildung des männlichen Subjektes ermöglichen, sehen das weibliche Subjekt nicht vor, was die humanistischen Bildungsideen als defizitäre freilegt. Dieses Paradox aus dem Wunsch und der Unmöglichkeit, Subjekt zu sein, ist bei Thea Dorn nur durch den Lustmord zu lösen. Der Lustmord wird also zum Ausdruck struktureller und narrativer Gewalt. Der Roman Die Hirnkönigin stellt darüber hinaus eine Art von „Mosaik“38 dar, das puzzleartig aus Zitaten, Anspielungen, Referenzen auf Namen und Imitationen von Prätexten konstruiert wird. In Anlehnung an Bachtins39 Intertextualitätsbegriff lässt sich Thea Dorns Roman aufgrund seiner Mehrstimmigkeit und Zitatdichte als ein „Dialog“ bezeichnen, der nicht nur den Dialog mit anderen Texten, sondern auch den Dialog zwischen der abendländischen Kultur und ihrem Ursprung, der Antike, darstellt. Dorns intertextuelles Verfahren zeichnet sich dadurch aus, dass sich Hypotexte antiker und biblischer Herkunft sowie Hoch- und Unterhaltungsliteratur überlagern und dadurch einander transformieren. Thea Dorn integriert Auszüge aus der Odyssee und der Ilias von Homer, die zu den ältesten und einflussreichsten 38 Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Kimmich, Dorothee/Renner, Rolf G./Stiegler, Bernd (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Ditzingen 1996, S. 334-348, hier: S. 337. „[J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“ 39 U. Broich/M. Pfister: Intertextualität, S. 13. In der Analyse werde ich mich eines ‚engen‘ Begriffs der Intertextualität bedienen, und zwar des in der Theorie von Ulrich Broich und Manfred Pfister ausgearbeiteten Begriffs. „Das Ziel der Intertextualitätsanalyse [ist], den einzelnen Text als vielschichtige dialogische Replik innerhalb vielfältig vernetzter Textreihen zu lesen.“ (S. 58.)

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literarischen Werken der abendländischen Kultur gehören. Darüber hinaus zitiert sie antike Zeus-Athene-, Pygmalion-, Ariadne-, Elektra- und ÖdipusMythen und ihre literarischen Bearbeitungen sowie die biblischen Mythen von Judith, Salomé und Jaёl.40 Im Zusammenhang mit dem Thema Gehirn integriert der Roman Zitate aus dem Theaterstück Ithaka von Gottfried Benn und Gedichte von Georg Trakl.41 Dabei ist Die Hirnkönigin kein historischer Roman, der Geschichte rekonstruiert, stattdessen dient laut Franziska Schößler die „Mythologisierung des erzählerischen Stoffs“ dazu, sowohl an den zitierten Traditionen als auch an den gegenwärtigen Geschlechterrepräsentationen Kritik zu üben.42 Der Roman stellt nicht nur die Traditionen her, auf die sich die Handlung bezieht, sondern liest die zitierten Texte neu, indem die tradierten Mythen in ein kriminelles Geschehen integriert werden.43 Zum einen verwendet der Roman die Zitate, Referenzen, Namen und Mythen im Zusammenhang mit der Figur der Lustmörderin und mit dem Lustmord, zum anderen begleiten intertextuelle Passagen die heteronormative sexuelle Handlung des Romans. Die Lustmörderin erscheint selbst als Sammelsurium von Zitaten, Bildern und Topoi über Weiblichkeit, das heißt, Nikes Identität resultiert aus dem literarischen antiken und biblischen Kanon, der im Roman zu einem „Medium geschlechts- und schichtenspezifi-

40 Im Roman Die Hirnkönigin wird die prominente Szene aus dem alten Testament zitiert: Kap 4,19. in: Die Bibel. Das Buch der Richter. Die Richterin Debora und Barak besiegen Sisera: Gepriesen sei sie unter den Frauen! Sie griff mit ihrer Hand den Pflock und mit ihrer Rechten den Schmiedehammer und zerschlug Siseras Haupt und zermalmte und durchbohrte seine Schläfe. (S. 59) 41 Trakl, Georg: Anblick, in: ders.: Nachlass. Dichtungen und Briefe, hg. von Walther Killy/Hans Szklenar, Salzburg 1969, Bd. 1, S. 415. In Die Hirnkönigin werden folgende Auszüge zitiert: Stirne blutet sanft und dunkel, Sonnenblume welkt am Zaun, Schwermut blaut im Schoß der Fraun; Gotteswort im Sterngefunkel! (S. 59) Purpurn flackert Mund und In verfallnem Zimmer kühl, scheint nur Lachen, golden Spiel, Dass ein Sturm dies Haupt zerschlüge. (S. 172) 42 F. Schößler: Mythos als Kritik, S. 171. 43 Vgl. F. Schößler: Intertextualität, in: dies.: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 219-224, hier: S. 224. „Zu berücksichtigen ist zudem, dass jeder Text, der sich intertextuell auf eine Tradition oder einen Hypotext bezieht, diese in ihrer spezifischen Bedeutung generiert; es ist der Hypertext, der den zitierten Text neu liest und Traditionen herstellt.“

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scher Sozialisation“44 wird und der buchstäblich einen wichtigen Bestandteil ihrer Erziehung bildet. Dies löst die psychische Motivation der Lustmörderin und ihr destruktives Begehren auf – alles in allem ein Literaturprodukt. Ähnlich wird das heteronormative Begehren der Figuren aus den kulturellen antiken und biblischen Traditionen hergeleitet, die mit der Entstehung und Entwicklung des Patriarchats entstehen. Dadurch werden zum einen der Lustmord und die binäre Geschlechterordnung zum Produkt der westlichen Kultur und vor allem zum Produkt der männlichen literarischen, künstlerischen und mythologischen Fantasien, zum anderen verbindet der Roman den Lustmord mit der Heteronormativität: Die heteronormative Geschlechtermatrix erscheint also als genauso pathologisch wie der Lustmord. Mehr noch: In der Mythologie bedingen beide einander. Die heterosexuelle Beziehung basiert in den zitierten mythologischen, biblischen und antiken Darstellungen immer auf Gewalt. Durch die Referenzen werden zudem die modernen Genreelemente wie Horror und Splatter mit den antiken Traditionen beziehungsweise mit dem männlichen Kanon verknüpft. Die griechischen Tragödien demonstrieren eklatante Grausamkeit und lustmörderische Verbrechen, destruktives Begehren, Rache, Eifersucht und immer wieder grausame Morde. Bezeichnenderweise wird in Die Hirnkönigin eine Textpassage aus der Ilias Homers mit Nightmare on Elm Street, einer erfolgreichen Horrorfilm-Reihe aus den späten 1970er Jahren, verglichen (S. 198). Die Hochliteratur verwendet also die gleichen Repräsentationsmittel und -strategien, die zur Abwertung der Trivialliteratur und der Mainstream-Filme führen – die Gewaltdarstellung als Selbstzweck. Aus dieser Perspektive erscheinen die Horror- und Splatter-Elemente sowie das Lustmordmotiv in Dorns Roman nicht zuletzt als Produkt der antiken und biblischen, kurz der patriarchalischen ästhetischen Repräsentationen, die für den Spannungsaufbau ‚triviale‘ Grausamkeiten und dem Lustmord ähnliche Morde einsetzen. Der Ursprung der abendländischen Kultur hat also bei Dorn mit seinem ästhetischen System die Geburt des Lustmorddiskurses um die Wende zum 20. Jahrhundert vorbereitet.

K ULTURSCHAFFENDE M ÄNNER In Bezug auf die Männerfiguren wird die Korrelation Männlichkeit/Kultur aufgegriffen, die sich im Roman mit den antiken Schöpfungsmythen überschneidet. Alle männlichen Figuren sind Kulturproduzenten oder bewahren Kultur. In der Berliner Zeitung als Ort der Kulturproduktion ist hauptsächlich eine männliche Belegschaft tätig. Darüber hinaus ähneln alle männlichen Opfer den aus der griechischen Kunst bekannten Götterfiguren mit ihrer „Halbglatze“ und ihrem „Vollbart“ (S. 239). Die antiken Referenzen bil44 Assmann, Aleida: Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon. Macht. Kultur, Stuttgart 1998, S. 53.

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den eine Retrospektive stereotyper männlicher Attribute, die den kulturellen Mythos Mann ausmachen. Die mythologischen Gestalten stehen aber in einem subversiven Kontrast zu den Männerfiguren, denen der Roman die Macht abspricht. Der Bildhauer Eisenrath stellt bei der Betrachtung des Pergamon-Frieses fest: „War es eine Laune des Zerfalls oder eine List der Geschichte, dass unter den mordenden Göttern vor allem die Göttinnen überlebt hatten?“ (S. 130) Das erste Opfer Nikes ist der Chefredakteur der Berliner Zeitung, Robert Konrad. Nach dem deutschen Namenslexikon von Hans Bahlow bedeutet Robert „ruhmglänzend“ und Konrad „kühn im Rat“45. Odysseus rühmt Zeus in der Ilias als „sinnreich“, als „Meister des Sinnes“ und „[des] Rates“.46 Die Kulturproduktion ist Robert Konrads Imperium, da er als Chefredakteur die Herstellung von kulturellem Sinn verwaltet und kontrolliert. Die Figur des pensionierten Bibliothekars Kurt Homberg, das zweite Opfer, verweist mit dem Vornamen, eine Kurzform von Konrad, ebenfalls auf Zeus. Sein Nachname Homberg referiert auf die ähnlich klingenden Namen anderer Schriftsteller, die er bei der Suche im Katalog seiner privaten Bibliothek auflistet, und unmittelbar auf Homer: „Hombrecht, Homburg, Homer“ (S. 109). Er ist zwar kein Kulturschaffender, jedoch Archivar und Wächter der kulturellen Traditionen, vor allem des literarischen männlichen Kanons. Das dritte Opfer, der Bildhauer Gustav Eisenrath, bringt mit der Referenz auf den Bildhauer Pygmalion aus Ovids Metamorphosen die Schöpferfantasien in der bildenden Kunst zum Ausdruck. Der erste Teil des Namens „Eisen“ verweist zudem auf den Gott Hephaistos, den Gott des Feuers und der Schmiede, und der zweite Teil „rath“ ebenfalls auf Zeus. Diese Referenz auf Feuer setzt die Mordszene buchstäblich um, wenn die Lustmörderin seinen Unterleib verbrennt. Hephaistos ist in der antiken Mythologie eine Art Hebamme bei der Geburt Athenes aus dem Kopf von Zeus. Mirko Hönig, das vierte Opfer Nikes, ist ein zufälliges Opfer, das dennoch Bezug zur Kultur hat. Er ist als Wächter des Pergamon-Museums ein weiterer Bewahrer der antiken Kultur. Mirko setzt den Pygmalion-Mythos um, indem er die Athene-Statue in Anlehnung an Pygmalion nicht nur begehrt, sondern auch beschläft – eine ironische Umsetzung der männlichen nekrophilen Fantasien. Das letzte männliche Opfer ist Kyras Kollege, Franz Pawlak, dessen Name sich aus dem Althochdeutschen ableitet und die Bedeutungen „frei“ und „mutig“47 45 Bahlow, Hans: Deutsches Namenslexikon. Familien- und Vornamen nach Ursprung und Sinn erklärt, München 1967. Robert ist eine niederdeutsche Form für germanisch (H)rod-berht „ruhmglänzend“ (S. 428). Konrad ist die lateinische Urkundenform des altdeutschen Kaisernamens Kunrad = „kühn im Rat“ (S. 291). 46 Vgl. Otto, Walter F.: Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des Griechischen Geistes, Bonn 1929, S. 63-65. 47 Gottschald, Max: Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen, mit. d. E. in die Familiennamenkunde von Rudolf Schützeichel, Berlin; New York 1982, S. 188. Die Namen Franz und Frank haben eine umstrittene Grundbedeutung. Unter

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trägt – stereotype Männlichkeitszuschreibungen, die Franz nicht erfüllt. Er ist ebenfalls als Kulturproduzent tätig und arbeitet als Journalist im Feuilleton der Berliner Zeitung. Der Vater Nikes, ein traditioneller Vermittler der patriarchalischen Normen und Werte, hat einen ebenso unmittelbaren Bezug zur ‚Schöpfungstätigkeit‘. Als Lehrer für Griechisch und Latein wird er buchstäblich zum Schöpfer, indem er über die Sozialisation seiner Tochter regiert. Seine grausame Tochter – sie wird „Frankensteins Tochter“ genannt (S. 274) – ist in Analogie zum Roman Frankenstein (1818) von Mary Shelley ein männliches beziehungsweise väterliches ‚Kunstwerk‘, das literarische und künstlerische Traditionen männlicher Schöpfungsfantasien wie den Zeus-Atheneund den Pygmalion-Mythos buchstäblich umsetzt. Darüber hinaus assoziiert Dorns Roman den Vater Nikes über dessen Blindheit mit Homer. Sein Nachnahme Schröder deutet auf Macht im kulturellen Bereich hin, indem er ironisch auf den Bundeskanzler Gerhard Schröder referiert, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans in Deutschland an der Macht war. Durch diese Anspielung beschreibt der Roman auch die gegenwärtige politische Kultur Deutschlands als Patriarchat, in dem männliche, antike Fantasien weiterhin bestehen, die Frauen nur eine Existenz als Kunstwerke der Männer zugestehen. Der Vater wird nicht direkt ein Opfer seiner Tochter, jedoch bringt ihn die Nachricht, dass sein „Gipfel der Vollkommenheit“ (S. 270) ein Monster ist, um. Ein anderes zentrales Motiv in Die Hirnkönigin ist das männliche Gehirn, das im Roman zum spezifisch ‚männlichen‘ Organ und zur Definition des Männlichen wird. Über das Motiv des männlichen Gehirns thematisiert er den Rationalitätsdiskurs, der nach Elisabeth List als etwas „essentiell Männliches“ definiert wird und von der Antike bis heute in der abendländischen Kultur und Wissenschaft vorherrscht. Die Namen der beiden ersten Opfer, die auf den „Meister des Sinnes“ und des „Rates“ anspielen, deuten auf die Rationalität hin.48 Mit dem Motiv des Gehirns thematisiert der Roanderem bedeuten die Namen „mutig“, „Wurfspeer“, „frei“, „fränkische Waffe“ oder „fränkische Adlige“. 48 List, Elisabeth: Patriarchen und Pioniere: Helden im Wissenschaftsspiel. Gedanken über das Unbehagen in der Wissenschaftskultur, in: Schaeffer-Hegel, Barbara/Wartmann, Brigitte (Hg.): Mythos Frau: Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat, Berlin 1984, S. 14-30. Elisabeth List zeigt, wie in der Antike der Logozentrismus begründet und damit die Geburt des modernen wissenschaftlichen Diskurses initiiert wurde. Der Platonismus mit seiner Idee einer „absoluten Herrschaft des reinen Intellekts“ und später der Neoplatonismus haben die christliche Religion genauso wie Denker von Descartes bis Hegel beeinflusst und den Menschen (beziehungsweise den Mann) als Vernunft- und Rationalitätswesen mit einer in der „judäo-christlichen Tradition angelegten Diskreditierung und Abwertung der menschlichen Affektnatur und der Körperlichkeit“ etabliert (S. 30). Dieser Diskurs entwickelte sich als „essentiell Männliches“ (S. 16), indem er sich

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man außerdem die Biologisierung der Geschlechter, die am Anfang des 19. Jahrhunderts die Geschlechterkonstruktionen bestimmt und polarisiert.49 Der biologische Diskurs konstituiert die heterosexuelle Geschlechtermatrix und legitimiert sie durch die physiologische Verschiedenheit unter anderem der Gehirnmasse mit dem Ergebnis, dass der Frau Vernunft und Genialität abgesprochen werden: Die größere Gehirnmasse des Mannes wird zu seinem biologischen Intelligenzausweis. Die berühmte Studie von Paul Möbius schreibt beispielsweise der Frau „geistige Sterilität“ und „physiologische[n] Schwachsinn“ zu,50 und die Herrschaft des Mannes stützt sich „neben der physischen Kraft vorzüglich auf seine geistige Überlegenheit.“51 Darüber hinaus usurpiert das männliche Gehirn im Zusammenhang mit dem Zeugungsmythos von Zeus und Athene die weibliche Fruchtbarkeit: „Das Gehirn des Mannes funktioniert wie das Geschlecht der Frau; das Denken ist eine Art Gebären.“52 Dieter Kamper zeigt, inwiefern die Idee vom Mann als Schöpfer die Denkweise und die philosophischen Traditionen durch die Epochen hindurch beeinflusst: „Indikatoren wären unter anderen der Mythos von Zeus-Athene, das Dogma von der Himmelfahrt Mariens, die philosophischen Topoi einer Schwangerschaft des Geistes (Kant, Hegel), die Kopfgeburten der Dichter, also Verweise aus der Geistesgeschichte, von den ‚Logoi spermatikoi‘ der Gnostiker bis zur akademischen Gewohnheit, die Pflanzstätten für den Nachwuchs ‚Seminare‘ zu nennen.“53 Thea Dorn weist also mit der Thematisierung des männlichen Gehirns auf eine lange abend-

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gegenüber der Subjektivität und Emotionalität als Definition des Weiblichen abgrenzte, und führte mithin zur Etablierung einer männlichen Wissenschaft und zum Ausschluss der Frauen aus den philosophischen und wissenschaftlichen Bereichen. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter: die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt am Main, New York 1991. Die „Schematisierung eines scharfen Dualismus der Geschlechter“ (S. 1) wird durch die Physiologisierung aufgrund der „Natur“ und die „Verwissenschaftlichung“ der Differenzdebatte bestimmt. Der Mann wird mit einem neutralen und universalen Begriff „Mensch“ beschrieben, der mit dem „Weltoffenheit“, „Autonomie“ und „Individuierung“ verbunden ist. Die Frau wird hingegen mit den Prozessen der Entdifferenzierung, der Redundanz und des Individualitätsverlusts assoziiert. Möbius, Paul J. (1890): Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, in: Stein, Gerd (Hg.): Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf. Sexualität und Herrschaft. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1985, S. 226-230, hier: S. 226. Eberhard, E.F.W. (1924): Feminismus und Kulturuntergang, in: G. Stein, Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf, S. 231-234, hier: S. 231. Kamper, Dieter: Die Usurpation der Fruchtbarkeit. Anmerkung zu einer männlichen Universalstrategie, in: B. Schaeffer-Hegel/B. Wartmann, Mythos Frau, S. 100-103, hier: S. 100. Ebd.

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ländische Tradition hin, die den Mann als geistigen, intellektuellen Schöpfer hervorbringt, der durch Geist, Wort und Kunst die göttliche Schöpfertätigkeit wiederholt. Das männliche Gehirn markiert im Roman Die Hirnkönigin die Geschlechterdifferenz und weist die Kultur- und Wissensproduktion als spezifisch männliche Tätigkeit aus. Der Roman Die Hirnkönigin stellt die Fähigkeiten des männlichen Gehirns und der männlichen Kulturproduktion in Frage. Insgesamt erscheinen alle Männerfiguren im Roman als negativ, abstoßend, schwach und alt. Das Hauptmerkmal aller Männerfiguren, unabhängig von sozialem Rang und Alter, ist ihre Lüsternheit, die sich mit Impotenz paart. Alle Männerfiguren brauchen Hilfsmittel wie zum Beispiel Pornografie, um den sexuellen Kontakt zu ermöglichen. Die sexuelle Impotenz überträgt der Roman auf das Soziale. Allen männlichen Figuren fehlen genau diese zwei ‚männlichen‘ Eigenschaften: die der Schöpfungskraft sowie die der Rationalität und der Vernunft. Mit der auf der Vernunft begründeten Geschlechterdifferenz geht der Roman besonders spielerisch um: Es werden keine Unterschiede in Bezug auf Intelligenz, Vernunft oder Aktivität zwischen männlichen und weiblichen Charakteren des Romans deutlich; eher wirken die Frauen intelligenter als die Männer, wie zum Beispiel in der Ermittlung der Mordfälle, bei der das intellektuelle Potenzial der männlichen Polizisten in Frage gestellt wird. Die Männerfiguren werden letztendlich als Opfer diffamiert; sie werden zudem durch die narrativen Strukturen des Romans marginalisiert und verweiblicht. Dieser Abwertungsdiskurs von Männlichkeit kann als Spiegel der weiblichen Herabsetzung in der Literatur betrachtet werden. Die Opferposition zwingt die Männer zu Passivität und Ohnmacht, die im Kontrast zu ihrer meist hohen und bedeutenden Position in der Kultur und der Mythologie stehen. Hinzu kommt, dass auch die Art des Mordes – der Lustmord – eine männliche Domäne ist, so dass auch die Art, wie die Männerfiguren umgebracht werden, zu einer Verweiblichung führt: „In Stalingrad durften Männer mit abgerissenen Köpfen und rauchendem Unterleib daliegen. Aber nicht hier in Berlin. In Berlin starb der Mann am Steuer, unter der S-Bahn, mit einem Messer in der Brust, mit einem Strick um den Hals oder einer Nadel im Arm. So wie dieser hier starben allerhöchstens Frauen. Wenn Mann so starb, war Krieg.“ (S. 180) Sterben die Männerfiguren auf ‚weibliche‘ Weise, so kann man zusammenfassend formulieren, dass der Roman Dorns den Männern ihre Macht abspricht, also das Ende des männlichen Patriarchats diagnostiziert, was der Tod von Nikes Vaters symbolisiert.

M ÖRDERISCHE F RAUEN Wenn das Patriarchat tot ist, warum existiert es paradoxerweise weiter? Weil die Frauen selbst es aufrechterhalten. Die Macht der männlichen ästhetischen Fantasien, die als Grundlage für weibliche Identität dienen, ist nicht

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zu eliminieren. Gleichzeitig kritisiert Dorns Roman die Unfähigkeit der Frauen, sich selbst zu emanzipieren. Die Hirnkönigin re- und dekonstruiert mithilfe der aufgerufenen Mythen und Motive den kulturellen Mythos Frau. So stellen sich einerseits bestehende ästhetische Vorstellungen über Weiblichkeit als Mythen heraus, die in der ‚Realität‘ des Romans nicht zu finden sind. Andererseits bleiben diese Mythen eine tragende Kraft des Patriarchats. Daher bestätigt der Roman am Ende ihre Macht, indem er die Frau, die diese Mythen verwirklicht, als Siegerin darstellt. Um den Mythos Frau zu evozieren, reproduziert der Roman die von Silvia Bovenschen beschriebene Diskrepanz zwischen „Schattenexistenz und Bilderreichtum“.54 Die überreiche mythische Präsenz des Weiblichen in Literatur und Kunst steht in Opposition zur fehlenden Präsenz der Frauenfiguren in politischen und kulturellen Entwicklungsprozessen und infolgedessen zum geringen Einfluss der Frau in der Gesellschaft. Der literarische und künstlerische Diskurs stellt sich als ein großes „Panoptikum imaginierter Frauenfiguren“55 dar, wie Die Hirnkönigin demonstriert. Der Roman reproduziert die Marginalisierung der Frauen in der Kultur. In der Berliner Zeitung arbeiten nur zwei Frauen, die beide geringe Karrierechancen haben. Entweder positioniert sich die Frau als Objekt des männlichen Begehrens und macht Karriere durch ihre sexuellen Dienstleistungen wie Jenny Mayer, oder die Frau muss wie Kyra androgyn werden. Wenn sich die Frau mit den traditionellen, patriarchalischen Weiblichkeitsvorstellungen identifiziert, wird sie sexualisiert und daher auf dem Arbeitsmarkt abgewertet. Alle anderen Frauenfiguren bleiben als Hausfrauen, Ehefrauen und Mütter aus dem öffentlichen Bereich ausgegrenzt. Zentral für den Mythos Frau ist im Roman Die Hirnkönigin eines der populärsten literarischen und künstlerischen Motive, die Femme fatale, die durch die Namen von Medea, Judith, Salomé, Gorgo, Athene, Klytämnestra, Elektra, Helena und Lukrezia Borgia revitalisiert wird. Carola Hilmes definiert die Femme fatale in ihrer Studie wie folgt: „Die Femme fatale lockt, verspricht und entzieht sich. Zurück bleibt ein toter Mann. Im Spannungsfeld von Eros und Macht gedeihen Wollust und Grausamkeit, entstehen blutige Bilder der Liebe. […] Die Femme fatale repräsentiert permanente Verführung, die ebenso sehr gewünscht wie gefürchtet wird. Diese Doppelbödigkeit macht sie so geheimnisvoll wie unheimlich.“56 Die Brockhaus-Enzyklopädie definiert die Femme fatale als „Inbegriff der erotisch-faszinierenden, dämonisch-destruktiven Frau, die als Siegerin aus dem Kampf der Geschlechter hervorgeht […].“57 Sie bietet laut Gerd Stein in „maliziöser Genüßlichkeit den Tod als einen hocherotischen Opfergang und die Liebe als

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Vgl. S. Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 10-63. Ebd.: S. 12. Hilmes, Carola: Die Femme fatale, Stuttgart 1990, S. 225. Brockhaus, Leipzig; Mannheim 2006, Bd. 9, S. 79.

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ein zerstörerisches Herrschaftsritual dar.“58 Mit den intertextuellen Referenzen schafft der Roman ebenso wie bei den Männerfiguren einen Kontrast zu den Frauenfiguren, die in der ‚Realität‘ des Romans weder sexuell-verführerisch noch gewalttätig auftreten. Bei der Suche nach einer „wirklich gewalttätigen Frau“ (S. 22) findet Kyra nur verzweifelte Mörderinnen, die viele Jahre männlicher Gewalt ausgeliefert waren: „Jahrelang Scheiße fressen, Maul halten, und dann irgendwann machts so gewaltig bumm, dass sich alle die Augen reiben.“ (S. 71) Literatur und Kunst schreiben der Frau eine sexuelle Macht über die Männer zu, die sich in der ‚Realität‘ nur als eine Fantasie entpuppt. So sagt Franz zu Kyra: „Wenn du gewaltige Frauen suchst, komm zurück ins Feuilleton“ (S. 21), denn nur in Literatur und Kunst sind lustmörderische Frauen zu finden. Homosexuelle Weiblichkeit und bürgerliche Familie Als erstes Familienkonzept stellt der Roman eine traditionelle bürgerliche Vater-Mutter-Tochter-Familie dar. Die bürgerliche Familie, wie sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, wird nach Karin Hausen durch „Dissoziation und Kontrastierung von Erwerbs- und Familienleben, von Öffentlichkeit und Privatheit“ charakterisiert.59 Dieses traditionsreiche Familienkonzept wird in Die Hirnkönigin konsequent umgesetzt: Die Familie verfügt über hohe finanzielle Mittel. Der Vater, Robert Konrad, bewegt sich ausschließlich in der Öffentlichkeit und besitzt einen hohen sozialen Status. Er ist Chefredakteur der Berliner Zeitung, während die Mutter Erika Konrad im Bereich des Privaten als Gattin, Mutter und Hausfrau positioniert wird. Nachdem diese stereotypen Vorstellungen von traditioneller Ehe und Familie vorgeführt worden sind, eliminiert Dorn sie als Absage an diese Form des Zusammenlebens und ironisiert diese beim Begräbnis des Paares. Die zwei Särge wirken wie „streng parzellierte Ehebetten. Es wäre sicher freundlicher gewesen, die beiden in einem Doppelsarg zu bestatten. Vielleicht wären sie sich im Stadium der Verwesung noch einmal näher gekommen.“ (S. 64) Die Anspielung auf den „Liebestod“ – ein tradierter literarischer Topos – verspricht bei Dorn weder eine harmonische Vereinigung der Geschlechter im Himmel noch im Grab. Der Roman ironisiert darüber hinaus die christlich-religiöse Tradition, die das Herrschaftssystem in der patriarchalischen Familie legitimiert und sie nicht zuletzt als ‚ewige‘ Ehe imaginiert.

58 Stein, Gerd: Vorwort, in: ders., Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf, S. 11-20, hier: S. 12. 59 Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1978, S. 363-393, hier: S. 390.

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Diese Familienform wird, mit Kate Millet gesprochen, als die „Hauptinstitution des Patriarchats“60 entlarvt, indem die Ehe ein „Konsortium“ bleibt, das „weibliche häusliche und sexuelle Dienste gegen finanzielle Unterstützung eintauscht.“61 Die Frauenfiguren der Mutter Erika und der Tochter Isabelle machen deutlich, dass in der bürgerlichen Familie kein anderer Platz und keine andere Funktion für die Frau vorgesehen sind, als sexuelle Dienstleistungen im Rahmen der heteronormativen Geschlechterordnung zu liefern. Der Inzest wird dabei im Roman Die Hirnkönigin zu einer „Zentralmetapher der Patriarchatskritik“62 und der Kritik an der Institution der bürgerlichen Familie. Die traditionelle Familie entpuppt sich als Ort der sexuellen Gewalt, an dem die Frauen, Ehefrauen und Töchter der männlichen, väterlichen, patriarchalischen Gewalt ausgeliefert sind. Der Vater als Repräsentant der Normen zwingt die Frau von Kindheit an in die Position des Objektes männlichen Begehrens. Diese Familienstruktur bietet der Frau keine Chance für eine soziale Existenz an. Erika Konrad ist nicht „ehrenreich“ – ihr Name steht mit ihrer Darstellung in Kontrast. Dieser Name leitet sich ursprünglich vom männlichen Erich ab, der im Althochdeutschen „ehrenreich“ oder „reich an Ehre“ bedeutet, Eigenschaften, die Erika im Roman nicht besitzt. Sie bestätigt alle gängigen Stereotype über Weiblichkeit und Mütterlichkeit, ist passiv, opferbereit, keusch, asexuell, schwach, ängstlich und ihrem Mann vollkommen unterworfen: „Das Versagen war eine Frau.“ (S. 53) Sie kann deswegen ihre Tochter vor den Vergewaltigungen durch den Vater nicht schützen. Die Referenz auf die rächende Klytämnestra (S. 40) profiliert durch den Kontrast die Ohnmacht der Mutter. Mit ihrem Selbstmord, durch den sie ihre Tochter vor dem Mordverdacht retten möchte, erfüllt Erika zwar scheinbar ihre mütterliche Pflicht, indem sie sich für ihr Kind opfert, jedoch versinnbildlicht sie auch, dass die Frau ihre Existenz nur innerhalb der bürgerlichen Ehe findet. Ist die Ehe aufgelöst, so eliminiert sich die Ehe- und Hausfrau selbst – signifikant für ihre Nicht-Existenz außerhalb der Ehe. Sie kann in der Familie nur leiden, außerhalb der Familie nur sterben. Die Tochter Isabelle erteilt dieser patriarchalischen weiblichen Konstruktion durch ihre Homosexualität eine Absage, indem sie die Identifizierung mit den bestehenden Bildern und Zuschreibungen des Weiblichen verweigert. Eine homosexuelle Frau zu sein bedeutet, sich weder als Objekt des männlichen Begehrens zu positionieren noch die Sexualität der Reproduktion unterzuordnen. Isabelle entzieht sich nicht nur als Objekt dem männlichen Begehren, sondern sie wird zum Subjekt und weist sich gegenüber Männern als aktive Konkurrentin um das Objekt ihres Begehrens aus. Sie handelt aggressiv und aktiv; sie rivalisiert mit Franz um Kyra. Die Homose60 Millet, Kate: Sexus und Herrschaft: Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft, München 1971, S. 42. 61 Ebd.: S. 44. 62 G. Dietze: Hardboiled woman, S. 180.

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xualität bewertet der Roman zwar als eine genuin pathologische Entwicklung, die durch den Fehlschlag der heteronormativen Geschlechterordnung – durch den Inzest – entsteht, er macht jedoch zugleich deutlich, dass man den traditionellen Weiblichkeitskonstruktionen, die Frauen nur als Objekte oder als Opfer positionieren, ausschließlich durch Ablehnung der Heteronormativität entkommen kann. Diese Weiblichkeitskonstruktion erscheint in der patriarchalischen Gesellschaft ebenfalls kaum existent. Zum einen wird Isabelle wegen ihrer sexuellen Identität aus der heterosexuellen sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen. Sich der heterosexuellen Geschlechtermatrix zu verweigern bedeutet, symbolisch für die patriarchalische Gesellschaft nicht zu existieren. Diese Ausgrenzung schreibt die Narration fort, indem Isabelle nur als Randfigur vorkommt. Zum anderen wird sie am Ende der Handlung aus Versehen von Jenny Mayer erschossen. Die lesbische Frau wird symptomatisch durch diejenige Frau ausgelöscht, die sich mit der patriarchalischen Vorstellung des Weiblichen identifiziert und deren Normen sie verinnerlicht hat. Die Frauenfiguren stabilisieren also selbst auf ‚weibliche‘ Art und Weise – aus Dummheit, Versehen und Ungeschick – die patriarchalische Ordnung, indem die Störungen der Männerordnung durch die Frauen selbst aufgehoben werden. So denkt Isabelle vor ihrem Tod daran, dass sie dem Vater den Revolver, der semantisch mit seinem Phallus gleichsetzt wird, zurückgeben müsse: „Vater würde schimpfen, wenn er entdeckte, dass sie sein bestes Stück verloren hatte.“ (S. 249) Damit entlarvt Dorns Roman die soziale Machtlosigkeit dieser homosexuellen, scheinbar ‚phallischen‘ Weiblichkeitskonstruktion. Bisexuelle Weiblichkeit Der zweite Sozialisationsort des Weiblichen wird als ein ‚unvollständiges‘ Familienkonzept mit einer alleinerziehenden Mutter und deren Tochter dargestellt. Kyra wächst ohne Vater und mit einer selbstbewussten Mutter, einer Akademikerin, auf, die als berufstätige und finanziell unabhängige Frau eine starke Abweichung von der traditionellen Weiblichkeitszuschreibung aufweist. Die Mutter positioniert sich als Wissenschaftlerin – sie ist Professorin für Pathologie – in einem männlichen Rationalitätsdiskurs, den im Roman sonst nur die Männerfiguren für sich beanspruchen. Darüber hinaus kehrt der Roman Die Hirnkönigin traditionelle Repräsentationsstrategien des Weiblichen um. Die Mutter ist zwar paradigmatisch mit dem Tod verbunden, besetzt jedoch eine männliche Position, die mit ihrer Neugier in den Körper eindringt und den Tod symbolisch bändigt. Literatur und bildende Kunst beobachten die sterbende Frau und sezieren die weibliche Leiche, auf die der männliche Voyeur laut Bronfen seine eigene Sterblichkeit projiziert

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und dadurch über den Tod herrscht.63 Mit der Umkehrung der ästhetischen Repräsentation und der traditionellen Geschlechterordnung hat die emanzipierte, unverheiratete, alleinerziehende Mutter keinen Platz in der Vaterordnung, und so befindet sie sich jenseits der symbolischen Ordnung, die der Roman zwischen den Toten lokalisiert: Das Familienhaus wird zum Leichenschauhaus, und Kyra nennt ihre Kindheit ein „Ex-Leben“ (S. 221). Gleichzeitig macht der Roman deutlich, dass die patriarchalische Kultur dieses Konzept von Weiblichkeit pathologisiert. Die Mutter ist nicht nur buchstäblich Pathologin, sondern sie ist auf Dauer ebenfalls nicht existent. Während der Obduktion einer schönen männlichen Leiche steckt sich die Mutter mit dem HI-Virus an. Sie wird für die Forschung als „AIDS-Versuchstierchen“ (S. 223) eingesperrt und stirbt im Labor, so dass die unabhängige Weiblichkeit buchstäblich als pathologisch und verseucht markiert wird – der Diskurs über AIDS wird laut Donna Haraway als Ausschließungsmechanismus benutzt,64 um das Normale und die Abweichung zu definieren. Ihre Familie ermöglicht der Protagonistin Kyra, sich zu einer emanzipierten Frau, das heißt zum handelnden Subjekt und zum Subjekt des Begehrens, zu entwickeln. Im Altgriechischen bedeutet ihr Name „Herrscherin“ oder „Herrin“. Als bisexuelle Frau entflieht sie den normierenden Gender-Prozessen des Patriarchats, das, mit Freud gelesen, die polymorphperverse Sexualität des Kindes entsprechend der binären heterosexuellen Geschlechtermatrix einschränkt. Zum Signifikanten ihrer phallischen Potenz wird der von ihrer emanzipierten Mutter geerbte Sportwagen, der zum Arsenal des Männlichen gehört und einen bestimmten sozialen Status demonstriert. Kyra stellt sich als ein Kind der feministischen und liberalen Bewegung vom Ende der 1960er Jahre dar, da ihre Geburt in das Jahr 1968 fällt, das durch die sexuelle Revolution und die Suspension oder zumindest die Lockerung der traditionellen patriarchalischen Geschlechterordnung charakterisiert ist. Eine derartige weibliche Heldin kann nur durch die Isolierung von der Gesellschaft und von der symbolischen Vaterordnung entstehen. Nur im Leichenschauhaus, im Reich der Toten, in dem sich Kyra vielfach aufhält, kann die Frau den patriarchalischen Normen des Weiblichen entfliehen. Dies macht die Existenz des weiblichen Subjektes utopisch.

63 Vgl. E. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 13-27. Als Beispiel könnte Bronfens Analyse zum Gemälde Der Anatom von Gabriel von Max dienen. 64 Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main; New York 1995, S. 216. „Der Diskurs über AIDS ist Teil der Mechanismen, die bestimmen, was allgemein als ‚Bevölkerung‘ gilt. Sieht man einmal von den globalen Dimensionen der Ansteckung ab, könnten allein in den USA mehr als eine Million infizierter Menschen so klassifiziert werden, daß sie nicht Teil [Hervorhebung im Original] der allgemeinen Bevölkerung sind, was für die medizinische Versorgung, Krankenversicherung und Gesetzgebung auf nationaler Ebene bedeutende politische Konsequenzen hat.“

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Kyra setzt sich verhältnismäßig erfolgreich in der männlichen Gesellschaft durch, fällt jedoch der Lustmörderin zum Opfer. Die patriarchalische Ordnung siegt – Nikes Name referiert auf die Siegesgöttin in der griechischen Mythologie, indem sie die Frau als Subjekt, als Herrin und Herrscherin, auslöscht. Nike kastriert ihr Opfer symbolisch, indem sie Kyra auf ‚männliche‘ Weise mit Kastrationsschnitten am Hals umbringt. Kyra zitiert am Ende ihres Lebens – ein Beweis für die Stabilisierung der patriarchalischen Ordnung – eine Strophe aus der Odyssee von Homer: „Sag mir Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes –“ (S. 281). Dieser Ausschnitt stellt die traditionelle Geschlechterordnung wieder her, indem der Mann in Analogie zu Odysseus als aktives handelndes Subjekt und die Frau als Muse festgelegt werden. Gleichzeitig ergänzt Nike die zweite Strophe, während sie den Kopf des Vaters in der Hand trägt: „Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung.“65 (S. 281) Der Vater Nikes ist in Analogie zu Odysseus als verirrter Mann und das Patriarchat als eine Irrfahrt wie die Odyssee zu dechiffrieren. Der Roman diagnostiziert also mit dem Tod Kyras das Scheitern der Emanzipationsbewegung der 1960er Jahre, die von den reaktionären Tendenzen der 1980er und 1990er Jahre und der Verfestigung der patriarchalischen Geschlechterordnung niedergeschmettert wird. Verkörperung der gewalttätigen Männerfantasien Die letzte und einzige mögliche Weiblichkeitskonstruktion, die der Roman in der patriarchalischen Gesellschaft zulässt, ist die Verwirklichung der literarischen und künstlerischen Männerfantasien, die nach den Aussagen ihres Schöpfers eine „perfekt erzogene Frau“, einen „Gipfel der Vollkommenheit“ und einen „idealen Menschen“ darstellt (269-270). In dem Familienkonzept des alleinerziehenden Vaters wird der männliche Schöpfungsmythos – der Zeus-Athene-Mythos – buchstäblich realisiert. Am Ende des Romans heißt es explizit: „Und Nike Schröder ging hinab und trennte das greise Haupt ihres Vaters vom Rumpf und öffnete den Schädel und weinte, als sie die Höhle wiedersah, der sie vor neunzehn Jahren entsprungen war.“ (S. 282) Der Roman imitiert die Geburt der Athene, denn der Vater ‚gebiert‘ seine Tochter wie Zeus aus seinem Kopf, indem er Nike zum Geschöpf seiner intellektuellen Tätigkeit macht. Er lässt eine arme Frau aus Griechenland die Tochter gebären; nach ihrer Geburt erzieht er sie in völliger Isolation von der Gesellschaft in einer Welt von Literatur und Kultur, in einer Welt der klassischen Bildung. Ihre Mutter, die vollkommen auf die biologische Reproduktionstätigkeit reduziert wird, wird traditionsgemäß wie in der Novelle Kleebergs zum idealen Gefäß der männlichen Entwürfe: „Schließlich fand ich ein einfaches Mädchen aus Griechenland. Farblos. Unverdorben. Unverbildet. Das ideale Gefäß.“ (S. 271) Diese Worte bezeichnen die Frau als Ta-

65 Im Roman: „Planchtche, epei Troies hieron ptolietron eperse […]“ (S. 281).

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bula rasa, die als „farblos“ und „unverdorben“ Assoziationen mit der unberührten Natur und einem Rohstoff hervorruft. Aus diesem Schöpfungsakt entwickelt sich die Verwirklichung der männlichen Fantasien – eine „perfekte“ Frau, deren Sexualität auf der einen Seite in der Tradition der Femme fragile vollkommen verleugnet wird, sie ist eine Jungfrau.66 Auf der anderen Seite verkörpert Nike eine Femme fatale. Sie wird durch den Bezug zur Antike zur mehrfach codierten Figur, die diverse kulturelle Phantasmen des Weiblichen verkörpert. Durch die intertextuelle Überdeterminierung ist sie ein Synkretismus67 weiblicher Imagines, Trägerin abstrakter Weiblichkeitszuschreibungen und zugleich eine leere Hülse,68 in der die Bilder der Femme fatale von der Antike bis zu Gegenwart oszillieren. Zentral ist dabei die Figur der Athene. Nike zitiert aus der Odyssee und der Ilias Textpassagen über Athene. Auch die Siegesgöttin Nike, deren Name sie trägt, begleitet Athene. In Analogie zu Athene besitzt Nike eine Eule. Athene wird in den antiken Texten als „eulenäugig“ beschrieben – ein antikes Attribut für Schönheit und Zeichen für die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen. Nike bezeichnet sich mit dem anderen Namen von Athene, Ageleie.69 Athene selbst ist ein männlicher Weiblichkeitsentwurf und verkörpert Jungfräulichkeit, im Patriarchat Symbol der Reinheit. Im Prozess gegen Orestes, der seine Mutter Klytämnestra aus Rache wegen ihres Mordes an seinem Vater Agamemnon umbrachte, spricht Athene Orestes frei. Die Forschung interpretiert diesen Mythos als Reflexion über die Übergangsperiode von einer Ordnung, die vielleicht kein Matriarchat war, jedoch der Mutter ihren politischen Platz in der Kultur einräumte und die Fruchtbarkeitsgöttinnen ehrte, zu einer paternalistischen Ordnung, die das 66 Gransow, Thomas: Athen und die Halbinsel Attika, 3. Der Gründungsmythos, Text 1: Die Göttin, in: vom 07.06.2006. „In unserer Mythologie war Pallas Athene die Vaterstochter: eine kriegerische Jungfrau, bei deren Geburt der Vater eine größere Rolle gespielt hat als die Mutter. In unserer Religion nahm sie, wenigstens seit Homer, neben Vater Zeus die zweite Stelle ein. [...] In allen Geschichten, die man von Athene erzählte, galt sie als Parthenos, ‚Jungfrau‘.“ 67 S. Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 52. Silvia Bovenschen beschreibt mit dem Synkretismus Lulu von Wedekind, was aber auch zu Nikes Figur in Die Hirnkönigin passt. 68 Ebd.: S. 57-69. Das Weibliche wird nach Bovenschen als Erfüllung (männlicher) fremder Erwartungen im Repräsentationssystem konzipiert. 69 Die Zweideutigkeit der Femme fatale, Verführung und Bedrohung, wird mit dem Pseudonym Ageleie (S. 109) prägnant zum Ausdruck gebracht, mit dem sich Nike ihrem zukünftigen Opfer Homberg vorstellt. Ageleie bedeutet eine Blume, die zum Attribut von Weiblichkeit geworden ist, und eine Beutemacherin, als Epitheta von Athene. Das Wort Ageleie stammt aus dem Griechischen und lässt sich etymologisch auf „agein leian“ zurückführen, was mit Kriegsführer oder Heerführer übersetzt wird.

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Mutterrecht nicht mehr anerkennt. Athene und infolgedessen Nike erscheinen daher als Fürsprecherinnen des Patriarchats.70 Nike köpft zudem die Männer wie Judith, und sie tanzt vor den Morden wie Salomé. Beide Figuren, die um 1900 umgeschrieben und popularisiert wurden,71 repräsentieren „Sinnlichkeit als weibliche Macht“72 sowie die „Verbindung von Wollust und Grausamkeit“73 in einem Maße, dass Salomé und die Femme fatale als Synonyme gelten.74 Wird Nike zur Verwirklichung der männlichen Fantasien beziehungsweise Ängste, so setzt sie die größte Angst der Männlichkeit um – die vor der Kastration. Freud stellt bei der Analyse des Dramas Judith von Friedrich Hebbel entsprechend fest: „Köpfen ist uns als symbolischer Ersatz für Kastrieren wohlbekannt […].“75 Nike verwirklicht mit dem Kastrationsvorgang ironisch einen weiteren Mythos des Patriarchats: Sie befreit die männlichen Gehirne als Geist vom Körper und führt die Unmöglichkeit einer ‚rein‘ geistlichen Existenz vor, indem sie gerade den männlichen philosophischen Traditionen folgt. Negiert das Patriarchat Körperlichkeit und Sinnlichkeit, so verwirklicht Nike genau die Gebote der Vaterordnung. Diese „perfekte“ Frau, die die beiden stereotypen Weiblichkeitsbilder, Femme fatale und Femme fragile, verschmilzt, signalisiert den Projektionsmodus des Weiblichen, auf das traditionsgemäß Wünsche und Ängste projiziert und abgespalten werden. Nike wird also zum Mythos dessen, was die männlichen Figuren in ihr sehen. Ihre Figur vergegenwärtigt daher Weib70 Vgl. Lafargue, Paul: Der Mythos von der unbefleckten Empfängnis. Ein Beitrag zur vergleichenden Mythologie (1893/1896), in: < http://www.marxists.org> vom 07.06.2006. Lafargue zeigt, wie die Göttinnen ihre Bedeutung für den Zeugungsakt im Laufe der Zeit verloren haben und sie aufgrund der Rivalität mit den Göttern die Geschlechtsmerkmale beider Geschlechter angenommen haben. Die dritte Kirchenhymne von Synessios (370-413), dem Bischof von Ptolemais, sagt über den unendlichen Geist: „Du bist der Vater, Du bist die Mutter, Du bist der Mann, Du bist die Frau.“ 71 Die Popularität von Salomé und Judith in der Literatur zeigt das Lesebuch von Gerd Stein auf, der Texte zu diesem Thema aus dem 19. und 20. Jahrhundert zusammenstellt. Vgl. G. Stein (Hg.): Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf. Die Obsession bezüglich der Figur der Femme fatale um 1900 können exemplarisch folgende Werke demonstrieren: Emile Zolas Thérèse Raquin (1867) und Nana (1880); Frank Wedekinds Der Erdgeist (1895), überarbeitet unter dem Titel Lulu (1904); Oscar Wildes Salomé (1891); Richard Strauss’ Salomé (1905). 72 C. Hilmes: Die Femme fatale, S. 74. 73 Ebd.: S. 105. 74 Ebd.: S. 104. Der Salomé-Mythos erfährt am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Verschiebung des Rachemotivs, das als Salomés Begehren von Johannes repräsentiert wird, und die Verlagerung des Interesses von der Mutter auf die Tochter. 75 Freud, Sigmund: Das Tabu der Virginität, in: ders.: Gesammelte Werke, London 1972, Bd. 12 (1917-1920), S. 159-180, hier: S. 178.

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lichkeit als Spiegel für das männliche Selbst und als Maskerade, die das phallische männliche Begehren widerspiegelt und dessen Mangel verschleiert.76 Die Maskerade ist nach Luce Irigaray ein konstitutives Moment der Weiblichkeitskonstruktion, um weibliche Existenz in der patriarchalischen Ordnung zu ermöglichen. Die Identifikation mit dem Begehren des Mannes lässt sie in die „herrschende Ökonomie des Begehrens“77 um den Preis des Verzichts auf ihr eigenes Begehren eintreten. Dieser Ansatz fordert zwar essentiell weibliches Begehren jenseits des Phallus, ermöglicht es jedoch, die bestehende Position der Frau in der phallischen Ökonomie des Begehrens der Kritik zu unterziehen: „Er [der Mann, Anm. d. Verf.] braucht lediglich sein Mann-Sein zu vollziehen, während die Frau gezwungen ist, eine normale Frau zu werden, das heißt in die Maskerade der Weiblichkeit einzutreten. – Der weibliche Ödipuskomplex ist im Endeffekt das Eintreten der Frau in ein Wertesystem, das nicht das ihre ist, und in dem sie nur ‚erscheinen‘ und zirkulieren kann, wenn sie in den Bedürfnis-Wunsch-Phantasmen der anderen – Männer – eingewickelt ist.“78 Nike betreibt ganz in diesem Sinne Maskerade, um den männlichen Bedürfnissen, Wünschen und Phantasmen zu entsprechen – sie trägt unter anderem verschiedene Perücken. Als Spiegel besitzt Nike buchstäblich keine Identität, keine Individualität, kein Gesicht oder Aussehen, was mit dem Suffix -los zum Ausdruck gebracht wird. Sie ist infolge der Krankheit Alopecia areata universalis, bei der die gesamte Körperbehaarung verloren geht, haarlos; sie ist „herzlos“ (S. 260), wie sie mehrmals von der Protagonistin Kyra genannt wird, und „makellos“ (S. 222) mit „klaren, farblosen Augen“ (S. 109): „Irgendetwas hatte dieses Mädchen an sich. Nichts Hübsches. Aber nichts im klassischen Sinne Schönes. Sie war makellos. Unverletzt.“ (S. 222) Unverletzt sein bedeutet zudem, symbolisch nicht ‚kastriert‘ zu sein. Nike ist eine phallische Frau, die auf keinen Mangel hinweist – eine Umkehrung der Freud’schen Vorstellung von Weiblichkeit als einem ‚kastrierten‘ Mann. Mit ihrer mythologischen Überdeterminierung wird Nike jedoch zu einer problematischen Figur. Sie schlägt das Patriarchat mit seinen eigenen ‚Waffen‘, indem sie es mit seinen eigenen Mythen konfrontiert. Vor allem entnaturalisiert der Roman Die Hirnkönigin die Geschlechtsidentität, indem er die Konstruiertheit des (weiblichen) Geschlechts offenlegt, besonders die durch das Patriarchat imaginierte Weiblichkeit. Mit der Maskerade, die auch in der Schmerznovelle von Helmut Krausser als Strategie vorkommt, wird der performative Charakter von Geschlecht deutlich, da der Roman mit Weiblichkeit als Spiegel und Maskerade ein geschlechtsloses Wesen schafft. Zum einen erscheint die imaginierte Weiblichkeit so defizitär, dass die Frau vollkommen aufgehoben wird. Zum anderen zeigt der Roman, dass nur die-

76 Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. 77 Irigaray, Luce: Das Geschlecht das nicht eins ist, Berlin 1979, S. 139-140. 78 Ebd.

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ses Phantasma im Patriarchat seinen Platz hat. Nike ist die einzige Frauenfigur, die glücklich überlebt. So wird der Lustmord zum Überschreitungs- und Kompensationsmedium der defizitären Weiblichkeit. Das Köpfen und die Entnahme der männlichen Gehirne durch die Frau werden zu einem parodistischen Versuch der Frau – die Lustmörderin legt die männlichen Gehirne einer typisch ‚weiblichen‘ Tätigkeit entsprechend in Einmachgläsern ein, um sich die der Weiblichkeit traditionell ‚fehlende‘ Rationalität und Vernunft anzueignen und damit die Geist-Körper-Trennung und die Mann-Frau-Differenz – diese beiden Differenzen überlagern sich – zu überwinden. Durch die Auslöschung von Differenzen wird der Lustmord zum Medium der Androgynie. Die Lustmörderin verkörpert dementsprechend ein Gehirn – eine karikierte Materialisierung des männlich konnotierten Schöpfergeistes: „Sie [Lustmörderin Nike, Anm. d. Verf.] war Hirn. Reines Hirn. Von Kopf bis Fuß.“ (S. 60) Darüber hinaus wird die Ei-Metapher als Symbol der Vollkommenheit79 – Nike ist „so rund und eben glücklich wie ein Ei“ (S. 51, 77) – eingesetzt, die auf ihre Vollkommenheit hindeutet und Nikes geschlechtsspezifische Undifferenziertheit darlegt. Allusiv in Szene gesetzt wird der Mythos des Aristophanes aus Platons Symposion von den Kugelmenschen als harmonische Hermaphroditen. Wenn im Mythos die Geschlechter durch die Spaltung der Kugelmenschen entstehen und sich daraus ein Harmonieverlust ergibt, wird im Roman Die Hirnkönigin eben diese Trennung der Geschlechter durch Nike aufgehoben, indem sie sich das männliche Gehirn aneignet. Gleichzeitig legt der Roman diesen Mythos als Phantasma frei, da die Vereinigung der Geschlechter nur durch die Vernichtung möglich ist. Vor allem lässt der Lustmord erkennen, dass sowohl geschlechtsspezifische heterosexuelle Identität als auch die Überschreitung der festgelegten Geschlechterordnung nur durch ihn beziehungsweise durch Gewalt möglich ist. Der Lustmord wird dabei deutlich als Produkt der patriarchalischen Geschlechterordnung markiert, da die anderen, androgynen Geschlechterkonstruktionen, die den Lustmord für die Transzendenz des Geschlechtes nicht brauchen (Isabelle und Kyra), durch das Patriarchat abgelehnt werden, wodurch der Lustmord eine gewisse Legitimation als Überschreitungsmedium bekommt. Letztendlich zerstört der Roman Die Hirnkönigin eine rebellische, transzendentale Funktion des Lustmordes, die er im deutschen Expressionismus am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte, um die bürgerliche Ordnung zu

79 Walker, Barbara G.: Das geheime Wissen der Frau: Ein Lexikon, München 1996, S. 201-202. „Im Orient war das Ei weithin als Bild für die Schöpfung verbreitet. Seine westliche Versionen ‚gingen auf die Kosmologie des Tiamat-Typus und auf den frühen Austausch griechischer und östlicher Vorstellungen zurück’ (Lindsay). Die ägyptische Hieroglyphe für das kosmische Ei war identisch mit der für den im Schoß einer Frau liegenden Embryo.“

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sprengen. Die zitierten Textpassagen von Gottfried Benn80 und Georg Trakl rufen entsprechend die Tradition des Expressionismus auf, der den Lustmord zu einem populären literarischen Motiv gemacht hat. Thea Dorn verbindet auch eine Erneuerung oder revolutionäre Änderung der bestehenden Gesellschaft mit der Lustmörderin: „Eine wirklich gewalttätige Frau, eine Frau, die durch und durch skrupellos, böse ist, würde diese Gesellschaft heftiger erschüttern als alle Revolutionen. [Hervorhebungen im Text]“ (S. 22) Diese Vision wird jedoch nicht umgesetzt: Zwar konfrontiert die Lustmörderin Nike die patriarchalische Gesellschaft mit ihren eigenen Normen und Werten, die als lustmörderisch erscheinen, jedoch zeigt sich der Lustmord zugleich als künstlerische männliche Fantasie. Dorns Roman macht deutlich, dass die Lustmörderin die bestehende Ordnung stabilisiert, selbst wenn der Vater als patriarchalische Autorität und Verkörperung der symbolischen Ordnung tot ist. Das Patriarchat wird signifikant durch Frauen aufrechterhalten.

F AZIT Der Roman macht die Geschlechterkonfigurationen und -refigurationen sowie die Überschreitung der Geschlechtermatrix zum kriminellen Geschehen, das die bestehende Ordnung als repressive Ordnung erscheinen lässt, die, mit Butler gesprochen, auf Zwangsheterosexualität beruht.81 In ästhetischer Hinsicht realisiert der Roman die Erschaffung der androgynen Weiblichkeit durch die geflechtartige Überlagerung verschiedener männlich codierter Genres und intertextueller Referenzen, die die literarische und künstlerische Gestalt der Femme fatale aufgreifen und revidieren. Dadurch löst Die Hirnkönigin nicht nur die Grenze zwischen der Hoch- und Unterhaltungsliteratur sowie zwischen männlich und weiblich codierten Genres auf, sondern stellt 80 Benn, Gottfried (1919): Ithaka, in: ders.: Szenen und Schriften in der Fassung der Erstdrucke, hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main, 1990, Bd. 4, S. 21-28. Das im Roman zitierte Drama Ithaka von Gottfried Benn referiert auf Homers Odyssee und thematisiert das Gehirn; es heißt dort: „Gehirne: kleine, runde; matt und weiß. Sonne, rosenschößig, und die Haine blau durchschaut.“ (S. 60) Im Zusammenhang mit dem Gehirn wird der Ignorabimus-Streit zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgerufen, den der um die Gehirnforschung kreisende Vortrag von Du Bois-Reymond Über die Grenzen des Naturerkennens (1872) ausgelöst hat. Einige der zentralen unlösbaren Probleme sind für Du Bois-Reymond die Frage nach dem Funktionieren des Bewusstseins und die Erforschung des Gehirns, die Einheit sowie der Dualismus Seele/Leib, der weder bewiesen noch negiert werden kann. Vgl. Reichenberger, Andrea Anna: Grenzen des Wissens? Der Ignorabimusstreit, in: Ungewußt Die Zeitschrift für Angewandtes Nichtwissen 11 (Winter 2003/04), S. 37-55. 81 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 41.

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auch den abendländischen literarischen Kanon und sein ästhetisches Repräsentationssystem in Frage, die der Frau nur die Existenz eines Opfers oder einer Lustmörderin zugestehen. Dabei macht der Roman durch Amalgamierung verschiedener literarischer und künstlerischer Traditionen deutlich, dass der Lustmord das Produkt des ästhetischen Repräsentationssystems der patriarchalischen Geschlechterordnung ist, das bereits in der Antike entstand und bis heute Bestand hat. Der Roman zeigt verschiedene Weiblichkeitsentwürfe in der patriarchalischen Kultur und im herrschenden ästhetischen Repräsentationssystem auf, indem er einerseits den tradierten Zeugungsmythos und die mythischen Frauenimagines revidiert, andererseits die Sozialisation in den verschiedenen Familienkonzepten der gegenwärtigen deutschen Kultur überprüft. Das Ergebnis dieser Untersuchung offenbart die Chancenlosigkeit der Frauen, sofern sie nicht den Typus Femme fatale oder Femme fragile – die Verkörperung männlicher künstlerischer Fantasien – repräsentieren. Die bestehenden Weiblichkeitskonstruktionen zwingen die Frauen entweder zur Existenz innerhalb der Familie, in der sie sexueller Gewalt ausgesetzt sind, oder imaginieren sie in Literatur und Kunst als mächtige, phallische Frauen, die die Sehnsucht und Angst des männlichen Begehrens widerspiegeln. Daher erteilt der Roman der heteronormativen Geschlechtermatrix, die den Frauen keine autonome Existenz zugesteht, eine Absage. Weibliche Homosexualität und Bisexualität stehen den traditionellen Weiblichkeitskonstruktionen als Alternative gegenüber, werden jedoch eliminiert: Die beiden alternativ konstruierten weiblichen Figuren fallen der patriarchalisch konstituierten Weiblichkeit zum Opfer. Die einzige im Patriarchat realisierbare Weiblichkeitskonstruktion verkörpert die nach Androgynie strebende Lustmörderin Nike. Der Lustmord legt zwar den gewalttätigen Hintergrund der binären Geschlechtermatrix und der durch sie bedingten Identitätskonstruktion frei; die antiken und zeitgenössischen künstlerischen Topoi legen jedoch dar, dass der Überschreitungsgestus legitimiert beziehungsweise sogar erwünscht ist. Der Roman entlarvt also den Lustmord als Mechanismus der patriarchalischen Ordnung, der das Patriarchat stabilisiert und eine binäre Matrix reproduziert, in der die Frau nur als Femme fragile und Femme fatale erscheint. Paradoxerweise zeigt jedoch der Roman ebenfalls, dass Frauen selbst für die patriarchalische Gesellschaft verantwortlich sind, da sie sich mit den stereotypen männlichen Weiblichkeitsimagines unhinterfragt identifizieren. Sie setzen selbst das nahezu Unmögliche um und werden zu Lustmörderinnen, nur um das Patriarchat zu retten. Im Unterschied zu den bisher analysierten Texten wird der Lustmord bei Dorn selbst zur kritischen Reflexion der männlichen Kunst. Mit der Intertextualität löst Die Hirnkönigin den psychologischen Diskurs im Lustmord auf – die Referenzen zu den anderen Texten deprivatisieren das destruktive Begehren und universalisieren zugleich die Geschlechterbilder im Roman, die die Autorin durch die Verknüpfung mit der Antike ohne aktuellen sozialen Bezug darstellt. Zu kritisieren wäre die männerfeindliche Haltung des

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Romans, der genau die Strategien gegen die Männerfiguren umsetzt, die er in Bezug auf Frauen kritisch hinterfragt. Hinzu kommt, dass Die Hirnkönigin ebenfalls die von Dorn kritisierten Kunsttraditionen für die narrative Entwicklung nutzt, denn der Roman kann als ein blutrünstiger Krimi gelesen werden – es gibt keine Verfremdungsstrategien, die die voyeuristischen Gewaltdarstellungen unterbrechen. Ähnlich wie Süskind bedient sich auch Dorn des Lustmordmotivs, ohne das Repräsentationssystem zu reflektieren, das den Lustmord als ästhetisches Element hervorbringt. Das Parfum setzt den Lustmord in seiner ‚klassischen‘ Variante ein. Kleebergs Novelle modifiziert den Lustmord durch die Opferperspektive des männlichen Selbstmörders, dennoch interessiert sie sich ebenfalls nicht für die ästhetische Lustmordfunktion. Der Lustmord wird zum Instrument der Selbstauflösung ohne jegliche kritische Reflexion. Am nächsten steht zu Dorns Roman die Schmerznovelle von Krausser – beide stellen eine Lustmörderin dar. Krausser hinterfragt jedoch kaum die Täter-Opfer-Kategorien, die er trotz der Auflösung im Rahmen der binären Matrix fortschreibt. Auch er bedient sich ähnlich wie Süskind des Lustmordmotivs, um es zur Auseinandersetzung mit der männlichen Identität zu funktionalisieren, was in Das Parfum zur Kreation der Künstleridentität forciert wird. Gemeinsam ist allen in diesem Kapitel analysierten Werken, die Auflösung der heterosexuellen (männlichen) Identität über den Lustmord zu imaginieren und den Lustmord als Instrument der Kunstproduktion zu funktionalisieren.

