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German Pages 342 Year 2015
Elena Stepanova Den Krieg beschreiben
2008-11-21 10-30-31 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 027b195162134272|(S.
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Elena Stepanova (Dr. phil.), Politologin und Historikerin, forscht am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Jena. Ihre Forschungsgebiete sind die literarische Aufarbeitung von Gewalterfahrung, deutsch-russische Kulturbeziehungen und die Kulturgeschichte der Sowjetunion.
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Elena Stepanova Den Krieg beschreiben. Der Vernichtungskrieg im Osten in deutscher und russischer Gegenwartsprosa
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Bei der Veröffentlichung handelt es sich um eine Dissertation, die am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin eingereicht und am 28.07.2008 erfolgreich verteidigt wurde.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Gerald Schreiber, 2008. Lektorat & Satz: Elena Stepanova Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1105-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT V ORWORT von
PETER JAHN 9
E INLEITUNG 13
U MGANG MIT DEM G ROßEN V ATERLÄNDISCHEN K RIEG IN DER RUSSISCHEN L ITERATUR Ein Duell mit der Lüge: Der Große Vaterländische Krieg in der russischen Nachkriegsprosa 33
Georgi Wladimow: „Der General und seine Armee“ 65
Viktor Astaf´ev: „Verdammt und Umgebracht“ 76
Michail Kononow: „Die nackte Pionierin“ 86
Daniil Granin: „Jenseits“ 96
Zusammenfassung 105
U MGANG MIT DEM „R USSLANDFELDZUG “ IN DER DEUTSCHEN L ITERATUR Im Zeichen des Kalten Krieges: Ostfront in der westund ostdeutschen Nachrkriegsprosa 107
Uwe Timm: „Am Beispiel meines Bruders“ 132
Tanja Dückers: „Himmelskörper“ 143
Ulla Hahn: „Unscharfe Bilder“ 153
Arno Surminski: „Vaterland ohne Väter“ 162
Zusammenfassung 169
V ERGLEI CHENDE A NALYSE DER K RIEGSDEUTUNG EN I N DEN UNTERSUCHTEN P ROSAWERKEN Die Rolle der Ideologie 173
Ideologische Beeinflussungen 175
Weltanschauung und Selbstmotivation 182
Ideologievermittler 196
Fazit 204
Die „Anderen“ im Krieg 206
Das Russlandbild in den Werken deutscher Autoren 207
„Die Anderen“ in den Werken russischer Autoren 220
Die Frage des Gewissens 237
Darstellung von Kriegsverbrechen 238
Ursachen für Gewissenskonflikte 246
Umgang mit Erinnerung 255
Empathie für die Opfer 265
Fazit 270
Lebens- und Kampfbedingungen 272
Situation in der Truppe 272
Situation der Frauen 280
Situation der Zivilbevölkerung 282
Fazit 283
Sinndeutungen des Kriegsgeschehens 285
Sinndeutungen russischer Autoren 286
Sinndeutungen deutscher Autoren 296
Fazit 299
S CHLUSSB ETRACHTUNG 301
A USWAHLBIBLIOGRAPHIE 311
Danksagung 337
VORWORT Das Ereignis liegt mehr als sechzig Jahre zurück, von den aktiv Beteiligten leben nur noch wenige Menschen, es könnte längst zu einem fernen düsteren Mythos geworden sein. Aber der Krieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion, lange vorbereitet und im Juni 1941 vom Zaun gebrochen mit dem Ziel, den sowjetischen Staat auszulöschen, seine – wirklichen oder phantasierten – Repräsentanten physisch zu vernichten, die Bevölkerung um „zig Millionen“ durch Hunger zu dezimieren und ein riesiges Kolonialreich zu schaffen, – und im Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation in der Hauptstadt des Deutschen Reiches beendet, dieser Krieg ist nach wie vor präsent in den Köpfen vieler Menschen in beiden Ländern (und mit eigenen Erzählungen und Bildern auch in den anderen Ländern Osteuropas). Mit 25 bis 30 Millionen Einwohnern der Sowjetunion und fünf bis sechs Millionen deutschen Soldaten und Zivilisten, die in diesem Krieg getötet wurden, ist es der weitaus verlustreichste Kriegsschauplatz des Zweiten Weltkriegs, dessen insgesamt 55 Millionen Toten ihn zum blutigsten Krieg in der Geschichte machen. Aber auf sowjetischer Seite waren weitaus mehr als die Hälfte der Opfer Zivilisten oder Kriegsgefangene, nur selten „Kollateralschäden“ der Kriegsoperationen, zum größten Teil Opfer von Mordaktionen durch Waffen oder durch Hunger. Die Erinnerung an diesen Krieg wird – muss – noch viele Jahrzehnte unsere Köpfe okkupieren. Längst haben sich in beiden Ländern je eigene Muster des Erinnerungsdiskurses etabliert, wobei sie in der Sowjetunion zum großen Teil von oben gesteuert wurden. Diese Diskurse, deren literarische Formungen die vorliegende Publikation in vielen Facetten zeigt, sind so weit voneinander entfernt, als handle es sich um Ereignisse auf verschiedenen Planeten. Natürlich, über die Militäroperationen, die Schlachten (Stalingrad!) können die virtuellen Strategen beider Seiten schnell ins Gespräch kommen. Auch die schrecklichen Leidensgeschichten der einzelnen Soldaten beider Seiten, die diesen Krieg überleben konnten, verbinden die Veteranen unausgesprochen, noch vor jeglicher verbalen oder gar begrifflichen Kommunikation. Und der Grundkonsens, dass Krieg an sich und dieser insbesondere ein schreckliches Übel sei, ist gewiss unstrittig.
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DEN KRIEG BESCHREIBEN
Die deutsche Erinnerung an diesen Krieg ist noch immer vor allem eine Erinnerung an die eigenen Leiden und Opfer, an die getöteten Soldaten, an die unter den harten Bedingungen der sowjetischen Gefangenschaft Gestorbenen, an die Vertriebenen und die Zivilisten, die Opfer von Racheexzessen wurden. Zwar sind seit dem Ende der 1970er Jahre in der historischen Forschung sehr langsam auch die großen Verbrechenskomplexe der deutschen Kriegführung und Besatzungsherrschaft thematisiert worden, die Ergebnisse sind auch ein Stück weit, etwa durch Ausstellungen, für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar gemacht worden. Aber dennoch steht der millionenfache gewaltsame Tod im belagerten Leningrad, in den deutschen Lagern für Kriegsgefangene, in den massenhaft vernichteten Dörfern nur am Rande der heutigen kollektiven Wahrnehmung von Krieg und NS-Herrschaft in Deutschland. Indem in den vergangenen Jahren auch immer stärker der Anspruch formuliert wurde, auch an die „eigenen“ Opfer des Krieges zu erinnern, da nun doch ausgiebig an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert worden sei, bleiben die als bolschewistische „slawische Untermenschen“ Getöteten weiterhin außen vor. An der russischen Kriegserinnerung nimmt die deutsche Öffentlichkeit vor allem die martialischen Rituale des 9. Mai, des Siegestages über den Faschismus wahr: mal als bedrohliche Machtdemonstration, mal als zu belächelnden Ordenskitsch. Diese Fokussierung auf den Sieg entspricht einem seit Jahrzehnten von der sowjetischen und russischen Obrigkeit gepflegten Bild der Siegernation. Auch in der Bevölkerung besteht ein starkes Bedürfnis der Selbstidentifizierung mit diesem Bild der Sieger über die deutschen Angreifer und die nationalsozialistische Herrschaft, ein Leuchtpunkt in der düsteren Schreckensgeschichte Russlands im 20. Jahrhundert, zumal nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Herrschafts- und Gesellschaftssystems. Die immer erneuerte Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg dient als Salbe auf allen von der Geschichte geschlagenen Wunden. Und die Minderheit in Russland, die zu Recht kritisiert, dass die Erinnerung an diesen Krieg das Stalinsche Zwangs- und Terrorsystem in der Regel ausblendet, schenkt wiederum dem Charakter des deutschen Vernichtungskrieges kaum Aufmerksamkeit. Bis heute will man sich nicht Opfer des deutschen Überfalls sehen. Zweifellos müssen beide Seiten für sich lernen, extreme Ambivalenzen in der Erinnerung an diesen Krieg auszuhalten: Die deutsche Seite, dass alles Leid der Väter und Großväter im Krieg letztlich sekundär, Folge des deutschen aggressiven Handelns war. Bevor der Krieg auf Deutschland zurückschlug, forderte der deutsche Angriff eine unvorstellbar große Zahl von Opfern auf der sowjetischen, der anderen Seite. Für diese Opfer ist in Deutschland kollektive Empathie erst noch zu entwi-
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VORWORT
ckeln. Auf russischer Seite bleibt die Spannung auszuhalten, dass einerseits die Vernichtung faschistischer Herrschaft weiterhin ein wesentliches und berechtigtes Moment historischer Legitimation ist, andererseits ist dieser Krieg nicht von den Verbrechen Stalins zu trennen, hat er dessen Herrschaft legitimiert und befestigt. Aber ebenso wichtig, – und das macht die besondere Bedeutung dieser Arbeit aus – ist der Blick auf die jeweils andere Seite: ein Blick, der auf deutscher Seite nicht nur stereotyp danach sucht, wie viele der in 45 Jahren Sowjetherrschaft ausgebildeten Elemente noch zu finden sind, um daraus das Wiedererstarken des Stalinismus konstatieren zu können; ein Blick, der von russischer Seite sich nicht schon mit der Abwesenheit von NS-Ideologie und offenem Revanchismus zufrieden gibt. Beide Seiten müssen sich in ihrem Bemühen, die wesentlichen Momente des Krieges erinnernd festzuhalten, um vieles stärker zueinander in Bezug zu setzen. Von wenigen Konferenzen der Fachleute und Spezialisten abgesehen findet Derartiges in der Öffentlichkeit nicht statt. An der Berliner Peripherie hat das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst in seiner Dauerausstellung über den Krieg diese Möglichkeit eines gemeinsamen Blickes auf den Krieg vorgeführt, eines Blickes, der nicht vorrangig durch Ausblenden den Konsens hergestellt hat. Aber das Museum am Ort der Kapitulation im Mai 1945, entstanden aus der deutsch-russischen Euphorie des Jahres 1991, liegt seit seiner Eröffnung im Jahr 1995 weiterhin an der Peripherie der deutschen wie auch der russischen Wahrnehmung. Umso höher ist es zu schätzen, dass eine junge russische Wissenschaftlerin den analytischen und kritischen Blick auf beide Seiten unternommen hat. Der Gegenstand ihrer politikwissenschaftlichen Untersuchung sind deutsche und russische literarische Auseinandersetzungen mit dem Krieg, die vor dem Hintergrund des historischen Ereignisses wie auch der gesellschaftlichen Diskussion in beiden Gesellschaften ideologiekritisch analysiert werden. Der scharfe kritische Blick der Autorin auf beide Seiten erlaubt keiner Seite den Vorwurf, hier würde zugunsten der anderen Seite Kritik geübt. Diese Studie wäre ein guter Ausgangspunkt, um in eine beide Seiten einbeziehende Diskussion einzutreten. Dafür ist eine Voraussetzung, dass die Ergebnisse der an der Freien Universität Berlin vorgelegten Untersuchung auch in Russland für ein Publikum greifbar werden, das nicht deutsch spricht.
Dr. Peter Jahn Langjähriger Direktor des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst
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EINLEITUNG „Geschichte ist nicht das Alte und Vergangene, sondern stets dessen Interpretation durchs Heute.“ Gerwin Zohlen
Kein anderes Ereignis hat das politische Selbstbewusstsein und die gegenseitige Wahrnehmung der Russen und der Deutschen im 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt wie der Zweite Weltkrieg. Auch sechzig Jahre nach dem Ende dieses Krieges könnte seine künstlerische Darstellung in beiden Ländern kaum unterschiedlicher sein. Die Botschaft ist manchmal fast diametral gegensätzlich, obgleich von ähnlichen Bildern transportiert. Man sieht zum Beispiel im erfolgreichen deutschen Fernsehfilm „Die Flucht“ aus dem Jahr 2007 einen kilometerlangen deutschen Flüchtlingstreck auf dem Eis der Ostsee im letzten Kriegswinter unter dem Beschuss russischer Tiefflieger stehen. Man sieht Rotarmisten, die als brutale Invasoren in einen ostpreußischen Gutshof einfallen, vergewaltigen, morden, plündern und wieder abziehen. Kurz nach der Filmvorstellung forderte die Hauptdarstellerin Maria Furtwängler in der „Bild am Sonntag“, der russische Präsident Wladimir Putin möge sich für die Verbrechen russischer Soldaten entschuldigen.1 Auch im neusten russischen Fernsehfilm „Leningrad“ (2007), der im Auftrag des Ersten Fernsehkanals gedreht wurde und in dem es um die Blockade der Stadt durch die deutschen Truppen während des Krieges geht, werden Flüchtlingstrecks bombardiert, jedoch von deutschen Kriegsflugzeugen auf dem Eis des Ladoga-Sees. In der ersten Filmszene kalkulieren die deutschen Militärs kaltblütig, wie lange es noch dauern
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Zit. in: Böger, Helmut: Putin soll sich entschuldigen. Im ARD-Zweiteiler „Die Flucht“ geht es auch um Vergewaltigung deutscher Frauen durch Russen. In: Bild am Sonntag vom 25.02.2007. URL: http://www.bild.tonline.de/BTO/leute/2007/02/25/furtwaengler-entschuldigung-putin/tvstar-die-flucht.html, Stand 22.10.2007.
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DEN KRIEG BESCHREIBEN
könnte, bis alle Stadteinwohner verhungert wären und Leningrad so ohne Vergießen deutschen Blutes eingenommen werden könnte. Die Kriegsopfer in der ehemaligen Sowjetunion haben bis heute keine offizielle Entschuldigung aus Deutschland vernommen.2 Genauso wenig, wie man in Russland über das Schicksal deutscher Flüchtlinge am Ende des Krieges weiß, weiß man in Deutschland von den über eine Million Opfern der Leningrader Blockade und von anderen Kriegsverbrechen, die während des Vernichtungskrieges von den deutschen Truppen auf sowjetischem Boden begangen wurden.3 Während man in Russland dem Holocaust mit Gleichgültigkeit begegnet,4 nehmen die knapp 30 Millionen im Krieg ermordeten Sowjetbürger in der nachkriegsdeutschen „Opferhierarchie“ fast den letzten Platz ein.5 Die Schwerpunkte der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sind in beiden Ländern unterschiedlich gesetzt. Dabei ist die aktuelle Deutung dieses Krieges von einer großen politischen und gesellschaftlichen Relevanz, nicht zuletzt in Bezug auf die Beziehungen zwischen den beiden ehemaligen Kriegsgegnern. Das nationalsozialistische Deutschland führte gegen die Sowjetunion einen machtpolitisch und rassenideologisch motivierten Eroberungs- und 2
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Eine Ausnahme war die offizielle Entschuldigung des Bundespräsidenten Johannes Rau vor den ehemaligen Zwangsarbeitern, als der Beschluss über die Entschädigung Ende des Jahres 1999 fiel, jedoch ohne Betonung der Nationalitäten. In seinem Buch „Ich wundere mich, dass ich noch lebe. Sowjetische Augenzeugen berichten“ weist der Journalist Paul Kohl darauf hin, wie „beschämend wenig“ man in der BRD auch knapp ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Krieges gegen die Sowjetunion über die Verbrechen wisse (bzw. wissen wolle), die von der deutschen Wehrmacht, der Polizei und der SS zwischen 1941-44 begangen worden sind. Kohl, Paul: „Ich wundere mich, dass ich noch lebe“. Sowjetische Augenzeugen berichten. Gütersloh 1990, S. 11-16. Ob sich seitdem in dieser Hinsicht etwas verändert hat, wird unter anderem in dieser Studie gefragt. Altman, Ilja: Shoah: Gedenken verboten! Der weite Weg vom Sowjettabu zur Erinnerung. In: Osteuropa 55 (2005) 4-6, S. 149-164; De Chikoff, Irina: V Rossii Holokost malo kogo interesujet (Der Holocaust interessiert in Russland nur wenige). In: Le Figaro (Russische Übersetzung) vom 27.01.2005, URL: http://www.inopressa.ru/lefigaro/2005/01/27/13:44:38/ holocaust, Stand 15.07.2006. Niethammer, Lutz: Juden und Russen im Gedächtnis der Deutschen. In: Pehle, Walter U. (Hrsg.): Der historische Ort des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1990, S. 125. Diese Aussage gilt auch für die Wahrnehmung der Kriegsverbrechen im besetzten Polen, die in der BRD auch wenig Beachtung finden.
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EINLEITUNG
Vernichtungskrieg, der millionenfaches Leid verursachte. Bereits in der Planung des Überfalls („Unternehmen Barbarossa“) war die physische Vernichtung der Träger des politischen Systems („Kommissare“, „kommunistische Intelligenz“) und damit auch der jüdischen Bevölkerung vorgesehen (in der Vorstellung der Nationalsozialisten waren Juden die primären Träger und Profiteure des kommunistischen Regimes). Sowjetische Zivilbevölkerung sollte zu „zig Millionen“ durch Hunger vernichtet werden, um dem geplanten germanischen Reich überflüssige Esser zu ersparen. Der Rest sollte als Arbeitssklaven den deutschen „Herrenmenschen“ dienen. Allein bis zum Mai 1942 starben mit dieser Logik von drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen zwei Millionen vor Hunger und Kälte in den deutschen Lagern. Die Zahl der Zivilisten, die aufgrund der Besatzungspolitik ums Leben kamen, beträgt über zehn Millionen. Von den Juden, denen die Flucht nicht gelang, wurden etwa zwei Millionen ermordet. Sowohl in Russland als auch in der BRD wurde in den 90er Jahren sehr intensiv über diesen Krieg und seine Bedeutung für das politische Selbstverständnis beider Gesellschaften diskutiert. Im Zuge der Debatte um die Wehrmachtsausstellung wurden in Deutschland die Legende von der „sauberen Wehrmacht“ in Frage gestellt und die Verbrechen der deutschen Truppen im Krieg gegen die Sowjetunion thematisiert.6 Auch die Auseinandersetzung um die Entschädigung der Zwangsarbeiter, von denen die meisten aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ins Dritte Reich verschleppt wurden, stellte die bisherige Wahrnehmung des „Russlandfeldzuges“ in der Bundesrepublik in Frage.7 Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde plötzlich zu einem umstrittenen Thema, das beinahe jeden Bundesbürger persönlich betraf. Kein Wunder – war es doch der wichtigste Kriegsschauplatz, an dem Mitglieder vieler deutscher Familien kämpften. Aus einem weiteren Grund rückte die Wehrmachtsausstellung den Krieg an der Ostfront in den Mittelpunkt politischer Debatten: Wegen der Beteiligung der Wehrmacht an der Durchführung des Völkermords 6
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Siehe dazu Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Hamburg 1999. Siehe dazu Niethammer, Lutz: Von der Zwangsarbeit im Dritten Reich zur Stiftung „Erinnerung Verantwortung und Zukunft“. Eine Vorgeschichte. In: Jansen, Michael/Saathof, Günther (Hg.): „Gemeinsame Verantwortung und moralische Pflicht“. Abschlussbericht zu den Auszahlungsprogrammen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Göttingen 2007, S. 13-84.
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DEN KRIEG BESCHREIBEN
an den Juden. Die Frage nach dem Stellenwert, wie in der Bundesrepublik an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird, ist auch immer die Frage nach dem Stellenwert, den der Völkermord an den Juden in der Erinnerungskultur hat. Deshalb ist das Thema „Russlandfeldzug“ und „Wehrmachtsverbrechen an der Ostfront“ in der bundesdeutschen Geschichtspolitik so wichtig geworden: Der Massenmord an den europäischen Juden hätte ohne den Krieg gegen die Sowjetunion so nicht stattgefunden. Beinahe ein Drittel aller Shoah-Opfer waren sowjetische Staatsbürger. Auch in Russland waren die 90er Jahre durch Diskussionen über den Großen Vaterländischen Krieg gekennzeichnet.8 Dabei ging es vor allem um die Schattenseiten des Krieges: die Gründe für den viel zu hohen „Preis des Sieges“, die stalinistische Repressionspolitik, das Massaker an polnischen Offizieren in Katyn, die Tätigkeit der Geheimorgane sowie die Deportation vieler nicht-russischer Völker wegen Kollaborationsverdachtes. Für eine kurze Zeit wurden die Archive geöffnet, was ein großes Interesse an Geschichte hervorbrachte. Deshalb möchte ich hier der Frage nachgehen, ob diese öffentlichen Debatten einen Wandel in der Interpretation des Krieges ausgelöst haben. In der Bundesrepublik sind in der Zeit unmittelbar nach der Wehrmachtsausstellung zu Beginn des neuen Jahrtausends einige Romane veröffentlicht worden, die einen direkten oder indirekten Bezug zum Krieg an der Ostfront hatten.9 Auf diesem Weg kam nach dem Rückzug der Wehrmachtsausstellung das Thema „Russlandkrieg“ zurück in die deutsche Öffentlichkeit. Die Autoren dieser Prosawerke waren keine Kriegsteilnehmer, sondern deren Kinder oder sogar Enkelkinder, von denen Geschichte persönlich begriffen wurde. In Russland wurden in den letzten 15 Jahren auch einige Werke veröffentlicht, die öffentliche Debatten bewirkt haben.10 Dabei diente der Krieg den russischen Schriftstellern im weitesten Sinne als Projektionsfläche für die Reflektion über die Beziehungen zwischen der Staatsmacht und dem Individuum sowie über die Rolle der „Macht“ im Krieg und nach dem Krieg. 8
Siehe Langenohl, Andreas: Erinnerung und Modernisierung: Die öffentliche Rekonstruktion politischer Kollektivität am Beispiel des Neuen Russland. Göttingen 2000, S. 153-228. 9 So z.B. die hier untersuchten Romane „Am Beispiel meines Bruders“ (2003) von Uwe Timm, „Unscharfe Bilder“ (2003) von Ulla Hahn, „Himmelskörper“ (2003) von Tanja Dückers, „Vaterland ohne Väter“ (2004) von Arno Surminski. 10 Wie z.B. „Der General und seine Armee“ (1996) von Georgi Wladimow oder „Verdammt und Umgebracht“ von Viktor Astaf´ev.
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EINLEITUNG
In der deutschen Politik, aber auch in vielen wissenschaftlichen Studien zur Erinnerungskultur in Russland und in Deutschland werden oft ähnliche Standardformeln für die Beschreibung des Umgangs der beiden Länder mit ihrer Vergangenheit verwendet. Man spricht von der Wandlung von „Machtbesessenheit“ zur „Machtvergessenheit“ in Deutschland,11 von einer post-nationalen, „negativen“ Identität der Deutschen als Resultat der Kriegsniederlage,12 von der erfolgreichen, wenn auch aufgezwungenen und nicht unproblematischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Verbrechen13 sowie von dem Bewusstsein der Schuld, das „konstitutiv für das Selbstverständnis der Bürger in der Bundesrepublik“ bleibt.14 Der Friedenspreisträger Péter Esterházy nannte die Deutschen „Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“. Alles in allem wird die Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit dem Erbe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges meistens als ein dorniger Erfolgsweg und als Vorbild für andere Länder betrachtet. Der Umgang mit der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges in Russland wird dagegen nicht selten in düsteren Farben geschildert. Hier gäbe es ein ungebrochenes, sogar zunehmendes Bewusstsein, Sie-
11 Vgl. Markovits, Andrei S./Reich, Simon: Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht. Berlin 1998; Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999. 12 Vgl. Habermas, Jürgen: Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik. In: Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI. Frankfurt a. M. 1987, S. 159-179; Dahrendorf, Ralf: Die Zukunft des Nationalstaates. In: Merkur 48 (1994) 9/10, S. 751-761; Voigt, Rüdiger: Politische Symbolik und postnationale Identität. In: Klein, Ansgar/Braun, Ingo/ Schroeder, Christiane/Hellmann, Kai-Uwe (Hg.): Kunst, Symbolik und Politik. Die Reichstagsverhüllung als Denkanstoß. Opladen 1995, S. 283298. 13 Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung. Darmstadt 1999; Reichel, Peter: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute. München 2001; König, Helmut: Die Zukunft der Vergangenheit: der Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Bundesrepublik. Frankfurt a.M. 2003. 14 Karl Jaspers zit. in Lindemann, Thomas: Es kommt zu spät, aber zur rechten Zeit. In: Welt am Sonntag vom 8.05.2005, URL: http://www.wams.de/data/ 2005/05/08/, Stand 22.10.2007.
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DEN KRIEG BESCHREIBEN
germacht in einem heldenhaften Krieg gewesen zu sein.15 Der Sieg gelte als Beweis dafür, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht erforderlich sei. Die Schattenseiten des Krieges blieben in Russland unaufgearbeitet, allein der Ruhm des Sieges stehe im Mittelpunkt. Dieser Sieg sei die wichtigste Quelle des russischen Staatspatriotismus.16 Alles Menschliche und Unheroische bleibe in einem solchen Kontext auf der Strecke, die Erinnerung an den Krieg sei formalisiert, starr, und diene dem Zweck, die Herrschaft zu legitimieren.17 Was die Aufarbeitung der Vergangenheit betreffe, solle Russland die deutsche Vergangenheitsbewältigung zum Vorbild nehmen.18
15 Vgl. Bonwetsch, Bernd: „Ich habe an einem völlig anderen Krieg teilgenommen.“ Die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Sowjetunion. In: Berding, Helmut (Hrsg.): Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert (Bd. 4). Göttingen 2000, S. 146-167; Bonwetsch, Bernd: Der „Große Vaterländische Krieg“: Vom öffentlichen Schweigen unter Stalin zum Heldenkult unter Breshnew. In: Quinkert, Babette (Hrsg.): „Wir sind die Herren dieses Landes.“ Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Hamburg 2002, S. 166-187; Karl, Lars: „Den Verteidigern der russischen Erde...“. Poklonnaja Gora: Erinnerungskultur im postkommunistischen Russland. In: Zeitgeschichte-online. Thema: Die Russische Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, Mai 2005, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/ zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn/ karl.pdf, Stand 25.10.2007; Scherrer, Jutta: Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung. In: Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen (Bd. 2). Mainz 2004, S. 619-657. 16 Vgl. Gudkov, Lev: Die Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg. In: Osteuropa 55 (2005) 4-6, S. 56-72. 17 Eine Ausnahme bildete hier die Ausstellung „Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerung an den Krieg 1941–1945“, die 2005 im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst gezeigt wurde und sowohl offizielle, als auch private Erinnerungen berücksichtigte. Siehe Katalog: Jahn, Peter (Hrsg.): Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerungen an den Krieg 1941-1945. Berlin 2005. 18 So z.B. der Grundton der Vorträge von Lev Gudkov, Karl Schlögel und Irina Ščerbakova auf den 9. Deutsch-Russischen Herbstgesprächen „Welche Geschichte formt die Gegenwart? Erinnerungskultur sechzig Jahre nach Kriegsende“ am 22.-24.10.2004 in Berlin. Vgl. auch Chapaeva, Dina: Gotičeskoe obščestvo. Stalinskoe prošloe v rossijskom nastojaščem. In: Kritičeskaja massa (2006) 1, URL: http://www.fictionbook.ru/author/ jurnal/kritichesk_1_kriticheskaya_massa_2006_n_1/jurnal_kritichesk_1_kr iticheskaya_massa_2006_n_1.html#TOC_id2550082, Stand 15.03.2008.
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EINLEITUNG
Diese Aussagen mögen stimmen, sie basieren jedoch meistens auf der Analyse der offiziellen Erinnerungskultur. Wie viele Beobachter in letzter Zeit jedoch feststellen, klaffen diese offizielle Darstellung und die private Erinnerung der Bevölkerung auseinander.19 Deshalb möchte ich anhand der Analyse der literarischen Texte unter anderem überprüfen, ob die oben beschriebene Unterschiedlichkeit der beiden Länder in Bezug auf die Wahrnehmung des Krieges zutrifft, wenn man einen nichtoffiziellen Diskurs in den Mittelpunkt der Analyse stellt, der vielleicht andere Aussagen über die „geistige Lage“ der Gesellschaft geben kann. Literarische Werke, die ich als Beitrag zum öffentlichen Diskurs über den deutsch-sowjetischen Krieg verstehe, können Hinweise darüber geben, wie es um die kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe „des Krieges an der Ostfront“ in Deutschland und des „Großen Vaterländischen Krieges“ in Russland steht. In diesen Werken sind diverse politische Reflexionen angelegt, die sie zu einem Katalysator für bestimmte Positionen innerhalb der größeren Dynamiken der deutschen und russischen Wahrnehmung des Krieges machen. Sie eröffnen zum Einen Einblicke in den ideengeschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Entstehung. Zum Anderen können sie Bewusstseinsveränderungen bewirken (was zu untersuchen im Rahmen dieser Studie nicht möglich wäre). Es könnte sein, dass bei Betrachtung der künstlerisch-politischen Auseinandersetzungen in Russland und in Deutschland ein anderes Bild zutage tritt, das den Aussagen der Forschung über „Gewinne und Verluste” in der Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit nicht entspricht.
Fragestellung und Ziele der Studie In dieser Studie beschäftige ich mich mit der Frage, wie die zeitgenössischen Literaten in Deutschland und in Russland mit der Geschichte des deutsch-sowjetischen Krieges 1941-1945 umgehen. Zu welchen Deutungsmustern greifen sie, um die Rolle der Ideologie im Krieg, den 19 Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Familiengedächtnis. Private Zugänge zu historischen Ereignissen. In: Neue Rundschau. 118 (2007) 1, S.157- 176; Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi.“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M. 2002; Thadden, Elisabeth von: Im Gedächtniswohnzimmer. Warum sind Bücher über die eigene Familiengeschichte so erfolgreich? Ein ZEIT-Gespräch mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer über das private Erinnern. In: Die Zeit (Literatur), März 2004, S. 43-46.
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DEN KRIEG BESCHREIBEN
Kriegsalltag, den Umgang mit dem persönlichen Gewissen, die Wahrnehmung des Feindes zu schildern, und welchen „Sinn“ verleihen sie der Kriegstragödie? Wie deuten deutsche und russische Autoren 60 Jahre nach Kriegsende dieses Ereignis, das die Beziehungen zwischen den beiden Völkern nachhaltig geprägt hat? Was scheint ihnen besonders wichtig zu sein? Was wird dagegen nicht erwähnt? Wird in den analysierten Werken auf den ehemaligen Feind eingegangen und Empathie mit ihm gezeigt? Ziel ist es, in vergleichender Perspektive einen Beitrag zur politischen Kulturforschung in Bezug auf den Umgang mit der Geschichte des Krieges gegen die Sowjetunion anhand der Analyse deutscher und russischer zeitgenössischer Prosawerke zu leisten. Theoretischer Angelpunkt der Analyse ist das Konzept der politischen Deutungskultur, der Geschichtspolitik und der Literatur als „Gegen-Gedächtnis“. Da es sich hierbei um eine politikwissenschaftliche Studie handelt, werden engere literaturwissenschaftliche Fragen nicht thematisiert. Es geht speziell um den politisch relevanten Standort der Literatur in der deutschen und russischen Gesellschaft. Bei der Analyse geht es mir weniger um die Suche nach Übereinstimmungen der jeweiligen literarischen Interpretation mit der historischen Wirklichkeit, obwohl auch diese Frage von mir immer wieder gestellt wird, vor allem im Hinblick auf die politischen Konsequenzen jeweiliger Darstellungen. Vielmehr gilt das Forschungsinteresse der Frage, welche Vorstellungen vom Krieg gegen die Sowjetunion in die ausgewählten Texte Eingang fanden (nicht nur als Meinung der Autoren, sondern auch als Interpretation seitens der Protagonisten) und wie die jeweiligen Autoren damit umgingen. Meine These ist, dass sich im Moment ein Prozess der Neubewertung des Krieges vollzieht, der in beiden Ländern jahrzehntelang von ideologischen Doktrinen überdeckt war, und dass literarische Werke die Vielfältigkeit des „kollektiven Gedächtnisses“ jenseits der offiziellen Geschichtsversion in diesem Prozess der Neubewertung reflektieren. Mein Hauptanliegen ist es, die konkurrierenden Darstellungen des Krieges an der Ostfront zu beschreiben und die deutsche und die russische Perspektive miteinander zu vergleichen. Es geht mir nicht um einen neuen Blick auf den Krieg gegen die Sowjetunion, nicht um Geschichte in ihrer Faktizität, sondern um eine Vergangenheit, wie sie in der Literatur als Spiegel der Gesellschaft und ihrer „wunden Punkte“ verarbeitet und gedeutet wird und die bis heute erinnerungspolitisch andauert. Man könnte vermuten, dass die Wehrmachtsaustellung die Schriftsteller in Deutschland dazu bewegt hat, über die Natur des „Russlandfeldzuges“ nachzudenken, Empathie für die sowjetischen Kriegsopfer zu entwickeln und sich über die Verantwortung der deutschen Truppen für die Kriegsverbrechen an
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EINLEITUNG
der sowjetischen Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen Gedanken zu machen, was eine qualitativ neue Etappe der Beschäftigung mit der Geschichte des Russlandfeldzuges darstellen würde. Was die russischen Autoren betrifft, könnte man denken, dass sie nach der Aufhebung der Zensur die Themen aufgriffen, die vorher als „unerwünscht“ galten, sich intensiver mit dem Erbe des Stalinismus beschäftigten und versuchten, den Krieg auch „von der anderen Seite“ zu sehen. Diese Hypothesen möchte ich anhand der Literaturanalyse überprüfen.
Textauswahl und methodisches Vorgehen Analysiert wird eine acht Titel umfassende exemplarische Auswahl von deutschen und russischen Prosawerken aus der Zeit zwischen 1994 und 2004 unter den spezifischen Fragestellungen, die zusammenfassend oben aufgeführt wurden (hier in alphabetischer Reihenfolge nach ihren Autoren): - „Verdammt und Umgebracht“ (1994) von Viktor Astaf´ev - „Himmelskörper“ (2003) von Tanja Dückers - „Jenseits“ (2003) von Daniil Granin - „Unscharfe Bilder“ (2003) von Ulla Hahn - „Die nackte Pionierin“ (2002) von Michail Kononow - „Vaterland ohne Väter“ (2004) von Arno Surminski - „Am Beispiel meines Bruders“ (2003) von Uwe Timm - „Der General und seine Armee“ (1996) von Georgi Wladimow 1. Die Auswahl der Literaturwerke für die Analyse ist wie jede Auswahl teilweise subjektiv und willkürlich. Mit Ralf Dahrendorf gesprochen, ist diese „informierte Willkür“ unvermeidbar. Jedoch seien an dieser Stelle einige Probleme und Spezifika dieser Auswahl benannt: Während für das Fallbeispiel „Bundesrepublik“ eine Auswahl der Werke getroffen werden musste, in denen es einen direkten oder indirekten Bezug auf den „Russlandfeldzug“ gibt (nicht etwa Romane über andere Aspekte der nationalsozialistischen Diktatur und anderer Schauplätze des Zweiten Weltkrieges, wie z.B. Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, Völkermord an den Juden etc.), war diese Aufgabe im Falle russischer Texte leichter, da alle Prosawerke über den Zweiten Weltkrieg den Krieg gegen das Nazi-Deutschland behandeln (der Krieg im Fernen Osten gegen Japan ist in der russischen literarischen Landschaft beinahe nicht existent). Hier wird der erste große Perspektivenunterschied zwischen deutscher und russischer Literatur über diesen Krieg deutlich: Der „Krieg an der Ostfront“ bedeutet in Deutschland nur einen Teilaspekt des großen Themengebiets „Zwei21
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ter Weltkrieg/Nationalsozialismus“, in Russland dagegen versteht man unter dem Begriff „Großer Vaterländischer Krieg“ (der nicht selten mit dem Begriff „Zweiter Weltkrieg“ verwechselt wird bzw. statt dessen verwendet wird) vor allem den Krieg gegen Deutschland, der als „der eigentliche Krieg“ begriffen wird. 2. Die genannten Texte behandeln das Thema „Krieg gegen die Sowjetunion“ mit unterschiedlicher Intensität: In den Werken russischer Autoren steht er im Mittelpunkt der Darstellung, auch in den deutschen Romanen „Unscharfe Bilder“ und „Vaterland ohne Väter“. Die Romane „Am Beispiel meines Bruders“ und „Himmelskörper“ thematisieren zwar auch den Krieg, widmen sich aber auch anderen Fragen. An einzelnen „kriegsbezogenen“ Motiven jedoch lässt sich die Wahrnehmung des Krieges und der ehemaligen Feinde sowohl bei den Protagonisten als auch bei den Autoren erkennen. 3. Als Auswahlkriterien galten neben dem Bezug zum Krieg gegen die Sowjetunion: Fiktionalität: Alle untersuchten Werke sind fiktionale Prosa, wobei der Text von Uwe Timm einen autobiographisch-dokumentarischen Hintergrund hat und ein Beispiel dokumentarischer Prosa ist, die sich jedoch fiktionaler Mittel bedient.20 Es wurden zum großen Teil Darstellungen von hohem Verbreitungsgrad ausgewählt, soweit die Informationen über die Auflagenhöhe und über allgemeine öffentliche Resonanz zugänglich waren. Die Frage nach der Auswirkung der vermittelten Interpretationen des Ereignisses „Krieg gegen die Sowjetunion“ auf das Lesepublikum kann hier allerdings nicht beantwortet werden. 4. Berücksichtigt wurde ferner die Rezeption der Texte in der einheimischen Kritik sowie in der Kritik des jeweiligen anderen Landes. Diese Werke repräsentieren unterschiedliche Aspekte der russischen und der deutschen Literaturlandschaft in vielerlei Hinsicht: Viktor Astaf´ev (1924-2001) und Daniil Granin (Jg. 1919) gehören zur Generation der Kriegsteilnehmer, Georgi Wladimow (19312003) erlebte den Krieg als Jugendlicher, während Michail Kononow (1948) zur ersten Nachkriegsgeneration gehört. Auffällig ist die Ab20 Aus diesem Grund wurden Autoren wie Walter Kempowski und Dieter Wellershof nicht berücksichtigt, da es sich im Falle Kempowskis („Das Echolot“) um eine Dokumentation auf der Grundlage der Tagebuchaufzeichnungen handelt, im Falle von Wellershof („Der Ernstfall“) um Memoiren.
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wesenheit der jungen Generation unter den russischen Prosaautoren, die sich mit diesem Thema befassen. Unter den deutschen Autoren dagegen findet man keine Kriegsteilnehmer. Der älteste ist Arno Surminski (Jg.1931). Uwe Timm (Jg. 1940) und Ulla Hahn (Jg. 1945) repräsentieren die so genannte „Kriegskindergeneration“, während Tanja Dückers (Jg. 1968) über den Krieg aus der Perspektive der „Enkelkindergeneration“ schreibt. Während Daniil Granin und Viktor Astaf´ev sich nach der Perestrojka stets in der Nähe der russischen Staatsmacht bewegten, blieb Georgi Wladimow in seinem deutschen Exil auf kritischer Distanz zu ihr. Michail Kononow repräsentiert die Generation russischer Schriftsteller, die im Ausland leben, deren literarisches Schaffen in Russland jedoch stark rezipiert wird.21 Auch die deutschen Autoren befinden sich auf unterschiedlichen Polen des politischen Spektrums: Arno Surminski steht den Vertriebenenverbänden nahe, Uwe Timm nahm aktiv an der Bewegung der 68er teil, wie auch Ulla Hahn, die sich später von linken Ideen entfernte. Um die Romane von Astaf´ev und Wladimow entzündeten sich im Russland der 90er Jahre heftige Debatten, deren Nachhall bis heute zu hören ist. Die beiden umstrittenen Werke, die die offizielle Sicht auf den Krieg herausfordern, stehen im Lehrplan des Literaturunterrichts für die Oberstufe. Der Roman „Die nackte Pionierin“ fand auch landesweit Resonanz, weil das traditionsreiche Moskauer Theater „Sovremennik“ ihn als Bühnenstück aufführte. Dabei spielte eine der führenden zeitgenössischen Schauspielerinnen, Čulpan Chamatova, die Titelrolle. Weniger beachtet blieb Granins Novelle „Jenseits“. Da es sich um einen Versuch handelt, die deutsche Perspektive auf den Krieg nachzuvollziehen, schien mir diese Novelle in Hinblick auf die deutschen Leser besonders interessant. Auch die Werke deutscher Autoren sind in großen Verlagen erschienen, wurden in der deutschen Presse intensiv besprochen, haben innerhalb von 2-3 Jahren eine zweite Auflage erlebt22 und sind dem breiten Publikum leicht zugänglich.
21 So z.B. Michail Šiškin, der in der Schweiz lebt, für seine Werke jedoch mehrere Literaturpreise in Russland bekommen hat. 22 Uwe Timms „Am Beispiel meines Bruders“, Ulla Hahns „Unscharfe Bilder“ und Arno Surminskis „Vaterland ohne Väter“ sind in der 2. Auflage als Taschenbücher erschienen, sind somit preiswerter und zugänglicher geworden. „Himmelskörper“ ist bereits in der 1. Auflage als Taschenbuch
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„Der General und seine Armee“ von Georgi Wladimow und „Die nackte Pionierin“ von Michail Kononow liegen in deutscher Übersetzung vor. „Am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm und „Vaterland ohne Väter“ von Arno Surminski sind ins Russische übersetzt worden.
Methodisch bediene ich mich der Inhaltsanalyse, um literarische Deutungsmuster im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Krieg gegen die Sowjetunion zu untersuchen. Diese Methode lässt sich meines Erachtens zur „Erforschung sozialer und kultureller Werte und des Wandels von Werten“23 auch auf literarische Texte anwenden, denn auch in diesem Fall hat man mit einer sozialen Kommunikation von politischen Inhalten zu tun – Schriftsteller als Sender und Leser als Rezipienten begriffen. Es gilt die Intention und die Perspektive zu rekonstruieren, aus der heraus der „Sender“ seine Interpretation darstellt. Die untersuchten Inhalte konstituieren kraft ihrer dialogisch-reziproken Struktur die Wirklichkeit, indem „gemeinsame(s) Wissen von den Akteuren thematisiert (wird), um sich der gemeinsamen Deutung der Situation zu vergewissern.“24 Die literarischen Texte existieren nicht im leeren Raum, sondern haben ein hohes Maß an wechselseitiger Bezugnahme. Deshalb ist es angebracht, die Inhalte der untersuchten Texte in Bezug zu den gegenwärtigen Geschichtsdebatten zu setzen, um die politische Bedeutung der in der Literatur behandelten Motive und Ereignisse in ihrem jeweiligen ideologischen Gehalt zu verdeutlichen. Das Ziel der strukturierenden Inhaltsanalyse ist also, „bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern und unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen und das Material unter bestimmten Kriterien einzuschätzen.“25 Um diese Kriterien auf der Textbasis entwickeln zu können, wird für die Voranalyse der Texte die Methode der hermeneutischen Textinterpretation angewandt, die auf Hypothesenbildung basiert.26 Zuerst soll festgestellt werden, welche Interpretationsmöglichkeiten im
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erschienen. „Am Beispiel meines Bruders“ und „Unscharfe Bilder“ sind mit dem Zeichen „Lesetipp“ vermerkt. Diekmann, Andreas: Empirische Sozialforschung: Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek 2004, S. 486. Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung: Lehrbuch. Weinheim 2005, S. 195f. Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. In: Flick, Uwe u.a. (Hg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung. München 1991, S. 213. Vgl. Kurt, Ronald: Hermeneutik: Eine sozialwissenschaftliche Einführung. Konstanz 2004.
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Text enthalten sind. Im zweiten Schritt wird in intertextuellen Bezügen und im historisch-politischen Kontext nach weiteren möglichen Erklärungsmustern gesucht. Literatur nimmt einen besonderen Platz im kollektiven Gedächtnis ein, sie ist privat und öffentlich zugleich; Institution, Medium und eine Form individueller Kommunikation. Sie hat „eine privilegierte Position [...] als Seismograph des moralischen Standortes eines Volkes“27 und der politischen Entwicklungen in einem Land. Georg M. Oswald weist darauf hin, „dass in der Literatur Dinge verhandelt werden können, die sonst nirgends verhandelt werden können und die mit dem eigenen gesellschaftlichen Leben zu tun haben. Und das auf eine so differenzierte und wenig plakative Art und Weise, wie das kein anderes Medium kann.“28 Geschichtspolitische Debatten werden nicht nur in fachhistorischen und politischen Kreisen geführt, sondern auch in der Literatur. Während öffentliche Formen des Gedächtnisses als eine „organisierte Form des Vergessens“ oft kritisiert werden und die visuellen Massenmedien zu Sentimentalisierung, Trivialisierung und Sensationalisierung tendieren, gibt es ein fast universales Vertrauen in die Kunst und die Literatur, die als Korrektiv zum offiziellen Gedächtnis fungieren.29 Helmut Schmitz erklärt dieses Phänomen dadurch, dass „in Kunst und Literatur die Formen der Produktion und der Rezeption eher individuell als kollektiv sind.“30 Lesen ist heutzutage ein höchst privater Vorgang. Literatur ist zwar ein Teil des öffentlichen Diskurses, aber sie ist von individueller Produktion und Rezeption abhängig, und somit steht sie weniger unter dem Druck der Kosteneffizienz, des Marketings und des Massenanreizes als Film und Fernsehen. Fiktionale Gestaltungsspielräume können dazu genutzt werden, auch solche Aspekte der Kollektivvergangenheit zu erschließen, die gesellschaftlich bislang unausgesprochen, weil vergessen oder tabuisiert waren. Oft formulieren die Schriftsteller auch kulturell Schwelendes aus und fördern dadurch das gesellschaftliche Unbewusste ans Tageslicht, machen es erkennbar und diskutierbar. Darüber hinaus kann Literatur aber auch auf textexterner, also gesellschaftlicher Ebene, 27 Schlant, Ernestine: The Language of Silence: West German Literature and the Holocaust. New York 1999, S. 13. 28 Freund, Wieland: Wir haben uns dem Ökonomismus verschrieben. Gespräch mit Georg M. Oswald. In: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte Juli August 2005, URL: http://www.frankfurter-hefte.de/ausschnitt/ kultur_ 05_07b.html, Stand 30.10.2007. 29 Vgl. Schmitz, Helmut: On Their Own Terms: The Legacy of National Socialism in post 1990 – German Fiction. Birmingham 2004, S. 7-9. 30 Ebd., S. 7.
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Wirksamkeit entfalten und so selbst zum „Medium des kollektiven Gedächtnisses“31 werden. Das Besondere an Literatur als Medium der Erinnerung sind folgende drei Elemente: Im Unterschied zu wissenschaftlichen, politischen Texten und anderen Schriftarten ist sie eine Form, in der nicht das Scharfe, das Eindeutige, sondern das Uneindeutige gewollt ist, Ambivalenzen zum Thema gehören und das Tabuisierte zur Sprache kommen kann. Literatur speist sich immer aus der Zeit, in der sie produziert wird. Laut Auerbach ist ein literarischer Text immer „ein Erzeugnis seiner Epoche”.32 Literatur bezieht sich auf diese Zeit, sie verrät etwas über die Zeit, man denke nur an die frühen Nachkriegsromane (Heinrich Böll, Anna Seghers), die mit ihrer Zeit eng verbunden waren. Literatur ist etwas, in dem sich individuelles und kollektives Erinnern mischt. Literarische Texte werfen Probleme der Schuld, der Verdrängung, der Bewältigung auf, nicht nur individualpsychologisch, sondern auch erinnerungspolitisch. So können literarische Texte Aufschluss darüber geben, welche konkurrierenden Gedächtnisse literarisch gegeneinander abgewogen werden. Wessen Erinnerungen werden durch das Ausgewählte repräsentiert, wessen Erinnerungen werden vergessen? Durch die Analyse der literarischen Kriegsinterpretationen werden die Konfliktlinien zwischen verschiedenen Deutungen der Geschichte sichtbar, die auf unterschiedliche Interessen im Prozess der Aushandlung der Vergangenheit zurückzuführen sind. Die wechselseitige Beziehung der verschiedenen Gedächtnisrahmen und ihr Bezug auf die Literatur bringen heterogene Aspekte des Themas – von der individuellen Kriegserfahrung über die Eigendynamik der Literatur bis hin zu offiziellen Geschichtsbildern – in einen systematischen Zusammenhang. Erhellend wirkt der Begriff des kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halbwachs, da er den sozialen Rahmen als Motor oder Hindernis der individuellen Erinnerung ausweist und auf einen engen Zusammenhang zwischen der literarischen Aneignung von Geschichte und den gleichzeitigen öffentlichen Geschichtsdebatten hindeutet. Auch der literarische Geschichtsdis-
31 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: eine Einführung (KaS. 6: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses). Stuttgart 2005, S. 143-166. 32 Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen 1994, S. 441.
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kurs zerfällt in divergierende Perspektiven, die politische und soziale Konflikte reflektieren. Die sozialen Bedingungen des Erinnerns beschäftigten Halbwachs nach der Publikation von „Les cadres sociaux de la mémoire“ (1925)33 bis zu seiner Deportation in das Konzentrationslager Buchenwald im Jahr 1944. Seine zentrale These lautet, „daß das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und daß das Gedächtnis sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.“34 Die Erinnerung basiert im Falle des kollektiven Gedächtnisses auf der Vielfalt von Interessen der Individuen in ihren sozialen Milieus. Die Zeitlichkeit und die Selektivität des Erinnerns stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit von Halbwachs. Dabei betont er, dass Erinnerung stets in der Gegenwart stattfindet und sich auf die Gegenwart bezieht. Ändert sich „die Gegenwart“, so ändert sich auch der Blick auf „die Vergangenheit“. Während Aleida und Jan Assmann in ihren Schriften meistens davon ausgehen, dass die „kulturelle Identität“ die Grenzen eines Erinnerungsraumes bildet, kann für Halbwachs das Kulturelle nicht dem Rahmen eines Gedächtnisses entsprechen. Die Möglichkeit eines Bruchs in der Tradition, der die Identität ohne Kontinuität zulassen soll, ist in der Theorie des kulturellen Gedächtnisses von Assmanns nicht vorhanden und aktuelle Geschichtspolitik durch das kulturelle Gedächtnis nicht verständlich, da Erinnerung zur Selbstreproduzierung der kulturellen Identität dient. Das „kollektive Gedächtnis“ von Halbwachs bietet hingegen die Möglichkeit, soziale Konstellationen vergangenheitsbezogener Interessen in einem bestimmten Moment zu betrachten.35 Sein Interesse gilt vielmehr den Gruppen, die im Konflikt stehen, weil hier das soziale Erinnern entsteht. Während man im Rahmen von Kulturen davon ausgeht, dass die Mitglieder sich gemeinschaftlich auf eine Vergangenheit beziehen, könnte mit Halbwachs aus den vielfachen Logiken, durch die eine bestimmte Vergangenheit ausgewählt und rekonstruiert wurde, auf Inte33 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin, Neuwied 1966. 34 Ebd., S. 23. 35 Eine ausführliche Analyse der Theorie von Maurice Halbwachs und der „Missdeutung“ seiner Gedanken in den Schriften von Jan und Aleida Assmann legt Olaf Kleist in seiner Diplomuntersuchung vor. Siehe: Kleist, Olaf: Maurice Halbwachs’ Theorie des „Kollektiven Gedächtnisses“. Ihr analytischer und praktischer Gebrauch in der erinnerungspolitischen Diskussion. Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Freien Universität Berlin. Berlin 2005.
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ressen verschiedener sozialer „Milieus“ zurückgeführt werden. Anders als die vermeintliche Gewissheit „kultureller Identität“, der zufolge der dauerhafte Gruppencharakter offen zutage liegt, sind durch den sozialmorphologischen Ansatz von Halbwachs immer nur Teile des sozialen Zusammenhangs zu einem bestimmten Moment fassbar. In dieser Studie gehe ich von einem politischen Verständnis des kollektiven Gedächtnisses aus. Das erinnerungspolitische Feld stellt somit ein umkämpftes Feld dar, das durch Interessenkonkurrenz gekennzeichnet ist und in dem verschiedene Gruppen um Erinnerungshoheit bestimmter Vergangenheitsinterpretationen ringen. Dieses Verständnis des kollektiven Gedächtnisses unterscheidet sich von den meisten kulturwissenschaftlich geprägten Definitionen und bricht die Vorstellung vom kollektiven Gedächtnis als Monolith auf. Literatur mit zeithistorischem Bezug, die solch hoch politisierte Themen wie Krieg an der Ostfront bzw. Großer Vaterländischer Krieg aufgreift, stellt ein Wirkungsfeld unterschiedlicher Interessen dar. Sie widerspiegelt die Konkurrenz der geschichtspolitischen Interessen. Umso wichtiger ist es, dementsprechend die Intentionen der Autoren zu hinterfragen und sich der Motive bewusst zu werden, die sie bewegen, das eine oder das andere Bild vom Krieg ins Leben zu rufen. Die Diskrepanz zwischen diesen Interpretationen ist eine wesentliche Ursache für die emotionale Heftigkeit, mit der die Diskussion um diesen Krieg sowohl in der Bundesrepublik als auch in Russland geführt wird. Geschichtspolitisches Handeln erschöpft sich nicht nur in der Tätigkeit der Institutionen oder den Reden von Politikern. Auch der literarische Diskurs, der als ein Teil des öffentlichen Geschichtsdiskurses zu verstehen ist, hat eine politische Funktion, nämlich die der Thematisierung. Damit haben literarische Texte eine wesentliche Bedeutung bei der gesellschaftlichen Konstruktion der Vergangenheit. In der politischen Kulturforschung lässt sich die Rolle von Literaten als einer Trägergruppe des öffentlichen Diskurses mit dem von Karl Rohe eingeführten Begriff der politischen Deutungskultur beschreiben.36 Politische Deutungskultur besteht in der Art und Weise, wie Intellektuelle – in diesem Fall Literaten – über geschichtspolitische Grundlagen der Gesellschaft debattieren.37 Literatur übernimmt dabei die Funktion einer reflexiven Instanz sowohl des offiziellen als auch des privaten Umgangs mit Geschichte und bringt Wertorientierungen in eine argumentativ herausforderbare Form. Daher 36 Rohe, Karl: Politische Kultur. Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts. In: Niedermayer, Oskar/ von Beyme, Klaus (Hg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland. Berlin 1994, S. 9. 38 Vgl. Langenohl, Andreas: Erinnerung und Modernisierung, S. 139ff.
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sind Argumentationsverläufe, wie sie in den Prosawerken zu finden sind, bei der Analyse politischer Deutungskultur von Interesse. Für diese Studie hieß es konkret, zu fragen, durch welche Argumentationsstrategien die verschiedenen Ansichten über die kollektive Vergangenheit gegeneinander profiliert werden. „Politische Kulturen sind also [...] im Kern nichts anderes als in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit eingelassene Ideen, die Politikhorizonte abstecken, Sinnbezüge stiften und von ihren jeweiligen gesellschaftlichen Trägern als Maßstäbe zur Auswahl, Organisation, Interpretation, Sinngebung und Beurteilung politischer Phänomene benutzt werden.“38
Laut dieser Definition können kulturelle Grundorientierungen das Verständnis des Politischen und die Einstellung der Menschen zur Politik beeinflussen. Das bedeutet, dass die Ausdrucksweise der politischen Kultur erforscht werden kann, indem gefragt wird, welche Sinnbezüge und Politikhorizonte wem wie angeboten werden und wer die Deutungsmuster der Wahrnehmung von Politik öffentlich definiert.39 In dieses Feld der Forschung gehört auch Literatur. Vergleichbar mit der Filmkunst, schlägt sie eine Brücke zwischen der „politischen Deutungskultur“ und der Gesellschaft, denn durch die fiktive Erzählung von der Vergangenheit werden soziokulturell verankerte Wert- und Handlungsorientierungen erst greifbar. „Ein Roman muss nicht unbedingt ein politisches Statement sein, aber er ist in jedem Fall ein deutungskulturelles Statement zur politischen Soziokultur“,40 so Andreas Langenohl. In Nachkriegsdeutschland, vor allem in der Bundesrepublik, wurde Literatur oft zum Politikum. Als Beispiel dafür können zahlreiche Literaturstreite genannt werden, wie in den Fällen Heinrich Böll, Christa Wolf, Martin Walser oder Günther Grass, die alle um geschichtspolitische Themen kreisten.41 Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Wie Uwe
38 Rohe, Karl: Politische Kultur, S. 1f. 39 Vgl. Kannapin, Detlef: Dialektik der Bilder. Der Nationalsozialismus im deutschen Film. Ein Ost-West Vergleich. Berlin 2006. 40 Langenohl, Andreas: Patrioten, Verräter, genetisches Gedächtnis. Der Große Vaterländische Krieg in der politischen Deutungskultur Russlands. In: Ritter, Martina/ Wattendorf, Barbara (Hg.): Sprünge, Brüche, Brücken. Debatten zur politischen Kultur in Russland aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Kultursoziologie und Politikwissenschaft. Berlin 2002, S. 129. 41 Siehe dazu Weninger, Robert: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München 2004.
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Wittstock formuliert, sind sie unter anderem in dem hohen moralischen Anspruch zu suchen, mit dem deutsche Dichter gerne auftreten und an dem sie dann gemessen werden. „Auch huldigt man immer noch der ehrwürdigen Tradition, jeden Autor für jede Zeile, die er irgendwann einmal geschrieben hat, uneingeschränkt verantwortlich zu machen; und schließlich zielt die Arbeit von Schriftstellern, anders als die von Managern oder Ministerialen, stets auf die Öffentlichkeit und läßt sich deshalb im nachhinein nur schlecht vertuschen [...].“42
Ein anderer Grund für die Politisierung des literarischen Feldes in Deutschland liegt in der historischen Sonderlage, die der Nationalsozialismus gebracht hat. Es ist bemerkenswert, dass fast alle Diskussionen um literarische Werke oder Persönlichkeiten um ein gemeinsames Thema kreisen, nämlich das Erbe des Nationalsozialismus. „Wann immer deutschsprachige Schriftsteller nach 1945 zum kontroversen Gesprächsstoff wurden, wann immer sich ein medialer Anlass zum Diskutieren über Literatur bot, wann immer Literaturwerke zum Politikum wurden, allenthalben dominierte das deutsche Trauma Nazizeit die Diskussion“, 43 bemerkt Robert Weninger. In Russland nahm Literatur traditionell eine besondere Stellung für die Beschäftigung mit politischen und historischen Themen ein. Da es keine vom Staat unabhängige Historiographie des Großen Vaterländischen Kriegen gab und kaum Archivzugang, haben viele Literaten die Rolle der Historiker übernommen, um „die Wahrheit“ über den Krieg zu erzählen. Literatur war viele Jahrzehnte nach Kriegsende in der Sowjetunion eine der wenigen Ebenen, auf der man sich diesem Krieg annähern konnte. Da der politische Entscheidungsprozess in Russland bis heute nur wenig transparent ist, wird sehr viel „in der Küche“ über Politik diskutiert und hinterfragt. Literatur ist häufig die Fortsetzung der Küchengespräche. Das ist auch ein Grund dafür, dass Schriftsteller in Russland immer großes Ansehen genießen. Literatur übte viele Funktionen aus, die woanders Philosophie, Sozialanalyse und politischer Kommentar erfüllte.44 „Der große Schriftsteller in unserem Land ist [...] eine Art 42 Wittstock, Uwe: Die Dichter und ihre Richter. Literaturstreit im Namen der Moral: Warum die Schriftsteller aus der DDR als Sündeböcke herhalten müssen. In: Süddeutsche Zeitung vom 13./14. Oktober 1990, zit. in: Weninger, Robert: Streitbare Literaten, S. 230f. 43 Weninger, Robert: Streitbare Literaten, S. 237. 44 Vgl. Morson, Gary Saul (Hg.): Literature and History. Theoretical Problems and Russian Case Studies. Stanford University Press 1986, S. 15f.
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zweite Regierung“,45 schrieb Alexander Solschenizyn. Zu der Transformation der sowjetischen Gesellschaft haben nicht zuletzt die Literaten beigetragen. Während der Perestrojka schrieben sie in den „dicken Zeitschriften“ wie „Novyj Mir“ oder „Roman-Gazeta“ kritisch und frei über Dinge, die sehr lange als verboten galten, unter anderem über die Kriegsopfer und die Opfer des Stalinismus. Während der Perestrojka Ende der 80er bis Anfang der 90er Jahre wurde Belletristik mit historischem Bezug zur politischen Waffe im bitteren Konflikt zwischen Kommunisten, Nationalisten, Demokraten und Radikalen. Angesichts der Werte- und Wirtschaftskrise erlebte die Literatur im Russland der 90er Jahre einen rasanten Bedeutungsverlust. Anspruchsvolle Literatur ist mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie in den meisten westlichen Ländern. Im postkommunistischen Zeitalter besitzt sie nicht mehr die große politische Bedeutung, die sie in den letzten Jahren der sowjetischen Herrschaft hatte. Wie im Westen sind die Presse und elektronische Medien die Hauptarenen für die politische Debatte geworden. Der gesellschaftliche Kampf um Erinnerungshoheit stellt sich hiermit immer auch als ein Kampf um mediale Repräsentation, um das Vertretensein im gesellschaftlichen Erinnerungsraum dar. Fiktionale Texte bilden einen wesentlichen Bestandteil gesellschaftlich umstrittener Vergangenheitsdeutungen und umkämpfter Erinnerungshegemonien. Dass und wie gerade literarische Texte zu einem zentralen Ort werden können, an dem der Streit um (mediale) Erinnerungshoheit inszeniert wird, soll in den nächsten Kapiteln an konkreten Beispielen demonstriert werden.
Gliederung der Arbeit Das erste Kapitel beinhaltet das Fallbeispiel „Russland“ und sowjetische/russische literarische Aufarbeitung des „Großen Vaterländischen Krieges“. Zunächst wird ein Überblick über die Stationen literarischer Aneignung des Themas „Krieg“ in der Sowjetunion und im heutigen Russland gegeben und die wichtigsten Probleme bzw. Diskussionsfelder benannt. Anschließend werden die vier ausgesuchten zeitgenössischen Werke kurz vorgestellt, die eine Grundlage für den späteren Vergleich bilden sollen. Das zweite Kapitel ist dem Fallbeispiel „Deutschland“ gewidmet. Es geht dabei um die literarische Aufarbeitung des Krieges gegen die Sow-
45 Zit. in: Morson, Gary Saul (Hg.): Literature and History, S. 15.
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jetunion in der Bundesrepublik. Einem Exkurs in die Geschichte der deutschen (= „West-“ und „Ost-“) Kriegsliteratur folgt die inhaltliche Zusammenfassung, Darstellung der wichtigen Anknüpfungspunkte für die spätere Analyse sowie die Rezeptionsgeschichte der vier zeitgenössischen Prosawerke, die sich mit dem „Krieg an der Ostfront“ beschäftigen. Die kurze Vorstellung der acht Texte ist notwendig, um die ersten gemeinsamen Themen bzw. Unterschiede erkennen zu können als Grundlage der vergleichenden Analyse im folgenden Kapitel. Im dritten Kapitel schließlich werden die zeitgenössischen russischen und deutschen Romane vergleichend nach folgenden Themen analysiert: die Bedeutung der Ideologie im Krieg, Fremd- und Eigenbilder, das Problem des persönlichen Gewissens, der Alltag des Krieges und die Erklärung des „Sinns“ des Kriegsgeschehens. Über diese Themen wurden in den letzten 15 Jahren intensive öffentliche Diskussionen geführt. Diese Kriegsdarstellungen und Interpretationen reflektieren im weitesten Sinne die „politische Deutungskultur“ der jeweiligen Länder. Wichtig ist, die beiden Perspektiven miteinander zu vergleichen und zu erkennen, wo sich Berührungspunkte, wo Unterschiede feststellen lassen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Vor diesem Hintergrund kann letztlich das Problemfeld umrissen werden, welche Rolle Literatur in der Auseinandersetzung um Erinnerung spielt und welche Bilder von politisch umstrittenen Geschichtsbegebenheiten von ihr produziert und an die Leser weitergegeben werden.
Wiedergabe russischer Wörter, Namen und Zitate Russische Wörter, Eigennamen und Zitate werden grundsätzlich in der im deutschen Sprachgebiet üblichen wissenschaftlichen Transliteration der russischen Schreibweise wiedergegeben. Ausnahmen sind Namen von Personen, deren von der Transliteration abweichende Schreibweise sich im Deutschen eingebürgert hat („Kononow“, „Solschenizyn“ „Chruschtschow“). Damit soll dem Leser das Nachschlagen in anderen Quellen erleichtert werden. Zitate aus den unübersetzten russischen Quellen sind von der Verfasserin ins Deutsche übersetzt worden.
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„Es war kein großer, sondern ein schrecklicher Krieg. Ein widerlicher Krieg. Er löschte unsere Seelen aus und machte uns grausam.“ Bulat Okudžava
Ein Duell mit der Lüge: Der Große Vaterländische Krieg in der russischen Nachkriegsprosa Als einziges Land hat Russland eine eigene Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg – der Große Vaterländische Krieg. Obwohl man den „eigenen“ Krieg im Rahmen des Zweiten Weltkriegs begreift, herrscht die Meinung vor, er sei selbstständiger Natur. Immer noch beginnt der Krieg am 22. Juni 1941. Die Kriegshandlungen bis 1941 gehören nicht zum eigentlichen Krieg gegen Nazi-Deutschland und sind im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent. Während in Deutschland der nationalsozialistische Krieg und die folgende Niederlage zum Symbol der Scham geworden ist (aber nicht zwangsweise der Schuld – hier war eher Auschwitz maßgebend), symbolisiert der Große Vaterländische Krieg und vor allem der Sieg in diesem Krieg Russlands Größe und die Einheit der Nation in schweren Zeiten. Die Erinnerung an den Krieg weckt Stolz- und nicht Schuldgefühle. Im Jahre 2003 nannten 87% der Befragten in einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts „Levada-Zentrum“ den Sieg im Zweiten Weltkrieg als Antwort auf die Frage „Worauf sind Sie persönlich in unserer Geschichte am stolzesten?“1 Die russische Erinnerung an den Krieg stand unter den prägenden Kräften des patriotischen Erlebens des Sieges einerseits und der spezifischen stalinistisch-imperialistischen Variante der sowjet-kommunistischen Ideologie andererseits. Bereits in den ersten 1
Gudkov, Lev: Die Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg. In: Osteuropa 55 (2005) 4-6, S. 61. 33
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Jahrzehnten nach Kriegsende gab es eine starke Diskrepanz zwischen Kriegserfahrung und Kriegsdarstellung. Die unmittelbare und persönliche Massenerfahrung des Krieges, die so wenig Heroisches enthielt, und die offizielle Darstellung klafften auseinander. Die unmittelbare Nachkriegszeit zeichnete sich nicht durch eine Bewältigung, sondern vielmehr durch die Abwesenheit des Krieges in der Öffentlichkeit aus – der Krieg erschien reduziert auf den triumphalen Sieg, mit dem sich der Generalissimus Stalin schmückte.2 Die Rote Armee repräsentierte „Massenheroismus“ trotz des anfänglichen Rückzugs. Stalins Fehler wurden nicht erwähnt. Die Kriegsverluste wurden heruntergespielt. Es gab keine Information über die Zahl der Kriegsgefangenen und derjenigen, die von den Deutschen aus den Reihen dieser Gefangenen rekrutiert wurden. Für viele Jahrzehnte blieben die Zahlen der sowjetischen Kriegsverluste geheim, abgesehen von der unrealistisch niedrigen Zahl von 7 Millionen, die Stalin 1946 erklärte. Seit 1959 war die Zahl von 20 Millionen offiziell anerkannt. Heute nimmt man 27 Millionen Kriegstote an, manche halten auch diese Ziffern für eine Unterschätzung.3 Lev Gudkov spricht davon, dass die Seite des Krieges, die nichts mit dem Sieg des sowjetischen Staates zu tun hatte, sondern mit Angst und menschlichem Leid, „in eine Art ‚Unterbewusstsein’ der Gesellschaft abgetaucht“ und zu einem „blinden Fleck“ der offiziellen Erinnerung geworden sei.4 Es sieht in der Tat so aus, wenn man auf die institutionelle, staatliche Ebene des Gedenkens blickt. Dabei existierte in der Sowjetunion eine Instanz, die privates, biographisches Erinnern „indirekt legitimierte“ und das ins Unterbewusstsein der Gesellschaft Abgetauchte an die Öffentlichkeit zurück brachte – Literatur.5 Da die meisten historischen Quellen über Jahrzehnte hinweg unzugänglich blieben, haben Literaten die Rolle der Historiker, Politologen und Philosophen übernommen und sich mit der Kriegsvergangenheit auseinandergesetzt. Literatur hat nicht nur die offizielle Geschichtsdeutung korrigiert, sondern auch im Wesentlichen zur Füllung der politisch vorgegebenen Lücken im Bewusstsein der Leser beigetragen. Deshalb möchte ich einen kurzen Überblick über die Prosawerke geben, die die Wahrnehmung des Krieges in 2 3
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Vgl. Tumarkin, Nina: The Living and the Dead. The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia. New York 1994, S. 99-105. Krivošeev, G.F. (Hrsg.): Grif sekretnosti snjat: poteri Vooruzennych Sil SSSR v vojnach, boevych dejstvijach i voennych konfliktach. Moskva 1993, S. 144. Gudkov, Lev: Die Fesseln des Sieges, S. 69. Vgl. Kukulin, Ilja: Schmerzregulierung. Zur Traumaverarbeitung in der sowjetischen Kriegsliteratur. In: Osteuropa 55 (2005) 4-6, S. 236. 34
DER GROßE VATERLÄNDISCHE KRIEG IN RUSSISCHER PROSA
der Sowjetunion und dem postsowjetischen Russland maßgeblich geprägt haben – vielleicht mehr als offizielle Reden, pompöse Paraden und monumentale Denkmäler.
Sowjetische Zensur und Literatur über den Krieg „Es gibt kein besonderes Problem der Kriegsliteratur, sie ist ein Teil des gesamten literarischen Prozesses. Man kann hier die These von Clausewitz anwenden: ,Die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln’. Wie diese Politik im gesamten literarischen Prozess agiert, so ist sie auch bezüglich der Kriegsprosa“,6 beschrieb Georgi Wladimow die Rolle der Kriegsliteratur in Russland und brachte dabei das besondere russische Phänomen auf den Punkt – die enge Verbindung zwischen Politik und Literatur. Besonders die sowjetische Periode war durch die beinahe totale Kontrolle des literarischen Prozesses durch die politische Macht gekennzeichnet. Die literarischen Werke, die in der Sowjetunion über den vergangenen Weltkrieg entstanden, wurden unter den Bedingungen des politischen Systems produziert, in dem die Institution der Zensur zu einem der mächtigsten Machtmechanismen avancierte. Sowjetische Literatur über den Krieg befasste sich im Grunde mit zwei Kriegen. Der erste Krieg begann am 22. Juni 1941, als die deutsche Armee die Sowjetunion überfiel, und endete am 9. Mai 1945. Der zweite Krieg hatte mit der Erfindung der Zensur begonnen, die zu einem untrennbaren Bestandteil des russischen literarischen Lebens schon lange vor der Revolution gehörte. Sowjetische Zensur war Zensur eines totalitären Staates, in dem alle Medien monopolisiert und zum Mittel der Staatspropaganda gemacht worden waren. Alles Unerwünschte war verboten, alles Erwünschte wurde zur „unwiderlegbaren Wahrheit“ erklärt. Die Zensur wurde nicht nur durch die spezielle Institution Glavlit7 ausgeführt, sondern auch durch viele andere Organe, vor allem die der Partei (spezielle Presseabteilung in der ZK, Mitglieder des Politbüros, ZK-Sekretäre, einschließlich des Generalsekretärs). Eine 6 7
Literatura i vojna. In: Znamja (2000) 5, S. 8. Glavlit, Hauptverwaltung für Fragen der Literatur und des Verlagswesens, wurde 1922 gegründet und war eine der wichtigsten Zensurbehörden in der Sowjetunion. Sie hatte den Auftrag, die Herstellung und Verbreitung von Presseerzeugnissen und allen anderen Druckwerken zu untersagen, die eine „Agitation gegen die sowjetischen Staatsorgane“ enthielten oder die „die öffentliche Meinung mit erfundenen Nachrichten beunruhigen“ konnten (Vgl. Položenie o glavnom upravlenii po delam literatury i izdatel´stva (GLAVLIT), 6 ijunja 1922). 35
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wichtige Rolle spielten hier auch die Geheimorgane, die besondere, speziell für Literatur zuständige Abteilungen hatten. Zensurmaßnahmen hatten einen vorbeugenden Charakter (kein literarisches Werk durfte ohne Erlaubnis des Zensors erscheinen) und einen strafenden (auch nach der Veröffentlichung konnte das Werk verboten werden und die „Schuldigen“ bestraft). Viele Zensuraufgaben übernahmen die freiwilligen Zensoren, oft Schriftsteller. Auch die Leser, freiwillige „Literaturkenner“, schrieben an entsprechende Instanzen und verlangten die Einhaltung des notwendigen „künstlerischen“, in erster Linie aber des ideologischen Niveaus. Eine Kontrolle über Literatur als Massenphänomen hatte in der russischen Literatur in einem solchen Umfang nie zuvor existiert. Ihre verhängnisvolle Konsequenz war nicht selten die Selbstzensur, d.h. Zensur der Werke durch den Autor, der ahnte, was Kritik wecken könnte, und versuchte, keinen Grund für solche Vorwürfe zu geben.8 Literatur über den Großen Vaterländischen Krieg wurde zu einer Zone besonderer Kontrolle seitens der Partei und zur Zone eines besonderen Risikos für die Autoren. Darin besteht ein entscheidender Unterschied zu der Lage der westdeutschen Schriftsteller und eine gewisse Ähnlichkeit zu der Situation der DDR-Autoren. Die gewünschten Themen in der Kriegsprosa waren Massenheldentum, unnachgiebiger Widerstand, die monolithische Einheit der Partei und des Volkes, die Unentschlossenheit der Alliierten, die positive Rolle der Parteiführung. Das Problem war jedoch, dass viele Schriftsteller nicht nur in der sowjetischen Vergangenheit nach Themen suchten, die für die Interpretation des Krieges relevant waren – etwa die Zwangskollektivierung und die Säuberungen der 30er Jahre – sondern sich mit hoch empfindlichen Inhalten beschäftigten, wie zum Beispiel Kollaboration, Völkermord an den Juden auf sowjetischem Boden, Verbrechen der Roten Armee in den letzten Kriegsmonaten, das Schicksal der „repatriierten“ Kriegsgefangenen, die strategischen Fehler der Militärelite. Das Kriegsthema war in der sowjetischen Literatur führend, sowohl was die Produktion als auch was die Popularität der Werke bei den Lesern betraf.9 Dies förderte auch die Zensur: In einer Gesellschaft des „siegreichen Sozialismus“, in der die „antagonistischen Widersprüche“ 8
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Mehr zur Geschichte der sowjetischen Zensur in der Studie des Professors für Literatur der Universität Tartu Pavel Reifman „Sovetskaja i postsovetskaja zensura“, URL: http://lepo.it.da.ut.ee/~pavel/sovet/ 01NCHL.htm, Stand 21.07.2007. Beljakov, Sergej: Avtomat v rukach rebenka: istoričeskaja pravda i mifologija vojny. In: Ural (2005) 5, URL: http://magazines.russ.ru/ural/ 2005/5/be19.html, Stand 6.2.2008. 36
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nicht mehr vorhanden waren, hatte ein Schriftsteller mit seiner Vorliebe für solch „riskante“ philosophische Gegenstände wie das Problem des Guten und des Bösen, der Loyalität und des Verrats, der tragischen Natur des Seins keinen Zufluchtsort. Das Kriegsthema gab eine gewisse Freiheit. Die wichtigste Frage war dabei nicht die nach Opfertum, Täterschaft und Verantwortung für den Krieg, wie sie in der deutschen Nachkriegsliteratur oft gestellt wurde, sondern die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Staat und dem Individuum, der Macht und den Menschen. Die Frage nach dem Wert eines menschlichen Lebens stand im Mittelpunkt der sowjetischen Kriegsprosa, und das Motiv der Freiheit des Individuums bekam dabei eine besondere Stellung. Eine der Eigenschaften der sowjetischen Zensur war ihre Unberechenbarkeit und Inkonsequenz – ein Phänomen, das für totalitäre Regime nicht untypisch ist, gar ein tragender Pfeil dieser Regime ist. Ein entscheidendes Merkmal jeder Diktatur ist Willkür ihrer ausführenden Organe. Willkürlich war auch die sowjetische Zensur, die selbst unter Stalin manche Kriegsdarstellungen „durchgehen“ ließ, in denen die dunklen Seiten der Geschehnisse nicht vertuscht oder beschönigt wurden.
Im Schatten Stalins: Kriegsprosa der unmittelbaren Nachkriegszeit Von grundlegender Bedeutung für das sowjetische Verständnis des Großen Vaterländischen Krieges waren zwei Erzählungen, die unmittelbar nach dem Krieg im Jahre 1946 erschienen sind. Sie widerspiegelten zwei diametrale Auffassungen vom Krieg, zwei verschiedene Erinnerungsperspektiven: offizielle und private. Die traditionelle Linie wurde von Boris Polevoj fortgeführt, der in seiner „Erzählung über einen wahren Menschen“ in der üblichen romantisch-pathetischen Manier mit der Gestalt des Piloten Meres´jev das Ideal eines leitbildhaften „positiven Helden“ entwarf.10 Dieses Werk erfüllte die Hauptforderungen an die Nachkriegsliteratur, die in der Verherrlichung des sozialistischen Staates und der Glorifizierung des Krieges bestanden. Der Gegenpol dazu war die Erzählung „In den Schützengräben von Stalingrad“ von Viktor Nekrasov, der unpathetisch die Grausamkeiten des Krieges aus der Perspektive eines selbst am Geschehen beteiligten Leutnants schilderte.11 Diese Erzählung prägte die ganze spätere Generation der Kriegsschriftsteller: Wenn Fedor Dostojewski im XIX. Jahrhundert von russischen Literaten sagte, sie sei-
10 Polevoj, Boris: Povest’ o nastojaščem čeloveke. Moskva 1947. 11 Nekrasov, Viktor: V okopach Stalingrada. Moskva 1947. 37
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en alle aus Nikolaj Gogols „Mantel“ hervorgegangen, sagten die Kriegsschriftsteller später, in den 60er Jahren des XX. Jahrhunderts, sie kämen aus den „Schützengräben“ von Nekrasov. Es war auch „das erste sowjetische Werk“, das Heinrich Böll nach dem Krieg kennen lernte: „Ich habe 1945 oder 1946 als erstes sowjetisches Werk den Kriegsroman „In den Schützengräben von Stalingrad“ von Nekrassow gelesen, ein eindrucksvolles Buch, weil es das Kriegserlebnis der sogenannten „anderen“ Seite – ich meine nicht der feindlichen Seite, ich habe die Sowjetunion nie als meinen Feind betrachtet – auf eine Weise schildert, die unserem Erlebnis sehr nahe war. Wir sind auch ungefähr gllichaltrig, es war auch eine Begegnung von Generationsgenossen.“12
Nekrasov verarbeitete seine eigenen Erfahrungen als stellvertretender Kommandeur eines Pionierbataillons. Beginnend mit dem deprimierenden, chaotischen Rückzug, schildert er detailliert den ganz gewöhnlichen Kriegsalltag in der Stalingrader Kampflinie: Minenlegen, Unterstände bauen, fehlgeschlagene Angriffe, Überleben in einem Granattrichter, Apathie und Abstumpfung angesichts des täglichen Sterbens und das wunschlose Glück über das spärliche Essen. Trotz Auszeichnung mit dem Stalin-Preis wurde der Autor von einer dogmatischen Kritik sofort angegriffen. Man warf Nekrasov seine eingeschränkte Perspektive vor. Aber gerade diese „Schützengrabenwahrheit“ – die Besonderheit und Stärke dieses Buches – machte seine Wahrhaftigkeit aus. Die Perspektive des einfachen Soldaten, die viele westdeutsche Schriftsteller in ihren Werken benutzten, um sich der Frage nach der Schuld zu entziehen, diente ihren russischen Kollegen dafür, den Staat mit seiner verordneten Heroisierung des Krieges anzuklagen. Der Konflikt bekommt in Nekrasovs Erzählung einen ethischen Charakter und wird ins Innere der sowjetischen Gesellschaft verschoben. Der Hauptwiderspruch verläuft zwischen den Schönrednern, die sich vor allen Verpflichtungen hinter den „richtigen Phrasen“ verstecken, und den Schweigsamen, die ohne schöne Worte ihr Blut vergießen; zwischen den Karrieristen, die bereit sind, Soldatenleben für Beförderungen zu opfern, und den Offizieren, die ihre Würde bewahren. Die sozialistische Ideologie und die Partei kommen in der Erzählung nicht vor, es fehlt auch jede Spur von heroischem Pathos. Stalin taucht ganz nebenbei in solch einem Zusammenhang auf:
12 Böll, Heinrich/Vormweg, Heinrich: Ein Gespräch über die Literatur der Sowjetunion. In: Lindemann, Gisela (Hg.): Sowjetliteratur heute. München 1979, S. 12. 38
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„[...] und dann kriechen wir ins Erdloch. Hier ist ein Ofen, ein Tisch mit gekürzten Beinchen und zwei Stühle. [...] Die Lampe aus einer oben zusammengedrückten Kartuschenhülse qualmt. An der Wand hängt ein Kalender mit angestrichenen Daten, eine Aufstellung der Rufzeichen, ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Bild Stalins und noch das eines jungen Mannes mit lockigem Haar und offenem, sympathischem Gesicht. „Wer ist das?“ Karnauchov, der meinen Blick aufgefangen hat, wird verlegen. „Jack London“. „Jack London?” Karnauchov steht gegen das Licht. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber an seinen durchscheinenden Ohren sehe ich, dass er rot geworden ist. „Warum denn plötzlich Jack London?“ „Einfach so... Ich achte ihn... Wollen Sie Milch?“ „Milch? Hier? Woher?“ „Kondensierte... amerikanische. Die Jungs haben sie beschafft.“ Mit großem Genuss lecke ich den Löffel mit der dicken, übermäßig süßen Milch ab. [...]“13
Es ist erstaunlich, dass diese unideologische Auseinandersetzung mit dem Krieg in der stalinistischen Sowjetunion erscheinen konnte, wo offiziell die reglementierte Heroisierung des mustergültigen, makellosen und auch physisch unüberwindlichen positiven Helden galt, wie in der oben erwähnten Erzählung von Boris Polevoj. Im gleichen Jahr 1946, als die Zeitschrift „Znamja“ Nekrasovs Erzählung druckte, wurde die Entwicklung der Literatur über den vergangenen Krieg durch den Beschluss der ZK „Über die Zeitschriften Zvezda und Leningrad“ unterbrochen. Neben der heftigen Kritik an den Leningrader Dichtern Anna Achmatova und Michail Zoščenko, wurden darin die Rahmenbedingung des literarischen Schaffens festgelegt: „Die Kraft der sowjetischen Literatur, der fortschrittlichsten Literatur in der Welt, besteht darin, dass sie keine anderen Interessen hat und haben kann, außer den Interessen des Volkes und des Staates.“14 Wie hart die Abweichungen vom verordneten Kanon bestraft wurden, bezeugen das traurige Schicksal von Alexander Fadeev, der seinen Roman „Die junge Garde“15 umschreiben musste, und die Attacke auf Vasilij Grossman 13 Nekrassow, Viktor: In den Schützengräben von Stalingrad. Berlin 1948, S. 160. 14 Postanovlenije orgbjuro ZK BKP(b) o žurnalach „Zvezda“ i „Leningrad“ vom 14.08.1946, URL: http://www.hist.msu.ru/ER/Etext/USSR/ journal.htm, Stand 2.11.2007. 15 Fadeev, Aleksandr: Molodaja gvardija. Moskva 1946; überarbeitete Variante: Fadeev, Aleksandr: Molodaja gvardija, Moskva 1951. 39
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wegen der Veröffentlichung des Romans „Für die gerechte Sache“ (deutsch 1958 unter dem Titel „Wende an der Wolga“ in der DDR erschienen), deren mögliche Verschärfung dem Schriftsteller nur durch Stalins Tod erspart blieb. Bis heute bleibt der Roman „Die junge Garde“ eines der beliebtesten literarischen Werke der russischen Leser über den Großen Vaterländischen Krieg.16 Der Roman erzählt die Geschichte einer Widerstandsgruppe von jungen Schülern in der ostukrainischen Stadt Krasnodon während der deutschen Besatzung. Die Gruppe wird entdeckt, die meisten Mitglieder nach Folter von den Besatzern hingerichtet. Der Roman im Kanon des sozialistischen Realismus, der jedoch durch eine lebendige Sprache und unübliche Romanfiguren beeindruckte, wurde zunächst begeistert von der Kritik aufgenommen. Im Jahre 1946 bekam Fadeev den Stalin-Preis, doch nach einiger Zeit rief sein Werk Stalins Kritik hervor, die auf die eigentliche Stärke des Romans zielte – Fadeevs Bemühen, die innere Aufrichtigkeit und Natürlichkeit des Gefühls der Selbstaufopferung der jungen Leute zu zeigen. Stalin fand, dass im Roman die führende Kraft der Partei nicht angesprochen wurde, was er als einen groben Fehler betrachtete. Fadeev folgte der „Direktive“ und schrieb sein Werk um. Vor allem die Szenen des Rückzugs der Roten Armee und der panischen Flucht der Bevölkerung wurden geändert, Ausdrücke wie „Massen von Flüchtlingen“, „vollgestopfte Strassen“ wurden gestrichen. Der Rückzug verläuft in der zweiten Romanfassung organisiert, beinahe feierlich. Alles ist vorgesehen und durchdacht. Die Darstellung der Rolle der Parteivertreter und des Parteiuntergrunds wurde eingeführt, es waren jetzt Kommunisten, die die Handlungen der Junggardisten bestimmten. In dieser geänderten Fassung erschien der Roman erneut im Jahre 1951, kurz danach erhielt Fadeev den LeninPreis. Fünf Jahre später, nach dem XX. Parteitag und der Stalin-Kritik in Chruschtschows Geheimrede, nahm sich der Schriftsteller das Leben. Ein Grund war mutmaßlich sein Gefühl, dass er ein tragender Pfeiler des stalinistischen Systems war – an nicht wenigen Diffamierungen seiner Schriftstellerkollegen nahm Fadeev teil, unter anderem auch an der antisemitischen Hetzjagd gegen Grossman und seinen Roman „Für die gerechte Sache“.17 Grossmans Roman ist ein makellos patriotisches Buch über Menschen, deren Taten und Gedanken dem kämpfenden Stalingrad gewidmet sind, und über die Unbesiegbarkeit des Volkes, das für eine 16 Siehe die Umfrage der Zeitung „Novye izvestija“: Bakanov, Konstantin: Zori vse ešče tichie. In: Novye Izvestija vom 5.05.2006, URL: http://www.newizv.ru/news/2006-05-05/45860/, Stand 2.11.2007. 17 Grossman, Vasilij: Za pravoe delo. Moskva 1954. 40
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gerechte Sache kämpft. Es kam durch alle Zensurinstanzen und wurde dennoch kurz vor der Veröffentlichung für ideologisch schädlich erklärt. Zu real und zu dunkel seien die Schwierigkeiten des Lebens der Bevölkerung in Stalingrad unter Kriegsumständen geschildert. Stalin werde fast gar nicht erwähnt. Noch verheerender sei aber die Tatsache, dass das jüdische Thema bei Grossman so viel Platz einnehme: eine der Hauptfiguren, der Physiker Strum, ist Jude; eine andere wichtige Protagonistin, die Ärztin Sofja Levinton, ist auch Jüdin. Sie stirbt in der Gaskammer mit dem von ihr „adoptierten“ kleinen Jungen David. Vor dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus in der Sowjetunion unter Stalin sowie des Prozesses gegen Kreml-Ärzte, überwiegend Juden, war das Thematisieren des nationalsozialistischen Völkermords an den Juden nicht erwünscht. Der andere Grund zur Hetze bestand darin, dass Grossman sich unsanktionierte allgemeine Aussagen erlaubt hatte. „Für die gerechte Sache“ beinhaltet bereits das Potential der antitotalitären Philosophie des Hauptwerkes Grossmans, „Leben und Schicksal“. So überlegt der deutsche Intellektuelle Lunz: Ich arbeite in einem Betrieb... Über den Werkbänken hängen riesige Plakate: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Manchmal denke ich darüber nach. Warum bin ich – nichts? Bin ich denn kein Volk? Und du? Unsere Zeit liebt allgemeine Formulierungen, ihre scheinbare Tiefe wirkt wie eine Hypnose. Eigentlich ist es Quatsch. Ein Volk! Diese Kategorie benutzt man bei uns, um den Menschen zu sagen – das Volk ist außerordentlich weise, aber nur der Reichskanzler weiß, was das Volk will: Es will Entbehrungen, Gestapo und einen Eroberungskrieg.18
Der Autor entlarvt die Natur des totalitären Staates, was sich für einen Schriftsteller unter Stalin nicht gehörte. Nur der Tod des Diktators im März 1953 rettete Grossman vor weiteren Übergriffen. Für ihn bedeutete das aber nur Ruhe vor dem eigentlichen großen Sturm.