Lustmord und Ökonomie

Lustmord und Konsumgesellschaft Gier von Elfriede Jelinek

„W AHRSCHEINLICH

WÄRE ICH EIN

L USTMÖRDER “

Eines der zentralen Themen in Jelineks provokativem Schaffen ist die Auseinandersetzung mit der faschistoiden und gewalttätigen Geschlechterordnung, deren höchste Intensität in dem Roman Gier erreicht wird. In diesem „bösen neuen Meisterwerk“1 wird der Lustmord nicht unerwartet zum Thema, denn in einem Interview sagt die Autorin: Wäre sie ein Mann, so wäre sie wahrscheinlich ein Lustmörder.2 Es handelt sich um eine Roman-Parodie, deren Handlung in einer kleinen Stadt irgendwo zwischen Mariazell und Mürzuschlag spielt. Die Schlüsselfigur, der Dorfgendarm Kurt Janisch, ein „Traummann [...] mit starker erotischer Ausstrahlung“ (S. 120), „wie er uns Frauen eben gefällt“ (S. 8), strebt nach dem Eigentum und Besitz seiner Opfer. Dafür lockt er Frauen in sein Netz der ‚Liebe‘. Letztendlich geht der geschickte Mann in seiner Habgier über (Frauen-)Leichen. Sein Leben setzt der Gendarm mit einem Bauplan gleich, in dem ein Haus als das Wertvollste gilt und Frauen lediglich Räume sind, nach deren Okkupation er strebt. Der Frauenkenner beziehungsweise Frauenmörder Janisch findet immer einen passenden ‚Schlüssel‘ für jedes ‚Frauenzimmer‘. Das „Erzählwasser“ (S. 415) fließt langsam durch die Alltagsroutine der „Firma Häuserklau und Sohn“ (S. 28), deren Teilhaber sich auf den Tod spezialisieren (S. 44), und stellt die nächsten „liebeshungrigen“ Liebhaberinnen (S. 8) vor, die zu den nächsten Opfern werden: die 50-jährige Gerti und die 15-jährige Gabi. Um den Gendarmen Kurt Janisch und die beiden Frauen kreist die Handlung hauptsächlich. Daneben stehen die Ehefrau und die Mutter Janischs, beide Hausfrauen, sowie sein Sohn und die religiöse, fromme Schwiegertochter. Außerdem erzählt der Roman von der alkoholsüchtigen Frau Eichholzer, die von Kurt Janischs Sohn eine Leibrente bekommt, in deren Haus sich Ernst mit seiner Familie ausbreitet und deren 1 2

Hartwig, Ina: Rezension, in: Frankfurter Rundschau vom 18.10.2000. Biron, Georg: Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek, in: Die Zeit 40 (1984).

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Tod er zu beschleunigen versucht. Schließlich stört die Erzählerin, „süße Herrin der Sprache“ (S. 241), die Handlung durch ihre Kommentare, indem sie mit ihrer Sprach-Waffe die Alltagsroutine bombardiert. Das alles wird in eine vielschichtige, kritisch-zynische Betrachtung des Lebens in einer kleinbürgerlichen Welt in Österreich eingeflochten, in der alle Voraussetzungen für Clans wie den der Janischs und für ungestrafte Lustmorde gegeben sind. Die folgende Analyse des Romans Gier stützt sich auf Roland Barthes’ Konzept, das er in Mythen des Alltags3 entwickelt. Ähnlich wie Barthes der kritischen Aufklärung gegen bürgerliche Mythen verpflichtet, entmythologisiert Jelinek den Lustmord als gesellschaftliches Phänomen und als ästhetisches Sujet und unterwandert das Genre Unterhaltungsroman. Jelineks Strategie der Entmythologisierung kann in Anlehnung an Lehmann4 als subversive Affirmation bezeichnet werden. Die Autorin führt Mythen vor, bestätigt sie und dekonstruiert sie gleichzeitig durch ihre groteske Hypertrophierung und Zusammenführung beziehungsweise Überlagerung von verschiedenen Diskursen. Dadurch kündigt der Roman die Sprachlogik und literarische Romantraditionen auf. Jelineks Gier schafft ein Wort- und Themengeflecht aus fast untrennbaren Assoziationen, die ineinander übergehen und miteinander verschmelzen. Die Sprachstruktur des Romans vermengt verschiedene Diskurse und lädt die Wörter mit einer explosiven Fülle von Bedeutungen auf, die paradoxerweise dadurch wieder entleert werden – die Autorin hebt die Sinnstiftung auf. In diesem Roman werden in Analogie zu den im vorherigen Kapitel analysierten Werken die männliche Subjektivität und die heterosexuelle Geschlechterordnung über den Lustmord kritisiert, genauer gesagt gehört der Lustmord bei Jelinek zum unabdingbaren Bestandteil der westlichen Gegenwartsgesellschaft, die sie am Beispiel Österreich exemplarisch seziert. Der Lustmord wird jedoch nicht im Zusammenhang mit der Künstleridentität thematisiert, obwohl die Autorin den Lustmord als ästhetisches Sujet reflektiert und dekonstruiert, und er wird nicht zum Medium der Geschlechterentgrenzung, sondern er wird genau umgekehrt zur Stabilisierung der Heterosexualität eingesetzt, an deren Genese alle gesellschaftlichen Instituten, Sphären und Diskurse arbeiten. In Gier wird besonders Ökonomie mit Begehren verknüpft, so dass der Lustmord die sexuelle Befriedigung an das Konsumieren koppelt. Die Voraussetzung dafür schafft der gesamte Staatsapparat (Österreichs), das heißt, die Prämissen für den Lustmord sind in den politischen, gesetzlichen und ökonomischen Strukturen der westlichen Kultur zu suchen. Die Geschlechterordnung ist daher durch die Partizipation an der Konsumtion organisiert – die patriarchalische kapitalistische Konsumökonomie konstituiert die Männerfiguren als Konsumenten, deren konstitutives Begehren unersättliche, destruktive Konsumgier ist, und die Frauenfiguren als Waren, die der Roman entsprechend verdinglicht. Um die Gender3 4

R. Barthes: Mythen des Alltags. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 2001.

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Strukturen als ökonomisch gesteuert darzustellen, verknüpft Jelinek die lustmörderischen Männerfiguren mit Staatsinstitutionen, Banken und dem Gesetz, die eine institutionelle Voraussetzung für den Lustmord in allen kulturellen Bereichen schaffen, und die Frauenfiguren mit dem literarischen und künstlerischen Motiv der „schönen Leiche“. Die Geschlechterordnung basiert im Roman Gier auf einigen wissenschaftlichen Theorien, die Jelinek in ihrer ästhetischen Transformation kritisch reflektiert. So erweist sich zum Beispiel die Freud’sche Psychoanalyse bei Jelinek für die Geschlechterpolitik nicht nur konstitutiv, sondern bis heute wirksam. Für die Analyse von Männlichkeit ist daher das Konzept des Körperpanzers von Klaus Theweleit5 relevant, für die Weiblichkeit ist Freuds Theorie des Penismangels und -neids6 der Frau sowie die in seiner Traumdeutung entwickelte kollektive Geschlechtersymbolik von Bedeutung, die Frauen mit Häusern gleichsetzt. Der Roman kann jedoch nicht als psychologisch definiert werden, denn Jelinek entlarvt den psychoanalytischen Diskurs nicht nur als eine misogyne Grundlage der aktuellen Geschlechterordnung, sondern dekonstruiert ihn sowohl durch das Sprachspiel, mit dem sie wiederholt auf die Sprache aufmerksam macht – im Roman ist alles nur ein sprachliches Produkt –, als auch durch die Mythen, die die Psyche der Protagonisten auf bildkünstlerische, religiöse und/oder literarische Fantasien zurückführt.

F ORSCHUNGSSTAND Studien zum Roman Gier sind zwar kaum vorhanden, dafür ist aber die Forschung zu Jelineks Schaffen so umfangreich, dass hier nur einige ausgewählte Studien vorgestellt werden können. Es ist festzuhalten, dass Elfriede Jelinek eine politisch engagierte, skandalumwitterte und umstrittene Autorin ist. Die kontroversen Einschätzungen von Elfriede Jelineks Werk sowohl durch Leser als auch durch Rezensenten legen den provozierenden Inhalt ihres Schaffens frei. Die Aussagen, die die Schriftstellerin oft als „literarische Domina“, „feministisches Monstrum“, „Gefriermaschine“, „Tabubrecherin“, „Nestbeschmutzerin“7 etc. abwerten, bestätigen die Anerkennung Elfriede Jelineks als ‚De-Mythologin‘ im Sinne von Barthes: Die Utopie ist für sie ein unmöglicher Luxus. Provokativ und schonungslos entzieht sie der westlichen bürgerlichen Kultur den „schönen Schein“8, seziert mit Sarkasmus traditionelle Wahrnehmungs- und Denkmuster und bewirkt damit die „Demontierung von Illusionen“ und die „Dekuvrierung der ‚falschen Ein5 6 7 8

K. Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1. S. Freud: Die Weiblichkeit, S. 544-565. Vgl. Szczepaniak, Monika: Dekonstruktion des Mythos in ausgewählten Prosawerken von Elfriede Jelinek, Frankfurt am Main 1998, S. 9. Gürtler, Christa: Vorwort, in: dies. (Hg.): Gegen den Schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek, Frankfurt am Main 1990, S. 7-15, hier: S. 7.

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heit‘ eines originären Daseins“.9 Mit ihrer einzigartigen literarischen Verfahrensweise und ihrer politischen Position, die unter anderem vom Geist der 1960er Jahre und von der Frauenbewegung, von den theoretischen Ansätzen des Feminismus, des Marxismus, der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, insbesondere Theodor W. Adornos, vom frühen Roland Barthes und von den Sprachexperimenten der Wiener Gruppe geprägt wurden, schafft Jelinek in ihren Werken eine komplexe, aber ausweglose Realitätskonstruktion: Die Welt des Kapitals, die sowohl durch ökonomische als auch durch Herrschaftsverhältnisse geregelt wird, setzt bestimmte kulturelle Konventionen und soziale Strukturen voraus, in denen Frauen keinen Platz besitzen. So bezeichnet Burger Jelineks Prosa als soziologische, aber statische Romane, bei denen es sich „um mikrosoziologische Studien menschlicher Zerstörung“ handelt und in denen „ein ungebrochener, brutalgemütvoller Alltagsfaschismus“10 tobt. Hauptthemen sind die durch Männerfantasien konstituierte Weiblichkeit und die Frauen selbst, deren Existenz in Gewalt eingehüllt ist und die durch herrschende Machtstrukturen sowie durch deren Vertreter, die Männer, unterdrückt werden. Jelinek versucht, den „Kampf gegen die normenbildende Kaste aufzunehmen, denn die schreckliche Ungerechtigkeit ist ja nicht die wirtschaftliche Unterdrückung der Frau, die auch ersetzlich ist und längst behoben werden müsste, sondern das Schlimme ist dieses männliche Wert- und Normensystem, dem die Frau unterliegt, und zwar so weit unterliegt, dass sie eben immer anders sein muss und die ihr zugeschriebenen Eigenschaften wie Sanftmütigkeit und Freundlichkeit ja nur das Andere zu dem der Männer sind, dass man gar nicht weiß, was die Frau ist. Freud hat es zugegeben, heute geben sie ja nicht mehr zu, daß sie es nicht wissen.“11 Nichts bleibt Jelineks „bösem Blick“12 verborgen: Sie enthüllt die „Entindividualisierung des Einzelnen, Terror der Konsum- und Freizeitgesellschaft, Umweltvertilgung und Naturzerstörung, seelische Deformation und erotische Defizite, Fremdenhass, [und einen] faschistoide[n] Heimatbegriff.“13 Christa Gürtler zeigt in ihrer Analyse der Romane Oh Wildnis, oh Schutz von ihr (1985) und Lust (1989), wie die Mythen von Natur und Sexualität entschleiert werden, indem die Sexualität von der ‚Natur‘ her hie-

9 10 11 12 13

Zitiert nach Heyer, Petra: Von Verklären und Spielverderbern, Frankfurt am Main 2001, S. 27. Burger, Rudolf: Der Böse Blick der Elfriede Jelinek, in: Ch. Gürtler, Gegen den schönen Schein, S. 17-29, hier: S. 20. E. Jelinek zitiert nach Presber, Gabriele: Die Kunst ist weiblich, München 1998, S. 114. R. Burger: Der Böse Blick, in: Ch. Gürtler, Gegen den schönen Schein, S.17-29. Spielmann, Yvonne zitiert nach M. Szczepaniak: Dekonstruktion des Mythos, S. 10.

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rarchisiert und in einen Ort der Machtausübung umgewandelt wird.14 Michael Fischer demonstriert in seiner Analyse der Romane Die Liebhaberinnen (1975) und Die Klavierspielerin (1983) die Destruktion des Mythos der Liebe, die nur als „Produkt“ der ökonomischen Verhältnisse dargestellt wird.15 Monika Szczepaniak liest ausgewählte frühere Prosawerke von Elfriede Jelinek, um ebenfalls die Demontage der Mythen aufzuspüren.16 Sie katalogisiert die Mythen im Schaffen Jelineks und zeigt, wie die Mythen der ‚heiligen‘ Familie, inklusive die der selbstlosen Mütterlichkeit, der mächtigen Väter sowie einer glücklichen Kindheit, und darüber hinaus die Mythen von Frau, Mann, Liebe, Sex, Natur, Heimat demontiert werden. Diese Demythisierung verdankt sich einem einzigartigen Stil, den die Autorin selbst als eine Form des „Mit-der-Axt-Dreinhauens“17 beschreibt und den SchmidBortenschlager18 in Anknüpfung an William S. Burroughs als „cut-up-andfold-in-Methode“ bezeichnet. Jelineks Sprachinstrumentarium, mit dem sie die Wirklichkeit im Sinne von Karl Kraus „verstümmelt“, besteht aus bitterer Ironie, ätzender Satire und der Groteske.19 Jelineks Sprachspiel wird „distanziert-ironisch“20 genannt und von ihr selbst als Hyperrealismus gedeutet. Die Schriftstellerin muss, wie sie selbst formuliert, eine männliche Position einnehmen, wenn sie Literatur produziert. „Jelinek versteht ihr Schreiben als Versuch, Subjekt zu werden, indem sie sich als Satirikerin zur ‚Herrin‘ der Texte macht und die Sprache der Männer gegen diese selbst wendet.“21 Ihre Schreibweise der Destruktion und Verfremdung ist mit Rücksicht auf das politische Engagement der Autorin als politische Aussage zu verstehen, die sich zur Aufklärung verpflichtet fühlt. Sie möchte bestehende Herrschaft- und Gewaltverhältnisse aufdecken, indem sie „die Sprache selber die Wahrheit sagen lässt und der Wirklichkeit einen gewissen Drall oder eine Tendenz der Beschreibung zu geben“22 versucht: „Klischeehafte Vorstellungen, Zitate und 14 Gürtler, Christa: Die Entschleierung der Mythen von Natur und Sexualität, in: dies., Gegen den schönen Schein, S.120-134. 15 Fischer, Michael: Trivialmythen in Elfriede Jelineks Romanen „Die Liebhaberinnen“ und „Die Klavierspielerin“, St. Ingbert 1991. 16 M. Szczepaniak: Dekonstruktion des Mythos. 17 E. Jelinek im Interview „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, in: Theaterzeitschrift Berlin 7 (1984), S. 14. 18 Schmid-Bortenschlager, Sigrid: Gewalt zeugt Gewalt zeugt Literatur, in: Ch. Gürtler, Gegen den Schönen Schein, S. 30-43, hier: S. 37. 19 Kraus, Karl: „Ich schimpfe nicht, ich verstümmele.“ Zitiert nach M. Szczepaniak: Dekonstruktion des Mythos, S. 7. 20 Schößler, Franziska: Rezension zum Roman „Gier“: Bauen, wohnen, morden, in: Freiburger Frauen-Studien 38 (1999), S. 15-18. 21 Ch. Gürtler: Vorwort, in: dies., Gegen den Schönen Schein, S. 8. 22 Brigitte Classen im Gespräch mit Elfriede Jelinek zitiert nach Ch. Gürtler: Vorwort, in: dies., Gegen den schönen Schein, S. 8.

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Sprachschablonen werden in sezierender Manier ‚chirurgisch‘ auseinandergelegt (Günther A. Höfler spricht in diesem Kontext vom ‚Schreiben mit der Rasierklinge‘) und auf ihren ideologischen Inhalt hin geprüft. [...] Diese Sprache und diese Denkmuster erweisen sich jeweils als Ideologieträger; hinter ihnen steckt eine Lüge, die es zu entlarven gilt.“23

T RIVIALMYTHEN Im Roman Gier hat das Konzept der Trivialmythen von Roland Barthes,24 das das ganze Werk Jelineks prägt, ebenfalls große Bedeutung. Roland Barthes, einer der bedeutendsten Denker des französischen Geisteslebens der Nachkriegszeit, hat sich mit der durch Alltagsmythen verstärkten Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft auseinandergesetzt. Die bürgerliche Gesellschaft, die durch das Prinzip des Eigentums etabliert und geregelt wird und durch eine bestimmte Ideologie charakterisiert ist, betrachtet Barthes als bevorzugten Bereich für die Aufladung mit mythischen Bedeutungen. So richtet Barthes seinen Blick auf die „kleinen“ Dinge der Massenkultur und des Alltagslebens wie „Plastik“ oder „Beefsteak und Pommes frites“,25 um die Vielfalt der Mythen des Bourgeois und des Kleinbürgers aufzuspüren. Was ist ein Trivialmythos? Der Mythos wird von Barthes als ein Mitteilungssystem, als eine Botschaft definiert. Am Anfang seiner theoretischen Abhandlung wird eine sehr einfache Antwort gegeben, die in voller Übereinstimmung mit der Etymologie steht: „Mythos ist eine Aussage.“26 Unter einer Aussage versteht Barthes Mitteilungen verbaler, aber auch visueller Art, wie Bilder, Photographien, Plakate usw., wie sie beispielsweise Sport, Reportagen und Werbung liefern. Deswegen postuliert er, dass alles Mythos werden könne. Mythos kann alles korrumpieren, „denn das Universum ist unendlich suggestiv“.27 Mythos wird als ein erweitertes semiologisches System definiert, das auf die strukturalistische Korrelation Bedeutendes/ Bedeutetes zurückgeführt wird: auf das Zeichen, das Bedeutende und das Bedeutete. Die Besonderheit des Mythos besteht darin, dass er sich in ein schon existierendes linguistisches System der Sprache einschleicht und sich als ein sekundäres semiologisches System parasitär aufbaut. Dabei differenziert Barthes die den Mythos voraussetzende Objektsprache und die Metasprache, die der Mythos selbst ist. Innerhalb dieses Konzeptes kann der Prozess der Mythologisierung in zwei Schritten dargestellt werden: In einem ersten Schritt wird das Bedeutete der Objektsprache entleert. Der Endterminus der Objektsprache, das Zei23 24 25 26 27

M. Szczepaniak: Dekonstruktion des Mythos, S. 11. R. Barthes: Mythen des Alltags. Ebd.: Kapitel: Beefsteak und Pommes Frites, S. 36-38; Kapitel: Plastik, S. 79-81. Ebd.: S. 85. Ebd.: S. 85.

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chen, ist zugleich der Ausgangsterminus für den Mythos. Dabei verschwindet der Sinn nicht, sondern er entleert sich, er verarmt. Es geht um „eine anomale Regression vom Sinn zur Form, vom linguistischen Zeichen zum mythischen Bedeutenden.“28 Die Eigentümlichkeit des Mythos ist die Umwandlung von Sinn in eine Form: „Der Sinn ist immer da, um die Form präsent zu machen, die Form ist immer da, um den Sinn zu entfernen.“29 Der zweite Schritt, der die Mythologisierung vollendet, ist das Einnisten beziehungsweise Einpflanzen neuen Wissens, neuer Geschichte in diese entleerte Form. Der Wirkung des Mythos stehen aber zwei mögliche Schwierigkeiten entgegen: Entweder ist die Intention des Mythos zu unverständlich, um wirksam zu sein, oder sie ist zu offensichtlich, um geglaubt zu werden: „Vor der Alternative, den Begriff zu entschleiern oder zu liquidieren, findet der Mythos einen Ausweg darin, sich ‚natürlich‘ zu machen. Wir sind hiermit beim eigentlichen Prinzip des Mythos: Er verwandelt Geschichte in Natur.“30 Durch diese Naturalisierung wird der Mythos entpolitisiert und erscheint als klare Aussage, die alle Widersprüche eliminiert und den ‚schönen Schein‘ als Wirklichkeit darstellt. „Er schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen, er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit.“31 Dem Menschen werden Grenzen auferlegt, die er als ‚natürlich‘ hinzunehmen hat, in welchen er leiden darf oder muss, ohne den Versuch zu unternehmen, die Welt zu verändern.

S UBVERSIVE AFFIRMATION Diese Trivialmythen werden im Roman Gier von Jelinek auf komplexe Weise entmythologisiert. Die Methode der Entmythologisierung kann in Anlehnung an Lehmann32 als subversive Affirmation definiert werden. Die zirkulierende Handlung des Romans bewegt sich in dem Kreis Affirmation – Subversion – Affirmation. Jelineks Roman wirkt einerseits affirmativ, da er die bürgerlichen Mythen, die in der Massenkultur als Normen propagiert werden, vorführt und bestätigt. Die bestätigten Mythen werden andererseits im Laufe der Handlung auf verschiedene Art und Weise deformiert, um wiederum bestätigt und danach erneut destruiert zu werden. Dadurch mobilisiert der Roman die starren stereotypen Bilder in Bezug auf die Geschlechterordnung, die Ökonomie und das Gesetz. 28 29 30 31 32

Ebd.: S. 97. Ebd.: S. 104. Ebd.: S. 112-113. Ebd.: S. 131-132. Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater.

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Im Roman Gier sind mehrere subversive Strategien zu beobachten: Eine erste Strategie ist das Situieren der Figuren und Ereignisse in einem historischen und kulturellen Kontext. Wird der Mythos laut Barthes seiner Geschichte beraubt, um kulturelle Ereignisse in Natur zu verwandeln, so schreibt der Roman die Geschichte seiner Figuren und Ereignisse. Er bettet seine Figuren in einen kulturellen Kontext ein, lokalisiert das Geschehen genau in einem zeitlichen und kulturellen Kontinuum, bindet die Figuren an entsprechende Machtinstitutionen, zeigt die Prämissen für Ereignisse in der Vergangenheit und verfolgt deren weitere Entwicklung bis in die Gegenwart. So wird beispielsweise der Lustmörder Janisch nicht von seiner triebhaften ‚Natur‘ hergeleitet, wie es im Lustmorddiskurs Tradition ist, sondern er wird als Sohn eines Obersten und daher als Produkt einer gewalttätigen Sozialisation dargestellt, bei der der Vater als Identifikationsfigur und Vermittler der gesellschaftlichen Normen die staatlichen Machtstrukturen in der Familie reproduziert, indem er sich als absoluter Herrscher – er ist ein treuer Monarchist – konstituiert. Darüber hinaus situiert Jelineks Roman Kurt Janisch in den gegenwärtigen sozialen, politischen und vor allem ökonomischen Strukturen, die das lustmörderische Begehren ubiquitär produzieren, so dass der Lustmörder Janisch nicht als Ausnahme, sondern als einer von vielen Lustmördern und damit als aktuelles kulturelles Phänomen erscheint, wie die mehrfachen Exkurse über Frauenmörder im Roman vorführen. Patriarchat, Fremdenhass und kapitalistische Konsumgier bedingen im Roman die Existenz des Lustmordes. Jelinek thematisiert dabei die Institutionen, die an der Produktion der bürgerlichen Mythen sowie an der Naturalisierung und Universalisierung der kulturellen Konstruktionen teilhaben: Massenmedien und christliche Religion, aber auch Banken, Polizei und politische Parteien stabilisieren die asymmetrische Geschlechterordnung und sichern die Bewahrung der bestehenden Gewaltordnung. Die Frauen haben ebenfalls ihre Geschichte, das heißt, ihre Weiblichkeit wird zum historischen Konstrukt. Die Mutter von Kurt Janisch wird im Zusammenhang mit der letzten Königin zu Zeiten der Monarchie thematisiert. Die Ehefrau von Kurt Janisch wird in Verbindung mit Haus, Küche, Garten und Groschenromane dargestellt. Im Kontext mit der frommen Schwiegertochter von Kurt Janisch wird die katholische Kirche einer Kritik unterzogen. Schon dieser kurze Überblick macht deutlich, dass in diversen Epochen verschiedene Institutionen Weiblichkeit produzieren. Während der Mythos einen ‚schönen Schein‘ erschafft, indem er Komplexität abbaut und Widersprüchlichkeit eliminiert, werden im Roman Gier die Mythen dadurch zerstört, dass die dargestellten Themen und Figuren ambivalent und komplex erscheinen. Dies kann als zweite Strategie betrachtet werden. Als Beispiel kann das Täter-Opfer-Schema dienen, das eine Matrix für die Geschlechterordnung bildet. Das binäre, geschlechtsspezifische Täter-Opfer-Schema bleibt zwar aufrechterhalten, ist jedoch durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Die männlichen Täter sind zugleich Opfer, da sie auf allen sozialen Ebenen – von der Familie bis zu öffentlichen und

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wirtschaftlichen Einrichtungen wie Banken und Polizei – der Gewalt ausgesetzt sind. Die weiblichen Opfer bestätigen ihre Opferrolle mit grotesker Hingabe, wie die Liebesbriefe der einsamen Frauen an Frauenmörder im Gefängnis demonstrieren: „Man müßte die Männer schon verhaften und einsperren, um sie vor den Frauen beschützen zu können, denkt der Gendarm […].“ (S. 67) Der Roman schreibt den Opfern ihre Mittäterschaft an der bestehenden Geschlechterordnung zu und dekonstruiert durch diese Paradoxie das Täter-Opfer-Schema, indem sie deutlich macht, dass sich die Frauen selbst als perfekte Opfer positionieren. Die Komplexität wird oft auf der Metaebene, der Sprachebene, als widersprüchliche Mehrschichtigkeit der Bedeutungen produziert, da die Themen und Diskurse auf paradoxe Weise durch Wortspiele mit gegensätzlichen Kontexten und Begriffen verknüpft werden. Die Autorin bringt durch das Nebeneinander vielfältiger Homonyme die Bedeutungen zum Gleiten. So zerstört der Roman beispielsweise die ‚Natürlichkeit‘ der Natur, wenn ein Baggersee wie folgt beschrieben wird: „Es gibt für alles eine Lösung, doch die für den See kenne ich persönlich nicht, ich glaube, es ist eine mineralische Lösung, aber Genaueres weiß man nicht.“ (S. 93) Die Lösung als chemisches Reinigungsmittel und als Problemlösung – diese zwei Bedeutungen führt die Werbung für Reinigungsmittel oft zusammen – sowie die Lösung als chemische Flüssigkeit überlagern und dekonstruieren einander, da die Natur mittels der Werbestrategien für künstliche chemische Mittel geschildert wird. Drittens wird die Affirmation und Subversion der Mythen durch ihre Hypertrophierung durchgeführt. Alle stereotypen Vorstellungen über Männlichkeit und Weiblichkeit sowie über den Lustmord werden in einem Maße bestätigt, dass ihre Absurdität anschaulich wird. Ist in der Regel eine junge schöne Frau Opfer des Lustmörders, so ist das lustmörderische Opfer im Roman Gier die schöne 15-jährige Gabi. Jelineks Roman beschwört aber das Opfer nicht in seinem Enigma und seiner Schönheit, von denen die abendländische Literatur laut Elisabeth Bronfen33 schwärmt, sondern die Autorin betrachtet genauer, was die Opferposition ausmacht. Sie verfolgt den Verwesungsprozess des schönen Körpers, der aus den ästhetischen Repräsentationen oft ausgeblendet bleibt, und destruiert dadurch den Mythos der schönen Leiche. Schließlich werden im Roman Gier verschiedene Diskurse vermengt: Es werden Werbung, Zeitungs- und Medienberichte, Anekdoten, Beobachtungen und Kommentare der Erzählerin, philosophische und triviale Konzepte mit der Erzählung vermischt. Durch die Überlagerung dieser unterschiedlichen Diskurse werden Diskontinuitäten und Paradoxien aufgedeckt, so dass die Phänomene auch auf diese Weise als Ideologie enthüllt werden. In Gier dominiert der ökonomisch-kapitalistische Diskurs, er ist aber mit anderen Diskursen eng verkoppelt, so dass das Thema der Ökonomie im Roman ubi33 E. Bronfen: Nur über ihre Leiche.

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quitär ist. Diese Koppelung dient darüber hinaus als Strategie, um die verschleierten Machtverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft zu entnaturalisieren.

D EKONSTRUKTION

DES

U NTERHALTUNGSROMANS

Dem Konzept der Trivialmythen entsprechend greift der Roman Gier ein triviales Genre – das des Unterhaltungsromans – auf, wie der Untertitel deutlich macht. Die formalen Strukturen des Unterhaltungsromans, die Figurenkonstellation und Plotelemente werden zwar wiederholt, jedoch im Laufe der Handlung durch die deformierten Geschlechterkonstruktionen und die Überlagerung von verschiedenen literarischen Romantraditionen unterlaufen. Den Unterhaltungsroman benutzt Jelinek als einen Oberbegriff für verschiedene literarische Gattungen, die der Unterhaltung und mithin der mythologischen Verschleierung der ‚Wirklichkeit‘ dienen: Liebesroman, Kriminalroman und Thriller. Die Autorin bewegt sich in der Tradition der Frankfurter Schule, indem sie die Hochkultur von der Massenkultur unterscheidet und die Letztere dadurch dekonstruiert, dass sie die durch den Untertitel geweckten Lesererwartungen nicht erfüllt. Erwartet wird bei einem Unterhaltungsroman eine romantische, emotionsreiche Liebesgeschichte, die von Hindernissen gekennzeichnet ist, die jedoch am Ende des Romans überwunden werden und in ein Leben in ‚ewiger‘ und ‚harmonischer‘ Liebe münden. Die Handlung wird dabei oft mit erotischen Szenen angereichert. In Gier handelt es sich den dargestellten Genreregeln entsprechend um ein Liebesviereck zwischen dem Gendarmen Kurt Janisch, seiner Ehefrau, die keine größere Rolle spielt, und seinen zwei Liebhaberinnen Gerti und Gabi. Die Liebeshindernisse gehen aus der komplexen Verflechtung der Figuren und dem Status des Gendarmen hervor, der den gängigen Moralvorstellungen entsprechend den Schein eines anständigen Bürgers vermitteln möchte. Diese Geschlechterkonstellation unterwandert das zentrale Plotelement des Unterhaltungsromans, die Liebe: Es geht nicht um eine ‚ewige‘ Liebe zu einem einzigen, ‚wahren‘ Mann oder einer einzigen, ‚wahren‘ Frau, sondern Liebe erscheint als zentraler Mythos für die weiblichen Figuren, der ihre Ausbeutung und Ausnutzung ermöglicht: „Ich liebe und opfere, und ich rücke davon auch nicht ab, denn ich sehe, du könntest mich niemals täuschen und ausbeuten“ (S. 174). Als Medium, das Trivialmythen über die Liebe als Hingabe und Selbstopferung vermittelt, fungiert unter anderem die Literatur. So reflektiert der Roman die Strukturen des Unterhaltungsromans, untergräbt sie aber gleichzeitig durch das Sprachspiel, das Liebe und Ehe mit dem Tod gleichsetzt: „Die Liebe. In einer Serie. Bis zur Ehe. Bis zum Tod. Die Frau des Gendarmen liest ganze Hefte darüber, vom Anfang bis zum Ende.“ (S. 108) Auch einige Elemente des Kriminalromans und des Thrillers werden umgesetzt. Es geschieht ein Mord, wenn auch nicht am Anfang des Romans,

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wie es bei Kriminalromanen in der Regel der Fall ist. Es gibt kein Happy End wie beim Thriller. Jelineks Roman bietet zudem eine schöne weibliche Leiche als Opfer, ein wesentlicher Bestandteil beider Kriminalgenres. Das Opfer ist die junge, wie ein Model aussehende Gabi. Auf ihre Ermordung erfolgt die Ermittlung des Mordfalls. Die Dekonstruktion beider Genres wird durch eine Verschiebung der Geschlechterkonstruktionen realisiert. Lustmörder und Ermittler, Täter und Gesetzeshüter fallen im Gendarmen Kurt Janisch in einer Figur zusammen und lassen so die Ermittlung zur Paradoxie werden.34 Die Strukturen des Unterhaltungsromans werden darüber hinaus durch andere ästhetische Mittel zerstört: Ist der Unterhaltungsroman in der Regel durch eine lineare, logisch aufgebaute Struktur des Plots gekennzeichnet, so entwickelt sich die Handlung in Gier nicht linear, sondern Fragmente des Geschehens wechseln sich mit der Rede einer autoritär wirkenden Erzählerin in einer sich zirkulär bewegenden Handlung ab. Die despotische Erzählerin parodiert eine lange literarische Tradition, die den Text zum Ort (männlicher) Schöpfungsfantasien macht: „Ich nehme Totes zu mir und mache daraus Leben“ (S. 320) Die männliche Literatur- und Theaterproduktion als Schöpfung des Lebens durch den Logos greift Jelinek bereits in ihren früheren Theater- und Prosatexten auf.35 Der Roman Gier erschafft jedoch mit dem Wort kein Leben. Kontrastiert wird der Schöpfungsprozess des Romans mit der biblischen Schöpfung durch den Logos, indem der Text wiederholt die christliche Religion zum Thema macht und deren nekrophilen Charakter sowie die Leugnung des Todes und die gleichzeitige Etablierung des Todes in der Schöpfung und dem entsprechenden Repräsentationssystem aufdeckt. Die Figuren erscheinen bei Jelinek künstlich und das Geschehen wird als artifizielles und daher lebloses Produkt ausgestellt, indem das Erzählte durch das autoreferentielle Spiel mit der Sprache entfremdet wird. Dadurch wird zugleich die Sprache als Material sichtbar, die die Abwesenheit des Referenten voraussetzt und daher kein Leben schaffen kann. Jelineks Roman leugnet diese Artifizialität der Sprache nicht, sondern exponiert sie. Hinzu kommt, dass die Handlung extrem dezentriert und fragmentiert wirkt. Nicht die Ermittlung und die dynamische Entwicklung der Handlung stehen im Zentrum des Romans, sondern eine detailreiche Beschreibung der Natur sowie Kommentare der Erzählerin, die ständig die von ihr entworfene Handlung vergisst und neue Erzählungen einbaut. Die Morde, die Gier nach Häusern und Frauen laufen nebeneinander wie selbstverständliche, zur Routine des bürgerlichen Alltags gehörende Ereignisse, die sich unablässig wiederholen. Ort, Zeit, Handlung und Erzählperspektiven, übliche Kategorien 34 Solche paradoxe Erzählstrategien sind dank der Werke von Heinrich von Kleist und Franz Kafka zum Topos geworden. 35 Vgl. Schößler, Franziska: „Sinn egal. Körper zwecklos.“ Elfriede Jelineks Demontage des (männlichen) Theaterbetriebs, in: Der Deutschunterricht 4 (2006), S. 46-55.

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der Kriminal- und Unterhaltungsromane, sind schwer festzustellen. Das strukturelle Kennzeichen des Romans ist die monotone, sich wiederholende Handlung, die auf diese Weise repetitive Genres parodiert. Franziska Schößler weist auf die „kreisenden Wiederholungen“ des Romans hin, die immer genauer ins Detail gehen und nicht nur das „Ewig-Gleiche der Sehnsüchte“ und das „Ewig-Gleiche des Alltagschrotts“ darstellen, sondern das Geschehen verfremden.36 Die Wiederholungen wirken der Spannung entgegen, auch wenn die Darstellung durch präzise geschilderte Kleinigkeiten angereichert wird. Nach Horkheimer und Adorno produziert die Kulturindustrie aufgrund des wirtschaftlichen Zwangs zur „Immergleichheit“37 bestimmte, sich wiederholende Lebensmuster und eine entsprechende Ideologie. Der Roman ahmt durch seine Wiederholungen die Strategien der Kulturindustrie nach. Die Handlung erweckt auf diese Weise den Eindruck der Unmöglichkeit von Veränderung und schafft ironisch-kritisch einen ausweglosen Teufelskreis, der die Figuren in den Tod oder den Alkoholismus führt. Der Roman Gier arbeitet ferner mit rhetorischen Mitteln wie Kalauern, Paronomasien,38 Wiederholungen und Neologismen, die unter anderem zu den Strategien der Werbung gehören. So verbindet der Roman beispielsweise durch Kalauer Natur und Ökonomie, wenn es um die Schönheit geht: „Die Natur ringt um Fassung, aber es kann nicht immer die Fassung für einen Brillantring von zumindest einem halben Karat sein.“ (S. 204) Die personifizierte Natur – der Roman greift damit auch den Topos Weiblichkeit/ Natur auf – wird durch den thematisierten Leistungs- und Utilisierungsdruck entnaturalisiert; zudem misst der Roman die ‚natürliche‘ Schönheit in Karat und verwertet auch dadurch die ‚Natur‘ ökonomisch. Der Roman bricht durch diese Nachahmung der Werbung die Leseerwartungen auf verschiedene Weise. Es werden geschliffene Phrasen formuliert, das heißt, der Roman reproduziert die Strategien der Massenkultur. Gleichzeitig klingen die Phrasen künstlich, entfremdet und zynisch, da sie mit herrschenden kulturellen Vorstellungen der Massenkultur beziehungsweise mit anderen Diskursen vermischt werden. So erscheinen die Normen und Werte, die sich als ‚natürlich‘ behaupten, als Waren. Mithilfe der Werbesprache werden zudem weibliche und männliche Figuren, die Liebe, der Glaube oder die Schönheit dargestellt. Doch zugleich modifiziert der Roman die Werbestrategien: Der Spruch „Kurz und schlecht“ (S. 27) ironisiert die gängigen Sprichwörter ebenso wie „[…] Vertrauen ist gut, Kontrolle kann unmöglich besser sein […]“ (S. 23). Das Wort das „Kaumentdeckbare“ (S. 79) illustriert seinen Sinn, da es kaum lesbar ist. Durch Sprachspiele verhöhnt der Roman Gier 36 Vgl. F. Schößler: Rezension über den Roman „Gier“, S. 15-18. 37 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, S. 128-176, hier: S.142. 38 F. Schößler: Rezension über den Roman „Gier“, S. 15-18.

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die Sprache, die als defizitär und ideologisch entlarvt wird. Es lohnt sich nicht einmal, die Wörter auszuschreiben, wenn sie nichts bedeuten: „menschl.“ „körperl.“, „österr.“, „männl.“ „kaufm.“ werden abgekürzt und ihre Bedeutungen als leere Phrasen eines Verwaltungsstaates ausgestellt. Das abgekürzte Attribut „kaufm.“ taucht im Zusammenhang mit der Figur Gabi wiederholt auf und erscheint als unangebracht, da Gabi nichts kaufen kann – sie ist selbst eine Ware. Jelineks Roman denunziert die patriarchalische Sprache einerseits als ein ineffizientes, nutzloses Instrumentarium und andererseits als einen mythischen Bereich, da die Wörter etwas benennen, was sie in Wirklichkeit nicht bedeuten. Der Roman Gier erteilt sowohl der patriarchalischen Sprache als auch ihren literarischen Traditionen eine Absage, indem phallogozentrische Strukturen durch Zirkulieren und Wiederholen, Dezentrieren, Fragmentieren und Montieren dekonstruiert werden. Jelineks Roman ersetzt beispielsweise die patriarchalische beziehungsweise biblische Tradition, die die Gläubigen als Staub bezeichnet, da sie nach dem Tod gemäß der Bibel „zu Staub“ werden, durch ein weiblich konnotiertes und nicht tradiertes „Wasser zu Wasser“ (S. 325). Die Metapher des Wassers wird sowohl inhaltlich als auch im Aufbau des Romans eingesetzt, wenn Jelinek minutiös die Verwesung des Körpers (von Gabi) verfolgt, der nicht zu Staub, sondern zu Wasser wird. Gleichzeitig lässt sie das Textkorpus zirkulieren und wie Wasser fließen. Das Wasser, die Fluten und das Flüssige, also etwas Unbestimmtes, Unstrukturiertes, Verfließendes sowie durch seine Tiefe und Auflösung Bedrohendes wird laut Theweleit39 in ästhetischen Repräsentationen weiblich codiert. Jelinek schreibt demgemäß einen ‚Frauenroman‘, der nicht nur Wasser – von Meeren, Flüssen, Seen bis zum Leitungswasser – zum Thema macht, sondern auch das „Erzählwasser“ (S. 415) zur Strategie, indem Handlung und Themen des Romans in einem Signifikantenfluss ‚verfließen‘. Wie das Wasser fließt, so fließt auch die Handlung: Der Kreislauf des Wassers wird im Kreislauf der Handlung wiederholt. Darüber hinaus zersetzt dieser Sprachfluss die tradierten frauenfeindlichen Stereotypen: Das „Geschwätz der Frauen“40 ohne Anfang und ohne Ende wird zur Strategie der Darstellung, die Dezentrierung und Verausgabung werden der Sprachlogik und ökonomie gegenübergestellt, zumal das markierte Genre des Unterhaltungsromans grundsätzlich weiblich codiert ist.41 Die herrschende Meinung 39 K. Theweleit: Männerphantasien, Bd. I, S.314-370. 40 P.J. Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, in: G. Stein, Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf, S. 226-230, hier: S. 226. Möbius beschreibt um 1900 das Geschwätz als typische Eigenschaft der Frau: „Das Schwatzen gewährt dem Weibe unendliches Vergnügen, ist der eigentliche weibliche Sport.“ 41 Vgl. Erll, Astrid/Seibel, Klaudia: Gattungen, Formationen und kulturelles Gedächtnis, in: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart; Weimar 2004, S. 180-208, hier: S. 200-202.

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schreibt das Genre Frauen zu, indem er als ein für Leserinnen geschriebener Roman definiert wird, und häufig werden von Frauen geschriebene Romane dem Genre des Unterhaltungsromans zugeordnet. Jelineks Roman verabschiedet also die Illusion der Einheit und Stabilität von Signifikanten und Signifikaten, die für die phallogozentrischen patriarchalischen Strukturen kennzeichnend ist. Dies erinnert an die Theorien der französischen „écriture féminine“.42 Die Theoretikerin Cixous beispielsweise sucht nach alternativen Sprachstrukturen, die sie als Rückkehr zur präödipalen Mutter versteht. Cixous definiert diesen alternativen Sprachgebrauch als „weibliche Schreibpraxis“, die durch Verschwendung und Überfluss einen „Abfall“ an Signifikanten produziert.43 Der Roman Gier lässt Signifikanten zirkulieren, indem die Sprache nicht in logischen Strukturen erfasst wird, sondern diverse Wort- und Sinnassoziationen ausgespielt werden. Die Erzählerin ‚verströmt‘ sich in einer „Beschilderungswut“ (S. 88), die sich der dargestellten Ökonomie der kapitalistischen Konsumgesellschaft mit ihrer Konsum- und Besitzgier diametral entgegensetzt. Mit Cixous gesprochen stehen sprachliche Verausgabung und Signifikantenüberfluss einer Ökonomie des „männlichen Verschlingens“44 von Inhalten gegenüber. So kann der Roman Gier als ein Experiment gelesen werden, das die logischen Strukturen der Sprache aufzulösen versucht. Die Handlung wirkt dadurch zerstückelt, als ob der Lustmord auf der strukturalen Ebene wiederholt würde: als Lust an der Zerstörung von Logik, Linearität und hierarchischen Sprach- und Handlungsstrukturen. Das ‚weibliche‘ Schreiben Jelineks darf aber nicht als essentiell weiblich wie bei Cixous verstanden werden, sondern als alternative Schreibpraxis. Die Erzählerin wird zwar explizit weiblich codiert, im Roman Gier jedoch wird alles Natürliche, Naturhafte und Substanzielle, wozu auch die Geschlechterkonstruktionen gezählt werden, negiert. Die Erzählerin verstärkt die Selbstreflexivität der Sprache, um keine Illusion von ‚Realität‘ zu vermitteln. Selbst die Natur erscheint wie der künstliche Baggersee und der ausgehöhlte Berg unnatürlich und daher leblos. Der Roman Gier entlarvt sich selbst wie auch die Sprache generell als Konstrukt mit leblosen Figuren, so dass für Mythen und Illusionen kein Raum bleibt. Zusammenfassend ist Jelineks ‚Unterhaltungsroman‘ eine Roman-Parodie auf triviale Liebesund Kriminalromane, die sich für reine Unterhaltung nicht eignet.

42 Vgl. Caduff, Corina: „Ich gedeihe inmitten von Seuchen“. Elfriede Jelinek – Theatertexte, Bern 1991. Caduff betrachtet Theaterstücke Jelineks vor dem Hintergrund von Julia Kristevas Sprachtheorie als Einkehr des präödipalen Semiotischen, des Klanges und des Rhythmus in die symbolische Sprache. 43 Cixous, Hélène: Die unendliche Zirkulation des Begehrens, Berlin 1977, S. 44. 44 Ebd.

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K ONSUMGIER

In Jelineks Roman erscheint die kapitalistische Ökonomie, die auf Profit und Utilitarismus, Konsumtion und Besitz zielt, als allgegenwärtig. Ihr Text zeigt auf der einen Seite die Mythen, die in den kulturellen Sphären beheimatet sind und die bestehenden Staats- und Machtstrukturen stabilisieren, auf der anderen Seite offenbart jeder soziale und kulturelle Bereich seine Ausrichtung auf Profit und finanzielle Ausbeutung. In der Öffentlichkeit, aber auch im privaten Bereich, der traditionell mit dem Ökonomischen nicht in Verbindung gesetzt wird, in den bürgerlichen Institutionen der Ehe und Familie, in Institutionen des Glaubens, in der Staatshierarchie, in Institutionen der Exekutive wie der Gendarmerie und Grenzpolizei, in der Beziehung zwischen den Nachbarländern sowie in den Massenmedien herrscht die Geld- und Besitzgier. Die Kirche beispielsweise, die das Geistige und Göttliche propagiert und durch Trivialmythen mit der Sorge für die Seele, mit Nächstenliebe und Toleranz assoziiert wird, basiert im Wesentlichen auf Ökonomie: „Lieber erbt die Kirche gleich, anstatt daß ihre blöden Angestellten es kriegen.“ (S. 20) Auch der Ehe liegt die Profitorientierung zugrunde, beide Bereiche werden bei Jelinek durch die Überlagerung von wirtschaftlichem Vokabular und Liebes-, Ehe- und Familiendiskursen zusammengeführt. Die Ehefrau von Ernst Janisch (dem Sohn) hat eine „schöne Anzahlung entrichtet“ (S. 17): „Sie hat vor zehn Jahren ein Kind geboren, einen Sohn, was alleiniger Sinn und Zweck der Ehe ist.“ (S. 15) Die Reproduktionsfunktion der Frau steht, mit Michel Foucault45 gesprochen, im Dienste der Biopolitik, die sich den weiblichen Körper zunutze macht und auf seine Maximierung abzielt. Auch die Liebe – der zentrale Mythos der bürgerlichen Geschlechterordnung bei Jelinek – stellt sich als Geschäft dar. Der Gendarm Kurt Janisch hat seine Ehefrau geheiratet, da sie ein Haus besitzt. Gerti, eine einsame 50-jährige Frau, eine der Geliebten und Opfer Kurt Janischs, ist ebenfalls eine Hauseigentümerin, deren Haus der Gendarm besitzen möchte. Er verlangt Geschenke und Geld von seinen reifen Liebhaberinnen. Seiner jungen Freundin Gabi hingegen gefällt „Geschenke selber zu bekommen. Kaufst mir dies, kaufst mir das, so gehts mit der Gabi ununterbrochen.“ (S. 152) Gabi versucht an der Konsumtion zu partizipieren, die aber nur durch den Mann und für den Mann möglich ist. Die Schönheit, die zu den zentralen Mythen des Weiblichen gehört, wird bei Jelinek ebenfalls als rein ökonomisch entlarvt: „Wer nicht die Schönheit auf dem Konto hat, braucht Kleider und Friseur desto nötiger […]. […] oft muß man sogar was drauflegen, Haus und Besitz.“ (S. 55) Die Schönheit wird mit ökonomischem Vokabular verknüpft und die fehlende Schönheit wird im Roman finanziell kompensiert. Die kapitalistische Ökonomie wird darüber hinaus als Grundlage aller Staatstrukturen und Beziehungen enthüllt, zugleich wird sie selbst als ein 45 Vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 141.

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mythischer Bereich entlarvt, der nicht auf Demokratie basiert und für das Vermögen der ganzen Bevölkerung sorgt, sondern auf Kriminalität und Destruktion beruht. In den Banken herrscht Korruption (S. 22-25). Der Gendarm Kurt Janisch treibt in der Kreisstadt Schwarzhandel, Spekulationen mit Uhren und Juwelen, deren Herkunft fragwürdig ist (S. 217). Frau Eichholzer, in deren Haus die Familie von Janischs Sohn wohnt, wird geschlagen und gequält, damit sie schneller stirbt und Ernst Janisch das Haus früher in Besitz nehmen kann. Zentral sind im Roman die Frauenmorde, mit deren Hilfe Vater und Sohn Janisch die Häuser ihrer Opfer übernehmen wollen: „Sein Sohn ist jetzt schon so eifrig am Raffen wie der Vater, und er ginge über Leichen, wenn die Leute nicht vorher freiwillig sterben würden.“ (S. 20) Jelinek setzt die Redewendung „über Leichen gehen“ in der Handlung wortwörtlich um und zeigt damit, dass jedem ökonomischen Gewinn Menschenopfer und Zerstörung zugrunde liegen. Der Roman Gier führt destruktives Begehren und Ökonomie dadurch zusammen, dass er die kapitalistische Ökonomie als allumfassende Konsumgier aufdeckt. Das Wort Gier ist etymologisch mit dem Wort Begehren verwandt, so dass die gemeinsame Wurzel die Zusammenführung zulässt. Gier erscheint bei Jelinek als eine Form des Begehrens, die die konstitutive Grundlage der gesellschaftlichen Strukturen, insbesondere der Geschlechterordnung und der sozialen Hierarchien, der Staatsinstitutionen und der Machtstrukturen bildet: „Geld regiert die Welt“ (S. 102). Die Staatspolitik zeichnet sich durch eine unersättliche Gier aus: „Dieses Land will immer, daß ein bissel mehr von etwas da ist, egal wovon, jedenfalls immer mehr als es vertragen kann.“ (S. 163) Der Gendarm ist von Gier besessen: „[…] brauche nur das Nötigste, sagt er immer, und das sind der Haus- und Grundbesitz.“ (S. 17) Die Namen der zwei nächsten Opfer, Gabi und Gerti, können als Alliteration – eine beliebte rhetorische Strategie in Werbetexten – mit der Gier des Gendarmen nach Geld, Gold und Grundstücken verknüpft werden, die die Frauen in einer Reihe mit den Konsumobjekten positioniert und die Überlagerung von Konsumtion und sexueller Befriedigung freilegt. Die Zusammenführung von Konsumtion und Begehren ist kein neues Motiv in der Literatur und erscheint schon in Goethes Faust II als Phänomen der bürgerlichen Moderne. Auch bei Goethe verspricht der Konsum den sinnlichen Genuss, der nie erreicht werden kann, wie Heinz Schlaffer in seiner Analyse deutlich macht: „Nur als Schein vergegenwärtigt die Ware den Genuß; der zugreifenden Menge, die ‚Begehr‘ zum ‚Besitz‘ reizt […].“46 Dieser Besitzreiz wird bei Jelinek analog zu Süskinds Das Parfum zum Streben nach einer Befriedigung, die mit der Aneignung des Objektes beziehungsweise seinem vollkommenen Besitz einhergeht. Diese Befriedigungsform beschreibt Sigmund Freud als oral-kannibalische Phase der Sexualität, bei der der Säugling zwischen Subjekt und Objekt noch nicht unterscheidet und 46 Schlaffer, Heinz: Faust zweiter Teil: die Allegorie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart; Weimar 1998, S. 85.

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die Befriedigung durch die Einverleibung und Zerstörung des Objektes erreicht.47 Auf diese Struktur weist die infantile Erotik des Romans Gier hin, der die sexuelle Beziehung zwischen Janisch und seinen Liebhaberinnen mithilfe einer oralen Metaphorik schildert. Die Frauen bewirten den Gendarmen mit dem „eigenen Fleisch“ (S. 55), sie sind die „Nachspeisen“ im „Magen des Herrn“ (S. 61). Kurt Janisch geht „über Leichen, die zu ihren Lebzeiten eine Beilage für sein Fleisch gewesen sind“ (S.43). Gerti ist ein kaltes „Fleisch“ (S. 151), da sie von Janisch aus ihrer eigenen Wohnung hinausgeworfen wurde. Er nennt sie seine „Hauptspeise“ (S. 145). Gabi ist ebenfalls sein „Fleisch“ und sein „Freßpaket“ (S. 167). Im Unterschied zur Essentialisierung der destruktiven Sexualität bei Süskind reflektiert Jelinek die Genese dieses destruktiven Begehrens auf der Ebene des ganzen gesellschaftlichen Systems, indem sie den Lustmord48 auf die kapitalistische Konsumgier zurückführt, die die (sexuelle) Befriedigung mit dem Nutzen und Verwerten verbindet. So verknüpft Kurt Janisch durch den Lustmord „das Angenehme mit dem Nützlichen“ (S. 34). Durch die Zusammenführung von Lustmord und Kapitalismus enthüllt der Roman den destruktiven Charakter der Konsumökonomie, die einerseits auf der Steigerung der Konsumtion und andererseits auf der Zerstörung basiert, um neue Konsumtion zu ermöglichen. In Bezug auf den Lustmorddiskurs schafft Jelinek dabei ein neues Paradigma, das das zerstörerische Begehren nicht mehr aus dem ‚archaischen‘, ‚natürlichen‘ sexuellen Trieb des Mannes herleitet, wie es der traditionelle Diskurs des Lustmordes beschreibt, sondern ihn als eine kulturelle Erscheinung beziehungsweise ein Produkt der kapitalistischen Wirtschaft fundiert, die eine nie zu befriedigende Gier nach Immobilien, Gold und Geld produziert.

47 S. Freud: Abriß der Psychoanalyse, S. 45. 48 Der Roman Gier dekonstruiert darüber hinaus den Lustmord, indem er die Geschichte der Besitzgier in der Philosophie aufspürt. Verbunden wird die Besitzgier mit der Neugier, indem Jelinek auf eine etymologische Verwandtschaft beider Wörter in der deutschen Sprache hinweist: „[…] Gier begehrt die Neugier eben das Mögliche bereits als etwas Wirkliches.“ (S. 439) Die Neugier wird bei Jelinek zur Inbesitznahme des Neuen, die sie auf die antike Tradition, das heißt auf den Ursprung der Denktradition, zurückführt. Das Neue wird etwas Konsumierbares, das wie beim Lustmord durch die Zerstörung angeeignet werden kann. Ferner arbeitet die Autorin in dieser Textpassage Zitate aus Heideggers Zeit und Sein (S. 347) ein, der Neugier als unruhigen Umgang mit der Gegenwart, als Sprung von einem Moment zum anderen versteht. So heißt es bei Jelinek: „Sehen Sie, wie das in sich selbst verfangene Gegenwärtige in seiner Neugier auf Neues in ekstatischer Einheit mit der Zukunft dasteht und die Tür öffnet, wie die Griechen gesagt hätten?“ (S. 437) Durch die Überlagerung der philosophischen Begriffe erscheint die Voraussetzung zum Lustmord im Denksystem vorhanden.

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Ö KONOMIE

DER

G ESCHLECHTERORDNUNG

Die kapitalistische Konsumökonomie erscheint konstitutiv für die Geschlechterordnung, deren Differenz aus der Partizipation an der Konsumtion und dem Zugang zu materiellen Gütern hervorgeht. Die binäre Geschlechterordnung, die durch die Biologisierung der Geschlechter im 19. Jahrhundert die Aktivität des Mannes und die Passivität der Frau aus dem Geschlechtsverkehr herleitet,49 entlarvt der Roman als eine ökonomische Struktur. Die patriarchalische kapitalistische Gesellschaft konstituiert bei Jelinek die Männer als aktive Konsumenten, wohingegen die Frauen in die Reihe der passiven Objekte beziehungsweise Waren eingeordnet werden, deren Wert je nach Alter, Schönheit und vorhandenem Besitz festgelegt werden kann. Die Frauenfiguren sind bei Jelinek, mit Lacan gesprochen, in der paradoxen Position des „Phallus sein“, da sie den Besitz wortwörtlich verkörpern, den die Männerfiguren haben möchten.50 Der Roman folgt dabei der Versachlichung des Weiblichen, indem er den Begriff „Frauenzimmer“ buchstäblich nimmt und die Frauenfiguren mit Häusern gleichsetzt. Den Frauen als Objekt und Ware wird die Partizipation an der Konsumökonomie vollkommen entzogen. Als Beispiel dafür kann die Beziehung des Gendarmen mit seiner jungen Liebhaberin Gabi dienen. Als Gabi versucht, ihn zu erpressen, das heißt, sich als aktive Konsumentin zu behaupten, die dabei zudem den kriminellen Charakter der Konsumtion enthüllt, tötet er sie und demonstriert damit die Unmöglichkeit der Frau, sich als Konsumentin und als Subjekt in der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung zu behaupten. Die männliche Position ist dagegen die des „Phallus haben“, die durch Konsumgier die Phalloi vervielfältigt, um einerseits einen hohen sozialen Status zu erlangen, da die Männerfiguren unter einem „wirtschaftlichen Druck“ (S. 278) stehen, und um andererseits die Grenzen ihrer fetischisierten Körper zu befestigen, da das Männliche in der herrschenden Kultur in Anlehnung an Theweleit nur als Körperpanzer möglich ist. Dieser phallischen Konstruktionen von Geschlechterdifferenz und vom männlichen Körperpanzer bedient sich auch Süskind, um eine machtvolle Künstlersubjektivität herzustellen – er schreibt diese Konstruktion aber fort, selbst wenn sein Künstler am Ende scheitert. Sein Roman geht nicht den misogynen Ursprungsstrukturen nach, die die Macht der Kunst durch den Mord an schönen Frauen imaginieren. Jelinek dekonstruiert die Traditionen der misogynen Kunst, indem sie diese in einer subversiven Affirmationsgeste fortführt und mithin ihren phantasmatischen Charakter aufzeigt, ohne die diskursive Macht der Kunsttradition zu negieren. Bereits Lacan51 weist auf das Phantasma des Phallus hin, das auch der Roman Gier in Hinsicht auf die Ge49 Vgl. K. Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“, in: W. Conze, Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, S. 363-393. 50 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 75. 51 J. Lacan: Die Bedeutung des Phallus, S. 119-132.

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schlechterdifferenz sichtbar macht, ohne die Wirkung dieses Phantasmas abzuerkennen – die Männerfiguren morden weiter, um der Phalloi willen. Die Frauen werden in Anlehnung an Freud und Lacan als Mangel erkannt – sie sind also nicht der Phallus – und daher ausgelöscht. Jelinek zeigt auf, dass sogar im Haus, das traditionell als weiblicher Bereich definiert ist, kein Platz für Frauen vorgesehen ist: „Der Ort der Frauen ist im Nichts“ (S. 130). Das Haus allein wird zum Phallus. Daher ist auch das prominente Motiv der schönen Leiche in dieser Analyse von Bedeutung, denn als ‚beste‘ Frau im Roman Gier erscheint eine tote Frau als ein Höhepunkt der Verdinglichung des Weiblichen. Der Mann hat zwar den Phallus beziehungsweise das Haus, wird aber als defizitär entlarvt, da sich die Männer statt durch Phalloi nur durch die von der Gesellschaftsstruktur vorausgesetzten Schulden, also in Analogie zu den Frauenfiguren ebenfalls durch einen Mangel, definieren. Das Staatssystem entzieht den Männerfiguren den Zugang zur phallischen Macht, wodurch sich das männliche Begehren als unersättliche (Lust-) Mordgier konstituiert. Durch das Streben nach der Machtpartizipation zeigt Jelinek die institutionelle Bedingtheit von Männlichkeit als fetischisierter Körperpanzer und deckt zugleich dessen phantasmatischen Charakter durch die Unerreichbarkeit der Macht auf. Männlichkeit als fetischisierter Körperpanzer Der Roman deckt die Misogynie der Kultur auf und definiert Männlichkeit am Beispiel des Gendarmen Kurt Janisch im Sinne Theweleits als eine „tendenziell gefährliche Negation von Weiblichkeit“.52 Janischs Körper wird im Roman Gier mit allen Merkmalen des Körperpanzers wie der Errichtung von festen Körpergrenzen, der Fetischisierung des Körpers, der Vernichtung des Anderen und latenter Homosexualität53 ausgestattet, wie sie Klaus Theweleit54 in seiner Studie Männerphantasien definiert. Bei Jelinek heißt es: „Ein gemeißelter Körper aus Stein […], der ein ganzes Haus tragen muß, und trotzdem wird ihm eins allein nie genug sein, obwohl er mehr gar nicht 52 W. Erhart/B. Herrmann (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? S. 3-31, hier: S. 8. 53 Solche Männlichkeitskonstruktionen setzen eine männliche, homoerotische Gesellschaft voraus, die nach Theweleit in der Regel durch „latente Homosexualität“ charakterisiert wird. Kurt Janischs Begehren nach Männern, das mehrmals im Roman thematisiert wird, ist das Begehren nach sich selbst, ein autoerotisches Begehren nach (s)einem männlichen Körper, das durch Kurts Fantasien vom Selbstverschlingen deutlich gemacht wird. Die Fetischisierung des Körpers im Roman Gier lässt die männliche Kultur als eine narzisstische Kultur erscheinen, die nicht nur homosoziale Räume schafft und die Nähe von Männern fördert, sondern den männlichen Körper als einziges wertvolles Objekt des Begehrens konstituiert. In der patriarchalischen Kultur bei Jelinek ist die Frau nicht einmal mehr ein Objekt des Begehrens. 54 Vgl. K. Theweleit: Männerphantasien.