Blütezeit sowjetischer Kriegsliteratur: „Leutnantsprosa“ und „Schützengrabenwahrheit“ Erst das sogenannte „Tauwetter“, das mit der zur Entmythologisierung Stalins führenden Geheimrede des neuen Ersten Sekretärs der KPdSU Nikita Chruschtschow 1956 auf dem XX. Parteitag einsetzte, ermöglichte besonders im Bereich der Literatur und Filmkunst die thematische Ausweitung auf die wirklichen Probleme des Krieges. Diese Periode war 18 Grossman, Vasilij: Za pravoe delo, S. 364. 41
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zwar durch eine gewisse Zensurlockerung gekennzeichnet, frei von ideologischen Vorschriften waren die Literaten jedoch bei weitem nicht. Einerseits wurde die Publikation der Lager-Erzählung „Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič“ (1962) von Alexander Solschenizyn von Chruschtschow persönlich erlaubt und gefördert, andererseits begann eine öffentliche Hetzjagd auf Boris Pasternak wegen der Veröffentlichung des Romans „Doktor Schiwago“ (1957) und der Verleihung des Literaturnobelpreises an den Autor (1958). Es waren die 60er Jahre, in denen die Menschen in die Vorlesungsräume der Hochschulen drängten, um Gedichte junger, origineller Dichter wie Evgenij Evtušenko, Bella Achmadulina und Andrej Voznesenskij zu hören. Es waren die gleichen 60er Jahre, in denen unkontrollierte und non-konforme schriftstellerische Tätigkeit hart bestraft wurde: Im Jahre 1963 wurde der Leningrader Dichter Josef Brodskij als „Nichtstuer“ zu fünf Jahre Verbannung verurteilt (unter dem Druck der Öffentlichkeit konnte er nach anderthalb Jahren zurückkehren). Die „Tauwetter-Periode“ brachte den Durchbruch für die Kriegsprosa: Eins nach dem anderen erschienen qualitativ anspruchsvolle Werke über den Krieg, die nicht den Staat und die Partei, wie vorgeschrieben, sondern den Menschen in den Vorderund der Darstellung brachten, wie die Novelle „Ein Menschenschicksal“ von Michail Šolochov, die im Zentralorgan der KPdSU „Pravda“ zur Jahreswende 1956-1957 veröffentlicht wurde.19 In seiner traditionellen Erzählung im Kanon des sozialistischen Realismus schildert Šolochov das Schicksal eines „einfachen sowjetischen Menschen“, der in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. Dieses Thema bedeutete einen Tabubruch, da Kriegsgefangene generell als „Verräter“ betrachtet wurden und nicht würdig, als Hauptfiguren eines literarischen Textes gezeigt zu werden. Das Grauen der deutschen Gefangenlager erträgt der Protagonist Andrej Sokolov mit großer Würde und Kraft, bevor ihm nach Jahren ein Fluchtversuch gelingt. Bei Kriegsende erfährt er, dass seine Frau, seine Töchter und sein Sohn ums Leben gekommen sind. Nach dem Krieg begegnet Sokolov zufällig dem Waisenjungen Vanja, den er adoptiert. Beide lernen, sich in der Friedenszeit zurechtzufinden und den Krieg zu vergessen. Sokolov wird in der Novelle als ein Mensch gezeigt, dessen Leben nicht durch abstrakte politische Begriffe wie „Volk“ und „Vaterland“ bestimmt ist, sondern durch menschliche Kategorien wie Haus, Familie und Kinder. Der Soldat Sokolov kämpft nicht für Stalin oder die Partei, sondern für seine Familie und seine „kleine“ Heimat. Er ist ein Mensch,
19 Šolochov, Michail: Sud´ba čeloveka. Moskva 1964. 42
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der Angst und Verzweiflung erlebt hat und dessen Leben vom Krieg zerstört wurde. Dennoch bewahrt er seine menschliche Würde und die Hoffnung. Das Neue der Novelle Šolochovs bestand in dieser Rückkehr zu den „persönlichen“ Werten. Dieser Linie folgten auch andere Autoren. In der Anfangsphase des „Tauwetters“ meldete sich besonders intensiv eine Schriftstellergeneration zu Wort, die ihre Jugendjahre als Frontsoldaten oder Unteroffiziere verbracht hatte. Ihre Schreibweise wurde häufig als „Leutnantsprosa“ oder „Schützengrabenwahrheit“ bezeichnet, da die Autoren die Kriegsrealität aus dem Schützengraben und nicht aus dem Stab gesehen hatten. Es waren Schriftsteller wie Grigorij Baklanov, Konstantin Vorob´ev, Jurij Bondarev, Bulat Okudžava und Boris Balter.20 Eine wichtige Frage für viele Literaten dieser Generation war, wie es dazu kommen konnte, dass nach dem deutschen Überfall die feindlichen Truppen so schnell bis Leningrad und Moskau vorgestoßen sind und dass in den ersten Kriegsmonaten ca. zwei Millionen sowjetischer Armeeangehöriger in deutsche Gefangenschaft geraten waren. Die Handlung dieser Werke spielt charakteristisch in den unglückseligen ersten Monaten des Krieges. Die Autoren zeigen junge Soldaten in Situationen der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Statt Idealisierung oder übertriebenen Heldentums findet man in diesen Werken einen sehr starken moralischen Impetus. Die kritischen Autoren distanzierten sich demonstrativ vom flachen Heroismus der offiziellen sowjetischen Deutung des Krieges. Die Kritik ließ nicht auf sich warten: Der „Leutnantsprosa“ wurde vorgeworfen, unwichtige und zufällige Details hervorzuheben – jemand wird verwundet, jemand fällt im Kampf, eine Attacke der Deutschen wird abgewehrt. Der große Krieg wäre aber anders gewesen, und die tatsächliche Wahrheit könnten diese Leutnants aus dem „Schützengraben“ gar nicht erkennen. Später fügte man andere Herabsetzungen hinzu, wie z.B. „Remarquismus“, „abstrakter Humanismus“ und „Entheroisierung“.21 Was störte die sowjetische Kritik an diesen Fronterzählungen? Grigorij Baklanov zum Beispiel schildert in „Südlich vom Hauptangriff“ (1958) die Einkesselung und den sinnlosen Tod einer Militär-
20 Zwischen 1957 und 1963 entstanden die meisten „Klassiker“ sowjetischer Kriegsprosa: Jurij Bondarevs „Die Bataillone bitten um Feuer“ (1957) und „Die letzten Salven“ (1959); Grigorij Baklanovs „Ein Fußbreit Erde“ (1959), „Südlich des Hauptangriffs“ (1957) und „Die Toten schämen sich nicht“ (1961); Boris Balters „Auf Wiedersehen, Jungs!“ (1961), Konstantin Vorobjews „Gefallen bei Moskau“ (1963) und „Schrei“ (1962). 21 Lazarev, Lazar’: Okopnaja pravda. In: Družba narodov (2005) 6, URL: http://magazines.russ.ru/druzhba/2005/6/ll14.html, Stand 6.02.2008. 43
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einheit in Ungarn im Frühjahr 1945.22 Die Darstellung verlustreicher Kämpfe lokaler Bedeutung im siegreichen Jahr 1945 weicht eindeutig von der eigentlichen Aufgabe der sowjetischen Kriegsliteratur ab, „den siegreichen Kampf gegen die Faschisten“ darzustellen und „das Heldentum des russischen Volkes“ zu rühmen. Auch der Stil war sehr realistisch und der Blick des Autors nicht auf das Gesamtpanorama der heroischen Siege und der strategischen Klugheit der sowjetischen Befehlshaber gerichtet, sondern auf das soldatische Kochgeschirr mit Brei darin. Die Hauptfigur Beličenko ist auch kein „richtiges“ Vorbild: Er entspricht nicht den sowjetischen Moralvorstellungen und unterhält eine Affäre mit der Krankenschwester Tonja, er kümmert sich nicht um eine Heldentat, sondern darum, die Leben seiner Soldaten zu retten. Diese menschenzentrierte Schilderung erregte eine heftige Kritik am „groben Naturalismus“, der „Unterschätzung der Rolle der Massenorganisationen in der Armee“, der „Entheroisierung“, dem „Schmälern der großen Heldentat des sowjetischen Soldaten-Befreiers“ und an der „engen Sicht auf die Ereignisse der Weltbedeutung“.23 Schriftsteller, die nach Meinung der Partei zu weit gingen, wurden des „Remarquismus“ beschuldigt. Das bedeutete „ideologische Abweichung, Fälschung und sogar eine verleumderische Falschdarstellung des großen Opfers, das vom Volk gebracht wurde“.24 Dieses Etikett wurde auch als ein Synonym für die Gefährdung „der patriotischen Erziehung der Jugend“ gebraucht, weil diese Literatur „das Gefühl des Stolzes auf die ruhmreiche Vergangenheit“ verhinderte.25 Der Schriftsteller und Chansonier Bulat Okudžava beschreibt in seiner Novelle „Mach’s gut, Schüler!“ (1961) die völlige Verwirrung eines Jungen, der von den Schrecken des Krieges überrumpelt wird.26 Dieses Werk ist alles andere als ein erhabenes Märchen vom sowjetischen Heroismus. Der Krieg bedeutet für Okudžavas Schüler Gefahr und nicht, wie für den Flieger Meres´ev aus der „Erzählung über einen wahren Menschen“ von Boris Polevoj, Triumph und neues Leben. Er erlebt den Krieg aus seiner persönlichen, naiven Sicht, gesteht sich ehrlich ein, dass er der Bedrohung hilflos gegenüber steht und weiß, der 22 Baklanov, Grigorij: Južnee glavnogo udara. Moskva 1959. 23 Vgl. Leiderman, Naum/Lipowetzkij, Mark: Russkaja sovremennaja literatura v 2 tomach (tom 1). Moskva 2006, S. 175. 24 „[…] ideological deviation, falsification and even slanderous misrepresenttation of the great sacrifice made by the people […] ”. Ellis, Frank: Vasiliy Grossman: the Genesis and Evolution of a Russian Heretic. Providence and Oxford 1994, S. 36. 25 „[…] the feeling of the pride in the past full of fame […] ”. Ebd. 26 Okudžava, Bulat: Bud’ zdorov, školjar! Moskva 1987. 44
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Krieg kann das Ende aller Wünsche und Zukunftserwartungen bedeuten: „Aus mir kann doch im Leben noch was werden. Helft mir! Es ist doch lachhaft, einen Menschen umzulegen, der noch nicht dazu gekommen ist, etwas zu lernen. Ich habe noch nicht einmal die zehnte Klasse beendet“.27 Der Feind wird von den Autoren des „Tauwetters“ nicht einheitlich als Verbrecher und Bestie dargestellt, sondern differenziert als Individuum mit persönlichen Gedanken und Empfindungen gezeigt. Die Behandlung des Deutschen als Individuum schließt auch die Frage nach seiner Schuld am Krieg mit ein. Beispielsweise steht in Georgij Baklanovs Erzählung „Die Toten schämen sich nicht“ (1961) die historische Verantwortung der Deutschen als Kollektiv außer Frage; die Schuld des Einzelnen ist jedoch nicht so einfach auszumachen, wie etwa jenes Deutschen, der zwei russische Soldaten im Kellerloch eines Hauses entdeckt, sie aber verschont: „Der Krieg wird zu Ende gehen, gut. Im großen und ganzen ist die Sache klar, wer da Recht hat, wer Schuld, aber der Einzelne, wie zum Beispiel dieser Deutsche, der uns freigelassen hat, wie, denkst du, wird man sich nach dem Krieg über jeden Klarheit verschaffen können, über jeden?“28 Auch in Vasil´ Bykovs Erzählung „Die dritte Leuchtkugel“ (1962) ist der Wandel in der Betrachtung des Feindes sichtbar. Dem Helden Lasnjak, dessen Kampfeskraft zu Beginn der Handlung durch Rachgier bestimmt wird, kommen zum Schluss Zweifel: als er einen halbverbrannten deutschen Soldaten langsam sterben sieht, will er in ihm zunächst noch den Schuldigen an seiner eigenen Tragödie sehen, bis ihm zufällig ein Foto in die Hände fällt, das den Deutschen mit seiner alten Mutter zeigt. Die Rückseite der Photographie trägt eine Anschrift der Mutter mit der Mahnung an den Sohn, vorsichtig zu sein, da er weder seinem Offizier noch seinem General, sondern nur ihr allein gehöre. Dies macht Lasnjak nachdenklich: „Seltsam, aber noch nie habe ich daran gedacht, dass mein Feind auch eine Mutter haben könnte, eine bekümmerte ältere Frau, die sich nun so überraschend zwischen uns stellt.“29 Wenngleich manche Tabus gebrochen wurden, war die Freiheit während dieses „Tauwetters“ keineswegs grenzenlos. Dass Vasilij Grossmans 1960 vollendeter Roman „Leben und Schicksal“ in der Sowjetunion erst 1988 erscheinen durfte, ist dafür nur ein Beleg. Das Manuskript dieses Werkes – einer gewaltigen Gesamtdarstellung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts – wurde 1961 vom KGB beschlagnahmt. Grossman starb drei Jahre später, ohne jede Hoffnung, das Werk 27 Okudžava, Bulat: Bud’ zdorov, školjar! S. 10. 28 Baklanov, Grigorij: Mertvye sramu ne imut. In: Znamja (1961) 6, S. 17. 29 Bykov, Vasil´: Tret´ja raketa. In: Družba narodov (1962) 2, S. 68. 45
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seines Lebens je veröffentlicht zu sehen. Eine Kopie des Buches ist von seinen Freunden in den Westen geschmuggelt worden und erschien 1980 in französischer Übersetzung in der Schweiz. Der Weg Vasilij Grossmans vom Roman „Für die gerechte Sache“ (1952) zum „Leben und Schicksal“ war ein Weg der Abkehr vom sowjetisch-patriotischen Bewusstsein hin zur vollen Befreiung von der sowjetischen Mythologie zugunsten einer umfangreichen Analyse des Totalitarismus. „Leben und Schicksal“ ist ein Roman, in dem Menschen und Lebenssituationen als Argumente und als Überprüfung der Ideen über die Gründe der historischen Katastrophen im 20. Jahrhundert dienen. In verschiedenen Kriegssituation und Menschenschicksalen im Krieg sah Grossman die Fortsetzung des Konflikts zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen einzelnen Individuen und einem despotischen Staat. Er erkannte eine Spaltung dort, wo man einen Monolithen sah. Er zeigte, dass die einen gegen den Feind für die Befreiung vom Zwang nach dem Sieg kämpfen, und die anderen, „an Macht, Essen, Orden“ gewöhnt, für den Erhalt ihrer Macht und Privilegien. Grossman analysierte mit prägnanter Genauigkeit das Funktionieren eines totalitären Systems und zog Vergleiche zwischen dem national-sozialistischen und dem stalinistischen Regime. Im Gespräch mit dem alten Bolschewik und KZHäftling Mostowskoj sagt der SS-Obersturmbannführer Liss: „Wenn wir einander ins Gesicht schauen, schauen wir nicht nur in ein verhasstes Gesicht, sondern in einen Spiegel [...] Unser Sieg ist auch Euer Sieg.“30 Das Hauptthema des Romans ist der Kampf um Freiheit im doppelten Sinne: Freiheit von der deutschen Aggression und Freiheit im eigenen Land, Freiheit des Individuums. „Čechov sagte: Gott soll zur Seite treten, alle diese sogenannten großen fortschrittlichen Ideen sollen zur Seite treten, fangen wir beim Menschen an, seien wir freundlich, aufmerksam gegenüber dem einzelnen Menschen, wer auch immer er sei – ein Bischof, ein Bauer, ein Wirtschaftsmagnat, ein Zuchthäusler auf der Sachalin-Insel oder ein Kellner in einem Restaurant. Fangen wir damit an, dass wir einen Menschen respektieren, mit ihm Mitleid haben, ihn lieben; denn ohne dies klappt bei uns nichts“,31 spricht Grossman durch seinen Protagonisten Mad’jarov sein Hauptanliegen aus. In Stalingrad, am wichtigsten Schauplatz der Romanhandlung, an diesem Platz des Sterbens, gibt es einen Moment der Freiheit und der Erkenntnis wie nirgends und nie in der „Gesellschaft draußen“. Endlich – wie scheinbar paradox! – treffen Sowjetbürger nicht auf den Spuk ausgedachter Volksfeinde, Diversanten und Spione, mit denen ein von
30 Grossman, Vasilij: Žisn´ i sud´ba. Moskva 1988, S. 370, 372. 31 Ebd., S. 265. 46
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Panik gepacktes Regime die Bevölkerung terrorisiert hatte, sondern auf wirkliche Feinde. Stalingrad ist jener Moment der Klarheit, der schon bald wieder verdunkelt werden wird. Ein anderes wichtiges Thema in „Leben und Schicksal” ist der Judenmord. Grossman glaubte, dass Antisemitismus sehr deutlich die gesellschaftlichen Probleme reflektiert: „Antisemitismus ist ein Spiegel der Mängel einzelner Menschen, Gesellschaftsordnungen und Staatssysteme. Sag mir, wessen du die Juden beschuldigst, und ich sage dir, wessen du selbst schuld bist.“32 Grossman war Jude, wie auch die Hälfte der Bevölkerung seiner Heimatstadt Berdičev in der Ukraine. Seine Mutter wurde 1941 von den SS-Einsatzkommandos ermordet, die hinter der nach Osten vorstoßenden Sechsten Armee wüteten. Der Judenmord auf sowjetischem Boden war eines der größten Tabus in der Sowjetunion (unter anderem, weil so viele Sowjetbürger als Hilfswillige bei der Judenvernichtung mitgewirkt haben), obwohl schätzungsweise knapp anderthalb Millionen Shoah-Opfer sowjetische Staatsbürger waren. Der „rassenbiologisch“ motivierte Massenmord der Nationalsozialisten wurde als Vernichtung „friedlicher sowjetischer Bürger“ dargestellt. Nicht nur beschrieb Grossman die Geschichte seiner Mutter und anderer Juden in „Leben und Schicksal“. Er hat auch als Kriegsberichterstatter für die Zeitschrift „Roter Stern“ 1944 an der Befreiung des Vernichtungslagers Treblinka teilgenommen. Daraufhin entstand die Erzählung „Die Hölle von Treblinka“, einer der ersten Berichte, die in Europa über ein Vernichtungslager veröffentlicht wurde.33 Später verfasste Grossman zusammen mit Ilja Erenburg ein „Schwarzbuch“ über die NS-Verbrechen an Juden, das in der Sowjetunion nicht gedruckt werden durfte.34 Im Jahre 1966 erschien in der Zeitschrift „Junost“ („Jugend“) Anatolij Kuznecovs stark zensierter dokumentarischer Roman „Babij Jar“, der die Tragödie der Kiewer Juden dokumentierte.35 Etwa 30 000 Juden wurden in drei Tagen in der Schlucht von Babij Jar nahe Kiew erschossen, insgesamt wurden während des Krieges in Babij Jar 150 000 Menschen von den Deutschen ermordet. Kuznecov emigrierte 1969 nach Großbritannien und nahm einen Mikrofilm mit der Originalversion seines Buches mit, das 1970 unzensiert veröffentlicht wurde. Dabei konnte 32 Grossman, Vasilij: Žisn´ i sud´ba, S. 453f. 33 Grossman, Vasilij: Die Hölle von Treblinka. Moskau 1946. Das Buch wurde für die Anklage im Nürnberger Prozess verwendet, danach wurde es nie wieder in der Sowjetunion verlegt. 34 Grossman, Vasilij/ Erenburg, Il´ja: Černaja kniga. Kiev 1991. Die erste Veröffentlichung erfolgte 1980 in Israel, in Russland erst im Jahre 1993. 35 Kuznecov, Anatolij: Babij Jar. Roman-dokument. New York 1986. 47
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man klar die Stellen erkennen, die vom sowjetischen Zensor markiert worden waren, da sie ein schlechtes Licht auf die Rote Armee oder die Zivilbevölkerung hätten werfen können. Diese enthalten sowohl Beschreibungen wie Kannibalismus oder der aktiven Unterstützung der deutschen Todeskommandos durch antisemitische Kiewer als auch viele politische Tabubrüche wie die Darstellung des Hitler-Stalin-Pakts, des warmen Willkommens, mit dem die Zivilbevölkerung die deutsche Wehrmacht empfangen hat, und, das Schlimmste, die Parallelen zwischen Hitler und Stalin, die man auch bei Grossman findet. „Als Illustration eines umfassenden Tabubruchs und Demonstration der Realitäten der Zensur hat Kuznecovs Buch nur wenige Rivalen, wenn überhaupt“,36 schreibt Arnold McMillin. Als Anstoß diente Kuznecov das 1961 veröffentlichte Gedicht von Evgenij Evtušenko „Babij Jar“, das später von Dmitrij Schostakovitsch in der 13. Symphonie seinen musikalischen Ausdruck fand. Chruschtschow verurteilte Evtušenkos „Babij Jar“: „[…] als ob nur Juden die Opfer faschistischer Grausamkeiten gewesen wären, während die Schlächter Hitlers doch viele Russen, Ukrainer und sowjetische Menschen anderer Nationalitäten ermordet haben.“37 Die Konfiszierung des Manuskripts von „Leben und Schicksal“ durch den KGB und die Kürzung des Romans von Kuznecov bedeutete das Verschwinden der Shoah-Problematik aus der sowjetischen Literatur bis zum Ende der Sowjetunion. Die epische Trilogie von Konstantin Simonov „Die Lebenden und die Toten“ entging diesem Schicksal, obwohl auch Simonov eine von der offiziellen Interpretation abweichende Kriegsdarstellung bot. Simonov war zur Zeit der Publika-tion einer der einflussreichsten Autoren im sowjetischen Schriftstellerverband, der, ähnlich wie Grossman, im Krieg als Korrespondent des „Roten Sterns“ gearbeitet hatte. Auf der Grundlage seiner Kriegserfahrung brach er mit dem Mythos von der Einigkeit der sowjetischen Bevölkerung im Kampf gegen den Feind, von durchdachten und gerechtfertigten Militäroperationen der Jahre 1941 und 1942. Der Politoffizier Ivan Sincov, der bei Kriegsausbruch an die Front fährt, wird Zeuge der Panik, des Chaos und der Verzweiflung der Bevölkerung und der Rotarmisten. Obwohl der Autor kritische Fragen entschärft, weckt er 36 „As an illustration of comprehensive taboo-breaking and demonstration of the realities of censorship, Kuznetsov’s novel has few, if any rivals.” McMillin, Arnold: The Second World War in Official and Unofficial Russian Prose. In: Higgins, Ian (ed.): The Second World War in Literature. Edinburgh-London 1986, S. 22f. 37 Zit. in: Scherrer, Jutta: Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung. In: Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 2. Mainz 2004, S. 637. 48
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bei seinem Leser Zweifel an der „Genialität“ und „Weisheit“ der „Führung“. Zwei Fragen werden von Simonov aufgeworfen: Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen und warum hat es so lange gedauert, den Sieg zu erringen? Die Antworten fallen antistalinistisch aus. Stalin wird der Vorwurf gemacht, eine Atmosphäre des Misstrauens und der Angst verbreitet zu haben, was an der Figur Sincovs deutlich wird, der in deutsche Gefangenschaft gerät, sich wieder zu den Russen durchschlägt, aber Mühe hat, den Behörden seine Identität zu beweisen. Zweitens wird am Beispiel von General Serpilin, den Stalin wegen seiner Warnungen vor der Stärke der deutschen Truppen ins Lager gesteckt hatte, gezeigt, dass die Sowjetunion 1941 kaum noch über fähige Generäle verfügte. Nicht unbedeutend war Simonovs Analyse des Personenkultes, dessen Ursprung der Autor in der Bereitschaft vieler Menschen sah, in einer Gemeinschaft, einem „Schwarm“ aufzugehen, der Wunsch, „wie alle“ zu denken und zu fühlen. Wenn die Suche nach Wahrheit den Glauben an die Macht erschüttern kann, wird der Glaube bevorzugt, um das psychologische Gleichgewicht zu bewahren und die zerstörerischen Zweifel zu vermeiden. „Die Hierarchie der historischen Werte entspricht bei Simonov dem sozialistischen Realismus: Das Wichtigste ist, das Land, den Staat, das politische System aufrecht zu erhalten. [...] Jedoch kennzeichnete die Trilogie „Die Lebenden und die Toten“ eine neue Wendung des epischen Konfliktes in der Literatur des sozialistischen Realismus – die Fokussierung auf dramatische Beziehungen zwischen dem Volk, dem Individuum und dem historischen Prozess.“38
Imperium versus Individuum: Deutungskampf in der Ära Breschnew Der Machtwechsel im Kreml 1964 bedeutete auch ein Ende für alle „Lockerungen“ des „Tauwetters“ Ende der 50er - Anfang der 60er Jahre. Breschnews Politik zielte vor allem auf Konservierung des Status Quo. Alle Versuche innerhalb und außerhalb des Landes, den existierenden status quo in Frage zu stellen, wurden unterdrückt, nicht zuletzt mit äußerst repressiven Methoden, wie die Erfahrung der Tschechoslowakei im August 1968 demonstriert hat. Die Breschnew-Ära war jedoch nicht nur die Zeit der Stagnation, sondern auch die Zeit eines intensiven Widerstandes gegen das Regime. 38 Leiderman, Naum/Lipowetzkij, Mark: Russkaja sovremennaja literatura (tom 1), S. 204. 49
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Eine wichtige Rolle dabei spielten Literatur und Literaten. Die Geburtstunde der sowjetischen Dissidentenbewegung war der Prozess gegen zwei Schriftsteller, Andrej Sinjavskij und Julij Daniel, die wegen der Veröffentlichung ihrer satirischen Werke im Ausland verhaftet und verurteilt wurden. Diese Ereignisse teilten die Schriftsteller in zwei Lager: Die Regimetreuen und die Nonkonformisten, die es für die Pflicht jedes Literaten hielten, der Tradition der russischen Literatur zu folgen und sich für die Verfolgten einzusetzen. So fand sich Michail Šolochov, der Autor von „Ein Menschenschicksal“ und Literaturnobelpreisträger, im Lager der ersten, während Schriftsteller wie Lev Kopelev, Bulat Okudžava oder Alexander Solschenizyn zu den letzteren gehörten. Im Jahre 1969 wurde Solschenizyn aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, ein Jahr danach bekam er den Literaturnobelpreis. In den 70ern wurden nacheinander mehrere kritische Autoren aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen; der Einzige, der selbst den Verband verließ, da er eine Mitgliedschaft nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, war Georgi Wladimow, der spätere Autor von „Der General und seine Armee“. Auch gegen die Literaturzeitschrift „Novyj Mir“, die unter der Leitung ihres langjährigen Chefredakteurs Alexandr Tvardovskij mehreren kritischen Werken zur Veröffentlichung verhalf, wurden Repressalien durchgeführt. Die Flut der „Wahrheit“ über die Vergangenheit, die mit dem „Tauwetter“ in die sowjetische Literatur gekommen war, ebbte langsam ab. Die Breschnew-Ära demonstrierte jedoch nicht nur die Rückkehr der Glorifizierung des Staates und seiner Führung im Stil von monumentalen filmischen Schlachtpanoramen wie „Befreiung“ (1970) des Regisseurs Jurij Ozerov oder „Die Blockade“ (1974) des Regisseurs Michail Eršov nach dem gleichnamigen neostalinistischen Roman von Alexandr Čakovskij, sondern auch die Erweiterung der Kriegserinnerung auf Themen wie Kollaboration und stalinistische Zwangskollektivierung als die Voraussetzung für Kollaboration, mit denen sich Vasil´ Bykov in seinen Werken befasste. Anfang der 70er Jahre wurden die ersten Versuche der Teilrehabilitierung Stalins unternommen. Zwei erfolgreiche Romane über den Großen Vaterländischen Krieg, Ivan Stadnjuks „Krieg“ (1974-1980) und Vladimir Bogomolovs „August 1944“ (1974) demonstrierten, dass bei weitem nicht alle sowjetische Schriftsteller die Umdeutung des Kriegsgeschehens guthießen. Stadnjuk zeigte in seinem Roman Josef Stalin als ein militärisches Genie, während Bogomolov die Offiziere des sowjetischen Spionageabwehrdienstes SMERŠ als unbesungene Helden des Krieges präsentierte. In Stadnjuks monumentalem Werk „Krieg“, das für seine Offizialität als „Molotows Memoiren“ bezeichnet wurde, wirkt Stalin als ein kluger
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Befehlshaber, ein Meisterstratege und ein scharfsinniger Denker.39 Mit Stalin am Staatsruder, so der Autor, ist eine Niederlage unmöglich und der Sieg unabwendbar. Diese These konsequent zu halten, fällt Stadnjuk offensichtlich schwer, denn er muss irgendwie die Fehler der ersten Kriegsperiode, das Desaster des sowjetisch-finnischen Krieges und den Hitler-Stalin-Pakt kommentieren. Um diese Auseinandersetzung zu vermeiden, überträgt er die Verantwortung auf ausgewählte sowjetischen Generäle, vor allem auf den Befehlshaber der sowjetischen Westfront im Jahre 1941, General Dmitrij Pavlov. Es sei seine Schuld gewesen, dass niemand die Drohung des Krieges ernst genommen hatte, dass die notwendigen Vorbereitungen nicht rechtzeitig unternommen wurden und dass so viele Flugzeuge von den Deutschen am Boden zerstört wurden. Stadnjuk ignoriert die Säuberungen in der Roten Armee vor dem Krieg und ihre katastrophalen Auswirkungen auf Motivation, Ausrüstung und Armeedisziplin. Die Geheimorgane in seiner Darstellung tragen, abgesehen von ihrer Bereitschaft, hinter jedem Busch einen Verräter zu sehen, wenig Ähnlichkeit mit den Schilderungen Grossmans, Bykovs oder Baklanovs. Die alten Mythen werden hingegen reproduziert: So wird in Anlehnung an Stalin behauptet, in der Sowjetunion habe es im Gegensatz zu anderen Ländern unter der deutschen Besatzung keine „fünfte Kolonne“ gegeben. Er ignoriert somit die weit verbreitete Kollaborationsbereitschaft in den baltischen Republiken, im Westen der Ukraine und Weißrusslands. Vladimir Bogomolov war in der Sowjetunion vor allem als Autor der Kriegserzählungen „Ivan“ (1957; im Jahre 1962 von Andrej Tarkowskij als „Ivans Kindheit“ erfolgreich verfilmt) und „Zosja“ (1965) über tragische Kinderschicksale im Krieg bekannt. Die große Popularität brachte ihm jedoch sein Detektivroman „August 1944“ über drei SMERŠOffiziere auf der Jagd nach deutschen Agenten in den befreiten Gebieten Weißrusslands.40 In den 1970ern genoss die Figur eines Spions in der Sowjetunion einen absoluten Kult, insbesondere nach der erfolgreichen Verfilmung des Romans „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“ (1973) von Julian Semenov über einen russischen Spion in der „Höhle des Löwen“, dem Reichssicherheitshauptamt. Die Hauptfigur des Romans von Semenov, der SS-Sturmbannführer Stierlitz (sein „wahrer“ russischer Nachnahme ist Isaev), gespielt vom populären Darsteller Vjačeslav Tichonov, ist intelligent, attraktiv und ein richtiger Patriot. Die Serie hinterließ den Eindruck, dass es Stierlitz war, der den Ausgang des Krieges gegen die Deutschen entschieden hat. Auch seine deutschen Kollegen in
39 Stadnjuk, Ivan: Vojna. Moskva 1974. 40 Bogomolov, Vladimir: V avguste sorok četvertogo… Moskva 1974. 51
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Nazi-Uniformen sind keine hirnlosen Dummköpfe, sondern durchaus sympathische Kerle und schlaue Gegner. Der sowjetische Massenzuschauer hat vor dieser Fernsehserie noch nie so viele ehrenhafte Menschen mit Hakenkreuzen an den Ärmeln gesehen. Der sowjetische Spion Stierlitz sowie seine „Kollegen“ Schellenberg, Kaltenbrunner, Müller und Bormann wurden zu Helden zahlreicher sowjetischer Anekdoten, die Nazi-Ästhetik im Film wirkte mysteriös und weckte Neugier. Den gleichen Kultstatus genossen auch die Helden des Romans „August 1944“ von Vladimir Bogomolov. Eine gewöhnliche Suche nach deutschen Agenten eskaliert im Roman zu einer Jagd auf eine besonders gefährliche Gruppe deutscher Spione, die im Falle ihres Erfolgs die ganze Planung der sowjetischen Hauptoffensive und Stalins Pläne für den Endangriff auf Deutschland ins Wanken bringen könnte. Stalin übernimmt die Kontrolle über die Operation, alle Mittel der Spionageabwehr werden mobilisiert. Bogomolov zeichnet das Bild der SMERŠ-Offiziere als Kriegshelden im Gegensatz zu vielen Werken sowjetischer (und später auch russischer) Kriegsliteratur, in denen der „osobist“ (der für ideologische Kontrolle zuständige Offizier), die SMERŠ- und NKWDVertreter als Feinde des einfachen Soldaten gezeigt werden, die nach potentiellen Verrätern suchen, statt gegen die Deutschen zu kämpfen. In „August 1944“ kämpft der sowjetische SMERŠ vor allem gegen antikommunistisch gesinnte Nationalisten der Ukrainischen Befreiungsarmee und der polnischen Armija Krajowa, die Bogomolov als „Banditen“ bezeichnet. Die sowjetischen Befreier, wie eine der Hauptfiguren, Alechin, betrachten die Bevölkerung in den befreiten Gebieten als „zurückgeblieben“ und kulturlos. Die harten Maßnahmen gegen mutmaßliche Verräter seien gerechtfertigt, um die Ordnung wiederherzustellen. Nicht alle Literaten folgten jedoch diesem Trend zur StalinRehabilitierung. In die Breschnew-Periode fällt der Höhepunkt des literarischen Schaffens eines der herausragendsten sowjetischen Kriegsprosaikers, des weißrussischen Schriftstellers Vasil´ Bykov. „Er ging immer bis an den Rand des Erlaubten, indem er sich mit dem Schild des Kriegsthemas schützte, hinter dem es möglich war, über das Leben und den Menschen ein bisschen mehr zu sagen, als dies den gewöhnlichen Schriftstellern erlaubt war“,41 schrieb über Bykov der Kritiker Lipnevič. Bykovs Lieblingsthemen waren vom Standpunkt der sowjetischen Bürokratie betrachtet höchst empfindlich und brachten dem Autor permanente harsche Kritik für seine unnachgiebige Haltung ein. Als Weißrusse, der auf Weißrussisch schrieb und seine Werke selbst ins 41 Lipnevič, Valerij: Volč´ja jama, ili strelok v imennom okope. In: Novyj mir (2002) 4, URL: http://magazines.russ.ru/novyi_mi/2002/4/liS.html, Stand 6.02.2008. 52
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Russische übersetzte, interessierte sich Bykov vor allem für den Partisanenkrieg und die Frage der Kollaboration. In der Situation der Besatzung stellte sich die Frage nach der Wahl zwischen Anpassung und Opposition besonders deutlich, nicht zuletzt aufgrund der Erinnerung an die Zwangskollektivierung. Menschen gerieten in moralische Dilemmata und Loyalitätskonflikte, und das Interesse Bykovs galt der menschlichen Psychologie unter diesen extremen Umständen. Die Handlung in allen seinen Büchern, die an Parabeln erinnern, ist fast immer die gleiche: Fehler und Zufälle verengen die Freiheit der Protagonisten bis zum unvermeidlichen Tod, in dessen Angesicht sie ihre letzte ethische Wahl treffen. In der bekanntesten Erzählung Bykovs, „Sotnikov“ (1970), geht es um zwei Partisanen, Sotnikov und Rybak, die von der Besatzungspolizei gefangen genommen und verhört werden.42 Während Sotnikov, verwundet und schwerkrank, sich den Deutschen widersetzt und gehängt wird, wählt Rybak das Überleben und wird Spitzel der Polizei. Der Krieg wird von Bykov nicht als Konflikt zwischen zwei Völkern gezeigt, sondern als Konflikt zwischen zwei menschlichen Typen: Menschen des Geistes und Menschen des Leibes, wie Sotnikov und Rybak. Die größte Kontroverse entsteht zwischen den Menschen, die einander nahe stehen, und die Frage, wer „gut“ und wer „böse“ ist, bleibt offen. Im Gegensatz zur filmischen Version von „Sotnikov“, dem Film „Aufstieg“ von Larisa Schepit´ko (1976),43 fehlt in Bykovs Erzählung ein moralisches Urteil. „Die Faschisten, hier ist alles klar, sie sind ja Fremde, nichts anderes ist von ihnen zu erwarten. Doch was ist mit unseren Menschen, die mit ihnen sind? Wie sollen wir sie verstehen? Sie lebten unter uns, aßen, schauten den Leuten in die Augen und in diesen Tagen haben sie ein Gewehr und wollen Leute erschießen. Und das tun sie auch!“44 In dieser Aussage des Dorfältesten in „Sotnikov“ formuliert Bykov das Problem, das die Kollaboration seinen Protagonisten stellt: Der Krieg wird enden, die Deutschen werden nicht mehr da sein, doch die Menschen, die während des Krieges auf unterschiedlichen Seiten standen, müssen weiter miteinander leben. Auch in der Erzählung „Zeichen der Gefahr“ (1983)45 fragt Bykov nach den Gründen des menschlichen Handelns in Extremsituationen. Die Erzählung handelt vom Schicksal eines alten Ehepaares, Petrok und Stepanida, die unter der deutschen Besatzung leiden müssen. Die 42 Bykov, Vasil´: Sotnikov. In: Bykov, Vasil´: Sotnikov. Dožit´ do rassveta. Ego batal´on: Povesti. Ekaterinburg 2004, S. 5-170. 43 Der Film gewann den Goldenen Bären auf der Berlinale 1976. 44 Bykov, Vasil´: Sotnikov, S. 148. 45 Bykov, Vasil´: Znak bedy. In: Bykov, Vasilij: Znak bedy, Kar´er. Povesti. Ekaterinburg 2004, S. 5-282. 53
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Deutschen verüben keine Gräueltaten, sie verhalten sich nur entsprechend der Ideologie des Herrenmenschen: Sie trinken in ihrem Haus frische Kuhmilch, ohne zu fragen und ohne sich zu bedanken; sie machen es sich ungeniert in ihrem Haus bequem und treiben die alten Menschen in die Kälte; sie schütteln heftig den Apfelbaum in ihrem Garten und lachen dabei. Stepanida lässt sich auf diese Art nicht erniedrigen und wehrt sich dagegen. In der Verteidigung dessen, was sie als ihr Eigentum betrachtet, ist sie unversöhnlich. Sie schüttet die Milch weg, damit die Deutschen sie nicht trinken können. Dafür wird sie geschlagen. Erniedrigend findet sie nicht die Prügel selbst, sondern die Tatsache, dass sie in „ihrem eigenen Hof“ verprügelt wurde. An dieser Stelle werden jedoch Zweifel deutlich, ob Stepanida wirklich ihr Eigentum verteidigt. In einem Rückblick schildert Bykov die Zeit der Zwangskollektivierung, in der Stepanida keine einfache Mitläuferin war, wie ihr Ehemann, sondern eine Aktivistin. Bykov stellt die Frage, ob Kollektivierung und deutsche Besatzung ähnliche moralische Komplikationen für die Menschen hatten. Während der Kollektivierung wurden die Menschen vor die moralische Wahl gestellt und gezwungen, ihre Loyalität zu bekennen. Das Gleiche geschah während der deutschen Besatzung. Auch damals wurde die Würde der Menschen in Frage gestellt. Indem sie ihr „Eigentum“ verteidigt, handelt Stepanida nicht anders, als damals viele Bauern handelten, die ihr Eigentum vor Kollektivierung schützen wollten. Eines der bis dahin in der sowjetischen Kriegsliteratur unangesprochenen Themen blieb die Beteiligung der Frauen am Krieg. Diesen Aspekt des Krieges thematisierte die im Jahre 1969 erschienene Erzählung „Im Morgengrauen ist es noch still“ von Boris Vasil´ev,46 deren Verfilmung 1972 zum Klassiker des sowjetischen Kinos wurde. Die Handlung der Erzählung spielt im Herbst 1941, als Sergeant Vaskov eine Gruppe junger Frauen in seine Flakeinheit zugeteilt bekommt. Vaskov hat große Zweifel, ob sie überhaupt als Soldaten taugen: Die Mädchen verstoßen permanent gegen die Dienstordnung, und Vaskov, der nichts außer der Dienstordnung kennt, weiß nicht, wie er mit ihnen umgehen soll. Als deutsche Fallschirmjäger im Hinterland abgesetzt werden, wählt Vaskov fünf Mädchen aus, die ihm bei der Gefangennahme der Deutschen helfen sollen. Jede von ihnen hat ihr eigenes „Konto“ zu begleichen: Rita verlor ihren Mann in den ersten Kriegstagen und blieb allein mit dem kleinen Sohn; Zhen´ka, Tochter eines im Baltikum stationierten Generals, will sich für die Erschießung ihrer gesamten Familie durch die Deutschen rächen; Sonja ist Jüdin und ihre
46 Vasil´ev, Boris: A zori zdes´ tichie. Moskva 1971. 54
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Verwandtschaft blieb in Minsk, Lisas Hoffnung auf die erste Liebe sowie Galjas Phantasien über eine Zirkus-Karriere wurden durch den Krieg zerstört. Eine nach der anderen fallen die Mädchen im ungleichen Kampf, als einziger überlebt der Sergeant, der nach dem Krieg Ritas Sohn adoptiert. Vasil´ev greift hier das Motiv auf, das in der Kriegsprosa Grigorij Baklanovs sehr wichtig war: nämlich dass der Tod der Mädchen auch den Verlust der künftigen Generationen bedeutet. Als Vaskov die tote Sonja in seinen Armen hält, denkt er an den Verlust, den der Tod dieses Mädchens mit sich bringt, die Mutter hätte werden können. Auch neue literarische Formen, wie zum Beispiel dokumentarische Prosa auf der Grundlage der Zeitzeugenbefragungen, wurden in den 70ern von sowjetischen Autoren erprobt. Als Pionier galt auf diesem Gebiet der Weißrusse Ales´ Adamovič. Sein Buch „Ich komme aus einem verbrannten Dorf“ mit Interviews, die der Autor mit Überlebenden der deutschen Besatzung in Weißrussland durchführte, dokumentierte die Grausamkeit der Besatzer.47 Es diente als Grundlage zum Film „Geh und sieh“ des Regisseurs Elem Klimov, der 1989 gezeigt wurde. Gemeinsam mit dem Leningrader Schriftsteller Daniil Granin gab Ales´ Adamovič 1979 das „Buch der Blockade“ heraus, eine Sammlung von Interviews, die die beiden Autoren mit Überlebenden der Leningrader Blockade geführt hatten, das nur stark zensiert veröffentlicht wurde,48 denn die Darstellung der Schrecken in der belagerten Stadt hätte die offizielle Version von der heldenhaften Verteidigung Leningrads gefährden können.
Abgesang: Das letzte Wort der Frontgeneration Der Umbruch kam mit der Perestrojka, als das halbe Land sich „vorübergehend in Hobby-Historiker“ verwandelte.49 Die Lockerung der Zensur führte zu einer mehr oder weniger radikalen Infragestellung der sowjetischen Geschichtsbilder. Was jahrzehntelang höchstens „in der Küche“ gesagt werden konnte, kam jetzt in die Zeitungen und die Literaturzeitschriften. Die Literatur hatte die Aufgabe der Geschichtsschreibung übernommen und löschte den Durst von Millionen nach der Wahrheit
47 Adamovič, Ales´: Ja iz ognennoj derevni... Minsk 1977. 48 Adamovič, Ales´/ Granin, Daniil: Blokadnaja kniga. Moskva 1979. 49 Vgl. Torke, Hans-Joachim: Zur Geschichte der russländischen Geschichtswissenschaft. In: Henning, Aloys/ Petersdorf, Jutta (Hg.): Wissenschaftsgeschichte in Osteuropa. Europa litterarum artiumque scientiam communicans. Berlin 1998, S. 27. 55
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über all das, was das Land durchgemacht hatte.50 Es wurden Themen diskutiert, die zwar allgemein bekannt waren, aber in der breiten Öffentlichkeit nicht hatten angesprochen werden dürfen: Die Ermordung von mehreren tausend polnischen Offizieren bei Katyn; das geheime Zusatzprotokoll des Hiler-Stalin-Paktes, in dem Hitler und Stalin Osteuropa in jeweilige „Interessensphären“ aufteilten; das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen viele nach ihrer Repatriierung in die Sowjetunion als Verräter und Kollaborateure in die Arbeitslager geschickt wurden. Aufgedeckt wurde das tragische Schicksal der ca. drei Millionen Angehörigen nichtrussischer Volksgruppen wie Wolgadeutsche, Krimtataren, Tschetschenen, Letten, die Stalin hatte nach Zentralasien deportieren lassen. Gleichzeitig blühte – ähnlich wie in Deutschland während des Historikerstreits – der sog. historische Revisionismus auf, der unter dem Motto „Wir alle waren Opfer“ bzw. „Wir wurden zu Geiseln der politischen Systeme“ die prinzipielle Gleichheit der ehemaligen Gegner predigte. Viktor Suvorovs Studie „Eisbrecher“, in der der Autor die umstrittene These vertrat, Stalin hätte einen Krieg gegen Deutschland vorbereitet und der deutsche Überfall wäre somit ein Präventivschlag gewesen, ist das beste Beispiel eines solchen Revisionismus. Man könnte vermuten, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Aufhebung der Zensur neue Impulse für die Entwicklung der Literatur über den Zweiten Weltkrieg gegeben hätten. Erstaunlicherweise ist das nicht passiert: die meisten Autoren der Frontgeneration haben dieses Thema nach der Perestrojka aufgegeben (Viktor Astaf´ev und Vasil´ Bykov sind hier seltene Ausnahmefälle) und meldeten sich erst Ende der 90er Jahre wieder zu Wort, als der Krieg wieder zum dominanten Thema in ihrem Schaffen wurde (im Fall von Alexander Solschenizyn oder Daniil Granin). Dieses Phänomen hat seinen Grund im Generationenwechsel und im baldigen Ende der Zeitzeugenschaft, was die Zeitzeugen vermutlich selbst ahnen und deshalb 60 Jahre nach dem Ereignis „Krieg“ ihre letzte Chance ergreifen, um sich über dessen Sinn zu verständigen. Dieser Wunsch sowie die starke Fokussierung auf den Krieg hängen damit zusammen, dass dieses Ereignis die Identität und das ganze Leben der Kriegsgeneration geprägt hat. Das Kriegsthema verschwindet allmählich aus der russischen Literatur, was mit dem Tod der meisten Schriftsteller der Frontgeneration zusammenhängt. Es gibt auch keine neuen, geschweige denn jungen Autoren, die es wagen, ohne eigene Kriegserfahrung das Kriegsthema auf-
50 Vgl. Davies, Robert W.: Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, München 1991, S. 201. 56
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zugreifen.51 Das literarische Schreiben über den Krieg wird in Russland immer noch als klassische „Schlachtbeschreibung“ in der Tradition von Leo Tolstoj verstanden. Experimente mit neuen Genres, wie zum Beispiel Familienroman oder dokumentarische Prosa, die im heutigen Deutschland immer populärer werden, gibt es in der russischen Literatur nicht. Besonders aktuell und relevant wird in letzter Zeit das Bedürfnis nach literarischer Aufarbeitung der „neuen Kriege“ – des Afghanistanund des Tschetschenien-Krieges52 – so dass in der Literaturkritik in Bezug auf diese Werke der Begriff der „neuen Kriegsprosa“ entstanden ist. Im Jahre 2000 führte die Redaktion der Literaturzeitschrift „Znamja“ anlässlich des Jahrestages des Sieges eine Umfrage unter den Schriftstellern durch, die einen relativ repräsentativen Einblick in den Stand der russischen Gegenwartsprosa über den Großen Vaterländischen Krieg gewährte. Die meisten Autoren konstatierten die Tatsache, dass Kriegsliteratur nicht mehr produziert wird, obwohl das Interesse der Bevölkerung an historischen Themen, vor allem an der Geschichte des Krieges, immer noch sehr groß ist. Es wurden unterschiedliche Gründe dafür genannt. „Es gibt heute nur wenige Autoren, die über eigene Kriegserfahrung verfügen; den Krieg in der Literatur und im Film haben alle satt (meine eigene Kindheit war eine einzige „Eroberung Berlins“); die Schrecken der jetzigen Kriege sind bereits ausführlich in den Medien behandelt worden, und das Verhältnis zur Armee hat sich geändert. Man kann hinzufügen, dass das russische Kriegsthema immer ein patriotisches Thema gewesen ist, und heutzutage ist die Situation mit dem Patriotismus nicht so eindeutig“,53 so der Schriftsteller Andrej Volos. Georgi Wladimow schrieb, dass das Kriegsthema aus der russische Prosa verschwindet, weil Werte wie „Heldenmut, Ehre, Selbstaufopferung, Tolstojs ,geheime Wärme des Patriotismus’“54 in der russischen Gesellschaft nicht mehr aktuell sind, und mit ihnen war russische Kriegsprosa immer stark verbunden. Die meisten anderen Autoren beklagten sich über ähnliche „Mängel“ der heutigen russischen Gesellschaft. Ihre Antworten zeigen, dass von der Literatur über den Krieg mehr als bloße Unterhaltung erwartet wird und dass die Autoren sich eine nationale Ausrichtung der Kriegsprosa wünschen. Unabhängig von der ideologisch-politischen Position der Autoren hat ihre literarische Beschäftigung mit dem Kriegsthema nicht selten einen 51 Georgi Wladimow hat mit seinem Roman „Der General und seine Armee“ diesen Schritt gewagt, wurde aber dafür auch kritisiert 52 Z.B. Makanin, Vladimir: Kavkazskij plennyj. Moskva 1997; Andreev, Pavel: Afganskie rasskazy. In: Zvezda (2000) 4, S. 170-189; Babčenko, Arkadij: Alhan-Jurt. Moskva 2006. 53 Literatura i vojna. In: Znamja (2000) 5, S. 9. 54 Ebd. 57
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moralischen Zweck. Kriegsliteratur sollte einen Bildungs-, einen Erziehungsauftrag erfüllen, so war die Meinung fast aller befragten Autoren. Ob eine solche Literatur immer noch eine „Gegenmacht“ sein wird, ist zu bezweifeln. Unter den Autoren, die als Zeitzeugen ihr „letztes Wort“ über den Großen Vaterländischen Krieg in den letzten zehn Jahren gesagt haben, ragen vor allem solche „Koryphäen“ der russischen Kriegsprosa wie Viktor Astaf´ev, Vasil´ Bykov und Alexander Solschenizyn heraus. Sie alle folgten der Tradition der kritischen Aufarbeitung des Krieges und griffen ihre „alten“ Themen auf. In seiner Erzählung „Ich würde so gerne leben!“ (1995), in dem tragikomischen Roman „Der fröhliche Soldat“ (1998) und in seinen letzten Kriegserzählungen „Beutekanone“ und „Die vorbeifliegende Gans“ (beide 2001)55 fragt Astaf´ev unerbittlich nach dem Sinn des Tötens und zeigt den Krieg und die Nachkriegszeit als eine „himmelschreiende Ungerechtigkeit der Ideologen und Strategen gegenüber dem ,einfachen’ Menschen.“56 „Nicht die Tatsachen sind abstoßend, sondern der Überfluss an dreckiger und unanständiger Wahrheit auf jedem Quadratzentimeter des geduckten Textes. [...] Astaf´evs Erzählung („Ich würde so gerne leben!“ – E.S.), stellenweise glatt und sogar kaltblütig geschrieben, stürzt manchmal in einen unartikulierbaren Schrecken hinab. Eigentlich hat sie weder Anfang noch Ende, ist weder Fiktion noch Autobiographie. Es ist schwer erträglich beim Lesen – Blut, Dreck, Rotz und Urin. Die Wahrheit darüber, wie Menschen in den Tod geschickt wurden, obwohl sie leben wollten“,57 so der Kritiker Pawel Basinskij über Astaf´evs spätes Prosawerk. Von großer Bedeutung sind im Roman „Der fröhliche Soldat“ die ersten einleitenden Sätze: „Am vierzehnten September Neunzehnhundertvierundvierzig habe ich einen Menschen getötet. Einen Deutschen. Einen Faschisten. Im Krieg.“ Und im Finale: „Am vierzehnten September Neunzehnhundertvierundvierzig habe ich einen Menschen getötet. In Polen. Auf einem Kartoffelfeld. Als ich auf den Abzug des Karabiners drückte, war der Finger noch nicht ganz verstümmelt, mein junges Herz wollte mit warmem Blut versorgt werden und war voll Hoffnungen.“58 Astaf´evs Erzähler begreift den 55 Astaf´ev, Viktor: Tak chočetsja žit! Moskva 1996; Astaf´ev, Viktor: Veselyj soldat. Sankt Peterburg 1999; Astaf´ev, Viktor: Dva rasskaza. In: Znamja (2001) 1, URL: http://magazines.russ.ru/znamia/2001/1/astaf.html, Stand 6.02.2008. 56 Kasper, Karlheinz: Stille Hoffnung auf ein kleines Wunder. In: Neues Deutschland vom 12.03.2001, S. 11. 57 Basinskij, Pavel: ... i ego armija. In: Novyj mir (1996) 1, URL: http://magazines.russ.ru/novyi_mi/1996/1/bookrev.html, Stand 6.02.2008. 58 Astaf´ev, Viktor: Veselyj soldat. Sankt Peterburg 1999, S. 7, 262. 58
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Krieg existentiell und fühlt sich schuldig am Tod eines Menschen, auch wenn dieser für ihn „ein Deutscher“, „ein Faschist“ ist. Das persönliche Gewissen kennt letztendlich keinen Begriff vom „gerechten Verteidigungskrieg“, der Tod wird bei Astaf´ev auf die höchste Abstraktionsstufe gebracht und jeden Sinnes beraubt. Auch Vasil´ Bykov folgt in seinen letzten Erzählungen „Sumpf“, „Auf einem Sumpfpfad“ und „Wolfsgrube“ (2001)59 der kritischen Tradition und stellt den Mythos vom Partisanenkrieg in Frage. Er zeigt die Grausamkeit der Partisanen gegenüber der Zivilbevölkerung in Weißrussland: In der Erzählung „Auf einem Sumpfpfad“ töten die Partisanen die Dorflehrerin, weil diese sie gebeten hat, die Brücke nicht zu zerstören, sonst würden die Deutschen das ganze Dorf vernichten. Ähnlich grausam wird in der Erzählung „Sumpf“ der Dorfjunge von sowjetischen Fallschirmjägern aus Gründen der Sicherheit und Geheimhaltung umgebracht, der zuvor von seinen Henkern als Begleiter benutzt worden war. Im Gegensatz zu diesen späten Prosawerken Astaf´evs und Bykovs, die dem westlichen Leser unbekannt blieben, wurden die letzten Kriegserzählungen von Alexander Solschenizyn „Sheljabuga Siedlung“ und „Adlig Schwenkitten“ (dt. „Schwenkitten ’45“) sofort von der deutschen Kritik bemerkt.60 Jedoch zeichnete der Nobelpreisträger statt der erwarteten Darstellungen der Verbrechen der Roten Armee beim Einmarsch in Ostpreußen in der Tradition von Solschenizyns frühen Poemen „Ostpreußische Nächte“ und „Festmahl der Sieger“ detailliert den Kriegsalltag aus der engen Perspektive der betroffenen Soldaten und Offiziere, deren unspektakuläre „Kriegsarbeit“ mit der Arroganz der Militärführung kontrastiert. Die erste Erzählung „Sheljabuga Siedlung“ schildert die schweren Kämpfe bei Orjol 1943 aus der Sicht einer kleinen Einheit der Roten Armee. Als die Protagonisten fünfzig Jahre später an den Ort der damaligen Kämpfe zurückkehren, finden sie nur Ödnis und
59 Bykov, Vasil´: Volč´ja jama. Povesti i rasskazy. Moskva 2001; Bykov, Vasil´: Na bolotnoj stežke. In: Zvezda (2001) 8, URL: http://magazines. russ.ru/zvezda/2001/8/bykov.html, Stand 6.02.2008. 60 Siehe Zekri, Sonja: Warmer deutscher Reichtum. Landpartie in Ostpreußen: Solschenizyns „Schwenkitten '45“. In: Süddeutsche Zeitung vom 24.02. 2005, S. 16; Kasper, Karlheinz: Alexander Solschenizyn: Erinnerungen. Lehrstücke für die taube Obrigkeit. In: Neues Deutschland vom 9.12. 2004, S. 12; Schmid, Ulrich M.: Anachronistisch. Zwei Kriegserzählungen von Alexander Solschenizyn. In: Neue Zürcher Zeitung vom 6.11.2004, S. 47; Holm, Kerstin: Wider die Architekten der Niedertracht. Anfänge eines Nobelpreisträgers: Alexander Solschenizyns Kriegserinnerungen in zwei Erzählungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.10.2004, S. 46. 59
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alte Frauen, „das Dorf ist bitterarm geblieben“. In „Schwenkitten ’45“ beschreibt Solschenizyn die Unsicherheit einer eingekesselten russischen Vorhut in Ostpreußen und die Unfähigkeit der russischen Führung, die ihre Truppen leichtfertig aufs Spiel gesetzt hat.61 Solschenizyn verarbeitet hier seine eigene Fronterfahrung, fügt jedoch wenig Neues zum Verständnis des Krieges hinzu.
Der „patriotische“ Diskurs im heutigen Russland Das Wertevakuum, auf das Georgi Wladimow in seiner Antwort der Zeitschrift „Znamja“ im Jahre 2000 hinwies, wurde auch von den russischen Machteliten als eine Last und eine Gefahr empfunden. Seit Mitte der 90er Jahre werden in Russland auf allen politischen Ebenen intensive Diskussionen über die „nationale Idee“ geführt, die der Bevölkerung das Gefühl des Stolzes auf den eigenen Staat geben kann. In den letzten zehn Jahren kann man ein „roll back“ zur Glorifizierung des Krieges beobachten, der als einziges Ereignis der sowjetischen Geschichte der „Umwertung“ während der Perestrojka trotz aller kritischen Stimmen widerstehen konnte. Bei den Feierlichkeiten zum Jubiläumsjahr 1995 wurde der gigantische Gedenkkomplex auf der „Poklonnaja Gora“, dem sogenannten Verneigungshügel, eröffnet.62 Auch Militärparaden und Aufmärsche sind wieder pompöser geworden. Besonders deutlich spürt man den Aufstieg des patriotischen Diskurses in den neuen russischen Kriegsfilmen, die zum Teil im Staatsauftrag gedreht werden. Nach einer langen Pause wurden 2001 und 2002 gleich zwei Filme im Stil der sowjetischen Frontepen gezeigt: „August 1944“ nach dem Roman von Vladimir Bogomolov aus dem Jahr 1974 und „Der Stern“ nach der gleichnamigen Erzählung von Emmanuil Kazakevič aus dem Jahr 1947. „August 1944“ war eine gemeinsame russisch-weißrussische Produktion, die die Unterstützung des weißrussischen Präsidenten Aleksandr Lukašenko genoss. Der Film bediente das Bedürfnis der russischen Macht- und Militärelite, die staatlichen Organe, nicht zuletzt 61 Solženicyn, Aleksandr: Željabugskie vyselki. In: Solženicyn, Aleksandr: Voennoe. Sankt Peterburg 2005, S. 215-380; Solženicyn, Aleksandr: Adlig Švenkitten. In: Solženicyn, Aleksandr: Voennoe. Sankt Peterburg 2005, S. 381-444. 62 Siehe Karl, Lars: „Den Verteidigern der russischen Erde...“. Poklonnaja Gora: Erinnerungskultur im postkommunistischen Russland. In: Zeitgeschichte-online. Thema: Die Russische Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, Mai 2005, URL: http://www.zeitgeschichteonline.de/zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn/karl.pdf, Stand 2.11.2007. 60
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die Geheimorgane, in den Augen der Bevölkerung zu rehabilitieren. Eine Rehabilitierung der „Organe“ brachte auch die Fernsehserie über die Leningrader Blockade „Leningrad“ (2007). Die Stadt wurde im Film als ein Ort dargestellt, an dem während der Blockade „dunkle Kräfte“ walten: Plünderer, Kannibalen, Schieber, Diebe, schamlose Bürokraten, Verräter und Spione. Diesen „bösen Kräften“ widerstehen ehrenhafte Mitarbeiter des NKWD und der inneren Sicherheit. Sie sind die Retter der Leningrader, da sie ihr Leben riskieren, um den Hydrologen mit deutschem Nachnamen Krause zu finden, der weiß, wo man auf dem Eis des Ladogasees die „Strasse des Lebens“ errichten kann. Neben der englischen Journalistin Kate, die in der eingeschlossenen Stadt stecken bleibt, und ein paar hungernden Stadteinwohnern sind diese Vertreter der „Organe“ die einzigen positiven Figuren im Film. Auch die Parteibonzen werden im Film nicht in schlechtem Licht gezeigt. Der ZK-Sekretär Andrej Ždanov, der für seine Grausamkeit und den Missbrauch von Privilegien bekannt war, ist im Film ein harmloser Alkoholiker, der nur droht, doch seine Drohungen nie in Taten umsetzt. Mit einer pompösen Staatsfeier zum 60. Siegesjubiläum 2005 wurde in Russland erneut der mächtige Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg belebt. Beim Aufmarsch von Tausenden Veteranen vor Dutzenden von Staatschefs und vor der orthodoxen Kirchenführung verschmolz der Stolz auf die Vergangenheit wieder mit neuem Großmachtbewusstsein. Schon 2000 während der Militärparade am Tag des Sieges sprach Präsident Putin vom Großen Vaterländischen Krieg und der „Antiterroroperation“ im Kaukasus als zwei vergleichbaren Ereignissen.63 Es gibt das Bedürfnis seitens der Macht, den Krieg in Tschetschenien als Fortsetzung der reichen Militärtradition Russlands darzustellen. Auch diesmal ist die Rede von Rettung und Zukunft des Staates, dem wieder eine ernste Gefahr drohe. Das hohe Ziel rechtfertige die Mittel, mit denen es erreicht werden soll. „Nicht zufällig wurde jeder zweite Panzer der russischen Regierungstruppen in Tschetschenien mit einer roten Fahne geschmückt – als Ausdruck des Bedürfnisses, sich mit der glorreichen Vergangenheit in Verbindung zu setzen“,64 bemerkte der kritische Journalist Andrej Babickij.
63 Rede des Präsidenten Wladimir Putin auf der Parade, gewidmet dem 55. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, 9.05.2000. URL: http://www.kremlin.ru/appears/2000/05/09/0001_type82634type122346_2 8722.shtml, Stand 4.11.2007. 64 Tol´z, Vladimir: Velikaja Otechestvennaja… Odna na vsech. Prodolženie legendy i ee cena. Sendung des Radio Svoboda vom 18.06.2000. URL: http://euro.svoboda.org/programs/TD/2000/TD.061800.asp, Stand 4.11.2007. 61
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Schon 2001 hatte Wladimir Putin die Historiker aufgefordert, die Kriegsverdienste Russlands stärker hervorzuheben. Nach seinen Vorstellungen hat Geschichtsschreibung die Gesellschaft zu konsolidieren und nicht verschiedene Meinungen zu repräsentieren. Beim Treffen mit Geschichtslehrern am 21. Juni 2007 ging es um die Erarbeitung der Richtlinien, nach denen die Lehrer ihren Schülern die Geschichte vermitteln und die Geschichtsereignisse bewerten sollen. Nach den Wirren der Perestrojka und der Jelzin-Ära sollte endlich festgelegt werden, was in der russischen Geschichte „gut“ und was „schlecht“ war, damit die Lehrer mit den schwierigen Fragen ihrer Schüler nicht in Verlegenheit gebracht werden könnten. Putins Stellung zur russischen Geschichte und ihrer Interpretation sieht so aus: „Was irgendwelche problematische Seiten in unserer Geschichte betrifft, sie gab es, ja. Aber sie gab es in der Geschichte jedes Staates! Und bei uns gab es sie weniger als bei manchen anderen. Und sie waren nicht so schrecklich wie bei manchen anderen. Jedenfalls haben wir keine Atomwaffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt. Wir haben nicht Tausende von Kilometern mit Chemikalien eingesprüht oder auf ein kleines Land sieben Mal mehr Bomben als im gesamten Großen Vaterländischen Krieg abgeworfen, wie es beispielsweise in Vietnam war. Wir hatten auch nicht andere schwarze Seiten, wie den Nationalsozialismus zum Beispiel. [...] Und wir sollten nicht erlauben, uns von anderen Schuldgefühle aufzwingen zu lassen – sie sollen lieber an sich selbst denken.“65
Diese Sicht auf die Geschichte ist heute populär, wobei man betonen muss, dass sie nicht die einzige ist. Trotz der in der westlichen (insbesondere deutschen) Wissenschaft vorherrschenden Meinung, dass in Russland ein „gesellschafts-staatlicher Konsens“ gilt, „der auf dem Selbstverständnis eines heldenhaften Volkes basiert“ (Jutta Scherrer), würde ich von einer Pluralität der Sichtweisen auf den Krieg ausgehen. Zwar wird von der russischen Machtelite die imperiale Sicht auf die Geschichte des Krieges aufgegriffen und propagiert, doch herrscht in der Bevölkerung keine Einheit über die „richtige“ Interpretation der Geschichte. Diese Pluralität stellt zur Zeit offensichtlich ein Problem für die politische Führung dar. Deshalb bemühte sich Wladimir Putin intensiv darum, eine Einheit herzustellen und diese zu kontrollieren, was eine unerfüllbare Aufgabe ist.
65 Stenographischer Bericht über das Treffen des Präsidenten W. Putin mit den Delegierten der Allrussischen Konferenz der Lehrenden im Bereich der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften vom 21.06.2007. URL: http://www.kremlin.ru/appears/2007/06/21/1702_type63376type63381type826 34_135323.shtml, Stand 4.11.2007. 62
DER GROßE VATERLÄNDISCHE KRIEG IN RUSSISCHER PROSA
Fazit Wenn man auf die sowjetische und russische Kriegsprosa der letzten 60 Jahre zurückblickt, findet man zahlreiche Werke von hoher literarischer Qualität, die die Sicht der Partei auf den vergangenen Krieg in Frage stellten und den Weg öffneten, unbequeme Themen aufzugreifen. Das permanente Tauziehen zwischen den Literaten und der Macht führte dazu, dass immer wieder Informationen an die Öffentlichkeit gelangten, bevor die Zensur zurückschlug, wie im Falle von Vasilij Grossman und Anatolij Kuznecov. Werke von Viktor Nekrasov, Georgij Baklanov, Jurij Bondarev, Vasil´ Bykov und Konstantin Simonov haben dazu beigetragen, die offizielle Sicht auf den Krieg zu untergraben, indem sie dem sowjetischen Leser ungeschminkte Schilderungen von Feigheit, Inkompetenz der Führung und Leid der Zivilbevölkerung präsentierten. In diesen Texten wurden unterschiedliche Seiten des Krieges thematisiert und verarbeitet, die im westlichen wissenschaftlichen Diskurs nicht selten als „Tabus“ der russischen Kriegserinnerung bezeichnet werden: der hohe Preis des Sieges, das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener, die Arroganz der sowjetischen Militärführung und die Geschichte der Kollaboration. Andere Schriftsteller, wie Bulat Okudžava, Konstantin Vorob´ev oder Vitalij Kuročkin bemühten sich, dieselbe Botschaft zu vermitteln, indem sie die Metaebene verließen und die Schrecken des Krieges aus der Perspektive eines Einzelnen zeigten. Die Perspektive des einfachen Soldaten, die westdeutsche Schriftsteller wie Heinrich Böll, Gerd Ledig, Hans Helmut Kirst, Heinrich Gerlach u.a. in ihren Werken benutzten, um sich der Frage nach der Schuld der Wehrmacht an Kriegsverbrechen zu entziehen, diente ihren russischen Kollegen gerade dazu, den Staat und seine verordnete Heroisierung des Krieges anzuklagen.66 Die Literatur von hoher Qualität (und die am meisten gelesene) über den Großen Vaterländischen Krieg wurde von Schriftstellern geschrieben, die aus verschiedenen Gründen kritisch dem sowjetischen Staat gegenüber standen. In der Sowjetunion hat es durchaus Nischen gegeben, in denen Austausch über die Vergangenheit möglich war. Unter diesen „Nischen“ verstehe ich keine
66 Die deutsche Perspektive des einfachen Soldaten war auch eine Form, den Staat anzuklagen, allerdings um die eigene Schuld der befehlenden Obrigkeit zuzuschreiben, statt sich mit individueller Verantwortung für die Verbrechen auseinanderzusetzen. Sie erscheint insofern wenig glaubwürdig, da hier die Frage nach der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Rolle im Krieg gegen die Sowjetunion nicht gestellt wurde. 63
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schwer zugänglichen „Samizdat“-Schriften,67 sondern Belletristik, die von einem breiten Publikum wahrgenommen und besprochen wurde. Deshalb existierte bereits in der Sowjetunion eine gewisse Pluralität der Sichtweisen auf den Krieg, wenngleich diese unter einem permanenten Druck seitens des Machtapparats standen. Laut Andreas Langenohl war die Nachkriegsgeneration in der Sowjetunion gehalten, „im öffentlichen Raum einer bestimmten Deutung des Krieges zuzustimmen: nämlich der, die die Partei und das politische System, das sie repräsentierte, als eigentlichen Sieger ansah.“68 Jedoch bot gerade die Kriegsliteratur einen wichtigen öffentlichen Resonanzraum für alternative Deutungen des Krieges. Die in der Forschungsliteratur immer wieder anzutreffende Behauptung, „kein sowjetisches Buch über den Krieg erwähnte jemals Dinge wie Panik, Selbstverstümmelungen, Feigheit oder Vergewaltigung“,69 vermittelt deshalb kein objektives Bild der sowjetischen Kriegsprosa.
67 Gemeint ist die nicht-offizielle, meistens staatskritische Literatur, die in sogenannten „Selbstverlagen“ gedruckt wurde. 68 Langenohl, Andreas: Patrioten, Verräter, genetisches Gedächtnis. Der Große Vaterländische Krieg in der politischen Deutungskultur Russlands. In: Ritter, Martina/Wattendorf, Barbara (Hg.): Sprünge, Brüche, Brücken. Debatten zur politischen Kultur in Russland aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Kultursoziologie und Politikwissenschaft. Berlin 2002, S. 135. 69 So Merridale, Catherine: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945. Frankfurt a. M. 2006, S. 17. 64
GEORGI WLADIMOW: „DER GENERAL UND SEINE ARMEE“
Georgi Wladimow: „Der General und seine Armee“ „Sie hatten die „Heimat verraten“... Aber warum und wofür? Für einen eingestürzten Schützengraben, den sie sattsam kannten, für einen Marsch durch schmutzigen, schmatzenden Schlamm, für ein Nachtlager in Schnee oder Morast, für den Strick, falls man sie erwischt (Gefangene wurden nicht gemacht!) oder ein Herumirren in fremden Ländern, wenn sie Russland verlassen müssten? [...] Wie groß musste ihr Leid sein, wenn sie nicht einmal davor zurückschreckten, für ewig mit einem Fluch behaftet zu sein und niemals Ansehen zu erlangen?“ Georgi Wladimow, „Der General und seine Armee“
Kein literarisches Werk über den Großen Vaterländischen Krieg, das in den letzten fünfzehn Jahren erschienen ist, wurde in Russland so viel gelesen und so heftig diskutiert wie der Roman „Der General und seine Armee“ von Georgi Wladimow. Wladimow griff einige Schlüsselereignisse des Krieges (Rückeroberung von Kiew 1943 oder Verteidigung Moskaus 1941) und bekannte historische Figuren (wie den General Andrej Wlassow oder den deutschen Panzergeneral Heinz Guderian) auf, um seine Interpretation des Geschehens literarisch darzustellen. Über diese Interpretation wurde nach dem Erscheinen des Romans 1996 heftig diskutiert, und zwar ging es darum, inwieweit sie die „Wahrheit über den Krieg“ reflektiert – ein Ausdruck, der in Bezug auf die Literatur über den Krieg in Russland extensiv gebraucht wird. Der Krieg diente dem Autor als Anlass, um über die damals in der russischen Öffentlichkeit heftig prozessierten Fragen der politischen Macht und der politischen Loyalität, über die Rolle der Geheimorgane, über Herrschaft und Unterwerfung, die russische Nationalidee und Mentalität nachzudenken. Der im Jahre 2003 verstorbene Georgi Wladimow war nie ein bequemer Autor. Er wurde 1931 in der ostukrainischen Stadt Charkov geboren und begann seine Tätigkeit als Schriftsteller noch während seiner Studienzeit an der Juristischen Fakultät der Leningrader Staatsuniversität. Sein inzwischen international bekannter Roman „Vernyj Ruslan“ („Die Geschichte vom treuen Hund Ruslan“, 1963-65, 1975), in dem Wladimow stalinistische Lager thematisierte, wurde in der Sowjetunion vom Zensor verboten und erschien 1975 in der BRD. Nach dem Austritt Wladimows aus dem Schriftstellerverband 1977 aus Protest gegen den Ausschluss zahlreicher Kollegen und aufgrund seiner Menschenrechtsaktivitäten als Leiter der Moskauer Sektion von Amnesty International erfolgte ein Veröffentlichungsverbot. 1983 emigrierte Wladimow in die Bundesrepublik Deutschland, wo er eine Zeit lang
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Herausgeber von „Grani“ war, einer der bedeutendsten russischen Literaturzeitschrift im Exil. Wladimow kämpfte nicht an der Front, doch seit den 60er Jahren sammelte er Dokumente über den Krieg, schrieb als Ghost-Writer Memoiren für einige sowjetische Kriegsgeneräle, und später, im deutschen Exil, führte er Gespräche mit den ehemaligen Wlassow-Kämpfern. Aus diesen Quellen schuf er sein eigenes Bild vom Krieg, das viele sowjetische Kriegsmythen zerstörte, selbst aber nicht frei von anderen Mythen war. Die erste gekürzte „Zeitschriftversion“ des Romans „Der General und seine Armee“ erschien in der Literaturzeitschrift „Znamja“ im Jahre 1994 und wurde 1995 mit dem russischen Booker-Preis ausgezeichnet. Der Roman berührt einige sensible Punkte des Kriegsgeschehens, die in der politischen Diskussion in Russland eine wichtige Rolle spielen: inkompetente sowjetische Kriegsführung; die Brutalität gegenüber den Truppen im Namen der Siege, die Prestige bringen; Karrierismus der Generäle; Nationalkonflikt zwischen den Russen und den Ukrainern.
Inhalt Wladimow stellt dem Roman ein Zitat aus Shakespeares „Othello“ voraus, das in der deutschen Übersetzung aus unerklärbaren Gründen fehlt.70 Dieser Epigraph weist darauf hin, dass wir hier nicht mit einer „Schützengrabenwahrheit“ oder gar einer „neuen Wahrheit über den Krieg“ zu tun haben, sondern mit einer Roman-Tragödie, die Wladimows Interpretation des Krieges und in diesem Zusammenhang seine politische Position präsentiert: „Fahr' wohl, des Herzens Ruh`! Fahr` wohl, mein Friede! Fahr' wohl, du wall`nder Helmbusch, stolzer Krieg, Der Ehrgeiz macht zur Tugend! Oh, fahr' wohl! Fahr' wohl, mein wiehernd Ross und schmetternd Erz, Mutschwell'nde Trommel, muntrer Pfeifenklang, Du königlich Panier, und aller Glanz, Pracht, Pomp und Rüstung des glorreichen Kriegs! – Und o du Mordgeschoss, des rauher Schlund Des ew'gen Jovis Donner widerhallt, Fahr' wohl!“
70 Die deutsche Übersetzung ist leider an vielen Stellen misslungen bzw. es fehlen darin ganze Passagen aus dem russischen Original, deshalb wird hier teilweise die russische Fassung (Vladimov, Georgij: General i ego armija. Ekaterinburg 1999) zitiert. 66
GEORGI WLADIMOW: „DER GENERAL UND SEINE ARMEE“
In fast allen Tragödien von Shakespeare geht es um die Frage der Macht. Auch in Wladimows Roman stehen Macht und die Beziehungen zwischen den Herrschenden und den Beherrschten im Mittelpunkt. In „Der General und seine Armee“ hängt der Ausgang einer wichtigen Militäroperation vom Kampf der Eitelkeiten der Befehlshaber ab. Die Hauptfigur des Romans, General Foti Kobrissow, kämpft im Krieg an zwei Fronten: nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch gegen die sowjetische militärische Hierarchie, in deren Machtintrige er verwickelt wird.71 Seine Armee steht 1943 vor der Rückeroberung der ukrainischen Stadt Predslavl´72 (gemeint ist Kiew) nach einer erfolgreichen Errichtung eines Brückenkopfes bei Myrjatin (in Wirklichkeit Ljutež) auf der Westseite des Dnjepr. Durch die Intrigen der Generäle Terestschenko (in Wirklichkeit Kirill Moskalenko, dessen Armee Kiew tatsächlich zurückeroberte) und Chruschtschow, die seinen Erfolg beneiden und den Ruhm der Eroberer von Predslavl´ – „der Perle der Ukraine“ – sich selbst wünschen, wird Kobrissow gezwungen, seine Armee zu verlassen und ins Hauptquartier nach Moskau zu fahren, wo ihm der Abschied in den Ruhestand droht. Diese Fahrt verläuft durch die ganze Romanhandlung und wird von mehreren zeitlichen flashbacks unterbrochen. Es ist eine Reise durch das kriegszerrissene Russland von der Frontlinie bis Moskau in dem legendären „Willis“,73 den Wladimow als „unser Siegeswagen“ bezeichnet. Wie die „Troika“ im Roman von Nikolaj Gogol „Tote Seelen“ bildet der Willis den Rahmen für die gesamte Handlung und verleiht ihr den Sinn der Bewegung, während vom Autor verschiedene Seiten des Krieges entdeckt werden. Der Jeep des Generals Kobrissow kommt jedoch nie in Moskau an: Er hält an für ein „Picknick“ am Stadtrand, als der General über einen öffentlichen Lautsprecher die Nachricht von der Einnahme Myrjatins, seine Beförderung zum General-Oberst und die Ernennung zum Helden der Sowjetunion hört. Vom Ehrgeiz überkommen, befiehlt Kobrissow spontan seinem Fahrer, ihn zurück „zu seiner Armee“ zu bringen – „Predslavl’ zu nehmen, nicht mehr und nicht weniger!“74 Zum ersten Mal in seinem Leben tritt Kobrissow gegen die höhere Macht an. Doch Major Swetlookow vom SMERŠ organisiert den Beschuss des „Willys“. Alle Begleiter des Generals kommen um. Dank eines glücklichen Zufalls bleibt er am Leben, aber seine Karriere ist beendet. 71 Vgl. Lewis, Barry: War on Two Fronts: Georgi Vladimov's The General and His Army. In: World Literature Today 73 (1999) 1, S. 29. 72 Genau übersetzt bedeutet Predslavl´ „vor dem Ruhm“. 73 So hießen in der Roten Armee die amerikanischen Jeeps – nach der Bezeichnung des Herstellers „Willis Corporation“. Das Wort Jeep (vom „General Purpose“ - Fahrzeug) war in der Sowjetunion nicht bekannt. 74 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee. Berlin 1997, S. 502. 67
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Anmerkungen Die Hauptfigur Foti Kobrissow ist ein typischer Sowjetgeneral mit einer typischen Biographie: er ist Don-Kosak, studierte an einer Junkerschule, kämpfte im Bürgerkrieg auf der Seite der Roten Armee, setzte später die Zwangskollektivierung der Bauern durch und diente treu Stalin in den 30er Jahren. Sein Gebaren, seine Manieren und Charakter sind repräsentativ, außerdem sein Ehrgeiz und die für viele sowjetische Generäle so typische “charmante soldatische Keckheit, die zeitweilig in Frechheit überging.“75 Der Unterschied zu den anderen Befehlshabern – „gewöhnliche Kobrissowsche Dummheit“, wie es im Roman heißt, – besteht jedoch darin, dass er den Wert des menschlichen Lebens schätzt. Charakteristisch ist sein Dialog mit Marschall Schukow während der Konferenz, die Schukow in Kobrissows Hauptquartier hält. Kobrissow wird unter Druck gesetzt, zuerst die kleine Stadt Myriatin auf der Nordflanke seines Brückenkopfes einzunehmen. Er erwidert, dass die Stadt ohne Gefahr umgegangen werden kann, und dass die Einnahme zehntausend Menschenleben kosten würde, genauso viel wie die gesamte männliche Bevölkerung der Stadt. Kobrissow will nicht „Russland mit Russland bezahlen.“ Daraufhin antwortet ihm Schukow, „na und, verlangen Sie Auffüllung. Nach Myrjatin kriegen Sie welche“, denn „für das Wort ‚leid tun’ hatte er (Schukow – E.S.) kein Empfindungsorgan.“76 Wladimow zeigt seine Abneigung gegenüber solchen Militärs wie General Terestschenko, der sich Ruhm als „Armeebefehlshaber des Angriffs“ erworben hat („Wie viele Soldaten muss man für solch einen Spitznamen opfern? 40 000, nicht weniger!“77), ohne Rücksicht auf Verluste zu nehmen. Die meisten sowjetischen Generäle im Roman, dauernd im gegenseitigen Wettbewerb, denken nicht an die Interessen des Landes oder den Erhalt von Soldatenleben, sondern nur an ihren eigenen Ruhm. Sie können dem Druck nicht widerstehen, bedeutende Städte zu wichtigen politischen Jubiläen wie der Oktoberrevolution einzunehmen – ohne militärische Notwendigkeit. Einen anderen Grund, Myriatin zu umgehen, gibt Kobrissow nicht an, aber er weiß, dass die Stadt unter anderem von einem Regiment antisowjetisch gesinnter Russen in deutscher Uniform verteidigt wird, und er verabscheut die Idee, dass Russen gegen Russen kämpfen müssen. Die Frage der Kollaboration trifft den Kern jeder Nation und bleibt lange nach dem Waffenstillstand umstritten. Die deutsche Invasion entlarvte den Mangel an Loyalität seitens einer großen Zahl sowjetischer 75 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 38. 76 Ebd., S.299f. 77 Ebd., S. 165. 68
GEORGI WLADIMOW: „DER GENERAL UND SEINE ARMEE“
Bürger gegenüber der Staatsführung, die keine Parallele in der Kriegsgeschichte hatte. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Generalleutnant Andrej Wlassow. Wlassow, der 1942 von den Deutschen gefangen genommen wurde, beteiligte sich maßgeblich am Aufbau der sogenannten Russischen Befreiungsarmee (Russkaja Osvoboditel’naja Armija – ROA), die aber nie zum Einsatz kam. Die Aufstellung und Bewaffnung einer russischen Armee unter Wlassow scheiterte bis 1944 an Hitlers Einstellung, dass der Krieg gegen die Sowjetunion allein der Eroberung von „Lebensraum“ für die Deutschen diene und die dort lebenden „Untermenschen“ allenfalls für Sklavenarbeiten einzusetzen seien. Wladimow greift die historische Figur Wlassows auf, weil ihn die Frage beschäftigt, ob es innerhalb Russlands eine Kraft gab, die der Macht widerstehen konnte, die das Land versklavt und in ein Lager verwandelt hatte. In der Sowjetunion galt Wlassow als „Überläufer“ und „Verräter“ im Gegensatz zu den loyalen und siegreichen Generälen der Roten Armee. Das Thema der Kollaboration war dabei immer sehr sensibel, so dass nur Schriftsteller die Auseinandersetzung damit wagten – Anatolij Kuznecov, Vasilij Grossman, Aleksandr Solschenizyn und Vasil´ Bykov. Georgi Wladimow ist nicht der erste Schriftsteller, der die Figur Wlassow aufgreift. In „Heißer Schnee“ von Jurij Bondarev (1970) wurde Wlassow, gemäß der sowjetischen Standardformel, als Verräter dargestellt, für den es keine strafmildernden Umstände gab. „Das Wort ,Wlassow-Mann’ klingt bei uns wie: ,Unrat’, keiner mag es in den Mund nehmen“, schreibt Solschenizyn in „Archipel Gulag“. Auch ihn interessieren die Ursachen der Wlassow-Bewegung. Er bemerkt, dass es für die Weltgeschichte eine recht ungewöhnliche Erscheinung ist, „wenn einige hunderttausend junge Männer im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren im Bündnis mit dem ärgsten Feind die Waffen gegen ihr Vaterland erheben. Dass man sich vielleicht überlegen sollte, wer die größere Schuld dafür trägt: diese Jungen oder das altehrwürdige Vaterland? Dass man dies mit biologischer Treulosigkeit nicht erklären kann, sondern soziale Ursachen suchen muss.“78 Im Roman „Der General und seine Armee“ erscheint Generalleutnant Wlassow zweimal: während der Ereignisse vor Moskau im Dezember 1941, als er die 20. Armee befehligt, und viel später in der Erinnerung von General Kobrissow, als er sich an seine Vorkriegsbegegnungen mit Wlassow erinnert und über dessen Entscheidung nachdenkt, zu den Deutschen überzulaufen. Wladimow will, dass Wlassow für seine Verdienste um die Verteidigung Moskaus Gerechtigkeit widerfährt: Für ihn „ging er (Wlassow – E.S.) in die Geschichte für immer als Retter der
78 Solschenizyn, Alexander: Archipel GULAG. Bern 1974, S. 253. 69
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russischen Hauptstadt ein. Und dort sollte er vier Jahre später vor Gericht gestellt und hingerichtet werden. Dennoch würde sein Name trotz aller Verunglimpfungen niemals vom Namen der Stadt zu trennen sein.“79 Der Autor beschreibt Wlassow als einen attraktiven Mann, passend zu seiner Romanrolle als Held und Märtyrer: „Schön, männlich-asketisch waren die hohlen Wangen; die hohe Stirn und sein düster-strenger Blick durch die Brille beeindruckten, der Mund war groß, doch beim Schweigen zusammengepresst und gefasst, das ganze Gesicht war schwer, zum Teil leidvoll, doch es erweckte den Eindruck von starkem Geist und Willen.“80 Es wird erwähnt, dass er „der größte Flucher in der Armee“ war, „was ihn bereits zum Liebling der Soldaten gemacht hatte.“ Auch „sprach [Wlassow] kräftig dem Alkohol zu, verlor dabei aber nicht den Faden des Gesprächs“81 – beides sind Mittel, um Wlassows ureigenes „Russentum“ zu demonstrieren. Die Aussage „Er kann ein Glas halten! Also ist er ein richtiger Mann!“ ist eine sehr russische Formulierung. Auch orthodoxe Symbolik ist reichlich vorhanden: Wlassow wird als ein tief gläubiger Mensch gezeigt und schockiert seine Untergebenen damit, dass er sich „sogar ein wenig theatralisch“ bekreuzigt. General Wlassow im Roman ist nicht nur ein bedeutender Armeebefehlshaber, der eine wichtige Rolle in der ersten Phase des Krieges spielt, er ist vor allem ein genuin russischer Mensch, der den nationalen Traditionen und Heiligtümern treu ist, deshalb, so die Position des Autors, kann man seinen Kampf gegen Stalin und das für Russland fremde Stalin-Regime verstehen und rechtfertigen. Gleichzeitig zeigt Wladimow, warum der Weg Wlassows keine Option ist: Stalin rief, Russland vor Fremdherrschern zu verteidigen, während Wlassow zusammen mit den Deutschen Russland – er selbst meinte jedoch Stalin – angriff. Egal, wie ansprechend seine Reden über die Befreiung Russlands waren, in den Augen der meisten Menschen war er ein Komplize des Feindes. Wlassows entscheidender Fehler in Kobrissows Augen ist, „dass er sich, wenn auch nur auf Zeit, mit denen zusammentat, die das russische Volk als Henker und Peiniger erlebt hat. Wenn jemand den Deutschen verzieh und mit ihnen zusammenarbeitete, dann war er nicht besser als sie!“82 Seine Bewegung entstand erst nach den Siegen der Roten Armee bei Stalingrad und Kursk, zu spät also, um entscheidende Änderungen zu bringen. „Er war ein Spieler – und wurde zum Spielzeug“,83 bewertet Kobrissow Wlassows Position bei den Deutschen. 79 80 81 82 83
Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 129. Vladimov, Georgij: General i ego armija, S. 74. Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 258. Ebd., S. 263. Ebd. 70
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Die Frage der politischen Loyalität betrifft auch General Kobrissow. Unmittelbar vor dem Krieg wurde er verhaftet und verbrachte vierzig Tage (eine in der russischen Orthodoxie symbolische Zahl) in einem NKWD-Gefängnis. Hier erlebte er eine tiefe Erniedrigung – ein junger Vernehmungsbeamter schlug ihn – einen Kampfgeneral! – mit einem Lineal auf die Hände und ließ ihn in der Ecke knien, um das absurde Geständnis herauszupressen, dass Kobrissow ein Attentat auf Stalin plane. Sein Haftgefährte, ein Literaturwissenschaftler, der wegen seiner Voltaire-Interpretationen verhaftet wurde, sagt zu ihm, er solle überleben, um später Russland zu dienen. Hier wird die Kluft zwischen Kobrissow und Wlassow deutlich: Wenn Russland dienen heißt, Stalin dienen, dann sei es so, denkt Kobrissow. Für ihn ist Kollaboration mit den Deutschen keine Option. Auch Widerstand gegen Stalin kommt nicht in Frage: die Idee des Kommissars Kirnos, eines überzeugten Trotzkisten, sich zum Militärdiktator zu erklären, um mit Stalin abzurechnen, lehnt Kobrissow ab. Mit der anderen umstrittenen Romanfigur, dem deutschen Panzergeneral Guderian, verbindet Kobrissow das, was ihn vom „Armeebefehlshaber des Angriffs“ Teretschenko und vom Marschall Schukow unterscheidet: In der Situation, als die eigene Karriere mit den Leben der Anderen bezahlt werden muss, entscheiden sich Kobrissow und Guderian, die Karriere zu opfern. Guderian sieht, dass die Sommerkampagne verloren ist, und will nicht seine Soldaten in den sicheren Tod in den Schneestürmen von Moskau schicken („doch sie in das Eisgrab jagen, das sollte jemand anders tun“).84 „Das Genie und die Seele des Blitzkrieges“, Generaloberst Guderian, unterschreibt seinen ersten Rückzugsbefehl seit Beginn des Krieges. „Einen Befehl, der seine Entlassung zur Folge haben konnte, den Unwillen des Führers, die Aufforderung zum Duell und die hämische Schadenfreude vieler seiner Kollegen aus der Generalität.“85 Kobrissow weiß seinerseits, dass die sinnlose Einnahme Myrjatins zehntausend Soldatenleben kosten würde und weigert sich, den Angriff auf die Stadt vorzubereiten, was das Ende seiner Karriere bedeutet. Alle Generäle, die im Roman sympathisch dargestellt werden – Kobrissow, Wlassow und Vatutin – haben einen klugen Rückzug organisiert, ohne unnötige Verluste zuzulassen. Vor Wladimow wurden in der russischen Literatur über den Großen Vaterländischen Krieg die Generäle nur für ihre Angriffsoperationen gelobt. Im Mittelpunkt des Romans steht die höchste Elite der Roten Armee. Doch selbst die Armeebefehlshaber, die über große militärische Macht
84 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 119. 85 Ebd., S. 120. 71
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verfügen, empfinden Angst vor dem „Obersten“ (so, fast wie einen Gott, nennen sie Stalin) und seinen Straforganen, schmeicheln sich bei denen ein, die der höchsten Macht nahe stehen, und sind grob zu den Untergeordneten. Die Instanz, die vor allem für die Reproduktion der Angst zuständig ist – die Geheimpolizei, die „Sonderorgane“ – wird im Roman vor allem in der Figur des Majors Swetlookow verkörpert. Der Nachnahme Swetlookow – „helles Auge“ – ist kein Zufall, denn dieser lächelnde, gesellige und Gedichte schreibende Major ist ein Mitarbeiter der Spionageabwehrorganisation SMERŠ,86 er ist „das Auge des Staates“. Das permanente Misstrauen, die eindringliche Kontrolle und der Spitzeldienst, die über jedem einzelnen hängende Gefahr, Repressionen ausgesetzt zu werden, ständige Angst – das sind die Umstände, in denen sich die Protagonisten in Wladimows Roman bewegen. Sogar die engsten Vertrauten des Generals Kobrissow – sein Fahrer, sein Adjutant – wurden von Swetlookow angeworben und willigten ein, den General geheim zu überwachen. Selbst sein treuster Diener, die Ordonnanz Šesterikov, warnt ihn nicht davor, dass er bespitzelt wird. Wladimows Botschaft enthält wenig Positives: Eine Tyrannei zu besiegen, die sich auf die Angst-Liebe ihrer Sklaven stützt, ist schwer, fast unmöglich. Der Große Vaterländische Krieg steht für die Unterworfenheit der Bevölkerung unter die Staatsmacht – eine Ansicht, die bei den Anhängern der kommunistischen Ausrichtung des „nationalpatriotischen Lagers“ auf scharfe Ablehnung stößt.
Rezeption Kaum ein Werk über den Großen Vaterländischen Krieg wurde so heftig kritisiert wie Wladimows „Der General und seine Armee“. Die konservativen Kritiker87 warfen Wladimow Verfälschung der historischen Tatsachen und Verleumdung der sowjetischen Rolle im Krieg gegen Nazideutschland vor.88 Der Grund dafür war die positive Darstellung des Generals Wlassow. Außerdem habe Wladimow die sowjetische Militärführung negativ porträtiert, während er mit der Darstellung des deutschen Panzergenerals Guderian durchaus Sympathien erweckte. Anatolij 86 SMERŠ („Smert’ špionam“ - „Tod den Spionen“): sowjetische Spionageabwehr während des Zweiten Weltkriegs. 87 Gemeint sind vor allem die sog. „National-Bolschewiki“ und die Anhänger der kommunistischen Partei, die in Russland – im Gegensatz zur westlichen politischen Landschaft – zu den konservativen Kräften gehören. 88 Lobanov, Michail: Pamjat’ vojny. In: Naš sovremennik (2005) 5, URL: http://nashsovr.aihs.net/S.php?y=2005&n=5&id=7, 22.10.2007. 72
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Rybakov nannte Wladimows Roman in einer Sendung im Radio „Echo Moskvy“ „eine Apologie des Verrats“, Efim Ljamport bezeichnete den Autor als „literarischen Wlassow-Soldaten“.89 Dagegen meinte Alexander Solschenizyn, „allein die Ausarbeitung dieses Themas (Kollaboration – E.S.) würde reichen, damit Wladimows Roman für immer in der russischen Literatur ausgezeichnet bleibt.“90 Die meisten anderen Fürsprecher des Romans konzentrierten sich vor allem auf seine literarischen Qualitäten.91 Das Lob kam vor allem von den Literaturkritikern, die der Generation der „60er Jahre“ („schestidesjatniki“) oder einer jüngeren angehörten, während ältere Kritiker mit Kriegserfahrung oder Militärhistoriker den Roman aus ideologischen Gründen attackierten. Die umfangreichste und heftigste Kritik kam vom Schriftsteller Vladimir Bogomolov (Jg. 1926), einem konservativen Autor vieler Bücher über den Großen Vaterländischen Krieg.92 In seinem umfangreichen Essay „Schande sei mit Lebenden, Toten und Russland...“ weist er auf die Fehler hin, die nach seiner Auffassung in Wladimows Darstellung der historischen Ereignisse vorhanden seien.93 Es sei unrealistisch, so Bogomolov, dass ein General während der schwersten Gefechte um Moskau im Winter 1941 sein Hauptquartier verlasse, um sechs Kilometer nur in Begleitung seiner Ordonnanz zu Fuß durch verschneite und vom Feind überwachte Landschaft zu gehen, lediglich um ein paar Flaschen französischen Trophäencognacs mit seinem alten Kumpel zu trinken. Genau so unwahrscheinlich sei es, dass Kobrissow, der schon einmal in einem NKWD-Gefängnis gewesen sei, auf halbem Weg ins Oberhauptquartier anhalte und ohne Befehl zu seiner Armee zurückkehre, nur weil er im Radio von seiner Beförderung gehört habe. Auch überschätze Wladimow die Rolle der NKWD und SMERŠ und deren Einfluss auf die sowjetischen Militärs. Diese Hinweise hatten vor allem das Ziel, Wladimows Glaubwürdigkeit als Autor in Frage zu 89 Ljamport, Efim: Buker-Ekspress. Novye zametki o ežegodnoj premii.In: Nezavisimaja gazeta vom 1.12.1995, S. 7. 90 Solženicyn, Aleksandr: Georgij Vladimov – General i ego armija. In: Novyj mir (2004) 2, S. 145. 91 So Ivanova, Natalia: Dym otečestva. In: Znamja (1994) 7, S. 183-193; Anninskij, Lev: Spasti Rossiju cenoj Rossii. In: Novyj mir (1994) 10, S. 214-221; Nemzer, Andrej: Odolevaja tuman. In: Zvezda (1995) 5, S. 184188; Nehorošev, Michail: Generala igraet svita. In: Znamja (1995) 9, S. 211-219. 92 Vgl. Kapitel 2.1.4. „Imperium versus Individuum“, S. 59f. 93 Bogomolov, Vladimir: Sram imut i živye, i mertvye, i Rossija... In: Knižnoe obozrenie (1995) 19, S. 14-19. 73
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stellen. Bogomolov, der sich als Repräsentant der gesamten Kriegsgeneration begriff, fand die positive Darstellung Wlassows und Guderians inakzeptabel. Guderian werde als jemand gezeigt, der freundschaftlich, wenn nicht kumpelhaft mit seinen Soldaten umgeht. Bogomolov wies darauf hin, dass die Rückzugsbefehle des historischen Generals Guderian Anweisungen zur Verbrennung der Dörfer enthielten und dass die deutschen Truppen beim Rückzug das ehemalige Gut Leo Tolstojs Jasnaja Poljana zerstörten, beides unerwähnt von Wladimow. Auch ignoriere Wladimow Guderians Kriegsverbrechen, seine Teilnahme an der Zerschlagung des Warschauer Aufstandes von 1944 und seine Treue zu Hitler, die sich an seiner Beteiligung an der Verfolgung der Verschwörer des 20. Juli 1944 zeigte. Bogomolov mag Recht haben, wenn er darauf hinweist, dass Guderian vor allem ein hoher Offizier einer Angriffsarmee war, die in Russland einen Vernichtungskrieg führte, wie hoch seine intellektuellen oder militärischen Verdienste auch gewesen sein mögen. Andererseits spiegelt seine Kritik die sowjetische Idealisierung der Roten Armee und ihrer Kriegsleistungen wider. Dabei lässt er gravierende taktische Fehler der sowjetischen Generalität außer Acht. In Wladimows Roman sieht er die Fortsetzung der westlichen Strategie, den sowjetischen Anteil am Sieg abzuwerten. Wladimows Darstellung von Andrej Wlassow löste bei Bogomolov noch größere Wut aus. Für die meisten Russen ist Wlassow vor allem ein Vaterlandsverräter. Leonid Rešin unterschied in seinem Essay „Kollaborateure und Regimeopfer“, das sich unter anderem auf Wladimows Roman bezog, zwischen denjenigen, die ohne eigene Schuld von den Deutschen gefangen genommen wurden und nach dem Krieg lange Verhöre, Gefangenschaft in Arbeitslagern, Existenzverlust, Hinrichtung oder Exil erleben mussten, und denjenigen, die wie Wlassow aktiv mit den Deutschen kollaborierten.94 Diese Unterscheidung ist richtig, jedoch gibt sie keine Antwort auf die Frage, warum so viele sich zur Kollaboration bereit erklärt haben. Wlassow und viele Soldaten wussten, was sie laut Stalins Befehl № 270 nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft erwartete: des Verrats beschuldigt und verurteilt zu werden. Dementsprechend waren sie kaum motiviert, „loyal“ gegenüber Stalin zu bleiben. Michail Nehorošev bemerkt, dass der Inhalt des Befehls klar definiert war: „Wir haben kein Wort „Kriegsgefangener“, aber es gibt das Wort „Verräter“.95 Während des gesamten Krieges gab es nicht weniger als etwa fünf Millionen dieser „Verräter“. „Umwertungsversuche wie die Wladimows werden regelmäßig als Strategien 94 Rešin, Leonid: Kollaboracionisty i žertvy režima. In: Znamja (1994) 8, S. 158-179. 95 Nehorošev, Michail: Generala igraet svita, S. 212. 74
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gedeutet, die dem Ausland dienen und Russland den Sieg streitig machen sollen“,96 bemerkt Andreas Langenohl. Eine Infragestellung der etablierten Geschichtsversion bedeutet im konservativen Lager automatisch die Nicht-Anerkennung des Großmachtstatus und die Schändung des Andenkens der Opfer. Die Umwertung der Geschichte diene den Interessen des Westens. So wurde Wladimow beschuldigt, im Westen zu leben und das russische Volk zu verraten.97 „Indem sie sich bei den Deutschen ernähren, sind diese Schreiberlinge auf den russischen Soldaten-Befreier und auf Russland wütend, als Zeichen ihres ‚neuen, deutschen Patriotismus’“,98 äußert sich im alten sowjetischen Stil Michail Lobanov. Wladimows Antwort war ähnlich polemisch.99 Er behauptete fälschlich, Bogomolov sei in seiner Jugend ein SMERŠ-Offizier gewesen, und verteidigte Guderian, indem er auf die sowjetischen Kriegsverbrechen hinwies. Seine Selbstverteidigung war gleichermaßen nationalistisch, aber in einem traditionellen Sinne. Dieser traditionelle Nationalismus basiert auf Verehrung der russischen Militärtradition und der Orthodoxie, auf Feindlichkeit und Überheblichkeit gegenüber den nicht-russichen Völkern (im Roman gegenüber den Ukrainern). In dem Streit über den Roman ging es nicht zuletzt um die Rolle der „Macht“ im Krieg und nach dem Krieg sowie das Verhältnis zwischen Volk und Staat. Für Bogomolov, der aus verletztem Nationalstolz argumentierte, bedeutete Wladimows Kritik an der Generalität gleichzeitig Kritik an den Verdiensten der Roten Armee, denn er denkt Staatsmacht und Bevölkerung zusammen. Eine alternative Deutung wird abgelehnt und die Person, die sie äußert, aus der Gemeinschaft der Russen ausgeschlossen (die Betonung des Exil-Status von Wladimow) und in Verbindung mit politischen Kräften gebracht („Demokraten“, „Liberale“ – die in Russland für alles Unheil nach der Wende stehen), die nur das Schlechte für Russland wollen.100 Hinzu kommt, dass „Der General und seine Armee“ in der Zeit des ersten Tschetschenienkrieges (1994-1996) erschien und den russischen Booker-Preis (1995) erhielt. Die russische Armee war durch ihre 96 Langenohl, Andreas: Patrioten, Verräter, genetisches Gedächtnis, S. 129. 97 Varennikov, Valentin: Pokolenie pobeditelej. In: Naš sovremennik (1995) 9, S. 209-212. 98 Lobanov, Michail: Pamjat’ vojny. In: Naš sovremennik (2005) 5, URL: http://nashsovr.aihs.net/S.php?y=2005&n=5&id=7, Stand 22.10.2007. 99 Vladimov, Georgij: Kogda ja massiroval kompetenciju. In: Knižnoe obozrenie (1996) 12, S. 11-16. 100 Vgl. Langenohl, Andreas: Patrioten, Verräter, genetisches Gedächtnis, S. 121-138. 75
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Unfähigkeit, diesem blutigen Krieg ein Ende zu setzen, in den Augen der Elite „gedemütigt“. Nichts konnte die Nationalisten, das Militär und andere Konservative so polarisieren wie Wladimows positive Darstellung eines sowjetischen Generals, der nach seiner Gefangennahme 1942 mit den Deutschen kollaborierte. Der Erhalt des Booker-Preises, der einen westlichen Ursprung hat, war ein weiterer Grund, warum die konservativen Kritiker Wladimows Roman als Teil des angeblich vom Westen inspirierten „Informationskrieges“ sahen, dessen Ziel es sei, die Bedeutung des sowjetischen Sieges über dem Faschismus zu unterminieren.
Viktor Astaf´ev: „Verdammt und Umgebracht“ Wir haben den Feind mit unserem Blut überschwemmt, mit unseren Leichen zugeschüttet. Darüber zu schreiben ist hart. Es ist natürlich besser, wenn man unter Trommelschlag verkündet, dass wir gesiegt haben. Doch wie haben wir gesiegt? Viktor Astaf´ev
„Am Tag des Sieges kann ich nicht fernsehen“, sagte der Schriftsteller Viktor Astaf´ev in einem Interview für die Zeitschrift „Moskau“ im Jahre 1984. „Das Programm ist vollgestopft mit angeberischen, herausgeputzten Parademilitärs und Schönrednern.“101 Schon während der Perestrojka hat Astaf´ev die Heuchelei des offiziellen sowjetischen Kriegsgedenkens betont. Im Jahre 1988 sagte er auf einer Konferenz, dass er als Frontsoldat mit dem, was lange Zeit über den Krieg geschrieben worden war, „nicht das geringste zu tun hatte“ und dass er„in einem völlig anderen Krieg“ gewesen sei, was allgemein bekannt wurde.102 Diesen „anderen Krieg“ („drugaja vojna“) literarisch darzustellen wurde zum größten Anliegen des Schriftstellers, das er in seinem monumentalen und heftig umstrittenen Roman „Verdammt und Umgebracht“ (1994) zum Ausdruck brachte.103 Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff des „anderen Krieges“? 101 Astaf´ev, Viktor: Otvet na anketu žurnala „Moskva“ k 40-letiju Pobedy. URL: http://www.fro196.narod.ru/library/astafiev/publicism/prebudet.htm#4, Stand 22.10.2007. 102 Zit. in: Bonwetsch, Bernd: „Ich habe an einem völlig anderen Krieg teilgenommen.“ Die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Sowjetunion. In: Berding, Helmut (Hrsg.): Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, S. 146. 103 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity. Moskva 2002. 76
VIKTOR ASTAF´EV: „VERDAMMT UND UMGEBRACHT“
Vjačeslav Kondrat´ev, Kriegsveteran und Schriftsteller, bemerkte mit Bitternis, dass seine Schriftstellerkollegen vieles „über die maßlose Grausamkeit des Krieges, über unsere eigene Grausamkeit“ nichts gesagt hätten. „Wir haben nichts über Strafkompanien und Bataillone gesagt. Unsere Kriegsprosa erzählte wenig über die Unfähigkeit vieler unserer Feldherren, einen modernen Krieg zu führen, über unsere Siege um „jeden Preis“ (den unsere Feldherren auch zahlten!), über die Einnahme der Städte und sogar der Ortschaften an Feiertagen... Verschwiegen wurden das unwürdige Verhalten mancher unserer Soldaten in Ostpreußen, Vergewaltigungen, Brandstiftungen und Erschießungen der Zivilbevölkerung. Einfach so, aus Rache. Man verschwieg es, weil man wusste, dass es sowieso zensiert werden würde. Verschwiegen wurden die Unanständigkeiten und Saufgelage hinter der Front, der Zwang zum Konkubinat, dem unsere Mädchen ausgeliefert waren, die sich aus den reinsten und ehrenhaftesten Gefühlen ins Kriegsfeuer warfen – um die Heimat zu verteidigen. Und dann wurden sie, in der Regel, ins Bett geholt...“104
Die Kehrseite des Krieges, die nicht zuletzt auf die Grausamkeiten des stalinistischen Regimes zurückzuführen war, blieb und bleibt in der offiziellen Erinnerung in Russland unbeachtet. Die furchtbaren Kriegsfolgen – zahlreiche Kriegsopfer, Kriegsgefangene, der furchtbare Kriegsalltag, die Schicksale der Frauen im Krieg – wurden aus der offiziellen Erinnerung gelöscht. Diese „Kehrseite“, den „anderen Krieg“, machte Astaf´ev zu seinem Thema. Ähnlich wie Maxim Gorkij war der im Jahre 2001 verstorbene Viktor Astaf´ev ein begabter Autodidakt. Aufgewachsen in einem Waisenhaus in Sibirien, meldete er sich 1942 freiwillig an die Front. Nach dem Krieg arbeitete er als Schauermann, Schlosser und Gießer und besuchte parallel eine Abendschule. Die Kenntnis des „einfachen Lebens“, der „einfachen Menschen aus dem Volk“, bereicherte sein literarisches Schaffen und machte seinen Stil und seine Sprache einzigartig. Bekannt wurde Astaf´ev in den 60er-70er Jahren mit seiner „Dorfprosa“, vor allem dem Roman „Zar-Fisch“. Im Jahre 1971 erschien seine Kriegsnovelle „Schäfer und Schäferin“, eine tragische Liebesgeschichte zweier Menschen im Krieg. Schon in dieser Novelle wurde der Krieg als Zerstörung des menschlichen Lebens und menschlicher Hoffnungen gezeigt und nicht als eine geistige Erhebung, wie in den meisten sowjetischen Kriegsromanen. Astaf´evs Roman „Der traurige Detektiv“ wurde zu einer Sensation der Glasnost’, da in ihm das russische Provinzleben als eine schmutzige
104 Zit. in: Vachitova, T.M.: Narod na vojne. Vzgljad Astaf´eva iz serediny 90ch. Roman „Prokljaty i ubity“. In: Russkaja literatura (1995) 3, S. 116. 77
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hoffnungslose Hölle dargestellt wurde. Gleichzeitig empörte viele Leser der antisemitische Ausfall des Schriftstellers: Im vierten Romankapitel stand ein Absatz über die „Judchen“ („evrejčata“), die an einer provinziellen Hochschule studierten. Antisemitismus, den es nach offizieller Fassung in der Sowjetunion nicht gab, kam an die Öffentlichkeit – und noch dazu aus der Feder eines renommierten Autors! Im Jahre 1986 löste eine andere Erzählung Astaf´evs, „Der Gründlingfischfang in Georgien“, einen politischen Skandal aus. In dieser Erzählung äußerte sich Astaf´ev mit boshafter Ironie über die Sitten der Georgier. Es folgte ein scharfer offener Briefwechsel mit dem Historiker Natan Ėjdel´man, der Astaf´ev für seine Verachtung der nichtrussischen Völker kritisierte. In der ziemlich gespannten Atmosphäre der ersten Jahre der Perestrojka, als die früher unterdrückte Nationalitätenproblematik an die Oberfläche kam, dienten solche Äußerungen als Anlass zu einer heftigen Debatte. Doch Anfang der 90er brach Astaf´ev mit der patriotisch orientierten Zeitschrift „Naš sovremennik“ („Unser Zeitgenosse“) und wechselte zu „Novyj Mir“ („Neue Welt“) und „Znamja“ („Banner“). Seine antikommunistische Haltung machte ihn zu einem eifrigen Fürsprecher der neuen demokratischen Bewegung unter Boris Jelzin. Nachdem Astaf´ev sich von vielen Großmachtillusionen und russophilen Einstellungen befreit hatte, sah er trotzdem die Quelle der russischen Katastrophen entweder in jüdischer oder baltischer „Hochmütigkeit“ oder in der „Wichtigtuerei der Chochols“ (abwertende Bezeichnung der Ukrainer). Astaf´ev war eine höchst umstrittene und widersprüchliche Figur des russischen literarischen Lebens. Neben Georgi Wladimows „Der General und seine Armee“ war vor allem sein Roman „Verdammt und Umgebracht“ das belletristische Werk über den Krieg, das die Diskussion über das Erbe des Krieges in Russland der frühen postsowjetischen Periode prägte. Astaf´ev entlarvte diesmal den nationalen Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg als Zeit der allgemeinen Einheit und Geschlossenheit, einer tragischen, doch hellen Epoche der russischen Geschichte. Er zeigte schmutzige Hinterhöfe des Schlachtenepos und erntete dafür Feindseligkeit von der Seite zahlreicher Kriegsveteranen.
Inhalt Die Handlung dieses umfangreichen Romans auf ein paar Seiten zusammenzufassen ist kein leichtes Unterfangen, denn der Schriftsteller setzte sich die genaue Beschreibung von all dem zum Ziel, was er selbst als Frontsoldat und Rekrut hinter der Front erlebt hatte. Zudem wollte er 78
VIKTOR ASTAF´EV: „VERDAMMT UND UMGEBRACHT“
durch eine sehr detaillierte Darstellung die Vorwürfe vermeiden, sein Roman sei gelogen und unrealistisch. Astaf´evs Sprache ist schwer, bildhaft, mit vielen folkloristischen Elementen, was die Übersetzung ins Deutsche erschwert. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb in den letzten 15 Jahren kein einziges Werk des Schriftstellers in Deutschland verlegt wurde. Der Leser des Romans wird mit den Kriegsbildern konfrontiert, die in den gewöhnlichen sowjetischen ideologischen Standard nicht hineinpassen: Hungrige Rekruten in einem Sammellager; eine in ihrem „Schau- und Erziehungszweck“ unheimliche Szene der Erschießung von zwei Zwillingsbrüdern, die als Deserteure gebrandmarkt wurden; Sperrtruppen, die mit MP-Feuer all diejenigen empfangen, die sich beim Überqueren des Dnjepr von zerstörten Flößen und Booten gerettet haben und jetzt versuchen, ans eigene Ufer zu gelangen; ein vor Furcht heulender Nachrichtensoldat, der eine Telefonleitung an den Brückenkopf legt und wegen dieses so notwendigen Kabels mit dem Ruder auf die Hände und Köpfe der ertrinkenden Kameraden schlägt, die versuchen, sich an das rettenden Boot zu klammern. „Verdammt und Umgebracht“ vereint in Wirklichkeit zwei Bücher unter einem Titel. Die Handlung des ersten Buches, „Teufelsgrube“, spielt in einem sibirischen Trainingslager im Spätherbst 1942. Dort werden Kampfeinheiten formiert und für die Versetzung an die Front vorbereitet. In solch einem Trainingslager treffen die jungen 18-jährigen Rekruten ein, um später im zweiten Buch, „Der Brückenkopf“, an die Front geschickt zu werden. Das Leben der Protagonisten in der „Teufelsgrube“, der Krieg, den sie hier führen, ist der Kampf für das Überleben im primären Sinne: Ihre Sorgen sind extra Nahrung, Rauchtabak, eine obere Pritsche oder ein Schlafplatz in der Nähe des Ofens und Läusejagd. Autorität in der Kaserne genießen entweder Kriminelle oder die altgläubigen Sibirier, die lieber beten, statt den Reden des Politkommissars105 zuzuhören. Der emotionale Höhepunkt des ersten Romanteils ist die Szene der öffentlichen Erschießung der Zwillingsbrüder Snegirevs. Sich der Konsequenzen ihrer Tat nicht bewusst, hatten sie die Kaserne verlassen, um ihre Mutter, die nicht weit vom Trainingslager wohnt, zu besuchen. Wohlgenährt kommen sie zurückt und geben den Kameraden großzügig von den mitgebrachten Lebensmitteln. Doch kurz zuvor hatte Stalin einen Befehl erlassen, der für eigenmächtiges Entfernen von der Truppe die Höchststrafe vorsah.
105 „Politkommissare“ waren politische Offiziere, die sich um die ideologische Erziehung der Soldaten kümmerten. 79
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„Der Text des Urteils wurde geschickt zusammengebastelt. Es sah so aus, als gäbe es heutzutage nichts Schlimmeres als die Deserteure Snegirevs, die die gesamte sowjetische Rote Armee mit Schmach bedeckten, die Stärke des mächtigsten Staates der Welt – des sowjetischen Staates – untergruben und die Ehre des Sowjetsoldaten mißbrauchten.“106
Im zweiten Buch des Romans, „Brückenkopf“, schildert Astaf´ev die Szenen der schweren Kämpfe beim Überqueren des Dnjepr – das Schlimmste, was er selbst im Krieg erlebt hatte. Nur die Wenigsten werden das andere Ufer erreichen, „wer Glück hat oder wer nichts begreift. Nur vor lauter Dummheit kann man diese Breite auf einem mit Heu gefüllten Zelt überwinden oder auf einem Holzscheit. Die Merkblätter für Soldaten und Vorschriften für die Überquerung der Wasserhindernisse habe ich gelesen – sie wurden von Leuten ausgedacht, die selbst nicht ins Wasser steigen würden“,107 sagt ein Protagonist des Romans, erfahrener Soldat und sibirischer Jäger. Doch Astaf´ev fehlt in seiner Darstellung des Kriegselends die Konsequenz. Am Schluss des Romans steht folgende Passage: „Nachdem sie den zu weit gegangenen Feind in den Herbstkämpfen entkräftet haben werden, werden zwei starke Fronten eine Einkesselung der feindlichen Truppen beginnen... In das öde Land hineingetrieben, werden die Reste der deutschen Divisionen von Raupenketten zermalmt, im Schnee von der Kavallerie zerdrückt und von den sie verfolgenden sowjetischen Truppen in Stücke zerrissen.“108
Woher diese Truppen der sowjetischen Offensive, starke Fronten und starke Angriffe kamen, lässt Astaf´ev offen. Den ganzen Roman lang schilderte er die „dumme Starrköpfigkeit“ des Kommandos, sinnlose Verluste, den „Idiotismus der Befehle“ und den Gehorsam einfacher Vollstrecker – und nun schafft er im Sinne alter sowjetischer Kriegsepen ein musterhaftes Finale.
Anmerkungen Schon der Romantitel – „Verdammt und Umgebracht“ – ist das Gegenteil von traditionellen sowjetischen belletristischen Werken über den Krieg, die in ihren Überschriften meistens sieghaft und lebensbejahend sind. Die Epigraphe zu den beiden Büchern, die dem Neuen Testament
106 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 212. 107 Ebd., S. 353. 108 Ebd., S. 769f. 80
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entnommen wurden, drücken die Botschaft des Autors aus: „Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom anderen aufgefressen werdet“ (Paulus Gal 5:15 ) und „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: ,Du sollst nicht töten’; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig...“ (Matthäus 5:21). Im sibirischen Hinterland findet man keine Deutschen, keine Front und keine Luftangriffe. Dennoch verblassen sogar die grausamsten GULAG-Darstellungen im Vergleich mit Astaf´evs Beschreibung der „Teufelsgrube“, dieser Kasernenhölle, in der die jungen Rekruten physisch und seelisch zugrunde gerichtet werden. Im Mittelpunkt von Astaf´evs Beschreibung steht die körperliche Seite des Krieges: soldatische Leiden in der Kaserne. „Es ist die Welt des leidenden, sterbenden, verstümmelten Volkskörpers“,109 so der Kritiker und Literaturwissenschaftler Naum Leiderman. Astaf´ev formuliert die Idee von einer „Volksgemeinde“, die auf vorpersönlichen (Körperlichkeit) und außerpersönlichen (Glaube) Werten basiert. Die Religion spielt bei Astaf´ev eine sehr wichtige Rolle. Die besondere Sympathie des Schriftstellers genießt eindeutig der Sibirier Kolja Ryndin, vor allem wegen der unbeugsamen Standfestigkeit seines religiösen Glaubens. Kolja ist überzeugt, dass all das Elend, das er und seine Kameraden in der Kaserne aushalten müssen, eine verdiente Bestrafung für viele Sünden sei, insbesondere für die Ungläubigkeit. Hartnäckig und furchtlos wehrt er sich gegen alle Versuche des Politkommissars, ihn umzuerziehen und vom Glauben wegzubringen. Auch die Zielscheibe in Form eines deutschen Soldaten findet beim Altgläubigen Kolja Ryndin keinen Widerhall. „Genosse Soldat! Vor dir ist der Feind, ein Faschist, verstehst du? Wenn du ihn nicht tötest, tötet er dich“. Darauf antwortet Kolja: „Möge der Wille des Herrn geschehen.“110 „Alle, die auf der Erde Unruhe stiften, werden von Gott verdammt und umgebracht“,111 wiederholt Kolja die Worte seiner tief gläubigen Großmutter, die auch zum Titel des Romans wurden. Seine Kameraden, „die noch nicht verlernt haben, zu denken“, halten ihn für ein „positives Vorbild“, einen „unbeugsamen Menschen“, der sich nur „vor Gott im Gebet“ verbeugt, der „angesichts der Schwierigkeiten nicht kapituliert.“ Den anderen Anziehungspol für die Soldaten bildet die für Astaf´ev ungewöhnliche Figur des jüdisch-armenischen Ašot Vaskonjan. Er 109 Leiderman, Naum: Krik serdca. Tvorčeskij oblik Viktora Astaf´eva. In: Ural (2001) 10, URL: http://magazines.russ.ru/ural/2001/10/Ural_2001_ 10_14.html, Stand 10.02.2008. 110 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 118. 111 Ebd., S. 116. 81
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stammt aus einer ganz anderen sozialen und kulturellen Umgebung: einer Nomenklatura-Familie mit vielen Privilegien. Trotz seiner offensichtlichen Fremdheit erweckt er die Sympathie und das Vertrauen seiner Leidensgenossen durch seine Erzählungen vom anderen, schöneren Leben verschiedener Romanfiguren: „Kinder der Arbeiter, Kinder der Bauern, der Umsiedler, der Proletarier, der Gauner, der Diebe, der Mörder, der Trinker, die im Leben nichts Menschliches gesehen haben, noch weniger etwas Schönes, lauschten mit Ehrfurcht den Märchen über die prachtvolle Welt. Sie glaubten fest, dass es genau so war, wie in Büchern beschrieben, oder irgendwo sogar noch so ist, doch ihnen, den Kindern ihrer Zeit und, wie Kolja Ryndin behauptete, des vom Teufel verdammten Landes, bleibt das alles unzugänglich, für sie wird das Leben von Gottes Willen und Gesetz bestimmt.“112
Am Ende des ersten Buches tritt an die Stelle der düsteren Beschreibung der Hölle des Kasernenalltags ohne Handlungsdynamik – und dementsprechend ohne Ausweg – plötzlich eine Idylle. Durch eine zufällige Entscheidung des Kommandos wird das erste Bataillon vor der Versetzung an die Front zur Getreideernte in einem Dorf eingesetzt. Eine Wiederbelebung der Kräfte durch die Arbeit mit der Erde erfolgt, es gibt Liebe und Feste. Es ist dieser „Volksgeist“, der die Soldaten unbesiegbar macht. Die größte Schuld, so der Autor, tragen die Kommunisten dafür, dass sie die Bindung zwischen den Bauern und dem Land zerstört haben. „Welch eine Frechheit, welch eine Schamlosigkeit muss man haben, um den Bauern vom Pflug wegzureißen, in die Hand zu spucken, die das Brot gibt. Man sollte den Bauern sagen: „Willst du Brot – geh und säe“, doch ihr Verstand wurde verwirrt, auch sie wurden vom Teufel besessen und folgten den betrunkenen Kommissaren in Breecheshosen weg von der Erde in die entchristlichten Banden, zum lustigen, zügellosen Leben, schlossen sich dem allgemeinen Chor der Nichtstuer an, die von der Gleichheit des Weltproletariats predigen und Glück verheißen.“113
Die Idylle dauert nur zwei Wochen, dann folgt die Versetzung an die Front. Die Aufgabe, den Dnjepr zu überqueren, ist so gut wie unmöglich. Die Szene des Flussübergangs ist nicht bloß tragisch, sie ist hoffnungslos. „Auf der Insel brannten die Büsche. Panisch hin und her laufende Menschen wurden von MPs erschossen, von Minen betäubt, der Fluss wurde dicker und 112 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 67f. 113 Ebd., S. 243. 82
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dicker vom Menschenbrei... Alte und Junge, Vernünftige und Unvernünftige, Freiwillige und vom Kriegskommissariat Mobilisierte, Strafsoldaten und Gardisten, Russen und Nicht-Russen, alle schrieen dieselben Worte: „Mama! Gott! Mein Gott!“. Und die MPs zerhieben und zerhieben sie... Sich aneinander festklammernd ertranken die Verwundeten und auch die von den Kugeln und Splittern nicht Getroffenen in Trauben, der Fluss wurde hügelig von Blasen, schäumte mit schrecklichen Sturzwellen.“114
Astaf´evs Sicht auf den Krieg von seiner tragischen Alltagsseite her hat mit dem heroischen Pathos der offiziellen Kriegsdarstellung nichts zu tun. Fast alle Protagonisten, denen der Leser im ersten Buch als Rekruten begegnet ist, kommen auf dem Brückenkopf ums Leben. Der Krieg bedeutet für sie seelisches und physisches Leid. Diese Darstellung des Soldaten als Leidende widerspricht der traditionellen Vorstellung vom Vaterlandsverteidiger und Kämpfer, die in der russischen Gesellschaft verankert ist.
Rezeption Der Literaturkritiker Ivan Esaulov erklärte in seinem Essay „Teufelssterne und Heiliger Krieg“ den Roman zum „ersten Roman über diesen Krieg, der von der orthodoxen Position geschrieben“ sei und der auf der Gegenüberstellung von „Patriotismus (in seiner sowjetischen Variante) und christlichem Gewissen“ basiere. „Nicht das orthodoxe Kreuz, sondern der Stern des Satans war unser Wegweiser in diesem Krieg. Rote Banner und Kommissare führten uns in den Kampf im Namen derselben Partei, die davor das christliche Russland zerschlagen hat[...]“115 Die Sowjetzeit wird somit als Bruch mit der russischen Mentalität gesehen und der Krieg als Gottesstrafe für den Atheismus. Auch interessiert sich Astaf´ev nicht für den Sieg, sondern für den Preis, der für ihn bezahlt wurde. „Es gab keinen Sieg, um so mehr keinen Sieg mit Großbuchstaben,116 denn wir haben den Feind einfach mit eigenen Leichen zugeschüttet, mit unserem Blut überschwemmt“,117 so Astaf´ev. Diese Position ist ein Gegenpol zur offiziell-sowjetischen Kriegs114 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 395f. 115 Esaulov, Ivan: Sataninskie zvezdy i svjašĪennaja vojna. In: Novyj mir (1994) 4, S. 224. 116 Wenn das Wort „Sieg“ im russischen mit Großbuchstabe geschrieben wird (Pobeda), wird der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gemeint. 117 Zit. in: Novaya gazeta vom 16.03.2005, URL: http://www.novayagazeta.ru /data/2005/16/23.html, Stand 18.05.2008. 83
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heroisierung, die völlige Sinnlosigkeit des Krieges. Eine solch radikale Anschauung stieß bei vielen auf Ablehnung. Man warf Astaf´ev vor, die konkreten Kriegserfahrungen der Menschen nicht zur Kenntnis zu nehmen und alles nur negativ zu sehen. Auch wenn die Wichtigkeit einer „ungeschönten“ Sichtweise betont wurde, rief die Einstellung des Schriftstellers, dass man „für nichts und wieder nichts gekämpft hatte“, Unverständnis hervor, denn für die meisten Menschen war es Kämpfen um die Heimat gewesen.118 Auch Evgenij Nosov, Schriftsteller und Kriegsveteran, der mit Astaf´ev befreundet war, teilte den Radikalismus der Romandarstellung nicht. Nosov sah darin eine Verletzung für die Kriegsgeneration, der das Andenken an das Positive im Krieg entzogen wird und somit auch „der letzte Stolz“. Astaf´ev „verleumdet unsere glorreichen Streitkräfte, macht die Bedeutung des heiligen Sieges zunichte“119 – so wurde der Schriftsteller von vielen Lesern der älteren Generation kritisiert. Astaf´evs Position veränderte seine Stellung im russischen öffentlichen Leben: Für diejenigen, die noch vor kurzem in ihm einen Gesinnungsgenossen gesehen hatten, wurde er zum unversöhnlichen Feind, vor allem für die Publizisten „nationaler“ Orientierung. Sie stuften Astaf´ev als Verräter, Machtgünstling und beinahe sogar Volksfeind ein. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des ersten Buches des Romans erschienen in der national-patriotisch geprägten Zeitschrift „Naš sovremennik“ zwei Beiträge, in denen Astaf´evs Roman scharf attackiert wurde. Der Kriegsveteran Zelenkov erhob in einem langen Beitrag seinen Einwand gegen Astaf´evs Darstellung, die er für empirisch falsch und einseitig hielt.120 Ihn empörte Astaf´evs Schilderung des grausamen Kriegsalltags. Zelenkov weigerte sich, die Sicht zu akzeptieren, dass die Lebensmittelversorgung der sowjetischen Rekruten katastrophal gewesen sei und dass Rekruten sich von Abfall ernähren mussten. Vor allem aber fand Zelenkov Astaf´evs Haltung gegenüber den Politkommissaren übertrieben, einseitig und konstruiert. Im Gegensatz zu den Romanschilderungen, behauptete Zelenkov, hätten die Politkommissare nicht den Hass und die Feindschaft der Soldaten und Offiziere erregt, sondern Achtung und Vertrauen. Auch wies er auf den Aufschwung der kommu118 Vgl. Mjalo, Ksenija: Mertvyh prokljat´ja. In: Naš sovremennik (1995) 6, S. 186-192; Zelenkov, V.: Komu vojna, a komu mat´ rodna. In: Naš sovremennik (1995) 9, S. 69- 82. 119 Zit. in Gladyšev, B.: My za cenoj ne postoim? Dve pravdy o vojne. In: Ural (2004) 5, URL: http://magazines.russ.ru/ural/2004/5/glad11-pr.html, Stand 22.10.2007. 120 Zelenkov, V.: Komu vojna, a komu mat´ rodna. In: Naš sovremennik (1997) 9, S. 74f, 80f. 84
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nistischen Euphorie während des Krieges hin, da viele Soldaten, seiner Auffassung nach, an der Front in die Partei eintraten, während Astaf´ev in seinem Roman das Gegenteil behauptet, und zwar dass die Soldaten im Kampf vor dem Tod nach Mutter und Gott riefen und dass manche sogar primitive Leibkreuze bastelten. Astaf´evs hohe Bewertung der Religion fand Zelenkov konstruiert und übertrieben. Er meinte, dass solche Figuren wie Kolja Ryndin kein Vorbild für Soldaten sein konnten; sie riefen eher ein „herablassendes Lächeln“ hervor. Außerdem verletzte den Kriegsveteranen die Schilderung der grausamen Behandlung der Frauen, die an der Front als Krankenschwestern eingesetzt wurden, durch die sowjetischen Soldaten. Auch die Literaturkritikerin Ksenija Mjalo sah in Astaf´evs Roman und seinen Behauptungen, der Krieg sei dilettantisch geführt worden und habe unnötige Opfer hervorgerufen, eine Gefahr, da deshalb der Westen eventuell noch mehr auf Russland herabblicken würde. Sie nannte „Verdammt und Umgebracht“ das „unreligiöseste Buch über den Krieg in der russischen Literatur“ und warf dem Autor eine „schreckliche metaphysische Leere“ vor.121 Das Redaktionskollegium des „Naš sovremennik“ setzte unter den Beitrag von Zelenkov ein Postskriptum, in dem es darauf hinwies, dass – „laut verlässlichen Quellen“ – die JelzinRegierung zwei Millionen Rubel für die 15-Bändige Ausgabe des Gesamtwerkes Astaf´evs bezahlt hätte. So wurde der Schriftsteller mit den politischen Kräften (den sogenannten „Demokraten“) in Verbindung gebracht, die per Definition moralisch nicht im Recht sein können. Astaf´ev sei ein der Regierung Jelzin nahe stehender Autor und betreibe eine demokratische Propaganda, die den Sieg vergessen machen wolle. In Astaf´evs Kriegsdarstellung gibt es in der Tat nur wenige lebensbejahende Aspekte, im Gegensatz zum größten Teil der sowjetischen Kriegsbelletristik, auch wenn sie den Krieg nicht idealisierte. Die Polemik um Astaf´´evs Roman demonstriert, wie schwer es in Russland noch ist, über den Krieg jenseits des gesellschaftlichen Konsenses zu schreiben. Dass der Roman trotzdem ein breites Lesepublikum erreichen konnte und in mehreren Auflagen erschienen ist, beweist das Interesse und die Aufgeschlossenheit der russischen Leser, sich einer unkonventionellen Kriegsdeutung anzunähern.
121 Mjalo, Ksenija: Mertvyh prokljat´ja. In: Naš sovremennik (1995) 6, S. 190. 85
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Michail Kononow: „Die nackte Pionierin“ Denn es gibt ein Wörtchen, das jeder im Schlaf kennt, und das heißt: muss! Nirgends auch nur ein verdammter Deserteur, der auf die Idee käme zu fragen: Wer muss, wie muss, was muss? Kriegst die Motten! Alle wissen: was muss, das muss! Michail Kononow, „Die nackte Pionierin“
Fast eine Million Frauen zwischen 15 und 30 Jahren kämpften im Krieg in der Roten Armee, die gleiche Zahl nahm an der Partisanenbewegung teil. Während Männer über Heldentaten und Frontverläufe erzählten, erinnerten sich Frauen an einen „anderen Krieg“ – wie schrecklich es war, zum ersten Mal einen Menschen zu töten oder nach einer Schlacht über das Feld zu gehen, das mit Toten übersät war. In der Sowjetunion rankten zahlreiche Mythen um Kriegskämpferinnen. In die öffentliche Erinnerung sind sie als heldenhafte Partisaninnen, Bomberpilotinnen und Scharfschützinnen eingegangen. Die unschönen Seiten des weiblichen Kriegsdaseins wurden meistens verdrängt – vier Jahre Leben unter Frontbedingungen, der männlichen Aggressivität ausgeliefert. Der alte Mythos von der starken russischen Frau, die an Kraft den Männern nicht nachsteht (so wie sie in Nikolaj Nekrasovs Poem „Russische Frauen“ 1863 beschrieben wurde), wurde weiter gepflegt und in die große Legende eingefügt, dass Russen grundsätzlich schmerzfester seien als andere Nationen und deshalb nicht unter Traumata leiden könnten.122 Als Michail Kononow, Jahrgang 1948, gegen Ende der Perestrojka wagte, einen Roman über den Großen Vaterländischen Krieg aus der Perspektive einer vierzehnjährigen „Regimentshure“ zu schreiben, wollte niemand sein Werk drucken. Fernab des Lolita-Motivs hat Kononow eine wirkungsvolle Erzählform gewählt: eine junge Frau als Mittelpunkt einer politischen Satire auf das System und seine Mythen, die bis heute noch lebendig sind. Die Mitarbeiter des Verlags, empört über die „unliterarische Sprache“ des Romans und darüber, wie Marschall Schukow und die Rote Armee dargestellt wurden, weigerten sich Anfang der 90er Jahre, den Roman zu drucken. Als „Die nackte Pionierin“ im Frühjahr 2001 endlich erschien, schlug sie wie eine Bombe ein – so ungewöhnlich war der Stil, so schrecklich der Kriegsalltag, so unverhüllt die Position des Autors. Ein großer Erfolg wurde das gleichnamige Theaterstück, aufge-
122 Vgl. Merridale, Catherine: The Collective Mind: Trauma and Shell-Shock in Twentieth-Century Russia. In: Journal of Contemporary History 35 (2000) 1, S. 39-55. 86
MICHAIL KONONOW: „DIE NACKTE PIONIERIN“
führt vom Moskauer Theater „Sovremennik“, das trotz zahlreicher positiver Kritiken in der Presse die Gesellschaft polarisierte. Frauenschicksale waren ein kaum beachteter Aspekt des Krieges– der Kriegsalltag der jungen Mädchen mit derart „zivilen“ Problemen wie Menstruation, ungewollten Schwangerschaften oder BH-Wäsche.123 Nach dem Krieg empfanden diese Frauen oft Scheu vor ihrer Vergangenheit, denn viele wurden bald abschätzig als „PPSh“ („Marschund Feld-Frau“) bezeichnet, in Analogie zu den Bezeichnungen für die Maschinenpistolen „PPD“ und „PPSch“. Kononow ist gnadenlos in den Schilderungen der physischen und seelischen Leiden seiner Protagonistin, die sie selbst in ihrer Verblendung als „Dienst am Kollektiv“ und Beitrag zum Sieg über dem Faschismus mit stalinistischen Kampfparolen schönredet. Michail Kononow, der heute in Deutschland lebt, studierte nach seiner Ausbildung zum Elektrotechniker russische Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule in Leningrad, arbeitete daraufhin als Dozent und Lehrer, aber auch als Landschaftsdesigner und Journalist – er schrieb unter anderem für die Literaturzeitschriften „Zwezda“ und „Neva“. Die Grundlage seines Debütromans „Die nackte Pionierin“ bildete die Begegnung mit der ehemaligen Frontsoldatin Valentina Čudakova, die wegen einer Krankheit ihre Fronterlebnisse nicht selbst aufschreiben konnte. Diese Begegnung schildert Kononow im Postskriptum zur „Nackten Pionierin“. „Halsabschneider, der! Dem klebt das Blut doch bis an die Ellbogen!“,124 sagte die Veteranin über Marschall Schukow. Sie habe selbst gesehen, wie er wehrlose Soldaten mit einer Browning erschoss. Diese und andere erschütternde Details waren der Ausgangspunkt für seinen Roman. Die Pioniere waren junge Kämpfer im Pantheon der stalinistischen Mythologie, minderjährige „Kamikaze“, die sich nicht selten mit dem eigenen Leben Orden, Ruhm und Ehre durch Benennung von Pioniergruppen mit ihren Namen verdienten. Ihre Namen waren allgemein bekannt, wie Timur und Kibalchik von Arkadij Gaidar,125 die von Kononow erwähnt werden, Walja Kotik, Marat Kazej und andere. 123 Das Thema „Frauen im Krieg“ thematisierte die im Jahre 1969 erschienene Erzählung „Im Morgengrauen ist es noch still“ von Boris Vasil´ev, deren Verfilmung 1972 zum Klassiker des sowjetischen Kinos wurde. Während der Perestrojka erschien das dokumentarische Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ von Svetlana Aleksievič, die dieses Thema aufgriff und zahlreiche Frauen zu ihren Kriegserlebnissen befragte. 124 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin. München 2003, S. 285. 125 Gaidar, Arkadi: Timur und sein Trupp. Leipzig 2003; Gaidar, Arkadij: Voennaja tajna. Moskva 1973. 87
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Sowjetische Kriegsmythologien wurden, wenn man sie nicht mehr brauchte, auf zweierlei Art entsorgt: Entweder wurde ihnen der Nimbus genommen (in der Perestrojka-Tradition der „Wahrheit über den Krieg“ wie in „Verdammt und Umgebracht“ von Astaf´ev) oder sie wurden auf einen traditionellen Mythen-Kanon zurückgeführt (wie in „Die mythogene Liebe der Kasten“ von Sergej Anufriev und Pavel Pepper126 stejn). Michail Kononow kam zu seinem Kriegsroman von einer ganz anderen Seite.
Inhalt Der Untertitel der „Nackten Pionierin“ ist sperrig: „Martialischerotisches Feenstück in acht Feuer speienden Kapiteln, handelnd von rastlosem Krieg und stolzer Blockade, reiner Liebe und schmutzigem Sex, von des Generals Sukow psychopropädeutischen Schüssen aus Nahdistanz und Hüfte, dem verbürgten Auftreten der Heiligen Muttergottes sowie den strategischen Nachtflügen eines VOLLKOMMEN NACKTEN JUNGEN PIONIERS VON WEIBLICHEM GESCHLECHT!“ Der geniale Einfall Kononows ist, dass er die direkte Rede benutzt. Bereits auf den ersten Seiten taucht der Leser in eine wirre Welt des inneren Monologs der Hauptheldin mit dem Spitznamen Motte ein, der man im ersten Kapitel auf dem Weg zur Hinrichtung begegnet. Dabei summt sie eine Foxtrott-Melodie und brabbelt vor sich hin: Über ihren Henker – einen SMERŠ-Offizier „Tadeus-der-mit-dem-Bilde“ („Der ist hier König und lieber Gott in einem – TDS“),127 über die ungeduldigen Offiziere, denen sie „Wärme und weibliche Zuneigung“ schenkt, über Schlüpfergummis, die größte Schwachstelle der sowjetischen Industrie, nicht gemacht für Frontbedingungen, da sie die Übergriffe der brünstigen Soldaten nicht überstehen. Diese Schlüpfer ziehen sich leitmotivisch durch den ganzen Roman als Symbol dafür, dass der Krieg ein schmutziges Geschäft ist, in dem auch der moralisch hochstehende Mensch früher oder später seine Integrität verliert. „Die nackte Pionierin“ lebt von diesem langen Monolog Mottes über Männer und Heroismus: „Das Wichtigste ist, dass der betreffende Offizier keinen gar zu hitzigen Charakter 126 Anufriev, Sergej/ Pepperstejn, Pavel: Mifogennaja lubov´ kast. Moskva 2002. Die Autoren des postmodernen Romans bedienen sich in der Darstellung des Großen Vaterländischen Krieges russischer Folklore. 127 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 8. SMERŠ, T.D.S. („Tod den Spionen“): Spionageabwehr in der Roten Armee während des Zweiten Weltkrieges. 88
MICHAIL KONONOW: „DIE NACKTE PIONIERIN“
hat. Damit er nicht gleich zum Holster greift oder mit dem Kriegsgericht droht, nur weil du ihn mal nicht von hinten lässt oder weil du keine Lust hast zum Flötespielen. Man schämt sich ja doch, Genossen, selbst im Dunkeln, solltet ihr bedenken.“128 Erst langsam wird klar, wer Motte eigentlich ist und wie sie an die Front geraten ist: Als der Krieg anfing, wird Motte aus Leningrad in die Kolchose „Fünfzehn Jahre Roter Oktober“ evakuiert. Nachdem ihr Klassenkamerad Aljoscha eingezogen wird und fällt, will sie ihn rächen, zieht an die Front, ein Unteroffizier liest sie schließlich von einer Bahnhofsbank auf. Anfangs wehrt sie sich gegen die Zudringlichkeiten, schämt sich, will lieber sterben als „das“ tun, aber dann nimmt sie der mächtige Kommissar Tschaban in die Mangel: „Die ganze Zeit bilde ich mir ein, ich hätte es mit einer fortschrittlichen, kampfgestählten Genossin zu tun, und wen sehe ich vor mir stehen? Eine schamlose Zimperliese.“129 Den Vorwurf kann Motte nicht ertragen, denn schließlich hat sie als Pionierin das Ehrenwort „Immer bereit!“ gegeben. Sie lässt sich Nacht für Nacht von ganzen Kompanien besteigen, denn wenn die Soldaten schon für Stalin und das Vaterland sterben müssen, muss Motte ihnen wenigstens vorher zu Willen sein. So erfüllt sie ihre Pflicht, fühlt dabei nur Ekel und Schmerz, muntert sich auf an dem großen Vorbild aller Sowjetpioniere, Pavka Korčagin (der Hauptheld der sowjetischen Saga „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolaj Ostrowskij), und ist der männlichen Dummheit gegenüber nachsichtig. „Manchmal hast du das Gefühl, er steckt ganz drin, mitsamt den Stiefeln. Winselt und greint wie ein beleidigtes Kind, stöhnt: Oh, oh, rette mich, du bist meine letzte Hoffnung. In der Zwischenzeit hat sich draußen hinterm Vorhang ein Dritter zum Veitstanz eingefunden und ein Vierter gleich noch dazu. „Wer ist der Letzte, Kameraden? [...] Also komm ich nach dir dran, Leutnant! Alter, wir sind doch Landsleute, lass mich deine Kippe aufrauchen! [...] Am nächsten Morgen weiß du nicht mehr, wer du bist und wie du heißt, der ganze Körper stocksteif, kommst dir vor wie irgendein Leitungsrohr, aus dem es tropft und tropft...“130
In ihrer jugendlichen Naivität glaubt Motte, dass sie vom Küssen schwanger werden kann – vom Küssen, und nicht von dem „idiotischen Wimmeln“ der Soldaten und Offiziere in ihren Schlüpfern (eine Reminiszenz auf den ins sowjetische Schulprogramm eingegangenen Rat der ermordeten jungen Partisanin Zoja Kosmodemjanskaja „Gib keinen Kuss 128 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 30. 129 Ebd., S. 173. 130 Ebd., S. 18. 89
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ohne Liebe“). So wird sie auch tatsächlich schwanger, nachdem sie einen jungen Offizier geküsst hat, der ihr Heirat und das Leben in einer karelischen Provinzstadt angeboten hat. Deshalb muss Motte zu ihrem Erzfeind gehen, der Krankenschwester Swetka „Pimpernuss“, die Motte ein schweres Sofa heben lässt – eine eher „archaische“ Art, die ungewollte Schwangerschaft loszuwerden. Denn sonst wären alle Träume Mottes zerstört gewesen – sowohl der Kampf „für das Vaterland, für Stalin“, als auch das Sterben für das geliebte Kollektiv. Seite für Seite wird dem Leser klar, dass Mottes schizophrene Plapperei in Wirklichkeit das Ergebnis eines Nervenzusammenbruches ist: Gemeinsam mit ihren Kameraden muss sie gleich am Anfang ihrer „Frontkarriere“ einer Hinrichtung beiwohnen, als der große General Sukow die Kompanie antreten lässt und zur Hebung der Moral einfach jeden dritten Soldaten erschießt. Während der Hinrichtung der Soldaten durch General Sukow wird Motte ohnmächtig. Nach dem Aufwachen ist sie nicht mehr die Gleiche wie früher. Dass der ruhmreiche General, den im Russischen nur ein Buchstabe von seinem historischen Vorbild Marschall Schukow trennt, seine Truppe tatsächlich durch Massenerschießungen zur Räson brachte, soll das Postskriptum belegen: Die ehemalige Frontkämpferin Valentina Čudakova, die eine Vorlage für den Roman lieferte, hat es selbst erlebt. Schließlich muss Motte auf dem Schlachtfeld sterben. Nach ihrem Tod erscheint sie den Soldaten während der Schlacht nackt mit einer weißen Fahne, die eigentlich ein Schlüpfer ist, um jeden, der ihr folgt, unbeschadet durch den Kugelhagel zu geleiten. Befreit von ihrem Körper, fliegt sie in den Himmel und ist weder Motte noch Möwe, sondern die heilige Maria. „Und wo immer die unsichtbare Lichtgestalt über dem Getümmel auftauchte, folgten ihr, wie durch eine abgeschirmte Schneise, Menschen, die gegen alles Blei gefeit waren.“131
Anmerkungen Für seine Kriegsdarstellung benutzt Michail Kononow verschiedene Genres: „Die nackte Pionierin“ ist ein Schelmenroman, eine Heiligenlegende, Farce und Marienerzählung zugleich, genau so wie Motte verschiedene Archetypen verkörpert – Hure, Braut, Muttergottes, Hexe, Jeanne d’Arc und Walküre. Das Groteske, die Fantastik und der schwarze Humor vermögen die furchtbare Kriegsrealität als widersinnig ins Bewusstsein zu heben. Sie sind ein Mittel, die Schrecken der
131 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 278. 90
MICHAIL KONONOW: „DIE NACKTE PIONIERIN“
Wirklichkeit zu bewältigen. Nur so kann Motte in ihrer fröhlichen, aufgekratzten und herzzerreißenden Plapperei unablässig unangenehme Wahrheit kund tun. Kononow ist der einzige russische Autor, der versucht hat, eine neue Form jenseits der traditionellen Epik für die Beschreibung des Krieges zu finden. In Mottes Wortflut werden stalinistische Befehlsformeln zu Kalauern („Nutzt das Buch als Wissensquelle“, „Ein Schwätzer ist ein gefundenes Fressen für den Feind“, „Der Feind schläft nicht“, „Einer ist keiner“). Sie lebt im Dunst dieser schwülstigen, tief ins kollektive Bewusstsein eingedrungenen Phrasen. Die verknöcherte Sprache eines Sowjetmenschen der 40er Jahre kommt hier hervor. Kononow zeigt die Vernichtung des Menschlichen durch den totalitären Sprachgebrauch (ideologische Sprüche passen zu jeder Lebenssituation der Pionierin Motte). Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Uwe Timm in „Am Beispiel meines Bruders“, wo die Aneignung der totalitären Sprache zum Symbol der Zerstörung des Humanen wird. In Mottes Kopf stecken die Lehren der sowjetischen Kindheit: Erstens, Väterchen Stalin hat immer recht; zweitens, du bist nichts, das Kollektiv ist alles. Ihr Glaube an Stalin ist naiv, doch hinter dieser Naivität verbirgt sich die Tragödie einer ganzen Generation, die die Wirklichkeit nicht wahrhaben wollte. Motte glaubt, dass Stalin im „größten aller rubinroten Sterne im SpasskiTurm“ sitzt und dort sein Pfeifchen raucht – „[...] er muss ja doch gleichzeitig Befehle unterschreiben und sein Pfeifchen stopfen können, der Mann kämpft, faktisch gesehen, an hundert Fronten zugleich, keine Zeit, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.“132 Motte glaubt, die Leningrader Blockade sei Teil einer großen Strategie Stalins, um Deutsche auszutricksen, und die Leichen auf den Strassen der Stadt seien nur ein Bluff. Wahr ist nicht das, was sie sieht – „die schwarzen Frostleichen und die grünen Dünnschissleichen“,133 – sondern das, was in einer Zeitung steht: „Die Stadt, heißt es da, leistet trotz sinkender Verpflegungs- und Ernährungsnormen sowie knappem Essen ein heroisches Werk. [...] Von ernährungsgestörten und anderen Leichen ist selbstverständlich keine Rede, wie von einer ideologisch gefestigten sowjetischen Zeitung nicht anders zu erwarten, von Panik in den Strassen Leningrads keine Spur, und von reaktionärer Sabotage sind nicht einmal Einzelfälle bekannt.“134
132 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 203. 133 Ebd., S. 211. 134 Ebd., S. 210. 91
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Gerade weil Motte ein Kind ist, das nichts begreift und sich das grausame Geschehen nach den Vorgaben der Lehren der Partei naiv zurechtdeuten muss, treten die unmenschlichen Gräuel und die Inhumanität des Krieges um so krasser ans Tageslicht. Wenn Motte spricht, setzt sie alles daran, vor allem sich selbst zu überzeugen. „Bis dahin hat er mit Motte schon Schwebebahn, Pendel und Auster gespielt, sie Schlitten fahren und am Lumpi lutschen lassen, sie hat tapfer durchgehalten und nicht gemuckst – und wo er seinen Kolben überall hingesteckt hat, dieser Kindskopf! [...] Da muss eine schon genau wissen, wofür sie kämpft, muss das große Ziel vor sich sehen und die Flamme des Komsomol im Herzen tragen. ... Erkenne dich selbst: Der Hauptfeind sitzt in dir, es ist deine eigene Schwäche, deine Schlaffheit, Nachlässigkeit, politische Unreife, dein kleinbürgerlicher Opportunismus.“135
In der Rücksichtslosigkeit der Offiziere, die sich auf Mottes Pritsche bedienen lassen, geht die Saga vom anständigen Krieg klanglos unter. Je weiter die Erzählung zurückschreitet, desto deutlicher wird, wie wenig selbstbestimmt Mottes Rolle als Regimentshure ist und wie sehr sie an ihrem körperlichen Ausgeliefertsein leidet. Gleichzeitig verachtet sie die eigene Schwäche, da sie doch jenen glaubt, die ihr sagen, sie müsse auf diese Art zum Sieg beitragen. „Im Grunde sind das natürlich alles bloß Schwächeanfälle, nichts weiter. Geht man der Sache gründlich an die Wurzel, dann sieht man, was faul ist. Punkt eins: moralischer Verfall. Punkt zwei: Panikmache. Punkt drei: Verrat an den kollektiven Interessen.“ 136
Motte redet sich die Tortur nach allen Regeln der Sowjetpropaganda als „Dienst am Kollektiv“ schön: „Es gibt ein Wort und das heißt: muss!“ Ihr glühender Patriotismus verbietet alle Gedanken über ihre demütigende Lage. Ihr persönlicher Schmerz geht unter, denn offizielle Parolen lassen keinen Raum für Mitleid. Motte ist ein Engel, der seine Peiniger durchschaut: „Bei manchen kann ich sogar die Gänsehaut sehen, so nackig sind sie.“137 Kononow greift hier stilistisch zur Tradition der altrussischen Heiligenleben, die Mottes Figur eine besondere Intensität verleiht. Diese Gestalt der „heiligen Hure“ ist in der russischen Kulturtradition tief verankert. Die bekannteste Vertreterin ist die Figur der Sonja in Fjodor Dostojewskis
135 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 35. 136 Ebd., S. 18. 137 Ebd., S. 133. 92
MICHAIL KONONOW: „DIE NACKTE PIONIERIN“
„Verbrechen und Strafe“: die schuldige Unschuld, die ihren Körper verkauft, in ihrem Geist aber keusch und rein bleibt. So ist auch Motte eine Heilige, die der Kompanieälteste „Eunuch“ Lukitsch anbetet – der Einzige, der nicht vor Mottes Pritsche Schlange steht, sondern ihr einen starken Tee mit Wodka einflößt, der sie nach anstrengenden Nächten auf die Beine bringt. „Sei doch mal ehrlich: Nimmst du den Offizieren irgendwas übel? Bist du auch nur sauer auf die?“ „Wozu das denn, Lukitsch?“ Motte war ehrlich erschrocken. „Um Himmels Willen! Wir sind doch im Krieg, kriegst die Motten! Wer kann so blöd sein, das nicht zu verstehen.“138
Mottes Wahnsinn wird zur Flucht vor der brutalen Kriegsrealität, sie flüchtet in ihre Halluzinationen, ihre Träume, in denen sie unter dem Decknamen „Möwe“ strategische Flüge gegen den „schwarzen Lindwurm“ vollbringt, den Befehlen des Generals Sukow folgend. In Träumen verlässt Motte ihren ausgelieferten Körper und fliegt, splitternackt wie die Titelheldin von Michail Bulgakows berühmtem Roman „Der Meister und Margarita“, in Sonderoperationen hinter die feindlichen Linien, über das eingeschlossene Leningrad. Die Kriegsepisoden werden auf diese Weise ins Fantastische getrieben und geschickt ästhetisiert. In dieser Verwandlung der Motte in Möwe verändert sich auch Kononows Sprache, sie wird poetisch und sogar mystisch: „Schwimmt und strömt als ein lapislazuliblaues Wolkenstreifchen über den Kräutern dahin, überquert die windgeschützte kleine Schlucht. Von den Rainfarndolden funkelt es – Hände voll polierter Kupferknöpfe, die nach allen Seiten grüne Nadelpfeile versprühen. Ein zarter grünlicher Regenbogen krönt die weißen Schirmchen des Gierschs. Strohgelbe Schwertlilien in einem Klumpen Schläfrigkeit über dem Schilfrohr eines kleinen Sumpfes.“139
Doch die Flucht ins Metaphysische ist mehr als nur ein beliebtes MarcChagall-Motiv der russischen Literatur. Die Halluzinationen verraten viel über die Schizophrenie eines missbrauchten Kindes, das dem Schmerz entflieht, indem es sich aus seinem Körper wegfantasiert. Sie sind aber auch ein Mittel des Autors, seiner Heldin und dem Leser die schlimmsten Wahrheiten im Traum zuzumuten. Denn während sie über Leningrad fliegt und an den Fenstern der Stadt späht, sieht sie Szenen, die sie nicht wahrhaben will: „Schwarze Frostleichen“ und „grüne Dünnschiss-
138 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 132. 139 Ebd., S. 68. 93
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leichen“, sowie eine Oma, die ihrer toten Enkelin eine Scheibe Fleisch aus dem Kinderpopo schneidet. Mottes selbstüberzeugende Monologe sind ein Beispiel kollektiver Persönlichkeitsspaltung, unter der ganze Generationen sowjetischer Menschen litten. „Da hat der künstlerische Leiter dem erstbesten Hans ein Messer in die Hand gedrückt, unters Messer eine Gummipuppe gelegt wie die in den Schaufenstern, ein bisschen rote Farbe draufgeschmiert, und die Komödie konnte losgehen. Extravorstellung für Nervenschwache, nach dem Motto: Seht euch an, wie weit es gekommen ist mit den Söhnen und Töchtern des Großen Lenin. [...]Kein Sowjetmensch mit Bewusstsein frisst seinen befreundeten Wohnungsnachbarn, ohne dran zu ersticken, geschweige sein leibliches Kind – was für ein Schwachsinn!“140
Kononow erkennt die Eigenart, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten, indem man diese einem höheren Ziel zuschreibt, auf das man stolz sein kann. Nationalstolz ist Therapieersatz, vor allem aber ist er ein Mittel der sowjetischen Machthaber gewesen, ihre Legitimation aufrechtzuerhalten, nachdem sie so viele Tote nicht haben vermeiden können. „Dafür haben wir es der Welt gezeigt!“, hieß es so oft in der sowjetischen Propaganda.
Rezeption „Die nackte Pionierin“ erntete sowohl in Russland als auch in Deutschland in der Übersetzung von Andreas Tretner viel Beifall.141 Der Roman wurde für den russischen Preis „Nationalbestseller“ sowie den ApollonGrigor´ev-Preis nominiert. Doch den Weg in die breite Öffentlichkeit 140 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 221f, 228. 141 Vgl. Peter, Stefanie: Volkseigene Prostitution. Michail Kononows Roman zerstört den Mythos der Roten Armee. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.10. 2003, S. 34; Zekri, Sonja: Hallöchen, Genossen. Michail Kononows tragikomischer Weltkriegsroman „Die nackte Pionierin“. In: Süddeutsche Zeitung vom 21.10. 2003, S. 16; Novy, Beatrox: Eins an Möwe. Michail Kononows Kriegs-Roman „Die nackte Pionierin“. Freitag vom 10.10. 2003, S. 17; Köhler, Peter: Da kriegste doch die Motten. Michail Kononows fulminanter Roman „Die nackte Pionierin“. In: Der Tagesspiegel vom 19.11. 2003, S. 26; Slavnikova, Ol´ga: Detjam do vosemnadcati. In: Oktjabr´ (2001) 9, S. 186-190; Nemzer, Andrej: Ach, ėto, bratcy, o drugom! In: Vremja novostej, 30.03.2001, URL: http://magazines.russ.ru/project/arss/l/nem.html, Stand 10.05.2008; Urickij, Andrej: Četyre romana i ešče odin. In: Družba narodov (2002) 1. URL: http://magazines.russ.ru/druzhba/2002/1/ur.html, Stand 17.05.2008. 94
MICHAIL KONONOW: „DIE NACKTE PIONIERIN“
fand „Die nackte Pionierin“ erst mit dem gleichnamigen erfolgreichen Theaterstück im Moskauer Theater „Sovremennik“ („Zeitgenosse“) mit der bekannten Schauspielerin Čulpan Chamatova in der Hauptrolle.142 „[...] Besser als alle konservativen Moralapostel weiß Kononow, dass der Krieg sich nicht nur auf Feigheit und Brutalität der Stalins und Sukows, auf Kannibalismus im belagerten Leningrad, Grobheit und Angst, ideologische Verblendung und Missbrauch von guten Gefühlen reduzieren lässt“,143 schrieb der bekannte russische Literaturkritiker Andrej Nemser. Doch nicht alle Kritiker waren begeistert, denn am Ende stand nicht die Pionierin nackt da, sondern der Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg. Die Zeitung „Sowjetisches Russland“, das Sprachrohr der russischen Kommunisten, bezeichnete den Roman als „einen der zahlreichen Giftpfeile, die aus dem feindlichen Schützengraben in unseren Sieg geschossen wurden“. „Den Namen des großen Schukow zu verdrehen und den Marschall in einen niedrigeren Dienstrang zu versetzen; so tun, als ob Pavka Korčagin sowjetische Menschen nicht zum heiligen Kampf gegen Besatzer inspirierte, sondern die Unzucht in dem in Frontnähe gelegenen Wald rechtfertigte; die Pflicht gegenüber der Heimat und der Partei zur Bereitschaft herabzuwürdigen, eine Offiziersmatratze zu sein, und sich der größten Überzeugungskraft halber mit den Namen des Stalin und des Alexander Matrossow zu bedecken – das, was außer der schamlosen Beschreibung von Mottes Kopulierungen erwähnt wurde, kann nicht erhaben und hell sein.“144
Die Kritikerin nennt den von Kononow dargestellten Krieg „Atrappe ohne Kämpfe und Faschisten“ und fragt sich, wie es denn möglich gewesen sei, dass Europa vom Faschismus befreit und Berlin gestürmt wurde, wenn sowjetische Soldaten im Krieg nur hemmungslos gesoffen hätten. Die Beschreibung von eigenen Fehlern und Gräueltaten trifft einen wunden Punkt im Selbstbild, während die üblichen Darstellungen von Gräueltaten des Feindes, die bei Kononow vermisst werden, dieses
142 Die Kritiken auf die Aufführung „Die nackte Pionierin“ im Moskauer Theater „Sovremennik“ siehe unter URL: http://www.smotr.ru/ 2004/2004_sovr_pionerka.htm. 143 Nemzer, Andrej: Ach, ėto, bratcy, o drugom! In: Vremja novostej vom 30.03.2001, URL: http://magazines.russ.ru/project/arss/l/nem.html, Stand 24.10.2007. 144 Garbuz, Olga: Goloe nadrugatel´stvo. In: Sovetskaja Rossija vom 16.04.2005, URL: http://www.sovross.ru/old/2005/52/52_6_2.htm, Stand 24.10.2007. 95
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Selbstbild immer nur bestätigen. Eine solche Kriegsschilderung – ohne Pathos und Lobpreisung der Roten Armee – ist für viele Russen ungewöhnlich. Doch bei Kononow geht es nur vordergründig um die Obszönität des Sexuellen – das eigentlich Obszöne ist der Krieg. Kononow geht weit über die Kritik an der sowjetischen Vergangenheit oder am Nationalstolz hinaus. Das selbstzerstörerische Potential des „Idealismus“ vom Typ „Du bis nichts, die Partei ist alles“ denkt er konsequent zu Ende und bekommt dadurch grundsätzliche Möglichkeiten von Gewalt und Unterwerfung in den Blick, die immer im Menschen schlummern und wie das Handwerk des Tötens in Kriegszeiten zum Alltag gehören. Er führt vor, wie sich der bis zur Selbstauslöschung gehende Gehorsam ausschlachten lässt, und konfrontiert seine Leser mit der selbstmörderischen Brutalität der Aufopferung.
Daniil Granin: „Jenseits“ Und stell Dir vor, was wird später aus unseren Soldaten, die zu Dutzenden über eine Frau herfielen? Die Schulmädchen vergewaltigten, alte Frauen ermordeten? Sie kommen zurück in unsere Städte, zu unseren Mädchen. Das ist schlimmer als jede Schande. Das sind Hunderttausende von Verbrechern, künftigen Verbrechern, grausame und dreiste mit den Ansprüchen von Helden. Lev Kopelev, „Aufbewahren für alle Zeit!“
„Die Menschen wollen keine schlechte Vergangenheit, deshalb denken sie sich etwas aus“, sagt der ehemalige deutsche Kriegsteilnehmer Karl Ebert, Protagonist in der Novelle von Daniil Granin „Jenseits“. Die meisten Gegner der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Russland sind immer noch Veteranen, die jahrzehntelang als eine unantastbare moralische Instanz agierten und kein Interesse daran haben, dass sich an diesem Status etwas ändert und das staatliche Kriegspathos durch eine kritische Darstellung ersetzt wird. Die meisten haben sich längst an den eigenen Heldenstatus, die damit verbundenen Privilegien und moralische Unantastbarkeit gewöhnt, an die unschönen Seiten des Kriegs würden sie sich am liebsten gar nicht erinnern. Doch was passiert, wenn die offizielle Interpretation und das eigene Gewissen in Konflikt geraten? Diese Frage beschäftigt den russischen Autor Daniil Granin schon mehrere Jahrzehnte. Geboren im Jahre 1919, ist er einer der wenigen noch lebenden Vertreter der Kriegsgeneration in der russischen Literatur. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion meldete er sich 1941 96
DANIIL GRANIN: „JENSEITS“
als Freiwilliger an die Front und war zum Kriegsende Panzerkommandeur der Roten Armee. Granin hat Jahrzehnte gebraucht, um offen über seine Kriegserlebnisse schreiben zu können. Seine Novelle „Unser Bataillonskommandeur“145 (1968) wurde von der sowjetischen Zensur verboten. Der Chefredakteur der Zeitschrift „Sever“ („Nord“), der die Erstveröffentlichung der Novelle trotzdem gewagt hatte, bekam Ärger mit den sowjetischen Zensurbehörden. Es war eine auto- biographische Erzählung darüber, wie ein Bataillon versuchte, eine kleine Höhe zu erobern. Die Aufgabe wurde auf Stalins Geburtstag festgelegt, mehrere Soldaten kamen um, doch die Höhe konnten sie nicht einnehmen. Granin beschreibt die ganze Idiotie dieses Unternehmens. Nach dem Verbot der Novelle kehrte der Schriftsteller erst während seiner Arbeit am „Blockadebuch“ (1977-1981) zum Kriegsthema zurück. „Das Blockadebuch“, das in Co-Autorschaft mit dem weißrussischen Schriftsteller Ales´ Adamowič entstand, war die erste Zeitzeugenbefragung in der Sowjetunion, die literarisch aufgearbeitet und als Buch präsentiert wurde.146 Offiziell wurde die Blockade Leningrads als Heldentat dargestellt. „Das Blockadebuch“ zeigte dagegen Leiden und menschlichen Schmerz. Während der Vorbereitung der ersten Ausgabe mussten nach der Forderung des Zensors 60 Stellen entfernt werden. Den Autoren wurde verboten, über den „Leningrader Prozess“ zu erzählen, bei dem nach Kriegsende die politische und intellektuelle Elite Leningrads von Stalin brutal gesäubert wurde. Auch die gestrichenen Passagen über die Fälle des Kannibalismus oder darüber, wie manche Parteifunktionäre aus der hungernden Stadt schwere Lebensmittelpakete an ihre in den Ural oder nach Zentralasien evakuierten Verwandten schickten, wurden erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die Neuausgabe des „Blockadebuches“ aufgenommen. Bis heute wirkt das Tabu, die Kehrseiten des Sieges aufzuarbeiten, deshalb nannte Daniil Granin das Schreiben über den Krieg „ein Duell mit der Lüge“. „Der Krieg war zuerst sauber, romantisch. Doch mit der Zeit wurden auch wir brutal, unbarmherzig. Wir erschossen die Deutschen, die in Gefangenschaft gerieten“, schreibt Daniil Granin. Dass der Krieg nicht nur aus Heldentaten bestand, wurde in der Sowjetunion auf offizieller Ebene selten erwähnt. Das Thema Kriegsverbrechen der Roten Armee in den besetzten deutschen Gebieten war lange verboten; bis heute werden sie von den meisten Veteranen bestritten. Selbst einige Historiker sehen im Erwähnen der Gräueltaten der Roten Armee in den letzten Kriegsmonaten nur Versuche des Westens, Russlands Image
145 Granin, Daniil: Unser Bataillonskommandeur. Berlin 1970. 146 Adamovič, Ales`/ Granin, Daniil: Blokadnaja kniga. Moskva 2003. 97
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zu schädigen und sein Rolle im Kampf gegen den Fashismus klein zu reden.147 Daniil Granins Novelle „Jenseits“, die im Jahre 2003 in der „dicken Zeitschrift“ „Družba narodov“ erschien, ist in diesem Sinne bahnbrechend. In einem in Hamburg stattfindenden Streitgespräch lässt der Autor in dieser Novelle den einstigen Leutnant Petr Šagin rückblickend einräumen, dass ein Krieg auf jeder Seite irgendwann „entarten“ müsse. Die russischen Soldaten hätten eine „Brutalisierung“ durchgemacht, die aus ihnen Täter gemacht habe. Šagin gesteht, dass auch er Einiges auf dem Gewissen hat. Solch eine offene Bekundung, dass der Große Vaterländische Krieg zwar gerecht, aber auch schmutzig gewesen sei, gab es bisher selten sowohl in der russischen Literatur als auch in der Öffentlichkeit. Auch unternimmt Granin den Versuch, den ehemaligen Feind zu verstehen. „Unsere Literatur ist voll Hass gegenüber dem Feind, gegenüber den Deutschen, gegen die wir kämpften. Wir haben uns fast nie erlaubt, in deutschen Soldaten Menschen zu sehen“, sagte der Schriftsteller in einer Sendung der „Radio Svoboda“ als Antwort auf die Frage „Warum gibt es immer noch kein ehrliches Buch über den Großen Vaterländischen Krieg?“148 In „Jenseits“ möchte er nun die „andere Seite“ sprechen lassen. Zum Protagonisten wählt er einen russischen Kriegsveteranen, der viele autobiographische Züge hat. Durch seine Begegnung mit den Deutschen lernt Šagin 60 Jahre nach Kriegsende auch sich selbst kennen und wird mit Fragen konfrontiert, die er davor nicht beachtet hat. Das Treffen der ehemaligen Kriegsgegner bildet den Schwerpunkt des Erzählens. „Als ich auf die Deutschen schoss, hatte ich nicht das Gefühl, dass ich einen Menschen tötete. Die Deutschen waren für mich nur eine Zielscheibe“,149 erinnert sich Granin in einem Interview. Die Fähigkeit, in dem Gegner den Menschen zu sehen, ist eine der wichtigsten Forderungen Granins an die Kriegsliteratur.
147 Vgl. Senjavskij, Aleksandr S./ Senjavskaja, Elena S.: Istoričeskaja pamjat´ o vojnah XX veka kak oblast´ idejno-političeskogo i psihologičeskogo protivostojanija. In: Otečestvennaja istorija (2007) 3, S. 118, 120. 148 Zit.in: Tolstoj, Ivan: Počemu u nas do sich por net pravdivoj knigi o vojne? Eine Sendung des Radio Svoboda vom 9.05.2004, URL: http://www.svoboda.org/programs/otbl/2004/otbl.050904.asp, Stand 26.10.2007. 149 Zit. in: Martynenko, Olga: „Čto delat´ intelligenzii, kogda ee rol´ končilas´“. In: Moskovskie novosti vom 2.06.2006, URL: http://www.mn. ru/issue/2006-20-3, Stand 26.10.2007. 98
DANIIL GRANIN: „JENSEITS“
Inhalt Die Novelle beginnt mit einer Rückblende: Es ist Herbst 1941. Der junge Leutnant Šagin muss seine Truppen vor den näher rückenden Deutschen aus dem Leningrader Vorort Puschkin zurückziehen. Es gibt keine Munition, der Park und der Katharinenpalast – die ehemalige Sommerresidenz der Zaren und der Ort, an dem der russische Dichter Alexander Puschkin seine Schuljahre verbracht hat – stehen unter permanentem Beschuss der Deutschen. Šagin erinnert sich, wie er als Kind mit seinem Vater an einer Führung durch den Palast teilgenommen hat, in großen Filzpantoffeln in den prachtvollen Sälen spazierte. Nun sieht er schmutzige Spuren von Soldatenstiefeln, tiefe Risse auf dem Parkett und das brennende Chinesische Theater im Park. Die Cupidos auf den Dachböden im Palast scheinen aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt zu sein, die nichts mit der Kriegsrealität zu tun hat. Im Winter 1941-42 befehligt Šagin ein Batallion in der Nähe von Puschkin. Hinter den Truppen liegt das hungernde Leningrad. Auch an der Front sind die Bedingungen katastrophal. Als Šagin und seine Soldaten in ihren Schützengraben sehen, dass die Deutschen im Palast Weihnachten feiern, steigt ihre Empörung über die Arroganz der Besatzer. Dass sie es wagen, vor den Augen der Russen im besetzten Katharinenpalast Weihnachten zu feiern, ist für den Leutnant Šagin und sein Bataillon eine Provokation. Die Nerven versagen. Trotz des Verbots, auf den Palast zu schießen, gibt Šagin den Feuerbefehl. „Na, haben wir euch ertappt!, schrie Šagin in die Dunkelheit. „Ihr glaubt, wir sind zu schwach dafür?“ Er fluchte vor allen, was er sich früher nie erlaubt hatte. Er wollte sich eine Zigarette anzünden, konnte das Feuerzeug nicht halten, seine Hände zitterten.“150
Später wird Šagin als Kriegsveteran gezeigt, der zu einem Treffen mit den ehemaligen deutschen Soldaten am Tag des Sieges eingeladen ist. Es ist nicht das erste Mal, dass Šagin über den Krieg spricht – oft wird er in Schulen eingeladen. „Bei Auftritten erzählte Šagin immer das Gleiche: Wie sie Leningrad verteidigten, die Pläne der Hitler-Faschisten zum Scheitern brachten, wie sie die Blockade durchbrachen und begannen, die Faschisten zu jagen. Es war jener Teil des Krieges, an den sich zu erinnern angenehm war. Mit den Jahren erstarrte der Text, nur die Fragen der Kindern änderten sich.“151 Seine Rede ist ein Teil eines sich oft wie150 Granin, Daniil: Po tu storonu. In: Granin, Daniil: Idu na grozu. Moskva 2003, S. 673. 151 Ebd., S. 674. 99
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derholenden Rituals. Da Šagin dieses Mal vor den Deutschen redet, muss er statt „Hitler-Faschisten“ „Deutsche“ sagen, doch für ihn ändert das nichts. Er versucht, etwas Schmeichelhaftes zu sagen, zum Beispiel, dass die Deutschen immer pünktlich waren und dass ihre Luftangriffe auf Leningrad immer zur gleichen Zeit stattfanden. Doch es klingt doppeldeutig. Er kann keine passenden Worte finden. Nach Šagins Rede spricht ein deutscher Veteran, Herr Ebert, der vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht hat und sich mit Wärme an die russische Familie erinnert, die ihm Essen brachte. Nach dem Treffen erfährt Šagin, dass Ebert in der Gegend seiner Heimatstadt Staraja Russa kämpfte und vor kurzem auf Einladung der dortigen Verwaltung diese Orte wieder besucht hat. „Warum hat man sie eingeladen? Wer? Wie konnte man dort Deutsche empfangen?“,152 denkt Šagin. Doch das Interesse an dem Deutschen überwiegt. Šagin lädt ihn sogar zu sich nach Hause ein. Ebert erzählt, dass er und seine ehemaligen Kameraden Medikamente nach Staraja Russa gebracht haben als Geste der Versöhnung. „Die Deutschen wurden ‚Kriegsveteranen’ genannt, dann ‚Friedensgesandte’, und schließlich, im Krankenhaus, wandte man sich als ‚unsere deutschen Freunde’ an sie.“153 Gerührt durch Šagins Gastfreundschaft, schickt Ebert ihm eine Einladung nach Deutschland. Während Ebert tagsüber unterwegs ist, kann Šagin seine Einsamkeit genießen. Er blättert in Eberts Kriegsalben, die typisch bebildert sind: Große, junge Männer in Uniformen vor noch nicht zerstörten Sehenswürdigkeiten russischer Provinzstädte, deutsche Soldaten mit jungen russischen Mädchen, eine russische Frau mit Schulterjoch zum Wassertragen, ein alter Mann mit Bart. Auch der junge Karl Ebert posiert auf vielen Bildern – und erinnert Šagin auf einmal an alle Deutsche, die er als Tote oder Gefangene gesehen hat. Für Ebert ist das kein glorreiches Kapitel seines Lebens: „Zu diesem jungen Sergeanten verhielt sich der heutige Ebert verlegen, als ob er sich ein wenig vor ihm fürchtete und eine Falle erwartete. Der damalige Ebert war zu selbstsicher, betrachtete sich mit Vergnügen – wie ein Sieger.“154 Ebert hört Šagin mit großer Aufmerksamkeit zu, was noch niemand vorher gemacht hat, und die beiden Männer entwickeln Vertrauen zu einander. Eines Tages fahren sie zum Friedhof, auf dem Soldaten der beiden Weltkriege beerdigt sind, Deutsche neben Russen und Amerikanern. Šagin ist überrascht, als er die russischen Gräber des Ersten Weltkrieges sieht: „Die Nazis verübten Gräueltaten in KZs, verbrannten die Ermordeten und warfen die Leichen in eine Grube, und hier beerdigen sie die Toten wie 152 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 674. 153 Ebd, S. 680. 154 Ebd, S. 681. 100
DANIIL GRANIN: „JENSEITS“
normale Menschen, halten alles in Ordnung, erhalten seit dem Ersten Weltkrieg. Was ist das für ein Volk – versteht man nicht.“155 Als Ebert bedauert, dass die Russen den deutschen Soldatenfriedhof in Staraja Russa zerstört haben, ist Šagin verärgert: „Nach dem Krieg wollten wir jede Erinnerung an die Besatzer vernichten. Ihr habt alles zerstört, besudelt, und ihr habt nichts auf unserem Boden zu suchen.“ „Bei uns werden Militärfriedhöfe für immer bewahrt.“ „Ihr, Karl, habt eine andere Sicht darauf. Es gibt nichts, wofür ihr Russen hassen könntet.“156
Als sie nach Hause zurückkehren, nimmt Ebert seinen russischen Gast in sein Arbeitszimmer mit und zeigt ihm das Porträt eines jungen Mädchens „mit einem flaumigen, rötlichen Zopf über der Schulter.“ Es war seine Braut Ingrid, die kurz vor Kriegsende von russischen Soldaten vergewaltigt und getötet wurde. Šagin versucht, sich zu rechtfertigen: „Eure Soldaten haben drei Jahre lang vergewaltigt, erhängt, verbrannt, bis sie begannen abzuhauen.“157 Doch später, im Affekt, fängt Šagin plötzlich an, Dinge zu erzählen, die er noch nie jemandem erzählt hat: „Es quoll aus ihm heraus. Er gestand Ebert, was er nie zuvor jemandem gestanden hatte. Er schonte sich nicht. Neben dem Krieg, über den er normalerweise sprach – mit Blumen, die man ihnen vor die Füße warf, mit Umarmungen und Tränen der befreiten KZ-Häftlinge – gab es auch einen anderen Krieg, seine Kehrseite. Er erinnerte sich, wie er deutsche Frauen für eine Dose Schmorfleisch zu sich ins Bett geholt hatte. Seine Soldaten plünderten deutsche Häuser aus, schleppten Gardinen, Wäsche, Geschirr, Pelzmäntel weg; aus irgendeinem Haus brachten sie russische Ikonen, zerschlugen Weinkeller – und er deckte die eigenen Leute, rettete sie vom SMERŠ.“158
Es war ein „anderer Krieg“, nicht der, an den er sich immer bei offiziellen Auftritten und in Schulen erinnerte, sondern sein persönlicher Krieg, verborgen und verdrängt, den er selbst vielleicht schon längst vergessen hätte, wenn er nicht zufällig Ebert getroffen hätte. „Er war heilig! Und dann wurde der heilige Krieg schmutzig!“ Er beugte sich zu Ebert. „Jeder Krieg, auch der gerechteste, entartet. So auch unserer. Für Dienstgrade und Auszeichnungen haben wir die eigenen Leute nicht geschont. 155 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 685. 156 Ebd., S. 686. 157 Ebd., S. 687. 158 Ebd., S. 688. 101
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Mein Regiment wurde zerbombt, damit ich nicht als erster in Tilsit einmarschiere. Ich habe solche Scheiße gefressen.“159
Im Kontrast zum plötzlichen Schuldeingeständnis Šagins und dem unausgesprochenen Schuldgefühl Eberts, das er versucht, durch seine Wohltätigkeit zu kompensieren, steht ein Bekannter Eberts, der ehemalige Major Knebel. Knebel ist ein Militärmensch durch und durch, ein „alter Kamerad“. Es stellt sich heraus, dass Knebel unter denjenigen war, die Weihnachten 1941 im Katharinenpalast in Puškin feierten, als Šagin den Schussbefehl gegeben hat. Er schenkt Šagin mit Stolz einen dicken, prachtvollen Lederband, dessen Titel in goldenen Buchstaben eingraviert ist – die Geschichte seiner Infanteriedivision 1939-1945. „Lesezeichen auf den Seiten, wo auf den Fotos Knebel zu sehen war. In einer neuen Uniform, mit Abzeichen, ein junges, strahlendes Dummköpfchen.“160 Das Divisionsabzeichen, das Knebel Šagin am Ende des Restaurantbesuches schenkt, wirft der russische Veteran später fort. „Ihr habt auch eure Abzeichen gehabt. Die Menschen wollen keine schlechte Vergangenheit, sie denken sich etwas aus... Wappen...“,161 sagt Ebert – und fügt hinzu, dass, während Šagin als Kommandeur nur Befehle erteilte, er als Soldat ganz genau wusste, wohin seine Kugel fliegt und wen sie trifft. Das nagt immer noch an ihm. Nach zwei Wochen muss Šagin zurück nach Russland. Der Aufenthalt in Hamburg hat ihn verändert, zum ersten Mal sieht er den Krieg mit den Augen des ehemaligen Feindes.
Anmerkungen Daniil Granins Novelle aus dem Jahr 2002 heißt „Jenseits“, weil der Krieg darin aus der Perspektive des ehemaligen Feindes gezeigt wird, aus der deutschen Perspektive. Andererseits sieht man den Krieg „jenseits“ der offiziellen Darstellung, in der die Wahrheit entweder nicht zugelassen oder streng limitiert wurde. Es geht in der Novelle auch um das „Jenseits“ des Krieges, seine Kehrseite, die Granin anspricht. In dem Land, in dem alles, was mit dem Großen Vaterländischen Krieg zu tun hat, als heilig, unantastbar und moralisch korrekt gilt, ist es mutig, Kriegsverbrechen anzusprechen, die von der Roten Armee begangen wurden. Die Rote Armee war unzweifelhaft „auf der richtigen Seite der Geschichte“, hat Europa von Hitler befreit. „Na und? Ich frage Dich, 159 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 688. 160 Ebd., S. 694. 161 Ebd., S. 697. 102
DANIIL GRANIN: „JENSEITS“
was hat Deine Ingrid, ihre Mutter, was hast Du davon?“,162 sagt Šagin zu Ebert, nachdem er von dem schrecklichen Schicksal Ingrids erfahren hat. Es ist schwer, eigene Fehler zu gestehen, doch noch schwerer ist es, wenn diese Fehler jahrzehntelang zu Heldentaten stilisiert werden. Šagin musste sein ganzes Leben nach außen als ein „richtiger“ Veteran funktionieren, obwohl er sein Privatleben nicht meistern konnte. Die Erinnerungen an den Krieg, die er zulässt, sind starr und unpersönlich – obligatorische Bücher über den Krieg in der Privatbibliothek, Porträts von sowjetischen Befehlshabern auf dem Schreibtisch und immer wieder der gleiche heroische Text, den er in den Schulen vorträgt. Und dann, losgelöst von der gewohnten Lebenssituation, drängen seine Ängste hervor, seine persönlichen Erinnerungen. Weil er zu Ebert Vertrauen aufgebaut hat, gesteht er ihm seine verborgenen Gewissensbisse, sein Versagen: Als seine früheren Kameraden nach dem Krieg in Schauprozessen verurteilt wurden, traute er sich nicht, für sie einzustehen. Nach Aleksander Solschenizyn hat es kein anderer russischer Autor gewagt, so offen über die Verbrechen der Roten Armee in den letzten Kriegsmonaten zu sprechen. Solschenizyn, der selbst Augenzeuge dieser Ereignisse war und 1944 wegen antistalinistischer Äußerungen in Feldpostbriefen an einen Freund verhaftet wurde, schrieb, dass Vergewaltigung und Mord an deutschen Frauen “fast wie ein Kampfverdienst” betrachtet wurden. Lev Kopelev zitiert einen Kameraden, der ähnliche Gefühle empfand: „Die Fritzen haben überall geplündert. Deshalb haben sie so viel bekommen. Sie haben in unserem Land alles niedergebrannt, und jetzt tun wir das Gleiche in ihrem. Wir müssen kein Mitleid mit ihnen haben.“ Der Hass war in der Kriegswirklichkeit selbst verankert. Als die Deutschen in Rußland einmarschierten, seien sie „satte Eroberer Europas“ gewesen, „nicht mit Haß erfüllt, sondern mit dem Gefühl der Verachtung für die Russen als niedrigere Rasse“,163 sagte Daniil Granin in einem Interview. Bevor jedoch die russische Armee Deutschland betrat, zog sie wochenlang durch das verwüstete Land – sie hatte die Hinterlassenschaft des Horrors der SS-Strafkommandos gesehen. „Wir alle hatten unsere persönlichen Motive. Wir haben abgebrannte Dörfer gesehen, Galgen, erschossene Partisanen.“164 Im Unterschied zu den meisten Russen betont Granin jedoch, daß er damit Mord und Vergewaltigung nicht rechtfertigen will. Man kann zwar die deutschen Opfer des Krieges nicht mit den sowjetischen vergleichen, allein die Zahlen demonstrieren einen großen Unterschied. Doch für Granins 162 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 688. 163 Stepanova, Elena: „Ein Duell mit der Lüge“. Interview mit Daniil Granin. In: Das Parlament vom 2.05.2005, S. 13. 164 Ebd. 103
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Protagonisten zählt in dem programmatischen Streitgespräch in Hamburg nicht seine Überzeugung von der Richtigkeit des Sieges über den Faschismus, sondern sein privates Gewissen. Er mag stolz darauf sein, dass er Europa befreit hat, doch sein bislang unter dem dicken Mantel der offiziellen Propaganda verborgenes Gewissen bricht hervor. Es ist schon eine besondere Leistung, zuzugeben, dass er, der Sieger, „auch ein Mistkerl war“. „Ich glaubte, uns ist alles erlaubt“,165 sagt Šagin. Es ist ein ungewöhnliches und mutiges Geständnis eines russischen Veteranen.
Ausblick Die kurze Novelle, in einer einst populären Literaturzeitschrift veröffentlicht, fand wie so viele andere nicht-kommerzielle Literaturwerke im heutigen Russland keine öffentliche Resonanz. Der Grund dafür ist vielleicht der ungewöhnliche persönliche Zugang zum Krieg und die Frage, wie man sich an diesen Krieg erinnern kann, die Granin in der Novelle stellt. Granins Darstellung von den drei so unterschiedlichen Figuren mit ihren unterschiedlichen Erinnerungen und Positionen ist jedoch die einzige literarische Verarbeitung der Folgen der Kriegsbewältigungen in Russland und Deutschland, die aus der Feder eines russischen Autors erschienen ist. Das fiktionale Treffen der ehemaligen Kriegsfeinde ist das Wichtigste in der Novelle und der Grund, warum sie geschrieben wurde. Für Granin ist entscheidend, dass jeder Mensch ambivalent ist. Das macht das Kriegsgeschehen nicht weniger schrecklich, es zeigt nur, dass der standardisierte Umgang mit Geschichte in beiden Ländern zur Verdrängung und Verfälschung der Tatsachen führen kann. Granin bemüht sich um einen differenzierten Blick: Für ihn sind Russen nicht nur Opfer und Deutsche nicht nur Täter. Der Große Vaterländische Krieg ist für Granin nicht nur ein gerechter Befreiungskrieg (wie er ihn am Anfang der Novelle zeigt), sondern auch ein schmutziger Krieg mit schrecklichen Racheakten (die Luftangriffe der Alliierten und die Übergriffe in Ostpreußen). Auch mit den deutschen Kriegsopfern kann man Mitleid empfinden, so Granin in „Jenseits“, es muss aber in einen breiten Kontext der Ursachen und Wirkung gestellt werden, sonst wird das Erinnern selektiv und zur Ideologie statt zur Bewältigung. Granin plädiert für das Verständnis der „anderen Seite“, für Empathie, und verachtet die alte sowjetische „Erziehung zum Hass“. Deshalb hat er sich immer dafür eingesetzt, dass deutsche Soldatenfriedhöfe in Russland erhalten und gepflegt werden, trotz der heftigen
165 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 688. 104
ZUSAMMENFASSUNG
Kritik seitens mancher Veteranenverbände. Gleichzeitig ist für ihn wichtig, wie seine Protagonisten heute zu dem stehen, was damals geschehen ist. Hier wird der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Figuren Ebert und Knebel klar: Während Ebert aus seiner Kriegserfahrung Konsequenzen gezogen hat, denkt Knebel immer noch in alten militaristischen Kategorien. Im Mittelpunkt des Erzählens steht jedoch das Geständnis von Petr Šagin, als er begreift, dass er sich selbst über Jahre hinweg belogen hat und dass die Erinnerung an den „Schmutz“ der letzten Kriegsmonate ihn immer noch nicht in Ruhe lässt.
Zusammenfassung Den Verzicht auf das Lobpreisen der Kriegsromantik und des heldenhaften Kampfes gegen die Nazis haben viele Kritiker und Leser als Schändung des Kriegsgedenkens empfunden. In ihrem Bestreben, die unschönen, unheldenhaften Seiten des Krieges zu zeigen, haben die Literaten die positiven Seiten der Fronterfahrung ausgeklammert, so dass das Kriegserlebnis nur als eine einzige Tragödie erscheint. Dabei war es, wie Andrej Sacharow in seinen Memoiren schrieb, [...] für viele [...] das Tiefste, das Wahrste in ihrem Leben, etwas, das ihnen das Gefühl gab, gebraucht zu werden, das Gefühl der Menschenwürde, die beim Durchschnittsbürger im Alltag so sehr niedergedrückt wird, in einer totalitärbürokratischen Gesellschaft mehr als in jeder anderen. Im Krieg wurden wir wieder zu einem Volk, was man davor schon fast vergessen hatte und was man heute aufs neue vergisst. [...] Damals waren die Menschen überzeugt, oder zumindest hatten sie Hoffnung, dass nach dem Krieg alles gut, alles menschlich werden würde.166
Literarische Werke treten dennoch als eine Art „counter-memory“ – ein Gegengedächtnis – auf. Sie vermitteln eine andere Version der Vergangenheit als die „offizielle Meistererzählung“, die das Positive und Heldenhafte an der Geschichte des Krieges betont. In der „offiziellen“, staatlichen Interpretation wird der Große Vaterländische Krieg (bzw. der Sieg in diesem Krieg) zum „positiven“ Nationalsymbol stilisiert, während die in diesem Beitrag vorgestellten Autoren ihn als ein eher „negatives“, wenn auch „nationales“ Symbol betrachten. Drei Beobachtungen scheinen in dieser Hinsicht angebracht: Erstens weist der Antistalinismus in den Romanen Astaf´evs und Wladimows nicht zwangsweise auf die liberale Haltung dieser Autoren 166 Sacharow, Andrej: Mein Leben. München und Zürich 1991, S. 67. 105
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hin. Sie vertreten eher eine patriotisch-nationale Tradition, die auf unterschiedlichen Grundlagen aufgebaut wird: Wladimows Patriotismus basiert auf Verehrung der russischen Militärtradition und der Orthodoxie, auf Feindlichkeit und Überheblichkeit gegenüber den nicht-russsichen Völkern (im Roman gegenüber den Ukrainern). Bei Astaf´ev ist es die Ablehnung des kommunistischen Systems, die Verklärung des ländlichen Lebens und des orthodoxen Glaubens. Bekannt ist seine Nähe zum reaktionären russisch-nationalistischen Dissidententum. Astaf´ev und Wladimow lehnen die sowjetische Tradition explizit ab und knüpfen an die „vorrevolutionären“ Werte wie Glaube und Völkstümlichkeit an. Im Roman von Michail Kononow wird Patriotismus vor allem metaphysisch aufgefasst – als primordiale, „natürliche“ Heimatliebe. Zweitens ist es schwer, die politische Richtung der Autoren zu bestimmen.167 Viele Schriftsteller sind politische „Chamäleons“, wie zum Beispiel Daniil Granin, der sich einerseits stets loyal gegenüber den Machthabern verhält, gleichzeitig aber sich immer wieder kritisch äußert und mit seinen Argumenten nicht das national-konservative Lager bedient. Im Gegenteil, er hat mit seinen Forderungen nach Versöhnung mit den ehemaligen Kriegsfeinden viel Feindseligkeit von den Konservativen geerntet. Drittens ist die Verwendung eines nicht traditionellen Schreibstils kein Hinweis auf einen neuen Zugang zur Geschichtsinterpretation. Michail Kononov wählt einen non-konformen Ansatz, was die Sprache und den Aufbau des Romans „Die nackte Pionierin“ betrifft. Seine Darstellung der leidensfähigen Maria-Motte, die Russland verkörpert, ist jedoch traditionell und „russozentrisch“. Der Krieg bringt nicht nur Opfer mit sich, sondern eine lange Folge von Phobien und nationalen Mythen. „Nichts ist vergessen“ – dieser Satz erweist sich als wahr, doch jede Nation erinnert sich an das Eigene. Empathie für den Schmerz des Anderen zu entwickeln, ist nicht leicht. Umso beeindruckender ist die Bereitschaft Daniil Granins, diesen Schritt zu gehen.
167 Ähnlich schwer ist es, „Farben“ in der russischen politischen Landschaft zu bestimmen und auseinanderzuhalten: So sind russische Kommunisten z.B. nicht zwangsweise „die Linke“ in der westlichen Tradition, da sie nationalpatriotische Ideen von der Rückkehr zur Großmacht Sowjetunion, Aufrüstung und nationaler Wiedergeburt vertreten. Somit sind sie eher „konservativ“. 106
U MGANG
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Der Tod roch anders in Russland als in Afrika. In Afrika, unter schwerem englischem Feuer, hatten die Leichen zwischen den Linien auch oft lange unbeerdigt gelegen; aber die Sonne hatte schnell gearbeitet. [...] Es war ein trockener Tod, in Sand, Sonne und Wind. In Russland war es ein schmieriger, stinkender Tod. Erich Maria Remarque, „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“
Im Zeichen des Kalten Krieges: Ostfront in der west- und ostdeutschen Nachkriegsprosa Nicht selten werden die Deutschen von außen als besessen von ihrer Vergangenheit gesehen, das heißt von der Geschichte des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs. Die Verweise auf den letzten Weltkrieg in politischen Diskussionen über die Bundeswehreinsätze scheinen diese Ansicht nur zu bestätigen.1 Dennoch bleibt es fraglich, welchen Platz Kriegserinnerungen in der „offiziellen“ politischen Kultur der Bundesrepublik tatsächlich einnehmen.2 Wie Aleida Assmann bemerkt hat, wird vieles, was in der Bundesrepublik zur offiziellen „Erinnerungskultur“ gehört, nicht persönlich erin-
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Siehe z.B. die Diskussionen über die Bundeswehreinsätze im Ausland angesichts der Bürgerkriege in Jugoslawien: Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 12/240 vom 22.07.1994, 21166; Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 13/48 vom 30.06.1995, 3957; sowie Diskussionen über den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan als Teil der Operation Enduring Freedom im Jahre 2001: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/198 vom 08.11.01, 19293. So diagnostiziert Elisabeth Domansky die „Verdrängung des Zweiten Weltkrieges durch den Holocaust“ in der offiziellen deutschen Erinnerungspolitik seit den späten 60er Jahren. Domansky, Elisabeth: A Lost War. World War II in Postwar German Memory. In: Rosenfeld, Alvin H. (ed.): Thinking about the Holocaust. After Half a Century. Bloomington and Indianopolis 1997, S. 246 und S. 251-258. 107
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nert, und umgekehrt ist vieles, was persönlich erinnert wird, nicht in einem kollektiven Gedächtnis aufgehoben.3 Das trifft vor allem auf den Krieg gegen die Sowjetunion zu. In der eher offiziellen bundesdeutschen Erinnerungspolitik, wie sie durch Medien, Staatsorgane und große Teile der Wissenschaft formuliert wird, nimmt der nationalsozialistische Völkermord an den Juden seit den späten 70er Jahren einen wesentlich größeren Platz ein als der Zweite Weltkrieg – insbesondere der Vernichtungskrieg an der Ostfront. Die sowjetischen Kriegsopfer (nach den neusten Einschätzung ca. 30 Mio. Tote, darunter zwei Drittel Zivilisten) sind in der Bundesrepublik kein Thema der Erinnerung.4 In den Gedenkreden zum 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer nationalsozialistischer Herrschaft, findet man ein festgefügtes Opferensemble: Juden (wobei bis heute fast ausschließlich an das Schicksal deutscher Juden erinnert wird, die ca. 2% aller Holocaust-Opfer ausmachten), Sinti und Roma, Behinderte, politische Gegner, Homosexuelle. Drei Millionen verhungerte sowjetische Kriegsgefangene, über eine Million Einwohner Leningrads, die während der Blockade umgekommen sind, sowie die anderen Millionen sowjetischer Bürger, die als „slawische Untermenschen“ Opfer des deutschen Vernichtungskrieges wurden, werden dort nicht erwähnt.5 In der privaten Wahrnehmung der meisten Deutschen dagegen war es vor allem der Krieg an der Ostfront, der sogenannte „Russlandfeldzug“, der im Mittelpunkt der Kriegserinnerung geblieben ist. Es war der wichtigste Kriegsschauplatz mit den meisten Verlusten.6 Dagegen war der Völkermord an Juden ein eher „fremdes Leiden“. Obwohl der Russlandfeldzug Hauptschauplatz des Krieges war, blieb er in der Wahrnehmung als Nebenschauplatz der Verbrechen. Dabei sind mindestens 17 Millionen Sowjetbürger, unter ihnen 3,5 Millionen Kriegsgefangene und 1,7
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Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik, 2 (2002), S. 182. Die gleiche „Gedächtnislücke“ gilt für die polnischen Opfer der nationalsozialistischen Besatzung, sowie für die Zahl der polnischen Juden, die dem Völkermord zu Opfer gefallen sind. Vgl. Jahn, Peter: Blinder Fleck. In: Kontakte-Kontakty (Hg.): „Ich werde es nie vergessen“. Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004-2006. Berlin 2007, S. 30-35; Jahn, Peter: Facing the Ostfront: The Other War in German Memory. In: Schlögel, Karl: Russian-German Special Relations in the Twentieth Century. A Closed Chapter? Oxford 2006, S. 119-131. Allein zwischen Januar 1943 und Mai 1945 fielen an der Ostfront über 4 Mio. deutscher Soldaten, das entspricht 78% aller deutschen Kriegsopfer. Vgl. Overmans, Rüdiger: Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg. München 2000. 108
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Millionen Juden, zwischen 1941 und 1945 außerhalb der eigentlichen Kampf- und Kriegshandlungen zu Tode gekommen. Unerwähnt blieb die Tatsache, dass allein in Weißrussland über 600 Dörfer in ähnlicher Weise zerstört wurden wie Lidice und Oradour sur Glane. Der Name des viertgrößten nationalsozialistischen Vernichtungslagers Malyj Trostenez nahe Minsk ist in Deutschland nur den Experten bekannt.7
Antikommunismus und „deutsch-sowjetische Freundschaft“: Kriegsprosa der 50er und 60er Jahre In Westdeutschland stand der Umgang mit der Geschichte des Krieges gegen die Sowjetunion im Zeichen der Westbindung bzw. des Antikommunismus der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Die großen Opferdiskurse – das Schmachten der deutschen Soldaten in sowjetischen Gefangenenlagern, die Vertreibung der Deutschen durch die Rote Armee aus den ehemaligen Ostgebieten und die damit verbundenen Leiden – gehörten zum politisch-ideologischen Programm der Adenauer-Zeit.8 Der Krieg gegen die Sowjetunion entwickelte sich in diesem Kontext zu einem Narrativ, das die Kriegsleiden der Wehrmachtssoldaten in den Mittelpunkt stellte. Es entstand der Mythos einer zwar geschlagenen, in ihrer Leidensfähigkeit und Pflichterfüllung jedoch vorbildlichen, von einer kriminellen Staatsführung politisch-ideologisch missbrauchten, dabei jedoch „sauber“ gebliebenen Armee.9 Getragen und maßgeblich geprägt wurde diese Erinnerung in den 50er und 60er Jahren von einer Flut von Memoiren ehemaliger Generäle,10 apologetischer Geschichtsschreibung11 und nicht zuletzt von Kriegsbelletristik.
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Siehe dazu Kohl, Paul: Das Vernichtungslager Trostenez. Dortmund 2003. Auch Adenauers Besuch in Moskau 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, stand nicht im Zeichen der Wiedergutmachung, sondern vor allem der Forderung, die letzten deutschen Kriegsgefangenen freizulassen. 9 Zur Entstehungsgeschichte der Legende von der „sauberen“ Wehrmacht siehe Naumann, Klaus: Die „saubere“ Wehrmacht. Gesellschaftsgeschichte einer Legende. In: Mittelweg 36 7 (1998) 4, S. 8-18 und Wette, Wolfram: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt am Main 2002, S. 197-244. 10 Als Beispiel sind hier die Memoiren Erich von Mannsteins „Verlorene Siege“ (1955) genannt. Laut Mannstein hätten die Generäle (auch er selbst) grandiose Siege errungen, die durch den Dilettanten Hitler verspielt wurden. Das Buch „Verlorene Siege“ diente weniger der Aufklärung über die Geschehnisse an der Ostfront als der Rechtfertigung des ehemaligen Be109
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Die meisten dieser Kriegsromane erschienen in den 1950er und 1960er Jahren. Die Autoren schilderten nicht einfach den Krieg, sondern sahen ihn stets durch die Brille der Nachkriegsentwicklung. Gerade weil der ehemalige Feind, die Sowjetunion, sich in der angespannten Atmosphäre des Kalten Krieges zu einem wichtigen Bezugsland für beide deutsche Staaten entwickelte, geriet die Darstellung des „Russlandfeldzugs“ allmählich in den Malstrom politischer Auseinandersetzungen und wurde im Verlauf der Jahre immer stärker zum Ausdruck des Kalten Krieges. Die Grundlage für die literarische Beschäftigung mit dem Krieg an der Ostfront legte weitgehend der erste Teil der Trilogie „Der große Krieg im Osten“ von Theodor Plievier „Stalingrad“ (1945).12 Im Jahre 1946 beim Aufbau-Verlag im sowjetischen Sektor von Berlin erschienen, stellte Plieviers Epos für die meisten seiner Leser die erste belletristische Großnachricht vom vergangenen Weltkrieg dar. Der Roman basiert auf Interviews, die der Autor, seit 1934 im russischen Exil, in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern mit ehemaligen Angehörigen der 6. Armee führte. Eine Kontrastierung des dokumentarischen Materials mit naturalistischen Szenen des Kriegshorrors erzeugt einen starken ästhetischen Effekt: So die Gegenüberstellung der Feldpostbriefe, die nicht unfrei von Nazi-Propaganda sind, und einer detaillierten Beschreibung des Soldatenlebens im Stalingrader Kessel; oder die Hitler-Befehle über die Fortsetzung des Kampfes auf der einen Seite und die schrecklichen Szenen, wenn Offiziere im Kessel Selbstmord begehen, auf der anderen. Die stärkste Romanszene ist nach ähnlichem Prinzip konstruiert: Goebbels’ Rede an Heiligabend über die heldenhafte 6. Armee und die sarkastischen Begleitkommentare der Soldaten, die im Leichengestank ersticken.