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tragen würde können.“ (S. 359) Eine andere Stelle lautet: „Moment, jetzt sehe ich die Grenzen, sie sind aus Stahl, sehen aus wie ein Geländer, und sie sind transportabel.“ (S. 216) Der männliche Körperpanzer, der mit der Errichtung von festen Grenzen die Illusion eines potenten, machtvollen und unzerstörbaren Körpers produziert, entsteht laut Theweleit in der Abwehr gegen und in der Ausgrenzung von Weiblichkeit, da das weibliche Andere in einem Projektionsmodus zum Ausdruck des eigenen Unbewussten wird. Die mit Fluten und Schlamm assoziierte Weiblichkeit wird als bedrohlich für die eigenen Körpergrenzen empfunden, da durch sie die männliche Subjektivität zu verschwimmen scheint. Für Kurt Janisch sind Frauen ganz in diesem Sinne Schlamm:55 „Die Frauen sind Schlamm, und der hält alles fest Schlick.“ (S. 171) Der Körperpanzer in Gier neigt wie bei den Freikorpssoldaten in Männerphantasien zu Totalität und Expansion: „Es fehlt ihm komplett eine ganze Dimension, und zwar die Dimension, dass es außer ihm auch noch andere Menschen gibt“ (S. 102). Es darf ausschließlich ihn geben: „Ich stelle mir vor, nur ich komme und verschlinge mich selbst in einer Art Fleischwolf und esse mich auf. Es darf nur mich geben, und auch ich möchte verschwinden, aber immer nur in mir, nicht in dir, das kannst du mir glauben.“ (S. 148) Der Roman Gier stellt Männlichkeit, mit Theweleit gesprochen, als expandierenden, faschistischen Körper dar, dessen konstitutive Seite die totale Zerstörung ist. Um feste Grenzen zu errichten, domestiziert der Gendarm seinen eigenen Körper, der dem Leistungsethos der bürgerlichen Gesellschaft entsprechend unter Effizienzdruck steht:56 „Deswegen funktioniert er ja so gut. Weil ich ihn nur grade so beherrsche, er ist ein würdiger Gegner, mein Körper, er ist sogar für mich selbst: unberechenbar.“ (S. 132) Den Körper zu beherrschen ist ein aufklärerischer Topos, der unter anderem mit Natur- und Frauen-Beherrschung assoziiert wird. Die Domestizierung des männlichen Körpers assoziiert sich mit der Ausbeutung beziehungsweise Beherrschung der Natur durch die industrielle Nutzung des Berges und den künstlichen Baggersee. Durch die Zusammenführung der Formbarkeit von ‚Natur‘ und Körper werden beide als Produkt der Kultur offengelegt. Darüber hinaus befestigt der Gendarm seine Grenze mithilfe der Häuser. Das Haus ist das Wertvollste in der bestehenden Kultur, was Jelinek als Erschaffung eines ökonomisch mächtigen Körperpanzers sowie als Überwindungsfantasien der Sterblichkeit des männlichen Körpers darstellt, die im Gegensatz zu den

55 Ebd.: Bd. 1, S. 314-370. In seiner Analyse der Romane von Freikorpssoldaten stellt Theweleit fest, dass in ihren Romanen die weiblich codierte Masse immer als Fluten, Schlamm und Brei imaginiert wird, die eine Bedrohung für die männlich codierten Dämme darstellt. 56 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 176-177.

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schnell alternden und verwesenden organischen (weiblichen) Körpern stehen.57 Während der Gendarm auf die Stärkung seiner Körpergrenzen abzielt, verabschiedet der Roman die Grenze zwischen dem Äußeren und dem Inneren auf der semantischen Ebene und zeigt so den phantasmatischen Charakter des Körperpanzers auf. Er wird wie das Weibliche immer durch Raummetaphern beschrieben. „Er ist nicht geräumig, aber aufgeräumt, nicht in dem Sinn, dass er wirklich etwas Heiteres an sich hätte, sondern sauber und leer.“ (S. 110) Diese Beschreibung ordnet dem Gendarm innere Leere zu – Männlichkeit erscheint hier als Mangel – und verdinglicht ihn in Analogie zu den Frauenfiguren zu einem Raum. Werden die Grenzen zwischen Außen und Innen aufgehoben, so kann auch die Geschlechterdifferenz nicht aufrechterhalten werden. Manchmal werden beim Gendarmen die ‚Dämme‘ und ‚Grenzen‘ des männlichen Körpers beziehungsweise des Ichs wiederholt durchbrochen; er verströmt sich auf eine „beinahe weibliche Weise“ (S. 128).

57 Der Roman Gier unterwandert den Prozess der Errichtung des Körperpanzers durch paradoxes Begehren. Das Haus wird als Festung, als Verstärkung des eigenen Körperpanzers begriffen, das zu einem Damm wird, der die Fluten und Ströme zu halten und zu kontrollieren ermöglicht. Kurt träumt oft: „Der [Besitz, Anm. d. Verf.] hält mich am besten vom Sturz in diese Grube voller Schlangen ab, die man mit Eimern herausschöpft, und sie hängen überall über den Rand hinunter.“ (S. 132) Seine Ängste verweisen auf das Haupt der Medusa, das Freud auch als mütterliche Genitalien interpretiert, die wegen des Inzestverbots nicht betrachtet werden dürfen. Der bekannte literarische Topos der Frau als Femme fatale, als verführerische Frau, Schlange oder Medusa deutet ebenfalls auf die Kastrationsangst hin, die laut Freud zum konstitutiven Mechanismus der Entstehung von Männlichkeit in der Abgrenzung von Weiblichkeit in der patriarchalischen Gesellschaft gehört und die im Roman explizit formuliert wird: „Ich gestehe, ich kann mein Organ manchmal um keinen Preis in euch hineinschieben, es geht nicht. Ich habe jedes Mal Angst vor dieser Operation, das gebe ich zu, manchmal wird die Angst aber zu groß.“ (S. 141) Der Wunsch, ein Haus zu besitzen, wird aber zugleich zu einer infantil-regressiven Sehnsucht nach einem pränatalen Zustand der Geborgenheit und des Schutzes im Haus/Schoß der Frau/Mutter: „Weil keiner auf dieser Welt versteht, daß man hinter sich und der Welt abschließen möchte, daß es niemanden mehr gibt, auch einen selbst nicht mehr. Und genau dafür braucht man eben unbedingt folgendes: sein eigenes Haus und Heim. Dort soll niemand hinein.“ (S. 158) Die Passage demonstriert außerdem die Angst vor Penetration, die den Körperpanzer charakterisiert. Trotz dieser psychologischen Ausführungen geht es bei Jelinek nicht darum, den Lustmord zu universalisieren und zu privatisieren. Sie führt die Begehrensstrukturen des Gendarmen auf die Struktur des Staates und seine Psyche auf tradierte künstlerische Bilder zurück. Letztere bricht sie durch ihre Sprachexperimente.

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Die männliche Macht wird entsprechend durch Sprachkalauer unterwandert, die als Gegendiskurs fungieren und Männlichkeit mit Ambivalenzen und Bruchstellen ausstatten. So wird Kurt Janisch zwar als ein phallischer Mann dargestellt: „Er bekleidet ein Amt, das ihn recht gut anzieht. Nicht schlecht, die Kappe, und die Pistole im Holster. Fesch schauma aus.“ (S. 79) Diese Aussage unterwandert seine phallische Macht jedoch, indem Janisch im Amt nicht nur als Subjekt, sondern als ein ausgenutztes Objekt erscheint und im nächsten Satz sogar als Objekt des Blickes positioniert wird, was in der Regel zum Darstellungsrepertoire des Weiblichen gehört. Das Wort „schauma“ spielt darüber hinaus auf die Werbung für das Shampoo Schauma an, was die phallische Männlichkeit mit einem Frauen-Shampoo verbindet. Außerdem wird der Subjektstatus der Männerfiguren unterwandert, indem ihre fetischisierten Körper eine Warenform erhalten.58 Die Entwicklung des Kapitalismus lässt sich an der Entwicklung der Körper in der JanischFamilie ablesen. Je weiter der Kapitalismus fortschreitet, desto deutlicher erscheint der männliche Körper mit seiner perfekten Oberfläche als Ware. Der Vater Janisch war Oberst, seine Sportleistungen werden noch nicht erwähnt. Der Sohn Kurt Janisch joggt unablässig und der Enkel Ernst Janisch ist mit Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln aufgepumpt, die einen perfekten Körper ohne Sport ermöglichen. Der Vater Kurt ist sportlich, der Sohn Ernst ist mehr: „Ein Vielgesicht, ein Multi-Januskopf, aufgepumpt von künstlich hergestellten Vitaminen, damit man die Züge nicht mehr allzu genau sieht, ja, so einen Kopf trägt der junge Mann da auf den Schultern.“ (S.43) Janus ist einerseits der Gott der Türen und Tore, das heißt, der Sohn ist noch mächtiger als sein Vater, er herrscht wie ein Gott über Frauen und Häuser; andererseits hat Ernst Janisch wie Janus viele Gesichter. Die Männlichkeit als Maskerade, was dem tradierten stereotypen Weiblichkeitsrepertoire entspricht,59 lässt den Mann als Mangelwesen ohne fixen Kern und stabile Identität erscheinen. Letztendlich spricht Jelinek dem Sohn Ernst Individualität durch die Auslöschung seiner persönlichen Züge ab – eine Uniformierung des männlichen Körpers. So zerstört Jelinek den ‚natürlichen‘ Körper, indem sie die kulturellen Strategien seiner Produktion gemäß historischer Perioden deutlich macht; ebenso zerstört sie den Körperpanzer, indem der phantasmatische Charakter seiner ‚festen‘ Grenze exponiert wird, und sie zerstört das männliche Subjekt als Ganzheit und Einheit, indem sie die Fabrikation von Männlichkeit auf der Oberfläche des Körpers platziert 58 Theweleit, Klaus: Männliche Geburtsweisen. Der männliche Körper als Institutionenkörper, in: Steffen, Theresa (Hg.): Masculinities – Maskulinitäten, Stuttgart; Weimar 2002, S. 2-27, hier: S. 25. „Die ganze Glätte, Schönheit, Oberflächenverliebtheit der Waren gibt Körpervorbilder ab. Warenaussehen/Design ist an die Stelle des militärischen Drills getreten.“ 59 J. Riviere: Weiblichkeit als Maskerade, in: L. Weissberg, Weiblichkeit als Maskerade, S. 34-47.

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und Geschlechtsidentität im Sinne Judith Butlers60 als Effekt der kulturellen Praktiken entlarvt. Dadurch werden die Geschlechterdifferenzen nivelliert und die Unterschiede zwischen ihnen auf Ökonomie und Politik zurückgeführt. Defizienzerzeugung als unaufhörlicher Prozess Die Produktion des fetischisierten Körperpanzers führt Jelinek auf die Konsumökonomie sowie die Staatspolitik und -struktur zurück, die sowohl die Machtposition der Männer und ihr Begehren als auch Mangel und Brüchigkeit des Männlichen bedingen. Die Männerfiguren werden durch die patriarchalische, kapitalistische Ordnung zu aktiven, machtvollen und gewalttätigen Konsumenten. Der Gendarm hat im Vergleich zu seinem Vater „nichts Dienendes mehr an sich“ (S. 7) und er ist „Herrscher der Gegend“ (S. 160), so dass er in der Tradition der Aufklärung zum Herrscher über Natur und Frauen wird. Er spricht oft in der „Ich-Form“, was seine machtvolle Subjektposition verdeutlicht: „[…] was ich tue, ist immer richtig, ich bin meine eigene letzte Instanz.“ (S. 212) Er erklärt sich zum symbolischen beziehungsweise sprachlichen Gesetz, das über den Frauen steht und sie reglementiert: „So, Frauen, auf euch spielen wie ich kann keiner. Ich bestimme alles, wann, wo und wie oft. Ich bin der Beste, den ihr je hattet, und es wird auch nie einen anderen geben. Ich bin mir meiner Qualität sehr bewusst, ich sage immer: Ich bin der Hexenmeister“ (S. 133). Der Gendarm als Sprachsubjekt ist den Frauen gegenüber ein absoluter Herrscher – er wird wiederholt mit Gott verglichen, der über Leben und Tod richtet (S. 160, 178, 235, 316). Jelineks Roman zeigt jedoch, dass der Staatsapparat, der Janisch zum Herrscher über die Frauen bestimmt, zugleich die Defizite im Mann produziert. Die Defizienz wird bei Jelinek als ein unaufhörlicher Prozess dargestellt, wie er bei Lacan ebenfalls zur Produktion des Begehrens notwendig ist. In Anlehnung an Freud behauptet Lacan, dass Verbote, Mangel und Kastration nicht das Begehren einschränken, sondern für das Begehren konstitutiv sind.61 In ähnlicher Weise funktioniert die Ökonomie bei Jelinek: Die Ökonomie erweckt bei ihren männlichen Konsumenten eine unersättliche Gier, die aufgrund der Organisation von Staats- und ökonomischen Strukturen nicht zu befriedigen ist. Reichtum wird einerseits durch Massenmedien und Werbung propagiert, andererseits können die männlichen Bürger diesen Reichtum nicht erwerben, da der Kapitalismus Klassendifferenzen und Ungleichheiten in der Verteilung der Güter voraussetzt: „Wenn Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, warum sollte der Mensch dann nicht sein Häuschen nach dem Ebenbild von Buckingham Palace gestalten 60 Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. 61 Vgl. Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, S. 114.

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dürfen?“ (S. 31) Dieser Satz demonstriert die Stabilisierung der Klassendifferenzen durch die christliche Religion, die den Kapitalismus als Gottesordnung essentialisiert. Die Medien haben Anteil an dieser Naturalisierung und Universalisierung der gesellschaftlichen Ungleichheiten, indem das üppige, luxuriöse Leben der Stars und Könige zum Vorbild gemacht wird: „Und warum sind wir nicht alle wohlhabende Filmschauspielerinnen, gehen nach Hause und schminken uns unsre Wünsche ab, um am nächsten Tag größere, schönere zu haben und besonders ausgeschlafen sein zu müssen, damit man uns unser Leben nicht ansieht und wir uns allen frei heraus in der Zeitschrift zeigen können?“ (S. 19) Diese Textpassage entlarvt die ideologischen Strategien der Medien, indem das propagierte Luxusleben und vor allem die Wünsche nach Reichtum und Berühmtheit als Maskerade und Schauspiel für das Publikum erscheinen. Das Staatsystem entzieht jedoch dieser Gier die Befriedigung: „Der Vorgesetzte des Gendarmen kündigt diesem im Dienst öfter verspäteten Söldner mit bitteren Worten an, daß Überstunden nicht mehr bezahlt werden können, weil das Land kein Geld mehr dafür übrig hat, und der Herr Janisch nimmt diese Hiobsbotschaft, scheinbar unterwürfig, entgegen.“ (S. 216) Das religiöse Vokabular verweist auf die lange Tradition, eine defizitäre Männlichkeit zu erzeugen, was durch die unersättliche Macht- und Geldgier des Kapitalismus verstärkt wird. Der Staat verfügt über kein legales System, um seinen männlichen Bürgern Ressourcen zukommen zu lassen und die Konsumfantasien, die durch Massenmedien geweckt werden, zu befriedigen. Viele den Janischs ähnliche Männer haben legale Wohnbaugesellschaften gegründet, jedoch sind sie damit „allesamt auf die Schnauze gefallen“ (S. 30). Mehr noch: Das ganze Banksystem, das Jelinek „Folterbanken“ (S. 24) nennt, hat eine selbstreferenzielle Struktur, bei der Geld nur mit Geld verdient werden kann und nur Geld Geld bringt. Dieses System setzt die Verschuldung seiner Kunden voraus, daher sind Kurt Janisch und sein Sohn fortwährend verschuldet: „Er hat nur negative Ersparnisse, also Schulden. Mehr als Haare am Kopf.“ (S. 369) Das finanzielle Scheitern ist im kapitalistischen System vorprogrammiert, so dass der Roman nicht nur den Protagonisten als Sklaven des Konsums und des Kapitals zeigt, sondern das kriminelle Wesen der kapitalistischen Ökonomie zur Schau stellt. Das Gesetz als Lustmörder Der Roman lässt die Grenze zwischen Gesetz und Lustmord in vielerlei Hinsicht verschwinden. Unter Gesetz wird hier sowohl die symbolische Ordnung verstanden, mit der in den Gender Studies in der Regel die patriarchalische Sprache und die bestehende kulturelle Ordnung gemeint ist, die nicht zuletzt mit der Vaterfigur als eine normstiftende und reglementierende Instanz repräsentiert wird, als auch die Legislative und Exekutive als allgemeingültige, verbindliche Normen und Strafsysteme, die institutionell durch den Staat legitimiert werden. Der Roman Gier zeigt einerseits den lustmör-

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derischen Charakter der Konsumgier, die für das Begehren der Männerfiguren konstitutiv erscheint, andererseits bindet er diese Gier an staatliche Institutionen, Öffentlichkeit, Politik und Macht, die traditionell eine männliche Domäne sind. Jelinek verknüpft alle gesellschaftlichen Schichten und Ebenen mit der Staatspolitik, so dass die Familie, die Sozialisation, das Private und die Geschlechterordnung als eine Reproduktion der offiziellen Politik und männliche Figuren als eine Verkörperung der politischen Strategien erscheinen. Auf diese Weise werden die männlichen Körperpanzer bei Jelinek zu „Institutionskörpern“, die laut Klaus Theweleit62 in der „institutionellen Herstellung“ durch Fabriken, Militär, Jugendbünde, Sportvereine usw. hervorgebracht werden. Die Männer sind in Jelineks Roman Lustmörder, weil Staat, ökonomisches System und Gesetz selbst lustmörderisch sind. Wird der Gesetzeshüter Kurt Janisch zum ungestraften Lustmörder, so legt der Text auch die staatlichen Schutz- und Ordnungsstrukturen, die Janisch verkörpert, als verbrecherisch frei. Zum einen üben die Polizisten, wie sie Jelinek zeichnet, Gewalt über die Bürger aus und berauben sie, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Zum anderem zeigt Jelineks Roman, dass sich der Gendarm dank seines Amtes in einem anomischen Raum bewegt, der ihn durch die unbegrenzte Macht zum Lustmord und zur Gewalt animiert: „Ein Polizist hat immer recht.“ (S. 276) In Anlehnung an Theweleit gelangt Janisch durch die Lustmorde ins Zentrum der Macht, die als Verschmelzung des leiblichen Körpers mit dem institutionellen Körper imaginiert wird, was bei Jelinek wieder als Phantasma erscheint. Kurt Janisch tötet zwar unbestraft, kann sich jedoch die institutionelle Macht nicht vollkommen aneignen. Der Roman Gier folgt den Traditionen des Lustmorddiskurses und zeigt die Fehlentwicklung des Polizisten durch die Sozialisation in der Familie. Während der Lustmorddiskurs den Täter, der es aufgrund von einer unzureichenden Erziehung nicht gelernt hat, seine infantilen Triebe zu bändigen, als pathologisch aus der Gesellschaft ausgrenzt, enthüllt Gier den Lustmörder als Effekt der Gesellschaft, da die bestehende Form der Familie nur durch Gewalt und Kapitalismus aufrechterhalten werden kann. Die Familie reproduziert die herrschenden Machtstrukturen und -diskurse en miniature. Kurt Janisch bekommt den „Tiergerechtigkeitsindex“ von seinem Vater beigebracht, der als Diener der Monarchie ein absoluter Monarch und Herrscher in der Familie ist: „Eine Haltung ist tiergerecht, wenn folgende Punkte geklärt sind: Bewegungsmöglichkeit, Bodenbeschaffenheit, Sozialkontakt, Stallklima (Lüftung! Licht! Gott!) und Betreuungsintensität (Lehrer! Stock! Stein! Schlag!).“ (S. 222) Diese sozialdarwinistisch geprägte Ordnung erscheint als eine Struktur, in der die Integration in die Gesellschaft sowie die Identifikation mit dem Vater ausschließlich durch Gewalt herbeigeführt wird. Die verwendeten Begriffe Lehrer und Gott machen Staatsinstitutionen sichtbar, die die Gewaltverhältnisse in der Familie stabilisieren. Das Schul62 K. Theweleit: Männliche Geburtsweisen, in: Th. Steffen, Masculinities – Maskulinitäten, S. 2-3.

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wesen, in dem noch am Anfang des 20. Jahrhunderts eine sadistische, sogenannte schwarze Pädagogik praktiziert wird, und die christliche Religion, die den Vater als Ebenbild Gottes und als Herrscher konstituiert, sind weitere Diskurse, die die Institution der Familie hervorbringen. Besonders der christlichen Religion schreibt der Text einen nekrophilen Charakter zu, da sie den Tod auf der einen Seite leugnet, indem sie ewiges Leben verspricht und dadurch die bestehende Sozialordnung stabilisiert, auf der anderen Seite aber durch die Selbstopferung von Christus den Tod dem Glaubenssystem und der gesellschaftlichen Ordnung zugrunde legt. So erklärt der Roman in Bezug auf die Familie: „Ich glaube, das hat Christus so gewollt, und dann hat er unseren Staat gegründet, damit die Menschen dort schon zu Lebzeiten tot sein können, worüber er sich ganz besonders freut, alles, alle gehören sie ihm, vorher und nachher.“ (S. 229) Die Nekrophilie des männlichen Subjektes und seine Besitzgier, die in diesem Textauszug auch den christlichen Gott charakterisiert, werden also in der Familie verortet, erscheinen jedoch ebenfalls als Effekte der in der Kultur herrschenden Diskurse. Während der Vater als ein absoluter Herrscher agiert, wird die Mutter schon von Kindheit an als „Schlamm“ empfunden,63 vor dem der Sohn später Angst hat, überschwemmt zu werden. Darüber hinaus wird die Mutter zum Mangel, der sich in der Familie Janisch vor allem als finanzieller Mangel manifestiert. Die Mutter Janischs verdient nicht nur kein Geld, sondern plündert sogar von Zeit zu Zeit wegen ihres Alkoholismus die „Hausbank“ (S. 224). Freud’scher Penismangel wird bei Jelinek buchstäblich zum Geldmangel und die Mutter zu dessen Hauptursache. Der Roman verknüpft darüber hinaus den Subjektdiskurs mit dem Nationaldiskurs. So wird die kannibalische Konsumgier des Polizisten auf die nationale Politik zurückgeführt: Österreich wird als ein „Menschenfresserland“ (S. 163) bezeichnet, in dem Hass und alltäglicher Faschismus blühen, besonders in Bezug auf Grenz- und Fremdenpolitik: „Also auf Teppichen aus Menschenfleisch rutscht hier keiner mehr aus, die Menschen werden jetzt zusammengefasst wie unsre Quellen, eingesammelt und in vergitterte Abfallbehälter geworfen“ (S. 219-220). Entsprechend erwähnt der Roman Franz Fuchs (S. 425), der im Namen der rassistisch und fremdenfeindlich orientierten Bajuwarischen Befreiungsarmee zahlreiche Anschläge mit Brief- und Rohrbomben gegen Migranten und Angehörige der einheimischen Minoritäten in Österreich verübt hat. Die Befestigung der Grenzen des Staates, die die Körperpanzer der männlichen Figuren spiegeln, und das 63 Bezüglich seiner Mutter erinnert sich der Gendarm an ekelhafte Szenen mit „Urin, der Scheiße […] mit ihrer dauernden Einkoterei“ (S. 226), für die sie immer Ohrfeigen von ihrem Ehemann bekommen hat. Die Mutter wird als das bei Kristeva abzulehnende Abjekte dargestellt, das bei Jelinek buchstäblich umgesetzt und dadurch bestätigt wird. Die Mütter unterstützen selbst ihre durch die sozialen Strukturen bedingte Ablehnung als Identifikationsfiguren für ihre Söhne.

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Streben nach einer ethnischen ,Reinheit‘ innerhalb des Landes erfolgen durch die Vernichtung der Fremden, das heißt, der Staat hat ebenfalls die Struktur eines männlichen Körperpanzers. Über die Grenzpolizei, die einige illegale Grenzgänger verhaftet, heißt es im Text: „Die übrigen werden von uns ordentlich in die Fresse gehauen und dann von unseren lieben Flüssen gegessen, damit wir keine Mehrarbeit mit ihnen haben.“ (S. 219) Die Fremden sollen bei der Grenzüberschreitung „geschlachtet und ausgenommen werden“ (S. 219). Der Staat befestigt seine Grenzen, die ständig durch Wärmebildkameras überwacht werden – ein allumfassender Blick der Macht im Sinne Foucaults. Die Männerfiguren reproduzieren diese staatliche Grenzpolitik im Alltag, indem sie wie der Staat die Grenze ihres Panzers durch die Vernichtung von Frauen stabilisieren und sich als Subjekte des Blickes konstituieren, da der Konsum hauptsächlich von visueller Wahrnehmung beeinflusst wird. Die Ausnutzung und Ausbeutung der Frauen durch die Männer findet ihren Ursprung ebenfalls in der Staatspolitik. Der Roman Gier macht in Bezug zu Pfisters Buch Unternehmen Romeo. Das Liebeskommando der Stasi,64 das die Autorin als für den Roman verwendete Literatur angibt, deutlich, dass die sexuelle Ausbeutung der Frauen zu einer politischen Strategie des Staates gehört. Diese Studie berichtet von Stasi-Agenten, die in der Rolle von charmanten Liebhabern auf westdeutsche Frauen in gehobener Position angesetzt wurden, um sie sexuell abhängig zu machen, damit sie wichtige politische Informationen preisgeben. Scheut der Staat in der Politik der Ausbeutung keine Mittel, so setzen auch die Männer auf der mikropolitischen Ebene diese Strategien ein, indem sie des Profits wegen die Ehe eingehen: „So sind sie, die Frauen, immer derselbe Typ für das Liebeskommando und das globale Projekt überhaupt, gegen das die Umweltverschmutzung und der Weltfriede ein Schmutz sind: die Heirat.“ (S. 34) Auf der semantischen Ebene entlarvt der Roman Gier durch die Zusammenführung von Begriffen wie „Heirat“ und „Schmutz“ die Institution Ehe als „schmutziges Geschäft“. Die Politiker streben auf ähnliche Weise nach dem vollständigen Besitz des Landes wie die Janischs nach dem Besitz der fremden Häuser. Jelinek wirft dem dritten Präsidenten des Nationalrates, Prinzhorn, der als FPÖMitglied in dieses Amt gewählt wurde, vor: „Warum sagen Sie uns nicht gleich, was Sie wollen, Herr Prinzhorn? Das ganze Land in Besitz nehmen und ficken, oder?“ (S. 131) Thomas Prinzhorn gilt als der reichste Politiker Österreichs, so dass Jelinek hier gierige Ökonomie und die Zerstörungspolitik der rechts orientierten Partei zusammenführt und dadurch ihre gegenseitige Legitimation vorführt. Letztendlich erscheinen die Janischs nicht als Ausnahme, sondern als vom Roman durch Typisierungs- und Verallgemeinerungsstrategien zum Ausdruck gebrachte Regel. So ist die Mutter des 64 Pfister, Elisabeth: Unternehmen Romeo. Das Liebeskommando der Stasi, Berlin 2000. Zwei Frauen in diesem Buch, die Opfer der Stais-Agenten wurden, heißen Gerda und Gabi.

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Gendarmen „eine heimliche Rotweintrinkerin, wie viele Frauen in dieser Gegend“ (S. 224) und alle wissen das, „weil alle es selber tun […]“ (S. 226). Sind alle Männerfiguren Konsumenten, so erscheinen sie auch alle als potenzielle Lustmörder. Weiblichkeit als Ware Jelinek dekliniert die mythischen und bürgerlichen Bilder des Weiblichen als Mütter, Ehefrauen und Töchter durch, um sie letztendlich als Ware zu enthüllen, die auf dem Markt nicht wertvoller ist als Häuser. So werden die Frauenfiguren mit Wareneigenschaften versehen, die ihnen Individualität und Identität absprechen und somit ihre Objektrolle in der kapitalistischen Kultur deutlich machen. Bessere Chancen, einen Liebhaber oder einen Ehemann zu finden, haben beispielsweise junge und schöne Frauen, die in Analogie zu schönen und neuen Produkten schneller verkauft werden können. Die Schönheit, die Jelinek als Versachlichungsmechanismus des Weiblichen enthüllt, den die Frauen selbst bestätigen, wird für sie zur Strategie, einen ‚richtigen‘ Mann zu finden. Die Mutter des Polizisten besucht den Friseur und träumt währenddessen davon, Königin zu werden. Der Gendarm lernt Gerti kennen, als sie beim Friseur ist. Er sucht nach der Besitzerin eines falsch geparkten Autos, während diese sich in Erwartung der ‚wahren‘ Liebe schön macht. Sie schmückt und schminkt sich für den zukünftigen Liebhaber: „In dem Haus will eine Ware mit den Augenlidern glitzern und sich mit dem Wimpernschwung einer neuen gestreiften Sonnenmarkise präsentieren.“ (S. 170) Semantisch wird die Frau nicht durch die Gleichsetzung mit der Ware objektiviert, sondern sie wird umgekehrt als eine Ware dargestellt, die personifiziert werden muss, um dennoch eine Ware/ein Haus zu bleiben. Die Frau kann keinen Personenstatus erreichen, da die ‚weiblichen‘ Strategien der Subjektivierung als Selbstobjektivierung fungieren. Das junge Opfer Gabi möchte Fotomodel werden, wodurch sie ihren fetischisierten Objektstatus bestätigt. Ihr Name, Gabi Fluch, spielt auf den „Fluch ihrer Geburt“ an, das heißt, als Ware zu agieren, sich in der Welt der Objekte unterzuordnen und „brauchbar und wertvoll“65 zu machen. Die einsamen Frauen kaufen schöne Satinwäsche, um die Männer zu verführen. Besonders schmücken sich diejenigen, die noch nicht verheiratet sind. Sie werden schnell zu einer ‚alten‘ Ware, da sie „vorher ein wenig zu lange im Schaufenster gelegen ist, bis zu viele gesehen haben und auch nicht mitgenommen hatten […]“ (S. 11). Einen warenhaften Charakter verleiht den Frauenfiguren ihre Entpersönlichung, die kontrastiv den individualisierten Männerfiguren gegenübersteht. Drei Generationen der Janischs, sogar das Enkelkind, tragen im Roman Namen, sie haben also eine Identität, im Gegensatz zu den meisten namenlosen beziehungsweise identitätslosen Frauenfiguren. Der männliche Prota65 M. Szczepaniak: Dekonstruktion des Mythos, S. 107.

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gonist lebt mit ‚irgendeiner‘ Frau, bringt ‚irgendwelche‘ Frauen um. Erst ab Seite 132 werden die Vornamen der zwei nächsten Opfer genannt, die im Laufe der Handlung ausgelöscht werden: Gabi und Gerti. Sind die Frauenfiguren entpersönlicht, so gleichen sie einander wie Waren und sind austauschbar. Obwohl es um Mütter, Ehefrauen oder Mädchen geht, ist zuweilen nicht zu entscheiden, von wem die Rede ist: Handelt es sich um die Mutter Kurts oder Ernsts oder Patricks? „Kennen Sie eine, kennen Sie alle.“ (S. 228) An einer anderen Stelle heißt es: „Die Mutter des heutigen Gendarmen zum Beispiel, mir ist, als gäbe es sie noch einmal und noch einmal, als wären die meisten Frauen hier wie sie“ (S. 53). Mädchen wie Gabi sind zahlreich vorhanden: „Das Verschwinden dieses Mädchens ist gar kein Problem, denn es ist dermaßen vielfältig vorhanden.“ (S. 166) Der Roman erzählt noch von vielen anderen namenlosen Frauen, „gut fünf Stück in den letzten zwei Jahren“ (S. 105), über deren Leichen Vater und Sohn gehen (S. 21). Sie sind massenweise „hinter einem anonymen Lebensschalter ausgefertigt worden.“ (S. 54) Alle diese Waren- und industriellen Produktionsbegriffe bringen die Austauschbarkeit und Gleichheit der Frauenfiguren zum Ausdruck, die ihre weitere Eigenschaft im Roman bedingen – ihre Abhängigkeit von Männern. Die Ware muss jemandem gehören, sie verlangt nach einem Besitzer, wie die Frauen im Roman Gier, die die Einsamkeit nicht ertragen können. In einer ironischen intertextuellen Referenz zu Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein haben die Frauen in Jelineks Roman sogar ganze Häuser für sich allein (S. 442), dennoch bieten sie den Männern alles an, um nicht allein zu sein: „Herrenloser Besitz verträgt die Leere in sich nicht, er möchte wieder jemandem gehören.“ (S. 33) Die fast pathologische Abhängigkeit der Frauen von den Männern ist bei Jelinek durch die Ökonomie des phallischen Begehrens bedingt, die die Frau als Mangel festlegt. Verdinglichung des Weiblichen Die Versachlichungs- und Verdinglichungsstrategien des Weiblichen werden auf verschiedene Weise eingesetzt: Zum einen überprüft der Roman Institutionen, Mythen und Diskurse, die den Warenstatus der Frau bedingen. Zum anderen wiederholt er diese Verdinglichung des Weiblichen in der Handlung und in den Darstellungsstrategien. Zentral ist dabei die Gleichsetzung der Frau mit einem Haus oder einem Zimmer. Außer der Schwiegertochter des Gendarmen besitzen alle Frauen Häuser. Sogar Gabis Mutter hat bereits eine eigene Wohnung für Gabi angezahlt. Gabi hat außerdem noch einen anderen Bezug zu Häusern: Sie ist Auszubildende einer großen Baustofffirma. Jelinek spitzt diese Tradition, Weiblichkeit dem häuslichen Bereich zuzuordnen, zur Groteske zu, indem weibliche Körper mit ihren Häusern vertauscht werden. Der Text unterscheidet durch die Vermengung des Körperdiskurses mit Raummetaphern und durch die Gleichartigkeit der Körper mit dem häuslichen Interieur kaum zwischen Körper und Haus. Die

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Frauen haben Herzen von „heiterer Geräumigkeit“ (S. 100), sie „glänzen bald wie polierte Möbel unter seinen Händen [des Gendarmen, Anm. d. Verf.].“ (S. 104) Spricht die Erzählerin „noch vom Haus oder schon von einem menschl. Körper?“ (S. 454) Der Roman materialisiert den weiblichen Körper durch das Haus, gleichzeitig reduziert er ihn auf Genitalien – eine Reproduktion des Objektstatus auf der Darstellungsebene, denn die Frauen existieren für den Gendarmen nur als sexuelle Objekte: „Ich glaube, sie werden auf ewig offengehalten werden, diese Türen, in ihrer Umrahmung aus einem kratzigen Haarkleid, das sie sich notdürftig überzogen haben, damit man sie nicht gleich nach dem ersten Läuten, beim Öffnen, als Türen erkennt.“ (S. 117) Auch bei Gerti stehen alle Türen (beziehungsweise Genitalien) offen; dadurch kritisiert der Roman die weibliche Bereitschaft zur Hingabe: „Alle ihre Türen stehen die ganze Zeit sperrangelweit offen, merkt sie das denn nicht, es zieht, sie sollte sie endlich schließen.“ (S. 117) Jelineks ‚Frauenzimmer‘ rekurrieren damit auf die psychoanalytische Tradition. In seiner Arbeit zum Traum erarbeitet Freud die kollektive Symbolik von Männlichkeit und Weiblichkeit, die im Traum das verdrängte Begehren verschlüsselt. Räume, Zimmer, Häuser sowie Objekte mit einem Hohlraum wie Gefäße, Schachteln, Büchsen, Schächte usw. stehen im Traum symbolisch für weibliche Genitalien.66 Diese Strategie der Gleichsetzung von Raum und Frau setzt auch Helmut Krausser in der Schmerznovelle ein, ohne jedoch diese Tradition zu reflektieren. Jelinek zeigt hingegen und kommentiert zugleich kritisch ökonomische und massenmediale, aber auch wissenschaftliche Diskurse wie die der Psychoanalyse, die die durch die gesellschaftlichen Strukturen verursachte Verdinglichung der Frauen fortschreiben, indem die Frauenfiguren buchstäblich zu ‚Frauenzimmern‘ werden – die Autorin nimmt die Psychoanalyse beim Wort und entsymbolisiert diesen Begriff. Werden die Frauenfiguren mit einem leeren Raum gleichgesetzt, so erscheinen sie als Mangelwesen, was ebenfalls auf die Freud’sche Theorie zurückgeht. Die Frau hat im Hohlraum ihres Hauses beziehungsweise ihres Schoßes eine Leere, die sie mit einem Mann beziehungsweise mit seinem Phallus zu füllen versucht: „Doch als er [der Gendarm, Anm. d. Verf.] drin war: gähnende Leere. Wo nimmt ein Mensch bloß seine Persönlichkeit her, wenn er keine hat, um sich auszufüllen.“ (S. 255) Diese Leere geht auf den Penismangel zurück, über den Sigmund Freud die Frau ex negativo definiert. Sind die Frauen „leer“ – ihnen fehlt also der Penis –, so sehnt sich jedes „Körperhaus“ (S. 260) nach männlicher Er-füllung,67 die sowohl als männliche Anwesenheit im Haus als auch als das Penetrieren des weiblichen Körpers dargestellt wird: „Dieser Mann ist zärtlich, er ist potent, er erfüllt 66 S. Freud: Der Traum, S. 79-246, hier: S. 157. 67 Ch. Thürmer-Rohr: Vagabundinnen, S. 85. Während sich Krausser dieser Vorstellung von der Frau als Leerraum bedient, dekonstruiert Jelinek diesen Topos, indem sie auf die Genese von mangelhafter Weiblichkeit durch verschiedene Institutionen und Diskurse eingeht.

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dem Haus seine geheimsten Wünsche.“ (S. 329) Jede Frau im Roman ist deswegen bereit, sich in ein Zimmer zu verwandeln: „Ich bilde auch selbst ein Zimmerchen aus mir, wenn gewünscht, ganz allein für Sie […].“ (S. 43) Jelinek deckt jedoch auf, dass die Frauen auch zuhause keinen Platz haben. In der Untersuchung der Körpersprache der Geschlechter betont Gitta Mühlen-Achs,68 dass die Frau traditionell nicht nur ins Haus verwiesen wird, sondern dass sie auch zuhause keinen privaten Bereich, kein eigenes Zimmer besitzt wie die anderen Familienmitglieder, zum Beispiel das Arbeitszimmer des Mannes oder das Kinderzimmer. Die Frau wird dagegen mit dem ganzen Haus assoziiert und hat gleichzeitig im Haus keinen eigenen Platz. Das ‚weibliche‘ Zuhause wird bei Jelinek entsprechend als Mythos entlarvt. Für Jelinek heißt dies zugleich, dass die Frau aus allen gesellschaftlichen Bereichen, Diskursen und mithin aus dem Repräsentationssystem ausgeschlossen wird: „Das heißt, die Frau wird da Draußen. Ein Ort, der für sie nicht vorgesehen ist, außer sie wäre wirklich präsentabel.“ (S. 63) Die Autorin versteht auch diesen Ausschluss buchstäblich, denn sie setzt seine Mechanismen in die Handlung um. Der Gendarm vertreibt Gerti aus ihrer eigenen Wohnung, um darin Geschlechtsverkehr mit der jungen Gabi zu haben, während die Besitzerin geschlagen und kaum angezogen in der Flur ausgesperrt wird und vergeblich versucht, wieder hereinzukommen – eine vollkommene Deplatzierung des weiblichen Körpers, ja eine Aussperrung der Frau aus dem einzigen in der bürgerlichen Kultur für sie vorgesehenen Raum, den das männliche Gesetz für sich beansprucht. Jelinek versinnbildlicht mit dieser Szene die feministisch-poststrukturalistische Kritik, dass die phallogozentrische Sprache – so die ecriture féminine – über keine Mittel verfügt, Frauen zu repräsentieren und ihr Begehren zum Ausdruck zu bringen. So besitzt Gerti keinen Platz in der symbolischen Ordnung, ebenso wie die Ehefrau von Ernst Janisch. Er sagt über seine religiöse Ehegattin: „Meine Frau wäre für den lieben Gott wie ein offenes Buch, wenn der es nötig hätte zu lesen, aber er hat das Buch der Bücher geschrieben, deshalb braucht er von Ewigkeit zu Ewigkeit keines mehr.“ (S. 22) Die Erzählperspektive des Romans Gier betont, dass die Sprache an der Versachlichung und zugleich an der Ausschließung der Frau aus dem Repräsentationssystem beteiligt ist. Die Frauenfiguren werden eher in der Sie-Erzählperspektive dargestellt, die ihnen ihre eigene Stimme entzieht, wobei diese Diskriminierung im Roman wieder ironisch durchbrochen wird – die Frauen geben ihre Stimmen freiwillig auf. So schreit Kurt Gerti in der oben genannten Vertreibungsszene an, die die erzählerische Strategie der Objektivierung des Weiblichen auf der Inhaltsebene verdoppelt, wenn Gerti vergeblich versucht, dem Gendarm einen Vorwurf zu machen. Er weist sie zurück: „Ich habe sie vorhin zu meiner gelegt, deine Stimme, du hast sie freiwillig abgegeben, ich habe meine ja auch nicht gebraucht. Genau. Bei mir war sie, die Stimme, du hast sie mir gegeben, du hättest draußen gar nicht so nach ihr zu brüllen 68 Vgl. Mühlen-Achs, Gitta: Wie Katz und Hund, München 1993, S. 122-127.

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brauchen.“ (S. 134) Wenn die Frauen dennoch in der Ich-Perspektive auftreten, dann werden vorwiegend Konjunktivsätze verwendet, die sie unterwürfig, unsicher und zurückhaltend wirken lassen und ihre Äußerungen als irreale Wünsche darstellen. Da die Frau nicht repräsentierbar ist, zerstückelt der Text durch seine Erzählweise den weiblichen Körper und schildert nur bestimmte Körperteile – hauptsächlich Genitalien, die einzigen ‚Teile‘, die Männer an Frauen bemerken. Diese Strategie entzieht den Frauenfiguren die Identität und vergegenständlicht ebenfalls die weiblichen Körper, zumal die Körper durch Dinge und Sachen substituiert werden. Gabi steht für ihren Freund beispielsweise in einer Reihe mit anderen Konsum- und Befriedigungsobjekten, wobei sie mit ‚wertvolleren‘ Waren wie Autos nicht einmal konkurrieren kann. Er wäscht unablässig sein Auto – ein wahres Objekt seines Begehrens – und merkt schließlich an: „[…] dieser Bauteil, die Gabi, ist leider ausgefallen und mit ihm das ganze Gerät.“ (S. 399) Durch diese Umkehrung von Parspro-Toto-Verhältnissen werden auf paradoxe Weise die Genitalien der Frau zu ihrem Ganzen und Einzigen, während sie selbst nur als ein mangelhafter und daher zu komplimentierender Teil erscheint. Die Unrepräsentierbarkeit, den Ausschluss und die Verdinglichung der Frau spitzt der Roman am Ende zu, indem sie sich buchstäblich in ein Haus transformiert und in den vollkommen Besitz des Mannes übergeht, wie die patriarchalische Kultur es von ihr fordert – einem Mann zu gehören und gleichzeitig vollkommen zu verschwinden. Gerti begeht Selbstmord, nachdem sie ihr Haus dem Polizisten vermacht hat. Sie verschmilzt physisch mit dem Haus, indem sie ihren Körper durch den Tod verdinglicht und zugleich sich selbst aus dem Haus eliminiert: „Dieser Mensch [Gerti; Anm. d. Verf.] wird abgeschickt, die Adresse steht schon drauf, das Beste an ihr kann man noch tasten, es sind Ziegel, ist Glas, Beton, Stahl und Gips. Mehr nicht.“ (S. 462) Somit durchbricht Jelinek ironisch diese scheinbare Rebellion der Frau gegen die bestehende Ordnung. Sie bestätigt nicht nur selbst ihre Exklusion, sondern befriedigt ihren Wunsch, dem Gendarmen zu gehören, wie sie es sich zu ihren Lebzeiten gewünscht hat. Somit eliminiert Jelinek den Opferstatus der Frauen in der Kultur und daher im Lustmord, der zu ihrem Sinnbild wird, indem die Autorin weibliche Mittäterschaft sichtbar macht. Subversive Affirmation der schönen Leiche Während die Männerfiguren mit Staatsinstitutionen verbunden sind, werden die Frauenfiguren aufgrund ihrer Unrepräsentierbarkeit hauptsächlich als literarische, ja männliche Mythen über Weiblichkeit dargestellt. Mit Gabi und Gerti setzt der Roman das Motiv der schönen Leiche und der Vetula ein, der alten Frau als Inbegriff des Ekels, die durch einen unersättlichen

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sexuellen Appetit auf junge Männer gekennzeichnet ist.69 Die schöne Leiche nimmt dabei einen zentralen Platz ein und wird zur Kulmination der Verdinglichung des Weiblichen, weil Frauen in der westlichen Kultur nur zur Auswahl haben: „[…] tot umfallen, in Ohnmacht fallen oder sich tot stellen oder tot sein.“ (S. 461) Auch dieses Motiv wird erst mit der Figur Gabi dekonstruiert, indem Jelinek den Lesegenuss an der Gewalt durch DeErotisierung und De-Sexualisierung des Mordes unmöglich macht, um ihn mit Gerti wieder zu rekonstruieren und zu bestätigen. Elfriede Jelineks Roman präsentiert Gabi, die „fast schon sweet sixteen“ (S. 205) ist, als schön, jung und sexuell. Sie ist eine Modelschönheit; ihre sexuelle Verfügbarkeit, durch die sie mit der Figur der Femme fatale assoziiert wird, ist gewährleistet. Sie bestätigt den sozialen Status des Helden und ergänzt sein Image, sie ist sein Accessoire. Genregemäß ist sie dazu prädestiniert, als schöne Leiche zu sterben, zumal sie in der Handlung zuerst als Leiche auftaucht, die, eingewickelt in eine Folie, in den Baggersee versenkt wird (S. 98). Danach rekonstruiert der Roman in analytischer Weise das Geschehen, wobei das zirkulierende Erzählen es ironisiert: So wird Gabi für kurze Zeit lebendig, um erneut vom Gendarmen umgebracht zu werden. Die Darstellung Gabis gipfelt in der Verwandlung zu Schneewittchen, deren Glassarg durch das Wasser des Baggersees symbolisiert wird: „Dieses Schneewittchen ist ein paar Tage in seinem dunklen, kalten Wassersarg gelegen.“ (S. 398) Im Märchen verweilt Schneewittchen auf der Grenze zwischen Leben und Tod und erweckt dadurch die nekrophilen Fantasien des Prinzen, der sie sich tot wünscht.70 Denn sie ist weder tot noch lebendig beziehungsweise sie ist tot, verwest aber nicht und sieht wie lebendig und das heißt schön aus. Nach Bronfen erzählt das Märchen Schneewittchen von der Bändigung beziehungsweise Konservierung des Todes und der Kontrolle über den Tod durch die voyeuristische Betrachtung einer schönen toten Frau. Auch der Roman Gier führt Weiblichkeit und Tod zusammen und legt die Verbindung als selbstverständliche offen. Dem männlichen Voyeur bietet die schöne Leiche Fantasien von seiner Überlegenheit über den Tod und seiner eigenen Unsterblichkeit an, die Jelineks Roman jedoch destruiert: „Sie wollten schon gern wissen, wie es auf der Andren Seite aussieht, aber sie wollten es eigentlich nie selber erfahren, höchstens aus den Medien, das wäre bequemer gewesen als selber hinfahren zu müssen auf die Dunkle, die Andre Seite, Schwester des Schlafs, in der jedes Tier die Unendlichkeit, nein, die Endlichkeit seiner Existenz weiterführen kann.“ (S. 400) Der Roman führt die „Andre Seite“ vor, an der nichts Poetisches zu finden ist. Viel69 Menninghaus, Winfried: Ekel: Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999. 70 Bronfen, Elisabeth: Nachwort, in: dies. (Hg.): Die schöne Leiche. Texte von Clemens Brentano, E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Artur Schnitzler und anderen, ausgewählt und mit einem Nachwort, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen versehen von Elisabeth Bronfen, München 1992, S. 381-384.

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mehr wird mit der Präzision eines Rechtsmediziners der Prozess des Verfalls und der Verwesung detailreich beschrieben (S. 398). Somit wird die Erotisierung des Todes in Gier aufgehoben: „Kein Prinz könnte sie erwecken, und wenn er das Mädchen mit in sein Zimmer nähme, er würde verfaulen, riechen, madig werden, Totenflecke, gründliche Verfärbung der Bauchdecke würden folgen.“ (S. 398) Außerdem radiert der Roman Seele, Inneres und Geist aus und exponiert reine Körperlichkeit. Gerti ist in einem kritischen mittleren Alter, das bei ihr eine doppelte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und des Alters verursacht. Als „ehemalige Fremdsprachenkorrespondentin und Übersetzerin und Nebenberufs-Pianistin“ (S. 118) repräsentiert die 50-jährige eine neue, unabhängige weibliche Rolle: die Emanze. Seit der „herrlichen“ Bekanntschaft mit dem Gendarm „glaubt sie an die Wirkung ihres Körpers, modern, selbstbewusst, finanziell unabhängig wie sie ist“ (S.112). Jedoch enthüllt der Roman Gier die Emanzipation als Mythos. Selbst die Errungenschaften der Frauenbewegung entpuppen sich als Instrumente der Ausbeutung und Unterdrückung der Frauen, die allerdings als Selbstausbeutung und Selbstunterdrückung entlarvt werden. Zu den Symbolen ihrer Emanzipation gehören beispielsweise Gertis Führerschein und ihr Auto, die beide zu den von Jelinek in früheren Werken genutzten sekundären männlichen Merkmalen gezählt werden.71 Im Roman Gier werden sie zum Mittel, um einen Mann kennenzulernen, der sie ausnutzt. Gerti verweigert sich den traditionellen kulturellen Weiblichkeitsmustern, indem sie sich sterilisieren lässt. Aber nicht aus Selbstbewusstsein oder um den Patriarchatsstrukturen zu entkommen verzichtet Gerti auf Kinder, sondern sie kann aus Altersgründen ohnehin keine Kinder mehr bekommen. Sie lässt sich im Sinne einer Selbstinfantilisierung sterilisieren, da sie für den Mann selbst zum Kind werden möchte (S. 317). Die tradierte Entmündigung der Frau in der patriarchalischen Kultur verwirklicht Gerti selbst. Von Beruf war sie eine Fremdsprachenkorrespondentin – buchstäblich gelesen kann ihre Position in der Sprache mithin als fremd angesehen werden. Als Übersetzerin fungiert sie als Vermittlungsmedium, das zwischen den Sprechern und den Sprachen steht und daher selbst keine Subjektposition in der Sprache besitzt. Ihr Lebensinhalt besteht aus Musik und Lesen (S. 249) – Gerti ist somit die Verkörperung der männlichen Leitbilder des Weiblichen in Kunst und Literatur. Darüber hinaus greift Jelineks Roman die tradierte Vorstellung von der Frau als Leserin auf, die im 18. Jahrhundert wegen ihres ‚Leserausches‘ pathologisiert wird. Die Konkurrenz zwischen beiden Frauen – eine weitere Dekonstruktion des Märchens Schneewittchen – erscheint durch die Enthüllung des ökonomischen Charakters der Geschlechterordnung als sinnlos. Nach der Dekonstruktion des Motivs der schönen Leiche stellt der Roman diese schöne Leiche wortwörtlich wieder her, indem sich Gerti vor dem Selbstmord schön 71 Jelinek, Elfriede: Die endlose Unschuldigkeit. Prosa, Hörspiel, Essay, München 1980.

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macht: Sie geht zum Friseur und zur Maniküre, kauft ein neues, teures Seidenkleid und zieht schöne Unterwäsche an: „Es ist die Krönung, aber nicht die von Jakobs Monarch, es ist die Krönung einer Frau, die einmal im Leben Königin sein möchte oder wenigstens ein Schneewittchen, dem es eins ist, ob es schläft oder wacht, denn beides wüßte es ja nicht.“ (S. 457) Die Figur restituiert den Mythos von Schneewittchen und demonstriert gleichzeitig den dinghaften und warenhaften Charakter von Weiblichkeit, indem der Text den Mythos mit der Werbung für die Kaffeemarke Jacobs überlagert.

F AZIT Vom Textkorpus her betrachtet reflektiert der Roman Gier den Lustmord als literarisches Motiv und als kulturelle Erscheinung durch seine Doppelstrategie am grundsätzlichsten. Einerseits wird die ästhetische, politische und ökonomische Genese des Lustmordes aufgespürt, andererseits werden seine ästhetischen Funktionen im Text für den Spannungsaufbau und den Lesegenuss an der Gewalt nicht reproduziert, obwohl der Roman den Traditionen des Lustmorddiskurses folgt. Der Lustmord erscheint als Produkt der aktuell bestehenden Machtverhältnisse der westlichen Gegenwartskultur, deren Ausdruck bei Jelinek hauptsächlich Gewalt ist – Hierarchie, Unterdrückung, Ausbeutung, Ausnutzung, Zerstörung und Vernichtung, die sowohl alle gesellschaftlichen Strukturen durchdringen als auch von den Mitgliedern der Gesellschaft verinnerlicht und ausgeübt werden. Diese destruktiven Machtverhältnisse herrschen bei Jelinek in der Familie, der Schule, der Polizei, zwischen den Geschlechtern, zwischen Nachbarn und Kollegen bis hin zu den Beziehungen zwischen Parteien, Banken und Nachbarländern. Aufgezeigt wird somit die strukturelle Gewalt, die den grundlegenden Institutionen, Einrichtungen und Apparaten des Staates zugrunde liegt, unter denen besonders die auf den Konsum und den Immobilienmarkt ausgerichtete kapitalistische Ökonomie, Politik, Massenmedien, christliche Religion, Exekutive und Legislative, aber auch selbstreflexiv die ästhetischen Repräsentation hervorgehoben werden; zugleich schreiben die Staatseinrichtungen und Darstellungen die Gewalt fort, indem sie diese ausüben und durch ihre Setzung als Motiv propagieren, wie es in Medien, Literatur, Kunst oder Film der Fall ist. Die Gewalt wird in der Gesellschaft nicht hinterfragt, sondern beispielweise mithilfe der Religion naturalisiert – eine Legitimationsstrategie, die Jelinek durch den Hinweis auf eine bestimmte historische Entwicklung der Gesellschaft und durch die Analyse der politischen Situation Österreichs sichtbar macht. Sie dekliniert in Referenz auf Barthes’ Kritik an der mythologisch gestalteten bürgerlichen Kultur verschiedene kulturelle Mythen durch, die sie ironisch durch Sprachexperimente und vor allem durch die Absage an ihre Reproduktion durchbricht. Am nächsten befindet sich Jelineks Gier mit seiner Reflexion zu dem Roman Die Hirnkönigin von Thea Dorn, der aber in der Tradition der Glorifizierung von Gewalt steht,

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selbst wenn Dorn diese mit ihrem ästhetischen Verfahren kritisch hinterfragt. Im Gegensatz zu Dorns Kriminalroman dekonstruiert der Unterhaltungsroman Gier den Lustmord durch seine zirkuläre Narrationsstruktur, durch die Kommentare, die Fragmentierung der Handlung, durch Montage und Sprachexperimente, die den genretypischen Spannungsaufbau, die Rätsellösung und die Leselust an der Gewalt unmöglich machen. Der Lustmord ist kein Enigma mehr und der Mörder wird nicht überführt, denn der Täter ist das ganze Staatsystem und die Form der Gesellschaft selbst, zu deren Sinnbild der Lustmord wird. In ihrem ästhetischen Verfahren unterscheidet sich Jelinek von den anderen für diese Analyse ausgewählten Autorinnen und Autoren ebenfalls, indem sie die Lustmordinhalte durch ihre Affirmation destruiert. Sie bedient sich seiner Topoi, ohne den Lustmord zu naturalisieren oder ihn als männlichen Trieb zu essentialisieren. Das Lustmordschema mit einem männlichen Täter und weiblichen Opfern wird reproduziert, um zu zeigen, wie dieses zerstörerische Begehren der Kultur und vor allem der kapitalistischen Ökonomie entspringt, die als ein neues Paradigma im Lustmorddiskurs zu verstehen ist. Zwar erscheinen schon am Anfang des 20. Jahrhunderts einige Werke wie zum Beispiel Die Ermordung einer Butterblume (1913) von Alfred Döblin oder Der Irre (1913) von Georg Heym, die sich unter anderem mit den kapitalistischen Strukturen auseinandersetzen, ohne jedoch die Destruktion und die Ökonomie konstitutiv aufeinander zu beziehen. Während die genannten Autoren den Lustmord eher als Abwehr gegen den Konsum funktionalisieren, schildert Jelinek ihn in einer theoretisch-analytischen Argumentation als Effekt der Konsumkultur, die wiederum als Teil der gesamten gesellschaftlichen Formation erscheint, deren Ebenen durch das Streben nach Vernichtung, Bereicherung und Befriedigung gekennzeichnet sind. Zu den wichtigsten kulturellen Stabilisierungsmechanismen gehört nicht zuletzt die Psychoanalyse, die den Lustmord nicht erklärt – Jelinek wendet den psychoanalytischen Diskurs gegen sich selbst –, sondern gerade ihn als einen bis heute herrschenden Geschlechterdiskurs entlarvt, der an der Legitimation der misogynen Gender-Ordnung sowie an der Koppelung von Konsumtion und Begehren beteiligt ist. Von der Familie bis zur Außenpolitik spürt der Roman die Implementierung des durch Freud theoretisch fundierten Mangels in der Weiblichkeit sowie deren Ausschluss aus der Kulturproduktion beziehungsweise -konsumtion mitsamt der gleichzeitigen Verdinglichung auf – die Frauenfiguren sind Befriedigungsobjekte beziehungsweise Waren, die analog zu anderen Konsumobjekten von den männlichen Konsumenten erworben werden können, ohne jedoch wertvoll wie ein Auto oder ein Haus zu sein. Genauer gesagt sind sie kostenlos zu haben und bieten dazu noch ihr Vermögen an, um sich in der sie nicht schätzenden und sie exkludierenden Kultur aufzuwerten, was sich als vergeblich erweist, denn die Konsumökonomie und -politik bedingen eine entsprechende Denkweise, die alles nur in Utilisierungskategorien der Verwertbarkeit erfasst. Letztendlich ist das einzelne menschliche Leben in diesem Staats- und Denksystem kaum

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etwas wert, wenn daraus kein Profit zu erzielen ist. Die Geschlechtsdifferenz entscheidet jedoch die Teilnahme an der Konsumtion, die bei Jelinek zu einem grundlegenden Mechanismus der binär organisierten Geschlechtergenese wird. Die Autorin verschiebt somit das traditionelle Schema von einem männlichen Täter zu einem männlichen Konsumenten und von weiblichen Opfern zu Frauenwaren und dekonstruiert zugleich den weiblichen Opferstatus. Den Frauen wirft Jelinek die Mittäterschaft vor, indem ihre Frauenfiguren misogyne Geschlechterzuschreibungen selbst fortschreiben. Sie identifizieren sich unreflektiert mit den herrschenden Geschlechtermythen, die sie aus der Konsumtion ausschließen und verdinglichen. In Gier werden alle kulturellen Bereiche schonungslos einer ironisch-bösen Analyse unterzogen, um die Paradoxie der Opferposition zu zeigen. Man könnte sagen, dass Jelineks Roman, mit Marx gesprochen, die Herrschaft eines falschen Bewusstseins offenbart, wenn solche Kategorien wie Verstand und Psyche nicht als ein diskursives Geflecht massenmedialer und textueller Herkunft infolge bestimmter historischer Entwicklungen inszeniert werden würden, das sich jeglicher Essentialisierung entzieht und das Erzählte verfremdet. Die Modifizierung des weiblichen Opferstatus scheint generell eine gegenwärtige Tendenz zu sein, denn im ausgewählten Textkorpus sind weitere drei Texte vorhanden, die die traditionelle Opferposition transformieren. In der Schmerznovelle von Helmut Krausser tritt die Frau sowohl als Täter als auch als Opfer auf, ohne jedoch die tradierten diskursiven Zuschreibungen des Lustmordes ganz aufzuheben. Nichtsdestotrotz wird dadurch die kulturelle Misogynie sichtbar, die in der Kunst und in der Literatur vom Tod einer schönen Frau träumt. Die Hirnkönigin bricht diese Tradition ganz, indem sie die Frau nicht einfach zur Mörderin macht, sondern sie dabei zur Verkörperung der männlichen künstlerischen Fantasien stilisiert. Thea Dorn zeigt, dass das Patriarchat sich vor allem auf die Frauen stützt, die seine Traditionen weitertragen. Vorzuwerfen wäre dem Roman jedoch, dass er selbst in der Tradition der mörderischen Kunst steht, die er kritisiert. Der Fall Arbogast von Thomas Hettche, zu dem die Analyse im nächsten Kapitel vorgelegt wird, geht noch einen Schritt weiter: Die Frauen unterstützen ihren eigenen Opferstatus, weil er ihnen eine Befriedigung ihres masochistischen Begehrens bereitet – eine Männerfantasie, die jedoch auf die Komplexität der Täter-Opfer-Beziehung hinweist und ihre Binarität dekonstruiert. Zusammengefasst experimentieren die Autoren mit der Transformation der weiblichen Opfer um einer neuen Ästhetik willen, die auch ein kritisches Potenzial enthält, das jedoch als Effekt einer neuen Erzählweise erscheint. Mit der Verschiebung des Akzentes auf das weibliche Opfer wird nicht einfach die Identifikation mit dem Täter zerstört, sondern in den meisten Fällen wird der Täter vollständig eliminiert – eine Paradoxie, die als ein narratologisches Experiment zu verstehen ist. Dabei fehlt die Frage nach der Genese dieser kulturell-ästhetischen Fantasie der schönen Leiche, die bei Jelinek und bei Dorn zentral wird. Beide Autorinnen diagnostizieren das

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Scheitern der feministischen Bewegung der 1960er Jahre und die Rückkehr zu den misogynen Geschlechterbildern, die aber in ihrer subtilen Form nicht mehr wahrnehmbar sind und von den Frauen nicht hinterfragt werden. So sind es die Frauen selbst, die das Patriarchat weiter aufrechterhalten, dessen Strukturen auch bei den männlichen Autoren überholt erscheinen. Jelinek und Dorn funktionalisieren also ein misogynes Lustmordsujet nicht nur, um die patriarchalische Gesellschaft einer Kritik zu unterziehen, sondern um vielmehr die Beteiligung der Frauen an der Affirmation der Mechanismen, die sie selbst exkludieren, sichtbar zu machen.

Lustmord und Korruption Finstere Seelen von Horst Eckert

K ORRUPTE E XEKUTIVE Der Roman Finstere Seelen von Horst Eckert schildert im Sinne einer Dystopie eine düstere Atmosphäre in Deutschland zum Ende der 1990er Jahre. Die Jugend ist kriminell; überall gibt es Drogen-Dealer und Diebe; Neonazis sind aktiv. Die Integration von Minderheiten ist fehlgeschlagen: „Er [Hauptkommissar Benedikt Engel, Anm. d. Verf.] machte der Runde [dem Sportamt, Anm. d. Verf.] klar, wo seiner Meinung nach der x-te Versuch der Integration nordafrikanischer Schlägergangs, kurdischer Kinderdealer, albanischer Messerhelden und pickliger, deutscher Möchtegernhitlers enden würde.“ (S. 16) Diese hoffnungslose Situation ist allem voran ein Resultat der in allen Schichten und Staatsstrukturen verbreiteten Korruption. Die existierende Staatsordnung entpuppt sich als Quelle der Kriminalität. Die Polizisten erscheinen als Verbrecher, die entweder selbst Straftaten begehen oder sie für eine entsprechende Belohnung vertuschen. Um die Korruption sichtbar zu machen, setzt der Roman das Thema Lustmord ein. Er handelt von seriellen Lustmorden und ihrer polizeilichen Untersuchung. Bei der Handlung sind eine gegenwärtige und eine vergangene Lustmordserie, die elf Jahre zuvor stattfand, zu unterscheiden, durch die die Protagonisten des Romans miteinander verbunden sind. In dem früheren Fall ermittelten die Polizisten Hermann Becker und Frank Brauning. Beide sind miteinander verwandt, da sie mit Schwestern verheiratet sind. Sie ermittelten in zwei Mordfällen, wobei der zweite eine ein vorgetäuschter Lustmord war. Die Ehefrau von Hermann Becker ermordete aus Eifersucht ihr Kindermädchen Christa Zimmermann, das sich auf eine Affäre mit ihrem Ehemann eingelassen hat. Frank Brauning fälschte die Mordtat als Lustmord und vertuschte für entsprechendes Schweigegeld auch den ‚echten‘ Lustmörder – den Sohn eines reichen Medienmagnaten, Konrad Oswald.

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Protagonisten der Gegenwart sind ebenfalls zwei Kriminalbeamten, Benedikt Engel und Thilo Becker, der der Sohn von Herrmann Becker und der Neffe von Frank Brauning ist. Aus ihren wechselnden Erzählperspektiven entwickelt sich die Geschichte, und ihre Ermittlung in den aktuellen Lustmordfällen macht den Plot des Romans aus. Sie untersuchen wiederum zwei Fälle, einen ‚echten‘ Lustmord vom gleichen Lustmörder wie vor elf Jahren und einen imitierten Lustmord, diesmal nicht nur gefälscht, sondern auch begangen durch Frank Brauning. Das zweite Opfer, Sophie, ist in Analogie zum zweiten ‚unechten‘ Lustmordopfer vor elf Jahren die heimliche Geliebte des Vaters von Becker und zugleich des ermittelnden Beamten Engel. Der Roman folgt also einer Wiederholungsstruktur, die sowohl für den Spannungsaufbau als auch für die Psyche beider Ermittler von Bedeutung sind. Thilo Becker ermittelt, ohne zu wissen, dass seine Familie an den Morden und deren Vertuschung beteiligt ist. Das macht den Suspense aus, denn die Protagonisten arbeiten gegeneinander und geraten in den Konflikt, gesetzesgerecht zu handeln oder die Verwandten zu unterstützen. Zugleich jagen die jungen Kriminalbeamten nicht nur dem Lustmörder nach, sondern auch ihren eigenen verdrängten Ängsten und Traumata. Benedikt Engel kämpft gegen seine „nächtlichen Dämonen“ (S. 23), die ihn seit seiner Kindheit quälen, genauer gesagt, seitdem seine Mutter ermordet wurde. Thilo Becker sucht den Lustmörder seiner Pflegemutter Christa Zimmermann, das heißt seine eigene Mutter und seinen Onkel Brauning. Die Ermittlung reicht also in die Vergangenheit, in die Familie und letztendlich in die psychischen Traumata beider Polizisten, in ihre ‚finsteren‘ Abgründe hinein. Zugleich wird diese Ermittlung zu einer Art psychischer Selbsttherapie der Protagonisten, die auf der Suche nach dem verdrängten Trauma sind, dessen Erkenntnis in Anlehnung an Freud einen Heileffekt hat. Die These lautet deshalb, dass der Struktur des Romans das Freud’sche Unheimliche1 zugrunde liegt, dass sie die Prozesse des Unbewussten wiederholt und somit analog die Prozesse der Herausbildung der männlichen Identität offenlegt. Zum einen stabilisiert sich nach Freud die Identität durch die Wiederholung, zum anderen sind alle männlichen und weiblichen Figuren um den Protagonisten Thilo herum ödipal zentriert. Fast alle männlichen Figuren stellen sich als (symbolische) Väter dar, mit denen Thilo sich entweder identifiziert oder die er als Identifikationsobjekt ablehnt. Alle weiblichen Figuren sind entweder schöne Leichen oder böse Mütter oder vorzugsweise beides – die Mütter sind schöne Leichen. Im Gegensatz zum subversiven Roman Gier werden hier beide Motive zur narrativen Strategie, das heißt, Finstere Seelen bedient sich der misogynen literarischen Traditionen sowie der Theorien Freuds und schreibt sie fort. In Analogie zum Roman Gier entpuppen sich auch bei Eckert fast alle männlichen Protagonisten als potenzielle Lustmörder, jedoch geschieht ohne kritische Reflexion, sondern durch die hier noch aufzuzeigende Defizienz, produziert durch die Erzählstränge, die den Lust1

S. Freud: Das Unheimliche, S. 227-268.

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mord als ein grundlegendes Element der männlichen Subjektivität installieren. Nur diejenigen Männerfiguren gelangen zum Mannsein, die den Lustmord an ihrer Mutter miterlebt haben. Der Lustmord wird dabei zum Signifikanten des Reichtums und zu dessen Quelle. Der Lustmörder Konrad Oswald ist Sohn eines (einfluss)reichen Medienmagnaten. Die Familie Becker/Brauning hat mit dem Lustmord ein großes Vermögen angehäuft, denn sie erpresst den Medienmagnaten Oswald mit den Taten seines Sohnes. Der Lustmord steht also an jener Schnittstelle, an der Gesetz und Verbrechen zusammenfallen und somit die Exekutive zur eigentlichen Quelle des Verbrechens machen. Das wird auch an anderen Taten vorgeführt, wie an der Ausnutzung der Prostituierten durch die Polizisten, dem Zusammenschlagen eines Journalisten im Polizeirevier, den Morden an einem schwulen Paar durch Thilo und den Morden an Thilos Partner und an einem Zeugen durch den Onkel Brauning. Zugleich wehrt sich der Roman gegen diese Tatsache, indem die kapitalistische Ökonomie und vor allem der Kapitalfluss weiblich codiert werden. Einerseits übt Eckert an der außer Kontrolle geratenen Kapitalismusexpansion Kritik, andererseits sind es die Frauen, die die Männer korrumpieren, den Männern Unglück bringen sowie die weiblich konnotierten Geldströme, die die männlichen Körperpanzer – eine von Eckert propagierte männliche Identität – aufzulösen drohen. Zusammenfassend stehen sich die beiden Romane, die in diesem Kapitel vereint werden, lediglich angesichts einer Kohärenz von Lustmord und kapitalistischer Ökonomie nah. In der Setzung des Lustmordes als Motiv stellen sie zwei Extreme dar. Eckerts Roman ist genau dasjenige literarische Beispiel für Lustmord, gegen das Jelinek ihre subversiven Strategien einsetzt, um diese Art der ästhetischen Repräsentationen, die den Mord an der Frau für die Narrationsentwicklung funktionalisieren und kulturelle Bedrohungen weiblich codieren, zu eliminieren. Darüber hinaus reflektiert Jelineks Roman die Genese des Lustmordes auf allen kulturellen Ebenen – eine Depsychologisierung und Deprivatisierung des Lustmorddiskurses, die ihn zum Produkt struktureller Gewalt machen; Eckert führt hingegen alle Erklärungen wieder ins Private und in die Psyche der Protagonisten zurück – eine Privatisierung und Psychologisierung der Systemgewalt, was den Lustmord zu einer Ausnahme macht und seine Vorrausetzungen individuell behebbar erscheinen lässt.

K RIMINALROMAN , MÄNNLICHE I DENTITÄT UND L USTMORD Der Roman Finstere Seelen weist die Elemente des klassischen Kriminalromans, des whodunit, des Film Noir, des Thrillers und des Entwicklungsromans auf. Das Schema des klassischen Kriminalromans ist an den Prota-

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gonisten Benedikt Engel gebunden, der die Ermittlung offiziell leitet. Der Lustmord wird gemäß den Konventionen des Kriminalromans zum Antrieb der ganzen Geschichte bis hin zur Aufklärung, die mit dem Ende des Romans zusammenfällt. Benedikt liefert die für die Ermittlung relevanten Fakten und findet den Tatort des aktuellen Verbrechens. Er ermittelt letztendlich den ‚echten‘ Lustmörder beider Mordserien dank der logischen Zusammenstellung von Indizien. Der Kriminalroman ähnelt dem Typus eines whodunit, der die Routine der polizeilichen Arbeit darstellt.2 Dem whodunit gemäß wird der Roman aus der Erzählperspektive der männlichen Kriminalbeamten Benedikt und Thilo erzählt. Darüber hinaus wird die polizeiliche Ermittlung so detailliert dargestellt, dass der Roman einen Insider-Blick suggeriert. Nicht nur notwendige Expertisen und Ermittlungsprozeduren werden thematisiert, die zum Bestandteil fast jedes modernen Kriminalromans gehören, sondern auch interne Konflikte und Verwicklungen von verschiedenen Substrukturen der Polizei. Dabei erweist sich das Thema Lustmord mit seinen Zufallskomponenten als geeignet, Lücken im exekutiven System aufzudecken. Durch die zufällige Auswahl des Opfers verzögert sich die Mordaufklärung, was Spannungen im exekutiven System zur Folge hat, denn die Polizei wird während der Aufklärung mit ihrer eigenen Ohnmacht konfrontiert. Außerdem entstehen Interessenskonflikte, die sich aus der sozialen Position des Mörders ergeben. Da der Lustmörder der Sohn eines reichen Medienmagnaten ist, haben einige Kriminalbeamte in höheren Positionen – nicht zuletzt durch eine hohe Belohnung motiviert – Interesse daran, die Morde zu vertuschen. Das Thema Lustmord löst auf diese Weise die Grenze zwischen Verbrecher und Ermittler auf. Der Roman Finstere Seelen nähert sich gleichzeitig der Struktur des Film Noir. Allem voran bevorzugt Eckerts Roman eine filmische Erzählweise. In der Handlung dominieren Dialoge; der Perspektivenwechsel von Benedikt zu Thilo und von Thilo zu Benedikt suggeriert ähnlich wie bei der Hirnkönigin von Thea Dorn die Gleichzeitigkeit des Geschehens durch eine Nachahmung der filmischen Parallelmontage. Am Ende dynamisiert sich das Erzählte durch die Verknappung der Redeweise und die Verkürzung der Szenen sowie einen raschen Perspektivenwechsel. Beschleunigt wird die Entwicklung des Plots zudem durch eine Geiselnahme und eine Verfolgungsszene, die zu den typischen Bausteinen moderner Action-Filme und Thriller gehören.3 Darüber hinaus lassen die Gender-Konstellationen und die geschilderte Atmosphäre des Romans ein Noir-Skript erkennen. Die Hardboiled-Kriminalliteratur und ihre Umsetzung im Film Noir wird durch spezifisch ‚maskuline‘ Gender-Konfigurationen charakterisiert: Dieses Genre wird als eine 2 3

Die Definition eines whodunit ist entnommen aus E. Keitel: Kriminalromane von Frauen für Frauen, S. 21. Vgl. G. Seeßlen: Thriller, S. 28.

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populäre und urbane Fortsetzung der Western-Cowboys und Helden von James Fenimor Cooper gesehen.4 Der „letzte Mohikaner“ kämpft allein gegen eine korrupte Zivilisation, die einerseits mit mütterlich beschützenden Frauen oder Femmes fragiles und andererseits mit selbständigen, sexuell reifen Frauen, Femmes fatales, bevölkert ist.5 Männlichkeit bildet sich dabei aus der Auseinandersetzung mit den maskulinen Feldern von Gewalt, Ehre, Moral und Gerechtigkeit heraus, was als eine Kompensation des durch die Modernisierung und Urbanisierung bedingten Verlusts von männlicher Souveränität und Selbstbestimmung betrachtet wird. Eine düstere Atmosphäre von Dunkelheit, Nebel und Schattenspiel ergänzt das Noir-Genre. Im Roman Finstere Seelen schafft der fast ununterbrochen fallende Regen eine düstere, ausweglose Atmosphäre. Diese Genreelemente sind vor allem mit dem Protagonisten Thilo verbunden, dessen Identität im Prozess ihrer Herausbildung thematisiert wird. Er kämpft mit seinem Vorgesetzten Benedikt gegen die Korruption der Polizei. Den Weg zum Mannsein pflastern genregemäß zahlreiche Leichen. Thilo bringt mehr Menschen um als der Lustmörder. Mit seiner Figur werden Gewalt, Moral, Gerechtigkeit und Ehre in Zusammenhang gebracht. So wirft Thilo seinem Onkel mit Sarkasmus vor: „Was kostet es, euch beiden die Ehre abzukaufen?“ (S. 345) An anderer Stelle versucht der korrupte Onkel sich Thilo gegenüber zu rechtfertigen: „Ich habe meine Ehre verloren. Aber vielleicht gibt es Wichtigeres als die Ehre.“ (S. 350) Formale Modifizierungen des Genres sind durch Ort und Zeit der Handlung bedingt. Die Hardboiled-Kriminalliteratur von Raymond Chandler und Dashiell Hammett, die bis heute als filmische Vorlage dient, entstand in den USA in den 1920er bis 1950er Jahren. Der Roman Eckerts schildert Deutschland Ende der 1990er Jahre und thematisiert kulturelle Besonderheiten Deutschlands wie beispielsweise Multikulturalität. Bevorzugt der Film Noir Privatdetektive als Protagonisten, so treten in Finstere Seelen männliche Kriminalbeamte als Hauptfiguren auf, die jedoch entsprechend der NoirRegeln nicht nur die Kriminalität, sondern auch die Korruption innerhalb der polizeilichen Strukturen bekämpfen. Dies ermöglicht dem Roman, nicht nur die korrupte Welt generell zu fokussieren, sondern insbesondere das korrupte Gesetz. 4 5

Ebd.: S. 260-265. Vgl. E. Bronfen: „You’ve got a great big dollar sign where most women have a heart”, in: C. Liebrand/I. Steiner, Hollywood hybrid, S. 93-94. Nach Bronfen werden die klassischen Noir-Filme durch eine trianguläre Geschlechterkonfiguration charakterisiert. Die mütterlich beschützende Frau gibt dem Helden die Hoffung, der Korruption, die ihn umgibt, zu entkommen. Die sexuell freizügige Femme fatale instrumentalisiert den männlichen Helden für ihre Ziele. Sie definiert sich nicht durch das männliche Begehren, sondern benutzt ihre Sexualität als Waffe, um Männer zu dominieren. Dadurch stellt sie die patriarchalische Institution der Familie und Sexualität im Dienste der Fortpflanzung in Frage.

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Deutlich wird die Verschiebung im Genre durch die transformierten Geschlechterkonfigurationen. Nicht mehr ein ‚einsamer Wolf‘ zwischen Femme fragile und Femme fatale steht im Zentrum des Geschehens, das mit der Bestrafung der Femme fatale endet, sondern zwei Kriminalbeamte ermitteln in den Fällen schöner Leichen. Im Roman Finstere Seelen ist die weibliche Figur der Femme fatale eine tote Frau. Das wesentliche Charakteristikum des Film Noir bleibt zwar die Herausbildung einer männlichen Identität in der Auseinandersetzung mit der Außenwelt, jedoch wird diese Entwicklung nicht nur in der Konfrontation mit der Außenwelt, sondern vielmehr mit dem eigenen psychischen Trauma dargestellt. Das Motiv der schönen Leiche ist daher eine traumatische und dunkle Leerstelle in der Biografie jeder männlichen Figur, die verdrängt wurde und die während der Ermittlung wieder hervorkommt. So stellen die Protagonisten ihre Ermittlungen nicht an, um in einer korrupten Welt zu siegen – an dieser Stelle bleibt der Roman skeptisch –, sondern um ein persönliches Trauma aufzuarbeiten. Diese Gender-Konstellation bewegt sich daher nicht mehr innerhalb der heterosexuellen Geschlechtermatrix, sondern es entsteht eine homosoziale Beziehung zwischen den beiden Protagonisten. Die schöne Leiche wird also in Anlehnung an Eve Sedgwick6 zum Medium, das einen Kontakt zwischen beiden Männern ermöglicht, ohne sie unter den Verdacht eines homosexuellen Begehrens zu stellen. Dadurch wird es unmöglich, bürgerliche Normen wie die patriarchalische Familie und Sexualität im Dienste der Fortpflanzung, die mit der Femme fatale im traditionellen Noir-Szenario verhandelt werden, zu problematisieren. Darüber hinaus lässt es die schöne Leiche nicht zu, eine stabile männliche Identität herauszubilden. Da die Femme fatale nicht mehr im Roman vorhanden ist und ihre Bestrafung, die die männliche Identität stabilisiert, unmöglich ist, bleibt die männliche Identität Thilos instabil. Die schöne Leiche weist auf seine Versehrtheit und Verletzbarkeit hin, die nicht überwunden oder vergessen werden kann. Der Roman zeigt am Ende keinen omnipotenten Detektiv, wie er den Kriminalroman charakterisiert, sondern einen „gebrochenen“ und „angeschlagenen“ Mann (S. 410). Durch das Thema Lustmord finden auch filmische Thrillerelemente über serielle Sexual- und Lustmörder ihren Eingang in die Handlung. In Finstere Seelen ereignen sich die Morde in einem abgeschiedenen, verlassenen Lager der Filmfirma des Vaters von Konrad Oswald und am Ende des Romans in einer Garage. In Analogie zum filmischen Thriller führt der Roman das letzte Opfer schon am Anfang der Handlung ein. Durch die Polizeikollegin Ela Bach wird die für den Thriller typische Opferperspektive eröffnet, das heißt, es wird zu Beginn eine Opferfigur eingeführt, die am Ende des Romans gerettet wird. Nusser hält fest, dass die Leserinnen und die Leser so unmittelbar zum Zeugen des Verbrechens, seiner Vorbereitung und Ausführung 6

Vgl. Sedgwick Kosofsky, Eve: Epistomologie des Verstecks, in: Kraß, Andreas (Hg.): Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Queer Studies, Frankfurt am Main 2003, S. 113-143.

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werden.7 So baut Elas Entführung durch den Lustmörder und ihre Rettung durch ihren Freund Thilo die Spannung in der Tradition des Thrillers auf. Der Suspense wird dabei durch das Cross-Dressing zwischen Täter und Opfer sowie zwischen Täter und Ermittler intensiviert. Der Täter entpuppt sich gemäß dem Lustmorddiskurs als ein krankes Opfer seiner Triebe – eine Tradition der vorletzten Jahrhundertwende –,8 die Ermittler werden als Verbrecher entlarvt. Durch diese Verwischung von Gesetz und Lustmord dient der Roman Finstere Seelen der gesellschaftskritischen Aufklärung, die zwar einige Kriminalromane und Thriller charakterisiert, jedoch nicht zum Kennzeichen des kriminalen Genres gehört.9 Außerdem setzt das Cross-Dressing keine binäre Opposition zwischen Detektiv und Täter voraus, wie sie den Thriller und den Kriminalroman sonst kennzeichnet. Nicht der Lustmörder, sondern die psychischen Traumata beider Protagonisten stehen im Zentrum des Romans, so dass der Lustmörder eher ein Instrument ist, um die Entwicklung der männlichen Identität aufzuzeigen. Durch die Noir-Konstellation und die Verortung des Verbrechens in der Familie befinden sich beide Helden nicht mehr in der binären Opposition Protagonist – Antagonist, sondern in einer ödipalen Konstellation. Die ödipale Beziehung charakterisiert dabei fast jedes Verhältnis von Thilo zu anderen Männern: Zwischen Thilo und Benedikt, aber auch zwischen Thilo und seinem Freund Schalowski und zwischen Thilo und seinem leiblichen Vater sowie seinem Onkel wird der Ödipuskonflikt thematisiert. Die jeweilige Konstellation zeichnet sich durch verschiedene Arten der Beziehung wie Verrat, Begehren, Opposition, aber auch Zuneigung und Identifikation mit den symbolischen Vätern aus. Das ‚Böse‘ erscheint nicht mehr durch die narrative Position der Figur festgelegt zu sein, was beim Thriller oft der Fall ist, sondern es erscheint als ein Effekt der jeweils ödipalen Konfigurationen, die auswechselbar sind und die Ambivalenz der Figurenpositionen ausmachen. Durch das Thema Lustmord werden Elemente des psychologischen Entwicklungsromans eingebracht, die gemäß den Traditionen des Lustmorddiskurses die Motivation des Mörders erklären und seine Biografie rekonstruieren. Durch die Perspektive des Protagonisten Benedikt – er betreibt eine zwar inoffizielle, aber den Regeln des Kriminalromans entsprechende Er7

8 9

P. Nusser: Der Kriminalroman, S. 49. Als ein „geplantes Verbrechen, das unter Umständen eine Reihe bereits begangener Verbrechen fortsetzt, wird es zur Bedrohung und löst Reaktionen des Helden beziehungsweise der ingroup aus. […] Die Abwehr der Bedrohung fasziniert den Leser.“ Laut Nusser zeichnet sich der Thriller durch eine bipolare Figurenkonstellation aus, die er in ingroup und outgroup aufteilt. Bei Eckert werden die Protagonisten ödipal um Thilo konfiguriert. Vgl. M. Lindner: Der Mythos ‚Lustmord‘, in: J. Lindner, Verbrechen – Justiz – Medien, S. 272-305. Vgl. Nusser, Peter: Unterhaltung und Aufklärung: Studien zur Theorie, Geschichte und Didaktik der populären Lesestoffe, Frankfurt am Main 2000.

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mittlung – werden die kindliche Entwicklung des Lustmörders und sein psychologisches Porträt beleuchtet. Diese Erzählperspektive zeigt stereotype, trivialpsychologische Vorstellungen über Lustmörder, wie zum Beispiel Tierquälerei und Voyeurismus in der Kindheit und den Lustmörder als Opfer der alleinerziehenden Mutter. Diese Konstellation entspricht auch den Traditionen des Kriminalromans, in dem der Ermittler die Motive mittels der Rekonstruktion der Biografie aufdeckt.10 Die Elemente des Entwicklungsromans werden aber auch auf andere Figuren übertragen, denn verfolgt wird die Entwicklung der beiden männlichen Protagonisten. Weder Benedikt noch Thilo wären ohne die Morde an der Mutter und der Pflegemutter Polizisten geworden. Die Ermordung der Mutter, die zur Bedingung für die Mannwerdung wird, modifiziert auch den Diskurs über den Lustmord. Der Lustmord entpuppt sich durch die narrativen Strategien paradoxerweise nicht nur als Effekt der Fehlentwicklung der männlichen Identität, sondern gleichzeitig als ein notwendiger Bestandteil dieser Identität, der für die ‚normale‘ Entwicklung jedes Mannes vorausgesetzt wird. In der Kindheit des Lustmörders fehlt der traumatische Mord, der die Biografie beider Polizisten grundlegend prägt. Die Erfahrung eines radikalen Verlustes ermöglicht die Herausbildung einer ‚normalen‘ männlichen Identität.

D AS U NHEIMLICHE

ALS NARRATIVE

S TRUKTUR

Der Roman Finstere Seelen inszeniert narrativ das Freud’sche Unheimliche, wie die Ermittlung als Aufklärung der kindlichen Traumata beider Kriminalbeamten nahelegt. Für den Hauptkommissar Benedikt ist die Untersuchung der Lustmorde eine Bekämpfung eigener „Dämonen“ aus der Kindheit, die ihn seit dem miterlebten Mord an seiner Mutter verfolgen. Während seiner psychologischen Behandlung spricht er über sein Trauma: „Er redete sich den Ballast seiner Erinnerungen vom Leib, sprach über die Dämonen, die ihn heimsuchten, seit er ein Kind war […].“ (S. 64) Sein Assistent Thilo sucht nach dem Kannibalen – so wird der Lustmörder genannt –, um den Mörder für seinen kindlichen Verlust zu bestrafen. Dadurch hofft Thilo, sein Trauma, den Verlust des Objektes seines infantilen Begehrens, seine Pflegemutter Christa Zimmermann, zu heilen. Das Unheimliche ist nach Freud11 die Wiederkehr des Verdrängten, das dem infantilen psychischen Ich ehemals als das „Heimische“ und „Altvertraute“ bekannt war. Laut Freud zeigt die Vorsilbe ‚un‘ des Wortes Unheim10 Todorov, Tzvetan: Typologie des Kriminalromans, in: ders.: Poetik der Prosa, Frankfurt am Main 1972, S. 54-64, hier: S. 57-58. Die Kriminalgeschichte bringt nach Todorov eine bestimmte Form hervor, die die Geschichte des Verbrechens als Geschichte seiner Lösung konsequent erscheinen lässt. 11 S. Freud: Das Unheimliche, S. 227-268.

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lich die Marke der Verdrängung.12 Zu den Merkmalen des Unheimlichen gehören die „beständige Wiederkehr des Gleichen, die Wiederholung der gleichen Gesichtszüge, Charaktere, Schicksale, verbrecherischen Taten, ja der Namen durch mehrere aufeinanderfolgende Generationen.“13 Als Beispiel dienen für Freud unter anderem das „Doppelgängertum in all seinen Abstufungen und Ausbildungen“ und die partielle oder volle Identifizierung des Ichs mit dem Fremden, die „Ich-Verdoppelungen, Ich-Teilungen, IchVertauschungen“ hervorruft.14 Der Roman Finstere Seelen verhandelt das Freud’sche Unheimliche sowohl in seinem Aufbau als auch im Plot. Im Aufbau weist der Roman Ähnlichkeit mit einem Puzzlespiel auf, indem Indizien und Details in der Handlung verstreut eingefügt werden. Alle Einzelteile kehren später wieder und spielen eine wichtige Rolle. Zusammen mit der Figur Thilo, die als Identifikationsfigur dient, müssen die Leser die „Puzzleteile kombinieren“ (S. 400). Dadurch bändigt der Roman einerseits das Zufällige, das dem Lustmord innewohnt, indem er alle Details in eine logische Konstruktion einbettet. Andererseits zwingt der Roman zur ReLektüre, da die Wichtigkeit der scheinbar zufälligen Elemente erst spät deutlich wird. Es gibt kaum ein unwichtiges Detail in dieser streng komponierten Handlung, so dass jede Kleinigkeit einerseits das Geschehen vorwegnimmt, andererseits das Erzählen durch Déjà vu-Effekte entfremdet. Das Geschehene und das Gesagte werden mithin als Wiederholung und Wiederkehr des Bekannten präsentiert. Die Ermittlung, die am Ende der 1990er Jahre in Düsseldorf stattfindet, ist eine Wiederkehr der elf Jahre zuvor erfolgten Ermittlung, die damals nicht zu einer Lösung geführt werden konnte. Wie damals werden zwei Frauen umgebracht, ein Mord wurde vom Lustmörder und ein Mord von seinem Doppelgänger begangen, der das Begehren des Lustmörders imitierte – dies entspricht dem Repertoire des Unheimlichen. Elf Jahre später begeht derselbe Lustmörder erneut einen Mord, ein zweiter Mord ist erneut die Nachahmung durch einen Trittbrettfahrer. In den 1980er Jahren leitete Onkel Brauning die intern „Kommission Schlitzer [Hervorhebung im Text]“ (S. 44) genannten Ermittlungen. Sein Schwager, Hermann Becker, war Mordermittler, dem der damals junge Heinz Schalowski assistierte. Das gleiche Geschehen wiederholt sich elf Jahre später mit fast den gleichen Akteuren. Der Sohn Thilo Becker und Schalowski sind am Anfang der Handlung Partner, dann wird Thilo in die Mordkommission aufgenommen, die am Ende wie vor elf Jahren unter die Leitung seines Onkels Brauning übergeht. Das zweite Opfer ist in den beiden Ermittlungen eine Geliebte des Vaters Becker. Entsprechend werden mehrere Szenen als Wiederholung mit Bezug auf die Vergangenheit erzählt. So belauscht Thilo seine Familie wie damals: „Thilo musste wieder an die Nacht denken, als er

12 Ebd.: S. 259. 13 Ebd.: S. 246. 14 Ebd.

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die Frauen belauscht hatte. […] Thilo wurde klar, wann das gewesen war. Am Vorabend der Beerdigung von Christa Zimmermann.“ (S. 311) Sieht die Freud’sche Psychoanalyse die Ursache für das Unheimliche im verdrängten Trauma der Kindheit, dessen Schauplatz die eigene Familie ist, so inszeniert der Roman Finstere Seelen das Unheimliche ganz ähnlich. Die Ermordung und die Ermittlung führen immer auf die Familienbande Becker/ Brauning zurück. Thilo analysiert die Indizien: „Fehler, Firma, Familie, Schuld. […] Als gebe es einen Zusammenhang zwischen dem Kannibalen und dem Zwist seiner Eltern.“ (S. 312) Darüber hinaus werden die Wiederholung der Lustmorde und deren Untersuchung mit einem metonymischen Verfahren dargestellt, das bei Freud und Lacan die psychische Arbeit des Unbewussten charakterisiert. Das Geschehene wiederholt sich zwar, verschiebt sich jedoch. Die Ermittlung wird vom Vater auf den Sohn übertragen, die Lustmordopfer verweisen auf die Mütter, spätere Lustmordopfer verweisen auf frühere Lustmordopfer. Über metonymische Strategien der Handlung sagt auch das Motto des zweiten Teils des Romans, Katzenjammer, etwas aus, das einen Ausschnitt aus dem Film The Two Jakes (1990) von Robert Towne zitiert. Das Epigraph weist auf die Metonymie von Erinnerungen und Assoziationen als Nebenwirkung des Detektivberufes hin: „Jeder neue Fall erinnert einen an Dinge, die man hätte tun sollen, an, was gewesen wäre, wenn. Und jeder Rock erinnert einen an eine andere Frau. Und wenn’s einen mal ganz schlimm erwischt hat, immer an dieselbe Frau.“ (S. 142) Im Roman Finstere Seelen erinnern Thilo fast alle Frauen an das zweite Opfer Christa Zimmermann. Die aktuelle Mordermittlung stellt sich also als Arbeit des Unbewussten dar, die die traumatische Vergangenheit wieder aktuell werden lässt und sie durch Wiederholung in Analogie zu den Methoden der Psychoanalyse therapiert. Freud zählt den Wiederholungszwang, den er einem Vorgang des unbewussten Verdrängten zuschreibt, zum grundlegenden Mechanismus des psychischen Apparates, der der Bewusstseinswerdung durch die Aufarbeitung des Traumas zugrunde liegt. Die Wiederholung ist nach Freud das „Wiederfinden der Identität“.15 So schafft der Roman einen Raum für diese psychoanalytisch geprägte Identitätsbildung des männlichen Subjektes, das heißt, die Figuren werden mit dem Verdrängten und dem Traumatischen aus der Vergangenheit konfrontiert, um ihre männliche Identität entweder zu stabilisieren (Benedikt) oder herauszubilden (Thilo).

15 S. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 37.

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VERSEHRTE MÄNNLICHE

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S UBJEKT

Weiblichkeit als Sinnbild des Mangels Die prominente schöne Leiche wird zum Dreh- und Angelpunkt des Romans Finstere Seelen, da sie zum einen wiederholt in der Handlung auftaucht und zum anderen das durch das Kriminalgenre bedingte Rätsel bildet. Es gibt im Roman mehrere schöne Leichen, die aufeinander verweisen und einander substituieren. Die Opfer lassen sich in ‚echte‘ und ‚unechte‘ Lustmordopfer unterteilen und sie stehen mit allen weiblichen Figuren durch ihre Ähnlichkeit oder durch die narrativen Strukturen in Verbindung. Die Kollegin und Geliebte Ela Bach erinnert Thilo beispielsweise an die ermordete Krankenschwester Landwehr, das zweite ‚echte‘ Opfer der aktuellen Lustmordserie. Thilo denkt an seine Geliebten oft im Zusammenhang mit Christa und dem Lustmörder: „Ohne seine Gedanken steuern zu können, wanderten sie – von Ela und Antje zu Christa Zimmermann und dem Kannibalen.“ (S. 129) Die Geliebte Benedikts, Sonja Thiele, wird ebenfalls mit den Opfern verknüpft, was ihren eigene Opferstatus vorwegnimmt: „Ben sah Sonja in die dunklen Augen und versuchte, die Gedanken an tote Frauen zu verjagen.“ (S. 73) Die ‚echten‘ Lustmordopfer besitzen dem Diskurs über Lustmord entsprechend einen zufälligen Charakter und haben im Roman Finstere Seelen eine genrebedingte Funktion. Sie stellen sich als durch das Kriminalgenre bedingte Leerstellen dar, die durch die Ermittlung gefüllt werden müssen. Die ‚echten‘ Opfer treiben also die Handlung und die Ermittlung voran, sie verweisen auf ihre Mörder und befördern so die Ermittlung. Das zweite ‚echte‘ Opfer, die Krankenschwester Landwehr, initiiert die Handlung und lässt die Geheimnisse der früheren Ermittlung zurückkehren. Das erste ‚echte‘ Lustmordopfer, Helga Neumeier, führt die Ermittler in Analogie zum Film Das Schweigen der Lämmer zum Mörder – der Roman zitiert den berühmten Satz des „Kannibalen“ Hannibal Lecter, dass der Mörder das Vertrauteste und Allbekannte begehrt (S. 277). Nach diesem Hinweis findet die FBI-Agentin Clarice Starling im Film den Mörder Buffalo Bill aufgrund seines ersten Opfers, das mit ihm zusammen gearbeitet hat und mit ihm bekannt war. In Eckerts Roman findet Benedikt Engel den Mörder durch die Aussage der Mutter des ersten Opfers, die auf den Nachbarsohn Konrad Oswald hinweist. Jedoch ist schwer zu definieren, inwiefern sich die ‚echten‘ Opfer von den ‚unechten‘ unterscheiden. Der Roman vermischt sie, indem die ‚echten‘ auf die ‚unechten‘ verweisen und umgekehrt. Darüber hinaus werden die ‚unechten‘ Lustmordopfer zum ‚echten‘ Grund der Ermittlung, so dass die ‚unechten‘ Opfer die Handlung ebenfalls vorantreiben. Christa wird für Thilo zur Hauptmotivation der Ermittlung: „Am liebsten hätte Thilo allein weitergemacht – der Gedanke an Christa hielt ihn unter Strom.“ (S. 117) Diese Vermischung von ‚echten‘ und ‚unechten‘ Lustmorden, also die Imitation des lustmörderischen Begehrens, positioniert auch die ‚unechten‘ Opfer im

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Kontinuum des lustmörderischen Begehrens, zumal Christa und Sonja Objekte des Begehrens von Vater und Sohn Becker sind. Beide Frauenfiguren werden als Opfer zu Zeichen für das verdrängte männliche Begehren, das nur mithilfe der weiblichen Leichen als das Unheimliche zurückkehrt. Zugleich stellt die Imitation des lustmörderischen Begehrens die Authentizität der ‚echten‘ Lustmorde in Frage: Entweder existiert der Lustmord nicht, da jeder ihn nachahmen kann, oder alle Morde im Roman sind Lustmorde. Die Position des Lustmörders wird dadurch selbst zu einer Leerstelle, die jeder unabhängig von seiner Geschlechtszugehörigkeit einnehmen kann. So wird auch Thilos Mutter zur Lustmörderin. Im Rahmen der psychoanalytischen Subjektwerdung sind die ‚echten‘ und ‚unechten‘ Lustmordopfer Signifikanten des Mangels. In Hinsicht auf Vatergesetz und -ordnung versinnbildlichen die weiblichen Opfer sowohl den Tod, also die Lücke im Sinnstiftungsprozess, als auch die Korruption, die die Vaterordnung unterläuft. Die Opfer stehen für das Nicht-Funktionieren des Gesetzes und der symbolischen Ordnung. Die Lustmorde sind vom Sohn eines Medienmagnaten begangen worden, dessen Reichtum es dem Täter ermöglicht, ohne Bestrafung davonzukommen. Die Polizisten vertuschen seine Taten und begehen die Lustmord-Imitate, um ihre Geschäfte in Ordnung zu halten. Dementsprechend sind die ‚echten’ und ‚unechten‘ Lustmordopfer Sinnbild für den Mangel in der Subjektkonstruktion beziehungsweise für die Kastration des männlichen Subjektes, die sich beide in dieser korrupten Ordnung herausbilden. Das Opfer Christa erinnert an den Verlust des Begehrens und die traumatische Erfahrung des Mangels, den der Protagonist Thilo auszugleichen versucht. Paul Zimmermann verkraftet den Tod seiner Frau Christa nicht und nimmt sich nach einem langen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik das Leben: „Er hat Christas Tod nie überwunden.“ (S. 372) Auch im Zusammenhang mit dem anderen ‚unechten‘ Opfer Sophie wird der Verlust thematisiert: „Er [Benedikt, Anm. d. Verf.] dachte jetzt an Sonja. Das Gefühl eines grenzlosen Verlustes erfasste ihn […].“ (S. 304) Der Vater Hermann Becker wird in Folge von Christas Ermordung zum Versager – er gibt die Ermittlung auf und verlässt die Polizei, während Schalowski zum Alkoholiker wird – und die unbeendete Ermittlung macht seinen Karrierenaufstieg unmöglich. Beide Figuren verlieren ihre Männlichkeit. Letztendlich erscheint auch Brauning, die väterliche Instanz, als korrupte und mörderische Figur: „Sein [Thilos, Anm. d. Verf.] Onkel kam seit elf Jahren mit seiner Schuld zurecht. Er war beruflich aufgestiegen und seine Frau verdiente prächtig an der Firma, die dank der Oswaldkohle florierte.“ (S. 386) Die Lustmordopfer verweisen aber zugleich auf die Mutter, die als Urheberin des Mangels fungiert. Kapitalismus und Korruption als ‚weibliche‘ Phänomene Im Roman werden vier Mütter dargestellt: die namenlose Mutter von Benedikt Engel; die Mutter von Thilo, Renate; ihre Schwester Gerda, die auch

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Mutter ist, und die Mutter des Lustmörders Konrad. Die Mutter von Benedikt tritt ausschließlich als schöne Leiche auf. Sie spielt daher in der weiteren Handlung kaum eine Rolle und fungiert lediglich als Signifikant des Traumas ihres Sohnes. Er erinnert sich an sie im Zusammenhang mit den Lustmordopfern: „Ben lehnte sich zurück und blickte in das unbekümmerte Gesicht von Britta Landwehr [das zweite ‚echte‘ Opfer, Anm. d. Verf.]. Er schloss die Augen und sah vor seinen Lidern das Bild seiner Mutter: verquollene Augen, aufgeplatzte Lippen, Tränen mischten sich mit Blut.“ (S. 116) Vermutlich kann diese Darstellung als Rache an Benedikts Mutter gedeutet werden, weil sie immer verletzt beschrieben wird. Die anderen, noch lebenden drei Mütter werden äußert negativ dargestellt; sie sehen unter anderem abstoßend aus. Thilos Mutter ist „alt“ und „verletzlich“ (S. 378), „dürr“ und „zerbrechlich“ (S. 84), Thilo empfindet für sie nichts als Mitleid (S. 380). Sie ist gierig und profitorientiert, ihr Hauptinteresse gilt nur ihrer Sicherheitsfirma: „Mutter konnte eben nie genug bekommen, dachte Thilo.“ (S. 120) Thilos Tante Gerda wird ebenso negativ dargestellt. Sie ist eine „Nervensäge“: „Halt den Mund, Tante, dachte Thilo. Du machst es nur noch schlimmer.“ (S. 305) Die Mutter des Lustmörders Oswald, Claudia Noethe, ist zu einer Alkoholikerin mit „leicht aufgeschwemmten Zügen“ geworden (S. 325). Alle drei Mütter verweisen auf das Verdrängte. Thilos Mutter verheimlicht ihren Mord an Christa, die in der Vergangenheit die Mutterrolle für Thilo übernommen hatte. Tante Gerda versucht Thilos Mord an den Aussiedlern zu verharmlosen und in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Mutter des Lustmörders verdrängt die Existenz der symbolischen Vaterordnung. Sie schafft sich ihre eigene künstliche Puppenwelt – auch diese entspricht dem Repertoire des Unheimlichen und deuten auf die Herrschaft eines infantilen Begehrens hin. Als die Polizisten sie besuchen, sehen sie eine Wohnung voll von Puppen: „Auf den Sesseln und dem Sofa, auf der Kommode, sogar auf dem Fernsehgerät: überall thronten Puppen. Billige Kopien von Käthe-Kruse-Geschöpfen, Kindsköpfe mit großen Kugelaugen und in romantischen Kleidchen. Stofftiere füllten die Regale, wo andere Leute Bücher hatten.“ (S. 325) Alle lebenden Mütter sind also Hassobjekte ihrer Söhne, da sie deren Fehlentwicklung verursacht haben oder an deren Mangelerfahrung – Verlust und Kastration – erinnern. Tante Gerda erweist sich für ihren Sohn als schädlich, da er drogensüchtig wurde und Selbstmord beging. Die alleinerziehende Mutter des Lustmörders erscheint gemäß der psychoanalytischen Annahme im Roman Finstere Seelen als Ursache des lustmörderischen Begehrens ihres Sohnes. Die zentrale Rolle spielt jedoch Thilos Mutter. Sie erinnert nicht nur an dessen verlorenes Objekt des Begehrens, Christa, sondern stellt sich selbst als Mangelwesen dar und weist somit auf Thilos eigene Versehrtheit und Verletzbarkeit hin. Der Roman inszeniert damit psychodynamische Prozesse männlicher Identitätsbildung, wie Lacan sie beschreibt. Einerseits stellt die Mutter Thilos eine mächtige Figur dar, da sie

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auf dem Zenit einer erfolgreichen Businesskarriere angekommen ist und gerade dabei ist, in der Politik Fuß zu fassen, andererseits erscheint sie ohnmächtig und ‚kastriert‘. Nach Lacan deutet die Position der Mutter immer auf ihren eigenen Mangel und entsprechend auf den Mangel des Sohnes hin: „Sobald das Subjekt im Objekt, dessen Allmacht es erwartet, diesen Mangel bemerkt, der ihn selbst machtlos macht, wird die letzte Instanz der Allmacht jenseits davon verschoben, und zwar dahin, wo etwas nicht mehr voll existiert. Das ist das im Objekt, was nichts als Symbolismus des Mangels, Zerbrechlichkeit, Kleinheit ist.“16 Abgesehen von den Attributen „zerbrechlich“ und „dürr“, die auf den Mangel der Mutter deuten, ist in diesem Zusammenhang eine Szene zu erwähnen, die die Mutter als ‚kastriertes‘ Wesen ausweist: Als Thilo mit seiner Mutter wegen Christa streitet und der Mutter ihre ständige Abwesenheit vorwirft, zerdrückt die Mutter aus Wut das Schnapsglas in ihrer Hand und lässt ihr Blut aus der Schnittwunde fließen – eine Manifestation der ‚Kastration‘. (S. 137). Durch diese misogyne Darstellung der bösen Mutter legt der Roman die starke Abwehr gegen das Weibliche offen. Der soziale Aufstieg der Frauen wird als Bedrohung für die Gesellschaft angesehen. Alle drei Mütter sind berufstätige Frauen, die deswegen als schlechte Mütter dargestellt werden, da sie keine Zeit für ihre Mutterpflichten haben. So beschimpft Thilo seine Mutter, die ihn gebeten hat, mit ihr zusammen an Silvester zu einem politischen Empfang zu gehen: „Wenn es um deine Beziehungen geht, brauchst du mich plötzlich. Als ich eine Mutter brauchte, warst du nie für mich da.“ (S. 137) Thilo denkt oft mit Hass an seine Mutter: „Seine Mutter schob ihn zu Christa ab – und war eifersüchtig, weil er sich dort wohler als zu Hause fühlte.“ (S. 85) Auch die Trunksucht der Mutter des Lustmörders und ihre Promiskuität werden mit ihrer Berufstätigkeit in Zusammenhang gebracht: „Sicher hab ich getrunken, das lag am Job und ich war manchmal ungerecht zu dem Jungen. Zu wenig für ihn da. Ich dachte immer, wenn ich einen Mann bei mir habe, wird es besser. Aber Konni [Konrad, der ‚echte‘ Lustmörder, Anm. d. Verf.] konnte keinen meiner Freunde leiden.“ (S. 339) Weibliche Arbeit steht also entweder jenseits des Gesetzes oder erscheint im Zusammenhang mit Prostitution. Die Sicherheitsfirma Fichte, die von den beiden Schwestern Renate und Gerda (Thilos Mutter und Tante) erfolgreich geleitet wird, erhält ihre Aufträge durch Affären und schwarze Geschäfte. Ihrem Erfolg liegen außerdem zwei Morde zugrunde. Der ‚echte‘ Lustmord bringt der Familienfirma durch die Erpressung des Medienmagnaten Oswald Geld; der zweite Mord, die Imitation des Lustmordes, hält die Familie Becker zusammen (der Lustmord verhindert die Scheidung der Eltern, weil Herrmann seine Frau Renate verlassen wollte), dadurch werden Expansion und Erfolg der Firma sichergestellt. Der Wohlstand der Familie Becker wird also durch die schönen Leichen erlangt. Entsprechend wird ihr 16 Lacan, Jacques: Das Seminar IV (1956–1957): Die Objektbeziehung, Weinheim; Berlin 1986, S. 169.

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Reichtum wiederholt in Zusammenhang mit Christas Tod erwähnt (S. 50, 79). Die Firma Fichte korrumpiert zudem das Staatssystem, indem sie die Polizei unterwandert und das eigentlich staatliche Gewaltmonopol übernimmt. Die Korruption wird mit der Prostitution gleichgesetzt – beide sind Signifikanten der weiblichen Arbeit.17 So denkt Thilo über seine Familienfirma: „Für ihn waren Mietbullen nicht besser als Prostituierte, seine Eltern und Tante Gerda so etwas wie Zuhälter der Sicherheitsbranche.“ (S. 84) Auch die Mutter des Lustmörders wird als Prostituierte gedeutet – sie arbeitete in einer Kneipe –, ein Job, mithilfe dessen ihr promiskuitiver und asozialer Charakter betont wird. Nicht zufällig sind die ‚unechten‘ Opfer die untreuen Frauen Christa und Sophie – eine Rache an den Frauen, deren Begehren nicht den paternalistischen Normen unterliegt. Über Christa enthält der Text wenig Information – sie beschränkt sich zunächst auf Kindheitserinnerungen Thilos, die durch seine leibliche Mutter am Ende des Romans korrigiert werden. Christa als Geliebte von Hermann Becker erweist sich in erster Linie als eine untreue Ehefrau. Sophie, die Geliebte von Hermann Becker und Engel, ist berufstätig. Sie ist selbständig; die offizielle Arbeit in einer Kunstgalerie bringt ihr aber kaum Gewinn. So versucht sie, durch die Erpressung Oswalds Geld zu verdienen (S. 398), nachdem sie von ihrem Geliebten Hermann Becker vom ‚echten‘ Lustmörder erfährt. Sie nutzt somit das Vertrauen ihres Geliebten aus. Abgesehen von diesem negativen Bild der Frau macht die Erpressung den gesetzlosen Charakter der weiblichen Arbeit deutlich. Gleichzeitig sagt es viel über die (fehlenden) Möglichkeiten der Frauen aus, finanziell unabhängig zu sein, wenn sie ihr Geld lediglich durch Verbrechen verdienen können. Der Roman verknüpft die Figur Sophie außerdem mit dem ‚Primitiven‘, Exotischen und Fremden, denn in der Galerie werden afrikanische Kunstgegenstände verkauft. Den misogynen ästhetischen Traditionen entsprechend werden also unkontrollierbare Prozesse als weiblich signifiziert. Der Polizei als Gesetzeshüter der männlichen Ordnung wird das weiblich codierte Privatunternehmen gegenübergestellt. Die Schwestern Renate und Gerda erben die Firma ihres Vaters, die unter ihrer Leitung aufblüht und als weiblich konnotierte ‚Masse‘ weiter expandiert (S. 347). Die finanziellen Erfolge der Sicherheitsfirma stehen für eine gesetzlose Kapitalismusexpansion, die die männlichen Subjekte als einen traumatisierenden Mangel in Analogie zur Kastration erfahren. Der Geldfluss, der die männliche Ordnung laut Theweleit18 zu überfluten und männliche Subjekte aufzulösen droht, wird im Roman als weiblich und daher negativ gefasst. Geld heißt „Knete“, es formt das männliche 17 In den 1980er Jahren werden im Film viele arbeitende Frauen thematisiert, die auch im Zusammenhang mit Sexualität und Prostitution dargestellt werden. Vgl. Tasker, Yvonne: Working Girls: Gender and Sexuality in Popular Cinema, London; New York 1998. 18 K. Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1, S. 314-362.

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Subjekt um beziehungsweise verstümmelt es und zwingt es zum Verzicht auf die traditionell männlichen Bereiche von Gerechtigkeit, Ehre und ‚Wahrheit‘. Schalowski erklärt Thilo – später sagt der Medienmagnat Oswald ihm Ähnliches (S. 335) –, warum man zu Geld „Knete“ sagt: „Weil man sich Menschen damit kneten kann, wie man sie haben will.“ (S. 222) Den korrupten Onkel Brauning nennt der Roman entsprechend „Knetmasse“ (S. 337), er wird zum Subjekt ohne feste Grenzen, zur formlosen weiblichen Masse. Auch andere Männerfiguren, die über Geld verfügen, werden entweder verweiblicht oder durch den Kapitalfluss vernichtet. Sie werden dabei – eine Ausnahme bildet Onkel Brauning – in Analogie zu der Weiblichkeitsdarstellung in der Handlung marginalisiert, so dass sie auch formal effeminiert werden. Der leibliche Vater Thilos wechselt zum Familienunternehmen seiner Ehefrau und wird, anstatt Ermittlungen über den Mord an Christa anzustellen, zu einem „Mietbullen“, also zu einem Prostituierten nach der Definition seines Sohnes (S. 84). Der Medienmagnat Oswald als Zentrum des Kapitals trägt aus Angst vor Bakterien einen Mundschutz. Nicht nur die Angst ist Merkmal seiner Verweiblichung, sondern auch die Maskierung des Gesichtes. Sein Sohn, der Lustmörder Konrad, erwirbt keine ‚normale‘ männliche Identität und maskiert sich auf der Flucht, indem er sich die Haare färbt. Werden die Männer durch das Geld nicht effeminiert, so hat es für sie geradezu tödliche Folgen. Der Partner Thilos, Schalowski, und der vom Vater angestellte Bewacher des Lustmörders, Winter, werden umgebracht, da sie Geld für ihr Schweigen erpresst haben. Der Kapitalismus erscheint mithin als unkontrollierbarer Prozess, an dem die männlichen Subjekte des Romans scheitern und der sie zu verstümmeln droht. Diese Mangelerfahrung kann entweder durch massive Gewalt oder durch Verbrechen ausgeglichen werden. Der kapitalistischen, weiblichen Welt des Geldes und des Betruges stehen die männliche Gewalt und die prinzipielle Weigerung der Männerfiguren gegenüber, für etwas zu bezahlen. Thilo bringt seinen Onkel, die korrupteste Figur des Romans, um; die Polizisten erpressen kleine Verkäufer und Drogensüchtige, um Essen und Getränke kostenlos zu erhalten, und sie nutzen Prostituierte für ihre Feste aus, ohne sie für ihre intimen Dienstleistungen zu bezahlen (S. 93-101). Die Inszenierung des Ödipuskomplexes Die Figuren um Thilo sind in einer ödipalen Konstellation arrangiert, so dass alle männlichen Figuren die Rolle eines symbolischen Vaters einnehmen. Die Identifikation mit dem Vater erfordert eine traumatische Erfahrung des Verlustes beziehungsweise der Kastration des männlichen Subjektes. An dieser Stelle schreibt der Roman Freud’sche Psychoanalyse im Sinne Kristevas um. Das männliche Subjekt identifiziert sich mit dem Vater nicht, um die Kastration zu vermeiden, sondern die Kastration ist Sinnbild für den unabdingbaren Verzicht auf infantiles Begehren, nach dessen Verlust erst die

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Identifikation und mithin die Subjektbildung möglich wird. Diese Subjektwerdung geht nach Kristeva19 mit der Verwerfung beziehungsweise Abjektion des mütterlichen Körpers einher. Erst muss der Mutterkörper verworfen werden, um Spielraum für eine Eingliederung in die symbolische Ordnung entstehen zu lassen. Die abjekte Leiche kann dabei als Äquivalent des niemals objektivierbaren mütterlichen Körpers verstanden werden: „Mutter und Tod, beide verabscheut und verworfen, verbinden sich heimlich zu einer Opfer- und Verfolgungsmaschine; im Kampf mit ihr werde ich Subjekt des Symbolischen und zugleich das Andere des Abjekts.“20 Daher liest Kristeva die ekelhafte Alte und die verwesende Leiche in den ästhetischen Repräsentationen als Chiffre für die abjekte Mutter, die jede Subjektwerdung in der paternalen Ordnung voraussetzt. Die erste ödipale Situation spielt sich bei Eckert zwischen Christa Zimmermann, dem Vater und dem Sohn Becker ab. Sowohl der Vater als auch der Sohn begehren Christa. Thilo wünscht sich sogar, dass Christa und sein Vater zusammenbleiben: „Thilo erinnerte sich, dass er sich die beiden manchmal als Paar vorgestellt hatte. Sie hätten zusammengepasst, zumindest in der Phantasie des Jungen, der sich zugleich ein wenig schuldig fühlte, weil der Gedanke ein Verrat an Mutter war.“ (S. 80) Darüber hinaus weist der Roman auf die ödipale Situation zwischen Vater und Sohn dadurch hin, dass Thilo hinsichtlich seines Charmes mit dem Vater zu konkurrieren versucht (S. 178). Christa wird zum Signifikanten des unsignifizierbaren, präödipalen mütterlichen Körpers. Ihre Ermordung stellt für Thilo eine Trennung vom Körper der Mutter dar: „Christa war meine eigentliche Mutter und ich bin froh, dass ich wenigstens sie hatte.“ (S. 137) Ihren Verlust erlebt Thilo als eine Art symbolische Kastration: „Der Kannibale markierte das Ende seiner Jugend – mit Blut. Danach war nichts mehr wie zuvor.“ (S. 50) Zugleich sichert ihre Ermordung Thilo den Eintritt in die Vaterordnung, indem das inzestuöse Begehren unterbrochen wird und ein Spielraum für den Ödipuskomplex entsteht, denn sie wird zur Vorraussetzung seiner sozialen Entwicklung. Thilo wird durch die Suche nach dem Mörder Christas zum Kriminalbeamten: „Seine Eltern haben ihm davon abgeraten, die Polizeilaufbahn einzuschlagen. Für Thilos Argument, dass Christas Mörder noch immer frei herumlief, hatten sie kein Verständnis. Ihre Versuche, ihm andere Berufe nahe zu legen, hatten Thilo in seinem Beschluss nur verstärkt.“ (S. 51) Der Ödipuskomplex wird ebenfalls wiederholt, da die Vaterfiguren wegen ihrer Defizite von Thilo als Identifikationsfiguren abgelehnt werden. Thilo bleiben Unversehrtheit und Unverletzbarkeit versagt. Damit weisen 19 Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’Horreur. Essais sur l’Abjection, S. 131. In der Analyse wird die bei Winfried Menninghaus verwendete Übersetzung zitiert. Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 528. 20 J. Kristeva zitiert nach Menninghaus: S. 528.

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die Väter die symbolische Ordnung, die zwar patriarchalisch ist, jedoch nur mangelhafte männliche Subjekte hervorbringt, als defizitär aus. Die Identifikation Thilos wechselt daher von einem symbolischen Vater zum anderen. Anstelle von Thilos Vater, einem ehemaligen Polizisten, wird sein Onkel, der Thilo aus dem Drogenumfeld rettet und als Kriminalbeamten in das Vatergesetz einführt, zur Identifikationsfigur. Als mächtigste Figur des Romans – er ist Hauptkommissar – verkörpert er die Vaterordnung und das Vatergesetz. Onkel Brauning und Tante Gerda befinden sich mit Thilo in einer ödipalen Dreiecksbeziehung, zumal dieses Paar seinen eigenen Sohn verliert und so Thilo als Sohn behandelt. Identifiziert sich Thilo mit seinem Onkel, opfert er das homosexuelle Begehren, das nach Judith Butler schon vor der ödipalen Situation reglementiert wird: „Diese Heterosexualität kommt nicht nur durch das Inzestverbot zustande, sondern zuvor schon durch die Durchsetzung eines Verbotes der Homosexualität. Der ödipale Konflikt setzt voraus, daß das heterosexuelle Begehren bereits [Hervorhebung im Text] ausgebildet ist […].“21 Der Roman hält zwar die genannte Reihenfolge der Verbote nicht aufrecht, jedoch stellt sich in dieser ödipalen Situation die männliche Identitätsbildung als Auslöschung der Homosexualität dar. Ein Schwulenpaar, zwei Aussiedler aus Kasachstan, wird von Thilo aus Rache wegen des Mordverdachtes im Fall Schalowski umgebracht, während er in der Abteilung seines Onkels arbeitet. Die Aussiedler erscheinen in Analogie zum Weiblichen als das radikal Andere gegenüber dem männlichen Selbst. Sie sind Fremde und überfallen Tankstellen – sie versuchen ebenfalls auf verbrecherische Weise an Geld zu kommen –, agieren also jenseits des Gesetzes wie die Frauenfiguren. Parallel thematisiert der Roman eine Dreiecksbeziehung zwischen Thilo, seinem Freund und Partner Schalowski und dessen Ehefrau Antje, die dem Ödipuskonflikt ähnelt. Der Freund und seine Ehefrau sind älter als Thilo, und er nennt Schalowski „seinen Lehrmeister“ (S. 171). Er rettet Thilo das Leben, als dieser bei einem der ersten Einsätze lebensgefährlich mit einem Messer – wieder ein Symbol der Kastrationsschnitte – verletzt wird. Mit Antje hat Thilo eine heimliche Liebesaffäre. Die letzte Identifikationsfigur wird für Thilo der Hauptkommissar Benedikt Engel, zwar ein traumatisiertes Subjekt, jedoch ein ‚ehrlicher‘ Polizist. Alle diese männlichen Figuren stellen mögliche Entwürfe für Thilos zukünftiges Leben dar. Je nachdem mit wem Thilo sich identifiziert, erwartet ihn der entsprechende Lebensweg. Wenn er sich mit seinem Vater identifiziert, würde er von der Polizei zum Privatunternehmen wechseln und zum erfolgreichen Geschäftsmann werden, denn der Vater beharrt darauf, dass Thilo sein Nachfolger im Familienbetrieb wird. Der Preis dafür ist, in kriminelle Geschäfte einzusteigen und durch den Kapitalismus verweiblicht zu werden. Wenn Thilo sich mit Schalowski identifiziert, bliebe er in der Altstadtwache und würde wie Schalowski zu einem Alkoholiker und impoten21 J. Butler: Psyche der Macht, S. 127.

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ten Mann werden: „Er [Thilo, Anm. d. Verf.] hatte keine Lust, wie sein älterer Partner Heinz Schalowski zu enden: als Trinker, der zusehends verfettete, als Zyniker, dem sogar das eigene Leben gleichgültig schien.“ (S. 11) Wenn er sich mit seinem Onkel Brauning identifiziert, wäre er zwar erfolgreich in seiner Polizeikarriere, müsste dafür jedoch korrupt werden. Identifiziert er sich mit dem Hauptkommissar Engel, müsste er lernen, seine durch das Trauma verursachten lustmörderischen „Dämonen“ zu bändigen, um zu einem ‚ehrlichen‘ Polizisten zu werden. Letzterer stellt sich, mit Foucault gesprochen, als (selbst-)domestiziertes und -diszipliniertes Subjekt dar, das die Disziplinarmechanismen der Subjektwerdung reflektiert. Diese Figur wird zum Symbol der ‚Wahrheit‘ und ‚Gerechtigkeit‘, die der kapitalistischen, korrupten, verweiblichten Ordnung gegenübersteht. Thilo lehnt sowohl die profitorientierte ‚weibliche‘ Ordnung, die seine Eltern und der Medienmagnat Oswald repräsentieren, als auch das korrupte Gesetz ab, das sein Onkel Brauning verkörpert. Geld und männliche Ehre sind im Roman unvereinbar. Thilo gibt der Witwe Antje Schalowski das Geld Oswalds, das er für die Rettung von dessen Tochter erhält.22 Mit dem Verzicht auf das Geld begeht er eine ehrenhafte Tat. Durch die Ermordung seines Onkels weist er das korrupte Gesetz zurück. Mit dem Mord am Lustmörder stellt er ‚Gerechtigkeit‘ her, indem er den Täter in einem Akt der Selbstjustiz hinrichtet. Durch diese massive Gewalt identifiziert Thilo sich mit dem nicht weniger gewalttätigen Benedikt Engel und stellt ‚Gerechtigkeit‘, ‚Ehre‘ und ‚Wahrheit‘ her. Diese letzte Identifikation kann aber als Kritik an der patriarchalischen Ordnung gelesen werden, die als eine ausweg- und hoffnungslose gesellschaftliche Formation erscheint. Zum einen findet der Roman keinen überzeugenden Männlichkeitsentwurf außer dem des traumatisierten, lustmörderischen Hauptkommissars Engel, der seinen Destruktionstrieb unter Kontrolle halten muss. Zum anderen bleibt die korrupte Ordnung weiterhin bestehen: „Die einen waren tot, die anderen würden vielleicht nicht einmal ins Gefängnis gehen. Hermann und Renate Becker – es gab gute Anwälte. Auch Staatsanwälte, Gutachter, Richter und die Medien waren oft überfordert, wenn sie über Schuld zu urteilen hatten.“ (S. 410) Auch die Zukunft Thilos stellt sich hoffnungslos dar: „Ben überlegte, was er wirklich an Thilos Stelle getan hätte. Schwer zu sagen – kein Vater mehr, keine Mutter. Nie einen Onkel gehabt. Er kam zu dem Ergebnis, dass er es wirklich nicht wusste. […] Vielleicht nicht einmal in zwanzig Jahren. Wenn du überhaupt so lange lebst.“ (S. 411) Die existierende Ordnung ist nicht zu eliminieren oder zu ändern; sie produziert lediglich mangelhafte und traumatisierte Subjekte, für die es keine Rettung gibt: „Es gab keine perfekten Menschen, nur gebrochene, angeschlagene.“ (S. 410). 22 Die Tochter Oswalds hat bei ihren homosexuellen Freunden aus Kasachstan Zuflucht vor ihrem Vater gefunden. Als Thilo die beiden unschuldigen Männer umbringt, wird er in den Medien als heroischer Befreier der Tochter dargestellt. Von Oswald bekommt er für die vermeintliche Befreiung Geld.