fehlshabers für die Kriegsniederlage. Siehe Mannstein, Erich von: Verlorene Siege. Bonn 1955. 11 Kein anderes Werk hat das Bild der Bundesdeutschen vom Russlandfeldzug so geprägt wie „Unternehmen Barbarossa“ von Paul Carell (Carell, Paul: Unternehmen Barbarossa. Frankfurt a.M. 1963), dem ehemaligen SSObersturmbahnführer und Pressechef Ribbentrops. Seine Hauptthese „Wir haben anständig für eine gute Sache gekämpft, nämlich für die Abwehr des Bolschewismus“ bediente perfekt die Erwartungshaltungen der Mehrheit auf umfassende Entlastung vor der Geschichte. Vgl. Benz, Wigbert: Paul Carell - Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt vor und nach 1945. Berlin 2005. 12 Die beiden anderen Teile – „Moskau“ und „Berlin“ – erschienen 1952 und 1954. In „Moskau“ schildert Plievier den Kampf um Moskau im Herbst und Frühwinter 1941, in „Berlin“ den Vormarsch der Roten Armee auf Berlin. 110
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Der Untergang der 6. Armee erscheint als eine „konsequente Folge [...] der Kriegsführung“, als ein „Beispiel des militärischen Dilettantismus und der brutalen Gewaltherrschaft“, das „Ergebnis des Strebens eines Mannes (Hitler – E.S.), seinen Ehrgeiz zu befriedigen“ und schließlich als Verbrechen an der deutschen Nation. Die Schuld für dieses Verbrechen trägt die gesamte Militärelite. Der moralische Aspekt dominiert in den beiden Hauptfiguren, dem in einer Strafkompanie dienenden Gefreiten Gnotke und dem Offizier Vilshofen. Der erste bemüht sich, im Schmutz des Krieges moralisch nicht unterzugehen. Der zweite wird nach erfolgslosen Versuchen, seinen Vorgesetzten die Ausweglosigkeit der Situation zu vermitteln, vom glühenden Anhänger Hitlers zu seinem kompromisslosen Gegner. Der Roman endet damit, dass beide auf einem Beobachtungspunkt stehend auf einen endlosen Strom gefangener deutscher Soldaten schauen. Die Kritik des Autors richtet sich vor allem auf die deutsche Generalität und die Naziführung, die aus propagandistischen Gründen die Kapitulation ablehnte und ein heroisches Massensterben wünschte. Dabei stilisiert er deutsche Soldaten als Opfer von Verblendung und Krieg zu Helden des Leidens: „Der Stalingrad-Soldat, seine Genügsamkeit, Anpassungsfähigkeit, Zähigkeit, Ausdauer, seine Leidensfähigkeit, stummes Ertragen von Qualen, seine pünktliche Pflichterfüllung, sein Ausharren und Kämpfen bis zum letzten, welche Höhe an unpathetischem und stummbleibenden Kämpfertum! Und schließlich auch sein Glaube, sein unbedingter Glaube, der sein Größtes war und seine größte Schuld wurde! Welches Denkmal wollen Sie ihm setzen, meine Herren, welche Inschrift seinem Grabmal einmeißeln?“13
Plieviers kritische Haltung war ein wichtiger Baustein auf dem Weg, die deutsche Kriegsniederlage zu begreifen. Er hat die Unrechtmäßigkeit des Russlandfeldzuges und das Verbrechertum der politischen Führung angesprochen, was ihm in der neu gegründeten Bundesrepublik zum Vorwurf gemacht wurde: Er hätte seinen Roman angeblich im „sowjetischen Auftrag“ geschrieben. In einem war Plievier jedoch Vorläufer für spätere deutsche Kriegsprosa, die in ihrer Haltung nicht immer so offen und kritisch war – er verstand den Krieg vor allem als Unglück für Deutschland und nicht als Katastrophe für die von Deutschland besetzten und ausgeplünderten Nachbarn. Die „Katastrophe im Osten“ wurde nicht als die Tragödie der Juden, Slawen und anderer von Nazis als „minderwertig“
13 Plievier, Theodor: Stalingrad. Berlin 1946, S. 301. 111
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eingestufter Völker aufgefasst, sondern primär als die Katastrophe der deutschen Armee.14 Frühe westdeutsche Nachkriegsliteratur, häufig bezeichnet als Trümmerliteratur, neigte dazu, in den Lesern die Solidarität mit dem einfachen Soldaten zu wecken. Der „Feind“ war die militärische und/oder politische Führung. Das gilt auch für die Kriegsliteratur der frühen „Gruppe 47“, unter anderem für die frühen Kriegswerke Heinrich Bölls, den man als „Gewissen der Nation“ der Bundesrepublik der Nachkriegszeit bezeichnen kann. Günter Wallraff hat ihn Ende der 70er Jahre folgendermaßen bewertet: „Heinrich Böll hat der Bundesrepublik im Ausland einen Kredit verschafft, den diese nicht verdient. Er steht für eine Haltung, die im eigenen Land nichts gilt.“15 Auch in der Sowjetunion war Böll, ein ehemaliger Ostfrontsoldat, eine moralische Autorität. Kein anderer Intellektueller in der Bundesrepublik hat so viel für die Verbesserung der Beziehungen mit der Sowjetunion getan wie er. Aus seiner Freundschaft mit dem sowjetischen Dissidenten Lev Kopelev wurde ein Engagement für die Meinungsfreiheit in der Sowjetunion und den Abbau der alten Feindbilder. Die meisten Kriegstexte Bölls spielen an der Ostfront. Dabei wird der Kontrast zwischen seiner eigenen Kriegserfahrung in Frankreich und der im Osten deutlich.16 Die Frankreich-Szenen sind meistens von Langeweile, Korruption, Alkoholismus und Müßiggang gekennzeichnet, während es den Beschreibungen des Russlandfeldzuges nicht an naturalistischen Details der Kriegsschrecken mangelt: Verstümmelungen, Todesängste und groteske Todesarten. Erzählt wird aus der „Wurmperspektive“, aus der Perspektive eines kleinen Obergefreiten, die für politische oder historische Erörterungen kaum Raum lässt. Der Roman von Heinrich Böll „Wo warst du, Adam?“,17 der zuerst 1949 erschien, ist zusammen mit vielen anderen Werken der Trümmerliteratur für seine politische und historische Kurzsichtigkeit kritisiert wor-
14 Vgl. Bance, Alan: The Brutalization of Warfare on the Eastern Front: History and Fiction. In: Higgins, Ian (ed.): The Second World War in Literature. Edinburgh-London 1986, S. 97-114. 15 Zit. in: Vogt, Jochen: Heinrich Böll. In: Arnold, Heinz Ludwig: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auf CD-ROM. München 1999, URL: http://nmweb.sbb.spk-berlin.de/NetManBin/ nmwebclt. dll?CONFIGID=320632288, Stand 24.10.2007. 16 Vgl. Reid. J.H.: „Mein eigentliches Gebiet...“ Heinrich Bölls Kriegsliteratur. In: Wagener, Hans (Hrsg.): Von Böll bis Buchheim: Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Amsterdam-Atlanta 1997, S. 93. 17 Böll, Heinrich: Wo warst Du, Adam? Leipzig 1989. 112
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den.18 Der Grund dafür war, dass Böll sich der Annahme anschloss, der einfache deutsche Soldat sei im Wesentlichen „gut“ gewesen, er sei aber durch seine Vorgesetzten missbraucht worden. In fiktionalen sowie in autobiographischen Texten Bölls von den Anfängen bis ins Spätwerk hinein findet sich eine durchgehende Dichotomie: Die Welt ist in „die da oben”, denen es unter allen Systemen gut geht, und „die da unten“ geteilt, die unter jedem System getreten und geschunden werden und mit denen sich der Dichter solidarisiert. „Wir“, das sind die „guten Deutschen“, die „anderen“, das sind die Nazis.19 Der Krieg in „Wo warst du, Adam?“ besteht hauptsächlich aus Nichtstun. Der Leser bekommt den Eindruck, die deutschen Soldaten hätten nie von ihren Waffen Gebrauch gemacht. Die Handlung spielt oft im Lazarett oder im Zug, der die Landser als hilfloses Kanonenfutter an die Front bringt, oder in der Kneipe, in der sie sich betrinken, um den Krieg zu vergessen. Wenn Kriegshandlungen geschildert werden, wird auf Bölls Protagonisten geschossen, ohne dass ein einziger von ihnen zurückschießt. „Wo warst du, Adam?“ versteht man als eine Frage nach der individuellen Verantwortung, und die Antwort „Ich war im Weltkrieg“ könnte als ein Entrinnen von der Verantwortung gelesen werden. Diese Literatur wurde teilweise auch „Obergefreitenliteratur“ genannt, bezogen auf den militärischen Rang der Hauptfiguren. Den Fokus auf den einfachen Soldaten kann man als einen Weg sehen, der Diskussion über den politischen und historischen Zusammenhang des Krieges auszuweichen. Die Obergefreiten bewältigen den Krieg, wie er sich ihnen stellt; sie gestalten den Krieg nicht. Ihr niedriger Rang bedeutet, dass sie die Position „ob richtig oder falsch, es ist mein Vaterland“ einnehmen konnten oder sogar mussten. So vermeidet die Obergefreitenliteratur oft das Thema des Nationalsozialismus. Wenn Nazis innerhalb des Militärs überhaupt vorkommen, dann als eine im Wesentlichen isolierte Gruppe.20
18 Z.B. in Schlant, Ernestine: The Language of Silence: West German Literature and the Holocaust. New York 1997, S. 30; siehe auch Tachibana, Reiko: Narrative as Counter-Memory. A Half-Century of Postwar Writing in Germany and Japan. Albany and New York 1998, S. 84. 19 Vgl. Neuhaus, Volker: Hitlers Willige Verdränger. In: Rheinreden 1999 (1), S. 54. URL: http://www.rheinreden.de/RR1999-1.pdf, Stand 28.10.2007. 20 Jochen Pfeifer weist auf die Abwesenheit der Nazis in fast allen Kriegsromanen hin. Siehe Pfeifer, Jochen: Der deutsche Kriegsroman 1945-1960 Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte. Königstein/Ts. 1981, S. 135. 113
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Im erfolgreichen Roman „Die unsichtbare Flagge“ (1952) von Peter Bamm wird der Begriff „Nationalsozialismus“ sorgsam vermieden.21 Nazis werden in äsopischer Sprache als „Lemuren“ oder – häufiger – fast wertungsneutral als „die Anderen“ bezeichnet. Als Mediziner ist der Romanerzähler dem unmittelbaren Dienst des nationalsozialistischen Regimes entzogen und erfüllt tadellos seine ärztliche und persönliche Pflicht gegenüber den auf seine Hilfe angewiesenen Soldaten auf beiden Seiten der Frontlinie. Die fehlende Auseinandersetzung mit den Zielen und Auswirkungen des Krieges wird zur beinahe scheinheilig wirkenden Ahnungslosigkeit eines Reisenden stilisiert: „Wir waren nun schon so weit von den Penaten des häuslichen Herdes entfernt, wir waren schon so lange auf der Wanderschaft, wir wussten so wenig davon, wohin der Weg führen werde, so viele waren schon gefallen, so viele waren schon verwundet worden, so viele waren schon im terra incognita der Gefangenschaft verschwunden – wir begannen zu vergessen, was einmal gewesen war.“22
Die Opfer auf der sowjetischen Seite werden von Bamm kurz angesprochen: „In Nikolajew wurden die russischen Bürger, die jüdischen Glaubens waren, von einem Kommando der Anderen registriert, zusammengetrieben, ermordet und in einem Panzergraben verscharrt. Wir hörten davon durch Gerüchte, die wir erst nicht glauben wollten, aber schließlich glauben mussten. Ein Offizier vom Stabe des Armeeführers hatte die Szene photographiert.“23
Bamm grenzt sich und die Wehrmacht von den „Anderen“ und ihren Verbrechen ab: „Jedermann empfand es als eine Schande, dass die Anderen die von tapferen Soldaten erkämpften Siege der Armee für ihre Ziele ausnutzten.“24 Vom Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie ist im Roman nur am Rande die Rede: „Das Gift des Antisemitismus hatte sich schon zu tief eingefressen. […] Der Wurm saß schon im Holz. Die moralische Korruption nach sieben Jahren Herrschaft der Anderen war schon
21 Bamm, Peter: Die unsichtbare Flagge. Berlin und Darmstadt 1956. Mehr zur Analyse dieser „Abwesenheit der Täter“ in Peter Bamms Werk siege Heer, Hannes: Vom Verschwinden der Täter: der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Berlin 2004, S. 191-197. 22 Bamm, Peter: Die unsichtbare Flagge, S.90f. 23 Ebd., S. 65. 24 Ebd., S. 66. 114
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zu weit fortgeschritten, auch bei denen, die das bei sich selbst damals noch heftig geleugnet hätten.“25 Dennoch hinterlässt die Lektüre einen zwiespältigen Eindruck: Da ist zum einen der feuilletonistische Stil, das anekdotische Erzählen über schreckliche Ereignisse, die dem Autor anscheinend gar nicht nahe gehen. Dann das Übertragen der Verantwortung: Der Krieg wird zum unvermeidlichen Naturgeschehen, Hitler zum Psychopathen, der Nationalsozialismus zur Krankheit, die die „Anständigen“ infiziert hatte. Das Kriegsgeschehen wird durch heitere Episoden vom idyllischen Zusammenleben mit russischen Bauern und von medizinischen Wohltaten beschönigt. Bamm erweckt den Anschein, die Armee habe keinen Vernichtungskrieg gegen die russische Bevölkerung, sondern einen „Feldzug der Hygiene“ gegen Fleckfieber geführt.26 Sogar im Roman „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ (1952) von Erich Maria Remarque, der in der westdeutschen Literatur der Nachkriegsjahre eine Ausnahme darstellt in Bezug auf die Verantwortung für den Krieg und das Eingeständnis der Verbrechen der deutschen Armee an der Ostfront, ist die Welt dichotomisch in „gute Deutsche“ und „böse Nazis“ eingeteilt. Nirgends ist jedoch die Verwicklung der deutschen Soldaten in den Vernichtungskrieg so eindringlich geschildert wie im ersten Kapitel von „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“. „[...] Keinem der Russen waren die Hände gefesselt und die Augen verbunden worden. Man hatte es vergessen. Die Frau war nach vorn gefallen. Sie war nicht tot. Sie stützte sich auf die Hand und starrte, das Gesicht erhoben, die Gruppe Soldaten an. Steinbrenner machte ein zufriedenes Gesicht. Niemand außer ihm hatte auf sie gezielt. [...] Sie lag da, die Arme aufgestützt, wie ein großer bunter Frosch, der nichts mehr weiter konnte, und zischte, ohne die Augen einen Moment abzuwenden. Sie schien kaum zu sehen, dass Mücke verdrossen von der Seite herankam. Sie zischte und zischte, und erst im letzten Augenblick sah sie den Revolver. Sie riss den Kopf beiseite und biss in Mückes Hand. Mücke fluchte und schlug ihr mit der linken Hand von oben den Unterkiefer los. Als die Zähne nachgaben, schoss er sie in den Nacken.“27
Mit dieser Szene beginnt der Roman, und das Leid, das die Hauptfigur Graeber an der Front und in seiner von Luftangriffen zerstörten Heimatstadt erlebt, steht im Zeichen dieser von den Deutschen verübten Verbrechen. „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ erschien 1954 bei Kiepenheuer
25 Bamm, Peter: Die unsichtbare Flagge, S. 66. 26 Vgl. Bröer, Ralf: „Wir wussten das“. In: Die Zeit 48/1995, S. 68. 27 Remarque, Erich Maria: Zeit zu leben und Zeit zu sterben. Frankfurt am Main 1954, S. 23. 115
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& Witsch in Köln. Remarque, kein Anhänger sozialistischer Ideen und kommunistischer Herrschaft, hatte die Sowjetunion ohne Vorbehalte als Opfer einer mörderischen Invasion gezeichnet. Damit sprach er ein Tabu an. Der Roman wurde vom Verleger Joseph Caspar Witsch zensiert. Alle Hinweise auf den Massenmord an den Juden hinter der Front oder auf die Vergewaltigungen von Frauen vor der Exekution wurden gestrichen; die brutale Ermordung der slawischen „Untermenschen“ fand sich nicht in der Kölner Ausgabe von 1954.28 Nach der Veröffentlichung der zensierten Version des Romans notierte Remarque in seinem Tagebuch: „Die Schuld: verdrängt, nie erkannt, in Deutschland [...] Die Deutschen sind so großzügig darin, ihre Untaten zu vergessen...“. Und schließlich: „Sie, die Leute im Verlag, wollen die Wehrmacht hochhalten“.29 Die erheblichen Veränderungen in seinem Buch nahm Remarque hin. Der ursprüngliche Text, von Mitarbeitern des Remarque-Archivs durch den Vergleich mit der amerikanischen Übersetzung mühsam rekonstruiert, wurde erstmals 1989 gedruckt. Das Originalmanuskript existiert nicht mehr. Die Kriegserfahrung an der Ostfront wurde im Nachkriegsdeutschland vor allem im Topos „Stalingrad“ gebündelt. „Stalingrad“ wurde zum Symbol und zur Metapher für das erlittene Leid im Krieg und in der sowjetischen Gefangenschaft. Auch in der sowjetischen Literatur nahm Stalingrad von Anfang an einen besonderen Platz ein, vor allem in den Werken von Viktor Nekrasov und Vasilij Grossman. In diesen beiden Texten symbolisierte „Stalingrad“ einen besonderen Geist der Frontkämpfer, den Geist der Freiheit, die sie so unerwartet in den „Schützengräben von Stalingrad“ einatmeten. Auf der offiziellen Ebene galt Stalingrad jedoch vor allem als Symbol der Kriegswende und Zeichen des unaufhaltsamen Sieges. Eine andere Bedeutung bekam „Stalingrad“ in der deutschen Erinnerung und in der deutschen Nachkriegsliteratur. Es stand für den vermeintlichen Verrat der NS-Führung an den deutschen Soldaten, die zum Sinnbild für den Missbrauch „deutscher Tugenden“ wurden.30 „Stalingrad“ warf zahlreiche moralische Fragen auf: Wer war verantwortlich für die Niederlage? In welchem Maße mussten deutsche Soldaten und Offiziere verbrecherischen Befehlen des Führers und der Mili28 Eine Ausführliche Schilderung der Romanzensur im Fall von Remarques „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ findet sich in Heer, Hannes: Tote Zonen: die deutsche Wehrmacht an der Ostfront, Hamburg 1999, S. 275-278. 29 Zit. in: Bellin, Klaus: Der entschärfte Roman. In: Neues Deutschland vom 09.04.2005, S. 19. 30 Vgl. Jahn, Peter (Hrsg.): Stalingrad erinnern: Stalingrad im deutschen und im russischen Gedächtnis. Berlin 2003; Kumpfmüller, Michael: Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos. München 1995. 116
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tärführung folgen? Wer hatte Recht – die, die bis zur letzten Patrone gekämpft haben und gefallen sind, oder die, die sich ergeben haben? Für die Erinnerung an Stalingrad in der westdeutschen Gesellschaft der 50er Jahre waren vor allem die Romane „Die verratene Armee“ (1955) von Heinrich Gerlach, „Der Arzt von Stalingrad“ (1956) von Heinz G. Konsalik und „Hunde, wollt ihr ewig leben?“ (1958) des Österreichers Fritz Wöss maßgeblich. Der Titel des Romans von Heinrich Gerlach31 wies auf die Perspektive des Autors hin: Beim Untergang der 6. Armee handelte es sich um den Verrat der Militärführung an den tapferen deutschen Truppen im Stalingrader Kessel. Es wird nicht weiter darauf eingegangen, aus welchem Grund die Wehrmacht in den Kessel geraten ist, die deutschen Soldaten erscheinen allein als unschuldige Opfer des Krieges. Dass der Vormarsch 6. Armee von flächendeckenden Vernichtungen ländlicher Siedlungen samt Bewohnern als gängige Besatzungspraxis begleitet war, wird verschwiegen. Fritz Wöss zeigt in „Hunde, wollt ihr ewig leben?“32 deutsche Soldaten, die von den Eliten nach Stalingrad geschickt wurden, um getötet oder gefangen genommen zu werden.33 Die Handlung des Romans beginnt mit dem Transport deutscher Offiziere und Soldaten in die sowjetische Gefangenschaft. Es wird nicht gefragt, warum oder wie die deutsche Armee nach Stalingrad kam. Die Wehrmachtsangehörigen werden gleich als „Opfer“ eingeführt. Die Kritik an den Vernichtungsplänen der Nationalsozialisten ist bei Wöss rein pragmatisch: Sie seien falsch, weil sie erfolglos seien. Die Deutschen werden von ihm als Kolonisatoren Russlands beschrieben, die Russen müssen „domestiziert“ oder „gezähmt“ werden. In dieser Weiterverwendung der nationalsozialistischen Feindbilder ähnelt Wöss’ Roman dem „Arzt von Stalingrad“ von Heinz G. Konsalik,34 der auf der Welle großer öffentlicher Resonanz auf die erfolgreiche UdSSR-Reise Konrad Adenauers und erneuter Aufmerksamkeit für die Heimkehrerproblematik erschien. In Konsaliks Roman halten die Deutschen in sowjetischer Gefangenschaft, vor allem die Ärzte, harte Bewährung durch: Unter den menschenunwürdigen Bedingungen des sowjetischen Gefangenenlagers zeigen sie moralische, kulturelle und fachliche Überlegenheit gegenüber den „Sowjets“. Die „Russen“, die bei Konsalik meistens Tataren, Kalmücken oder Mongolen sind, werden als primitiv 31 Gerlach, Heinrich: Die verratene Armee. München 1957. 32 Wöss, Fritz: Hunde, wollt ihr ewig leben? Hamburg und Wien 1958. 33 Siehe dazu Moeller, Robert G.: In a Thousand Years, Every German Will Speak of This Battle: Celluloid Memories of Stalingrad. In: Bartov, Omer/ Grossman, Atina/ Nolan, Mary (eds.): Crimes of War. Guilt and Denial in Twentieth Century. New York 2002, S. 161-180. 34 Konsalik, Heinz G.: Der Arzt von Stalingrad. 43. Auflage. München 2000. 117
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und brutal geschildert, sie haben asiatische Gesichtszüge und zeigen Charaktereigenschaften, die in Europa traditionell den Asiaten zugeschrieben werden. So beschreibt er zum Beispiel Kommissar Kuwakino: „Der Kommissar Kuwakino war ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit einem Mongolengesicht. Seine Augen, weit auseinanderstehend und ein wenig geschlitzt durch die asiatischen Fettpolster unter den Lidern, blickten kühl und oftmals gelangweilt, als sei ihm die Welt das Ekelhafteste und der Mensch auf ihr überhaupt nicht wert, beachtet zu werden.“35
Handgreiflichkeiten sowjetischer Soldaten gegenüber deutschen Gefangenen, beispielsweise der „[…] Kirgisen und Mongolen, die nicht sprachen, sondern einfach zuschlugen...“,36 gehören zum normalen Lagerdasein. Am deutlichsten sind die Darstellungen russischer Frauen, die den Rassismus des Autors offenbaren: „Rassige Stute“, „asiatische Katze“, aber auch „Bestie“, „Hexe“, „Teufel“37 – heißt es aus dem Munde von Dr. Kresin über die russische Ärztin Alexandra Kasalinsskaja. Selbst die zarte, kranke Janina gesteht ihrem Geliebten Dr. Schultheiß, ein „Tier“ zu sein, das nicht gegen seine Triebe ankommt.38 Das berüchtigte „Naturhafte“ des russischen Menschen wird in „Der Arzt von Stalingrad“ auf Primitivität, Unerzogenheit und Neigung zu üblen Angewohnheiten reduziert. Dieser und ähnliche Trivialromane über den vergangenen Krieg boten dem westdeutschen Leser eine Gelegenheit, durch Selbsttäuschung über schmerzhafte Kriegserlebnisse hinwegzukommen. Durch starke emotionale Aufladung unterstützten sie das Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit der Deutschen, weil Sowjetbürger als brutale Menschen oder fanatische Kommunisten geschildert wurden. Insbesondere Konsalik bediente sich ideologischer Thesen und des Wortschatzes des Dritten Reiches. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit persönlicher wie allgemeindeutscher nationalsozialistischer Vergangenheit fand in seinem Roman nicht statt. In den 50er Jahren erscheinen in Westdeutschland auch betont antimilitaristische „Romane der Härte“, die vor allem die Schrecken des Russlandkrieges beschreiben, jedoch in der Schilderung des unreflektier-
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Konsalik, Heinz G.: Der Arzt von Stalingrad, S. 60. Ebd., S. 63. Ebd., S. 108, 140, 54, 67, 56. Ebd., S. 103. 118
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ten Grauens stecken bleiben.39 Der Roman „Das geduldige Fleisch“ (1955) von Willy Heinrich schildert die Schlacht um den KubanBrückenkopf im Sommer 1943, bei der es um pures Abschlachten geht.40 Selbst der Anständige wird in diesem „Scheißkrieg“ zur Bestie, alles ist sinnlos geworden. So entsteht zwar ein Schreckensbild, aber Ursache und Ziel des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion bleiben unreflektiert. Das Gleiche gilt für Gert Ledigs „Die Stalinorgel“ (1955), wo der verbissene 48-stündige Stellungskrieg um einen Hügel bei Leningrad geschildert wird.41 Deutsche Landser vegetieren im Schützengraben, werden auf grausame Art getötet und verwundet, doch auch Russen geht es nicht anders – es gibt keinen Unterschied in der Schilderung der Russen und der Deutschen. Alle haben das Bedürfnis nach „ein bisschen Nahrung, etwas Wärme, nicht mehr leiden müssen“.42 Obwohl Ledig Szenen des brutalen Umgangs mit dem Feind in seinen Roman aufnimmt, ist „Die Stalinorgel“ nur bedingt eine Darstellung der Ostfront. Die Handlung spielt zwar bei Leningrad, doch findet die Blockade keine Erwähnung. Die Frage, was die Deutschen „hier eigentlich wollen“, stellt sich nur ein sowjetischer Leutnant und erhält keine Antwort. Als 1964 in der Bundesrepublik der Roman „Schlachtbeschreibung“ von Alexander Kluge erschien, in dem der Autor die Schlacht bei Stalingrad (den Zeitraum kurz vor der Einkesselung der 6. Armee im November 1942 bis zur Kapitulation im Februar 1943) anhand von Dokumenten der Kriegsberichterstattung und Propaganda darstellte und sich somit analytisch mit der Nazi-Ideologie beschäftigte, wurde er von der Literaturkritik als nüchtern und wenig originär bemängelt.43 Kluge verzichtet auf eine fiktionale Handlung und ersetzt sie durch eine Montage von Tagesbefehlen, Wehrmachtsberichten, Richtlinien, Zeugnissen von Soldaten und Offizieren. Die Zusammenstellung und Bearbeitung dieses Materials erzeugt dabei eine Sprach- und Ideologiekritik: So kann der Leser die Frontberichte an den Propagandarichtlinien messen und seine eigenen
39 Hermand, Jost: Darstellungen des Zweiten Weltkrieges. In: Hermand, Jost (Hg.): Literatur nach 1945. Politische und regionale Aspekte. ( = Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. B. 21). Wiesbaden 1979, S. 36. 40 Heinrich, Willi: Das geduldige Fleisch. Stuttgart 1955. 41 Ledig, Gerd: Die Stalinorgel. Frankfurt a.M. 2000. 42 Ebd., S. 45, 110. 43 Vgl. Carp, Stefanie: Schlachtbeschreibungen. Ein Blick auf Walter Kempowski und Alexander Kluge. In: Heer, Hannes/ Naumann, Klaus (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg 1995, S. 665. 119
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Schlussfolgerungen ziehen. Kluge nannte seinen Roman „ein Gitter, an das sich die Phantasie des Leser anklammern kann.“44 Die wichtigste Rolle in dieser umfangreichen Dokumentarkollage spielt das Prinzip des Kontrastes. Kluge zeigt den Gegensatz zwischen der wirklichen Situation im Stalingrader Kessel und dem, was darüber in der Nazi-Propaganda berichtet wurde. Der gesamte Roman übernimmt die Aufgabe, die Heuchelei des Nazi-Regimes zu entlarven, mit der die Niederlage bei Stalingrad umhüllt wurde und die teilweise in der BRD der 50er Jahre weiter lebte. Indem Kluge den Mechanismus der totalen Verblendung aufdeckt, der die Niederlage als einen großen Sieg darstellte, bringt er seine Leser zum Nachdenken über die Rolle der historischen Mythologien, die zwar weit von der Realität entfernt sind, aber einen wichtigen Einfluss auf die nationale Mentalität ausüben. Kluge untersucht die Motive und die Verblendungsmechanismen der Täter des Krieges, aber die Opfer interessieren ihn nicht. Stalingrad ist für ihn ein „deutsches“ Thema, Russen fungieren in „Schlachtbeschreibung“ als Außenstehende, meistens sind es hohe Militärs, die Verhandlungen über die Kapitulation der 6. Armee führen. Stellvertretend für Gesamtdeutschland hat die DDR die Kriegsschuld gegenüber der Sowjetunion im moralischen und materiellen Sinne übernommen. Die „Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft“ war die zweitgrößte Massenorganisation in der DDR, die trotz der Tatsache, dass darin viele unfreiwillig Mitglieder waren, eine wichtige aufklärerische Arbeit bezüglich des Krieges gegen die Sowjetunion leistete, wovon nach der Wende auch das wiedervereinte Deutschland profitiert. Zum Abbau der negativen Russlandbilder in Ostdeutschland trug die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft allerdings nur bedingt etwas bei. Staatlich gefördert und als Zwang empfunden, war die „Freundschaft“ mit den Völkern der Sowjetunion ein Teil der Staatspropaganda der DDR-Regierung. Im Gegensatz zu den Schulgeschichtsbüchern der BRD thematisierten die Geschichtsbücher der DDR ausführlich die Zerstörungen und Verwüstungen in der Sowjetunion durch die Wehrmacht und die SS sowie die rassistische Grundlage des Krieges.45 Die Verantwortlichen wurden in der offiziellen Rhetorik jedoch meistens in den Westen ausgelagert. Die Ostfront wurde als „Hauptfront des militärischen Klassenkamp-
44 Kluge, Alexander: Schlachtbeschreibung. Frankfurt a.M. 1983, S. 368. 45 Uhe, Ernst: Der Nationalsozialismus in den deutschen Schulbüchern. Eine vergleichende Inhaltsanalyse von Schulgeschichtsbüchern aus der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Frankfurt a.M. 1975, S. 113-249. 120
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fes“46 verstanden, die sowjetische Gefangenschaft als erste Etappe der Erziehung im antifaschistischen Sinne und Herstellung der Freundschaft zwischen dem deutschen und sowjetischen Volk.47 Das Thema der Umerziehung im sowjetischen Gefangenenlager war in der DDR-Literatur stark verbreitet. Exemplarisch genannt sei hier der Roman von Herbert Otto „Die Lüge“ (1956), in dem er seine Wandlung während der sowjetischen Kriegsgefangenschaft im Ural beschrieb.48 Die gleiche Botschaft vermittelte der in der DDR bekannteste Roman über den Zweiten Weltkrieg (wenngleich die Handlung in der Slowakei und nicht in der Sowjetunion spielte), „Die Abenteuer des Werner Holt“ (1960) von Dieter Noll.49 Noll schilderte die schwierige Entwicklung eines Wehrmachtssoldaten zum Antifaschisten und Anhänger des Sozialismus.50 Obwohl diese Schilderungen mit der Nazi-Ideologie abrechneten und eine antifaschistische Botschaft transportierten, entsprachen sie nur in seltenen Fällen den Kriegserinnerungen der meisten Menschen. Die meisten deutschen Soldaten gehörten nicht zum Widerstand, sondern kämpften bis zum bitteren Ende in der nationalsozialistischen Wehrmacht. Das bekannteste Prosawerk über den Zweiten Weltkrieg, das in den 50er Jahren in der DDR erschien, war die Novelle „Kameraden“ (1955) von Franz Fühmann.51 Fühmann gehörte zu denjenigen, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft Antifaschisten geworden sind und in der DDR einen neuen, antifaschistischen und sozialistischen Staat sahen. Auf Grundlage seiner eigenen Erfahrungen zeigte Fühmann in „Kameraden“ die Spaltung des Bewusstseins und die unbemerkte Heuchelei im Nationalsozialismus. Als drei deutsche Soldaten kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 im Grenzland versehentlich die Tochter ihres Vorgesetzten erschießen (dabei haben nur zwei abgedrückt und das Mäd-
46 Kant, Hermann/ Wagner, Frank: Die große Abrechnung. Probleme der Darstellung des Krieges in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: neue deutsche literatur (1957) 12, S. 138. 47 Vgl. Morina, Christina: Der Angriffskrieg als Lesestoff. Darstellung und Deutung des Russlandfeldzuges in der deutsch-deutschen Nachkriegsliteratur (1945-1960). In: Zeitgeschichte-online. Thema: Die Russische Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, Mai 2005, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn/ russerinn_morina.pdf, Stand 13.05.2005. 48 Otto, Herbert: Die Lüge. Berlin 1956. 49 Noll, Dieter: Die Abenteuer des Werner Holt. Berlin 1960. 50 Der Roman war insofern non-konform, als dass er statt einen antifaschistischen Widerstandskämpfer zu idealisieren, den widersprüchlichen Erkenntnisprozess thematisiert. 51 Fühmann, Franz: Kameraden. Berlin 1955. 121
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chen getroffen), beschwören sie die Kameradschaft – wer die Wahrheit sage, sei ein Verräter. Der Unglücksfall wird zur Tat „russischer Untermenschen“ uminterpretiert. Im ersten besetzten Dorf lässt der Major zwei Mädchen zur Vergeltung aufhängen. Der Überfall auf die Sowjetunion steht am Ende der Novelle und wirkt wie das Resultat der Handlungen und der Einstellung der drei „Kameraden“. Im Gegensatz zu vielen westdeutschen Autoren, die sich in ihrer Kriegsprosa kaum mit der nationalsozialistischen Ideologie auseinander setzten, liegt der Schwerpunkt in Fühmanns Novelle auf der ideologischen Abrechnung mit dem nationalsozialistischen Angriffskrieg (Fühmann wird hier als Beispiel für die Haltung der Autoren der DDR-Kriegsprosa genannt). Jaroslav Kovář, der Fühmanns Novelle mit Heinrich Bölls Erzählung „Wanderer, kommst du nach Spa...“ verglichen hat, bezeichnete diese Werke als „repräsentativ für die Antikriegsliteratur im Osten und Westen“ und als „komplementär“: Böll rechnet mit der Unmenschlichkeit des Krieges auf Grund der elementaren menschlichen Werte ab, während Fühmann die Perversität der nationalsozialistischen „Werte“, die den Krieg rechtfertigen sollen, aufzeigt.52
Stagnation und neue Impulse nach der „Wehrmachtsausstellung“ Die entscheidende Wende im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kam in der BRD mit der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre. Doch die „68er“ beschäftigten sich vor allem mit den „faschistoiden Strukturen“ innerhalb der BRD, die die Nazi-Zeit überlebt hatten, weniger mit dem Vernichtungskrieg. Die Ostpolitik Willi Brandts stellte einen Fortschritt in den Beziehungen zwischen der BRD und der Sowjetunion dar, doch in seiner Fernsehansprache nach der Unterzeichnung des Deutsch-Sowjetischen Vertrages in Moskau 1970 fand auch er keine Worte der Versöhnung gegenüber dem sowjetischen Volk. Offiziell wurde in den 70er und 80er Jahren die Erinnerung an den Völkermord an den Juden zum zentralen Bezugspunkt des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Allerdings wurde über die Rolle der Wehrmacht darin und den Judenmord in den besetzten Gebieten der Sowjetunion in der Öffentlichkeit nicht gesprochen, trotz der Veröf52 Kovář, Jaroslav: Antikriegsprosa in Ost und West: Heinrich Bölls Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa... und Franz Fühmanns Novelle Kameraden im Vergleich. In: Heukenkamp, Ursula (Hrsg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Amsterdam-Atlanta 2001, S. 55. 122
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fentlichungen der Historiker zu diesem Thema. In der deutschen literarischen Landschaft spielte der Krieg gegen die Sowjetunion kaum eine Rolle mehr. Eine Ausnahme bildete der Roman „Gruppenbild mit Dame“ (1971) von Heinrich Böll, in dem es zwar nicht explizit um den Krieg an der Ostfront geht, eine dessen zentraler Figuren aber ein sowjetischer Kriegsgefangener ist.53 Im Mittelpunkt des Romans steht die Liebesbeziehung zwischen Leni Pffeifer und dem sowjetischen Kriegsgefangenen Boris Koltowski. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Jahre 1971, in einer Atmosphäre angespannter Beziehungen zwischen Ost und West, wurde die Wahl eines sowjetischen Kriegsgefangenen zu einer der zentralen Romanfiguren von vielen als politische Provokation aufgefasst. Böll sprach als einer der ersten das Thema des Arbeitseinsatzes der Zwangsarbeiter und speziell sowjetischer Kriegsgefangener in der deutschen Kriegswirtschaft an. Sein Protagonist Pjotr Bogakov, der bereits im August 1941 von der Wehrmacht gefangengenommen wurde, spricht von der Brutalität der deutschen Wachmannschaften, die nicht einmal vor Kindern Halt macht: „Und wenn friedliche Zivilisten, unsere eigenen Leute, uns was bringen wollten, zu trinken oder zu essen, wurden sie nicht rangelassen – es wurde einfach in sie reingeknallt... Eine Frau schickte ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren mit Brot und Milch zu uns, so eine richtige süße kleine Natascha – sie dachte wohl, so einem süßen kleinen Mädchen... würden sie nichts tun, aber nein – MG –, und unsere kleine Natascha war so tot wie jeder andere, und Milch und Blut und Brot lagen auf der Erde.“54
Bogakovs Schilderungen enthalten grauenvolle Einzelheiten über brutale Ausbeutung und Demütigungen sowjetischer Kriegsgefangener: „Da lagen wir nun, fast bis März 1942; und es gab manchmal achthundert oder neunhundert Tote am Tag – dazwischen Prügel und Hohn, Hohn und Prügel und hin und wieder mal reingeschossen in die Menge... Dann war ich bei Krupp in Königsberg... – nachts elf, tagsüber zwölf Stunden Arbeit –, und gepennt haben wir in Abtritten, ... und die Tagesration bestand aus 250 Gramm Ersatzbrot und zwei Liter Balandasuppe... und das war keine Ernährung, sondern systematische Unterernährung – , dazu immer wieder: Prügel und Hohn, immer drauf mit dem Knüppel.“55
53 Böll, Heinrich: Gruppenbild mit Dame. Köln 1976. 54 Ebd., S. 284. 55 Ebd., S. 285. 123
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Gleichzeitig wird „Gruppenbild mit Dame“ zum Ausdruck von Bölls Wunsch nach der Verständigung und Versöhnung mit der Sowjetunion. Dem dienen seine Auswahl der Figuren und die zentrale Stelle, die die Liebe zwischen Leni und Boris im Roman einnimmt. Der Kulturinteressierte Boris tritt als Russe für die deutsche Literatur gegen die Nazis ein, sein deutsches Pendant ist der Slavist Dr. Scholsdorff, der als Deutscher für die russische Klassik eintritt – ebenfalls gegen die Nazis. Dass die gegenseitige Verständigung mit literarischen Mitteln möglich ist und der Literatur dabei eine wichtige Rolle zukommt, davon war Heinrich Böll überzeugt. In der westdeutschen Öffentlichkeit blieb der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion bis in die 90er Jahre hinein, trotz der Aufklärungsarbeit der Historiker,56 kein wichtiges Thema. Auch für die Sowjetbürger, die in deutscher Kriegsgefangenschaft verhungert, als Zwangsarbeiter im Reich umgekommen sind oder als Zivilpersonen in der Heimat durch Kriegs- oder Besatzungseinwirkung getötet worden waren, hatten die Deutschen meist nur ein kurzes Gedächtnis, zumindest im Westen.57 In der westdeutschen Opferhierarchie kamen die Russen, Ukrainer oder Weißrussen erst sehr weit unten. Den ostdeutschen Erinnerungen wurde nach der Wiedervereinigung die Integration in den westlichen Kanon verweigert, weil sie nicht in das politische Narrativ der BRD passten. Da das wiedervereinte Deutschland sich als Nachfolger der alten BRD versteht, hat es zwangsläufig auch die Tradition der bundesdeutschen Kriegserinnerung übernommen, in der es für die sowjetischen Kriegsopfer nur wenig Platz gibt. Spätestens seit der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung (einer unabhängig finanzierten Forschungseinrichtung – eine Seltenheit in der BRD, wo die meisten akademischen Institutionen staatlich sind) „Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, die 1995 und erneut 1999 sehr intensiv in Deutschland und Österreich besucht wurde, fand der Krieg an der Ostfront seinen Einzug in die breite
56 Z.B. Streit, Christian: Keine Kameraden: Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen. Bonn 1978; Bartov, Omer: The Eastern Front 1941-1945: German Troops and Barbarisation of Warfare, Basingstoke 1985; Ueberschär, Gerd R./ Wette, Wolfram (Hg.): „Unternehmen Barbarossa“. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Berichte, Analysen, Dokumente. Paderborn 1984; Benz, Wigbert: Der Russlandfeldzug des Dritten Reiches: Ursachen, Ziele, Wirkungen. Frankfurt a.M. 1988. 57 Vgl. Niethammer, Lutz: Juden und Russen im Gedächtnis der Deutschen, in: Pehle, Walter U. (Hrsg.): Der historische Ort des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1990, S. 125. 124
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Öffentlichkeit.58 Es stellte sich heraus, dass der Krieg nicht nur in den persönlichen Erinnerungen derjenigen, die ihn erlebt hatten, sondern auch im kollektiven Gedächtnis der gesamten deutschen Gesellschaft präsent und ein wichtiges politisches Problem der Gegenwart war.59 Mit ungefähr achthundert Fotografien, größtenteils von Soldaten aufgenommen, und Hunderten von Dokumenten hat die Ausstellung zum ersten Mal die Ergebnisse von zwei Jahrzehnten intensiver Forschung über die Verstrickung der Wehrmacht in Nazi-Verbrechen an der Ostfront der Öffentlichkeit vorgelegt. Sie demonstrierte das Ausmaß, in welchem die Wehrmacht sowohl direkt als auch indirekt am Holocaust beteiligt war. Man kann von einer Wahrnehmungszäsur in Bezug auf die Ereignisse des Krieges an der Ostfront sprechen: „Vor allem für die Soldaten- und Kriegsgeneration bedeutete die Dokumentation der Verbrechen an der Ostfront und auf dem Balkan das Ende einer sorgsam gehüteten und zäh verteidigten Lebenslüge mit unabsehbaren Folgen für das in den Familien tradierte Bild von missbrauchten, aber anständig gebliebenen Vätern, Onkeln und Großvätern.“60 Literarisch erscheint diese Erinnerung nun in Texten um die Geschichte der eigenen Familie. Vor allem diejenigen melden sich zu Wort, die in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre mit dem allgegenwärtigen Schweigen ihrer Eltern und Großeltern aufwuchsen. Angesichts des neuen Booms der Erinnerungsliteratur über den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus spricht Hannes Heer von einer neuen Gattung des „Familienromans“.61 Die Titel weisen auf die Verwandschaft hin: „Am Beispiel meines Bruders“, „In den Augen meines Großvaters“, „Meines Vaters Land“, „Vaterland ohne Väter“, „Mein guter Vater“ etc. Die Geschichte des Krieges an der Ostfront bildet ein wichtiges Kapitel in dieser Auseinandersetzung. Millionen von Kindern wuchsen im Nachkriegsdeutschland ohne Väter auf, weil die letzten in der Sowjetunion gefallen sind oder in Gefangenschaft waren. Andere wurden 58 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941bis 1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 1996; Ders. (Hg.): Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, Hamburg 1999; Naumann, Klaus: Wenn ein Tabu bricht. Die WehrmachtsAusstellung in der Bundesrepublik, in: Mittelweg 36, 1 (1996), S. 11-24. 59 Vgl. Bartov, Omer: Germany’s Unforgettable War: The Twisted Road from Berlin to Moscow and Back. In: Diplomatic History 25 (2001) 3, S. 421. 60 Heer, Hannes: Vom Verschwinden der Täter: der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Berlin 2004, S. 201. 61 Heer, Hannes: Literatur und Erinnerung. Die Nazizeit als Familiengeheimnis. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005) 9, S. 811. 125
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zu Hause von den „Rückkehrern“ mit einem „Mix aus idyllischer Fronterzählung und grausamem Gefangenschaftsreport gefüttert“.62 Nach langen Jahren des Vertuschens und Verfälschens der Tatsachen über die Kriegsereignisse in der Sowjetunion wagen sich – wenige – Fragen zu stellen, sich auf die Suche danach zu begeben, was ihre Väter oder Brüder in der Sowjetunion gemacht haben. Der Wunsch nach Aufklärung eines Teils der deutschen Öffentlichkeit steht jedoch im Kontrast zur Tendenz, die Deutschen primär als Opfer des Krieges darzustellen. Nach einschneidenden Geschichtsdebatten in den 80er und 90er Jahren, die insbesondere auf den Völkermord an den Juden bezogen waren, scheint sich seit Anfang des neuen Jahrtausends die Erinnerung weg von den Deutschen als Täter, hin zu den Deutschen als Opfer zu verschieben. Die Erinnerung an die Bombardierung der Städte, an Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des Reichs wurde in den letzten Jahren zum Bezugspunkt einer erinnerungspolitischen Debatte. Diese Entwicklung begann im Jahr 1999 mit dem Essay W.G. Sebalds „Luftkrieg und Literatur“ über die Unterrepräsentation des Luftkrieges in der deutschen Nachkriegsliteratur63 und wurde 2002 vom Literaturnobelpreisträger Günther Grass fortgesetzt. Weil Grass zu den bedeutendsten lebenden deutschen Schriftstellern gehört, erregte seine Novelle „Im Krebsgang“ allgemeines Aufsehen. Man sah in ihr einen Versuch, das Leiden der Deutschen als Teil der offiziellen Geschichtsdeutung anzuerkennen und dieses Thema aus dem privaten Bereich der Familiengeschichten an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Grundlage der Erzählung bildet die Annahme, dieses Thema sei bisher nur unzureichend behandelt und ein Tabu geworden, das von Neonazis missbraucht werden könne.64 Gleichzeitig will Grass die falsche Opferhierarchie zerstören – die HolocaustOpfer gegenüber den „deutschen Opfern“ – „als dürfte nur jener und nicht dieser Toten gedacht werden“.65 Zu einem anderen wichtigen Thema entwickelte sich in den letzten Jahren die Geschichte der Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten. Nachdem der Essay von W.G. Sebald „Luftkrieg und Literatur“ den Bombenkrieg gegen das Dritte Reich in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte, veröffentlichte im Jahr 2002 Jörg Friedrich seine 600seitige Studie unter dem Titel „Der Brand: Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945“,66 die sehr emotional den Luftkrieg aus der deutschen Per62 Heer, Hannes: Tote Zonen. Die deutsche Wehrmacht an der Ostfront. Hamburg 1999, S. 206. 63 Sebald, Winfried Georg: Luftkrieg und Literatur. München und Wien 1999. 64 Grass, Günther: Im Krebsgang. Göttingen 2002, S. 77, 99. 65 Ebd., S. 62. 66 Friedrich, Jörg: Der Brand. München 2002. 126
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spektive darstellt. Das größte Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs sei Deutschland gewesen, nicht die Sowjetunion und der Osten Europas, behauptet Friedrich. Der von ihm anschließend herausgegebene Band mit Fotografien67 gibt eine Zusammenfassung „Des Brandes“: Verwüstete städtische Landschaften, ordentlich aufgeschichtete Stapel von verkohlten, starren Körpern; ein verbrannter, grotesk geschrumpfter Leichnam, der in einem Eimer sitzt. Absichtlich oder nicht, wiederholen diese Fotos die vertrauten Bilder der KZ-Toten. Auch die Sprache erinnert an die Darstellungen des Völkermords an Juden: Die Bomberverbände nennt Friedrich „Einsatzgruppen“ – eine feststehende Bezeichnung für die deutschen Sonderkommandos an der Ostfont; aus den Bunkern werden bei Friedrich „Krematorien“, und der Brand stellt „die größte Bücherverbrennung aller Zeiten“ dar. 68 Als „Meisterwerk“ der literarischen Moderne69 feierte die deutsche Kritik das mehrbändige Projekt von Walter Kempowski „Echolot“. Zehn Bände mit insgesamt mehr als 9000 Seiten belegen für einige Perioden des Zweiten Weltkrieges – Beginn der Operation „Barbarossa“, die Schlacht um Stalingrad, die Flucht aus den Ostgebieten und die letzten Monate des Krieges – jeden Tag mit den schriftlichen Zeugnissen einzelner Menschen.70 Die meisten Texte sind privat, Kempowski zitiert aber auch bereits publizierte Tagebücher, Goebbels-Reden, Pressemitteilungen, private Aufzeichnungen von Alfred Döblin, Paul Valery oder Thomas Mann. Ihn interessieren der subjektive Blick und das, was einzelne Menschen an verschiedenen Orten gedacht und gehofft haben. Man erfährt, was sie an ihre Familien von der Front schrieben, was sie ins Tagebuch eintrugen, wie sie ihren Alltag verbrachten. Jeder Tag endet mit der Eintragung der polnischen Historikerin Danuta Czech, die die eingelie-
67 Friedrich, Jörg: Brandstätten: der Anblick des Bombenkriegs. München 2003. 68 Friedrich, Jörg: Der Brand, S. 539. 69 Vgl. Schirrmacher, Frank: In der Nacht des Jahrhunderts. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.11.1993. In: Ein Bücher-Tagebuch. Buchbesprechungen aus der FAZ. Frankfurt a.M. 1994, S. 62-66; Drews, Jörg: Ein Meisterwerk wird besichtigt. In: Süddeutsche Zeitung vom 4./5.12. 1993. Fuilleton-Beilage, S. I. 70 Kempowski, Walter: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943 (4 Bde.). München 1993; Kempowski, Walter: Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945 (4 Bde.). München 1999; Kempowski, Walter: Das Echolot. Barbarossa '41. Ein kollektives Tagebuch. München 2002; Kempowski, Walter: Das Echolot. Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch. München 2005. 127
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ferten Häftlinge in Auschwitz-Birkenau verzeichnete. Der Autor zieht sich aus der Darstellung zurück, doch seine Intentionen sind deutlich: „Ich tu das nicht um der Geltung wegen, ich habe doch eine Mission! Es geht im Grund auch um dieses arme Volk, das mit einem Schuldklotz belastet durchs Leben keuchen muss, und was sie auch tun, es ist verkehrt, ein bisschen, dass ich mich an ihre Seite stelle und sage: „So verkehrt seid ihr nicht“.71
Die Aussagen der Zeitzeugen werden austauschbar, „sie erhalten weder durch ihr Verhältnis zu den anderen Texten noch durch Stellung und Funktion ihrer Verfasser noch durch ihren jeweiligen Inhalt eine Notwendigkeit“.72 Einer der Effekte dieses „kollektiven Tagebuches“ ist die Rehabilitierung des kleinen Mannes, der doch nichts für den Krieg konnte. Außerdem wird der Krieg auf ein erträgliches Maß an Alltäglichkeit zurechtgerückt. Die Textauswahl teilt mit, dass die meisten Menschen, von der Nazi-Propaganda verführt, ihr Leben weiterführten, während die Verantwortung bei Militär und Politik gelegen habe. Die Intellektuellen hätten auch nichts geahnt. Nebenbei gab es Auschwitz, von dem die einfachen Menschen nichts wussten. Die meisten Deutschen waren Opfer von „etwas nicht Durchschaubarem“.73 Unter den vielen neuen Familienerkundungen ragt die der Journalistin Wibke Bruhns heraus, die die Biographie ihres Vaters Hans-Georg Klamroth erzählt, der 1944 als Mitwisser des Attentats vom 20. Juli hingerichtet wurde. Unter dem Titel „Meines Vaters Land“ versucht Bruhns die gesamte deutsche Geschichte am Beispiel einer bürgerlichen Familie darzustellen – von der späten Kaiserzeit über den Ersten Weltkrieg, den Großvater Kurt und Vater Hans Georg als Offiziere mitmachen, die Weimarer Zeit, Depression, Nationalsozialismus. Der Vater, obwohl ursprünglich skeptisch und kein Antisemit, tritt der NSDAP bei, auch der Reiter-SS, und schlägt die Einführung des Arierparagraphen in die Statuten des Familienverbands vor. Die Tochter hält ihm diese Verfehlungen (ganz besonders letztere) streng und deutlich vor, ebenso wie seine Untreue in der Ehe. Sehr mild urteilt sie dagegen, wo es um die Täterschaft des Vaters im engeren Sinne geht. Als sprachbegabter Abwehroffizier verhört er 1942 Partisanenverdächtige im „Affenland“, wie er die 71 Zit. in: Blum, Thomas: Schuldklotz. Ein Porträt des antikommunistischen „Volksschriftstellers“ Walter Kempowski. In: Literatur Konkret 29 (2004), S. 14. 72 Carp, Stefanie: Schlachtbeschreibungen. Ein Blick auf Walter Kempowski und Alexander Kluge. In: Heer, Hannes/ Naumann, Klaus: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg 1995, S. 667. 73 Ebd. 128
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Sowjetunion nennt, und schreibt nach Hause: „Besser, wenn eher mehr als zu wenig von diesen Untieren ins Gras beißen“.74 Krieg sei keine Schönwetter-Angelegenheit, schreibt die Tochter; Partisanen gebe es nun mal, Großvater Kurt habe sie ja schon 1914 in Belgien erlebt, „keine Besatzungsmacht der Welt“ lasse sie gewähren.75 Dies ist beispielhaft für den allgemeinen Perspektivenwechsel, der seit der Wende in der deutschen Erinnerungskultur stattfindet. In der anschwellenden Flut der Familienliteratur wird ein Bedürfnis nach Verständnis, nach Versöhnung, sogar Entschuldung der „Tätergeneration“ bearbeitet. In Büchern und Filmen werden Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg als Leidensgeschichte der Deutschen präsentiert. Immer noch dauert die kontroverse Diskussion über eine bundesdeutsche bzw. europäische Gedenkstätte zu den deutschen und/oder europäischen Flucht- und Vertreibungsbewegungen rund um den Zweiten Weltkrieg, deren Ort Berlin sein soll – oder gerade nicht Berlin. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Umdeutungsprozess die zentralen Fernsehanstalten ARD und ZDF, die sich in den quotenbringenden Filmproduktionen „Dresden“ (2006) und „Die Flucht“ (2007) zweier traumatischer Kriegserlebnisse der Deutschen widmeten: der Bombardierung Dresdens und der Flucht der Deutschen aus den Ostgebieten vor der anrückenden Roten Armee. Mit ihrer schematische Dramaturgie zeigen diese Filme das Hauptproblem des „Einfühlungsfernsehens“: dass das emotionsgeladene Bild die historischen Konflikt- und Problemfelder verhüllt. „Wenn deutsche und französische Zivilisten gemeinsam vom Krieg überrollt werden, wenn Mütter ihre Kinder panisch an sich pressen, verlieren historische Kategorien ihren Sinn, die Frage nach politischen Ursachen erscheint zynisch“,76 so die Filmkritikerin Evelyn Finger. Eine ähnliche Kritik trifft auch die zahlreichen Fernsehdokumentationen, die in den letzten Jahren an besonderer Popularität gewonnen haben: Guido Knopp sei hier als herausragendes Beispiel genannt. Der „Chefhistoriker“ des ZDF prägte in den letzten Jahren mit zahlreichen Filmreihen die Wahrnehmung des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik. Seine Produktionen wie „Hitlers Helfer“, „Hitlers Frauen“, „Die Gefangenen“ und „Die große Flucht“ wurden von Millionen Zuschauern gesehen. Unter Historikern umstritten, ist seine Methode der filmischen Geschichtsarbeit jedoch stilbildend. Die undifferenzierte Auswahl von Zeitzeugen und die Wiedergabe ihrer meist unkommentierten Erzählungen bewirkten eine Verschiebung in der 74 Bruhns, Wibke: Meines Vaters Land. München 2005, S. 316. 75 Ebd., S. 319. 76 Finger, Evelyn: Die Ohnmacht der Bilder. In: Die Zeit vom 1.03.2007, URL: http://www.zeit.de/2007/10/TV-Die-Flucht, Stand 24.10.2007. 129
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Wahrnehmung der historischen Ereignisse. Es wird eine verführte, betrogene, vertriebene, ausgebombte und vergewaltigte Gemeinschaft vorgeführt. Dabei beschäftigt sich Knopp auch nur mit den deutschen Opfern. Polen, Juden, Russen oder Ukrainer, die im Krieg vertrieben wurden, weil die Deutschen sich einen „Lebensraum“ schaffen wollten, finden bei Knopp selten Erwähnung. Heute ist die Auseinandersetzung mit dem Krieg als literarisches Thema von anderen Problemen geprägt als vor 60 Jahren. Es ist nicht mehr die philosophische Frage, was das geschriebene Wort nach dem „Zivilisationsbruch“ noch ausdrücken könne, nicht mehr die „Reflexion auf das eigene Versagen“77 oder das Bedürfnis der Zeitzeugen, „Zeugnis abzulegen“ und zu erzählen, „wie es war“, sondern der Wunsch der Kinder- und Enkelkindergeneration, zu verstehen, was ihre Eltern bzw. Großeltern im Krieg gemacht haben, um sich selbst und die eigene Herkunft zu begreifen. Laut dem Soziologen Harald Welzer gibt es eine unübersehbare Tendenz in der deutscher Gegenwartsliteratur, die NSVergangenheit und damit auch das Kriegsthema „stärker als zuvor in explizit familienbiographischer Perspektive zu thematisieren.“78 Welzer unterscheidet in seinen Studien zur Übertragung der Geschichte des Nationalsozialismus in deutschen Familien zwischen „Geschichtswissen“, wie es in Schule, Universität und Massenmedien vermittelt wird, und „Geschichtsbewusstsein“, also „emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit“, wie sie aus den Berichten der NS-Zeitgenossen unter den Familienmitgliedern entstehen. Letzteres, so die These von Welzer, entscheidet darüber, „wie das gelernte Geschichtswissen gedeutet und gebraucht wird.“79 Diese Version von Geschichte bleibt auch auf kultureller Ebene gefragt, was auch der Publikumserfolg einiger Bücher in den letzten Jahren zeigt (z.B. „Der Brand“ von Jörg Friedrich, „Eine Frau in Berlin“ von Anonyma, „Im Krebsgang“ von Günther Grass u.a.). Harald Welzer erklärt ihn auf folgende Weise: „Ich vermute, dass diese Publikationen gerade deshalb so auflagenstark sind, weil sie der gefühlten Geschichte der Bundesbürger viel näher stehen als die autoritative Erzählung über die Vernichtung der europäischen Juden und die anderen Verbrechen des Dritten Reichs.“80 Die Leser finden sich in diesen Roma77 Adorno, Theodor W. : Gesammelte Schriften, Bd. 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1996, S. 27. 78 Welzer, Harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Mittelweg 36, Literaturbeilage (2004) 1, S. 64. 79 Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi“: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M. 2002. S. 13. 80 Welzer, Harald. Schön unscharf, S. 53. 130
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nen wieder. Und gerade weil der Krieg gegen die Sowjetunion so stark in die Familiengeschichte eingebunden ist, ist die Abwehrhaltung gegenüber kritischen Darstellungen so groß.
Fazit Während für die westdeutsche Kriegsprosa der 50er und 60er Jahre der „Krieg an der Ostfront“ einen thematischen Mittelpunkt bildete, verschwand dieses Thema aus der literarischen Landschaft der Bundesrepublik im Laufe der 70er und 80er Jahre. Obwohl fast alle westdeutschen Kriegsromane gegen den Krieg gerichtet sind, also zur „Antikriegsliteratur“ gehören, findet nur in wenigen von ihnen eine Auseinandersetzung mit den Ursachen des Vernichtungskrieges statt. Im Zentrum steht vor allem das Leid deutscher Soldaten, und nur selten wird gefragt, aus welchen Gründen sie an der Ostfront kämpften. Viele westdeutsche Kriegsromane – beispielhaft seien hier die Autoren Willi Heinrich, Heinrich Gerlach, Heinz Konsalik, Peter Bamm genannt – dienten dem Ziel, die deutschen Armeeangehörigen von der Schuld an den Kriegsverbrechen zu entlasten und dem massenhaften Sterben deutscher Soldaten im Osten einen Sinn zu geben. Jost Hermand wies darauf hin, „obwohl die meisten dieser Romane handlungsmäßig an der Ostfront spielen, werden in ihnen die Gräuel dieses Vernichtungskrieges gegen slawische Untermenschen, wie sie die Wehrmachtsausstellung vor wenigen Jahren endlich aufgedeckt hat, weitgehend ausgeblendet“.81 Hier zeichnete sich eine deutliche Kontinuität mit der nationalsozialistischen Ideologie ab, die den Krieg gegen die Sowjetunion zu einem Kreuzzug des Abendlandes gegen die östliche Barbarei und zu einem notwendigen Verteidigungskampf stilisierte. Diese Ansicht hat den Krieg überlebt und fand ihren neuen Gebrauch angesichts der Bedürfnisse des Kalten Krieges. Diesen Gründen nachzugehen, bemühten sich einige DDR-Autoren, wie z.B. Franz Fühmann, die eindringlich die individuelle Verwicklung des Soldaten in den Vernichtungsfeldzug beschrieben und sich mit den ideologischen Grundlagen des Krieges beschäftigten. Diese Darstellungen waren viel subtiler, als es die offizielle Interpretation des Nationalsozialismus in der DDR auf der Grundlage des Klassenkampfes erlaubte. Auch in der Bundesrepublik gab es immer wieder lautstarke Gegenstimmen – Heinrich Böll, Alfred Andersch, Alexander Kluge – die 81 Hermand, Jost: Die Kriegsschuldfrage im westdeutschen Roman der fünfziger Jahre. In: Heukenkamp, Ursula (Hrsg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (19451961), Bd. 1 und 2. Amsterdam-Atlanta 2001, S. 430. 131
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sich der allgemeinen Rechtfertigungstendenz widersetzten. Auffällig ist jedoch, dass in den literarischen Werken, die zu den Musterbeispielen der Auseinandersetzung mit der Erfahrungen des Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland zählen, der Zweite Weltkrieg kaum vorkommt, so in den Werken von Günther Grass, Siegfried Lenz oder Christa Wolf. In „Wages of Guilt“ nannte Jan Buruma den Roman „Die Blechtrommel“ von Günther Grass „die berühmteste fiktionale Chronik des Zweiten Weltkrieges“ („the world’s most famous fictional chronicle of World War II“).82 Es ist seltsam, dass in einer „Kriegschronik“ der Krieg selbst nicht vorkommt. In den Romanen über den Nationalsozialismus wird der Krieg zu einer Nebensache, genau so wie in den meisten deutschen Kriegsromanen der Nationalsozialismus ausgeklammert wird.
Uwe Timm: „Am Beispiel meines Bruders“ Natürlich finde ich die Leute interessanter, die sich widersetzt haben, eine tolle Sache!, aber in meiner Familie war das nicht so. Aus dem kurzen Leben meines Bruders ergeben sich viele Fragen auch für mich: Woher komme ich? Was für eine Erziehung habe ich genossen? Was steckt davon heute noch in mir? Und, ganz wichtig: Wie hätte ich gehandelt? Uwe Timm
Die Todesanzeigen-Seite in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veränderte sich Mitte der neunziger Jahre auf eine eigenartige Weise, nachdem der Streit um die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung entbrannt war. Es entstand eine Art kleiner Soldatenfriedhof. Annoncen, unter dem schwarzen Balkenkreuz gedruckt, erinnerten an die in der Sowjetunion gefallenen Väter, Onkel und Brüder, was auch heute noch ein Grund zur Trauer für die Angehörigen ist. Zur Erinnerung / stud. med. Leutnant / Ernst Fresenius / * 28.8.1923 Berka / + 14.1.1945 Brückenkopf Warka an der Weichsel / Er opferte sein Leben für das Vaterland. Das Vaterland jedoch achtet sein Opfer nicht. / Die Geschwister / Selinde Fresenius / Dr. Hansjürgen Fresenius.83
82 Buruma, Ian: Wages of Guilt. Memories of War in Germany and Japan. London 1995, S. 292. 83 Zit. in Heinemann, Frank J.: Uwe Timm: „Am Beispiel meines Bruders“. In: Deutschlandradio (Politische Literatur ) vom 18.08.2003, URL: http:// www.dradio.de/dlf/sendungen/politischeliteratur/131819/, Stand 26.10.2007. 132
UWE TIMM: „AM BEISPIEL MEINES BRUDERS“
Diese Todesanzeigen in der FAZ sollten eine Antwort auf „die antifaschistische Hasskultur“84 sein, die deutsche Wehrmachtsangehörige angeblich zu Verbrechern erklärt und zum öffentlichen Vergessen der Soldaten in feldgrauer Uniform führt. Der Roman von Uwe Timm „Am Beispiel meines Bruders“,85 den man als eine „Gegen-Anzeige“ gegen die weiterhin verbreiteten Klischees von der Vaterlandsverteidigung im Krieg an der Ostfront lesen kann, bekommt zusätzliches Gewicht vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Deutschen als Opfer des Krieges. Anhand seiner Familiengeschichte reflektiert Timm über Schuld und Verdrängung. Die Ostfront spielt in seinem autobiographischem Text, den man nur mit Vorsicht als „Roman“ bezeichnen kann, eine wichtige, wenn auch keine zentrale Rolle. Über den Krieg in der Sowjetunion erfährt man aus dem Tagebuch und den Feldpostbriefen seines Bruders Karl-Heinz Timm, die Anlass für den Roman waren. Sie stellen den Blick eines SS-Angehörigen auf Land und Leute dar. Anders als in vielen Feldpostbriefen von der Ostfront findet man in diesen knappen Aufzeichnungen keine diskriminierenden oder stigmatisierenden Stereotype bei der Beschreibung von Russland und Russen, Weißrussen, Ukrainern oder Juden. Dennoch geben die kurzen Sätze im Tagebuch und die Äußerungen in Feldpostbriefen die Brutalität des Vernichtungskrieges wieder. Der im Jahre 1940 in Hamburg geborene Schriftsteller machte zunächst eine Kürschnerlehre. Später fing er an, Germanistik, Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre zu studieren. Seinen literarischen Durchbruch schaffte er 1974 mit dem Roman „Heißer Sommer“, der von vielen als das erste Buch begrüßt wurde, das sich mit Zielen und Beweggründen der Studentenrevolte auseinander setzte. Dieser und spätere Romane haben Timm das Image eines politisch engagierten, den Linken nahe stehenden Schriftstellers eingebracht. Die Schilderungen Timms lassen erkennen, dass es für ihn nicht einfach war, das Buch über seinen Bruder und seine Familie zu verfassen. „Ich wollte immer über meinen Bruder schreiben, dessen Briefe ich schon als Jugendlicher gelesen hatte“, sagte er in einem Interview. „Ich fand es nur erschreckend, beim Schreiben womöglich mehr Negatives über ihn zu erfahren. Etwa, dass er nicht nur bei dieser Einheit der Waffen-SS gekämpft hat, sondern auch aktiv bei Partisanen- oder Judenerschießungen dabei war“.86 Es ist eine Haltung, die viele Kinder und En84 Heer, Hannes: Literatur und Erinnerung. Die Nazizeit als Familiengeheimnis. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005) 9, S. 827. 85 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Köln 2003. 86 Bartels, Gerrit: Ich wollte das in aller Härte. Ein Interview mit dem Schriftsteller Uwe Timm über sein Buch „Am Beispiel meines Bruders“ und die 133
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kelkinder der deutschen Kriegsteilnehmer empfinden: einerseits Neugier und andererseits Angst vor einer schrecklichen Entdeckung. Das Schreibverbot erfolgte auch aus Rücksichtnahme auf noch lebende Angehörige, vor allem die Mutter – „solange sie lebte, war es nicht möglich, über den Bruder zu schreiben“.87 „Erst als auch die Schwester gestorben war, die letzte, die ihn kannte, war ich frei, über ihn zu schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen“,88 erklärt Timm.
Inhalt Über den Krieg wird in „Am Beispiel meines Bruders“ auf zwei Ebenen berichtet: zum Einen ist es das Tagebuch von Karl-Heinz Timm, das die Sicht eines Kriegsteilnehmers auf die unmittelbaren Kriegsereignisse vermittelt. Zum Anderen berichtet der Autor ausführlich über die Wahrnehmung des vergangenen Krieges in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Krieg wird bei Timm zur privaten Angelegenheit, die aber „beispielhaft“ ist. Der Bruder des Autors, Karl-Heinz, hat sich 1942 als 18-Järiger freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und kämpfte als Angehöriger der Elitepanzerdivision „Totenkopf“ in den wichtigsten Schlachten an der Ostfront – der Kursker Panzerschlacht und der Rückeroberung von Charkov. Er starb im Oktober 1943 in einem Feldlazarett in der Ukraine, nachdem ihm nach einer schweren Verletzung beide Beine abgenommen worden waren. Von Karl-Heinz Timm ist nicht viel geblieben: eine einzige persönliche Erinnerung des Autors aus seiner Kindheit, aber auch ein ganze Reihe „erzählter Erinnerungen“, die ein Grund dafür sind, dass der Schatten des Bruders über dem ganzen Leben des Erzählenden liegt: „Ich war drei Jahre alt, als er starb, und habe nur eine äußerst blasse Erinnerung an ihn. Trotzdem war er in unserer Familie ständig präsent, als Druck, als atmosphärischer Druck. Karl-Heinz galt immer als Vorbild, das im Krieg als Held gestorben war. Das wurde so nicht gesagt, aber in der Vermittlung galt er als tapferer, anständiger, gehorsamer Junge. Das gaben meine Eltern an mich weiter, als Erziehungsdruck sozusagen, und dem wollte ich auf den Grund kommen.“89
Aufarbeitung deutscher Vergangenheit am Beispiel seiner eigenen und überaus normalen Familie. In: die tageszeitung vom 13.09. 2003, S. 17-18. 87 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 11f. 88 Ebd., S. 12. 89 Bartels, Gerrit: Ich wollte das in aller Härte, S. 17. 134
UWE TIMM: „AM BEISPIEL MEINES BRUDERS“
Begraben wurde Karl-Heinz Timm auf einem Heldenfriedhof in der Ukraine. Einige Monate davor hatte die Familie Timm ihr Haus im Bombenangriff auf Hamburg 1943 verloren. „Ausgebombt und kurz darauf der Junge gefallen. Das war der Schicksalsschlag der Familie, und das war der Krieg. Alles vernichtet“,90 so ist das Leitmotiv der Geschichte, erzählt von Timms Eltern. „Den Jungen verloren und das Heim, das war einer der Sätze, mit denen man sich aus dem Nachdenken über die Gründe entzog.“91 Zu den wenigen privaten Gegenständen, die der Mutter des verstorbenen Karl-Heinz Timm nach seinem Tod übersandt worden waren, zählte das Tagebuch, das ein SS-Angehöriger eigentlich gar nicht führen durfte. Sie bewahrte es in einer Pappschachtel in ihrem Frisiertisch auf, und erst nach dem Tod der Mutter und der Schwester traute sich Uwe Timm, dieses „Gespenst“ herauszulassen. Die knappen, stichwortartigen Einträge im Tagebuch dokumentieren gerade durch die Auslassung von Details und Zusammenhängen die Vorstellungen von der „normalen Grausamkeit“ oder „grausamen Normalität“92 des Russlandfeldzuges. Uwe Timm sucht nach Hinweisen auf Kriegsverbrechen im Tagebuch und findet sie nicht explizit. Gleichzeitig reflektiert er ausführlich darüber, was das für ein Krieg gewesen sei, an dem sein Bruder teilnahm, wie der Bruder diesen Krieg sah. Im Laufe seiner Recherche unternahm Uwe Timm sogar eine Reise in die ehemalige Sowjetunion. Er hielt einen Vortrag vor ukrainischen Germanisten und wollte das Grab seines Bruders besuchen. Es sei der Wunsch der Mutter gewesen, der mit ihrem Tod auf Timm überging: „Ich wollte über ihn schreiben, hatte aber nie in Erwägung gezogen, in die Ukraine zu fahren, um die Stelle zu sehen, wo er begraben lag. Ich kann nicht einmal genau sagen, wann dieser Gedanke langsam zu einem Vorsatz wurde, auf jeden Fall erst nach ihrem Tod. Wahrscheinlich als ich damit begann, mich ernsthaft mit seinem Tagebuch, mit seinen Briefen zu beschäftigen, und mir dachte, ich müsse einmal die Landschaft sehen, in der er damals gekämpft hatte, wo er verwundet und gefallen war. Wo er andere verwundet und getötet hatte.“93
90 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 36f. Zitate, die Timm in seinem Buch kursiv gesetzt hat, werden hier ebenfalls kursiv wiedergegeben. 91 Ebd., S. 91. 92 Kesting, Hanjo/ Ruckaberle, Axel: Uwe Timm. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Das kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auf CD-Rom. München 1999. 93 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 123. 135
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Wenngleich Timm das Grab seines Bruders nicht gefunden hatte, da es nicht mehr existierte, war die Reise zu den Orten aus dessen Kriegstagebuch wichtig für seinen Annäherungsprozess an die Geschichte des Bruders und der Eltern. Am Ende wird Timms Familienrecherche zu einem Requiem. Eindrucksvoll beschreibt er das Sterben der Mutter und berichtet von den letzten Jahren der älteren Schwester, sodass man sein Buch auch als Vermächtnis lesen kann: Ein Familienalbum, in dem nicht nur die schönen Festtage festgehalten werden, sondern auch über dunkle Seiten der Familiengeschichte erzählt wird.
Anmerkungen Der Titel des Romans „Am Beispiel meines Bruders“ macht deutlich, dass der Autor hier nicht ausschließlich seinen 1943 an der Ostfront gefallenen Bruder meint. Vielmehr ist der Roman ein „Fallbeispiel zur Krankengeschichte der Deutschen“.94 Timm will hier die Lücke füllen, die in vielen deutschen Familien existiert, in denen man über die in der Sowjetunion gefallenen Väter, Brüder und Onkel entweder gar nicht erzählt oder sie als ehrenhafte und pflichtbewusste Soldaten darstellt. „Die Vätergeneration, die Tätergeneration, lebte vom Erzählen oder vom Verschweigen. Nur diese zwei Möglichkeiten schien es zu geben, entweder ständig davon zu reden oder gar nicht“.95 Vom nationalistischen Vernichtungskrieg war kaum die Rede, das Drama der sowjetischen Kriegsopfer blieb meist unerwähnt und somit fast unbekannt. „Charakterisiert durch die ,Rhetorik der Opferrolle’ und ,absolute moralische Kategorien’, konzentriert sich die Meistererzählung der Generation von Timms Eltern auf die kollektive Unschuld der Deutschen, die die Verantwortung für den Holocaust und den verlorenen Krieg auf eine kleine Gruppe der Täter legten“,96 so Brigitte Rossbacher. Die Frage, die sich Timm stellt, ist auch der Anstoß für drei andere Romane deutscher Autoren, die in dieser Arbeit besprochen werden: Was macht man mit diesen Leerstellen? Die Vertreter der nachkommenden Generation sehen sich mit der Einschränkung des Wahrnehmungshorizontes bei den Eltern, Großeltern, älteren Brüdern konfrontiert und schreiben ihre „Erinnerungsprojekte“ in diese
94 Heer, Hannes: Literatur und Erinnerung, S. 814. 95 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 102. 96 Rossbacher, Brigitte: Cultural Memory and Family Stories: Uwe Timm’s Am Beispiel meines Bruders. In: Lützeler, Paul Michael/ Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur: Ein germanistisches Jahrbuch / A German Studies Yearbook, 4 (2005), S. 250. 136
UWE TIMM: „AM BEISPIEL MEINES BRUDERS“
Leerstellen hinein. Aleida Assmann nennt es „das Projekt des ReImaginierens.“97 Der Erzähler weist auf die Depersonalisierung des Feindes hin und bringt in seine Erzählung die Empathie mit den Opfern hinein, die zu fühlen sein Bruder nicht in der Lage war. Die Zerstörung der russischen Dörfer durch die Angehörigen der Division des Bruders wird im Tagebuch als etwas Selbstverständliches beschrieben: „Wir bauen die Öfen der Russenhäuser ab, zum Straßenbau“.98 Gleich folgt der Kommentar des Autors: „Es wird von ihm niedergeschrieben, ohne auch nur einen Augenblick eine Verbindung zwischen den zerstörten Häusern in der Ukraine und den zerbombten Häusern in Hamburg zu sehen...“99 „Das ist doch kein Krieg, das ist ja Mord an Frauen und Kindern – und das ist nicht human“,100 schreibt Karl-Heinz nach Hause. Es ist für Timm „nicht nachvollziehbar”, dass der Bruder die Luftangriffe auf Hamburg, wo die Familie ausgebombt wurde, in dem Brief an den Vater als „nicht human” bezeichnet, sein Tagebuch aber kein Wort des Mitgefühls für die Leidtragenden des Kriegsgeschehens an der Ostfront enthält – weder im Hinblick auf die eigene Seite noch hinsichtlich der russischen Bevölkerung. Wie der Erzählende feststellt: „Vermutlich erschien ihm dieses Leid, diese Zerstörungen und Todesopfer normal, also human“.101 Die Ausblendung des Mitgefühls erlaubt dem Bruder, „human zu Hause und human hier, in Russland“, zu trennen: „Die Tötung von Zivilisten hier normaler Alltag, nicht einmal erwähnenswert, dort hingegen Mord“.102 Die Fragen, wie der Bruder sich selbst sah, und ob er so etwas wie Täterschaft und Schuld überhaupt empfand, müssen unbeantwortet bleiben. Genauso unklar ist, ob die letzte Eintragung im Tagebuch des Bruders und der zeitliche Abstand dieser Notiz zu den vorigen für ein „Nein“ stehe, für die Verweigerung, sich am Vernichtungskrieg zu beteiligen: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen“.103 Als Hinweis auf die Wehrmachtsausstellung beschreibt Timm die Photos, die sein Bruder an der Front gemacht hat: „Es sind keine Fotos,
97 Assmann, Aleida: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. Wien 2006, S. 49. 98 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 92. 99 Ebd., S. 93. 100 Ebd., S. 27. 101 Ebd., S. 27f. 102 Ebd., S. 93. 103 Ebd., S. 151. 137
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die gehenkte Russen zeigen oder die Erschießung von Zivilisten“.104 Gerade deswegen konzentriert sich Timm auf das, was bei seinem Bruder nicht angesprochen wird. „Selbst wenn man unterstellt, dass er an dem Mord an Zivilisten, Frauen, und Kindern durch die SS nicht beteiligt war, weil er in einer Panzereinheit diente, so muss er doch mit den Opfern der Zivilbevölkerung konfrontiert worden sein, den Hungernden, Obdachlosen, den durch Kampfhandlungen Vertriebenen, Erfrorenen, Getöteten.“105
Von diesen Opfern ist in den Briefen von Timms Bruder sowie den Erzählungen seiner Eltern nicht die Rede. Den gefallenen Bruder sahen die Eltern als einen sensiblen, verträumten Jungen, dessen Idealismus „missbraucht“ worden war, wie die Mutter zu sagen pflegte. Für den Vater war er vor allem ehrlich, tapfer und anständig. Uwe Timm beschreibt die Atmosphäre der 50er Jahre, in der er aufgewachsen ist, und die durch eine breite Diskussion darüber, „wie man den Krieg doch noch hätte gewinnen können“,106 gekennzeichnet war. Er erinnert sich, wie sich sein Vater in den Nachkriegsjahren mit seinen Kameraden traf, um über den verlorenen Krieg zu reden: „Sie kamen abends, saßen zusammen, tranken Cognac und Kaffee und redeten über den Kriegsverlauf. Suchten Erklärungen, warum der Krieg verlorengegangen war. Es wurden noch einmal Schlachten geschlagen, Befehle korrigiert, unfähige Generäle abgesetzt, Hitler die militärische Befehlsgewalt entzogen.“107
Timm beschreibt die „Degradierung der Väter” durch den verlorenen Krieg, ihr ständiges Reden vom Krieg und vom Erlittenen, wie durch die Gespräche das Erlebte zunächst „fassbar und schließlich unterhaltend” wurde, aber auch das verbreitete „Nicht-darüber-Sprechen” – und schließlich die „Versuche, Schuld zu relativieren”, die ihn besonders empörten. Exemplarisch für die Zeit ist auch die Figur des Vaters: erfolgreicher Geschäftsmann und eleganter Gesprächspartner, charmant mit Frauen, der sich nach dem Krieg mit einer Pelznähmaschine, die er auf einem Hamburger Trümmergrundstück gefunden hat, eine neue Existenz als Kürschner aufgebaut hatte und als Alkoholiker und Pleitier endete. In der
104 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 27. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 99. 107 Ebd., S. 78. 138
UWE TIMM: „AM BEISPIEL MEINES BRUDERS“
Selbstdarstellung der Eltern und ihrer Wahrnehmung des Krieges erkennt Uwe Timm Rechtfertigungsstrategien. In Timms Familie existierte parallel zu der Legende von der “sauberen” Wehrmacht der Mythos von der „anständigen“ Waffen-SS. Der Autor weist jedoch auf einen Brief von Karl-Heinz hin, der diesen Mythos in Frage stellt. In diesem Brief aus der Ukraine aus dem Jahr 1943 zeigt sich der Bruder darüber informiert, mit welcher Brutalität die Waffen-SS mit der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten an der Ostfront umging: „Scheinbar haben diese Leute hier unten noch nichts mit der SS zu tun gehabt. Sie freuten sich alle, winkten, brachten uns Obst, usw., bisher lag nur Wehrmacht hier in den Quartieren“.108 Timms Vater distanziert sich von den Kriegsverbrechen, indem er auf die „Anständigkeit“ der Luftwaffe, bei der er im Krieg gedient hat, hinweist: „Die Luftwaffe hatte mit dem Mord an den Juden nichts zu tun [...]. Die hatte nur tapfer gekämpft“.109 Dieser Ansicht widerspricht der Autor entschieden. Er wendet ein, dass „jeder einzelne der tapferen und anständigen Soldaten mitgeholfen [hatte], den industriellen Massenmord in Gang zu halten“.110 Er schließt diesen Absatz mit fünf Sätzen, die die Rhetorik der in seiner Familie verbreiteten Mythen reflektieren: „Davon haben wir nichts gewusst. Die anständige Luftwaffe. Die anständige Marine. Die anständige Wehrmacht. Die anständige Waffen-SS.“111 Die Besonderheit von „Am Beispiel meines Bruders“ ist die Präsenz des Autors innerhalb des Textes. Er ist der zentrale Erzähler und bezieht sich auf die Äußerungen des Bruders, denen gegenüber er immer seine Distanz markiert. Er analysiert, wie ganze Jahrgänge durch die nationalsozialistische Ideologie konditioniert wurden, so dass die „partielle Blindheit“ und der „an das Unmenschliche grenzende Mangel an moralischer Empfindlichkeit“ (W.G. Sebald) überhaupt möglich geworden sind. Timm vermeidet Rechtfertigungen, indem er sich gründlich über den Stand der historischen Forschung informiert und die Ergebnisse in seinen literarischen Text aufnimmt. Er präsentiert die Familiengeschichte in der Form einer Collage, in der die Familiengeschichten über Leid und Verlust neben andere Schilderungen gestellt sind: zeitgenössische historische Forschungen über die Verbrechen der „Durchschnittsdeutschen“ sowie Erzählungen über die Opfer der deutschen Vernichtungspolitik. Uwe Timm geht es um Suche, Recherche, Dekonstruktionen. Er geht in Archive, informiert sich gründlich, liest historische Werke. Dieses Vorgehen ist für alle hier analysierten Autoren kennzeichnend. Das 108 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 92. 109 Ebd., S. 102. 110 Ebd. 111 Ebd. 139
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bringt eine neue interessante Schreibweise hervor, in der sich Dokumentarisches und Fiktionales eng berühren können. Timm schafft einen imaginären Dialog zwischen dem privaten und öffentlichen Erinnern: er untersucht die Kriegserfahrung seiner Eltern und seines Bruders, die in Familienberichten über das Leiden, den Verlust und die Schuldlosigkeit verschlüsselt ist, und liest diese Berichte im Licht der neusten öffentlichen Debatten über die deutsche Schuld. Diesen Vorgang erklärte er in einem Interview: „Das mache ich auch wegen aktueller Diskussionen. Ich schätze es gar nicht, wenn man in Deutschland versuchen sollte, sich eine kollektive Opferrolle buchstäblich zu erarbeiten. Natürlich soll man Verständnis haben mit den Vertriebenen und Trauer um die Bombenkriegsopfer, aber man sollte die Gewichte nicht verschieben. Man kann nicht relativieren, was an Grausamkeiten von den Nazis und den Deutschen ausgegangen ist.“112
Rezeption Die allgemein positive Wahrnehmung verhalf „Am Beispiel meines Bruders“ auf die Bestseller-Listen zu gelangen, und gleichzeitig wurde eine intensive Diskussion über die Möglichkeiten der Darstellung der deutschen Schuld und Opferschaft ausgelöst. Uwe Timm wurde einerseits dafür kritisiert, dass er seine Eltern nicht genug,113 andererseits sie zu hart verurteilen würde. Während Ursula März Timms Buch als „nichts anderes als die Trauerrede eines überzeugten Linken auf einen überzeugten Soldaten der Waffen-SS“114 versteht, bezeichnet der Herausgeber der Zeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, Peter Glotz, Timms Haltung als „Mitleidlosigkeit eines bestimmten Typus von Achtundsechzigern mit deutschen Opfern“.115 Die heftigste Kritik kam vom Journalisten Günther Franzen. In einer „Polemik“, veröffentlicht in „Der Spiegel“
112 Bartels, Gerrit: Ich wollte das in aller Härte, S. 18. 113 Vgl. Krause, Tilman: Ein deutscher Junge weint nicht. Ohne Zorn und Eifer: Wie die Familie von Timm die Kriegs- und Nachkriegszeit erlebte. In: Die Welt (Die literarische Welt) vom 4.10. 2003, S. 3. Roggenkamp, Viola: Die Bedeutung des Nichts. In: die tageszeitung vom 03.12.2003, S. 14. 114 März, Ursula: Gespenstervertreibung. In einer anrührenden autobiografischen Erzählung nimmt Uwe Timm Abschied von seinem Bruder. In: Die Zeit vom 18.09.2003, S. 49. 115 Zit. in Brumlik, Micha: Holocaust und Vertreibung. Das ambivalente Gedenken der Kriegskindergeneration. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 50 (2005) 5, S. 555. 140
UWE TIMM: „AM BEISPIEL MEINES BRUDERS“
unter dem Titel „Links, wo kein Herz ist“, vergleicht er das Buch von Timm mit Grass´ „Im Krebsgang“, Friedrichs „Der Brand“ und Wackwitzs „Ein unsichtbares Land“.116 Franzen argumentiert, dass alle diese Bücher durch die Auflösung des „moralischen Pakts“ zwischen den linken Autoren und ihren Lesern gekennzeichnet seien. Nach seiner Interpretation bleibt Uwe Timm immer noch diesem Pakt treu, das heißt, er hält sich an das moralische Verbot, Deutsche als Opfer darzustellen. „Timms nachgetragenes und deshalb nicht ganz so kostbares pazifistisches Credo verfehlt die Agonie des auf seinen Beinstümpfen durch den Dreck kriechenden Menschenrests auf groteske Weise“, 117 so Franzen. „Er könnte sich seines Bruders erbarmen, er könnte den Kopf des seiner Uniform, seiner Gewaltinsignien und seiner pubertären Großmäuligkeit beraubten, auf seine kreatürlichen Abmessungen geschrumpften Jungen in seinen Schoß betten und ihm das Sterben erleichtern: Ich werde nie genau wissen, wer du bist und was du getan hast. Aber ich stehe bei dir, weil ich dein Bruder bin. [...] Nein, es kostet nicht viel, der Elterngeneration in einem Akt herablassender Gnade ein vages Leiden an der Welt zuzubilligen. Wesentlich schwerer dürfte es fallen, den wenig sinnstiftenden Gedanken zu ertragen, dass die millionenfach erstickten, erfrorenen, erschlagenen, verbrannten und vergewaltigten Objekte von Vertreibung und Luftkrieg zwar für die kriegerische Aggression von Nazi-Deutschland zur Rechenschaft gezogen wurden, aber zugleich einer kalt kalkulierten, militärtechnisch und ideologisch motivierten Vernichtungslogik zum Opfer fielen.“118
Der Ton in den meisten Rezensionen widerspricht jedoch dieser Sicht Franzens. Unabhängig von der politischen Richtung ihrer Zeitung loben die meisten Rezensenten Timms Bereitschaft, sich kritisch mit seiner Familiengeschichte zu beschäftigen. Tilman Krause schreibt in „Die Welt“, dass in den Passagen, die dem Bruder gewidmet sind, der Autor Größe zeigt – „nicht unbedingt literarisch (seine Sprache ist glanzlos, oft hölzern), aber menschlich und gedanklich.“ Klaus Siblewski nennt in der „Frankfurter Rundschau“ Timms Werk ein „überaus wichtiges Buch“, das Glaubwürdigkeit ausstrahlt. In seinem Buch vermeidet Uwe Timm Einseitigkeit. Er ist zwar parteiisch und persönlich, weil es um seine Familienangehörigen geht, aber er lässt nicht die dunklen Seiten dieser Geschichte aus. „Er bearbeitet
116 Franzen, Günter: Links, wo kein Herz ist. Günter Franzen über einen gefühlsarmen Konsens des Gedenkens. In: Der Spiegel vom 27.10.2003, S. 218. 117 Ebd. 118 Zit. in Brumlik, Micha: Holocaust und Vertreibung, S. 555. 141
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Familiengeschichte in einer Suchbewegung zu jemand, der ihm nah war – aber ohne die Schatten, die die Taten hinterlassen haben, wegzulassen“119, schreibt Hannes Heer. Immer wieder baut der Autor bewusst distanzierende Momente mit in die Erzählung hinein. Wie zum Beispiel, wenn er die Ausbombung der Familie in Hamburg schildert, das aber mit dem Satz unterbricht: „Juden war das Betreten des Luftschutzraums verboten“.120 Harald Welzer kontrastiert Timms Roman mit den Texten von Ulla Hahn und Bernhard Schlink. Er betont, dass Timm dort Ambivalenz riskiert, „wo andere Schriftsteller zur Eindeutigkeit und folglich zur Befriedung tendieren“.121 Als der Roman in einer russischen Literaturzeitschrift erschien, schrieb der russische Kritiker, er sei eine in der russischen Literatur nicht mögliche Erscheinung. „Er (Timm – E.S.) schreibt über seinen Bruder, der in der SS gedient hat, mit dem Grad an Nüchternheit, die bei uns unvermeidlich die Form einer Hysterie der Reue oder revanchistischer Prahlerei angenommen hätte. Hier jedoch gibt es weder Distanz noch Rechtfertigung“.122 „Wie die Goldmusch mir schrieb willst Du alle Russen totschießen und dann mit mir türmen“,123 zitiert Timm einen Brief seines Bruders an den kleinen Uwe. Es ist die Stufe der Aufrichtigkeit, die eine Revanche ausschließt. Uwe Timm widersetzt sich der gegenwärtigen Tendenz, den soziokulturellen Kontext der Familienerzählungen auszublenden. Im Gegenteil, er greift auf das historische Wissen zurück, um die Lücken in seiner Familiengeschichte zu füllen. Außerdem hält er sich an den moralischen Imperativ, sich an den Holocaust und andere Verbrechen gegen die Menschheit zu erinnern.
119 Reinecke, Stephan: „Die Schatten der Taten müssen bleiben“. Ein Interview mit Hannes Heer. In: die tageszeitung vom 3.04.2004, S. 22. 120 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 40. 121 Welzer, Harald: Schön unscharf, S. 59. 122 Schenkman, Jan: Pochemu Germanija ne Rossija? Mezhdu pokajanijem i revanschem. In: Nezavisimaja gazeta, 28.10.2004, URL: http://exlibris.ng.ru/lit/2004-10-28/7_germany.html, Stand 28.10.2007. 123 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 57. 142
TANJA DÜCKERS: „HIMMELSKÖRPER“
Tanja Dückers: „Himmelskörper“ Das Geschichtsbild unserer Generation ist trotz aller professioneller Haltung dennoch recht merkwürdig. […] Alle Meinung und Emotion, die ein Mitglied der Generation Golf für Historie übrig hat, ist auf die Nazi-Zeit gemünzt. […]Bis zur Kubakrise, dem Vietnamkrieg oder zu Willy Brandt haben wir es nie geschafft. Und schon war das Schuljahr wieder vorbei. Und im nächsten begann man wieder mit dem Ende der Weimarer Republik. Florian Illies, „Generation Golf“
Das Zitat von Florian Illies illustriert, welchen Platz die Geschichte des Nationalsozialismus im Schulunterricht der Bundesrepublik einnimmt. Über keine andere Periode der deutschen oder der Weltgeschichte bekommen die jungen Deutschen im Unterricht mehr zu hören als über die Zeit des Nationalsozialismus. Es lässt sich jedoch feststellen, dass für sie oft keine Verbindung zwischen dem Dritten Reich und dessen lebenden Zeitzeugen existiert. Harald Welzer und seine Kollegen untersuchten, in welcher Weise Erinnerung transgenerationell übermittelt wird. Ein Ergebnis der Studie war die Erkenntnis, dass die jüngere Generation einerseits die bestinformierte nach dem Zweiten Weltkrieg ist und andererseits vollkommen abgekoppelt hiervon die inhaltlich so anderen Erzählungen der Großeltern am Küchentisch aufnimmt.124 Die Großeltern von heute können nicht die Täter von gestern sein. „Wie konnte ich die gelegentlich etwas barsche Großmutter, die, seit ich denken konnte, alle Ferien mit uns verbracht hatte, mit der Frau in Verbindung bringen, die Göring eine Gratulationskarte schrieb und die die Gesichter ihrer Mitmenschen auf edle oder unedle Züge untersucht hatte, auch wenn sie später vorgab, dass diese Dinge die Nazis ,diskreditiert’ hätten?“,125 bemerkt Tanja Dückers’ Protagonistin im Roman „Himmelskörper“, dessen Mittelpunkt die Kommunikation über den Krieg und den Nationalsozialismus innerhalb einer durchschnittlichen (west)deutschen Familie bildet. Wie soll man mit dem Großvater umgehen, der sich seit dem Krieg mit einer Beinprothese quält und von den russischen Partisanen erzählt, die auf ihn geschossen haben, und dabei noch Antisemit ist? Ist er ein Opfer oder ein Täter? Tanja Dückers, Jahrgang 1968, ist wesentlich jünger als andere Autoren, die über den Krieg schreiben. Sie hat keinen Bruder oder Vater als 124 Vgl. Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnail, Caroline: „Opa war kein Nazi“. Frankfurt a. M. 2002; Dückers, Tanja: Jenseits der Selbstbespiegelung. In: Frankfurter Rundschau vom 7.05.2005, S. 11. 125 Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin 2004, S. 268. 143
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Zeitzeugen, sondern sie gehört zur Generation der Enkelkinder derjenigen, die den Krieg erlebt haben. Sie hatte keinen direkten biographischen Hintergrund als Anlass zum Schreiben, und die Geschichte im Roman ist rein fiktional. Trotzdem hatte diese Geschichte eine reale Grundlage: Tanja Dückers löste die Wohnung ihrer Großeltern auf und stieß dabei auf Postkarten, Briefe und Dokumente aus dem Krieg. Die Möglichkeit, dabei Unerfreuliches über die Nazi-Vergangenheit der Großeltern zu erfahren, steht im Hintergrund des Romans „Himmelskörper“. Nach „Spielzone“ (1999) ist es der zweite Roman von Tanja Dückers. Mit ihrer Lyrik, Kurzprosa und Erzählungen sowie journalistischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten hat sie sich im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht. In „Himmelskörper“ und später in der Anthologie „Stadt Land Krieg: Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit“ wendet sich Tanja Dückers der Erfahrung der Enkelkinder zu, deren Großeltern Zeitzeugen des Nationalsozialismus waren.126 Auch für Dückers spielte die Debatte um Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ eine wichtige Rolle. Anders als Ulla Hahn distanzierte sie sich jedoch von Grass’ Meinung, dass das Kriegsleiden der Deutschen ein gesamtdeutsches Tabu sei.127 Die neue Betonung der Opferrolle der Deutschen sieht Dückers skeptisch: „Grass sieht die Deutschen, die mit der Gustloff untergegangen sind, mehr als Opfer. Auch hat er den Russen, der das Schiff torpediert hat, sehr negativ gezeichnet, als Säufer und Frauenheld. Darum geht es bei mir überhaupt nicht, schließlich war Krieg. Auch die Deutschen haben unendlich viele Russen ermordet. In Grass’ Buch liegt ein gefährliches Moment. Es kann von Revanchisten benutzt werden, da er zu wenig herausgearbeitet hat, warum die Gustloff überhaupt gebombt wurde. [...] Bei ihm liest sich das Ereignis wie die große deutsche Tragödie. Das finde ich historisch unwahr [...].“128
„Ihre Generation“ sei die erste, die – dank zeitlicher und emotionaler Distanz – endlich „einen nüchternen Blick auf dieses Thema wagen“ und
126 Dückers, Tanja/ Carl, Verena (Hrsg.): Stadt Land Krieg: Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit. Berlin 2004. 127 Vgl. Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel. Wie begegnen junge Autoren der Kriegsgeneration? Ein Gespräch mit Tanja Dückers. In: Die Zeit, 30.04.2003 URL: http://www.zeit.de/2003/19/L-D_9fckers, Stand 30.10.2007; Haberl, Tobias: „Meine Version ist die richtige“. Tanja Dückers hat ein Buch zum selben Thema geschrieben wie Günther Grass. In: Berliner Zeitung vom 22.-23.03.2003, S. 10. 128 Haberl, Tobias: „Meine Version ist die richtige“, S. 10. 144
TANJA DÜCKERS: „HIMMELSKÖRPER“
sich kritischer mit Krieg und Vertreibung auseinandersetzen kann.129 Die Unterschiede zwischen Grass und Dückers zeigen sich am deutlichsten in der Erzählmotivation: Grass’ Erzähler fürchtet, dass mit seiner Generation das Wissen über den Untergang der Wilhelm Gustloff und ihrer Vorgeschichte verschwindet oder von den Neonazis unter den Enkeln vereinnahmt wird. „Himmelskörper“ konfrontiert den Leser hingegen mit der Frage, wie man mit diesem Wissen umgehen soll. Wie hält man die Spannung zwischen dem abstrakten öffentlichen Geschichtswissen und der privaten Familiengeschichte aus?
Inhalt Als Protagonistin wählt Tanja Dückers eine junge Meteorologin, Freia, die an einem Wolkenatlas arbeitet und auf der Suche nach einer seltenen Wolkenformation ist. Sie ist Anfang 30, gehört also der Generation der Autorin des Romans an, einer Generation, die „den Nationalsozialismus letztendlich dadurch kennen gelernt hat, dass er im OberstufenGeschichtsunterricht ,durchgenommen’ wurde.“130 Freia ist schwanger mit ihrem ersten Kind. Als sie Mutter wird, verspürt sie das Bedürfnis, ihr Verhältnis zur eigenen Familie aufzuarbeiten, denn sie setzt mit der Geburt ihrer Tochter die familiäre Generationenkette fort. Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Paul beginnt sie, ihre Kindheitserinnerungen zu rekonstruieren. Weil sie über keine eigenen Kriegserfahrungen und Erinnerungen verfügt, muss Freia Spuren suchen und Lücken füllen, und schließlich verbindet sie ihre Kindheitserinnerungen, überlieferte Erinnerungen und historische Dokumente mit der eigenen Interpretation. In Rückblenden werden prägende Momente einer Kindheit im West-Berlin der 70er Jahre gezeigt: Ein Haus am Waldrand, die Krücken des kriegsversehrten Großvaters als Spielzeug, ein Vater, der von nächtlichen Begegnungen mit Waldfeen spricht, in Wirklichkeit jedoch fremdgeht, eine oft geistesabwesende Mutter, die viel weiß, wenig spricht und schließlich Selbstmord begeht, und ein Zwillingsbruder Paul, mit dem Freia bis zur Pubertät in symbiotischer Verbundenheit lebt und der später schwul wird. Der Roman ist strukturell so angelegt, dass er Passagen in der Erzählgegenwart und Rückblenden verschränkt. Der Ausgangspunkt ist die Wohnungsauflösung der verstorbenen Großeltern, bei der die Protagonis129 Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel, URL: http://www.zeit.de/2003/19/L-D_9fckers, Stand 30.10.2007. 130 Schröder, Christoph: Von den Schwierigkeiten der späten Geburt. In: Frankfurter Rundschau vom 7.08.2003, S. 29. 145
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tin Freia und ihr Bruder auf eine Kiste mit Fotos, Briefen und Dokumenten stoßen, die beweisen, dass der Großvater NSDAP-Mitglied mit hohem Parteiamt war, die Großmutter Hermann Göring zur Geburt eines Kindes flammende Glückwunschkarten geschrieben hat und die politisch linke Mutter ein BDM-Mädchen mit blonden Zöpfen gewesen war. Mit den Nachforschungen und Rekonstruktionsversuchen der Ich-Erzählerin erschließt sich auch den Lesern allmählich das Familiengeheimnis der nationalsozialistischen Überzeugung und der fragwürdigen Umstände, unter denen die Familie Krieg, Vertreibung aus Westpreußen und Flucht über die Ostsee überlebt hat. Freia erfährt, dass am Ende des Krieges, als „die Nachricht vom Anrücken des Russen“ sich wie eine „Heuschreckenplage“ verbreitete,131 ihre Großeltern alles dafür getan haben, um mit einem der letzten Schiffe aus Westpreußen zu fliehen. Fast wären Großmutter Johanna und ihre Tochter Renate, Freias Mutter, wie Tausende anderer Flüchtlinge mit der „Wilhelm Gustloff“ untergegangen. Doch es gelang ihnen, auf ein sicheres Minensuchboot zu kommen. Die Rettung hatten sie der 5-jährigen Renate, Freias Mutter, zu verdanken, die im richtigen Moment den Hitlergruss machte. Bedeutend war aber nicht der Hitlergruss an sich: Die kleine Renate sagte, dass die neben ihnen wartende Nachbarin diesen Hitlergruss nicht mehr gemacht hat. Das zeigt, dass die Eltern dieses kleine Mädchen zu einer Denunziantin erzogen hatten. Ihr ganzes Leben lang macht sich Renate deshalb Vorwürfe, bis sie schließlich Selbstmord begeht. Der Roman endet damit, dass Freia in Gdynja, dem Ort, an dem die Flucht ihrer Großmutter begann, endlich die Wolke findet, nach der sie lange gesucht hat. Es ist „Cirrus Perlucidus“, eine transparente und unbeständige Erscheinung, die ständig ihre Form verändert. Freias Professor sieht in dieser Wolkenformation einen Einsatzpunkt für das Projekt, das er „Geschichtsspeicher“ nennt: „Der von ihm erfundene Begriff „Geschichtsspeicher“ bezog sich, wie er fand, sowohl auf „Geschichte“ wie auch auf „Geschichten“. Und er wollte anhand von Cirrus Perlucidus die schwebende Grenze zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Geschichte, zwischen Faktum und Empfindung erörtern, Schriftsteller, Publizisten, Historiker, Politologen und Meteorologen gemeinsam einladen.“ 132
Dückers nennt ihren Roman einen Geschichtsspeicher: Sowohl Geschichte als auch Geschichten, d. h. kollektive und persönliche Erzählun131 Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin 2003, S. 126. 132 Ebd., S. 307. 146
TANJA DÜCKERS: „HIMMELSKÖRPER“
gen und ihre Interpretationen werden gesammelt und Dokumentation, Gedächtnis und Imagination der gleiche Zugang zur Vergangenheit gewährt.
Anmerkungen Im Zentrum des Romans stehen Erzählungen von Krieg und Heimatverlust, wie sie über Jahrzehnte bei Familienzusammenkünften an die Jüngeren weitergegeben worden sind. Sie sind der Grund für Beziehungsprobleme, Lügen, Auseinandersetzungen und Verhaltensmuster innerhalb einer bürgerlichen Familie, „der Schlüssel zur Psychologie dreier Generationen“.133 Der Roman erzählt wesentlich vom Nichterzählen. Dückers’ Protagonistin gehört zu einer Generation, die sich die Geschichte erarbeiten muss, deshalb erinnert auch der Roman über weite Strecken an die geschichtswissenschaftliche Methode der Oral History. Bei der Neubewertung ihrer Kindheit überdenkt Freia auch ihre Wahrnehmung des Krieges, der in die märchenhafte Kinderwelt von Anfang an durch die Kriegsversehrtheit des Großvaters hineinragte. Das sagenumwobene fehlende rechte Bein des Großvaters wirkt stellvertretend für die im persönlichen und familialen Umgang weitgehend tabuisierte Geschichte des Krieges und der NS-Zeit. Tanja Dückers schafft es, in der literarischen Verarbeitung wiederzugeben, wie die Großeltern über den Krieg berichten und wie die Kinder diese Erzählungen verinnerlichen. „Auf unsere neugierigen Fragen, warum Großvater denn so ein Schrumpelbein habe, bekamen wir immer die gleiche Antwort, nämlich dass Großvater „im Krieg“ gewesen sei. Was das bedeuten sollte, wurde uns nicht klar. „Krieg“ schien jedenfalls ein schrecklicher Ort zu sein, eine Gefahrenzone, in die aus irgendeinem Grund nur Männer kamen. Es hieß noch, dass „Großvater hart gekämpft und Großmutter lange auf ihn gewartet“ habe. Das wiederum konnten wir uns gut vorstellen: Jeden Morgen, wenn Großvater sich unendlich langsam im Badezimmer wusch und rasierte, rief Jo irgendwann verärgert: „Herr Bonitzky, wird’s bald?“134
Diese Passage gibt Hinweise darüber, wie in der Familie über den Krieg kommuniziert wird. „Der Krieg“ ist für sie eine Art Büchse der Pandora, ein feststehender Begriff, der alles und nichts erklärt. Gleichzeitig hat man mit dem Prozess der Exklusion und Inklusion sozialer Teilnehmer
133 Peter, Stephanie: Immer Urlaub auf der Krim. Das verpasste Schiff: Tanja Dückers heuert bei der Historie an. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.04. 2003, S. 36. 134 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 78. 147
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zu tun: Die Großelterngeneration verfügt über das „Wissen“, das sie von den anderen Familienmitgliedern trennt. Ihr Sprachgebrauch betont typisierte Geschlechterrollen. Der Großvater wird als handelnd und aktiv („hart gekämpft“) beschrieben, die Großmutter als passiv („auf ihn gewartet“). In diesem Erzählmuster ist auch ein räumlicher Aspekt vorhanden – „der Krieg“ ist eine „Gefahrenzone“, die nicht „hier“, sondern „dort“ ist; ein Ort, aus dem die Männer zurückkommen, aber es wird nicht gesagt, wie sie an diesen „schrecklichen Ort“ gebracht werden. Freia hat über den Krieg sowohl aus den Berichten ihrer Großeltern als auch aus dem Schulunterricht erfahren. Wenn der Großvater über den Krieg erzählt, dann spricht er von Erfrierungen, seinem Wundbrand, vom Lazarett und den gefallenen Kameraden. Die russischen Partisanen sind barbarische Bestien, Russland ist weit und kalt. Natürlich empfinden die Enkel Mitleid mit dem Großvater und fragen ihn nicht, ob er selbst auf jemanden geschossen hat und warum er überhaupt nach Russland zog. „Er war Soldat, erfuhren wir, „für Hitler“ zog er in den Krieg, nach Russland, am Anfang „lief alles wie am Schnürchen“, murmelte er. Wir rückten dichter. Dann wurde alles „immer schwieriger“, sein „Regiment“ wurde zurückgedrängt, sie konnten nicht, wie Hitler versprochen hat, Weihnachten wieder nach Hause. Es ging nicht „voran“, der Horizont „brannte immer“, „Feuer, manchmal ganz nah“, und sie waren immer noch in diesem fernen Land... Irgendwann hörte Großvater einfach auf mit den Worten, „minus 52 Grad und diese Weite... diese Weite ... ach, Kinder, diese schreckliche Weite.“135
Daraus schließen Paul und Freia: „Armes Mäxchen. Er ging mutig nach „Russland“, blieb sogar einen ganzen Winter, anstatt zu Hause Weihnachten zu feiern, er harrte aus, damit alles wieder „wie am Schnürchen“ lief, und als Dank dafür schoss man auf ihn. Der Russe musste ein besonders fieses Monster sein.“136 Was Freia und Paul in der Schule lernen ist ganz anders als das, was sie zu Hause hören. Deutsches Kriegstrauma wird in der Schule nicht thematisiert. Der Konflikt zwischen Familienerinnerung und öffentlicher Geschichtsdarstellung wird auf diese Weise deutlich: „Die Bilder, die wir nach Großvaters seltsamem Monolog über „Russland“ in dem dunklen Gewölbe zu sehen bekamen, das sich Grundschule nannte, waren unfassbar, sie schienen aus einer anderen Welt zu stammen.
135 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 87. 136 Ebd. 148
TANJA DÜCKERS: „HIMMELSKÖRPER“
Leichen, ausgemergelt und nackt, in Bergen auf Karren getürmt, in Gruben übereinandergeschichtet. Brennende Häuser, Städte. Flugzeuge, die in Flammen vom Himmel fallen. Knisternde Schwarzweißfilme. Zitternde Menschen, Truppenmanöver. Landschaften, leer und weit. Bombenhagel. Explosionen. Science-fiction. Gaskammern. Gas – wie in der Küche, wenn Paul und ich uns Milch für einen Kakao aufsetzten? […]“137
Die Autorin distanziert sich von der Leidensgeschichte der Großeltern, indem sie zeigt, wie tief die Abneigung dem „Osten“ gegenüber – dem slawischen „Osten“ – in der älteren Generation noch sitzt. „Was willst du denn, Kind, ausgerechnet in Warschau. [...] solltest lieber nach Rom oder Venedig fahren“,138 sagt der Großvater, als Freia von ihrem Ausflug nach Polen erzählen will. Im Zweiten Weltkrieg durch die Armee zerstört, der er selber angehörte, scheint Warschau ihm heute keine Reise mehr wert zu sein. Auch Freias polnischer Onkel Kazimierz bekommt vom Großvater keinen guten Kommentar: „Der hat doch groß Karriere gemacht, dein Onkel, bei den Roten drüben. Und immer tolle Briefe geschrieben, was für ein Leben er führt. Am Ende immer eine Bitte, was wir ihm alles schicken sollen.“139 Für diese Antipathie scheint es einen Grund zu geben, denn Kazimierz sprach als einziger offen über die Vergangenheit von Freias Großeltern. Die Gespräche über die Flucht auf dem Minensuchboot „Theodor“, die in der Familie oft geführt werden, wirken wie ein Ritual mit festgelegten Rollen. In dem vorherbestimmten Dialog ergänzen sich die beiden Großeltern Johanna („Jo“) und Mäxchen abwechselnd, während die Enkelkinder Interesse und Aufregung simulieren, indem sie voraussagbare Antworten geben: „Jetzt kam wie immer der Satz über Jos Lippen: „Dreimal dürft ihr raten, wie sie ihr Kind – ein Mädchen – genannt hat, das noch in dieser Nacht auf dem Schiff geboren wurde?“ Paul antwortete brav: „Theodora!“. „Genau!“, Jo tätschelte ihm den Arm.“140
Die Rolle der Enkel ist beschränkt auf ein paar Sätze, die die Erzählung der Großeltern unterbrechen. Andererseits weist Freias Mutter Renate stets den Bericht ihrer Eltern zurück und liefert einen entgegengesetzten Gesichtspunkt:
137 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 92. 138 Ebd., S. 186. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 126. 149
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„Es ging auf Ende Januar zu und war fürchterlich kalt. Die Straßen waren spiegelglatt, es hatte gefroren, und schneien tat es auch noch! Aber auf dem Landweg war ja nicht mehr viel zu machen. Der Russe...“ An diesem Punkt schaltete sich mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks meine Mutter ein: „Ja, aber dass die Russen nicht nett zu uns sein würden, nachdem die Deutschen erst einmal in ihrem Land herumgewütet hatten, war wohl keine Überraschung.“141
Auch wenn Renate reiche historische Kenntnisse besitzt (sie ist die einzige in der Familie, die sich für Publikationen über den Krieg interessiert, insbesondere über den Russlandfeldzug und für die Flucht aus Ost- und Westpreußen), deutet die Art ihrer Darstellung auf mangelndes Selbstbewusstsein hin. „An diesem Punkt setzte meine Mutter meist zu einer etwas längeren Rede an, wobei sie ihre Stimme senkte und schnell und leise wie eine aufgeregte Abiturientin bei einer mündlichen Prüfung sprach“,142 bemerkt Freia. So verwandeln sich ihre Ansichten in das voraussagbare und wirkungslose Gegennarrativ und werden von ihren Eltern als die militante Stimme der „zweiten Generation“ gleich abgewiesen. Obwohl die Familienmitglieder über die Kriegserfahrung oft und umfassend sprechen, führt der übliche Dialog nur zu wohlbekannten Antworten und vertrauten Konflikten zwischen der Mutter und den Großeltern. Die einzige Stelle, an der die Großmutter ansatzweise über die Opfer erzählt, ist ihre berüchtigte „Bananengeschichte“. Sie berichtet darüber, wie sie scheiterte, einem hungrigen jüdischen Jungen Essen zu geben. Aber auch hier gelingt es ihr, „die Unterlassung einer Handlung zur Heldentat zu stilisieren“: „Das Absurde an der Bananengeschichte war, dass Jo ihr Abwägen, ihren Wunsch zu helfen, ihre Unsicherheit und Angst jedes Mal derart dramatisch schilderte, dass man am Ende fast den Eindruck bekommen konnte, Jo hätte ein KZ befreit.“143
Tanja Dückers zeigt, dass die Großeltern stark in den Nationalsozialismus involviert waren, später aber gelernt haben, die „politisch unkorrekten“ Dinge durch Selbstzensur zurückzuhalten. Entweder reden sie permanent in einer ritualisierten Weise, wo es einen klaren Ablauf gibt und immer wieder die gleiche Leidgeschichte wie eine Schallplatte reproduziert wird, so dass die Enkel sich langweilen. Oder sie schweigen darüber. Gleichzeitig können die Großeltern Einiges durchblicken lassen,
141 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 127. 142 Ebd., S. 129. 143 Ebd, S. 105. 150
TANJA DÜCKERS: „HIMMELSKÖRPER“
wenn die Selbstzensur nicht richtig funktioniert. Genau dem ist Freia auf der Spur. Sie weiß, das sie diese Lücken nur auf indirekte Weise füllen kann, wenn die Großeltern über etwas anderes reden. Wenn beispielsweise der Großvater beschreibt, wie seine Bienen als Staat funktionieren, offenbart er sein Weltbild. Die schmarotzenden „Kuckucksbienen“ erinnern ihn an die Juden, die nutznießerisch seien und sich an den Grundlagen anderer Völker bereicherten. „So etwas gibt es eben nicht nur beim Menschen: diese Heimatlosigkeit, dieses Nomadentum. Für mich sind die Kuckucksbienen die Juden im Bienenvolk. Sie bereichern sich an den Grundlagen, die andere Völker für sie geschaffen haben. Nutznießerisch. Berechnend. Aber eine starke Bienenkönigin – immerhin hat sie ein Heer von bis 60 000 Arbeiterinnen an ihrer Seite [...] lässt die Kuckucksbienen natürlich verjagen.“144
Das Interessante in „Himmelskörper“ sind diese verschiedenen Perspektiven, die auf den Krieg und die Vertreibung unter verschiedenen Generationen existieren. Während die Mutter sich gründlich über die Fakten bezüglich des Russlandfeldzuges informiert, streben die Großeltern nach der Anerkennung ihrer Leidensgeschichte. Die Enkel werden zwischen den beiden Polen – Völkermord an Juden in der Schule und Kriegsleiden in der Familie – hin und her gerissen. Tanja Dückers zeigt, dass in der Erzählung vom Russlandkrieg, wie sie in nicht wenigen deutschen Familien weitergegeben wird, stets die Rede von Kriegsleiden der Deutschen ist und nie von der leidenden russischen Zivilbevölkerung. Das fremde Leiden bleibt weiterhin fremd, die Frage nach den Ursachen des eigenen Leids wird nicht gestellt.
Rezeption In den Feuilletons der deutschsprachigen Tageszeitungen, zum Beispiel der Neuen Zürcher Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, war das Urteil der Rezensenten über den Roman durchweg negativ. Die FAZ-Rezensentin Stefanie Peter wirft Tanja Dückers vor, spannungslos Erlebnisse und Allgemeinplätze aneinandergereiht zu haben, ohne dass ihr dabei klar geworden sei, wie die Thematik der NS-Vergangenheit der Schlüssel zur Psychologie dreier Generationen sein soll.145 Saskia Heinemann bezeichnete in ihrer Rezension im Deutschlandradio Dückers’ Absicht, gegen die neue deutsche Opfermentalität anzuschreiben, als 144 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 187. 145 Peter, Stefanie: Immer Urlaub auf der Krim, S. 36. 151
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durchaus löblich, das Resultat jedoch mager: weder die Enkel noch die Leser können mehr herausfinden, als dass die Großeltern begeistert mitgemacht haben – wie die meisten Angehörigen der Kriegsgeneration.146 Thomas Wild von der Süddeutschen Zeitung hält den Roman für gescheitert und konstruiert.147 Anders ist der Ton der linken Wochenzeitung „Freitag“: „Gegen den jüngst wieder aufgewärmten, national-masochistisch eingefärbten Mythos vom verleugneten Leiden unschuldiger deutscher Ostflüchtlinge setzt die junge, 1968 geborene Berliner Autorin Tanja Dückers dieses bemerkenswerte Buch, das sehr viel mehr ist als ein Anti-Grass-Manifest: literarisch klug aufgebaut, kratzt es behutsam am Hochglanz einer Familienlegende, bis es am Ende deren Kern freilegt, der in nuce deutsche Lebenslügen enthält.“148
Auch Ulrich Simon macht in seinem Artikel „Die Macht der Lakritze“ darauf aufmerksam, dass es Tanja Dückers weniger um die Vergangenheit als vielmehr um die Frage geht, inwiefern der Krieg nicht in öffentlichen Debatten, sondern in den Familien bis in die Gegenwart hineinwirkt. Der Vergleich zu Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ sei nicht gerechtfertigt, da Dückers und Grass die Fluchtproblematik aus verschiedenen Blickwinkeln betrachteten.149 Dückers interessiert sich für das, was Marianne Hirsch „postmemory“ nennt, das heißt die Erzählungen von den Ereignissen, die der eigenen Geburt vorausgehen und nur in vermittelter Form vorhanden sind.150 „Post-Gedächtnis ist eine mächtige und spezifische Form des Gedächtnisses, gerade weil ihre Verbindung zu ihrem Objekt oder Quelle nicht
146 Heinemann, Saskia: Himmelskörper. In: Deutschlandradio (Büchermarkt) vom 25.06.2003, URL: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/ 165865/, Stand 5.06.2008. 147 Wild, Thomas: Opas Mitgliedsnummer. „Himmelskörper“: Tanja Dückers betreibt Familiengeschichte. In: Süddeutsche Zeitung vom 8.03.2004, S. 14. 148 Baier, Lothar: Über den Wolken. In der Luft – Tanja Dückers’ neuer Roman „Himmelskörper“. In: Freitag vom 22.08.2003, S. 14. 149 Simon, Ulrich: Die Macht der Lakritze. Tanja Dückers’ Himmelskörper. In: Rezensöhnchen. Ausgabe 32. http://www.rezensoehnchen.de/ index.php?id=270, Stand 15.05.2008. 150 Vgl. Hirsch, Marianne: Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Postmemory. In: Zelizer, Barbie (Hg.): Visual Culture and the Holocaust. New Brunswick 2001, S. 220. 152
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durch Erinnerung, sondern durch die Beteiligung der Fantasie und Schöpfung hergestellt wird“,151 so Hirsch. In „Himmelskörper“ wird am Beispiel einer Familie gezeigt, welche Bilder vom Krieg die junge Generation der Deutschen prägen. Zum einen sind das Kriegserzählungen der Großeltern, die um die eigene leidvolle Kriegserfahrung in Russland kreisen, wie im Falle des Großvaters im Roman. Viel präsenter und dominanter im familiären Diskurs ist jedoch die Geschichte der Flucht, die die Großmutter erzählt. Hier wird deutlich, dass das Kriegsnarrativ nicht nur geschlechterspezifisch ist, sondern dass diese beiden Erzählmuster am meisten die Wahrnehmung des Krieges prägen. Auf der anderen Seite spielt die institutionelle Vermittlung des Wissens über den Krieg eine wichtige Rolle. Die Kluft zwischen diesen beiden Typen von Geschichtsquellen bildet das Interesse des Romans von Tanja Dückers.
Ulla Hahn: „Unscharfe Bilder“ Wenn wir die Erben der Verstrickung unserer Väter und Mütter in die Nazijahre sein wollen, wenn wir ehrlich die Verantwortung für diese Geschichte mit übernehmen wollen, dann müssen wir auch die Erben der Leiden, der Verletzungen werden, all der zerstörten Lebenspläne der Deutschen dieser Jahre... Ulla Hahn, „Unscharfe Bilder“
Die aktuelle Aneignung des Themas der deutschen Kriegsleiden durch einen Teil der deutschen Linken der Generation der „68er“ könnte man als Revision der Geschichtswahrnehmung betrachten. Texte wie Günther Grass’ „Im Krebsgang“ oder Jörg Friedrichs „Der Brand“152 markieren einen Wechsel in der deutschen Erinnerungslandschaft, von Harald Welzer sogar „Paradigmenwechsel im Erinnerungsdiskurs“ genannt.153 Die Generation der 1968er strebte danach, das Schweigen der Eltern über die Vergangenheit zu durchbrechen. In der sogenannten Väterliteratur der 70er und 80er Jahre drückte sie ihre Anklage aus.154 Ernestine Schlant
151 „Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation.” Hirsch, Marianne: Family Frames: Photography, Narrative, and Postmemory. Cambridge 1997, S. 22. 152 Friedrich, Jörg: Der Brand. München 2002. 153 Welzer, Harald: Schön unscharf, S. 54. 154 Siehe z. B. Meckel, Christoph: Suchbild: über meinen Vater. Düsseldorf 1980; Härtling, Peter: Nachgetragene Liebe. Darmstadt und Neuwied 1980. 153
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sieht das als „die von der jungen Generation versäumte Gelegenheit, zu lernen statt zu urteilen, zuzuhören statt schuldig zu sprechen, und Trauer zu empfinden [...] für die Eltern, und letzten Endes Trauer für die Opfer zu fühlen zusammen mit der Scham für das, was ihnen angetan wurde”.155 Nun bemüht sich ein Teil dieser Generation, sich mit den Eltern zu versöhnen und sie nicht mehr als Täter, sondern als Opfer zu betrachten. Ulla Hahn, Jahrgang 1946 und selbst in der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre aktiv, ist eine von denjenigen, die diese „verpasste Chance” aufgreifen möchte. Der Roman „Unscharfe Bilder” ist ein Versuch, sich der Vergangenheit der Eltern anzunähern und sich mit ihr zu versöhnen. „Hatten die (gemeint sind die 68er – E.S.) ihre Väter nicht zu erbarmungslos, voller Vorurteile gefragt? [...] Hatten sie nicht allzu schnell ihre eigene Unschuld sichern wollen, indem sie ohne Unterschied eine ganze Generation zu Tätern, Mitläufern, Zuschauern machten, um ja nichts mit ihnen zu tun zu haben? [...] Hatten sie jemals Nachsicht und Mitgefühl empfunden, zu verstehen versucht?“,156 fragt sich ihre Protagonistin Katja, die selbst diese „junge Generation“ der Anklagenden repräsentiert. Der Krieg in Russland ist das zentrale Thema des Romans von Ulla Hahn. Als Anlass zum Schreiben diente der Autorin die Wehrmachtsausstellung und die öffentliche Diskussion darüber. In einem Interview erklärt Ulla Hahn ihre Motive, das Kriegsthema in einem Roman anzugehen: „Als ich 1995 die Wehrmachtsausstellung besuchte, schoss mir die Frage durch den Kopf: Was wäre, wenn ich als Tochter hier meinen Vater auf einem der Fotos zu erkennen glaubte? [...] Dass Uwe Timms Buch gleichzeitig herauskam [...] ist gleichwohl kein Zufall: Es musste wohl erst einmal viel Zeit verstreichen, ehe sich meine Generation diesem Thema vorurteilsloser stellen konnte als in den 70er Jahren. Die Form des Romans kommt dieser Suchbewegung nach „der Wahrheit“ sehr entgegen. Einer meiner Figuren, einem abgeklärten Naturwissenschaftler, lege ich den Satz in den Mund: „Verstehen wollen ist das Gegenteil von Recht haben wollen“. Auch der Vater kann, im Unterschied zu
155 „[...] missed opportunity for the younger generation to learn instead of to judge, to listen insted of to accuse, and to feel sorrow [...] for the parents, and ultimately sorrow for the victims and shame for what had been done to them.” Schlant, Ernestine: The Language of Silence: West German Literature and the Holocaust. New York 1999, S. 93. 156 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder. München 2003, S. 255. 154
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den erwähnten Sachbüchern, zu Wort kommen und sich verständlich zu machen versuchen – und zwar aus heutiger Sicht.“157
Mit dieser Motivation als Ausgangspunkt ist sogleich das Problem benannt, aus dem der Roman „Unscharfe Bilder“ nicht entfliehen kann: das pädagogische Anliegen ist deutlich zu spüren. Ulla Hahn zitiert Günther Grass´ „Im Krebsgang“ ausdrücklich: noch bevor die Hauptfigur Hans Musbach unter den zwingenden Fragen seiner Tochter über „seinen Krieg“ in Russland zu erzählen beginnt, reflektiert er, dass Grass „nicht die Nazimorde gegen deutsches Unglück aufrechnen wollte“.158 Auch für Ulla Hahn ist diese Ansicht programmatisch. „Denn ein Mann wie Musbach, der war 18, als er in diesen Krieg geschickt worden ist. Was hätte er machen sollen? Hätte er „Nein“ sagen sollen? Dann wäre er an die Wand gestellt worden. Ob ich um Verständnis werbe? Vielleicht auch. Aber viel mehr geht es mir um die Gegenwart“,159 erklärt Ulla Hahn in einem Interview. Im Zentrum des Romans steht die Frage, „ob es nämlich legitim sei, wenn die Tochter den Vater zum Eingeständnis einer sein Leben ohnehin belastenden Tat zwinge [...]. Wäre es nicht gerechter, [...] die Täter endlich in Frieden zu lassen?“160 Nicht zuletzt stellt sie dem Roman ein Wittgenstein-Zitat voraus: „Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht gerade das, was wir brauchen?“161 Somit bekommt die Erzählung von Anfang an einen moralischen Impetus.
157 Völker, Daniela/ Nachtrab, Sabine: Schreiben erfordert Ausdauer. Interview mit Ulla Hahn. In: Rezensöhnchen: Zeitschrift für Literaturkritik 36 (2005), URL: http://www.rezensoehnchen.de/index.php?id=164, Stand 28.10.2007. 158 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 27. 159 Langer, Stephan: Theologie des Wortes. Ulla Hahn über ihren neuen Roman „Unscharfe Bilder“ und über die Kraft des Redens. In: Konradsblatt vom 19.10.2003, URL: http://www.konradsblatt.badeniaonline.de/ scripts/inhalt/artikel.php?id=743&konradsblattID=179&status=archiv&jah r=2003&inhalt=, Stand 28.10.2007. 160 Welzer, Harald: Schön unscharf, S. 56. 161 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 7. 155
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Inhalt Das Szenario des Romans ist fast ausschließlich auf die Gespräche zwischen Vater und Tochter über den Russlandfeldzug reduziert. Gymnasiallehrerin Katja glaubt, auf einem Bild der Wehrmachtsausstellung ihren Vater Hans Musbach entdeckt zu haben. Auf dem Bild ist eine Partisanenerschießung in Russland abgebildet. Katja bringt den Katalog der Ausstellung ihrem Vater ins Seniorenheim und will ihn zum Sprechen über den Krieg bewegen. Das heißt, sie will eine Antwort auf die Frage “Wo sind die Mörder geblieben?” finden. Bis zu diesem Zeitpunkt weiß sie nur, dass ihr Vater als Wehrmachtssoldat in Russland war. Nähere Umstände kennt sie auf Grund des von den Eltern gepflegten Schweigens in der Nachkriegszeit nicht. Zunächst widerwillig, dann zunehmend von seinen Erinnerungen mitgerissen, beginnt der pensionierte Oberstudienrat und Altphilologe Musbach vom Russlandfeldzug zu erzählen, an dem er als einfacher Infanterist teilnahm. Er ruft die Bilder vom Krieg in sein Gedächtnis, die nicht die Verbrechen an der Zivilbevölkerung und Partisanenerschießungen belegen, sondern das erlittene Grauen an der Front zeigen: Bilder von den unsäglichen Strapazen, von Kälte, Elend und Hungersnot und vor allem von seinen Kameraden, die an den Kriegsgräueln wahnsinnig werden: „Schreie von Verwundeten, Schreie von Wahnsinnigen. Von Sterbenden, die mit irrem Blick auf ihre Eingeweide starren, klaffende Unterleiber, nur noch blutige Masse, Blutbäche rinnen über fassungslose Gesichter.“162 Katja bleibt von den emotional aufgeladenen Schilderungen des Vaters nicht unbeeindruckt, beharrt aber doch auf ihrer Frage nach seiner Schuld. Sie weigert sich, ihm in seine Erinnerungswelt zu folgen, und unterzieht ihn einem langen, quälenden Verhör: „Hier sind die Bilder. Die Galgen. Die Gräben. Die Leichen. Und du? Wo bist du?“163 Worauf der Vater antwortet: „Weißt du überhaupt, was uns da zugemutet wurde?“164 Seiner Tochter wirft Musbach Einseitigkeit vor: „Siehst du! Von solchen Bildern, von meinen Toten, von meinen Freunden und Kameraden habe ich in deinem Buch kein Bild gesehen. Du hast schon recht, mein Bild, meine Erinnerung kann ich da nicht finden.“165 Musbach berichtet von der russischen Landschaft, von Verbrüderungsszenen mit russischen Bauern. Auch die Strapazen während des Feldzuges sind ihm in Erinnerung geblieben, der Kampf gegen Staub, Sonnenbrand und Ungeziefer: „Und dieser Durst! Kein Wasser aus 162 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 39. 163 Ebd., S. 217. 164 Ebd., S. 46. 165 Ebd., S. 40. 156
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Brunnen, sie hätten vergiftet sein können. Aber wir kamen voran.“166 Der russische Winter mit Schlamm, Kälte und Schnee wird aber zu einer noch größeren Strapaze: „Erfrorene Glieder, eine Art Frostbrand, erst im Gesicht, dann überall. Baden, saubere Kleidung: unmöglich. Läuse also. [...] Wir kratzten Arme, Beine, Bauch und Rücken, unter den Achselhöhlen brannte es rot.“167 Dabei wird die bessere Ausrüstung „der Russen“ betont, denn sie „hatten Pelzmützen und wattierte Kleidung. Sie waren ja hier zu Hause. Trugen Filzstiefel, Fäustlinge und glitten uns auf Schneeschuhen, in Schneehemden getarnt, lautlos entgegen.“168 Eine Aktion der Deutschen, nach der ein Kamerad Musbachs den Verstand verliert und Selbstmord begeht, ist eine Vergeltung für das brutale Vorgehen sowjetischer Partisanen. Ausführlich erzählt Musbach von der Weihnachtsfeier an der Front im Dezember 1941. Der Blitzkrieg ist gescheitert, das von Hitler versprochene Weihnachten zu Hause ist von der Kriegsrealität weit entfernt. Musbach erzählt, wie die Soldaten in Schützengräben das Evangelium lesen und die deutschen Weihnachtslieder singen. Auch zwei russische Kriegsgefangene sind dabei, die sogar mitsingen – ein melancholisches russisches Lied „O weh, im Schnee, in Russlands tiefem Schnee.“ Im Finale des Romans gesteht Musbach, dass er doch an der Erschießung von gefangenen Partisanen teilnehmen musste. „Ich tat, wie mir befohlen. Hielt in die Richtung, wo der Mann stand. Zog ab. Der Schuss ging los. [...] Ich sackte zusammen. „Verdammter Idiot!“ hörte ich noch. Dann verlor ich das Bewusstsein. Eine gnädige Ohnmacht.“169 Jedoch begleiten diese Tat mehrere „mildernde Umstände“: er hat danebengeschossen, er wurde ohnmächtig, er erschlug nach dem Aufwachen den SS-Mann, der ihm den Befehl gegeben hatte, als dieser gerade eine Partisanin vergewaltigen wollte, und floh mit ihr. Er musste mit den russischen Partisanen in Sümpfen hungern und versuchte nach dem Krieg als Lehrer, seinen Schülern beizubringen, dass sich der Nationalsozialismus nicht wiederholen dürfe. Zum Schluss liest Katja in einer Zeitung die Todesanzeige mit dem Eisernen Kreuz, die ihr Arbeitskollege Dr. Schöneborn, Kritiker der Wehrmachtsausstellung, zum Andenken an seinen Vater schaltet: „Achim Schöneborn war ein tapferer, ehrenhafter deutscher Soldat. Und kein Mörder! Mit ihm gedenke ich der Millionen unschuldiger deutscher Soldaten, deren Leben ein Krieg verschlang, den sie nie gewollt hatten.“ Mit Verständnis und Mitleid reagiert Katja darauf: „Es muss schlimm 166 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 46. 167 Ebd., S. 106 168 Ebd., S. 108 169 Ebd., S. 268ff. 157
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sein, einen Vater zu haben, den man nie gehabt hat. Ich mag mir das gar nicht ausmalen.“170 Sie sucht einen Therapeuten auf und versucht auf diese Art, sich mit ihrem Vater zu versöhnen.