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D ER

SYMBOLISCHE

V ATER

ALS

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Thilos Onkel, Frank Brauning, fungiert im Roman Finstere Seelen am deutlichsten als symbolischer Vater und verkörpert so das patriarchalische Gesetz. Er gehört zu den hochgeschätzten Autoritäten der Polizei und wird für den „härtesten Bullen der gesamten Behörde“ gehalten (S. 132). Der Name Brauning deutet auf die Marke der Pistole Browning hin, was seine phallische Macht- und Gewaltposition zum Ausdruck bringt – er ist der erste Hauptkommissar und Leiter der elitären Abteilung für organisierte Kriminalität, verfügt über großen Einfluss bei der Polizei, den Medien und im Familienunternehmen. In Analogie zum patriarchalischen Gesetz hat Brauning eine höhere Position, als Becker senior sie vor elf Jahren innehatte und als Becker junior sie elf Jahre später hat. Für Thilo stellt er sich wie ein Vater dar, der ihm die Integration in die männliche Ordnung und eine Arbeit bei der Polizei sichert. Braunings Spitzname Rottweiler (S. 97) deutet auf seine Funktion hin. Er überwacht die Grenzen des Gesetzes, die als Grenzen des männlichen Begehrens und der patriarchalischen Institutionen erscheinen, indem er das verbotene Begehren in der Familie Becker einschränkt: „Ich [Brauning, Anm. d. Verf.] bin immer nur der Ausputzer gewesen. Für deinen Vater, für deine Mutter. Für dich, mein Junge.“ (S. 350) Wenn es dort zur Krise kommt und eine Scheidung droht, dann wird Brauning aufgefordert: „Du musst das regeln, Frank.“ (S. 307) Durch die Vertuschung des Mordes an Christa unterbindet er das inzestuöse Begehren des Sohnes und das uneheliche Begehren des Vaters. Später tötet er Sophie Thiele, das Objekt des Begehrens von Hermann Becker und Benedikt Engel. Durch sie droht dem Ehepaar Becker wieder die Scheidung, und sie erpresst zusammen mit Schalowski den Medienmagnaten Oswald – die Geldquelle der Familie. Durch diese Kontrolle und Reglementierung des Begehrens verdient Brauning nicht nur Geld und gewinnt mehr und mehr Einfluss, sondern er hält auch die Familie Becker zusammen, was das Aufblühen der Firma Fichte fördert. Die Scheidung würde hingegen der Firma schaden, da der erfolgreiche und zuverlässige Leiter Hermann Becker die Firma verließe. Darüber hinaus würde die Scheidung der politischen Karriere der Mutter Thilos schaden, die nur mit einer nach bürgerlichen Maßstäben einwandfreien Biografie eine Chance hat, die Wahl der lokalen Stadtverwaltung zu gewinnen. Mit der Zusammenführung von Beruf und Familie sowie von Mord, Erpressung und Familie – das läuft in der Handlung ineinander – wird die bürgerliche Familie als Ort der ökonomischen Interessen und des Verbrechens entlarvt. Die traditionelle Ehe ist im Roman Finstere Seelen nicht nur ein kriminelles Geschäft, sondern wird nur noch durch die Morde zusammengehalten. Brauning muss massive Gewalt anwenden, um das Familiengeschäft und das Paar Becker aufrechtzuerhalten, das heißt, die bürgerliche Familie sowie die Ökonomie beruhen auf Opfern (des Begehrens) und auf Gewalt.

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Gleichzeitig erscheint das Gesetz, das eigentlich die organisierte Kriminalität bekämpfen soll, selbst als deren Quelle. Buchstäblich gelesen organisiert das Gesetz die Kriminalität, reglementiert und kanalisiert sie. Brauning ist nicht nur ein korrupter Polizist, sondern auch ein Mörder: Er imitiert die Lustmorde und begeht selbst mehrere Morde. Dadurch verwischt der Roman nicht nur die Grenze zwischen Gesetz und Kriminalität, sondern macht auch deutlich, dass das Vatergesetz Verbrechen generiert. Es ermöglicht die Existenz von Korruption und Lustmord, das eine bedingt sogar das andere. Letztendlich beschützt das patriarchalische Gesetz den Lustmörder. Auf die Kriminalität und den Verfall der Vaterordnung weisen auch die mangelhaften männlichen Subjekte hin sowie zahlreiche Textstellen, die Erpressung, Korruption, Betrug und Misshandlung durch die Polizei beschreiben. Der Roman stellt die Polizisten sogar als Triebtäter dar: „In manchen Kollegen scheint selbst ein kleiner Triebtäter zu schlummern, so begeistert sind sie von diesem Phänomen.“ (S. 37) Zwar behauptet der Roman Finstere Seelen, dass der „menschliche Abschaum“ auf Dauer auf die Gesetzesstrukturen abfärbe (S. 11), jedoch verdeutlicht die Analyse, dass die Schutzstrukturen der symbolischen Ordnung diesen „menschlichen Abschaum“ erst ermöglichen.

D IE P ROTAGONISTEN

ALS

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Der Lustmörder hat eine finstere Seele: „Möglicherweise führt er [der Mörder, Anm. d. Verf.] ein normales Leben und weder Arbeitgeber noch Nachbarn ahnen, was in ihm schlummert. Wenn du ihm gegenüberstehst, siehst du ihm seine finstere Seele nicht an.“ (S. 65) Diese Schilderung trifft auch auf die beiden Protagonisten Benedikt Engel und Thilo Becker zu. Sie besitzen in Analogie zum Lustmörder finstere Seelen, dementsprechend erscheinen sie im Roman Eckerts als potenzielle Lustmörder. Gezogen werden Analogien zwischen Benedikt Engel und dem Lustmörder Konrad, auch wenn ihre ödipale Konstellation, die noch einmal die Abwehr gegen das Weibliche deutlich macht, unterschiedlich ist. Sowohl Benedikt wie auch der Lustmörder fallen in ihrer Kindheit durch ihr schlechtes Benehmen auf. In Analogie zum Lustmörder neigt auch Benedikt zur Aggression. Er missbraucht seine Macht als Polizist (S. 64), neigte auf Streifengängen zu Gewaltausbrüchen, die der Roman als Amokläufe charakterisiert (S. 252), wird von der Arbeit suspendiert und ist auf psychologische Behandlung angewiesen. Bis zum Ende des Romans wird Benedikt von seinen „Dämonen“ – seiner seelischen Finsternis – gequält, womit vermutlich sein sexueller Destruktionstrieb gemeint ist. Benedikt erklärt, wie der Mensch zum Lustmörder wird: „‚Eine extrem lieblose Kindheit. Der Rothaarige [der Lustmörder, Anm. d. Verf.] wuchs ohne Vater auf oder hatte massive Probleme mit ihm. Misshandlung oder Missbrauch.‘ Ben wusste nur zu gut, dass seine Sätze zu einem guten Teil auch auf ihn passten.“ (S. 276)

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Vergleicht man Benedikt und den Lustmörder Konrad, lässt sich jedoch feststellen, dass der Roman nicht an den unzähmbaren destruktiven Trieb des Lustmörders glaubt. Die Figur des Hauptkommissars Engel wird zum Beweis einer alternativen Entwicklung eines potenziellen Lustmörders. Benedikt ist durch sein kindliches Trauma prädestiniert, Lustmörder zu werden, jedoch hält er dank Psychologen und Polizeiberuf seinen Destruktionstrieb unter Kontrolle. So antwortet die Psychologin auf die Frage von Benedikt, ob auch er ein Triebtäter sein könnte: „Du nicht, Ben. Du bist das Beispiel dafür, dass man sich auch anders entwickeln kann.“ (S. 127) Bei Benedikt scheint es jedoch ein bewusster Willensakt zu sein, der es ihm ermöglicht, seine psychische ‚Abweichung‘ zu unterbinden und nicht zum Lustmörder zu werden. Die bewusste und willentliche Wahl, das Vatergesetz zu vertreten, reflektiert auch sein Name. Der Name Benedikt Engel weist sowohl auf diese richtige Wahl als auch auf das Märtyrertum hin, das mit dieser Wahl verbunden ist. Engel ruft Assoziationen von Unschuld und einem altruistischen, aufopferungsvollen Kampf mit dem Bösen hervor. Benedikt bezieht sich auf den Heiligen Benedikt, den Begründer des westlichen christlichen Mönchtums im fünften und sechsten Jahrhundert. Er ist berühmt für seine Benediktusregeln, auf deren Grundlage sich der Benediktinerorden und die später aus dem Orden hervorgegangenen Reformklöster gründeten. Benedikt Engel ist zwar kein Mönch, jedoch lebt er einsam und asketisch. Wie der Engel als perfektes, göttliches Wesen strebt auch Benedikt Engel nach Perfektion: „Er glaubte sich dem perfekt kartographierten Paradigma des Lebens zu nähern [Hervorhebung im Original].“ (S. 32) Die Figuren Thilo und Konrad werden nicht miteinander in Zusammenhang gebracht wie die Figuren Benedikt und Konrad, jedoch steht Thilo dem Lustmörder näher als Benedikt. Thilos und Konrads Mütter sind am Leben, beide sind ohne väterliche Zuwendung aufgewachsen. Thilo hält seinen Vater für einen Versager; Konrad hatte in der Kindheit keinen Vater. Thilo wirft seiner Mutter vor: „Und ich hab das alles geerbt. Das ganze Schlechte in euren Seelen.“ (S. 381) Er hat eine finstere Seele wie der Lustmörder. Beide bringen Menschen um, Thilo ermordet sogar mehr Menschen als der Lustmörder. Konrad bringt zwei Frauen um und wird von Thilo beim Versuch des dritten Mordes erschossen. Thilo bringt hingegen drei Menschen um: die zwei Aussiedler und den Lustmörder. Darüber hinaus wird er zum indirekten Mörder seines Onkels Brauning. Thilo lässt seine Waffe nicht fallen, weshalb Konrad Onkel Brauning umbringt und unmittelbar darauf von Thilo erschossen wird. Thilos Fähigkeit, sich mit Benedikt zu identifizieren und seine mörderischen Triebe unter Kontrolle zu halten, liegt in der früheren Loslösung von seiner Pflegemutter Christa begründet, deren Ermordung als Muttersubstitut die Mutter ‚entwaffnet‘ und das infantile, bei Eckert destruktive Begehren auslöscht. Nichtsdestotrotz beruht die Identität, die Thilo zu konstituieren versucht, indem er den Onkel und den Lustmörder umbringt, auf massiver Gewalt. So macht der Roman deutlich, dass jede zivilisatorische Ordnung auf Opfern aufgebaut ist. Letztendlich wird im Ro-

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man Finstere Seelen jeder Mann entweder in seiner Biografie mit dem Lustmord konfrontiert oder begeht ihn selbst.

F AZIT Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Lustmord im Roman Finstere Seelen als Bestandteil jeder männlichen Identität im Roman erscheint. Die männliche Subjektivität wird anhand des Noir-Genres verhandelt, das das Mannsein über die schöne weibliche Leiche stabilisiert. So wird das männliche Subjekt entweder in der Kindheit mit dem Lustmord beziehungsweise dem Mord an seiner (Pflege-)Mutter konfrontiert wie die Protagonisten Benedikt und Thilo, deren Verlust zwar eine traumatische, aber ‚normale‘ Subjektbildung bedingt, oder das Subjekt wird ohne diese Verlusterfahrung zum Lustmörder wie Konrad. Der Lustmord als Fundament der Subjektbildung verrät sowohl die Angst als auch die Abwehr gegen das Weibliche, das als Schuldinstanz für defiziente Subjekte dargestellt wird. So werden alle Männerfiguren im Roman entweder durch ihre Traumata oder durch das Beharren auf ihrem infantilen Begehren nicht nur gewalttätig, sondern auch zu potenziellen Lustmördern. Letztendlich erscheint der Lustmörder selbst als eine periphere Figur. Seine Taten dienen für beide Kriminalbeamten und besonders für Thilo als Medium für die Auseinandersetzung mit der Vaterordnung und dem eigenen Trauma. Durch die Ermittlung der Lustmorde werden daher Thilos Subjektivität herausgebildet und die von Benedikt stabilisiert. Der Roman kritisiert zu diesem Zweck den Ödipuskomplex als Grundlage der Subjektbildung, bleibt aber in seinen Strukturen gefangen. Das ödipale Subjekt ist zwar ein ‚kastriertes‘ und (selbst-)diszipliniertes Subjekt, Eckert bietet jedoch keine alternative männliche Identität. Der Lustmord wird dem psychoanalytischen Diskurs entsprechend zum Produkt des nicht überwundenen infantil-destruktiven Begehrens der Mutter, das sich aber mit der Korruption in der Exekutive überlagert. So werden mithilfe des Lustmordes die Lücken im Gesetz aufgezeigt. Geld und lustmörderische Gewalt sind im Roman eng verknüpft. Das Geld schafft einen anomischen Raum, dessen Ausdruck der Lustmord wird. Jedoch steht der Roman gleichzeitig in einer misogynen Tradition, indem er die unkontrollierbaren Prozesse mit den weiblichen Figuren verbindet. Finstere Seelen unterscheidet sich somit von Jelineks Roman, in dem die Autorin genau umgekehrt zeigt, dass die Frauen als handelnde Subjekte aus der kapitalistischen Ökonomie vollkommen ausgeschlossen sind, da sie selbst die Waren verkörpern. Bei Eckert hingegen wird der Lustmord mit der weiblich codierten Korruption und der Verweiblichung des Mannes in Verbindung gebracht, was seine kritische Reflexion der kapitalistischen Prozesse wirkungslos werden lässt. In der Kreuzung von psychoanalytischen und gesellschaftskritischen Diskursen entpuppt sich die Konstruktion des Lustmordes jedoch als selbst-

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reflexiv. Zum einen schildert der Roman den Lustmord genrebedingt als eine Art Leerstelle, die die Entwicklung der Handlung beziehungsweise die Diskursivierung benötigt, um erklärt zu werden. Zum anderen erscheint der Lustmord im Roman wortwörtlich als eine Leer-Stelle, weil sich die beiden Mordarten (‚Original‘ und Imitation) vermischen. Der Lustmörder ist eine vakante Position, die jeder unabhängig von seiner Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit einnehmen kann.

Lustmord und Geschichtsaufarbeitung

Lustmord und Nationalsozialismus Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder von Horst Bosetzky

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Im Roman Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder von Horst Bosetzky (Künstlername: -ky) entsteht durch das multiperspektivische Erzählen mit dokumentarischer Akribie und großem Detailreichtum eine überzeugende Darstellung der kulturellen Atmosphäre im Deutschland der 1940er Jahre. Die historische Stimmung wird mithilfe von technischen und topografischen Kenntnissen sowie Archivmaterial, insbesondere historischen Kriegsberichten und kriminalistischen Dokumenten, zum Zeitgeschehen aufgebaut. Der Roman Bosetzkys schildert Erlebnisse der zivilen Bevölkerung am Anfang des Zweiten Weltkrieges, wobei sich die Atmosphäre der damaligen Zeit nicht anders als der „alltägliche Schrecken“ bezeichnen lässt – die Überschrift des ersten Kapitels (S. 7). Die Verdunkelungsverordnung vom 23. Mai 1939, so dokumentiert der Roman auf dem ersten Blatt als Motto, wird zur Metapher des Alltagslebens während des Zweiten Weltkrieges in Deutschland, zum Symbol der Verdunkelung des Staates; die Bürgerinnen und Bürger bewegen sich in der Dunkelheit ihres Bewusstseins und ihrer Triebe, das heißt, sie können nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Überall herrscht Angst: die Angst, bei Luftangriffen und Bombardierung zu sterben oder sich als Volksschädling beziehungsweise Andersdenkender auszuweisen und in ein Konzentrationslager zu kommen. In diesem kulturellen Kontext ist der Lustmörder zu Hause. Die Handlung entsteht aus der Fahndung nach dem S-Bahn-Mörder Paul Ogorzow, ein realer Kriminalfall aus den 1940er Jahren in Berlin. Anhand dieses authentischen Kriminalfalls setzt sich der Roman Wie ein Tier mit dem Nationalsozialismus auseinander: Es wird nach der Gewaltprägung der Psyche des Individuums durch die Gesellschaft, besonders im Kontext der NS-Diktatur, gefragt. Aus den geschlechtsspezifischen Perspektiven des männlichen Täters und seiner weiblichen Opfer, aus der Sicht der Familie des Mörders und durch dessen Biografie sowie durch die Schilderung verschiedener sozialen Schichten und Staatsebenen entwirft Bosetzkys Roman die Genese der sozialen Gewalt und der psychischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus. Die Kriminalpolizei und die Fahndungsaktion

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reflektieren die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur auf der Ebene der Staatsstrukturen; wobei sich die Kriminalbeamten im Roman in zwei Lager aufspalten: Den Beamten, die mit dem Regime kollaborieren – hier stellt der Roman die Entwicklung eines faschistischen Bewusstseins dar –, steht eine schwache Opposition gegenüber. Am Beispiel des Lustmörders werden die Voraussetzungen für den Nationalsozialismus in der bürgerlichen Gesellschaft beleuchtet, und er legt die Widersprüche in der Ideologie des Staates frei: Entweder ist der NS-Staat kein perfekter Staat und wie alle anderen Staaten nicht imstande, solche Verbrechen zu bekämpfen, oder der Lustmörder ist ein Effekt der NSStaatspolitik, ein Produkt seiner Ideologie: „[…] bei euch geht es auch nicht anders zu als zur Systemzeit, nicht anders als in Weimar, Mord und Totschlag überall.“ (S. 54) In jedem Fall wird der Lustmord zu einer Störung der Staatsideologie: „Im nationalsozialistischen Staat konnte so etwas nicht sein, weil es nicht sein durfte.“ (S. 10) Indem die Darstellung der Lustmorde an Frauen durch die Vernichtung von Andersdenkenden und Juden überlagert wird, macht der Roman den Lustmord zur Metapher und Metonymie des Nationalsozialismus. Da es sich bei dem Roman um ein Werk mit einem historisch-dokumentarischen Anspruch handelt, werden im Folgenden Ansätze aus den Memoria-Theorien geprüft, zumal die auf der Biografie aufbauenden Genres mit Erinnerungen arbeiten: Obwohl der Autor im Nachwort, das seiner Anweisung nach auch als Vorwort zu lesen ist, auf seine authentischen Erlebnisse als Kind während des Zweiten Weltkrieges rekurriert, werden die Figuren des Romans gemäß des kollektiven deutschen Erinnerungsdiskurses über den Nationalsozialismus nach 1945 strukturiert, wie ihn Aleida Assmann1 in einer Studie rekonstruiert hat. In diesem Zusammenhang wird die Überlagerung von Gender und der triadischen Konstellation aus Täter, Opfer und Zeugen sowie von Gender und nationalsozialistischem Diskurs analysiert. Der Roman reproduziert mithilfe der Geschlechterdifferenz politische Differenzen zwischen der NS-Diktatur und der Bevölkerung. Die Triebhaftigkeit der Männerfiguren wird zur Voraussetzung der NS-Politik und die Asexualität der Frauen wird zum Merkmal der Nichtzugehörigkeit zum Nationalsozialismus – eine traditionsreiche Geschlechterkonstellation in der Erinnerungspolitik nach 1945. In Bezug auf Weiblichkeit werden hauptsächlich drei Frauenfiguren analysiert: die Kriminalassistentin Grete Behrens, das überlebende Opfer Emmi Borowka und die Ehefrau des Lustmörders, Gertrud Ogorzow. Sie stehen in Opposition zum NS-Regime und verkörpern das Volk – ein in der Nachkriegsliteratur beliebter Topos, der als Bewältigungsstrategie dient: Werden die Frauen zur Verkörperung des Volkes, so wird dieses in Bosetzkys Roman gleichzeitig zum Opfer einer politischen Verführung. Darüber hinaus haben die Frauenfiguren des Romans, mit Weigel gesprochen, die Funktion, eine „verdeckte 1

Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.

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und verschobene Erinnerung“2 zum Ausdruck zu bringen. Das Weibliche wird instrumentalisiert, um die männliche Disposition zu enthüllen; es ist ein Medium, das das aus dem Männlichkeitsdiskurs Verdrängte offenbart. In Bezug auf Männlichkeit stehen die Figuren des Kriminalsekretärs Gerhard Baronna und des Lustmörders Paul Ogorzow im Zentrum der Untersuchung. Sie repräsentieren die Genese der NS-Psyche und die der lustmörderischen Psyche, ihre Überlagerung macht den Lustmord zum Sinnbild der NS-Politik. Der Roman versucht also mithilfe des Themas Lustmord die NS-Politik offenzulegen, rechtfertigt diese jedoch gleichzeitig als eine ‚natürliche‘ Triebdynamik, so dass das kriminalanthropologisch und psychoanalytisch geprägte Motiv Lustmord den kritischen Anspruch des Romans unterläuft. Darüber hinaus verweist der Lustmord, mit Aleida Assmann gesprochen, auf eine Verdrängung der „delegitimierten Erinnerung“3, die im Roman das kollektive Trauma sichtbar macht.

F ORSCHUNGSSTAND Über den Roman Wie ein Tier ist bisher keine wissenschaftliche Forschungsliteratur veröffentlicht worden. Es gibt jedoch einige Rezensionen und Untersuchungen zu den früheren Kriminalromanen des emeritierten Professors der Soziologie Horst Bosetzky. Die Forschung bezieht sich hauptsächlich auf seine Werke aus den 1970er Jahren. Seine Romane, die man als eine Mischung aus Action, soziologischen Studien, Schilderungen politischer Kontexte und psychologischer Personencharakterisierung beschreiben kann, rühmt Kost4 für die „Rebellion gegen die traditionellen Krimi-Muster“, der Bosetzkys „überaus große Popularität“ zu verdanken sei. Bosetzkys Figuren, so Kost, zerbrechen am Daseinskampf: „-ky wurde geradezu zum Inbegriff des ‚Sozio-Krimis‘, der die Leichen nicht zur gefälligen Abendunterhaltung liefert, sondern mit ihnen ausdrücklich aufklärerische Absichten verbindet. -ky untersucht die sozialen und politischen Zustände in diesem Land und die daraus folgenden psychischen Verletzungen der Menschen. Dabei verleugnet er nicht seinen eigenen politischen Stand2

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Weigel, Sigrid: Vorbemerkung: „Die im Stand der Ähnliuchkeit entstellte Welt“, in: dies.: Bilder des kulturellen Gedächtnisses: Beiträge zur Gegenwartsliteratur, Dülmen-Hiddingsel, S. 9-17, hier: S. 15. „Nach 1945, als im Gedächtnis des Nationalsozialismus in Deutschland nationale Vorstellungen durch das Täter-OpferParadigma überlagert wurden, kommt dem Bilderarchiv des Geschlechterdiskurses dabei offensichtlich die Funktion einer verdeckten und verschobenen Erinnerung nationaler Bedeutung zu.“ Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 138. Kost, Rudi: Die Autoren: -ky, in: Tödliche Beziehungen, Kriminal-Erzählungen, Zürich 1984, S. 431-432.

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ort, seine Distanz zum herrschenden System.“5 Als besonders wertvoll erweist sich nach Kost der „Zusammenprall unterschiedlicher Standpunkte“ des Erzählens, das nicht auf die Ermittlung des Täters zielt, sondern die „Verwirrung des Lesers“ hervorruft. Nusser6 setzt sich in seiner Monografie mit einer Reihe von Kriminalautoren, unter anderem auch mit Horst Bosetzky, auseinander, um das gesellschaftskritische Potenzial der Kriminalliteratur aufzuspüren. Es geht in gesellschaftskritischen Kriminalromanen laut Nusser „nicht mehr nur um die Aufklärung des Hergangs eines Verbrechens – obwohl diese Art von Aufklärung für den Spannungsbau wichtig bleibt –, sondern zugleich um Aufklärung des Lesers über psychologische und soziale Bedingungen und Auswirkungen des Verbrechens, über die Verstrickung von Gerechtigkeitswillen und Schuld.“7 Nussers Arbeit beschäftigt sich damit, inwiefern sich das Unterhaltungspotenzial und die Struktur des Kriminalromans mit gesellschaftskritischer Aufklärung verbinden lassen. Er stellt fest, dass sich der Spannungsaufbau des Kriminalromans mit der gesellschaftskritischen Aufklärung oft nicht vereinen lässt. Am Beispiel der deutschsprachigen Kriminalromane zeigt Nusser, dass die Autoren die Opferperspektive zumeist vernachlässigen und die sozialkritische Aufklärung in den meisten Fällen mit der Figur des Täters verbinden. Darüber hinaus unterscheidet er zwei Typen von Kriminalromanen, obwohl in beiden Fällen die Schuld bei der Gesellschaft gesucht wird: Zur ersten Kategorie gehören Werke, die die Individualität des Täters in den Vordergrund stellen, um seine Tat als Produkt seiner Sozialisation und der gegenwärtigen Sozialbeziehungen zu präsentieren. Zur zweiten Kategorie gehören die Romane mit einer „deformierte[n] Gesellschaft, die einzelne ihrer Angehörigen zu Kriminellen verkommen läßt.“8 Zu dieser Kategorie zählt Nusser auch frühere Werke von Horst Bosetzky, die er als hochexperimentell einschätzt, wie Zu einem Mord gehören zwei (1971), Stör die feinen Leute nicht (1973) und Es reicht doch, wenn nur einer stirbt (1975). Der Stil Bosetzkys zeichnet sich nach Nusser durch die Auflösung des Verbrechens in Form eines Rätsels und durch den Verzicht auf ein Happy End beziehungsweise die Herstellung einer ‚heilen‘ Welt aus – eine Absage an typische strukturelle Elemente des klassischen Kriminalromans. Das gesellschaftskritische Potenzial in Bosetzkys Romanen sieht Nusser in der Verschiebung des Akzentes vom Verbrechen auf die Bewältigung des Verbrechens in der Gesellschaft. Das Verbrechen erscheint, so Nusser, als Not, als Zwang, als Willkür des Einzelnen; „wie die Teile der Gesellschaft mit dem Verbrechen fertig werden, das in ihrer Mitte entsteht 5 6

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Ebd.: S. 431. Nusser, Peter: Neuansätze des deutschen Kriminalromans der Gegenwart, in: ders.: Unterhaltung und Aufklärung: Studien zur Theorie, Geschichte und Didaktik der populären Lesestoffe, Frankfurt am Main 2000, S. 83-110. Ebd.: S. 70. Ebd.: S. 94-95.

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und geschieht, ist das eigentliche Thema -kys.“9 Jedoch geht laut Nusser in einigen späteren Romanen Bosetzkys „viel von dem Unverwechselbaren verloren“;10 und so appelliert er an den Autor, wieder zu seinen Anfängen zurückzukehren.

D OKUMENTARISCHER K RIMINALROMAN , V IELFALT G ENDER -P ERSPEKTIVEN UND L USTMORD

DER

Der Autor selbst bezeichnet seinen Roman als dokumentarisch, dementsprechend werden zahlreiche Archivdokumente, Zeitungsberichte, Plakate und Losungen aus den 1930er und 1940er Jahren zitiert. Er operiert zudem mit realen historischen Namen, Daten und Zeitungsauszügen aus der NS-Zeit. Bosetzky reproduziert die Tradition der Fallgeschichten, die mit dokumentarischen Materialien arbeiten, um die Ätiologie des Verbrechens aufgrund des Werdegangs des Mörders möglichst ‚authentisch‘ zu rekonstruieren. Die Fallgeschichten fokussieren ebenfalls die Ermittlung und Fahndung nach den Mördern – eine Überschneidung mit dem Kriminalgenre. Zugleich erweitert Bosetzky das Genre der Biografie und das des Kriminalromans durch die historisch-gesellschaftliche Reflexion der NS-Diktatur. Der Roman wird zu einem historischen Roman, was seinen gesellschaftskritischen Anspruch unterstreicht. Gleichwohl muss Wie ein Tier durch seinen Multiperspektivismus als eine Zusammenführung von verschiedenen Genres betrachtet werden. Der Roman erscheint im ersten Kapitel Der alltägliche Schrecken wie ein Thriller mit Fokus auf die Opfer, erzählt aus deren Perspektive.11 Die Erzählperspektive der Ermittler wird im zweiten Kapitel Das Erschrecken der Jäger und im vierten Kapitel Die Fahndung nach dem SBahn-Mörder zentral; daher kann er ohne weiteres auch als Detektivroman angesehen werden. Da die Detektive Kriminalbeamten sind, ergibt die Mischung aus Elementen des dokumentarischen und kriminellen Genres einen whodunit – ein Genre, das minutiös die Routine der Polizeiarbeit, die Ermittlung und die Fahndung schildert. Das dritte Kapitel Der ganz normale Alltag eines Mörders schildert dessen Werdegang und wird zu großen Teilen aus der Perspektive des Lustmörders erzählt. Dieses Kapitel entspricht der Tradition des Entwicklungsromans. Der Roman lässt sich darüber hinaus auf die Verbrechensliteratur beziehen, die die Täter und ihre Vergehen in den Vordergrund der Handlung rückt. Das große Finale mit der Überführung und Hinrichtung des Mörders im fünften Kapitel Der Volksschädling – dumpf und triebhaft ist hauptsächlich durch den Wechsel der Erzählperspek-

9 Ebd.: S. 103. 10 Ebd.: S. 105. 11 Vgl. G. Seeßlen: Thriller, S. 13. Beim Thriller ist oft die Perspektive des Opfers zentral, das mit dem Schrecken im Alltag konfrontiert wird.

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tiven charakterisiert, da hier das weitere Schicksal aller Figuren kurz skizziert wird. Mit dem Lustmord wird dabei ein Reflexionsraum über die Gesellschaft erschaffen. Wegen der schwer nachvollziehbaren Motivation des Lustmörders, wegen des Zufallelements und der im Vergleich zur Vorkriegszeit geringeren Zahl an Beamten verzögert sich die Ermittlung, so dass durch den Lustmord Raum für die Darstellung der historisch-politischen Situation der Kriminalpolizei entsteht. Dadurch unterzieht der Roman ähnlich wie Finstere Seelen die Strukturen der Exekutive einer Kritik. Je länger die Kriminalbeamten den Lustmörder suchen, desto zahlreichere Auseinandersetzungen entstehen mit der NS-Ideologie und ihrem Machtapparat, der die Polizei dazu drängt, den Lustmörder möglichst schnell dingfest zu machen. Im Unterschied zu Eckert, bei dem die Exekutive von der Korruption durchdrungen ist und der Roman die Lösung in einem Einzelkämpfer anbietet, der dem korrupten System mit massiver Gewalt entgegenzuwirken versucht, steht die Exekutive hier unabhängig von der politischen Situation an der Seite des allgemeingültigen, humanistischen Gesetzes. Die Polizisten erfüllen ihre Pflicht an der Heimatfront mit Gewissenhaftigkeit und unter Selbstaufopferung und mischen sich in die Politik gar nicht erst ein. Liest man den Lustmörder als Sinnbild der NS-Politik, so scheint es sogar, dass die NS-Politik als jenseits des Gesetzes (und nicht wie eine gesetzgebende Instanz) dargestellt und von den Kriminalbeamten bekämpft wird – Entlastungsstrategien, die sowohl die sinnstiftende Funktion des Nationalsozialismus leugnen als auch die Exekutive als Opposition imaginieren. Die Elemente des Kriminalgenres modifizieren wiederum den Lustmorddiskurs auf eine spezifische Weise: Den Regeln des Kriminalromans entsprechend werden, um die Spannung aufrechtzuerhalten, während der Fahndungsaktion außer der Figur Ogorzow noch drei weitere Verdächtige präsentiert. Alle drei passen in das im Lustmorddiskurs verbreitete Täterprofil. Der erste Verdächtige ist Fleischer, der zweite ein Homosexueller und der letzte ist wegen Sittlichkeitsdelikten beziehungsweise Exhibitionismus vorbestraft. Diese Schilderungen der potenziellen Täter sind auch in den Fallgeschichten am Anfang des 20. Jahrhunderts zu finden, die die Gründe des Lustmordes unter anderem im Beruf des Fleischers oder in diversen ‚Perversionen‘ festhalten.12 Sind nun diese ‚prädestinierten‘ Verdächtigen keine Mörder, so entpuppt sich der Lustmord als Phantasma, da seine gängigen Erklärungsmuster nicht mehr greifen; die Biografien der Verdächtigen führen eben gerade nicht zum Lustmord. Der Werdegang Ogorzows liefert wiederum aufgrund der Typisierung seiner Biografie und zugleich wegen der Überbietung an Begründungen keine ausreichenden Erklärungen. Darüber hinaus werden die Elemente des Entwicklungsromans nicht nur an den Täter geknüpft, sondern auch an den Kriminalbeamten Gerhard Baronna, der sich im Laufe der Handlung zu einem Massenmörder entwickelt. Seine 12 Vgl. R. von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 76-82.

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Biografie verdeutlicht ebenfalls die Untauglichkeit einer biografisch fundierten Ätiologie des Verbrechens. Während Ogorzow ein Übermaß an Traumata, Gewalt und Erkrankungen erlebt hat, die auch seine Kindheit geprägt haben, hat Baronna weder traumatische Erlebnisse erfahren noch weist er pathologische Störungen auf. Dennoch verknüpft der Roman seinen Werdegang durch die Schilderung ödipaler Situationen und seiner für einen Lustmörder charakteristischen Triebhaftigkeit mit dem Lustmorddiskurs, was die Kritik am Nationalsozialismus unterminiert. Wenn die Biografie des Mörders die Ätiologie seiner Neigung zum Verbrechen nicht begründen kann, liegt die Prädisposition zum Lustmord im männlichen ‚Trieb‘, das heißt, gesellschaftliche Phänomene werden essentialisiert: In Analogie zum Lustmord erscheint der Nationalsozialismus als ein Phänomen, das sich lediglich aus der physiologischen und psychischen Entwicklung des Individuums herleitet, jedoch paradoxerweise nicht erklärt werden kann. In Hinsicht auf Gender-Konstellationen und Genrestruktur baut der Roman Bosetzkys die Spannung über das Spiel mit den Geschlechtern auf. Wie Peter Nusser in seiner Analyse deutlich macht, ist es schwer, die Spannung in der Handlung eines Kriminalromans nach der Enthüllung des Täters aufrechtzuerhalten. So wird sie bei -ky durch Strategien des Cross-Dressings produziert. Wenn die Leserinnen und Leser nicht nur wissen, wer der Lustmörder ist, sondern auch sein Inneres kennen, wird die Fahndungsaktion zu Maskerade, Täuschung und Verwechslung. Um den Mörder zu fassen, werden verschiedene Cross-Dressing-Strategien wie Class-, Gender- und TäterOpfer-Crossing eingesetzt. Die Kriminalassistentin Grete Behrens und der Kriminalsekretär Gerhard Baronna werden beispielsweise zu Lockvögeln, zu inszenierten weiblichen Opfern, so dass sich Ermittler in Opfer und Männer in Frauen verwandeln. Durch Class-Crossing wird ein weiterer Kriminalbeamter als Arbeiter bei der Reichseisenbahn eingestellt, um im Kollektiv der Eisenbahner nach dem Mörder zu fahnden. Der Lustmörder Ogorzow erklärt sich dagegen bereit, Frauen vor dem Mörder zu schützen und wird zum von der NS-Partei engagierten Frauenbeschützer: Er begleitet sogar eines seiner ihm entkommenen Opfer, Emmi Borowka, nach Hause. Durch dieses Cross-Dressing werden schematische Strukturen des Kriminalromans und binäre Differenzen mobilisiert und verzerrt. Der Gejagte wird zum Jäger, der Verbrecher zum Staatsdiener und umgekehrt. Letztendlich verwandelt sich die Figur des Ermittlers in die des Lustmörders. Baronna wird vom Staatsdiener zum Massenmörder, der die jüdische Bevölkerung auslöscht: Er wechselt zur SS und beteiligt sich an den Massenmorden an Juden in Osteuropa, die im Kontrast zu Ogorzows Hinrichtung beschrieben werden. Der Roman setzt mithin den Lustmord als Maßstab für die Vernichtungen ein, wobei er, obgleich grausam genug dargestellt, im Vergleich zu den ebenfalls geschilderten Massenmorden an den Juden harmlos erscheint. So wird der Verbrecher zum Opfer der NS-Diktatur, die ihn für wenige Lustmorde hinrichtet, während ihre eigenen Morde in ungleich größerem Maßstab ungestraft bleiben. Mit diesem Aufbau der Handlung übt der Roman

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Bosetzkys zugleich Kritik am NS-Regime. Diese Umkehrungen schaffen eine ‚verkehrte Wirklichkeit‘, in der der Staat Verbrechen legitimiert. Der Mordtrieb liegt jedoch im Individuum selbst und wird unter einer bestimmten Realitätsproduktion freigelassen oder gezähmt. Des Weiteren beeinflusst die intertextuelle Einarbeitung des dokumentarischen Materials die Geschlechterkonstruktionen. Der Roman listet nicht nur die Namen der realen Opfer von Paul Ogorzow aus den 1940er Jahren auf, sondern stellt die von seinen Taten betroffenen Opfer auch nach der Tat dar: Entweder zeigt er die traumatisierten Frauen, die langsam an Alkoholismus zugrunde gehen, oder die trauernden Ehemänner, Kinder und Eltern der Ermordeten. Vergleicht man Bosetzkys Roman mit anderen Werken, die das Opfer ins Zentrum stellen (Barfuß und Schmerznovelle), erscheint hier die Opferperspektive deswegen zentral, weil den Leserinnen und Lesern nicht die Täter- oder Detektivfiguren zur Identifikation angeboten werden, sondern – und das ist auf den Einfluss des Erinnerungsdiskurses nach 1945 zurückzuführen – die Opfer. Das Kriminalgenre verfügt also über narrative Möglichkeiten, die Opferperspektive zum Ausdruck zu bringen, ohne dass die Opferfiguren sich aus ihrem Status emanzipieren können. Bei Bosetzky bleiben die Opfer passiv und machtlos. Wenn die Frauen dem Mörder begegnen, können sie ihm nicht entkommen und sich nur durch Zufall retten. Die Novellen Kleebergs und Kraussers hingegen machen die Opfer zu den Tätern und erteilen somit dem Kriminalgenre eine Absage. Beide modifizieren grundsätzliche Vorstellungen vom Opfer als passive, marginalisierte Figur, indem sie seine Geschlechtszuschreibungen überschreiten und seine narrative Funktion ändern. -ky schreibt das binäre Schema von einem aktiven, triebhaften männlichen Täter und passiven, hilflosen weiblichen Opfern fort. Zusammenfassend übt der Roman, mit Nusser gesprochen, über die Figur des Täters Kritik an der Gesellschaft, indem er die Sozialisation des Täters in den Vordergrund rückt und die deformierte Gesellschaft zeigt, die durch die Lustmorde und Fahndungsaktionen gezwungen ist, sich mit dem NS-Regime auseinanderzusetzen. Bosetzky vernachlässigt auch die Opferperspektive nicht. Dennoch erschließen diese Strategien für die kritische Darstellung der Gesellschaft kein zusätzliches Aufklärungspotenzial, sondern sie dienen in erster Linie zur Bewältigung einer traumatischen Vergangenheit.

D IE G ESCHLECHTERRHETORIKEN E RINNERUNGSDISKURSES

DES

Nur die Männerfiguren können den Nationalsozialismus unterstützen und ihn vertreten, obwohl ihre Parteizugehörigkeit durch die rassistische Kategorie unterminiert wird, da die Figuren meist weder wie ‚Arier‘ aussehen

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noch ‚echte‘ deutsche Namen tragen. Nicht nur der Lustmörder trägt keinen deutschen Namen – sein Geburtsname ist Saga, später bekommt er von seinem Stiefvater den Namen Ogorzow. Der Triebwagenführer trägt den slawischen Namen Borowka, und der junge Kriminalsekretär Gerhard Baronna, der Karriere in der NS-Partei macht, trägt einen Namen italienischer Herkunft, der auch als Andeutung auf den Ursprung der nationalsozialistischen Ideologie – den italienischen Faschismus – gelesen werden kann. Die meisten männlichen Figuren weisen keine physiognomischen und physiologischen Merkmale der ‚Herrenrasse‘ auf. Eine Ausnahme bildet die Figur Herbert Bloh, ein Kindheitsfreund des Mörders Ogorzow, der zur Handlungszeit die Position eines SS-Hauptscharführers erreicht hat und im KZ Sachsenhausen stationiert ist.13 Später wird deutlich, dass die ‚Arier‘ schon aufgrund des ‚Ursprungs‘ der Repräsentanten eine Fantasie sind: Beide, Paul Ogorzow und Herbert Bloh, stammen aus einem Ort, in dem das ostpreußische Volk der Masuren beheimatet ist, das in einer intertextuellen Referenz auf Siegfried Lenz als eine „Mischung aus pruzzischen Elementen und polnischen, aus brandenburgischen, salzburgischen und russischen“ (S. 136) bezeichnet wird. So erzeugt -ky eine intrakulturelle Differenz,14 die den homogenen Begriff der Nation als imaginäres Konstrukt ausweist. Neben den ethnischen Kategorien werden die Geschlechterkonstruktionen durch weitere Diskurse überlagert. Da es sich um einen Kriminalroman handelt, prägt das Täter- und Opferparadigma im Roman Wie ein Tier den Geschlechterdiskurs. Der Täter ist ein Mann, die Opfer sind Frauen. Die Figurenkonstellationen sind jedoch nicht binär organisiert, sondern in dem Dreieck Täter-Opfer-Ermittler. Der Ermittler erscheint als eine außenstehende Instanz, die eine Uneindeutigkeit in Bezug auf die Geschlechterkonstruktion und die Position von Täter und Opfer aufweist. Die Kriminalbeamten sind beispielsweise bei der Fahndungsaktion maskiert – die Maskerade dient als Zeichen der instabilen Identität beziehungsweise Verweiblichung, zumal sie sich wegen ihrer Ohnmacht gegenüber dem Lustmörder als weibliche Opfer inszenieren. Die Polizisten haben Mitleid mit den Opfern, treten dem Lustmörder gegenüber aber fast väterlich auf. In der Szene des Verhörs von Paul Ogorzow fühlt sich der Kriminalkommissar Lüdtke wie dessen Vater: „Er hatte die Rolle des Kommissars verlassen und war hinübergewechselt in die des Freundes, Vaters, Seelsorgers oder Psychologen.“ (S. 290) In 13 Herbert Bloh gleicht einem Vertreter der ‚Herrenrasse‘: „Ein schöner schneidiger Mann. Weizenblond, mit der Figur eines Olympiakämpfers. Ein Gesicht, so scharfgeschnitten und so ausdrucksvoll, wie es in den Babelsberger Studios nur wenige gab, und so intelligent, daß es allemal zum Professor an der Wehrtechnischen Fakultät der TU Berlin gereicht hätte. Wenn er gewollt hätte.“ (S. 17) Den Nationalsozialismus zu vertreten ist ein Willensakt und nicht eine ‚arische‘ Veranlagung, wie der Roman an dieser Stelle zeigt. 14 Begriff entnommen aus: Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft: Eine Einführung, Paderborn 2006, S. 10.

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dieser Position wird die Kriminalpolizei zu einem Übergangs- und Verhandlungsraum zwischen Täter und Opfer.15 So entwickelt sich der Kriminalsekretär Gerhard Baronna im Laufe der Handlung vom Ermittler zum Täter, die Kriminalassistentin Grete Behrens wird dagegen zum Opfer, zum Lockvogel und zieht am Ende mit dem entkommenen Opfer des Lustmörders, Emmi Borowka, zusammen. Entzieht sich die Polizei einer eindeutigen, heteronormativen Ordnung und entsprechend einer eindeutigen Täter-OpferZuordnung, so steht sie außerhalb des Wirkungsbereiches der NS-Politik. Zugleich wird die Kriminalpolizei zu einer suspendierten Vaterordnung, da sie aus der alten Garde der Weimarer Republik besteht, die zwar dem Nationalsozialismus keinen Widerstand leisten kann, jedoch eine Gewissenspflicht innehat, die sie als universell-humanistische Aufgabe gegenüber der Bevölkerung erfüllt: „Die Kriminalbeamten hatten es verstanden, die Arbeit des RKPA [Reichskriminalpolizeiamt; Anm. d. Verf.] weiterhin von der Gestapo fernzuhalten.“ (S. 51) Dies bestätigt der im Roman thematisierte Widerstand des Chefs der deutschen Kriminalpolizei, Arthur Nebe,16 Reichskriminaldirektor und SS-Brigadeführer, gegen den Chef der Gestapo, Heinrich Müller. Auch bei der Bevölkerung gewinnt die Kripo Anerkennung und Verständnis im Gegensatz zu der Ablehnung, die der Gestapo entgegenschlägt. Die Konstellation Täter-Opfer-Ermittler ruft darüber hinaus den Erinnerungsdiskurs über den Holocaust auf, der seit den 1980er Jahren zum Gegenstand der Forschung und öffentlichen Diskussion geworden ist. Laut Assmann sind die Grundbegriffe des deutschen kollektiven Gedächtnisses nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur durch die Konfiguration von Siegern und Besiegten strukturiert, sondern auch durch die Konstellationen von Tätern und Opfern.17 Das Täter-Opfer-Schema kann nach Assmann nicht als vollständig betrachtet werden, wenn ein „involvierter Dritter“ fehlt – ein Zeuge, der eine zentrale Bedeutung für den Status des Opfers beziehungsweise dessen Anerkennung und für das Nicht-Vergessen des Geschehens hat. Bei -ky wird die Kriminalpolizei zu einem solchen Zeugen, wobei die 15 Gegenüber dem Täter ist die Kriminalpolizei eine Straf- und Ordnungsinstanz, also selbst Täter oder „Jäger“ – der Titel des zweiten Kapitels lautet Das Erschrecken der Jäger (S. 32), und das Reichskriminalpolizeiamt wird als „Jägerhof“ bezeichnet (S. 98). Wenn die Kriminalbeamten den Mörder nicht rechtzeitig fangen, können sie zu Opfern des Staatssystems degradiert werden. Kommissar Lüdtke und seine Beamten laufen im Fall des Misserfolgs Gefahr, sich als Volksschädlinge auszuweisen: „Kriegen wir den Kerl nicht bald, kommen wir selber in den Geruch von Volksschädlingen und dürfen uns auf einiges gefaßt machen“ (S. 57). 16 Im Roman wird später erwähnt, dass Arthur Nebe am Ende des Zweiten Weltkrieges wegen seiner Verbindung zur Widerstandsbewegung hingerichtet wird (S. 212). 17 A. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 72.

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Eigenschaften eines „Zeugen vor Gericht“ und eines „moralischen Zeugen“ miteinander verschmelzen – Klassifizierungskategorien von Assmann.18 Der Zeuge vor Gericht zeichnet sich unter anderem durch seine Unparteilichkeit gegenüber dem Opfer und dem Angeklagtem, seine sinnliche Wahrnehmung am Schauplatz der Gewalt und die zuverlässige Gedächtnisspeicherung dieser Wahrnehmung aus.19 Die Kriminalpolizei tritt bei -ky entsprechend als ein Zeuge am Schauplatz des Mordes auf, dokumentiert und protokolliert zuverlässig die Taten. Dem moralischen Zeugen wird unter anderem eine Wahrheitsmission20 zugeschrieben. Er bezeugt nicht nur das Verbrechen aus eigener Erfahrung, sondern verhindert auch dessen Vergessen: „Vergessen schützt die Täter und schwächt die Opfer, weshalb inzwischen das Erinnern in Gestalt des Zeugnisses zu einer ethischen Pflicht und einer Form des nachträglichen Widerstands geworden ist.“21 Bei Bosetzky ist die Kriminalpolizei moralische Instanz und Zeuge der Lustmord- und der NS-Gewalt, ohne selbst mit der offiziellen Staatpolitik zu kollaborieren. Die (Nicht-)Parteilichkeit ist durch die Geschlechtszugehörigkeit bestimmt, da nur die Männerfiguren den Nationalsozialismus repräsentieren. Ihnen stehen die Frauenfiguren als Opposition gegenüber. Die Nichtzugehörigkeit zur NS-Partei erscheint aber differenzierter. Der weiblich codierten Opposition gehören nicht nur alle Frauenfiguren des Romans an, sondern auch einige Männerfiguren, die dem Regime zum Opfer gefallen sind. Sie besetzen als Opfer eine ‚weibliche‘ Position und werden außerdem durch die narrativen Strukturen ‚verweiblicht‘, die sie mit den Frauenfiguren in Zusammenhang setzen. Die männlichen Opfer erscheinen in der Handlung in der Erzählperspektive der Frauenfiguren. Der Ehemann von Emmi Borowka, Albert, wird als Emmis Ehemann in den Roman eingeführt. Emmis Bruder, der sich im KZ Sachsenhausen befindet, wird durch ihre fortwährenden Gedanken an ihn dargestellt. Die ‚verweiblichten‘ Männerfiguren als Opfer sind aber nicht mit den weiblichen Opfern identisch. Sie teilen sich dem Erinnerungsdiskurs entsprechend in männliche „sakrifizielle“ und weibliche „viktimologische“ Opfer auf.22 Die Frauen als viktimologische Opfer fallen aufgrund ihrer Passivität und Schwäche auch nach der Polizeiwarnung wehrlos dem Lustmörder zum Opfer: „Warum schließen Sie sich 18 Ebd.: S. 85-92. Ich berufe mich hier auf die Definition von Assmann. Sie unterscheidet vier Typen von Zeugen: Zeuge vor Gericht, historischer Zeuge, religiöser Zeuge und moralischer Zeuge. 19 Ebd.: S. 85. 20 Ebd.: S. 90. A. Assmann bezieht sich hierbei auf Margalit. 21 Ebd.: S. 91. 22 Ebd.: S. 22. Assmann weist in ihrer Studie darauf hin, dass die symbolischen Formen der kollektiven Erinnerung dazu tendieren, eher an heroisierte männliche Opfer als an wehrlose und passive weibliche Opfer zu erinnern, wie beispielsweise die Opfererinnerungen an das Warschauer Getto zeigen, die auf den Widerstand fokussieren.

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nicht zusammen und gehen immer nur zu zweit?“, fragt Grete das überlebende Opfer Emmi. „Wie denn? Keiner hat doch ’n Telefon. Und wenn wir zur Arbeit fahren, da hat doch jeder ’ne andere Zeit, wo er anfängt und wo nachher Schluß ist.“ (S. 201) Die Frauen können sich im Gegensatz zur streng hierarchischen männlichen Struktur nicht einmal in kleinen Gruppen organisieren – eine stereotype Vorstellung von der ‚weiblichen‘ Unfähigkeit, sich in einer Hierarchie oder einer Gruppe einzuordnen. Im Hinblick auf die männlichen Opferfiguren präsentiert der Roman hingegen heroisierte beziehungsweise sakrifizielle Opfer, die sich aktiv für die Gemeinschaft (an der Front: Emmis älterer Bruder und Ehemann) oder im Widerstand (im KZ: Emmis jüngerer Bruder) opfern.23 Die Geschlechterdifferenz zeichnet sich dabei durch Triebhaftigkeit und Asexualität aus, das heißt, alle männlichen Figuren, unabhängig von ihrer (Nicht)-Zugehörigkeit zur NSDAP, sind triebhaft, die meisten weiblichen Figuren sind asexuell. Diese über die ‚Triebe‘ bestimmte Differenz führt auf die seit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Vorstellungen über die Aktivität des Mannes und die Passivität der Frau in einem Sexualakt zurück.24 Die weiblichen Figuren werden in der Handlung entsprechend statisch dargestellt; die meisten männlichen Figuren durchlaufen hingegen Entwicklungen. Die Triebhaftigkeit des Mannes und die Asexualität der Frau werden bei -ky zugleich aber zur Grundlage der politischen Differenz, durch die die NS-Politik mithin essentialistisch begründet und legitimiert wird. So liegt es in der ‚Natur‘ des Mannes, triebhaft zu sein – eine kriminalanthropologisch fundierte Eigenschaft aller Männerfiguren im Roman. Mann und Tier sind Synonyme, wie der Titel Wie ein Tier deutlich macht; das animalische Vokabular überwiegt entsprechend in den Schilderungen der Männerfiguren. Nicht nur der Lustmörder lauert wie ein „Tiger“ (S. 13) oder „Panther“ (S. 14) auf seine Beute, auch Grete Behrens notiert in ihrem Tagebuch, alle Männer seien wie Tiere (S. 85). Diese ‚natürliche‘ Triebhaftigkeit missbilligt -ky durch die Verwendung einer pornografischen Sprache, die alles Sinnliche und Sexuelle abwertet und zum Obszönen umkehrt. Die ‚guten‘ Männer halten ihren Trieb daher unter Kontrolle – im Gegensatz zum Mörder Ogorzow, der seine Sexualität frei auslebt. Das animalische Vokabular bezieht sich dabei sowohl auf die männliche Sexualität als auch auf die männliche Gewalt – beide stehen in einem semantischen Kontinuum. Männer sind nicht nur Tiere, die wie Bullen und Hähne Frauen jederzeit begatten können (S. 143), sondern in jedem steckt auch das „Mördertier“ (S. 27). Die Morde gehören, so denkt Ogorzow, der ‚natürlichen‘ Nahrungsket23 Anzumerken ist, dass der Text ein KZ-Lager schildert, das nur für männliche politische Häftlinge aus dem Deutschen Reich vorgesehen ist, um die Opferposition des Volkes unter dem NS-Regime zu betonen. 24 K. Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“, in: W. Conze, Sozialgeschichte der Familie, S. 367.

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te im Sinne des Sozialdarwinismus an: „Der Löwe riß das Gnu, der Wolf fraß das Kalb, der Sperber schlug den Hasen, der Marder tötete das Huhn. So war die Natur. Das stärkere Tier erledigte das schwächere. Und auch der Mensch war nur ein Tier.“ (S. 163) Die männliche Sexualität und Gewalt werden also naturalisiert und mithin legitimiert. Sind alle Männer triebhafte und gewalttätige Tiere, so sind sie alle potenzielle Lustmörder. Die psychologische Analyse des Lustmörders trifft nach Grete Behrens auf „hundert tausend andere Männer“ zu (S. 182). Die Verknüpfung von ‚natürlicher‘ männlicher Sexualität und Gewalt, die dem Mannsein bei -ky essentiell zugrunde liegen, wird zur Voraussetzung der Politik des Nationalsozialismus: „Und die Frage ist nur: Wer zähmt die, die wie die Marder sind? Wer zerschlägt sie, die Männerbünde und rottet es aus: ihr Denken, ein Denken, für das Ogorzow steht?“ (S. 317) Grete spricht hier vom Nationalsozialismus und verbindet ihn mit dem Lustmörder und mit dem Tiersein. Die NSDiktatur wird von tierischen Trieben beherrscht, denn ihre (männlichen) Anhänger sind „Raubtiere“, „mordende“ und „gierige Tiere“. Auch Hitler und Ogorzow werden in eine Reihe gestellt: „Wer schickt uns die Männer wie Hitler, Himmler, Heydrich und Ogorzow auf die Erde und lässt sie morden?“ (S. 317) Verbindet der Roman Wie ein Tier die NS-Politik mit dem Lustmorddiskurs, so erscheint die NS-Diktatur als kriminell. Obwohl der Roman auf diese Weise Kritik am NS-Regime übt, vollzieht er gleichzeitig eine Naturalisierung und Essentialisierung der nationalsozialistischen Diktatur.25 Durch den Lustmorddiskurs wird die Diktatur zu einem ‚archaischen‘ und ‚triebhaften‘ Zustand der Kultur. Die Kriminalanthropologie, mit ihren Atavismus- und Degenerationstheorien Ursprung des historischen Lustmorddiskurses, geht nicht nur von einem ‚angeborenen‘ Verbrechertypus, dem homo deliquens aus, sondern betrachtet auch das Verbrechen als Produkt nicht gedämmter und ‚natürlicher‘ Triebe, die durch die Kulturation zu bändigen sind. Der Lustmörder und die NSDAP-Mitglieder werden durch diesen Bezug zu ‚geborenen‘ Verbrechern: „Sie [Grete; Anm. d. Verf.] wusste, daß die Welt in der Hand von Männerbünden war, archaischen Horden, die im Namen des Guten mordend und schändend über die Erdteile zogen.“ (S. 316) Diejenigen Männerfiguren in Bosetzkys Roman, die in der NSDAP nicht aktiv sind, werden durch die narrativen Strukturen und geschlechtsspezifische Zuschreibungen ‚verweiblicht‘, jedoch bleiben auch sie ‚von Natur aus‘ Tiere. Die politische Differenz in den Männlichkeitskonstruktionen liegt in der Fähigkeit, die Triebe bändigen zu können oder sie freizulassen. So denkt Albert Borowka,26 der bald zur Front eingezogen wird: „Der 25 Die NS-Diktatur wird außerdem dadurch naturalisiert, dass sie als Krebs, von dem es keine Heilung gibt (S. 21), dargestellt wird. 26 Im Zusammenhang mit der Figur des Albert wird folgende Verknüpfung zum Animalischen – und das bedeutet bei -ky zum Nationalsozialismus – geschaffen, was die Essentialisierung der männlichen Gewalt als soziales Phänomen freilegt und die Legitimationsstrategien des Textes unterminiert: „Wer seine Kinder

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Mensch zerfiel in zwei Arten von Tieren: Die, die töteten, und die, die sich töten ließen. Oder anders: Die einen mußten töten und die anderen mußten sich töten lassen. So war es vom Kosmos ein für allemal festgelegt worden.“ (S. 245) Der Mensch wird hier selbstverständlich als Mann gedacht, der vom ‚natürlichen‘ Todestrieb beherrscht wird. Die Lustmorde und der Nationalsozialismus werden im Text auch auf andere Weise verknüpft. Die Uniform wird beispielweise zum Signifikanten des lustmörderischen Begehrens. Für den Spannungsaufbau – jedermann ist ein potenzieller Lustmörder – schafft der Roman ein semiotisches Kontinuum: Der Lustmörder als Eisenbahnangestellter trägt eine Uniform, mit der er sich in der Kriegszeit nicht nur tarnt, sondern auch alle Männer in Uniform von Post, Eisenbahn, Polizei, Wehrmacht, SA und SS (S. 43) verdächtig macht. Darüber hinaus werden Parallelen zwischen dem Anfang des Krieges und der lustmörderischen Dynamik der Verbrechen gezogen. Paul Ogorzow beginnt, zunächst harmlos, noch vor dem Beginn des Krieges mit seinen ‚Aktivitäten‘. Im Sommer 1938 belästigt er Frauen, indem er sie mit seiner Taschenlampe im Dunkeln auf der Straße anleuchtet und ihnen anbietet, mit ihm Geschlechtsverkehr auszuüben. Mit dem einsetzenden Krieg werden die Angriffe des Lustmörders brutaler. Jetzt schlägt und würgt er seine Opfer, um sie wehrlos zu machen, begeht jedoch noch keinen Mord. Als sich der Krieg dynamisiert, häufen sich die Sittlichkeitsverbrechen und die Verletzungen der Frauen werden schwerer. Seinen ersten Lustmord begeht Ogorzow am 4. Oktober 1940, ein Tag schwerer Angriffe der Luftflotte 3 des Generalfeldmarschalls Sperrle auf London und des Treffens Hitlers mit Mussolini (S. 45). Die Eroberung der fremden Territorien wird mit der Aneignung und Vernichtung des weiblichen Körpers gleichgesetzt. Die Lustmorde Ogorzows werden zudem mit der Vernichtung Andersdenkender verknüpft. Sein Kindheitsfreund Herbert Floh macht eine glänzende Karriere in der SS und bringt als SS-Hauptscharführer im KZ Sachsenhausen, einem KZ für politische Häftlinge, jeden Tag Menschen um. Die Morde werden dabei durch die Politik des Staates legitimiert: „Wir übernehmen für den Volkskörper die Funktionen, die bestimmten Zellen und den weißen Blutkörperchen im menschlichen Körper zugewiesen sind: die Abtötung krankmachender Viren und Bakterien.“ (S. 125) Die Szene des Besuches von Ogorzow bei seinen Freund im KZ und Blohs Demonstration der Grausamkeiten, Folterungen und Morde an Häftlingen macht die Vernichtungspolitik der NS-Diktatur deutlich, von der Paul Ogorzow so begeistert ist. Letztendlich macht er nichts anderes als sein Freund im KZ, dessen Verbrechen Ogorzows Morde zahlenmäßig weit übersteigen. So träumt auch der

schlug und wer als Kind geschlagen wurde, der erschlug auch die Menschen. Er [Albert; Anm. d. Verf.] wusste es: Das Mördertier, das steckte auch in ihm. Wie in allen Männern. Die Frage war allein, ob man stark genug war, es zu bändigen. Nein, ob andere einen dazu brachten, es rauszulassen.“ (S. 27)

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Lustmörder davon, selbst Aufseher in einem KZ für Frauen zu werden, um offiziell Frauen töten zu können. ‚Weibliche‘ Sexualität scheint in diesem Zusammenhang pathologisch – hier findet der Topos Femme fatale seine Anwendung, der auf eine lange Tradition in der Literatur und Kunstgeschichte rückblicken kann.27 Als Gegensatz zur sexualisierten, bedrohlichen Frau fungiert die Femme fragile als eine asexuelle, ‚reine‘ Frau. Ogorzows Mutter wird beispielweise als Hure qualifiziert: Kurz nach der Geburt verlässt die unverheiratete Mutter ihren Säugling und brennt mit ihrem Liebhaber durch. Allein das uneheliche Kind bedeutet in der wilhelminischen Gesellschaft einen Ehrverlust für die Frau,28 den -ky durch die Sexualisierung der Mutterfigur unterstreicht. Sie verweigert durch ihre frei ausgelebte Sexualität die in der bürgerlichen Gesellschaft verbindliche Mütterlichkeit, die als ‚natürliche‘ Berufung der Frau betrachtet wird. Als Erklärung für die Unfähigkeit des Mörders, seine Triebe zu zügeln, dienen sowohl die von der Mutter ‚vererbte‘ triebhafte Veranlagung als auch die traumatische Kindheit, die durch die ‚schlechte‘ Mutter, die ihren Sohn wiederholt wegen ihrer Liebhaber verlassen hat, verursacht wurde. Die ‚schlechte‘ Mutter bestimmt also aufgrund ihrer Triebhaftigkeit den zerstörerischen ‚Ursprung‘ ihres Sohnes. Alle anderen Frauenfiguren im Roman gleichen der notorischen Femme fragile beziehungsweise einer Heiligen. Sie sind frei von der Kontamination durch das Triebhafte, das Sinnliche und das Körperliche. Der Roman beschreibt die Figur der Grete Behrens wie folgt: „Grete hielt mehr von einer platonischen Verbindung. Sie haßte es innerlich, wenn er in ihren Körper drang und sie mit seinem Leib begrub.“ (S. 85) Auch Gertrud, die Ehefrau des Lustmörders, ist eine musterhafte, asexuelle Mutter: „Kochen, Wäsche waschen, Strümpfe stopfen, Kinder besorgen, das konnte sie ja. […] Die hatte so wenig Spaß am Verkehr, daß er kaum bei ihr ins Loch reinkam, wenn er ihn mal hart bekommen hatte.“ (S. 107) Emmi Borowka kann keinen Geschlechtsverkehr ertragen, da sie dabei an die Gräueltaten des Krieges und der Diktatur denkt (S. 20-21). Diese binär organisierten Projektionsbilder des Weiblichen ähneln den Frauenfiguren im Roman Das Parfum von Patrick Süskind, der ebenso die ‚böse‘ Mutter zum ‚Ursprung‘ der männlichen Destruktion und die verkörperte ‚Unschuld‘ zum Opfer werden lässt. Im Gegensatz zu Süskind verwendet Bosetzky binäre Weiblichkeitsbilder nicht für die Kunstproduktion, sondern dem Erinnerungsdiskurs entsprechend als eine Entlastungsstrategie, denn die Frauenfiguren fungieren nicht nur als Identifikationsfiguren im Text, sondern verkörpern auch das Volk, was im nächsten Kapitel deutlich wird. Sie sind aufgrund ihrer ‚natürlichen‘ Asexualität frei von Trieben, und das heißt frei von der nationalsozi27 Die sexualisierte Frau wird auch um die Wende zum 20. Jahrhundert pathologisiert. Als Beispiel kann der Hysteriediskurs genannt werden. 28 Vgl. Frevert, Ute: „Mann und Weib, und Weib und Mann“: GeschlechterDifferenzen in der Moderne, München 1995, S. 202-207.