Anmerkungen Ulla Hahns Roman basiert auf Hypothesen und fiktiven Gesprächsäußerungen, Reflexionen und Monologen, die von der Debatte um die Wehrmachtsausstellung beeinflusst sind und die politischen Frontverläufe illustrieren. Die ganze Romanhandlung durchziehen typisierte Formen des Umgangs mit den Kriegserlebnissen – die penetrant anklagenden Fragen der Tochter, das Ausweichen des Vaters ins Kollektivschicksal, seine Begründungen, warum man zwar immer dagegen, aber doch immer dabei war. Die ausführliche Erzählung vom Russland-Krieg des ehemaligen Landsers Musbach besteht aus einer Reihe von Klischees, die die typische Wahrnehmung Russlands und der Russen zumindest im Westen Deutschlands wiedergeben. Seine Schilderung, wenn auch fiktiv, beansprucht Authentizität, und er bemüht sich stets, jede Schuld von sich abzuwehren: „Die Frage nach den Verbrechen musste immer wieder gestellt werden – aber doch nicht an ihn!“171 Zahlreiche Umstände weisen darauf hin, dass Musbach keine persönliche Schuld treffen soll: er war zu jung, er folgte dem Recht auf Notwehr, er hat den Krieg nicht gewollt, er war kein Nazi. Die Deutschen seien auch nicht die Einzigen gewesen, die vom Nationalsozialismus begeistert waren („Die Völker der Erde winkten Hitler zu“), und selbst in der Sowjetunion habe man die Wehrmacht am Anfang als Befreier gesehen: „Die Menschen bewarfen uns sogar mit Rosen.“ „Nein, einen Drang nach Osten spürten wir alle nicht. [...] Hitler hatte die Befehlsgewalt, wir folgten, vom General bis zum Rekruten. [...] An der Front gab es keine Juden. [...] Von den Deportationen, den Massenvernichtungen wussten wir an der Front doch damals noch nichts. Nur Gerüchte von den Gräueltaten der SS und des SD in den besetzten Gebieten hinter uns. [...] Je wirkungsvoller die Partisanen, desto öfter gab es diese sogenannten ‚Vergeltungsoperationen’. Was sollten wir machen? Uns von hinten abschießen lassen? [...] Und vergiss niemals, wir hatten uns nicht freiwillig gemeldet! Ich hatte Hitler nie gewählt! Ich war in Russland ein Gefangener meines eigenen Landes.“172
170 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 246. 171 Ebd., S. 100. 172 Ebd., S. 37, 82, 95, 98, 207, 107. 158
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Dabei wird Hans Musbach als Opfer von Umständen und Krieg dargestellt und zum Held des Leidens stilisiert. Dieses Erzähl-Muster war in den bundesdeutschen Kriegsromanen der 50er Jahre weit verbreitet. Es bezog sich vor allem auf die (deutschen) „Stalingrad-Soldaten“, deren Schicksale von den Schriftstellern mehrmals nacherzählt wurden.173 Die Antisemiten und Nazis sind die Anderen – das Parteimitglied Mertens, der Musbach verbietet, einem russischen Kind Schokolade zu geben. Oder der Nazi Joachim, der glaubte, wenn er gegen die Russen, den Bolschewismus kämpfte, kämpfte er für „das Abendland“ und eine bessere Zukunft der Menschheit. Auch das restliche Romanpersonal tritt dann auf, wenn es darum geht, etwas zu beweisen oder zu untermauern. Sie alle haben eine Funktion, wie z.B. Katjas Freundin Reni, die von ihrem Vater berichtet, der nach dem Krieg immer wieder die gleiche Geschichte erzählte von einem verwundeten Russen, der in einem Schützengraben auf ihn fiel. Um herauszukommen, tötete ihn Renis Vater durch einen Biss in die Kehle, und prahlte dann vor seinen „Kameraden“ mit dieser Heldentat. Seit sie diese Geschichte kannte, konnte Reni ihren Vater nicht mehr küssen.174 Eine andere Romanszene zeigt die Lehrerkollegen von Katja, die sich über die Wehrmachtsausstellung streiten, der eine alt, der andere jung.175 Dabei ist der junge als Befürworter, der Alte als Gegner der Ausstellung geschildert. Sensibel beschreibt Ulla Hahn die Zwangslage von Hans Musbach, der unfreiwillig im Krieg war, seine Ängste und Anfechtungen des Gewissens über Recht und Unrecht des Krieges. Doch diese Äußerungen kreisen immer nur um sein Leid und das seiner Kameraden. Der permanente Hinweis auf das eigene Leid dient auch dazu, kritische Fragen nach dem Leid, das man zuvor den Überfallenen zugefügt hatte, zu vermeiden. Die Kriegsgeneration habe Schreckliches erlebt und es sei nicht die Aufgabe der Nachgeborenen, ihr Schuld vorzuwerfen, so die Botschaft des Romans. „Es wird auch wieder einen breiteren, einen gerechteren Blick auf uns Deutsche geben. Da werden dann auch die Erfahrungen der geschundenen deutschen Soldaten zu lesen und zu hören sein“,176 fordert ein pensionierter Physiker in „Unscharfe Bildern“, und die Autorin stimmt mit ihm überein. Anstelle der Verantwortung fordert Ulla Hahn Verzeihen: „Konnte jemand, der nicht dabei gewesen war, jemals den Vater verstehen? Begreifen? Blieb ihr nicht alles, was der Vater erzählte, 173 Vgl. Morina, Christina: Der Angriffskrieg als Lesestoff, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn /russerinn_morina.pdf, Stand 10.05.2005. 174 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 126f. 175 Ebd., S. 155. 176 Ebd., S. 136. 159
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nur Wissen, nur Versuch einer Vorstellung?“,177 fragt sich Hahns Protagonistin Katja. Das Prinzip der Unschärfe wird zur Grundlage der Erinnerung erklärt.
Rezeption Der Roman „Unscharfe Bilder“ wurde in der deutschen Presse intensiv besprochen. Die meisten Rezensionen waren positiv und lobten Ulla Hahns Bemühen, sich literarisch der Perspektive ehemaliger Kriegsteilnehmer anzunähern und auf die pauschale Verdammung zu verzichten.178 Allerdings wiesen einige Rezensenten auf die Intention der Autorin hin, „die deutsche Opferperspektive salonfähig zu machen.“179 So nennt Hans Christian Kosler in der Neuen Zürcher Zeitung „Unscharfe Bilder“ „ein löblich ambitioniertes Buch, auch wenn es allzu offensichtlich den derzeit virulenten Trend bedient, in der Nation der Täter ein Volk von Kriegsopfern zu sehen.“180 Dem Sozialpsychologen Harald Welzer diente der Roman „Unscharfe Bilder“ dazu, eine Zeitdiagnose zu stellen: Die Vorzüge der Unschärfe und das Plädoyer für Verständnis für die Kriegsgeneration erlaubten den älter gewordenen 68ern „einen milden Frieden mit der Elterngeneration [zu] schliessen“ und sich „in einem Akt nachholender Überidentifikation die Sicht ihrer Eltern und Großeltern zu Eigen zu machen.“181 Ähnlich wie Hannes Heer182 sieht er hier die Gefahr der Ausblendung des breiten 177 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 174. 178 Vgl. Osterkamp, Ernst: Auf dem Ringfinger ein Stein von blutroter Farbe. Dagegen, aber auch dabei: Ulla Hahn hat einen klugen Roman über die Notwendigkeit des Erinnerns verfasst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.10.2003, S. L20; Borchmeyer, Dieter: Die schwarze Wolke. Soldatenkinder können grausam sein: Ulla Hahn zeigt in ihrem Roman „Unscharfe Bilder“ die Grautöne zwischen den Generationen. In: Der Tagesspiegel vom 14.09.2003, S. 29; Lüdke, Martin: Können Mörder gute Menschen sein? Ulla Hahn macht mit der Vätergeneration kurzen Prozess. In: Die ZEIT (Literatur), Oktober 2003, S. 26-27. 179 Obermüller, Klara: Immer dagegen und immer dabei. In: Die Weltwoche vom 6. 11. 2003, S. 90-91. 180 Kosler, Hans Christian: Immer dagegen und immer dabei. Ulla Hahns Roman „Unscharfe Bilder“. In: Neue Zürcher Zeitung vom 10.09. 2003, S. 37. 181 Welzer, Harald: Schön unscharf, S. 56. 182 Vgl. Heer, Hannes: Vom Verschwinden der Täter: der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. 2. Aufl. Berlin 2004; Heer, Hannes: „Hitler war’s“. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2005. 160
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soziokulturellen Kontextes – eine Eigenschaft des Familiengedächtnisses – und die Gefahr des „Verschwindens der Täter“. Auf den Schutzumschlägen der Bücher von Ulla Hahn und Uwe Timm sind Umrisse eines davongehenden Mannes mit Hut, verschwommen und ohne Gesicht dargestellt – ein konturloser Schatten vor weißem Hintergrund. Die Handlung kreist in beiden Fällen um weiße Flecken in Familienerzählungen, welche die nächste Generation prägen. Doch bergen diese weißen Flecken für Timm „den Stachel einer anhaltenden Beunruhigung“, während sie im Fall Ulla Hahns „ein Material für Versöhnungskitsch sind.“183 Die politischen Frontverläufe in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges werden in der Literatur fortgesetzt. Während die einen, überwiegend Vertreter der Konservativen, in der Wehrmachtsausstellung die Beschmutzung der Soldaten der Wehrmacht sahen, die ja nur ihre Pflicht getan hatten, war es für die anderen, vor allem für die Linken, notwendige historische Aufarbeitung.184 Ulla Hahn steht in der Reihe derer, die über die Kriegsverbrechen möglichst nur „unscharfe Bilder“ sehen möchten und einfordern, auch über die Traumatisierungen der deutschen Bevölkerung zu sprechen. Welzer sieht den Titel „Unscharfe Bilder“ als Emblem für die Gattung: Familienerinnerungen belehren einen darüber, „dass ein innerfamiliales Erinnerungsvermögen prinzipiell die unscharfen Bilder der Rollen und Handlungen von Familienangehörigen in Zeiten des Tötens vorzieht. Es sind die konturlosen, vagen, eben unscharfen Bilder, die in Gestalt widersprüchlicher, nebulöser, fragmentierter Geschichten im Familiengedächtnis niedergelegt sind.“185 Heer sieht hier „eine Generationenversöhnung, die sich um die Tatsachen herummogelt. Wenn der Vater als Täter ins Bild kommt, folgt sein Ohnmachtsanfall – und man sieht nichts mehr.“186
183 Naumann, Klaus: An die Stelle der Anklage ist die Klage getreten. In: Frankfurter Rundschau vom 14.04.2004, S. 17. 184 Vgl. Stephan, Karsten: Vernichtungskrieg oder Aufstand des Gewissens? AusstellungsbesucherInnen als Rezipienten geschichtspolitischen Handelns. In: Fröhlich, Claudia/ Heinrich, Horst-Alfred (Hg.): Geschichtspolitik: Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? Stuttgart 2004, S. 119131. 185 Welzer, Harald: Schön unscharf, S. 56. 186 Reinecke, Stefan: „Die Schatten der Taten müssen bleiben“. Interview mit Hannes Heer. In: die tageszeitung vom 3.04.2004, URL: http://www.taz.de/nc/1/archiv/archiv-start/?ressort=ku&dig=2004%2F04% 2F03%2Fa0188&cHash=033eff9c30&type=98, Stand 10.11.2007. 161
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Arno Surminski: „Vaterland ohne Väter“ [...] Es sieht so aus, als wollte ich die feldgrauen Uniformen reinwaschen. Aber ich will nur, dass uns die armen Kerle, die für diesen Hitler in den Krieg zogen, ein wenig leid tun. Arno Surminski, „Vaterland ohne Väter“
Arno Surminski, Jahrgang 1934, ist der älteste von den Autoren, deren Romane über den Krieg in Russland den Schwerpunkt dieser Studie bilden. Er war persönlich vom Krieg betroffen: er verbrachte seine Kindheit in Ostpreußen, bis seine Eltern kurz nach Kriegsende in die Sowjetunion deportiert wurden. Seit Mitte der 70er-Jahre schreibt Surminski über das Leben in Ostpreußen, Flucht und Neuanfang in der BRD. Sein umfangreiches Werk stieß stets auf eine große Aufmerksamkeit eines millionenfachen Lesepublikums und auf eine beständige, überwiegend wohlwollende Resonanz bei zahlreichen Rezensenten.187 Die Erinnerungen an die Kindheit in Ostpreußen sowie die Geschichte der Flucht und Vertreibung bilden das Zentrum seines literarischen Schaffens.188 „Es liegt nahe, dass der Blick, nachdem er jahrzehntelang auf den Taten der Deutschen und dem Leiden anderer ruhte, nun stärker auf die deutschen Opfer gerichtet wird, weil hier der Zeitgeist Nachholbedarf verspürt“,189 so Surminski in seiner Einleitung zum Text- und Bildband „Flucht und Vertreibung“. Auch die Soldaten des Russlandfeldzuges sind für ihn vor allem Opfer der nationalsozialistischen Kriegsmaschine. Surminskis Roman „Vaterland ohne Väter“ stellt keine Erinnerungen an den Krieg dar, sondern ist, ähnlich wie bei Uwe Timm, ein Versuch der Annäherung an die Zeit und die Menschen. Der Roman ist eine umfangreiche fiktionale Beschreibung des Krieges in Russland. Der Krieg
187 Das bestätigen die Häufigkeit der Wiederauflage vieler seiner Werke und der oftmals geringe Zeitraum zwischen zwei Auflagen. Zu Rezeption von Surminskus Werk siehe Beyersdorf, Herman E.: Erinnerte Heimat. Ostpreußen im literarischen Werk von Arno Surminski. Wiesbaden 1999; Metzger, Simone: Verlusterfahrung und literarische Erinnerungsstrategie: die Darstellung von Heimat, Flucht und Integration in den OstpreussenRomanen von Arno Surminski. Marburg 2001. 188 Andere Bücher von Arno Surminski: Wie Königsberg im Winter und andere Erzählungen. Stuttgart 1982; Ders.: Polninken oder Eine deutsche Liebe. Hamburg 1984; Ders.: Kein schöner Land. Frankfurt a. M. 1996; Ders.: Sommer ’44 oder Wie lange fährt man von Deutschland nach Ostpreußen? Berlin 1997. 189 Surminski, Arno: Schweigen ist keine Antwort. In: Flucht und Vertreibung - Europa zwischen 1939 und 1948. Hamburg 2004, S. 11. 162
ARNO SURMINSKI: „VATERLAND OHNE VÄTER“
wird aus der Perspektive der Teilnehmer beschrieben. Die Erzählung wird immer wieder durch Tagebucheintragungen, Ausschnitte aus historischen Dokumenten oder Gedanken von Rebeka Lange unterbrochen, die 60 Jahre nach dem Tod ihres Vaters an der Ostfront nach seinen Spuren sucht. In diesen Beschreibungen und in den Gedanken von Rebeka nimmt der Autor Stellung zu den Ereignissen und interpretiert sie. Ausschnitte aus dem Roman wurden vom Autor im Bundestag zum Volkstrauertag am 19. November 2006 öffentlich verlesen. Obwohl „Vaterland ohne Väter“ kaum in der deutschen Presse beachtet wurde (deshalb kann man keine Aussagen über die Rezeption des Romans treffen), findet man auf den Seiten vieler Online-Buchhandlungen im Internet zahlreiche positive Leserrezensionen.190 Bemerkenswert ist auch die vom GoetheInstitut geförderte Übersetzung des Romans ins Russische zum 60. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2005. Über die Rezeption von „Vaterland ohne Väter“ in Russland liegen zur Zeit noch keine Daten vor.
Inhalt Die Protagonistin Rebeka Lange geht mit 60 in den Ruhestand und fängt an, sich mit ihrer Herkunft zu beschäftigen. Ihren Vater Robert Rosen hat sie nie kennen gelernt, da er am Tag, als sie geboren wurde, in Russland fiel. „Die größte Lücke in unserer Familie riß jener Krieg, von dem ich nichts weiß“,191 sagt sie. Sie will den Spuren ihres an der Ostfront gefallenen Vaters nachgehen, sein Kriegstagebuch und Feldpostbriefe hat sie von der verstorbenen Großmutter geerbt. Der Roman ist eine Mischung aus Fiktion und Dokumenten wie Feldpostbriefen, Zitaten aus einer Schulchronik und dem Kriegstagebuch eines napoleonischen Soldaten aus dem Russlandfeldzug von 1812. Zusätzlich gibt es noch eine weitere Erzählebene, wo der Erzähler Auskünfte über den Soldaten Robert Rosen aus Ostpreußen und seine zwei Kameraden Walter Pusch aus Münster und Heinz Godewind aus Hamburg gibt. Damit der Leser sich in diesem Chor der Stimmen nicht verliert, werden sie in unterschiedlicher Schrift gedruckt. Die Wege der drei Soldaten stehen im Zentrum der Recherche von Rebeka. Alle drei sind aus einem normalen Leben in den Krieg gezwun190 Vgl. Rezensionen auf Amazon.de, URL: http://www.amazon.de/Vaterlandohne-V%C3%A4ter-Roman-Surminski/dp/3548263712, Stand 30.10.2007, oder Buecher.de, URL: http://www.buecher.de/shop/Si-Sz/Vaterlandohne-Vaeter/Surminski%20Arno/products_products/rate/prod_id/ 14441438/node/2/lfa/detail/wea/1100737/, Stand 30.10.2007. 191 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter. Berlin 2004, S. 13. 163
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gen worden und verhalten sich dort anständig. Mit ihren unterschiedlichen Charakteren sind sie als typisch anzusehen. Walter Pusch, Kolonialwarenhändler aus Münster, ist ein unkritischer Anhänger der NSIdeologie, der sich rassistische Parolen zu Eigen macht. „Viele Gefangene werden nicht gemacht, das frühere Litauen ist stark verjudet, da gibt es kein Pardon“, schreibt er an seine Frau nach Hause. Heinz Godewind ist dagegen sehr kritisch und fühlt sich als Nazi-Gegner. Rober Rosen wird als ein naiver, verträumter Bauernsohn jenseits der Politik dargestellt. Alle drei werden mit ihrer Kompanie aus Metz in den Osten verlegt, gehören aber nicht zur „kämpfenden Truppe“, sondern zur Nachhut. Dies erklärt vermutlich den fast idyllischen Charakter des Russlandfeldzuges in Surminskis Roman. Die Idylle wird nur ab und zu durch Partisanenerschießungen unterbrochen. Robert Rosen liebt die Natur, in seinen Tagebüchern findet man immer wieder Landschaftsschilderungen und Sympathie für die Zivilbevölkerung. Er lässt einen russischen Gefangenen laufen, gibt den Kindern Schokolade, rettet ein brennendes Haus und weint, wenn er in Tarnopol die Leichen ermordeter Juden sieht. „Mein Vater war kein Täter, er ist durch eine stinkende Stadt gewandert und hat geweint. Mehr nicht“,192 wiederholt Rebeka. Die Verbrechen an jüdischen Zivilisten werden von Surminski mit den modernen Kriegen verglichen: „Tarnopol wiederholt sich, aber nun in Slow motion und mit freundlicher Unterstützung von CNN.“193 Gemeint ist hier der neue Krieg im Irak 2003. Den Gegenwartsbezug repräsentiert im Roman auch Rebekas Sohn Ralf, der als Bundeswehrsoldat im Kosovo stationiert ist. Dem Autor geht es hier einerseits um die Auseinandersetzung mit der Traditionsdebatte in der Bundeswehr, andererseits nimmt Surminski Bezug auf die Militäreinsätze der Bundeswehr im Ausland. Ralf repräsentiert die jüngere Generation, die laut seiner Mutter (und auch des Erzählers) die Geschichte des Krieges und die Rolle der Wehrmachtssoldaten darin einseitig sehen: „Ich weiß, wie er denkt. Die, die feldgrauen Uniformen trugen, waren alle Verbrecher. Das haben ihm die antifaschistischen Lehrer auf dem Gymnasium beigebracht, und sie ließen keine Ausnahme zu für Väter, Großväter, Söhne oder Brüder.“194 Obwohl Rebeka sich Sorgen um ihren Sohn macht, der sich freiwillig in den Irak melden will, betont sie immer wieder den Friedenscharakter der Bundeswehreinsätze im Ausland. Den Militärdienst nennt sie „Arbeit“. „Es ist kein Krieg, der Junge
192 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 81. 193 Ebd., S. 121. 194 Ebd., S. 258. 164
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ist nur dort, um Frieden zu bewachen“,195 vermerkt sie. Auch Ralf selbst lässt keine Zweifel an seiner Überzeugung von der Wichtigkeit seines Militärdienstes: „Wir sorgen für Frieden. Wenn wir durch ein Dorf fahren, winken uns die Kinder zu. Ja, natürlich, es kommt vor, dass einer ausspuckt und sich abwendet. Das sind die Alten, die von vorgestern.“196 Für die Beschäftigung der Mutter mit diesem „Schnee von vorgestern“ zeigt der junge Bundeswehrsoldat kein Interesse. Der Höhepunkt des Russlandfeldzuges ist für Robert Rosen der Heimaturlaub in Ostpreußen im April 1942, als er die Nachbarstochter Erika heiratet. Die Nachricht über seinen Tod kommt ein Jahr später, im März 1943, als seine Tochter Rebeka schon geboren und getauft ist. Die Mutter wollte das Kind Rebecca nennen, der Standesbeamte verweigerte aber den jüdischen Namen, und nur der Hinweis darauf, dass der Vater des Kindes an der Ostfront kämpft, hat ihn überzeugt, die „germanisierte“ Version des Namens einzutragen. Ausführlich schildert Surminki das Schicksal der ostpreussischen Verwandtschaft der Protagonistin Rebeka. Nach Vergewaltigungen und Misshandlungen ist ihre Mutter an Typhus gestorben, ihre neunzehnjährige Tante, auch mehrfach vergewaltigt, wurde in die Sowjetunion verschleppt. Die Großmutter, in deren Obhut die kleine Rebeka geriet, wurde nach Deutschland vertrieben. Über Rebekas eigenes Leben erfährt man sehr wenig: Sie lebte mit ihrer Großmutter in einer Flüchtlingsbaracke, hat später geheiratet, ihr Mann ist inzwischen tot. Nach ihrer Recherche 60 Jahre später gibt Rebeka in einer Zeitung eine Anzeige für ihren Vater auf. Diese Anzeige steht am Schluss des Romans und fasst das Ergebnis der Reflexion über den Krieg in Russland zusammen. „Zur Erinnerung an meinen Vater Robert Rosen, geboren am 6. Dezember 1919 in Podwangen/Ostpr. Gefallen für nichts und wieder nichts am 31. Januar 1943 bei Stary Oskol in Russland. Rebeka Rosen, geboren am 31. Januar 1943 in Podwangen/Ostpr. Ich suchte Mörder und fand Menschen.“197
Anmerkungen Surminski stellt seinem Roman das Zitat von Kurt Tucholski „Soldaten sind Mörder“ voran, das durch die Romanhandlung widerlegt werden soll. „Es sieht alles so aus, als wollte ich die feldgrauen Uniformen reinwaschen. Aber ich will nur, dass uns die armen Kerle, die für diesen Hit195 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 12. 196 Ebd., S. 260. 197 Ebd., S. 455. 165
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ler in den Krieg zogen, ein wenig leid tun“,198 sagt die Protagonistin des Romans „Vaterland ohne Väter“. Diese Einsicht ist gegen die Wehrmachtsausstellung gerichtet, die im Roman direkt erwähnt wird. Die intensive Beschäftigung der Erzählerin mit dem Schicksal ihres Vaters deckt sich mit dem Anliegen des Autors, in „Vaterland ohne Väter“ das Bild des einfachen deutschen Soldaten zu revidieren, und dieses Thema bildet inhaltlich den Mittelpunkt des Romans. Durch den Vergleich des Vormarsches der napoleonischen Armee mit dem Vormarsch der Wehrmacht wird die erste Relativierung erstellt: „Alle Kriege sind miteinander verwandt. Einer zieht den anderen nach sich wie eine ansteckende Krankheit“.199 Der Vergleich führt zur Ausblendung der nazistischen Herrenmenschenideologie und zur Annahme, der Ostfeldzug sei ein Krieg gewesen wie jeder andere. Die Protagonistin vermischt das Scheitern von Napoleons und Hitlers Soldaten im russischen Winter, die Sorge um den Sohn im Kosovo und Fernsehbilder aus beiden Irakkriegen. „Ich komme durcheinander mit den vielen Kriegen“,200 sagt sie. Deutsche Massaker an jüdischen Zivilisten werden kommentarlos in eine Reihe mit Einsätzen im Irak gestellt. Die Leiden der sowjetischen Kriegsopfer werden im Roman überdeckt, indem die Wehrmachtssoldaten und ihre Familienangehörigen an der Heimatfront selbst zu den Leidtragenden im Roman werden. Erzählerisch dominant ist nicht die verbrecherische Seite des Krieges, den die Deutschen in Russland führen, sondern Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, die Strapazen, Leiden und schließlich der ungerechte Tod von drei Hauptfiguren. Nicht unerwähnt bleiben die Luftangriffe der Alliierten und die Vergewaltigungen der deutschen Frauen durch die Rote Armee. Der Zusammenhang zwischen den Angriffen auf Nazi-Deutschland und dem von der Wehrmacht geführten totalen Krieg wird im Roman nicht hergestellt. Ilse Pusch fragt im Brief an ihren Mann Walter nach einem schweren Luftangriff: „Was haben wir armen Menschen in Münster mit Eurem Krieg in Russland zu schaffen?“201 „Vaterland ohne Väter“ vermittelt die Botschaft, dass der einfache Soldat an der Front und die kleine Frau in der Heimat von der Propaganda des Nationalsozialismus verführt wurden. Dafür werden die politischen und militärischen Eliten verantwortlich gemacht („Die ganze Kriegerei ist nur ein Spiel für die Oberen, die die einfachen Leute dazu abrichten, ihnen die Kastanien aus dem Feuer zu holen“ 202). Es gab 198 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 258. 199 Ebd., S. 10. 200 Ebd., S. 64. 201 Ebd., S. 74. 202 Ebd., S. 135. 166
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Verbrechen an der Front, die Surminski anspricht und verurteilt, aber, so argumentiert er weiter, auch die sowjetische Seite war nicht besser. Den Tod von Millionen von sowjetischen Kriegsgefangenen erklärt der Autor durch Kriegsumstände und den Mangel an Mitteln. Die Brutalität der deutschen Kriegführung sei die Reaktion auf den sowjetischen Partisanenkrieg gewesen, also Notwehr. Nachdem seine Romanfiguren Zeugen einer russischen Gräueltat geworden sind, wobei mehrere deutsche Soldaten von den Russen massakriert, verunstaltet und zur Abschreckung auf einen Zaun gebunden worden waren, äußert sich Heinz Godewind, der Nazi-Gegner: „Ab heute werde ich keinen Russen mehr gefangen nehmen“.203 Die brutale deutsche Kriegsführung im Osten bleibt im Roman unerwähnt. Die Russen sind in diesem Krieg keine Opfer, sondern Täter. Als Robert Rosen einen gefangenen russischen Soldaten laufen lässt (eine Ausnahmetat, die bei Surminski als stellvertretend für das Verhalten der „einfachen deutschen Soldaten“ an der Ostfront steht), wird es von Heinz Godewind so beurteilt: „Er wird zu den Partisanen gehen und einige von uns umbringen, aber das wissen nur wir beide“.204 Hier werden die Rollen getauscht, „der Russe“ ist ein gefährlicher, heimtückischer Feind. Schrecklich ist nicht der Krieg gegen die Sowjetunion, sondern die Luftangriffe aus Hamburg und die Besetzung Ostpreußens durch die Rote Armee. Heinz Godewind stirbt während eines Heimaturlaubs im Feuersturm auf Hamburg. Sein Kommentar deutet auf die Schrecken der Angriffe: „Lieber an der Front fallen, als so etwas noch einmal erleben“.205 Anders als Katja bei Ulla Hahn, die von Anfang an in ihrem Vater einen Verbrecher vermutet, der am Ende als „schuldlos schuldig“ dargestellt wird, wehrt Surminskis Rebeka Lange jede Möglichkeit der Mitschuld ihres Vaters ab. Sie wiederholt immer wieder: „Ich will nicht, dass mein Vater einem Einsatzkommando angehörte, das hinter der Front tabula rasa machte. [...] Ich möchte keine Texte finden, die mir weh tun. [...] Ich soll Vaters Notizen an die Wehrmachtsausstellung geben [...]. Aber ich zögere, weil ich fürchte, die könnten etwas herausfinden, was meinem Vater peinlich wäre. Sie werden ihm und mir Vorwürfe machen. [...] Wegener schickt mir das Bild eines brennenden russischen Dorfes und schreibt dazu: Als Sieger wurden sie mit Brot und Salz empfangen, auf dem Rückzug verbrannte Erde. Das will ich meinem Vater nicht zumuten. Nein, er hat keine Häuser angesteckt.“206
203 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 406. 204 Ebd., S. 92. 205 Ebd., S. 441. 206 Ebd., S. 77, 82, 121, 395. 167
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Später findet Rebeka unmissverständliche Tagebuchäußerungen ihres Vaters über die Juden. Diesen Fund erklärt sie sich jedoch mit allgemeiner Propaganda im Dritten Reich. Eine Auseinandersetzung mit den Zielen des nationalsozialistischen Feldzuges gegen den „jüdischen Bolschewismus“ und den Konsequenzen der rassistischen Indoktrinierung, die die sowjetische Zivilbevölkerung mit voller Wucht trafen, findet man im Roman nicht. Viele Kriegsverluste hätten die Russen selbst zu verantworten, weil die sowjetische Kriegsführung unmenschlich gewesen sei. Der Krieg brach unvermeidbar „wie ein Naturgesetzt“ über die Romanfiguren. Was die Väter in Russland zu suchen hatten, wird nicht gefragt. Die Soldaten erscheinen so in letzter Instanz für ihre Taten nicht verantwortlich, da sie als Mordinstrumente funktionierten und zu funktionieren hatten. „Ein Soldat schweigt und gehorcht, er fragt nicht, wohin die Reise geht, er denkt an die Braut und die Gulaschkanone. Vielleicht hat Godewind es geahnt, die Offiziere haben es gewusst, aber sie schwiegen. Mein einundzwanzig Jahre alter Vater war völlig ahnungslos.“207 Auffällig ist, dass Surminski sich ausdrücklich auf Heinrich Böll und Wolfgang Borchert bezieht, beides Autoren, die in den 50er Jahren deutsche Soldaten größtenteils als hilflose Opfer der Verhältnisse darstellen. In den Zitaten vor den einzelnen Romankapiteln zitiert Surminski mehrmals aus Borcherts „Draußen vor der Tür“. Rebeka Lange sagt zu ihrem Sohn, indem sie an Böll und Borcherts anknüpft: „Den ersten, die nach Hause kamen und darüber schrieben, haben sie noch geglaubt, Wolfgang Borchert und Heinrich Böll. Aber dann gerieten Millionen in Vergessenheit, der ganze feldgraue Haufen wurde zur Räuberbande erklärt, mit der niemand etwas zu tun haben wollte“.208 Diese Aussage kann durch die Skandale und Diskussionen widerlegt werden, die die „Wehrmachtsausstellung“ in Deutschland und Österreich ausgelöst hat, weil in den großen Teilen der Öffentlichkeit „die Legende von der sauberen Wehrmacht“ immer noch präsent war und die Wehrmacht nicht mit den Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht wurde. Persönliche Schuld oder Unschuld hängen im Roman von Surminski größtenteils von Zufall und Schicksal ab. Es wird impliziert, dass man nur durch eine „heldenhafte Verweigerung“ (die, wie aus Christopher Brownings Studie „Ganz normale Männer“ hervorgeht, keine Strafe nach sich zog) die Beteiligung an Kriegsgräuel hätte vermeiden können. Die Frage nach Verantwortung wird im Roman umgegangen, indem der Autor darauf hinweist, dass Krieg generell ein einziges Menschheitsverbre-
207 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 43. 208 Ebd., S. 282. 168
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chen ist. Durch diese pauschale Aussage verpasst er die Chance, sich mit der konkreten Problematik des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges auseinander zu setzen.
Ausblick „Vaterland ohne Väter“ ist keine militaristische Prosa, im Gegenteil, man könnte das Buch sogar zur Antikriegsliteratur zählen. Doch die Wirkung dieser Botschaft muss angezweifelt werden, wenn man in Betracht zieht, dass das Gewicht vom Leiden der Opfer der deutschen Aggression – Juden, russische Soldaten, Partisanen und Zivilbevölkerung – auf das Elend der Deutschen verschoben ist. Surminski stärkt die Nachkriegswahrnehmung der Deutschen von sich selbst als verratenen und unterdrückten Opfern der Verschwörung eines dämonischen Tyrannen und der Besatzer. Die Romanprotagonisten mögen tatsächlich Opfer des Krieges gewesen sein, aber ohne Erwähnung der anderen Seite, der anderen Opfer, vermittelt der Roman den Eindruck, als hätten die deutschen Soldaten mit dem großen Massaker nichts zu tun, das sie, egal ob freiwillig oder nicht, sechs Jahre lang unter den Soldaten, Partisanen, Frauen und Kindern Europas anrichteten.
Zusammenfassung Blickt man auf die deutsche Gegenwartsliteratur über den „Russlandfeldzug“, fällt die geringe Anzahl von Werken auf, besonders wenn man diese mit der Flut an Romanen und autobiographischer Prosa zu anderen „kriegsbezogenen“ Themen wie Vertreibung aus den Ostgebieten, Bombenkrieg, NS-Eliten und Strukturen des NS-Staates vergleicht. Über die hier vorgestellten vier Romane geht die literarische Auseinandersetzung mit dem Krieg an der Ostfront kaum hinaus. Der Vernichtungskrieg im Osten ist immer noch ein unterrepräsentiertes Kapitel deutscher Geschichte. Die hier untersuchten Romane zum Krieg gegen die Sowjetunions sind als Suche angelegt. Im Gegensatz zur Literatur der 50er und 60er Jahre steht nicht die Schlacht bei Stalingrad oder andere unmittelbare Kriegsereignisse im Mittelpunkt des Erzählens, sondern die Suche nach den Spuren der Angehörigen, die an dem Krieg in Russland teilgenommen haben. Der Krieg selbst befindet sich im Schatten dieser Suche. Die wichtigste Frage ist dabei die nach dem Umgang der Nachgeborenen mit den Kriegserfahrungen ihrer Eltern und Großeltern. 169
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Die meisten Kriegserzählungen in den Romanen handeln vom Leiden im Krieg, nicht von der „Lust am Krieg“ (Klaus Horn), und erst recht nicht von der Lust am Töten. Der tötende Täter wird als Opfer einer Zwangssituation dargestellt: der Bruder von Uwe Timm in der Darstellung seiner Eltern, der Großvater im Roman von Tanja Dückers „Himmelkörper“ in seinen Kriegserzählungen und die Protagonisten bei Ulla Hahn und Arno Surminski in der Darstellung beider Autoren. Während sich Hahn und Surminski diese Interpretation aneignen, bewahren Tanja Dückers und Uwe Timm eine kritische Distanz und zeigen, dass die Opferperspektive ihre Trugschlüsse birgt. Den Autoren – außer Uwe Timm – geht es primär um die Wehrmacht und um die Familienangehörigen, die in der Wehmacht dienten, nicht um den Vernichtungskrieg. Die Erwähnung der sowjetischen Kriegsopfer findet man in den untersuchten Romanen nur selten. Auch die flächendeckenden Mordaktionen der Einsatzkommandos oder die mitsamt der Bevölkerung verbrannten Dörfer werden nicht erwähnt. Der Krieg in Russland ist in allen vier Romanen gleichzeitig präsent und abwesend: Außer in „Vaterland ohne Väter“ bildet der Krieg an der Ostfront nur einen Hintergrund für die Beschäftigung mit der Geschichte eigener Familienangehöriger. Entlang der Trennlinie „Opfer/Täter“ setzen sich die Autoren mit der Frage nach der individuellen Schuld auseinander. Russland ist nur Kulisse und Russen sind Statisten in diesem deutschen Kriegsdrama. In allen vier Romanen geht es unter anderem um die Kommunikation über den Krieg zwischen den Generationen. Die Harmonisierung der Familiengeschichte durch die Nachgeborenen, die neuere Erzähltexte teilweise vorführen (wie z.B. in den Romanen von Ulla Hahn und Arno Surminski), hat auffällige Parallelen in der „kumulativen Heroisierung“209 der Eltern oder Großeltern, wie sie von Harald Welzer erforscht wurde. Sie bildet nach Welzer den typischen Effekt des intergenerationellen Gedächtnisses, in dem „die Angehörigen der Kinder- und noch mehr der Enkelgenerationen einerseits den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus und die Tatsache des Holocaust umstandslos anerkennen, andererseits aber ihre eigenen Eltern bzw. Großeltern so positionieren, dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt.“210 Uwe Timm und Tanja Dückers üben dagegen Kritik an einer generationellen Überlieferung, die „weiße Flecken“ hinterlässt, die nachfolgende Generationen später füllen müssen. 209 Welzer, Harald: Kumulative Heroisierung. Nationalsozialismus und Krieg im Gespräch zwischen den Generationen. In: Mittelweg 36, 10 (2001) 1, S. 57-73. 210 Ebd., S. 59. 170
ZUSAMMENFASSUNG
Die ursprüngliche Vermutung, dass die Wehrmachtsausstellung und die Fortschritte in der historischen Forschung einen „Fortschritt“ auf dem Weg der literarischen Bewältigung des „Russlandfeldzuges“ bewirkten, hat sich nur teilweise bestätigt. Die Romane wie „Vaterland ohne Väter“ von Arno Surminski und „Unscharfe Bilder“ von Ulla Hahn demonstrieren einen Schritt zurück Richtung 50er Jahre mit alten, klischeeartigen Russland- und Russenbildern sowie der Betonung der Opferrolle der deutschen Soldaten. Es wäre aber auch falsch, von der Allgegenwärtigkeit eines „Opferdiskurses“ zu sprechen, denn Uwe Timm und Tanja Dückers sind eindeutig kritische Stimmen, die eine andere Interpretation der Kriegsereignisse liefern und eine andere Einstellung zur Schuldfrage haben als diejenigen, die im Nachhall des Historikerstreits vor allem die deutsche Seite in einer Opferrolle sehen wollen. Wo Ulla Hahn und Arno Surminski Zuschreibungen wie Täter und Opfer generell in Frage stellen, bekräftigen und markieren Timm und Dückers deren Sinn, ohne dabei einseitig oder undifferenziert zu werden.
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V ERGLEICHENDE A NALYSE
DER
IN DEN UNTERSUCHTEN
K RIEGSDEUTUNGEN
P ROSAWERKEN
In diesem vergleichenden Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, zu welchen Deutungsmustern deutsche und russische Schriftsteller greifen, um die politisch kontroversen Aspekte des Kriegsgeschehens zu beschreiben und zu erklären. Wie wird die Rolle der Ideologien – des Nationalsozialismus und des Kommunismus – interpretiert? Wird Empathie für den ehemaligen Feind gezeigt? Wie gehen die Autoren und ihre Protagonisten mit Gewissenskonflikten angesichts des Krieges um? Was wird im Kriegsalltag besonders betont und erinnert? Wie erklären die Autoren allgemein den „Sinn“ der Tragödie Krieg – welche Bedeutung hat die Geschichte des Krieges für Gegenwart und Zukunft? Diese Interpretationen reflektieren im weitesten Sinne die „politische Deutungskultur“ der jeweiligen Länder. Wichtig ist, die beiden Perspektiven miteinander zu vergleichen und zu erkennen, wo sich Berührungspunkte, wo Unterschiede feststellen lassen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Vor diesem Hintergrund kann letztlich das Problemfeld umrissen werden, welche Rolle Literatur in der Auseinandersetzung um Erinnerung spielt und welche Bilder von politisch umstrittenen Geschichtsbegebenheiten von ihr produziert und an die Leser weitergegeben werden.
Die Rolle der Ideologie Viele Historiker gehen davon aus, dass Ideologie ein wichtiger Faktor hinsichtlich der Motivation im Krieg an der Ostfront gewesen sei. Auf beiden Seiten hätte Propaganda dazu gedient, die „Kampfmoral“ zu stärken, die Soldaten von der „gerechten Sache“ zu überzeugen, für die sie ihr Leben lassen sollten, und die Identifikation mit dem Kollektiv zu ermöglichen, für das sie sich opfern sollten. 1 Als wichtige Motivations1
Vgl. Wette, Wolfram: Die Wehrmacht: Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt a. M. 2002; Bartov, Omer: Hitler's army: Soldiers, Nazis, and War in the Third Reich. New York 1991; Latzel, Klaus: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939-1945. 2. Aufl. Paderborn 1998; Proskouriakov, 173
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gründe auf der deutschen Seite werden vor allem Überlegenheitsgefühle gegenüber den slawischen „Untermenschen“ und Juden genannt, der Glaube an die eigene Rassenstärke und die Überzeugung, dass die abendländische Kultur vor der „asiatischen Barbarei“ verteidigt werden sollte.2 Auch zeigt sich die Affinität der Wehrmachtsangehörigen zum Nationalsozialismus „in ihrer ausgeprägten Glaubensbereitschaft gegenüber dem Führer, in ihrer Reproduktion des Hitlermythos, dem sie wohl noch länger und stärker verfallen waren als die Zivilbevölkerung.“3 Für die sowjetische Seite betonen Historiker unter anderem die Überzeugung von der Notwendigkeit der Landesverteidigung, Existenzund Freiheitskampf sowie Opferbereitschaft der Bevölkerung als ausschlaggebende Motive zum Kampf gegen die Invasoren. „Unter dem Zeichen dieser Gefühle – Liebe zur Heimat und Hass auf den Feind – erlebte der sowjetische Soldat den ganzen Krieg.“4 Doch die historischen Tatsachen haben oft mit dem Geschichtsbild der Bevölkerung nicht viel zu tun. Gerade wenn der Abstand zu einem historischen Ereignis größer wird, verfestigen sich alte und entstehen neue Geschichtsbilder, die den historischen Fakten oft widersprechen, unangenehme Tatsachen auslassen und von der aktuellen gesellschaftspolitischen Konjunktur beeinflusst sind. Schriftsteller sind neben den Filmemachern wichtige Produzenten solcher Geschichtsinterpretationen. In diesem Abschnitt möchte ich der Frage nachgehen, wie deutsche und russische Schriftsteller die Gründe erklären, aus denen Soldaten auf beiden Seiten zum Sterben bereit waren. Zu welchen Interpretationsmustern greifen zeitgenössische Schriftsteller, um ihren Lesern die weltanschauliche Seite des Krieges gegen die Sowjetunion zu verdeutlichen? Was scheint den Autoren wichtig zu sein für die Beantwortung der Frage „Mit welchen Ideen im Kopf haben wir damals gekämpft?“ In der Analyse interessieren mich beide Ebenen: Sowohl die Interpretation des Autors/der Autorin als auch die Interpretationen, die sie ihren Figuren in den Mund legen. Die Frage nach Werten im Krieg bestimmt auch die Auseinandersetzung mit der Gewissensfrage sowie die Konstruktion des Eigen- und Fremdbildes: Was führte uns in den Kampf? Waren das Motive, auf die man stolz sein kann, oder soll man sich für sie schämen? Rechtfertigen sie die Kriegsverluste?
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Alexander: Feldpost aus Stalingrad: Kriegswahrnehmung und soziales Bewusstsein deutscher und russischer Soldaten. Berlin 2004. Vgl. Wette, Wolfram: Die Wehrmacht, S. 102-104. Latzel, Klaus: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939-1945, S. 371. Senjavskaja, Elena: 1941-1945. Frontovoe pokolenie. Moskva 1995, S. 84. 174
DIE ROLLE DER IDEOLOGIE
Das Unterkapitel ist in drei thematische Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt werden die ideologischen Einflüsse betrachtet, denen die Protagonisten in den analysierten Romanen ausgesetzt sind. Das Interesse hier gilt der Frage, welchen Mitteln der Ideologievermittlung die Autoren eine besondere Bedeutung beimessen. Wie beurteilen sie die Rolle des Staates im Prozess der politischen Indoktrination? Welche anderen Institutionen haben Werte transportiert, mit denen die Protagonisten später in den Krieg zogen? Im zweiten Abschnitt geht es um die Überzeugungen und Motivationen der Protagonisten im Krieg. Waren es die Werte, die von staatlichen Institutionen propagiert wurden, oder andere? Welchen Stellenwert messen die Autoren der Staatsideologie und Propaganda in der Kriegserfahrung ihrer Protagonisten bei? Im dritten Abschnitt wird untersucht, wer in den Romanen als Ideologievermittler definiert wird. Ist es eine Personengruppe, die sich von anderen Romanfiguren absondern lässt, oder wird eine solche klare Trennung nicht vollzogen?
Ideologische Beeinflussungen Indoktrination und Propaganda wurden vor und während des Krieges auf beiden Seiten betrieben, um die Motivation zum Kampf zu stärken. In den untersuchten Werken wurden folgende Indoktrinationsmittel „von oben“ besonders hervorgehoben: Erziehung Literarische Vorbilder Befehle und Richtlinien Diese drei Themenkomplexe möchte ich im Folgenden erläutern. Erziehung „Er wurde geschliffen“ – diesen Ausdruck benutzt Uwe Timm, um die Art und Weise zu beschreiben, wie sein Bruder und die meisten seiner Altersgenossen für die staatliche Indoktrinierung „reif“ gemacht wurden.5 „Geschliffen“ wurde Timms Bruders zuerst beim Jungvolk und in der HJ, den Jugendorganisationen der NSDAP, mit „Geländespielen“, „Schießübungen“ und „Nachtmärschen“, wobei die Erziehung im nationalsozialistischen Sinne im Vordergrund stand. Später machte er die Ausbildung bei der Waffen-SS, im Kriegsdienst gab es auch einen welt-
5
Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 93. 175
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anschaulichen Unterricht. Hans Musbach im Roman von Ulla Hahn erzählt ebenso von seiner Erziehung im Geiste des Nationalsozialismus: „Zäh wie Leder und so weiter, Ehre, Treue, Kameradschaft. Zackig.“6 Während Uwe Timm durch diese Prägung des Bruders seine spätere Einstellung im Russlandfeldzug zu erklären versucht, bleibt Hans Musbach von der Nazi-Ideologie nur teilweise beeinflusst. Er betont das Gute an seiner HJ-Zeit („Wie begeistert war er durch die Wälder von Potsdam gezogen, hatte Zelte aufgebaut und Lagerfeuer geschürt“)7 und lässt die Nazi-Ideologie beiseite: „Mit Überzeugung hatte er damals gesungen, was ihm aus dem Herzen sprach, und das andere, das, was ihm nicht passte, auch, in wessen Namen er den Spaten schwang, das sang er beiseite oder formte mit den Lippen das Götz-Zitat.“8 Beim Militär gab es, so Musbach, keine ideologische Erziehung: „Man ließ ihre Köpfe in Ruhe.“9 Auch der Großvater in Tanja Dückers’ „Himmelkörper“ verliert kein Wort über die ideologische Seite des Krieges, die Autorin geht dieser Frage nicht weiter nach. Im Roman von Arno Surminski werden keine ideologischen Erziehungsmaßnahmen bei den deutschen Truppen während des Ostfeldzugs erwähnt. Im Gegensatz dazu räumen russische Autoren dem Thema der politischen Bildung in der Truppe einen sehr großen Platz ein. Die Indoktrination durch politische Offiziere wird von ihnen dabei scharf attackiert. Die Tätigkeit der Staatsorgane, die an der Front für die politische Einflussnahme zuständig waren – Kommissare, Offiziere der „Sonderabteilungen“, NKWD und SMERŠ – wird von allen vier russischen Schriftstellern ausführlich dargestellt, dabei meistens negativ. Dem Verhältnis zwischen den Soldaten und den politischen Organen im Krieg möchte ich später ausführlich nachgehen. Literarische Prägungen und heroische Symbolfiguren Werte, mit denen die Protagonisten in den von mir untersuchten Romanen in den Krieg zogen, wurden zum Teil durch ihre Lektüre bestimmt, in denen Ideale wie Tapferkeit, Pflichterfüllung und Selbstaufopferung vermittelt wurden. Uwe Timm und Ulla Hahn nennen vor allem Ernst Jüngers Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg „In Stahlgewittern“ (1920) und seine Ansichten zum Krieg, die die deutsche Jugend in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen prägte. Michail Kononow liefert das sowjetische Pendant dazu – den Kultroman von Nikolaj Ostrowskij „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (1934). Bereits die 6 7 8 9
Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 32. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 34. 176
DIE ROLLE DER IDEOLOGIE
Titel deuten auf eine gewisse Parallelität hin: beide Werke vermittelten die Idee der Härte („Sei hart wie Kruppstahl“ – der Spruch aus dem Dritten Reich, den Uwe Timm und Ulla Hahn erwähnen) und der asketischen Männlichkeit. Ernst Jünger, dessen Bücher im Deutschland der 30er Jahre eine große Popularität genossen, sieht den Krieg als Initiationsritual und Befreiung aus dem bedrückenden Komfort und der Sicherheit des bürgerlichen Lebens. Kriegserfahrung erfüllt den Kämpfer mit dem Gefühl der Ekstase und Überlegenheit gegenüber der „zivilen“ Menschheit, die diese Erfahrung nicht gemacht hat. Den Krieger sieht Jünger als „Urmensch“ und „Übermensch“: „Sie waren Überwinder, Stahlnaturen, eingestellt in den Kampf in seiner grässlichsten Form. [...] die schärfste Versammlung des Körpers, der Intelligenz, des Willens und der Sinne.“10
Uwe Timm sieht in den Idealen, die in Jüngers Werken ihre Verherrlichung fanden und von der ganzen Generation mit Begeisterung aufgenommen wurden, den Ursprung des Kriegsrausches, der Gewaltbereitschaft, die zur Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen geführt hat. Nicht der Mut, sich den mörderischen Befehlen zu verweigern, war gefragt, sondern der Mut zu töten. Timm schreibt, dass „[...] dieser Mut, die Pflicht, der Gehorsam zugleich diejenigen Werte waren, die auch die Todesfabriken hatten länger arbeiten lassen, selbst wenn man es nicht wusste – aber es doch hätte wissen können [...]“11 „Sei tapfer“, „reiß dich zusammen“ – mit diesen Parolen wuchs Timms Bruder auf. Die gleichen Schlagwörter wiederholt Michail Kononows Protagonistin Motte. Zwang wurde von ihr so verinnerlicht, dass er als eigener Wille empfunden wird. Mottes Vorbild ist Pavka Korčagin, der Held des Romans „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolaj Ostrovskij.12 Allein im Jahre 1936 wurde dieses Buch in der Sowjetunion 36 Mal verlegt. Die erste Verfilmung des Regisseurs Mark Donskoj aus dem Jahr 1942 wurde zum Kult. Der Film ist vom Krieg geprägt, eine kurze Episode am Anfang des Romans – Ukraine unter deutscher Besatzung – wird im Film zum wichtigsten Inhalt. Dort gibt es folgende Szene:
10 Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis. In: Sämtliche Werke. Band VII. Stuttgart 1978, S. 32. 11 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 153. 12 Ostrovskij, Nikolaj: Kak zakaljalas´ stal´. Moskva 1947. 177
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„Man muss die Deutschen töten. Verstehst Du?“ „Der Brand geht durch die ganze Ukraine. Die Erde brennt unter den Deutschen. Doch bald wird ihr eigenes Blut durch die Strassen fließen, auf denen sie zu uns gekommen sind.“ „Man muss sie töten.“ „Richtig. Vernichten. Und nicht nur die Rote Armee, sondern alle, die Gewehre, Heugabeln, Äxte in der Hand halten können. Der Feind ist grausam.“13
Ostrovskijs Roman spricht von Selbstaufopferung und fordert revolutionäre Askese. Nicht der kleinste Komfort oder Wohlstand wird geduldet, selbst ein unbedeutendes privates Interesse wird nicht toleriert, denn das gilt als eigennützig. Alles wird geopfert, und wenn es nichts mehr zu opfern gibt, opfert man sich selbst. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, „Du bist nichts, das Volk ist alles“ – mit diesen Ideen wuchs man in der Sowjetunion und im Dritten Reich auf, und die Erziehung auf der Grundlage dieser Werte – Tapferkeit, Pflichterfüllung und Härte – hat später ihre zerstörerischen Auswirkungen gezeigt. Motte im Roman von Michail Kononow träumt vom heldenhaften Tod „Fürs Vaterland! Für Stalin!“, wie es in der offiziellen Propaganda dargestellt wurde. Ihr Vorbild ist Aleksandr Matrosov, eine der wichtigsten Symbolfiguren im sowjetischen Pantheon der Kriegshelden, der sich mit diesen Worten vor eine Schießscharte warf. In keinem der untersuchten Romane deutscher Autoren sind ähnliche symbolische Heldenfiguren bei den deutschen Truppen zu finden, weder als Inhalte der Propaganda noch als Vorbilder im Kampf.14 Befehle und Richtlinien In den Texten aller deutschen Autoren außer Tanja Dückers finden sich Befehle und Richtlinien, die von den Befehlshabern an deutsche Truppen im Osten gerichtet wurden. Diese Richtlinien geben unmissverständlich den rassenideologischen Charakter des Russlandfeldzuges wieder und wurden auch zur Propaganda eingesetzt. So zitiert Uwe Timm die Ansprache Heinrich Himmlers an Männer der Waffen-SS in Stettin, am 13. Juli 1941:
13 Zit. in: Wajl´, Petr: Pavka Korčagin. Sendung „Geroi vremeni“ (2004) des Radio Svoboda. URL: http://www.svoboda.org/programs/cicles/hero/ 12.asp, Stand 30.10.2007. 14 Denn real gab es durchaus symbolische Heldenfiguren – z.B. Horst Wessel oder der Panzergeneral Rommel u.a. 178
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„Dies ist ein Weltanschauungskampf und ein Kampf der Rassen. Bei diesem Kampf steht hier der Nationalsozialismus, eine auf dem Wert unseres germanischen, nordischen Blutes aufgebaute Weltanschauung, steht eine Welt, wie wir sie uns vorstellen: schön, anständig, sozial gerecht, die vielleicht im einzelnen mit manchen Fehlern noch behaftet ist, aber im ganzen eine frohe, schöne kulturerfüllte Welt, so wie unser Deutschland eben ist. Auf der anderen Seit steht ein 180-Millionen-Volk, ein Gemisch aus Rassen und Völkern, deren Namen schon unaussprechlich sind und deren Gestalt so ist, dass man sie bloß ohne jede Gnade und Barmherzigkeit zusammenschießen kann.“15
Diese Ansprache gibt das menschenverachtende, rassistische Russlandbild der Nationalsozialisten wieder und weckt bei Uwe Timm den Verdacht, dass sein Bruder auch an Hinrichtungen von Partisanen, Zivilisten und Juden teilnahm. Auch wenn er keine schriftlichen Beweise dafür findet – weder im Tagebuch noch im Kriegstagebuch der Totenkopf-Division, in der der Bruder diente (im Archiv fehlte der Inhalt der Mappe mit den entsprechenden Informationen) – denkt er weiter und schließt diese Möglichkeit nicht aus. Timm schöpft den Verdacht, weil die Richtlinien, die der Bruder als Teilnehmer des Russlandfeldzuges bekam, zum entsprechenden Handeln aufforderten. Timm erwähnt den Befehl des Generalfeldmarschalls von Reichenau vom 10. Oktober 1941, in dem das unmenschliche Vorgehen gegen die Bevölkerung der Sowjetunion nicht nur gerechtfertigt, sondern direkt angeordnet wird. „Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem oder artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muss der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben.“16
Die Verknüpfung zwischen Bolschewismus und Judentum in der NaziPropaganda wird von den Autoren ebenso angesprochen. Timm zitiert den Befehl des Feldmarschalls der Wehrmacht Erich von Mansteins, der nach dem Krieg die Bundesregierung beim Aufbau der Bundeswehr beriet: „Das jüdisch-bolschewistische System muss ein für allemal ausgerottet werden. Nie wieder darf es in unseren europäischen Lebensraum eingreifen.“17 „Der Kommunismus sei unser schlimmster Feind, der Bolschewismus übles Werk der Juden“,18 fasst Hans Musbach im Roman
15 16 17 18
Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 36. Ebd., 146. Ebd., S. 104. Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 37. 179
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von Ulla Hahn den Inhalt der Indoktrination zusammen. Bei Arno Surminski finden sich die Richtlinie für das Verhalten der Truppe in Russland und ein Auszug aus dem Kommissarbefehl: „Der Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jeden aktiven und passiven Widerstandes... Die politischen Kommissare sind, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen.“19
Im Roman selbst wird allerdings nicht gezeigt, dass Kommissare gemäß diesem Befehl erschossen werden. Während die deutschen Schriftsteller von Propaganda gegen den „äußeren“ Feind sprechen, rücken die russischen Autoren vor allem die propagandistischen Maßnahmen des Staates in den Vordergrund, die gegen die „inneren“ Feinde, gegen die „Eigenen“ gerichtet waren. Wenn in Romanen Befehle erwähnt werden, dann sind es meistens solche, die die eigenen Truppen einschüchtern sollen. Aufrufe zum Hass gegen die Deutschen werden nur von Viktor Astaf´ev beiläufig erwähnt. Der Kampf gegen die inneren Feinde, dessen Ausmaße während des Großen Terrors der 30er Jahre die Sowjetunion erschüttert haben, wurde auch an der Front fortgesetzt: „An der Front wird der Kampf nicht schwächer. Es wird verhaftet und erschossen, aber wer soll denn dann den Krieg führen?“,20 fragt Viktor Astaf´ev in „Verdammt und Umgebracht“. Die Atmosphäre der Angst werde vom Staat geschürt. Diesem Zweck diene der Spitzeldienst der NKWD, der überall nach Verrätern, Defätisten und Panikmachern suche. Auch der Befehl 227 „Kein Schritt zurück!“ und die daraufhin formierten Sperrbataillons, deren Aufgabe es war, im Fall des spontanen Rückzugs auf die Truppen zu schießen, haben laut Astaf´ev keinen anderen Zweck als Einschüchterung. In der Einschüchterung bestand der Sinn der öffentlichen Vergeltungshinrichtungen, die in den befreiten Gebieten vom NKWD durchgeführt wurden: Indem ehemalige „polizai“ (Einheimische, die sich zum Dienst in der Polizei in den besetzten Gebieten freiwillig meldeten oder zwangsrekrutiert wurden), die von den Deutschen eingesetzten Dorfältesten und andere mutmaßlichen Kollaborateure vor den Augen der Bevölkerung gehenkt wurden, erinnerten die Machthaber ihre Untertanen an ihre strafende Hand. Als er einer solchen Hinrichtung beiwohnen musste („[...] er konnte sich nicht drücken, es hieß, die Anwesenheit der höchsten Sterne sei politisch wichtig für die Be19 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 87. 20 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 164. 180
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völkerung...“), bemerkt General Kobrissow im Roman von Georgi Wladimow anschließend: „Die ,politisch unterentwickelte’ Bevölkerung nahm das alles verwirrt und verblüfft auf, so als ob sie sich zum zweiten Mal unter Besatzung fühlte.“21 Ähnlich deutet Kobrissow auch den Befehl 227 „Kein Schritt zurück!“. „Angst wurde mit Angst ausgetrieben, und sie wurde ausgetrieben von Menschen, die selbst einen panischen Schrecken davor hatten, den Plan nicht zu erfüllen und an den Platz der Todgeweihten gestellt zu werden. Die Frage: „Habt ihr schon viele erschossen?“ war damals gang und gäbe. Wahrscheinlich wurde zu dem verheerenden Befehl die Anordnung mitgeliefert, wie viele „Panikmacher“ und „Feiglinge“ in jeder Einheit aufzuspüren seien. Und es wurden so viele erschossen, wie es die Norm verlangte.“22
Dauerhaftes Misstrauen, allgegenwärtige Kontrolle und Spitzeldienst, drohende Repressalien, stetige Angst – in diesen Umständen leben Wladimows Protagonisten. Und gleichzeitig, so Wladimow, versuchten viele, sich Freiräume zu erkämpfen, in denen sie Verantwortung übernehmen, Entscheidungen treffen und sich so wieder stärker fühlen konnten. Den Befehl „Kein Schritt zurück!“ und seine verheerende Wirkung erwähnt auch Viktor Astaf´ev. Er zeigt die Erschießung der achtzehnjährigen Zwillingsbrüder Snegirjov, die – passend zur von Wladimow erwähnten „Anordnung von oben“ – kurz nach der Bekanntgabe des Befehls 227 für drei Tage unerlaubt ihre Mutter im Dorf nahe der Kaserne besucht haben und nun als Deserteure erschossen werden. Astaf´ev schreibt, dass laut diesem Befehl auch die Familien der Schuldigen in Sippenhaft genommen wurden. Zusammenfassung Die Analyse ergab drei „Institutionen“, denen in den hier untersuchten Romanen eine besondere Bedeutung im Prozess der ideologischen Erziehung beigemessen wird. Zum Ersten: Uwe Timm und Ulla Hahn betonen die Bedeutung der Erziehung im nationalsozialistischen Sinne. Doch nur Uwe Timm weist auf politische Indoktrination der Wehrmachtsangehörigen hin. In den Romanen von Ulla Hahn, Arno Surminski und Tanja Dückers bleibt dieses Thema unerwähnt. Die russischen Autoren dagegen räumen der politischen Erziehung in der Truppe durch politische Offiziere einen großen Platz ein.
21 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 309. 22 Ebd., S. 266. 181
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Zum Zweiten: Ulla Hahn, Uwe Timm und Michail Kononow weisen auf die Bedeutung literarischer Vorbilder hin. Die Werte, die in Werken Ernst Jüngers und Nikolaj Ostrovskijs vermittelt wurden, übten einen großen Einfluss auf die heranwachsende Generation in den 30er Jahren aus, und das wird von den genannten Autoren in ihren Texten gezeigt. Im Gegensatz zu russischen Autoren, die von einer großen Bedeutung heroischer Symbolfiguren sprechen (Aleksandr Matrosov, Zoja Kosmodem´janskaja etc.), ist dieser Aspekt der ideologischen Beeinflussung in den Werken deutscher Autoren nicht präsent, obwohl es auch auf der deutschen Seite einige symbolische Heldenfiguren gab, wie Horst Wessel oder der Panzergeneral Rommel. Zum Dritten: der größte Platz wird der Rolle der Befehle und Richtlinien eingeräumt, mit deren Hilfe Staatsideologie an die kämpfenden Truppen weitergegeben wurde. Während die Befehle, die die deutschen Autoren erwähnen, gegen den Feind gerichtet sind, gilt das Interesse der russischen Autoren vor allem den Befehlen, die sich gegen die „Eigenen“ richten.
Weltanschauung und Selbstmotivationen In diesem Abschnitt möchte ich der Frage nachgehen, zu welchen Werten sich die Protagonisten in den untersuchten Romanen bekennen. Wie bereits festgestellt, werden von den meisten Autoren Einflüsse der nationalsozialistischen und kommunistischen Propaganda erwähnt. Nun ist zu fragen, ob die Autoren ihre Romanfiguren diese Werte auch teilen lassen. Welche Teile der staatlichen Propaganda lassen sie in die Lebenswelt ihrer Protagonisten einfließen? Wie erklären die Autoren die weltanschaulichen Gründe, aus denen die Protagonisten kämpften? Glaube an den Sieg Der Kriegsalltag zeichnete sich für seine Teilnehmer durch Veränderungen aus, die das schwankende „Kriegsglück“ und die Erfahrungen des Kampfes mit sich brachten. Wahrnehmungen bei den Soldaten waren dementsprechend nicht statisch, sondern ständig einem Prozess der Vergewisserung und Wandlung unterworfen. Entscheidender Motor der Kampfmoral war dabei der Glaube an den Sieg, und dieser Glaube hat auf beiden Seiten Veränderungen erfahren – ein Motiv, das auch Schriftsteller aufgreifen. Bei den deutschen Truppen war am Anfang des Russlandfeldzuges wegen der anfänglichen Erfolge der Glaube an den Endsieg sehr verbreitet. Doch vor allem nach der Niederlage in der Stalingrader 182
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Schlacht begann dieser Glaube immer mehr zu schwanken.23 Diesen Mentalitätswandel erwähnt Daniil Granin in seiner Beschreibung des ehemaligen Wehrmachtssoldaten Karl Ebert: Auf den Bildern in seinem Kriegsalbum aus dem Jahre 1942 wirkt er noch „selbstsicher“ und „selbstverliebt“ – ganz anders, als die „verfrorenen, in Lumpen verpackten“ Gefangenen des Jahres 1944, wie sie im Fotoalbum Knebels, eines Bekannten von Ebert, dargestellt sind. Und Uwe Timm staunt über die Tonveränderung im Tagebuch seines Bruders: Am Anfang träumt er noch davon, dass „Russland bald kaputt wäre“, während der letzte Eintrag von unerklärlicher Frustration gekennzeichnet ist: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen Buch zu führen.“24 Unreflektiert gibt der Großvater Mäxchen im Roman von Tanja Dückers diesen Mentalitätswandel der deutschen Truppen im Russlandkrieg wieder: Am Anfang „lief alles wie am Schnürchen“, und später wurde alles „schwieriger“, und mit diesem „später“ begann das ganze Elend des Rückzugs, eine für die Soldaten nicht nur militärische, sondern auch ideologische Niederlage.25 „Wir eilen von Sieg zu Sieg. Führer befiehl, wir folgen dir!“, zitiert Arno Surminski den Brief eines zwanzigjährigen Fahnenjunkers, den er an seine Mutter am ersten Tag des Russlandfeldzuges schrieb.26 Auch andere Angehörige der Wehrmacht in seinem Roman zweifeln nicht am siegreichen Ausgang des Krieges und daran, dass sie aus gutem Grund in Russland sind, nämlich um „den Dreck aufzuräumen“. Eine andere Interpretation findet man bei Ulla Hahn, deren Hauptfigur Hans Musbach mit Überzeugung zu seiner Tochter sagt, dass in Deutschland keine Kriegseuphorie herrschte: „Wollten ihn [den Krieg – E.S.] die Deutschen? Eine Mehrheit? Ich glaube nicht. Es gab in Deutschland 1939 keine Stimmung wie 1914. Du weißt das.“27 Doch auch laut der Interpretation von Ulla Hahn gab es nur wenige Deutsche, die am Anfang des Krieges gegen die Sowjetunion nicht an den Endsieg glaubten. Der Vater von Musbachs bestem Freund Hugo ist eine Ausnahme: „Das ist der Anfang vom Ende“, sagt er, und steht dabei „ziemlich allein mit seiner Meinung.“28 23 Allerdings gab es auch am Ende des Krieges noch viele, insbesondere junge Soldaten, die mit dem Glauben an den Endsieg verbittert - und aussichtslos - weiter kämpften. 24 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 151. 25 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 87. 26 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 60. 27 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 50. 28 Ebd., S. 36. 183
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Auch in der Sowjetunion wandelte sich die Stimmung im Laufe des Krieges. Trotz der Entschlossenheit, mit der Außenminister Molotow in seiner ersten Rundfunkansprache nach Kriegsausbruch verkündete, „Unsere Sache ist gerecht. Der Sieg wird unser sein!“, zweifelten viele daran, dass die Sowjetunion siegreich aus dem Krieg hervorgehen würde. Zu groß waren die ersten Verluste, zu schnell bewegten sich die deutschen Truppen in Richtung Moskau, Leningrad und Südrussland. Daniil Granin beschreibt im ersten Teil seiner Novelle „Jenseits“ die bedrückte Stimmung in den sowjetischen Truppen bei Leningrad im Herbst und Winter 1941. Sie sind gezwungen, sich aus den Leningrader Vororten zurückzuziehen und alles den Deutschen zu überlassen. „Die Stadt war zum Tode verurteilt. Der Park und das Schloss – alles war zum Tode verdammt. Šagins Bataillon blieb als letztes. Sie werden nachts aufbrechen, wenn sie bis zum Anbruch der Dunkelheit durchhalten. [...] Er wusste wirklich, was passieren würde. Bei Tagesanbruch würden auf diesen Alleen die Deutschen einmarschieren, zuerst die Kundschafter, dann Pioniere, Infanterie, später würden Autos mit Generälen ankommen, sie würden Bilder machen... Dieses Wissen brachte ihm nichts, er konnte nichts verändern, nichts verhindern.“29
In „Der General und seine Armee“ erhebt der Autor dagegen keine Zweifel am siegreichen Ausgang des Krieges. Der Fahrer Sirotin legt die neuen amerikanischen Reifen „für Europa“ zurück. Die Protagonisten verwenden oft den Ausdruck „nach dem Krieg“, was faktisch „nach dem Sieg“ bedeutet. So träumt Generals Ordonnanz Schesterikow davon, wie er auch „nach dem Krieg“ dem General dienen wird; der General aber ahnt seine Unbrauchbarkeit nach dem Krieg: „Was werde ich denn nach dem Krieg tun – ich kann es mir nicht vorstellen... Ich bin ein Mensch des Feldes. Des Kampffeldes.“30 Auch die Telefonistin und SMERŠInformantin Sojechka sagt, Zustände im besetzten Europa vorahnend, zum Fahrer des Generals: „In Europa wird sowieso alles anders. [...] Dort sucht ihr euch Weiber, so viele ihr wollt und welche ihr wollt. [...] Auch solche von euch, die überhaupt nichts sind, Nullen ohne Zahl vorm Komma, aber mit Gewehr, da hilft kein Geschrei.“31 Der siegreiche Ausgang des Krieges wird somit vom Autor bereits am Anfang des Romans – und am Anfang des Krieges – vorausgesagt.
29 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 665. 30 Vladimov, Georgij: General i ego armija, S. 158. 31 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 28. 184
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Patriotismus versus Angst Schon während der Perestrojka wurden in der Sowjetunion Zweifel laut, ob der Glaube an das Regime so stark war, wie es die sowjetische Historiographie präsentierte, und ob patriotische Gefühle tatsächlich alle ergriffen hatten, was in Anbetracht der großen Zahl an Überläufern, Kollaborateuren und Deserteuren unwahrscheinlich ist. Auch heute herrscht keine Einigkeit darüber, ob Rotarmisten aus Patriotismus oder aus dem Glauben an die Partei und die Führung gekämpft haben, ob Patriotismus und Kommunismus im Krieg für sie eine ideelle Einheit bildeten oder nicht. Umstritten ist auch die These von der Freiwilligkeit und dem Enthusiasmus auf Grundlage des patriotischen Gefühls. Die Macht von Angst und Einschüchterung, beides wichtige Faktoren im stalinistischen System, wird der „Patriotismusthese“ entgegengesetzt. Diese Ambivalenz zwischen Kämpfen aus Angst und unter Zwang einerseits und dem aufrichtigen Ausbruch des Patriotismus andererseits (wobei der Begriff „Heimat“ in den Texten unterschiedlich aufgefasst wird) durchzieht die Werke aller vier russischen Schriftsteller. Am deutlichsten wird diese Atmosphäre der „unüberwindlichen Angst“ im Roman von Georgi Wladimow. „Sie kam von allen Seiten, von unten und von oben, sie schwebte in der Luft, die du atmetest, sie schwamm im Wasser, das du trankst. Und sie machte aus den verwegensten Helden Angsthasen, was diese nicht daran hinderte, auch weiterhin Helden zu sein.“32
Die Idee der Vaterlandsverteidigung wird in „Der General und seine Armee“ widersprüchlich gedeutet. Er beschreibt einerseits die Atmosphäre der Angst, die Erinnerung an die Kollektivierung und den Großen Terror – alles Dinge, die der staatlichen Propaganda Schwierigkeiten machten, die Bevölkerung von der Notwendigkeit des Kampfes für eine solche Heimat zu überzeugen. Kennzeichnend für die Einschüchterungsmethoden des Regimes und die Unterwerfung der Untertanen ist die Baugeschichte des sowjetischen Panzers T34, die im Roman ein gefangener sowjetischer General dem deutschen „Panzergenie“ Guderian erzählt. „Der Name des russischen Konstrukteurs ist Koschkin. Ich glaube, man hat ihm Trotzkismus angehängt, vielleicht auch ein Attentat auf Stalin. [...] Die Stimulierung war hier die wichtigste Antriebskraft: Zusatzverpflegung und jeden Monat einmal Besuch der Ehefrau, vierundzwanzig Stunden in einer Einzelzelle. [...] Vier Gefangene, inspiriert vom Freiheitstraum 32 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 437. 185
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und einer zusätzlichen Schüssel Suppe, hatten einen echten Wunderpanzer geschaffen [...]“ 33
Er formuliert auch die Erklärung für dieses Paradox des Vaterländischen Krieges: „Nicht Stein und Eisen halten dieses Gefängnis aufrecht. Es steht und fällt mit seinen Häftlingen. Gäbe es nicht wenigstens einen patriotischen Gefangenen, würde es einstürzen. [...] Koschkin ist nicht der einzige. Bei uns gibt es von diesen Patrioten mehr als genug“.34 Gerade im Patriotismus sieht Wladimow die Kraft, die die Rote Armee und die sowjetische Bevölkerung im Krieg maßgeblich geprägt und gestärkt hat. Der alte zaristische General in Wladimows Roman, der zwanzig Jahre „vor Angst gezittert hatte, dass sein Generalsrang enthüllt werden würde“ und seine Uniform auf dem Boden einer Truhe versteckt hatte, verzichtet darauf, im Namen der Deutschen Bürgermeister von Orjol zu werden, und erklärt dem General Guderian, „jetzt kämpfen wir für Russland, und darin sind wir uns einig.“35 Um an die patriotischen Gefühle jenseits der kommunistischen Ideologie zu appellieren, betonte Stalin – gleichzeitig mit der Aufhebung des Religionsverbots – die Kontinuität der Verteidigungskriege in der russischen Geschichte. Der Krieg gegen Deutschland bekam seinen Platz in der Reihe der glorreichen Kriege, die Russland in der Vergangenheit geführt hatte. Die sowjetische Heimat zu verteidigen – mit Lagern, Hungersnöten, Spitzeln und Terror – schien für viele weniger lohnend zu sein, als für Russland mit seiner Tradition der Verteidigungskriege gegen die Invasoren – Mongolen, Polen, Franzosen und nun auch Deutsche – zu kämpfen. Stalin erkannte die Macht der traditionellen, vorrevolutionären Werte. „Brüder und Schwestern! [...]“, so wandte er sich in seiner ersten Rundfunkansprache nach dem Kriegsausbruch an die sowjetische Bevölkerung. Bemerkenswert war dabei diese quasi religiöse Anrede, die die Bevölkerung im Leid vereinen sollte und deshalb neben die traditionellen Formulierungen „Genossen“ und „Bürger“ gestellt wurde. Nicht nur die Kirche wurde wieder erlaubt. Schulterstücke, die als Symbol zaristischer Armee nach der Revolution abgeschafft worden waren, wurden wieder eingeführt. Feldherren aus der Vergangenheit, wie Aleksandr Suvorov und Michail Kutuzov, wurden zu Vorbildern erklärt. Der Krieg bekam das Attribut „Vaterländischer“, in Anlehnung an den Vaterländischen Krieg 1812, als Napoleons Armee in Russland eine Niederlage erlitt. Georgi Wladimow sieht in all diesen Propagandamaßnahmen eine Geste, die den Ausgang des Krieges für die Sowjetunion be33 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 106. 34 Ebd., S. 107. 35 Ebd., S. 114. 186
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stimmt hat. Die Rundfunkansprache Stalins am 3. Juli 1941 hatte dabei eine große symbolische Bedeutung: „In Wahrheit hatte Stalin gar nichts versprochen, hatte keines seiner Verbrechen und keine seiner Grausamkeiten zugegeben, er hatte nur die eine Fahne eingezogen und eine andere gehisst. Doch auch Monate danach hatte Hitler diesen Fahnenwechsel nicht bemerkt. [...] Er hatte der Rede kein Gehör geschenkt. Nach dieser Rede aber leisteten nicht mehr allein die Sowjets Widerstand, sondern ganz Russland.“36
Anders sieht diese ideologische Veränderung in der Darstellung Viktor Astaf´evs aus. Nach seiner Auffassung hatten diese Maßnahmen keine besondere Wirkung. Viele Soldaten verstanden nicht, warum jetzt plötzlich von Suvorov und Kutuzov die Rede war und zu welchem Zweck sie die Schulterstücke annähen sollten. „Wer Suvorov war, haben diese Soldaten auch vergessen, dachten, es sei irgendein wichtiger Kommissar aus Novosibirsk oder aus dem Regimentsstab. [...] Keine Worte, Gespräche, Belehrungen des Kommissars hatten auf diese Jungs eine Wirkung. Auch die Rehabilitierung Suvorovs, Kutuzovs, Ušakovs und Nachimovs inspirierte sie nicht. Wenigstens wurde nicht befohlen, die Schulterstücke auf den bloßen Körper, auf die Haut, anzunähen. Man witzelte böse: Es ist wärmer, sagt man, mit Schulterstücken, falls man zum Holzfällen oder zur Beschaffung des Brennholzes geschickt wird – es wird auf die Schulter nicht zu sehr drücken, ein Futterstoff immerhin. Mit der Nadel operierten sie ungeschickt, viele – lustlos.“37
Astaf´ev hält nicht viel von diesen „Spekulationen mit Patriotismus“, für ihn ist es nichts anderes als eine neue Lüge Stalins und seiner Ideologen, mit der sie ihre Verbrechen maskieren. Major Zarubin, der im zweiten Teil des Romans „Verdammt und Umgebracht“ als ein moralisch integrer Offizier dargestellt wird, der seine Soldaten schont, sagt zu seinem Freund Lachonin: „Lass die Spekulation über die Heimatliebe für Musenok (politischer Kommissar – E.S.) – das Wort „Heimat“ gebraucht er wie einen Wischlappen, um Dreck abzuwischen.“38 Bei Michail Kononow wird die Ambivalenz zwischen Unterwerfung und aufrichtigem Enthusiasmus spürbar. Der Kommissar Tschaban flößt der 15-jährigen Motte ein: „R-r-reiß Dich zusammen, Töchterchen! [...] Es gibt ein Wörtchen, das heißt ,muss’! Und wenn das Vaterland es befiehlt, stehen wir alle wie ein Mann, Seite an Seite und uner-r-r36 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 118. 37 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 124, 224. 38 Ebd., S. 593. 187
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schütterlich...“39 Außerdem: „Unsere Männer sind Gold wert. Sie haben vor nichts und niemandem Angst, halten aus bis zuletzt.“40 Der Dialog zwischen Motte und dem Kommissar wirkt wie eine Szene der Hypnose, der Beschwörung. Kononow zeigt Übereinstimmung zwischen der Propaganda und dem aufrichtigen Glauben der Menschen an die Notwendigkeit des Kampfes und ihrer Opferbereitschaft. Sie kämpften also nicht nur, weil sie es mussten. Zwang versus Überzeugung Auch die deutschen Autoren vertreten unterschiedliche Positionen bezüglich des Verhältnisses von Freiwilligkeit und Zwang im Krieg, was in diesem Fall mit der Übereinstimmung bzw. Nicht-Übereinstimmung mit den Ideen des Nationalsozialismus und des Rassenkrieges zusammenhängt. Überzeugung erleichtert Gehorsam, oft heißt es, dass man den Krieg befürwortet und gerne Soldat ist. Wenn der Krieg gegen die Sowjetunion als Zwang dargestellt wird, impliziert es, dass die kriegsteilnehmenden Romanfiguren mit den Maximen des Vernichtungskrieges nicht einverstanden waren. Hans Musbach im Roman von Ulla Hahn vertritt die Meinung, dass die meisten deutschen Soldaten bei Kriegsausbruch keine nationalsozialistische Überzeugung aufwiesen: „Warum sollten wir gegen den Kommunismus kämpfen? [...] Ein „Volk ohne Raum“? Nein, einen Drang nach Osten spürten wir nicht. [...] Laut sangen wir nicht und am Ende brüllten wir auch nicht das gewohnte „Sieg Heil!“41 Gekämpft hat er aus Angst, weil ihm nichts anderes übrig blieb: „Letzten Endes sind wir eigentlich nur aus Feigheit dageblieben. Desertieren führte meist in den sicheren Tod, in der Truppe gab es wenigstens eine Chance zu überleben.“42 Doch beschreibt auch er eine gewisse Begeisterung für die Idee der Eroberung von Lebensraum im Osten: „[...] als wir anfangs fast wie Befreier durch die Ukraine zogen, schwärmte manch einer unserer Bauern von dem fetten Boden, der fruchtbaren Erde, und gönnte sich wohl auch einmal den Traum vom Gutsbesitzer.“43 Auch wenn es am Anfang des Krieges einige deutsche Soldaten gab, die an der NaziPropaganda zweifelten, so fanden die meisten im Laufe des Feldzugs die rassistischen Verurteile der Nazi-Propaganda bestätigt. „Hier trafen sie auf Hunger und Erbärmlichkeit, sahen das Elend mit eigenen Augen
39 40 41 42 43
Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 171. Ebd., S. 175. Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 37. Ebd., S. 51. Ebd., S. 37. 188
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[...]“,44 so Musbach über die Wahrnehmung Russlands durch seine Kameraden. „Du kannst Dir nicht vorstellen, welche Zustände hier herrschen; es war wirklich an der Zeit, dass mit einem eisernen Besen aufgeräumt wird“,45 schreibt Walter Pusch an seine Frau in „Vaterland ohne Väter“ von Surminski. Uwe Timm erwähnt die „Idee vom Herrenmenschen“, die ein treibender Faktor für den Russlandfeldzug und das Verhalten im Krieg war. „[...] Noch dem letzten der sozial Deklassierten war zu vermitteln, es sei besser, mit einem Karabiner zwölf Untermenschen bei der Arbeit zu bewachen, als selbst zu arbeiten.“46 „Auch Musbach hatte die Idee der „Volksgemeinschaft“ ergriffen; dass der Sohn des Arbeiters gleichviel gelten sollte wie der eines Arztes. [...] Dass es angeblich auf Leistung ankam und nicht mehr auf die Herkunft.“47 Dass dieser Gedanke bei der deutschen Truppe ankam, wird von keinem der Autoren bestritten. Die Frage bleibt nur, in welchem Maße und von wem er akzeptiert wurde, ob nur die kleine „Nazi-Minderheit“ diese Ideen teilte oder ob sie eine breite Zustimmung fanden. Im Tagebuch von Karl-Heinz Timm findet sich keine Ideologie oder Hinweise darauf, dass der Bruder den Glauben an die Überlegenheit des deutschen Volkes geteilt hat. Uwe Timm geht jedoch davon aus, dass es der Fall war – angesichts seiner Zugehörigkeit zu einer „Elite-Division“ sowie des Ausmaßes an Propaganda. Von den drei Hauptfiguren bei Arno Surminski ist nur Walter Pusch ein überzeugter Anhänger der Idee des Herrenvolkes, was aus den Feldpostbriefen an seine Frau deutlich wird. Robert Rosen und Heinz Godewind sind keine ausgeprägten Rassisten, aber auch sie akzeptieren die Idee von der Überlegenheit des deutschen Volkes über den primitiven Slawen. „Wo man hinsieht, ist Menschendreck. Dagegen war Polen Gold“,48 schreibt Robert Rosen in seinem Tagebuch. „So dachten sie damals“,49 sagt seine Tochter 60 Jahre später und unterlässt damit, die Frage nach der persönlichen Verantwortung des Vaters jenseits des Kollektivs zu stellen. Am Ende des Romans gibt sie eine Todesanzeige für ihren Vater auf, in der sie schreibt, er sei „gefallen für nichts und wieder nichts“.50 In dieser auf den ersten Blick so humanen Formulierung steckt der Schwachpunkt des Romans: Es war nicht „nichts“, was der NS-Staat gut lesbar auf seine Fahnen schrieb, was auch Surminski in den von ihm zitierten Militär44 45 46 47 48 49 50
Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 47. Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 103. Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 61. Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 32. Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 146. Ebd., S. 154. Ebd., S. 455. 189
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richtlinien erkennt und was die Einstellung vieler seiner Romanfiguren bestätigt. Dieser Widerspruch bleibt im Roman ungelöst. Die Großeltern in „Himmelskörper“ von Tanja Dückers können sich bis zum Ende ihres Lebens nicht von der Rassentheorie lösen. Zwar behaupten sie immer das Gegenteil, doch wenn der Großvater über seine Bienen spricht, wird klar, dass für ihn Juden noch immer eine „Schmarotzerart“ sind. Nach dem Tod ihrer Großeltern findet Freia in einem Pappkarton Bücher zur Rassenlehre, die die Großeltern auf die Flucht mitgenommen haben, und die sie – worauf Unterstreichungen und Eselsohren hindeuten – auch gründlich studiert haben. Diese Einstellung der Großeltern stellt ihre „Opfergeschichte“ von Krieg und Vertreibung in ein ambivalentes Licht. Und wenn die Großmutter von „der schönsten Zeit ihres Lebens“ spricht oder davon, dass auch die Nationalsozialisten gute Ideen hatten, so ist dies für Tanja Dückers ein Hinweis auf ihre Verstrickung, was sich später auch bestätigt. Freiheit von Ideologie Keine Idee sei im Krieg so wirksam für den Kampfgeist gewesen wie der Gedanke an das eigene Überleben, betonen Viktor Astaf´ev und Ulla Hahn. „Ich oder er“ ist das durchgehende Motiv der Erinnerungen von Hans Musbach. „An der Front, an der Vorderlinie, wirst Du Deinem Herzen Luft machen. In den Schützengräben herrscht absolute Meinungsfreiheit und der Kopf ist nicht überfordert, nur ein Gedanke quält: Wie kann man heute überleben?“,51 rät ein Vorgesetzter dem redegewandten Soldaten Ašot Vaskonjan in Astaf´evs „Verdammt und Umgebracht“. Die beiden Autoren bestreiten die Wirksamkeit der Ideologie im Schützengraben, wo, ihrer Auffassung nach, nur das eigene Überleben zählte. Bei Astaf´ev fließt in dieser Aussage allerdings noch die Idee der Ideologiefreiheit mit ein, die an Vasilij Grossman angelehnt ist, jedoch bei Astaf´ev eine ganz andere Konnotation bekommt. „Freiheit will ich und dafür kämpfe ich“,52 sagt Major Grekov während der Verteidigung des „Hauses 6/1“ in Stalingrad. Für Grossmans Protagonisten war Freiheit – nicht so sehr die von äußerer als die von innerer Sklaverei – ein wichtiger Motivationsfaktor für den Kampf. Ausgerechnet der Krieg führte – neun Jahre nach dem Ende der Kollektivierung und drei Jahre nach der letzten Welle der Säuberungen – zu einer spontanen DeStalinisierung. Der Glaube an die fehlerfreie Weisheit und das Hellsehen des Sowjetführers war erschüttert durch die Niederlagen und die hohen
51 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 66. 52 Grossman, Vasilij: Žisn´ i sud´ba, S. 400. 190
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Verluste am Kriegsbeginn. Viele Kriegsteilnehmer empfanden die stalinschen Vorkriegsparolen und Slogans als Lüge. Der Krieg bot ihnen den Raum dafür, Verantwortung für ihr eigenes Leben und das Leben der Angehörigen zu übernehmen, was in Friedenszeiten kaum möglich war – überall griffen äußere Ordnungen und Autoritäten, von denen man abhängig war. Über das Gefühl der Freiheit als höchstem Wert schrieb im von Hunger geplagten Leningrad im schrecklichen Winter 1942 Olga Berggolz ein Gedicht: „Im Schmutz, im Dunkeln, in der Trauer, wo der Tod wie ein Schatten auf Schritt und Tritt folgt, waren wir so glücklich und atmeten eine solche stürmische Freiheit, dass unsere Enkel uns beneiden würden.“53 Dieses Freiheitsgefühl beschrieben später viele sowjetische Kriegsteilnehmer, die im Krieg plötzlich ihre menschliche Würde zurückgewinnen konnten, die ihnen während des Großen Terrors genommen worden war. Neben diesem Aspekt weist Astaf´ev jedoch auf die Zerstörung der Persönlichkeit durch Zwang und Unterwerfung hin, so dass das Streben nach Freiheit eine ganz andere Bedeutung bekommt als bei Grossman. Eine andere Bedeutung hat „Freiheit“ bei Ulla Hahn, denn auch ihr Protagonist Hans Musbach spricht von der „Freiheit im Schützengraben“: „Was beim Militär anders war, besser als beim Arbeitsdienst: Man ließ ihre Köpfe in Ruhe. [...] Sogar eine gewisse Freiheit glaubte Musbach sich so bewahren zu können, eine innere zumindest.“54 Nach dieser Interpretation gab es ideologische Indoktrination nur bei den SSund SD-Truppen, das Militär war dagegen ein Raum ohne Ideologie. Inwieweit diese Sicht im Widerspruch zu den neusten Forschungsergebnissen steht, zeigt die Studie von Stephen G. Fritz „Hitlers Frontsoldaten. Der erzählte Krieg“.55 Fritz belegt anhand von zahlreichen Interviews und Auswertungen der Feldpostbriefe, dass es in der Truppe in Russland ein derart auffälliges Einverständnis mit der Auffassung des NS-Regimes vom bolschewistischen Feind und von dessen Behandlung gab, dass sich viele Soldaten bereitwillig an Mordaktionen beteiligten.56 Glaube an Gott Die Bedeutung von Kirche und Religion für die Stärkung der Truppenmoral wurde auf beiden Seiten anerkannt, kirchliche Pfarrer dienten in der Wehrmacht, das Kirchenverbot wurde in der Sowjetunion für die Zeit des Krieges aufgehoben. „Dort (an der Front – E.S.) rufen die Verwunde53 Berggolz, Olga: Fevral´skij dnevnik. URL: http://militera.lib.ru/ poetry/russian/berggolts/25.html, Stand 20.05.2008. 54 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 32. 55 Fritz, Stephen G.: Hitlers Frontsoldaten. Der erzählte Krieg. Berlin 1998. 56 Vgl. Fritz, Stephen G.: Hitlers Frontsoldaten, S. 290. 191
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ten nach Gott und Mutter. Nicht nach dem Politruk (Politischer Führer, Kommissar – E.S.). Und die Toten liegen alle mit Kreuzchen. Treten vor dem Kampf in die Partei ein, in den Kampf ziehen sie aber mit einem Kreuz“,57 schreibt Astaf´ev und räumt somit dem christlichen Glauben größere Bedeutung ein als kommunistischer Ideologie. „Er zwang uns Gott geradezu auf“,58 erinnert sich Hans Musbach im Roman von Ulla Hahn an seinen Divisionspfarrer Pater Franz. Gleichzeitig existiert bei Tanja Dückers, Arno Surminski und Ulla Hahn der Topos von Weihnachten an der Front: Gerade weil sich Hitlers Versprechen, der Krieg würde um Weihnachten zu Ende sein, nicht erfüllt hatte, bedeutete das erste Kriegsweihnachten – wie auch spätere – für deutsche Soldaten ein Stück Frieden mitten im Krieg. Man bekam Pakete von zu Hause mit Weihnachtsplätzchen und Geschenken, schmückte einen Tannenbaum und sang Weihnachtslieder. Diese Pakete und diese Lieder stärkten den Kampfgeist der deutschen Armee mehr als die gesamte Goebbelssche Propaganda – zumindest wenn man danach urteilt, wie viele Seiten dem Weihnachtsfest in diesen drei Romanen gewidmet sind. Auch Daniil Granin erwähnt das deutsche Weihnachtsfest vor den Augen der eingeschlossenen Leningrader im Katharinenpalast von Tsarskoje Selo, als der junge Bataillonskommandeur Šagin entsetzt befiehlt, auf den Palast zu schießen. Sechzig Jahre später erzählt er der Frau eines damals dort feiernden deutschen Soldaten: „Wir hätten auch gefeiert, doch es gab nichts, womit. Die Pferde waren bereits aufgegessen“. Šagin lächelte ihr entgegen. „Es gab einen Tannenbaum, so machten wir ein Nadelgetränk daraus. Wenn wir eine gebratene Gans gehabt hätten, hätten wir nicht auf den Palast geschossen. Doch ihr habt die Gans selbst gegessen und zu uns nichts durchgelassen. Eine Blockade organisiert. So haben wir angefangen, zu schießen.“59
Diese Perspektive auf die Weihnachtsfeier fehlt bei den deutschen Autoren, und so wird die Einstellung einseitig. Zwar führen sie die Darstellung des Weihnachtsfestes ein, um zu zeigen, dass Wehrmachtssoldaten keine Bestien, sondern Menschen waren, mit Emotionen, Sehnsüchten und Trauer, dass auch sie gelitten haben und sich nach ihrer Heimat und Familie gesehnt haben. Jedoch ohne Hinweis darauf, dass sie in der Sowjetunion „uneingeladene Gäste“ waren, bestätigen diese Szenen die alten Stereotypen in der Wahrnehmung der Wehrmacht.
57 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 220. 58 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 102. 59 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 696. 192
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Glaube an die Partei Sehr scharf rechnet Viktor Astaf´ev in „Verdammt und Umgebracht“ mit der Praxis des massenhaften Eintretens in die Kommunistische Partei ab, die an der Front verbreitet war. Angesichts des Wehrmachtsbefehls, Kommunisten und Kommissare nach der Gefangennahme sofort zu erschießen, war die Parteizugehörigkeit mit erheblichen Risiken verbunden (auch zum Angriff mussten die Parteimitglieder immer in der ersten Reihe antreten) und erforderte Mut. Dass Rotarmisten aus Überzeugung in die Kommunistische Partei eintraten, streitet Astaf´ev jedoch ab. „Wenn sie versprechen, meiner Familie im Falle meines Todes zu helfen, bin ich bereit, in die Partei einzutreten“,60 sagt ein Soldat in Astaf´evs Roman. „Sie schreiben Leute in die Partei ein, damit die Zahl der getöteten Kommunisten größer wird“.61 Astaf´ev erwähnt auch, dass nach dem Krieg diejenigen, die an der Front Parteimitglieder geworden sind, astronomische Summen an Mitliedsbeträgen zahlen mussten, die sich als Schulden über die Kriegsjahre angesammelt hatten. Für Astaf´ev ist es wieder ein Beispiel dafür, wie die Macht die Naivität und die Aufrichtigkeit der Menschen ausnutzt, um davon zu profitieren. Glaube an Stalin bzw. Hitler Russische Autoren betonen die Bedeutung, welche Stalin und seine Ansprachen für die kämpfende Bevölkerung hatten. Nicht ohne Sarkasmus beschreibt Astaf´ev, wie junge Rekruten der Rede Stalins am 7. November 1942 zuhören: „Gute, mitleidsvolle, dankbare Zuhörer hatte er, nach jedem, besonders einem eindringlichen Wort, bereit, ihr Herz aus der Brust zu nehmen und es ihm auf den Händen zu reichen: Vater, nimm mein Leben, nimm mich ganz, der Rettung der Heimat wegen, aber Hauptsache, sei nicht traurig – wir sind mit dir, für dich werden wir alle bis zum Letzten sterben, bloß mach dir keinen Kummer – lieber haben wir den Kummer für alle und für alles, wir sind schon gewöhnt.“62
Auch Michail Kononows stairische Darstellung Stalins, wie er im „größten aller rubinroten Kremlsterne auf dem Spasski-Turm“ sitzt und sein „Pfeifchen“ raucht, demonstriert den hingebungsvollen Glauben an einen Führer, dessen Autorität trotz aller Niederlagen erhalten blieb. Für Wladimow ist Stalin die lebendige Verkörperung des Systems, das auf dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche funktioniert und auf 60 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 375. 61 Ebd., S. 685. 62 Ebd., S. 43. 193
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sklavischer Unterwerfung begründet ist. Bemerkenswert ist der Kontrast, mit dem Stalin von Kobrissow wahrgenommen wird: Kurz nach dem Kriegsausbruch auf einem Kremlempfang, der für die aus dem GULAG vorzeitig entlassenen Militärs veranstaltet wurde, wird Stalin mit Verachtung gezeichnet: „Der Mann, der vor Kobrissow stand, war lächerlich klein und rothaarig und hatte ein grobes, pockennarbiges Gesicht. Er schaute Kobrissow hasserfüllt an, der hängende Schnurrbart sträubte sich wie bei einem fauchenden Kater, die groben, fleischigen Nasenflügel bebten, er zischte giftig und drohend. Im schweren Blick seiner tabakgelben Augen brannten Bosheit, Angst, und Verzweiflung, wie bei einem angeschossenen Wild, das gejagt wird.“63
Ganz anderes ist Kobrissows Gefühle gegenüber Stalin einige Jahre später, als er auf dem Weg ins Hauptquartier nach Moskau plötzlich im Radio die Nachricht von seiner Beförderung hört. „Sein Herz war voll von Dankbarkeit gegenüber dem Obersten Befehlshaber, der seine Idee verstanden und begriffen hatte, der gewusst hatte, dass Myrjatin nicht nur der Schlüssel für Predslavl, sondern für die gesamte Ukraine rechts des Dnepr war. Und, wenn es der Wunsch des Obersten Befehlshabers war, Predslawl zum 7. November einzunehmen, bitte, er würde sein Bestes tun.“64
Auch Kobrissow ist nicht frei von der Bereitschaft zur Unterwerfung, weil es ihm schmeichelt, von Stalin persönlich ausgezeichnet zu werden. Aus Minderwertigkeit und Selbstüberschätzung, aus Angst und Ehrfurcht entwickelt sich, so Wladimow, eine unterwürfige Mentalität, die leicht manipulierbar ist. Hans Musbach in Ulla Hahns „Unscharfe Bilder“ erinnert sich daran, dass vielen in seiner Truppe Adolf Hitler „ein Vorbild an Tapferkeit, Härte, Stärke“ war, „Maßstab der eigenen Tugenden und Ideale“.65 Doch im Unterschied zum beinahe religiös-ehrfürchtigen Verhältnis zu Stalin, wie es russische Autoren in ihren Werken beschreiben, existierte der Glaube an Hitler so lange, wie er seine „Versprechen“ hielt. Musbach, der Großvater Mäxchen, die Feldzugteilnehmer im Roman von Surminski – sie alle reden davon, dass Hitler sein Versprechen, „Weihnachten würden sie wieder zu Hause sein“, nicht eingehalten hat. Den Topos von dem nicht eingehaltenen Versprechen des schnellen Kriegsendes und dem „Verrat“ seitens Hitler, der in den westdeutschen
63 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 374. 64 Ebd., S. 505. 65 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 75. 194
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Kriegsromanen der 50er Jahre so verbreitet war, findet man auch bei den zeitgenössischen Autoren. Unterschiedlich ist die Haltung diesem Erinnerungstopos gegenüber: Während Hahn und Surminski Mitleid für die Männer zeigen, die von Hitler „im Stich gelassen“ wurden und deshalb die Strapazen des russischen Winters auf sich nehmen mussten, werden die Erinnerungen des Großvaters, die auch auf das Mitgefühl der Enkel gerichtet sind, von der Autorin im Kontext seiner bis heute erhalten gebliebenen antisemitischen Haltung betrachtet. Zusammenfassung Deutsche und russische Autoren betonen unterschiedliche Faktoren, die ihre Protagonisten zum Kampf motivierten. Dabei fällt auf, dass die Motive, die in historischen Studien als ausschlaggebend für die Kampfbereitschaft der deutschen Soldaten betrachtet werden, in den untersuchten Romanen deutscher Autoren kaum erwähnt werden, wie z.B. der Glaube an Hitler oder die Idee der rassischen Überlegenheit. Die Ambivalenz zwischen Kämpfen aus Angst und unter Zwang einerseits und dem aufrichtigen Patriotismus andererseits (wobei der Begriff „Heimat“ in den Texten unterschiedlich aufgefasst wird) durchzieht die Werke aller vier russischen Schriftsteller. Die Widersprüchlichkeit des geistigen Zustands der Menschen im Krieg bildet dabei ein durchgehendes Motiv. Einerseits betonen die Autoren, dass das Stalinregime mit seinen repressiven Methoden auch im Krieg weiterlebte. Andererseits gab es im Krieg viel mehr ideologiefreie Räume, und man kämpfte nicht gegen einen imaginären, sondern gegen einen realen Feind, so dass der Staat an Macht verlor und einzelne Menschen sich gestärkt fühlten. Diese Ambivalenz zwischen Freiheit und Abhängigkeit wird zum dominanten Wertekonflikt in den Werken russischer Autoren über den Krieg. Auch deutsche Autoren vertreten unterschiedliche Positionen bezüglich des Verhältnisses von Freiwilligkeit und Zwang im Krieg, was in diesem Fall mit der Übereinstimmung bzw. Nicht-Übereinstimmung mit den Ideen des Nationalsozialismus und des Rassenkrieges zusammenhängt. Dass dieser Gedanke bei der deutschen Truppe ankam, wird von keinem der Autoren bestritten. Die Frage bleibt nur, in welchem Maße und von wem er akzeptiert wurde, ob nur die kleine „Nazi-Minderheit“ diese Ideen teilte oder ob sie eine breite Zustimmung fanden. Arno Surminski und Ulla Hahn vertreten die erste, Tanja Dückers und Uwe Timm die letzte Position.
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Ideologievermittler Dem Ideologiefaktor kommt in allen hier untersuchten Romanen eine wichtige Bedeutung bei der Konstruktion des Fremdbildes zu. Die Ideologieträger übernehmen darin oft die Rolle „der Anderen“, von denen sich die Protagonisten abgrenzen. In den Werken der vier russischen Autoren verkörpern die politischen Kommissare bzw. die Mitarbeiter der „Sonderabteilungen“ („Osobisty“) oder der Spionageabwehr (SMERŠ) als Ideologievermittler das Regime. Der Angriff auf sie ist gleichzeitig auch der Angriff auf das System und die von ihm propagierten Werte. Als Träger der Staatsideologie werden Geheimorgane gesehen – ein Element des Krieges, das in der deutschen literarischen Kriegswahrnehmung nicht präsent ist, ebenso wie der Terror des Staates gegen die eigenen Truppen ein spezifisch russisches Thema ist. Viele Konflikte in der russischen Kriegsliteratur verlaufen zwischen Militär und Politkommissaren. In der deutschen Kriegsprosa ist es ähnlich, allerdings wird statt „Kommissaren“ von der SS oder generell den „Nazis“ gesprochen. Die Ansicht, dass die „Bonzen“, die „Nazis“, „die Privilegierten“ die Anderen waren, man selber aber mit dem „NaziZeug“ nichts zu tun hatte, teilen fast alle Romanfiguren: die einfachen Menschen, auch Soldaten, sehen sich als die Leidtragenden ihrer Zeit. Die Verantwortung wird meistens auf die Ideologieträger projiziert. Die „Bonzen“, die „Nazis“, die SS In Tanja Dückers „Himmelskörper“ erzählt die Großmutter von der Vertreibung aus Westpreußen. Ihr Hass auf die „Bonzen“ wird deutlich: diese konnten sich „sicherer“ retten. Aber auch Freias Großmutter gelangte mit ihrer Tochter und Schwester auf das sichere Minenschiff „Theodor“, denn die Parteizugehörigkeit eröffnete bessere Fluchtmöglichkeiten vor der anrückenden Roten Armee. Tanja Dückers zeigt das Heuchlerische an der Einstellung, dass „Bonzen“ immer die Anderen waren, denn eben solche Bonzen mit Privilegien waren Freias Großeltern selbst. Auch Hans Musbach lässt kein gutes Haar an „Parteibonzen, Goldfasane[n], großmäulige[n] Ideologen“, die „überall die Oberhand“ gewannen.66 Denn er selbst war kein Nazi, im Gegensatz zum Kompanieschützen Paul Mertens. „Ein bösartiger Rassist“ nennt Musbach ihn, „er war in Russland, um, wie er es nannte, einen ,Sumpf trockenzulegen‘, einen ,Sumpf von Untermenschen‘“.67 Ein anderer Nazi in der Truppe, Joachim, glaubte, „wenn er gegen die Russen, den Bolschewismus kämpfte,
66 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 32. 67 Ebd., S. 90 196
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kämpfte er für „das Abendland“ und eine bessere Zukunft der Menschheit. [...] An den Nazis faszinierte ihn das Soldatische. Joachim wollte ein Krieger werden.“68 Joachim ist aber kein Antisemit, über die Juden sagt er, dass sie „tapfere Soldaten“ seien, „nicht schlechter als andere.“ Daraufhin entsteht ein Streit zwischen ihm und Mertens. Mit diesen zwei unterschiedlichen Typen von Nazis demonstriert die Autorin, dass die Aneignung des Nationalsozialismus auf unterschiedlichen Wegen verlaufen konnte: Man konnte Bolschewiki hassen und kein Antisemit sein, oder, wie Mussbach, wandern und Lieder am Lagerfeuer genießen, ohne ein Nazi zu sein. Ulla Hahn zerlegt die Nazi-Ideologie in einzelne Teilbereiche, wodurch sie harmloser wirkt. Der Unsympathischste ist der SS-Mann Rolf Katsch, den Musbach später erschießt, als er versucht, eine russische Partisanin zu vergewaltigen. Er wird als dumm und hochnäsig geschildert. Bei der SS kompensiert er seinen Minderwertigkeitskomplex. „Der Totenkopf auf seiner Mütze grinste mich an, als wolle er sagen: Siehst du, wir kriegen euch alle“,69 erinnert sich Musbach. Während Musbach und sein Freund Hugo als unfreiwillige Befehlsvollstrecker präsentiert werden, sind die „Nazis“ im Roman – besonders die SS-Angehörigen – Überzeugungstäter. „Scheinbar haben diese Leute hier unten noch nichts mit der SS zu tun gehabt. [...] bisher lag nur Wehrmacht hier in den Quartieren“,70 schrieb Karl-Heinz Timm in seinem Tagebuch. Die SS-Einheiten galten tatsächlich als „Elite“ und wurden deshalb auch entsprechend ideologisch gedrillt. Sie zeichneten sich durch besonders brutales Vorgehen gegenüber den Zivilisten aus. „In der Waffen-SS, die sich wie die allgemeine SS als Blutorden verstand und den professionellen durch den politischen Soldaten ersetzen wollte, ist der Antisemitismus in seiner krassesten Form vermittelt worden“,71 so der Historiker Hannes Heer. Anders als im Roman von Ulla Hahn wird bei Timm die SS-Zugehörigkeit seines Bruders kein Merkmal seines Andersseins, sondern seiner Durchschnittlichkeit. Seine Biographie ist beispielhaft für den Lebensweg vieler anderer Vertreter seiner Generation. Das demonstriert auch die Tatsache, dass bei Timm der Bruder als ein SS-Angehöriger im Mittelpunkt der Erzählung steht, während Ulla Hahn und Arno Surminski sie als „böse Bestien“ aus der Gemeinschaft der Militärs ausschließen. 68 69 70 71
Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 93. Ebd., S. 265. Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 92. Haas, Daniel: Wie hat Grass damals zum Holocaust gestanden? Ein Interview mit Hannes Heer. In: Spiegel ONLINE vom 15.08.2006, URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,431646,00.html, Stand 30.10.2007. 197
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Im Roman „Vaterland ohne Väter“ von Arno Surminski wird nicht gezeigt, woher die Feldzugteilnehmer ihre Weltanschauung haben. Nur einmal zitiert er die Richtlinie für das Verhalten des Heeres im Osten und erwähnt, dass die Truppe ab und zu Sondermeldungen über die Siege der Wehrmacht erhielt, ansonsten bleibt unklar, wer für die ideologische Seite des Krieges verantwortlich war. Der Leser bekommt den Eindruck, dass die Romanfiguren erst im Laufe des Feldzugs zu ihrer Überzeugung kommen. Sie sehen Elend, Dreck und Armut und werden in ihrem Überlegenheitsgefühl bestätigt, durch die zunehmenden Partisanenaktionen werden sie auf eine brutale Vorgehensweise gegenüber den Zivilisten „provoziert“. Den Ursachen der nationalsozialistischen Weltanschauung seiner Protagonisten geht Surminski nicht weiter nach. Die politischen Kommissare und Geheimdienstler Während in den Werken deutscher Autoren – außer einer kurzen Erwähnung bei Uwe Timm – der ideologische Unterricht in der Truppe nicht angesprochen wird, schenken die russischen Schriftsteller diesem Thema eine besondere Aufmerksamkeit. Politische Kommissare hatten in der Roten Armee bis Oktober 1942, als diese Institution abgeschafft wurde, die Aufgabe der politischen Erziehung, später waren es die „Sonderabteilungen“ (Osobye otdely). In der offiziellen sowjetischen Darstellung wurden Politkommissare in der Truppe immer als wichtigste Ansprechpartner und Menschen mit großer sozialer Kompetenz und unumstrittener moralischer Integrität dargestellt. Kommissare sollten die Truppe zum Kampf motivieren, Konflikte lösen und für politische Bildung sorgen. Michail Kononow greift dieses Bild auf und liefert eine überzogene, sarkastische Schilderung des Kommissars Tschaban: „Jeder, den sein gerader Blick traf, unter den vom Ansturm fremder Zweifel und Panikmache geschwollenen Lidern hervor, der verspürte einen Stich im Herzen und trat der eigenen Schwäche in die Hacken, in die Blutblasen, in die klumpenden nassen Fußlappen, in das Loch im abgewetzten Stiefelschaft, in die klaffenden Sohle des bleischweren, stocksteifen, angeschimmelten, vom ewigen Rückzug mürbe gewordenen Soldatenstiefels.“72
Kononows Kommissar hält eine feurige Rede vor seinen Soldaten, die ihn vergöttern und in ihm „Seele und Gewissen des Bataillons“ sehen. „Kamer-r-raden! Wir führen den heiligen Kr-rieg unseres Volkes! ... Der Sieg ist nahe! ... Dann jagen wir den niederträchtigen Feind von unserer heiligen
72 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 162. 198
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Scholle! R-r-r-rache für den Gram unserer Mütter! R-r-r-rache für die Wunden der Kameraden! R-r-r-rache für die Tränen der Witwen und Waisen! [...]“ 73
„Starke Rede!...Ein Kommissar wie der ist eine Mauer, hinter der man Deckung suchen kann! [...] Und vergiss nicht, der Kommissar ist dein engster Vertrauter! Im Krieg ist er dir Vater und Mutter in einem. Und sein Befehl ist der Befehl des Vaterlandes“,74 so die Soldaten seiner Truppe. Eben dieser Kommissar erklärt der 15-jährigen Motte, was das Wörtchen „muss“ bedeutet und dass sie bereit sein soll, für die Kameraden ihre Unschuld zu opfern. „Sei dem Sowjetführer eine tr-r-reue Stütze! Er glaubt doch an dich. Er glaubt und verzeiht dir.“75 Die Haltung Kononows zu Tschaban und zu dem, was er propagiert, ist zwiespältig: Einerseits zeigt der Autor einen durchaus aufrichtigen Glauben an den Sieg, das Vaterland und seinen Führer. Dieser Glaube stärkte die Kampfmoral der sowjetischen Menschen im Krieg, ließ sie durchhalten, und die Hauptfigur Motte ist dafür das beste Beispiel. Andererseits zeigt er, dass sich mit diesen Slogans auch Dinge rechtfertigen lassen, die für einen Menschen unzumutbar sind – so wie Mottes „Dienst am Kollektiv“. Während Kononow selbst den Kommissar Tschaban als Produkt seiner Zeit sieht und er somit ein Teil der von ihm konstruierten Welt der „indoktrinierten Zombies“ ist, betrachten Georgi Wladimow und Viktor Astaf´ev die Träger der kommunistischen Ideologie als Vertreter einer geheimen Parallelwelt, die mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hat. „Hier wird Er, der Barmherzige, nicht aufhören, und wirft alle in die brennende Hölle, und wird die Kommissare nicht vergessen; sie, die ersten gottlosen Unruhestifter, wird er wahrscheinlich in der ersten Kolonne, in erster Linie, in die Hölle treiben, wird ihre roten Reithosen ausziehen und mit glühenden Stäben auf den Arsch schlagen. Und zu Recht, und zu Recht – verpestet nicht die Luft, verwirrt nicht das Volk, besudelt nicht den Glauben und den heiligen Namen Gottes.“76
Die Politkommissare sind „Fremdlinge“ in der Truppe, sie stören nur und propagieren, anstatt den Feind zu bekämpfen. „An die vorderste Front bringen den (SMERŠ – E.S.) keine zehn Pferde. Das ist einer von diesen Egoisten, die am liebsten den Baron raushängen lassen. [...] Zu so einem feinen Herrn hat sich der gemeine Grabenschütze natürlich auf die
73 74 75 76
Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 162f. Ebd., S. 163. Ebd., S. 174. Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 115. 199
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Socken zu machen“,77 berichtet die 15-jährige Motte in Michail Kononows „Die nackte Pionierin“. Sie haben Macht und üben diese aus, terrorisieren einfache Soldaten und verstecken sich an der Front hinter deren Rücken. „Auf jeden Kämpfenden gibt es zwei-drei Erzieher [...]“78, sagt Major Jaškin in Astaf´evs Roman „Verdammt und Umgebracht“. Astaf´ev rechnet besonders hart mit dem System der politischen Indoktrination an der Front ab. Dabei unterscheidet er zwischen den „positiven“ Bezugspersonen für Soldaten in der Truppe, die – wie Kolja Ryndin – Träger der christlichen Idee sind, oder – wie Ašot Waskonjan – alles Intellektuelle und Kulturelle verkörpern, das die kommunistische Herrschaft zerstört hat, und den „negativen“, den Politoffizieren, deren Gottlosigkeit und Verlogenheit Astaf´ev mit Verachtung zeichnet. Astaf´ev zeigt, wie das Abweichen der staatlichen Propaganda von den aktuellen Gegebenheiten beim Kriegsanfang die Menschen verunsicherte und ihnen offenbarte, dass sie jahrelang mit einer Lüge über die angebliche Stärke und Unbesiegbarkeit ihres Landes gelebt hatten. „Die Stimme des Politoffiziers wurde, je länger er sprach, sicherer und energischer. Seine ganze Rede war so überzeugend, dass man nur staunen konnte – wie konnten die Deutschen bloß die Wolga erreichen, wenn es laut allen Berechnungen umgekehrt sein sollte. Die heldenhafte Rote Armee müsste feindliche Erde zertreten und die faschistischen Bollwerke niedertreten. Ein Missverständnis, mehr nicht! Eine Täuschung. Eine Plage. Wir bekämpfen den Feind tollkühn! Arbeiten heroisch! Leben patriotisch! Denken, wie der Führer und Oberbefehlshaber befiehlt! Die Kräfte sind unzählig! Die Zustände sind streng! Wir sind einig und unbesiegbar! ... Und da hast du es – der Feind ist an der Wolga, vor Moskau, vor Leningrad, die Hälfte des Landes und der Armee wurden wie von der großen Kuhzunge abgeleckt, ohne Schnaps kriegt man nicht raus, wer hier wen zermalmt.“79
Astaf´ev zeigt eine Reihe von Schwätzern wie z.B. Hauptmann Mel´nikov mit seinen „formalen, abgedroschnen, sinnlosen“ Reden, „diese Tribunalsratten“, Berufshenker und Profis des Spitzeldienstes. Astaf´ev verachtet sie so sehr, dass er auf eine Analyse verzichtet und rhetorisch wird: „All diese Schurken, die sich hinter der Front wärmen“, „Hofnarren“, „die ganze Armee der Schmarotzer“. Man merkt den Unterschied in der Einstellung zu Ideologieträgern im Krieg in deutschen und russischen literarischen Texten: Während es sich in Russland um die Vertreter des Staates handelt, die ihre Macht vor allem gegen ihre eige-
77 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 7. 78 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 220. 79 Ebd., S. 27. 200
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nen Leute einsetzten, geht es im Fall der deutschen Truppen um Vollstrecker der Verbrechen gegen andere aus Rassengründen. Die Politerzieher sind bei Astaf´ev fast ausschließlich Juden, wodurch ihr „Fremdsein“, ihre Andersartigkeit noch mal unterstrichen wird. Sie machen Karriere auf Kosten von anderen: „Skorik (der Kommissar – E.S.) war nie im Kampf, doch was Dienst und Dienstgrade betrifft, rückte er schneller als der Held der Kämpfe am Chassansee auf [...].“80 Oder ein anderer Kommissar, Musenok, „kämpft Tag und Nacht gegen den Feind, vollbringt Heldentaten im Namen der Partei, eilt hin und her zu Stäben und Geschützen, und stört die Menschen, ihre Kriegsarbeit zu erledigen.“81 Die Kampfparolen, die Musenok verkündet, findet Astaf´ev leer und heuchlerisch: „Indem er (Musenok – E.S.) am linken, sicheren Ufer blieb, musste er denjenigen Moral predigen, die zum feindlichen Ufer gehen sollten, quasi in den sicheren Tod, und er musste die Worte wiederholen, die schon jeglichen Nutzen, vielleicht sogar einen richtigen Sinn verloren haben: ,Ohne die Ehre eines sowjetischen Soldaten zu beschämen’, ,Bis zum letzten Tropfen Blut’, ,Hinter uns die Heimat’, ,Der Genosse Stalin hofft’ und ähnlichen gewöhnlichen Quatsch erzählte er den Menschen, die auch seit langem und gut verstanden, dass dies – dummes Gerede, Schaumschlägerei ist, und doch gezwungen waren, ihm zuzuhören.“82 Astaf´ev verachtet diese Prediger, denn statt gegen den Feind zu kämpfen, verbrauchen sie die Munition gegen die eigenen Leute als Strafe, verhören diejenige, die der deutschen Kriegsgefangenschaft oder einer Einkesselung entflohen sind und die nun als potentielle Spione und Verräter gelten, oder erschießen Unschuldige, um die Quote nach dem Befehl Stalins „Kein Schritt zurück“ zu erfüllen. Im zweiten Teil des Romans „Verdammt und Umgebracht“ rückt der Konflikt zwischen den politischen Kommissaren und den Soldaten in den Vordergrund. Besonders unsympathisch ist die Figur des Kommissars Musenok, der seine Karriere in den 30ern gemacht hat, indem er Offiziere denunzierte. Sein Äußeres ist scheußlich: „Der Mensch-Zwerg hatte grobe, alte Gesichtszüge, große abstehende Ohren, eine Nase mit schwarzen Fistellöchern, einen breiten Mund wie bei einer Aalquappe mit den tiefen Falten einer Klatschbase und eine klirrende Stimme.“83 Astaf´ev distanziert sich von der Tradition der sowjetischen Kriegsprosa, in der der Kommissar üblicherweise mit seinem feurigen Wort die Rotarmisten zur Attacke treibt. Im wichtigsten Moment des Kampfes, als 80 81 82 83
Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 98. Ebd., S. 640. Ebd., S. 374. Ebd., S. 370. 201
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die Kommunikation zwischen den Truppenteilen schwer beschädigt wird, beharrt Musenok darauf, die einzig funktionierende Verbindung für politische Reden zu benutzen, dabei wäre sie dringend nötig, um das Artilleriefeuer zu korrigieren. Kapitän Ščus´, der sich vor Schwäche nach dem Kampf am Brückenkopf kaum auf den Beinen halten kann, schreit er an, dass „die politische Arbeit im Regiment vernachlässigt ist, die Disziplin wackelt.“84 Direkt danach wird Musenok bei einer Minenexplosion getötet. Alles weist darauf hin, dass Ščus´ darin verwickelt war. Während Tausende von russischen Soldaten, die im Kampf fielen, anonym in Massengräbern ohne jegliche Ehrerbietungen beerdigt wurden, wird für Musenok eine pompöse Beerdigungszeremonie organisiert, begleitet vom Militärorchester. Die offiziellen sowjetischen Erinnerungsrituale verspottend, erwähnt Astaf´ev beiläufig, dass zehn Jahre nach Kriegsende das Grab dieses Kommissars nach einer feierlichen Umbettung zum wichtigsten Ort der Erinnerung wurde. „Jedes Jahr werden Pioniere und Kriegsveteranen mit Blumen und Kränzen zu diesem heroischen Grab kommen; sich vor dem Grab verbeugend, werden sie erregte, rührende Reden halten und an den hier am grünen Ufer gedeckten Tischen einen Gedenkschnaps trinken.“85 Im Roman von Wladimow ist es der SMERŠ-Major Swetlookow, der als Repräsentant der Geheimorgane dargestellt wird. Er hat mehrere Gesichter – er trug „mal die Uniform eines Pionierhauptmanns, mal die eines Fliegerleutnants, doch am häufigsten die eines Artilleriemajors[...]“86 Er ist auch allgegenwärtig, seine Leute sind überall, ohne seine Anwesenheit verläuft keine Besprechung im Armeestab. Und “der General, der Herr der Armee [...], kapitulierte unmerklich vor dem ehemaligen Leutnant”,87 weil Swetlookow die sogenannten „Organe“ verkörpert, die Macht, die ihre Fühler im ganzen Land ausgestreckt hat. Angst vor SMERŠ empfindet auch die Hauptfigur in Daniil Granins Novelle „Jenseits“ Pjotr Šagin: „Im Krieg galt Šagin als Unerschrockener, doch vor SMERŠ-Leuten hatte er Angst, schwieg sich aus, vermied zu viele Gespräche.“88 Während Politoffiziere bei Astaf´ev alle Dummschwätzer sind, zeigt Wladimow in seinem Major Swetlookow einen berechnenden, schlauen Taktiker, z.B. in Gesprächen mit drei Vertrauten des Generals Kobrissow, als er sie anwirbt, den General zu bespitzeln. „War der Abwehrmann für den Fahrer Sirotin ein allmächtiger Prophet, der beinahe ein 84 85 86 87 88
Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 752. Ebd., S. 767. Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 42. Ebd., S. 43. Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 688. 202
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Geschoß im Flug anzuhalten vermochte, und für den Adjutanten Donskoj eine geheime Kraft mit grenzenlosen Möglichkeiten, die in unerreichbaren Sphären schwebte, so war er für Ordonnanz Schesterikow ein ganz gewöhnlicher Daumendreher.“89 Wladimow interessiert sich auch dafür, was das für Menschen waren, die all ihre Kräfte verwendeten, um andere zu bespitzeln und nach potentiellen Verrätern zu suchen. Er sucht nach einer Erklärung für die Bereitschaft, eine bestimmte Ideologie zur Lebensrichtlinie zu machen und sich als die Verkörperung der Staatsmacht zu sehen. Er zeichnet das Porträt der SMERŠ-Informantin Sojechka und zeigt ihre Lebensstationen in slow-motion: mit den Freunden aus der „SMERŠ“ im mit Blumen bestreuten Prag im Mai 1945, später als „dicke Parteiziege, die mit allen Instrukteuren des Gebietsparteikomitees geschlafen hat“ und noch später als „heruntergekommenes Weib mit verlogenem, aufgedunsenem Gesicht und leeren Augen, mit angeschwollenen Beinen, mit einem Hintern, der nur schwer in den Richtersessel passt.“90 Auf die Frage des Fahrers Sirotin, was sie an „dieser Arbeit“ gelockt hat, antwortet die damals 20-jährige Sojechka: „Was?“ Sie lächelte träumerisch. „Du meinst, für so was könnte man sich nicht begeistern? Schon allein das Bewusstsein, Großes zu schaffen, sehr nützlich zu sein... Daran hast du wohl nicht gedacht?“91 Auch Leutnant Oprjadkin aus dem NKWD-Gefängnis, in dem General Kobrissow vor dem Krieg einige Monate wegen Verdacht auf Verschwörung gegen Stalin verbringen musste, wird trotz seiner Lust, einen anderen Menschen zu erniedrigen, von Wladimow mit durchaus menschlichen Zügen ausgestatten. Die Gründe dafür, warum er den Job macht, sind genau so prosaisch, wie bei der „inoffiziellen Mitarbeiterin“ Sojechka. „Es hätte für ihn keinen vernünftigen Grund gegeben, Kobrissow die Höchststrafe anzudrehen, wenn ihm das nicht die Schulterstücke eines Hauptmanns eingebracht hätte oder wenigstens einen kleinen Orden.“92 Hinter einer politischen Beschuldigung stand oft ein egoistisches Interesse, so Wladimow. Zusammenfassung Das Motiv des Konflikts zwischen Ideologieträgern – Politarbeitern, „Parteibonzen“ oder der SS – und dem „einfachen Soldaten“ existiert sowohl bei den deutschen als auch bei den russischen Autoren, wobei unter den deutschen allein Uwe Timm die Legitimität einer solchen Gegenüberstellung hinterfragt und sich von der Übernahme dieses Deu89 90 91 92
Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 151. Ebd., S. 30. Ebd., S. 28. Ebd., S. 370. 203
DEN KRIEG BESCHREIBEN
tungsmusters distanziert. Im Roman von Ulla Hahn werden die „Nazis“ als Sonderlinge, als eine Art „Missbildung“ dargestellt. Dadurch entstehen falsche Proportionen. Russische Schriftsteller rücken diesen Konflikt in den Vordergrund. Er ist zum Teil sogar wichtiger als der Konflikt mit den Deutschen. Ideologieträger übernehmen in der Wahrnehmung der Romanprotagonisten die Rolle der „Anderen“, von denen man sich abgrenzt und denen man Schuld zuweist. Es sind „Schmarotzer“ und Kriegsgewinnler, mit denen der „einfache Soldat“ wenig zu tun hat. Die Interpretation dieses Konflikts markiert eine Trennlinie zwischen zwei Positionen, die von den deutschen Schriftstellern vertreten werden. Während Uwe Timm und Tanja Dückers die Unterscheidung zwischen „Nazis“ und „Bevölkerung“ als Mittel zur Abgrenzung von der NaziIdeologie und zur Befreiung von Schuld erkennen und kritisieren, benutzen Ulla Hahn und Arno Surminski diese Trennung, um den Ausnahmecharakter der Anhänger der Nazi-Ideologie zu betonen. Auch in den Romanen von Astaf´ev und Wladimow dient die Ausgrenzung der „Kommissare“ und „SMERŠ-Leute“ dazu, den „einfachen“ Soldaten als ein ideologiefreies Wesen darzustellen, der von der „Kommissarenkamarilla“ unterdrückt wird.
Fazit Die Auseinandersetzung mit der weltanschaulichen Seite des Krieges verläuft in den Werken der deutschen und russischen Autoren entlang einer gemeinsamen Konfliktlinie: Kampf aus Überzeugung versus Kampf unter Zwang. Unter „Zwang“ wird in den Texten deutscher Autoren vor allem Gehorsam und „Befehlsnotstand“ verstanden. Dabei geht es auch um die Beschäftigung mit der Frage nach den Grenzen der Freiheit und der Abhängigkeit in einem totalitären Staat. Obwohl alle deutschen Autoren die Kriegsziele im Russlandfeldzug als verbrecherisch betrachten, herrscht keine solche Übereinstimmung bezüglich der Frage individueller Akzeptanz nationalsozialistischer Ideologie. Die Diskussion über die „saubere“ bzw. ideologiefreie Wehrmacht geht nun weiter auf der literarischen Ebene. Während die Protagonisten bei Uwe Timm und Tanja Dückers sowohl während des Krieges als auch teilweise nach dem Krieg die nationalsozialistische Ideologie teilen, zeigt Arno Surminski seine Hauptfigur Robert Rosen als „völlig ahnungslos“. Auch Hans Musbach in „Unscharfe Bilder“ von Ulla Hahn ist kein Nazi gewesen, und er bestreitet jegliche Form der Indoktrinierung beim Militär. Der Glaube an
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den Führer, den Klaus Latzel in seiner Studie über Feldpostbriefe deutscher Soldaten als eine wichtige sinnstiftende Konstruktion im Krieg nennt, findet in den zeitgenössischen Romanen deutscher Autoren über den Russlandfeldzug keine Erwähnung. Auch die russischen Schriftsteller zeigen einen unterschiedlichen Grad an Akzeptanz staatlicher Propaganda durch Kriegsteilnehmer. Auf der einen Seite demonstriert Michail Kononow am Beispiel der 15jährigen Motte die fatale Wirksamkeit staatlicher Indoktrination. Mottes Bewusstsein ist von sowjetischer Ideologie durchdrungen, und alle Denkstrukturen sind dieser Propaganda unterworfen, selbst ihre Selbstschutzmechanismen. Die Rekruten in Viktor Astaf´evs Roman bleiben dagegen von den Indoktrinierungsversuchen der Kommissare unbeeinflusst und betrachten diese politische Erziehungsmaßnahmen als sinnlose Zeitverschwendung (allerdings bei gleichzeitiger Stalinverehrung). Es fällt auf, dass auch bei russischen Autoren keine Auseinandersetzung mit den ideologischen Hintergründen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion stattfindet. Die fehlende Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Ideologie bei den Literaten hat seine Ursprünge in der sowjetischen Erklärung des Nationalsozialismus als „radikaler Ausdruck des Kapitalismus“, wobei der Rassenwahn und der Antibolschewismus der Nazis den „Kapitalisten“ zugeschrieben wurde, was den „einfachen Mann“ jeglicher Verantwortung entzog. Somit bleibt der Vernichtungskrieg und die Gräueltaten der Deutschen in den besetzten Gebieten ein fehlendes Thema nicht nur im Roman von Astaf´ev, sondern auch bei Wladimow und Kononow. Während in den Romanen der russischen Autoren die politische Erziehung an der Front durch speziell dafür eingesetzte Offiziere (Kommissare, „Osobisty“) ein wichtiges Thema darstellt, wird sie bei den deutschen Autoren ausgelassen oder nur beiläufig erwähnt (im Roman von Uwe Timm). Dass Wehrmachtssoldaten an der Front geistige Betreuung durch einen speziellen Generalsstabsoffizier erhielten und seit Ende 1943 durch die Etablierung der Nationalsozialistischen Führungsoffiziere alle deutsche Militärs in NS-Ideologie geschult wurden, bleibt unerwähnt. Ideologieträger erweisen sich in den Werken von Ulla Hahn, Arno Surminski, Georgi Wladimow und Viktor Astaf´ev sowie – kritisch von jeweiligen Autoren beleuchtet – in den Darstellungen der Großeltern bei Tanja Dückers und der Eltern von Uwe Timm als „Fremdlinge“ und bekommen eine Sonderposition außerhalb des Kollektivs. Ob „Kommissare“ oder „Nazis“, ihnen wird die Schuld am Missbrauch der Soldaten zugewiesen, sie tragen auch die Verantwortung für die Verluste
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bzw. für das gesamte Regime. Man distanziert sich von ihnen und betrachtet sich selbst als Opfer dieser „Mistbande“. Sie sind „die Bösen“, denen auf der anderen Seite „die Guten“, „die einfachen Schlucker“ gegenüberstellen. Dass man diese Trennlinie nicht ziehen kann, zeigen Michail Kononow, Uwe Timm und Tanja Dückers. Sie zeigen das tiefe Eindringen der Ideologie in das Bewusstsein der „einfachen Menschen“, die sich mit der staatlichen Propaganda identifiziert haben. In ihrer Darstellung waren Ideologieträger keine isolierte Gruppe, sondern eine breite Masse der Bevölkerung, die das Regime auch getragen hat.
„Die Anderen“ im Krieg Der Krieg gegen die Sowjetunion hat die gegenseitige Wahrnehmung der Deutschen und der Russen am nachhaltigsten geprägt. Nicht nur die reale Begegnung unter den Bedingungen des Krieges ließ ein bestimmtes Fremdbild entstehen. Auch die Geschichtspolitik in der Sowjetunion und in den beiden deutschen Teilstaaten nach dem Krieg trug dazu bei, bei der Konstruktion des Fremdbildes die Erfahrung des Krieges immer wieder in den Blick zu rücken. Literarische Darstellungen der ehemaligen Feinde waren in der Zeit des Kalten Krieges sowohl in der Sowjetunion als auch in den beiden deutschen Staaten stark von der Ideologie geprägt. Das Erbe der rassistischen, antibolschewistischen und antisowjetischen Propaganda des Dritten Reiches, die Gründung zweier deutscher Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg und die darauf folgende Abkühlung des Verhältnisses zwischen Ost und West trugen zu einer immer stärkeren Polarisierung der Russlandbilder bei, die in der Literatur beider Teile Deutschlands ihren Niederschlag fand.93 Das sowjetische Deutschlandbild war in der Nachkriegszeit nicht einheitlich. Es unterlag den Bedürfnissen der politischen Konjunktur: Der ehemalige Feind musste in „Freund“ (die DDR) und „Feind“ (die BRD) geteilt werden. Die Verantwortung für die Schrecken des Krieges wurde abstrakt auf das „nationalsozialistische System“ übertragen bzw. auf den „Faschismus“, ein Begriff, der im russischen Sprachgebrauch immer noch für die Bezeichnung des Nationalsozialismus verwendet 93 Vgl. die Analyse des Russlandbildes in der deutschen Nachkriegsprosa (1943-1975) in Muratova, Guyzel: „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ Studien zum Russlandbild in der deutschen Prosaliteratur von Stalingrad bis zur neuen Ostpolitik der BRD. Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Geisteswissenschaften. Universität Duisburg-Essen 2005. 206
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wird. Laut sowjetischer Propaganda wurden die Ursachen des „Faschismus“ in der BRD nicht beseitigt, und die ehemaligen Nazis hatten immer noch einflussreiche Positionen inne. Das waren die „Feinde“, die „bösen“ Deutschen. Die DDR als „Arbeiter- und Bauernstaat“ wurde mit dem antifaschistischen Widerstand identifiziert – das waren die „Freunde“, die „guten“ Deutschen. Im folgenden Abschnitt möchte ich der Frage nachgehen, ob das Ende des Kalten Krieges und der große zeitliche Abstand zum Zweiten Weltkrieg Änderungen der Bilder zur Folge hatten, die von Deutschen und Russen in den jeweiligen Prosawerken gezeichnet werden. Welche Vorstellungen von „Anderen“ und „Eigenen“ unter den Umständen des Krieges fanden Eingang in die ausgewählten Texte? Wie bewerten die Autoren das von der jeweiligen Propaganda geschaffene negative Bild des Feindes im Krieg? Welcher Stellenwert kommt den Bildern von Deutschland und Deutschen bzw. von Russland und Russen in der Gesamtstruktur der analysierten Texte zu? Wird in den untersuchten Werken von den Autoren der Versuch unternommen, Empathie mit der „anderen Seite“ zu entwickeln? Mich interessiert, ob die Autoren die Vorurteile des intendierten Lesepublikums bestätigen bzw. rechtfertigen oder ob sie sich ihnen widersetzen, indem sie zum Beispiel gängige Stereotype in den Text integrieren, um sie als solche zu entlarven.
Das Russlandbild in den Werken deutscher Autoren Das Bild von Russland und den Russen wird in den Romanen von Uwe Timm, Ulla Hahn, Arno Surminski und Tanja Dückers auf unterschiedlichen Ebenen vermittelt. Zum einen sind es Eindrücke und Beschreibungen der Romanfiguren mitten im Kriegsgeschehen. Dazu gehören die Tagebucheintragungen des Karl-Heinz Timm in „Am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm und die Kommentare der fiktionalen Kriegsteilnehmer Robert Rosen, Walter Pusch und Heinz Godewind im Roman „Vaterland ohne Väter“ von Arno Surminski. Zu einer zweiten Kategorie gehören Russlandbilder, die aus den Erzählungen über den Russlandfeldzug ehemaliger Kriegsteilnehmer bzw. Zeitzeugen hervorgehen, die in späteren Gesprächen mit Angehörigen weitergegeben werden. Es sind Beschreibungen, wie sie in den Erinnerungen Hans Musbachs in „Unscharfe Bilder“, der Großeltern in „Himmelskörper“ und der Eltern Uwe Timms in „Am Beispiel meines Bruders“ zu finden sind.
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Vorkriegsbilder Vorstellungen von Russland und seinen Menschen hatte man in Deutschland schon lange vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Neben den Vorstellungen eines Teiles des Bürgertums von der geheimnisvollen „russischen Seele“ sowie der Liebe zur russischen Kultur, wie sie bei manchen Intellektuellen vorzufinden war, waren auch viele negative, aus Angst, Misstrauen und Unwissen entstandene Bilder von Russland und den Russen verbreitet. Arno Surminski erwähnt solche Vorurteile, die in Ostpreußen zu einem Bestandteil des „kollektiven Gedächtnisses“ wurden. „Mutter Bertha hatte gelegentlich von den wilden Reitern erzählt, die so furchterregend Uräh schreien und kleine Kinder erschrecken konnten. Seit Dschingis-Khan saß aller Schrecken, der aus dem Osten kam, auf Pferden. Wenn du nicht artig bist, holen dich die Kosaken, pflegten sie kleinen Kindern zu sagen.“94
Betont wurden auch die „Wildheit“ der Russen sowie ihre Kulturlosigkeit. „Das Wort Wildnis entsprach dem, was alle zu wissen glaubten. Im Osten verliert sich die Kultur in undurchdringlichen Wäldern, hinter der Grenze hört sie ganz auf“,95 glauben die ostpreußischen Protagonisten bei Surminski. Robert Rosens Vater, der im Ersten Weltkrieg Russen begegnet ist, sieht in ihnen „gutmütige Menschen“, die „zur Wildheit“ neigten, „wenn sie Wodka bekämen“.96 Diese traditionellen Stereotypen haben sich später als „abrufbares Wissenssegment“97 durchgesetzt und sind nicht nur in den Feldpostbriefen der Romanfiguren, sondern auch in den meisten Schilderungen der Russen im Roman vorhanden. Russische Kriegsgefangene singen melancholische Kosakenlieder, russische Dorfbewohner sind sehr religiös und russische Soldaten werden vor dem Kampfeinsatz mit Wodka „abgefüllt“.98 Auch Uwe Timms Vater hat im Anschluss an den Ersten Weltkrieg an der militärischen Intervention gegen Sowjetrussland teilgenommen und als Mitglied des Freikorps gegen „die Bolschewisten“ gekämpft. Timm deutet darauf hin, dass für seinen Vater – was aus seinen Briefen 94 95 96 97
Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 23. Ebd., S. 38. Ebd., S. 47. Latzel, Klaus: Tourismus und Gewalt. Kriegswahrnehmungen in Feldpostbriefen. In: Heer, Hannes/Naumann, Klaus (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg 1995, S. 455. 98 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 253. 208
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an den Sohn Karl-Heinz an die Ostfront hervorgeht – der Russlandkrieg eine Fortsetzung des Kampfes gegen den Bolschewismus war. Die Angst vor Russen thematisiert Uwe Timm mit dem Satz, den er von der Witwe des ehemaligen Nazi-Kreisleiters in Coburg gehört hat: „Der Russe, sagte Frau Schmidt, wenn der mal kommt, dann nehm ich mir einen Strick.“99 Nationalsozialistische Feindbilder Doch vorher kamen die Deutschen in die Sowjetunion. „Wenn nur Russland bald kaputt wäre“,100 schrieb Timms Bruder an den Vater im August 1943. Der Kolonialwarenhändler Walter Pusch im Roman von Arno Surminski beschreibt in den Briefen an seine Frau die Russen als „Bestien“, das „arme, verhetzte und dumme Volk“ und „Lumpenpack“.101 Auch Robert Rosen trägt in sein Tagebuch ein: „Wo man hinsieht, ist Menschendreck. Dagegen war Polen Gold.“102 Das ist die Sprache des „Herrenmenschen“, der die slawischen Völker vornehmlich als „Untermenschen“ wahrnimmt. Mit der Formel „so dachten sie damals“ umgeht Arno Surminski das Problem der antislawischen Propaganda der Nazis und ihrer destruktiven Kraft. Dass solche Ausdrücke „eine selbstverständliche Rede“ im Dritten Reich waren, erwähnt Uwe Timm, denn er selbst wollte als Dreijähriger angeblich „alle Russen totschießen“.103 Timm wundert sich, wie es dazu kam, dass ein Kind solch einen seltsamen Wunsch hatte. Doch im Gegensatz zu Surminski, der sich mit der Erklärung „so dachten sie damals“ zufrieden gibt, weist Uwe Timm auf die Konstruktion des nationalsozialistischen Russlandbildes im Dritten Reich und seine blutigen Folgen hin. „Es ist die angelernte Sprache, die das Töten erleichtert: Untermenschen, Parasiten, Ungeziefer, deren Leben schmutzig, verkommen, vertiert ist. Das auszuräuchern ist eine hygienische Maßnahme.“104 Bei mehreren Versuchen, das Tagebuch des Bruders zu lesen, muss Timm immer bei einem Satz aufhören: „Brückenkopf über Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG“.105 Für seinen Bruder blieb „der Iwan“ eine Abstraktion, ein Un-Mensch, eine Zielscheibe. Uwe Timm bemüht sich, diesem abstrakten Feind
99 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 26. 100 Ebd., S. 27. 101 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 140. 102 Ebd., S. 146. 103 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 57. 104 Ebd., S. 94. 105 Ebd, S. 19. 209
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menschliche Züge zu verleihen und sich in „den Iwan“ hineinzuversetzen. Ein Fressen für mein MG: ein russischer Soldat, vielleicht in seinem Alter. Ein junger Mann, der sich eben eine Zigarette angezündet hatte – der erste Zug, das Ausatmen, dieses Genießen des Rauchs, der von der brennenden Zigarette aufsteigt, vor dem nächsten Zug. An was wird er gedacht haben? An die Ablösung, die bald kommen musste? An den Tee, etwas Brot, an die Freundin, die Mutter, den Vater? Ein sich zerfaserndes Rauchwölkchen in dieser von Feuchtigkeit getränkten Landschaft, Schneereste, Schmelzwasser hatte sich im Schützengraben gesammelt, das zarte Grün an den Weiden. An was wird er gedacht haben, der Russe, der Iwan, in dem Moment? Ein Fressen für mein MG.106
Während Timm das Porträt eines sympathischen jungen Mannes zeichnet, der in jedem Moment der Kugel seines Bruders zum Opfer fallen kann, entsteht im Roman von Ulla Hahn ein ganz anderes „Iwan“-Bild, nämlich als Täter, dessen Gefährlichkeit als Erklärung und Rechtfertigung für die eigene Gewaltbereitschaft dient: „Aus dem Wäldchen kommt ein Russe, unbekümmert, deutlich erkennbar die selbstgedrehte Zigarette, Machorka. Ich verfolge ihn mit dem Fernglas, schieße nicht. Wenig später sehe ich, wie er die Zigarette wegwirft, das Gewehr hochreißt, in unsere Richtung zielt, feuert. Abends wird einer von uns in seinem Loch mit Kopfschuss gefunden. Du, und da habe ich mich wirklich geschämt, nicht selbst geschossen zu haben. Wo hört im Krieg die Notwehr auf, und wo fängt der Mord an?“107
Uwe Timm deutet auf die Unterschiede in der Kriegsführung an der West- und Ostfront und auf die Unterschiede in der Wahrnehmung des Krieges im Westen und im Osten hin, was unter anderem die Voraussetzung für das brutale Vorgehen gegen die Kriegsgefangenen und die Zivilbevölkerung war. Die Westfront symbolisierte Lässigkeit, Genuss, Triumph und ein entspanntes Besatzerdasein. Westfront, so Timm, stand für „Lachs aus Norwegen, die gute Butter aus Dänemark, und dann – natürlich – Frankreich: Seidenstrümpfe, Trüffel, Wein, Champagner. Als Soldaten waren sie ziemlich schlapp, aber die Lebensart, also wirklich – tipptopp. Und die Frauen? Einfach klasse.“108
106 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 19. 107 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 55f. 108 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 100. 210
„DIE ANDEREN“ IM KRIEG
Ganz anders war der Osten: „Der Osten war weit. Getreide, Bodenschätze, alles riesig. Flöhe, unwegsame Straßen, die Menschen gutwillig. Keine Ordnung. Einmal in eine russische Kate gucken. Unglaublich. Der Osten, das war Lebensraum, Lebensraum für die verdienten Kämpfer der SS, die künftigen Erbhofbesitzer. Die adretten Bauernhäuser im Fachwerkstil waren von den Siedlungsbeauftragten schon in Planung gegeben worden. Man konnte Modelle besichtigen. Aber in dem Siedlungsland lebten zunächst einmal noch Millionen von Russen, Polen, Ukrainern und Juden. Auch dafür gab es Lösungen: die Umsiedlung für die slawischen Untermenschen und die Endlösung der Judenfrage. Endlösung. Ein Wort, das für immer geächtet bleiben wird. Und ein Beleg dafür, dass auch die Sprache, die deutsche, ihre Un-Schuld verloren hat.“109
Diesen Grundgedanken der nationalsozialistischen Propaganda „vom schönen, reichen und begehrenswerten Land der Russen sowie von seinen minderwertigen Menschen“ bezeichnet Manfred Weißbecker als eine der auffälligsten Grundkonstanten des Russlandbildes im Dritten Reich.110 „Dieses Russland hat fruchtbare Erde, aber alles ist verkommen. Hier müssten deutsche Bauern angesiedelt werden, um die Wirtschaft in Schuss zu bringen. [...] Wenn hier später deutscher Organisationsgeist, deutscher Fleiß und deutsche Arbeit das Land roden 111 und bebauen, kann ein wunderschönes Stück Erde entstehen“, bekunden die durch Russland marschierenden Soldaten in „Vaterland ohne Väter“. Diese Demonstration der Überlegenheitsgefühle steht im starken Kontrast zu der Art und Weise, wie die Handlungen der stets freundlichen und niemals mordenden Soldaten im Roman geschildert werden. Es bleibt unverständlich, warum nach solchen Äußerungen im Tagebuch ihres Vaters die 60-jährige Tochter Rebeka darauf beharrt, dass er „völlig ahnungslos“ gewesen sei. Viel häufiger als solche gelegentlichen Herrenmenschen-Vokabeln und antisemitischen Äußerungen sind im Tagebuch Robert Rosens die Schilderungen der fremdartigen Schönheit der russischen Natur vorzufinden, die ihn beeindruckt. Er scheint eine neue Welt für sich entdeckt zu haben.
109 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 101. 110 Weißbecker, Manfred: „Wenn hier Deutsche wohnten …“ Beharrung und Veränderung im Russlandbild Hitlers und der NSDAS. In: Volkmann, Hans-Erich (Hrsg.): Das Russlandbild im Dritten Reich, Wien 1994, S. 10. 111 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 99. 211
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Freundliche Russen Doch auch Ulla Hahn ist in ihrem Roman um eine Perspektivenerweiterung und den Einbezug der russischen Seite bemüht. Zwar schildert sie ein kaum realistisches Zusammenleben von Hans Musbach mit russischen Partisanen, was ihr aber erlaubt, die „andere Seite“ in die Kriegsdarstellung mit einzubeziehen. Allerdings geht die Darstellung der Partisanen kaum über gängige Stereotypen hinaus, wenngleich sie positiv und mit Empathie gezeichnet sind. Sie wollten ihre Erde, ihre Dörfer und Städte wieder für sich haben, wieder bei sich zu Hause sein, das hieß für sie: das Vaterland befreien. Ihr Glaube an den Sinn ihres Kampfes war unerschütterlich, und darum waren sie uns auch so unendlich überlegen.112
Die Partisanin Wera, in die sich Musbach verliebt, symbolisiert die starke russische Frau, selbstbewusst und gleichzeitig schüchtern, die etwas Geheimnisvolles in sich birgt. Wera spricht altmodisches Deutsch, das sie in der Schule gelernt hat. Ihre Eltern gehörten zur jüdischen Intelligenz und wurden von Nachbarn an die Deutschen verraten und später erschossen. Wenn Wera darüber spricht, gilt ihr Hass nicht den Deutschen, sondern diesen Nachbarn, die zugesehen haben. „‚Alle haben es gewusst‘, stieß sie bitter hervor. Zugesehen. Nachbarn auch. Die durften dann die Kleider haben.“113 Mit Tränen in den Augen erzählt der alte Musbach die Geschichte des russischen Jungen Kolja, der auch bei den Partisanen war und an Erschöpfung starb. Es ist die einzige Romanstelle, in der Musbach so etwas wie Mitleid mit dem „Feind“ empfindet und ihn die Erinnerung schmerzt. Auch alle anderen dargestellten Beziehungen zwischen den Wehrmachtsangehörigen und der sowjetischen Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten sind in „Unscharfe Bilder“ positiv, beide Seiten verhalten sich freundlich zueinander. Gewaltaktionen der Besatzer gegen die Zivilbevölkerung finden nicht statt. „Ja, hier zogen wir durch eine Fülle von Blumen und Gärten, und – ich übertreibe nicht – die Menschen bewarfen uns manchmal sogar mit Blumen“,114 erinnert sich Hans Musbach in einem langen Monolog über seine Kriegserfahrung. Es finden sich auch einige Verbrüderungsszenen mit russischen Bauern im Roman. Von einem dieser Bauern, dem Musbach die entlaufene Ziege zurückbrachte, ist er zum Wodka-Trinken eingeladen worden. Nach einigen Runden schrie Musbach „Hitler kaputt“ als Antwort auf „Stalin 112 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 222. 113 Ebd., S. 227. 114 Ebd., S.42. 212
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kaputt“ seines Gastgebers.115 So wird der Eindruck vermittelt, dass Musbach schon am Anfang des Krieges solche regimekritischen Gedanken nicht zurückhielt und keine Angst vor Bestrafung hatte. Gleichzeitig zeichnet Ulla Hahn das Bild von unterdrückten russischen Bauern, die nach der Katastrophe der Kollektivierung Stalin hassten und die Deutschen als Befreier begrüßten. Auch im Roman von Arno Surminski zeigt sich die russische Bevölkerung stets freundlich und dienstbereit. Die Menschen bringen den deutschen Soldaten immer etwas zu essen, waschen ihre Kleidung, bieten ihnen Unterkunft. „Dorfbewohner bringen uns Brot und Milch. Sie sind freundlich. [...] Sie sagen, die deutschen Soldaten sollten bleiben, sie sind besser als die Bolschewisten“,116 steht im Tagebuch von Robert Rosen. Es fehlt allerdings ein größerer Kontext, um Schlüsse über das freundliche Verhältnis der einheimischen Bevölkerung gegenüber Wehrmachtsangehörigen und dessen Hintergründe ziehen zu können. Es mag für die ersten Kriegsmonate zutreffen, dass die Bevölkerung in den westlichen Gebieten der Sowjetunion, vor allem in der Ukraine, eine durchaus positive Einstellung gegenüber den deutschen Truppen hatte. Diese sowjetischen Gebiete hatten besonders an den Folgen der gewaltsam durchgeführten Kollektivierung des Landes zu leiden: Tausende Großbauern waren als „Volksfeinde“ nach Sibirien oder Mittelasien verbannt worden; die Hungersnot Anfang der 30er Jahre hatte ganze Dörfer ausgelöscht. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung äußerte sich in Sympathien mit dem fremden Besatzungsregime. Es sei allerdings bemerkt, dass bereits nach einigen Monaten der Besatzung, die brutal gegen die Zivilbevölkerung vorging, die mancherorts positive Haltung gegenüber den Deutschen merklich nachließ. Freundliche Deutsche Ein immer wiederkehrendes Motiv ist der freundliche Umgang der deutschen Soldaten mit russischen Kindern, denen sie Schokolade schenken. Die Romanfiguren bei Ulla Hahn und Arno Surminski sind „gute Soldaten“, die sich im Krieg korrekt gegenüber der Bevölkerung in den besetzten Gebieten verhalten. Die starke Betonung der Deutschenfreundlichkeit verfehlt die Intention, die russische Perspektive in die Darstellung zu bringen. Denn es bleibt unklar, warum sich die sowjetischen Menschen trotz ihres Hasses auf die eigene Führung und eines guten Verhältnisses zu den Deutschen so vehement gegen die Besatzung wehrten. „Ich kann
115 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 60. 116 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 65. 213
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es nur der Dummheit oder dem organisierten Hass der Russen zuschreiben, dass sie sich derart verteidigen. Wofür kämpfen sie? Für ein elendes Leben in einem elenden Land?“,117 fragt sich ein Protagonist im Roman von Surminski, und der Autor gibt auf diese Frage keine Antwort. Es bleibt unverständlich, welche Motive und Gründe die Menschen in der Sowjetunion dazu bewegten, gegen die Deutschen zu kämpfen. „Ich habe keinen Grund, diesen Menschen mir gegenüber zu töten. Und dieser mich, Hans Musbach, auch nicht“,118 so der Romanheld in „Unscharfe Bilder“. In diesem Kontext erwähnt Ulla Hahn keine Pläne der NaziFührung zur Ausrottung und Versklavung der minderwertigen slawischen „Untermenschen“. Anders schildert Uwe Timm den Kriegsdienst seines Bruders an der Ostfront. Er verzichtet auf jegliche Spekulationen über mögliche Liebesaffären mit einheimischen Frauen und erwähnt die Richtlinie, gemäß welcher den SS-Angehörigen strikt verboten war, „Beziehungen zu ukrainischen Frauen und Mädchen aufzunehmen, die Herrenrasse sollte sich nicht mit den minderwertigen Slawen vermischen.“119 Timm geht davon aus, dass sein Bruder diesem Gebot auch folgte. Auch Karl-Heinz Timm notiert in seinem Tagebuch, dass sich die Zivilbevölkerung freute und den SS-Soldaten Obst brachte. Das verwundert ihn: „Scheinbar haben diese Leute hier unten noch nichts mit der SS zu tun gehabt.“120 Bei der Beschreibung des Quartiers legt er viel Wert darauf, dass es „schön sauber und penibel“ sei. Kampfmoral der Russen Auch die Kriegsführung und die Kampfmoral der Russen werden in den Romanen von Ulla Hahn und Arno Surminski kommentiert. Eine negative Einschätzung bekommen sowohl die Fähigkeiten der sowjetischen Kriegsführung als auch die kämpferischen Qualitäten der Soldaten: “Ob sie uns treffen oder ihre Leute oder ein Loch in den Schnee schießen, es bedeutet ihnen nichts“.121 „Sie verfügen über so viel Menschenmaterial, es macht ihnen nichts aus, täglich Tausende in den Tod zu schicken.“122 Die deutschen Frontkämpfer im Roman von Surminski bekunden ihre Verachtung der Roten Armee und schreiben die hohen Verluste auf der sowjetischen Seite dem Konto der sowjetischen Führung zu. „Die Russen leisteten wenig Widerstand, sie lockten uns in ihr Reich wie dumme Kin117 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 139. 118 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 56. 119 Timm, Uwe: Unscharfe Bilder, S. 92. 120 Ebd. 121 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 242. 122 Ebd., S. 253. 214
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der in den Zauberwald“,123 so schildert Hans Musbach den Rückzug der sowjetischen Armee. Dabei erscheint Russland als ein geheimer „Zauberwald“. Somit bleibt die deutsche Niederlage unerklärt. Russische Kriegsgefangene Oft erleben die Romanfiguren Russen als Kriegsgefangene. Die Autoren greifen zu unterschiedlichen Deutungsmustern: Ulla Hahn versucht, Sympathien für die russischen Gefangenen zu wecken, doch sie bedient sich dabei der gängigen Stereotypen vom melancholischen Russen, der traurige Lieder singt. „ ,O weh, im Schnee, in Russlands tiefem Schnee’, wiederholen sie unablässig und schauen uns dabei freundlich an; Beifall heischend wie Kinder, wenn sie ein Gedicht fehlerlos zu Ende aufgesagt haben“,124 erinnert sich Hans Musbach an die Weihnachtsfeier im Unterstand. Dabei bleibt unerwähnt, dass solch menschliche Behandlung der russischen Kriegsgefangenen eine Ausnahme war, die Regel aber die planmäßige Vernichtung durch Hunger, Kälte und Krankheiten. Auch bei Surminski begegnet man den singenden russischen Gefangenen, die als Arbeitskraft auf dem ostpreußischen Gutshof von Robert Rosens Eltern eingesetzt sind. Sie sind gutmütig, flößen aber wegen ihrer „Schlitzaugen“ den Hofbewohnern Angst ein. Bei der Beschreibung der Gefangenen benutzt Surminski die üblichen Klischees. Die Russen bekommen asiatische Gesichtszüge und entsprechen in dieser abschätzigen Darstellung eher dem Feindbild der Nazi-Propaganda als der Wirklichkeit: „[...] Gesichter ohne jede Regung, runde Monde mit hervorstehenden Backenknochen, asiatische Schlitzaugen, ein Bart wie Väterchen Stalin, jugendliche Milchgesichter, die vergessen hatten, wie Lachen geht.“125 Das wahre Schicksal der russischen Kriegsgefangenen, von denen mehr als die Hälfte unter unmenschlichen Haftbedingungen ums Leben gekommen sind, erwähnt auch Surminski nicht.126 Bei den Aussagen Robert Rosens, dass die Gefangenen nach Deutschland geschickt werden, „um die Zerstörungen in den Städten aufzuräumen“, wird die Verantwortung dafür auf die Engländer übertragen, die deutsche Städte zerstören: „So wäscht eine Hand die andere“.127 Im Tagebuch von KarlHeinz Timm werden gar keine Gefangenen erwähnt, was den Erzähler und Bruder vermuten lässt, dass die Russen entweder „sofort getötet“ wurden oder „die Russen ergaben sich nicht. Eine dritte Möglichkeit ist,
123 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 101. 124 Ebd., S. 117. 125 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 106. 126 Siehe dazu das Unterkapitel „Darstellung von Kriegsverbrechen“. 127 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 103. 215
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dass er es nicht für erwähnenswert hielt.“128 Die Geschichten, die er von seinem Vater und anderen Kriegsteilnehmern über den Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen hört, bezeugen jedoch die Härte des Vorgehens. Nach dem Krieg: Russen als Täter Im Roman von Tanja Dückers findet man zwar keine Darstellungen „Russlands“ und „der Russen“, wie sie von Kriegsteilnehmern während des Krieges wahrgenommen wurden; statt dessen präsentiert sie eine ganze Reihe von negativen Russlandbildern, wie sie nach dem Krieg verbreitet waren. So spielt der Großvater mit seiner damals noch kleinen Tochter Renate „Russe“, indem er ihre Sandburg kaputt macht: „[...] einfach so, einmal mit dem Stiefel draufgetreten, das weiß ich noch.“129 Auch Großvaters Kriegserzählungen wecken bei den Enkeln den Verdacht, „der Russe musste ein besonders fieses Monster sein.“130 In den Erinnerungen beider Großeltern werden Russen stets als Täter, als Handelnde, nie als Opfer dargestellt. Dabei konzentrieren sich die Erzählungen der Großmutter auf den Einmarsch der Roten Armee in Ostpreußen. „Und dann hat die russische Meute sich über mein Königsberg hergemacht. Aus zwei Tagen Plünderei, wie sie angekündigt waren, wurden Monate voller Raub, Vergewaltigung, Mord. Und die Bewohner waren alledem einfach ausgeliefert. Wie eine Bestie hat der Russe dort gewütet.“131
Laut Marlies Steinert blieben die Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in der Nachkriegszeit der stärkste Motor des sich in Westdeutschland rapide ausbreitenden Antikommunismus und der antirussischen Sentiments.132 Uwe Timm beschreibt die Atmosphäre der 50er und 60er Jahre, in der oft vom Russlandkrieg die Rede war, allerdings nie von den Verbrechen der Deutschen in der Sowjetunion. „Die Russen“ waren „böse“ und „heimtückisch“, die eigene Schuld wurde verdrängt und in einem kollektiven Abwehrvorgang auf die Russen projiziert.
128 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 36. 129 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 299. 130 Ebd., S. 87. 131 Ebd., S. 106. 132 Zit. in Wette, Wolfram: Das Rußlandbild in der NS-Propaganda. Ein Problemaufriss. In: Volkmann, Hans-Erich (Hg.): Das Russlandbild im Dritten Reich. Köln, Weimar, Wien 1994, S. 75. 216
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„Stalingrad, Charkow und Kiew waren die Städtenamen, die in Gesprächen immer wieder fielen. Die Schlacht um Stalingrad. Die Rückeroberung Charkows, an der der Bruder beteiligt war. [...] Von Kiew wurde erzählt, wie die Russen vor ihrem Rückzug 1941 Häuserblocks, ganze Stadtviertel, mit Sprengsätzen unterminiert und, nachdem die Deutschen eingerückt waren, die Häuser durch Fernzündung in die Luft gesprengt hatten. Nicht geredet wurde über Babij Jar, eine Schlucht in der Nähe von Kiew.“133
Tanja Dückers, die in „Himmelskörper“ die Kindheit ihrer Romanheldin Freia im Westberlin der 80er Jahre schildert, betont, dass derartige Schuldzuweisungen nicht nur an den Stammtischen der ewig Gestrigen zu hören waren, sondern auch in den Schulen. „Und so schritten wir von der Kapitulation des Deutschen Reiches zu den Rosinenbombern, zum Wiederaufbau, zum großen Staatsmann Adenauer, zum transatlantischen Bündnis, zur NATO, zur niederträchtigen DDR, und – ganz wie gehabt – zu den bösen Russen“,134 beschreibt Freia ihren Geschichtsunterricht in der Schule. Versöhnungsversuche Uwe Timm beschreibt in „Am Beispiel meines Bruders“ seine Reise in die Ukraine, zu dem Ort, wo sein Bruder gefallen ist und begraben wurde, „wo er andere verwundet und getötet hat.“135 Er hält einen Vortrag vor ukrainischen Germanisten und fühlt sich beschämt wegen ihrer Herzlichkeit und Gastfreundschaft, weil er an die Vergangenheit denken muss. Einen Nachmittag lang verbringt Timm mit seinem ukrainischen Fahrer und dessen Eltern im Garten vor ihrem halb fertiggebauten Haus. Als Timm seinen Fahrer nach dem Krieg fragt, „schüttelte [er] den Kopf, ohne mich anzusehen. Ihm war anzumerken, er wollte nicht darüber reden. Nach einem kleinen Augenblick schaute er mich an und hielt das Glas hoch. Wir stießen an. Druschba!“136 Diese Versöhnungsbereitschaft der Menschen in der Ukraine, die Abwesenheit jeden Hasses gegenüber den Deutschen, steht im Gegensatz zu den Erzählungen über die „bösen Russen“, wie Timm sie in seiner Jugend hörte oder wie sie von den Großeltern im Roman von Tanja Dückers wiederholt werden. Bei Timm werden „die Russen“ zu Menschen, die ihren Alltag bewältigen und ihre Sorgen haben. Trotz der kritischen Distanzierung von dem Kollektivsingular „der Russe“ bleibt im Roman von Tanja Dückers der Versuch, die andere 133 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 140. 134 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 95f. 135 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 123. 136 Ebd., S. 129. 217
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Seite zu verstehen, abstrakt und nebensächlich. Nur kurz wird darauf hingedeutet, dass Freias polnischer Onkel Kasimierz sich das Leben nahm, weil er sein Leben lang unter einem Kriegstrauma gelitten hatte – er ist im zerbombten Warschau ohne Familie aufgewachsen. Freias Versuch, sich Polen anzunähern, scheitert, doch die Auseinandersetzung ist aufrichtig und darauf gezielt, in der Familie herrschende Klischees über den Osten abzubauen. Als Ergänzung muss erwähnt werden, dass nicht nur die „Russen“ in den hier untersuchten Romanen als „Fremde“ agieren und wahrgenommen werden. Als „Fremde“ und „Verräter“ betrachtet der Vater des Erzählers in „Am Beispiel meines Bruders“ Emigranten wie Thomas Mann und Marlene Dietrich, die ins Exil gegangen sind und die Alliierten im Krieg gegen Nazi-Deutschland unterstützt haben. Und Großvater Mäxchen in „Himmelskörper“ sieht in Juden immer noch Feinde und „Schmarotzer“. Zusammenfassung Resümierend lässt sich feststellen, dass es kein einheitliches Russlandbild in der deutschen Gegenwartsprosa über den Krieg gegen die Sowjetunion gibt. Alle Autoren sind um political correctness gegenüber der „anderen Seite“ bemüht, allerdings mit unterschiedlichen Konsequenzen. In den Romanen von Ulla Hahn und Arno Surminski dominiert eine gewisse Idealisierung der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Angehörigen der deutschen Wehrmacht und der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Die Gewaltakte gegen die Zivilisten finden dagegen keine Erwähnung. Deshalb bleibt es unverständlich, welche Motive und Gründe die Menschen in der Sowjetunion dazu bewegten, gegen die Deutschen zu kämpfen. Ulla Hahn erwähnt keine Pläne der Nazi-Führung zur Ausrottung und Versklavung der minderwertigen slawischen „Untermenschen“. Im Roman von Arno Surminski, der sehr anschaulich und wahrheitsgetreu die vom Nationalsozialismus beeinflusste negative Einstellung gegenüber Russland bei seinen Protagonisten schildert, steht diese im Widerspruch mit ihren Handlungen und ihren Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung. Im Roman von Surminski dominieren stereotype Russlandbilder von dienstbaren, hilfsbereiten und unberechenbaren Russen, die in ihrem Wesen als einfach, wenn nicht gar primitiv beschrieben werden. Die russische Kriegsführung sei brutal, die Partisanen gefährlich, russische Kriegsgefangene tragen asiatische Grundzüge und in Ostpreußen erschreckt man die Kinder mit Geschichten von den wilden Kosaken. Surminski unternimmt keinen Versuch, diese Vorurteile zu entlarven oder zu hinterfragen. Seine Behauptungen sind zum Teil falsch, so wie
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zum Beispiel seine Überzeugung, dass in Russland der 8. Mai als ein großer Feiertag gefeiert, während der 22. Juni, der Tag des deutschen Überfalls, als Tag der Schande verschwiegen werde.137 Die sowjetischen Kriegsopfer erfahren im Roman nur wenig Empathie. Sie werden meistens nicht erwähnt und wenn, dann nicht mit Handlungen der Deutschen in Verbindung gebracht. Die gute Behandlung von Zivilbevölkerung, Gefangenen und Verwundeten durch die Deutschen wird durch das stets positive Verhalten der Russen den Besatzern gegenüber unterstrichen. Ebenfalls nicht frei von (teilweise positiven) Stereotypen in der Beschreibung Russlands und der Russen ist der Roman von Ulla Hahn. Die Vorstellung von der Hilfsbereitschaft und Güte des einfachen russischen Menschen findet ihre Bestätigung. Beim Versuch, das Klischee vom „bösen Partisanen“ zu entlarven, greift Ulla Hahn zur Darstellung einer Liebesgeschichte, die an manchen Stellen ins Kitschige übergeht. Das Russlandbild im Roman von Ulla Hahn basiert auf den Vorstellungen der Autorin von der geheimnisvollen, melancholischen „russischen Seele“ sowie der Weite der russischen Landschaft. Die negativen Russlandbilder, die der Ich-Erzähler in „Am Beispiel meines Bruders“ in seiner Umgebung registriert, führt er auf die antirussische Nazi-Propaganda und die Pläne der Nationalsozialisten zur Ausrottung der slawischen „Untermenschen“ zurück. Mit dieser Erklärung bleibt Uwe Timm allerdings ein Ausnahmefall. Eine Ausnahme bildet Uwe Timm auch in anderer Hinsicht: Sein Werk bietet dem Leser die Möglichkeit der Reflexion der Eigenbilder im Spiegel des Fremden durch eine selbstkritische, distanzierte Darstellung des Fremden, die eine emotional und ideologisch gesteuerte Argumentation verhindert. Timms autobiographischer Bericht sowie der Roman von Tanja Dückers „Himmelskörper“ geben anschaulich Auskunft über die Russlandbilder, die in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft verbreitet waren. Es dominieren negative Bilder von Russen als „Täter“, nie werden Russen als Opfer beschrieben. Die am meisten wiederholten Motive sind dabei der Einmarsch der Roten Armee in Ostpreußen und die Heimtücke der russischen Partisanen. Es ist bemerkenswert, dass sowohl Uwe Timm als auch Tanja Dückers „literarische Reisen“ in den Osten unternehmen, um den Menschen in den von den Deutschen während des Krieges besetzten und zerstörten Gebieten zu begegnen. Diese „literarischen Reisen“
137 In Russland wird der 9. Mai als „Tag des Sieges“ gefeiert, der 22. Juni ist dagegen ein Trauertag. 219
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symbolisieren den Wunsch nach Versöhnung und Verständnis, ähnlich wie die von Ulla Hahn in ihren Roman eingeführte Liebesgeschichte. Obwohl die Russlandklischees nicht ganz überwunden werden, bemühen sich diese Autoren dennoch mit literarischen Mitteln um Völkerverständigung – eine Entwicklung im Vergleich zur west-deutschen Kriegsprosa der 50er und 60er Jahre.
„Die Anderen“ in den Werken russischer Autoren Das geschichtliche Deutschlandbild in Russland sollte man als Bestandteil des Bildes vom gesamten Westen betrachten, das seinerseits einen starken Konfrontationsgrad aufweist. Diese Konfrontation mit dem Westen ist ein Merkmal der russischen Geschichte bis heute und hat das geschichtliche Deutschlandbild der Russen stark beeinflusst. Die Deutschen galten stets gleichzeitig als Gegenpart und angestrebtes Vorbild. Die Konfrontation mit ihnen schloss Elemente technischer und kultureller Nachahmung nicht aus. Die Deutschen als „Kulturvolk“ Das deutsche Feindbild in der Sowjetunion erfuhr eine deutliche Prägung durch den Ersten Weltkrieg, der eine gewisse „Germanophobie“ hervorrief. Diese „Germanophobie“ wurde durch die Zusammenarbeit in den Jahren 1922 bis 1933 gemildert. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten löste eine starke antifaschistische Propagandawelle aus. Jedoch blieb Deutschland im Bewusstsein vor allem der sowjetischen Intelligenz selbst unter der nationalsozialistischen Herrschaft ein Land der westeuropäischen Zivilisation, dessen technische und kulturelle Leistungen anerkannt wurden. Vorstellungen wie „Was haben wir zu befürchten? Die Deutschen sind doch kultivierte Menschen!“ oder „Die Deutschen sind die kultivierteste Nation Europas!“ waren noch im Herbst 1941 in Moskau verbreitet. Diese Einstellung reflektiert Daniil Granin in „Jenseits“: Als sich sowjetische Truppen im Herbst 1941 vor den anrückenden deutschen Truppen aus den Leningrader Vororten zurückzogen, gab es Pläne, die Schlösser zu sprengen, die jedoch nicht realisiert wurden. Panisch und empört zeigt sich der alte Wärter des Katharinenpalastes in Granins Novelle, der noch versucht, die Kunstschätze zu retten. „Ich lass` es nicht zu! Den Palast sprengen! Er ist kein Militärobjekt! Sie haben kein Recht dazu!“ „Nun wiederhol mal, für wen bewachst Du ihn denn?“, sagte Osadčij drohend.
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„Ja, die Deutschen sind ein Kulturvolk, sie werden es sich nicht erlauben, hoffe ich...“ „Habt ihr gehört? Die Faschisten sind ein Kulturvolk! Sie haben Bücher verbrannt. Er hofft auf die Deutschen, dieser Drecksack!“138
Klassendenken am Anfang des Krieges Die Erziehung der meisten „einfachen“ Soldaten in der proletarischen Klassenideologie führte jedoch dazu, dass sie in der Anfangsphase des Krieges die deutschen Arbeiter und Bauern aus dem Feindbild aussonderten und versuchten, deren Bild von dem der „Herren Ausbeuter“ zu trennen.139 Sie nahmen den Feind so wahr, wie sie es von Kindheit an – in den Schulen, in den Betriebsversammlungen, in den Zeitungen – gelernt hatten: Deutschland sei ein fortschrittliches Land, die Faschisten hätten dort die Macht ergriffen, unterstützt von „RuhrMagnaten und Sozial-Verrätern“, das deutsche Volk sei gegen sie, die deutschen Soldaten seien entweder von Kapitalisten belogen worden, oder sie würden aus Angst vor Hinrichtung in den Kampf gehen. Wenn man den in Militäruniform verkleideten Arbeitern und Bauern die „Wahrheit“ erklären würde, würden sie ihre Waffen niederwerfen. So glaubt auch Motte im Roman „Die nackte Pionierin“, dass die deutschen Soldaten alle „im tiefsten Innern“ Kommunisten seien, die Hitler „bloß übern Löffel balbiert und gewaltsam an die Front getrieben“ hätte.140 „Und was das Typische ist: Kein einziger von diesen blonden Putern kommt auf die glorreiche Idee, seine naturgegebene Solidarität der ausgebeuteten Klasse mit der fortschrittlichen und fast vollständig alphabetisierten sowjetischen Landbevölkerung zu bekunden.“141
„Unsere Armee“, schrieb Il´ja Erenburg, „kannte in den ersten Kriegsmonaten keinen Hass gegenüber der deutschen Armee.“142 „Wir ließen eine Stadt nach der anderen zurück, und ich hatte von den Rotarmisten häufig gehört, dass die Soldaten des Gegners von den Kapitalisten und Gutsbesitzern zu uns getrieben wurden, und wenn man den
138 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 669. 139 Senjavskaja, Elena S.: Deutschland und die Deutschen in den Augen sowjetischer Soldaten. In: Scherstjanoi, Elke (Hrsg.): Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen. München 2004. S. 250. 140 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 74. 141 Ebd., S. 73. 142 Zit. in Olejnikov, Dmitrij: „Vy, gospoda, ne ponimaete nemza…” Otnošenie k Germanii kak k protivniku. In: Rodina (2002) 10, S. 7. 221
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deutschen Arbeitern und Bauern die Wahrheit erzählt, werden sie die Waffen hinschmeißen.“143 Die Reden von Stalin bestimmten auch die Wortwahl für die Beschreibung des deutschen Feindbildes in der sowjetischen Propaganda. Auch hier ist immer noch deutlich der Versuch zu sehen, die Begriffe „deutsch“ und „faschistisch“ auseinander zu halten. So wurde die Wehrmacht von Stalin z.B. als „die faschistische Hitlerarmee“ dargestellt. Der Vormarsch der deutschen Truppen, die Zerstörungen und der begonnene Massenmord brachten eine schnelle Ernüchterung. Das Bild vom „Faschisten-Feind“ wurde im Laufe des Krieges zunehmend national eingefärbt und transformierte im öffentlichen Bewusstsein zum Bild vom Deutschen als Feind. Der Schriftsteller Konstantin Simonov schenkte diesem Phänomen der öffentlichen Wahrnehmung wiederholt seine Aufmerksamkeit: „Am häufigsten sagte man damals ,die Deutschen’. Man sagte ,der Deutsche’, man sagte ,er’. Von ,Hitlerleuten’ war vor allem in schriftlichen Berichten und allen möglichen offiziellen Mitteilungen über die Vernichtung des Gegners die Rede. ,Faschist’ oder ,Faschisten’ sagte man ziemlich häufig, obgleich deutlich weniger häufig als ,Deutscher’ oder ,die Deutschen’.“144 Deutschland erschien als ein starker, gut bewaffneter Staat, und der deutsche Soldat als ein fähiger, gut vorbereiteter, disziplinierter Gegner. Deutsche Kriegsführung Eine durchwegs positive Einschätzung bekommen in den hier untersuchten Romanen russischer Schriftsteller sowohl die Fähigkeiten der deutschen Kriegsführung als auch die hohen kämpferischen Eigenschaften der deutschen Soldaten. Ihre Disziplin und Organisation sowie kluge strategische Entscheidungen der Generäle lassen die Erzähler in den Romanen von Viktor Astaf´ev und Georgi Wladimow die allgemeine „Achtung“ vor deutschen Soldaten bekunden. „Das ist ein echter Deutscher, er kann arbeiten und weiß nur das, was er wissen muss. Unsere Nachrichtenmänner wissen alles über alles, ohne arbeiten zu können“,145 sagt ein russischer Offizier nicht ohne Bewunderung beim 143 Zit. in: Tschewtajkina, Natalja: Wissenschaftler, Genossen und Faschisten. Das russische Deutschlandbild im 20. Jahrhundert. In: Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst (Hg.) Unsere Russen – Unsere Deutschen. Bilder vom Anderen 1800 bis 2000. Berlin 2007, S. 72. 144 Senjavskaja, Elena S.: Deutschland und die Deutschen in den Augen sowjetischer Soldaten. In: Scherstjanoi, Elke (Hrsg.): Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen. München 2004, S. 251. 145 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 569. 222
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Verhör eines gefangenen deutschen Soldaten im Roman von Viktor Astaf´ev. Immer wird ein Vergleich mit der russischen Armee gezogen, die dabei deutlich schlechter wegkommt und nicht den gleichen Grad an Disziplin und Kampffähigkeit erreicht wie die deutsche. „Wie ist bei ihnen alles gut organisiert! Alle Achtung! Deshalb halten sie auch nur halb so viel Dienerschar in den Stäben. Beim Komplettieren der Armee und der Divisionen ist der Mannschaftsbestand drei mal so groß wie bei uns, und die Ordnung – fünf mal so groß“,146 so derselbe Offizier bei Astaf´ev. Gewissenhaftes Arbeiten und Disziplin in allem – das sind die Haupteigenschaften der Deutschen in den Augen der meisten Protagonisten russischer Autoren. „Die Hänse hatten ihre Straßen gewissenhaft gebaut, nach allen Regeln der Kunst – wohl in der Annahme, ewig hier zu bleiben“,147 so Motte im Roman von Michail Kononow. „Die Deutschen sind es nicht gewöhnt, ihre Leute zu verschwenden [...] und hungern lassen können sie ihre Soldaten auch nicht – so ist ihr Charakter. Bei Stalingrad haben sie gefrorenes Pferdefleisch in Stückchen geteilt. Wir hätten diese Pferde zerhackt, fortgeschleppt, aufgefressen, und wären dann alle zusammen vor Hunger krepiert“, 148 schreibt Astaf´ev. Auch die Bedingungen sind bei den Deutschen besser als in der Roten Armee. „Mit Komfort führen sie den Krieg“, sagt Šagin in „Jenseits“ von Daniil Granin und denkt an Kaffee in Thermoskannen, den sie in einem deutschen Schützengraben entdeckt haben. „Šagin konnte den Geschmack dieser süßen Mischung aus Kaffee und Milch nicht vergessen. Und das Aroma.“149 General Guderian im Roman von G. Wladimow Das Bild des ehemaligen Feindes, in das viele Klischees, aber auch ein hoher Grad an Empathie einfließen, ist nicht einheitlich und sehr vielschichtig. Georgi Wladimow zeigt in direkter Anlehnung an Leo Tolstoj den deutschen General Guderian von einer menschlichen, alltäglichen Seite. „Der alte Heinz“, so nennt ihn der Autor, ist ein erfahrener Kämpfer, ritterlich ehrlich mit dem Feind und väterlich ehrlich mit seinen Soldaten. Im Gegensatz zu den Sitten, die in der Roten Armee herrschen – vor allem ein geringschätziges Verhältnis zum menschlichen Leben – zeigt Wladimow fast idyllische Beziehungen zwischen Befehlshabern und Soldaten in der deutschen Armee. Die Soldaten reden ihren General Guderian mit „Du“ an; als sein Panzer vor Moskau in eine Schnee146 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 570. 147 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 20. 148 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 571. 149 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 673. 223
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schlucht rollt (Impuls zu seinem späteren Rückzugsbefehl), macht er seinem Fahrer keinen einzigen Vorwurf – „die preußische Tradition schrieb vor, seinen Zorn nur gegen einen Ranghöheren zu richten, niemals gegen einen Untergebenen!“150 Im Gegensatz zum sowjetischen Marschall Schukow, der „für das Wort Mitleid kein Organ hatte“ und Soldatenleben nicht schätzte, zeigt Wladimow den deutschen General als einen „liebenden Vater“ für seine Soldaten. „Ein General kann von euch nur das Mögliche verlangen, was die Grenzen der menschlichen Kräfte nicht übersteigt, um das Unmögliche kann er nur bitten. [...] Ich lasse jeden gehen, der nicht bleiben will. Es kommt kein Wort des Vorwurfs über meine Lippen.“ [...] „Was gibt´s da viel zu reden, Heinz. Ist doch klar... Wir bleiben. [...] Wenn du uns bittest, Heinz, dann muss es sein... Wir bleiben hier, wir stehen zusammen!“151
Guderian ist gradlinig, informell, edelmütig. Im Gegensatz zu Tolstoj porträtiert Wladimow den Gegner ohne jeglichen Wunsch, ihn zu brüskieren oder lächerlich zu machen. Dieses Bild von Guderian hat eine entscheidende Bedeutung für das gesamte Konzept des Romans: Wie sein russischer Gegenpart General Kobrissow, ein Außenseiter unter den übrigen sowjetischen Befehlshabern, ist Guderian nicht bereit, um jeden Preis zu siegen. Wie Kobrissow, der sich weigert, Myriatin einzunehmen, weil es unnötig Menschenleben kosten würde, weigert sich der deutsche General, die Stadt Tula einzunehmen, obwohl der Führer ihm befohlen hat, es „egal mit welchen Kosten“ zu tun. Kobrissow und Guderian haben beide einen unabhängigen Geist und den Mut, für ihre eigenen Ansichten einzutreten. Sie werden in ähnlicher Weise von ihren Vorgesetzten als „launisch“ beschrieben. Beide betrachten das Töten im Kampf als gerechtfertigt, lehnen Vergeltungsmaßnahmen jedoch ab und verhalten sich rücksichtsvoll ihren Untergebenen gegenüber. Sie haben sogar den gleichen physischen Defekt: ein schwaches Herz. Auch Guderian wird mit dem Gefühl konfrontiert, seine militärischen Prinzipien im Vernichtungskrieg verraten zu haben, weshalb er als Deutscher für die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, für die „Schluchten und Gräber voller Erschossener“ und für die „angezündeten Dörfer und die bei lebendigem Leib verbrannten Alten und Kinder“152 verantwortlich gemacht wird.
150 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 96. 151 Ebd., S. 99. 152 Ebd., S. 118. 224
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Guderian, der sein Hauptquartier auf dem ehemaligen Gutshof des Fürsten Lev Tolstoj hat, liest Auszüge aus „Krieg und Frieden“ in der Hoffnung zu verstehen, „was war das für ein Land, in dem du einen Sieg nach dem anderen erringst und dennoch unweigerlich auf eine Niederlage zugehst?“153 Er widerspricht Tolstoj, für den der Krieg Chaos ist. Für Guderian ist der Krieg eine Kunst. Für Russen ist er „nur das große Durcheinander“, diesem Russland gereichen „alle Schwächen zum Vorteil“: „[...] die Armut, die schlechten Straßen, die Misswirtschaft und Unterernährung auf dem Dorf, der Mangel an Brennstoff, an Werkstätten, Werkzeugen und Pferdefutter.“154 Vor allem aber die von niemandem einkalkulierte, „närrische kleine Gräfin Rostowa“,155 denn sie hätte – stellvertretend für das gesamte russische Volk – den Deutschen einen Krieg erklärt, den „der Geist und die Seele des Blitzkrieges“ unmöglich gewinnen kann. Diese Bereitschaft zur Selbstaufopferung fehle den Deutschen, was Guderian mit Tradition erklärt: „[...] Bei den Deutschen galt seit Jahrhunderten das Prinzip: Die Armee kämpft, das Volk arbeitet, mehr wurde von ihm nie verlangt.“156 Die russische Art, den Krieg zu führen, bleibt für Guderian unverständlich. „Obwohl er (Guderian – E.S.) den russischen Soldaten Gerechtigkeit widerfahren ließ, ihrem Heldenmut, ihrer gelassenen Bereitschaft, aus dem Leben zu gehen, war er doch fest davon überzeugt, dass sie, im Unterschied zu den Deutschen, initiativlos waren, unberechenbar, dass sie Angst vor jeder undurchsichtigen Situation hatten. Sie waren nicht einmal in der Lage, sich selbst einzuschätzen. Einerseits ergaben sie sich wie eine Schafherde oder flohen, wenn sie den Druck der undurchschaubaren Lage nicht mehr aushielten, in alle vier Himmelsrichtungen; dann wiederum krallten sie sich verzweifelt an einer Erdscholle fest, die ihr Leben gar nicht wert war, ja nicht einmal einen einzigen Blutstropfen.“157
Die „Eigenen“ werden mit den Augen des „Fremden“ gesehen und beschrieben. Denn Guderian bleibt für ihn ein Eindringling, ein Fremder – bei aller Sympathie des Autors zum ehrenhaften und klugen „Panzergenie“. Allerdings ist er kein böswilliger Fremder. Der Respekt, mit dem Guderian dargestellt ist, kontrastiert mit dem Hass, mit dem solche Eindringlinge normalerweise im russischen Bewusstsein bedacht werden.
153 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 108. 154 Ebd., S. 113. 155 Natascha Rostowa ist eine der zentralen Romanfiguren in Leo Tolstojs „Krieg und Frieden“. 156 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 111. 157 Ebd., S. 109. 225
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Heinz Guderian zieht durchaus in Betracht, dass auf dem von ihm eroberten Territorium Menschen leben. Er denkt rational und wendet auf sie die gleiche Logik an, die er selbst kennt. Er befiehlt, in den Gefängnishof in Orjol Hunderte von Leichen zu legen, die in den Kellern des Gefängnisses gefunden wurden, und die Angehörigen der Toten zum Identifizieren zu bringen. Nach seiner Logik müssten die Menschen die Henker hassen, die das alles angerichtet haben. Er versteht nicht, warum der Hass nicht dem NKWD gilt, sondern ihm, einem ehrlichen Deutschen. „Hat ihnen jemand gesagt, das hätten meine Panzersoldaten getan?“ „[...] das ist unser Schmerz, er gehört uns, sonst niemandem“158, erklärt ihm der russische Pope. Der Kontrast zwischen der sowjetischen Brutalität und der angeblichen deutschen „Menschlichkeit“ im Roman bildete einen der Hauptgründe für die spätere heftige Polemik. Der Schriftsteller Vladimir Bogomolov schrieb in seiner Kritik des Romans, dass „sowohl sowjetische als auch deutsche Quellen unwiderlegbar belegen, dass von allen in unser Territorium eingedrungenen deutschen Armeen die 6. Armee des General-Feldmarschall von Reichenau und die 2. Panzerarmee des Generals Guderian im Jahre 1941 die blutigste Spur hinterließen.“159 Indem Wladimow Guderian als „Geist und Seele des Blitzkrieges“ darstelle und ihn rechtfertige, verschweige er, dass das Ziel eben dieses Blitzkrieges die Eroberung des Lebensraumes im Osten war und die Versklavung von Millionen von Menschen. Dem entgegnete Wladimow: „Wie kann ich mit einem deutschen General sympathisieren, der mich mit seinen Panzern für immer aus meiner Heimatstadt Charkov vertrieben hat? Ich bin nur gegen Lügen über ihn.“160 Wladimows Darstellung der Deutschen als „tapfere und edle Ritter“ ist idealisiert. So bemerkt der Erzähler, dass die SS-Einheiten sich „aus puren Prestigegründen nicht zurückzogen.“161 Allerdings folgt diesem Satz beiläufig ein anderer, der das heroische Pathos des Verhaltens der SS-Männer mindert: „Und Überläufer sind von ihnen nicht zu erwarten – wegen der Verstrickung in Vergeltungsaktionen“.162 Die moralischen Qualitäten der deutschen Soldaten werden von Wladimow hoch geschätzt: Er schildert, wie sowjetische Verwundete aus dem Sanitätsbataillon ins Feuer getrieben wurden – „in Krankenhauskitteln 158 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 116f. 159 Bogomolov, Vladimir: Sram imut i živye, i mertvye, i Rossija... In: Knižnoe obozrenie (1995) 19, S. 16. 160 Vladimov, Georgij: Kogda ja massiroval kompetenciju. In: Knižnoe obozrenie (1996) 12, S. 11-16. 161 Ebd., S. 242. 162 Vladimov, Georgij: General i ego armija, S. 206. 226
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und langen Unterhosen.“163 Die Deutschen ziehen sich trotz guter Position zurück, und als ihr Kommandeur gefangen genommen wird, erklärt er den Grund für den Rückzug – gegen die Unbewaffneten zu kämpfen erschien ihm als ehrlos. Wladimow reproduziert hier den sogenannten „Mythos über die Deutschen“, der besonders in den russischen intellektuellen Kreisen (weniger aber in der Kriegsgeneration) verbreitet ist und in der langen Tradition des „Westlertums“ – der Faszination des Westens – der russischen Intelligenz steht. Es geht dabei um die absolute Anerkennung der intellektuellen und professionellen Überlegenheit der deutschen Militärs über die sowjetischen: So würde bei Wladimow der General von Steiner, „auch wenn er nur die Hälfte von Terestschenkos Kräften besaß“, in wenigen Stunden Terestschenko „hinwegfegen“.164 Aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus pflegen die sowjetischen Militärs im Roman von Wladimow eine ironische Art, über ihren Gegner zu sprechen: „[...] das hatte sich in der gesamten Armee eingebürgert: Steiner war „kein schlechter Krieger“, Paulus „hatte Ahnung“, Manteufel war „kein Vollidiot“. Das Verharmlosen oder Verächtlichmachen des Feindes gehörte zum guten Ton: Er hatte weniger Panzer, weniger Waffen, er war unterlegen, wir aber, zähl selbst nach, haben eine sechs- oder siebenfache Übermacht, und da wagt er noch zu „strampeln“. Und wenn dieser unterlegene Trottel uns plötzlich eins in die Fresse gab oder elegant einer Einkesselung entging, war er ein „kriechendes Scheusal“ oder ein „ausgemachtes Arschloch“.165
Die Grundlage des „idealisierten“ Bildes der deutschen Militärführung bilden bis heute die in Russland sehr populären Memoiren ehemaliger Wehrmachtsgeneräle. Die meisten deutschen Generäle waren zu der Zeit, als sie ihre Memoiren verfassten, entweder kurz zuvor mit einer Anklage wegen begangener Kriegsverbrechen oder mit dem Denazifizierungsprozess konfrontiert gewesen. Dementsprechend unterstrichen sie in ihren Erinnerungen vor allem technische Seiten ihrer Handlungen und verschwiegen die politischen Aspekte. Sie hatten eine dankbare Leserschaft in den westlichen Siegermächten, die an einer „Kodifizierung“ der deutschen Erfahrung im Kampf gegen die Sowjets interessiert waren – für den Fall, dass man sie noch einmal brauchen sollte. Die deutschen Generäle hatten eine menschliche Tendenz, ihre ersten Erfolge den eigenen Fähigkeiten zuzuschreiben und die späteren Niederlagen Faktoren außer163 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 252f. 164 Ebd., S. 164. 165 Ebd., S. 165. 227
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halb ihrer Kontrolle, wie z.B. schlechtem Wetter, der Stursinnigkeit Hitlers oder zahlenmäßig überwältigender sowjetischer Überlegenheit. Diese Faktoren spielten unzweifelhaft eine Rolle, doch ihre ständige Erwähnung hatte das Ziel, die Tatsachen zu kaschieren, die ein besseres Licht auf die Rote Armee werfen könnten. Manche der russischen Intellektuellen fanden die deutschen Memoiren glaubwürdiger als die der sowjetischen Militärs, denn sie wussten, dass die letzteren stark zensiert wurden. Kein Wunder, dass auch bei Wladimow das Lob des Feindes als größte Auszeichnung für einen russischen General gilt. Um das militärische Talent Kobrissows zu unterstreichen, zitiert Wladimow von Steiner: „Hier, am rechten Ufer, konnten wir zweimal das russische operative Genie beobachten.“166 Fremdbild „Ukrainer“ Die eigentliche Rolle „der Fremden“ übernehmen in Wladimows Roman die Ukrainer: sie werden negativ, fast lächerlich als unzivilisiert, ungebildet und geistig primitiv dargestellt. Es steht in einer langen Tradition russischer Überheblichkeit gegenüber Ukrainern, einer „nachsichtigironischen Vorstellung von den Ukrainern als einfachen Menschen, elementar bis zur Primitivität, hinterlistig, mit einer einseitigen, linearen Denkweise, solcher „Paysans“ ohne tiefe psychologische Probleme.“167 In „Der General und seine Armee“ fühlt sich Kobrissow verraten und ausmanövriert von den „Ukrainern“ Terestschenko und Chruschtschow. In der russischen öffentlichen Meinung findet man oft eine Gegenüberstellung des uneigennützigen Russen und des schlauen, hinterlistigen Ukrainers. Wladimow zeigt eine „ukrainische Verschwörung“ gegen den genuin russischen General Kobrissow, der die Stadt Predslavl´ nicht einnehmen darf, weil es Chruschtschow für politisch sinnvoller hielt, wenn der Befehlshaber der Befreiungstruppen ein Ukrainer wäre – egal, welche Verluste dadurch entstehen. Der Ukrainer Chruschtschow, zur Zeit der Romanhandlung noch erster Sekretär des Zentralkomitees der KP der Ukraine, wird im Roman in der stereotypisierten Rolle eines possenreißenden Weihnachtsmanns gezeigt: Während der Konferenz in Kobrissows Hauptquartier, bei der es um die Rückeroberung Predslavl´s geht, verteilt er allen anwesenden Generälen Geschenke: Cognac, Schokolade, Uhren und Zigaretten. „Das obligate Hauptgeschenk jedoch war eine Bluse mit ukrainischer Stickerei und Schnürbändern mit roten Troddeln.“168 Auch versucht Chruscht166 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 322. 167 Losjev, Igor: Ukrajinci v rosijs´kich etno-kul´turnych stereotipach. URL: http://ukrlife.org/main/tribuna/losev_4.htm, Stand 12.11.2007. 168 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 284. 228
„DIE ANDEREN“ IM KRIEG
schow, Kobrissow zugeben zu lassen, mindestens „im Geiste“ Ukrainer zu sein, doch Kobrissow antwortet zugespitzt, dass er ein Don-Kosak sei und dass die Chruschtschows, die er in seiner Jugend kannte, auch keine Ukrainer waren, sondern der russischen Minderheit der Ukraine angehörten. Chruschtschow spricht eine Mischung aus dem Russischen und dem Ukrainischen169, was in Russland als Merkmal von Provinzialität und ländlicher Herkunft gilt. Wladimow als Schriftsteller hat ein Gespür für Sprache und sprachliche Besonderheiten, er weiß, dass Ukrainisch in der russischen öffentlichen Meinung als „unzivilisierte“ Sprache gilt – herablassend „Mova“ (ukrainisch für „Sprache“) genannt. Sie ist Objekt von Ironie und Spott, die Verwendung ihrer Elemente schafft automatisch einen komischen Effekt. Alle diese Stereotypen werden von Wladimow instrumentalisiert, teilweise als Kritik am ukrainischen Nationalismus, teilweise aber zur Hervorhebung des russischen Nationalismus. Dieses Ausspielen der nationalen Karte steht im Gegensatz zur sowjetischen Darstellung der Einheit aller Sowjetvölker im Kampf gegen den Faschismus. Die Deutschen bei V. Astaf´ev: Zwischen Karikatur und Mitleid Im Gegensatz zu Wladimow, dessen achtungsvolle Darstellung der Deutschen stark idealisiert ist, schildert Viktor Astaf´ev die meisten Deutschen in seinem Roman mit Ironie und Verachtung. Als ehemaliger Frontkämpfer empfindet Astaf´ev wenig „warme Gefühle“ für den ehemaligen Feind. Auch gehört er nicht zur klassischen intellektuellen Schicht, und deshalb fehlt ihm das für die russische Intelligenzija charakteristische „Westlertum“. „Zwar sind sie ein gemeines Volk, jedoch berechnende Kämpfer“,170 so beschreibt Astaf´ev die Deutschen in seinem Roman. Die Deutschen in Astaf´evs Darstellung sind entweder stark karikiert, unsympathisch und von NS-Ideologie korrumpiert dargestellt. Oder sie sind befreit von jeglicher Ideologie und provozieren Mitleid nach dem typischen Bild der Deutschen im russischen Kriegsgedächtnis: Im Stalingrader Schnee versinkende Soldaten, unter die Stahlhelme Frauenwolltücher gebunden und zitternd vor Frost. Das Stereotypische kommt deutlich in Astaf´evs Beschreibung des Äußeren der Deutschen zum Ausdruck. So verkörpern die abenteuerlustigen deutschen Soldaten Hans Golbach und Max Kusempel zwei Typen von Deutschen:
169 Diese sprachliche Besonderheit ist in der deutschen Übersetzung leider verloren gegangen. 170 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 38. 229
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„Hans Golbach trug sicher einen großen Kopf auf breiten Schultern, war körperlich bereits ein wenig schwer beladen, klumpfüßig, behaart an der Brust und an den Armen. Alles war in ihm so verteilt und zugeschnitten, damit russische Weiber mit ihm ihre Kinder erschrecken und sowjetische Maler ihn auf den Plakaten und Flugblättern malen als den schrecklichsten Feind und Teufel. [...] [...] Mit blonden Haaren und blauen Augen, einem länglichen Gesicht und einem zweigeteilten Kinn, konnte Max Kusempel niemanden erschrecken, sondern umgekehrt, alle für sich gewinnen.“171
Diesen überspitzt dargestellten Dummköpfen wird im Roman der gutmütige deutsche Soldat Lemke entgegengestellt. Lemke ist ein einfacher Mensch, der widerwillig in den großen Krieg ziehen musste und dem Autor leid tut. Lemke gibt den russischen Krankenschwestern Nelli und Faja Medikamente und hilft sowjetischen Verwundeten. Es entsteht das Bild des „kleinen Mannes“ auf der „anderen Seite“ der Frontlinie, der unter dem Kriegsumstand leidet und den, so Astaf´ev, statt der großen Nazi-Bonzen nach dem Krieg ungerechterweise die ganze Schuld treffen würde. Mit diesem „kleinen Mann“ in deutscher Uniform entwickelt der Autor viel Sympathie, denn Lemke geht es nicht anders als den russischen Soldaten, die von Astaf´ev ähnlich als Objekte der unerklärlichen Schicksalskräfte dargestellt werden. Deshalb empfinden sie keinen Hass gegenüber dem Feind. Viel öfter ist es Mitleid mit dem „verirrten“ Deutschen, der in Russland frieren muss, während seine Familie auf ihn in Deutschland wartet. „Aus irgendeinem Grund mögen die Russen Dummköpfe, vielleicht weil sie selbst dumm sind“, ironisiert Astaf´evs Erzähler. Gleichzeitig bewundert er dieses „nicht nachtragende Völkchen“ und die Menschen, die bereit sind, für den Anderen ihr Letztes zu geben: „Lemke kroch mit erfrorenen Füßen zum matten Licht einer vom Krieg ausgeplünderten Bauernstube hin; eine alte russische Frau, fluchend und mit einer knochigen Faust auf seinen eingefallenen Nacken weisend, wusch den Okkupanten mit warmem Wasser ab, rieb seine Hände und Füße mit Gänsefett, verband sie mit neuen Lappen und brachte ihn auf den Weg, indem sie ihm aus einem Holzscheit einen improvisierten Krückstock bastelte und ihn zum Abschied bekreuzigte.“172
Der Deutsche wirkt hier wie ein irregeführtes Kind, das nach einem Fehltritt zurechtgewiesen und dem dann verziehen wird. Er ist kein
171 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 490f. 172 Ebd., S. 701. 230
„DIE ANDEREN“ IM KRIEG
„Täter“, auch die Bauernstube der alten Frau wurde nicht von „den Deutschen“, sondern vom abstrakten „Krieg“ kaputt gemacht. „Dieser Deutsche war vermutlich einer der Schützengrabensoldaten, die schon kennen gelernt haben, was Leiden und Schmerz, was das Los eines Soldaten bedeutet. Auch er wird später als geborener Verbrecher gesehen, mit faschistischen Henkern und SS-Leuten zusammengeworfen, mit irgendwelchen Knochenbrechern im Hinterland, wie unsere NKWD-ler und SCHMERŠ-ler, all dieses Gesindel, das es hinter der Front warm hatte und das sich später als flinkste Kämpfer und gerechteste Wohltäter bezeichnen wird. Sie werden mit ihren Ellenbogen die richtigen Frontkämpfer-Märtyrer ans Ende der Lebensmittelschlange treiben, wenn nicht gar aus der Schlange herauswerfen.“173
Astaf´ev überträgt das Schicksal der russischen Frontkämpfer auf die Deutschen und bemitleidet sie. Gleichzeitig ist er um eine differenzierte Sicht bemüht und betont, dass es im Krieg „solche“ und „solche“ Deutsche gegeben hat. Auch über das Feindbild, das in der sowjetischen Kriegspropaganda von den Deutschen geschaffen wird, reflektieren Astaf´evs Romanhelden. „Na, wie ist er denn, der deutsche Faschist, stark? Oder wie man ihn in unserem Kino zeigt – feige, dumm und gierig auf russische Hennen und Eier?“,174 fragen sich die Soldaten. Als Feindbild dient ihnen auch eine Modellpuppe, die als Hilfsmittel für die Übung des Nahkampfes verwendet wird: „Und so prügelten die Soldaten der ersten Kompanie die Strohmänner, nahmen sie aus, übten Angriffe, schlugen mit dem Gewehrkolben auf ihre Schädel, die laut den Versicherungen des Hauptmanns Melnikov vollgestopft waren mit Ideen der Weltherrschaft, blindem Führerkult, Gier auf russischen Speck und unschuldige sowjetische Frauen.“175
Auf diese Soldaten hat die Kriegspropaganda keinerlei Wirkung. „Genosse Soldat! Vor dir ist der Feind, ein Faschist, verstehst du? Wenn du ihn nicht tötest, tötet er dich.“ Darauf antwortet Kolja Ryndin: „Möge der Wille des Herrn geschehen.“176 Es findet sich auf den mehr als achthundert Seiten des Romans kein Wort des Hasses gegenüber den Deutschen, nur ein verzweifeltes Befremden: „[...] denn für ihre schrecklichen, dunklen Taten und großen
173 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S.. 126. 174 Ebd., S. 124. 175 Ebd., S 114. 176 Ebd., S. 118. 231
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Sünden muss man später büßen, Gott bitten, zu verzeihen. [...] Oder wurde Gott für die Zeit des Krieges vergessen, obwohl auf jedem eisernen Koppel der Deutschen steht: ,Gott mit uns!’ [...]?“177 Beutestücke Im Roman „Die nackte Pionierin“ von Michail Kononow bleiben die Deutschen im Hintergrund. Die Tragödie des Krieges geschieht unter den „Eigenen“, in den Reihen der Roten Armee. Man erfährt jedoch einiges über die russische Sicht auf die Deutschen der Kriegsjahre aus den Monologen der Hauptfigur, dem Mädchen Motte. Mit den „Hansen“ und „Fritzen“ – den deutschen Kriegsfeinden – verbindet Motte sehr viel. Ihre gesamte Geschichte ist von deutschen Spuren durchzogen. Ihre wahre Liebe ist ihr Deutschlehrer Walter Iwanowitsch, der ihr Heines „Loreley“ und Wagners Musik nahe bringt und in ihr eine Walküre sieht. Walter Iwanowitsch wird gleich nach dem Ausbruch des Krieges als potentieller Spion verhaftet. Motte monologisiert auch über die Besonderheiten der deutschen Mentalität. Sie ist überzeugt davon, dass „der Hans“ Ordnung und seine Gewohnheiten liebt und deshalb für einen Partisanenkrieg ungeeignet ist. „Sittsam und bescheiden Krieg führen, das ist nicht sein Ding. Den Hänsen musst Du einen Krieg im Weltmaßstab garantieren, das ist das Mindeste, sonst fangen sie gar nicht erst an“178, erklärt Motte. Wie jede Frau freut sie sich über allerlei Beutegut, das für sie Zivilisation und Kultiviertheit darstellt. Die Begegnung mit dem Fremden geschah nicht selten über fremde Gegenstände, mit denen man auf unterschiedliche Art in Berührung kam. Für sowjetische Kriegsteilnehmer war Kriegsbeute nicht nur ein wichtiger Bestandteil des Krieges, sondern auch eine der wenigen materiellen Erinnerungen daran. Porzellan, Silber, Wäsche – all diese „erbeuteten“ Dinge symbolisierten nicht nur den Sieg und die eigene Stärke, sondern auch europäische Lebensweise, die sowohl im Krieg als auch danach mit vielen Sehnsüchten verbunden war. Motte trauert dem Verlust der deutschen Seife mit einem blonden Mädchen auf der Packung nach, das sie „Loreley“ nennt. Oder sie versucht, die Soldaten dazu zu bringen, dass sie ihr zumindest Schokolade oder deutsche Unterwäsche mitbringen, deren Qualität höher sein soll als der russischen. Ihre größten Schätze sind ein Fläschchen Kölnischwasser („es handele sich um ein Eins-a-Beuteparfum“) und eine kleine „Walter“. Den deutschen Damenrevolver „Walther“ bekommt Motte als Geschenk und pflegt ihn als ihr „Töchterlein“.