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alistischen Ideologie. Die (männliche) triebhafte Sexualität bedeutet im Gegensatz zur (weiblichen) Asexualität, eine ‚natürliche‘ Veranlagung zu den Methoden des NS-Staates zu haben. Der Roman reproduziert also die in der Nachkriegszeit herrschenden Diskurse, ohne sie zu durchbrechen oder sie kritisch zu reflektieren. Er setzt sie als Bewältigungsstrategien ein, die eine Privatisierung und Sexualisierung der Macht- und Gewaltzusammenhänge im Nationalsozialismus vollziehen und essentialistische Deutungen der Geschichte produzieren.29 Durch die Sexualisierung der Täter werden so die ‚wirklichen‘, ‚eigentlichen‘ und ‚innersten‘ Hintergründe der nationalsozialistischen Verbrechen in der Sexualität beziehungsweise in ‚Perversionen‘ begründet.30

W EIBLICHKEIT

ALS

V ERKÖRPERUNG DES V OLKES

Weibliche Figuren sind im Roman Wie ein Tier Opfer der NS-Diktatur und Medien des Verdrängten. In dieser Position befinden sie sich entweder in einer offenen oder diskreten Opposition zu den triebhaften Männerfiguren. So üben die meisten weiblichen Figuren Kritik am NS-Regime: Die Großmutter von Albert Borowka ist Mitglied in einem sozialdemokratischen Arbeiterverein (S. 27); sie ist eine Friedensvermittlerin, indem sie Albert mit der Idee eines friedlichen Berufs, dem des Diplom-Ingenieurs, ansteckt. Anstatt der Zerstörung widmet er sich dem Bauen und Konstruieren. Die Mutter von Gerhard Baronna versteckt Juden in ihrer Wohnung. Gertrud Ogorzow liebt einen jüdischen Mann und rettet ihr gemeinsames Kind. Diese Nähe der weiblichen Figuren zu den Juden überzeichnet ihren Opferstatus im NS-Regime. Als zentrale Oppositionsfigur erscheint aber Grete Behrens. Jedes Mal, wenn Grete auftritt, folgt Kritik an der inneren und auswärtigen NS-Politik, am Krieg und an den Konzentrationslagern, an Hitler und an der Vernichtung der Andersdenkenden. In dieser Oppositionsposition sind die Frauenfiguren im Roman jedoch doppelte Opfer der NS-Diktatur und können bei -ky deswegen keinen Widerstand leisten: Zum einen sind sie Opfer des Krieges, da sie sich nicht mehr mit ihrer ‚echten‘ bürgerlichen Weiblichkeit, repräsentiert durch ihre Tätigkeit im Haushalt und ihre traditionelle Rolle in der Familie, identifizieren können. Zum anderen werden sie genau deshalb zu einer leichteren Beute des Lustmörders. Drei Figuren – Emmi Borowka, Grete Behrens und 29 Weigel, Sigrid: Zur nationalen Funktion des Geschlechterdiskurses im Gedächtnis des Nationalsozialismus – Alfred Andresch’ „Die Rote“, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, S. 181-199; hier. S. 186. 30 Vgl. Wenk, Silke: Rhetoriken der Pornografisierung: Rahmungen des Blicks auf die NS-Verbrechen, in: Eschebach, Insa/Jacobeit, Sigrid/Wenk, Silke (Hg.): Gedächtnis und Geschlecht: Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt am Main 2002, S. 269-294, hier: S. 269-270.

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Gertrud Ogorzow – werden genauer dargestellt. Emmi überlebt den Angriff des Lustmörders am Anfang des Romans. Grete eröffnet eine Perspektive auf andere Opfer, die traumatisiert sind: Als Frau kann sie sich „viel besser in das Opfer einer Vergewaltigung hineinversetzen“ (S. 194).31 Grete wird außerdem von der Polizei als Lockvogel eingesetzt. Da die weiblichen Kriminalbeamten keine Waffen tragen dürfen, „das entspräche nicht dem Bild der deutschen Frau und gefährde sie zudem übermäßig“ (S. 196), wird sie völlig hilflos in eine Opferposition hineingezwungen. Bosetzky verdammt seine weiblichen Opfer zur Passivität, was als Absage an jegliche Art des Militarismus oder der Aggressivität zu lesen ist. Grete kann sich gegen den Täter nicht wehren und wird nur durch Zufall gerettet, da Ogorzow während des Angriffs plötzlich Ischiasschmerzen bekommt(S. 208). Gertrud Ogorzow, die Ehefrau des Lustmörders, ist zwar nicht sein Opfer, jedoch opfert sie sich durch ihre Ehe. Für sie, die aus dem bürgerlichen Mittelstand stammt, bedeutet die Ehe mit dem als primitiv und kriminell beschriebenen Bauern Ogorzow eine Mesalliance. Gertrud rettet mit der Heirat ihr uneheliches Kind von einem jüdischen Dentisten, der im KZ ermordet wurde: „Sie [Tochter Ingrid; Anm. d. Verf.] war sein Fleisch und sein Blut, und für ihn [den Dentisten; Anm. d. Verf.] musste sie Ingrid über Krieg und Nazi-Reich retten. Dafür war ihr kein Opfer groß genug, nicht einmal das, mit Paul Ogorzow die Ehe einzugehen.“ (S. 118) Durch die Ehe als Selbstaufopferung entspricht Gertrud der stereotypen bürgerlichen Vorstellung von der asexuellen und opferbereiten Mutter als einem ‚natürlichen Wesensprinzip‘ des Weiblichen: „Es ist der archaische Instinkt einer Mutter, die ihr Junges schützen will.“ (S. 119) Diese Opferposition der weiblichen Figuren wird durch rassistische Zuschreibungen bestätigt: Sie werden auch als kolonialisiert dargestellt.32 So weist die Frau eine Analogie zu den ‚niedrigen Rassen‘ auf, die im Kontext der nationalsozialistischen Rassenpolitik die Nichtzugehörigkeit zur ‚Her31 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass der Roman Gewalt gegen Frauen in einer sexistischen Manier legitimiert, indem der Vergewaltigungsdiskurs als ein biologisch-anatomischer Diskurs dargestellt wird: „Daß jeder Mann klammheimlich auf Seite des Vergewaltigers war, weil er aufgrund seiner Biologie nicht anders konnte, als an dessen Lust immer irgendwie auch teilzuhaben, und weil es sein Vorstellungsvermögen bei weitem überstieg, sich selber als Opfer einer solchen Tat zu sehen. Keine Frau konnte seinen schlaffen Penis nehmen und gewaltsam bei sich einführen.“ (S. 195) Der Roman reproduziert die narrativen Strukturen des kulturellen Vergewaltigungsskriptes, das mit ‚biologischen‘ Geschlechterdifferenzen (z.B.: Mann ist stark, Frau ist schwach) operiert und dadurch die Vergewaltigung als ‚Männersache‘ legitimiert. Vgl. Marcus, Sharon: Fighting Bodies, Fighting Words: A Theory and Politics of Rape Prevention, in: Butler, Judith/Scott, Joan W. (Hg.): Feminists Theorize the Political, New York; London 1992, S. 385-403. 32 Zitiert nach F. Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 140.

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renrasse‘ deutlich macht. Grete liebt beispielsweise die „Negermusik“ (S. 180), den Jazz, der in der NS-Zeit einem Verbot unterliegt. An anderer Stelle erweckt ein weiteres weibliches Opfer koloniale Fantasien: Eine schöne Frau, die sich der Schaffner als „Hottentottin“ vorstellt (S. 28), wird vom Lustmörder aus dem Zug gestoßen. Der Lustmord markiert dabei die Irritation in der Gesellschaft, dass die Frauen durch den Krieg zwanghaft aus dem Heim in die Öffentlichkeit vertrieben werden und ubiquitär die Männer vertreten: „Der Männermangel, die Tatsache, daß sie [die Frauen, Anm. d. Verf.] vielfach Schichtdienst hatten – auf Männerarbeitsplätzen.“ (S. 77) Der Roman hält als Normvorlage die wilhelminische Geschlechterordnung fest, die die Frau im privaten Bereich positioniert. In der Öffentlichkeit droht den Frauen daher Todesgefahr – durch den Lustmord. Alle weiblichen Opfer des Lustmörders sind bezeichnenderweise arbeitende Frauen. Emmi Borowka muss in der Rüstungsindustrie arbeiten (S. 9), Grete Behrens ist Kriminalassistentin, Gerda Kargoll Turnlehrerin (S. 40), Elisabeth Bendorf Fahrkartenverkäuferin (S. 64), Elfriede Franke Krankenschwester (S. 87), Irmgard Freese Arbeiterin (S. 89) usw. Nur das erste Lustmordopfer ist eine Ausnahme: Sie ist Hausfrau und Mutter. Der Lustmord kann also als Ausdruck und Abwehr dieser neuen Geschlechter- und Gesellschaftsordnung gelesen werden, die durch die Abwesenheit der Männer und die Überpräsenz der Frauen in der Öffentlichkeit charakterisiert wird: „Daß Männer ihre Frauen abholten, kam kaum noch vor. Die saßen alle in den Kasernen oder standen im Feld.“ (S. 10) Der Roman findet keine Lösung für diese Verwirrung der sozialen Ordnung: Der Lustmörder ist schwer zu fangen; die (Ehe-)Männer sind nicht da, um die Frauen zu beschützen, und die Polizei ist außerstande, den Frauen Schutz zu gewähren, da diese sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Arbeitszeiten nicht in Gruppen zusammenschließen können. Die einzige Lösung besteht daher in der Rückkehr der Frauen in das Haus und in der Wiederherstellung der traditionellen patriarchalischen Geschlechterordnung – eine Affirmation der asymmetrischen, misogynen Geschlechterzuschreibungen. In dieser ohnmächtigen Position als Opfer verkörpern die Frauen ein deutsches Volk, das sich an der NS-Politik nicht beteiligt, sondern ihr hilflos ausgeliefert ist – eine traditionsreiche Darstellung des Volkes und der Nation als Frau. Die Geschlechterrhetorik gehört laut der Kunsthistorikerin Viktoria Schmidt-Linsenhoff33 seit der Französischen Revolution zur Grundausstattung der europäischen Nationaldiskurse, so dass die Gleichsetzung von Weiblichkeit und Volk/Nation nicht nur für den Nationaldiskurs der deutschen Rechten34, sondern auch der deutschen Linken und für die Sowjetuni33 Schmidt-Linsenhoff, Victoria: Kohl und Kollwitz: Staats- und Weiblichkeitsdiskurse in der Neuen Wache 1993, in: Graczyk, Annette (Hg.): Das Volk, Abbild, Konstruktion, Phantasma, Berlin 1996, S. 185-206. 34 Frietsch, Elke: „Kulturproblem Frau“: Weiblichkeitsbilder in der Kunst des Nationalsozialismus, Köln 2006. In ihren Studien zeigt Frietsch deutlich, dass auch

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on der 1950er bis 1960er Jahre symptomatisch ist.35 Der Roman Wie ein Tier folgt also, mit Sigrid Weigel gesprochen, der für den Diskurs über den Nationalsozialismus charakteristisch gewordenen „Verdichtung von Bildern des Volkskörpers und der Nation mit Weiblichkeitsbildern“.36 Zum einen fällt im Roman auf, dass die zivile Bevölkerung – das heißt in diesem Fall alle, die keine NSDAP-Mitglieder sind – weiblich codiert ist. Zum anderen wird der Vergewaltiger „Volksschädling“ (S. 13) genannt: Der Frau Schaden zuzufügen bedeutet, dem Volk zu schaden. Die Feminisierung des deutschen Volkes ermöglicht es, seine Viktimisierung zu vollziehen.37 Das effeminierte Volk wird zum Opfer der lustmörderischen NSDAP, die ihr eigenes Volk vernichtet, analog zur Frau als Opfer des Lustmörders. Die geschändete Frau wird stellvertretend zur Verkörperung des geschändeten, entehrten Volkes,38 das durch die Auratisierung der Frau ‚gereinigt‘ wird – durch ihre Asexualität als Symbol der Reinheit und durch ihre Passivität als Symbol der Unschuld.39 Diese Konstruktion entlastet das Volk von der kollektiven Schuld.40 Der Roman suggeriert, dass es genauso schwer ist, sich gegen die NS-Diktatur zu wehren wie gegen das triebhafte Tier, das plötzlich überfällt und tötet: „Ist ‚das deutsche Volk‘, das die Nazis an die Macht brachte, erst einmal über die Zuordnung zum ‚Weiblichen‘ auf der Seite des Schwachen (als der Opposition ‚des Männlichen‘), so lässt es sich als ‚Opfer‘ (im Sinne von victim) beschrei-

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die Propaganda der NS-Diktatur für die Gleichsetzung von Weiblichkeit und Volkskörper gesorgt hat. Am Bild der Frau, so referiert Frietsch anhand einer Aussage aus der NS-Zeit, wird der Zustand der Nation abgelesen. Die NSPropaganda plädierte dabei für die Rückkehr der Frauen zu ihren „natürlichen Obliegenheiten“ wie Reproduktion und Fürsorge. Vgl. Eschebach, Insa: Geschlechtsspezifische Symbolisierung im Diskurs über Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, in: Heukenkamp, Ursula (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961), Amsterdam; Atlanta 2001, S. 635-642, hier: S. 623. S. Weigel: Zur nationalen Funktion des Geschlechterdiskurses, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, S. 187. Als weitere Vermutung liegt nahe, dass die Frauenfiguren auch Identifikationsfiguren des Autors sind (Nachwort des Romans, S. 319-324), so dass er nicht zuletzt die Entlastung des männlichen Teils der Bevölkerung von der Schuld fordert. Vgl. Rogoff, Irit: Von Ruinen zu Trümmern: Die Feminisierung von Faschismus in deutschen historischen Museen, in: Baumgart, Silvia et al.(Hg.): Denkräume: Zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin 1993, S. 258-285. A. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 80. Das absolut passive Opfer wird nach Assmann in der Regel mit Reinheit und Unschuld assoziiert. S. Weigel: Vorbemerkung, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, S. 15.

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ben: verführt und/oder vergewaltigt.“41 Der Holocaust wird nicht thematisiert, stattdessen kehrt der Roman die Vernichtung der Juden in ihre Rettung durch das deutsche Volk um: Durch die allegorische Darstellung der Nation als Mutter (Gertrud Ogorzow) und der Juden als Kinder Deutschlands (ihre jüdische Tochter) sichert die (geschändete) opferbereite deutsche Mutter die Kontinuität der Nation, indem sie ihre jüdische Tochter rettet.42 Neben ihrer Oppositions- und Opferrolle verkörpern die drei zentralen weiblichen Figuren Emmi, Grete und Gertrud das aus der Öffentlichkeit Ausgeschlossene. Dies entspricht einer langen Tradition in der westlichen Kulturgeschichte, die das Weibliche mit dem Vergessenen, dem Verdrängten und dem Ausgeschlossenen verbindet.43 Die drei Frauenfiguren markieren die Grenzen des Sagbaren und Nicht-Sagbaren des NS-Diskurses. Sie offenbaren Tabus der NS-Politik im Hinblick auf die propagierte Männlichkeit, die Psychoanalyse und die Juden. Gertrud Ogorzow erinnert durch ihre jüdische Tochter an den Genozid am jüdischen Volk, der in der Öffentlichkeit und in dem Roman Wie ein Tier ausgeblendet wird. Emmi eröffnet zudem eine Perspektive auf die Männer, die die Kehrseite der offiziellen Propaganda verkörpern: „Ihr älterer Bruder stand mit dem XIV. Panzerkorps unter General Hoeppner in Frankreich.“ (S. 13) Als Soldat ist er gezwungen zu kämpfen und kann jederzeit an der Front fallen. Ihr jüngerer Bruder Berthold befindet sich seit zwei Jahren als Andersdenkender mit 11000 anderen Häftlingen im KZ Sachsenhausen (S. 15), er gehörte der sozialistischen Organisation „Neu Beginnen“ (S. 16) an, die erfolglos versucht hatte, den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Der Roman endet mit der Nachricht von seiner Ermordung 41 Wenk, Silke/Eschebach, Insa: Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz: Eine Einführung, in: I. Eschebach/S. Jacobeit/S. Wenk, Gedächtnis und Geschlecht, S. 13-38, hier: S. 26. 42 I. Eschebach: Geschlechtsspezifische Symbolisierungen, in: U. Heukenkamp, Schuld und Sühne? S. 642. Eschebach erarbeitet die geschlechtsspezifischen Deutungsmuster der Diskurse über den Nationalsozialismus anhand der Rede von Wiechert Ernst (1945) und der Schriften von Wilhelm Pieck (1918-1959). Beide Autoren setzen gleiche Geschlechtersemantiken ein: Der sexuell konnotierte und unkultivierte Hitler als handelndes Subjekt, der den weiblich konnotierten Volkskörper „beschmutzt“, „versehrt“, „versklavt“, „knebelt“ und „unterjocht“ (S. 636). Eschebach weist in ihrem Aufsatz darauf hin, dass diese Strategien durch die Entlastung von Schuld und Verantwortung eine Kontinuität des Nationalen behaupten und gleichzeitig den Nationalsozialismus als naturhaft begründete Gewalterfahrung erscheinen lassen. „Das Bild von Deutschland als Mutter beziehungsweise nunmehr geschändeter Frau erlaubt es, den Nationalsozialismus, den Genozid, den Zweiten Weltkrieg in die Kontinuität nationaler ‚Opfergeschichte‘ zu stellen.“ (S. 642) 43 Vgl. Weigel, Sigrid: Zum Bild- und Körpergedächtnis in Anne Dudens „Judasschaf“, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, S. 21-38, hier: S. 29.

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im KZ. Emmis Onkel Paul wurde bei einem Bombenangriff getötet (S. 21). Auch ihr Ehemann Albert Borowka fällt aus dem verbindlichen Männlichkeitsdiskurs heraus: Er kämpft nicht an der Front. Als er schließlich eingezogen wird, ist er verzweifelt. Er schlägt und vergewaltigt seine Ehefrau nicht wie andere Ehemänner, und er ist zuweilen impotent, was auf einen Mangel an Triebhaftigkeit hindeutet. Mit dieser Absage an die Reproduktion verweigert er auch die Unterstützung der NS-Zukunft. Mit der Figur der Grete wird ein psychoanalytischer Diskurs eingeführt, der sich zum größten Teil auf ihren Geliebten Gerhard Baronna bezieht. Grete hatte vor, ihr Leben der Psychoanalyse zu widmen, sie besuchte sogar Vorlesungen von Sigmund Freud und Melanie Klein in Wien (S. 50). Darüber hinaus analysiert Grete die Anatomie der Lustmörderpsyche, die sie mit den psychischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus verknüpft. Die mit Weiblichkeit verknüpfte Psychoanalyse wird zum Symbol des Humanismus, da sie sich der Individualität des Menschen zuwendet und ihn zu verstehen versucht. In der Verknüpfung von Opposition und Psychoanalyse kann die Figur Grete als Verkörperung von Baronnas externalisiertem Gewissen gelesen werden. Sie ist allem voran narrativ mit ihm verknüpft, so dass ihre Äußerungen entweder Baronna betreffen oder im Gespräch mit ihm stattfinden. In diesen Gesprächen erklärt sie Gerhard die psychischen Mechanismen der destruktiven Triebe nach Freud als Über-Ich-Defekte, als mangelhaftes Ich und als die Herrschaft des Es, die nach ihrer Auffassung eine psychische Vorraussetzung für die NS-Diktatur darstellt. Sie zieht daraus den Schluss, dass alle Männer potenzielle Lustmörder und infolgedessen NS-Unterstützer sind. Gerhard ist dagegen kein Mörder, weil er sie, Grete, hat: „Du bist in keiner Weise krankhaft – und hast mich.“ (S. 182) Baronna besitzt durch die Bindung an die Frau kein ‚mangelhaftes Ich‘. Letztendlich wird Gerhards Aufstieg in der NSDAP als Trennung von Grete vorgeführt, also als Verwerfung der moralischen Instanz. Je stärker Gerhard Baronna zur NS-Partei neigt, desto größer wird der Abstand zwischen ihm und Grete. Der erste Streit mit Grete Behrens wird als Aufwachen des Tieres in Baronna und als sein plötzliches Verstehen des Lustmörders dargestellt: „Und plötzlich verstand er den S-Bahn-Mörder. Denn er verspürte eine ungeheure Lust, ihnen [den jungen Stenotypistinnen; Anm. d. Verf.] die Röcke hochzureißen und in sie hineinzustoßen. Von vorne, von hinten, bis zum Wahnsinn hinein. Nur das war Mannsein in letzter Konsequenz. Die Hennen treten, wenn einem als Hahn der Sinn danach stand.“ (S. 216) Die Trennung vom Weiblichen wird zu einer Voraussetzung für die Karriere in der NSDAP. Als sich Gerhard entscheidet, zur Gestapo zu wechseln, muss er seine Geliebte aufgeben und sich von seiner Mutter „abnabeln“ (S. 87). Grete fühlt sich dementsprechend für seine Karriere in der Gestapo verantwortlich: „Was mit Gerhard Baronna geschehen war, ließ ihr keine Ruhe. Sie gab sich einen Großteil Schuld an allem. Sie hätte ihn an sich binden und nach ihrem Gusto formen müssen.“ (S. 316) So erscheint Grete und nicht die Vaterfigur, die sonst die moralische Instanz verkörpert, in einer

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verantwortungsvollen Position. Die im Roman manifestierte Schwäche der Weiblichkeit ermöglicht es allerdings, die moralische Instanz zu verwerfen, ohne die patriarchalische Geschlechterordnung und die Vaterfigur in Frage zu stellen. Diese Verwerfung der moralischen Instanz als Voraussetzung der faschistischen Mannwerdung vollzieht sich in Analogie zur Entstehung eines männlichen Körperpanzers bei Theweleit44 über die Abgrenzung vom Weiblichen. Bosetzky legt dabei die NS-Politik nicht nur als einen durch die Gesellschaft bestimmten Zustand der männlichen Psyche offen, sondern führt den Nationalsozialismus auch auf ‚natürliche‘ und ‚archaische‘ Triebe jedes Mannes zurück, die der Mann nur mithilfe von Frauen unter Kontrolle halten kann. Trotz der Bedeutung der Frauenfiguren für die Narration stellt der Roman keine kohärente weibliche Identität her. Die Frauen erscheinen zerrissen zwischen Verantwortung und Ohnmacht: Einerseits sind sie die einzigen, die Humanismus und kritisches Denken bewahren, andererseits diskriminiert der Text die weiblichen Figuren mehrfach. Erstens sind sie machtlos und marginal, so dass auch die über sie thematisierte Kritik am Nationalsozialismus marginalisiert wird. Zweitens sind sie unter dem Diktat des Guten eindimensional und statisch gestaltet, und der Roman traut ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Kollaboration mit der NSDiktatur nicht zu. Drittens sind die Frauen als moralische Instanz für die Männerfiguren angelegt und daher indirekt für die männlichen Taten verantwortlich, auf die sie gleichwohl keinen Einfluss haben. Letztendlich erscheinen die weiblichen Figuren als Projektionsfiguren des Männlichen, dessen Ängste und Wünsche (wie die nach Reinheit und Asexualität) auf sie projiziert und abgespalten werden. Auf diese Weise kann das kollektive „Wir“ des Volkes als auratisches Opfer und zugleich als Opposition konstituiert werden, das jedoch aus der offiziellen Politik ausgeschlossen bleibt.

T ÄTER

ALS

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Topografie des Unbewussten Der Roman unterzieht die Männerbünde zwar einer Kritik, da sie als Grundlage des Nationalsozialismus gelten,45 jedoch folgt er Strategien einer Vergangenheitsbewältigung, die auch die NSDAP-Mitglieder rechtfertigt. Bo44 Vgl. K. Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1. 45 Vgl. Widdig, Bernd: „Ein herber Kultus des Männlichen“: Männerbünde um 1900, in: E. Walter/B. Herrmann, Wann ist der Mann ein Mann? S. 235-248. Durch den Wachtmeister Hermann Heckelberg stellt der Roman Wie ein Tier eine durch Männerbünde geprägte Gesellschaft dar, wie sie in der Analyse von Widdig charakterisiert wird: Opferbereitschaft der Männer, eine strenge Hierarchie, an der Spitze ein charismatischer Führer.

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setzky entwirft mithilfe der Psychoanalyse eine Topografie des kollektiven Unbewussten – eine Freilassung der ‚Urtriebe‘. Bei der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit dem Lustmörder stellt Grete in Anlehnung an Freud fest: „Über-Ich-Defekte, Ich-Verarmung und im Es ein erhebliches Übergewicht der Destructio“ (S. 187), die auf „hunderttausend andere Männer“ zutreffen, da im Deutschen Reich „SA, SS, Gestapo, Wehrmacht, Krieg, Verdunkelung“ herrschen (S. 187). Die Vaterordnung, also die Ordnung der Über-Ich-Instanz, ist suspendiert (siehe Kapitel Genese der NSPsyche), das Ich wird durch die Trennung von der Weiblichkeit zum triebhaften Es. Die Herrschaft des destruktiven Es wird allem voran mithilfe der Dunkelheit, die in der mythischen Tradition für das ‚Böse‘ steht, zum Ausdruck gebracht: Die Verdunkelungsverordnung eröffnet den Roman, die Figuren agieren in der Dunkelheit, die Morde und die Fahndungsaktion finden in der Dunkelheit statt. Dieser Dunkelheit als Triebhaftigkeit steht das Licht als ein im Christentum tradiertes Zeichen der göttlichen Segnung gegenüber. Gerhard Baronna wird zunächst mit dem Licht verknüpft, was von ihm als ethisches Gesetz verinnerlicht wurde: „Ein immer helles Licht beleuchtete deinen Weg – die Pflicht. So hatte er es gelernt.“ (S. 58) Auch für die Figur Ogorzow wird die Metapher von Licht und Finsternis verwendet: Er entscheidet zu töten, indem er eine Lampe an- und ausschaltet: „An – aus. […] Wenn er seinen Dienst versah und mit den Kindern spielte, machte er die Welt ganz hell für alle, wenn er dagegen auf die Jagd ging und seine Krallen in die Beute schlug, stürzte er die anderen Menschen in tiefstes Dunkel, bis in den Tod.“ (S. 117) Da sich die Stadt fast immer in Dunkelheit befindet, kann er sich frei bewegen und seine ‚dunklen‘ Triebe ausleben. Berlin wird dabei mit einer traumatischen Topographie versehen, denn alle genannten S-Bahn-Stationen und Stadtgebiete sind Orte des Verbrechens, an denen die Lustmorde geschehen. Hier herrscht das kollektive Es als Sexual- und Todestrieb – beide sind bei -ky eng verknüpft – in Form des S-Bahn-Zuges. Auf die Symbolisierung des Zuges als Todestrieb weisen semantische Verknüpfungen hin, die die destruktiven ‚Urtriebe‘ auf das Kollektive ausweiten: „Triebtäter, Triebwagenführer, Führer, befiehl…“ (S. 201), so die Assoziationen von Grete Behrens. In einer Referenz auf den Film Es geschah am hellichten Tag, der von Lustmorden erzählt, erscheint der Zug dem Kriminalsekretär Baronna als unheimlich – ebenfalls ein Begriff aus dem Repertoire des Unbewussten bei Freud: „Sogar am hellichten Tag schien ihm [Baronna; Anm. d. Verf.] die leere S-Bahn ein wenig unheimlich zu sein.“ (S. 77) Der Zug erinnert daher an die Zerstörung und verdrängt sie zugleich. Im Roman werden mehrmals Parallelen gezogen zwischen dem Lustmörder, dem NS-Regime und dem Zug, ohne jedoch explizit auf den Transport von Juden ins KZ zu verweisen – eine Dramaturgie des Unheimlichen, das auf das Trauma hinweist, ohne es zu nennen. Der Zug erscheint daher als ein metonymisches Zeichen für die Vernichtung der Juden. Eine aufziehbare Blecheisenbahn, die Ogorzow seinem kleinen Sohn zu Weihnachten schenkt, stammt von ermordeten Juden (S. 115). Diejeni-

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gen, die der nationalsozialistischen Ideologie nicht entsprechen, nutzen den Zug bezeichnenderweise nicht. Das gilt für Juden, für Frauen und letztendlich für das Volk. Bei den ermordeten Frauen findet die Polizei keine Fahrkarte, was als ein symbolischer Entzug der Teilnahme an der Politik der bestehenden Ordnung gelesen werden kann. So steht der Zug mit dem Lustmörder in Verbindung und wird zugleich zum Symbol der nationalsozialistischen männlichen Zerstörung. Ogorzow betrachtet Züge bereits in seiner Kindheit mit Faszination. Er arbeitet für die Eisenbahn, lernt seine Opfer und seine Ehefrau im Zug kennen und tötet im Zug. Er fährt immer mit dem Zug, um an seine Ziele zu gelangen. Später spielt er mit seinem Sohn „Zug“, indem er den Sohn auf die Schultern nimmt und einen Zug mimt. Sein Trieb wird ebenso mit dem Zug assoziiert wie beispielsweise die Darstellung seines Geschlechtsverkehrs: „Er war Eisenbahner, und so hatte er das Bild vor Augen, wie die Treib- und Kuppelstangen einer Lok voller Urgewalt vor- und rückwärts gingen. So auch sah er seinen Kolben bei der Arbeit. Bis der Kessel platzte, und sie beide schrien, Anneliese und er.“ (S. 123) Er verschmilzt mit der Maschine, was ermöglicht, ihn als eine Marionette der politischen Machthaber ohne eigenen Willen darzustellen. Der Mörder wird von einer anonymen Instanz manipuliert. Paul Ogorzow fühlt sich wie eine Lore (ein Transportwagen), die, einmal auf die Schienen gestellt, nach einem kleinen Anstoß in die einzig mögliche Richtung rollt: „Gab man ihr einen Schubs, rollte sie davon. Egal, ob da ein Stück Gerade war oder eine Kurve. Die Lore konnte gar nicht woandershin.“ (S. 147) Mit dem Zug werden aber auch alle anderen männlichen Figuren des Romans in Zusammenhang gebracht. Sie führen und bedienen den Zug. Der Ehemann von Emmi Borowka, Albert, arbeitet als Triebwagenführer. Mit dem Triebwagen zu fahren bedeutet im Roman, den Kindheitstraum eines jeden Mannes zu erfüllen (S. 78).46 Der durch den Zug symbolisierte Todestrieb lässt die Männerordnung in Anlehnung an Fromm47 als eine nekrophile Gesellschaft erscheinen, die durch ihre Faszination von der Technik das Unorganische und Tote privilegiert. Der Nationalsozialismus organisiert die technisierte Destruktion. Der Zug symbolisiert zugleich die NS-Bewegung, die nicht zu stoppen ist. Bloh versucht, seinen Freund Ogorzow zum Eintritt in die NSDAP zu überreden. Er vergleicht die Partei mit einem Zug, mit dem man entweder mitfährt oder andernfalls zum Verlierer wird: „Und wenn der Zug dahin fährt, wo Milch und Honig fließen, und du da zurückbleibst, wo nur’n Misthaufen ist, dann bist du ein Idiot! […] Mensch, du springst auf den fahrenden Zug, um ans Ziel zu kommen!“ (S. 163) Der Zug erscheint letztendlich 46 Baronna ist vom Zug genauso fasziniert wie Herbert Bloh, der in seiner Kindheit eine Spielzeugeisenbahn besaß. 47 Fromm, Erich: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974, S. 310-324. Im darauffolgenden Kapitel analysiert Fromm Hitler als einen „klinische[n] Fall von Nekrophilie“ (S. 335-394).

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als der eigentliche Mörder. Der Triebwagenführer Albert Borowka, Ehemann Emmis erklärt: „Ja, so’n S-Bahnzug ist schon’n richtiges Mordinstrument geworden.“ (S. 24) An einer anderen Stelle heißt es: „Die S-Bahn als mordendes Tier. […] Sie war der eigentliche Täter, und der Mensch, den sie suchten, war nur ihr Instrument.“ (S. 176) Die Bahn verschlingt die Menschen, und der „S-Bahn-Mörder [ist] nur ein spezieller Teil des Ganzen.“ (S. 177) Wird die NSDAP zu einem Zug, der wiederum ein unkontrollierbarer Todestrieb ist, so wird die NS-Diktatur bei Bosetzky entindividuiert und entpersönlicht. Die Technik allein ist für die Herrschaft der Destruktion verantwortlich, denn die Figuren können entweder mit dem Zug mitfahren oder von ihm überrollt werden. Sie sind zwar die Täter, tragen aber keine Verantwortung für ihre Taten. Ihnen wird jegliche Widerstandsmöglichkeit abgesprochen, weil die Herrschaft des destruktiven Unbewussten ein ‚natürlicher‘ Zustand jedes Mannes im Roman ist. Mithin wird eine paradoxe Position geschaffen, indem die Täter zwar genannt werden, aber keine eigentlichen Täter sind, sondern Opfer des freigelassenen Es. Das kritische Potenzial des Romans wird unterwandert, indem die sozialen und politischen Strukturen als psychische, unkontrollierbare Phänomene erklärt werden. Genese der NS- und Lustmörder-Psyche Die jeweiligen Entwicklungen der NS- und Lustmörder-Psyche weisen eine Gemeinsamkeit auf, da sie mit den für den Lustmorddiskurs charakteristischen Erklärungsmustern – wie die biografisch fundierte Ätiologie der ‚Triebanomalie‘ oder die Nicht-Identifizierung mit dem Vater – arbeiten. Anhand der Figur des Kriminalsekretärs Gerhard Baronna exemplifiziert der Roman Wie ein Tier die Genese der NS-Psyche. Neben der Abtrennung der Weiblichkeit als Zeichen der zunehmenden Triebhaftigkeit verwirft er auch die väterliche Autorität, die mit der untergegangenen Weimarer Republik gleichgesetzt wird. Diese Vaterordnung zeichnet sich durch Ambivalenzen aus. Einerseits koppelt der Roman sie vom Nationalsozialismus völlig ab, andererseits erscheint sie als repressiv und bewirkt Baronnas Eintritt in die NS-Partei. Gebildet – er zitiert Kleist und Shakespeare – humorvoll wird Gerhard Baronna am Anfang des Romans zum Sympathieträger. Durch die Identifikation mit seinem Vater und auf dessen Wunsch hin – er war ein „alter Schupo“ (S. 50) – ist Baronna Kriminalpolizist geworden. Von seinem Vater hat er die „Abneigung gegen die Nazis“ geerbt: „Du sollst nicht töten, hatte er gelernt, und niemand durfte das, auch nicht im Auftrage seines Staates.“ (S. 80) Diese Zugehörigkeit zur Vaterordnung wird der NS-Diktatur als Ordnung der Söhne entgegengesetzt. Die Vaterordnung wird durch ihre Gleichsetzung mit der Religion universalisiert. Die Ordnung beruht auf den Postulaten der christlichen Religion; Martin Luther wird erwähnt. Darüber hinaus wird ein alter Kriminalist, Ernst Gennat, ein Vertreter der Polizei der Weimarer Republik, für Baronna zur väterlichen Identifikationsfigur. Er

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stellt sich nicht als ‚arisch‘ dar, sondern tritt als friedlicher Buddha auf, denn er entspricht „mit seiner buddhaähnlichen Figur gar nicht dem Idealbild des ‚deutschen Mannes‘“ sowie mit seiner „republikanischen Gesinnung erst recht nicht dem SS-Bild der Polizei“ (S. 51). Die untergegangene Weimarer Republik wird durch diese Figur zu einer ahistorischen, universellen, friedlichen und moralischen Ordnung erklärt.48 Die Ablehnung der väterlichen Ordnung erklärt Bosetzkys Roman durch deren repressiven Charakter für die ‚Söhne‘ auf der einen Seite und durch die Erfüllung der durch den ‚Vater‘ verbotenen Machtfantasien, die von der neuen Ordnung versprochen wird, auf der anderen Seite. Die Vaterordnung, die in der Kriminalpolizei bewahrt wird, lässt für die Söhne beispielweise keinen Aufstieg zu: „Die jüngeren Beamten hatten es nicht nur schwer, gegen den Ruhm der alten Garde anzukommen, sondern auch, sich den Nazis zu entziehen. Einige wechselten über zur politischen Polizei, andere hatten sich früh der nationalsozialistischen Zelle der Kripo angeschlossen.“ (S. 69) Die NS-Politik ermöglicht hingegen Baronna, seine Machtfantasien aus der Kindheit zu verwirklichen, was den Nationalsozialismus infantilisiert und barbarisiert: „Als Gymnasiast hatte er immer gedacht, wie herrlich es doch gewesen wäre, ein Bürger Roms gewesen zu sein. Claudius Flavius Baronnius; Quästor der Provinz Kreta und Cyrene. Stolz, mächtig, reich und umgeben von den schönsten Sklavinnen aus aller Herren Länder. […] Und wenn die Deutschen jetzt ihr Germanisches Imperium errichteten, vom Atlantik bei Le Havre bis zum Pazifik bei Wladiwostok, dann war doch das die Chance zu einem großen Lebensentwurf.“ (S. 75) So wird Gerhard zum Opfer der Verführung: „Baronna spürte, wie er langsam aber sicher in den Sog dieser Leute geriet. Das war doch großartig, was sie da machten und dachten.“ (S. 75) Er ist zwar ein handelndes Subjekt, jedoch nicht der Urheber der NS-Expansionspolitik, zumal die NS-Partei als einzige gesellschaftliche Perspektive für junge Menschen erscheint. Zudem entlastet die Textpassage von der kollektiven Schuld, da die Imperiums- und Eroberungsfantasien als universelles und ahistorisches Phänomen konstruiert werden, das in allen Epochen und Zeiten vorhanden zu sein scheint. Die Universalisierung der historischen Ereignisse lässt ihre konkreten politischen, sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen unhinterfragt. Gerhards Bekanntschaft mit Herbert Bloh, dem Kindheitsfreund des Lustmörders, signalisiert seine Verwerfung der Vaterordnung und seinen Eintritt in das Kontinuum der destruktiven ‚Urtriebe‘ (S. 258). Sein Verhältnis zu Kommissar Lüdtke, Vertreter der „alten Garde“ und der suspendierten Vaterordnung, verschlechtert sich. Baronna beginnt, gesetzeswidrige Praktiken bei seinen kriminalistischen Nachforschungen anzuwenden, indem er beispielsweise versucht, einen Unschuldigen anzuklagen. Es geht nicht mehr um die Gerechtigkeit, sondern um die Stabilisierung der NS48 Die Buddha-Figuren findet Gerhard auch bei dem Gerichtsmediziner Weinmann, und Kommissar Lüdtke spielt mit Buddhafiguren (S. 177).

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Ordnung, die um jeden Preis zu erhalten ist. In diesem Zusammenhang referiert der Roman auf den durch die NS-Propaganda hochgespielten Massenmörderfall von Bruno Lüdke. Er wurde schuldlos verurteilt, um die Bevölkerung zu beruhigen und um ‚wissenschaftlich‘ das Euthanasieprogramm zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (S. 259) zu legitimieren. Die Genese der NS-Psyche wird also erzählt als eine Geschichte der Verführung durch die NSDAP und der psychischen Degradation in frühere, ja kindliche Entwicklungsphasen, die als lustmörderisch erklärt werden. In Bezug auf Lustmörder führt der Roman verschiedene Diskurse zusammen, um die Genese der lustmörderischen Psyche aus verschiedenen Erzählperspektiven und auf verschiedenen Ebenen darzustellen. Es wird eine komplexe Ätiologie der destruktiven Psyche entwickelt, die die Voraussetzungen der sexuellen Gewalt auf allen Ebenen ansiedelt. Kriminalanthropologische, entwicklungspsychologische, sozialkritische, sozialdarwinistische und antisemitische Diskurse erklären die Genese der lustmörderischen Psyche. Im Gegensatz zu Baronna kann Ogorzow nicht wählen, ob er ein Lustmörder sein möchte: Er hat einen unbewussten Zwang zu töten – wie ein Tier. Zur Veranlagung zum Lustmörder gehören traditionsgemäß eine gesteigerte Sexualität, Perversionen, Primitivität, Schizophrenie und Kastrationsängste. Die ‚angeborene‘ Triebhaftigkeit verbindet sich mit der Gewalt, durch die im Zusammenhang mit der Sexualität Mordfantasien entstehen.49 Zu ihren Ursachen gehören die Gewalt in der Kultur überhaupt, die Zugehörigkeit zur Unterschicht, die Vernachlässigung durch die Mutter, die symbolische Kastration, der Freibrief der NSDAP für Gewalttaten gegen Kommunisten und Juden, ein Kopftrauma (S. 139), „Schweineschlachten“ als ein Schlüsselerlebnis (S. 137), die Ansteckung mit Gonorrhöe (S. 166)50 sowie der Antisemitismus. In seiner schriftlichen Erklärung zu den Morden klagt Ogorzow einen jüdischen Arzt, bei dem er wegen der Geschlechtskrankheit in Behandlung war, wegen der Erweckung seines mörderischen Triebes an (S. 296). Dieser Überfluss an Erklärungsmustern lässt zwar den Lustmord und den Lustmörder komplex und vielschichtig erscheinen, jedoch kommt der Verdacht auf, dass die Tat Leerstellen im Roman produziert, die unablässig in einem unendlichen Prozess auszufüllen sind. Keiner der vorgeführten Gründe scheint kausal mit dem Lustmord verbunden. Durch die Vielfalt an Diskursen und Perspektiven wird zugleich deutlich, dass die Erklärungsmodelle des Lustmordes defizitär sind. Darüber hinaus kann Ogorzow nicht als Verkörperung der NS-Politik auftreten, da er kaum mit der NSDAP verbunden ist. Herbert gibt ihm „Ostara-Hefte“ mit rassistischem Inhalt zu lesen: 49 Vgl. Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1971. Im Roman Wie ein Tier findet man die Thesen von Wilhelm Reich über die sexuelle Unterdrückung als Sexualitätsverdrängung und über die Bekämpfung der Onanie in der Familie im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus. 50 Ebd. Laut Reich hatte Hitler auch Syphilis.

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„So sehr begeistert war er [Ogorzow; Anm. d. Verf.] allerdings nicht von dem, was dort stand, denn wenn er in den Spiegel sah, war er bestimmt kein Herrenmensch. Eher ein Äffling oder Tschandale. Zumal mit seiner krummen Nase.“ (S. 154) Er fühlt sich aus klassenspezifischen Gründen kaum zur NSDAP zugehörig und hat keine Karriere in der Partei gemacht. Ogorzow kann allenfalls als Werkzeug der NS-Ideologen verstanden werden, das diese zum Erreichen ihrer Ziele nutzen. Zusammenfassend weisen Baronna und Ogorzow, deren Lebenswege parallel geführt werden, Paradoxien auf: Baronna hat keine typische Lustmörderbiografie, weil in seiner Kindheit keine Gewalt- oder Traumaerfahrungen zu finden sind, wird jedoch zum Massenmörder. Ogorzow erscheint hingegen als ein exemplarischer Lustmörder, ohne jedoch Relevanz in der NS-Politik zu erlangen. Letztendlich sind sie beide Opfer des Systems – Baronna wird verführt und Ogorzow ausgenutzt –, und die Täterstelle wird im Roman zu einer Leerstelle.51

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ALS ENTSTELLTE

E RINNERUNG

Der Lustmorddiskurs erscheint für die Darstellung des Nationalsozialismus nicht nur wegen der Essentialisierung und Sexualisierung der NS-Politik problematisch, sondern auch durch die Tabuisierung und Verheimlichung der Diktatur. Der Roman unterliegt einerseits dem Gedenk-Imperativ als Vergessens-Verbot,52 indem minutiös Kriegsberichte, Verhörprotokolle, die realen Namen der Opfer und die Topografie von Berlin rekonstruiert. Andererseits stellt das Thema Lustmord ein Tabu dar, das den Nationalsozialismus weiterhin als etwas Obszönes verdrängt. Dass das Thema Lustmord ein Tabu ist, bestätigen die Rechtfertigungen des Autors im Nachwort des Ro51 Vgl. Weigel, Sigrid: Erinnerung im Gericht – Zum Opfer-Täter-Diskurs über den Nationalsozialismus in Helga Schuberts „Judasfrauen“ und ihren Gerichtsquellen, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, S. 198-231. Die Erinnerung der Täterposition bleibt auch weiterhin im Gedächtnisdiskurs über den Nationalsozialismus problematisch: „So ist die Position der Täter im Gedächtnis des Nationalsozialismus bis heute weitgehend eine Leerstelle geblieben.“ (S. 199) 52 Weigel, Sigrid: Pathologie und Normalisierung im deutschen Gedächtnisdiskurs, in: Smith, Gary/Emrich, Hinderk M. (Hg.): Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, S. 241-263, hier: S. 247. „Das Zusammenspiel der entgegengesetzten Diskurse des Erinnerns und Vergessens im deutschen Gedächtnis nach ’45 wird am deutlichsten in der stereotypen Wiederholung eines moralischen GedenkImperativs, der oft auch als Vergessens-Verbot formuliert wird, und jenem dagegen formulierten Widerstand, der sich dann als Vergessens-Forderung artikuliert.“ (S. 247) Nach Weigel ist die Imperativfigur des Niemals-vergessenDürfens in Schuldangst und -abwehr verstrickt, so dass sie die Figur eines Vergessens des Vergessens annimmt.

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mans, das die Beschäftigung mit dem Lustmord auf ein wissenschaftliches Untersuchungsinteresse, auf sozialkritische und politische Aufklärung zurückführt. Um sich selbst abzusichern, identifiziert sich der Autor mit der Frauenfigur, stilisiert sich also durch Cross-Dressing-Strategien zur einer Opferfigur: „Ich halte es hier ganz mit Grete Behrens und verstehe dieses Buch auch als Plädoyer gegen alle Männerbünde militärischer und paramilitärischer Art, denn Paul Ogorzow war kein Einzeltäter, sondern nur einer, der, abgesprengt von seinen Kameraden, vom Heere derer, die die wahren Massenmörder waren, seine Verbrechen beging. Er wurde enthauptet, die meisten anderen durften mithelfen, das neue Deutschland zu bauen und wurden nicht ins Jenseits, sondern in höchste Ämter und Funktionen befördert.“ (S. 324) Damit nicht bezweifelt werden kann, dass es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, fügt der Autor Karten der S-BahnStationen, polizeiliche Zeichnungen der Fundorte, ein Foto des Mörders und eine Liste der verwendeten Literatur an. Er grenzt sich zudem dezidiert vom Lustmord ab: „Und ich habe große Angst davor, daß man mir nachsagt, ich hätte mich allzu sehr mit ihm identifiziert. Ich hasse diesen Mann, weil ich – um aller Frauen wegen, um die ich Angst habe – Menschen wie ihn irgendwie aus der Welt haben möchte. Zugleich erschrecke ich vor mir selber, weil dieses Denken ganz sicher faschistoid zu nennen ist, auch auf physische Eliminierung gerichtet ist.“ (S. 323) Darüber hinaus wird der Lustmord zu einer entstellten Erinnerung. Wie das Nachwort verdeutlicht, weist er auf ein kollektives Trauma hin, wie die Erklärungen des Autors über seine Empathie und sein Verständnis für die weiblichen Opfer deutlich machen. Laut dem Autor erinnert der Lustmord nicht an den Krieg und den Genozid, nicht an die Vernichtung der Juden und die NS-Diktatur, sondern an die Vergewaltigung der deutschen Frauen im Jahr 1945. Diese Vergewaltigungen arbeitet der Autor mit seinem Buch als ein persönliches „tiefes Trauma“ (S. 323) ab und begründet sein Interesse am Lustmord auf diese Weise moralisch: „War ich doch 1945 als Siebenjähriger dabei, als direkt neben mir Frauen brutal vergewaltigt worden sind. Und was immer Tiefenpsychologen daraus schließen mögen, es ist mir nicht leicht gefallen und hat mich über Monate hinweg nur mit schweren Störungen und schlimmen Träumen schlafen lassen, als ich mich intensiv mit Paul Ogorzow zu beschäftigen hatte.“ (S. 323) Der Lustmörder Ogorzow ruft metonymisch die Erinnerung an die brutalen Vergewaltigungen von deutschen Frauen durch sowjetische Alliierte auf, die aus dem offiziellen Erinnerungsdiskurs verdrängt wurden. Der Roman thematisiert also das kollektive Trauma des Kriegesverlustes und der Okkupation durch die Alliierten, das sich als „delegitimierte Erinnerung“53 in den offiziellen Erinnerungsdiskursen über den Nationalsozialismus versteckt.

53 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 138.

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F AZIT Das Thema Lustmord eröffnet im Kriminalroman Raum für eine historischpolitische Reflexion, ähnlich wie es bei Eckert die kritische Auseinandersetzung mit der Korruption ermöglicht. Gleichzeitig modifiziert Wie ein Tier den Lustmorddiskurs, indem der Autor mit Multiperspektivität arbeitet. Dadurch erweitert Bosetzky zugleich die Traditionen der Lustmörder-Biografie, die auf die Fallgeschichten zurückgeht. Der Lebenslauf des Mörders wird zwar rekonstruiert, aber um die Erklärung aus der Biografie herzuleiten, verschiebt sich die Erzählperspektive auf die Opfer, die traditionsgemäß im Diskurs über Lustmord nicht präsent sind, noch weniger in der Biografie des Mörders. Die Privilegierung der Opfer ist jedoch ein Effekt der Vergangenheitsbewältigung, die die Opfer als Identifikationsfiguren für die Leserinnen und Leser anbietet. Die Überlagerung von Lustmord und Nationalsozialismus erweist sich in vielerlei Hinsicht als problematisch. Das Thema ermöglicht eine Kritik am nationalsozialistischen Staat, indem der Lustmord zum Maßstab der Vernichtungen wird und im Vergleich zu den Massenmorden als ‚harmlos‘ erscheint. Der Lustmord unterwandert gleichzeitig die Kritik am Nationalsozialismus durch die Essentialisierung und Sexualisierung der Machtbeziehungen, denn der Lustmord wird in der Tradition der Kriminalanthropologie und der Psychoanalyse in Szene gesetzt. Bosetzky schreibt essentialistische Erklärungen fort, die sich aus der ‚triebhaften‘ männlichen ‚Natur‘ herleiten. Er versucht zwar, eine komplexe Ätiologie des Lustmordes zu entwickeln, indem auch gesellschaftliche Strukturen hinterfragt werden, führt jedoch die Pathologien auf das Weibliche (‚böse‘ sexualisierte Mutter) als Quelle der männlichen Destruktion zurück. Außerdem dominieren die Tier-Semantiken im Erzählen, die die Fragen nach dem Sozialen überzeichnen. Auch diese Erzählstrategie ordnet den Roman dem kollektiven Erinnerungsdiskurs nach dem Jahr 1945 zu, weil der Nationalsozialismus als ein universelles, ahistorisches Phänomen dargestellt wird, das in der ‚Natur‘ des Mannes, genauer gesagt in der ‚Natur‘ seiner ‚archaischen‘ Triebe zu wurzeln scheint. Die weiblichen Opfer verkörpern hingegen die zivile Bevölkerung, die aufgrund ihrer ‚Anatomie‘ nicht imstande ist, dem triebhaften ‚Tier‘ – dem Nationalsozialismus – Widerstand zu leisten. Zu diesem Zweck werden die Frauenfiguren von jeglicher Kontamination durch das Sexuelle oder Sinnliche befreit. Solche Repräsentationsstrategien unterliegen dem immer noch geltenden Topos von der geschändeten Nation, die durch die sexualisierte, triebhafte NS-Partei vergewaltigt wird. Der Roman entlastet darüber hinaus die Täterfiguren von ihrer Verantwortung – die gesamte Kultur versinkt im Unbewussten, das durch unkontrollierte Triebe und Destruktion gekennzeichnet ist. Die Leitchiffre des Zuges symbolisiert diesen Zusammenhang. Die Biografien des Lustmörders Ogorzow und des Kriminalsekretärs Gerhard Baronna, der am Ende des Romans zum Massenmörder wird, erklären zudem nicht, warum die NS-Partei

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an die Macht kommt und unter welchen historischen Bedingungen der Todestrieb die Herrschaft übernimmt. Paul Ogorzow wird als kranke, schizophrene Figur zum Opfer der NS-Ideologie. Die Entwicklung von Baronna, die durch die Ablehnung der Vaterordnung (der Weimarer Republik) und die Entstehung eines faschistischen Körperpanzers durch die Trennung von Weiblichkeit gekennzeichnet ist, suggeriert, dass er verführt worden ist. Die Zug-Metapher ermöglicht darüber hinaus eine Entpersönlichung des Nationalsozialismus, dem die Protagonisten zum Opfer fallen. Letztendlich erscheint der Lustmord als kollektives Trauma in entstellter Form, wenn man das Nachwort in die Analyse einbezieht. Er wird zu einer „delegitimierten Erinnerung“ an die aus dem offiziellen Erinnerungsdiskurs verdrängte Okkupation und die Vergewaltigungen durch Alliierte.

Lustmord, Justiz und Ost-West-Teilung Der Fall Arbogast von Thomas Hettche

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IM ANATOMISCHEN

T HEATER H ETTCHES

Der Kriminalroman Der Fall Arbogast von Thomas Hettche geht mit dem „pathologischen Eifer des Anatomen“1 auf den Körper ein, den es als neuen Kontinent zu erforschen gilt. In seinem anatomischen Theater, das bereits Gegenstand seines früheren Romans Nox (1995) war, spürt der „SkalpellBlick“2 diesmal dem Lustmord nach. Der männliche Körper erscheint als Machtfeld juristischer Diskurse, die im Foucault’schen Sinne das Begehren reglementieren und disziplinieren. Der weibliche Körper wird obduziert, um aus dem körperlichen Inneren die Anatomie der Lust zu deduzieren. Im Zentrum des Romans steht ein Kriminalfall, der auf dem realen Fall des Hans Hetzel aus den 1950er Jahren – einem spektakulären Justizirrtum – basiert.3 Die ‚Authentizität‘ der referierten Fallgeschichte wird allerdings von Anfang an verabschiedet. Der ausgebildete Metzger und BillardtischVertreter Hans Arbogast trägt den Namen des Detektivs aus Hitchcocks Kultfilm Psycho (1960). Er wird im Roman Hettches im Jahr 1953 wegen des Lustmordes an Marie Gurth angeklagt. Sie stirbt plötzlich während des Geschlechtsverkehrs mit Arbogast. Die ‚verbotene‘ sexuelle Lust jenseits der Ehe sowie jenseits der kulturellen ‚Normalität‘ – es handelt sich um einen sadomasochistischen Sexualakt – hat eine falsche Strangulationstheorie des Münsteraner Gerichtsmediziners Professor Maul zur Folge, obwohl die 1 2

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J. Magenau: Der Körper als Schnittfläche, S. 12. Albath, Maike: Sex im Silberwald. Skalpellartiges Erzählen: Thomas Hettches „Der Fall Arbogast“ fixiert die Libido an die Macht einer Toten, in: Frankfurter Rundschau, Buchmessenbeilage vom 9.10.2001. Vgl. Schmidt, Karl-Wilhelm: Lustmord oder Liebestod? Im Anatomiesaal der Postmoderne, Der Fall Arbogast von Thomas Hettche, in: Information zur Deutschdidaktik 2 (2004), S. 100-112. Kunkel, Jörg/Schuhbauer, Thomas: Tödliches Rendezvous: Der Fall Hans Hetzel, in: dies.: Justizirrtum! Deutschland im Spiegel spektakulärer Fehlurteile, Frankfurt am Main 2004, S. 94-138.

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Obduktion der Leiche Herzversagen, bedingt durch den schwachen Zustand des Opfers in Folge einer Abtreibung, und intensiven sexuellen Missbrauch als Todesursache bestimmt. Zur lebenslangen Haft wird Arbogast aufgrund der Analyse einer Fotografie der toten Marie verurteilt, auf der Professor Maul Strangulationsspuren zu entdecken glaubt. Arbogast verbringt 14 Jahre in dem Gefängnis Bruchsal, bis das Gerichtsverfahren wiederaufgenommen wird. Dank dem Journalisten und Schriftsteller Fritz Sarrazin, der sich in der „Deutschen Liga für Menschenrechte“ engagiert (S. 97), und dem Anwalt Dr. Ansgar Klein wird Arbogast im zweiten Prozess freigesprochen. Die aus Ostberlin eingeladene Pathologin Dr. Katja Lavans – im Fall des Hans Hetzel trat ein männlicher Pathologe auf – widerlegt Professor Mauls Aussagen, indem sie Gegenbeweise vorlegt und mithin entlarvt, dass seine Theorie falsch war. Die politisch aufgeladene Ost-West-Intrige wird mit der binären Geschlechtermatrix verhandelt, da die weibliche Figur die Aussage der konservativen männlichen Figur aus West-Deutschland ungültig macht und damit die autoritäre männliche Ordnung in Frage stellt. Zugleich ermöglicht die Pathologin, die Urtat zu reinszenieren. Beide Frauenfiguren, das Opfer Marie Gurth und die Pathologin Katja Lavans, erweisen sich durch ihre Maskerade als austauschbar und somit ersetzbar. Maries Haare waren rot gefärbt, Katja kauft sich eine rote Perücke, um sich mit Marie zu identifizieren. Katja ist Maries Doppelgängerin, die Marie als das Unheimliche erscheinen lässt. Marie und Katja hätten das gleiche Alter (38 Jahre), wäre Marie am Leben geblieben, und Katja ist wie Marie aus Ostberlin. Beim zweiten Prozess kommt es jedoch zu einer paradoxen Situation: Während die Pathologin vor Gericht Arbogast von seiner Schuld freispricht, wachsen in ihr Zweifel an seiner Unschuld. Parallel zur Gerichtsverhandlung ereignet sich eine Affäre zwischen Katja Lavans und Hans Arbogast. Katja identifiziert sich mit Marie, und sie kommt beim sadomasochistischen Geschlechtsverkehr mit Arbogast fast ums Leben. Die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, die am Anfang des Romans hergestellt werden, nehmen gegen alle Genrekonventionen am Ende der Handlung zu. Als die erste Gerichtsverhandlung die Leserinnen und Leser von der Unschuld Arbogasts überzeugt, verurteilt ihn die Justiz aufgrund der Fotografie Maries trotzdem zu lebenslanger Haft. Als Arbogast nach 14 Jahren in der zweiten Gerichtsverhandlung freigesprochen wird, scheint dies kein Triumph der ‚Gerechtigkeit‘ zu sein, das Gericht spricht einen Mörder frei. Diese Inkompatibilität zwischen dem Geschehen und dem juristischen Urteil sowie zwischen Ursache und Wirkung wird ganz im Sinne Dürrenmatts, auf den der Roman Hettches mehrmals Bezug nimmt, durch den Lustmord produziert und paradoxerweise durch ihn abgeschafft. In Analogie zu Dürrenmatts Kriminalromanen dekonstruiert auch Hettche das Kriminalgenre. Die Referenz auf Hitchcock, die durch den Namen des Protagonisten erzeugt wird, löst den Roman außerdem nicht nur von der biografisch geprägten und logisch aufgebauten Fallgeschichte, sondern scheint auch ein Experiment des Aufbaus eines literarischen Suspense zu

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sein, indem das Unheimliche – ein Lieblingseffekt von Alfred Hitchcock – produziert wird, ohne jedoch zur Mystik zu neigen. Die rational erzählte Geschichte erklärt jedoch wenig, sondern beschäftigt sich mit den eigenen literarischen Kategorien. Der Roman Der Fall Arbogast kann eher als ein Metakriminalroman definiert werden, da er die Hauptelemente des Kriminalgenres auflöst: Die Kategorien Verbrechen, Täter und Opfer, aber auch die Mythen von ‚Wahrheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Fakten‘ und der Allmacht des Justizapparates werden dekonstruiert. Anstelle einer sukzessiven und geradlinigen Handlungsentwicklung, die für Fallgeschichten charakteristisch ist, kommt ein zirkulärer Aufbau zum Tragen, der sowohl eine Doppelperspektive (die des Täters und des Opfers) als auch eine Uneindeutigkeit (Entzug der Erklärung) produziert. Hettches Roman setzt dabei Michel Foucaults Theorien über das Subjekt als Effekt von Diskursen und über die diskursive Organisation der Macht ästhetisch um:4 So stellt sich der Roman einerseits als panoptisches, seine Figuren hierarchisierendes System dar, andererseits ist diese Hierarchie nicht festgelegt, die Diskurse überlagern sich und werden in einem Prozess der Verhandlung gezeigt, so dass die bestehenden Machtverhältnisse zu kippen drohen. Der Körper wird dabei zum Medium der Erscheinung verschiedener Diskurse, die den Körper (um-)formen und mit ihm die Geschlechter-, Täter-Opfer- und West-Ost-Differenzen produzieren. In diesem diskursiven Prozess stehen dem Lustmord zumindest zwei Funktionen zu: Der Lustmord als unerklärliches Phänomen stößt die Vervielfältigung der Diskurse und deren Neuverhandlung an und macht damit die Lücken im staatlichen Strafsystem sichtbar. Zugleich kommt dem Lustmord paradoxerweise die Funktion zu, Sinn herzustellen. Der Lustmord wird als Instrument und Mythos der Justiz entlarvt, der konformes Begehren von Täter und Opfer produziert und Lücken in der Legislative verschleiert.

F ORSCHUNGSSTAND Thomas Hettche erfreut sich nicht nur literaturwissenschaftlichen Interesses, sondern genießt auch beim Publikum große Beliebtheit. Der Roman Der Fall Arbogast wurde bereits in zehn Sprachen übersetzt. Der Autor gilt als „literarischer Provokateur“ und „Grenzgänger“, der nach Karl-Wilhelm Schmidt die „Auseinandersetzung mit der Sexualität und Morbidität, Erotik und Tod, Körper und Gewalt, Pornografie und Anatomie“ 5 in den Mittelpunkt stellt. Er gehört laut Magenau neben Michael Kleeberg zu den „Autoren-Anatomen“, die eine anthropologische Wende in der Literatur herbeizuführen versuchen und glauben, die „neueste neue Innerlichkeit“ im Körper

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M. Foucault: Überwachen und Strafen. K.-W. Schmidt: Lustmord oder Liebestod? S. 100.

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zu entdecken.6 Nach Franziska Schößler löst die Körperliteratur die bürgerliche Romantradition mit ihrer Introspektion ab: „Aus Innerlichkeit wird körperliches Inneres.“7 Der Roman Der Fall Arbogast fand in der Presse reichlich Resonanz. Maike Albath spricht in ihrer Rezension von einem „skalpellartigen Erzählen“, das die Figuren wie Billardkugeln aufeinanderprallen lässt und die „Libido an die Macht einer Toten“ fixiert.8 Iljoma Mangold definiert das ästhetische Verfahren Hettches als „intensiven Realismus“, der nicht nur das Gerichtsverfahren, sondern auch das „Zeitkolorit“ der jungen Bundesrepublik und „kollektive Stimmungen und Psychologie der Figuren“ detailgetreu wiederzugeben vermag.9 Detering bezeichnet Hettches Verfahren als „perspektivischen Realismus“, da der Autor registriert, nicht kommentiert: „Und eben deshalb ist diese Geschichte ohne Auflösung ein perfekter Kriminalroman: eine Überbietung des Genres, wie sie zuletzt vielleicht Dürrenmatts Geschichten zwischen ‚Verdacht‘ und ‚Justiz‘ gelungen ist.“10 Die Einordnung des Romans Der Fall Arbogast in ein bestimmtes Genre ist in allen Rezensionen der umstrittenste Punkt. Der Autor selbst bezeichnet sein Werk als Kriminalroman, Böttiger11 liest ihn als „hypomodernen Schauerroman“, Overath12 als „sozialhistorischen Erotikkrimi“, Albath13 als „romantischen Gerichtskrimi“, Lovenberg14 als „doku-fiction“ und Weyh15 ordnet ihn einer „Zwittergattung namens ‚Faction‘“ zu, die zwischen Fakten und Fiktion steht. Nach Schmidt16 dekonstruiert Der Fall Arbogast das Kriminalsgenre in Analogie zu Dürrenmatt, auf den er mehrfach referiert. In einem sind sich die Rezensenten jedoch einig: Es sei der „beste Krimi seit Dürrenmatt“.17

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J. Magenau: Der Körper als Schnittfläche, S. 12-20. F. Schößler: Mythos als Kritik, S. 171. M. Albath: Sex im Silberwald. Mangold, Iljoma: Tief in den Körpern liegt ein Geheimnis. „Der Fall Arbogast“: Thomas Hettches brillanter Kriminalroman nutzt die Eigenheiten des Genres, in: Berliner Zeitung vom 15.09.2001. Detering, Heinrich: Die Leber steht am Rippenbogen: Warum ein Kriminalroman spannend bleibt, obwohl alle Geheimnisse von Anfang an gelöst scheinen, in: Literaturen 9 (2001), S. 52-55. Böttiger, Helmut: Der Tod, das Mädchen und die Romantik des Schreckens, in: Basler Zeitung vom 7.09.2001. Overath, Angelika: Todesart: Koitus, in: Neue Züricher Zeitung vom 9.10.2001. M. Albath: Sex im Silberwald. Lovenberg, Felicitas von: Ein jeder tötet, was er liebt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.09.2001. Weyh, Florian Felix: Ein Fall ohne Eigenschaften, in: Tagesspiegel vom 7.10.2007. K.-W. Schmidt: Lustmord oder Liebestod? S. 100-112. H. Detering: Die Leber steht am Rippenbogen, S. 53.

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M ETAKRIMINALROMAN , BINÄRE G ESCHLECHTERMATRIX UND L USTMORD Die Schwierigkeit, den Roman Der Fall Arbogast in ein bestimmtes Genre einzuordnen, ist durch die Auflösung der Konventionen bedingt. Hettches Roman löst sich von den Regeln der biografisch geprägten Fallgeschichte ab, angedeutet durch den authentischen Fall Hetzel, auf den er sich bezieht, sowie vom Kriminalroman, der am nächsten zur Fallgeschichte steht. Er stellt zentrale Kategorien beider Genres in Frage, beispielsweise die des ‚subjektiv‘ Erlebten, das aus der Entwicklung des Täters rekonstruiert wird, sowie die des Verbrechens, des Gesetzes und des Strafsystems, und er überprüft die Definitionen von Täter und Opfer. Beeinflusst durch Foucaults Theorien über diskursive Machtorganisation, interessiert Hettche die Diskursivierung der Phänomene, die ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘ definieren und als Normen der Gesellschaft festlegen. Um diese Mechanismen sichtbar zu machen, überlagert Hettche verschiedene Diskurse in Kombination mit ästhetischen Strategien, wie zum Beispiel Intermedialität – ein Vorgehen, das die Diskursgrenzen und somit die Grenzen jeglicher Repräsentation erst zutage treten lässt. Auch nach Foucault markiert das Überschreiten als Geste immer die Grenze mit, zumal Foucault diese Aussage über die Grenzen der Sprache und des Sagbaren trifft. So heißt es in der Vorrede der Überschreitung: „Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung.“ 18 So werden Fotografie und Körper, Lustmord und die Geschichte der 1950er Jahre in Deutschland, Geschlechterdiskurs und Justiz zusammengeführt, um ihre diskursiv herstellten Grenzen sichtbar zu machen. Zudem verdeutlicht das Thema Lustmord die Diskontinuität der Diskurse, denn der Lustmord lässt sich schwer definieren und gehört zu einem prominenten juristischen Problem.19 In jedem neuen Fall muss der Lustmord erst als ein solches Verbrechen diskursiv ausgearbeitet werden. Darüber

18 Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens, hg. von Walter Seitter, München 1974, S. 37. 19 D. Cameron/E. Fazer: Lust am Töten, S. 42. Die Autorinnen demonstrieren, dass viele Morde nicht unter der Kategorie des Lustmordes betrachtet werden, da die Befriedigung des Geschlechtstriebes nicht direkt im Vordergrund steht. Sie schlagen folgende Definition vor: „Deshalb werden wir Lustmord dahingehend definieren, dass alle Fälle inbegriffen sind, bei denen der Mörder von sadistischen sexuellen Impulsen motiviert war. Lust am Töten. […] Wichtig ist die Erotisierung des Tötungsaktes an sich und für sich.“ Nach dieser Bezeichnung kann der Mord im Roman Hettches – unabhängig von den dargestellten juristischen Spekulationen – durch die voyeuristische, erotisierende Erzählweise als Lustmord betrachtet werden.

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hinaus ermöglicht das Sujet Körper, Sexualität, Begehren, Macht und das Strafsystem ins Spiel zu bringen, um die zentralen Machtmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft zu problematisieren. Die Unterwerfung der Individuen und ihre Kontrolle werden laut Foucault über den Körper verwirklicht, indem Reglementierungs- und Kanalisierungsmaßnahmen seine Sexualität und sein Begehren hervorbringen.20 Durch die Überlagerung der Diskurse einerseits und die andererseits fehlende Möglichkeit, den Lustmord gesetzlich zu fassen, produziert Hettches Roman Differenzerfahrungen. Die Kategorie des Verbrechens wird relativiert und die ‚Normalität‘ erscheint als Effekt verschiedener gesellschaftlicher Diskurse, deren Grenzen immer neu, je nach (politischer oder sozialer) Konjunktur, festgelegt werden. Die erzeugte Ambivalenz enthüllt ästhetische, ethische und vor allem gesetzliche Kategorien als unfixierbar, als Akte der (politischen) Interpretation. Deshalb kann Thomas Hettches Der Fall Arbogast als „Metakrimi“21 bezeichnet werden, der für seine Handlung keine Kriminalermittlung verwendet, sondern sich mit legislativen und exekutiven Diskursen und deren Mechanismen auseinandersetzt, um die Entstehung der Definitionen von Verbrechen und Verbrecher als solche zu verfolgen. Auf diese Weise löst Hettches Roman allem voran den Mythos einer rationalen Gesellschaft auf, an deren Erschaffung und Aufrechterhaltung die Kriminalliteratur teilhat. Joachim Linder und Claus-Michael Ort erklären die Kriminalität zu einer Metapher der Postmoderne, da durch die von verschiedenen Medien – einschließlich der Kriminalliteratur – generierten Störungen und deren Beseitigung der Mythos einer rationalen Gesellschaft produziert wird, deren Institutionen in der Lage sind, die existierende Ordnung aufrechtzuerhalten.22 Hettches Roman demonstriert dagegen, dass die staatlichen Machtstrukturen und -institutionen in Widersprüche verstrickt sind. Sie müssen mühsam ein logisches, diskursives Sinngebäude errichten, indem sie die Widersprüche und Ambivalenzen bewältigen beziehungsweise eliminieren, um gesellschaftlichen Entitäten wie ‚Gerechtigkeit‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Normalität‘ Geltung zu verschaffen. Durch dieses Vorgehen wird gleichzeitig der Justizapparat einer Kritik unterzogen, da er falsche Entscheidungen in Hinsicht auf die Tat trifft und die ‚Realität‘ verfehlt. Die Gesetzgebung erscheint dabei als Palimpsest ver20 Vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen. 21 Der Begriff stammt von Erhart Schütz, der den „Metakrimi“ erwähnt, aber nicht weiter erklärt: „Die Folge wäre bestenfalls eine weitere Differenzierung in der Produktion von Kriminalromanen: Metakrimis.“ In: Schütz, Erhart: Täter, Kommissar und Leser – Stücke aus der Kunst. Es nicht gewesen zu sein, in: ders. (Hg.): Zur Aktualität des Kriminalromans: Berichte, Analysen, Reflexionen zur neuen Kriminalliteratur, München 1978, S. 7-14, hier: S. 8. 22 Vgl. Linder, Joachim/Ort, Claus-Michael: Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihren Repräsentationen im 20. Jahrhundert, in: J. Lindner, Verbrechen – Justiz – Medien, S. 3-80, hier: S. 5.

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schiedenster Diskurse beziehungsweise als Archiv, das Diskurse von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus als „kakophonische[n] Chor“ (S. 170) enthält. Das gerichtliche Urteil ist daher immer eine Verhandlung von Diskursen, die in ihrer immanenten Dynamik verfangen sind. Lustmord als Phantasma Das Schema des klassischen Kriminalromans wird mit dem scheinbar rätselhaften Mord an einer schönen Frau am Anfang des Romans angedeutet. Auch dieser Text reproduziert die für die abendländische Kultur paradigmatische Verbindung von Weiblichkeit und Tod.23 Nach dem Mord werden jedoch die Regeln des Kriminalgenres aufgelöst. Das Verbrechen entsteht im Sinne Dürrenmatts durch Zufall, so dass diese Kategorie ins Schwanken gerät. Der Zufall ist Bestandteil des Lustmordes und wird gleichzeitig an die Figur Hans Arbogast gebunden, der Billardtische verkauft, wobei das ihn faszinierende Billardspiel auch auf Dürrenmatts Werk Justiz Bezug nimmt. Da er selbst kein Billardspieler ist, wird ihm der Subjektstatus sukzessiv entzogen. Obwohl Arbogast in der ersten Hälfte des Romans im Zentrum der Handlung steht, erscheint er jedoch als Spielball der Justiz. Der Name Bärlach, den ein Pathologe in Hettches Roman trägt, ist durch Dürrenmatts Kommissär in Der Verdacht und Der Richter und sein Henker berühmt geworden. Auch in diesen beiden Romanen kann das Justizsystem das Verbrechen nicht mehr erfassen oder beweisen, weil es durch den Zufall und die durch den Verbrecher eingesetzte Spielstrategie bedingt ist. Bei Hettche lernt Arbogast ebenfalls nur durch Zufall Marie kennen, die per Anhalter reist. Es kommt spontan zu einem sexuellen Kontakt und der Sexualakt endet mit dem Tod, der durch einen fatalen Zufall – die schwache körperliche Verfassung Maries und die Intensität des Aktes – bedingt wird. Gibt es also keinen Mord, so fehlen auch weitere Kategorien des Kriminalromans: Ein Mörder, eine Ermittlung und Auflösung des Rätsels sowie die Überführung des Täters sind bei Hettche nicht vorhanden. Die Handlung fokussiert vielmehr die Gerichtsverhandlung – buchstäblich als ‚Verhandlung‘ diverser Diskurse, die das Verbrechen und die Verbrecher durch ihre (Neu-)Definition hervorbringen. Der (vermutete) Lustmord ist dazu geeignet, sich mit der Definition des Verbrechens auseinanderzusetzen. Alle hier analysierten Werke hinterfragen mit dem Lustmord, der mit dem narrativen Spannungsaufbau korreliert, das Justizsystem und das gesellschaftliche oder psychologische ‚Wesen‘ des Verbrechens. Der Lustmord gehört zum Phantasma der abendländischen Kultur, das sich einer genauen Definition entzieht.24 Hettche setzt ebenfalls den Entzug der Erklärbarkeit ein. Es ist von Anfang an unentscheidbar, ob ein Tod oder ein Mord dargestellt wird. Ob die Frau während eines oder 23 Vgl. E. Bronfen: Nur über ihre Leiche. 24 Vgl. E. Wulffen: Der Sexualverbrecher; J. Rahser: Scheinbarer Lustmord.

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durch einen sadomasochistischen Geschlechtsverkehr gestorben ist, ist nicht mehr beweisbar; genauso wenig können die Fragen beantwortet werden, ob der Sexualakt freiwillig oder aufgezwungen war, ob die Intensität im Akt erwünscht war oder außer Kontrolle geriet. Diese Lücken werden aber nicht mit der Biografie des Mörders oder seiner Psyche gefüllt. Das Gerichtsverfahren löst die Undeutbarkeit des Geschehens auf, indem Arbogast als Lustmörder verurteilt wird. In Anlehnung an § 211 StGB definiert der Roman den Lustmord wie folgt: „Lustmord […] meint zunächst den Mord zur Befriedigung des Geschlechtstriebes und kann bedeuten, daß in der Tötung selbst geschlechtliche Befriedigung gesucht wird. Oder aber, daß der Tod nur billigend in Kauf genommen wird, um Befriedigung zu erzielen. Oder einer tötet, um sich danach an der Leiche sexuell befriedigen zu können.“ (S. 47) Im Gerichtsprozess wird deutlich, dass sich die „Tötung als geschlechtliche Befriedigung“ als spekulativ erweist, da „niedrige Beweggründe“ (S. 47) nachgewiesen werden müssen, damit das Verbrechen als Lustmord definiert werden kann.25 Das Strafsystem und insbesondere die Gerichtsmedizin liefern zudem eine falsche Interpretation der Fakten aufgrund einer Fotografie und erklären damit die Tat durch existierende Gesetzesvorlagen und ordnen sie in bekannte Fallmuster ein. Der Lustmord als paradoxe Erscheinung zerstört den Sinn nicht, sondern stellt ihn erst her, da er die Unerfassbarkeit des Geschehens durch die Justiz auf das schwer definierbare Phänomen verschiebt und die Lücken im Gesetz durch das Verbrechen als Lücke verschleiert. Nicht der Justizapparat ist unfähig, das Geschehen zu definieren, sondern der Lustmord gilt als unerklärbar und schwer zu beweisen. Er ist also nicht zuletzt Produkt der Gesetzes- und Strafsysteme beziehungsweise Mythos und Instrument des Justizapparates, der den Lustmord strategisch einsetzt, um die Lücken im Gesetz zu verdecken und die Unfähigkeit der Justiz durch ein paradoxes Verbrechen zu ersetzen. Den Lustmord zeichnet eine weitere Paradoxie aus: Einerseits entlarvt der Roman, dass der Lustmord als gesetzlich beschriebene Normüberschreitung nicht existiert, andererseits braucht der Justizapparat den Lustmord, um die binäre patriarchalische Geschlechterordnung zu stabilisieren. Der zufällige Tod Maries während des sexuellen Aktes unterwandert die binäre Geschlechterordnung, die durch einen solchen Geschlechtsverkehr transzendiert wird. So heißt es beispielsweise über den Journalisten Paul Mohr beim ersten Gerichtverfahren von Arbogast: „Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, daß dieses Mädchen es gewollt haben sollte, so gewaltsam geliebt zu werden.“ (S. 38) Paul Mohrs Gedanken an Marie werden im Passiv formuliert, das der Frau Aktivität abspricht und sie als Objekt festlegt. Den Tod 25 Vgl. M.P. Schaeffer: Der Triebtäter. Laut Schaeffer unterscheidet die Strafgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschlands nicht zwischen Lustmord, Sexualmord, Raubmord usw. Kritiker des Gesetzes äußern, dass nur die „niedrigen Beweggründe“ und „heimtückischen“ Motive des Täters bewiesen werden müssen, um ihn zu verurteilen.

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Maries als Lustmord zu erklären stabilisiert daher die Geschlechterordnung, indem konforme Geschlechterkonstruktionen wie ein männlicher, aktiver Täter und ein weibliches, passives Opfer aktiviert werden. Der Roman zeigt auf diese Weise den Lustmord nicht nur als diskursives Phantasma, sondern auch als Strategie der patriarchalischen Geschlechterordnung, um Normen zu fixieren und zu reproduzieren. Darüber hinaus erweist sich die Kategorie des Verbrechens als Konstrukt, das von der politischen Konjunktur und dem sozialen Klima abhängt. Nach dem Tod Maries wird Arbogast aufgrund falsch beurteilter Indizien unschuldig verurteilt. Er wird aufgrund der Prüderie des Zeitalters bestraft, die Schuld wird ihm in erster Linie wegen seiner Untreue und Perversität zugewiesen. Nach Foucault ist die Zielscheibe der modernen Justiz nicht die Tat, sondern die Seele des Verbrechers. Mit der Verurteilung des Vergehens werden auch Leidenschaften, Anomalien, Schwächen, Erbschäden, Perversionen, Triebe und Begehren bestraft.26 Arbogasts Stigmatisierung als „Perverser“ verurteilt mit dem Mord auch seine Triebe und seine Neigungen. 14 Jahre später wird Arbogast in einer Zeit der Liberalisierung der deutschen Gesellschaft freigesprochen: „Nun […] haben wir es vielleicht mit einem Mord zu tun, der heutzutage keiner mehr sein darf?“, konstatiert Arbogasts Anwalt Dr. Klein (S. 340), der an der Unschuld seines Klienten zweifelt. Auf der einen Seite profiliert der Roman die Inkompatibilität zwischen dem Urteil und dem Geschehen, auf der anderen Seite stellt er die Kohärenz zwischen dem Urteil und dem politischen Klima in der Gesellschaft heraus. Das Verbrechen ist also immer eine Interpretation der Justiz, die je nach politischem oder sozialem Kontext das ‚Normale‘ und ‚Nicht-Normale‘ neu definiert und je nach Bedarf den Lustmord als Instrument der Grenzziehung zwischen ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘ mobilisiert oder ungültig macht. Fast jedes literarische Werk mit dem Thema Lustmord enthält Elemente des Entwicklungsromans, die die Tat durch die Fehlsozialisation des Mörders erklären, doch Hettches Roman leitet aus der Biografie Arbogasts keine Mordbegründung her, obwohl die Fallgeschichte, die dem Roman zugrunde liegt, die Biografie von Hans Hetzel rekonstruiert. Im Rahmen des Lustmorddiskurses erscheint Arbogast dem Lustmörderkonstrukt allerdings zu entsprechen: Er ist Metzger von Beruf. Zudem besitzt er „besonders kräftiges Genital [Hervorhebung im Original]“ (S. 127), das im Diskurs über den Lustmord eine lustmörderische Veranlagung des Mannes indiziert. Um die Wende zum 20. Jahrhundert werden unter anderem die Genitalien der Lust-

26 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 27. „Als Verbrechen oder Vergehen beurteilt man immer noch Rechtsgegenstände, die vom Gesetzbuch definiert sind, aber gleichzeitig urteilt man über Leidenschaften, Instinkte, Anomalien, Schwächen, Unangepaßtheiten, Milieu- oder Erbschäden; man bestraft Aggressionen, aber durch sie hindurch Aggressivitäten; Vergewaltigungen, aber zugleich Perversionen, Morde, die auch Triebe und Begehren sind.“

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mörder beschrieben, um ihre entartete Lust zu beweisen.27 Mit dem Fokus auf den Körper des Täters und des Opfers verfolgt Der Fall Arbogast vornehmlich die Körpertransformationen und -reaktionen, ohne die Psyche zu thematisieren. Die Darstellungsstrategien verflachen im wörtlichen Sinn, indem sie sich am und im Körper bewegen. Das Verschwinden der Elemente des Entwicklungsromans hat also die Absage an eine Erklärung des Lustmordes zur Folge, so dass die Handlung weder eine logische Entwicklung von Ursache und Wirkung noch eine biografisch bedingte Motivationserklärung für den Lustmord präsentiert. Letztendlich verdeutlicht die Fotografie der toten Marie den phantasmatischen Charakter des Lustmordes, der erst aufgrund dieses Bildes als solcher definiert wird. Fotografie als Realitätsentzug Um Arbogast als Lustmörder verurteilen zu können, äußert der Gerichtsmediziner Professor Maul aufgrund einer Fotografie die „Kälberstricktheorie“ (S. 39). Die Fotografie ist fester Bestandteil des Kriminalgenres: Sie fungiert in der Regel als Beweismaterial und suggeriert einen „nüchternen, vorurteilslosen Blick“.28 Das ‚fotografische‘ Erzählen, das die Phänomene genau registriert und „Spuren festhält“,29 legt eine objektive, explizit auf Fakten beruhende Wiedergabe des Geschehens nahe. Die Fotografie wird als ein Medium der ‚Realität‘ angesehen, deren Grundprinzip nach Barthes als „Es-ist-so-gewesen“ zu definieren ist.30 Im Roman Der Fall Arbogast ermöglicht es der Fotografie dagegen nicht, die ‚Wirklichkeit‘ widerzuspiegeln. Die Fotografie ist vielmehr ein Instrument, um eine ‚Wirklichkeit‘ herzustellen, die ein Konstrukt bleibt und daher die ‚Realität‘ verfehlen muss. Mit der Zusammenführung von Weiblichkeit und Fotografie werden die ihnen jeweils zugeschriebenen Eigenschaften aufeinander übertragen. Ist für den Kriminalroman die schöne Leiche ein genrebedingter Ausgangspunkt und rätselhaftes Zentrum der Geschichte, so wird die Fotografie der toten Marie nicht einfach zu einem marginalen Indiz, sondern sie rückt in das Zentrum der Handlung. Die Fotografie ist außerdem, so hält die Forschung fest, ein totes Medium. Susan Sontag beschreibt die Fotografie als „Toten27 Vgl. R. von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. 28 P. Nusser: Der Kriminalroman, S. 144-145. Peter Nusser weist auf den wichtigen Einfluss der Fotografie auf den Kriminalroman hin. Er spricht über den „detektivischen Blick“ in Analogie zum „Kamerablick“, der den Leserinnen und Lesern die „sichtbare Wirklichkeit mit unbestechlicher Genauigkeit“ suggeriert, und über die Fotografie als „kriminologische Errungenschaft“, die neben anderen Techniken (wie z.B. Daktyloskopie) das Verbrechen zu demaskieren ermöglicht. 29 Ebd.: S. 144. 30 Barthes, Roland: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1985, S. 87. Hervorhebung im Original.

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maske“;31 Roland Barthes spricht über die Fotografie als ein Theater des Todes.32 Sie stellt das Leben als Stillleben aus und konserviert es. Die Fotografie der toten Marie wird bei Hettche durch diese Verdoppelung – schöne Leiche und totes Medium – zur Fotografie des Todes, die eine fundamentale narrative Leerstelle in der Handlung produziert, die zwar dem Kriminalroman entsprechend mit dem Erzählen aufgefüllt wird, jedoch nicht mit Erklärungen. Die schöne Leiche als Motiv versinnbildlicht also eine Lücke in den legislativen und judikativen Diskursen, die durch neue Diskurse, bis hin zur Reinszenierung der ursprünglichen Tat, gefüllt werden muss, aber gleichzeitig nicht imstande ist, diese Lücke zu schließen. Die Leere generiert und vervielfältigt die Diskurse, die die Entwicklung der Handlung bedingen. Zugleich beeinflusst die Fotografie die Weiblichkeitskonstruktionen: Die Vorstellung von Weiblichkeit als Objekt des männlichen Blickes oder als Projektionsmedium für das männliche Subjekt wird buchstäblich umgesetzt, indem die Frau zur Fotografie wird. Die Romanfiguren projizieren ihr Begehren auf die Fotografie und auf Marie, was den lustmörderischen und nekrophilen Charakter ihres Begehrens deutlich macht. Einerseits entsteht durch die Leerstelle ein Raum für das Begehren jeder (in der Regel männlichen) Person, die die Fotografie betrachtet, andererseits basiert dieses Begehren auf dem Lustmord, als dessen Signifikant Marie erscheint. Der Journalist Paul Mohr ist beispielsweise von Maries Bild so fasziniert, dass dieses sogar eine Annährung an die Fotografin Gesine und eine mögliche Beziehung stört: „Er hatte nicht zu fragen gewagt, doch sie [die Fotografin Gesine, Anm. d. Verf.] mußte bemerkt haben, wie sehr ihn das Bild faszinierte. […] Sie verstand, daß die Stille und Atemlosigkeit des Bildes Paul Mohr nicht mehr losließ.“ (S. 39) Die ‚Magie‘ der Fotografie, also ihre Faszination für alle Betrachter, besteht mittels der scheinbaren Bändigung und Verfügbarkeit des Todes darin, dass sie nach Sontag das fotografierte Objekt in Besitz nimmt. „Fotografieren heißt sich das fotografierte Objekt aneignen.“33 Die Fotografie eines Objektes bedeutet seine ständige Verfügbarkeit, sein Ausgeliefertsein an den Blick. „Sie [die Fotografie, Anm. d. Verf.] ist Teil, ist Erweiterung dieses Gegenstandes; und sie ist ein wirksames Mittel, ihn in Besitz zu nehmen, ihn unter Kontrolle zu bringen.“34 Das Betrachten 31 Sontag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt am Main 2004, S. 147. 32 R. Barthes: Die helle Kammer, S. 41. „Die ursprüngliche Beziehung zwischen Theater und Totenkult ist bekannt: die ersten Schauspieler sonderten sich von der Gemeinschaft ab, indem sie die Rolle der Toten spielten: sich schminken bedeutete, sich als einen zugleich lebenden und toten Körper zu kennzeichnen […]. […] Die gleiche Beziehung finde ich nun in der Photographie wieder; […] so ist die Photographie doch eine Art urtümlichen Theaters, eine Art von ‚Lebendem Bild‘: die bildliche Darstellung des reglosen, geschminkten Gesichtes, in der wir die Toten sehen.“ 33 S. Sontag: Über Fotografie, S. 10. 34 Ebd.: S. 148.

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der Fotografie ermöglicht in Hettches Roman eine scheinbare Herrschaft über den Tod, der traditionsgemäß auf das weibliche Andere projiziert und abgespalten wird. Die Fotografie fördert dadurch eine voyeuristische Erotik, die auf der Verfügbarkeit des fotografierten Objektes auf der einen Seite und seiner Unerreichbarkeit auf der anderen Seite beruht.35 Zentral erscheint für die Frauenfiguren im Roman die traditionell der Weiblichkeit zugeschriebene Maskerade, die die Reinszenierung der Tat aus der Opferperspektive ermöglicht. Die Fotografie scheint eine Analogie zur Weiblichkeit als Maskerade zu bilden, indem sie die ‚Wirklichkeit‘ und ‚Wahrheit‘ verschleiert und maskiert. Die auf der Fotografie angeblich vorhandenen Strangulationsspuren entpuppen sich als postmortal entstandener Abdruck eines Astes. Die ‚Fakten‘ sind dagegen im Inneren des Körpers verborgen, und nur die Obduktion kann die ‚Wahrheit‘ ans Licht bringen. Die Fotografie als Beweismaterial schafft eine Distanz zur Materialität und daher zur ‚Wahrheit‘, die das Körperinnere präsentiert. Das Körperinnere entzieht sich dem Signifizierungs- und Diskursivierungsprozess, was die Grenze jeglicher Repräsentation ausweist:36 Hettches Roman produziert anhand der Fotografie eine Differenz zwischen den im Körper gefundenen ‚Fakten‘ und dem Gerichtsurteil sowie zwischen der Obduktionsszene und dem intakten Körper auf der Fotografie und mithin zwischen dem Körper und der kulturellen ‚Wirklichkeit‘ beziehungsweise ihrer Interpretation, die durch verschiedene staatliche Institutionen, in diesem Fall durch die Strafjustiz, erst geschaffen werden muss. Diese Mehrdeutigkeit und Unentscheidbarkeit macht die Spannung des Romans aus. Die Obduktion belegt den natürlichen Tod des Opfers, der Gerichtsmediziner diagnostiziert dagegen auf Grundlage der Fotografie einen Mord. Marie ist auf der Fotografie tot, sieht aber so aus, als ob sie schliefe. Darüber hinaus macht der Roman die physiologischen Prozesse durch das fotografische Bild rückgängig. Der Körper wird in der Handlung erst obduziert, dann durch das Bild wiederhergestellt. Die Fotografie ermöglicht die Wiederkehr eines intakten Körpers, der am Anfang des Romans bei der Obduktion auseinandergenommen wird. Mit Bezug auf Dürrenmatt wird dessen Detektivfigur Bärlach bei Hettche zu einem wissenschaftlichen Assistenten, der am pathologischen Institut der Universität Freiburg tätig ist und die Obduktion der Leiche von Marie Gurth durchführt (S. 15). Die Transformation ist konsequent: Das 35 Ebd.: S. 22. „Das Gefühl der Unerreichbarkeit, das Fotos auslösen können, wirkt sich unmittelbar auf die erotischen Gefühle derer aus, die etwas für umso begehrenswerter halten, je weiter es entfernt ist.“ 36 Weigel, Sigrid: Lesbarkeit – Zum Bild- und Körpergedächtnis in der Theorie; „Blut im Schuh“ – Körper-Gedächtnis und Körper-Sprache in Christa Wolfs Prosa, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, S. 39-57; S. 58-77, hier: S. 65. Nach Sigrid Weigel entzieht sich das Körperinnere als Unsichtbares rationalen Erklärungen und positiven Beschreibungen.

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Verbrechen und die ‚Wahrheit‘ liegen nur noch im Inneren des Körpers. Mit der Übersetzung der Frau in die Fotografie, die sich als eine Art ‚Verhüllung‘ des Körperinneren darstellt, wird auch die ‚Wahrheit‘ buchstäblich verhüllt. Marie wird auf der Fotografie zur ‚nackten Wahrheit‘, die als Beweismaterial einerseits die ‚Wahrheit‘ zeigt, andererseits die ‚Wahrheit‘ als nicht intelligibel darstellt. Nach Hans Blumenberg gehört die „Nacktheit der Wahrheit“ zu den so genannten absoluten Metaphern, die besonders in der Rhetorik der Aufklärung als Wahrheitsbegriff Tradition haben.37 Bei Hettche kann die „nackte Wahrheit“ jedoch den Zugang zur ‚Wirklichkeit‘ nie erreichen. An dieser Stelle reflektiert der Roman nicht nur den Strafapparat und seine Unfähigkeit, die ‚Realität‘ zu erfassen, sondern auch die fotografische Unerfassbarkeit des Geschehens. Bei genauerer Betrachtung konkurriert der Roman mit dem fotografischen Medium, denn das ‚fotografische‘ Erzählen wird zugleich zur Darstellungsstrategie. Die detaillierten Beschreibungen einzelner Szenen und Räume, die im Roman Der Fall Arbogast vorgenommen werden, gehören zur Strategie des kriminalen Erzählens. Jedoch setzt der Roman diese Strategie gegen das Kriminalgenre ein, indem die Details zwar präzise beschrieben werden, der Text jedoch mit den Szenen selektiv umgeht. Hettches Roman wirkt wie ein Fotoalbum und erweckt den Eindruck, dass die Szenen erst fotografiert worden sind, um dann beschrieben zu werden. Einige Szenen basieren unmittelbar auf Fotografien, von denen post factum das Geschehen abgelesen wird, wie zum Beispiel auf den Fotografien der ersten Gerichtsverhandlung (S. 36). Dadurch entsteht eine Diskontinuität des Erzählens, die die Handlung ‚zerstückelt‘ und dem männlichen Protagonisten seine Identität entzieht. Das ‚fotografische‘ Erzählen privilegiert das Detail und macht die Figuren in Details sichtbar, doch fragmentiert sie damit zugleich. Eine solche Erzählweise des Romans entspricht der „politischen Anatomie“38 der auf (Selbst-)Disziplin aufgebauten bürgerlichen Gesellschaft, deren Machtstrukturen Hettche in Anlehnung an Foucault darstellt. Diese Erzählstrategie erteilt der grundlegenden Struktur des Kriminalgenres, dem logischen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der das Geschehen zu rekonstruieren und die Motivation des Verbrechers zu erklären ermöglicht, eine Absage, indem die Kapitel und Szenen des Romans nicht mehr aufeinander Bezug nehmen. Das ‚fotografische‘ Erzählen bedingt ein fragmentarisches Erzählen; daher wird die Fotografie der toten Marie zu einem strategischen Element beziehungsweise zu einem Bindeglied, das die Kapitel bündelt und Figuren zusammenführt, indem sie auf geradezu obsessive Weise in fast jeder Szene des Romans präsent ist. Marie überwindet in der Handlung Zeit und Raum: „Es war, als schlafe Marie 37 Vgl. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 1998, S. 61-76. 38 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 178. „Die Disziplin ist eine politische Anatomie des Details.“

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Gurth in ihrem Kissen aus Brombeer, dachte Paul Mohr. Und zur selben Zeit betrachtete Ansgar Klein dasselbe Photo, wenn auch in einer anderen Zeitung, die ebenfalls damit die Nachricht von der Entscheidung der Kommission gegen Hans Arbogast bebilderte.“ (S. 168) So werden zwei Figuren in Verbindung gebracht, deren direktes Aufeinandertreffen weder stattfindet noch für die Handlung von Bedeutung ist. Somit hält die Fotografie die Handlung zusammen, entzieht jedoch der dargestellten Tat jegliche Erklärung. In seiner Konkurrenz mit der Fotografie rächt sich der Roman am Bildmedium, indem der Unfähigkeit der Fotografie, die Wirklichkeit darzustellen, die literarischen Finessen gegenüberstehen, die imstande sind, die Grenzen jeglicher Repräsentation aufzuzeigen und zu reflektieren. Emanzipation des weiblichen Opfers Werden die Grenzen zwischen dem ‚Normalen‘ und dem ‚Verbrechen‘ verhandelbar, das heißt, gibt es die für den Kriminalroman typische Kategorie des eindeutigen Verbrechens nicht, so können auch die traditionellen Gender-Kategorien des Kriminalromans nicht aufrechterhalten werden. Der Täter entpuppt sich als mehrfaches Opfer der Justiz, des Zufalls, der Machtdiskurse und letztendlich des Begehrens des Opfers. Die Tat destabilisiert zu Beginn des Romans die Geschlechterordnung, die der Lustmord herstellt. Die Reinszenierung der Urtat löst die traditionellen Geschlechterzuschreibungen noch weiter auf. Obwohl das tradierte Verhältnis des Täters als Mann und des Opfers als Frau bestehen bleibt, finden durch den Wechsel der Erzählperspektive vom Täter zum Opfer Gender-Modifikationen statt, die Raum für das Begehren des Opfers schaffen. Es kommt zu einer Paradoxie: Durch die Maskerade – Katja Lavans identifiziert sich mit der toten Marie – spricht das Opfer seinen Mörder doppelt frei, um ihn gleichzeitig als Mörder zu entlarven. Katja entlastet Arbogast vor Gericht durch ihre wissenschaftliche Expertise und spricht ihn im sadomasochistischen Sexualakt frei, bei dem sich ihr Wunsch zu sterben manifestiert. Der Geschlechtsverkehr wird aus der Perspektive Katjas beleuchtet: „Im Hals war der Schmerz. Nur einmal sei der Tod egal, dachte sie, während ihre Lust immer wuchs. Marie, dachte sie und griff nach der Hand, in der ihr Hals lag. Kein Atem mehr, dachte sie, schloß die Augen und kam. Sie hörte gar nicht mehr auf zu kommen, und für einen Augenblick war tatsächlich alles ganz einfach.“ (S. 303) Durch diese Verdoppelung erscheint Arbogast als Mörder. Der Roman setzt in der Handlung eine rhetorische Strategie um: Eine doppelte Verneinung gilt als Bestätigung; die doppelte Verneinung von Arbogasts Unschuld bestätigt seine Schuld. Der Fall Arbogast verschiebt also das Begehren und konstituiert ein lustmörderisches Opfer. Außerdem findet eine Aneignung des Begehrens durch Maskerade-Strategien statt, so dass durch Katjas Identifizierung mit der toten Marie ein neues Phantasma entsteht. Die Opfer in einer Serie zu ermorden gehört zwar zum Lustmorddiskurs, aus der unmöglichen Opfer-

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perspektive wird die Serie jedoch zum Theater. Weiblichkeit als Maskerade ermöglicht eine Maskerade des Begehrens.39 Auch der Masochismus des Opfers lässt den Lustmord, mit Slavoj Žižek gesprochen, zum Theatralischen werden. Das Opfer bestätigt wie in der Novelle Barfuß von Michael Kleeberg das sadistische Szenario, indem es die Spielregeln festlegt und den Täter für sein Begehren instrumentalisiert,40 so wird das als substanziell behauptete Begehren zu einer theatralischen Performanz des Opfers. Das Täter-Opfer-Schema löst sich als binäre Konstellation auf; es entsteht eine Dynamik zwischen Täter und Opfer, die die Grenzen zwischen den beiden Kategorien verwischt. Emanzipiert sich das Opfer durch sein aktives Begehren, so verändern sich die konventionellen Strukturen des Kriminalromans. Die Spannung wird entsprechend am Ende des Romans nicht abgebaut, wie es in der Regel beim Kriminalgenre der Fall ist, sondern neu aufgebaut. Denn das Ende des Romans stellt keine Auflösung der Tat dar; die Reinszenierung erzeugt das Rätsel, das am Anfang gefehlt hat. Die Enthüllung der ‚Wahrheit‘ und die Auflösung des Falls Arbogast wird zur neuen Verhüllung, zur Unfassbarkeit der Tat, da der Lustmorddiskurs über keine Tradition verfügt, die Opferperspektive darzustellen. Die geschlossenen Strukturen des Kriminalromans werden geöffnet, denn das rätselhafte Verbrechen initiiert nicht mehr die Handlung, sondern schließt sie ab. Durch eine zirkuläre Entwicklung des Geschehens und durch die Reinszenierung wird die Tat fast in Freud’scher Manier als Wiederkehr des Unheimlichen wiederholt, um dessen Ergebnisse umzuschreiben.41

D AS P ANOPTIKUM DES R OMANS

ALS

O RGANISATIONSFORM

Der Lustmord setzt Diskurse in Bewegung, die die Figuren im Roman anders positionieren und Transformationen des Körpers initiieren. Bilder, Aussagen, Urteile und Geschlechterkonstruktionen werden in einem diskursiven

39 Mit der Perücke, die Katja Lavans während des zweiten Gerichtsprozesses trägt, fängt ihre Identifizierung mit Marie an; das Ablegen der Perücke während des Geschlechtsverkehrs mit Arbogast rettet ihr das Leben, indem ihre Identifizierung mit Marie gestört und infolgedessen der beinahe tödliche Sexualakt unterbrochen wird. 40 S. Žižek: Die Metastasen des Genießens, S. 48. Nach Žižek sind sadomasochistische Verhältnisse höchst theatralisch: „Der Diener schreibt folglich das Drehbuch, das heißt er ist es, der wirklich die Fäden zieht und das Tun der Frau (der Domina) diktiert. Er inszeniert sein eigenes Sklaventum.“ 41 Darauf weisen auch Jörg Magenau und Franziska Schößler in ihren Aufsätzen zum Roman Nox von Thomas Hettche hin.

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Wandel wiederholt umgeschrieben. Dieses dekonstruktivistische Erzählen suspendiert die binäre Logik, indem die Begriffe und Bedeutungen verschwimmen und sich umso mehr verschieben, je weiter sich die Handlung entwickelt. Diese dynamischen Prozesse im Roman lassen Körper, Begehren, Geschlechterdifferenz, Machtpositionen und selbst den Lustmord als Ergebnisse von Diskursen erkennbar werden. Der Körper wird dabei zum Spielfeld, auf dem die geschlechtsspezifischen, ethnischen und politischen Differenzen verhandelt werden. An den Schnittstellen der Diskurse entstehen dabei Paradoxien, die die Differenzen als flexibel darstellen. Dieses diskursive Konvolut stellt allem voran die Macht dar, die die Figuren hierarchisch organisiert und unterwirft. Die Entwicklung der visuellen Medien – Fotografie und Fernsehen – bedingt ständige Visualisierungen des Körpers, die den Referenten fixieren und dem voyeuristischen Blick aussetzen. Auch das ‚fotografische‘ Erzählen visualisiert die Körper. Dieses Verfahren fördert eine voyeuristische Ordnung, die die Machtverhältnisse zwischen den Figuren regelt. Der Körper wird zum Objekt des Blickes, der ihm seine Existenz im Roman ermöglicht, denn erst der Blick macht ihn präsent. In Analogie zum von Judith Butler entworfenen Prozess der Subjektwerdung durch die Unterwerfung42 erscheinen Hettches Figuren als Subjekte und gleichzeitig als Objekte des Blickes. Zentral ist dabei das Foucault’sche Modell des Panoptikums, das Hettche zum inhaltlichen Thema macht sowie als Darstellungsstrategie einsetzt.43 Unter dem Panoptikum versteht Foucault die abstrakte Organisation der Machtverhältnisse in der liberalen Gesellschaft, die als vollkommenes Disziplinarinstitut erscheint, dem sich Individuen selbst unterwerfen, indem Macht den Körper mit subtilen Zwangsmitteln besetzt und durchdringt. Die Idee des Panoptikums entwickelt Foucault aus dem Projekt eines nie realisierten panoptischen Gefängnisses (1791) von Jeremy Bentham, das eine allumfassende und permanente Überwachung der Insassen mit minimalem Aufwand erreichen sollte. In der Mitte eines ringförmigen Gefängnisgebäudes, in dem die Zellen an der Peripherie strahlenförmig angeordnet sind, sollte ein Überwachungsturm errichtet werden, der jeden Häftling im Strahl des Lichtes sichtbar, den Wächter im Turm dagegen unsichtbar macht, so dass das Panoptikum die Gewissheit einer permanenten Überwachung erweckt, ohne die Häftlinge ständig zu überwachen: „Er [der Sträfling, Anm. d. Verf.] wird gesehen, ohne selber zu sehen; er ist Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation.“44 Dadurch wird Macht laut Foucault einerseits automatisiert und entindividualisiert, andererseits unterwerfen sich die Häftlinge selbst: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und 42 Vgl. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt am Main 1997, S. 173-177. 43 M. Foucault: Der Panoptismus, in: ders., Überwachen und Strafen, S. 251-292. 44 Ebd.: S. 257.

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spielt sie gegen sich selbst aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip eigener Unterwerfung.“45 Foucault bezeichnet das Panoptikum als eine neue „politische Anatomie“, der Mechanismen der Sichtbarkeit zugrunde liegen, da sie die Individuen durch Registrierung, Differenzierung und Klassifizierung sichtbar macht. Erst diese Machtverhältnisse lassen das moderne Subjekt entstehen – Foucault spricht dieser Macht eine produktive Kraft zu. Der Roman Der Fall Arbogast setzt die Sichtbarkeit der Individuen, die Privilegierung des Details und das Eindringen der Macht in die Körper ästhetisch um. Sehen und Gesehenwerden definieren die Positionen der Figuren in der gesellschaftlichen Hierarchie. Den Lesenden wird durch eine detaillierte ‚fotografische‘ Darstellung der voyeuristische (männliche) Blick des Autors dargeboten, dem kein einziges Detail entgeht, so dass dieser Blick die Spitze der Hierarchie einnimmt. Nichts entgeht den Leserinnen und Lesern, ob es um einen sexuellen Akt, eine Leichenobduktion, eine Gerichtsverhandlung, eine Landschaft oder eine Körperhaltung geht: Alles wird registriert und in einer Protokollgeste dargelegt. In der absteigenden Hierarchie befinden sich als Nächstes die Romanfiguren, die nicht nur einander beobachten, sondern auch durch die Blicke der Lesenden, der geschilderten Institutionen und der anderen Figuren sie selbst werden. Blicke werden geworfen, auf jemanden gerichtet, man fürchtet sie oder versteckt sich vor ihnen. Der Blick des Anderen bringt die Figuren bei Hettche hervor. So erscheint die Figur Arbogast am Anfang des Romans erst durch den Blick Maries: „Sie lachte wie über etwas, das sie gerade entdeckt hatte, und sah sich nach ihm um. Er ging auf dieses Lachen zu […].“ (S. 7) Auf dieser Stufe der Hierarchie unterscheiden sich die Macht- und Ohnmachtpositionen der Figuren durch ihren inhaltlich markierten sozialen Status und durch die Institutionen, die diesen Status legitimieren oder entziehen. Der Richter beispielsweise besitzt eine höhere Position als die Zeugen. Die Figur Hans Arbogast bewegt sich im Laufe der Handlung in der Hierarchie der Blicke nach unten: Je tiefer er absteigt, desto mehr wird ihm sein eigenes Schauen entzogen, desto mehr ist er dem Blick der anderen ausgeliefert, desto tiefer dringt der Blick der Lesenden in seinen Körper ein. So wird der Protagonist durch die Einzelhaft seines eigenen Blickes beraubt, während er den Blicken der Wächter im Zuchthaus, der anderer Figuren, des Staates beim Gerichtsprozess und der Lesenden ausgesetzt ist. Das Gefängnis Bruchsal wird im Roman als utopisches Panoptikum46 dargestellt, das Arbogast einem Blick-Regime unterwirft: „Auch wenn niemand mehr als die nötigsten Worte mit ihm sprach, spürte Arbogast doch die musternden Blicke auf sich. Alle, Wärter und Gefangene, sahen ihn an. Wie immer bemühte er sich, ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen, auch wenn er eigentlich am liebsten schreiend losgelaufen wäre, um die Blicke 45 Ebd.: S. 260. 46 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 236-237.

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abzuschütteln.“ (S. 27) Die Blicke werden am Körper spürbar. Arbogasts Abstieg zeigt sich entsprechend in seinem irritierten Blick. Der Roman beschreibt ihn kurz vor dem zweiten Gerichtsverfahren wie folgt: „Er [Anwalt Klein, Anm. d. Verf.] hatte bereits vor fast zwei Jahren zu Sarrazin gesagt, Arbogast ertrage die Haft nicht mehr lange. Nun registrierte er schmerzhaft, wie der Blick Arbogasts immer wieder wegkippte und wie es ihm nicht gelang, sich aus der versunkenen Haltung zu lösen, in der er sich selbst zu halten schien.“ (S. 212) Dieses Eindringen des Blicks in den Körper des Täters entspricht der Transformation des Opferkörpers. Maries Körpers verschwindet in der Fotografie, Arbogast verschwindet aus der Gesellschaft; sein Körper wird als ein „exterritoriales Gelände“ für den Staat „entweiht“ (S. 62). Wird Arbogasts Körper metaphorisch vom Blick durchdrungen, der ihn aushöhlt, so dringt der Roman mit seinem neugierigen Blick buchstäblich in den Körper Maries ein, indem er ihn obduziert und einer detailreichen anatomischen Deskription aussetzt. Der männliche Körper wird zum Schlachtfeld der Machtdiskurse, der weibliche Körper zum Experimentierfeld der Pathologie. Die Geschlechterdifferenz ist Effekt der auf den Körper einwirkenden Diskurse, die dem Mann durch Unterwerfung und Disziplinierung seine Existenz sichern, die Frau dagegen als Pathologisches ausgrenzen.

D ISKURSIVIERUNG DER G ESCHLECHTERDIFFERENZ De- und Rematerialisierung des weiblichen Körpers Die De- und Rematerialisierung des weiblichen Körpers treibt die Entwicklung der Handlung voran und lässt den kulturellen Wandel fassbar werden, indem die Gender-Umkehrungen und Körpermetamorphosen diskursive Änderungen sichtbar machen und umgekehrt die Veränderungen in den diskursiven Praktiken neue Geschlechterkonfigurationen und eine neue Gestaltung des Körpers herstellen. Markieren die Körpermetamorphosen den Wandel der Diskurse, so folgt der Roman Der Fall Arbogast einer Strategie der Verbuchstäblichung, indem er bekannte Topoi, Motive und Mythen des Weiblichen am Körper und mit dem Körper umsetzt und sie damit dekonstruiert. Neben der Maskerade werden beide weibliche Figuren paradigmatisch mit dem Tod verknüpft. Marie ist eine schöne Leiche par excellence; sie ist durch das Kriminalgenre dazu prädestiniert zu sterben, stirbt bereits auf Seite 15 und erinnert vor der Obduktion an Ophelia: Vor der Autopsie liegt sie umringt von „unzähligen Sträußen, Lilien und Gladiolen“ (S. 16). Katja ist Pathologin, das heißt, sie ist durch ihren Beruf mit dem Tod verbunden: Sie studiert und seziert Leichen, arbeitet zwischen ihnen und beschäftigt sich ausschließlich mit dem Tod.

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Der Roman spielt dabei mit dem Tod – er macht ihn widerrufbar. Er knüpft an die bekannte literarische und bildkünstlerische Tradition an, die die Entstehung des Kunstwerkes auf den Tod der Frau zurückführen. Die schöne Leiche Marie wird im Roman buchstäblich auseinandergenommen, um die Handlung und den Text entstehen zu lassen. Je weiter der Körper obduziert wird, desto mehr erzählt er von sich: „Eine Leiche ist ein Kassiber. Geschmuggelt über die Grenzen des Todes, erzählt der Körper die Geschichte des Menschen, der eben noch lebte.“ (S. 23) Der Körper ist ein zu lesendes Skript: „Erzähl mir was von dir“ (S. 180), flüstert die Pathologin Dr. Katja Lavans vor der Autopsie einer schönen Frauenleiche zu. Den Körper zu obduzieren ist ein Versuch, Unsignifizierbares zu signifizieren, Nicht-Intelligibles zu lesen, das unsichtbare Innere, das sich dem Sinnstiftungsprozess entzieht, sichtbar zu machen. Besonders im Zusammenhang mit dem Lustmord, der in Paradoxien verstrickt ist und den Signifizierungsprozess unterbricht, versucht der Roman im Körper eine Erklärung zu finden. Der Textkorpus und der leblose Körper scheinen im Text äquivalent zu sein, so dass sich die Entschleierung der ‚Wahrheit‘ als voyeuristische Entschleierung des Körpers darstellt. Die weibliche Leiche wird dabei traditionsgemäß zum Paradigma der Schrift und des Schreibens, da Der Fall Arbogast sie mit dem Text – „dem Corpus der toten Buchstaben“ – verbindet.47 Je mehr die Leiche verschwindet, indem sie seziert und zerstückelt wird, desto klarer entwickeln sich der Text, das Obduktionsprotokoll und der Roman. Bei der Obduktion wird die Leiche buchstäblich in Schrift umgesetzt, sie wird zur Narration ihres Lebens und ihres Todes, die die Pathologen im Inneren des Körpers ablesen. Zugleich wird sie zur Narration des Kriminalromans, weil der tote Körper die Handlung beherrscht und vorantreibt. Der Tod wird, umgesetzt in Narration und Fotografie, scheinbar überwunden, denn Marie wird durch die Schrift zum Kunstwerk und daher unsterblich. Im zweiten Gerichtsverfahren erklärt die Fotografin Gesine, die Marie vor 14 Jahren fotografiert hat: „Keine Zeit hatte Macht über sie.“ (S. 289) Um dem voyeuristischen Genuss des Betrachtens zu entsprechen, muss Marie, mit Elisabeth Bronfen gesprochen, durch ihre Konservierung zu einem ästhetisierten Objekt werden. Zudem erinnert Marie an das Schneewittchen-Motiv,48 da die Protagonistin weder tot noch lebendig vor den Betrach47 E. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 17. In meinen Thesen über Weiblichkeit und Tod stütze ich mich auf Bronfens Analyse des Bildes Der Anatom von Gabriel von Max (S. 13-27). 48 E. Bronfen: Nachwort, in: dies., Die schöne Leiche, S. 377-429, hier: S. 381-384. „Das erotische Begehren nach der Liebsten verlagert sich hier auf die Ebene des Betrachtens. Im Akt des Sehens liegt Besitz und Genuß, wobei die Frau die Bedingung dieses Begehrens am besten erfüllt, wenn ihr Todeszustand, der sie gänzlich zum Körper werden läßt, bewahrt wird vor der Verwesung, wenn sie eine unberührbare, idealisierte weibliche Hülle ohne Seele und Selbst ist. Die

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tern ausgestellt wird: „Es war, als schlafe Maria Gurth in ihrem Kissen aus Brombeer, dachte Paul Mohr.“ (S. 168) Und die Fotografin erinnert sich an die tote Marie: „Es sei kalt gewesen und naß, und doch habe Marie so ruhig dagelegen, als mache ihr all das nichts aus.“ (S. 289) Die Fotografie konserviert in Analogie zur Schrift den Tod und überwindet die Verwesung Maries. Nach dem der Körper während der Obduktion in der Schrift verschwindet, ersteht er in der Fotografie wieder auf – die Fotografin Gesine und der Journalist Paul warten darauf, dass „das Fixierbad die chemische Reaktion stoppte und den Entwicklungsprozess der Schatten beendete, aus denen sich der Körper Marie Gurths zusammensetzte.“ (S. 39). Unsterblich zu sein bedeutet im Roman Der Fall Arbogast körperlos zu sein, worauf auch der Name Marie und das religiöse Vokabular hindeutet, das im Zusammenhang mit ihr verwendet wird. Der Spruch „Wenn die Engel reisen…“ (S. 9) wird zu Beginn der Handlung mehrfach wiederholt; Marie und Arbogast essen im Lokal „Zum Engel“ (S. 7). Nach Bronfen stellt sich die Jungfrau Maria „körperlos“ dar und fungiert als Zeichen „zeitloser, undifferenzierter, unsterblicher Schönheit und Seligkeit, als Allegorie für den Sieg über den Tod, und als Verheißung ewigen Lebens.“49 Das Schneewittchen-Motiv und die paradigmatische Verbindung von Weiblichkeit und Tod in der Kunst werden auch in Gier zu einem Thema, mit dem Jelinek das abendländische Repräsentationssystem einer radikalen Kritik unterzieht. Umgesetzt in der Handlung zerstört Jelinek die künstlerischen Fantasien der Konservierung und Verewigung des toten weiblichen Körpers mittels der Kunst oder des literarischen Werkes. Die Kunst und der Text sind selbst tot und können daher kein ewiges Leben schenken. Der ästhetischen Glorifizierung der schönen Leichen stehen die Schilderungen der anatomischen Verwesungsprozesse gegenüber. Hettche spielt hingegen mit diesem bekannten Topos und lässt die Frau erst sterben, um sie dann nach allen Regeln der Kunst von den Toten wiederauferstehen zu lassen. Die Überwindung des Todes wird in der phantasmatischen Rückkehr Maries als Katja dargestellt. Definiert Barthes die Fotografie als eine „Wiederkehr des Toten“,50 so inszeniert Der Fall Arbogast diese Wiederkehr, indem eine andere Frau, Katja Lavans, 14 Jahre später durch eine Maskerade zur Reinkarnation der toten Marie wird. Die Rückkehr Maries wird in der Tradition Ovids inszeniert, indem der Autor in Analogie zum Pygmalion-Mythos den nekrophile Schaulust des Prinzen ist doppeldeutig, der Blick sexuelle Handlung. Diese seine Perversion aber wird durch die ästhetische Inszenierung verborgen, denn die Kunst sanktioniert die Verwandlung des Blickes in eine Form des Berührens. Sie verdeckt, daß der Prinz Schneewittchen von Anfang an als schöne Leiche und nur [Hervorhebung im Original] als totes Objekt seines Blickes begehrt. Ein erotisierter und ästhetischer Fetisch tritt an die Stelle der verwesenden Leiche.“ (S. 382) 49 E. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 103. 50 R. Barthes: Die helle Kammer, S. 17.

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weiblichen Körper in der Fotografie belebt. Marie verschwindet in der Fotografie, was als Metamorphose des Körpers vom Organischen zum Bildlichen dargestellt wird: Geschlechtsverkehr, Tod, Obduktion im Leichenschauhaus und Ersetzung des Körpers durch die Fotografie. Ist Marie Gurth am Ende der Metamorphose lediglich eine Fotografie, so taucht ihre Doppelgängerin Dr. Katja Lavans im Roman zunächst im Fernsehen auf, wo sie ein Interview zum Fall Arbogast gibt (S. 141). Danach trifft Anwalt Dr. Klein Katja Lavans in einem ehemaligen Leichenschauhaus (S. 186-188). Anschließend folgt die Identifikation Katjas mit Marie und die Reinszenierung der ursprünglichen Tat: Sie fährt mit Arbogast im selben Auto wie damals Marie und lässt den sadomasochistischen Geschlechtsverkehr geschehen. Die Literatur ermöglicht es, die männlichen Schöpfungsfantasien zu realisieren. Die Wiederherstellung des weiblichen Körpers produziert dabei auch die Kontinuität der Diskurse und die traditionelle Geschlechterordnung. Disziplinierung des männlichen Körpers Der Roman verwirklicht Foucaults51 Theorien, um das Subjekt beziehungsweise die Mechanismen der Subjektivierung durch den Machtapparat des Staates darzustellen. Hettche schildert kritisch alle Prozeduren des Strafsystems, um sich mit den Machtstrukturen auseinanderzusetzen: Gerichtsverfahren, Gefängnisstrafe, Wiederaufnahme und Freispruch im zweiten Gerichtsverfahren werden verfolgt. Das Gefängnis wird als Ausnahmezustand dargestellt, in dem sich die Macht manifestiert, zumal der Roman ein panoptisches Gefängnis schildert. Das Gefängnis bringt zum einen die Macht über das Subjekt physisch näher, zum anderen werden die Mechanismen und Techniken der Unterwerfung des Körpers transparent gemacht, die in der Gesellschaft verschleiert und unsichtbar geworden sind. Die Machtmechanismen, die den Körper unterwerfen, sind die totale Sichtbarkeit, einhergehend mit der totalen Disziplinierung des Körpers beziehungsweise der Verinnerlichung der Unterwerfungstechniken. Die Entwicklung zum disziplinierten Körper beschreibt Foucault über drei Hauptstrategien: Einschließung in den Raum, Partialisierung und Hierarchisierung der Individuen. Wie bei Foucault vereinigt die Haft-Maschinerie bei Hettche das „politisch-moralische Modell der individuellen Isolierung und der Hierarchie; das ökonomische Modell der zu Zwangsarbeit eingesetzten Kraft; das technisch-medizinische Modell der Heilung und der Normalisierung. Zelle, Werkstatt, Spital.“52 Als Arbogast im Gefängnis ankommt, wird er beschrieben, gemessen und klassifiziert. Ärzte, Lehrer und Priester werden eingesetzt, um dem Individuum seinen Platz zuzuweisen und es zu formen. Arbogasts Tag ist bis auf die Minute geplant; er arbeitet den ganzen Tag in seiner Zelle; ihm wer51 M. Foucault: Überwachen und Strafen. 52 Ebd.: S. 318.