177 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 384. 178 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 75. 232
„DIE ANDEREN“ IM KRIEG
Aus zwei Perspektiven erläutert Daniil Granin in seiner Novelle „Jenseits“ das Thema Kriegsbeute. Die Deutschen betonen die Plünderungen der Roten Armee in Ostpreußen. Dieser Wahrnehmung stellt Granin die russische Sicht gegenüber – die Erinnerung an die ausgeplünderten Leningrader Vororte. „Sie rissen den Stoff von den Wänden ab, nahmen Kamine ab, Marmor. Entführten Statuen, Vasen, alles Mögliche.“179 Somit vermeidet Granin Einseitigkeit und parteiische Darstellung. Alte Kameraden versus kritische Deutsche In „Jenseits“ zeigt Daniil Granin zwei Typen von Deutschen, die sich durch die Art, mit ihrer Kriegsvergangenheit umzugehen, unterscheiden. Der eine, Karl Ebert, ist kritisch-distanziert und zurückhaltend. Obwohl er durchaus seine Gründe hätte, Russen nicht zu mögen (seine Braut wurde von russischen Soldaten vergewaltigt und ermordet), denkt er mit Wärme an Russland: Weil russische Menschen ihn nach dem Krieg nicht verhungern ließen, wie es mit den russischen Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft geschah. Seine Kriegsschuld ist ihm bewusst. Seine Vergangenheit verleugnet er nicht und versucht, durch Wohltätigkeit die Schuld zu büßen. Der andere, Knebel, ist ein „alter Kamerad“. Er glaubt immer noch an die Legende von der sauberen Wehrmacht. “Krieg ist Krieg, Soldat ist Soldat“, so sein Motto. Er schenkt dem russischen Veteranen Šagin mit Stolz einen dicken, prachtvollen Lederband, dessen Titel mit goldenen Buchstaben graviert ist – die Geschichte seiner Infanteriedivision 19391945. „Lesezeichen auf den Seiten, wo auf den Fotos Knebel zu sehen war. In einer neuen Uniform, mit Abzeichen, ein junges, strahlendes Dummköpfchen.“180 Unbedingt möchte er Šagin ein Kriegslied seiner Division vorsingen. „Wir haben das Recht auf unser Wappen und Motto bewahrt“, sagt er und zeichnet mit dem Lippenstift seiner Frau auf der Restaurantserviette das Wappen seiner Division. „Scharfes Schwert, unsere Tapferkeit, unsere Treue und die unbefleckte Reinheit unseres Wappens“. „Nicht schlecht“, sagte Šagin. „Meine unbefleckten Plünderer. Kleine Palastdiebe“.181
Diese Aussage Šagins macht Knebel wütend: Er glaubt immer noch, dass die Deutschen die Kunstschätze vor dem russischen Beschuss schützen 179 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 691. 180 Ebd., S. 694. 181 Ebd., S. 695. 233
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wollten und sie deshalb abtransportierten. Die Schuld für ihre Zerstörung soll, so Knebel, der Palastwärter tragen, da er sich weigerte, alles richtig einzupacken. Perspektivenkonflikte Die deutsche Sicht auf den Krieg steht im Vordergrund der Novelle „Jenseits“. Dabei zeigt der Autor in vielen Dialogen, wie unterschiedlich, oft sogar gegensätzlich die Wahrnehmung des Krieges aus deutscher und russischer Perspektive ist und zu welchen Missverständnissen diese unterschiedliche Sicht führen kann. Ein schmerzhaftes Thema sind Soldatenfriedhöfe. Über die Errichtung und den Erhalt deutscher Kriegsfriedhöfe wird in Russland heute sehr intensiv diskutiert. Auch darüber führen der Russe Šagin und der Deutsche Ebert ein Gespräch. „Ein andermal beschwerte sich Ebert, dass in Staraja Russa der Friedhof seines Korps zerstört wurde. „Ihr habt ihn mitten im Kurpark errichtet“, sagte Šagin. „Ist das eine Stelle dafür?“ „Man hätte umbetten können. Wir hätten bezahlt.“ Šagin erinnerte sich an Kirpičev, seufzte: „Nach dem Krieg wollten wir jede Erinnerung an die Besatzer vernichten. Ihr habt alles zerstört, besudelt, und ihr habt nichts auf unserem Boden zu suchen.“ „Bei uns werden Militärfriedhöfe für ewig bewahrt.“ „Ihr, Karl, habt eine andere Sicht darauf. Es gibt nichts, wofür ihr Russen hassen könntet.“182
Diese so sicher ausgesprochene These Šagins wird später in der Novelle durch ihn selbst in Frage gestellt. „Auch die Sieger sind nicht ohne Sünde“, so kann man die Sicht des Autors formulieren, die ihm den Weg des Verzeihens und Verstehens eröffnet. Die Kriegsleiden der Deutschen thematisiert Granin ausführlich, nachdem er die Missverständnisse zwischen Ebert und Šagin geschildert hat. „Der Nazismus verzauberte uns“, sagte Ebert. „Es war eine allgemeine Psychose.“ „Ach ihr Armen, ihr Unglücklichen.“ „Ja, wir haben auch gelitten.“ In Eberts Stimme hat sich etwas geändert. Šagin hätte sich beinahe verschluckt. „Hör mal! Wie kannst Du es vergleichen?!“
Später erzählt Ebert vom Tod seiner Braut Ingrid, die Opfer der betrunkenen sowjetischen Soldaten wurde. Auch der fette, laute und 182 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 686. 234
„DIE ANDEREN“ IM KRIEG
dumme Knebel weckt im Leser Mitleid, seine Figur ist nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Knebels Mutter ist während des Luftangriffs auf Dresden umgekommen, er hat nur ihre abgerissene Hand in seinem vom Feuersturm verwüsteten Garten gefunden. Für Granin ist Versöhnung mit dem ehemaligen Feind ein sehr wichtiges Thema. Er reflektiert auch über die Einstellung dazu in Russland: So sagt ein Bekannter Šagins, dass man deshalb bereit sei, den Deutschen zu verzeihen, weil sie reich seien und humanitäre Hilfe leisteten. Die Böswilligkeit dieser Unterstellung wird jedoch dadurch klar, dass derjenige, der sie ausspricht, vom Autor abschätzig als „Schreibtischkämpfer“ bezeichnet wird, der hinter der Front im Warmen „kämpfte“ und deshalb nicht glaubwürdig ist. „Die Katastrophen des Großen Vaterländischen Krieges waren ein Unglück für das sowjetische Volk. Doch wir wollten diesen Krieg nicht als Unglück für das deutsche Volk sehen. Beim geringsten Anlass zeigten wir die schrecklichen Zahlen unserer Verluste als Überlegenheit unseres Leids vor, als einen Beweis für den entscheidenden Beitrag zum Sieg. Wir dachten nicht darüber nach, dass das Leid deutscher Witwen nicht geringer sein kann als das Leid unserer Witwen. Sowjetische Geschichte war stets unmenschlich einseitig“, 183 schrieb Granin in einem seiner Artikel. Seine Meinung stößt gelegentlich auf Feindseligkeit seitens der radikal-patriotischen Kräfte, sie reflektiert jedoch auch einen hohen Grad an Versöhnungsbereitschaft, die in der russischen Gesellschaft gegenüber den ehemaligen deutschen Feinden vorhanden ist. Zusammenfassung In der russischen Gegenwartsprosa entsteht ein vielschichtiges Bild vom ehemaligen Feind, das nicht frei von Klischees ist. Man findet jedoch bei keinem der Autoren das Gefühl des Hasses gegenüber dem ehemaligen Feind, im Gegenteil, sie alle (mit Ausnahme Michail Kononows, in dessen Roman die Deutschen nur am Rande erwähnt werden) bemühen sich, die „andere Seite“ zu verstehen, sich in sie hinein zu versetzen. Georgi Wladimow zeichnet ein tiefgründiges psychologisches Porträt des deutschen Generals Guderian, Viktor Astaf´ev entwickelt Mitleid mit dem einfachen deutschen Soldaten, der wider Willen in den großen Krieg geworfen wurde. Am weitesten geht Daniil Granin, der den Krieg aus der Perspektive der Deutschen zeigt. Seine Darstellung geht über die
183 Granin, Daniil: Krest nad gorodom, in: Literaturnaja gazeta vom 20.03.1996, S. 17. 235
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gängigen „schwarz-weiß“ Kategorien hinaus, und er entwickelt viel Empathie mit der fremden Sicht auf den Krieg. Auffällig für die russische Gegenwartsliteratur über den Krieg ist die Verschiebung des „Fremden“ und des primären „Feindes“ von den Deutschen auf „die Eigenen“, wie zum Beispiel SMERŠ (Spionageabwehr im Krieg), Kommissare, Militärführung oder, wie im Roman von Georgi Wladimow, nationale Minderheiten oder Kollaborateure. Die letzten werden zwar nicht als Feinde, aber als Fremde wahrgenommen, deren Motive zu erforschen eine Herausforderung für den Schriftsteller bedeutet. Der Krieg gegen die Deutschen tritt in den Hintergrund, er ist eine Kulisse für die Darstellung des Krieges der „Eigenen“ gegen die „Eigenen“: Krieg des Stalin-Regimes gegen das eigene Volk und Krieg der sowjetischen Menschen in Uniformen der Roten Armee gegen sowjetische Menschen in deutschen Uniformen. Der russische „Zweifrontenkrieg“ beschäftigt die Literaten mehr als der Krieg gegen die Deutschen. Die Deutschen werden eher bewundert für ihre Gewissenhaftigkeit und Disziplin. Diese Darstellung steht in der Tradition der klassischen russischen Literatur, in der der disziplinierte, ehrgeizige, aktive Deutsche dem begabten, träumerischen, passiven Russen gegenüber steht, wie im Roman „Oblomow“ von Alexander Gontscharow. In der heutigen Bundesrepublik wird viel über die Notwendigkeit gesprochen, die Kriegsgeneration nicht mehr zu verdammen, sondern sie zu verstehen und sich in sie hineinzuversetzen. Dieser Ansatz ist in allen hier vorgestellten deutschen Prosawerken spürbar. Harald Welzer und Hannes Heer bezeichneten diesen Prozess als „intergenerationellen Frieden“. Es geht dabei um die Versöhnung innerhalb eines Kollektivs, des Kollektivs der Deutschen. Umso mehr erstaunt der Wunsch auf der „Opferseite“ nach solch einem Verständnis der ehemaligen Feinde und die Empathie, mit der sie gezeichnet werden. „Kein Wunder, dass es Menschen gibt, für die die Versöhnung mit den Deutschen wie Verrat an unserer Militärvergangenheit aussieht. Die Treue zur Geschichte bleibt für sie Treue zur Feindseligkeit und zum Hass. Statt Hass auf den Krieg, den Faschismus zu haben, den es im heutigen Russland mehr gibt als in Deutschland, verweigern wir den Deutschen das Gedenken ihrer Toten“,184 so der Autor und ehemalige Kriegsteilnehmer Daniil Granin. Es geht nicht darum, die Nazi-Verbrechen zu vergessen, im Gegenteil. Die Bedeutung des Sieges über den Faschismus für die Menschheit stellt Daniil Granin nicht in Frage. Jedoch der „anderen
184 Granin, Daniil: Krest nad gorodom, in: Literaturnaja gazeta vom 20.03. 1996, S. 17. 236
DIE FRAGE DES GEWISSENS
Seite“ Empathie zu verweigern, betrachtet er als kontraproduktiv. Diese Offenheit kontrastiert mit der einseitigen Darstellung der Leiden der Deutschen im Krieg, wie man sie bei Ulla Hahn und Arno Surminski findet, oder in den Äußerungen der Romanfiguren von Uwe Timm und Tanja Dückers, die die Einstellung einiger Teile deutscher Gesellschaft reflektieren.
Die Frage des Gewissens In diesem Unterkapitel interessiert vor allem, wie sich zeitgenössische deutsche Autoren mit der Frage der persönlichen Verantwortung deutscher Soldaten für die im Krieg gegen die Sowjetunion begangenen Kriegsverbrechen auseinandersetzen und ob auch in Werken der russischen Schriftsteller die Frage des Gewissens eine Rolle spielt. Die sogenannte „Schuldfrage“ wird oft als ein ausschließlich deutsches Thema behandelt. Der Begriff „Schuldfrage“ wird allgemein fast ausschließlich in Verbindung mit der deutschen Schuld am Judenmord und den Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg benutzt. Der Begriff „Gewissen“ erlaubt dagegen, mit der Tradition der Auseinandersetzung mit der „Schuldfrage“ zu brechen und die Diskussion zu erweitern. Der Umgang mit individueller Schuld und das Spannungsfeld zwischen persönlicher Gewissensentscheidung und gesellschaftlicher Verantwortung soll in vergleichender Perspektive geschildert werden. „Schlechtes Gewissen“ bedeutet hier die persönliche Bewertung einzelner Handlungen als unrecht, verbrecherisch oder niederträchtig, die Scham und Entwicklung von Empathie für die Opfer zur Folge hat. Die 90er Jahre waren in Deutschland und in Russland durch eine breite Diskussion über die im Krieg begangenen Verbrechen geprägt. Da die hier analysierten Werke im Zuge dieser Diskussionen entstanden sind, wird gefragt, welche Kriegsverbrechen in diesen Texten eingestanden werden, bei wem die Autoren die Verantwortung dafür sehen und wie die Protagonisten mit der Last des Gewissens nach dem Krieg umgehen. Das Ziel der Analyse ist herauszufinden, welchen Beitrag die zeitgenössische Belletristik in beiden Ländern zur Anerkennung der „dunklen Seiten“ des Krieges im Osten leistet.
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Darstellung von Kriegsverbrechen Das schlechte Gewissen ist meistens an konkrete Taten geknüpft. Doch nicht immer haben Romanhelden ein schlechtes Gewissen für die von ihnen verübten Verbrechen, oder die Autoren sehen keinen Grund, ihre Figuren mit schlechtem Gewissen für bestimmte Taten auszustatten (um ihnen nicht zuletzt Glaubwürdigkeit zu verleihen). Die literarische Darstellung der Handlungen, die für die Protagonisten als beschämend erscheinen oder vom Autor so bezeichnet werden, vermittelt den Lesern dagegen nicht nur Erkenntnisse über bestimmte historische Tatsachen, sondern gibt ihnen ein moralisches Urteilskriterium an die Hand: Was gilt als Unrecht, was nicht? Was gilt als verurteilenswert? Das Wissen um Verbrechen, die von den deutschen Truppen im Krieg gegen die Sowjetunion begangen worden sind, hat sich in den letzten 15 Jahren dank der historischen Forschung und der Präsentation der Ergebnisse in der Öffentlichkeit (z.B. in der „Wehrmachtsausstellung“) erheblich vergrößert. Ich möchte deshalb überprüfen, ob diese Erkenntnisse Einzug in die Belletristik gefunden haben. Welchen Ausschnitt des gut erforschten historischen Panoramas wählen die Autoren? Interessieren sie spezielle Details, oder zeigen sie einen repräsentativen, geschichtswissenschaftlich vertretbaren Ausschnitt? Auch in Russland wurde in der Zeit während und nach der Perestrojka viel über die sowjetischen Kriegsverbrechen, wie z.B. über den Mord an polnischen Offizieren in Katyn, diskutiert. Auch die verbrecherischen Befehle der eigenen Führung und die Brutalität innerhalb der eigenen Truppen wurden zum Diskussionsgegenstand. Findet die „schmutzige“, unschöne Seite des Großen Vaterländischen Krieges Erwähnung in den zeitgenössischen literarischen Werken? Welche verbrecherischen Praktiken des Staates und einzelner Individuen werden besonders hervorgehoben? Für welche Taten empfindet man ein schlechtes Gewissen? Wie werden sie von den Autoren kommentiert? Verbrechen an der sowjetischen Zivilbevölkerung In Uwe Timms autobiographischem Buch „Am Beispiel meines Bruders“ werden gleich mehrere Kriegsverbrechen erwähnt, welcher sich die deutschen Truppen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion schuldig gemacht haben. Timm ist der Einzige, der den grausamen Umgang der Besatzer mit der sowjetischen Zivilbevölkerung darstellt. Er zitiert aus dem Tagebuch seines Bruders die Passagen, die dokumentieren, dass die SS brutal gegen die einheimische Zivilbevölkerung vorging. In den Romanen von Ulla Hahn und Arno Surminski werden die Beziehungen zwischen den Besatzern und den Besetzten positiv 238
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dargestellt, die Bevölkerung ist stets freundlich, die deutschen Soldaten verhalten sich anständig. Gewaltaktionen gegen die Zivilbevölkerung kommen in diesen beiden Texten kaum vor. Nur einmal erwähnt Hans Musbach in „Unscharfe Bilder“ eine Vergeltungsaktion, an der seine Kompanie teilgenommen hat. „Die Unseren rückten vor und machten alles nieder; gleich ob in Uniform oder Lumpen.“185 Die Aktion führt er auf die Brutalität der Partisanen zurück und die Gewaltspirale, die die deutsche Seite aus „Wut“ handeln ließ. Auch das Niederbrennen eines Dorfes findet sich in seinem Monolog, allerdings durch den SD, nicht durch die Wehrmacht: „[...] ein Kommando des SD habe es (das Dorf) niedergebrannt. Mit allen Einwohnern. Und ich?... Ich kochte. Ich war dagegen, aber eben auch dabei. Immer.“186 Die Gräuel der Deutschen nehmen in den Werken der russischen Autoren vergleichbar wenig Platz ein. Im Roman von Georgij Wladimow findet sich nur ein Absatz, als der deutsche Panzergeneral Guderian sich wundert, warum die Bewohner Orjols mehr Hass gegen ihn als gegen die Henker aus den eigenen Reihen empfinden: „Du bist gekommen, uns unsere eigenen Verbrechen zu zeigen? Und die Galgen auf den Plätzen? Und die Schluchten und Gräben voller Erschossener? Und die angezündeten Dörfer und die bei lebendigem Leib verbrannten Alten und Kinder? Und alle Gräueltaten der SA und der SS, alle Gewalttaten und Plünderungen, die von der Armee des Dritten Reiches verübt worden sind? [...]“ 187
Wladimow braucht keine detaillierte Beschreibung, diese Erwähnung reicht ihm aus, um zu demonstrieren, dass die deutsche Besatzung mit Terror und Schrecken verbunden war. Der Schriftsteller Vladimir Bogomolov hat ihm in seiner polemischen Kritik deshalb vorgeworfen, nicht ausführlich genug die Grausamkeiten der Deutschen beschrieben zu haben. Da über die deutschen Henker in den letzten Jahrzehnten in der sowjetischen und russischen Literatur und im Film viel gesagt wurde, interessiert sich Wladimow viel mehr für die eigenen Verbrecher. Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen Eine der einprägsamsten Beschreibungen in Timms Buch ist die Schilderung der Zustände in einem Gefangenenlager für sowjetische Kriegsgefangene. Sein Vater erzählte ihm, was er in einem solchen Lager gesehen hatte: „[...] Wie ein russische Gefangener versuchte zu fliehen 185 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 143. 186 Ebd., S. 212. 187 Wladimow, Georgij: Der General und seine Armee, S. 118. 239
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und der Posten auf ihn schoss, dem Mann die Schädeldecke wegschoss, worauf andere Gefangene sich auf den Toten gestürzt und das dampfende Gehirn gegessen hatten.“188 Diese Erzählung demonstriert zum einen, dass der Umfang des geplanten Hungermordes an sowjetischen Kriegsgefangenen, dem fast 3,5 Millionen Menschen zu Opfer fielen und für den die deutsche Wehrmacht volle Verantwortung trug, durchaus bekannt war. Zum anderen bringt Uwe Timm dieses in der deutschen Öffentlichkeit längst vergessene Kapitel in der Geschichte der deutschen Kriegsverbrechen wieder ans Licht. Dass die Zustände in den Gefangenenlagern für Rotarmisten katastrophal waren, war kein Geheimnis – weder für die Wehrmacht selbst, noch für die deutsche Zivilbevölkerung, die mit sowjetischen Kriegsgefangenen und Gefangenenlagern während des Krieges in Berührung kam. Im Zuge der Planung für das „Unternehmen Barbarossa“ wurden von der militärischen Führung des Dritten Reiches weder Nahrungsmittel für die Versorgung der sowjetischen Kriegsgefangenen eingeplant, noch wurde die Gefangenenorganisation so ausgestattet, dass sie Millionen von Gefangenen versorgen konnte. Für die Betroffenen bedeutete das von Anfang an Hunger. 56 Prozent aller sowjetischen Gefangenen starben an Hunger, Unterkühlung, Krankheiten oder schonungsloser körperlicher Arbeit. Zu einem öffentlichen Geheimnis ist das Schicksal der kriegsgefangenen Rotarmisten in beiden Teilen Deutschlands erst nach dem Krieg geworden, das, trotz der einschlägigen Pionierstudie Christian Streits aus dem Jahr 1974,189 bis zur Wehrmachtsausstellung bestehen blieb. Timm erzählt eine weitere Geschichte, die er als Lehrling von einem Angestellten seines Vaters gehört hat und die den Umgang mit russischen Kriegsgefangenen beleuchtet: Dieser Angestellte, Arthur Kruse, war im Krieg in Russland und musste im Sommer 1943 zwei Gefangene zur Sammelstelle bringen. Dorthin sind sie nicht gekommen – unterwegs ließ er sie zuerst laufen, dann schoss er sie in den Rücken. Der Zynismus dieser Hinrichtung bestand darin, dass Kruse den Gefangenen zuvor eine Flasche Wasser gereicht und ihnen dann gewunken hatte, sie sollten sich aus dem Staub machen. Als er zu seiner Einheit zurückkehrte und die Meldung machte: „Zwei Gefangene auf der Flucht erschossen“, sagte sein Vorgesetzte zu ihm: „Gut so“. „Die wären sowieso verhungert, später, im Kriegsgefangenenlager“,190 meint Kruse später. Hier wird zum einen die Tatsache eingestanden, dass die Gefangenen von vornherein
188 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 103. 189 Siehe Streit, Christian: Keine Kameraden. Stuttgart 1978. 190 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 130f. 240
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dem Tod geweiht waren, zum anderen, dass ihr Leben nicht zählte und die Meldung „auf der Flucht erschossen“ gang und gäbe war. Arno Surminski erwähnt die unmenschlichen Bedingungen, unter denen russische Kriegsgefangene gehalten werden, erkennt diese aber nicht als Kriegsverbrechen seitens der deutschen Wehrmacht an. Das massenhafte Sterben russischer Kriegsgefangener wird im Roman als Konsequenz des Krieges und mit dem Mangel an Mitteln erklärt. „Um zehn kannst du dich kümmern, aber wenn es Hunderttausende sind, wendest du dich ab. [...] Das ist nun mal so, unter Hunderttausenden sterben immer welche in der Nacht. [...] Kommt ein Rote-Kreuz-Auto und fährt sie in ein Lazarett mit weißen Betten? Für einen solchen Luxus hat der Krieg keine Zeit“,191 lautet der Kommentar des Erzählers. Dass die sowjetischen Kriegsgefangenen einer kalkulierten Vernichtungspolitik zum Opfer fielen und ihr Tod durch Hunger eingeplant war, wird im Roman nicht erwähnt. „Alte Russenfrauen bringen den Gefangenen etwas zu essen, denn von uns bekommen sie nichts, weil wir selbst Hunger haben und auf die Küche warten“,192 so Robert Rosen in seinem Tagebuch. Partisanenhinrichtungen Uwe Timm erwähnt Partisanenhinrichtungen, indem er aus dem Tagebuch des Generals Hinrici zitiert: „Ich sag Beutelsbacher, er soll Partisanen nicht 100 m vor meinem Fenster aufhängen. Am Morgen kein schöner Anblick.“193 Auch im Roman von Ulla Hahn gesteht Hans Musbach am Ende, dass er an einer Partisanenerschießung teilnehmen musste. Während der Exekution, die von einem SS-Mann befohlen wurde, verliert Musbach allerdings das Bewusstsein, was seine Unschuld unterstreicht. Im Roman von Arno Surminski werden auch Partisanenhinrichtungen dargestellt, an zwei Exekutionen nimmt sein Protagonist Robert Rosen teil. „Gestern Abend musste unsere Kompanie zwölf Mann umlegen. [...] Einige der Erschossenen waren bestimmt un-schuldig, aber wie soll man die auf die Schnelle herausfinden?“,194 trägt er in sein Tagebuch ein. Meistens wird aber nicht gesagt, was mit den „erbeuteten“ Zivilgefangenen passierte und wer die Erschießungen zu verantworten hatte.
191 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 106. 192 Ebd., S. 147. 193 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 28. 194 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 76. 241
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„Im Wald finden unsere Leute ein Massengrab mit über tausend Leichen. Keiner weiß, wer die erschossen hat und was das für Menschen sind. [...] Leutnant Hammerstein befiehlt, den Wald zu durchkämmen. Godewind erbeutet drei Zivilgefangene und bringt sie ins Dorf. Was mit ihnen geschehen ist, weiß ich nicht. Schüsse habe ich keine gehört.“195
Es gibt auch andere, deutlichere Hinweise auf Kriegsverbrechen im Roman, wie z.B. der gehenkte „Russenbengel“, der dem Hauptmann eine Trainingshose gestohlen hatte und dafür gehenkt wurde.196 Im Tagebuch Robert Rosens werden erschossene Zivilisten erwähnt, die unbegraben am Straßenrand liegen: „Es sollen Heckenschützen gewesen sein, die zur Abschreckung unbeerdigt bleiben müssen.“197 Auch die Zivilisten, an deren Erschießungen Rosen teilnahm, werden als „Banditen“ bezeichnet.198 Deshalb quält den Protagonisten kein schlechtes Gewissen, da die Russen ja „zu Recht“ erschossen werden. Völkermord an den Juden Beispielhaft für den Völkermord an den Juden, der in den besetzten Gebieten der Sowjetunion ungeheuerliche Maßstäbe erreicht hat, steht in Timms Buch das Massaker in der Schlucht von Babij Jar nahe Kiew. Timm beschreibt mit nur wenigen einprägsamen Sätzen, die von Empathie mit den Opfern erfüllt sind, die schrecklichen Geschehnisse jener drei Tage im September 1941, als über 30 000 Juden der Stadt Kiew vom deutschen Militär in der Schlucht erschossen wurden. Während seiner Lesereise nach Kiew Ende der 90er Jahre muss Timm daran denken, dass diese Schlucht in unmittelbarer Nähe liegt, was diese Reise, die er unter anderem gemacht hat, um das Grab des Bruders zu finden, in einen ganz anderen, breiteren Kontext stellt. In „Himmelskörper“ von Tanja Dückers wird beiläufig die Zerstörung Warschaus erwähnt sowie der Mord an den Juden des Warschauer Ghettos, als die Hauptfigur Freia eine Warschaureise macht, um nach Gründen des Selbstmordes ihres Onkels Kazimircz zu suchen. Die Autorin geht deshalb kaum auf diese beiden Ereignisse ein, da es ihr primär um die Abwesenheit jeglichen Empfindens der Protagonistin Freia beim Anblick des Mahnmals an der Stelle des Warschauer Ghettos geht. Für Hans Musbach im Roman von Ulla Hahn ist der Völkermord an den Juden nicht Teil seiner persönlichen Kriegserinnerung, auf deren 195 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 76. 196 Ebd., S. 268. 197 Ebd., S. 70. 198 Ebd., S. 116. 242
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Unterschied zur Darstellung im Katalog der „Wehrmachtsausstellung“ er immer hinweist. „An der Front gab es keine Juden. An der Front waren Juden kein Thema“,199 sagt er. Auch von Deportationen und Massenvernichtungen hat er damals nichts gewusst, „[...] nur Gerüchte von den Gräueltaten der SS und des SD in den besetzten Gebieten hinter uns. Wir wussten selbst nichts.“200 In Musbachs Erzählung gab es vor dem Krieg keine Antisemiten: „Ich persönlich kann mich an niemanden im Freundes- oder Bekanntenkreis erinnern, der diese Hetze (auf Juden – E.S.) gut fand.“201 Empört überlegt sich der Erzähler im Roman von Ulla Hahn, ob es tatsächlich notwendig sei, den Judenmord in die private Geschichte jedes Deutschen aufzunehmen: „Konnte denn kein Deutscher seiner Generation seine ganz private Geschichte erzählen, ohne dass irgendwann die Frage auftauchte: Und die Juden? Was hast du gewusst? Verblasste denn alles vor dieser Frage?“202 Hinter dieser Rhetorik wird der Wunsch deutlich, die „ganz private Geschichte“ endlich ohne „die Juden“ erzählen zu können, die in der Erzählung von Musbach sowieso nicht vorhanden sind: „An der Front waren Juden kein Thema“.203 Damit ist das Problem des Völkermords und der Beteiligung der Wehrmacht daran im Roman von Ulla Hahn erledigt. Die einzige Szene im Roman von Arno Surminski, in der auf den Judenmord hingedeutet wird, ist die Schilderung der Leichen in Tarnopol, die auch auf einem Bild der Wehrmachtsausstellung zu sehen waren. Es war das Bild, das später einen Streit um die Ausstellung auslöste, da es angeblich die Toten darstellte, die vom NKWD und nicht von der Wehrmacht hingerichtet worden waren. Dass der Autor ausgerechnet diese Stadt und diese Szene auswählte, kann nicht zufällig sein und stellt die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust in Frage. Zwar erwähnt einer der Soldaten im Roman Arno Surminskis beiläufig die Räumung des Ghettos in Minsk, doch es finden sich im Roman keine expliziten Hinweise darauf, dass die Deutschen am Judenmord beteiligt waren. „Möglich, dass die Slowaken wieder Juden erschießen, die fackeln nicht lange“,204 schreibt Robert Rosen in seinem Tagebuch. Seine Naivität erstaunt und wirkt unglaubwürdig: „Drei Juden schaufeln ein Grab, vielleicht das eigene. Deutsche Soldaten stehen daneben und rauchen Zigaretten. In der Stadt fallen Gewehrschüsse, nehme an, sie schießen auf
199 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 95. 200 Ebd., S. 98. 201 Ebd., S. 58. 202 Ebd., S. 100. 203 Ebd., S. 95. 204 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 152. 243
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Geflügel.“205 Die Tochter Rosens, die im Jahre 2003 seinen Spuren nachgeht, zweifelt diese naiven Vermutungen ihres Vaters nicht an. Für sie bleibt er „völlig ahnungslos“ und deshalb auch unschuldig. Umgang der Alliierten mit der deutschen Zivilbevölkerung Der russische Autor Daniil Granin greift gleich zwei heikle Themen in der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges auf: die Verbrechen gegen die deutsche Zivilbevölkerung durch die Rote Armee beim Einmarsch in Ostpreußen und die Bombardierung Dresdens. Die Kriegsverbrechen der Roten Armee, bereits während des Krieges durch die Propaganda Joseph Goebbels’ instrumentalisiert und seitdem als Symbol der sowjetischen Barbarei aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland kaum wegzudenken, waren ein in der Sowjetunion verschwiegenes Thema. Die Übergriffe wurden als „gerechte“ Vergeltung für die Gräueltaten der Deutschen in der Sowjetunion betrachtet. In „Jenseits“ beschreibt Granin den gewaltsamen Tod der Braut eines Protagonisten. „Es gab einen kleinen Schmaus, sie waren betrunken, Ingrid bediente. Zwei verschleppten sie in den ersten Stock, fingen an, sie zu vergewaltigen, es kamen andere, sie schrie, wurde verprügelt, dann erwürgt. Die Kommandantur photographierte die Leiche, schaffte sie weg. Man begann ein Ermittlungsverfahren, Ergebnisse gab es nicht. Man erklärte, sie war selbst schuld, hatte die Soldaten zu einer Prügelei provoziert und wurde dabei zufällig ermordet. Ebert fand nach seiner Rückkehr weder die Spuren dieses Truppenteils, noch die Akten in der Kommandantur. Sie wurde heimlich begraben, man weiß nicht, wo.“206
Eine andere Konnotation hat die Darstellung der Verbrechen der russischen Truppen im Roman von Arno Surminski. Den Darstellungen von Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Rotarmisten beim Einmarsch in Ostpreußen sowie von Deportationen von Zivilisten in die Sowjetunion für den Aufbau der von den Deutschen zerstörten Gebiete werden im Roman keine Darstellungen der Gräuel der Wehrmacht oder der SS gegen die sowjetische Zivilbevölkerung gegenübergestellt. Die Aufmerksamkeit des Autors gilt auch den Luftangriffen der Alliierten auf Münster und Hamburg. Die Bombenangriffe der Luftwaffe auf Kiew, Minsk oder Leningrad bleiben unerwähnt.
205 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 152. 206 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 687. 244
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Verbrechen der sowjetischen Staats- und Militärführung Generell werden in den Werken Wladimows, Astaf´evs und Kononows Verbrechen der sowjetischen Führung gegen eigene Soldaten eher hervorgehoben als die Gräuel der Nazis in der Sowjetunion. Georgi Wladimows „Der General und seine Armee“ beginnt mit der brutalen Hinrichtung gefangener russischer Überläufer, sogenannter „WlassowLeute“, die im Roman als Opfer dargestellt werden. Wladimow grenzt diese Menschen nicht aus der Gemeinschaft der Russen aus, er bemüht sich, ihre Motive nachzuvollziehen, auch wenn seine Argumentation meist unklar und vage bleibt. Die brutale Hinrichtung der gefangenen „Wlassowcy“ wird im Roman als Verbrechen dargestellt, was der gängigen Meinung von der angemessenen Strafe für den Verrat widerspricht. Vergeltungsaktionen in den befreiten Gebieten, die sich gegen Kollaborateure richten, Zwangskollektivierung, Durchsetzung der Sowjetmacht in Zentralasien, Säuberungen vor dem Krieg – das sind die Staatsverbrechen in Wladimows Roman, an denen auch seine Protagonisten teilhaben. Auch in Michail Kononows Roman „Die nackte Pionierin“ werden nicht die Deutschen, sondern der General Sukow als Täter dargestellt. Sukow, den im Russischen nur ein Buchstabe von seinem historischen Prototyp Marschall Schukow trennt, erschießt jeden dritten Soldaten, der der deutschen Einkesselung entflohen ist, als „Verräter“. Sukow verkörpert die sowjetische Militärführung, die aus Eitelkeit und Selbstsucht Soldaten ins Feuer schickt. Als Mörder, nicht als Held wird Sukow von Kononow charakterisiert: „Wie viele von unseren Burschen hast du schon ins Verderben geschickt für deine Klimperorden? Wie viele Christenseelen hast du besudelt? Nicht mal in der Hölle wird dir vergeben werden, Volksfeind, krummer Hund!“207 Auch im Roman von Wladimow werden die sowjetischen Befehlshaber, vor allem aber Marschall Schukow, als mitleidlose Henker beschrieben, für die ein Soldatenleben nichts wert ist. Die Abrechnung mit den Verbrechern aus den eigenen Reigen ist härter als die mit den deutschen. Im Roman von Viktor Astaf´ev sind die Verbrecher ebenfalls weniger „die Deutschen“, sondern sowjetische Politoffiziere, die mit ihrem „Geschwätz“ die Soldaten nur stören. Die Zerstörung der traditionellen russischen Werte wie Orthodoxie und Zuneigung zum eigenen Stück Erde durch die kommunistische Herrschaft betrachtet der Schriftsteller als die größte Untat der sowjetischen Staatsmacht.
207 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 120. 245
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Zusammenfassung In den Romanen der deutschen Autoren werden Zerstörung und Leiden der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten der Sowjetunion eher am Rande erwähnt. Trotzdem scheint es, als hätten viele der früher kaum angesprochenen Themen, wie z.B. der Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen, mittlerweile Einzug in die Belletristik gefunden, wenn auch diese zweitgrößte Opfergruppe der Nationalsozialisten noch wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Literatur. Die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust, das Hauptthema der Wehrmachtsausstellung, wird von den Autoren Ulla Hahn, Tanja Dückers oder Arno Surminski in ihren Romanen nicht angesprochen, obwohl sie Wehrmachtsangehörige zu Hauptfiguren wählen. Der oft unmenschliche Umgang mit der sowjetischen Zivilbevölkerung wird kaum erwähnt – Ulla Hahn und Arno Surminski zeigen die Soldaten als stets freundlich gegenüber der Bevölkerung. Die Kriegsverbrechen der Alliierten dagegen und insbesondere die Luftangriffe auf die deutschen Städte sind in allen vier hier analysierten deutschen Romanen präsent. Während Uwe Timm und Tanja Dückers diese in einen breiten Kontext stellen, werden sie in Romanen von Ulla Hahn und Arno Surminski einseitig beleuchtet. Die Erwähnung der deutschen Gräuel ist in den Romanen russischer Autoren marginal. Die ganze Aufmerksamkeit gilt dem verbrecherischen Umgang der eigenen Führung mit den eigenen Soldaten. Auch die Kriegsverbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung werden eingestanden, wie in der Novelle „Jenseits“ von Daniil Granin. Es ist aber kein großes Thema und wird nur in einem von vier Büchern erwähnt.
Ursachen für Gewissenskonflikte Hier soll analysiert werden, ob und in welchen Situationen die Romanprotagonisten in den von mir untersuchten Werken ein schlechtes Gewissen empfinden, sowohl im Krieg als auch nach dem Krieg. Was empfinden sie als unrecht und verbrecherisch? Wofür schämen sie sich? Wenn Schuldgefühle auf beiden Seiten vorkommen, ist zu fragen, ob die Gründe für das schlechte Gewissen der Protagonisten in deutschen und russischen Texten ähnlich oder unterschiedlich sind.
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Abwesenheit des schlechten Gewissens „Gewissen ist eine überflüssige, beschwerliche Last im Krieg“,208 so Viktor Astaf´ev in „Verdammt und Umgebracht“. Es gehört zu den wichtigsten Propaganda- und Vorbereitungsmaßnahmen des Krieges, das Gewissen abzuschalten, um das Töten zu erleichtern. Omer Bartov, Stephen G. Fritz, Wolfram Wette und auch andere Historiker, die sich mit der Geschichte der Wehrmacht und anderer Militärverbände im Russlandfeldzug befassten, haben festgestellt, dass die Gewissensschranken deutscher Soldaten in diesem Krieg durch Propaganda extrem niedrig gesetzt wurden, was ihnen in vielen Fällen erlaubte, ohne Skrupel Mord an Zivilisten zu begehen.209 Diese Verbrechen – allen voran der Völkermord an den Juden – haben in der Nachkriegszeit zu einer langen, bis heute nicht abgeschlossenen Diskussion über die deutsche „Schuld“ geführt, sowohl die kollektive als auch die individuelle Schuld und Verantwortung für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Namen des deutschen Volkes begangen worden sind. In „Am Beispiel meines Bruders“ äußert sich Uwe Timm bestürzt darüber, wie wenig Gewissensbisse sein Bruder im Krieg empfunden hat. Timm findet zwar keine Hinweise auf eine Teilnahme des Bruders an „Säuberungsaktionen“, in seinem Tagebuch wird jedoch erwähnt, dass seine Kompanie im Winter Öfen aus den Häusern der russischen Dörfler abbaute, um Strassen zu bauen. Für die Konsequenzen, dass die Menschen den Winter in kalten Häusern verbringen müssen, fühlt sich KarlHeinz Timm nicht schuldig. In einem Brief an seinen Vater schreibt er: „Scheinbar haben diese Leute hier unten noch nichts mit der SS zu tun gehabt. Sie freuten sich alle, winkten, brachten uns Obst usw., bisher lag nur Wehrmacht hier in den Quartieren.“210 Dieser Satz enthält keine Andeutung eines schlechten Gewissens dafür, warum die SS, bei der er diente, einen solch „schlechten Ruf“ hatte. Vielmehr macht er das Unvermögen des Bruders deutlich, an diesem Punkt weiterzudenken, oder weiterdenken zu wollen, denn in einem anderen Brief an den Vater versucht er sich selbst von aller Schuld freizusprechen, indem er sagt „ich führe nur Befehle aus und alles andere geht mich nichts an.“211 208 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 714. 209 Vgl. Bartov, Omer: Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Reinbek 1995; Fritz, Stephen G.: Hitlers Frontsoldaten: der erzählte Krieg. Berlin 1998; Wette, Wolfram: Die Wehrmacht: Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt a.M. 2002. 210 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 92. 211 Ebd., S. 77. 247
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Das Fehlen des Unrechtsbewusstseins registriert Timm auch im Tagebuch des Generals Heinricis, aus dem er einige Eintragungen zitiert: „Ich sag Beutelsbacher, er soll Partisanen nicht 100 m vor meinem Fenster aufhängen. Am Morgen kein schöner Anblick.“212 Dieses Zitat demonstriert den Zynismus des Befehlshabers, den die gehenkten Partisanen beim Blick aus dem Fenster stören. Wenn das Fehlen des schlechten Gewissens im Krieg noch durch Propaganda und die Kriegsumstände erklärt werden kann, ist es für Uwe Timm verblüffend und kaum nachvollziehbar, dass auch nach dem Krieg, nachdem der Völkermord an den Juden hinlänglich bekannt war, die Täter nicht von schlechtem Gewissen geplagt wurden und ihre Verstrickung nicht einsahen. Timm zitiert Christopher Brownings Studie „Ganz normale Männer“, in der unter anderem der Prozess gegen die Mitglieder des Polizeibataillons 101 im Jahre 1967 beschrieben wird. „Keiner der Angeklagten zeigte ein Unrechtsbewusstsein. Alle beriefen sich auf Befehl und Gehorsam. Die Strafen wurden später stark reduziert.“213 Dabei wurden von den Männern des Reserve-Polizeibataillons 101 fast 40 000 Juden ermordet. Dieses Zitat führt Timm nicht nur an, um die individuelle Haltung der Angeklagten zu demonstrieren, sondern auch, um die Haltung des Staates und seiner Justiz darzustellen, die durch milde Urteile die Schuldigen von der Schuld befreite. Doch Timm erwähnt auch, dass die Beteiligten am Judenmord durchaus Unrechtsbewusstsein hatten und darum bereits während des Krieges alles unternommen haben, um die Verbrechen geheim zu halten und die Spuren zu verwischen. „Die Toten in der Schlucht von Babij Jar wurden, als die Rote Armee im Vormarsch auf Kiew war, von Häftlingen unter Aufsicht der SS enterdet, verbrannt, danach wurden die Häftlinge erschossen. Das zur Verbrennung benutzte Dieselöl wurde abgerechnet.“214
Mit diesen prägnanten, einfachen Sätzen, die Timms Stil kennzeichnen, kommt das Charakteristische an NS-Verbrechen zum Vorschein – die pedantische Ausführung von Befehlen und der Massenmord, ausgeführt mit Hilfe einer effizient organisierten Bürokratie.
212 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 28. 213 Ebd., S. 104. 214 Ebd., S. 61. 248
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Schlechtes Gewissen wegen Systemtreue Renate, die Mutter der Hauptfigur Freia in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper“, wird ihr ganzes Leben lang von schlechtem Gewissen geplagt, weil ihre Eltern und sie selbst – damals noch ein kleines Kind – Privilegien als loyale Anhänger des Nazi-Regimes genossen. Obwohl Renate sich mit der „Gnade des späten Geburt“ hätte rechtfertigen können, da sie als Fünfjährige selbstverständlich nicht selbstständig entscheiden konnte und unter dem Einfluss ihrer Eltern stand, glaubt sie an ihre „persönliche Verstrickung“: Als die Familie aus Westpreußen floh und einen Platz auf dem Minensuchboot „Theodor“ benötigte, machte die kleine Renate im richtigen Moment den Hitlergruß und sagte, dass die Frau nebenan, die auf das gleiche Boot gelangen wollte, diesen Gruß schon seit langem nicht mehr gemacht hätte. Die so denunzierte Frau kam mit ihrem Sohn auf die „Wilhelm Gustloff“, die später untergegangen ist. Das kann sich Renate nicht verzeihen: „Daß wir privilegiert, als Nazis der ersten Stunde seit langem sehr privilegiert waren und dadurch natürlich Fluchtvorteile besaßen [...], das war allgemein bekannt. Nicht aber meine persönliche Verstrickung. [...] Und meine Eltern taten immer so, als wäre ich die Lebensretterin. [...] Nachher waren sie alle so schön demokratisch und so weiter, aber ich hab’s anders im Ohr.“215
Kurz nachdem sie das ihrer Tochter erzählt hat, begeht Renate Selbstmord. Sie hat sich ihr Leben lang schuldig gefühlt für eine Tat, die sie im Alter von fünf Jahren begangen hatte und für die sie eigentlich nicht verantwortlich zu machen ist. Renates Eltern dagegen rechtfertigen sich mit ihren Leidensgeschichten und sehen keinen Grund für ein eigenes schlechtes Gewissen, obwohl sie überzeugte Nazis waren, wie sich später im Roman herausstellt. So stellt die Autorin dar, dass diejenigen oft kein Unrechtsbewusstsein haben, die alle Gründe dafür hätten, sich ihrer Vergangenheit zu schämen, während diejenigen, die keine Schuld für das Geschehene tragen, vom schlechten Gewissen geplagt sind. Ihre Anpassung an das Nazi-Regime, ihre Passivität – vielleicht schlimmer als das Handeln – hinterfragt auch die Mutter von Uwe Timm. Die Fragen, die sie sich stellt, beziehen sich vor allem auf das stille Zuschauen bei der Judendiskriminierung, ohne etwas gefragt oder getan zu haben: „Was hätte ich tun können, was tun sollen? ... Wo waren die beiden jüdischen Familien aus der Nachbarschaft geblieben?“216 Diese
215 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 300. 216 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 133. 249
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Frage, so Timm, müsse sich jeder stellen. Diese passive Loyalität, das Hinnehmen der verbrecherischen Praxis der Nationalsozialisten sei Grund genug, sich schuldig zu fühlen. Georgi Wladimows General Kobrissow empfindet seine Teilnahme als Militär an der Durchsetzung der sowjetischen Macht in Zentralasien und der an Kollektivierung als Unrecht, nicht als Dienst für die Heimat und historische Notwendigkeit, wie man es offiziell lange Zeit und zur Zeit der Romanhandlung darstellte. „Ich kann so reden, weil ich selbst bei einer falschen Sache Hand angelegt habe. Und mir das nicht verzeihen kann. In jungen Jahren habe ich die Basmatschen verfolgt. Aber was waren sie schon für eine Gefahr, diese Basmatschen – mit ihren englischen Mauserpistolen! Wo ritten sie denn hin auf ihren arabischen Pferden? In die Straßen Moskaus etwa? Nein, durch ihre eigene Wüste sind sie geritten. Und ich, was hatte ich in ihrer Wüste zu suchen? Warum habe ich meine Brust für die armen Daschnaken hingehalten? Haben sie mich etwa darum gebeten?“217
Diese Rolle als ausführende Kraft des sowjetischen Imperialismus empfindet Kobrissow als beschämend und stellt seine Regimetreue in Frage. Die Frage, die er sich selbst stellt – „Was hatte ich in ihrer Wüste zu suchen?“ – fehlt bei den Protagonisten der deutschen Autoren, die sich nicht fragen, was sie eigentlich in Russland zu suchen hatten. Während Uwe Timm so das Fehlen der Reflexion über den verbrecherischen Charakter des Krieges widerspiegelt, sehen Ulla Hahn und Arno Surminski keine Notwendigkeit, sich mit dieser Frage zu befassen. Rechtfertigungszwang als Ausdruck eines schlechten Gewissens Im Bedürfnis, sich zu rechtfertigen und sich zu entschuldigen, quasi nach Gründen zu suchen, ein gutes Gewissen haben zu dürfen, erkennt Uwe Timm ein unbewusstes Schuldeingeständnis. „Dieses Totschweigen war schrecklicher als das langatmige Reden derjenigen, die sich mit dem Wir-haben-nichts-gewußt zu entschuldigen suchten. [...] wenn sie wie unter Rechtfertigungszwang – oft ungefragt – damit begannen, Gründe aufzuzählen, warum sie nichts gewusst haben konnten. Immerhin regte sich bei ihnen ein Gewissen, das daran mahnte: Man hätte etwas wissen können.“218
217 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 398f. 218 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 106. 250
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Das Schweigen der Kriegsgeneration war für Timm viel schlimmer als deren Bedürfnis nach Ausreden, da das letztere zumindest auf Gewissensregungen hindeutete. Rebeka Rosen in „Vaterland ohne Väter“ zögert, die Briefe ihres Vaters an die Wehrmachtsaustellung zu schicken, weil sie Angst hat, „die könnten etwas herausfinden, was meinem Vater peinlich wäre. Sie werden ihm und mir Vorwürfe machen.“219 Diese Aussage ist nicht zwangsweise ein Zeichen für schlechtes Gewissen – und der ganze Roman ist darauf ausgerichtet, die Protagonistin von diesem Gefühl angesichts der Kriegsteilnahme ihres Vaters und der Beteiligung ihres Sohnes an Militäreinsätzen im Ausland zu befreien –aber sie zeigt Rebekas Vermutung, dass sich in der Geschichte ihres Vaters etwas Peinliches, ein Unrecht verbirgt. Ähnlich verhält sich der ehemalige Major Knebel in Daniil Granins Novelle „Jenseits“. Gewissensbisse und Reuedemonstration sind ihm fremd, im Gegensatz zum anderen Deutschen in dieser Novelle, Ebert, der sich in Wohltätigkeitsverbänden engagiert, für gemeinnützige Projekte spendet und humanitäre Hilfe nach Russland schickt. Knebel ist der Auffassung, dass er bloß ein Nachrichtensoldat war und dass die Alliierten Schlimmeres begingen, indem sie deutsche Städte bombardierten. Dennoch hat Knebel Angst, nach Amerika oder nach Russland zu reisen. Als der russische Veteran Šagin ihn aus Höflichkeit einlädt, sagt Knebels Frau zu ihm: „Es ist sinnlos. Er will auch nicht nach Amerika! Hat Angst, man könnte ihm bei euch etwas Schlechtes sagen.“ „Wohl wahr... Wohl wahr...“, stimmte Knebel plötzlich absolut nüchtern zu.“220
Der Vater von Uwe Timm, der in „Am Beispiel meines Bruders“ vor allem als jemand gezeigt wird, der nach allen möglichen Gründen sucht, um sich und seinen toten Sohn von der Last der „Kollektivschuld“ freizusprechen, ist auch nicht ganz frei von innerer Zerrissenheit und Unzufriedenheit. Im Buch gibt es eine Szene, die ungewöhnlich wirkt, weil sie zum Porträt des Vaters eigentlich nicht passt: „Einmal sah ich den Vater, wie er am Heizungskamin stand, die Hände auf dem Rücken, der Wärme entgegengestreckt. Er weinte. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Ein Junge weint nicht. Das war nicht nur ein Weinen um den toten Sohn, es war etwas Sprachloses, was ich in Tränen auflöste. Wie er da stand und weinte, war etwas von dem Grauen der Erinnerung gegenwärtig, abgrund-
219 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 121. 220 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 697. 251
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tief verzweifelt, keine Selbstmitleid, ein unsägliches Leid, und auf meine Fragen schüttelte er immer wieder nur der Kopf.“221
„Was waren das für Bilder, die ihn bedrängten?“, fragt sich Uwe Timm und äußert implizit die Vermutung, dass der Vater etwas auf dem Gewissen hatte, das ihm unangenehm war, etwas, wofür er sich schämte, obgleich nichts von dem, was er Uwe Timm erzählte, diese Vermutung bestätigte. Schlechtes Gewissen im „heiligen Krieg“ In seiner Novelle „Jenseits“ stellt sich Daniil Granin gegen die in Russland gängige Meinung, russische Kriegsteilnehmer hätten keinen Grund, ein schlechtes Gewissen für irgendwelche verbrecherischen Praktiken während des Krieges zu empfinden, da sie Europa vom Faschismus befreit haben – was alle Mittel rechtfertigte. Er thematisiert die wenig ruhmreiche Seiten des Krieges. In einem Gespräch mit seinem deutschen Gastgeber Karl Ebert gesteht der russische Veteran Šagin, dass auch „der heilige“ Verteidigungskrieg, an dem er teilgenommen hat, irgendwann schmutzig geworden ist und dass er genug Gründe hat, ein schlechtes Gewissen zu empfinden. „[...] Und ich sage Dir, dass ich auch ein Mistkerl war. Ich glaubte, uns wäre alles erlaubt. Na selbstverständlich – Befreier, haben Europa gerettet!“ Es quoll aus ihm heraus. Er gestand Ebert, was er nie zuvor jemandem gestanden hatte. Er schonte sich nicht. Neben dem Krieg, über den er normalerweise sprach – mit Blumen, die man ihnen vor die Füße warf, mit Umarmungen und Tränen der befreiten KZ-Häftlinge – gab es auch einen anderen Krieg, seine Kehrseite. Er erinnerte sich, wie er deutsche Frauen für eine Dose Schmorfleisch zu sich ins Bett holte. Seine Soldaten plünderten deutsche Häuser aus, schleppten Gardinen, Wäsche, Geschirr, Pelzmäntel weg; aus irgendeinem Haus brachten sie russische Ikonen, zerschlugen Weinkeller – und er deckte eigene Leute, rettete sie vom SMERŠ.“222
Granin thematisiert hier den Gewissenskonflikt, mit dem viele russische Kriegsteilnehmer leben müssen. Auf der einen Seite steht die offizielle Kriegsdarstellung, in der die Veteranen als höchste Moralinstanz agieren und zu Helden stilisiert werden, weil sie den Sieg über Nazi-Deutschland erkämpft haben. Auf der anderen Seite hat jeder sein persönliches Schuldkonto mit Taten, an die er sich lieber nicht erinnert.
221 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 102f. 222 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 688. 252
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Schlechtes Gewissen wegen wehrloser Opfer Georgi Wladimow vertritt eine klare Auffassung zum Thema Gewissen im Krieg: Während das Töten im Kampf eine gewisse „Legitimation“ genieße und deshalb kaum einen Grund zum schlechten Gewissen im nachhinein darstelle (weil man nach dem Prinzip „ich oder er“ handelt), sei das Töten Wehrloser eindeutig ein Verbrechen. Somit verurteilt Wladimow die Hinrichtungen der sogenannten „Verräter“ und Kollaborateure sowie Vergeltungsaktionen des NKWD. Das Töten wird dann zum Kriegsverbrechen, wenn die Opfer wehrlos sind und sich nicht verteidigen können. „Die Erinnerung an Bajonettgefechte mit aufgerissenen Bäuchen, mit zertrümmerten Schädeln schwindet bald aus dem Gedächtnis der Soldaten, auch jener Verwundete würde einem verzeihen, den man mit dem Pionierspaten oder mit dem Stahlhelm totgeschlagen hat, wenn es im Kampf passiert, wenn du ihn nicht tötest, tötet er dich. Ein wehrloses Opfer hingegen vergisst man nie, man hält es fest, lädt in Ruhe das Gewehr, hat ihm zuvor vielleicht die Lippen blutig geschlagen, das Koppel abgenommen oder kreuzweise Striemen ins Gesicht gepeitscht. So was wird man nie wieder los, weder im Traum noch im Suff, es verfolgt einen bis ans Ende.“223
So empfindet General Kobrissow in Wladimows „Der General und seine Armee“ Gewissensbisse, nachdem er einer öffentlichen Hinrichtung von Kollaborateuren in den befreiten Gebieten beiwohnen musste. Denn hier geht es nicht mehr um die Verteidigung der Heimat, sondern um die Demonstration von Macht und um Rache. Seine Aufgabe als Militär sieht Kobrissow nicht in Hinrichtungen Wehrloser, sondern im Kampf gegen die Deutschen: „Ich bin kein Henker! Es liegt in der Natur meines Geschäfts, Menschen in den Tod zu schicken, aber ich bin kein Henker!“.224 „Nein, auch wenn er ihre Untaten studiert und keine Rechtfertigung für sie gefunden hätte, hätte er diese Hinrichtung nicht als Rache empfunden, sondern nur dieses erniedrigende Gefühl verspürt, als ginge es um ihn selbst, als wären es seine Hände, die auf den Rücken gebunden waren und abstarben, als wäre es sein Hals, um den so geschickt die eingefettete Schlinge gelegt wurde und von dem langen Leutnant mit Brille überprüft, der dabei keinerlei Gefühle, nicht einmal Interesse zeigte. ... Er wusste nicht, ob er lieber seine eigenes Leben hingegeben oder es einem Unbewaffneten genommen hätte, das Schicksal hatte ihn nie vor diese Wahl gestellt.“ 225
223 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 49 224 Ebd., S. 311. 225 Ebd, S. 310. 253
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Dabei erwähnt Wladimow, dass diese Exekutionen nicht automatisch bei allen „dieses erniedrigende Gefühl“ hinterließen. So zeigt der „lange Leutnant mit Brille“ „keinerlei Gefühle“, für ihn bedeutet dieses Procedere nur Routine. Der Glaube an die „Heiligkeit“ des Krieges verfliegt nach diesem Romanabsatz. Eine ähnliche Argumentation liest man auch im Roman von Ulla Hahn „Unscharfe Bilder“. Der Krieg weckt kein schlechtes Gewissen in den Hauptfiguren, solange sie nicht an „Vergeltungsaktionen“ teilnehmen. Musbachs bester Freund Hugo, eigentlich ein Kriegsgegner, bricht dann zusammen, als er in einer Vergeltungsaktion seiner Kompanie wehrlose Menschen tötete: „Ich bin ein Mörder. [...] Ich kann die Blicke, dieses Flehen um Erbarmen in den Augen, nie mehr ertragen“.226 Diese Last ist ihm so schwer, dass er schließlich Selbstmord begeht. Hugos Schuld wird im Roman dadurch gemildert, dass die verbrecherische Aktion als Antwort auf den Tod der Kameraden durch sowjetische Partisanen geschah, aus „Wut“, „nichts als Wut“.227 Zusammenfassung Der Überblick hat gezeigt, dass sich das schlechte Gewissen bei den Protagonisten der russischen Autoren viel öfter zu Wort meldet. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: man schämt sich der Systemtreue (General Kobrissow) oder weil man nicht systemtreu genug ist (Motte); schlechtes Gewissen hat der Held in Granins Novelle „Jenseits“ wegen seines Verhaltens beim Einmarsch in Ostpreußen und seiner Feigheit während der Säuberungen nach dem Krieg. Die Unfähigkeit, den deutschen Truppen standzuhalten, weckt das Gefühl des schlechten Gewissens ebenso, wie andere in den sicheren Tod zu schicken. Eine Interpretation von Schuld liefert Georgi Wladimow, der zwischen dem Töten im Kampf und dem Töten Wehrloser unterscheidet, das Letzte sei moralisch unhaltbar und ein Grund für schlechtes Gewissen. Keiner der Kriegsteilnehmer in allen vier deutschen Romanen schämt sich für die verbrecherischen Taten, die er begangen hat. Uwe Timm ist der Einzige, bei dem diese Abwesenheit des Gewissens auf Kritik stößt. In keinem anderen Roman wird Bedauern darüber ausgesprochen, dass die Sowjetunion durch den deutschen Überfall Millionen von Menschen und zahlreiche Kulturgüter verloren hat. Die Autoren erwähnen die Kriegsverbrechen nur am Rande und stellen sie nicht als etwas Beschämendes dar.
226 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 144. 227 Ebd., S. 143. 254
DIE FRAGE DES GEWISSENS
In den russischen Texten ist das schlechte Gewissen der Figuren vor allem den Opfern in den eigenen Reihen gewidmet, doch auch der Umgang mit den Deutschen – wie bei Wladimow im Falle des gehenkten deutschen Kriegsgefangenen oder der vergewaltigten und ermordeten Braut des Deutschen Ebert in der Novelle von Granin – erweckt in den Protagonisten das schlechte Gewissen.
Umgang mit Erinnerung Im ersten Abschnitt dieses Unterkapitels wurde festgestellt, dass die Romanfiguren in Werken deutscher Autoren selten ein schlechtes Gewissen wegen der verbrecherischen Handlungen empfinden, die sie begangen oder gutgeheißen haben. Deshalb wird hier gefragt, zu welchen anderen Strategien sie greifen, um mit der Geschichte des Krieges umzugehen. Wie erklären sie, wer die Schuld für Kriegsverbrechen trägt? Wie sehen sie ihre eigene Rolle im Kriegsgeschehen? Man muss betonen, dass die Frage nach dem persönlichen Umgang mit den Verbrechen, die in der Zeit der Nazi-Herrschaft begangen wurden, von den deutschen Autoren viel intensiver behandelt wird als eine ähnliche Frage in bezug auf Russland in den Texten russischer Autoren. Das liegt unter anderem daran, dass alle hier untersuchten Romane deutscher Schriftsteller in der Gegenwart angelegt sind, was die Beschäftigung mit den moralischen Aspekten der Kriegserfahrung vom heutigen Standpunkt aus ermöglicht. Das Kriegsgeschehen wird aus der heutigen Sicht dargestellt, als Erinnerung oder als Rechercheergebnis. Die Ereignisse werden rückblickend aus der Perspektive der Zeitzeugen geschildert. Der Bewertung der Vergangenheit, der eigenen Rolle darin sowie der Klärung des Verhältnisses zu dem, was damals passierte, gilt die schriftstellerische Aufmerksamkeit und wird durch den zeitlichen Abstand ermöglicht. Anders gehen russische Autoren in ihren Werken vor, mit Ausnahme von Daniil Granin. Die Handlung spielt komplett in der Zeit des Krieges, es fehlt eine bewertende Instanz in der Gegenwart wie die Nachgeborenen in den Texten der deutschen Autoren. Die russischen Schriftsteller konzentrieren sich auf den Krieg selbst, die deutschen Autoren auf den Umgang mit Kriegserinnerungen, was die oben angesprochene Ungleichheit teilweise erklärt. Selbst dort, wo sich Viktor Astaf´ev und Daniil Granin zum Umgang mit der Vergangenheit nach dem Krieg äußern, geht es um die Deutschen und ihren Umgang mit Erinnerungen, nicht um die Russen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des sowjetischen und bzw. russischen Kriegsgedenkens ist
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noch kein Thema der russischen Belletristik. Der Umgang mit dem Kriegsvermächtnis wird von russischen Autoren auf eine andere Art und Weise hinterfragt – indem sie ihre eigene Version des Kriegsgeschehens präsentieren. In diesem Abschnitt möchte ich nicht nur den Umgang der Protagonisten mit ihrer Rolle im Krieg, sondern auch die Position der Autoren dazu untersuchen. Empfinden die literarischen Figuren keine Gewissensbisse, weil die Autoren damit die unkritische und unreflektierte Art des Umgangs mit persönlicher Verstrickung darstellen wollen? Oder halten sie Schamgefühle für nicht angemessen? Den untersuchten Texten sind folgende Möglichkeiten zu entnehmen, nationalsozialistische Verbrechen und die eigene Beteiligung an ihnen zu bewerten: Das Fortbestehen der Überzeugung von der Rechtmäßigkeit der Handlung, „Unverbesserlichkeit“ Das Nicht-Zulassen der Schuld, Verdrängung Schweigen Rechtfertigungen Entkontextualisierung In diesem Prozess der Selbstbefreiung vom schlechten Gewissen spielt die Übertragung der Verantwortung auf andere eine wichtige Rolle. Wer wird für das Unrecht verantwortlich gemacht? Wen beschuldigen die Protagonisten der verbrecherischen Handlungen? Dieser Frage möchte ich in diesem Abschnitt ebenso nachgehen. Fortbestehen der Überzeugung von damals Dass es Deutsche gibt, die noch immer von ihrem „tadellosen“ Verhalten im Krieg überzeugt sind und daran glauben, dass die Teilnahme am Vernichtungskrieg im Osten kein Grund sei, sich zu schämen, hat auch Daniil Granin in seiner Novelle „Jenseits“ bemerkt. Er beschreibt den ehemaligen Major Knebel, einen inzwischen alten Mann, der sich mit Stolz an seine Jugend im Krieg erinnert und glaubt, dass er sich für nichts zu schämen braucht. „Wir haben das Recht auf unser Wappen und unser Motto bewahrt“, verkündete Knebel. Er nahm Elsas Lippenstift und zeichnete auf einer Serviette ein Schild mit einem Schwert darauf. Er deklamierte auf Deutsch, Ebert übersetzte: „Scharfes Schwert, unsere Tapferkeit, unsere Treue und unbefleckte Reinheit unseres Wappens“. „Nicht schlecht“, sagte Šagin. „Meine unbefleckten Plünderer. Kleine Palastdiebe“. 256
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Knebel schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich habe dir doch gesagt: man transportierte ab, um vor Luftangriffen zu schützen. So wurde es uns erklärt. Gott sei Dank, dass die Unseren abtransportiert haben, so hat immerhin jemand etwas davon“. Ebert schüttelte den Kopf: „Willst du etwa sagen, dass wir Deutsche uns zivilisiert verhalten haben?“228
Knebel glaubt immer noch an die Legende von der „sauberen Wehrmacht“, er realisiert nicht, dass die Ziele, für die er in den Krieg zog, verbrecherisch waren und dass dieser Krieg Millionen Menschen in Russland großes Leid gebracht hat. Unzivilisiert findet er nicht die Tatsache, dass die deutschen Truppen Leningrad im Blockadering hielten und Weihnachten im besetzten Katharinenpalast feierten, sondern dass russische Truppen am Heiligabend 1941 den Palast beschossen. Knebel repräsentiert den Typus eines „Unverbesserlichen“, der zwar kein überzeugter Nazi, aber immer noch im militaristischen Denken gefangen ist. Die Großeltern im Roman von Tanja Dückers gehören auch zu dieser Kategorie, wobei sie immer noch mit nationalsozialistischer Ideologie sympathisieren. Als Freia wissen will, ob ihre Großeltern in der Zeit des Dritten Reiches die Hetzjagd auf Juden guthießen, sagt die Großmutter: „Den Russen mochte ich nicht besonders, aber die Juden waren mir egal. Ich hab nicht begreifen können, wie man Kinder umbringen kann. Ich will doch auch nicht, dass Negerkinder umgebracht werden. Das hat für mich die Nazis endgültig diskreditiert, auch wenn ich viele gute Erinnerungen an diese Zeit habe.“ 229
Diese Aussage weist auf eine rassistische Haltung der Großmutter hin. Die Nazi-Zeit war für sie „die glücklichste Zeit“ des Lebens, und alle Versuche, die frühere Überzeugung zu verbergen, wirken bei ihr wenig glaubwürdig, gerade, weil sie dabei nicht selten das alte Vokabular benutzt, wie z.B. die Berufung auf moralische Werte wie Vaterlandstreue und Gehorsam. Wie sich später herausstellt, waren Freias Großeltern keine „einfachen“ Mitläufer, sondern Parteimitglieder, kannten sich bei den Rassegesetzen bestens aus und betrieben Ahnenforschung in der eigenen Familie. Auch des Großvaters Antisemitismus kommt im Gespräch über das „Bienenvolk“ und die „Schmarotzerbienen“, die für ihn Juden symbolisieren, zum Vorschein. Sich selbst begreifen die Großeltern allerdings als Opfer – der Flucht und
228 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 695f. 229 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 104. 257
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des Krieges – und äußern kein Bedauern über das Leid, das den anderen in der Zeit des Nationalsozialismus zugefügt wurde. Zurückweisung der Schuld oder Verdrängung Eine andere Strategie, mit unangenehmen oder peinlichen Tatsachen umzugehen, ist Ablehnung oder Verdrängung, die Betonung der positiven Erfahrung und das Ausblenden von Fragen und Ambivalenzen. Ein Beispiel dafür liefert Arno Surminski in der Figur Rebeka Rosen, die von vornherein nichts Negatives über ihren Vater im Russlandfeldzug erfahren will. Obwohl im Roman zwei konkrete Szenen von Zivilistenerschießungen enthalten sind, an denen Robert Rosen teilgenommen hat, begreift dies seine Tochter nicht als moralisch verwerflich oder beschämend. „Mein Vater ein Mörder?“, fragt sie sich und erwidert: „Das kann ich doch nicht so stehen lassen.“230 „Als Sieger wurden sie mit Brot und Salz empfangen, auf dem Rückzug verbrannte Erde. Das will ich meinem Vater nicht zumuten. Nein, er hat keine Häuser angesteckt“.231 Dieses Nicht-Wissen-Wollen befreit auch von schlechtem Gewissen oder Reue. Aus Angst, Schreckliches zu erfahren, schreibt Rebeka Rosen die Geschichte ihres Vaters im Krieg als eine Mischung aus Idylle und Kriegsabenteuer, die der Autor ohne jeglichen kritischen Kommentar präsentiert. Ebenso denken die Eltern von Uwe Timm, für die der im Russlandkrieg gefallene ältere Sohn als der Junge, „der nicht log, der immer aufrecht war, der nicht weinte, der tapfer war, der gehorchte“232 in Erinnerung blieb. Der Bruder, so Uwe Timm, war „das Vorbild“, und die Eltern haben seine Rolle bei der Waffen-SS nie hinterfragt. Wie sehr unterscheidet sich diese Einstellung, die sicherlich auch einige Schutzfunktionen erfüllt, von dem Bedürfnis Uwe Timms, der möglichen Schuld des Bruders auf die Spur zu kommen. „War seine Einheit, das IV. Panzerpionierbataillon der Totenkopfdivision, bei sogenannten Säuberungen eingesetzt worden? Gegen Partisanen, Zivilisten, gegen Juden?“,233 „könnte mit Läusejagd nicht auch etwas anderes gemeint sein, nicht einfach das Entlausen der Uniform?“234 Diese Fragen kontrastieren mit der Einstellung Rebeka Rosens, die nichts von der Täterschaft ihres Vaters wissen will oder diese einfach ignoriert, um wahrscheinlich so den inneren Frieden mit sich selbst und mit ihrem Vater zu bewahren. Uwe Timm will wissen, auch wenn es ihm schlaflose 230 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 283. 231 Ebd., S. 395. 232 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 21. 233 Ebd., S. 36. 234 Ebd., S. 18. 258
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Nächte oder Alpträume bereitet, und darin unterscheidet er sich von der zurückweisenden Haltung Rebeka Rosens im Roman von Arno Surminski. Unter „Verdrängen“ versteht Uwe Timm auch die Einstellung seiner Eltern sowie vieler Vertreter ihrer Generation, sich nach dem Krieg selektiv nur an das eigene Leid zu erinnern, statt dieses in einem größeren Zusammenhang zu sehen und nach der eigenen Rolle im Nationalsozialismus zu fragen. Der Krieg wird in der Erinnerung von Timms Eltern auf die Ausbombung in Hamburg und den Verlust des älteren Sohnes reduziert, „den Schicksalsschlag“, wie sie es nennen. Dass diese Erfahrung für seine Eltern schrecklich gewesen ist, bezweifelt der Autor nicht und behandelt dieses elterliche Trauma mit viel Respekt und Mitgefühl. Was er vermisst, ist das Bewusstsein, dass dieser „Schicksalsschlag“ menschenverursacht war. Die private Tragödie soll nicht von Verantwortung und von Fragen nach der eigenen Rolle im Nationalsozialismus befreien, so die Position Timms. Selbstmitleid als Gewissensersatz So wie die Eltern von Uwe Timm stellen auch die Protagonisten von Tanja Dückers und Ulla Hahn ihr Leid in den Vordergrund, nicht zuletzt, um der Frage nach der eigenen Mitschuld zu entgehen. Mitleid dient Ulla Hahn als Rechtfertigung für die Handlungen, für die Hans Musbach schlechtes Gewissen empfinden könnte. „Weißt du, was uns da zugemutet wurde?“,235 entgegnet er, als seine Tochter ihn nach der persönlichen Schuld fragt. Das, was ihm als Soldat im Russlandfeldzug zugemutet wurde, steht im Mittelpunkt seiner Erzählung und Erinnerung. „Die jungen Leute denken alle nur, wir seien an allem schuld, hätten alles falsch gemacht. Was man an uns gemacht hat, das scheint irgendwie uninteressant.“236 Das eigene Leid stellt das Leid anderer in den Schatten. Musbach ist auch nach dem Krieg unfähig, Empathie mit den Kriegsopfern auf der „anderen Seite“ zu empfinden. Mitleid soll die Frage nach der Schuld ersetzen, gerade angesichts des Alters der Betroffenen – diese Botschaft vermittelt Ulla Hahn in ihrem Roman, und ihre Protagonistin Katja fragt sich zum Schluss, ob sie mit ihren Fragen nach des Vaters Rolle im Krieg die Zeit, die ihr mit ihm noch gemeinsam verbleibt, verdorben hat. „Glaubst du, er wird jetzt noch mal ein anderer Mensch? Er hat genug gelitten“,237 denkt Freias Mutter in „Himmelskörper“, als ihre Tochter von antisemitischen Äußerungen des Großvaters erzählt. Die 235 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 46. 236 Ebd., S. 135. 237 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 188. 259
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Mutter fordert Freia auf, ihn nicht mehr nach dem Krieg zu fragen, um ihm nicht die letzten Lebensmonate zu vergällen. So glaubt sie, ihn zu schützen. Der Großvater selbst verlangt von seinen Enkeln Mitleid, als er über seine Kriegserfahrungen erzählt: „[...] manchmal strich er über seine Prothese und sah Paul und mich, stellvertretend für diejenigen, die ihn in den Krieg geschickt hatten, vorwurfsvoll und unendlich traurig an.“238 Die Autorin sieht in dieser Behinderung keinen Grund, den Großvater von seiner Schuld freizusprechen, Mitleid soll nicht das Fragen ersetzen. Rechtfertigungen In „Am Beispiel meines Bruders“ beschreibt Uwe Timm zwei Arten, mit der eigenen Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus umzugehen – Schweigen und das Sich-Entschuldigen mit dem „Wir-haben-nichtsgewußt“, wobei die letztgenannte Rechtfertigung meistens ungefragt komme und auf Ansätze schlechten Gewissens hindeute, denn sie impliziere, dass man etwas hätte wissen können. Solche „ungefragten“ Rechtfertigungen kommen in „Unscharfe Bilder“ von Ulla Hahn sehr häufig vor. Der Roman vermittelt dem Leser eine Fülle von Rechtfertigungen, die den Kriegsteilnehmer Musbach entschuldigen und die Frage nach seiner Verantwortung aufheben sollen: Sein Alter: „Als Hitler an die Macht kam, war ich noch keine dreizehn. Und danach ... war es zu spät! [...] Wer mochte dem (den nationalsozialistischen Ideen – E.S.) mit sechzehn nicht zustimmen?“239 Die Frage, warum nicht alle jungen Deutschen der Nazi-Ideologie zustimmten, wird nicht gestellt. Jugendliches Alter wird von Musbach als Argument für seine Unschuld herangezogen. Zwangslage: Musbach hat den Krieg nicht gewollt und war zum Dienst gezwungen: „Ich hasste den Krieg. Ich wollte nichts erobern. Keinen erschießen. [...] Und vergiss niemals: Hugo und ich, wir hatten uns nicht freiwillig gemeldet! Ich hatte Hitler nie gewählt! Ich war in Russland ein Gefangener meines eigenen Landes.“240 Ulla Hahn wählt bewusst einen Menschen als Hauptfigur, der den Rassenwahn der Nazis und deren Juden- und Slawenhass nicht geteilt hat. Dass Menschen mit dieser Einstellung in der Wehrmacht eine Minderheit ausmachten, belegen die Studien von Stephen F. Fritz, Klaus Latzel und Wolfram Wette.
238 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 97. 239 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 59. 240 Ebd., S. 56, 107. 260
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Ausweglosigkeit: „Was sollten wir machen? Uns von hinten abschießen lassen?“241 Da Desertieren für Musbach niemals in Frage kommen konnte, rechtfertigt er sich durch die Ausweglosigkeit seiner Position als Soldat. „Entweder ich oder er“, wiederholt er mehrmals. Es liege in der Natur des Krieges, und er sei nicht in der Lage gewesen, in dieser Situation etwas zu verändern. Befehlsnotstand: Ähnlich wie die Argumentation von Ausweglosigkeit im Krieg funktioniert der Hinweis auf Befehle, Befehlsnotstand. Arno Surminski erklärt, dass die Aufgabe eines jeden Soldaten im Gehorchen besteht. „Soldat heißt ,frei von jeder Verantwortung’. [...] Befehlen und gehorchen. Das ist Militär.“242 „Eines dieser Entschuldigungs-Worte: Befehlsnotstand“, 243 nennt Uwe Timm eine der am häufigsten verwendeten Erklärungen seines Vaters für sein Verhalten im Krieg. Timm sieht darin eine Rechtfertigungsstrategie, um dem Schuldvorwurf zu entgehen. „Man selbst hatte nur auf Befehl gehandelt. Vom gemeinen Soldaten bis zum Generalfeldmarschall Keitel, der vor dem Nürnberger Gerichtshof erklärte, er sei nicht schuldig, er habe schließlich Befehle ausgeführt“,244 beschreibt Timm die Haltung vieler ehemaliger Kriegsteilnehmer, die nicht reflektierten, dass die Befehle verbrecherisch waren. Surminski und Hahn greifen diese Argumentationsweise der unmittelbaren Nachkriegszeit in ihren Werken wieder auf. „Die anderen waren nicht besser“: Die Wehrmachtspolitik der „verbrannten Erde“ kommentiert Arno Surminski als „die Üblichkeit des Krieges.“245 „Alle Armeen der Welt zerstören, was dem nachrückenden Feind nutzen könnte. Napoleons Armee hat es auch getan“.246 „Wir waren die Invasoren, Okkupanten, die Patrioten waren die Partisanen. Was nicht heißt, dass sie nicht genauso brutal sein konnten wie die Unsrigen“,247 stellt Hans Musbach in „Unscharfe Bilder“ fest. Auch der Vater von Uwe Timm betont immer wieder, dass die Kriegführung der Alliierten genau so schrecklich gewesen sei, womit er die Schuld der Deutschen am Krieg relativiert, vor allem aber sein eigenes Gewissen beruhigt. „Wir kommen durch ein Dorf, in dem 200 erschossene Russen liegen, Genickschuss von hin-
241 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 207. 242 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 282. 243 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 135. 244 Ebd., S. 132. 245 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 396. 246 Ebd. 247 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 222. 261
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ten, also von den eigenen Kommissaren erschossen.... In der Nacht kamen wieder russische Flieger und warfen Bomben. Ein paar Zivilisten, darunter auch Kinder, mussten dran glauben, 16 Verletzte“, trägt Surminskis Protagonist Robert Rosen in sein Tagebuch ein. Die Gräueltaten des Gegners dienen zur Legitimierung des eigenen Vorgehens. Mythos von der Anständigkeit: Auch das Festhalten an der Legende von der sauberen Wehrmacht ist eine der Rechtfertigungsstrategien. So betont der Vater von Uwe Timm, dass er bei der Luftwaffe kämpfte, die mit dem Mord an den Juden nichts zu tun hatte. „Die hatte nur tapfer gekämpft.“ „Davon haben wir nichts gewusst. Die anständige Luftwaffe. Die anständige Marine. Die anständige Wehrmacht. Die anständige Waffen-SS“248, nennt Uwe Timm die üblichen Sprüche, die er während seiner Jugend von ehemaligen Kriegsteilnehmern gehört hat.
Entkontextualisierung Die Eigenverantwortung bleibt unbemerkt, solange man das eigene Leid nicht in Verbindung mit den Verbrechen der eigenen Seite sieht. Diesen verengten Blickwinkel beschreibt Uwe Timm, wie er ihn in vielen Gesprächen nach dem Krieg beobachtete. „Die Russen waren noch immer die Feinde, die Frauen vergewaltigt, Deutsche vertrieben hatten und noch immer deutsche Kriegsgefangene hungern ließen, ohne dass sich die Frage nach der Schuld stellte, nach Chronologie und Kausalität der Grausamkeiten.“249 Timm empört die Unfähigkeit seines Bruders, die Bombenangriffe auf Hamburg im Zusammenhang mit seinem Kriegseinsatz in Russland zu sehen. Arno Surminski dagegen negiert die Zusammenhänge beharrlich. „Was haben wir armen Menschen in Münster mit Eurem Krieg in Russland zu schaffen?“,250 schreibt Ilse Pusch an ihren Mann in Russland. „Den Sturm ernten immer die anderen, die ihn nicht verdient haben“,251 sagt auch Rebeka Rosen am Ende des Romans, als sie vom Schicksal ihrer ostpreußischen Verwanden berichtet. Das Negieren des Kontextes ist die Rechtfertigungsstrategie, zu der auch die Großeltern im Roman von Tanja Dückers sowie Hans Musbach im Roman von Ulla Hahn greifen. In dem Moment, in dem der Gesamtzusammenhang ausgeklammert wird, wird auch die Leiderfahrung der „anderen Seite“, der jüdischen und sowjetischen Opfer des Krieges, 248 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 102. 249 Ebd., S. 132. 250 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 74. 251 Ebd., S. 453. 262
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übergangen. Die historischen Proportionen werden verschoben und es entsteht ein einseitiges, auf das eigene Leid konzentriertes Bild. Übertragung der Verantwortung auf Andere Ein anderer Mechanismus, die eigene Schuld zu relativieren, ist die Übertragung der Verantwortung für verbrecherische Handlungen auf andere. Wer sind die Verantwortlichen aus der Sicht der Romanfiguren? Allgemein „die Anderen“: Es ist der häufigste Ausdruck, den Uwe Timm in seinem Buch auch erwähnt. Timm zeigt, dass der Begriff „die Anderen“ sehr flexibel und austauschbar sein kann, je nach Bedarf. Für die Wehrmacht sind die SS-Truppen die „Anderen“, innerhalb der SS gibt es wiederum Unterschiede zwischen der SS und der Waffen-SS. „Die SS war eine normale Kampftruppe. Die Verbrecher waren die anderen, der SD. Die Einsatzgruppen. Vor allem die oben, die Führung“,252 denken Timms Eltern. Hitler: Der Sündebock war und bleibt Adolf Hitler, der für den Krieg und die Nazi-Verbrechen allein verantwortlich gemacht wird.253 „Hitler hatte die Befehlsgewalt, die Generäle gaben die Befehle an die Obersten, die an die Majore und so weiter, kurz, wir folgten, vom General bis zum Rekruten“,254 so Hans Musbach in „Unscharfe Bilder“. Auch der Kollege seiner Tochter Katja, Dr. Schöneborn, der in der Zeitung eine Anzeige für seinen im Krieg gefallenen Vater schaltet, hält Hitler für den eigentlichen Verbrecher und den Hauptverantwortlichen. „Mein Vater ist in Stalingrad gefallen. Ein Verbrecher? Ein Mörder? Das war Hitler. Mein Vater war Soldat. Er wurde eingezogen. Er wurde nicht gefragt. Er sollte Deutschland vor den Russen bewahren.“255 Ausland: „Warum hatten die Engländer, die Amerikaner, nicht die Zufahrtsgleise zu den KZ bombardiert? Da die Alliierten es doch schon 1943 wussten. Und warum hatten sie nicht die Krematorien bombardiert?“,256 klagt Uwe Timms Vater. Auch Hans Musbach sagt, dass das Ausland „tatenlos zusehe, wie die Verbrecher Deutschland flott machten für den nächsten Krieg.“257 „Das Ausland“ wird für die Nazi-Verbrechen mitschuldig gemacht.
252 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 22. 253 Vgl. Heer, Hannes: „Hitler war’s“. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2005. 254 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 82. 255 Ebd., S. 155. 256 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 134. 257 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 33. 263
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Kollektive Verantwortung, aber keine individuelle Verantwortung: „Er wusste gut: Die Frage nach den Juden, die Frage nach den Verbrechen musste immer wieder gestellt werden – aber doch nicht an ihn!“,258 glaubt Hans Musbach. „Alle Deutschen“ mögen die Verantwortung tragen, problematischer wird es, wenn es um persönliche Verantwortung jedes einzelnen geht. Man will einerseits eine Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht abstreiten, indem man sich als Volk schuldig bekennt. „Alle Deutschen“ sind jedoch eine abstrakte Masse, es ist leicht, auf sie die Verantwortung zu übertragen, sich selbst aber weiterhin als unschuldig zu sehen. Die Militärführung: Der Großvater in „Himmelskörper“ von Tanja Dückers gibt die Schuld dem Oberkommando, das „einfach immer noch an allen Fronten kämpfen wollte.“259 Darunter verbirgt sich auch die Empörung darüber, dass der Krieg verloren ging. Unerklärbare Kräfte: Im Roman von Arno Surminski ist es „die Weltgeschichte“, die dafür sorgt, dass deutsche Soldaten in den Krieg nach Russland geschickt werden oder dass französische Kriegsgefangene nach Ostpreußen kommen, wie der Franzose, „den die Weltgeschichte als Ersatz für den zu den Soldaten eingezogenen Robert Rosen nach Podwangen verschlagen hatte...“260
Zusammenfassung Die moralische Bewertung des Kriegsgeschehens bleibt für deutsche Autoren, die sich mit dem Thema „Russlandkrieg“ beschäftigen, immer noch ein aktuelles und vieldiskutiertes Thema. Alle Protagonisten in den von mir analysierten vier Romanen, die am Russlandfeldzug teilgenommen haben, erkennen kaum die eigene Schuld wegen ihrer Handlungen im Krieg an, sondern greifen zu verschiedenen Rechtfertigungsstrategien, wie z.B. Mitleid erwecken, die Verantwortung auf Andere übertragen, Zusammenhänge ignorieren u.ä. Man sollte die Meinungen von Romanfiguren nicht mit denen ihrer Autoren verwechseln. Die von Ulla Hahn und Arno Surminski unkommentiert wiedergegebenen Rechtfertigungen und eine Schreibweise, die Mitgefühl suggeriert und dabei Verbrechen und Gewissensbisse ausklammert, unterstützen jedoch eine selektive Sicht auf das Kriegsgeschehen. Andererseits präsentieren Tanja Dückers und Uwe Timm eine detaillierte Analyse der gewissenentlastenden Mechanismen. Sie machen diese als Rechtfertigungen kenntlich und distanzieren sich 258 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 100. 259 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 131. 260 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 19. 264
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von ihnen, indem sie immer wieder subtil auf die Mängel in der persönlichen Wahrnehmung des Krieges bei ihren Protagonisten hinweisen.
Empathie für die Opfer Nachdem ich in den letzten Abschnitten versucht habe, festzustellen, was in den zeitgenössischen literarischen Texten über den Krieg gegen die Sowjetunion als „Unrecht“ und „Verbrechen“ definiert wird und zum Empfinden von schlechtem Gewissen führt, möchte ich hier der Frage nachgehen, ob in diesen Werken Empathie für die Opfer gezeigt und wer als „Opfer“ bezeichnet wird. Empathie ist auch eine wichtige Voraussetzung für Versöhnung, gerade wenn es sich um fremde Staatsbürger handelt, gegen die in der Vergangenheit Unrecht begangen worden ist. Keiner der Protagonisten in Romanen deutscher Autoren zeigt Mitleid mit den sowjetischen Kriegsopfern. „Mitleid war „weibisch“ und verpönt“.261 Diese „Abwesenheit von jedem Mitempfinden“262 wird von den vier Autoren unterschiedlich kommentiert und bewertet. Während Uwe Timm sich bemüht, diese Lücke im Tagebuch seines Bruders und in der Erinnerung seiner Eltern zu schließen, indem er selbst Empathie mit den jüdischen und russischen Opfern des Vernichtungskrieges entwickelt, bleibt sie in den Romanen von Hahn und Surminski auch weiterhin bestehen. Was den Protagonisten im Krieg an Mitgefühl fehlte, wird auch 60 Jahre später – die Handlung beider Romane spielt in der Gegenwart – nicht nachgeholt. Arno Surminski und Ulla Hahn plädieren in ihren Werken für Empathie mit den deutschen Kriegsteilnehmern. „[...] Ich will nur, dass uns die armen Kerle, die für diesen Hitler in den Krieg zogen, ein wenig leid tun“, sagt die Protagonistin Rebeka Rosen in „Vaterland ohne Väter“. Wenn sie später gesteht, dass sie nicht nur mit ihrem Vater und seinen Kameraden, sondern auch „mit den Millionen russischer Soldaten, die in die Maschinengewehre getrieben wurden“, Mitleid empfindet, impliziert dies, dass russische Soldaten nicht deshalb zu bemitleiden sind, weil ihnen von der deutschen Seite ein schrecklicher Krieg aufgezwungen wurde, sondern weil sie von der eigenen Führung ins Feuer „getrieben wurden“. Auch im Roman von Ulla Hahn finden sich wenige Worte der Empathie mit der russischen Zivilbevölkerung oder
261 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 55. 262 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 151. 265
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den russischen Soldaten. Beiläufig erwähnt Musbach, dass die jüdische Familie der Partisanin Vera, in die er sich verliebt, von den Deutschen umgebracht wurde. Anders geht Uwe Timm mit der „Abwesenheit des Mitempfindens“ bei seinem Bruder und seinen Eltern gegenüber den Opfern des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges um. Sowohl in Karl-Heinz Timms Briefen als auch in seinem Tagebuch ist weder vom Schicksal der Gefangenen noch der Zivilbevölkerung die Rede. Nur einmal heißt es: „Wir bauen die Öfen der Russenhäuser ab, zum Straßenbau“, was bedeutete: Zerstörung der Häuser. Während der Bruder keine Worte des Mitleids für die Bewohner dieser Häuser findet, fragt sich der Autor und Erzähler Uwe Timm 60 Jahre später, „Was haben die Menschen gesagt? Haben sie geweint?“ Ratlos zeigt sich Uwe Timm über die Ausblendung des Mitgefühls in den Notizen des Bruders, die ihm erlaubt hat, „human zu Hause und human hier, in Russland“, zu trennen: „Die Tötung von Zivilisten hier normaler Alltag, nicht einmal erwähnenswert, dort hingegen Mord.“263 Timm kann sich nicht vorstellen, dass sein Bruder nicht mit den Opfern konfrontiert war. „Selbst wenn man unterstellt, dass er an dem Mord an Zivilisten, Frauen und Kindern durch die SS nicht beteiligt war, weil er bei einer Panzereinheit diente, so muss er doch mit den Opfern der Zivilbevölkerung konfrontiert sein, den Hungernden, Obdachlosen, den durch Kampfhandlungen Vertriebenen, Erfrorenen, Getöteten. Von ihnen ist nicht die Rede, vermutlich erschien ihm dieses Leid, diese Zerstörungen und Todesopfer normal, also human.“ 264
In dieser und in vielen anderen Aussagen in Timms Buch treffen sich zwei Ebenen: Auf der einen wird das Fehlen der Empathie beim Bruder gezeigt, auf der anderen die entgegengesetzte Position des Autors, der die „Hungernden, Obdachlosen, Vertriebenen“ in seinen Text hineinbringt. Er rekonstruiert bis ins Detail die Szene der Judenerschießung in der Schlucht von Babij Jar nahe Kiew: Menschen in Panik, die sich vor ihrem Tod nackt ausziehen müssen, und Mütter, die erfolglos versuchen, ihre Babys in diesen abgelegten Kleidern zu verstecken. Timm legt in seine Erzählung das hinein, was zu fühlen sein Bruder nicht in der Lage war – Empathie. Selbst in den jungen russischen Soldaten, den „Iwan“, den sein Bruder als „Fressen für mein MG“ bezeichnete, versetzt sich Uwe Timm hinein und versucht sich vorzustellen, was dieser „Iwan“ beim Rauchen seiner Zigarette gedacht haben mag, ob er seine Familie vermisst und was er sich wohl gewünscht hat. 263 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 90. 264 Ebd., S. 27f. 266
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Die andere Seite behält Uwe Timm immer im Blick, auch wenn sein Hauptanliegen die Annäherung an den toten Bruder ist. So denkt er auf der Fahrt in die Ukraine, wo er das Grab des Bruders aufsuchen möchte, nicht nur daran, dass der Bruder dort verwundet wurde und verstarb, sondern dass er dort auch „andere verwundet und getötet hat“.265 „Es ist schwer verständlich und nicht nachvollziehbar, wie Teilnahme und Mitgefühl im Angesicht des Leids ausgeblendet wurden [...]“,266 kommentiert Uwe Timm die Tagebucheintragungen seines Bruders. „Männer sieht man ja öfter an Bäumen hängen, aber nun zum ersten Mal eine Frau; das ist doch ein komisches Gefühl, aber schließlich lacht man darüber“, 267 schreibt Robert Rosen in seinem Russland-Tagebuch, was seine Tochter Rebeka 60 Jahre später auch stutzig macht. Im Gegensatz zu Uwe Timm aber findet sie für solche Aussagen durchaus Verständnis: „So dachten sie damals“.268 In den Passagen, in denen die Eintragungen Robert Rosens in Surminskis Roman eine Andeutung von Mitgefühl verraten, wird das Unrecht seitens der deutschen Truppen mit unvermeidbaren Umständen gerechtfertigt. „Es tut einem ja leid, den Leuten, die selbst wenig haben, das Letzte wegnehmen zu müssen. Aber Befehl ist Befehl, wir müssen doch essen. [...] Wie oft habe ich alte Leute traurig neben ihren niedergebrannten Häusern sitzen sehen. [...] Die hohen Herren führen Kriege, und die kleinen Leute baden es aus.“269 Im ersten Fall ist es Befehlsnotstand, im zweiten sind es die Eliten, die für das Kriegselend und das Leiden anderer verantwortlich gemacht werden. Diese Ansicht wird vom Autor nicht problematisiert. Sein Mitgefühl gilt den Opfern der Luftangriffe der Alliierten und des Einmarsches der Roten Armee in Ostpreußen: „Den Sturm ernten immer die anderen, die ihn nicht verdient haben“.270 Dabei meint Surminski die deutschen Opfer, keine Mitleidsworte werden im Roman mit dem „Wind“ verbunden, wie ihn die Menschen in der Sowjetunion erlebt haben. Dass die Befreiung vom Nationalsozialismus vielen Deutschen persönliche Verluste und Tragödien brachte, erkennt der russische Veteran Petr Šagin in der Novelle „Jenseits“ von Daniil Granin. Sein Hamburger Gastgeber Ebert verlor beim Einmarsch der Roten Armee seine Braut. Šagin realisiert, dass der Sieg über den Faschismus einen bitteren Beigeschmack hat. „Was haben Deine Ingrid, ihre Mutter, Du 265 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 123. 266 Ebd., S. 93. 267 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 235. 268 Ebd., S. 154. 269 Ebd., S. 134, 135. 270 Ebd., S. 453. 267
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davon?“, fragt Šagin im hochemotionalen Dialog mit Ebert. Die Anerkennung dieser für die Deutschen unzweifelhaft leidvollen Seite des Krieges erfordert Empathie und Einfühlvermögen. Ähnlich viel Mitgefühl wird in Granins Novelle bei der Beschreibung der Bombardierung Dresdens gezeigt. Otto Knebel, der auf seine Kriegsvergangenheit stolz ist und gerne damit prahlt, wird nicht nur in der unsympathischen Rolle eines unverbesserlichen Militaristen gezeigt, sondern auch als Opfer des Krieges, mit dem der Autor auch Mitleid hat. „Am Tag der Bombardierung Dresdens war Feldwebel Knebel im Urlaub, in Berlin. In Dresden wohnte seine Mutter. Erst nach zwei Tagen gelangte er dorthin. Die Stadt brannte immer noch. Knebel ging auf einer dicken Schicht aus heißer Asche. In den Ruinen seines Hauses versuchte er, etwas zu finden. Alles war verbrannt, verschmolzen, die Flammen verformten auch den Küchenherd und Großvaters Werkzeug. Am Rande des Gartens lag zwischen den Scherben eine abgetrennte Hand im Sand. Der Feuersturm zerriss die Körper in Stücke; er erkannte die abgebrannte Hand der Mutter am Ehering. Es blieb nichts anderes übrig. Er hat ihre Hand am Friedhof begraben.“ 271
Auch das Kriegsgeschehen wird aus der Perspektive der ehemaligen Feinde beschrieben. Die Gräuel des Kriegsalltags werden so durch Empathie mit der „anderen Seite“ kennzeichnet. „Weiße Helme, weiße Tarnanzüge, man kann Deutsche nicht von Russen unterscheiden, Schnee, vermischt mit Erde und Blut, beißender Gestank von Toluol, ein Verwundeter kriecht und schleppt seine Gedärme hinter sich, verbrennende Panzer... Ein und dasselbe Bild kam bei ihnen hoch. Jetzt sah Šagin es mit den Augen der Deutschen – zum ersten Mal zog sich diese ruhmreiche Division verblutend zurück. Sie gingen in Richtung Pskov...“ 272
Auch wenn die Deutschen in den Romanen Wladimows, Astaf´evs und Kononows nicht als Opfer dargestellt werden, zeichnen diese Autoren sehr differenzierte und einfühlsame Porträts von ihnen. Und Viktor Astaf´ev sympathisiert sogar mit den deutschen Soldaten, die nach dem Krieg von ihren Mitbürgern für schuldig am Krieg erklärt werden (Astaf´ev konnte nicht wissen, dass eher das Gegenteil davon der Fall war – die Soldaten beschuldigten die „Anderen“, die im Gegensatz zu ihnen „Nazis“ waren). „Die gleichen Kleinbürger, gekleidet in den zivilen Anzug, das braune Hemd gegen ein weißes, sauberes getauscht, werden die Blumen auf dem Balkon 271 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 692. 272 Ebd., S. 695. 268
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gießen, Brötchen verkaufen, Tennis spielen und mit dem Finger auf den handund beinlosen Krieger zeigen: „Sie sind schuld! Sie sind schuld! Wir hatten damit nichts zu tun!“ 273
Mitleid gilt in ihren Werken meistens den russischen Opfern, wenn auch hier keine Einheit darüber herrscht, wer genau zu dieser Kategorie gehört. Astaf´ev empfindet Mitgefühl mit den jungen Soldaten, die erst in sibirischen Kasernen gequält und dann beim Überqueren des Dnjepr in den sicheren Tod geschickt werden. Georgij Wladimow entwickelt in seinem Roman „Der General und seine Armee“ Empathie mit den Russen, die während des Krieges in deutschen Uniformen gegen die Rote Armee kämpften. Der Literat betrachtet sie als Opfer, die zu ihrer letzten Überlebenschance gegriffen haben. Wladimow versucht, die „Verräter“ menschlich zu verstehen. Welche Wahl hatten sie, so Wladimows Frage im Roman: Entweder im deutschen Kriegsgefangenenlager ums Leben zu kommen oder, falls die Flucht gelingt, als „Verräter“ vom NKWD vernommen und im besten Fall einer Strafkompanie zugewiesen zu werden, oder, um sich zu retten, weiter an der Seite der Deutschen „gegen Stalin“ zu kämpfen, wofür viele von ihnen genug Gründe hatten. „Sie hatten die „Heimat verraten“... Aber warum und wofür? Für einen eingestürzten Schützengraben, den sie sattsam kannten, für einen Marsch durch schmutzigen, schmatzenden Schlamm, für ein Nachtlager in Schnee oder Morast, für den Strick, falls man sie erwischt (Gefangene wurden nicht gemacht!) oder ein Herumirren in fremden Ländern, wenn sie Russland verlassen müssten? [...] Wie groß musste ihr Leid sein, wenn sie nicht einmal davor zurückschreckten, für ewig mit einem Fluch behaftet zu sein und niemals Ansehen zu erlangen?“ 274
Mitleid empfindet General Kobrissow mit seinen „Adlerchen“, die für die Einnahme des Brückenkopfes Myrjatin geopfert werden sollten – und schließlich auch geopfert wurden. Noch auf der Besprechung mit Schukow sagt er: „Diese zehntausend... tun mir leid. Dieses Opfer ist unnötig. ... Wozu sie opfern, jetzt, während des Vormarschs, ist mir jeder doppelt so teuer!...“275 Doch dieses Mitleid ist etwas, was Marschall Schukow fremd ist: „Für das Wort „leid tun“ hatte er kein Ohr. Er wusste gar nicht, was dieses Wort bedeutete. Und hätte er es gewusst, hätte er seine Siege nicht errungen.“276 Als Kobrissow auf dem Weg nach
273 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 710. 274 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 264f. 275 Ebd., S. 300. 276 Ebd. 269
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Moskau von der Einnahme Myrjatins und seiner Beförderung im Radio erfährt, freut er sich und weint aus Mitleid mit den geopferten zehntausend Soldaten. „Meine Adler!“ Alle Kränkungen seines Lebens stürzten gleichzeitig auf ihn ein. In den Augen brannten Tränen, die er, ohne sich vor den Frauen zu schämen, mit der Serviette trocknete. „Ach, meine Adler...“ Warum war ihm plötzlich so weh zumute, so unerträglich schwer? 277
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass kein Protagonist in den Romanen deutscher Autoren zu der Zeit des Krieges Mitleid mit den sowjetischen Kriegsopfern empfindet, was Authentizität suggeriert. Auch in der Novelle des russischen Schriftstellers Daniil Granin „Jenseits“, in der das meiste Verständnis für die deutsche Seite gezeigt wird, entwickelt der ehemalige Kriegsteilnehmer Šagin erst im nachhinein Empathie für die deutschen Opfer des sowjetischen Einmarsches. Ernüchternd wirkt dabei das Ergebnis, dass die deutschen Autoren die durchaus authentisch wirkende „Mitleidlosigkeit“ ihrer Protagonisten kaum kommentieren, kritisieren oder in Frage stellen. Uwe Timm ist der Einzige, der sich angesichts dieser Tatsache verstört zeigt. Als Opfer werden in allen Texten vor allem die eigenen Soldaten präsentiert, im Roman von Wladimow sind es auch die „eigenen Verräter“, die als Opfer einer auswegslosen Situation dargestellt werden.
Fazit In diesem Unterkapitel habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie zeitgenössische deutsche und russische Autoren in ihren Werken über den Krieg gegen die Sowjetunion mit moralischen Aspekten des Krieges umgehen. Lassen sie ihre Protagonisten das Bedauern für die begangenen Verbrechen aussprechen? Welche Verbrechen werden erwähnt und als solche betrachtet? Wie werden sie von den Autoren bewertet? Empfinden die Protagonisten Mitleid mit den Opfern ihrer Handlungen? Dieser Themenkomplex verbindet ethische Aspekte literarischer Auseinandersetzungen mit der Geschichte des Krieges und bildet eine Basis für die Eigen- und Fremdwahrnehmung, wie sie aus der Kriegserfahrung resultiert. Das Ergebnis der Analyse ist, dass trotz der Anerkennung der von den deutschen Truppen in der Sowjetunion verübten Verbrechen in den Werken zeitgenössischer deutscher Schriftsteller kein Mitleid mit den 277 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 459. 270
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sowjetischen Kriegsopfern geäußert wird. Uwe Timm ist der Einzige, der die fehlenden Gewissensbisse der Kriegsteilnehmer und das fehlende Mitgefühl mit fremden Opfern eigener Gewalt registriert und hinterfragt. Die Verbrechen der Deutschen werden in den Texten nur teilweise zugegeben. Die Gewalttaten gegen die sowjetische Zivilbevölkerung werden in den Romanen Ulla Hahns und Arno Surminski nur beiläufig erwähnt; dabei handelt es sich hauptsächlich um die Partisanenbekämpfung. Die Mordaktionen der Einsatzkommandos, der Hungertod von Millionen von sowjetischen Kriegsgefangenen, die Opfer der Blockade von Leningrad – das alles bleibt unerwähnt. Der einzige Hinweis auf Verbrechen der Deutschen in der Sowjetunion kommt im Roman von Tanja Dückers von der Mutter der Protagonisten Freia, die sich dieses Wissen aus der Lektüre der historischen Studien angeeignet hat, was jedoch von Großmutters Erzählung über ihre leidvolle Flucht aus Westpreußen in den Schatten gestellt wird. Dennoch wird die Frage nach dem persönlichen Umgang mit den Verbrechen aus der Kriegszeit von den deutschen Autoren viel intensiver behandelt als von den russischen Autoren in Bezug auf Russland. Das schlechte Gewissen meldet sich bei den Protagonisten der russischen Autoren viel öfter zu Wort. Die Verbrechen der sowjetischen Führung gegen die eigenen Soldaten werden dabei mehr hervorgehoben als die Gräuel der Nazis in der Sowjetunion während des Krieges. Unerwähnt bleiben Deportationen der nichtrussischen Völkergruppen, die als potentielle Kollaborateure nach Sibirien oder Zentralasien verbannt wurden. Granins kritische Beschäftigung mit der Geschichte des sowjetischen Einmarsches in Ostpreußen ist trotz all ihrer Bedeutung eine Randerscheinung. Schlechtes Gewissen gilt in der russischen Gegenwartsprosa vor allem den vielen eigenen Toten, die man nicht vermieden hat. Die Verbrechen der Deutschen werden von russischen Schriftstellern kaum thematisiert. Die Verbrecher sind die „Eigenen.“ Diese kritische Sicht auf die eigene Geschichte, charakteristisch für die 90er Jahre, wurde in den Jahren der Präsidentschaft Putins aus der Öffentlichkeit – Presse, Schulgeschichtsbücher, Fernsehdokumentationen – wieder fast vollständig verbannt. Der „Selbstkasteiung“ der 90er Jahre sollte ein Ende bereitet werden, damit die Bevölkerung stolz auf ihr Land sein kann. Die alternative Sicht wird allmählich marginal und kaum wahrnehmbar.
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Lebens- und Kampfbedingungen Mit unterschiedlicher Intensität beschreiben die Autoren den Alltag des Krieges: Strapazen des Fußmarsches und des Rückzugs, kleine Freuden wie die Weihnachtsfeier oder einen Feldpostbrief, Schikanen und Angst vor Strafen, Bombenangriffe und das gemeinsame Singen der Soldaten. Oft wiederholen sich die Motive, wie zum Beispiel „Weihnachten“, die Bedeutung der Feldpost in den Texten deutscher Autoren, oder die Brutalität innerhalb der eigenen Truppe und die Beschreibungen schwerer Alltagsbedingungen in den Werken der russischen Schriftsteller. Dieses Unterkapitel umfasst einen Überblick über die Motive in den Darstellungen des Kriegsalltags, auf die man immer wieder in den untersuchten Werken stößt. Es geht nicht um eine Darstellung des tatsächlichen Kriegsalltags der Wehrmachtssoldaten und der Rotarmisten. Dies ist bereits an anderer Stelle geschehen.278 Hier interessiert vor allem die Frage, welche Aspekte des Frontalltags in den ausgewählten literarischen Texten dominieren. Welche Episoden aus dem Leben an der Front (oder allgemein – aus dem Kriegsgeschehen, auch an der sogenannten „Heimatfront“) werden von den Autoren besonders hervorgehoben? Welche Seiten des Krieges haben sich in das „literarische Gedächtnis“ eingeprägt?