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den Studium, Kurse und eine Ausbildung angeboten. Der Körper wird durch Disziplinarmechanismen vollkommen unterworfen. Die Häftlinge nennt der Roman „Zootiere“ (S. 160), die durch die totale Überwachung und Sichtbarkeit sowohl dressiert als auch zur Schau gestellt werden. In Anlehnung an Foucault wird die Beichte zu einem wichtigen Mechanismus der Diskursivierung der Sexualität.53 Obwohl der Priester von Arbogast eine Beichte fordert, weigert sich dieser, so dass das Geschehen zwischen Arbogast und Marie weiterhin nicht diskursiviert bleibt. Die ästhetische Umsetzung von Foucaults Theorien lässt einerseits den Prozess der Entstehung der Seele und die Einkerkerung des Körpers durch die Seele verfolgen, andererseits versinnbildlicht der Roman die Auflösung und Wiederherstellung des männlichen Subjektes. Der Roman verbuchstäblicht die Idee Foucaults, dass die Seele das Gefängnis des Körpers ist.54 Die Zelle, in der Arbogast 14 Jahre verbringt, kann in Anlehnung an Foucault als Metapher für die Seele gelesen werden, die „Effekt und Instrument der politischen Anatomie“55 ist und den Körper einkerkert. Der Roman verwischt semantisch die Grenzen zwischen der Zelle und der toten Marie, zwischen der verstorbenen Seele und Weiblichkeit, zwischen der Zelle und dem Körper Arbogasts. Die Erinnerungen an Marie begleiten Arbogast im Gefängnis; sie füllen seine Zelle mit ihrer Anwesenheit aus: „Überall war Marie! Seit jenem Moment, als er ihren reglosen Kopf in der Hand gehalten hatte, war sie immer da.“ (S. 171) Der Roman setzt nicht einfach Weiblichkeit und Tod gleich, sondern er vergleicht die verstorbene Seele mit einer nackten Frau, die Assoziationen mit Marie hervorbringt. Während Katja nach dem Exzess mit Arbogast an den Tod denkt, zitiert der Anwalt Ansgar Klein für sie ein Gedicht von Kaiser Hadrian: „Schweifendes, zärtliches Seelchen, Gefährtin meines Leibes, gehst du weg jetzt an jene fahlen, erstarrten Orte, du kleine Nackte, wirst nicht mehr spielen mit mir.“ (S. 328) Das Gedicht demonstriert die metaphorische Überlagerung von Seele und Weiblichkeit und spricht gleichzeitig über die Frau als Tod. Zudem ist Marie in der Zelle so präsent, dass sich beide zuweilen überschneiden: „Er [Arbogast, Anm. d. Verf.] schloß die Augen und küßte Marie. Er spürte die Wand an seinem Gesicht.“ (S. 172) Letztendlich verschmilzt Arbogasts Körper mit der Zelle, als ob er das Gefängnis als „zweite Haut“ mitschleppe: „Den ganzen Tag hatte sie [Katja, Anm. d. Verf.] immer wieder an Ansgar Klein denken müssen und wie er über die brennende Kraft Arbogasts sprach, die dieser dem Gefängnis verdanke, das ihn inzwischen umgebe wie eine Haut. Eigentlich weiß ich nicht, wie er wäre ohne diese Zelle, die er immer mit sich schleppt, hatte er gesagt […]. [Hervorhebung im Original]“ (S. 203)

53 Vlg. M. Foucault: Der Wille zum Wissen. 54 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 42. 55 Ebd.

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Mit der Umsetzung von Foucaults Theorie verfolgt der Roman kritisch die Produktion des Sträflings als Subjekt, denn wie bei Foucault ist das Gefängnis nicht Ort der Besserung oder ‚Normalisierung‘ der Individuen, sondern es bringt die Delinquenten als solche erst hervor. Der Produktionsprozess des Strafsubjektes wird dabei zur Kritik am Strafsystem. Führt die Entwicklung des Machtapparates bei Foucault zur Entstehung des Individuums, entleert hingegen bei Hettche die Macht das Subjekt. Zum einen erscheint die männliche Seele tot, zum anderen wird in Arbogast alles Individuelle wie Erinnerungen und Empfindungen ausgelöscht; der Körper wird durch die Domestizierung zu einer ausgehöhlten, gehorsamen Maschine, deren „Öde und Leere“ (S. 77) nicht nur sichtbar ist, sondern auch „sein Lachen und seine Lider, die tiefen Falten in seinen Wangen und die Haltung seines ganzen Kopfes“ (S. 77) beherrscht. „Gehorsam“ bedeutet entindividuiert und entpersönlicht zu sein: „Schien es ihr [Katja; Anm. d. Ver.] doch tatsächlich, als nähme Hans seine Maske erst ab, bevor er in das Besuchszimmer kam, und als hätte sein Gesicht schon keine eigene Haut mehr.“ (S. 77) Hettche bezieht sich hier wieder auf Foucaults Studie Überwachen und Strafen, die über die Masken, die den Sträflingen während des Hofgangs übergezogen werden, berichtet. Foucault zeigt die Ansätze der Macht an der Oberfläche des Körpers. Der Roman Hettches stellt Männlichkeit mithin aber als Maskerade dar, denn die Maske wird zum Signifikanten des inneren Zustandes der Leere. In Analogie zur Weiblichkeit besitzt Männlichkeit keine Identität und verfügt über kein Inneres, was seine Auflösung und generell die der Geschlechterdifferenzen zum Ausdruck bringt. Kontrolle und Unterwerfung sind so massiv, dass die Gefangenen nicht mehr wie in der Vergangenheit Masken beim Hofgang und Kästen in der Kirche benötigen, in denen sie während der Messe sitzen (S. 61); diese Unterwerfungsmaßnahmen sind vollkommen internalisiert. Der Körper droht, selbst zur Zelle zu werden. Dies zeigt sich, als der Anwalt Klein Arbogast im Gefängnis besucht: „Zunächst schien sich die Befürchtung zu bestätigen, sein Mandat könne noch mehr in jene fremde Welt der Zelle verschwunden sein, deren Eingang Klein im Blick des Zuchthäuslers so deutlich sah.“ (S. 211-212) Die Macht löscht nicht nur das Innere des Subjektes, sondern auch das Subjekt selbst aus. Die Transformationsprozesse von Arbogasts Körper, sein sozialer Abstieg und seine Wiederkehr werden durch die Metamorphosen von Maries und Katjas Körpern provoziert. Durch den Tod Maries wird Arbogast nicht nur mit einer Todes- und Verlusterfahrung konfrontiert, sondern von der sozialen Gemeinschaft im Gefängnis isoliert. Der Lustmord an Marie bedeutet für ihn einen symbolischen Tod, so dass sich die schöne Leiche als Leerstelle in der Subjektkonstruktion Arbogasts darstellt, die seine Transformation zur Folge hat. „Fast fünfzehn Jahre war Arbogast in Haft, und eingeschlossen in ihr jener Tod, der keinen Grund zu haben schien.“ (S. 203) In Hinsicht auf die Geschlechterdifferenz markiert das Verschwinden Maries ihre Destruktion. Der Roman macht den Abspaltungsprozess rückgängig, der die

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das männliche Subjekt störenden Faktoren auf das Weibliche projiziert und sie aus dem männlichen Identitätskonzept absondert: „So, als wäre Marie durch den Moment ihres Todes ihm übergeben.“ (S. 70) Der Roman gibt dem männlichen Protagonisten zurück, was die imaginierte Identitätsbildung auf den Anderen überträgt. Eben dadurch wird seine Autonomie und Ganzheit als Illusion entlarvt. Das ‚vollständige‘ Subjekt ist ein „fraktales“ Subjekt, dessen Selbst durch die „Vervollständigung“ in eine „Vielzahl von winzigen gleichartigen Egos“ zerfällt, die nach Baudrillard als eine „endlose interne Differenzierung von ein und demselben Subjekt“56 gedeutet werden kann. Die Einheit, die Arbogast entzogen wird, wird durch andere Figuren oder Objekte kompensiert: durch die tote Marie, durch das Auto (eine Borgward Isabella) und durch Billardkugeln, die ihn an sehr „helle Haut“ (S. 92) erinnern. Marie erfüllt Arbogasts Leben seit ihrem Tod beziehungsweise ihrer Ermordung; sein Auto und die drei Billardkugeln sind für ihn magische Gegenstände: Die Billardkugeln trägt er immer bei sich. Der Tod gibt Arbogast vollkommene Macht über Marie, die er genauso besitzen kann wie seine Talismane, die als Objekte des Begehrens dargestellt werden. Das Subjekt definiert sich mithin durch anorganische Gegenstände und die tote Frau. Diese Komplettierung des „fraktalen“ Subjektes lässt es als nekrophil erscheinen, ein Prädikat, das sowohl die Nachkriegszeit, in der die Handlung spielt, als auch die moderne Mediengesellschaft charakterisiert. Nach Erich Fromm57 zeichnet sich die moderne technokratische Mediengesellschaft durch Nekrophilie aus, da sie die Faszination an anorganischen Objekten weckt. Darüber hinaus fördern die Medien, die den Tod unablässig thematisieren und die Abwesenheit des Referenten voraussetzen, die Nekrophilie, die im Roman Der Fall Arbogast durch die Fotografie der toten Marie allgegenwärtig ist. Der Roman ist zwar nicht psychologisch angelegt, bedient sich jedoch bei der Rückkehr Arbogasts in die Gesellschaft des Freud’schen Unheimlichen, indem nicht nur Doppelgänger zurückkehren, sondern auch die Tat wiederholt werden kann. Wiederholen bedeutet bei Freud das „Wiederfinden der Identität“.58 So stellt der Roman durch die Reinszenierung der Urtat die Geschlechterdifferenz wieder her, die die Rückkehr Arbogasts in die Gemeinschaft sowie die Wiederherstellung seiner Identität ermöglicht und gleichzeitig als eine Art narrativer Therapie fungiert, die die Ergebnisse der fatalen Nacht umschreibt. Die Wiederkehr Maries alias Katja setzt Abspaltungsprozesse in Gang, die die Geschlechterdifferenzen und das Subjekt-

56 Baudrillard, Jean: Videowelt und fraktales Subjekt, in: Ars Elektronica: Philosophien der neuen Medien, Berlin 1989, S. 113-133, hier: S. 113-114. 57 E. Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, S. 318. Erich Fromm nennt die moderne Welt der Maschinen, zu denen er auch Autos und Fotoapparate zählt, die „Welt des Todes“. 58 S. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 37.

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konzept restituieren, wobei der Tod erneut aus dem Identitätskonzept ausgegrenzt und auf das weibliche Andere projiziert wird. Diskursivierung der Täter-Opfer-Differenz Der Körper in der Literatur und der Lustmorddiskurs werfen die Frage nach der ‚Natur‘ des Körperlichen und der lustmörderischen Triebe auf. Der Körper steht seit der Aufklärung für die Signifikanten des Sinnlichen, Triebhaften, Instinktiven und ‚Natürlichen‘, die der Geist bändigt und domestiziert. Der Lustmord wird auf ähnliche Weise auf das Ungebändigte und ‚Natürliche‘ zurückgeführt, das die Kultur kontrollieren muss. Diese GeistKörper- und Kultur-Natur-Differenzen löst der Roman ebenfalls durch die Überlagerung verschiedener Diskurse auf. Einerseits kommt wiederholt das Motiv des ‚Natürlichen‘ ins Spiel, wenn Körper und Lustmord gemeinsam thematisiert werden, da beide für die Kultur nicht intelligibel sind, wie der Roman verdeutlicht. Jedoch unterwandert das ‚Natürliche‘ die Kolonialisierungsdiskurse, die den Lustmord mit politischer Macht verknüpfen. In diesem Zusammenhang werden die Geschlechterdifferenzen mit den Kolonialsemantiken überlagert, die sich ebenfalls durch Ambivalenzen auszeichnen und stets wieder aufs Neue als Ergebnis von Verhandlungen festgelegt werden müssen, die dem Täter oder dem Opfer Macht entziehen oder verleihen. Die Macht ist in Anlehnung an Foucault nicht nur durch Verpflichtungen und Verbote und nicht nur als ein repressiver Apparat zu verstehen. Sie ist eine Gesamtwirkung der strategischen Positionen, die nicht als Privileg, Eigentum oder Herrschaft der privilegierten Klassen beschrieben werden können, sondern als Dispositionen, Manöver, Techniken und Funktionsweisen, die die Körper der Individuen besetzen und die Beziehungen durchdringen. Macht ist nicht durch Totalität gekennzeichnet, sondern besteht aus „einzelnen Episoden, die jeweils in ihr Geschichtsnetz verflochten sind“ und aus “zahllose[n] Konfrontationspunkte[n] und Unruheherde[n], in denen Konflikte, Kämpfe und zumindest vorübergehende Umkehrung der Machtverhältnisse drohen.“59 Im Roman Hettches wird die Täter-Opfer-Differenz durch die Umkehrung der Macht außer Kraft gesetzt und später wiederhergestellt. Das sadistische Begehren des Täters, der sich seiner Schuld nicht bewusst ist, entpuppt sich ebenfalls als Ergebnis der Diskurse, die ihn im Theater des Begehrens auf die Täterposition festlegen. Die Geschichte der kolonialen Eroberung und Vernichtung hat dabei Spuren am Körper des Täters hinterlassen. Der Körper wird, mit Weigel60 gesprochen, zum Austragungsort und Symbolfeld des kulturellen Gedächtnisses und der Kolonialgeschichte der Menschheit, die aus dem Bewusstsein verdrängt und anhand des Körpers artikuliert wird: „Vielmehr ist das Gedächtnis in den Leib in 59 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 39. 60 S. Weigel: Lesbarkeit, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, S. 50.

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Form von Dauerspuren eingeschrieben.“61 Der Körper stellt in Hettches Roman eine Art Echoraum dar, der die aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängte Historie sichtbar macht. So erscheint das lustmörderische Begehren als Effekt der Entwicklung der modernen Gesellschaft, die durch Besetzung, Krieg und Kolonialisierung zustande gekommen ist: „Hans Arbogast hatte eine Hand unter dem Kopf und die andere, unter dem Hemd, glitt über Brust und Bauch, während er sich erinnerte und die Namen leise vor sich hinsagte: Kamtschatka, Timbuktu, Deutsch-Süd-West, Macao, das Kap der Guten Hoffung, Tanger, die Seidenstraße, Irkutsk, die Bering-See, der Amazonas, der Kongo, Donaudelta, Antipoden, St. Joseph-Land, Tahiti, Galapagos und der Panama-Kanal.“ (S. 68) Die Flüsse, Meere und Staaten bilden die Körperoberfläche Arbogasts, die aus den europäischen Kolonien zusammengestellt wird und an die Geschichte der Entdeckung und Eroberung fremder Territorien und der Ausrottung der nativen Bevölkerung durch Russland, die Sowjetunion, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Spanien und Portugal erinnert. Darüber hinaus ist auch der Benennungsakt eine Inbesitznahme der eroberten Länder. So wird der Körper nicht nur mit der Eroberungsgeschichte der europäischen Expansion verbunden, sondern sein lustmörderisches Begehren wird von der politischen Macht legitimiert, die je nach politischer Konjunktur und Interesse den Lustmord entweder einsetzt oder verbietet. Nach dem Zweiten Weltkrieg will die Gesellschaft jede Erinnerung an die Vernichtung auslöschen. Arbogast, zu dessen Biografie der Zweite Weltkrieg gehört, soll im Gefängnis bleiben, da er das Vergessen des vergangenen Krieges und der Lust am Töten verhindert. Er wird zum Sinnbild der Nachkriegsepoche, die den Krieg aus der Öffentlichkeit verdrängt: „Die Geschworenen, die Richter, die Presse, alle wußten: Das muß weg. Das durfte es nicht mehr geben. Die Angst war zu groß.“ (S. 341) Das Wort Krieg wird aus dem öffentlichen Bewusstsein vollkommen verdrängt. „Das“ könnte das lustmörderische Begehren Arbogasts oder die Kriegsvernichtung sein, die mit dem Lustmord oder der Lust am Töten assoziiert wird und an die Arbogast erinnert. Der Roman inszeniert das Nachkriegstrauma als das Verdrängte im kollektiven Gedächtnis, ohne jedoch die tradierten Erinnerungstopoi und -motive fortzuschreiben. Im Unterschied zu Bosetzkys Text reproduziert Hettche keine Entlastungsstrategien, sondern zeigt vielmehr die herrschenden Diskurse im Prozess der Herstellung gesellschaftlicher ‚Wirklichkeit‘, die bestimmte Ereignisse verdrängt oder privilegiert. Wird die Erinnerung an die Vernichtung durch das Kollektiv aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen, so wird diese auch im Roman Hettches kaum thematisiert. Hettche verbindet den Krieg mit Arbogast, ohne jedoch die Erzählung in diese Richtung zu entwickeln. Der Täter nimmt dank dieser diskursiven 61 Ebd.: S. 49. Entzieht sich das Körperinnere als Unsichtbares rationalen Erklärungen, so kann der Körper nach Weigel das Unbewusste artikulieren und als Austragungsort und Symbolfeld für das kulturelle Gedächtnis dienen (S. 65).

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Prozesse eine paradoxe Position ein: Er behält symbolisch die genannten Kolonien auf seinem Körper als Trophäe oder als Spuren – Indizien der Macht. Gleichzeitig ist der Täter im Gefängnis allen Blicken ausgeliefert und ihnen unterworfen. Der Körper des Opfers offenbart ebenfalls eine politische Dimension, indem seine masochistische Lust mit einer Kolonialgeschichte aus Martinique verknüpft wird: Zitiert wird ein französischer Militärarzt, der über eine orgiastische Ekstase beim Sterben, über die „agonale Erektion“ bei hingerichteten Schwarzen spricht (S. 201-202). Der Autor des Kolonialberichtes ist ein Kolonialherr, der mit seinem eurozentrischen, männlichen Blick traditionell über dem Tod des Anderen steht und ihn dadurch überwindet. Den Opfern entziehen die Diskurse die Stimme; sie werden jenseits der Diskurse, jenseits des Sagbaren und jenseits der symbolischen Ordnung positioniert. Diese Lücke versucht der Roman Hettches aufzufüllen, indem Katja die These des französischen Militärarztes an ihrem eigenen Körper überprüft und bestätigt. Diese Zusammenführung von Weiblichkeit und Eroberten geht auf die tradierte Verweiblichung der Kolonisierten zurück. Nicht nur der Täter, sondern auch das Opfer verhält sich paradox zur Macht und schreibt die Geschichte Deutschlands als eine verdrängte Geschichte weiter. Neben der Verdrängung des Zweiten Weltkriegs wird auch die Besetzung Deutschlands durch die Alliierten aus dem kollektiven Bewusstsein verbannt und traditionsreich in Form von Spuren am weiblichen Körper sichtbar. Der Körper einer schwarzen Sängerin in einer Bar erinnert Sarrazin an die Schönheit der toten Marie: „Die Sängerin lachte. Ihr Kopf neigte sich wie eine Blume zur Seite. Sie entblößte ihren Hals, und aus dem Nichts sah Sarrazin plötzlich, ohne daß er sich das jemals zuvor vorgestellt hätte, jenen anderen Hals der Toten in derselben Bewegung und ebenso schön.“ (S. 134). Die schwarze Frau wird zum Symbol der Besetzung Westdeutschlands durch die amerikanischen Alliierten, und so wird das Opfer als schwarze Frau und als tote Marie zur Repräsentation der Macht der Fremden, die über das geteilte Deutschland herrschen. Die schwarze Frau markiert eine paradoxe Schnittstelle der Macht, da sie zwar die Macht repräsentiert, jedoch selbst mehrfach als schwarze Frau, als Tote und Opfer beschrieben wird. Diskursivierung der Ost-West-Differenz Die Geschlechterkonstruktionen werden zum Ort der Überschneidung sexueller und kultureller Differenzen, indem sich Männlichkeit und Weiblichkeit im Roman mit politischen, historischen und ethnischen Diskursen überlappen. Der Körper wird zu einer Spiellandschaft der Mythen, Historien, Mächte und Kolonialfantasien. So fallen die Geschlechterdifferenzen mit ethnischen Differenzen und Staatsgrenzen zusammen, wobei Weiblichkeit durch rassistische Einschreibungen verschiedene Konstruktionen von Alterität –

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der topischen Kohärenz von Weiblichkeit und Fremdheit entsprechend62 – zum Ausdruck bringt. Die Figur Marie Gurth wird zur Verkörperung Ostdeutschlands – sie ist ein Flüchtling aus Ostberlin – und zur Verkörperung der jüdischen Minorität durch die rassistische Markierung ihres Körpers. Sie wird mit „breiten Backenknochen“, „wulstigen Lippen“ und „verhältnismäßig großen Ohren“ (S. 41) dargestellt, die auf stereotype antisemitische Zuschreibungen zurückgehen. Mittels Strategien der Allegorisierung werden die Machtverhältnisse zwischen Westdeutschland als Männlichkeit (Arbogast) und Ostdeutschland als Weiblichkeit (Marie, Katja) sowie zwischen der deutschen Nation als Männlichkeit (Arbogast) und der jüdischen Minorität als Weiblichkeit (Marie) inszeniert, so dass die Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zur kriminellen Biografie der Figur Arbogast wird. Durch den Lustmord wird der Teilungsprozess zwischen West- und Ostdeutschland (West- und Ostberlin) als Eliminierung des Anderen und als Körpervorgang versinnbildlicht. Mit dem Tod Maries stirbt Ostdeutschland (Ostberlin), wird aber zugleich medial als Fetisch konstruiert und konserviert. Durch die Ost-WestTrennung gerät Westdeutschland in eine Krise, bei der die geltenden kulturellen Konventionen, Riten und nationalen Ideen suspendiert sind und das Neue noch nicht entstanden ist. Arbogast im Zuchthaus veranschaulicht Westdeutschland in der Nachkriegssituation, das verurteilt und bestraft von der Außenwelt isoliert bleibt und gleichzeitig den Mächten ausgeliefert ist. Die Fragmentarisierung von Arbogasts Identität versinnbildlicht die Teilung Deutschlands, die Haft im Gefängnis die Besetzung Deutschlands und seine Kontrolle durch die Alliierten. Die Teilung Deutschlands wird zu einem tödlichen Prozess für Ostdeutschland und zu einem krisenhaften Zustand Westdeutschlands, entspricht aber nicht der Geschichte. Mit dem Lustmord im Zentrum des Romans verdeutlicht Hettche die Unerzählbarkeit der Geschichte, die er in seinem früheren Roman Nox zur Zirkulation von Mythen erklärt. Der Lustmord macht in Der Fall Arbogast die Entstehung der innerdeutschen Grenze unintelligibel, deren Ziehung weder erfassbar noch erklärbar oder repräsentierbar ist. Mit dem Auftreten von Katja Lavans wird eine neue geschichtliche Epoche geschildert, in der der Prozess der Wiederkehr Deutschlands in die Weltpolitik mit der Liberalisierungswelle in der Welt zusammenhängt. Ostdeutschland wird durch die Pathologin verkörpert, die den Tod als Bestandteil ihrer Identität angenommen hat. Genauso wie Katja Lavans einen Mangel an Identität aufweist, da es kaum Beschreibungen ihres Aussehens oder ihrer Persönlichkeit gibt, stellt sich auch Ostdeutschland durch einen Mangel dar. Da die Vereinigung im Geschlechtsverkehr von Mann und Frau scheitert, bleiben die Grenzen zwischen den zwei Teilen des Landes beste-

62 Vgl. Uerlings, Herbert: „Ich bin von niedriger Rasse“: (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur, Köln; Weimar; Wien 2006.

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hen. Der Tod, den Marie verkörpert, liegt als Grenze zwischen beiden Staaten. Durch die Überlagerung von Geschlechterrepräsentationen und kolonialen und politischen Diskursen lässt sich auch die Geschichte der Teilung nicht eindeutig in Form eines Täter-Opfer-Schemas beschreiben, stattdessen produziert Macht das Begehren, an dem sowohl Täter als auch Opfer teilnehmen. Außerdem wird deutlich gemacht, dass ohne Ostdeutschland auch Westdeutschland nicht denkbar wäre, da erst Katja Arbogast freispricht, indem sie alte, autoritäre Diskurse verwirft. Hettche schreibt mithin die Geschichte der Ost-West-Teilung Deutschlands als eine unmögliche, ja lustmörderische Geschlechterbeziehung um. Während sich aber die Täter-Opfer-Differenzen als politische Kategorien erweisen, wird die Ost-West-Teilung durch den Lustmord entpolitisiert oder sogar verdrängt. So wird das Politische letztendlich auch zum Triebhaften, dessen ästhetische Darstellung oder juristische Erfassung, so Hettche, die ‚Wahrheit‘ verfehlt.

F AZIT Der Lustmord im Roman Der Fall Arbogast erscheint gleich mehrfach als Phantasma, da der Roman die Mechanismen des Lustmorddiskurses als ästhetische Entscheidungen und juristische Strategien behandelt. Der Roman nutzt die Paradoxien des Lustmordes und produziert in seiner gesamten Struktur Ambivalenzen. Er baut auf dem Gleiten der Diskurse auf, die die Körper der Individuen besetzen und immer wieder neue Effekte produzieren, die ‚Wahrheit‘ relativieren und Machtverhältnisse umstoßen. Dabei spielt der Roman mit bekannten literarischen Mythen, Motiven und Topoi, deren Überlagerung und Verbuchstäblichung die Darstellungsstrategien einerseits sichtbar machen, andererseits durch Paradoxien dekonstruieren. Durch die Auseinandersetzung mit juristischen, historischen und Körperdiskursen generell sowie mit dem Lustmorddiskurs insbesondere, die es ermöglicht, die diskursiven Strategien nachzuvollziehen, wird der Kriminalroman zu einem Metakriminalroman, der seine eigenen ästhetischen Kategorien reflektiert. Thematisiert wird ganz im Sinne Foucaults die diskursive Herstellung von ‚Wahrheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Verbrechen‘ und ‚Normalität‘, die vor Gericht verhandelt und etabliert werden. Der Lustmord wird dafür genutzt, die Suche nach der ‚Wahrheit‘ des Begehrens im Körper zu lokalisieren. Der Lustmord erscheint dabei als Produkt der patriarchalischen Geschlechterordnung und stellt die Geschlechternormen wieder her, indem Täter und Opfer der bestehenden Ordnung gemäß ‚normalisiert‘ werden. Der Lustmord wird also gleichzeitig zum Instrument der Sinnentstellung und -herstellung, die die dynamische Bewegung und die Mutationen aller Sinnkonstruktionen fördern. Verglichen mit den anderen analysierten Werken unterscheidet sich der Lustmord bei Hettche durch das Fehlen jeglicher Versuche, ihn traditionell

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zu erklären. Der Lustmorddiskurs erfährt durch den Körperdiskurs Modifikationen, der den Lesenden die Opferperspektive eröffnet, die jedoch alles ‚Natürliche‘ als Theatralisches und als Maskerade aufdeckt. Der Lustmorddiskurs wird einerseits erweitert, indem das Opfer zum Sprechen kommt, andererseits wird der Lustmord mit einem weiteren Phantasma ausgestattet, ähnlich wie in Barfuß von Michael Kleeberg – mit dem theatralischen Begehren des Opfers, ekstatisch zu sterben. Der Unterschied liegt bei Hettche in der Dekonstruktion der heterosexuellen Geschlechtermatrix (und nicht in der Transgression der Geschlechterordnung wie bei Kleeberg), die zwar weiter beibehalten wird, jedoch mit der Mittäterschaft der weiblichen Opfer, die an der repressiven Produktion der Machtdiskurse teilnehmen und ihre Rolle als Opfer bestätigen. Wenn man Der Fall Arbogast mit Jelineks Roman Gier vergleicht, der ebenfalls die Mittäterschaft der Frauen problematisiert, fehlt Hettches Roman jedoch das kritische Potenzial. Im Fokus seines Romans stehen die diskursiven Prozesse und die Möglichkeit ihrer ästhetischen Umsetzung, die den misogynen Topos, wie beispielsweise die Frau als Opfer, fortschreiben. Der Autor lässt die Frauen um der Kunst willen sterben und belebt sie wieder, womit die Literatur zum Feld männlicher Schöpfungsfantasien wird, die über Leben und Tod herrschen – genau das, was Jelinek in ihrem Werk radikal angreift. Hettches Roman ist also durchaus affirmativ, selbst wenn er (auch eigene) ästhetische Kunstprozesse reflektiert. Hettche verknüpft in seinem Roman dennoch den Lustmord mit Kolonialisierungsgeschichten. Dadurch wird der Lustmord mit weiteren Paradoxien versehen. Einerseits wird der Körper zum Echoraum der Diskurse, die als Erinnerungsspuren weiterleben und als lustmörderisches Begehren präsent bleiben. So verbindet der Roman den Körper und sein lustmörderisches Begehren mit politischer Macht, die den Lustmord legitimiert oder verbietet. Andererseits wird das Politische durch den Lustmord aus der Handlung verdrängt. Die Ost-West-Intrige wird inszeniert, ohne reflektiert oder genauer dargestellt zu werden. Darüber hinaus beschreibt der Roman die Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg als Körpererfahrung. Durch die Allegorisierung der Geschlechter versinnbildlicht der Lustmord die Teilung Deutschlands als eine unsignifizierbare Erfahrung.

Resümee

Kulturhistorische Entwicklung

Wie die eingehende Analyse des Lustmorddiskurses aufzeigt, unterliegt dieser Diskurs im Laufe des 20. Jahrhunderts zahlreichen Paradigmenwechseln, die auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu beobachten sind. Einhergehend mit den kulturellen Veränderungen, der Konjunktur verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und der Popularität des Lustmordes in Kunst und Literatur entwickeln sich kriminalanthropologische und psychologisch-psychiatrische Paradigmen, die von den ästhetischen Repräsentationen übernommen und virtuos fort- und umgeschrieben werden. Der Lustmorddiskurs entsteht um 1900 in der Epoche der Kriminalanthropologie, die den Lustmord zum Produkt der männlichen ‚ungezügelten‘, ‚natürlichen‘ Urtriebe erklärt, weshalb der Lustmörder in der Kriminologie auf atavistische Kennzeichen und Degradationsmerkmale hin überprüft wird. Literatur und Kunst der deutschen Avantgarde funktionalisieren die Figur des Lustmörders, dem eine sprengende ‚Urkraft‘ zugeschrieben wird, für den Ausdruck der Rebellion gegen autoritäre Familienstrukturen, Bürgertum und Wilhelminismus. Der Lustmord wird dabei als ein explizit männliches Verbrechen diskursiviert.1 Ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts findet im Lustmorddiskurs ein erster Paradigmenwechsel statt: Durch den Eingang psychologischer und psychoanalytischer Konzepte in den Diskurs wird der Lustmörder vom ‚Urmann‘ der deutschen Avantgarde zum Psychopathen. Diese psychoanalytische Wende effeminiert den Täter: Die Psychoanalyse versieht den Lustmörder mit einer ödipalen Konstellation, einem Schlüsselerlebnis oder einem Kindheitstrauma und erklärt ihn zu einem ‚unfertigen‘ Mann, der die Identifikation mit der Vaterfigur verweigert und durch eine von inzestuösen und destruktiven Trieben geprägte Beziehung zur Mutter charakterisiert ist. 1

Vgl. H. Siebenpfeiffer: „Böse Lust“, S. 150-185. Siebenpfeiffer macht am Beispiel der Gewaltdiskurse der Weimarer Republik deutlich, dass die Verbrechen geschlechtlich semantisiert werden. So werden Giftmord und Kindesmord paradigmatisch als weibliche Verbrechen – im Gegensatz zum männlichen Lustmord – definiert.

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Diese psychoanalytische Erklärung, die sich später zur Entwicklungspsychologie des Täters ausweitet, stellt einen progressiven Wandel im Lustmorddiskurs dar, da nun anstelle des atavistischen ‚Monsters‘ der Jahrhundertwende die Sozialisation und das familiäre Umfeld problematisiert werden. Diese Konzepte privatisieren jedoch die ‚Pathologie‘ des Täters und grenzen das Phänomen Lustmord als eine ‚Krankheit‘ beziehungsweise eine ‚private‘ Angelegenheit aus. Die psychoanalytischen Erklärungsmuster werden zum Bestandteil des Lustmordnarrativs in den ästhetischen Repräsentationen, wobei sie den Rahmen des Privaten sprengen, weil Literatur, Film oder Kunst mit dem Lustmord selbstreflexiv ihre mediumsspezifischen Bedingungen für die Kunstproduktion thematisieren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt in den kriminalistischen2 und psychiatrischen3 Debatten die Kritik am Begriff Lustmord bis hin zu seiner völligen Diskreditierung zu. Bei der Untersuchung der kriminologischen Definitionen des Lustmordes zeigt sich, dass das Phänomen nur sehr schwer eindeutig und widerspruchsfrei zu greifen ist. Genau deswegen wird der Lustmord zu einem populären ästhetischen Sujet und hat auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Konjunktur. Der Lustmord als ein spekulativer Begriff wird für kulturelle Repräsentationen besonders attraktiv, da er als narrativer Antrieb wirkt und in dieser Funktion als Projektionsfläche für andere Themen und Theorien dient. Das Lustmordsujet nähert sich in dieser Form literarischen Weiblichkeitskonstruktionen an, die als Screen beziehungsweise Container die Funktion der Abspaltung von Ängsten und verbotenen Wünschen für das männliche Subjekt erfüllen. So erlaubt das Thema Lustmord die Ängste und das verbotene Begehren der Kultur zu erkennen, die mit dem Lustmord pathologisiert und ausgegrenzt werden. Der Lustmord als ästhetisches Sujet kann wegen der definitorischen Schwierigkeiten als ein Konglomerat aller der narrativen Strategien erfasst werden, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Wechselwirkung zwischen kriminologischen, psychiatrischen und literarischen Texten und filmischer Ästhetik entwickeln: Der Mord muss einen Bezug zum sexuellen Akt haben; der Täter ist immer männlich und das Opfer in der Regel weiblich; die Taterklärung wird aus der Biografie des Lustmörders hergeleitet; die Verweigerung des Ödipuskomplexes und das inzestuös-destruktive Begehren der Mutter werden entweder durch ein Kindheitstrauma oder ein Schlüsselerlebnis bedingt; die Einordnung des Mörders erfolgt anhand von prototypischen Lustmördern wie Jack the Ripper, Fritz Haarmann oder Peter Kürten; es kommt ein Vokabular zum Einsatz, das entweder auf die ‚natürliche‘ und ‚triebhafte‘ Veranlagung des Mörders (kriminalanthropologisches Erbe) oder den psychopathologischen Charakter (psychoanalytischer Diskurs und 2 3

Vgl. U. Füllgrabe: Sadistische Mörder, in: H. Dinges/U. Füllgrabe, Gewalttätige Sexualtäter, S. 125-156. Vgl. F. Pfäfflin: Lust am Lustmord, S. 549-551.

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Entwicklungspsychologie) zurückführt. Der im Kontrast stehende Detektiv oder die fehlende Vaterfigur verkörpern die Gesetzesinstanz, deren Grenzen der Lustmörder überschreitet. Die Ätiologie der lustmörderischen Triebe wurzelt in der Abwesenheit des Vaters/des Gesetzes. Zum grundlegenden narrativen Gerüst, das in der Vielfalt seiner Strategien den Lustmord umzusetzen vermag, hat sich eine Genre-Form herausgebildet, die sich aus Bestandteilen der Entwicklungs- und Kriminalromane zusammensetzt. Die Elemente des Entwicklungsromans, die die Erklärung der Tat aus der Biografie des Mörders herleiten, werden als Teil des Kriminalgenres integriert, so dass die Kriminalermittlung bis in die Tiefe der Psyche des Mörders reicht. Daraus ergibt sich folgendes Erzählschema: Lustmord – Kriminalermittlung – Rekonstruktion der psychischen Entwicklung des Täters und dadurch Erklärung des Lustmordes – Überführung des Täters. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur erweisen dieses narrative Schema und die dargestellten diskursiven Traditionen des Lustmordes eine erstaunliche Aktualität. Das Paradigma des ‚Natürlichen‘ existiert weiterhin parallel zur kulturkritischen Reflexion, die das Thema Lustmord mit gesellschaftlicher Kritik verbindet, was auch in der Literatur der deutschen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall war. Das Parfum von Patrick Süskind und Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder von Horst Bosetzky weisen die Naturalisierungsstrategien der als gewaltsam dargestellten Kunstproduktion und der NS-Diktatur auf. Andere analysierte Texte gehen der kulturellen Genese des lustmörderischen Begehrens nach und versuchen zugleich, selbstreflexiv die ästhetische Genese der lustmörderischen künstlerischen Fantasien zu erfassen. Diese Perspektive stellt den Lustmord als ein kulturelles Produkt dar, das durch die Verflechtung verschiedener Diskurse zustande kommt. Auch das Motiv des Geschlechtsrausches, der den ‚echten‘ Lustmörder in der Kriminologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den künstlerischen Lustmörder der deutschen Avantgarde charakterisiert, ist nicht mehr zu finden. Die Lustmorde in der Gegenwartsliteratur sind zumeist gut ausgereifte, minutiös ausgearbeitete, selbstreflexive ‚Kunstwerke‘, ökonomische oder soziale ‚Projekte‘, deren Entstehung und Vorbereitung auf das gesellschaftliche System oder das historische Umfeld zurückgeführt werden können. Abendländische Kunstproduktion und ihre ästhetischen Repräsentationsstrategien, patriarchalische Geschlechterordnung und männliches Subjekt, Staatsstrukturen, kapitalistische Ökonomie und die Geschichte Deutschlands sind zentrale Themen, die aktuell mit dem Lustmord in Verbindung gebracht werden. Im Rahmen der Kulturkritik, die in den literarischen Gegenwartswerken zum Tragen kommt, können die Versuche beschrieben werden, den psychoanalytischen Diskurs aufzuheben. Dieses Bestreben nach Befreiung von den Mechanismen einer ödipal gesteuerten Identität (des Täters) geht mit einer Modifizierung der Konstruktion des Lustmörders einher, die den Subjektivierungsprozess ganz im Sinne Judith Butlers als Ort der Disziplinar- und

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Reglementierungsmechanismen sichtbar macht.4 Der Freud’sche Ödipuskomplex sowie die Lacan’sche Ökonomie des Phallus werden in den analysierten Werken inszeniert um zu zeigen, dass weder das Vatergesetz, dem die Produktion defizitärer Männlichkeit vorgeworfen wird, als Grundlage der männlichen Identität taugt noch die Macht des Phallus, die als Phantasma entlarvt wird, dem Mann zugänglich erscheint. Diese Absage wird auch im Narrativen realisiert: Zum einen wird die Gesetzesinstanz selbst zunehmend zum Lustmörder – die analysierten Werke unterscheiden kaum zwischen Polizisten, Vätern und Tätern. Die intertextuelle Dichte aller analysierten Werke sprengt zum anderen das Psychologische, das zu einem Konglomerat aus Zitaten und Referenzen avanciert. Besondere Bedeutung kommt dieser Diskursverschiebung zu, wenn man Maria Tatar5 folgend den Lustmord in der deutschen Avantgarde als eine Eliminierung der Mutter und der Maternität dem Vatermord als Sprengung der bürgerlichen Ordnung gegenüberstellt. Der Lustmord als ästhetisches Sujet der Gegenwartsliteratur erteilt dem Patriarchat, der väterlichen Autorität und dem symbolischen Vatergesetz eine Absage. Er wird also zum Signifikanten einer Männlichkeitskrise, die schon am Anfang des 20. Jahrhunderts,6 in der Zeit der Entstehung des Lustmorddiskurses, zur Debatte steht. Während die Krisendiskurse um die Wende zum 20. Jahrhundert eine Erneuerung der Gesellschaft erhoffen, indem durch den Lustmord ‚natürliche‘ männliche Triebe freigesetzt werden, decken die literarischen Werke der Gegenwart pessimistisch die Unmöglichkeit einer solchen Befreiung auf.

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Eine Ausgangsthese dieser Dissertation lautete, dass bestimmte Genrekonventionen die Form des Lustmordes festlegen. Mit der Analyse der GenreElemente kann der Lustmord zwar gut beschrieben werden, jedoch die Beziehungen zwischen dem Lustmord-Narrativ und den bestimmten Genres können nur als bedingt konstitutiv angesehen werden, weil die Autorinnen und Autoren Gattungskonventionen leicht überschreiten und umschreiben. Das Lustmordnarrativ kann daher als ein übergreifendes diskursives Produkt verstanden werden, das sich zwar einiger Genres bedient, diese aber auch verwerfen kann, wie Elfriede Jelinek in Gier und Thomas Hettche in Der Fall Arbogast zeigen. Trotzdem kann die Wechselwirkung von Lustmord-Narrativ und Thriller festgestellt werden. Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmende Darstellung von Lustmorden in Film und Literatur ist nicht zuletzt der Entstehung des Thrillers zu verdanken, für das der Lustmord mit seiner 4 5 6

J. Butler: Psyche der Macht. M. Tatar: Lustmord, S. 10. Vgl. B. Dahlke: Jünglinge der Moderne.

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Paradoxie, seinem Geheimnis, seiner Erotik und Grausamkeit ein äußerst fruchtbares Sujet darstellt. Die Entstehung von Suspense durch die Opferperspektive, das fehlende Happy End und ein sexualisiertes, gewaltsames Geheimnis im Zentrum der Handlung werden zu einem idealen Medium für den Lustmorddiskurs,7 so dass die gesteigerte Popularität des Lustmordsujets nicht zuletzt durch die Entwicklung dieses Genres zu erklären ist, das den Lustmord oder dem Lustmord ähnliche Konstellationen immer wieder aufs Neue verhandelt. Die besondere Beliebtheit des Thrillers in der Filmindustrie beeinflusst den literarischen Thriller und die Darstellung des Lustmordes in der Literatur, die die filmische Erzählweise übernimmt: Es werden mehr und mehr Details des Lustmordes in der Literatur visualisiert, die den literarischen Thriller mit Horror- und Splatter-Elementen ergänzen. Bei dieser Konstellation fokussiert das Erzählen zunehmend den Körper des Opfers. Darüber hinaus entstehen Serienkiller-Romane, die Lustmord und Ermittlung parallelisieren und damit die filmische Parallelmontage literarisch umsetzen sowie die Handlung dynamisieren – eine Form des Kriminalromans, die es um die Wende des 20. Jahrhunderts noch nicht gab. Der Lustmörder wird vom ‚degradierten Epileptiker‘ oder ‚infantilen Bürger‘, als der er am Anfang des 20. Jahrhunderts dargestellt wird, zu einem hoch entwickelten, intellektuellen Täter, der der Ermittlung immer einen Schritt voraus ist. Dem Lustmord kommt dadurch eine Distinktionsfunktion zu: Er bringt einen manchmal immer noch ‚tierhaften‘ Instinkt des Täters zum Ausdruck (Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder von Horst Bosetzky), jedoch werden in der Regel der Reichtum des Täters (Finstere Seelen von Horst Eckert), seine Intellektualität (Die Hirnkönigin von Thea Dorn), seine künstlerische Gabe (Das Parfum von Patrick Süskind) oder seine Machtposition (Gier von Elfriede Jelinek) durch den Lustmord bestimmt. Ein Novum ist die Darstellung des Lustmordes in einer Novelle (Barfuß von Michael Kleeberg und Schmerznovelle von Helmut Krausser), da die Novelle genregemäß die Erklärung der Motivation des Mörders durch die Positionierung des Lustmordes ändert. Sie stellt den Lustmord als unerwartete, unerhörte Begebenheit an das Ende der Handlung. Die hinführende Erklärung arbeitet mit dem Aussparen oder der Relativierung der Information, die keine vollständige Begründung vorab liefert, und unterscheidet sich von einer post factum rekonstruierten Erklärung durch die Modifikation des Lustmordnarrativs, was einen grundlegender Paradigmenwechsel bedeutet – die Privilegierung der Opferperspektive, die keine Tradition im ‚klassischen‘ Lustmorddiskurs hat, und das Verschwinden des Täters. Der Lustmord um 1900 ist um den Täter herum aufgebaut, die (weiblichen) Opfer fungieren als Zeichen seines lustmörderischen Begehrens. Obwohl die Opferperspektive als eine übergreifende Tendenz festzustellen ist, behält das Kriminalgenre jedoch den Täter bei, während die Novelle den Lustmord 7

Vgl. G. Seeßlen: Thriller.

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zum Selbstmord modifiziert. Beide analysierten Novellen eliminieren den Täter, lassen ihn als eine Leerstelle erscheinen. Für den Kriminalroman bedeutet die Opferperspektive eine Öffnung des starren Schemas. Der Roman Der Fall Arbogast von Thomas Hettche invertiert die Strukturen des Kriminalromans, indem der Lustmord in einer sich zirkulär entwickelnden Handlung reinszenierbar wird und das Geheimnis des Lustmordes nicht am Anfang, sondern am Ende des Textes etabliert wird. Der Roman Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder von Horst Bosetzky erschafft durch die Opferperspektive einen Raum für historisch-politische Reflexionen über den Nationalsozialismus. Das Opferparadigma im Lustmord kann dabei nicht nur auf formale Wechselwirkungen von Genre und dem Thema Lustmord, sondern auch auf aktuelle kulturelle Tendenzen zurückgeführt werden. Körperkult, Visualisierung des Körpers durch die Massenmedien und masochistische Tendenzen in der gegenwärtigen Kultur könnten das Interesse am Opfer des Lustmordes erklären. Besondere Konjunktur hat die Opferperspektive in der sogenannten Körperliteratur (Hettche, Kleeberg), die auf der Suche nach einer neuen Ästhetik und neuen Ausdrucksformen ins Innere des Körpers eindringt. Die Opferperspektive macht den Lustmord, mit Slavoj Žižek8 gesprochen, zum Theatralischen, da das Opfer die Spielregeln bestimmt und den Täter zum Instrument seines Begehrens umfunktionalisiert.

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Der Lustmord ist ein ästhetisches Projekt – so eine Ausgangsthese dieser Dissertation – und wird entsprechend zur Erschaffung eines Kunstwerkes instrumentalisiert. Die im Kapitel Lustmord und Kunst vereinten Werke thematisieren selbstreflexiv Schöpfungsprozesse durch den Lustmord, indem sie poststrukturalistischen Ideen gemäß den Symbolisierungsprozess, der der Kunst- und Kulturproduktion zugrunde liegt, als ‚Lustmord‘ an der Materie darstellen. Untrennbar mit der Kunst- und Kulturproduktion verbunden sind die Schöpfungsfantasien einer neuen Geschlechtsidentität, die dem Thema Lustmord ein utopisches Potenzial zuweisen und den Lustmord als Medium der Herstellung und Auflösung von Geschlechtsidentität funktionalisieren. Mittels des Themas Lustmord entwirft eine Reihe von Werken neue Geschlechtsidentitäten, Geschlechtstranszendenz oder Androgynie, die die Starrheit der bestehenden heterosexuellen Geschlechtermatrix sowie deren auf Gewalt beruhende Strukturen sichtbar machen. Insbesondere das inhärente Gewaltmoment dieser Entgrenzungsfantasien lässt deutlich werden, welch massiver Strategien es bedarf, um die binäre Matrix der Geschlechterordnung aufzubrechen.

8

S. Žižek: Metastasen des Genießens.

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Die Gewalt der Kunstproduktion mit der Gewalt der binären Geschlechtermatrix verbindet die Novelle Barfuß von Michael Kleeberg, die den Lustmord zur Reflexion über den Schöpfungsprozess und die Entgrenzungsfantasie macht. Der Erzähler unterwirft sich masochistisch der Sprache bis hin zu seiner völligen Auflösung im eigenen Werk. In Analogie zu einigen Texten Kafkas stirbt der Schriftsteller bei Kleeberg in seinem Kunstwerk, indem er seinen eigenen Lustmord dirigiert, und setzt so wortwörtlich den Tod des Autors im Sinne von Roland Barthes um, wobei der Täter – die Sprache – zum Instrument des Lustmordes wird. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass in allen analysierten Werken, auch in den Kapiteln Lustmord und Geschichtsaufarbeitung und Lustmord und Ökonomie zugeordneten Texten, durch den Lustmord die männliche Geschlechtsidentität (mit Ausnahme von Die Hirnkönigin von Thea Dorn) verhandelt wird. Der Lustmord bleibt in der Regel weiterhin eine männliche Domäne: Nicht nur die binäre Geschlechtermatrix hat einen gewalttätigen, repressiven Charakter, auch insbesondere der westliche Subjektdiskurs wird zum Zentrum der gewalttätigen Auseinandersetzungen. Um bürgerliche Männlichkeit zu suspendieren, konstruieren Autoren wie Süskind, Kleeberg und Hettche Männlichkeit als Maskerade, wohingegen Jelinek, Krausser, Bosetzky und Eckert Männlichkeit als Maskerade entlarven. Sie zeigen den performativen Charakter von Männlichkeit auf und zerstören die Essentialität der Geschlechtsidentität sowie die Ganzheit und die Einheit des männlichen Subjektes. Die Maskerade, die seit der Studie von Joan Riviere paradigmatisch zum Zuschreibungs- und Darstellungsrepertoire von Weiblichkeit gerechnet werden kann, wird für die Repräsentation des Männlichen verwendet, wie es sich auch in anderen gegenwärtigen kulturellen Repräsentationen beobachten lässt.9 Die Maskerade als Signifikant für Defizienz wird dabei aber nicht einfach umgekehrt, stattdessen wird Männlichkeit in ihrer prätendierten Fülle und Ganzheit, die oft mit der Einnahme der Machtposition einhergeht, als Leere und Maske erfahren. Der Lustmord wird daher zum Signifikanten des Mangels des männlichen Subjektes, gleichzeitig instrumentalisiert dieses den Lustmord als Vehikel oder Medium, um eben diesen Mangel zu bewältigen. Die bürgerliche Künstler- und Kunstauffassung, bei der der Künstler als Genie und die Kunst als ein autonomer Bereich dargestellt werden, deren Verknüpfung mit der Ökonomie geleugnet wird, werden durch die mit dem Lustmord verbundenen Künstlerthemen und Schöpfungsfantasien wiederbelebt. Die oft thematisierte Androgynität des Künstlers oder die Auflösung der binären Geschlechtermatrix um des Schöpfungsaktes oder der Geburt eines Kunstwerkes willen lässt eine idealistisch-bürgerliche, frauenfeindliche Kunstauffassung erkennen, die der bekannten Definition von Walter Benjamin entspricht: Der androgyne Künstler erschafft Kunst durch das Absterben des Weiblichen in ihm. Die Kunstproduktion sowie das ästhetische 9

Vgl. C. Benthien/I. Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade.

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Repräsentationssystem bleiben weiterhin von Misogynie beherrscht, die den Frauen den Platz einer Muse oder, mit Bovenschen10 gesprochen, die Funktion eines ‚Rohstoffs‘ für den männlichen Künstler zuweist und sie der Kunst opfert, um die Entstehung eines Kunstwerkes zu ermöglichen. Von den tradierten literarischen Repräsentationsstrategien bleibt also das unheilvolle Motiv der schönen Leiche weiterhin populär, das der Frau in der Literatur die eigene Identität abspricht und sie als Medium der männlichen Transzendenz, als Instrument und Material der männlichen Selbstkreation und -transformation und als Leerstelle im Subjektdiskurs verwendet. Die Rolle der Frau als Objekt des männlichen Künstlers und als Opfer des männlichen Lustmörders wird in den meisten literarischen Werken der männlichen Autoren nicht hinterfragt. Eine Ausnahme unter den männlichen Autoren bildet Horst Bosetzky mit seinem dokumentarischen Roman Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder. Aber auch er bewegt sich in der heterosexuellen Geschlechtermatrix und bedient sich des misogynen Bilderrepertoires des Weiblichen, selbst wenn es strategisch als Vergangenheitsbewältigung und Schuldentlastung angelegt wird. Symptomatisch ist, dass nur die Autorinnen Thea Dorn und Elfriede Jelinek die kulturelle Position der Frau und des Weiblichen im Repräsentationssystem kritisch hinterfragen. Thea Dorn unterzieht in ihrem Roman Die Hirnkönigin die patriarchalischen Schöpfungsmythen des Weiblichen einer eingehenden Revision und kommt zu der aussagekräftigen Schlussfolgerung, dass in der bestehenden Kultur die Frau entweder als Opfer oder als Lustmörderin auftreten kann. Der Roman dreht dabei die Misogynie in Männerfeindlichkeit um und schreibt die Gewaltfantasien, die er als frauenfeindlich kritisiert, gegen Männlichkeit fort. Elfriede Jelineks Unterhaltungsroman Gier zeigt mittels seiner massiven Kapitalismus- und Patriarchatskritik, dass die Geschlechterordnung die lustmörderische Konsumgier bestimmt, die Männer als Konsumenten und Frauen als Waren konstituiert. Pessimistisch stellt Jelinek fest, dass die bestehende Kultur auf allen Ebenen Lustmorde produziert und den Frauen nur den Platz des Opfers – der schönen Leiche – zuweist. Die Frauenfiguren besitzen im Roman Gier nicht einmal eine Objektposition, sondern werden ausgelöscht und als Leiche exponiert, wobei ihnen die Mittäterschaft zugeschrieben wird. Die Frauen bestätigen ihren Opferstatus, indem sie sich unhinterfragt mit den männlichen Mythen identifizieren und ihre kulturelle und ästhetische Exklusion aktiv vorantreiben. Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass der Lustmord, obwohl er an der binären Geschlechtermatrix Kritik übt, sie jedoch zugleich stabilisiert, indem er ein konformes heterosexuelles Begehren des Mannes als aktiver Täter und der Frau als passives Opfer reproduziert. Das dystopische Potenzial des Lustmordes legt die Kultur als repressiven Apparat frei, ob es um Kunstproduktion, Ökonomie, Biografien der Lustmörder oder die Geschichte Deutschlands geht. Ästhetisches Mittel ist 10 S. Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit.

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dabei die Allegorisierung der Geschlechter, die es ermöglicht, die gesellschaftlichen Phänomene mit der Geschlechterordnung zu verhandeln. Beispielsweise stellen die Frauenfiguren entsprechend der traditionellen Geschlechterrhetorik das Volk dar, während die Männerfiguren als Repräsentanten der institutionellen Macht auftreten. Die Auseinandersetzung mit dem Gesetz gehört dabei zur Tradition des Lustmorddiskurses; die Verknüpfung von kapitalistischer Ökonomie mit dem lustmörderischen Begehren erscheint als ein neues Paradigma. Das symbolische Vatergesetz wird zum Kapital, das nur durch den Lustmord suspendiert werden kann, wie in der Novelle Barfuß von Michael Kleeberg, der Schmerznovelle von Helmut Krausser oder dem Roman Das Parfum von Patrick Süskind. Alternativ erscheint der Lustmord als Produkt des Kapitalismus, das das männliche Begehren wie in den Romanen Gier von Elfriede Jelinek oder Finstere Seelen von Horst Eckert konstituiert. Die beiden letzteren Werke zeigen eine Tendenz in der westlichen Kultur auf, sexuelle Befriedigung mit destruktiver Konsumtion zu verknüpfen. Besonders deutlich macht Elfriede Jelinek, dass die Konsumgier, die nicht nur in allen Machtinstitutionen produziert wird, sondern die Machtstrukturen selbst beherrscht, zu einer konstitutiven Grundlage des männlichen, destruktiven Begehrens geworden ist. Der Lustmord – so lautet das Urteil der österreichischen Autorin – ist ein konsequentes Produkt der kulturellen Entwicklung im westlichen Kapitalismus. Die Verbindung des Lustmordes mit den staatlichen und ökonomischen Strukturen macht den Lustmord zu einem routinierten und langweiligen Ereignis, das durch die ständige Wiederholung eine Übersättigung erfährt und den Lesern und Leserinnen jeglichen Genuss an der Gewalt nimmt. So gehört der Lustmord im Roman Gier zur ‚Normalität‘ der bürgerlichen Gesellschaft, an der Jelinek durch ihr ästhetisches Verfahren – die Zerstückelung und die fragmentarische Darstellung der Figuren – den Lesenden gewissermaßen teilzuhaben zwingt. Durch diese Strategien dekonstruiert Jelinek eine Reihe von Kategorien: Der Lustmord als ästhetisches Sujet, die Identifikation mit der Täterfigur, aber auch die männlich konnotierte Position des Autors (des Schöpfers) werden unterwandert. In Finstere Seelen von Horst Eckert wird der Lustmord zum Signifikanten des Reichtums und des korrupten Staatssystems. Daher wird der Lustmord selbstreflexiv als eine Leerstelle dargestellt, die jeder dem eigenen Korruptionsstadium entsprechend einnehmen oder ablehnen kann. Nichtsdestotrotz schreibt Eckerts Roman das misogyne Paradigma fort, das Jelinek dekonstruiert. Der Kapitalismus, der den männlichen Körper aufzulösen droht, wird weiblich codiert. Dem weiblich konnotierten Lustmord als Symbol für Korruption werden in der Noir-Tradition die ‚männlichen‘ Sphären der Gewalt, der ‚Gerechtigkeit‘ und der Selbstjustiz gegenübergestellt, die den Lustmord als konstitutiven Bestandteil jeglicher männlichen Identität integrieren. Die Werke im Kapitel Lustmord und Geschichtsaufarbeitung weiten die ‚authentischen‘ Fälle zur Reflexion der Gesellschaft, der Geschichte und des

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Gesetzes aus. Sie lassen die Verknüpfungen von Macht, Sexualität und Körper, die laut Michel Foucault zu den zentralen Machtmechanismen der (Selbst-)Regulierung der modernen westlichen Gesellschaft gehören, als gewaltsam erfahren. Der Lustmord deckt diese Machtstrukturen auf und erscheint in diesen Werken als Ausdruck einer radikalen Kritik an Legislative und Exekutive der demokratischen Gesellschaft. Ebenfalls im Namen der Kritik wird der Lustmord in Thomas Hettches Roman Der Fall Arbogast zum Medium der juristischen Verhandlung von ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘. Durch den Lustmord als schwer definierbares Phänomen setzt sich der Roman mit den staatlichen Strafmechanismen und den Diskursivierungsstrategien des Verbrechens im Sinne Foucaults auseinander, so dass die Legislative und Exekutive als ein Konglomerat der herrschenden Diskurse erkannt werden können. Der Lustmord entlarvt sich dabei als ein Mythos des Justizapparates, der Lücken im Gesetz verschleiert, sie durch das ‚unerklärbare‘ Phänomen ausfüllt und so zur Stabilisierung der bestehenden Geschlechterordnung beiträgt. Andere Themen, die mit dem und durch den Lustmord zum Ausdruck gebracht werden, sind die Teilung Deutschlands und die NS-Vergangenheit. Der Fall Arbogast macht durch den Lustmord die Ost-West-Teilung zur Körpererfahrung. Der Roman Wie ein Tier – Der S-Bahn-Mörder von Horst Bosetzky funktionalisiert die traditionelle Geschlechterrhetorik als Mittel der Vergangenheitsaufarbeitung. Weiblichkeit wird zur Verkörperung des deutschen Volkes und ermöglicht auf diese Weise, das Volk als Opfer des Lustmörders zum Opfer der NS-Partei zu ‚verwandeln‘. Das NS-Regime erscheint dabei als triebhafte, ‚animalische‘ Männlichkeit. Der Lustmord wird zwar zur Bewältigung der NS-Vergangenheit eingesetzt, entpuppt sich jedoch als eine entstellte Erinnerung, die die Besetzung Deutschlands durch die Alliierten und die Massenvergewaltigungen der Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ausdruck bringt. Beide Themen – die Niederlage im Krieg und die Teilung Deutschlands nach dem Krieg – können durch die Verknüpfung mit dem Lustmord als ‚schwierige‘ Sujets erkannt werden, die mit dem Lustmord nicht nur kritisiert werden, sondern eine besondere Erfahrung der Traumatisierung verbinden.

F UNKTION

DES

L USTMORDES

IM LITERARISCHEN

T EXT

Der Lustmord kann auf vielschichtige Weise kulturelle Grundstrukturen freilegen, insbesondere in Hinsicht auf die Geschlechterordnung in ihrer Verknüpfung mit staatlicher Macht, Exekutive und Legislative sowie in Hinsicht auf Körperkategorien und den Umgang mit dem Fremden, Anderen. Allerdings wird an der Rezeption der literarischen Werke mit dem Thema Lustmord deutlich, dass der Lustmord als ästhetisches Sujet sein kritisches Potenzial oft untergräbt: Durch den Lustmord bekommen die literarischen Werke einen sensationellen und skandalösen Inhalt, durch den sie

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als ‚trivial‘ abgewertet werden. Außerdem bleibt der Lustmord in der Kultur weiterhin ein tabuisiertes Thema. So laufen die angesprochenen kritischen Themen und literarischen Werke Gefahr, ebenfalls tabuisiert zu werden, statt eine breite gesellschaftskritische Diskussion zu ermöglichen oder der wissenschaftlichen Reflexion unterzogen zu werden. Dafür spricht auch die zu fast allen Werken aus dem Textkorpus11 fehlende Forschungsliteratur. Letztendlich popularisieren die literarischen Werke mit dem Thema Lustmord Gewaltfantasien und -exzesse und ermöglichen damit, dass dieses mediale Phantasma des 20. Jahrhunderts aufrechterhalten wird.

11 Während sich Das Parfum von Patrick Süskind und Gier von Elfriede Jelinek eines regen Forschungsinteresses erfreuen, ist zu den anderen Werken aus dem Textkorpus kaum wissenschaftliche Forschungsliteratur vorhanden.

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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart Februar 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Astrid Henning Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR Oktober 2011, 318 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1860-0

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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Februar 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen Oktober 2011, 348 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4

Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6

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Lettre Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende

Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald

Dezember 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

August 2011, 314 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1

Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literaturund Kulturgeschichte der Kommunalka

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia«

Juni 2011, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0

Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Sabine Frost Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800 November 2011, ca. 330 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1884-6

Dezember 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit September 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5

Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda April 2011, 738 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 43,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2

Philipp Schönthaler Negative Poetik Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész August 2011, 348 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1721-4

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