Situation in der Truppe Besonders Viktor Astaf´ev zeigt den harten Armeealltag sowjetischer Soldaten während des Krieges. Er macht deutlich, dass der elende Zustand in den Kasernen keine Besonderheit der Kriegszeit sei: Die Armee und die unmenschlichen Verhältnisse dort widerspiegeln bei Astaf´ev das Leben im ganzen Land, das sich in ein großes Lager verwandelt habe. „In der Kaserne war es nicht ganz warm und nicht ganz kalt, wie es in einem tiefen Erdloch sein kann. Der Ofen belebte kaum das unter der Erde eingeklemmte blasse Leben mit der stickigen, unbeweglichen Luft eines öden Raums. Auf beiden Seiten des Ofens waren die Pritschenstangen verrußt, doch an den Kopfenden, die unnachgiebig knochenweiß schimmerten, als ob sie schon im Grab gewesen wären, trat Schwefel hervor. Zum kaum spürbaren Geruch des Schwefels und der plattgedrückten Tannenzweige auf den Pritschen 278 Z.B. bei Merridale, Catherine: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945. Frankfurt a. M. 2006; Fritz, Stephen G. Hitlers Frontsoldaten: der erzählte Krieg. Berlin 1998. 272
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– sie wurden statt eines Bettes hergerichtet – mischte sich der Geruch von Fäulnis, Asche und beißendem frischem Urin.“ 279
Manche Soldaten sind so schwach vor Erschöpfung, dass sie ihre menschliche Würde verlieren. Dieser Höhlenalltag in der Kaserne wird bestimmt durch Schmutz und Gestank, Hunger, Kriminalität und die Unsinnigkeit der hohen Ideen, die von ungebildeten Politkommissaren vermittelt werden. Die katastrophalen Bedingungen an der Leningrader Front erwähnt auch Daniil Granin in „Jenseits“. „Vor Hunger tranken die Soldaten gekochtes Wasser, schwollen an. Manche tranken absichtlich, um ins Lazarett zu kommen. Es herrschte grimmige Kälte. Sie erfroren. In den Unterständen heizte man trotz des Verbots die Öfen. Der Rauch verriet sie, keiner nahm Rücksicht darauf.“280 Während die Soldaten hungern, schickt die Militärführung Lebensmittelpakete an ihre evakuierten Familien in den Ural – „Und das aus dem belagerten Leningrad.“281 Dass den Soldaten das Notwendigste an Lebensmitteln, Bekleidung und Munition fehlt, wird von allen russischen Autoren immer wieder betont. „Die Dienenden haben weder Betten noch Habseligkeiten, noch anschauliche Lehrmittel für Militärunterricht, noch Waffen, noch Patronen ausgehändigt bekommen. Dafür wurde an Moralpredigten und Flüchen nicht gespart, und zu den Übungen wurden sie am ersten Tag mit Gewehrmodellen aus Holz hinausgejagt.“282 Auch Šagins Kompanie in der Novelle „Jenseits“ ist für den Krieg gegen die Deutschen nicht vorbereitet. „Šagin hatte keine Munition. Šagin hatte gar nichts – weder Munition noch Kanonen, es gab drei MGs, einige Granatwerfer und Gewehre. Panzer standen nicht unter seiner Befehlsgewalt.“283 Da nicht nur Munition, sondern auch Menschen fehlten, wurden Zivilisten in den Kampf gezogen, z.B. bei Moskau im Dezember 1941, was Georgi Wladimow in seinem Roman erwähnt. Diese sogenannte „Opolčenije“, die „Landwehrbatallione“, bestanden aus Zivilisten, die jünger als 18 oder älter als 55 Jahre waren und wegen der Notsituation eingezogen wurden: „[...] Schauspieler, Professoren, Schriftsteller, mit einem Wort – Intelligenzler, Brillenträger, ausschließlich ältere Herrschaften, kurzarmig, mit Plattfüßen – und ausgerüstet seien sie mit Ausbildungsgewehren von der „Gesellschaft zur 279 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 16. 280 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 672. 281 Ebd., S. 688. 282 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 38. 283 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 664. 273
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Förderung der Verteidigung, des Flugwesens und der Chemie“, mit durchbohrten Verschlussstücken und abgefeilten Schlagbolzen, schießen könnte man damit bloß im Nahkampf, und selbst dann nur mit großer Schwierigkeit.“ 284
Dabei bringt Wladimow nicht selten Parallelen zur deutschen Kriegsführung, die im Gegensatz zur russischen Ausschöpfung aller Kräfte steht. Der General Guderian kommentiert diesen Unterschied: „[...] Bei den Deutschen galt seit Jahrhunderten das Prinzip: Die Armee kämpft, das Volk arbeitet, mehr wurde von ihm nicht erwartet.“285 Bei der Schilderung der schlechten Zustände in der eigenen Truppe wird oft auf die besseren Bedingungen beim Feind hingewiesen. So finden die Soldaten in „Jenseits“ in einem deutschen Unterstand eine Thermoskanne mit Kaffee. „Mit Komfort führen die den Krieg!“, sagt Šagin verbittert, auf das Elend in der eigenen Kompanie hindeutend. Viktor Astaf´ev schildert, wie die Deutschen über die Frontlinie riefen, dass es bei ihnen „besser“ sei, um die Russen zu ärgern. „Hey, Iwan!“, riefen die Fritzen hinter dem Fluss. „Schwimm auf unsere Seite, bei uns kriegt man 600 Gramm Brot.“ „Geh, mein lieber Fritz, du weißt schon selber, wohin! Bei uns kriegt man ein Kilo Brot, und auch das reicht nicht!“286
Diese Einschätzung findet sich auch umgekehrt: Hans Musbach im Roman „Unscharfe Bilder“ betont bei der Schilderung seiner Strapazen an der Ostfront immer wieder, dass es die Russen im Vergleich mit den Deutschen besser hatten. „Die Russen hatten Pelzmützen und wattierte Kleidung. Sie waren ja hier zu Hause. Trugen Filzstiefel, Fäustlinge und glitten uns auf Schneeschuhen, in Schneehemden getarnt, lautlos entgegen. [...] Kälte und Hunger bedrohte uns, aber da waren auch die Sowjets, mit Hunger und Kälte im Bunde“,287 beschreibt Hans Musbach seine Erlebnisse an der Front. Dieser Verweis auf die „andere Seite“ dient der Betonung der eigenen Leiden. Daniil Granin jedoch versucht, den Kriegsalltag auf beiden Seiten sichtbar zu machen. So wird deutlich, welche Erinnerungen Deutsche und Russen von ihrer Fronterfahrung haben: Auch hier klagt der Deutsche Knebel über die fehlende Winterausrüstung, während Šagin
284 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 66. 285 Ebd., S. 111. 286 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 320. 287 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 108. 274
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darauf hinweist, dass die Deutschen auf den Pulkovo-Höhen die bessere Position hatten. „Im Frühling wurden die Schützengraben mit Tauwasser überflutet. In den Unterständen schwammen im zerbröckelten Eis Bretter und Holzscheite. Die Soldaten erkälteten sich, kriegten Geschwüre. Die Deutschen hatten es besser, sie saßen höher. „Stimmt gar nicht“, stritt Knebel ab. Das Merkzeichen für ihre Talsenke sei niedriger, das Hochwasser schnitt die Vorderlinie ab. Sie stritten, wer es besser hatte. Übrigens wohnten deutsche Kundschafter am Stadtrand in Häusern, die noch Öfen hatten, und trotzdem litten sie unter Kälte. Die Russen hatten Pelzjacken und Pelzmützen mit Ohrenklappen, und die Deutschen nur dünne Mäntel. Er, Knebel, erfror sich die Füße. Er zog sich den Schuh und die Socke aus, zeigte Šagin den Fuß, bewegte die weinroten Zehen.“ 288
In den Darstellungen des Kriegsalltags der deutschen Landser in den Romanen von Arno Surminski und Ulla Hahn nimmt die Beschreibung der langen Fußmärsche der ersten Kriegsmonate viel Platz ein. Es wird marschiert ohne große Kämpfe, die Soldaten werden in privaten Haushalten der sowjetischen Bauern untergebracht. Diese Unterkunft wird von beiden Autoren als sehr armselig beschrieben: „Ein Feldbett, Tisch, zwei Stühle, Ofen, Küchengerät, ein Verschlag für Kleider und Wäsche. Lautsprecher auf einem Bord, darunter ein Eimer. Nicht mal ein Gärtchen oder ein paar Hühner. Nichts. Kein Vieh. Kein Land. Unsere Bauern waren entsetzt.“289 Ernährt werden die Soldaten von den Einheimischen, die ihnen Milch und Essen bringen. Nur einmal denkt Robert Rosen darüber nach, dass die deutschen Landser so den russischen Bauern das Letzte wegnehmen, und findet darin nichts Verwerfliches, denn „schließlich haben wir Hunger.“290 Während der Fußmärsche beschweren sich die Soldaten über Staub und Hitze. „Wir marschierten. Sangen. Marschierten. [...] Wochenlang kämpften wir weniger gegen den Feind als gegen den Staub, gegen Sonnenbrand und Ungeziefer. [...] Ständig müde. Wenn du müde bist, zerbröckelt dir die Welt wie eine Sandburg. Und dieser Durst! Kein Wasser aus Brunnen, sie hätten vergiftet sein können. Aber wir kamen voran“,291 erinnert sich Hans Musbach. „Wenn wir nicht so viel marschieren müssten, wäre es ein schöner Ausflug“,292 so Robert Rosen in seinem Tagebuch. Sowohl Ulla Hahn als auch Arno Surminski stellen die
288 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 690. 289 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 47. 290 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 134. 291 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 46. 292 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 98. 275
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Strapazen, denen die Landser ausgeliefert sind, in den Vordergrund ihrer Beschreibung des Kriegsalltags: Hitze, Kälte, Läuse, Erfrierungen, Hunger. „Er (Musbach – E.S.) sah die aufgesprungenen Finger vor sich, entzündet, eitrig. Sah die aufgekratzten Arme, Beine, Bauch und Achselhöhlen, spürte das Brennen, die Bisse der Läuse, denen die Kälte nichts ausmachte.“293 Auch der Großvater Mäxchen im Roman von Tanja Dueckers erinnert sich vor allem an die Anstrengungen des Kriegsalltags und erzählt von „Erfrierungen, Wundbrand, vom Lazarett, von Kameraden, die’s nicht überlebt haben.“294 „Kameradschaft“ im Krieg war in der Nazi-Propaganda das höchste Gut und die wichtigste der Kriegserfahrungen. Sie sollte bestärken und zum Kampf motivieren. In den Romanen von Ulla Hahn und Arno Surminski spielt Kameradschaft unter den Protagonisten eine wichtige Rolle, auch bei der Erklärung der Psychologie des Krieges. „Wer einmal einen Menschen, mit dem er gerade noch eine Sehnsucht ausgetauscht, einen Witz geteilt hatte, Minuten später neben sich liegen sah, das Blut aus Mund und Nase sickernd, stumm und mit offenen glasigen Augen, nur wer das einmal erlebt hat, weiß überhaupt, was Angst im Krieg ist“,295 sagt Musbach. Aus diesem Kameradschaftsgefühl heraus erklären Hahn und Surminski die „Brutalisierung“ des Krieges an der Ostfront: Das Zuschauen, wie die Kameraden von den Russen getötet werden, führte zur Aggressivität der deutschen Landser. Nach dieser Argumentation führte die Brutalität der Russen zur Brutalisierung des Russlandfeldzuges. Von Antisemitismus, Antibolschewismus und dem vom Oberkommando geförderten unmenschlichen Umgang mit Gefangenen und Zivilisten ist in beiden Texten nur beiläufig die Rede. Auf die Protagonisten treffen diese Aspekte gar nicht zu. Als positive Erlebnisse im Kriegsalltag werden die Feldpostbriefe und die Weihnachtsfeier im ersten Kriegswinter dargestellt. Die Bedeutung der Feldpostbriefe für den Kampfgeist der Soldaten erwähnen Ulla Hahn und Arno Surminski. Beide Autoren weisen darauf hin, dass die Stimmung der Soldaten oft von den Nachrichten in den Briefen aus der Heimat abhängig war: Beide schildern Szenen, in denen Soldaten nach dem Erhalt schlechter Nachrichten von Zuhause durchdrehen, desertieren oder besonders aggressiv werden. Die Weihnachtsfeier an der Front kommt in allen Texten außer bei Uwe Timm vor. Die Schilderungen bei Ulla Hahn und Arno Surminski sind ähnlich: Soldaten singen deutsche Weihnachtslieder, öffnen die Feldpostpäckchen mit Geschenken und Gebäck und erinnern sich an Zuhause. Die Szenen der Weihnachtsfeier wir293 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 109. 294 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 84. 295 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 52. 276
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ken als Symbol für Frieden, Deutschsein (deutsche Lieder, deutsches Gebäck, Hinweise darauf, dass Russland „ein gottloses Land“ sei), aber auch für den Misserfolg des Blitzkrieges, da Hitler „versprochen hat“, seine Soldaten würden Weihnachten zu Hause feiern. Auch in der Novelle von Daniil Granin werden die Deutschen beim Weihnachtsfest im Katarinenpalast in Zarskoje Selo gezeigt, nur aus der Sicht der russischen Soldaten. Für sie ist es eine Provokation, dass die Deutschen im besetzten Leningrader Vorort mit Feuerwerk Weihnachten feiern. Šagin löste sich vom Fernglas. „Nein, das sieht wie eine Festbeleuchtung aus. Spinnen die?“ „Es ist doch Weihnachten!“, sprach irgendeine bekannte Stimme. Šagin wunderte sich nicht darüber, dass er nicht auf diese Idee gekommen war, sondern dass die Deutschen sich daran erinnerten und feierten. „Sieh mal einer an! Die schlemmen“, sagte er, „und haben keine Angst.“ „Was ist hier zu fürchten?“, erklang im Dunkel dieselbe Stimme. Šagin erkannte Čikolev, der vor kurzem zum Zugführer ernannt worden war. „Denken Sie, sie wissen nicht, dass uns verboten ist, auf den Palast zu schießen?“, sagte der Kompanieführer – „sie wissen es bestens.“ Jetzt konnte Šagin sich auch ohne Fernglas die erleuchteten Gemächer, die Lüster, den funkelnden Spiegelsaal vorstellen, die freie Weite des Parketts; es schien ihm, er sähe den geschmückten Tannenbaum, genau so hoch und geschmückt wie der im Palast der Pioniere. Und deutsche Offiziere in Uniform mit gewienerten Stiefeln um ihn herum.296
Für die Rotarmisten bei Granin ist diese Feier ein Hohn, und sie schießen trotz des Verbots auf den Palast, was den Major Knebel, der damals im Palast gefeiert hat, auch nach 60 Jahren empört: „Wer schoss auf den Palast, wer?“, ließ Knebel nicht los. „In so einer heiligen Nacht! Sie schossen an Weihnachten. Sie wussten, dass Christen feiern. Gebt zu, das ist doppelt so schlimm!“297 Knebel findet nicht den Angriff auf die Sowjetunion schlimm, sondern dass die Russen ihn bei der Weihnachtsfeier gestört haben. In Granins Novelle repräsentiert Knebel den Typus des „ewig Gestrigen“, der sich selbst bemitleidet und nicht in der Lage ist, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen. Zu den wenigen Soldatenfreuden im Krieg gehört neben der Feldpost die Musik. Als immer wiederkehrendes Detail figuriert in den Darstellungen Ulla Hahns und Arno Surminski die Mundharmonika, auf der die Soldaten während ihrer Fußmärsche spielen. Auch den Liedern kommt
296 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 673. 297 Ebd., S. 696. 277
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eine wichtige Bedeutung zu. „Lili Marleen“ und „Auf der Heide blüht ein Blümelein, und das heißt Erika“ zählen zu den populärsten Liedern deutscher Landser, die in den Romanen oft vorkommen. Exkurs: „Der Krieg gegen die Eigenen“ Die meisten Beschreibungen des Frontalltags in den Texten russischer Autoren thematisieren die Brutalität innerhalb der eigenen Truppe. Große Aufmerksamkeit gilt Strafmaßnahmen der Führung gegen die einfachen Soldaten wie die Errichtung der Sperreinheiten298 aus den Kräften des NKWD und der Strafbataillone („štrafnye batal´ony“ für Offiziere) und Strafkompanien („štrafnye roty“ für Mannschaften), in die der „Wehrkraftzersetzung“ für schuldig Befundene versetzt wurden, um dort „ihre Verbrechen gegen das Vaterland mit dem eigenen Blut zu sühnen.“299 „Die wurden in einen Angriff mit Absicht geschickt, damit die dummen Deutschen schießen und die schlauen Russen ihre MG-Nester entdecken“,300 so Viktor Astaf´ev über die Aufgabe der Strafkompanien. Die Bedingungen der Štrafniki in den Strafkompanien waren schlechter als in der regulären Truppe, sie erhielten weniger Essen und oft auch keine Waffen. „Štrafniki bekamen weder Essen noch Gewehre“,301 schreibt Astaf´ev. Oft wurden auch ehemalige Kriegsgefangene in Strafbataillone versetzt, da sie unter dem Verdacht der Kollaboration standen. Die Sperrtruppen des NKWD als ein unübersehbarer Bestandteil des sowjetischen Kriegsalltags werden in fast allen Texten russischer Autoren erwähnt. Abgesehen vom ideologischen Gehalt der Schilderung wird vor allem die Perversität dieses „Krieges gegen die Eigenen“ betont – während den regulären Truppen die Munition für den Kampf gegen die Deutschen fehlt, haben die Sperrtruppen genug Patronen, um auf ihre Kameraden zu schießen. „Ich habe hier eine Sperreinheit mit neuen überschweren Maschinengewehren gesehen. Bei uns ist noch gar keine Rede davon, und sie haben sie ausgehändigt bekommen – ihre Arbeit ist wich298 Sog. Sperreinheiten waren bewaffnete Einheiten, die gemäß Stalins Befehl 227 („Kein Schritt zurück!“) unmittelbar hinter Divisionen eingesetzt waren und die Aufgabe hatten, „im Falle eines ungeordneten Rückzugs der vor ihnen liegenden Divisionen jeden Flüchtenden und jeden Feigling zu erschießen und damit dem ehrlichen Kämpfer bei der Verteidigung seiner Heimat beizustehen“ („Prikaz narodnogo kommissara oborony SSSR ot 28 iulja 1942 № 227“). Sie bildeten etwa 1,2% der Gesamtzahl der Mobilisierten. 299 Siehe „Prikaz narodnogo kommissara oborony SSSR ot 28 sentjabrja 1942 № 298“. 300 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 497. 301 Ebd., S. 418. 278
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tiger. Und so ist es: vor uns – das Wasser, und hinter uns – das Unglück“,302 bemerkt ein Offizier vor dem Überqueren des Dnjepr in Astaf´evs „Verdammt und Umgebracht“. „Nur für den Faschisten-Feind fehlen die Patronen. Um eigene Landsleute umzubringen, hatte das Sowjetland immer genug Patronen.“303 „Du weißt doch, Foti, wir kämpfen mehr gegen die Eigenen als gegen die Deutschen. Wenn das nicht wäre, wären wir längst in Berlin“,304 sagt General Vatutin seinem Kollegen Kobrissow in Wladimows „Der General und seine Armee“. Wie sieht dieser „Krieg gegen die Eigenen“ im Frontalltag genau aus? Zum einen werden öffentliche Hinrichtungen durchgeführt und Angst geschürt: „Was für ein Quatsch! Wie kann man mit Hinrichtungen erziehen?“ „Na ja, erziehen nicht, aber man kann einschüchtern. Ein sicheres Mittel, längst erprobt durch die Weißen sowie durch die Roten. In die Revolution sind die mit diesem Mittel hereinmarschiert und haben alle kleingekriegt.“305
In allen Romanen (außer Granins Novelle) stehen die Protagonisten unter Verratsverdacht: Die erste Szene in „Die nackte Pionierin“ ist Mottes Marsch zur Hinrichtung wegen angeblichem Verrat, der sie glücklicherweise entkommt. Bei Astaf´ev werden die Zwillingsbrüder als Deserteure öffentlich hingerichtet. Der junge Offizier Jaškin, der im Gegensatz zu allen anderen Zuschauern bei der Erschießung der Brüder keine Zweifel daran hat, dass das Urteil umgesetzt werden muss, hat schon eine ähnliche sinnlose Abrechnung miterlebt. In seinen Erinnerungen an die ersten Monate des Krieges, als seine Panzertruppen sich zurückziehen mussten, gibt es eine solche Szene: „Ein Teil der am Leben gebliebenen Besatzungen schwamm zusammen mit der Infanterie über den Herbstfluss. Viele ertranken, und diejenigen, die es ans andere Ufer schafften, erschoss persönlich aus seinem Revolver ein in Zorn geratener Brigade- oder Regimentskommandeur, gekleidet in einen neuen schwarzen Overall, mit böse funkelnden Augen. Betrunken schrie er: „Verräter! Mistkerle! Feiglinge!“, und feuerte ununterbrochen, es kaum schaffend, das Magazin zu ersetzen, das ihm die Lakaien zuschoben, ähnlich bereit, alle sich Zurückziehenden zu verachten und zu erschießen. Und überhaupt stellte sich hinter dem Fluss heraus: Von solchen, die nicht gegen den Faschistenfeind zu
302 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 388. 303 Ebd. 304 Vladimov, Georgij: General i ego armija. Ekaterinburg 1999, S. 293. 305 Ebd., S. 172. 279
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kämpfen begehrten, sondern gegen die eigenen Frontkameraden, gab es deutlich mehr, als von kampffähigen Menschen am anderen Ufer.“306
Im Roman von Wladimow demonstriert die sowjetische Macht in den befreiten Gebieten ihre Stärke, indem mutmaßliche Kollaborateure öffentlich erhängt werden. Jeder kann zu jeder Zeit zum Verräter erklärt werden, allein schon deshalb, weil man in einem aussichtslosen Kampf am Leben geblieben ist. General Sukow erschießt in „Die nackte Pionierin“ eigenhändig jeden dritten Soldaten einer Einheit, die der Einkesselung entkommen ist: „Sawitschew, wo ist deine Kompanie?“ Die Stimme des Generals schnitt sich glatt durch das Dunkel. [...] „Aufgerieben worden bei Mga, Genosse General!“. „Und wieso bist ausgerechnet du am Leben geblieben? Verräter!“307
Auch die Organisation ist in den sowjetischen Truppen so schlecht, dass nicht selten das Feuer die eigenen Truppen anstelle des Feindes trifft. „Aufgrund schlechter Verbindung donnerten unsere Artillerie und Flieger völlig unbedacht gegen die Eigenen“,308 schreibt Astaf´ev. Bei Daniil Granin sind an diesem „Krieg gegen die Eigenen“ Karriere- und Gewinnsuchtinteressen beteiligt. „Für Dienstgrade und Auszeichnungen haben wir die eigenen Leute nicht geschont. Mein Regiment wurde ausgebombt, damit ich nicht als erster in Tilsit einmarschiere“,309 gesteht der Veteran Šagin seinem Deutschen Gastgeber. Dieser Krieg an der „zweiten Front“ dominiert in den Texten russischer Autoren den Alltag der Soldaten und Offiziere viel mehr als körperliche Leiden, Strapazen oder Verlust der Kameraden.
Situation der Frauen Eine besondere Bedeutung kommt den Darstellungen des Kriegsalltags der Frauen in der Roten Armee zu. Diese Beschreibungen enthalten in den Texten von Astaf´ev und Kononow wenig Positives. In „Verdammt und Umgebracht“ berichtet Astaf´ev vom harten Leben der Krankenschwestern Nelja und Faja, die der permanenten Brutalität der Männer ausgesetzt sind und hart werden müssen, um die Kriegsschrecken 306 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 207. 307 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 188. 308 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 572. 309 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 688. 280
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auszuhalten. Die Leiden, die sie empfinden, sind tausendfach größer als die der Männer an der Front: Dreck, Läuse, Kälte, eine unbequeme Uniform, die nicht passt, vor allem aber der Spott und Hohn seitens der Männer sind erniedrigend und schwer erträglich. Um der männlichen Aggressivität und Begierde nicht permanent ausgeliefert zu sein, müssen sie einen „Beschützer“ finden, mit dem sie sich arrangieren. Die Auswirkungen dieses Kriegsalltags sind hart: Die beiden Frauen werden nie Mütter sein können. Im Roman „Die nackte Pionierin“ ist das Schicksal der Frauen an der Front ein zentrales Thema. Auch Kononow ist weit entfernt von der Idealisierung der Beziehungen zwischen den männlichen und den weiblichen Kämpfern der Roten Armee, wie sie in vielen frühen sowjetischen Filmen dargestellt wurden und in der offiziellen Interpretation verankert waren.310 In einer grotesken, überspitzten Form zeigt Kononow die Leiden der 15-jährigen Motte, die jede Nacht von mehreren Soldaten und Offizieren ihrer Kompanie zu „Diensten am Kollektiv“ gezwungen wird. Bei Kononow gehört das zur Alltäglichkeit des Krieges, so nimmt es auch Motte selbst wahr. Ihre Freude an „Beutegut“ wie deutsche Seife mit dem abgebildeten blonden Mädchen auf der Packung, das Motte „Loreley“ nennt, ein Fläschchen „Kölnisch Wasser“ und eine Unterhose mit gutem Gummiband haben genauso wenig mit Kampf zu tun wie ihre Sorgen über die ungewollte Schwangerschaft, die mit Hilfe der erfahrenen Krankenschwester Swetka beendet wird. Wladimows General Kobrissow hat eine Affäre mit einer Krankenschwester, die am Brückenkopf beim Überqueren des Dnejpr unter dem Beschuss der deutschen Flieger ums Leben kommt. Hier geht es jedoch um eine Liebesgeschichte, obwohl der General sich nicht besonders unglücklich zeigt angesichts des Todes seiner Geliebten. Dass solche „Beziehungen“ an der Front nicht ungewöhnlich waren, macht auch Wladimow deutlich. Dieser Aspekt des Kriegsalltags – Beziehungen zwischen den Geschlechtern – fehlt in den Texten deutscher Autoren. Allerdings führen Soldaten in „Vaterland ohne Väter“ Gespräche über Frauen, die zu Hause geblieben sind, und äußern ihre Angst, die Frauen könnten untreu werden, während sie an der Front sind. Es wird erwähnt, dass viele ihren Heimaturlaub nutzen, um ein Kind zu zeugen, wie zum Beispiel Walter Pusch, eine der Hauptfiguren im Roman, jedoch ohne Erfolg. Viele dieser Väter fallen danach an der Front und werden ihre
310 Programmatisch dafür war die Darstellung der „Frontfreundschaft“ zwischen zwei Fliegereinheiten, einer männlichen und einer weiblichen, im sowjetischen Kultfilm über den Krieg „Nebesnyj tichochod“ (1945). 281
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Kinder nie sehen. Auf dieser Tatsache – Vaterlosigkeit der Kriegskinder – basiert der Roman von Surminski. Heimaturlaub hat große Bedeutung, er ist für die Protagonisten ein Motivationsfaktor im Krieg und spielt z.B. bei Arno Surminski eine wichtige Rolle in der Romanhandlung. In „Vaterland ohne Väter“ wird in der Einheit Robert Rosens dauernd darüber gesprochen, dass den Soldaten, die vorhaben zu heiraten, ein Heimaturlaub gewährt wird. Daraufhin macht Robert Rosen seiner Nachbarin Erika einen Heiratsantrag. Hans Musbach in „Unscharfe Bilder“ denkt im Urlaub über seine Fronterlebnisse nach, und Uwe Timm erlebt zum ersten Mal seinen Vater als einen „fremden Mann“, mit „stinkenden Stiefeln“ neben seiner Mutter liegend, als der Vater auf Heimaturlaub nach Hause kommt. Auch eine Verwundung kann ein Grund zum Heimaturlaub sein (der Großvater in „Himmelskörper“ nennt es „Heimatschuss“) und vor dem Tod retten.
Situation der Zivilbevölkerung Der Alltag der Zivilbevölkerung an der „Heimatfront“ wird in den hier untersuchten Texten ausführlich geschildert. Michail Kononow beschreibt den Alltag im belagerten Leningrad, als Motte während eines ihrer „strategischen Nachtflüge“ in ihre Heimatstadt kommt. Sie wird Zeugin des „Kannibalismus“ – ein Aspekt der Geschichte der Blockade, der offiziell in der Sowjetunion nie angesprochen wurde und trotzdem auf der Ebene der Gerüchte immer ein Thema war. Motte sieht durch die Fensterscheibe einer Leningrader Wohnung, wie eine alte Frau „ächzend, sehr langsam und ungeschickt, das Mädchen mit zitternder Hand abwechselnd heranziehend und wegstoßend, eine Scheibe Fleisch von dem runden Kinderpopo geschnitten“ hat.311 Auch sieht sie die zerbombte Stadt und die Leichen auf den Strassen. Damit kontrastiert die Beschreibung des Alltags der deutschen Zivilisten in den ersten Kriegsjahren im Roman von Arno Surminski. Den Krieg spürt man fast gar nicht, ab und zu gibt es Fliegeralarm, aber das Leben geht ganz normal weiter, wie in Friedenszeiten: „Ein Duft nach Kaffee und Kölnisch Wasser durchzog die Wohnung. Aus dem Volksempfänger ertönten fröhliche Weisen, unterbrochen von Sondermeldungen, die berichteten, wie das Heer im Osten siegreich voranstürmte.“312 So beschreibt Surminski den Alltag der Frau von Walter Pusch, die weiter ihren Laden betreibt und ins Kino geht.
311 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 219. 312 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 72. 282
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Bei Kononow wird die Feindseligkeit der Rotarmisten gegenüber denjenigen deutlich, die evakuiert in Sicherheit das Kriegsende abwarten. So schimpft Motte auf die „Intelligenzija“, die in Zentralasien im Warmen faulenzt, während die Soldaten in den kalten Schützengräben frieren. „[...] Womöglich gar nicht mal Taschkent, sondern Aschchabad, das ist die Sommerfrische, wohin alle bedeutenden Oberklassiker evakuiert worden sind, Schauspieler und alle möglichen Wissenschaftler mit Zwicker auf der Nase, wo sie ihren Sonderproviant verfressen, ohne dran zu ersticken, während unsereiner seinen Alabasterkörper den Flöhen zum Fraß darbietet für die.“313 Die Frontsoldaten riskieren ihr Leben für „Feiglinge“. Während russische Schriftsteller die Flucht der Zivilisten vor den anrückenden deutschen Truppen nur beiläufig schildern (bei Granin und Kononow gibt es nur einen Satz über die Flüchtlingskolonnen aus dem belagerten Leningrad) und das Leben unter Beschuss der Luftwaffe kein Thema mehr ist, deuten Tanja Dückers und Uwe Timm in ihren Texten darauf hin, dass sich gerade diese Momente des Krieges besonders intensiv ins deutsche Familiengedächtnis eingeprägt haben. Die Großmutter im Roman „Himmelskörper“ erzählt immer wieder von ihrer Flucht aus Westpreußen: „Wenn ich daran denke, wie wir damals eine ganze Nacht und einen Morgen bei minus zwanzig Grad im Schnee draußen am Pier gestanden haben!... Menschen überall, Verwundete, Sterbende, Kinder, Fliegeralarm... und immer diese Ahnung, dass der Russe nicht mehr weit ist...“314 Zur „Meistererzählung“ der Familie Timm gehört die Erinnerung an den Luftangriff auf Hamburg 1943, den Feuersturm. Die Eltern erzählen davon, „wie die ältere Schwester und der Vater erst die Habseligkeiten auf die Mitte der Straße gestellt hatten, wie sie dann das Kind, mich, in die Kinderkarre gelegt und mit Handtüchern zugedeckt hatten, Handtücher, die sie an einem geplatzten Wasserrohr angefeuchtet hatten, wie die Eltern und die Schwester, die wenigen geretteten Sachen auf der Strasse stehen lassend, die Osterstraße hinunter Richtung Schulweg gelaufen waren, rechts und links die brennenden Häuser...“315 Um diese Familienerinnerungen in einen historischen Kontext zu bringen, fügt Timm hinzu, „Juden war das Betreten des Luftschutzraums verboten.“316
313 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 108. 314 Dückers, Tanja: Himmelskörper, S. 207. 315 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 39. 316 Ebd., S. 40. 283
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Fazit Das wichtigste Motiv der Darstellung des Kriegsalltags in der russischen Gegenwartsprosa ist Angst, jedoch weniger vor dem Feind, als vor dem Repressionsapparat des sowjetischen Staates. In allen hier untersuchten Romanen werden die Sperrtruppen des NKWD, die Strafbataillone und die Tätigkeit der Spionageabwehr SMERŠ erwähnt. Auch die schlechten Lebensbedingungen in der Truppe, der Mangel des Notwendigsten an Lebensmitteln, Bekleidung und Munition werden von allen russischen Autoren immer wieder beschrieben. Der Alltag der deutschen Soldaten in den Romanen deutscher Autoren ist überwiegend von äußeren Faktoren bestimmt: Hitze, Kälte, Läuse, Fußmärsche und Heimweh. Bei der Schilderung der schlechten Zustände auf der deutschen Seite wird oft auf die besseren Bedingungen beim Feind hingewiesen, so bei Ulla Hahn und Arno Surminski. Die eigenen Leiden werden durch diesen Verweis hervorgehoben. Die Strapazen sind auf die Wetterbedingungen zurückzuführen und nicht auf die schlechte Behandlung der Soldaten seitens der Offiziere, wie es in den russischen Texten der Fall ist. Wichtige positive Faktoren sind Feldpostbriefe und Weihnachtsfeiern, weil sie eine Erinnerung an zu Hause sind. Sowohl bei Ulla Hahn als auch bei Arno Surminski gehen die Landser meistens kameradschaftlich miteinander um, es gibt selten Konflikte, höchstens wegen ideologischer Auseinandersetzungen zwischen den „Nazis“ und den „Regimegegnern“ bzw. „Neutralen“. Eine andere Besonderheit der literarischen Darstellungen des Kriegsalltags in den Texten russischer Autoren ist das Hervorheben des harten Loses der Frauen in der Roten Armee. Dieses Thema ist bei Viktor Astaf´ev, Michail Kononow und Georgi Wladimow präsent. Auch Liebesbeziehungen in der Truppe werden oft geschildert. Diese Motive fehlen in den Werken deutscher Autoren, da es kaum Frauen an der Front gab. Dagegen kommt dem Heimaturlaub und den Gesprächen über den Heimaturlaub an der Front eine wichtige Bedeutung zu. Die deutschen Autoren berichten viel vom Alltag der Zivilbevölkerung im Krieg. Er wird meistens von seiner tragischen Seite dargestellt, ohne Erwähnung der nationalsozialistischen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung eines funktionierenden Alltagslebens und Sicherung einer positiven Stimmung in der Bevölkerung. Bei den russischen Autoren hingegen überwiegt die Darstellung vom Alltag der kämpfenden Truppen an der Front oder im Vorbereitungslager. Vermutlich gilt in Russland immer noch eine gewisse Hierarchie, in der die „Frontoviki“, die Fronttruppen, mehr Beachtung finden, als die „Tyloviki“, die im Hinterland arbeitende oder in den besetzten Gebieten lebende Zivilbevölkerung. 284
SINNDEUTUNGEN DES KRIEGSGESCHEHENS
Sinndeutungen des Kriegsgeschehens Dieses Unterkapitel widmet sich der Darstellung und Analyse geschichtsphilosophischer Deutungsmuster, die in Russland und in Deutschland mit Blick auf das historische Ereignis „Krieg gegen die Sowjetunion“ literarisch formuliert worden sind. Gemeint sind literarische Interpretationen mit philosophischem Anspruch, die auf Grund ihres hohen Grades an Abstraktion und Reduktion eine politische Wirksamkeit entfalten können. Es geht um eine Art „Postlegitimation“ des Geschehens und dessen Verortung in der Geschichte. Ein historisches Ereignis mit einer nachhaltigen Langzeitwirkung wie der Zweite Weltkrieg wird im Nachhinein in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Erinnerung stets uminterpretiert. „Warum ist das mit uns geschehen?“ – die Antwort auf diese Wir-Frage bildet die Grundlage eines Kollektivs und kann deshalb politisch instrumentalisiert werden. Im Prozess einer künstlerischen Aneignung der Philosophie der Geschichte (die Antwort auf die Frage „warum?“) bieten die Autoren ihren Lesern Orientierungspunkte einer kollektiven Autobiographie oder stellen die in der Gesellschaft bereits existierenden geschichtspolitischen Normen in Frage. Die Autoren, denen der Krieg nicht die Sprache verschlug, versuchten bereits unmittelbar nach dem Krieg, die metaphysischen Fragen nach dem „Sinn des Sinnlosen“ zu beantworten. Auch die Gegenwartsliteratur über den Zweiten Weltkrieg, die russische noch mehr als die deutsche, ist von der Suche nach einer Erklärung geprägt. Das Interesse für die intellektuelle Ressource der sogenannten „Historiosophie“317 ist unter anderem mit dem Bedürfnis nach einer neuen Theoretisierung der Geschichte in Abgrenzung vom Marxismus verbunden.318 Die Sieger zweifeln an ihrem Siegerstatus und fragen sich, ob der Sieg nicht eher ein Pyrrhussieg war. Manche Fragen sind in der deutschen Nachkriegsliteratur nur selten gestellt worden, wie zum Beispiel, warum die deutsche Armee in Russland gekämpft hat. Eine Auseinandersetzung mit den verbrecherischen Kriegszielen fand kaum statt. Ähnlich spät kamen in die sowjetische/russische Literatur die Fragen nach den Gründen für die extremen
317 Beim historisophischen Ansatz handelt es sich um eine deterministische Sicht auf Geschichte. Diese verlaufe nicht zufällig, habe „einen Sinn“, und es geht darum, diesen Sinn zu ergründen. 318 Zvereva, Galina: Konstruirovanie kulturnoj pamjati: „naše prošloe“ v učebnikah rossijskoj istorii. In: Novoe literaturnoe obozrenie (2005) 74, URL: http://magazines.russ.ru/nlo/2005/74/zv6.html, Stand 10.02.2008.
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Menschenverluste, die unermesslichen Zerstörungen und Verwüstungen im eigenen Land und allgemein nach dem hohen Preis des Sieges. Die Analyse folgt den Fragen: Wie erklären die Autoren die Ursachen des Krieges? Wie gehen die deutschen Autoren mit der Tatsache um, dass der Krieg gegen die Sowjetunion ein Vernichtungskrieg war? Wie erklären russische Autoren den Sieg der Roten Armee? Zusammengefasst: Wie wird die Tragödie „Krieg“ in den Prosawerken aufgefasst und erklärt? Welchen Sinn verleihen ihr heute russische und deutsche Autoren?
Sinndeutungen russischer Autoren Der Krieg als Strafe Gottes Nach der Umwertung der sowjetischen Geschichte während der Perestrojka und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte Russland eine grundlegende ideologische Krise. Die kommunistische Ideologie wurde entwertet. Man suchte nach neuen Orientierungspunkten, die der Politik und der Geschichte eine neue Interpretation verleihen könnten. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielte die Wiederbelebung der Orthodoxie, da viele sie als Rückkehr zu den traditionellen russischen Werten empfanden. Die triumphale Rückkehr der Religion in das russische politische Leben wurde vom Aufschwung des Traditionalismus, des russischen Nationalismus und von der Schönfärberei der russischen Geschichte vor 1917 begleitet. Seinen Höhepunkt fand dieser Prozess in der feierlichen Umbettung der sterblichen Überreste der ermordeten Zarenfamilie, an der auch der russische Präsident Boris Jelzin teilnahm, und in der offiziellen Heiligsprechung des letzten Zaren und seiner Familienangehörigen von der russischen orthodoxen Kirche. Nicht nur kritisch-aufklärerische, sondern auch zahlreiche ververschwörungstheoretisch gefärbte Fernsehberichte über die sowjetische Geschichte kamen in den 90er Jahren heraus. Die russische Gesellschaft erlebte eine kurze Zeit antikommunistischer Euphorie, eine Rückkehr zur Ideologie des Zarenreiches mit ihren drei klassischen Stützen „Auto.kratie, Orthodoxie, Volkstümlichkeit“. Aus diesen Veränderungen resultiert die neue Interpretation des wichtigsten – nicht zuletzt im ideologischen Sinne – Ereignisses in der sowjetischen Geschichte, des Großen Vaterländischen Krieges, die Viktor Astaf´ev in seinem Roman „Verdammt und Umgebracht“ dargelegt hat. Astaf´ev wendet sich an die Religion in seiner Suche nach Erklärung für die Kriegstragödie. Der Krieg ist für Astaf´ev ein Glied in der langen Kette von Katastrophen, die Russland unter kommunistischer Herrschaft erlebt hat. 286
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Er betrachtet ihn in einer Reihe mit Revolution, Bürgerkrieg, Kollektivierung und den Säuberungen der 30er Jahre, die Millionen von Opfern gefordert haben. Astaf´ev kann diesem massenhaften gewaltsamen Sterben keinen irdischen Sinn abgewinnen und überlässt die Sinngebung Gott. Den Krieg begreift er als Vergeltung für den Abfall vom Glauben, für den kommunistischen Atheismus und für den Werteverfall in der sozialistischen Gesellschaftsordnung. „Das letzte Scheusal bin ich, und diesen scheußlichen Tod hat mir Gott dafür bestimmt, dass ich als Komsomolze in sein Angesicht spuckte und die Ikonen ins Feuer warf“,319 sagt ein auf dem Brückenkopf verwundeter Sergeant. Kommunisten werden von Astaf´ev als Satansanhänger angeprangert. Die Darstellung des Krieges im Roman erinnert an die biblische Apokalypse, und der Autor klagt den Allmächtigen dafür an, dass er dieses Schlachten zugelassen hat. Astaf´ev knüpft hier unmittelbar an die Argumentationsmuster der Theodizeetradition an.320 „Lieber Gott, für was ist das alles, warum hast Du diese Menschen auserwählt und sie in diesen höllischen großen Kessel hineingeworfen, den sie selbst geschaffen haben? Warum hast Du Dein Antlitz von ihnen abgewandt und sie dem Satan zum Zerfleischen überlassen? Wie ist es möglich, dass die ganze Schuld der Menschheit auf die Köpfe dieser Unglücklichen, von fremdem Willen in den Tod Getriebenen, gefallen ist?“321
Die Ursache des Krieges sieht der Schriftsteller darin, dass Gott die Menschen verlassen habe; die Schuld dafür gibt er aber den „Kommunisten“ und „Kommissaren“, die das „Böse“ verkörpern. Vladimir Il´ič Lenin sei die Verkörperung des Satans, den Astaf´ev nicht beim Namen nennt, sondern metaphorisch verschlüsselt: „Er, die Missgeburt der Missgeburten, der aus der fremdartigen Familie der Hutmacher und Zarenmörder geschlüpft ist, zur zweiten Gotteskreuzigung und zum Kindesmord gestiegen, von Gott durch Impotenz für seine schweren Sünden bestraft, rächte sich dafür an der ganzen Welt, indem er der fruchtbarsten russischen Erde Unfruchtbarkeit brachte, im Bewusstsein des demütigsten Volkes die Demut löschte und Scharen von schwatzenden 319 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 686. 320 Der Begriff „Theodizee“ geht auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurück und steht für die theologische Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Existenz des allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gottes mit der Existenz des Übels zu vereinbaren sein soll. Es gibt unterschiedliche Auslegungen des Theodizee-Problems, wie z.B. die Deutung des Bösen als Strafe für menschliche Sünden, die Astaf´ev in seinem Roman aufgreift. 321 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 397. 287
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Nichtstuern hinterließ, die nicht verstanden, was Arbeit bedeutete, welchen Wert jedes menschliche Leben hatte, was für eine wertvolle Schöpfung eine Weizenpflanze war.“322
Während in einer kleinen Verschwörergruppe, angeführt von Lenin, die eigentliche Ursache der nationalen Katastrophe ausgemacht zu sein scheint, verläuft die Konfliktlinie bei Astaf´ev nicht zwischen den „Russen“ und den „Deutschen“, sondern zwischen der Unfreiheit des totalitären Denkens und dem christlichen Glauben. Astaf´evs Protagonisten fehlt patriotische Begeisterung, da sie für einen Staat kämpfen müssen, dessen Werte ihnen fremd sind. Satans Helfershelfer seien Kommissare, die das gottesfürchtige Volk vergewaltigen und in ein sinnloses Blutbad treiben. Dafür seien sie von Gott „verdammt und umgebracht“.323 Gleichzeitig sieht Astaf´ev – ganz im Geiste rechtsorthodoxer Glaubensvorstellungen – im Krieg die Möglichkeit einer Reinigung: Nach der Kasernenhölle im ersten Buch des Romans wirkt der eigentliche Krieg, das Überqueren des Dnjepr, als eine Befreiung, die Astaf´ev in Anlehnung an die Genesis in sieben Tagen schildert, ein Kapitel für jeden Tag. Einen wirklichen Sieg gab es laut Astaf´ev jedoch nicht, denn „...wir haben den Feind einfach mit eigenen Leichen zugeschüttet, mit unserem Blut überschwemmt.“ Im Gegensatz zur deutschen Kriegsprosa der 50er Jahre, die sich ähnlicher Argumente zur Rechtfertigung des Russlandfeldzuges bediente,324 verteidigt Astaf´ev nicht die soldatische „Ehre“ und das Heldentum der russischen Soldaten. Er ist näher an Wolfgang Borchert, auch bei ihm erleidet der Landser im Krieg die Passion Christi. Durch den Krieg wird er von seinen Sünden gereinigt und erhält die Chance, die Verlogenheit ideologischer Parolen zu erkennen. Astaf´ev vertritt die Meinung, dass die Menschen im Krieg für „nichts und wieder nichts“ gefallen seien. Denn ein unfreier, abhängiger Mensch in einem unfreien Staat sterbe immer für nichts, da er keine Alternative habe. Astaf´ev fokussiert seine Argumentation nicht darauf, gegen was und gegen wen die Sowjetsoldaten im Krieg gekämpft haben (man findet im Roman keine Erwähnung des Nationalsozialismus als Ideologie). Der Schwerpunkt liegt auf der Abrechnung mit dem Regime, in dessen Namen und für dessen Ideen man gekämpft hat. Und diese waren es aus der Sicht des Autors nicht wert, das Leben zu riskieren. 322 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 243. 323 Wobei der Romantitel umstritten ist und mag nicht eindeutig Kommissare meinen. 324 Z.B. der katholische Ostfrontroman “Dreimal Orel” (1953) von Josef Michels oder “Woina, Woina” (1951) von Curt Hohoff. 288
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Astaf´evs umstrittene These ist, dass nichts wertvoller sei als das menschliche Leben. Deshalb hat er auch in einem Interview Anfang der 90er Jahre kritisiert, dass die sowjetische Macht während des Krieges Leningrad im Blockadering um jeden Preis verteidigte, statt die Stadt den Deutschen zu überlassen und so zahlreiche Menschenleben zu retten. Diese These stieß auf Unverständnis, denn Astaf´ev ignorierte das Wissen über Hitlers Pläne, die Stadt dem Erdboden gleich zu machen. In seinem religiös inspirierten Antikommunismus blendete Astaf´ev systematisch Ziele aus, die Nazi-Deutschland im Krieg gegen die Sowjetunion verfolgte. Nicht überraschend ist deshalb, dass der Krieg in seinem Roman sinnlos erscheint und lediglich die Zerstörung von Menschenleben bedeutet. Wenn das in Sünde liegende russische Volk am Ende aber doch die Kraft findet, den Faschismus zu besiegen, so sind hier im Roman wieder die höheren Mächte im Spiel: „Mag auch das Volk den Glauben vor Angst geheim halten, aber es behält doch Gott im Herzen.“325 So war der Glaube während des Krieges stärker als die Leiden; das Kreuz sei zum geheimen Zeichen der Rückkehr des Volkes zu seinen wahren Werten geworden.
Der Krieg als Pflichterfüllung Mit dem apokalyptischen Chaos des Krieges in Astaf´evs „Verdammt und Umgebracht“ kontrastiert Georgi Wladimows Vorstellung, in deren Mittelpunkt die Kriegkunst und der Berufskrieger stehen. Das Militärische wird von ihm, im Gegensatz zu Astaf´ev, nicht verpönt oder in Frage gestellt, sondern sogar idealisiert. „Militärlogik“, militärische Ehre und Würde, väterliche Sorge um alle Kämpfenden, Mut – diese Eigenschaften des „guten Generals“ werden von Wladimow hoch geschätzt. Ein guter Militär ist für ihn jemand, der sich um „seine Leute“ kümmert, so wie der deutsche Panzergeneral Guderian oder die Hauptfigur, General Foti Kobrissow. Aus dieser Perspektive erscheinen Krieg und Mord nicht mehr identisch. Während das Töten im Kampf als militärische Notwendigkeit gebilligt wird, wird das Töten von Wehrlosen (bei politischen Hinrichtungen, Erschießungen von Kollaborateuren und Kriegsgefangenen) als Mord verurteilt. Entsprechend seinem Verständnis vom Krieg als Pflichterfüllung erscheint Wladimows Haltung gegenüber deutschen Invasoren konsequent: „Auch sie hatten ihre Pflicht getan, wie Soldaten hatten sie auf die Herausforderung des Schicksals reagiert.“326 Den Unterschied zu den russischen Kämpfern sieht der Schriftsteller
325 Astaf´ev, Viktor: Prokljaty i ubity, S. 473. 326 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 229. 289
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darin, dass die Deutschen sich schwer tun würden, die Frage „warum“ zu beantworten. Für sie hat der Krieg kein hohes Ziel, keinen Sinn: „[...] Waren sie sich im Klaren darüber, warum sie hier waren? Warum sie fremdes Land betreten hatten und bei der Verteidigung ihrer Eisenkisten gefallen waren?“327 Auch dieser Autor zieht die Ideologie des Nationalsozialismus als eine mögliche Antwort auf die Frage „warum“ nicht in Erwägung. Das Thema des Vaterländischen Krieges führt Wladimow in seinen Roman mit einer Anspielung auf „Krieg und Frieden“ von Lev Tolstoj ein. Diesen Roman liest der deutsche Panzergeneral Guderian, um das „Rätsel des Krieges“ gegen die Sowjetunion zu lösen. „Was war das für ein Land, in dem du einen Sieg nach dem anderen erringst und dennoch unweigerlich auf eine Niederlage zugehst?“,328 fragt sich Guderian. Und findet die Antwort im Roman von Tolstoj, der erklärt, dass auch Napoleon den Krieg gegen Russland verloren habe, weil er in seinen Plänen die „närrische kleine Gräfin Rostowa“ nicht einkalkuliert habe, die das gesamte Hab und Gut der Familie opferte und ihre Pferdefuhrwerke den verwundeten Offizieren überließ.329 Wladimows Erklärung für den russischen Widerstand gegen die Deutschen trotz des Stalin-Regimes ist das Nationalgefühl. „Hatte der alte Kutuzow solche Taten wie die der närrischen kleinen Gräfin vorausgesehen, als er die Schlacht bei Borodino annahm? Hatte er die demütige Aufgabe Moskaus vorausgesehen, die Partisanenkämpfe von Platow und Dawydow, die Initiative der Starostina Wassilissa, die einen Trupp Leibeigener anführte? Wenn es stimmte, dann hatte Bonaparte bereits verloren, bevor die Schlacht begonnen war, dann hatte er seine Kräfte umsonst eingesetzt, als er auf den asiatischen Köder der „alten Füchsin des Nordens“ hereinfiel, auf die Generalsschlacht bei Borodino, die überhaupt keine Generalsschlacht war. Denn Kutuzows Trumpf waren die wichtigsten russischen Vorzüge: die gigantische Weite des russischen Raumes nämlich und die Gabe des russischen Volkes, demütig, ohne Zaudern, alles zu opfern und auf Menschenleben nicht zu achten. Und? Hatte er, Guderian, das etwa nicht vorausgesehen? Wo war sein Borodino?“330
Nachdem Stalin in seiner Rede am 3. Juli 1941 an das russische Nationalgefühl appelliert und seine Zuhörer mit „Brüder und Schwestern!“ angesprochen hatte, „leisteten nicht mehr allein die Sowjets
327 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 229. 328 Ebd., S. 108. 329 Ebd., S. 111. 330 Ebd., S. 111f. 290
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Widerstand, sondern ganz Russland.“331 Der Erzähler entwickelt diesen Gedanken des deutschen Generals und bringt die Parallele mit Tolstoj zum konsequenten Schluss: „Bis zum Ende seiner Tage sollte Guderian, der die ,Unbesiegbarkeit des russischen Kolosses’ für einen Mythos hielt, nicht vergessen, was ihm in dieser Nacht bewusst wurde, nämlich, dass der Sommerfeldzug bereits verloren war, an diesem elften Tag, als im Kreml die Alarmglocke schlug: ,An euch wende ich mich, meine Freunde!...’ und in der Reichskanzlei in Berlin diese Worte nicht zur Kenntnis genommen wurden. Auch Bonapartes Ohren wären der Meldung seiner Kundschafter gegenüber sicher verschlossen geblieben, dass, während er eine Stellung nach der anderen eroberte und auf den Sperlingsbergen den Kremlschlüssel erwartete, die von niemandem vorausgesagte, einfach nicht einkalkulierbare närrische kleine Gräfin Rostowa ohne Zögern ihr Fuhrwerk den Verwundeten überließ. Sie hatte ihm den Krieg erklärt, der nicht leichter war als der von Kutuzow und Barclay!...“ 332
Diese Betonung der Nationalidee steht auf den ersten Blick im Widerspruch zu Wladimows Darstellung des „Verräters“ Wlassow als eines russischen Patrioten. Später erklärt Wladimow, warum die Idee Wlassows, gegen die Bolschewiki für die Wiedergeburt Russlands zu kämpfen, zum Scheitern verdammt gewesen sei: Die Bolschewiki selbst hätten die Nationalidee zur Staatsdoktrin erhoben und die alten kommunistischen Slogans vom proletarischen Internationalismus beiseite geschoben. Darauf weist deutlich der „scharfsinnige“ Heinz Guderian hin: „Er (Stalin – E.S.) hatte nur die eine Fahne eingezogen und eine andere gehisst.“333 Allerdings rief Stalin die Bevölkerung auf, Russland vor fremden Eindringlingen zu verteidigen, während Wlassow zusammen mit den fremden Angreifern Russland bekämpfte. In scheinbarer Einheit mit dem „Kreml-Tyrannen“ erklärten die meisten Russen den Deutschen ihren eigenen, privaten Krieg. Sie haben gewonnen, jedoch, indem sie „Russland mit Russland bezahlt haben.“ Das patriotische Gefühl gelte auch im Kerker, so Wladimow: „[...] nicht Stein und Eisen halten dieses Gefängnis aufrecht. Es steht und fällt mit seinen Häftlingen. Gäbe es nicht wenigstens einen patriotischen Gefangenen, würde es einstürzen.“334 Obwohl es scheint, als ob Wladimow mit seinem Roman die mythische Geschichtsschreibung des Großen Vater-
331 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 118. 332 Ebd., S. 119. Michail Kutuzow (1745-1813), Michail Barclay de Tolly (1761-1818) – russische Strategen der Kampagne gegen Napoleon. 333 Ebd., S. 118. 334 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 107. 291
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ländischen Krieges zerstöre, wird in Wahrheit gerade mit dieser Dekonstruktion ein Freiraum geschaffen, in dem sich eine Metaphysik der russischen Seele und der russischen Geschichte aus dem Geiste Tolstojs entfalten kann. Das Bild des Krieges als „Vaterländisch“ bleibt zwar bei Wladimow erhalten, er verzichtet jedoch auf Pathos in der Erklärung des Sieges: Für die meisten Menschen, „die Masse“, die „mal in der Mitte, mal seitwärts in die Büsche“ gerannt sei, um das eigene Leben zu retten, sei der Krieg „nur schrecklich“ gewesen.335 Den Sieg, so Wladimow, hätten die neunzehnjährigen Kommandeure errungen, „diese herrlichen Jungs, die so plötzlich und unerwartet erwachsen geworden waren und ihre schmächtigen Schultern hinhielten, und niemand, niemand konnte diese Jungs ersetzen. Irgendwann einmal würde man sagen: Nicht die Generäle haben den Krieg gewonnen, sondern diese jungen Kerle“.336 In der gesamten Hierarchie der Angst, der Wladimow seine besondere Aufmerksamkeit schenkt, seien diese jungen Kommandeure die Einzigen gewesen, die vor dem Feind mehr Angst hatten als vor den eigenen Vorgesetzten. Doch nicht nur der Patriotismus sei die Ursache des Sieges gewesen, sondern auch die „russische Vierschichtentaktik“ des Marschalls Schukow: „[...] Drei Schichten blieben im Kampf liegen und füllten die Erdlöcher aus, die vierte kroch über sie hinweg zum Sieg. [...] Genau diese Vierschichtentaktik hatte den Deutschen in Stalingrad den Untergang beschert.“337 Hinter dieser Formulierung verbirgt sich Wladimows zweite Deutung des Krieges: Krieg der Eigenen gegen die Eigenen, der später durch staatspatriotische Propaganda umgedeutet worden sei. „Dreihunderttausend Todesmeldungen gehen in der ersten Nachkriegswoche nach Russland, wofür das Land den Eisernen Marschall (Schukow – E.S.) für immer in sein Herz schließt.“338 Schon wieder sei „Russland mit Russland“ bezahlt worden. Schattenseiten des „gerechten“ Krieges Daniil Granin lässt in seiner Novelle „Jenseits“ einen ehemaligen Major der Wehrmacht über die Gründe des sowjetischen Sieges rätseln. Das Motiv genießt in der postsowjetischen Kriegsprosa auch sonst große Popularität, erlaubt es doch über das eigentliche Kriegsthema hinaus eine nationale Selbstbespiegelung unter neuen geschichtsphilosophischen Vorzeichen.
335 Wladimow, Georgi: Der General und seine Armee, S. 500. 336 Ebd., S. 160. 337 Ebd., S. 168. 338 Ebd., S. 320. 292
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„Man hat uns überzeugt, dass alles berechnet war, bis zur letzten Kalorie, Soldaten und Zivilisten sollten krepieren, und wir können in Ruhe die Stadt einnehmen. Ich weiß immer noch nicht, wo der Fehler war. Na, Petr?“ Šagin zuckte mit den Schultern. “Wir wollten nicht krepieren, wir wollten nicht, dass die Stadt (Leningrad – E.S.) zerstört wird. Wir wollten es einfach nicht.“ „Ich weiß, warum. Weil ihr viel Geduld habt. Sehr viel. Unsere Arschlöcher Generäle wussten nichts von diesen Vorräten. Sie haben nur die Kalorien gerechnet. Ich habe in Puškin gesehen, wie in einer Wohnung drei Familien wohnten. In der Scheune wohnte noch ein Alter, der Palastwächter. Doch ihr habt schreckliche Klos. Solche Paläste – und solche Klos. Unverständlich.“339
In seinen Deutungsangeboten des Kriegsausgangs steht Granin Wladimow sehr nahe. Auch er hebt irrationale, „nicht berechenbare“ Gründe des sowjetischen Sieges hervor, wie Durchhaltevermögen, Heimatliebe und Geduld. „Nach den Gesetzten der Medizin musste der Mensch sterben, doch er starb nicht – wegen seines Verantwortungsgefühls, seiner Liebe und der Pflicht den Kindern und Angehörigen gegenüber“,340 so Granin über die Einwohner des blockierten Leningrad. Die Beschreibung der Kriegsführung auf den ersten Seiten der Novelle vermittelt den Eindruck von Ohnmacht, von der Unfähigkeit der russischen LeningradVerteidiger, die Situation zu kontrollieren. Es überrascht daher nicht, dass Granin in seine Kriegsdeutung das Irrationale einführt, wie es schon Wladimow und Astaf´ev vor ihm getan haben. Granin reflektiert auch über den Status des Großen Vaterländischen Krieges in der russischen Gesellschaft als eines unumstritten gerechten Krieges, bzw. er unterstellt diesen Status. Dafür führt er die Figur des Schwiegersohnes von Šagin, eines ehemaligen Afghanistan-Kämpfers, in die Handlung ein. Der Schwiegersohn leidet unter dem posttraumatischen Syndrom, weil seine Kriegsbeteiligung keine nachträgliche Legitimierung erhalten hat. Zwar versucht er im Streit mit einem Bekannten Šagins, ebenfalls einem Kriegsveteranen, zu beweisen, dass gerade er „der wahre Soldat“ gewesen sei, weil er nur aus „militärischem Pflichtgefühl ohne jegliche ideelle Kompensationen“ kämpfte, doch es klingt auch für ihn selbst wenig überzeugend. Genau diese angebliche Unumstrittenheit des Großen Vaterländischen Krieges im öffentlichen Bewusstsein will Granin in seiner Novelle unterminieren, indem er seinen
339 Granin, Daniil: Po tu storonu. In: Granin, Daniil: Idu na grozu. Moskva 2003, S. 691f. 340 Zit. in: Baklanov, Grigorij: Esli vy – čelovek. In: Moskovskie novosti 5 (2003), URL: http://www.mn.ru/issue.php?2003-5-59, Stand 6.11.2007. 293
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Hauptprotagonisten die geheimen „schmutzigen Seiten“ des „heiligen Krieges“ preisgeben lässt: „Es quoll aus ihm heraus. Er gestand Ebert, was er nie zuvor jemandem gestanden hatte. Er schonte sich nicht. Neben dem Krieg, über den er normalerweise sprach – mit Blumen, die man ihnen vor die Füße warf, mit Umarmungen und Tränen der befreiten KZ-Häftlinge – gab es auch einen anderen Krieg, seine Kehrseite. Er erinnerte sich, wie er deutsche Frauen für eine Dose Schmorfleisch zu sich ins Bett holte. Seine Soldaten plünderten deutsche Häuser aus, schleppten Gardinen, Wäsche, Geschirr, Pelzmäntel weg; aus irgendeinem Haus brachten sie russische Ikonen, zerschlugen Weinkeller – und er deckte eigene Leute, rettete sie vor dem SMERŠ.“341
Es war ein „anderer Krieg“, nicht einer, an den er bei offiziellen Auftritten und in Schulen erinnerte, sondern sein persönlicher Krieg, verborgen und verdrängt, den er selbst vielleicht schon längst vergessen hätte, wenn er nicht zufällig Ebert getroffen hätte. „Er war heilig! Und dann wurde der heilige Krieg schmutzig! [...] Für Dienstgrade und Auszeichnungen haben wir die eigenen Leute nicht geschont. Mein Regiment wurde zerbombt, damit ich nicht als erster in Tilsit einmarschiere. Ich habe solche Scheiße gefressen.“342
Damit stellt Granins Protagonist die Ansicht in Frage, dass der Sieg über einen Feind wie Nazi-Deutschland alle Mittel rechtfertigt. Granins Auffassung ist, dass jeder Krieg Narben auf dem Gewissen und auf der Seele hinterlässt, selbst ein „gerechter“. Dass der Krieg gegen die Deutschen gerecht war, wird in Granins Novelle nicht angezweifelt. Der Sieg aus Gutgläubigkeit Im Roman „Die nackte Pionierin“ geht es nur vordergründig um die Obszönität des Sexuellen an der Front – das eigentlich Obszöne ist der Krieg selbst. Michail Kononow gibt jedoch zu verstehen, dass der Krieg sich nicht auf Feigheit und Brutalität, Grobheit, Angst, ideologische Verblendung und Missbrauch menschlicher Ideale reduzieren lässt. Trotzdem ist er im Roman weder „Groß“ noch „Heilig“, sondern eine Katastrophe, in der auch der moralisch integerste Mensch früher oder später seine Unschuld und Integrität verliert. Der Krieg wird bei Kononow zu einem Alptraum. Seine Protagonistin Motte wird darüber
341 Granin, Daniil: Po tu storonu, S. 688. Spionageabwehr während des Krieges. 342 Ebd., S. 688. 294
SMERŠ – sowjetische
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wahnsinnig, denn anders können diese Schrecken nicht bewältigt werden. Mit Motte als Märtyrerin im Namen des Volkes steht Kononow in der Tradition sowjetischer Kriegsprosa. Dementsprechend ist auch „sein“ Krieg nicht sinnlos. Den „Sinn“ sieht er im Triumph des Geistes, trotz Stalin, trotz Propaganda der Kommissare und trotz Erniedrigungen. Naivität und Glaube seien stärker als der Tod und die Schrecken des Krieges gewesen. Trotz staatlichen Terrors hätten russische Menschen, so Kononow, ein besonderes Verhältnis zu ihrer Heimat. Kononows Motte erinnert an Sonja in Fedor Dostoevskijs „Verbrechen und Strafe“: die heilige Hure, die schuldige Unschuld. Dieser Archetypus trifft in Motte mit dem Konzept der sowjetischen Heldin zusammen, und dahinter verbirgt sich das schwer geprüfte Russland: geschunden von Feinden und eigenen „Helden“, leidensfähig und voll Vergebung. Somit finden sich auch in Kononows Roman die traditionellen Stereotype der „russischen Seele“. In Gutgläubigkeit und Zähigkeit glaubt der Autor die Quelle der Kraft russischer Menschen entdeckt zu haben, die ihnen auch den Sieg ermöglicht haben. Insofern wird auch in diesem Roman der Sieg irrationalen Kräften zugeschrieben, ein Motiv, das in einer Schlüsselszene der Romanhandlung kulminiert: Der Geist der toten Maria-Motte mit einer weißen Flagge fliegt über das Schlachtfeld („ein zerrissener Rock oder eine Turnhose“) und führt die Soldaten in den Kampf: „Wer dieser Unterhose gefolgt ist, hat überlebt.“343 Allerdings wird das Rätsel des sowjetischen Sieges nach einem kombinierten Muster aufgeklärt, zu dem neben wahren Wundern auch die Wirkung der stalinistischen Kriegspropaganda und die Beihilfe der Sperrbataillone gehört. Deshalb ist auch Motte in Kononows Darstellung eine Heilige, denn sie glaubt, dass sie mit ihrem sexuellen Frondienst ihrer Heimat wohltue. Einerseits zeigt der Autor, dass diese Bereitschaft an Selbstzerstörung grenzt, andererseits würdigt er die Kraft dieser Selbstlosigkeit. Die Mechanismen der Einflussnahme und Propaganda, die Kononow in seinem Werk zeigt, erscheinen fast identisch mit denen der Nazis zu sein. Allerdings macht er hier einen fundamentalen, wiederum beinahe metaphysischen Unterschied. Es ist das Leitnarrativ des „Naiven“ in seinem Roman, das die minderjährige Regimenthure, diese unschuldige Sünderin, verkörpert und zur Signatur ihrer Heimat erhebt. Infantilität als nationales Schicksal, darin liegt das eigentliche Geheimnis des russischen Sieges.
343 Kononow, Michail: Die nackte Pionierin, S. 279. 295
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Sinndeutungen deutscher Autoren Der Krieg der „Oberen“ gegen die „Unteren“ „Wie wir noch ganz klein waren, da haben sie einen Krieg gemacht. Und als wir größer waren, da haben sie vom Krieg erzählt. Begeistert. Immer waren sie begeistert. Und als wir dann noch größer waren, da haben sie sich auch für uns einen Krieg ausgedacht. Und da haben sie uns hingeschickt. Und sie waren begeistert... Und keiner hat uns gesagt, wo wir hingingen. Keiner hat uns gesagt, ihr geht in die Hölle.“
Dieses Zitat aus Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ bringt Arno Surminski in seinem Roman „Vaterland ohne Väter“.344 Es fasst Surminskis Verständnis davon zusammen, was im Krieg gegen die Sowjetunion geschehen ist. Der Landser Robert Rosen – und auch seine Tochter 60 Jahre nach Kriegsende – geben die Schuld nach oben weiter an die, die Rosen sein Tun befohlen haben. „Die hohen Herren führen Kriege, und die kleinen Leute baden es aus. Die ganze Kriegerei ist nur ein Spiel für die Oberen, die die einfachen Leute dazu abrichten, ihnen die Kastanien aus dem Feuer zu holen“, 345 schreibt er in seinem Tagebuch. Diese Dichotomie zwischen „die da oben“, denen es unter allen Systemen gut geht, die Befehle erteilen und ihre Haut retten wollen, und den „kleinen“ Soldaten „unten“, die widerwillig in den Krieg ziehen müssen, gibt es auch im Roman von Ulla Hahn. Die Welt ist in „gute Soldaten“ und „böse Nazis“ geteilt. Wie man aber zum „bösen Deutschen“ wird, zum Nazi, erfährt man weder bei Arno Surminski noch bei Ulla Hahn, denn ideologischen Aspekten des Nationalsozialismus gehen sie in ihren Romanen nicht nach. Der Russlandfeldzug wird nicht als nationalsozialistischer Vernichtungs- und Raubkrieg gegen die „slawischen Untermenschen“ verstanden, in dem deutsche Truppen einen totalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führten und den Völkermord an Juden ermöglichten, sondern als ein Krieg der deutschen Oberschicht gegen die Unterschicht. Diese Interpretation findet man bereits in den Werken von Heinrich Böll, und sie bleibt heute, 60 Jahre nach Kriegsende, offensichtlich immer noch aktuell. „Der Herr, der alles angerichtet hatte [...]“346 – so wird im Roman von Surminski Hitler ohne Namen genannt, er trägt dann auch die Verantwortung für „alles“. Eine andere Erklärung für das Geschehene ist bei Surminski die abstrakte „Weltgeschichte“, etwas nicht Fassbares, Irrationales, unvermeidbar und unkontrollierbar. Die Protagonisten werden von „denen da oben“ 344 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 15. 345 Ebd., S. 135. 346 Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder, S. 423. 296
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und von der „Weltgeschichte“ nach Russland getrieben, wo sie die Last des Krieges ertragen und schließlich auch sterben müssen. Dieses Sterben hat keinen Sinn, weder für deutsche („für nichts und wieder nichts“), noch für russische Soldaten („Für was kämpfen sie? Für ein elendes Leben in einem elenden Land?“347). Auch im Roman von Ulla Hahn ist das Sterben im Krieg sinnlos, „das sinnlose gegenseitige Töten von Menschen, die dann Soldaten hießen und das Töten Krieg.“348 Der besonders brutale Charakter des nationalsozialistischen Russlandfeldzuges wird nicht erwähnt. Der Krieg wird in eine Reihe mit den anderen Kriegen der Moderne gestellt. Beide Autoren nehmen Bezug auf den Irakkrieg, um ihre Ablehnung des Krieges an sich zu betonen, dabei verzichten sie auf eine Differenzierung. In ihrer Deutung des Krieges als Kampf der „Oberen“ gegen die „Unteren“ sowie eines sinnlosen Gemetzels ohne Hinweis auf nationalsozialistische Politik und Ideologie stehen Ulla Hahn und Arno Surminski dem russischen Schriftsteller Viktor Astaf´ev sehr nahe. Die Übertragung der Verantwortung auf „die da oben“, die klare Trennung zwischen den politikfernen Soldaten und den „bösen Buben“ („Nazis“ oder „Kommissaren“), die Suche nach den Ursachen des Krieges im Irrationalen und Unkontrollierbaren, die Unfreiwilligkeit des Kriegsdienstes und das Befolgen von sinnlosen Befehlen sind allen drei Autoren gemeinsam. Doch der Unterschied ist nicht weniger deutlich: Astaf´ev zerstört alte Mythen über den Großen Vaterländischen Krieg und rechnet mit dem Erbe des Kommunismus ab, indem er eine eigene, neue Mythologie schafft, während Arno Surminski und Ulla Hahn an der Legende von der sauberen Wehrmacht festhalten. Die Zerstörung der Mythen Dieser Tendenz, den Krieg und die eigene Rolle darin gleich einem unvermeidbaren Naturereignis zu sehen, widersetzt sich Uwe Timm in „Am Beispiel meines Bruders“. Die Eltern des Erzählers betrachten das Kriegsgeschehen als einen „Schicksalsschlag“, als etwas, worauf man keinen persönlichen Einfluss nehmen konnte. „Es waren dämonische Kräfte, die entweder außerhalb der Geschichte walteten oder Teil der menschlichen Natur waren, auf jeden Fall waren sie katastrophal und unabwendbar.“349 Der Erzähler kommentiert das als eine Strategie, sich dem Nachdenken über die Gründe zu entziehen, sich nicht zu fragen, warum eigentlich der ältere Sohn in die Sowjetunion marschiert ist und dort gefallen ist, warum er sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat. 347 Surminski, Arno: Vaterland ohne Väter, S. 139. 348 Ebd., S. 100. 349 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 91. 297
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Die Eltern stellen sich diese Fragen nicht und sehen sich selbst als „Opfer eines unerklärlichen kollektiven Schicksals.“350 In der Vorstellung der Mutter des Erzählers herrscht dieselbe Dichotomie von den Schuldigen „da oben“ und den Unschuldigen „da unten“. Die Verantwortlichen nannte sie „die Mistbande; womit sie Nazis meinte, womit sie aber auch die Militärs meinte, womit sie die da oben meinte, die Politik machten, die herrschten.“351 Auf die Frage, warum ihr älterer Sohn sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat, antwortete sie nicht ohne Pathos: „Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht drücken.“352 Der Vater meinte, dass man im Krieg „verheizt“ worden sei, dank der Inkompetenz der Generäle.353 Die Eltern bei Uwe Timm und die Großeltern in Dückersʼ Roman nehmen den Krieg wie eine Naturkatastrophe wahr. Die Kriegserinnerungen können hier als Versuch der privaten Sinnstiftung interpretiert werden, in denen die Kriegsgewalt der Alliierten in Form von Bombennächten, Partisanenübergriffen und Vormarsch der Roten Armee mit dem Zwang zur Flucht dominant ist – ohne allerdings den Charakter des deutschen Vernichtungskrieges sowie die sich radikalisierenden Exklusionsformen des Dritten Reiches mit in das Familiengedächtnis zu nehmen. Die Erzähler in den Werken von Timm und Dückers distanzieren sich von dieser Kriegsdeutung als „Schreckensepos“ und „Heldengeschichte“ vom Überleben an der Kriegs- oder Heimatfront. Sie erinnern ihre Leser daran, dass Nationalsozialismus und Krieg Ergebnis des Größen- und Rassenwahns waren. Das Kriegsende versteht Timm als Befreiung, „eine Befreiung von den nach Leder riechenden Soldaten, den genagelten Stiefeln, dem Jawoll, dem Zackigen, diesem stampfenden Gleichschritt der genagelten Knobelbecher, die man von weit in den Strassen dröhnen hörte.“354 Weder bei Ulla Hahn noch bei Arno Surminski hört man diesen „Gleichschritt“, der Krieg in ihrer Darstellung ist eine Mischung aus Leiden und Abenteuer.
350 Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, S. 91. 351 Ebd., S. 77. 352 Ebd., S. 21. 353 Ebd., S. 76. 354 Ebd.., S. 68. 298
SINNDEUTUNGEN DES KRIEGSGESCHEHENS
Fazit Die Interpretationen des Krieges in den Werken deutscher und russischer Gegenwartsautoren verlaufen unter unterschiedlichen Fragestellungen. Russische Schriftsteller fragen nach den Ursachen des Sieges und nach seinem Sinn angesichts des Stalin-Regimes, während die deutschen Autoren den Krieg im Sinne der Opfer-Täter-Dichotomie deuten. Folgende sinnstiftende Motive lassen sich anhand der Textanalyse feststellen: Alle vier russischen Literaten ignorieren in ihrer Deutung des Kriegsgeschehens die nationalsozialistische Ideologie und die Kriegsziele im „Russlandfeldzug“ und konzentrieren sich ausschließlich auf die Ideologie des sowjetischen Staates. Die historisch erwiesene Tatsache, dass das nationalsozialistische Deutschland gegen die Sowjetunion einen machtpolitisch und rassenideologisch motivierten Eroberungs- und Vernichtungskrieg führte, wird von keinem der Autoren erwähnt. Implizit wird die NS-Ideologie sogar weiter reproduziert, wenn, wie etwa im Fall Viktor Astaf’evs, ein metaphysisch überhöhter Antibolschewismus und der rote Kommissar als Verkörperung des absoluten Bösen zum literarischen Leitnarrativ avancieren. Die Verantwortung für die Verluste und für die Kriegsleiden wird bei den russischen Autoren primär der eigenen Führung und dem eigenen System und nicht dem Kriegsgegner angelastet, dessen Rolle stets passiv ist. Das liegt einerseits daran, dass sich russische Autoren primär mit der eigenen Nationalgeschichte befassen, andererseits wird in der Tradition der sowjetischen Ideologie zwischen den „Nazis“ und den von ihnen „verführten Arbeitern“ unterschieden – eine Sichtweise, die der sowjetische Staat jahrzehntelang in den Beziehungen zur DDR pflegte. Der Krieg wird vor allem als Krieg der eigenen Führung gegen die eigenen Soldaten verstanden, oder, wie bei Georgi Wladimow, als ein Bürgerkrieg, in dem unter anderem Russen in deutschen Uniformen gegen die Rote Armee kämpfen. Unterschiede gibt es allerdings in der Deutung des Krieges als Verteidigungskampf (Wladimow, Granin), sinnloses Massaker (Astaf´ev) oder eine Synthese aus beidem: eine zwar notwendige, aber selbstzerstörerische Aufopferung (Kononow). Die Interpretation des Krieges als Kampf zwischen „denen da oben“ und „denen da unten“ findet man auch bei den deutschen Autoren, wie z.B. bei Ulla Hahn und Arno Surminski. Auch sie meiden das Nachdenken über die Ziele der Nationalsozialisten im Krieg gegen die Sowjetunion und bedienen sich der Formel, die „alle Kriegsopfer“ vereinen soll, unabhängig davon, ob sie auf der Seite der Angreifer oder auf der Seite der Angegriffenen waren. Im Unterschied zum ähnlichen
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Erklärungsmuster in den Werken der russischen Autoren dient diese Formel nicht einer kritischen Selbstreflexion, sondern der Vermeidung der Frage nach dem Leid, das die Menschen in der Sowjetunion aufgrund der deutschen Invasion erlitten haben. Die Opfer finden sich in dieser Interpretation nur auf der deutschen Seite. Die Deutung des Krieges als „sinnlos“ ignoriert die Ziele, mit denen dieser Krieg geführt wurde, und den Sinn der Befreiung vom Nationalsozialismus. Der Krieg gegen die Sowjetunion wird entpolitisiert und bekommt den Charakter eines schicksalhaften, unvermeidbaren Ereignisses. Dieser Tendenz widersetzen sich Uwe Timm und Tanja Dückers, die im Streben nach Betroffenheit die Gefahr sehen, das historische Gedächtnis zu einem allgemeinen Begriff „Kriegsopfer“ zu reduzieren und die Frage nach der Verantwortung der Deutschen zu umgehen, da der neue, angeblich „differenzierende“ Blick stets auf deutsche Täter angewandt wird, die man nun als Opfer begreifen soll.
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S CHLUSSBETRACHTUNG Die offizielle Geschichtsdarstellung und die private Erinnerung der Bevölkerung klaffen sowohl in Russland als auch in Deutschland auseinander. Während im Zentrum der offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland Auschwitz steht, kreisen die meisten privaten Erinnerungen um die Erfahrungen des „Russlandfeldzuges“ und die Kriegsleiden. Die offiziellen Repräsentationen des „Großen Sieges“ in Russland entsprechen wenig der privaten traumatischen Erfahrung des Verlustes und der Angst. Bei Betrachtung dieser Kluft wurden gängige Stereotypen in Bezug auf den Umgang mit Geschichte in beiden Ländern in Frage gestellt: Ist das Bewusstsein der Schuld tatsächlich „konstitutiv für das Selbstverständnis der Bürger in der Bundesrepublik“, wie es Karl Jaspers formulierte? Trifft die weit verbreitete Vorstellung, dass die Schattenseiten des Krieges in Russland unaufgearbeitet blieben und allein der Ruhm des Sieges im Mittelpunkt stehe, vor diesem Hintergrund tatsächlich zu? An der Schnittstelle zwischen dem „Privaten“ und dem „Öffentlichen“ ist Literatur angesiedelt; deshalb habe ich stellvertretend vier deutsche und vier russische zeitgenössische Prosawerke analysiert und verglichen, die den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion – den „Russlandfeldzug“ bzw. „den Großen Vaterländischen Krieg“ – zum Thema haben. Ausgangspunkt der Untersuchung war die Überlegung, dass bei Betrachtung der literarischen Auseinandersetzungen über diesen Krieg in Russland und in Deutschland ein anderes Bild zutage tritt, das den gängigen Aussagen über „Erfolge und Misserfolge“ in der Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit nicht entspricht. Zentral für die Analyse war die Frage, wie die traumatische, einer Beschreibung nur schwer zugängliche Erfahrung des Krieges von zeitgenössischen Literaten in beiden Ländern interpretiert wird. In welcher Weise kehrte das Kriegsthema in den letzten Jahren in die russische und deutsche Literatur zurück? Vollzieht sich im Moment vielleicht sogar ein Prozess der literarisch-politischen Neubewertung der Kriegsvergangenheit? Auf den ersten Blick bieten die Romane ein vielseitiges Bild. Arno Surminskis Beschreibung sympathischer Kerle, die aus einem normalen Leben herausgerissen werden und in Russland für ein verbrecherisches 301
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Regime sterben müssen steht neben dem Versuch Uwe Timms, die Tagebucheintragungen seines im Russlandfeldzug gefallenen Bruders im Kontext der nationalsozialistischen Rassenideologie zu sehen. Im Roman von Ulla Hahn beginnt die Gymnasiallehrerin Katja ihre Recherche mit der Annahme, ihr Vater sei an einem Kriegsverbrechen beteiligt gewesen, um schließlich festzustellen, dass er unschuldig ist, während Tanja Dückers’ Protagonistin Freia irgendwann feststellen muss, dass ihre Großeltern NSDAP-Mitglieder der ersten Stunde, Juden- und Slawenhasser waren. Ebenso unterschiedlich sind auch die Darstellungen der russischen Autoren. Viktor Astaf´evs ausgehungerte Soldaten warten in einer lagerähnlichen Kaserne, bis sie beim Überqueren des Dnejpr eines sinnlosen Todes sterben. Georgi Wladimow reflektiert über Loyalität und Unterwerfung im totalitären Staat anhand der Frage der Kollaboration und der Tätigkeit der sowjetischen Geheimorgane. Michail Kononow beschreibt auf eine groteske Art die Gewalt gegen Frauen an der Front seitens der eigenen Truppen, während Daniil Granin einen russischen Kriegsveteranen vor einem deutschen Kriegsteilnehmer gestehen lässt, dass „sein Krieg“ zum Schluss „entartete“ und dass Gewalt gegen die deutschen Zivilisten, nicht zuletzt gegen Frauen, an der Tagesordnung war. Die Analyse erbrachte somit die Koexistenz mehrerer Geschichtsdeutungen, was man mit der Interpretation des kollektiven Gedächtnisses im Sinne Maurice Halbwachs´ erklären kann. Bei Halbwachs gibt es weder die Nation, noch die Ethnie, noch die Kultur, sondern unendlich viele erinnerungspolitische Konfliktlinien. Indem Halbwachs die Individuen als die Instanzen des Erinnerns betrachtet, bricht er Geschichtspolitik auf die Vorstellungen der einzelnen Menschen herunter. Damit gewinnen die Argumente in den erinnerungspolitischen Debatten an Gewicht gegenüber geschichtspolitischen Manifestationen. Diese Argumente werden in einer verdichteten Form unter anderem in literarischen Werken präsentiert. Literatur mit zeithistorischem Bezug, die ein solches hoch politisiertes Thema wie das des Krieges gegen die Sowjetunion aufgreift, widerspiegelt die Konkurrenz geschichtspolitischer Interessen. Die Diskrepanz zwischen diesen Interpretationen ist eine wesentliche Ursache für die emotionale Heftigkeit, mit der die Diskussion um diesen Krieg in Russland und in Deutschland geführt wird. So werden auch die Mängel des Konzeptes des kulturellen Gedächtnisses von Jan und Aleida Assmann deutlich. Sie verstehen Erinnerung als Reproduktion kultureller Identität, die eine Homogenität suggeriert. Die literarischen Werke, die in dieser Arbeit vorgestellt wurden, repräsentieren im Gegenteil eine Pluralität der Argumente in der Diskussion über Geschichte und reflektieren das Konfliktpotenzial, das dieses The-
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ma im deutschen und im russischen Kontext in sich birgt. Die Interpretationen des Krieges, die in den neuen Prosawerken russischer und deutscher Autoren präsentiert werden, sind nicht einstimmig. Weil die Deutungen sehr unterschiedlich sind, ist der Vergleich schwierig, und man kann nicht von einer homogenen „russischen“ oder „deutschen“ Erinnerung sprechen. Daraus ergeben sich zwei Vergleichsschwierigkeiten: Zum Einen kann man nicht von einer homogenen „russischen“ oder „deutschen“ literarischen Erinnerung sprechen. Zum Anderen ist der jeweilige Kontext von großer Bedeutung. Ähnliche Motive in den untersuchten Werken deutscher und russischer Schriftsteller entstehen aus unterschiedlichen Zusammenhängen heraus. So wird sowohl von den russischen als auch von einem Teil deutscher Autoren die nationalsozialistische Weltanschauung als Faktor im Vernichtungskrieg ausgeblendet und die sowjetische Kriegsführung als unfähig und menschenverachtend dargestellt. Dabei verfolgen die Autoren unterschiedliche Zwecke: Während Viktor Astaf´ev oder Georgi Wladimow in ihren Darstellungen alte „Mythen“ über den Großen Vaterländischen Krieg entlarven und mit dem Erbe der Sowjetunion abrechnen wollen, dient diese Formel bei Ulla Hahn und Arno Surminski nicht einer kritischen Selbstreflexion, sondern der Vermeidung der Frage nach dem Leid, das die Menschen in der Sowjetunion aufgrund der deutschen Invasion erlitten haben, sowie der Übertragung der Verantwortung für die hohen zivilen Verluste von der deutschen auf die sowjetische Kriegsführung. Argumente kritischer russischer Autoren sind – ungewollt – Wasser auf die Mühlen der deutschen konservativen Intellektuellen. Dienen sie doch als passende Argumentationsvorlage für diejenigen, die im Nachhall des Historikerstreits vor allem die deutsche Seite in einer Opferrolle sehen wollen.1 Bereits Heinrich Böll war sich dieses Dilemmas bewusst: „Ich bin mir nicht sicher, [...] ob wir über die Gräuel der sowjetischen Geschichte, soweit sie uns aus der sowjetischen Literatur entgegentreten, ob wir darüber nicht allzu früh triumphieren oder sie gar dazu benutzen, die Gräuel unserer eigenen Geschichte damit abzudecken.“ In den russischen Prosawerken wird die nationalsozialistische Rassenideologie unter anderem deshalb nicht erwähnt, weil eine Auseinandersetzung mit ideologischen Komponenten des Nationalsozialismus in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland nicht stattfand. Mit dieser Ausblendung hängt auch zusammen, dass der rassenideologisch motivierte Völkermord an den Juden als wesentlicher Bestandteil des 1
Auch während des Historikerstreits dienten Werke russischer Autoren wie z.B. Aleksandr Solženicyn als Grundlage für Geschichtsrelativismus einiger Diskussionsteilnehmer. 303
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Vernichtungskrieges an der Ostfront von den russischen Gegenwartsprosaikern nicht thematisiert wird. Gleichzeitig zeigt der tiefere Blick auf die Argumente der Autoren, dass sie einander nahe stehen, indem sie die dominante „Meistererzählung“ ablehnen und sich bemühen, diese durch eine neue zu ersetzen. Russische Autoren deuten den Krieg vor allem national, indem sie zu religiösen, kolonialen oder ethnozentrischen Diskursen greifen. Die deutschen Autoren verlagern das anonyme Kriegsgeschehen in die Familie, doch die Betrachtung ihrer Geschichte im gesamthistorischen Kontext wird nicht selten dem Wunsch nach moralischer Integrität der Familienangehörigen geopfert. Der „ehemalige Feind“ ist in allen untersuchten Prosawerken abwesend. Die Verantwortung für die Verluste und für die Kriegsleiden wird bei den russischen Autoren primär der eigenen Führung und dem eigenen System und nicht dem Kriegsgegner angelastet, dessen Rolle stets passiv ist. Das liegt einerseits daran, dass sich russische Autoren primär mit der eigenen Nationalgeschichte befassen, andererseits wird in der Tradition der sowjetischen Ideologie zwischen den „Nazis“ und den von ihnen „verführten Arbeitern“ unterschieden. Als „Feind“ werden nicht die Deutschen, sondern die „Eigenen“ betrachtet – Kommissare, NKWD, Militärführung, nationale Minderheiten. Man findet bei keinem der Protagonisten das Gefühl des Hasses gegenüber den Deutschen, was teilweise durch die Ausblendung der Nazi-Ideologie möglich wird. Den deutschen Autoren geht es primär um die Wehrmacht und um die Familienangehörigen, die in der Wehmacht dienten, nicht um die sowjetische Seite und die sowjetischen Kriegsopfer. „Der Russe“ ist Täter und selten Opfer, gerade so, als ob „er“ den Krieg begonnen hätte. Eine Ausnahme ist Uwe Timm, der sich in einen rauchenden russischen Soldaten hineinversetzt, den sein Bruder in seinem Tagebuch nur als „Fressen für mein MG“ bezeichnete. Doch auch bei Timm, der als einziger Empathie mit den sowjetischen Opfern entwickelt, sind diese eine Randerscheinung. Denn ihm geht es – wie auch den anderen deutschen Autoren – weniger um den Vernichtungskrieg und die sowjetischen Kriegsopfer, sondern um die Reflexion der eigenen Beziehung zur Vergangenheit und um die Ergründung dessen, was es für sie selbst bedeutet, dass ihnen die Familienangehörigen (Brüder oder Väter) oder das Wissen über ihre Vergangenheit fehlten. Stellt man bei der Analyse die Frage „Wessen Perspektive wird berücksichtigt?“, bemerkt man, dass die sowjetischen Kriegsopfer in den untersuchten Prosawerken deutscher Autoren nahezu nicht existent sind. Die Konsequenz der Anerkennung der nicht-deutschen Kriegsopfer wäre die Auseinandersetzung mit der deutschen Kriegsführung und den „Tä-
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tern“ auf der deutschen Seite. In „Am Beispiel meines Bruders“ wird der Versuch einer Annäherung an die Opfer auf der sowjetischen Seite unternommen, was direkt zur Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit der möglichen Schuld seines Bruders führt. In anderen Texten findet man keine Anerkennung sowjetischer Kriegsopfer – und folglich auch keine Täter. In den Werken russischer Autoren ist die Stimme der Frontkämpfer immer noch viel stärker als die der Zivilbevölkerung. In Russland gilt immer noch eine gewisse Hierarchie, in der die „Frontoviki“, die Fronttruppen, mehr Beachtung finden, als die „Tyloviki“, die im Hinterland arbeitende oder in den besetzten Gebieten lebende Zivilbevölkerung. Der Krieg wird auf den Kampf an der Front reduziert, und der Alltag des Krieges hinter der Front findet wenig Beachtung. Das Einbeziehen der deutschen Perspektive in der Novelle von Granin stellt einen Ausnahmefall dar, jedoch werden auch hier die rassenideologischen Motive für den Vernichtungskrieg ausgeklammert. Dadurch ist die Annäherung an den „ehemaligen Feind“ und die Aussöhnung möglich; eine „Aufarbeitung“ findet jedoch auf diesem „verkürzten“ Weg nicht statt. Schon die Dichotomien, entlang derer die literarische Debatte über die Kriegs(um)deutung geführt wird, weisen auf die Unterschiede hin: In Deutschland geht es um (eigene) „Opfer“ und „Täter“ (das sind moralische Kategorien), in Russland dagegen um „Patrioten“ und „Verräter“ (das sind Kategorien, die das Verhältnis der Individuen zum Staat charakterisieren). Man beobachtet Versuche der Umdeutung und die „personelle“ Neubesetzung dieser Kategorien. Die Erwartung, dass gerade in der Literatur solche Dichotomien durchbrochen und in Frage gestellt werden, hat sich nur zum Teil bestätigt. In der Deutung der Rolle der kommunistischen bzw. nationalsozialistischen Weltanschauung zeichnen sich zwei „Lager“ ab: Autoren, die Ideologie als einen externen Korpus außerhalb der kämpfenden Truppe betrachten (die Armee als „ideologiefrei“ darstellen) und solche, die von einem hohen Einfluss ideologischer Faktoren auf alle Bereiche des Kriegsgeschehens ausgehen. In allen untersuchten Romanen lasten die Protagonisten die Schuld am Missbrauch der Soldaten „den Anderen“ an, den sog. Ideologievermittlern – „Kommissaren“ oder „Nazis“. Diese tragen auch die Verantwortung für die Verluste bzw. für das gesamte Regime. Man distanziert sich von ihnen und betrachtet sich selbst als Opfer dieser „Mistbande“. Sie seien „die Bösen“, denen auf der anderen Seite „die Guten“, „die einfachen Soldaten“ gegenüberstehen. Implizit wird die NS-Ideologie sogar weiter reproduziert, wenn, wie etwa im Fall Viktor Astaf´evs, ein metaphysisch überhöhter Antibolschewismus und der rote Kommissar als Verkörperung des absolut Bösen zum literarischen
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Leitnarrativ avancieren. Auch in den Romanen von Ulla Hahn, Arno Surminski und Georgi Wladimow wird diese Trennlinie zum inhaltlichen Mittelpunkt. Michail Kononow, Daniil Granin, Uwe Timm und Tanja Dückers folgen dieser Trennung nicht. Sie zeigen das tiefe Eindringen der Ideologie in das Bewusstsein der einfachen Menschen, die sich mit der staatlichen Propaganda identifiziert haben. In ihren Romanen sind Ideologieträger keine isolierte Gruppe, sondern die breite Masse der Bevölkerung, die das Regime mitgetragen hat. Die Frage nach Verantwortung bekommt vor diesem Hintergrund eine andere Bedeutung. Geschichtsphilosophische Deutungsmuster, die in den untersuchten Werken mit Blick auf das historische Ereignis „Krieg gegen die Sowjetunion“ formuliert worden sind, kreisen um die Konzepte nationaler Selbstidentifikation (russische Autoren) und um die Notwendigkeit bzw. die Gefahr der Entpolitisierung der Kriegserfahrung (deutsche Autoren). In ihrer Deutung des Krieges als Kampf der „Oberen“ gegen die „Unteren“ sowie eines sinnlosen Gemetzels ohne Hinweis auf nationalsozialistische Politik und Ideologie stehen Ulla Hahn und Arno Surminski auf den ersten Blick dem russischen Schriftsteller Viktor Astaf´ev sehr nahe. Die Übertragung der Verantwortung auf „die da oben“, die klare Trennung zwischen den politikfernen Soldaten und den „bösen Buben“ („Nazis“ oder „Kommissaren“), die Suche nach den Ursachen des Krieges im Irrationalen und Unkontrollierbaren, die Unfreiwilligkeit des Kriegsdienstes und das Befolgen von sinnlosen Befehlen sind allen drei Autoren gemeinsam. Doch der Unterschied ist nicht weniger deutlich: Astaf´ev zerstört alte Mythen über den Großen Vaterländischen Krieg, indem er eine eigene, neue Mythologie schafft, während Arno Surminski und Ulla Hahn an der Legende von der sauberen Wehrmacht festhalten. Die nationalsozialistischen Verbrechen bleiben in allen Romanen unerwähnt. Die Mordaktionen der Einsatzkommandos, der Hungertod von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, die Opfer der Blockade von Leningrad oder das Leid der Zwangsarbeiter kommen sowohl in den Werken der deutschen als auch der russischen Autoren nicht vor. Die historisch erwiesene Tatsache, dass das nationalsozialistische Deutschland gegen die Sowjetunion einen machtpolitisch und rassenideologisch motivierten Eroberungs- und Vernichtungskrieg führte, findet keine literarische Resonanz. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Den russischen Literaten geht es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion um die Abrechnung mit dem eigenen Regime und die Verbrechen der eigenen Führung, als deren Opfer man sich nun stilisiert; den deutschen Autoren geht es um eigene Familienangehörige. Obwohl der „Russlandfeldzug“ Hauptschauplatz des Krieges war, bleibt er in der Darstellung der
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deutschen Schriftsteller Nebenschauplatz der Verbrechen. Dadurch verliert der Krieg gegen die Sowjetunion seinen besonderen Charakter. Fasst man die beiden Perspektiven zusammen, zeichnen sich zwei Gruppen ab, die allerdings nicht dichotomisch zu verstehen sind: die Literatur der Bewältigung (in Deutschland) und die Literatur der Erfahrung (in Russland). Den deutschen Autoren geht es um die Bewältigung der „Vergangenheitsbewältigung“ bzw. der offiziellen Geschichtsdeutung und ihre Kritik: entweder, wie bei Timm, dass die NS-Täter nicht verurteilt wurden, oder, wie bei Hahn und Surminski, dass die deutschen Leiden nicht anerkannt wurden. Jede Gruppe vermisst dabei etwas Bestimmtes. Alle Autoren kritisieren den öffentlichen Umgang mit Geschichte, nur die Frage, was verdrängt wurde, spaltet sie. Für die Einen ist es das deutsche Leiden, für die Anderen sind es die deutschen Täter. Alle russischen Prosawerke sind dagegen Darstellungen von Kriegserlebnissen, seien es solche des Autors, wie bei Astaf´ev und Granin, oder die – realer oder fiktiver – Dritter. Es geht um die Geschichtsschreibung, nur bei Granin – eine Ausnahme – geht es um Bewältigung und um die Frage, wie man heute mit Geschichtsmythen lebt. Kritisiert wird vor allem die Historiographie, nicht der Umgang mit Kriegsvergangenheit. „War Schukow ein Kriegsheld oder ein Kriegsverbrecher? War Wlassow ein Patriot oder ein Verräter? Warum gab es so viele Tote?“ Es wird immer noch über die Fakten, weniger über die Moral gestritten. Dabei wird deutlich, dass man nicht zwischen „radikal-antisowjetischen“ und „national-patriotischen“ (A.Langenohl) Autoren eine klare Trennlinie ziehen kann. Wladimow und Astaf´ev lehnen beide die sowjetische Darstellung des Krieges ab, schlagen jedoch ihre jeweils eigene, durchaus nationale Interpretation vor. Bei allen verschiedenen Deutungen, geht es allen Autoren um die neue russische „Volksidentität“ auf der Grundlage der historischen Erfahrung, entweder als „Sieger-„ oder als „Opfervolk“.
Ausblick Literarische Werke thematisieren das Ausgegrenzte und stellen ein Gegenmodell zur offiziellen, monolithischen Erinnerungskultur dar; sie fungieren als eine Art „Gegen-Gedächtnis“. In Russland hat diese Funktion der Literatur eine lange Tradition: So bildete sowjetische Kriegsliteratur einen wichtigen Gegenpol zur offiziellen Interpretation des Großen Vaterländischen Krieges. Die Beschreibung emotionalen und körperlichen Leids, die in den 1930er Jahren der Zensur unterlag, wurde durch den Krieg möglich gemacht und in die Literatur übernommen. In den
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beiden deutschen Staaten dagegen geriet die Darstellung des „Russlandfeldzugs“ allmählich in den Malstrom politischer Auseinandersetzungen und wurde im Verlauf der Jahre immer stärker zum Ausdruck des Kalten Krieges. Auffällig ist auch, dass in den literarischen Werken, die zu den Musterbeispielen der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland zählen – die Werke von Günther Grass, Siegfried Lenz oder Christa Wolf –, der Krieg kaum vorkommt (was nicht bedeutet, dass diese Romane keine Erkenntnisse in Bezug auf den Krieg bringen). In den Romanen über den Nationalsozialismus wird der Krieg zu einer Nebensache; umgekehrt wird in den meisten deutschen Kriegsromanen der Nationalsozialismus ausgeklammert. Heute bestimmen die beiden Vektoren „eigenes“ und „fremdes“ Leiden den Raum, in dem sich die einschlägigen literarischen Neuerscheinungen situieren. Deutsche Literaten thematisieren die „eigene“ traumatische Kriegserfahrung, vor allem die an der Ostfront, im Gegensatz zum „fremden“ Leiden der Juden, wie es in der offiziellen Darstellung in Gedenkstätten, politischen Reden und Denkmälern konstituiert wird. Die russischen Autoren klagen das sowjetische Herrschaftssystem und seine Träger an, die von ihnen als Fremdkörper aufgefasst werden, und beanspruchen den Opferstatus für das national definierte Kollektiv „der Russen“, im Gegensatz zur offiziellen sowjetischen Deutung des sowjetischen „Siegesvolkes“ (narod-pobeditel´). Die traumatischen, unbequemen, von der Staatsideologie „nicht vorgesehenen“ Seiten des Krieges kommen so zum Vorschein. Die neuen Prosawerke über den Krieg kommen der gefühlten Geschichte vieler Leser entgegen, Geschichte, die im öffentlichen Raum nicht vorkommt und von der Literatur an die Öffentlichkeit zurückgebracht wird. In der gefühlten Geschichte vieler Deutscher ist der „Krieg an der Ostfront“ viel präsenter als der Völkermord an den Juden. Und gerade weil dieser Krieg so stark in die Familiengeschichte eingebunden ist, ist die Abwehrhaltung so groß.2 In Russland ist zwar die „siegreiche“ Interpretation des Großen Vaterländischen Krieges größtenteils akzeptiert, sie erfüllt jedoch nicht die Bedürfnisse nach einer „russozentri2
Blickt man auf die deutsche Gegenwartsliteratur über den „Russlandfeldzug“, fällt die geringe Anzahl von Werken auf, besonders wenn man diese mit der Flut an Romanen und autobiographischer Prosa zu anderen „kriegsbezogenen“ Themen wie Vertreibung aus den Ostgebieten, Bombenkrieg, NS-Eliten und Strukturen des NS-Staates vergleicht. Über die hier vorgestellten vier Romane geht die literarische Auseinandersetzung mit dem Krieg an der Ostfront kaum hinaus. Der Vernichtungskrieg im Osten ist immer noch ein unterrepräsentiertes Kapitel deutscher Geschichte.
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schen“, nationalen Deutung der Geschichte, die auch die „Opferperspektive“ mit einbeziehen soll. Man sollte jedoch einräumen, dass diese Diskrepanz zwischen der gelenkten Erinnerungspolitik und den alternativen (Um)Deutungen Amplituden hat. Sie ist nicht immer gleich groß. Es kann sein, dass die aktuelle deutsche Leidenserzählung eine offizielle Anerkennung findet (siehe die Diskussion um das sog. „Zentrum gegen Vertreibungen“), während die „alternativen“ Geschichtsdeutungen der russischen Literaten auf eine entgegengesetzte Politik der russischen Machthaber stoßen, die an dem alten sowjetischen Bild des heldenhaften Krieges festhalten. Jedoch auch hier besteht ein großes Interesse an Kriegsprosa seitens der Leserschaft, weil sie die Zweifel um die nationale Selbstfindung reflektiert. Dass diese Bücher gerade jetzt erscheinen, hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass die Generation der aktiven Zeitzeugen nahezu nicht mehr vorhanden ist. Es findet der Übergang vom „kommunikativen“ zum „kulturellen“ Gedächtnis statt, um mit der Terminologie von J. und A. Assmann zu sprechen. Fortan muss sich die Erinnerung an den Krieg, die sich weder politisch noch historisch ad acta legen lässt, anderer Quellen bedienen als der Zeitzeugen. Deshalb brechen so vehement die Erinnerungskämpfe aus. Die Probleme der Gegenwart dominieren zur Zeit in den deutschrussischen Beziehungen. Nach dem Ende des Kalten Krieges wird vor allem die „Normalität“ des Umgangs miteinander betont. Nur selten kommt die Geschichte in den Blick, und wenn, dann meistens einseitig und verkürzt. Wenn auf die Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen oder auf den Luftkrieg hingewiesen wird, bleibt in der Regel der historische Kontext ausgeblendet. Peter Jahn, ehemaliger Direktor des DeutschRussischen Museum Berlin-Karlshorst, betont das mangelnde Interesse an der russischen Perspektive in Deutschland: „[...] wenn in Moskau der 9. Mai als Tag des Sieges über Nazi-Deutschland gefeiert wird, so zeigen selbst unsere besseren Blätter gern drollige Fotos von ordenbehängten Greisen in sentimentaler Festtagsstimmung. Die russische Erregung über die Versetzung eines Ehrenmals für gefallene Rotarmisten in Tallinn gilt uns als bloß politisch inszeniert. Die historische Erfahrung der Jahre 1941 bis 1945, die Empfindlichkeit der Russen bei diesem Thema, sind nicht Gegenstand unseres Interesses.“3
Es ist anzunehmen, dass den meisten Menschen in Deutschland die ungeheuerliche Dimension des Schreckens, den die Deutschen in dreiein3 Jahn, Peter: 27 Millionen. In: Die Zeit vom 14.06.2007, URL: http://images. zeit.de/text/2007/25/27-Millionen-Tote, Stand 28.10.2007. 309
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halb Jahren über die Sowjetunion brachten, bis heute nicht wirklich bewusst geworden ist. Die Zahl der sowjetischen Kriegsopfer – insgesamt ca. 30 Millionen Tote – dürfte manche immer noch überraschen. In der breiten Öffentlichkeit findet die Entzauberung des „bösen Russen“ – trotz der wenigen Gegenstimmen, wie der von Uwe Timm – kaum statt. Die Auseinandersetzung mit dem Vernichtungskrieg ist in der deutschen Gegenwartsliteratur sehr stark auf eigene Erfahrungen fixiert, der Blick über den Tellerrand der eigenen Nation hinaus findet bei dieser Selbstbespiegelung kaum statt. Das Bewusstsein über die Kriegsverbrechen an der Ostfront, das seit der Wehrmachtsausstellung größer geworden ist, trägt nicht dazu bei, die Gräueltaten der Roten Armee am Ende des Krieges im Zusammenhang mit den von den Deutschen begangenen Verbrechen zu sehen. „Der Russe“ ist nach wie vor Täter und selten Opfer, so als habe „er“ den Krieg begonnen. Dennoch findet man bei keinem der hier vorgestellten russischen Autoren das Gefühl des Hasses gegenüber dem ehemaligen Feind. Sie bemühen sich im Gegenteil, die „andere Seite“ zu verstehen und sich in sie hineinzuversetzen. Diese Sicht korreliert auch mit der Versöhnungsbereitschaft und der Abwesenheit des Hasses gegenüber den Deutschen in der russischen Bevölkerung.4 In seinem letzten Werk, im Grunde seinem Testament, „Brief an meine Söhne oder vier Fahrräder“ schrieb Heinrich Böll: „Übrigens hätte ich nicht den geringsten Grund, gegen die Sowjetunion Klage zu erheben. Dass ich dort einige Male krank, auch verletzt wurde, liegt in der „Natur der Sache“, die da Krieg heißt, und es war mir immer klar: eingeladen waren wir dorthin nicht.“5 Es scheint jedoch, dass auch heute, 60 Jahre nach dem Krieg, noch nicht alle diese Tatsache realisiert haben – weder die Kriegsteilnehmer, noch ihre Kinder. Umso wichtiger erscheint daher die Rolle der kritischen Schriftsteller, die im öffentlichen Kampf um Erinnerung die Anwaltschaft für die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges übernehmen können.
4
5
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Danksagung Diese Publikation stellt eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Juni 2008 am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin eingereicht wurde. Die Realisierung dieses Projekts wäre nicht möglich gewesen ohne die engagierte Hilfe von WolfDieter Narr, der ohne zu zögern sofort bereit war, mich während der Promotion zu betreuen, als ich ihn vor einigen Jahren darum bat. Während der gesamten Zeit unterstützte er mich mit vielen hilfreichen Ratschlägen und hatte immer ein offenes Ohr für meine Anliegen. Ich bin ihm zu bleibendem Dank verpflichtet. Ein besonderes Wort des Dankes gilt Gerhard Bauer, der sich sofort bereit erklärte, als Zweitgutachter zu fungieren. Danken möchte ich auch Silke Satjukow und Rainer Gries, die mir stets unterstützend zur Seite standen, mich während der Arbeit ermutigten und mir halfen, inhaltliche Krisen zu überwinden. Mein Dank gebührt auch zahlreichen Gesprächspartnern, die Zeit für mich fanden und mir wichtige Hinweise und Anregungen lieferten. Unter ihnen seien Peter Jahn, Helmut Peitsch, Bernhard Chiari, Igor Polianski, Arnold McMillin und Jutta Scherrer genannt. Meinen Freunden Claudia Schlag und Johannes Heck danke ich für die kritische Lektüre meiner Manuskripte. Für die großzügige finanzielle Unterstützung im Rahmen eines Promotionsstipendiums danke ich der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das Stipendium hat die Arbeit an der Dissertation sehr erleichtert. Mein Dank gilt auch meinem „Wahlgroßvater“ Karl Bähr, der diese Publikation finanziell ermöglichte. Ohne die Unterstützung meiner Schwiegermutter Gudrun Schreiber hätte ich die Arbeit nicht fertig stellen können. Sie hat sorgfältig und mit großem Einfühlungsvermögen meine Arbeit Korrektur gelesen und meinem Deutsch den letzten Schliff gegeben. Sie war diejenige, die stets mit Rat und Tat an meiner Seite stand. Der größte Dank geht an meinen Mann Gerald Schreiber. Er hat mit viel Geduld, großem Interesse und Computerkenntnissen wesentlich zum Entstehen des vorliegenden Textes beigetragen. Ohne ihn hätte ich nicht die Kraft gefunden, über all die Jahre an dem Projekt zu arbeiten.
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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Michael C. Frank, Bettina Gockel, Thomas Hauschild, Dorothee Kimmich, Kirsten Mahlke (Hg.)
Räume Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2008 Dezember 2008, 160 Seiten, kart., 8,50 , ISBN 978-3-89942-960-2 ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) und Räume (2/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de
Lettre Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft (hg. von Heike Brohm, Vera Elisabeth Gerling, Björn Goldammer und Beatrice Schuchardt) Juni 2008, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-821-6
Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Februar 2009, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Christof Hamann, Ute Gerhard, Walter Grünzweig (Hg.) Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848 Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung Dezember 2008, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-966-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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Lettre Tom Karasek Generation Golf: Die Diagnose als Symptom Produktionsprinzipien und Plausibilitäten in der Populärliteratur August 2008, 308 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-880-3
Margret Westerwinter Museen erzählen Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts November 2008, 252 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1046-8
Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.) Literatur der Jahrtausendwende Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000 Oktober 2008, 456 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-924-4
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Lettre Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.) Weiterlesen Literatur und Wissen 2007, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-606-9
Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt 2007, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-520-8
Stefan Hofer Die Ökologie der Literatur Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes 2007, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-753-0
Anja K. Johannsen Kisten, Krypten, Labyrinthe Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller März 2008, 240 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-908-4
Monika Ehlers Grenzwahrnehmungen Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe
Céline Kaiser Rhetorik der Entartung Max Nordau und die Sprache der Verletzung
2007, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-760-8
2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-672-4
Manuela Günter Im Vorhof der Kunst Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert
Margret Karsch »das Dennoch jedes Buchstabens« Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz
Juli 2008, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-824-7
Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.) Kafkas Institutionen 2007, 328 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-508-6
Fernand Hörner Die Behauptung des Dandys Eine Archäologie
2007, 388 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-744-8
Monika Leipelt-Tsai Aggression in lyrischer Dichtung Georg Heym – Gottfried Benn – Else Lasker-Schüler Juni 2008, 392 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-1006-2
März 2008, 356 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-913-8
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